Versöhnung: Soteriologische Fallstudien 9783666567131, 9783647567136, 9783525567135


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Versöhnung: Soteriologische Fallstudien
 9783666567131, 9783647567136, 9783525567135

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Studium Systematische Theologie

Band 9

Vandenhoeck & Ruprecht

Gunther Wenz

Versöhnung Soteriologische Fallstudien

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-56713-6 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Adamitischer Sündenfall und Höllenfahrt Jesu Christi. Zum Ansatz biblischer Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2. Versöhnung und Rechtfertigung im Gekreuzigten. Von Jesus zur gesetzesfreien Evangeliumsverkündigung des Paulus . . . 39 3. Wort vom Kreuz und inkarnierter Logos. Von der paulinischen zur johanneischen Soteriologie . . . . . . . . . . 62 4. Logoschristologie und trinitarische theologia crucis . . . . . . . . . . 81 5. Die altkirchlichen Theosislehren von Athanasios und Maximus Confessor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 6. Die Satisfaktionstheorie Anselms und das Alternativkonzept Abaelards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 7. Luthers Lehre vom Strafleiden Christi im Kontext scholastischer Anselmrezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 8. De principiis salutis. Calvin und ein soteriologisches Fallbeispiel altlutherischer Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 9. Die sozinianische Kritik der orthodoxen Kirchenlehre . . . . . . . . . 182 10. Versöhnung durch Moral: Von Grotius zu Kant . . . . . . . . . . . . 201 11. Beseligende Kräftigung des Gottesbewusstseins. Schleiermachers neuprotestantische Soteriologie . . . . . . . . . . . . 219 12. Die Rechtfertigung der Zweifler und Verzweifelnden. Tillichs Soteriologie der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 13. Heil. Soteriologische Nomenklaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

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Inhalt

14. Alter Ego. Zum Stellvertretungsgedanken . . . . . . . . . . . . . . . 278 15. Articulus stantis et cadentis ecclesiae: Rechtfertigung und Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 16. Schicksalskontingenz und Erlösungshoffnung . . . . . . . . . . . . . 318 17. Soteriologie und Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370

Einleitung Lit.: F. Chr. Baur, Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung von der ältesten Zeit bis auf die neueste, Tübingen 1838. – J. W. v. Goethe, Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. IV. Abtheilung. 27.  u. 28.  Band, Weimar 1903.  – W.-D. Hauschild, Dogmengeschichtsschreibung, in: TRE 9, 116–125.  – E. Jüngel, „… nach meinem Urteil allenfalls ein erster Schritt“, in: epd-Dokumentation 49/97, 5–7. – H. Hoping / J.-H. Tück, „Für uns gestorben“. Die soteriologische Bedeutung des Todes Jesu und die Hoffnung auf universale Versöhnung, in: E. Christen / K. Kirchschläger (Hg.), Erlöst durch Jesus Christus, Freiburg / Schweiz 2000, 71–107. – K.-P. Jörns, Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 2004. – M. Kähler, Das Wort „Ver­ söhnung“ im Sprachgebrauch der kirchlichen Lehre, in: ders., Zur Lehre von der Versöhnung, Gütersloh 1937, 1–38. – D. Korsch, Art. Versöhnung III. Theologiegeschichtlich und dogmatisch, in: TRE 35, 22–40. – M. Limbeck, Abschied vom Opfertod. Das Christentum neu denken, Ostfildern 42012. – A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Erster Band: Die Geschichte der Lehre (1870), Bonn 21882. – O. Ritschl, Albrecht Ritschls Leben. Erster Band: 1822–1864, Freiburg / Br. 1892; Zweiter Band: 1864–1889, Freiburg 1896.  – H. Schöndorf, Warum musste Jesus leiden? Eine neue Antwort auf eine alte Frage, München 2013. – A. Spadaro, Das Interview mit Papst Franziskus. Hg. v. A. R. Batlogg, Freiburg / Basel / Wien 2013. – M. Striet / J.-H. Tück (Hg.), Erlösung auf Golgota? Der Opfertod Jesu im Streit der Interpretationen, Freiburg / Br. 2012. – B. Suphan, Goethe und das Jubelfest der Reformation 1817, in: GJb 16 (1895), 3–12. – G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit. 2 Bde., München 1984/86.

Im Jahre 1854 begegneten sich in Tübingen die beiden Theologen, welche die Dogmenhistoriogra- Tübinger Besuch phie im 19. Jahrhundert und insbesondere die Geschichtsschreibung der christlichen Versöhnungslehre maßgeblich bestimmten. Das Treffen fand im Hause Ferdinand Christian Baurs statt. Dieser hatte sechzehn Jahre zuvor sein Werk zum Thema der Öffentlichkeit vorgelegt (vgl. Baur). „Förmlich zärtlich“ (O. Ritschl I, 259) sei der alte Baur gegen ihn gewesen, bekundete später der Gast. Dieses Entgegenkommen des Lehrers verstand sich nicht von selbst, denn immerhin war der Schüler bereits mit einem unmissverständlichen Widerspruch gegen dessen Auffassung von der Entstehung des sog. Frühkatholizismus an die Öffentlichkeit getreten. Das private Gespräch wandte sich dann auch alsbald theologischen Grundsatzfragen zu, wobei der Altmeister in überlegener Bescheidenheit dem jungen Privatdozenten ein Angebot gütlichen Einvernehmens machte: Dieser setze eben konkretere Begriffe in Bewegung, während er, Baur, das Bedürfnis abstrakteren Denkens habe. Genau dies sei das Unrecht gegen die wirkliche Welt, schrieb Baurs Logiergast daraufhin in einem Situationsbericht nach Hause.

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Trotz günstigen äußeren Verlaufs des Tübinger Treffens war der wissenschaftliche, aber auch persönliche Bruch beider Männer von da an nur noch eine Frage der Zeit. Der selbstbewusste Gast, der Baur 1854 heimsuchte, hieß Albrecht Ritschl. Wiederum sechzehn Jahre nach seinem denkwürdigen Tübinger Aufenthalt legte er das Ergebnis seiner eigenen langjährigen Forschungen zur Geschichte der christlichen Versöhnungslehre vor und zwar als Grundlage und ersten Band seines schließlich dreibändigen wissenschaftlichen Hauptwerks: „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“ (vgl. im Einzelnen Wenz II, 63 ff.). Schon die Aufnahme des Rechtfertigungsbegriffs in den Titel enthält eine Kritik an der Konzeption Baurs. Indem dieser sein Thema allein mit dem Begriff der Versöhnung bezeichne, werde es zu eng für den dargebotenen Stoff und seine Einteilung. Aber auch dem Versöhnungsbegriff selbst gibt Ritschl eine andere Bestimmung als Baur. „Der christliche Begriff der Versöhnung“, so die These, „kann nur verstanden werden als Aufhebung des einseitigen oder gegenseitigen Widerspruchs zwischen göttlichem und menschlichem Willen.“ (Ritschl, 22) Das Thema wird demnach sogleich in ethisch-voluntaristischer Weise aufgefasst, will heißen: nicht zur Sache gehörig sind all jene Lehrbildungen, welche sich – theoretisch-spekulativ – auf das Verhältnis von Gott und Mensch im allgemeinen und nicht in bestimmter – praktischer  – Weise auf den Widerspruch der menschlichen Sünde gegen Gott und seine Auflösung richten. Folgerichtig erklärt Ritschl die Begriffe Rechtfertigung und Versöhnung zum „Eigenthum der abendländischen Kirche“ (Ritschl, 3) und lässt die Geschichte der Lehre von Rechtfertigung und Versöhnung, im Unterschied zu Baur, „erst mit dem Mittelalter beginnen“ (ebd.). Die Vorstellungen der griechischen Väter „über die Erlösung des Menschengeschlechtes von der Macht des Teufels und über die Vergöttlichung des Menschengeschlechtes als Natureinheit“ (Ritschl, 22) werden von Ritschl in die Einleitung verwiesen und unter „den Titel von Erlösung und Vollendung der in Sünde und Unvollkommenheit verfallenen Menschen“ (Ritschl, 4) gebracht. Dabei unterscheidet Ritschl zwei Entwicklungsstufen: die erste – von Justin, Clemens Alexandrinus, Origenes, Irenäus und Hippolyt repräsentierte – bestimme den Einzelmenschen, die zweite – von Athanasius, Gregor v. Nyssa, Cyrill von Alexandrien und den Nachfolgern geprägte – hingegen die menschliche Natur insgesamt zum Gegenstand des Werkes Christi (vgl. im Einzelnen Ritschl, 4–21). Unterschiedslos geteilt werde dabei indes von allen die Auffassung, dass Christi Wirken auf Unsterblichkeit und Vergottung gerichtet sei. Demgegenüber trete in der westlichen Tradition die Überwindung von Sünde und Schuld in das Zentrum des theologischen Interesses am Werk Christi. An die Stelle der Lehre von der Erlösung und Vollendung des menschlichen Geschlechts rücke deshalb die Lehre von der Versöhnung. Anselm von Canterbury eröffne das erste Kapitel ihrer Geschichte. Baur ging in seinem 1838 erschienenen Werk über Ferdinand Christian Baur „Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung von der ältesten Zeit

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bis auf die neueste“ anders vor (vgl. im Einzelnen Wenz I, 321 ff.). Er handelte in drei ausführlichen Kapiteln von den Gnostikern, von Irenäus und Origenes, den Kirchenlehrern vom vierten Jahrhundert bis zum Anfang des Mittelalters und schließlich von Johannes Scottus Eriugena, dem Lehrer Karls des Kahlen, bevor er auf Anselm von Canterbury zu sprechen kam. Im Grundsatz, dass der eigentliche Anfang der dogmatischen Entwicklung erst damit beginne, dass der Tod Jesu Christi unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit gestellt werde, stimmt Baur mit Ritschl zwar überein; auch für ihn ist die voranselmische Geschichte der Versöhnungslehre Vorgeschichte. Doch sei ihre Kenntnis nötig, um Anselms Leistung gebührend würdigen zu können. Sie bestehe im Wesentlichen in der theologischen Auffassung der Gerechtigkeit als einer immanenten Eigenschaft Gottes, wohingegen sie vor ihm, jedenfalls häufig, „nur auf ein äusseres Verhältniß bezogen wurde. Nicht der Gerechtigkeit, durch welche Gott nur von sich selbst abhängig ist, sondern der Gerechtigkeit, die in Beziehung auf das Verhältniß Gottes zum Teufel, mit Rücksicht auf das dem Teufel über die Menschen zustehende Recht, nicht verlezt werden darf, sollte vor allem Genüge geschehen, um den Menschen von der Schuld der Sünde zu befreien und mit Gott auszusöhnen.“ (Baur, 27). Dieser äußerlichen Auffassung des Begriffes der Gerechtigkeit habe Anselm sein theologisches Verständnis entgegengesetzt, indem er den vor ihm weithin anerkannten Grundsatz bestritt, der Teufel habe durch die Sünde, zu welcher er die Menschen verführte, ein Anrecht auf sie erlangt. Nach Baur bewegt sich die durchschnittliche altkirchlich-frühmittelalterliche Versöhnungslehre im Rahmen der Vorstellung eines Loskaufs des Sünders aus dem Rechtsbereich des Teufels. Zwar darf es nach seinem Urteil „vielleicht nicht für ganz zufällig gehalten werden, daß nicht alle Kirchenlehrer mit derselben Entschiedenheit, wie Augustin, hierüber sich aussprachen. Während nach Augustin der Teufel das volle Eigenthums-Recht auf den Menschen hatte, erklärte es Leo der Große wenigstens für ein tyrannisches Recht, und Gregor der Große, obgleich er auf der einen Seite die Realität des Rechts an sich nicht läugnen konnte, auf der andern auch wieder für ein bloßes Scheinrecht, und die folgenden Kirchenlehrer bleiben, ohne den Rechtsbegriff besonders hervorzuheben, mehr nur bei der unbestimmteren Vorstellung stehen, der Mensch sey in der Folge der Sünde in der Gewalt des Teufels gewesen.“ (Baur, 68) Eine vermittelnde Zwischenstellung zwischen der überkommenen Theorie einer Erlösung und eines Loskaufs des Sünders aus der Rechts- und Machtsphäre des Teufels und der Versöhnungslehre Anselms von Canterbury räumt Baur Athanasios von Alexandrien und seinem Werk „Über die Menschwerdung des Logos und sein Erscheinen unter uns“ ein. Als der inkarnierte Logos erfüllte Jesus Christus nach Maßgabe von Baurs Athanasiusdeutung durch Hingabe und Aufopferung seines Menschseins „für Alle die Schuldforderung des Todes, und indem er durch das Gleiche mit Allen als der unsterbliche Sohn Gottes verbunden war, zog er Allen durch die Verheissung der Auferstehung die Unsterblichkeit an. Diese Vorstellung ist unstreitig ein in mancher Hinsicht merkwürdiges Mittelglied zwischen den beiden Haupttheorien, der auf

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den Teufel sich beziehenden, und jener andern, zu welcher wir erst den Uebergang von jener auffinden sollen. Sie schließt sich an die erstere dadurch an, daß sie von der Herrschaft des Todes über die Menschen ausgeht. Der gleichsam personificirte Tod vertrit die Stelle des Teufels, ist aber Gott gegenüber keine ebenso selbstständige Macht, da er an sich nur die an dem Menschen haftende Schuld der Sünde bezeichnet. Es steht daher nichts entgegen, den den Zusammenhang zwischen der Sünde oder der Schuld der Sünde und dem Tod vermittelnden Begriff der Gerechtigkeit auf Gott zu beziehen. Wie Gott es ist, der mit der Sünde, wegen der an ihr haftenden Schuld, den Tod verbunden hat, so ist es auch nur Gott, dessen Recht durch die Aufhebung des Todes nicht verlezt werden darf.“ (Baur, 95 f.) Auch Ritschl hat Athanasius eine Sonderstellung innerhalb der altkirchlichen Theologie zuerkannt. Doch sei er nicht eigentlich als Versöhnungslehrer zu qualifizieren, weil seine Heilslehre wie die der gesamten Alten Kirche zuletzt nicht auf Behebung von Sündenschuld, sondern auf Vermittlung von Unsterblichkeit hinauslaufe. Als Ziel, zu dessen Erlangung der Gottmensch befähige, werde eindeutig die aphtharsia bestimmt: „und da diese das wesentliche Attribut Gottes im Gegensatz zur Schöpfung ist, so wird das im Christenthum dargebotene höchste Gut auch als Vergottung (theopoiesis) bezeichnet.“ (Ritschl, 4) Für Ritschl ist damit das Thema der Versöhnungslehre verfehlt bzw. noch gar nicht erst erreicht; ihre Geschichte beginne recht eigentlich erst mit Anselm. Die Differenz zwischen Baur und Ritschl in der AufRealisierung fassung der Geschichte christlicher Versöhnungsder Versöhnungsidee lehre reicht über eine abweichende Bestimmung der materialen Themenbestände weit hinaus. Sie ist systematisch und in einer wenn nicht gegensätzlichen, so doch sehr unterschiedlichen Bestimmung der Aufgabe wissenschaftlicher Dogmengeschichtsschreibung begründet. Folgt man Baur, der die Dogmenhistoriographie „auf eine noch nicht dagewesene und auch später kaum erreichte Höhe“ (Hauschild, 118) führte, so hat diese weder als „Legitimationswissenschaft der Dogmatik“ (Hauschild, 117), noch einem subjektiven Emanzipationsinteresse zu dienen, welches durch den Nachweis geschichtlicher Bedingtheit und Variabilität den allgemeinverbindlichen Anspruch von Dogmen zu unterlaufen suche. Ihre Aufgabe sei es vielmehr, den materialen Dogmengehalt in seiner Genese so zu erschließen, dass sein Sinn und Geltungsanspruch konsequent daraus hervorgehe. In der Darstellung des objektiven Materials soll, mit Baur zu reden, „die innere Bewegung des Begriffs selbst sich darstell(en)“ (Baur, V). Das gilt für die Dogmengeschichte im Allgemeinen und für die Geschichte der christlichen Versöhnungslehre im Besonderen. Ist doch Baur zufolge in der Idee realisierter Versöhnung von Gott und Mensch der Inbegriff des Christentums, ja aller Religion gegeben. „Hat die Religion überhaupt, ihrem allgemeinsten Begriff nach, das Verhältniß Gottes und des Menschen zu ihrem Gegenstand, so stellt sich dieses Verhältniß sogleich als ein doppeltes dar, auf der einen Seite als der Unterschied des Menschen von Gott, auf der andern als die Einheit des Menschen mit Gott. Die Beziehung, in welcher diese beiden Seiten zu einander

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stehen, gibt dem Begriff der Religion die Bewegung, durch welche er in seine Momente auseinandergeht, und sich mit sich selbst vermittelt. Besteht nun diese Vermittlung, durch welche der Begriff der Religion sich selbst realisirt, darin, daß die Trennung des Menschen von Gott als eine in seiner Einheit mit Gott aufgehobene und ausgeglichene aufgefaßt wird, so bezeichnet der Begriff der Versöhnung den Punct, in welchem das eine Moment in das andere übergeht: die Möglichkeit dieses Uebergangs aus dem Getrenntseyn von Gott in das Einsseyn mit Gott soll die Lehre von der Versöhnung nachweisen und zum klaren Bewußtseyn bringen.“ (Baur, 1) Der Gedanke der Versöhnung ist nach Baur „Mittelpunct jeder Religion“ (Baur, 1). Das Christentum aber habe als Religion der Religionen deshalb zu gelten, weil in ihm der Begriff der Versöhnung allererst „seine wahrhaft reelle Bedeutung“ (Baur, 2) gewonnen habe. Während im Heidentum die Idee der Versöhnung nur in dunkler Ahnung sich andeute, da die Unmittelbarkeit natürlichen Seins noch nicht verlassen sei, erhebe sich in der jüdischen Religion das religiöse Bewußtsein dergestalt über die Natur, daß es den Menschen „als freies, persönliches Wesen dem über der Natur stehenden freien, persönlichen Gott gegenüber (stellt)“ und „an die Stelle des Naturbewußtseyns … das Volks- und Staatsbewußtseyn (setzt), dessen wesentliche Bestimmung das Gesez ist“ (Baur 3). Damit ist nach Baur zwar ein wesentlicher Schritt auf dem religionsgeschichtlichen Weg der Realisierung der Versöhnungsidee geleistet; sofern aber das Judentum die Möglichkeit der Versöhnung des Menschen mit Gott an die unmittelbare Gleichschaltung des Einzelwillens mit der Allgemeinheit des göttlichen Gesetzes binde, vermöge es den Gegensatz zwischen Gott und Mensch nur gewaltsam zu lösen, nicht aber wirkliche Vermittlung zu leisten. Diese sei dem Christentum vorbehalten, in welchem in der Person des Gottmenschen Jesus Christus jene Einheit des Göttlichen und Menschlichen offenbar werde, welche das Judentum als ihre Zukunft noch außer sich habe. „Alles, was das Christenthum im Gegensaz gegen das Heidenthum und Judenthum auf den Standpunct der absoluten Religion erhebt, hat zugleich die unmittelbarste Beziehung auf die Idee der Versöhnung, und das Christenthum ist, wie es in der zur Wirklichkeit gewordenen Idee der Einheit des Göttlichen und Menschlichen, in der Person des Gottmenschen, die Religion der Erlösung ist, so auch die Religion der absoluten Versöhnung.“ (Baur, 5) Die Begriffe Erlösung und Versöhnung ordnet Baur einander so zu, daß die Versöhnung den in- Versöhnung und Erlösung neren Grund der Erlösung, die Erlösung die äußere Gestalt der Versöhnung bezeichnet. „Während … der Begriff der Erlösung zunächst nur auf das Thatsächliche geht, auf die von Gott durch die Sendung des Erlösers getroffene Veranstaltung, durch welche im Menschen eine solche geistige Veränderung bewirkt werden soll, vermöge welcher er aus dem Zustand der Sünde in den Zustand der Gnade übergeht, bezieht sich der Begriff der Versöhnung auf die die Realität der Erlösung selbst erst begründende, so zu sagen, metaphysische Frage: wie sich aus der Idee Gottes die Möglichkeit der Aufhebung der mit der Sünde, ihrer Natur nach, verbundenen Schuld begreifen läßt?“ (Baur, 6 f.) Durch die Person

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des Gottmenschen als der manifesten Idee der Einheit des Göttlichen und Menschlichen sieht Baur das von ihm entwickelte Verhältnis von Erlösung und Versöhnung bestätigt. Der Versöhnungstod Jesu Christi gilt dem christlichen Bewusstsein als die objektive Voraussetzung der universalen Wirkung der die Gesamterscheinung des Gottmenschen kennzeichnenden Erlösungsmacht, mithin auch als Möglichkeitsgrund subjektiven Erlösungsbewusstseins. Das Problem der rechten Zuordnung der Begriffe Versöhnung und Erlösung erweist sich als elementar verbunden mit der Frage, wie sich der differenzierte Zusammenhang von Objektivem und Subjektivem im Christentum richtig bestimmen lässt. Auf die Lösung dieser Frage ist nach Baur der gesamte Entwicklungsgang der Geschichte des christlichen Geistes und seiner dogmatischen Selbstentfaltung gerichtet. Auf welche Weise das Christentum „die allein wahre ewige Versöhnung objectiv vollbracht hat, und in jedem Einzelnen subjectiv realisirt, ist die neue Aufgabe des den absoluten Inhalt des Christenthums aus seiner objectiven Unmittelbarkeit in sein subjectives Bewußtseyn aufnehmenden und für dasselbe vermittelnden Geistes“ (Baur, 5). Im Verfolg dieser Aufgabe erweist sich die Geschichte christlichen Geistes als die Geschichte sich realisierender Versöhnung. Denn die historischen Erscheinungsgestalten, welche das christliche Versöhnungsdogma im Laufe seiner Geschichte annimmt, sind  – auf ihre Idee hin durchschaut  – nach Baur nichts anderes als Manifestationen verschiedener, aufeinander verweisender Momente, welche in der Totalität des Begriffs der Versöhnung ihre Einheit haben. Den differenzierten Zusammenhang der begrifflichen Entwicklung in ihren historischen Existenzformen zu rekonstruieren, ist Sinn der Baur’schen Untersuchung. Wie aber das Christentum an dem Gedanken der Versöhnung seinen Inbegriff hat, so entspricht die Gliederung der Geschichte des Versöhnungsbegriffs der Periodisierung der Geistesgeschichte des Christentums im Allgemeinen: der rein objektive Standpunkt dogmatischer Substantialität, wie er die Alte Kirche charakterisiere und weite Strecken des Mittelalters präge, habe in der Versöhnungslehre seine feste Bestimmung in der Anselm’schen Satisfaktionstheorie erreicht (vgl. Baur 21–282). Der Übergang von dem Standpunkt der unmittelbaren Objektivität zu dem Standpunkt der Subjektivität (vgl. Baur, 283–562) hebe zwar bereits im Mittelalter an, sei aber erst in der Folge der Reformation konsequent vollzogen worden. Er spreche sich im Zusammenhang der Versöhnungslehre darin aus, „daß, während auf der objectiven, im Satisfactionsdogma sich darstellenden, Seite nur Gott es ist, welcher sich mit dem Menschen versöhnt, nun umgekehrt, vom subjectiven Gesichtspunct aus, nur in dem mit Gott sich versöhnenden Menschen der eigentliche Proceß der Versöhnung erfolgen sollte“ (Baur, 13 f.). Während sie in der Zeit zwischen Reformation und der Mitte des 18. Jahrhunderts noch mehr oder minder mit dem Moment der Objektivität konfligiert, ist die Subjektivität Baur zufolge in der Neologie zur vollen Durchsetzung gelangt. „Je mehr aber die Subjectivität nicht nur zu ihrem Recht kam, sondern auch in ihrer ganzen Einseitigkeit sich geltend machte, desto mehr trieb sie dadurch den subjec­ tiven Geist zur Anerkennung der Nothwendigkeit, sich seiner subjectiven Willkür

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zu entledigen, und das Allgemeine und Objective, das der Subjectivität allein ihren festen Haltpunct gibt, sich zum Bewußtseyn zu bringen.“ (Baur, 14) Die Namen Kant, Schleiermacher und Hegel markieren den in sich erneut dreifaltigen Entwicklungsgang dieser dritten und letzten Periode (vgl. Baur, 563–752) in der Geschichte des im Versöhnungsbegriff sich zusammenfassenden christlichen Dogmas. Ihre geistige Vollendung koinzidiert mit der vollzogenen Selbstrealisierung des Begriffs der Versöhnung. Der nunmehr erreichte Standpunkt, auf welchem wir Baur an Hegels Hand stehen sehen, ist „zwar auch wieder der Standpunct der Objectivität, aber diese Objectivität ist eine ganz andere, als jene erste unmittelbare, von welcher die ganze Bewegung des Dogmas ausging, es ist die durch die Subjectivität vermittelte, ideelle Objectivität des absoluten Geistes, zu dessen Wesen es ebenso gehört, sich in der Aeusserlichkeit der geschichtlichen Existenz zu objectiviren, und in die Endlichkeit des subjectiven Bewußtseyns einzugehen, als auf der andern Seite aus seiner Objectivirung und Verendlichung zu sich selbst, seiner Unendlichkeit und absoluten Wahrheit, zurückzukehren“ (Baur, 14 f.). Baur unterteilt seine Geschichte der christlichen Versöhnungslehre in drei Entwicklungsperioden. Albrecht Ritschl Die Entwicklung von der ältesten Zeit bis zur Reformation bezieht den, wie es heißt, Standpunkt der unmittelbaren Objektivität, die von der Reformation bis zur Kant’schen Philosophie reichende zweite Periode befindet sich im Übergang von diesem zum Standpunkt der Subjektivität, die abschließende dritte, die in Hegels System zur Vollendung gelangt, kennzeichnet Baur als den Standpunkt der durch Subjektivität vermittelten Objektivität. Gibt Baurs dreifaltige Darstellung des Materials bereits eindeutige Hinweise auf den zu erwartenden dialektischen Gang des Gedankens, dem die äußere Geschichte folgt, so setzt Ritschl schlicht elf Kapitel nebeneinander, ohne darüber hinaus ihren systematischen Zusammenhang kenntlich zu machen. Er verleiht damit seiner grundlegenden Devise Ausdruck, daß Geschichtsforschung und Geschichtsphilosophie zweierlei seien (vgl. Ritschl, 30). Beides in eins gesetzt zu haben, ist der wesentlichste aller Vorwürfe gegen Baur. Dabei wiederholt Ritschl die bereits in dem erwähnten Tübinger Gespräch geäußerte Kritik, Baurs Geschichtsschreibung laufe auf eine „konstruktivistische“ Vergewaltigung des historischen Einzelphänomens hinaus. Abgesehen davon, dass „die Gruppirung der einzelnen Theile der Darstellung in dem geschichtsphilosophischen Rahmen in nicht wenigen Fällen hinter der kunstmäßigen Gliederung zurück(bleibt), welche durch den eigenthümlichen Standpunkt des Geschichtschreibers verheißen wird“ (Ritschl, 22), seien die Analysen Baurs niemals darauf gerichtet, „die Gedankenreihe eines Andern aus ihren Grundbegriffen zu construiren. Er hat nie die Geduld, die etwa obwaltenden Widersprüche auf dem Wege dieser Reconstruction an das Licht treten zu lassen; sondern er greift jede Lehrdarstellung bei irgend einer Spitze an, welche einen Widerspruch darzubieten scheint, und führt seine Kritik in einem Raisonnement durch, welches fast niemals die Evidenz der Gerechtigkeit an sich trägt.“ (Ritschl, 25) Die Baur’sche Konzeption ist damit eines Systemzwangs bezichtigt, welcher ohne Rücksicht auf

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historische Individualität alles seinem gleichschaltenden Begriffsbann unterwerfe. Radikal ist diese Vorhaltung insofern, als mit der Kritik an seiner Darstellung der Geschichte der Versöhnungslehre Baurs Versöhnungsidee selbst infrage steht, welche ihr eigentümliches Wesen doch gerade in der Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem, Subjektivem und Objektivem zu haben beansprucht. Die Notwendigkeit einer Emanzipation vom Schema logisch-begrifflicher Geschichtskonstruktion stand für Ritschl zeitig fest, insofern er durch dieses die Eigenart des wirklichen Geschehens zwangsläufig übergangen sah. Die Frage nach den gedanklichen Prinzipien, die sein geschichtliches Buch leiten, wies er deshalb als unpassend und ungehörig zurück. Dennoch lässt sich nicht übersehen, dass sich Ritschl nicht mit der Rolle eines Advokaten des Faktischen begnügte, da er das als real Befundene mit dezidierten Werturteilen versah. Ein paradigmatisches Bewertungskriterium ist die Unterscheidung zwischen einer ethischen und einer juridischen Auffassung der Versöhnung. Dabei gilt Ritschls Wertschätzung stets der ethischen Ausprägung des Versöhnungsgedankens, während er die juridische Betrachtungsweise für minderwertig hält. Schon der im Eingangskapitel vorgenommene und eindeutig zugunsten des letzteren entschiedene Vergleich zwischen Anselm und Abaelard (Ritschl, 31–54) dient der Abwehr einer einseitigen Bevorzugung juridischer Vorstellungskategorien in der kirchlichen Versöhnungslehre und kann einen Eindruck von Ritschls Bewertungsmaßstäben geben. Mit der Geringschätzung einer von Begriffen der Jurisprudenz bestimmten Fassung der VersöhnungsRechtfertigung und lehre verbindet sich bei Ritschl zugleich die strikte Versöhnung Ablehnung der Vorstellung einer durch die Versöhnungstat Jesu Christi bestimmten Umstimmung Gottes. Bereits die ungewöhnliche Reihenfolge der Titelbegriffe will als Hinweis darauf verstanden werden. „Der Titel: Rechtfertigung und Versöhnung hat den Sinn, daß die richtige Darstellung der Sache in der Linie gedacht ist, welche die Annahme einer Umstimmung Gottes durch Christus von Zorn zu Gnade ausschließt.“ (Ritschl, 2) Ritschl beruft sich dabei auf Röm 5,1–11, wo „die Vorstellung von Versöhnung der Sünder mit Gott als Synonymon der Rechtfertigung oder Gerechtsprechung“ (ebd.) auftrete und eine mögliche Abweichung höchstens darin zu erkennen sei, dass der Begriff der Versöhnung „einen volleren Sinn“ (ebd.) ausdrücke als derjenige der „Gerechtsprechung“ (ebd.). Es zeigt sich, dass schon die Beschreibung und Zuordnung der Titelbegriffe eine Entscheidung über den gesamten zu verhandelnden Sachzusammenhang impliziert. Ein Vergleich der Baur’schen und Ritschl’schen Entwicklung der christlichen Versöhnungsgeschichte ergibt bereits bezüglich der Themenbestimmung nicht unerhebliche Differenzen. Dies hängt mit dem unterschiedlichen Verständnis des Versöhnungsbegriffs und der Tatsache zusammen, dass dieser selbst an der Geschichte Anteil hat, deren thematischen Zusammenhang er benennen soll. Seine Bedeutung schwankt erwartungsgemäß in der Geschichte und ist nicht nur zwischen Baur und Ritschl strittig. Ein Beispiel dafür gibt Martin Kähler (vgl. im Einzelnen

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Wenz II, 132 ff.), der als Dritter im Bunde der großen Geschichtsschreiber und Systematiker der Versöhnungslehre erwähnt werden soll, wenngleich vorerst nur bezüglich seiner Studie zum Wort „Versöhnung“ im Sprachgebrauch der kirchlichen Lehre; doch lässt sich bereits aus ihr ersehen, worauf es Kähler sachlich ankommt und worin er sich von Baur und Ritschl unterscheidet. Das deutsche Wort „Versöhnung“ hängt etymologisch mit dem Sühnebegriff zusammen, ohne dass Martin Kähler dadurch über seine Bedeutung schon klar befunden wäre. Ist doch der Begriff der Sühne im Deutschen kaum weniger vieldeutig als derjenige der Versöhnung. In der Regel bezeichnet letzterer die Behebung eines Missverhältnisses, das durch unrechtes, beziehungswidriges Verhalten zustande kam. Um die Beziehungswidrigkeit in ein beziehungsgemäßes Verhältnis zu transformieren, das beiden Teilen gerecht wird, bedarf es der Versöhnung, wobei die Mittel ihres Zustandekommens sehr unterschiedlich sein können. Durch die generelle Regel seiner Verwendung ist die spezielle Bedeutung des Versöhnungsbegriffs daher nur ansatzweise festgelegt; über sie entscheidet von Fall zu Fall der jeweilige Kontext, der rechtlich, moralisch bzw. religiös im kul­tischen oder anderweitigen Sinne bestimmt sein kann. Kählers Studie zum Versöhnungsbegriff setzt mit der für einen entschiedenen Bibeltheologen überraschend anmutenden These ein, mit dem Zurückgehen auf den Sprachgebrauch des Neuen Testaments sei „nicht schon alles, ja unter Umständen noch nicht einmal das Wichtigste“ (Kähler, 2) getan. Zwar treffe es zu, dass das neutestamentliche katallage, für das in der Vulgata überall reconciliatio stehe, im Deutschen mit Versöhnung wiedergegeben werde. Doch sei durch diesen richtigen Hinweis die Frage der Eigenbedeutung der bezeichneten Wörter noch keineswegs geklärt, welche stark kontextabhängig und im geschichtlichen Wandel begriffen sei. Habe die Vulgata beispielsweise noch sorgsam zwischen der Bedeutung der Begriffe reconciliare und placare, expiare bzw. propitiare unterschieden, sei der Sinn für diese Differenzierungen und die differenten Bedeutungsgehalte, die sich mit ihnen verbanden, beizeiten verloren gegangen, so dass der Ausdruck reconciliare zum Synonym für placare etc. werden konnte. Auch im deutschen Begriff der Versöhnung verschwimmen nach Kähler rekonziliatorische, expiatorische und sonstige Bedeutungskomponenten. Diese terminologische Unbestimmtheit kennzeichne nicht zuletzt den Gebrauch, der in der Reformation und in der altprotestantischen Orthodoxie von beiden Begriffen gemacht worden sei. Der Terminus reconciliatio habe u. a. sinnidentisch mit satisfactio oder redemptio, der Versöhnungsbegriff promiscue mit demjenigen der Sühne oder vergleichbaren Termini gebraucht werden können. Auch im Blick auf die nun mehr oder minder ausschließlich in der Muttersprache schreibende Dogmatik der Neuzeit lässt sich nach Kähler nicht behaupten, „daß unsre deutsche Theologie den einflußreichen Ausdruck der Versöhnung den Paulinischen Stellen von der katallage entlehnt habe. Er hat sich vielmehr im Anschluß an die biblischen Berichte und Vorstellungen vom Opferwesen entwickelt, wenn er nicht etwa seinen Ursprung in

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der mittelalterlichen Lehre von der Buße gewonnen hat.“ (Kähler, 37) Schließe sich die neuzeitliche Theologie bezüglich des Versöhnungsbegriffs terminologisch weithin dem herkömmlichen, dogmatisch üblich gewordenen Sprachgebrauch an, so geschehe dies doch keineswegs, um den Inhalt des überkommenen Dogmas festzuschreiben. In ihrer Entwicklung zeichne sich vielmehr „die vielseitige Bewegung ab, welche zur (schließlichen) Auflösung der bisherigen Lehrweise nach Inhalt und Form führte“ (Kähler, 23). Kähler legt Wert auf die Feststellung, dass dieser Bruch mit dem Ansehen der Überlieferung nötig war, um den Blick für das Eigentümliche des biblischen Versöhnungsgedankens wiederzugewinnen. Vor allem der dem Erweckungstheologen Gottfried Menken (vgl. Wenz  I, 443 ff.) zugeschriebenen Neuentdeckung, dass Gott „Subjekt“, nie aber Objekt der Versöhnung sei, misst Kähler dabei größtes Gewicht bei. „Man wird“, so betont er, „nicht verkennen können, wie sich hier aus tiefem Verständnisse des Biblischen heraus ein Sinn dafür entwickelt hat, daß in der Fassung von der placatio dei etwas beiden Testamenten Fremdes in das Verständnis der Schrift hineingekommen war.“ (Kähler, 25 f.). Die Auswirkungen dieser Einsicht beurteilt Kähler indes divergent: Die Folgerung, dass der durch den Versöhnungsbegriff bezeichnete Vorgang schlechterdings und allein ins menschliche Bewusstsein fallen könne, wenn denn Gott niemals als Objekt der Versöhnung vorzustellen sei, weist er entschieden ab. Sosehr er im Anschluss an den biblischen Befund Gott zum alleinigen „Subjekt“ der Versöhnung erklärt, möchte er doch christologisch an der überkommenen rekonziliatorischen und expiatorischen Doppelbedeutung des Versöhnungsbegriffs jedenfalls insoweit festhalten, als durch sie sowohl in theologischer als auch in anthropologisch-soteriologischer Hinsicht die objektive oder wie er sagt: geschichtlich-positive Wirklichkeit und Wirksamkeit der Heilstat Christi zum Ausdruck kommt. Es ist üblich geworden, das Kreuzesgeschehen leWirkzeichen diglich als Ausdruck, nicht aber als Wirkzeichen der Gnadenliebe der Liebe Gottes zu verstehen. Jesus Christus sei gestorben, nicht damit, sondern weil Gott Menschheit und Welt liebte. Diese Feststellung ist nicht falsch. Zu fragen ist allerdings, ob mit Entgegensetzungen dieser Art nicht Alternativen konstruiert werden, die dem neutestamentlichen Zeugnis fremd sind. Vergleichbares gilt in Bezug auf den alt­ testamentlichen Befund: Man kann durchaus sagen, dass das, was die hebräische Bibel mit Sühne meine, das Ergebnis der von Gott gewährten Versöhnung selbst sei. Doch darf nicht unterschlagen werden, dass zum Versöhnungsgeschehen das Moment bestimmter Negation der Sünde hinzugehört. Versöhnung ohne Sündensühnung widerspricht der Gerechtigkeit Gottes, die auch unter neutestamentlichen Bedingungen bleibend in Geltung steht. Göttliche Gerechtigkeit und göttliche Liebe lassen sich nicht unmittelbar in eins setzen. Ihr Zusammenhang ist der einer durch keine Theorie und Praxis zu synthetisierenden Differenz. Eins sind Gerechtigkeit und Liebe Gottes nach christlichem Zeugnis nur im dreieinigen Gott, wie er im auferstandenen Gekreuzigten kraft seines Geistes offenbar ist.

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Deutet man das Kreuz Jesu Christi nur als Explikation, nicht aber als implizite Voraussetzung der Gottesliebe, dann bleibt seine soteriologisch konstitutive Funktion notwendigerweise unterbestimmt. Verhindern lässt sich dies nur unter der Voraussetzung, dass die theologia crucis nicht expliziert, was prinzipiell auch ohne sie denkbar wäre; stellt doch das Kreuz Jesu Christi ein auch in theologischer Hinsicht fundamentales Datum dar. Es bedurfte des bei unvoreingenommener Betrachtung zunächst merkwürdig anmutenden Konstrukts der Trinitätslehre, um der grundlegenden Bedeutung dieses Faktums gedanklichen Ausdruck zu verleihen. Theologia crucis und Trinitätslehre gehören untrennbar zusammen. Der Gott des Evangeliums und der Liebe ist der dreieinige Gott, der nicht nur nicht als derjenige, welcher er ist, erkannt würde, sondern der – man muss das so sagen – auch nicht wäre, was er ist, wäre Jesus Christus nicht für uns gestorben und für uns in der Kraft des Hl. Geistes auferweckt worden und auferstanden. Konkret wird diese auf den ersten Blick abstrakt anmutende Überlegung, wenn man nach dem Verhältnis der sog. allgemeinen Gotteslehre zur Trinitätslehre, noch konkreter, wenn man nach den göttlichen Wesensattributen und nach dem Verhältnis der Gerechtigkeit des allmächtigen Gottes zu seiner väterlichen Versöhnungsliebe, also genau danach fragt, was der zentrale Gegenstand der Kreuzestheologie ist. Das Kreuzesgeschehen ist nicht nur Erkenntnis‑, sondern auch wirksamer Realgrund der göttlichen Liebe. Um dies zur Geltung zu bringen, muss deutlich werden, dass Versöhnung ohne das Moment bestimmter Negation von Sünde und Schuld nicht nur nicht denkbar, sondern faktisch unmöglich ist. Entscheidend aber kommt es darauf an, theologisch zu klären, was das Kreuz Jesu Christi für die Gottheit Gottes selbst bedeutet. Martin Kähler hat in seiner Versöhnungslehre (vgl. Wenz  II, 132 ff.) einen solchen Klärungsversuch unternommen; er ist auch heute noch aller Aufmerksamkeit wert – nicht zuletzt, was den Zusammenhang von Versöhnungsund Rechtfertigungslehre anbelangt. Von Albrecht Ritschl wurde, wie erwähnt, die traditionelle Reihenfolge der Begriffe Versöhnung und Rechtfertigung im Titel seines Hauptwerkes umgekehrt mit der Begründung, dass der Vorstellung einer die Rechtfertigung des Sünders bedingenden Versöhnung Gottes durch Christus der Abschied zu geben sei. Auch Kähler problematisiert unter Verweis auf die Hl. Schrift „die Annahme einer Umstimmung Gottes durch Christus von Zorn zu Gnade“ (Ritschl, 2) und stimmt mit Ritschl in der Feststellung einer weitgehenden Sinngleichheit der Begriffe Versöhnung und Rechtfertigung im biblischen Sprachgebrauch überein. Nichtsdestoweniger will er den Begriff der Versöhnung als implizite Voraussetzung des Rechtfertigungsbegriffs systematisch erhalten wissen, um das Missverständnis abzuwehren, die Gerechtsprechung des Sünders durch Gott verstehe sich von selbst und sei unter Verweis auf die ewige Liebe Gottes auch unter Absehung vom Kreuzesgeschehen zu begründen. Die Rechtfertigung erfolgt, wie Kähler im Anschluss an den IV. Artikel der Confessio Augustana nachdrücklich betont, zwar gratis, bedingungslos und aus unbedingter göttlicher Gnadenliebe heraus. Doch gelte zugleich, dass die Rechtfertigungsgnade „propter Christum“ (BSLK 56, 5.7), um Christi willen gegeben

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werde, der für uns und unsere Sünden gestorben sei. Ohne das Kreuz des Versöhners sei Gerechtigkeit des Sünders vor Gott nicht zu erlangen. Der Rechtfertigungsglaube gründe im logos tou staurou und habe allein im Evangelium des auferstandenen Gekreuzigten Bestand. In diesem Sinne, so Kähler, setze der articulus stantis et cadentis ecclesiae den Versöhnungsartikel voraus. Beider Zusammenhang zu bedenken ist theologische Grundaufgabe jedes Reformationsgedächtnisses. Kurz vor der Dreihundertjahrfeier der Reformation Verworrener Quark? äußerte Goethe in einem Brief an seinen Dichterfreund Carl Ludwig von Knebel vom 22. August 1817 die Befürchtung, der vom nahen Jubelfest auf Pfaffen und Schulmeister ausgehende Zwang zur Produktion von hunderterlei Verherrlichungsschriften werde am Ende dazu führen, „dass die Figuren (sc. der Reformationsgeschichte)  ihren poetischen, mythologischen Anstrich verlieren. Denn, unter uns gesagt, ist an der ganzen Sache nichts interessant als Luthers Charakter und es ist auch das Einzige, was der Menge eigentlich imponirt. Alles Übrige ist ein verworrener Quark, wie er uns noch täglich zur Last fällt.“(Goethe, IV/28, 227; vgl. Suphan) Gemeint ist die reformato­rische Rechtfertigungslehre. Eberhard Jüngel hat zu dem Urteil des Olympiers im Kontext der Diskussionen um die 1999 in Augsburg unterzeichnete Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre von Lutherischem Weltbund und Päpstlichem Rat für die Einheit der Christen bemerkt: „Die Rechtfertigungslehre ein verworrener Quark? Man wird das wohl nur dann sagen können, wenn man nicht verstanden hat, worum es geht. Und dass man nicht verstanden hat, worum es geht, wird wohl zumindest auch darauf zurückzuführen sein, dass es unserer Kirche und unserer Theologie nur schwer gelingt, in die Sprache unserer Zeit zu übersetzen, was der Rechtfertigungsartikel besagt.“ (Jüngel, 5) Die nachfolgenden soteriologischen Fallstudien bieten keine aktualisierende Reformulierung des Rechtfertigungsartikels, sondern Beiträge zu seinem sachlichen Verständnis als der Basis jeder Übersetzungsarbeit. Als Leitbegriff fungiert der Begriff der Versöhnung, der aber von dem der Rechtfertigung oder der Erlösung im kirchlichen Sprachgebrauch nicht zu trennen ist. Der genaue Sinn der Termini im Verhältnis zueinander ist kontextabhängig und kann nur aus dem Zusammenhang ihrer jeweiligen Verwendung erschlossen werden. Grundlegendes Thema ist in jedem Fall „die Bedeutung des Gekreuzigten und Auferstandenen für die Gemeinschaft der Sünder mit Gott“ (Kähler, 38). Im thematischen Zentrum hinwiederum steht das urchristliche und bis heute entscheidende Problem, warum Jesus leiden musste. Eine ganz neue Antwort auf diese alte Frage hat unlängst der Münchener Jesuit Harald Schöndorf zu geben versucht. Er spricht vom „Paradox der Gerechtigkeit: zum einen nimmt sie die Gestalt des Rechtes an, das die Möglichkeit der erzwungenen Sanktion beinhaltet, zum anderen kann sie nicht durch ihre eigenen Mittel, d. h. durch Strafe und Ausgleich erfüllt werden, sondern nur durch etwas, was mehr ist als Gerechtigkeit, da es nicht vom Recht gefordert werden kann: die Vergebung und die Versöhnung.“ (Schöndorf, 79) Aus dieser Gegenüber­stellung ergibt sich die Schlüsselfrage, wie sich die Rechtsgestalt der Gerechtigkeit zur recht-

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lich nicht zu fordernden Barmherzigkeit der Vergebung und der Versöhnung verhält. Schöndorf deutet das Wort Jesu Mt 5,20 so, dass Barmherzigkeit nicht nur „nicht im Widerspruch zur Gerechtigkeit“ (ebd.) stehe, sondern diese vervollkommne, so dass Barmherzigkeit „die höchste Form der Gerechtigkeit“ (ebd.) zu nennen sei: „Wenn Gott Sünden vergibt, so verletzt er damit nicht die Forderungen der Gerechtigkeit, sondern er überführt die Gerechtigkeit im üblichen Sinn in die vollkommene Weise der Gerechtigkeit, durch die alle Beteiligten ‚gerechtfertigt‘ werden, wie man dies im Anschluss an Paulus formulieren kann (vgl. z. B. Röm 3, 21–26).“ (Ebd.) Die Überführung der Gerechtigkeit in ihren Vollkommenheitsstatus barmherzigen Vergebens hängt Warum musste Jesus Schöndorf zufolge an einer theologischen Bedin- leiden? gung, mit der zugleich die Notwendigkeit des Todes Jesu gegeben sei. Die Vergebung nämlich, die Gott dem Sünder gewähren wolle, setze aus Gerechtigkeitsgründen voraus, dass Gott von der Sünde betroffen sei und unter ihr leide. Es gilt der Grundsatz: „Der einzige, der das Recht zu vergeben besitzt, ist derjenige, der das begangene Unrecht erleidet.“ (Schöndorf, 93) Leiden unter der Sünde ist Schöndorf zufolge die Bedingung ihrer möglichen Vergebung. Da aber Gott in seiner Gottheit nicht leidensfähig sei, müsse vernünftigerweise angenommen werden, dass er Mensch zu werden hatte, um unter der Sünde zu leiden und auf diese Weise die Voraussetzung dafür zu schaffen, gerechterweise Sünden vergeben zu können. Damit, so Schöndorf, ist die alte Frage, warum Jesus leiden musste, einer neuen Antwort zugeführt: „Um uns heilen zu können, musste Gott in seinem menschgewordenen Sohn Jesus Christus die Folge der Sünde, den Tod auf sich nehmen. Denn nur so konnte sich Gott selbst den Wirkungen unserer Sünden aussetzen und damit die Voraussetzung schaffen, um uns unsere Sünden vergeben zu können.“ (Schöndorf, 99) Das Vermögen zu vergeben hat nur, „wer an dem von der Sünde verursachten Leiden und Sterben selbst teilhat“ (Schöndorf, 100) und sich in der Situation be­ findet, „die ihm das volle Recht gibt, dem Sünder die Vergebung seiner Schuld zu gewähren und damit wirklich diese Schuld zu tilgen“ (ebd.). Obwohl es sich bei ihm eigentlich um eine „einfache Überlegung“ (Schöndorf, 101) handelt, ist Schöndorf zufolge „allem Anschein nach in der gesamten bisherigen Geschichte der christlichen Theologie noch niemand auf diesen Gedanken gekommen“ (ebd.). Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Annahme zutrifft; der Anspruch, alte Wahrheiten auf ganz neue Weise zu lehren, ist jedenfalls nicht neu, sondern seinerseits schon ziemlich alt. Man vergleiche hierzu beispielsweise das zweite Stück der „Schutzschriften für eine neue Weise, alte Wahrheit zu lehren“ des evangelischen Konfes­ sionstheologen Erlanger Schule Johann Christian Konrad v. Hofmann: Christi Versöhnungswerk betreffend, und zwar, was die Kirche davon lehrt und wie sich hierzu verhält, was ich davon lehre, Nördlingen 1857 (vgl. Wenz II, 32 ff., bes. 56 ff.). Wer die Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit kennt, wird auf soteriologische Novitätsansprüche eher zurückhaltend reagieren.

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Doch hierauf kommt es primär nicht an. Wichtiger ist die Feststellung, dass das Postulat notwendiger Abschiede (vgl. Jörns) und der Anspruch, das Christentum neu zu denken (vgl. Limbeck), heute anders als vormals eine konfessionsübergreifende Herausforderung darstellt, welche die katholische Theologie aktuell nicht weniger betrifft als die evangelische, in der das Problem eine lange, in die Anfänge der Moderne zurückreichende Tradition hat. In zwei 1984/86 erschienenen Bänden habe ich die Geschichte „Geschichte der Versöhnungslehre in der evange­ der Versöhnungslehre lischen Theologie der Neuzeit“ (Wenz  I u. II) für den deutschsprachigen Bereich zusammenhängend zur Darstellung gebracht; hierauf sei der am historischen Detail Interessierte eigens verwiesen, weil im gegebenen Kontext vor allem bezüglich des „langen“ 19. Jahrhunderts vieles soteriologiegeschichtlich Bedeutsame nicht erneut die gebührende Aufmerksamkeit finden wird. Dies gilt für die Folgen von Pietismus und Neologie (vgl. Wenz I, 149–216), für die theologische Wirkungsgeschichte Kants in Supranaturalismus und Rationalismus (vgl. Wenz I, 236–275), für den Deutschen Idealismus und die insbesondere von Hegel geprägte spekulative Theologie, F. Chr. Baur eingeschlossen (vgl. Wenz  I, 277–341), für die erweckungstheologischen Soteriologen F. A. G. Tholuck und J.  Müller (vgl. Wenz  I, 401–422), aber auch für überragende Größen wie die erwähnten A. Ritschl (vgl. Wenz  II, 63–131) und M. Kähler (vgl. Wenz II, 132–166), deren einschlägige Werke in meiner Geschichte der Versöhnungslehre ebenso eingehend analysiert werden wie für das 20. Jahrhundert die Dialektische Theologie namentlich Karl Barths (vgl. Wenz  II, 193–278). Was hinwiederum die Gegenwart betrifft (vgl. Wenz II, 279–486; ferner: Korsch, bes. 37 f.), so sind die ehedem protestantismusspezifischen Probleme mittlerweile auch im römischen Katholizismus und darüber hinaus virulent geworden. Im Februar 2012 fand in der Münchener Katholischen Akademie eine vielbeachtete Diskussion zwischen dem Freiburger Fundamentaltheologen Markus Striet und dem Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück, beide namhafte Repräsentanten katholischer Universitätstheologie, über die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu Christi statt. Im Rahmen des Streitgesprächs wurde von Striet die Frage aufgeworfen, „ob Gott, der Vater, mit dem blutigen Tod des Sohnes auf Golgota nicht möglicherweise seine eigene Schuld gesühnt habe“ (Striet / Tück [Hg.], 8). Nach Striet leistet Gott „in der Menschwerdung die Satisfaktion für seine eigene Schöpfungstat, indem er sich als Sohn das zumutete, was er allen Menschen zumutet: Ein Leben, das nicht nur voller Schönheit und Lust sein kann, sondern auch ungeheure Abgründe bereithält. Wenn man so will, ‚sühnt‘ Gott sein riskantes Schöpfungswerk, und er gibt zugleich Hoffnung auf Zukunft.“ (Striet / Tück [Hg.], 23) Striets These ist primär nicht aus hamartiologischer Perspektive, sondern aus derjenigen „einer grundsätzlichen, in der Endlichkeitsstruktur des Menschen liegenden Er­ lösungsbedürftigkeit“ (Striet / Tück [Hg.], 21) entwickelt. Der endliche Mensch bedarf der Vermittlung seiner Endlichkeit mit der Unendlichkeit Gottes und zwar insbesondere dort, wo seiner Endlichkeit das Ende droht. Diese Vermittlung wird

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von Gott her durch die Inkarnation seines Sohnes und durch dessen Leben, Sterben und Auferstehen geleistet, wodurch der endenden Endlichkeit des Menschen in der Kraft des göttlichen Geistes ein unveräußerlicher Bestand in der göttlichen Unendlichkeit zuerkannt wird. Verbunden wird Striets an der – Erlösungsbedürftigkeit begründenden – Endlichkeitsstruktur des Menschen orientierte Argumentationsperspektive mit Gesichtspunkten transzendentalen Freiheitsdenkens, woraus Thesen wie etwa folgende hervorgehen: „Die Nichtmöglichkeit des Glaubens ist … von Gott selbst provoziert oder zumindest von ihm in Kauf genommen, weil er in der Freiheit des Menschen Gott für diesen sein will und deshalb eine sich durch Freiheit auszeichnende Geschichte braucht – so wie auch die Möglichkeit der Sünde von ihm eröffnet ist. Denn wer durch geschichtliche Vermittlung ein Selbst vor diesem Gott geworden ist, kann sündigen. Das gestorben für würde dann bedeuten, dass das zunächst von Gott provozierte Nichtwissen und dann die Abkehr von ihm, die sich dann wiederum in Engstirnigkeit und Lieblosigkeit dem anderen Menschen gegenüber auszeitigt, nicht das letzte Wort in der Geschichte zwischen dem offenbar gewordenen Gott und dem Menschen ist. Es ist in äußerster Weise erwiesen, dass dies nicht der Fall ist.“ (Striet / Tück [Hg.], 26 f.) Am Kreuz ist dieser Erweis nach Striet in österlich offenbarer, pfingstliche Hoffnungsaussichten erschließender Weise erbracht und zwar weniger aus Gründen der Anthropodizee als der Theodizee. Gott rechtfertigt sich im Leiden und Sterben Jesu Christi selbst bezüglich seines Schöpfungswerkes, Tück versus Striet welches mit der gottunterschiedenen Endlichkeit, wenn auch nicht die Tatsächlichkeit, so doch die Möglichkeit der Sünde gesetzt hat, der der Mensch faktisch verfiel und zwar, wie sich vermuten lässt, aus Gründen der Begrenztheit seines Freiheitsvermögens. Striet sagt dies nicht ausdrücklich, aber ohne diese Voraussetzung ergibt die der traditionellen Staurologie entgegengesetzte Rede von einer am Kreuz geleisteten Satisfaktion und Sühne Gottes für sein eigenes Schöpfungswerk keinen Sinn. Im Unterschied zu Striet ist Jan-Heiner Tück nicht bereit, Abschied von den soteriologischen Traditionsvorstellungen eines stellvertretenden Sühn- bzw. Versöhnungsopfers für die Sünde des Menschen zu nehmen. Er wählt vielmehr den Weg, diese Vorstellungen zu erklären und gegen unbegründete, auf Missverständnissen beruhende Einwände wie den Sadismusverdacht Gott gegenüber (vgl. Striet / Tück [Hg.], 39 ff.), die vermeintliche Unhaltbarkeit des Stellvertretungsgedankens (vgl. Striet / Tück [Hg.], 41 ff.) sowie den mit ihm angeblich verbundenen „Sündenabsolutismus“ (vgl. Striet / Tück [Hg.], 45 ff.) zu verteidigen. Den entscheidenden Vorbehalt gegenüber Striets Konzeption formuliert Tück wie folgt: „In der Tat ist die Selbstentäußerung des Sohnes ein Akt der Unterwerfung unter die conditio humana bis in Leiden und Tod hinein. Aber, so möchte ich zurückfragen, wird die biblische Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders durch den Gekreuzigten nicht umgeschrieben, wenn nicht mehr der Mensch wegen seiner Sünden rechtfertigungsbedürftig erscheint, sondern vor allem Gott selbst?“ (Striet / Tück [Hg.], 47 f.)

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Tück verweigert sich dem Versuch, die Sinnrichtung der auf den Kreuzestod Jesu Christi bezogenen pro-nobis-Aussagen des Neuen Testaments so umzukehren, „als ob Christus für Gott selbst – pro semetipso – Sühne geleistet habe“ (Striet / Tück [Hg.], 48; vgl. ferner: Hoping / Tück). Unbeschadet dessen weiß auch er nicht nur von einer Mitwirkung, sondern von einem Mitleiden Gottes im Kreuzesgeschehen zu sprechen. Die Passion des Gekreuzigten ist nach Tück ein Akt der com­ passio Gottes sowohl mit den Opfern als auch mit den Tätern der Geschichte, jedoch so, dass der Gegensatz zwischen beiden nicht vergleichgültigt, sondern um der Gerechtigkeit willen ewig aufgerichtet wird, ohne dass dadurch die Rettung des Sünders und die Versöhnung von Opfer und Täter definitiv unmöglich gemacht wird. Es sei im Gegenteil so, dass Gott am Kreuz durch tätiges Mitleiden mit Jesus Christus, dem österlich offenbaren eingeborenen Sohn, Rettung durch das Gericht hindurch bereite. Das altkirchliche Dogma ist Tück zufolge als der Versuch zu lesen, dieses Wunder aller Wunder begrifflich zu erfassen, ohne dabei das Empfinden seiner Unbegreiflichkeit zu verletzen. Die Frage, „wie einer für die Sünde aller sterben könne, berührt das Persongeheimnis Jesu Christi, das wohl nur aus der Perspektive des Glaubens erschwinglich ist. Nur wenn der Gekreuzigte nicht allein Mensch, sondern zugleich der mit dem ewigen Wort des Vaters geeinte Sohn gewesen ist, kann sein Sterben die rettende und versöhnende Kraft gehabt haben, die ihm die Kirche von Anfang an zuerkannt hat. Die Kreuzestheologie verweist daher in die Trinitätstheologie. Diese macht deutlich, dass Gott in Jesus das Andere seiner selbst bis in die tiefste Gottlosigkeit hinein aufsuchen kann, ohne sich selbst zu verlieren, weil er von Ewigkeit her Gemeinschaft in sich selbst verwirklicht.“ (Striet / Tück [Hg.], 49) Das oberste Lehramt der römisch-katholischen KirBergoglios Bekenntnis che hat den Streit zwischen Markus Striet und JanHeiner Tück bisher nicht entschieden, wie es sich denn im Hinblick auf Probleme der Soteriologie seit alters eher bedeckt hält. Dies schließt nicht aus, dass von Rom her höchst Relevantes zum Thema beigetragen wurde und wird. So hat Papst Franziskus unlängst auf die Frage, wer Jorge ­Mario Bergoglio sei, kurz und bündig geantwortet: „Ich bin ein Sünder. Das ist die richtigste Definition.“ (Spadaro, 27) Dem wird kein Protestant widersprechen und das umso weniger, als vom Papst ergänzend hinzugefügt worden ist: „Ich bin ein Sünder, den der Herr angeschaut hat.“ (Spadaro, 27 f.) Damit ist der Ansatz nicht nur reformatorischer, sondern einer allgemeinchristlich-katholischen Soteriologie treffend umschrieben, die berechtigten Anspruch auf Orthodoxie erheben darf.

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Dass es auf Erden zahlreiche schöne und reizvolle Geschöpfe von Evas Geschlecht gibt, entging auch den Söhnen des Himmels, den Engeln, nicht. Sie „sahen sie und begehrten sie und sprachen zueinander: ‚Auf, wir wollen uns Frauen aus den Menschenkindern wählen und uns Kinder zeugen!‘“ (Äth. Hen. 6,1) So steht es geschrieben im Buch des sog. äthiopischen Henoch, näherhin in den Anfangskapiteln seines Wächterbuch genannten Teils (Äth. Hen. 1–36), das die meisten Fachleute in das 3. Jhd. v. Chr. datieren. Insgesamt zweihundert Himmelssöhne sollen unter Anführung ihres Obersten namens Semyaza alias Shemihazah (vgl. Wright, 118 ff.) vor Zeiten ihrer Begierde gefolgt, herabgestiegen oder zutreffender: abgefallen sein, um sich Frauen zu nehmen, „zu ihnen einzugehen und sich mit ihnen zu vermischen“ (Äth. Hen. 7,1). Aus der unzüchtigen und verunreinigenden „Vermischung“ der verschworenen und durch Verwünschungen einander verpflichteten Engelsbande (vgl. Äth. Hen. 6,3 ff.) mit den reizenden Menschentöchtern gingen entartete Mischwesen hervor. Die Gier der abartigen Ungeheuer war riesig, und sie vermehrte sich immerzu. Sie fraßen zunächst den menschlichen Ernteertrag, den die Kultivierung der Erde erbracht hatte, dann die Menschen und schließlich sich gegenseitig auf. Das Oberste wurde zuunterst und das Unterste zuoberst gekehrt, so dass alles in ein chaotisches, ebenso kreatur- wie gottwidriges Durcheinander geriet: „Und die Welt veränderte sich“ (Äth. Hen. 8,1) fortschreitend zum Schlechten, ihre Bewohner „gingen in die Irre, und all ihre Wege wurden böse“ (Äth. Hen. 8,2). Die Schöpfung befand sich im „Ausnahmezustand“ (vgl. Bachmann), und die gute und gerechte Ordnung in ihr war in Auflösung begriffen. „Da klagte die Erde über die Frevler“ (Äth. Hen. 7,6), und die Schreie der Opfer des Unrechts drangen zum Himmel (vgl. Äth. Hen. 8,4). Sie blieben nicht unerhört. Die guten Engel, die im Himmel verblieben und ihn nicht verlassen hatten, allen voran die Erzengel Michael, Uriel, Rafael und Gabriel, bringen die Klagen vor Gott, der um alles weiß. Der Herr Himmels und der Erde befiehlt, dem Bösen Einhalt zu gebieten, seine satanische Macht zu bändigen und den Teufel in Ketten zu legen an einem Ort lichtloser Finsternis, um ihm am Tage des Gerichts den definitiven Garaus in der Glut eschatologischen Feuers zu bereiten. Der von seiner Gefolgschaft, den gefallenen Engeln, verdorbenen Menschenwelt aber wird Heil durch Verwirklichung göttlicher Gerechtigkeit verheißen, damit Gottlosigkeit, Sünde, Gewalttat etc. zu Ende kommen und Menschheit und Welt ihrer kreatürlichen Bestimmung zugeführt werden. Es ist nicht nötig, alle Details des protologischen und eschatologischen Dramas nachzuzeichnen, wie es das Wächterbuch schildert. Entscheidend ist, dass es im Kontext sowohl der Genese des Bösen als auch seiner schließlich erfolgenden Überwindung um ein Zusammenwirken von Macht und Unrecht bzw. Macht und Gerechtigkeit geht. Am Endsieg der göttlichen Macht der Gerechtigkeit ist nicht zu zweifeln. Er ist gewiss; auf die Bekräftigung dieser Gewissheit ist die gesamte Wächtergeschichte angelegt und zwar von Anfang an. Gleichwohl wird die Wächterbuch des äthiopischen Henoch

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Mächtig­keit des Bösen so stark gemacht, dass ihr alles Irdische verfallen und unterliegen müsste, würde Gott nicht mittels seiner himmlischen Heerscharen eingreifen und Recht und Ordnung wiederherstellen und zur Durchsetzung bringen. Man hat gesagt, dass in der Wächtergeschichte für den Einbruch des Bösen in die Welt und die folgenschwere Störung ihrer Ordnung die Untat der gefallenen Engel verantwortlich sei, wohingegen „die Menschen praktisch ausschließlich als Opfer der Engelstaten gezeichnet“ (Bachmann, 66 f.) würden. Richtig daran ist, dass die Initiative zum Bösen von Geistwesen ausgeht, die ihrer Bestimmung nach der überirdischen Sphäre zugehören. Alles Böse scheint in Verkehrung des geläufigen Sprichworts von oben und nicht etwa von unten zu kommen, wie man vermuten möchte. In der Tat lässt sich nur so seine Macht und abgründige Dimension erklären. Sein Unwesen besteht in einer geistigen Perversion, worauf seine himmlische Herkunft bzw. seine Rückführung auf einen Engelsfall verweist. Allerdings vollzieht sich der Fall der Söhne des Himmels nicht ohne Bezug auf Regungen, wie sie durch sinnliche Reize, im gegebenen Fall durch die reizenden Menschentöchter hervorgerufen werden. Dabei ist es zweitrangig, ob diese ihre Reize bewusst und willentlich zum Einsatz brachten, so dass von einer Verführung der Engel zu reden wäre, wie u. a. von der Stelle Äth. Hen. 19,2 („Frauen, die die Engel verführten“) nahegelegt wird. Entscheidend ist, dass der Fall des Bösen durch eine in der geistigen Sphäre statthabende Beziehung von Geist und Sinnlichkeit motiviert ist und aus einer Gemengelage heraus entsteht, deren momentane Zweideutigkeit sich in dem Augenblick zum eindeutig Schlechten wandelt, in welchem der Reiz zu jener Begierde wird, welche Anlass gibt, unter Verwünschungen und der Beschwörung der Unumkehrbarkeit des eingeschlagenen Weges den Himmel hinter sich zu lassen. Was die Menschentöchter betrifft, so sind sie ob nun als Verführende, Verführte oder in ihrer Schwä- Abartige Paarung che Überwältigte in den Fall der Engel distanzlos hineingezogen und auf unheilschwangere Weise von ihm ergriffen. Die verheerenden Folgen der abartigen Paarung treten alsbald zutage: scheußliche Wesen kommen auf die Welt, die Überirdisches und Irdisches auf widerwärtige Weise in sich vereinen und deren blinde und maßlose Gier ihren Geist und ihre Sinne gleicher­maßen pervertiert mit der Konsequenz, dass sie nicht nur alles, was human zu nennen ist, sondern auch sich selbst zu destruieren trachten. Was es mit der Macht und dem Unrecht des Bösen in der Welt des Menschen auf sich hat, wird an den Missgeburten, die aus der falschen Verbindung von Göttersöhnen und Menschentöchtern hervorgingen, ersichtlich: ihre Unmenschlichkeit hat teuflische Ausmaße. Genau so verhält es sich mit dem, was die Hamartiologie Sünde nennt. Sie ist eine Ausgeburt des Menschen, die aus einer verkehrten Beziehung zwischen seinem Diesseits und seinem Jenseits hervorgeht. Dadurch wird alles durcheinandergebracht, die Ordnung der Schöpfung korrumpiert und das Unrecht mit einer Macht versehen, die Schuld und Verhängnis koinzidieren lässt. Zur Geschichte von Rebellion und Fall der Engel, die Menschenfrauen schwängern, so dass diese entartete Ungeheuer gebären, die wie ihre Erzeuger nichts als

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Böses und Unheil stiften, lassen sich im jüdischen Schrifttum aus hellenistischrömischer Zeit nicht wenige vergleichbare literarische Parallelen auffinden. „The story of the angels’ fall occurs in its most complete form in the literature of Jewish apocalyptic circles that popularised it during the Second Temple period.“ (Auffarth / Stuckenbruck [Ed.], 1) In Erinnerung zu bringen ist ferner, ohne dass über traditionsgeschichtliche Zusammenhänge näher zu befinden wäre (vgl. im Einzelnen Wright; Reed), „one of the most cryptic and obscure narratives of the Hebrew Bible“ (Auffarth, Stuckenbruck [Ed.], 11), nämlich die eigentümliche Erzählung von der Verbindung zwischen Göttersöhnen und Menschenfrauen in Gen 6,1–4. Das Stück ist, wie H. Gunkel zu Recht vermerkt, „ein Torso“ (Gunkel, 59) und „kaum eine Geschichte zu nennen“ (ebd.). Es beginnt mit der lakonischen Feststellung: „Als sich die Menschen über die Erde hin zu vermehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden, sahen die Gottessöhne, wie schön die Menschentöchter waren, und sie nahmen sich von ihnen Frauen, wie es ihnen gefiel.“ (Gen 6,1 f.) Bezüge zu Äth. Hen. 6,1 f. drängen sich auf und das umso mehr, als in Gen 6,4 auch von nephilim, also Riesen, die Rede ist, ohne dass sie allerdings mit den Kindern identifiziert würden, die aus der gottmenschlichen Vereinigung hervorgingen. Fraglich ist ferner, ob die mit Menschenfrauen verkehrenden Gottessöhne mit Engeln gleichzusetzen sind. Folgt man der Auslegung von C. Westermann (vgl. Westermann, 491 ff.), dann handelt es sich bei ihnen nicht um geschaffene Engelwesen, sondern um vollwertige Götter. Als umso ungeheuerlicher und greulicher musste der aus paganer Umwelt stammende Mythos in Israel erscheinen. Rezipiert worden ist die schauderhafte Geschichte vom sog. Jahwisten gemäß Westermann überhaupt nur als Ätiologie der von Jahwe verfügten Befristung menschlicher Lebenszeit, die just mit jener als grundverkehrt qualifizierten Vermischung von Göttlichem und Menschlichem begründet werde. „Da sprach der Herr: Mein Geist soll nicht für immer im Menschen bleiben, weil er auch Fleisch ist; daher soll seine Lebenszeit hundertzwanzig Jahre betragen.“ (Gen 6,3) Um der Indifferenzierung von Göttlichem und Menschlichem, wie sie sich in der mythischen Ehe vollzieht, zu wehren und den unaufhebbaren Unterschied von Schöpfer und Geschöpf einzuschärfen, beschränkt Jahwe die Zeit des menschlichen Lebens auf ein Dutzend Jahrzehnte, was nicht zuletzt als Strafe für die vorangegangene Beziehung von Gottessöhnen und Menschentöchtern gedeutet werden kann. Wie immer es sich mit dem schwierigen Text im Einzelnen verhalten mag: Seine harmatiologische – wie im Äth. Hen. auf die Sintflutgeschichte ausgerichtete – Pointe besteht offenbar in der Aussage, dass die Schuld strafwürdiger Sünde mit einer verhängnisvollen Indifferenzierung des Unterschieds von Gott und Mensch bzw. mit einer abgründigen Verkehrung des Gott-Mensch-Verhältnisses zu tun hat. Die Sünde steht in einem Verhältnis sowohl zum Göttlichen als auch zum Menschlichen und hat, wenn man so will, an beidem Teil, jedoch auf dergestalt grundverkehrte Weise, dass die durch die Schöpfung vorgesehene Ordnung dieses Verhältnisses ins widrige Gegenteil gewendet wird. Eben dies macht die Abgründigkeit des Falls der Sünde aus, von der die Menschheit auf ebenso verhängnisvolle wie

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schuldhafte Weise ergriffen wird. Schuld und Schicksal sind in dem, was theologisch Sünde heißt, zwieträchtig verbunden, ohne dass diese Zwietracht nach einer Seite hin aufgelöst werden könnte. Es bedarf religiöser Wahrnehmung, um dies einzusehen, was für den Theoriestatus der Hamartiologie nicht folgenlos bleiben kann. Ihr kritisches Verständnis wird sich u. a. an dem Verhältnis zu mythologischen Überlieferungen wie demjenigen vom Engelsfall zu bewähren haben. „The fall of the angels was attractive because of the solution it offered for the problem of evil. Since the introduction of evil is attributed to rebellious angels, God is not directly blamed for the miseries of human life. Neither are human beings considered guilty in and of themselves.“ (Auffarth / Stuckenbruck [Ed.], 1) Eine rationalistische Behebung des Problems des Bösen und sei es in mythischer Form kann hamartio­logisch nicht infrage kommen. Wenn sich die Sündenlehre des Mythos bedient, dann nur, um genau jenes grundverkehrte Verhältnis aufzuklären, das im Falle der Sünde durch selbst verschuldetes Verhängnis zwischen Göttlichem und Menschlichem waltet. Wie die Hamartiologie hat sich auch die christliche Soteriologie mythologischer Vorstellungen be­dient, Descensus ad inferos um die unermessliche Tiefe der in Jesus Christus offenbaren, aus dem höllischen Abgrund des Sündenfalls errettenden Gnadenliebe Gottes zum Ausdruck zu bringen. Zu nennen ist hier vor allem die Annahme eines descensus ad inferos bzw. ad inferna, einer Höllenfahrt Christi, die auf ihre Weise derjenigen des sündenverfallenen Engelssturzes korrespondiert, freilich im Modus des Widerspruchs und der hilfreichen Entgegnung. Obwohl wesentlich älteren Datums und sowohl im Osten wie auch im Westen längst bekannt, findet sich die Vorstellung als expliziter Glaubensartikel erstmals in der sog. Vierten Symbolformel der Synode von Sirmium aus dem Jahr 359. Im Nizänokonstantinopolitanum und im altrömischen Symbol als der Vorform des Apostolikums fehlt das Bekenntnis zum Abstieg Christi ins Inferno noch; erst im Laufe des 4. oder 5. Jahrhunderts hat es Eingang ins apostolische Glaubensbekenntnis gefunden. Die Textvarianten ad inferna bzw. ad inferos begegnen zeitig und seit dem 16. Jahrhundert zumeist in konfessionsspezifischer Verteilung, sind aber inhaltlich kaum von Bedeutung. Schwerer wiegt das Problem ihrer angemessenen Übersetzung ins Deutsche. Lange Zeit wurde die Wiedergabe mit „niedergefahren bzw. abgestiegen zur Hölle“ bevorzugt. Inzwischen ist die Formel „hinabgestiegen in das Reich des Todes“ üblich geworden. Sie steht einerseits dem Ursprungssinn der Einfügung näher, in der man zunächst lediglich „eine Verstärkung und Auslegung des sepultus sah“ (Rödding, 97), vorgenommen möglicherweise in antidoketischer Absicht. Andererseits ist sie blasser als die Rede von der Höllenfahrt, die ungleich abgründigere Dimensionen erschließt als die konventionelle Rede von einem Abstieg Christi ins Totenreich. Der Interpretationsvorgang, „der aus der ursprünglichen Hadesfahrt eine Höllenfahrt werden ließ“ (Rödding, 100), ist schwierig zu rekonstruieren. Wahrscheinlich ist die Entwicklung durch die für die jüdisch-christliche Tradition charakteristische Einsicht veranlasst, dass das Strafgericht über die Sünde schlimmer ist als der Tod; unter diesen Bedingungen bedurfte es abgründigerer Vorgänge als einer blo-

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ßen Fahrt ins Totenreich, wie sie in vielen paganen Traditionen überliefert ist. Wer sich für Unterweltsfahrten in außereuropäischen Religionen, für das Katabasismotiv in der vorchristlichen Mythenliteratur der europäischen Antike bei Homer, Vergil oder Cicero, für inszenierte Höllenreisen im geistlichen „Drama“ des Mittelalters oder für künstlerische Verarbeitungen des Themas in Neuzeit und Moderne interessiert, der greife zu dem von M. Herzog herausgegebenen Sammelband „Höllen-Fahrten“, der eine Fülle von thematisch Wissenswertem einschließlich tiefenpsychologischer Reflexionen enthält. Für die Genese und Ausgestaltung der Descensuslehre in der Theologie des christlichen Abendlands ist insbesondere der Beitrag von W. Beinert einschlägig (vgl. Herzog [Hg.], 53–86). Terminiert wird der descensus ad inferos bzw. ad inZwischen Karfreitag ferna zwischen Karfreitag und Ostern. In der Alten und Ostern Kirche wurde das Geschehen häufig als militärische Expedition geschildert (vgl. Herzog, 97 ff.; ferner Koch). Christus führt einen Unterweltkrieg, um seine Macht über Tod und Teufel zu demonstrieren. Dabei tritt er entweder als Einzelkämpfer oder mit einem ganzen Engelheer auf, als dessen Feldherr er fungiert. Als Waffe setzt er vorrangig sein Kreuz ein, um den altbösen Feind und seine Teufelshorden zur Strecke zu bringen und aus der satanischen Festung die Gefangenen siegreich heraufzuführen. Neben dem Kampfmotiv begegnet das Gerichtsmotiv, demzufolge Christus in der Unterwelt der Gerechtigkeit Gottes Geltung verschafft und dem Unrecht seine Grenzen aufgezeigt hat. Die Vorstellungen darüber, wie dies geschah, gehen im Einzelnen auseinander. Mit einer Befreiung von den Rechtsfolgen unverschuldeten Unglaubens wird ebenso gerechnet wie mit Gnadenakten und Strafamnestien durch den Gerichtsherrn. Ob es in der Descensusfolge auch einen Erlass ewiger Höllenstrafen geben könne, war notorisch strittig. „Tendenziell hat die östliche Kirche den Aspekt der uneingeschränkten Barmherzigkeit und der absoluten Freiheit Gottes, die Sünder von Strafen zu amnestieren, stärker betont, während die lateinische Kirche größeres Gewicht auf die göttliche Gerechtigkeit im Sinne des Vergeltungsgedankens legte.“ (Herzog, 151) Kampf- und Gerichtsmotiv bilden in der altkirchlichen Descensusüberlieferung keinen Gegensatz; zielt die militärische Aktion doch stets auf die Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit. Namentlich sie hat der gottmenschliche Held auf seine Fahne geschrieben. Auch für den zweiten Haupttyp der Descensusvorstellung bleibt der Gerechtigkeitsgedanke grundlegend, nun freilich so, dass der Gerechte nicht als Held und Richter, sondern als Gerichteter und als derjenige vorstellig wird, der stellvertretend die göttliche Strafe für die Sünde des Menschen bis hin zur resignatio ad infernum erduldet. In Luthers Kreuzestheologie steht die Descensusvorstellung für die unausdenkliche Abgründigkeit des Passionsgeschehens. Christus ist wirklich zur Hölle gefahren und hat in äußerster Konsequenz seines Strafleidens Höllenpein erlitten. Nach Maßgabe der Interpretation M. Herzogs unterscheidet sich Luthers Descensus-Ansatz „von der altkirchlichen und mittelalterlichen Tradition in zwei mar-

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kanten Punkten: a) Jesus Christus erscheint als passiver Leidensknecht, nicht als in der Unterwelt souverän handelnder Triumphator und Befreier der Gerechten des Alten Bundes. b) Luther hat diese Höllen-,Fahrt‘ in die irdische Passion Jesu vordatiert und vom Ort der Hölle auf den Kalvarienberg verlegt; das Durchleiden der Höllenpein am Kreuz hat er einen ‚descensus ad inferos spiritualis‘, eine geistliche Höllenfahrt, genannt. Die Höllenfahrtslehre wird damit zu einem Thema der Kreuzestheologie. Diese Position hat“, so Herzog, „der Reformator Johannes Calvin übernommen; sie wird fortan von der Genfer reformierten Theologie vertreten. Man könnte diese Position den strafleidenstheoretischen Spiritualismus in der Descensustheologie nennen. Sie hat den großen Vorzug, dass sie die Kosmologie des dreistöckigen Weltbildes der alten Kulturen nicht zur Voraussetzung hat. Zugleich hatte Luther aber auch einen Lehrtypus entwickelt, den man als den strafleidenstheoretischen Realismus bezeichnen könnte, der ebenso wie die mittelalterliche Theologie im Rahmen des dreistöckigen Weltbilds argumentiert. Diese Position unterscheidet sich von der erstgenannten durch folgende Akzentverschiebung: Jesus hat die Höllenpassion nicht nur am Kreuz auf Golgatha, sondern auch in der Unterwelt, am Ort der Hölle selbst, erlitten. Eben diese realistische Strafleidenstheorie der Höllenfahrt ist im 16. Jahrhundert zu einem Gegenstand verschiedener Lehrstreitigkeiten geworden: in Freising und Naumburg, in Hamburg, teils auch in Greifswald. Ihre Gegner auf katholischer Seite haben versucht, die Strafleidenstheoretiker als ‚Verzweifler‘ und ‚Höllen-Creutziger‘ in Verruf zu bringen.“ (Herzog [Hg.], 110) Ob die typologische Unterscheidung zwischen einem strafleidenstheoretischen Spiritualismus und Realismus der Descensustheologie Luthers angemessen ist, bleibe dahingestellt. In jedem Fall zutreffend ist Herzogs Bemerkung, wonach das Descensusmotiv nachgerade in seiner Gestaltung durch Luther „zur allerletzten Radikalität der Inkarnation und im gleichen Moment zu begründeter Grenzenlosigkeit der Hoffnung“ (Herzog [Hg.], 85) führt. Extremer inkarnatorischer Radikalismus findet sich im Übrigen nicht nur in der lutherischen Ausgestaltung des Descensusmotivs. Sein Kreuzestod, sagt Papst Gregor der Große, habe Jesus Christus nicht nur ins Grab sinken, sondern in Tiefen versinken lassen, „die noch unter der Hölle liegen: ‚Inferno profundior‘ sei er gewesen“ (Herzog [Hg.], 84 unter Verweis auf Gregor d. Gr., Moralia 10,9), wird gesagt. Auch Nikolaus von Kues spricht in Bezug auf die Leiden des Gekreuzigten von „dolores inferni“ (vgl. Herzog, 170). Vergleichbar argumentiert Luther, der „in einigen Vorlesungen die Höllenfahrt … als stellvertretende Übernahme der Höllenstrafen“ (Herzog [Hg.], 109) deutet. Dabei konnte er seine Auffassung dahingehend zuspitzen, „dass Christus in die existentiellen Tiefen der Höllenverdammnis hinabgestiegen sei, das heißt, dass er die Verzweiflung der Verdammten geteilt habe“ (Herzog [Hg.], 109 f.). Das Descensusmotiv begegnet in der Christentumsgeschichte in zwei Varianten. Der zur Hölle Erniedrigung und fahrende Jesus Christus wird entweder als handeln- Erhöhung der Triumphator vorstellig, der den Abgeschiedenen das Evangelium verkündet, um sie aktiv aus ihrem Verließ zu befreien, oder als

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Leidender, der Höllenqualen im Dienste stellvertretender Sühne in tiefster Erniedrigung passiv erduldet. Während das Christus-victor-Motiv das ältere ist und in der Geschichte der Thematik dominiert, ist die Deutung des descensus als abgründigste Form der Passion erst später und „vor allem in der ‚theologia crucis‘ Martin Luthers belegt“ (Herzog, 5). Ein eindeutiger dogmatischer Entscheid für einen der beiden Haupttypen, die u. a. den Höllenfahrtsstreit um Johannes Aepinus in der Mitte des 16. Jahrhunderts bestimmten (vgl. FC IX ; dazu Wenz II, 712 ff.), ist weder möglich noch nötig, da sie unbeschadet ihrer Unterschiedlichkeit auf keinen Gegensatz hinauslaufen müssen, sondern sich soteriologisch ergänzen können. Auch das Zeugnis der Hl. Schrift legt einen Alternativentscheid nicht nahe, ganz abgesehen davon, dass biblische Belege für einen descensus Christi ohnehin rar sind (vgl. Herzog, 37 ff.). Als dictum probante fungierte traditionell 1. Petr 3,18 ff. in Kombination mit 1. Petr 4,6 sowie Eph 4,8–10. Mag die erstgenannte Stelle als Beleg für die Descensusvorstellung auch nur bedingt geeignet sein, so gibt sie doch Hinweise für ihre rechte christliche Deutung. Der Text 1. Petr 3,18–22 gehört zu den zentralen soteriologischen Aussagen des auf den Apostel Petrus zurückgeführten Schreibens. Der Einsatz wird mit der an 1. Petr 2,21b anschließenden Feststellung genommen, dass Christus der Sünden wegen ein für allemal gelitten habe und gestorben sei und zwar als der Gerechte für die Ungerechten, „um euch hinzuführen zu Gott“ (18c). Der anschließende Zweizeiler bekennt: „Er wurde getötet dem Fleische nach und lebendig gemacht im Geist.“ (18d.e) Dann wird der universale Heilscharakter des Geschehens von Kreuzestod und Auferstehung geltend gemacht und gesagt, dass der gekreuzigte und auferstandene Herr hingegangen sei, um den, wie es heißt, Geistern im Gefängnis zu predigen (19). Gedacht ist, wie V. 20 zeigt, „an die als extrem sündig und verloren angesehene Sintflutgeneration“ (Hahn  I, 415). Damit ist zum Ausdruck gebracht, „daß selbst die schlimmsten Sünder unter den Toten mit der Heilsbotschaft konfrontiert werden. In 4,6 wird dann ganz grundsätzlich gesagt, daß Christus ‚den Toten das Evangelium verkündigt hat‘“ (ebd.). Was hinwiederum Eph 4,8–10 anbelangt, so ist die Stelle für die soteriologische Klärung des Descensusmotivs im Kontext von 1. Petr 3,18 ff. und 4,6 vor allem deshalb wichtig, weil sie die christologische Einheit von Katabasis und Anabasis klärt: „ho katabas autos estin kai ho anabas …“ (10a). Der in die Tiefen der Erde Hinabgefahrene ist derselbe, der über alle Himmel erhoben ist, um das All zu erfüllen. Zur förmlichen Klärung der Identität Jesu Christi im Status der Deszendenz und der Aszendenz tritt die materiale Klarstellung hinzu, die sich aus dem Gesamtkontext ergibt: Die in den Kreuzestod und in höllische Abgründe führende Erniedrigung des Herrn geschah wie seine himmlische Erhöhung um gottmenschlicher Versöhnung willen und wegen der Rechtfertigung des Sünders vor Gott. Die Sendung Jesu Christi dient wesentlich dazu, das durch die Sünde schuldhaft verkehrte Verhältnis des Menschengeschöpfs zu Gott, Mitmensch und Welt von Grund auf zurecht zu bringen und auf diese Weise Gerechtigkeit des Sünders vor Gott zu wirken. In der Person des auferstandenen Gekreuzigten verwirklicht sich kraft des Hl. Geistes die

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Liebe Gottes, aber nicht in Form willkürlichen Beliebens, sondern in vollkommen gerechter Gestalt. Das eingangs zitierte Wächterbuch des äthiopischen Henoch mit seiner Erzählung von abtrünni- Himmelssturz und gen Wächterengeln, die nach ihrem Himmelssturz Höllenfahrt in vorsintflutlicher Zeit auf Erden Menschenfrauen freien und mit ihnen Kinder zeugen, die sich zu ungeheuren, alles verschlingenden Riesen entwickeln und mit ihrem gottlosen Tun Sünde und Unheil in der Welt mehren, gibt – wie die gesamte Henochliteratur – zahlreiche Fragen auf, von denen diejenigen nach dem Verhältnis zur mosaischen Überlieferung und zur Thoratradition zu den sachlich wichtigsten gehören. Rechnen manche Forscher die Henochgruppen einer ursprünglich nicht mosaischen Richtung des Judentums zu, die sich, wenn überhaupt, erst im Zuge gemeinsamen Widerstands gegen den Hellenismus mit traditionell mosaischen Kreisen verbündet hätten (vgl. Bedenbender), deuten andere die Henochapokalyptik im Allgemeinen und das Wächterbuch im Besonderen „nicht als Alternativ-, sondern als Zusatzbotschaft zum bekannten, traditionellen Wissen“ (Bachmann, 186). In neutestamentlich-gesamtbiblischer Perspektive ist zweifellos letzterer Deutung der Vorzug zu geben. Der Mythos vom Himmelssturz der Engel findet ebenso wie die Vorstellung einer Höllenfahrt Jesu Christi ihr Maß an dem, was in mosaischer Tradition über die Gerechtigkeit Gottes zu sagen ist, der die ihrem eigenen Abgrund verfallene Sünde richtet und zugleich im erniedrigten und erhöhten Jesus Christus kraft des Geistes der Liebe den Sünder mit sich versöhnt und rechtfertigt, der glaubt. Die mythologischen Vorstellungen eines Höllensturzes abtrünniger Himmelswesen und des des- Soteriologischer census ad inferos Jesu Christi enthalten wichtige Grundansatz Hinweise auf den grundlegenden Ansatz christlicher Soteriologie. Die Vorstellung eines Abfalls selbstsüchtig-begehrlicher Engel von Gott zeigt an, dass die Sünde nicht unmittelbar sinnlicher Herkunft, sondern der intelligiblen Sphäre entsprungen ist, mit der daraus sich ergebenden Folge einer abgründigen Verkehrung des geschöpflichen Verhältnisses von Intelligibilität und Sinnlichkeit in der Menschenwelt. Der Fall der Sünde ist transmoralisch und bodenlos. Nicht minder abgründig hat man sich den descensus vorzustellen, der dem sündigen Sturz in die Hölle kontraveniert. Die Gegenbewegung, welche die Höllenfahrt Jesu Christi zum Höllensturz der Sünde markiert, reicht ebenfalls in bodenlose Tiefen, die unermesslich sind. Die Heillosigkeit des Bösen in seiner gottwidrigen Unart kann nur überwunden werden durch den, der dem Unwesen der Sünde samt ihren höllischen Konsequenzen ausgeliefert war, ohne zu unterliegen: Durch den Gottessohn, der nicht auf die Welt kam, um Übermenschen zu zeugen, die sich als Unmenschen entpuppen sollten, sondern der selbst Mensch wurde, um gegen Tod und Teufel zu streiten und die Hölle dadurch zu überwinden, dass er sich in sie begab, um sie von innen heraus zu entmächtigen. Der christliche Glaube erkennt den Überwinder der Hölle im auferweckten Ge-

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kreuzigten, um das Kreuz des Auferstandenen als Grund und Wirkmittel des Heils zu bekennen. Im Crucifixus sind Erniedrigung und Erhöhung heilsam verbunden. Christi descensus ad inferos errettet aus dem abgründigen Fall der Sünde, und durch seinen Abstieg zur Hölle wird der Himmel all denen erschlossen, die sich die Rettung von Tod und Teufel gefallen lassen. „Endlich verlitten, entging sein Wesen dem schrecklichen / Leibe der Leiden. Oben. Ließ ihn.“ (Rilke, 843) Christi Höllenfahrt führt in Rainer Maria Rilkes gleichnamigem Gedicht hin zu jenem „wendenden Punkt“ (vgl. Schrader, 211 f.), der alles entscheidet: „Er, Kenner der Martern, hörte die Hölle / herheulend, begehrend Bewußtsein / seiner vollendeten Not: daß über dem Ende der seinen / (unendlichen) ihre, währende Pein erschrecke, ahne. / Und er stürzte, der Geist, mit der völligen Schwere / seiner Erschöpfung herein: schritt als ein Eilender / Durch das befremdete Nachschaun weidender Schatten, / hob zu Adam den Aufblick, eilig, / eilte hinab, schwand, schien und verging in dem Stürzen / wilderer Tiefen. Plötzlich (höher höher) über der Mitte / aufschäumender Schreie, auf dem langen / Turm seines Duldens trat er hervor: ohne Atem, / stand, ohne Geländer, Eigentümer der Schmerzen. Schwieg.“ (Rilke, 844) U. a. an Hans Urs von Balthasars Lehre vom descensus Christi als „Einstiftung von Gnade in die ewige Verdammnis“ (Hegger, 351) ließe sich erschließen, was mit den Dichter­ worten gemeint und gesagt ist. Christliche Soteriologie bedient sich mythologischer Mythos und oder mythosähnlicher Vorstellungen. Ihren Ansatz Kreuzeslogos aber sucht und findet sie nicht im Mythos, sondern in einem geschichtlichen Faktum, dem Kreuzestod Jesu von Nazareth, wie er sich im Lichte des Osterereignisses darstellt. Die Heils­ botschaft des Christentums ist das den Juden ärgerliche und den Heiden als töricht erscheinende „Wort vom Kreuz“ (vgl. 1. Kor 1,23), welches mit dem erwarteten Messias Leiden und mit der Epiphanie des Göttlichen Passion verbindet. Zwar ist nach christlichem Zeugnis dem als Logosinkarnation zu bekennenden Weltdasein Jesu Christi insgesamt Heilsbedeutung beizumessen. Die soteriologische Relevanz der Menschwerdung (vgl. Hahn II, 399 ff.) und des irdischen Wirkens Jesu Christi (vgl. Hahn II, 375 ff.) wird nicht nur in den Evangelien hervorgehoben. Dennoch hat man diese mit Recht als Passionsgeschichten mit verlängerter Einleitung bezeichnet (M. Kähler). Entsprechend ist die im Lichte Osterns erfolgende „Deutung des Todes Jesu … in den neutestamentlichen Texten am breitesten belegt“ (Hahn II, 399). In Verkündigung und Theologie der Urkirche stellen Tod und Auferstehung Jesu Christi zweifellos das „zentrale Heilsgeschehen“ (Wilckens, 224) dar: Ohne Ostern kann vom Kreuz Jesu Christi nicht heilsam die Rede sein; doch gilt zugleich, dass das Osterereignis unveräußerlich bezogen ist auf das Kreuzesgeschehen, dessen theologische Bedeutung es konstituiert und offenbar werden lässt. In Bezug auf die christliche theologia crucis muss unterschieden werden zwischen der grundlegenden Bedeutung, die der österlichen Auferweckung und Auf-

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erstehung Jesu Christi für seinen Kreuzestod zukommt, und den einzelnen Deutungen, die diesem im Verlauf der urchristlichen Theologiegeschichte zuteil geworden sind. Die Einzeldeutungen setzen die Grundbedeutung, die Ostern dem Kreuz Jesu Christi gibt, allesamt zumindest implizit voraus. Durch die Auferweckung Jesu von Nazareth aus dem Tode ist theologisch offenbar, dass Gott ihn bestätigt und zu seiner Rechten erhöht hat, damit er durch den Geist als der Gottheit Gottes unveräußerlich zugehörig erwiesen werde. Dieser Geisterweis der ewigen Gottessohnschaft des Menschen Jesus geschieht nicht gesondert, sondern in differenzierter Einheit mit dem Selbsterweis des Auferstandenen, der sich in seiner österlichen Erscheinung selbst als der Gekreuzigte in Erinnerung bringt und als Subjekt des Gedächtnisses seines Todes fungiert. Ostern ist die Deutung des Kreuzestodes von Gott her und zugleich die Selbstdeutung, die Jesus Christus seinem Leiden und Sterben in der Kraft des göttlichen Geistes gibt. Es bedurfte einer expliziten Trinitätslehre, um den österlich-pfingstlichen Sinn des Kreuzesgeschehens in seiner theologischen Tiefendimension zu erfassen. Theologia crucis und Trinitätslehre fordern sich wechselseitig. Das Osterereignis gehört konstitutiv zum Kreuzesgeschehen, dessen faktische Bedeutung es offen- Nach- und vorösterliches bart. „Der Sinn des Todes Jesu erschließt sich erst Kreuzesverständnis angesichts des Osterglaubens, erst auf dieser Grundlage ist es deshalb auch möglich, ihn als Heilstod aufzufassen.“ (Schröter,  147) Diese Feststellung schließt nicht aus, sondern ein, dass die österlich erschlossene Bedeutung des Kreuzestods in Beziehung steht zu derjenigen, die dem vorösterlichen, am Kreuz endenden Leben Jesu von Nazareth eignet. Zwar erscheint der österliche Herr anders als zu seinen irdischen Lebzeiten, was auch in kreuzestheologischer Hinsicht beachtet werden will; nichtsdestoweniger ist er kein anderer als der Irdische, sondern derselbe, auch wenn diese Selbigkeit in historischer Perspektive nur uneindeutig zu erfassen ist. Mit dieser Uneindeutigkeit mag es zusammenhängen, dass die Hintergründe des Prozesses, der Verurteilung und der Hinrichtung Jesu über weite Strecken im Dunkeln liegen und aus den Quellen nicht mehr sicher zu rekonstruieren sind. Immerhin lassen sich, wie an anderer Stelle ausführlich gezeigt (vgl. Bd. 5, 262 ff.), eine Reihe von Ursachen der Tötung historisch wahrscheinlich machen. Das Todesurteil der Römer gegen Jesus wird wegen angeblichen Aufruhrs gegen die Besatzungsmacht erfolgt sein. Möglicherweise wurde diese Anschuldigung von Seiten der Sadduzäer vorgebracht. Ihr Motiv, gegen Jesus einzuschreiten, dürfte in seiner Tempelkritik zu suchen sein, wie er sie in Wort und Zeichenhandlungen äußerte. Der Konflikt mit den Pharisäern hinwiederum hatte seinen wesentlichen Grund vermutlich in Jesu Gesetzesverständnis und seiner im Namen Gottes und des kommenden Gottesreiches erfolgten Hinwendung zu denen, deren Verhalten als ungerecht und manifest thorawidrig zu beurteilen war. Mag dieser Konflikt wegen des geringen pharisäischen Einflusses beim sog. Verhör im Hohen Rat zu Jerusalem offiziell keine Rolle gespielt haben, so ist er doch für das Gesamtgeschehen

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mit hoher Wahrscheinlichkeit bedeutsam. Ob es einen förmlichen Prozess der jüdischen Behörden gegen Jesus gegeben hat, ist zweifelhaft. Vermutlich wird nur beschlossen worden sein, „Jesus unter einer Anklage, die ein Todesurteil nach sich ziehen würde, Pilatus zu übergeben. Man wird also gut daran tun, zwischen den Gründen, die die jüdischen Behörden zu diesem Vorgehen veranlasst haben, und der Anklage, mit der sie ihn der römischen Gerichtsbarkeit übergaben, zu unterscheiden.“ (Klaiber, 16) Am Ende steht ein Fehlurteil über einen politischen Aufrührer, der Jesus mit Sicherheit nicht war. Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem irdischen Wirken Jesu und seinem Todesgeschick lässt sich nicht rekonstruieren. Historisch betrachtet bleibt die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu von Nazareth uneindeutig. An diesem Befund kann grundsätzlich auch die bereits erörterte Annahme nichts ändern, wonach Jesus mit seinem gewaltsamen Ende gerechnet und sein bevorstehendes Sterben selbst gedeutet habe. Selbst wenn er sich so verhalten haben sollte, was historisch umstritten ist, hätte auch die vom „vorösterlichen“ Jesus selbst gegebene Deutung seines Todes an der Uneindeutigkeit Anteil, die mit dessen Faktizität und mit den Tatbeständen verbunden ist, die ihn herbeiführten. Es ist häufig bemerkt worden, dass die jesuanische Verkündigung der nahen Königsherrschaft Gottes in Galiläa im Zusammenhang des Berichts der Jerusalemer Passion eigentümlicherweise „keine Rolle“ (Wilckens, 201) spielt und „nirgendwo auch nur erwähnt“ (ebd.) wird: „(A)uch seine pharisäischen Gegner in Galiläa sind nicht seine Ankläger in Jerusalem.“ (Ebd.) Dieser Befund ist, wie mit Recht festgestellt wurde, „sehr verwunderlich. War doch die Gottesherrschaft die Mitte all seines (sc. Jesu) Wirkens in Galiläa! Einen inneren Zusammenhang des Passionsgeschehens mit dieser Mitte muß es gegeben haben.“ (Ebd.) Aber er bleibt uneindeutig, weil den Texten selbst „nur Andeutungen zu entnehmen sind“ (ebd.). Ob sie zusammengenommen „ein hinreichend klares Bild“ (ebd.) ergeben, mag zweifelhaft sein; zweifellos richtig aber ist die Beobachtung, wonach die andeutende Form, in welcher im Neuen Testament von der Passion Jesu und ihrer Ursache die Rede ist, etwas mit der Eigenart der in Wort und Tat verkündigten Reich-Gottes-Botschaft Jesu zu tun hat, die gerade den Frommen im Lande als nicht nur uneindeutig, sondern als zweideutig erscheinen musste. Lenkt man die Aufmerksamkeit von der äußeren Wesen des Konflikts Betrachtung des Prozesses Jesu auf das „innere Wesen des Konfliktes“ (Roloff, 184; bei R. kursiv), dann wird dessen religiös-theologische Dimension offenbar, die ansonsten verborgen bleiben müsste. Der Konflikt „entstand daran, daß Jesus den Zöllnern und Sündern, den aus der Gemeinschaft der Frommen ausgestoßenen Gottlosen, die helfende Nähe Gottes zusagte“ (Roloff, 184). Diese mit dem Anspruch auf Vollmacht und Autorität vorgetragene Zusage musste gerade von den jüdischen Frommen als im Widerspruch mit der Gerechtigkeit Gottes stehend wahrgenommen werden und die „Anklage der notorischen Gotteslästerung und Gesetzesübertretung“ (Roloff, 182) nach sich ziehen (vgl. Mk 14,55 ff.). Es ist kein Falschzeugnis, sondern

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eine prägnante Zusammenfassung des inneren, religiös-theologischen Wesens des Konflikts, den Jesus durch seine Reich-Gottes-Botschaft bewirkte, wenn der vierte Evangelist die jüdischen Gegner Jesu sagen lässt: „Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben.“ (Joh 19,7) Nach Überzeugung seiner Gegner musste Jesus um Gottes willen sterben, „weil er sich durch sein ganzes Verhalten gegen den von ihnen vertretenen Willen Gottes im Gesetz aufgelehnt hatte“ (Roloff, 184 f.). Die österliche Deutung des Todes Christi „in seiner Heilsbedeutung ‚für unsere Sünden‘“ (Wilckens, 230) und das christliche Zeugnis von seiner „rettende(n) Kraft“ (Hahn  I, 381) widerspricht diesem Urteil, schließt aber gerade im Widerspruch daran an und zwar dergestalt, dass ihm ein momentanes Recht nicht bestritten wird. Die reformatorische Lehre von Gesetz und Evangelium und die in ihrem Kontext explizierte theologia crucis wird seit geraumer Zeit historisch und systematisch eher ungünstig beurteilt. Die Kritik konzentriert sich vor allem auf Begriffe wie Sühne, Stellvertretung und Opfer, die auch innerhalb reformatorischer Theologie als traditionelle Deutekategorien des Leidens und Sterbens Jesu Christi fungierten (vgl. Frey / Schröter [Hg.], 51 ff.). Zu konstatieren ist zunächst, „dass die häufig zur Deutung des Todes Jesu verwendeten Begriffe ‚Sühne‘ und ‚Stellvertretung‘ – die auch in der Kombination ‚stellvertretende Sühne‘ begegnen können – im Blick auf ihr Verhältnis zu den neutestamentlichen Texten zu präzisieren sind“ (Schröter, 145). Entsprechendes gilt für den Opferbegriff oder für Begriffe wie Satisfaktion und Strafleiden. Die Art und Weise ihres Gebrauchs ist häufig unklar, und ihre Bedeutung schwankt je nach kontextueller Verwendung. Sucht man einen kleinsten gemeinsamen Nenner ihrer Bedeutung, wird man ihn in der Bezeichnung eines Vorgangs der korrigierenden Wiederherstellung und Zurechtbringung des menschlicherseits schuldhaft verkehrten Verhältnisses von Mensch und Gott finden. Wie unterschiedlich die durch Begriffe wie Sühne, Opfer, Satisfaktion etc. bezeichneten Vollzüge im Einzelnen auch sein mögen: In jedem Fall geht es in ihnen um die Beseitigung von Sünde bzw. von Sünden. Nun wird seit geraumer Zeit nicht nur in der alttestamentlichen Wissenschaft wiederholt betont, dass beispielsweise das kultische Sühnopfer im Tempel ein von Gott selbst gestiftetes und nicht etwa ein Geschehen sei, seinen Zorn über die Übeltaten des Einzelnen oder des Volkes zu stillen und ihn gnädig zu stimmen. Diese exegetische Beobachtung hat zweifellos ihre Richtigkeit; sie ändert aber nichts an der Tatsache, dass Versöhnung ohne Sühne, also ohne bestimmte Negation des Verkehrten gerechterweise nicht statthaben kann. Jahwe ist zwar nicht unversöhnlich, aber er ist um seiner in der Thora offenbaren Gerechtigkeit willen auch nicht bereit, das Böse einfachhin gut sein zu lassen. Opfer, Sühne, Strafe, Satisfaktion – oder was auch immer an Sündennegation – müssen sein. Dies bestätigen die juridischen und kultischen Bestimmungen des Gesetzes der hebräischen Bibel in der nötigen Deutlichkeit. Die zum exegetischen Allgemeinplatz gewordene Feststellung, dass Gott nicht Objekt, sondern Trinitarische theologia Subjekt der im Kreuzestod erbrachten und im auf- crucis erstandenen Gekreuzigten in der Kraft des gött-

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lichen Geistes offenbaren gottmenschlichen Versöhnung sei, ist zu unterstreichen. Ihr Versöhntwerden mit Gott haben nicht die sündigen Menschen ermöglicht und ins Werk gesetzt, sondern Gott selbst und er allein. Indes bedarf diese richtige Grundannahme einer nicht zuletzt den theologischen Subjektbegriff betreffenden trinitätstheologischen Klärung, um bestehen zu können. Andernfalls bleibt die theologische Bedeutung des Kreuzes unterbestimmt mit der Folge einer unstatthaften Prinzipialisierung des Begriffs der Gnade und der Liebe Gottes, die zu Lasten der göttlichen Gerechtigkeit geht. Wo Gott in vermittlungsloser Unmittelbarkeit zum Subjekt der Versöhnung erklärt wird, verkommt deren Vollzug zur bloßen Behebung einer Täuschung, welcher der Mensch in der angeblich irrigen Meinung aufgesessen ist, seine Sünde trenne ihn tatsächlich von Gott. Die Rede von der das Unrecht strafenden Gerechtigkeit wäre sonach lediglich „eine Fehlinterpretation des Sünders“ (Slenczka, 175). Eine sträfliche Verharmlosung von Sünde und Sündenschuld läge in der zwangsläufigen Konsequenz dieser Annahme. Einer Verharmlosung von Sünde und Schuld kann nur gewehrt werden, wenn man das Kreuzesgeschehen nicht zur bloßen Manifestation einer Gegebenheit erklärt, die auch ohne es in Geltung stünde, sondern mit konstitutiver Bedeutung für die Aussage versieht, dass Gott Liebe sei. Mit dieser konstitutiven Bedeutung ist der subjektivitätstheoretisch nicht aufzulösende objektive Charakter des Versöhnungsgeschehens am Kreuz aufs engste verbunden. Um nicht missverstanden zu werden: „Ein Verständnis des Todes Jesu, das diesen in seiner Beziehung zu Gott zu verstehen beansprucht, kann nur dann uns selbst betreffen, wenn sich dabei unser eigenes Verhältnis zu Gott verändert.“ (Korsch, 164) Ein „Objektivismus …, der mit dem modernen Bewusstsein einer moralisch verantwortlichen Personalität nicht zu vereinbaren ist“ (Korsch, 164), wirkt auch in staurologischer Hinsicht kontraproduktiv. Aber aus der zu Recht geforderten Vereinbarkeit von Staurologie und Subjektivitätstheorie muss keineswegs die Unhaltbarkeit der Annahme gefolgert werden, am Kreuz Jesu Christi sei „außerhalb von uns etwas vollzogen worden, das für uns von Relevanz sein soll“ (Korsch, 163). Am Gedanken der Stellvertretung und zwar in ihrer exklusiven Form ist im Gegenteil staurologisch festzuhalten und zwar nicht zuletzt aus subjektivitätstheoretischen Gründen. Denn das Gewicht dessen, was die Theologie Sünde nennt, ist für den Sünder unerträglich (vgl. Slenczka, 176 ff.), zu welcher Einsicht er selbst gelangt, sobald er zum entwickelten Bewusstsein seiner Sündenschuld kommt. Im Schuldbewusstsein manifestiert sich das Problem der Sünde, ohne dadurch bereits einer Lösung zugeführt zu sein. Christliche Hamartiologie endet mit der Einsicht in eine Aporie, die es wahrzunehmen gilt, ohne auf moralistische oder fatalistische Weise verdrängt zu werden. Möglich ist diese Wahrnehmung indes nur dann, wenn ein Alter Ego in Sicht ist: Jesus Christus, der an meiner Stelle das Unerträgliche ertragen und durch den Kreuzestod, den er erlitt, Sühne für die Sündenschuld und gottmenschliche Versöhnung geleistet hat. Das Bewusstsein seiner Sünde bringt den Sünder an die Grenze seiner selbst. Über diese Grenze hinaus kann er nicht unmittelbar durch sich selbst, sondern nur mittels eines anderen ge-

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langen, der sich ihm zu eigen gibt, damit er durch seine Gerechtigkeit gerechtfertigt werde vor Gott. Was damit gesagt ist, hat Paulus in seiner Lehre von der Christusgemeinschaft des Glaubens in einer Weise zum Ausdruck gebracht, die, indem sie den Ertrag der vorpaulinischen Staurologie sichert und konstruktiv gestaltet, für jede christliche Versöhnungslehre Maßstäbe setzt. In der vorpaulinischen Staurologie lassen sich drei Deuteschemata des Kreuzesgeschehens unterschei- Vorpaulinische den: Das Kontrastschema, das sog. heilsgeschicht- Staurologie lich-kausale und das soteriologische Schema, wonach Christus „für uns“ bzw. „für die Vielen“ gestorben ist (vgl. Roloff, 185 ff.). Thematische Kontrastformeln, die dem von Menschen gewirkten Unheilsgeschehen des Kreuzestodes Jesu Christi dessen Auferweckung und Erhöhung durch die Tat Gottes entgegensetzen, finden sich beispielhaft in den Reden der Apostel­ geschichte: „Den Urheber des Lebens habt ihr getötet, aber Gott hat ihn von den Toten auferweckt.“ (Apg 3,15; vgl. 2,23 f.36; 5,30; 10,39 f.; 13,27–30) Vermutlich handelt es sich bei den Kontrastformeln nicht erst um lukanische Theologumena (so z. B. Rese), sondern bereits um vorlukanisches Traditionsgut. Ob sie in staurologischer Hinsicht „das älteste Kerygma“ (Roloff, 185) darstellen, kann offen bleiben. Von einer spezifischen Heilsbedeutung des Kreuzestodes für Menschheit und Welt ist in ihnen noch nicht explizit die Rede. Dies gilt auch für das sog. heilsgeschichtlich-kausale Schema, demzufolge Jesus aufgrund eines göttlichen Vorsehungsplans mit Notwendigkeit leiden und sterben musste, um schließlich in die himmlische Herrlichkeit einzugehen. Der vormarkinische Passionsbericht ist nach diesem Schema gestaltet und zwar mittels des Schriftbeweises unter besonderer Berücksichtigung der Leidenspsalmen 22 und 69. Er „deutet Zug um Zug Jesu Sterben als ein Geschehen, das unter dem unabweisbaren, von Gott gesetzten ‚Muß‘ steht“ (Roloff, 187). Auch andere Texte heben die Notwendigkeit des jesuanischen Weges vom Tod zum ewigen Leben hervor (vgl. Schröter, 148). Antworten auf die Frage, warum Jesus leiden und sterben musste, werden in der vorpaulinischen und vorsynoptischen Tradition nach Maßgabe des soteriologischen Schemas gegeben. In ihm wird der Für-Bezug des Todes Jesu Christi eigens benannt und die Heilsbedeutung des Kreuzes ausdrücklich hervorgehoben. Deutungen des Kreuzestodes Jesu als eines Heilsgeschehens und namentlich als eines Geschehens zum Heil der Sünder „begegnen bereits in sehr alten Überlieferungen wie etwa 1 Kor 15,3b-5“ (Schröter, 149), wo eingangs ausdrücklich gesagt ist, „dass Christus gestorben ist für unsere Sünden“ (vgl. Gal 1,4) und zwar gemäß der Schrift, wie hinzugefügt wird. Weitere Beispiele für sog. Sterbeformeln aus recht altem Traditionsgut lassen sich unschwer anführen (vgl. etwa Röm 4,25; 5,8). Sie heben stets die heilvolle Wirkung von Jesu Leiden und Sterben hervor, „ohne diese auf eine bestimmte Bedeutung festzulegen. Es wäre deshalb irreführend, die Formulierungen ‚für uns‘ oder ‚für unsere Sünden‘ als sühnetheologische oder opferkultische Deutung des Todes Jesu aufzufassen.“ (Schröter, 149 unter Verweis auf Breytenbach, 95 ff.) Diese Aussage ist zutreffend; doch wird man nicht leugnen können,

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dass durch den expliziten Sündenbezug der Sterbeformeln bereits eine bestimmte Deutung vorgegeben ist. Diese Vorgabe wird offenbar durch die Verbindung des Todes Jesu mit dem Begriff hilasterion in Röm 3,25 eigens unterstrichen. Um zu der schwierigen Stelle Röm 3,25 und verwandten Passagen vorerst nur dieses anzumerken: In der Septuaginta wird das substantivierte Nomen hilasterion als terminus technicus für die Abdeckung der Bundeslade, hebr. kapporaet, gebraucht. Danach wäre hilasterion, was wörtlich übersetzt „das Sühnende“ heißt, mit „Sühnedeckel“, „Sühneort“ oder „Sühnemal“ wiederzugeben. Allerdings ist unklar, ob Paulus direkt auf die kapporaet Bezug nehmen wollte. Der Versuch, hilasterion nicht aus dem jüdischen, sondern aus dem griechisch-paganen Sprachkontext abzuleiten und als Synonym des Wortes anathema, Weihegeschenk oder Weihegabe zu verstehen (vgl. Schreiber), ist philologisch abwegig (vgl. Weiß). Man wird daher unabhängig von dem Problem, ob ein direkter Bezug auf das hebräische kapporaet vorliegt, an der sühnetheologischen Deutung von hilasterion in Röm 3,25 festzuhalten haben. Eine sühnetheologische Deutung liegt auch für die Abendmahlsparadosis in 1. Kor 11,23 ff. und für das Kelchwort Mk 14,24 nahe, in dem Jesus von seinem Blut des Bundes spricht, das für viele vergossen wird. Welche Bedeutung für die Entstehung der soteriologischen Formeltradition des Neuen Testaments dem Gottesknechtskapitel Jes  53, der Vorstellung eines heilswirksamen Märtyrersterbens oder anderen Überlieferungsbeständen aus dem palästinischen Judentum oder auch dem Hellenismus darüber hinaus zukommt, kann dahingestellt bleiben. Die Meinungen der Exegeten hierzu gehen zum Teil sehr weit auseinander. Doch muss man sich darüber dogmatisch nicht allzu sehr grämen. Denn wichtiger als das Problem der traditionsgeschichtlichen Genese des soteriologischen Schemas der Deutung des Kreuzestodes Jesu Christi ist die Frage, welche kanonische Geltung es etwa im Corpus Paulinum erlangt hat. Generell darf neben der Traditions- die Rezeptionsgeschichte biblischer Texte die Frage nicht vernachlässigt werden, welche Aufnahme sie in unterschiedlichen kanonischen Kontexten gefunden haben. Einen speziellen Anlass für rezeptionsgeschichtliche Studien dieser Art bietet beispielsweise das Logion Mk 10,45 par Mt 20,28, wonach der Menschensohn nicht gekommen sei, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele. Varianten dieser Aussage finden sich in Gal 1,4 und 2,20, Eph 5,2.25, 1. Tim 2,6 und Titus 2,14 sowie Joh 10,11.15, 15,13 und 1. Joh 3,16 (vgl. Edwards, 30 ff.). Wer Stellen wie die genannten im Einzelnen studiert, wird einen ersten Eindruck sowohl von kanonischer Intertextualität als auch von der Weite des Horizonts gewinnen, in dem die neutestamentlichen Aussagen über den Kreuzestod Jesu ihre staurologische Bedeutung angenommen haben: „Gnade sei mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und unserm Herrn Jesus Christus, der sich selbst für unsere Sünden hinge­geben hat, daß er uns errette von dieser gegenwärtigen, bösen Welt nach dem Willen G ­ ottes, unseres Vaters. Ihm sei Ehre in alle Ewigkeit. Amen.“ (Gal 1,3–5)

2. Versöhnung und Rechtfertigung im Gekreuzigten. Von Jesus zur gesetzesfreien Evangeliumsverkündigung des Paulus Lit.: G. Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt a. M. 2006. – A. Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus, München 2002. – F. Chr. Baur, Vorlesungen über neutestamentliche Theologie. Hg. v. F. F. Baur. Mit einer Einführung zum Neudruck von W. G. Kümmel, Darmstadt 1973. – R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 9. Aufl., durchgesehen u. erg. v. O. Merk, Tübingen 1984. – Chr. Burchard, Der dreizehnte Zeuge. Traditions- und kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lukas’ Darstellung der Frühzeit des Paulus, Göttingen 1970.  – B. Byrne, Interpreting Romans in  a Post„New Perspective“ Perspective, in: HThR 49 (2001), 227–241. – Chr. Dietzfelbinger, Die Berufung des Paulus als Ursprung seiner Theologie, Neukirchen 1985. – J. D. G. Dunn. The New Perspective on Paul. Collected Essays, Tübingen 2005. – Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen, München o. J. (= EG). – D. Finkelde, Streit um Paulus. Annäherungen an die Lektüre von Alain Badiou, Giorgio Agamben und Slavoj Zizek, in: PhR 53 (2006), 303–331. – A. Fürst u. a., Der apokryphe Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus, Tübingen 2012. – M. Hengel, Paulus und Jakobus. Kleine Schriften  III, Tübingen 2002. – F. W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte, Berlin / New York 2001. – W. Klaiber, Gottes Gerechtigkeit und Gottes Herrschaft. Ernst Käsemann als Ausleger des Neuen Testaments, in: J. Adam u. a. (Hg.), Dienst in Freiheit. Ernst Käsemann zum 100. Geburtstag, Neukirchen 2008, 59–82. – M. Köckert, „Glaube“ und „Gerechtigkeit“ in Gen 15,6, in: ZThK 109 (2012), 415–444. – E. Maurer, Kreuzestheologie, in: GlLern 27 (2012), 3–15. – E. Meyer, Ursprung und Anfänge des Christentums. Erster Band. Die Evangelien, Stuttgart / Berlin 4. u. 5. Aufl. 1925. – R. Mohr, Art. Gellert, Christian Fürchtegott (1715–1769), in: TRE 12, 298–300. – V. Nicolet-Anderson, Constructing the Self. Thinking with Paul and Michel Foucault, Tübingen 2012. – H. Omerzu, Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung der Apostelgeschichte, Berlin / New York 2002. – E. Rehfeld, Relationale Ontologie bei Paulus. Die ontische Wirksamkeit der Christusbezogenheit im Denken des Heidenapostels, Tübingen 2012. – E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, London 1977. – Ders., Paul, the Law, and the Jewish People, Philadelphia 1983. – Ders., Paulus. Eine Einführung, Stuttgart 1995. – R. Schäfer, Paulus bis zum Apostelkonzil. Ein Beitrag zur Einleitung in den Galaterbrief, zur Geschichte der Jesusbewegung und zur Pauluschronologie, Tübingen 2004. – A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, in: ders., Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd. 4, München 1974, 15–510. – Ders., Geschichte der Paulinischen Forschung von der Reformation bis auf die Gegenwart, Hildesheim 2004 (Nachdr. d. Ausg. Tübingen 1911). – R. Spaemann, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 1989. – K. Stendahl, Paul among Jews and Gentiles and other Essays, Philadelphia 21978. – M. Theobald, „… und er schickte seine Heere aus“ (Mt 22,7). Der Gott des Gekreuzigten – ein Gott auch der Gewalt?, in: ThQ 191

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(2011), 304–314. – A. Wechsler, Geschichtsbild und Apostelstreit. Eine forschungsgeschichtliche und exegetische Studie über den antiochenischen Zwischenfall (Gal 2,11–14), Berlin / New York 1991.  – A. J. M. Wedderburn, Eine neuere Paulusperspektive?, in: E.-M. ­Becker / P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus, Tübingen 2005, 46–64. – G. Wenz, Old Perspectives on Paul. Forschungsgeschichtliche Epilegomena zum Paulusjahr, in: KuD 56 (2010), 121–164. 225–255. – S. Zizek, Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frankfurt a. M. 2003.

„Seneca Paulo salutem; Annaeo Seneca Paulus salutem“: mit diesem Grußwort beginnen – abgesehen davon, dass einmal ein gewisser Lucilius, das andere Mal ein Theophilus eingeschaltet wird – stereotyp die jeweiligen Briefe einer Korrespondenz, die zwischen dem Apostel Paulus und dem stoischen Philosophen stattgefunden haben soll. So jedenfalls will es ein anonymer Autor, der den Briefwechsel im 4. Jahrhundert angefertigt hat (vgl. Fürst u. a., 3). Viel zu sagen haben sich die beiden angeblichen Freunde nicht. Der Inhalt ihrer „kurzen Schreiben ist … an Dürftigkeit kaum zu überbieten“ (ebd.). Erst als der verheerende Großbrand im neronischen Rom angesprochen und die Frage nach den machinatores incendii (Brief XI), den mutmaßlichen Brandstiftern, aufgeworfen wird, kommt etwas Spannung auf. Ansonsten ist der „apokryphe Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus … ein ausgesprochen nichtssagender Text“ (Fürst u. a., VII). „Mir fällt nichts ein“, schreibt Erasmus von Rotterdam im Jahr 1515 (Brief 2092), „was man sich Steiferes und Alberneres als diese Briefe ausdenken könnte. Und doch hat ihr Verfasser, wer immer es gewesen sein mag, dies getan, um uns zu überzeugen, Seneca sei Christ gewesen.“ (Zit. n. Fürst u. a., 75) Auszuschließen ist diese erasmische Annahme nicht. Als Fehlinterpretation lässt sie sich jedenfalls nicht schon durch den zutreffenden Hinweis erweisen, dass von „einer Bekehrung Senecas zum Christentum … im Briefwechsel … nicht die Rede“ (Fürst u. a., 19) sei. Wie immer es sich mit Seneca und seinem Verhältnis zu Paulus verhalten haben mag; neuerdings zieht der Apostel echtes Interesse von Philosophen bzw. Schriftstellern auf sich, die für Philosophen gehalten werden wollen. Dies zeigen die vielbeachteten Bücher von Giorgio Agamben (vgl. Agamben), Alain Badiou (vgl. ­Badiou) oder Slavoj Zizek (vgl. Zizek). Die Werke der drei Autoren erörtern Themen, die das Verhältnis von Sein und Ereignis, von Universalität und Partikularität sowie von Identität, Nichtidentität und unbestimmbarer Kontingenz betreffen, und sie diskutieren Sinn bzw. Unsinn einer Theorie von Anderssein, die sich jeder Form von Einheit entzieht. „Dabei dient Paulus … als Gewährsmann in der Auseinandersetzung um philosophische Positionen, die unter den Schlagworten wie Differenz-Philosophie, Alterität und Dekonstruktion das ausgehende 20. Jahrhundert dominiert haben und heute … neu verhandelt werden.“ (Finkelde, 303) Diese aktualisierende Adaption des Apostels macht die genannten Paulusbücher und ähnlich gelagerte Rezeptionsversuche (vgl. etwa NicoletPaulus unter den Philosophen

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Anderson) theologisch interessant und zwar auch in soteriologischer Hinsicht. Doch gilt in modifizierter Form, was Adolf Jülicher einst in einer bemerkenswerten Rezension der ersten Auflage des Römerbriefkommentars von Karl Barth in der „Christliche(n) Welt“ von 1920 geschrieben hat, dass man im Barth’schen Buch für das Verständnis unserer Zeit möglicherweise viel, für das Verständnis des geschichtlichen Paulus hingegen kaum irgend etwas bzw. gar nichts finden werde. Geboren um die Zeitenwende (vgl. Apg 7,58) oder einige Jahre danach in Tarsus (Apg 9,11; 21,39; Mann aus Tarsus 22,3), einer hellenistisch geprägten griechischsprachigen Stadt im Süden der heutigen Türkei; Sohn jüdischer Zuwanderer, dem palästinischen Mutterland eng verbunden; wahrscheinlich im Besitz des römischen Bürgerrechts; von Beruf Zeltmacher (vgl. Apg 18,3); Thorastudium in Jerusalem (Apg 22,3), Anschluss an die Pharisäer (Phil 3,5; Apg 26,5), „Eiferer“ für das Gesetz (vgl. Gal 1,14; Phil 3,6) und Verfolger der Kirche (Gal 1,13 f.; Phil 3,6; vgl. 1. Kor 15,9; Apg 8,3; 9,1 f.; 22,4 f.), will heißen: im Raum von Damaskus und wohl auch in Jerusalem selbst um rigide Durchsetzung der Synagogaljustiz gegenüber judenchristlichen „Hellenisten“ bemüht, deren reserviert-kritische Haltung gegenüber Tempel und Ritualvorschriften der Thora infolge ihres Glaubens an den er­ höhten Gekreuzigten für den pharisäischen Juden Saulus höchst anstößig war. Anfang der 30er Jahre Lebensumbruch durch das sog. Damaskusereignis (vgl. Gal 1,12.15–17; 1. Kor 9,1; 15,8; Phil 3,7–9; 2. Kor 4,6; vgl. Apg 9,1; 22,3–21; 26,9–20); Neubegründung religiöser Identität (vgl. Phil 3,7–9; Gal 2,19 f.) infolge der Erscheinung des vom Gesetz verfluchten, aber von Gott auferweckten und zur Rechten Gottes erhöhten Gekreuzigten, der ihn zum Apostel der Völker beruft und dazu beauftragt und bevollmächtigt, das Evangelium Jesu Christi auch den Nichtjuden zu verkünden und zwar ohne Auflage der Einhaltung von Thoravorschriften. Nach wenig erfolgreichen missionarischen Tätigkeiten in der Arabia erster Besuch in Jerusalem (vgl. Gal 1,18), wo man ihm eher zurückhaltend begegnet (vgl. Apg 9,26–30); lange Wirksamkeit in Tarsus, Antiochien; Mission in Zypern und im südlichen Kleinasien (vgl. Gal 1,21; Apg 9,30; 11,25 f.; 13 f.); Ende der vierziger Jahre sog. Apostelkonzil (Gal 2,1 ff.; Apg 15) und antiochenischer Zwischenfall (Gal 2,11 ff.). Nach Trennung von Antiochien, wo Paulus die gesetzesfreie Evangeliumsverkündigung für die Heiden jahrelang praktiziert und propagiert hatte, Beginn selbständiger Pioniermission; Gründung von Gemeinden in den römischen Provinzen Asia, Galatien, Mazedonien und Achaia und briefliche Korrespondenz; nach Abfassung des Römerbriefs, der als einziger unter den Briefen des Paulus an eine nicht von ihm selbst gegründete Gemeinde geschrieben ist und als Kompendium seiner Theologie gelesen werden kann, letzte Jerusalemreise, Verhaftung (vgl. Apg 21,27–30), Gefangenschaft in Caesarea (Apg 23–26), Überführung nach Rom (Apg 27), längere Haft, Martyrium; dass Paulus vor seiner Hinrichtung von Rom aus noch nach Spanien gelangte (vgl. 1. Clem 5,7), ist unwahrscheinlich. Die Verhaftung des Paulus in Jerusalem geht wahrscheinlich auf den konkreten „Vorwurf der Entweihung des Tempels durch die Begleitung durch Heiden“

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(Omerzu, 506) zurück: „Es konnte gezeigt werden, daß mit der Anzeige des Paulus im Tempelbereich vermutlich ein bereits länger schwelender Konflikt mit den Juden der Asia kulminierte, den sowohl die Paulusbriefe als auch Lukas ansatzweise erkennen lassen und der schon früher zu einer mehrjährigen Haft des Paulus in Ephesus geführt haben dürfte.“ (Ebd.) Wie immer es sich im Einzelnen verhalten haben mag: „Das Ende des Paulus“ (vgl. F. W. Horn [Hg.]) steht in einem erkennbaren Zusammenhang mit der damaszenischen Wende, in der seinem Leben und Denken eine neue Richtung gewiesen und durch die aus einem dezidierten Verfechter der Thora ein entschiedener Zeuge des gesetzesfreien Evangeliums von Jesus Christus für Juden und Heiden wurde. Zugleich verweist das Martyrium Pauli auf den Tod dessen, den er als österlichen Herrn und Retter bezeugt hat, und macht auf einen inneren Zusammenhang aufmerksam, der zwischen der jesuanischen­ basileia-Botschaft und dem paulinischen Christus-Kerygma waltet (vgl. Klaiber). Zwar lässt sich die paulinische Verkündigung der Ursprüngliche Einsicht im auferstandenen Gekreuzigten offenbaren Verdes dreizehnten Zeugen söhnung und Rechtfertigung des Gottlosen durch Gott nicht als unmittelbare Fortsetzung der ReichGottes-Verkündigung Jesu begreifen. Aber ein staurologisch-ostertheologisch vermittelter Beziehungszusammenhang besteht gleichwohl, sofern durch das Evangelium Jesu Christi bewahrheitet ist, was durch Jesus verkündigt wurde. So wie der österlich erstandene Gekreuzigte eins ist mit dem irdischen Jesus, um sich in seiner Jesus-Christus-Identität wahrnehmen zu lassen, so kommt das Evangelium der um Christi willen rechtfertigenden Gerechtigkeit Gottes mit der jesuanischen ReichGottes-Verkündigung überein, für welche die Zuwendung zu Sündern in Wort und Tat kennzeichnend war. Man hat die Berufung des Paulus zum „Ursprung seiner Theologie“ (vgl. Dietzfelbinger) erklärt. In der Tat kann diese nicht verstanden werden ohne jene österliche apokalypsis, die den gesetzestreuen Christusverfolger zum Heidenmissionar und zum „dreizehnte(n) Zeuge(n)“ (vgl. Burchard) des apostolischen Evangeliums vom auferstandenen Gekreuzigten wandelte. Es war der Eifer für die Thora, der ihn nach eigenem Zeugnis (Gal 1,13 f.; Phil 3,5 f. etc.) gegen die Anhänger des gekreuzigten Jesus vorgehen ließ; und es war der Gekreuzigte selbst, der ihn durch sein österliches Erscheinen dazu brachte, zum Bekenner des allein im Evangeliumsglauben und nicht in den Werken des Gesetzes begründeten Heils zu werden. Dieser Wandel reflektiert sich in der paulinischen Theologie, deren Grundthema durch den Zusammenhang einer nicht synthetisierbaren Differenz bestimmt ist, nämlich durch das Verhältnis von Gesetz und Evangelium, die sich zwar nicht trennen lassen, aber soteriologisch sorgsam zu unterscheiden sind. Allein im auferstandenen Gekreuzigten ist nach Paulus Gott als Versöhner und die göttliche Gerechtigkeit als rechtfertigend offenbar, um im Glauben empfangen zu werden, wohingegen sie ohne Jesus Christus den Sünder richtet und dem Gericht zuführt, das seinen sündigen Werken gebührt. Diese ursprüngliche Einsicht bestimmt die innere Mitte paulinischer Theologie, die ihre Entwicklung in allen Einzelmomenten prägt, und sie

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charakterisiert die für die Christentumsgeschichte weichenstellende Haltung des Apostels sowohl beim antiochenischen Konflikt (vgl. Wechsler) als auch beim sog. Apostelkonzil, wie immer sich der Weg dorthin im Einzelnen dargestellt haben mag (vgl. Schäfer). Wichtiger als Versuche einer Rekonstruktion „der ‚Frühzeit‘ des Paulus zwischen seiner Offenbarungserfahrung und dem Apostelkonzil“ (Schäfer, 473) und möglicher Akzentverlagerungen in seiner späteren Theologie, die stets hypothetisch bleiben werden, ist die Frage, welcher Stellenwert der paulinischen Ursprungseinsicht für den Gang der frühchristlichen Lehrentwicklung zukommt. Wie konnte auf die Reich-Gottes-Botschaft Jesu kaum zwei oder drei Jahrzehnte nach seinem Tod die paulinische Evangeliumsverkündigung von der Versöhnung- und Rechtfertigung im Gekreuzigten folgen und aus ihr die Theologie hervorgehen, die schließlich zum trinitarischen und christologischen Dogma der Alten Kirche führte? Die Beantwortung dieser Frage gehört bis heute zu den dringlichsten Aufgaben einer Geschichte des Urchristentums, welche „Ursprung und Anfänge des Christentums geschichtlich zu begreifen und in den Zusammenhang der historischen Entwicklungen einzureihen“ (Meyer, IX ) hat. Was hinwiederum die urchristliche und neutestamentliche Theologie anbelangt, so kann weder die Genese ihres Gegenstands noch dessen bei aller Pluralität in Anschlag zu bringende innere Einheit ohne eine nachvollziehbare Erklärung der theologiegeschichtlichen Entwicklungen im frühen Christentum verständlich gemacht werden, die sich im Neuen Testament und seinen Büchern reflektiert und objektive Gestalt angenommen haben. Soll die Kanonizität des neutestamentlichen Kanons und die Authentizität seiner Auslegung nicht Jesuanische Reichmit Gründen vergewissert und durch Faktoren ge- Gottes-Verkündigung und währleistet werden, die dem Gehalt der Urkunde Evangelium des auferchristlichen Glaubens äußerlich sind, dann müs- standenen Gekreuzigten sen sowohl die formale Gestalt als auch und vor allem das inhaltliche Zeugnis des Neuen Testaments aus dem theologischen Entwicklungsgang des frühen Christentums heraus erklärt werden. Seine zumindest in Grundzügen erkennbare Kontinuität ist die Voraussetzung dafür, den sachlichen Zusammenhang der neutestamentlichen Bücher und die Stimmigkeit ihrer kanonischen Verbindung zu erkennen. Eine Theologie des Neuen Testaments lässt sich nur schreiben, wenn über die Kontinuität und innere Einheit ur- und frühgeschichtlicher Theologiegeschichte ein gewisses Maß an Klarheit zu erreichen ist. Entsprechendes gilt für alle Konzeptionen einer gesamtbiblischen Theologie, sofern sich der genuine Sinn des differenzierten Zusammenhangs von Altem und Neuem Testament ohne Kenntnis der ursprünglichen Form nicht erfassen lässt, die er im Laufe der frühen Christentumsgeschichte gewonnen hat. Neutestamentliche Theologie ist ohne Ostern und ohne den österlichen Geist Pfingstens nicht zu denken, der die Auferstehung des gekreuzigten Jesus von Nazareth bezeugt. Insofern ist es nicht falsch, mit Rudolf Bultmann – dessen Theologie des Neuen Testaments ohne Zweifel eine der bedeutendsten Leistungen neu-

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testamentlicher Wissenschaft im 20. Jahrhundert darstellt – zu sagen, dass es den christlichen Glauben und eine neutestamentliche Theologie, in welcher sich dieser entfaltet und seines Grundes vergewissert, erst seit der Verkündigung des Verkündigers und seiner Bezeugung als Gottes eschatologische Heilstat, also erst unter den Bedingungen von Kreuz und Auferstehung gibt. Ob deshalb Jesus und seine Verkündigung lediglich zu den historischen Voraussetzungen und Motiven neutestamentlicher Theologie zu rechnen sind, ohne selbst Teil von ihr zu sein, muss gleichwohl bezweifelt werden. Denn unbestreitbar ist das Osterkerygma vom auferstandenen Gekreuzigten mit der Gestalt des vorösterlich-irdischen Jesus unveräußerlich verbunden. Christus wird als Jesus verkündet, und das Grundbekenntnis des Christentums lautet, dass Jesus der Christus sei. Insofern ist die Jesusgestalt nicht nur Prämisse, sondern konstitutiver Bestandteil neutestamentlichen Kerygmas. Dabei darf die Annahme der neutestamentlichen Zeugen, der Gestalt Jesu eigne geschichtliche Realität, als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Nach dem historischen Jesus zu fragen, kann daher unter Bedingungen neutestamentlicher Christologie nicht einfachhin falsch sein. Indes soll damit nicht gesagt werden, dass sich aus der historischen Jesusfrage die christologische Antwort gleichsam von selbst ergibt. Statt die Christologie des Neuen Testaments zu entproblematisieren, trägt die Frage nach dem historischen Jesus eher zu deren Reproblematisierung bei. Dies muss kein Schaden, kann im Gegenteil von Nutzen sein, sofern zur neutestamentlichen Christologie die Erinnerung an die Problematik Jesu, die Uneindeutigkeit seiner irdischen Erscheinung und an den Streit unveräußerlich hinzugehört, den sie hervorrief. Die im Lichte Osterns erstrahlende Jesusgestalt gehört mit der in der Dunkelheit, die alles Irdische umgibt, verborgenen und von ihr verhüllten untrennbar zusammen. Zwischen dem kerygmatischen und dem historiHistorischer und schen Jesus muss unterschieden werden. Separieren kerygmatischer Jesus lassen sich beide nicht. Der vorösterliche Jesus, wie nach Bultmann er im Lichte Osterns erscheint, stellt sich anders dar als der historische, der Karfreitag und Ostern, wenn man so will, noch vor sich hat und dessen Vorösterlichkeit mithin nicht gleichzusetzen ist mit derjenigen des österlich erinnerten bzw. sich zur Erinnerung bringenden irdischen Jesus. Dennoch sind der kerygmatische und der historische Jesus keine verschiedenen Gestalten. Sie sind anders, aber keine anderen. Systematische und historische Theologie sind in ihrem Verhältnis zueinander darauf angelegt, diesen differenzierten Zusammenhang zu reflektieren. Nach Bultmann, einem Großen beider Zünfte, führte der historische Jesus ein unmessianisches Leben. Er trat seinem Urteil zufolge als Prophet, Rabbi und Exorzist auf, nicht aber in der Rolle des Messias; wenn er vom kommenden Menschensohn sprach, dann meinte er damit nicht sich, sondern einen anderen. Die jesuanische Verkündigung der nahen Gottesherrschaft gehört in den geschichtlichen Zusammenhang jüdischer Endzeiterwartung, deren Horizont sie voraussetzt und nach Bultmann nie grundsätzlich übersteigt. Zwar fehle in der Botschaft Jesu jede eschatologische Spekulation, wie

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sie für Teile der jüdischen Apokalyptik kennzeichnend sei; auch könne von einer in Wort und Tat des Propheten, Rabbi und Wunderheilers bereits in Anbruch begriffenen Gegenwart der Gottesherrschaft die Rede sein. Aber auch dadurch werde der apokalyptische Vorstellungshorizont in keiner Weise gesprengt. Wie die eschatologische Verkündigung Jesu so bewegt sich nach Bultmann auch Jesu Auslegung der Forderung Gottes in der Kontinuität jüdischer Tradition. Zwar enthalte die jesuanische Thoraauslegung einen zum Teil  massiven Protest gegen Formen der Gesetzlichkeit und polemische Spitzen insbesondere gegen den gesetzlichen Ritualismus. Dies ändere indes nichts an der Tatsache, dass Jesus die jüdische Thora wie die gesamte alttestamentliche Überlieferung im Grundsatz affirmiert habe. Seine auf das Doppelgebot der Liebe konzentrierte eschatologische Ethik, die mit der Botschaft endzeitlicher Gottesherrschaft untrennbar verbunden sei, sprenge trotz ihrer Radikalität nirgends den Rahmen des unter jüdischen Bedingungen Möglichen. Auch Jesu Gottesgedanke gehört nach Bultmann in den Zusammenhang des Judentums, aus dessen prophetischer Tradition er hervorgeht. Der strikte Monotheismus werde festgehalten und bilde die Voraussetzung und fundierende Basis des Selbstverständnisses Jesu in seinem Denken und Handeln. Die Transzendenz des einen und universalen Schöpfers Himmels und der Erde werde durch die jesuanische Sendung nicht problematisiert, sondern im Gegenteil bestätigt und zwar auch dort, wo die Nähe Gottes und seine Vergebungsbereitschaft denen gegenüber verkündet wird, die zur Umkehr bereit und die göttlichen Gebote zu halten gewillt sind. Jesu Gottesglaube, seine Verkündigung der nahen Gottesherrschaft in Wort und Tat und seine eschatologische Ethik sind dem Urteil Bultmanns zufolge jüdisch und unbeschadet ihrer Eigenart aus dem Traditionszusammenhang namentlich der jüdischen Endzeitprophetie unschwer zu verstehen. Mag Jesus noch so sehr gegen jüdische Gesetzlichkeit polemisieren, der Inhalt seiner Botschaft „ist doch nichts anderes als echter alttestamentlich-jüdischer Gottesglaube, radikalisiert im Sinne der Verkündigung der großen Propheten“ (Bultmann, 36). Selbst die Individualisierung des Gottesverhältnisses und die Tatsache, dass Jesus den Einzelnen nicht lediglich als Glied seines Volkes, sondern unmittelbar vor Gott stelle und mit Gottes eschatologischem Kommen konfrontiere, liege in der Konsequenz prophetischer Verkündigung, wie das Alte Testament sie bezeuge. Kurzum: „Die Begriffe von Gott, Welt und Mensch, von Gesetz und Gnade, von Buße und Vergebung sind in Jesu Lehre nicht neu gegenüber dem AT und dem Judentum, so radikal sie auch gefaßt sein mögen. Und seine kritische Gesetzesinterpretation steht ebenfalls trotz ihres Radikalismus innerhalb der schriftgelehrten Diskussion, wie seine eschatologische Verkündigung innerhalb der jüdischen Apokalyptik.“ (Bultmann, 37) Die Denkungsart des historischen Jesus ist jüdisch und gehört dem Judentum und nicht dem Christentum an, das sich erst nach Jesu Tod anfangsweise ausgebildet hat. Dass Jesus ein Jude war und kein Christ, versteht sich von selbst. Nicht selbst­ verständlich, sondern erstaunlich mutet es dagegen an, wie sehr und weitgehend

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spannungsfrei Bultmann Jesus in den religionsgeschichtlichen Kontext seiner Zeit aufgehen lässt, um später bei Paulus und Johannes, den Kronzeugen seiner neu­ testamentlichen Theologie, den Gegensatz von Judentum und Christentum umso deutlicher hervortreten zu lassen. Ist dies historisch plausibel? Jesus gehört zwar eindeutig in den Überlieferungszusammenhang jüdischer Apokalyptik. Aber setzte seine Reich-Gottes-Botschaft nicht Akzente, die nachgerade von den Frommen als unerhört und ungehörig erachtet werden mussten? Wird von Bultmann nicht die religiöse Konflikthaltigkeit der Verkündigung der Nähe Gottes zu den Gottlosen und thorawidrigen Sündern unterschätzt, wie Jesus sie in Wort und Tat betrieb? Theologisch fällt die Problemlosigkeit, mit der er Jesu Botschaft im Überlieferungszusammenhang der jüdischen Apokalyptik aufgehen lässt, stärker ins Gewicht als die unproblematische Selbstverständlichkeit, mit der er die These eines unmessianischen Lebens Jesu vertritt. Wie Jesus stammten die ersten Christen ihrer HerPalästinisches und kunft nach aus dem palästinischen Judentum arahellenistisches mäischer Sprache. Sie lebten in Jerusalem und auch Judenchristentum in Galiläa, wo sich möglicherweise bald schon nach Jesu Tod palästinische Judenchristengemeinden gebildet haben. Dem jüdischen Kultverband und der jüdischen Lebensgestaltung wussten sie sich bleibend verbunden. Für religionsgeschichtliche Außenbetrachtungen mag sich die christliche Urgemeinde daher „als eine eschatologische Sekte innerhalb des Judentums“ (Bultmann, 45) darstellen. Doch unterschied sich die urchristliche Eschatologie von den zeitgenössischen Endzeiterwartungen nicht unerheblich, sofern sie infolge der Ostererfahrung den gekreuzigten Jesus von Nazareth als den aus den Wolken des Himmels kommenden Messias-Menschensohn proklamierte. Eine Neufassung der apokalyptischen Eschatologie bedeutete dies insofern, als die Zukunft des Reiches Gottes nun untrennbar mit der Gestalt Jesu – seinem Leben, Lehren, Handeln und Sterben – verbunden wurde, die nun an sich selbst eine singuläre eschatologische Bedeutung gewann. Der zum Verkündigten gewordene Verkündiger war zugleich zu demjenigen geworden, von dem man die Erfüllung der Endzeit erwartete, wobei die Art und Weise dieser Erwartung entscheidend von der geschichtlichen Erscheinung Jesu und dem Inhalt seiner Verkündigung bestimmt war. Auch wenn ein lehrmäßig reflektiertes und expliziertes Verständnis von Person und Geschichte Jesu erst allmählich eingetreten sein wird, so stand ihre Bedeutung für den urchristlichen Glauben gleichwohl fest, seitdem Gott den Gekreuzigten durch die Auferweckung von den Toten in seiner Sendung legitimiert und in die Funktion des kommenden Messias-Menschensohnes eingesetzt hatte. Dass die österliche Tat dabei nicht nur als ein Akt förmlicher Autorisierung einer Person, sondern zugleich als eine göttliche Beglaubigung und Validierung von deren Taten und Geschicken verstanden wurde, zeigen die theologischen Deutungen, die dem Leben und namentlich dem Sterben Jesu schon in urchristlicher Zeit zuteil wurden. Erste Ansätze einer soteriologischen Interpretation des Kreuzestodes bilden sich aus.

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Als jesuanische Endzeitgemeinde wusste die in Jerusalem konzentrierte Urchristenheit um ihre innere Besonderheit, ohne sich deshalb als eigenständige Religionsgemeinschaft vom Judentum zu separieren. Man hielt am Tempelkult und seinen Opfergebräuchen sowie an den sonstigen Bestimmungen der Thora fest. Mag gegenüber den kultisch-rituellen Forderungen des Gesetzes auch verhältnismäßige Freiheit bestanden haben, so blieb seine Geltung gleichwohl unangetastet. Die Frage der christlichen Verbindlichkeit der Thora wurde von der aramäischsprachigen Judenchristenheit anfangs weder ausdrücklich gestellt, noch gar einer systematischen Antwort zugeführt. Dies änderte sich im Zusammenhang der Spannungen, die in Jerusalem zwischen judenchristlichen „Hebräern“, also den einheimischen, Aramäisch sprechenden Mitgliedern der Gemeinde, und den sog. Hellenisten aufkamen, bei denen es sich um Griechisch sprechende Gläubige aus der Diaspora handelte. Von dem Kreis um den Herrenbruder Jakobus wurde Gesetzestreue als Voraussetzung der Teilhabe Kritik an Tempelkult am endzeitlich berufenen und auserwählten Gottes- und Thora volk erachtet. Auch Nichtjuden, die sich der eschatologischen Jesusgemeinde als dem endzeitlichen Israel anschließen wollten, wurde deshalb die Übernahme des Gesetzes abverlangt, insbesondere die Beschneidung. Anders scheint man im Kreis der judenchristlichen Hellenisten um Stephanus ge­ urteilt zu haben. Stand bereits das hellenistische Judentum dem Gesetz generell freier gegenüber als das palästinische, so übten die hellenistischen Judenchristen Jerusalems im Unterschied zu ihren Aramäisch sprechenden Glaubensgeschwistern offenbar bald explizite Kritik an Tempelkult und Thora. Die Steinigung des Stephanus und die Vertreibung seiner Gesinnungsgenossen dürften dadurch veranlasst gewesen sein. Scheint sich das Problem in der Jerusalemer Urgemeinde damit einstweilen erledigt zu haben, so wurde es erneut und in gesteigertem Maße virulent, als sich im Zuge der Mission hellenistischer Judenchristen „heidenchristliche Gemeinden bildeten, für die die Übernahme des Gesetzes und vor allem der Beschneidung nicht mehr als Bedingung für den Eintritt in die Gemeinde und für die Teilnahme am messianischen Heil galt“ (Bultmann, 59 f.). Apostelkonvent (vgl. Gal 2,1–10; Apg 15), antiochenischer Konflikt zwischen Paulus und Petrus (Gal 2,11 ff.) sowie das sog. Aposteldekret (Apg 21,25) gehören unbeschadet ihres umstrittenen Verhältnisses zueinander in diesen geschichtlichen Zusammenhang. Das Interesse an der Gruppe der Jerusalemer „Hellenisten“ ist in den vergangenen Jahrzehnten „zusammen mit der Einsicht gewachsen, daß wir in ihr das entscheidende Band zwischen Jesus und seinem aus Galiläa stammenden Jüngerkreis und den ‚hellenistischen Gemeinden‘ außerhalb Judäas besitzen, die uns im Kontext der paulinischen Mission begegnen“ (Hengel, 58) und „im Grunde weithin griechischsprechende judenchristlich geprägte Gemeinden“ (ebd.) waren. Was die Theologie der für die Jüngerbewegung gewonnenen „Hellenisten“ anbelangt, bei denen es sich überwiegend um nach Jerusalem zurückgekehrte, Griechisch sprechende Diasporajuden bzw. ihre Nachkommen handelte, so wurden sie durch

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die schon bei Jesus erkennbare Kritik am Tempel und bestimmten Gesetzesaussagen offenbar „stärker beeinflußt als die fest im Land ansässigen aramäisch sprechenden Judenchristen“ (Hengel, 59). Insbesondere der Tod Jesu und die österliche Auferweckung des Gekreuzigten wird in ihnen Zweifel an der soteriologischen Validität der Thorabestimmungen hervorgerufen haben. Ist im Tod Jesu das wahrhaft gültige Versöhnungsereignis ein für allemal geschehen, dann hat der Tempel seine Funktion als Stätte der Sühne prinzipiell verloren. Zwar bildeten die judenchristlichen Hellenisten in der Urchristenheit Jerusalems eine Minderheit; aber wirkungsgeschichtlich waren sie in hohem Maße bedeutsam, weil ihre tendenzielle Kritik an Tempel und an Bestimmungen des mosaischen Gesetzes nicht nur den Anlass ihrer Vertreibung im Zusammenhang der Steinigung ihrer Führungsgestalt Stephanus gab, sondern auch den Anfang der universalen Mission des Christentums darstellte. Die Zeit von der Vertreibung der sog. Hellenisten aus Jerusalem bis zum sog. Apostelkonzil ist für die weitere Christentumsgeschichte von weichenstellender Bedeutung. Dies hat bereits Ferdinand Christian Baur (vgl. Baur) gesehen. Er hat nicht nur zu Recht angenommen, dass der lukanische Bericht in Apg 6,11 ff. über Spannungen zwischen christlichen „Hebräern“ und christlichen „Hellenisten“ in Jerusalem einen historischen Hintergrund hat, sondern ist auch mit seiner Entscheidung richtig gelegen, vor diesem Hintergrund die Frage nach der Gültigkeit des Gesetzes im Verein mit dem Problem der Heidenmission ins Zentrum seiner Urchristentumsgeschichte zu stellen. Zwar verlief die urchristliche Geschichte komplizierter als Baurs Dialektik es nahelegt. So war Petrus nach allem, was von ihm historisch bekannt ist, keineswegs ein typischer Vertreter gesetzesstrengen Judenchristentums, sondern eher Repräsentant einer vermittelnden Position. Sein Verhältnis zur Griechisch sprechenden Christengemeinde der sog. Hellenisten war durchaus eng, ja man hat vermutet, dass er ihr einen großen Teil der bei Markus erhaltenen Jesustraditionen vermittelt hat. Von einer schroffen Petrus-Paulus-Antithese kann also nicht die Rede sein. Gleichwohl hat Baur richtig gesehen, dass Gesetzesfrage und Heidenmission die bewegenden Motive der urchristlichen Geschichte bilden, wobei das eine vom anderen zwar zu unterscheiden, nicht aber zu trennen ist. Die Hellenisten sind nicht nur das entscheidende Judenchristen und Verbindungsglied zwischen dem ursprünglichen JünHeidenchristen gerkreis, wie er in der Aramäisch sprechenden Urgemeinde fortlebte, und den juden- und heidenchristlichen Gemeinden außerhalb Judäas; ohne Kenntnis ihres Denkens wird auch die Theologie des Apostels Paulus nicht verständlich, die dem im Entstehen begriffenen Bewusstsein der hellenistischen Gemeinden erstmals einen konsequent durchreflektierten Ausdruck verschaffte. Nachdem die Grenzen Palästinas überschritten und Juden- und Heidenchristen umfassende Gemeinden hellenistischen Typs gegründet waren, nimmt das frühe Christentum klare Konturen und eine vom Judentum erkennbar unterschiedene Identität an. Allerdings stellte sich das vorpaulinische hellenistische Christentum nicht als eine einheitliche, sondern als eine viel-

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fältig in sich differenzierte Größe dar. Dies bleibt auch nach Paulus so, wie z. B. die innerhalb des Neuen Testaments vertretenen Typen hellenistischen Christentums nichtpaulinischer bzw. von Paulus unabhängiger Provenienz zeigen, wie etwa der Hebräerbrief oder der Jakobusbrief. Unbeschadet gegebener Vielfältigkeit kommt dem paulinischen Kerygma unter den kanonischen Schriften ein besonderer Rang zu, sofern er dem Glaubenszeugnis der Juden- und Heidenchristen umfassenden hellenistischen Gemeinden erstmals Ausdruck von theologisch begründeter Verbindlichkeit verschaffte. Dies gilt umso mehr, als der Versuch, das Kerygma der hellenistischen Gemeinde vor Paulus zu rekonstruieren, zwangsläufig hypothetisch bleiben muss. Vermerkt sei lediglich, dass Bultmanns scharfe Kontrastierung eines hellenistischen Juden- und eines hellenistischen Heidenchristentums von der exegetischen Forschung heute nicht mehr vertreten wird, weil erkannt worden ist, dass das hellenistische Christentum vor Paulus insgesamt von eindeutig judenchristlicher Art war. Es waren Spannungen innerhalb des Judenchristentums und nicht etwa Grunddifferenzen eines urgemeindlichen und eines pagan-gnostisch geprägten Kerygmas hellenistischer Gemeinden, welche den theologischen Entwicklungsvorgang früher Christentumsgeschichte bestimmten. Um den hellenistischen Judenchristen und Heidenmissionar Paulus zu ver­ stehen, der als der eigentliche Begründer der christlichen Theologie zu gelten hat, muss zuvor der Jude Saulus verstanden werden. Er wurde, um an den Anfang zurückzukehren, in der Metropole Tarsus als Sohn einer sozial privilegierten, griechischsprachigen, aber streng jüdischen Familie pharisäischer Prägung geboren, und hatte, wie wahrscheinlich schon sein Vater, römisches Bürgerrecht. Welche Schulerziehung er in Tarsus erhielt und wann genau er zur weiteren Ausbildung nach Jerusalem wechselte, ist strittig. Mit der Septuaginta und sonstigem Schrifttum des hellenistischen Judentums war er ebenso vertraut wie mit dem Hebräischen als der Ursprache der Heiligen Schrift und der Liturgie sowie mit der aramäischen Umgangssprache des jüdischen Palästinas. Das pharisäische Gesetzesstudium, welches er in Jerusalem insbesondere im Lehrhaus des Gamaliels absolvierte, ließ ihn zu jenem glühenden Verfechter der Thorafrömmigkeit werden, zu dem er von Hause aus bestimmt war. Wahrscheinlich im Zuge des in Jerusalem ausgetragenen Konflikts von Synagogengemeinden Griechisch sprechender Diasporajuden, in deren Reihen er als Gesetzeslehrer und Prediger tätig gewesen sein wird, mit judenchristlichen „Hellenisten“ ist er zum Christenverfolger geworden. Die Lebenswende, die aus Saulus den Christen Paulus werden ließ, hat sich wahrscheinlich in der Von Saulus zu Paulus ersten Hälfte des vierten Jahrzehnts des 1. Jahrhunderts n. Chr. nur wenige Jahre nach Jesu Kreuzigung zugetragen. Die theologischen Gründe, die den vorchristlichen Saulus zur Verfolgung der judenchristlichen Hellenisten in Jerusalem und darüber hinaus motiviert hatten, bleiben als implizite Voraussetzungen in der Theologie des christlichen Paulus erhalten und dürfen nicht unbedacht bleiben, wenn seine Lehre angemessen verstanden werden soll. Galt ihm

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ursprünglich die in Kreisen judenchristlicher Hellenisten geübte tendenzielle Kritik an Gesetzesbestimmungen und am Tempelkult als ein religiöser Gräuel und als eine Sünde wider die Heilsgüter Israels, so wurde die damaszenische Wende für ihn der Beginn eines Weges, der ihn zu einer aktiven und grundsätzlich gesetzesfreien Heidenmission führte, wie sie so von den aus Gegnern zu Freunden und Glaubensgenossen gewordenen judenchristlichen Hellenisten anfangs wohl kaum schon betrieben worden war. Die Lehre des Paulus von der Versöhnung und Rechtfertigung des Sünders aus Gnade um Christi willen ohne die Werke des Gesetzes und allein aus Glauben ist der theologische Reflex seiner religiösen Entwicklung. Die Versöhnungs- und Rechtfertigungslehre ist daher durchaus als das Herzstück paulinischen Denkens zu bezeichnen und mit seiner Kreuzestheologie untrennbar verbunden. „Die paulinische Theologia crucis und daran angeschlossen die Frage nach dem Gesetz als Weg zum Heil und zur Rechtfertigung im Gericht sind nicht irgendwelche­ ‚Nebenkrater‘, die sich aufgrund späterer Konflikte in den Gemeinden herausbil­ deten, sondern haben dem Weg des vormaligen pharisäischen Schriftgelehrten … von Anfang an mit dem Damaskuserlebnis die Richtung gegeben.“ (Hengel, 175) Für Paulus ist die Rechtfertigungslehre keine theoretische Marginalie seiner Heidenmissionspraxis, weil sich für ihn infolge seiner Begegnung mit dem auferstan­ denen Gekreuzigten „die Frage Gesetz oder Christus in der Form der soteriologischen Alternative“ (Hengel, 221) darstellte. Anders als dies wahrscheinlich bei den Anhängern des Stephanuskreises der Fall war, begnügte sich Paulus nicht mit der Unterscheidung zwischen den im Doppelgebot der Liebe gipfelnden Thorageboten, die verbindlich, und den Ritualgesetzen, die nicht verbindlich seien. Er schließt vielmehr das Gesetz als eigenen Heilsweg zu Christus prinzipiell und definitiv aus. Das Glaubensheil in Christus löst zwar die Gültigkeit des Gesetzes nicht in antinomistischer Weise auf; aber es errettet gratis aus dem Gericht, welches das Gesetz dem Sünder zwangsläufig bereitet, ohne ihm die seine Not wendende Hilfe gewähren zu können. Nicht das Gesetz, sondern das Evangelium errettet The New Perspective und spricht dem sündigen Menschen Vergebung on Paul und Rechtfertigung vor Gott zu, die er im Gekreuzigten aus Gnade durch Glauben empfängt. Dass dieser Grundsatz die ursprüngliche Einsicht des Apostels Paulus beschreibt, ist vor geraumer Zeit unter dem Titel „The New Perspective on Paul“ zum Teil vehement bestritten worden. Die Bezeichnung der Forschungsrichtung geht auf einen Vortrag des reformierten britischen Neutestamentlers James D. G. Dunn zurück, der mit ihr eine bereits seit etwa zwei Jahrzehnten in Gang befindliche Bewegung zusammenzufassen und auf den Begriff zu bringen versuchte (vgl. Dunn, 89–110). Grundlegend für die mittlerweile ein knappes halbes Jahrhundert alte neue Paulus­ perspektive ist nach Dunn die von Ed Parish Sanders in seinem Buch „Paul and­ Palestinian Judaism“ 1977 erschlossene veränderte Sicht auf das Judentum in der Zeit des Zweiten Tempels.

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Sanders zufolge ist die jüdische Religion der jesuanischen Zeit bzw. der Zeit unmittelbar vor und nach Jesus keineswegs durch jene Werkgerechtigkeit und Gesetzlichkeit gekennzeichnet gewesen, mit der sie namentlich in der neutestamentlichen Wissenschaft evangelischer und deutscher Provenienz häufig assoziiert worden sei. Der historische Neuansatz paulinischer, ja christentumsspezifischer Theologie konnte daher nach Sanders nicht in der Kontrastierung von Evangelium und Gesetz bzw. in einer Kritik jüdischer Werkgerechtigkeit aus Gründen christlichen Glaubens bestanden haben. Der Christusglauben namentlich des Apostels Paulus sei von der jüdischen Religion weniger durch einen theologischen Prinzipien­ konflikt in Bezug auf das Verhältnis von Gnade und Gerechtigkeit Gottes als durch die Tatsache geschieden, dass mittels des Glaubens an Christus allen Menschen – ob Juden oder Heiden – der Zugang zu Gott erschlossen worden sei. Wer im Glauben an Christus teilhabe, partizipiere zugleich an der göttlichen Erwählung und am eschatologischen Heil, das die apokalyptische Tradition erwarte, welche für das frühe Christentum wie für das Judentum des Zweiten Tempels gleichermaßen bestimmend gewesen sei. Zentral für die Paulusinterpretation von Sanders und die von diesem initiierte „New Perspective on Paul“ ist der Gedanke eschatologischer Christusgemeinschaft. Seine partizipatorische Eschatologie bestimme den Christusglauben des Paulus und unterscheide ihn wesentlich vom Bundesnomismus des Judentums. Die Rechtfertigungslehre sei im Vergleich dazu lediglich ein Nebengedanke bzw. ein Moment des Gedankens eschatologischer Christuspartizipation. Weil das eschatologische Heil für Paulus in der gläubigen Teilhabe in Christus bestehe, sind, so Sanders, göttliche Versöhnung, Rechtfertigung und Erlösung in dieser Teilhabe mitenthalten. Zugleich hört das Gesetz auf, als Richtschnur der Erwählung zu fungieren, weil die Christusgemeinschaft als einziges Erwählungskriterium gilt. Während das Gesetz als integraler Bestandteil des frühjüdischen Bundesnomismus die Aufgabe hatte, Israel von den anderen Völkern abzugrenzen, ist diese Schranke nach Paulus durch Christus und den Glauben an ihn behoben. Die ganze paulinische Theologie ist Sanders zufolge einschließlich ihrer Rechtfertigungslehre auf diesen Gesichtspunkt abgestellt, ohne in eine Grundauseinandersetzung mit den theologischen Prinzipien des Gesetzes und der Gerechtigkeit aus Werken einzutreten. Die Kritik der „Werke des Gesetzes“ sei für die Theologie des Paulus nur insofern bedeutsam, als viele seiner jüdischen Glaubensbrüder die Erfüllung nicht nur der lex naturalis, sondern darüber hinausgehender spezifischer Thoraverpflichtungen für notwendig hielten, um das Heil zu erlangen und im Bund der Erwählung zu verbleiben. Ed Parish Sanders gilt als der Hauptinitiator der sog. neuen Perspektive der Paulusforschung. Anzeichen für sie gab es indes schon früher, etwa in Gestalt jener vielbeachteten Vorträge, die der damalige Harvarder Neutestamentler und nachmalige lutherische Bischof von Stockholm Krister Stendahl Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hielt. Stendahl vertrat darin die These, die Lehre einer Rechtfertigung aus Glauben sei kein zentraler Topos paulinischer Soteriologie, sondern eine ausschließlich zum Zwecke der Heidenmission ausgebildete Theorie, die für

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das Judentum keine gravierende Bedeutung habe. Von einer prinzipiellen Auseinandersetzung des Apostels mit einem religiösen Grundsatz, demzufolge Gerechtigkeit vor Gott durch Werke des Gesetzes zu erlangen sei, könne nicht die Rede sein. Die paulinische Doktrin einer Rechtfertigung nicht aus Gesetzeswerken, sondern aus Glauben besage nichts anderes, als dass durch Christus auch für die Heiden ein heilsames Verhältnis zu Gott erschlossen sei und sich das göttliche Heil nicht auf das erwählte Thoravolk beschränken lasse. Als gerechtfertigt vor Gott hätten die Heiden nach Paulus zu gelten, weil sie durch ihren Christusglauben in das Israel zugesagte Heil einbezogen würden. Zusammenfassend dargelegt hat Stendahl diese Sicht in dem Aufsatz „Paul among Jews and Gentiles“ (Stendahl, 1–77). Dass und warum nach seinem Urteil die Reformatoren Paulus gründlich missverstanden und durch inadäquate Hervorhebung der Rechtfertigungslehre verfälscht haben, hat Stendahl in dem Essay „The Apostle Paul and the Introspective Conscience of West“ (Stendahl, 78–96) zu begründen versucht. Die Frage, die in der paulinischen Rechtfertigungslehre beantwortet werde, sei nicht, ob Gerechtigkeit vor Gott durch Erfüllung des Gesetzes zu erlangen sei. Daran habe Paulus im Gegensatz zu Augustin oder Luther niemals gezweifelt. Funktion der Lehre von der Rechtfertigung durch Glauben sei ausschließlich die Legitimation der Heidenmission durch die von Paulus vertretene Überzeugung, dass Heil und Gerechtigkeit vor Gott nicht allein durch Gesetzesgehorsam, sondern ebenso durch Glauben an Christus zu erlangen sei. Definitiv aufgegangen sei Paulus diese Einsicht aus Anlass seines Damaskuserlebnisses. Dieses Erlebnis habe nicht etwa die Abwendung vom Judentum bzw. den Übergang von einer zu einer anderen religiösen Denkungsart bewirkt. Paulus sei vielmehr der jüdischen Religion im Grundsatz treu geblieben und habe sich als Jude zum Apostel der Heiden berufen gewusst. Seine Rechtfertigungslehre stelle den Grundsatz einer möglichen Gerechtigkeit vor Gott durch die Werke des Gesetzes keineswegs prinzipiell infrage, sondern erweitere und ergänze ihn durch die Annahme einer Gerechtigkeit vor Gott durch Glauben an Christus, um die jüdische Religion auf diese Weise über Grenzen hinauszuführen, die ihr nicht wesentlich sind, und sie zu öffnen für die ihrem Wesen gemäße Universalität. Auch wenn sich programmatische Motive schon bei Ed Parish Sanders Stendahl u. a. finden, ist „The New Perspective on Paul“ doch erst von Sanders auf breiter Basis erschlossen sowie historisch und systematisch ausgearbeitet worden. Insofern hat Dunns Urteil seine Richtigkeit, dass dieser als die eigentlich prägende Gestalt der neuen Forschungsperspektive zu gelten habe. In komprimierter Form liegt Sanders Paulusdeutung in der biographischen und werkgeschichtlichen Einführung vor, deren englische Originalausgabe 1991 erschienen ist und die seit 1995 auch auf Deutsch vorliegt. Danach vertritt Paulus, wie schon erwähnt, eine partizipatorische Soteriologie, deren Zentralgedanke derjenige des Seins in Christus und nicht einer juridischen Rechtfertigung sei. Die Gerechtigkeit aus dem Glauben ergebe sich aus der Gemeinschaft mit Christus und der Teilhabe an der österlichen Wirklichkeit des auferstandenen Gekreuzigten, dessen endzeitliche Wiederkunft alsbald erwartet

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werde. Der auf das Individuum konzentrierte, zur Introspektion anleitende Gesichtspunkt, unter dem Luther die paulinische Soteriologie gelesen habe, sei dieser ursprünglich ganz fremd. Paulinische Leitfrage ist es nach Sanders nicht, wie der einzelne Sünder Gerechtigkeit und Gnade vor Gott erlangen könne, sondern wie die eschatologische Aufnahme der Heiden ins Volk Gottes denkbar sei. Bedarf es zur Teilhabe am erwählten Volk Gottes der Vermittlung des mosaischen Gesetzes, oder ist hierzu die gläubige Christuspartizipation ebenso notwendig wie hinreichend? Nach Paulus dürfen die von ihm zum Christentum bekehrten heidnischen Konvertiten dann nicht beschnitten werden, wenn die Beschneidung zur Bedingung möglicher Zugehörigkeit zum Gottesvolk erklärt wird. Voraussetzung solcher Zugehörigkeit sei allein die Gemeinschaft mit Christus. Wer Christ sein will, muss daher nicht vorher Jude werden: „Selbst die, die bereits gute Juden sind, stehen erst durch ihren Glauben an Christus in der richtigen Beziehung zu Gott.“ (Sanders, Paulus, 84) Ist der Glaube an Christus die einzige Bedingung für die Zugehörigkeit zur Gruppe der Geretteten, dann folgt daraus nach Sanders mit Notwendigkeit, dass die Annahme des mosaischen Gesetzes hierzu nicht erforderlich ist. Auf diesen Sachverhalt sei die ganze paulinische Gesetzeskritik abgestellt, so plural und uneinheitlich sie sich im Einzelnen darstelle. Nicht, dass Paulus das Gesetz als solches verworfen habe; er verwarf nach Sanders vielmehr nur diejenigen seiner Aspekte, die der Mission unter den nichtjüdischen Völkern und der Idee einer christlichen Kirche aus Juden und Heiden entgegenstanden. Die Leitfrage lautet auch hier: „Wer gehört zum Gottesvolk?“ „Alle, die in Christusgemeinschaft stehen“, antworte Paulus. Erst von dieser Antwort her wird nach Sanders die Gesetzesfrage zum Problem, wobei das Gesetz nicht unter dem Gesichtspunkt der Werkgerechtigkeit, sondern ausschließlich unter dem Gesichtspunkt kritisiert werde, dass es ein durch Christus abgelöstes und damit der Vergangenheit angehöriges Mittel zum Heil sei. War nach Sanders schon im Alten Bund die göttliche Erwählung der Thora vorgeordnet, so erfolge der Eintritt ins Heil unter den Bedingungen des Neuen Bundes allein mittels jener Gnade, die in Jesus Christus erschienen sei. Durch diesen und nicht mehr durch die mosaische Thora gebe Gott Anteil an seinem Bund. Was aber Israels Schuld angehe, so bestehe sie nach Paulus keineswegs in einer angeblichen Werk- und Selbstgerechtigkeit der jüdischen Frommen. An einer Analyse der Wirkung des mosaischen Gesetzes auf das Innenleben der einzelnen Juden zeige sich Paulus nirgends interessiert. Das ihn bewegende Problem bestehe vielmehr darin, dass das Volk Israel „als Ganzes noch immer am ersten Bund festhielt, ohne zu erkennen, daß Gott inzwischen einen anderen angeboten hatte“ (Sanders, Paulus, 159). Vorausgesetzt wird in der Sicht Sanders, dass es im zeitgenössischen Judentum eine alle relevante Gruppen umfassende religiöse Grundstruktur gab („Common Judaism“), die als Bundesnomismus („Covenantal Nomism“) umschrieben wird. Konstituiert wird das Bundesvolk durch Erwählung; der Verbleib in ihm ist an die Erfüllung der Forderungen der Thora gebunden. Was Paulus am bundesnomisti-

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schen Judentum kritisiert, ist nach Sanders allein, Jesus nicht als Christus erkannt zu haben und zu erkennen. Nicht seine vermeintliche Werkgerechtigkeit, die es in ihm nicht gab, sei am Judentum dem Urteil des Apostels zufolge verfehlt; der Grund jüdischer Verfehlung sei ausschließlich in der Verweigerung des neuen, in Christus geschlossenen Gottesbundes zu suchen. Wissenschaftlich fundiert und im Einzelnen begründet hat Sanders diese Sicht vor allem in den beiden vielbeachteten Werken über „Paul and Palestinian Judaism“ (1977) und „Paul, the Law and the Jewish People“ (1983). Konstruktiv und in modifizierter Form fortgebildet James D. G. Dunn sind die Grundthesen der „New Perspective on Paul“ bei James D. G. Dunn. Wie Stendhal und Sanders bestreitet auch er, dass die Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben eine Grundsatzdifferenz zur Annahme einer Gerechtigkeit vor Gott durch Thoragehorsam und Gesetzeserfüllung markiert. Das von Paulus vertretene Christentum stelle entsprechend keinen Bruch mit dem zeitgenössischen Judentum dar, sondern stehe in Kritik und Konstruktion in einem durchaus kontinuierlichen Zusammenhang mit ihm. Die paulinische Kritik einer Gerechtigkeit vor Gott durch „Werke des Gesetzes“ bestreite nicht etwa die Möglichkeit einer Rechtfertigung durch gehorsame Erfüllung der Gebote der Thora, sondern diene ausschließlich dem kon­k reten Interesse, das Judentum zu entgrenzen und durch den Christusglauben für Heiden zu öffnen. Um seine Zentralthese zu plausibilisieren, sieht sich Dunn veranlasst, die Funktion des jüdischen Gesetzes in doppelter Weise zu spezifizieren: nach innen hin fungierten die gesetzlichen Bestimmungen als „identity markers“, welche die Zugehörigkeit zum erwählten Volk und dessen Verbleib in Gottes Erwählung zu gewährleisten hatten; nach außen hin grenzten sie das Bundesvolk gegen die pagane Umwelt ab und dienten so als „boundary markers“. Am Beispiel der Beschneidungsforderung, des Sabbatgebots und unterschiedlicher Reinheits- und Speisegebote wird dies illustriert. Durch Bestreitung ihrer Verbindlichkeit habe Paulus die Barriere zwischen Juden und Nichtjuden zu beseitigen und seine Heidenmission zu begründen und zu legitimieren versucht, ohne deshalb seiner jüdischen Herkunfts­ religion prinzipiellen Abschied zu geben, deren universale Bedeutung er im Gegenteil gegen die Beschränktheiten ihrer empirischen Verfassung im Namen Jesu Christi und des Glaubens an ihn zur Geltung zu bringen versuchte. Die durch den Christusglauben zu vollziehende bzw. vollzogene Aufhebung der Grenze zwischen Juden und Heiden entspricht nach Dunn paulinischem Urteil zufolge nicht nur dem Heilsplan Gottes, sondern werde auch der speziellen Stellung des Volkes Israel in ihm gerecht, sofern diese darin gründe, die Erwählungsgabe der Thora nicht für sich zu behalten, um sich einen privilegierten Status bei Gott zu sichern, sondern diese Gabe in der universalen Form, die der Gerechtigkeit Gottes entspreche, den Völkern zu überliefern. Vorzüge und Grenzen der Paulusdeutung von Dunn und der von ihm repräsentierten ForschungsrichA Newer Perspective tung wurden bereits ausführlich thematisiert (vgl.

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Bd. 6, 211 ff.; ferner: Wenz, Old Perspectives). Darauf ist hier nicht erneut einzugehen und das umso weniger, als es seit geraumer Zeit Anzeichen für einen Trend gibt, „The New Perspective“ in „A Newer Perspective on Paul“ (S. E. Porter) zu transformieren, um sie in einer „Post-‚New Perspective‘“ (B. Byrne) konsequenter und radikaler weiterzuführen. Die Gründe für diese Entwicklung, hat mein emeritierter Münchener Fakultätskollege Alexander J. M. Wedderburn im Einzelnen dargestellt. Unter Bezug namentlich auf Sanders, aber auch auf J. D. G. Dunn u. a. wird nachgewiesen, dass und warum die „Neue Perspektive“ besonders „hinsichtlich der paulinischen Haltung gegenüber dem Gesetz“ (Wedderburn, 52) viele Fragen offengelassen und dadurch eine konsequentere und radikalere, eben eine neuere Perspektive förmlich herausgefordert habe. Ihren Ansatz illustriert Wedderburn am Beispiel John F. Gagers und anderen Vertretern der Richtung, für welche insgesamt die These entscheidend sei, „dass sich Paulus’ Kritik an dem jüdischen Gesetz nicht auf dieses Gesetz, sofern es Israel betrifft, beziehe, sondern nur auf seine Relevanz für das Leben von Heidenchristen. Paulus’ Beurteilung des Gesetzes in seiner Anwendbarkeit auf Juden und Judenchristen sei seit der vorchristlichen Zeit des Apostels unverändert geblieben. Gottes Verhältnis zu Juden und Nichtjuden sei also grundsätzlich ein doppeltes: Es gelte die eine Grundlage für die Juden und eine andere für Nichtjuden.“ (Wedderburn, 48) Für Nichtjuden habe Jesus Christus als einziger Weg zum Vater zu gelten, wohingegen für Juden die Thora als Heilsweg in Geltung bleibe. Die sog. Zwei-Bünde-Theorie der neueren Paulusperspektive läuft auf die Behauptung hinaus, „dass es für Paulus zwei Heilswege gebe, zwei Bünde, durch die Thora für Juden und durch Glauben an Christus für die Heidenvölker“ (Wedderburn, 54). Für die paulinische Verhältnisbestimmung von Judenchristen und Heidenchristen folge daraus, dass erstere zum Glauben an Christus bei fortdauerndem Gesetzesgehorsam, letztere zum Christusglauben ohne das Gesetz bestimmt seien. Der Apostel hätte sonach für Juden- und Heidenchristen die Existenz zweier separater Heilswege anerkannt, die allenfalls eschatologisch konvergierten. Man wird der neueren Paulusperspektive gegenüber der neuen den Vorzug größerer Übersichtlichkeit infolge gesteigerter Komplexitätsreduktion nicht bestreiten können. Ob sie einen Forschungsfortschritt darstellt, wird man mit Wedderburn, der eine ganze Reihe von treffenden Einwänden benannt hat (vgl. Wedderburn, 56 ff.), dennoch bezweifeln dürfen. Der Titel, den John G. Gagern für eines seiner Werke gewählt hat, bringt die Sache auf den Punkt: „Reinventing Paul“. Die These, wonach es zwei Heilswege gebe, die Thora für die Juden und den Christusglauben für die Zwei Heilswege? Heidenvölker, entspricht der Theologie des Apostels nicht nur nicht, sondern widerspricht ihr. Bedarf es eines Beweises, so lässt er sich am besten anhand des paulinischen Begriffes der Gottesgerechtigkeit führen. Die Gerechtigkeit Gottes gebietet gemäß der Thora, in deren Weisung sie manifest ist, dass der Mensch dem göttlichen Willen und seiner kreatürlichen Bestimmung entspreche. Die Weise, in der das zu geschehen hat, ist das willige Tun der Werke des

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Gesetzes. Tut der Mensch, was ihm durch Gottes Gesetz geboten ist, wird er gerecht vor Gott. Andernfalls verfällt er dem gesetzlichen Urteil und Gericht Gottes. Für Paulus gilt es als entschieden, dass der Mensch durch die Werke des Gesetzes nicht zu jener Gerechtigkeit zu gelangen vermag, die vor Gott rechtfertigt. Unter dem Gesetz steht der Gerechtigkeit Gottes nur die Ungerechtigkeit des Menschen gegenüber, der die gesetzlichen Forderungen weder tatsächlich erfüllt noch in seiner faktischen Verfassung je zu erfüllen vermag. Bleibt der Mensch sich selbst und der gesetzlichen Forderung überlassen, von sich aus und durch selbsttätiges Tun der Werke des Gesetzes gerecht zu werden vor Gott, so verkehrt er sich ebenso zwangsläufig wie schuldhaft in sich und gerät mit Leib und Seele in den geistlosen und geistwidrigen Bann dessen, was Paulus sarx nennt. Die geforderten Werke des Gesetzes missraten unter diesen Bedingungen unter der Hand zu sarkischen Werken. Ja, Paulus geht so weit zu sagen, dass die Werke des Gesetzes in Wirklichkeit das gerade Gegenteil dessen bewirken, was Gott in Wahrheit will. Das Gesetz bringt nicht nur die schiere Unmöglichkeit seiner Erfüllung faktisch zur Geltung, um auf diese Weise das Bewusstsein abgründiger Sündenverfallenheit und heilloser Schuld des Menschen zu vermitteln; es befördert, indem es das Tun gesetzlicher Werke fordert, nach Paulus auf förmliche Weise sarkisches Unwesen und bewirkt so faktisch das Gegenteil der Gerechtigkeit, auf die es seiner Bestimmung nach ausgerichtet ist. Nicht dass damit das Gesetz zur Ursache des Bösen erklärt würde; diese Ursache ist allein die Verkehrtheit der sarx. Aber unter den sarkischen Bedingungen, die das Gesetz manifest werden lässt, wird durch dieses nicht Heil des Menschen vor Gott, sondern im Gegenteil Unheil bewirkt, das in die Verhältnislosigkeit des Todes, ja in den Abgrund der Hölle führt. Von Tod und Hölle zu erretten vermögen nicht die Werke des Gesetzes, sondern nur der Glaube, der Gesetz und Evangelium sich auf das Evangelium verlässt, dessen personaler Grund und Inbegriff Jesus Christus als der auferstandene Gekreuzigte ist. Durch ihn und um seinetwillen ist der Glaubende versöhnt mit Gott und gerechtfertigt vor ihm. Die paulinische Rechtfertigungslehre gründet in der theologia crucis, dergemäß der Kreuzestod Jesu zugleich als Folge des gesetzlichen Sündenfluchs und als Befreiung aus dem verurteilenden Gericht Gottes verstanden wird. Das Kreuz Jesu Christi gibt sich durch Ostern als differenzierte Einheit von Gerechtigkeit und Gnade zu erkennen, als Gerechtigkeit, weil sich am Gekreuzigten die Strafe der Sünde auswirkt, als Gnade, weil nicht die Schuldigen selbst bestraft werden, sondern der Sündlose stellvertretend ihre Strafe erduldet. Im auferstandenen Gekreuzigten ist auf diese Weise die Aufhebung des Gegensatzes göttlicher Gerechtigkeit und Liebe offenbar, und Gott erweist sich in Jesus Christus als versöhnt mit den Menschen. Jesu Christi Leiden, Sterben und Auferstehen geschieht nach Paulus für uns und nach Weise einer Stellvertretung, die in ihrer Art unvergleichlich ist, weil sie Exklusivität und Inklusivität zugleich in sich befasst. Der für uns Gekreuzigte und Auferstandene versetzt sich dergestalt an unsere Stelle, dass wir in die Seine versetzt

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werden und jener selige Wechsel und Tausch statthat, in dem sich die Versöhnung Gottes mit dem Menschen realiter vollzieht. Es ergibt sich, dass im Tode Jesu die menschliche sarx tatsächlich vernichtet und so der Sünde die Wurzel ihrer Existenz abgeschnitten und die Basis ihres Daseins genommen wird. Es ist die eigentümliche Mission des Apostels, dies vor Juden und Heiden gleichermaßen und so zu bezeugen, dass beider Gegensatz behoben und sie eins werden im Glauben an das Evangelium von der göttlichen Rechtfertigung der Sünder in Jesus Christus. Die Rechtfertigungsthematik, die ihr zugrundeliegende theologia crucis und die Frage nach dem Gesetz als Weg zum Heil sind nicht Nebenkrater, die sich situativ aufgrund spezifischer Gemeindekonflikte ausbildeten, und ebenso wenig theoretische Marginalien paulinischer Heidenmissionspraxis, wie neuerdings gerne behauptet wird, sondern Herzstücke paulinischen Denkens, die im Damaskusgeschehen ihren ursprünglichen Sitz im Leben haben. Bedarf es dafür eines Beweises, so ist er mit dem Römerbrief gegeben, der nicht wie etwa der Galaterbrief gegen „judaistische“ Missionare streitet, die zur Übernahme der Beschneidung und sonstiger Gesetzesvorschriften nötigen wollten, sondern den Grund christlichen Glaubens und die mit ihm verbundene soteriologische Antithese prinzipiell und von innen heraus entwickelt. Paulus hat das Verhältnis des in der Thora manifesten fordernden Gotteswillens zum Evangelium von Jesus Christus einer Bestimmung zugeführt, ohne die das Christentum weder denkbar noch zu dem geworden wäre, was es ist. Darin besteht seine überragende theologische Leistung. In der Vorrede seiner „Geschichte der Paulinischen Forschung von der Reformation bis auf die Albert Schweitzers Gegenwart“ von 1911, die er als Fortsetzung seiner Geschichte der fünf Jahre zuvor erschienen Geschichte der Leben- Paulusforschung Jesu-Forschung konzipierte, hat es Albert Schweitzer zur „große(n) und noch immer ungelöste(n) Aufgabe der Geschichtswissenschaft vom ältesten Christentum“ erklärt, „die Entwicklung der Lehre Jesu zum altgriechischen Dogma, wie es in den Werken des Ignatius, Justin, Tertullian und Irenäus zu Tage tritt, verständlich zu machen“ (Schweitzer, Geschichte V). Eine Lösung dieser Aufgabe lasse sich nur erreichen, wenn der Ort des Paulinismus und des johanneischen Kreises in der Entwicklungsgeschichte des ältesten Christentums angemessen bestimmt werde. Dies aber sei bisher nicht hinreichend gelungen. Zwar habe die an Hegel orientierte Geschichtskonstruktion Ferdinand Christian Baurs aus historischen Gründen ein Ende gefunden. Aber der Zerfall der Baur’schen Konstruktion habe zugleich zur Folge gehabt, dass sein „großer allgemeiner Begriff der Dogmengeschichte“ (Schweitzer, VII) zugunsten einer Beschäftigung mit dem historischen Detail verloren gegangen sei. Niemand mehr habe seither die frühchristliche Dogmengeschichte „als Wissenschaft von der Entwicklung der Lehre Jesu zu der der altgriechischen Kirche aufzufassen und zu betreiben“ (Schweitzer, VI) gewagt. Wie auf die Lehre Jesu kaum zwei oder drei Jahrzehnte nach seinem Tod das „System des Heidenapostels“ (Schweitzer, VII) und aus diesem das altgriechische

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Dogma bzw. dessen theologische Vorbereiter hervorzugehen vermochten, ist nach Urteil Schweitzers eine nach wie vor unbeantwortete Frage. „Die heutige Wissenschaft ist weit davon entfernt erklärt zu haben, wie aus der Lehre Jesu der Paulinismus und das griechische Dogma entstanden sind.“ (Ebd.) Schweitzers eigener Lösungsversuch des Grundproblems der Geschichtswissenschaft vom ältesten Christentum nimmt seinen Ausgang bei der Beobachtung, dass Jesus und Paulus gleichermaßen Eschatologen apokalyptischer Provenienz gewesen seien. Wie Jesu Botschaft von der kommenden Gottesherrschaft, so lasse sich auch die endzeitliche Christusverkündigung des Heidenapostels ausschließlich aus jüdischen, nicht aus griechisch-hellenistischen Traditionszusammenhängen heraus begreifen. Zur Bewältigung des Problems des zeitlichen Auseinanderfallens von Auferstehung und Wiederkunft Christi, die doch sachlich zusammengehörten, habe sich für Paulus angeboten, was Schweitzer die eschatologische Mystik des Apostels nennt. Dabei verbindet er mit dem uneindeutigen, bedeutungsschillernden Wort „Mystik“ einen eigenen Sinn, dessen spezifischen Gehalt er in paulinischen Formeln wie „Sein in Christo“ oder „Gestorben- und Auferstandensein mit ihm“ umschrieben sieht. Durch mystische Christusgemeinschaft und Teilhabe am auferstandenen Gekreuzigten partizipiert der Glaubende schon jetzt an der eschatologischen Wirklichkeit seines Herrn. Im Glauben ist er bereits der Herrlichkeit des auferstandenen Gekreuzigten inne, auch wenn dessen äußerlich erkennbare Wiederkehr als Herrscher über alle Dinge noch aussteht. Durch sein Sein in Christus wird dem Glaubenden seine Gotteskindschaft zur unumstößlichen Gewissheit. Mit dem göttlichen Menschensohn eins kann er sich als Kind des himmlischen Vaters wissen, das er im Reiche Gottes in manifester Weise sein wird. Der Zusammenhang der Mystik des Apostels mit seiner eschatologischen Weltanschauung begründet nach Schweitzer eine Kontinuität, die auch noch die Annahme einer proleptischen Teilhabe an der eschatologischen Auferstehungswirklichkeit Jesu Christi als unter jüdisch-apokalyptischen Bedingungen möglich und denkbar erscheinen lässt. Zugleich habe die paulinische Christusmystik die Theologie des Apostels anschlussfähig gemacht für eine hellenismusspezifische Denkungsart, für welche eschatologische Endzeiterwartungen kaum und, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spielten. Die Stunde der hellenistischen Paulusrezeption Die Mystik des Apostels war nach Schweitzer gekommen, als der Tag des Herrn ausblieb und die Parusie Jesu Christi nicht in der Kürze der Zeit eintraf, in der sie erwartet wurde. Die Parusieverzögerung sei so gesehen der eigentliche Grund der Hellenisierung des Christentums im Allgemeinen und des Paulinismus im Besonderen. Zur endgültigen Durchführung gebracht ist dieser Prozess nach Schweitzer erst in der kleinasiatischen Theologie des beginnenden zweiten Jahrhunderts n. Chr., für welche neben Ignatius von Antiochien die johanneische Schule beispielgebend sei: Durch das Zurücktreten der eschatologischen Erwartung entstand die Notwendigkeit, den Glauben in hellenistischen Vorstellungen neu zu begreifen, wozu die paulinische Mystik des Seins in

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Christus die Mittel bot, weil sie auch ohne apokalyptische Fassung Bestand zu haben fähig war; man enteschatologisierte sie, um sie auf diese Weise zu hellenisieren. Exemplarisch vollzogen wurde dieser Prozess nach Schweitzer im johanneischen Kreis und in den Ignatianen. An die Stelle der Erwartung unmittelbar bevorstehender Parusie tritt der Glaube, der die Gewissheit der künftigen Auferstehung und Weltvollendung auf die aktuelle Christuspräsenz gründet, wie sie durch Wort und Sakrament vermittelt und im Inneren der Person in der Kraft des göttlichen Geistes erfahrbar wird. Wer am Geist Christi gläubigen Anteil gewinnt, kann seiner eschatologischen Vollendung gewiss sein. Die Christusmystik des Paulus ist nach Schweitzer nicht hellenistisch, sondern jüdisch-apokalyptisch, aber sie ist hellenisierbar. Ihre faktische Hellenisierung sei im Johannesevangelium und in der johanneischen Tradition vollzogen. Der Entwicklungsprozess hin zum altkirchlichen Dogma konnte daran anschließen. Dieses verdankt sich nach Schweitzer nicht Fremdeinflüssen antiker Metaphysik, sondern jener hellenistischen Rezeption paulinischer Christusmystik, die in Folge des Ausbleibens der Parusie deren von Paulus zwar nicht intendierte, aber unter der Hand gleichwohl ermöglichte Enteschatologisierung bewirkte. Mit der von ihm vorgenommenen Verhältnisbestimmung von Paulinismus und Johanneismus ist nach Schweitzer die zentrale Aufgabe frühchristlicher Geschichtswissenschaft gelöst und die Entwicklung von Jesus zum Dogma der Alten Kirche in ihren wichtigsten Momenten verständlich gemacht. Am Anfang steht auch für ihn Ostern: Erst infolge der österlichen Einsicht in die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu, deren durchgebildete Reflexionsgestalt in der paulinischen Theologie vorliegt, gewinne die Person Jesu Christi jene hohe und unvergleichliche Bedeutung, die sie für das christliche Bewusstsein habe. Sei für Jesus seine Person kaum je oder nie unmittelbarer Gegenstand seiner Verkündigung gewesen, so hänge nun alles an ihr, und der auferstandene Gekreuzigte werde zum Grund und Inbegriff christlicher Religion und Theologie: Bei Paulus als derjenige, welcher alsbald wiederkommen wird und proleptisch jetzt schon eschatologische Gemeinschaft gewährt, bei Johannes als der inkarnierte Logos, der die enttäuschte Parusieerwartung durch eine enteschatologisierte mystische Präsenz zu kompensieren hilft, die er im Geiste durch Wort und Sakrament gewährt. Schweitzers Verständnis der Theologie des Apostels Paulus als eines Mittel- und Verbindungsgliedes Gläubiges Sein in zwischen Jesus und Johannes nimmt in vieler Hin- Christus, dem gottsicht vorweg, was die Vertreter der „New Perspective menschlichen Versöhner on Paul“ neu entdeckt zu haben meinten. Die Bedenken, die sich gegen beide Positionen richten, sind daher vergleichbar. Dass der Gedanke des Seins in Christus für Paulus zentral ist, trifft ohne Zweifel zu. Da­ raus ergibt sich aber nicht, wie Repräsentanten der „New Perspective on Paul“ mit Schweitzer folgern, dass die paulinische Versöhnungs- und Rechtfertigungslehre ein Randbereich seiner Theologie sei; das Gegenteil trifft zu, weil der Gedanke des Seins in Christus und der Versöhnungs- und Rechtfertigungsgedanke untrennbar

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zusammengehören. Man hat neuerdings von einer relationalen Ontologie bei Paulus gesprochen und die ontische Wirksamkeit der Christusbezogenheit im Denken des Heidenapostels herausgestellt (vgl. Rehfeld). In der Tat ist der Christ, was er ist, in Christus: „Christ-Innigkeit“ (vgl. Rehfeld, 222 ff.) bestimmt sein Wesen, durch welches er zugleich mit anderen Christenmenschen zur Christen- als einer Christusgemeinschaft zusammengeschlossen ist. Doch wäre es eine Verharmlosung der innigen Gemeinschaft, in welcher sich der Glaube tatsächlich mit Christus befindet, wenn dabei nicht des kontradiktorischen Widerspruchs gedacht würde, in dem der Sünder durch seine Sünde zur göttlichen Gerechtigkeit steht. Die am Kreuz vollzogene Behebung dieses Widerspruchs ist Voraussetzung gläubiger Christusgemeinschaft und gottmenschlicher Versöhnung. Was man die Mystik des Apostels oder seine relationale Ontologie nennen mag, lässt sich von der paulinischen theologia crucis und der Versöhnungs- und Rechtfertigungslehre nicht ablösen, die ihr korrespondiert. Der Gedanke des Seins in Christus und derjenige der Versöhnung und Rechtfertigung gehören bei Paulus untrennbar zusammen. Wohl erfüllt sich die paulinische Verkündigung wie diejenige des gesamten Neuen Testaments in der Zusage des Evangeliums von der unbedingten Gnadenliebe Gottes. „Der Gott Jesu erweist die Macht seiner Liebe in seinem ‚Sohn‘, der ‚das Böse mit dem Guten besiegte‘ (Röm 12,21), segnete, als man ihm fluchte (vgl. Lk 6,28; 23,34), an sich hielt, als man ihn schlug (Mt 5,39; 26,67 f.); aber er bleibt auch der Gott, der in seiner absoluten Souveränität sein Recht auf dieser Erde durchsetzen wird. Auf die Polarität dieser beiden Seiten, Ohnmacht und Gerechtigkeit Gottes, kommt es an …“ (Theobald, 313). Schuld muss gesühnt werden, weil ohne Sühne, die Unrecht mit Strafe vergilt, von Gerechtigkeit nicht die Rede sein kann. „Das Christentum hat die Wahrheit dieses Gedankens zugleich bestätigt und zum Ende gebracht durch die Lehre vom Sühnetod Christi für die Sünden aller Menschen.“ (Spaemann, 251) Diese Lehre wird durch die paulinische Theologie nicht falsifiziert, sondern grundsätzlich verifiziert, wie immer man über terminologische Einzelprobleme urteilen mag. Nach Gen 15,6 „würdigt Gott Abrahams rückhaltloses Vertrauen in ihn und seine Macht, das Verheißene gegen allen Augenschein auch zu erfüllen“ (Köckert, 444); nach Röm 4 wird derjenige Glaube als Gerechtigkeit angerechnet, der auf den auferstandenen Gekreuzigten und die im Namen Jesu Christi beschlossene gottmenschliche Versöhnung vertraut, kraft derer der sündige Mensch gerechtfertigt wird vor Gott. Das Kreuz Jesu ist ein geschichtliches Ereignis von österlich offenbarer Ewigkeitsdimension (vgl. Maurer), nämlich das Wirkzeichen heilsamer Einheit göttlicher Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als der Grundlage all dessen, was man unio mystica oder relationale Ontologie bei Paulus nennen kann. Der von Goethe geschätzte Theologe und LeipziGellerts Summary ger Professor für Poesie und Beredsamkeit Christian Fürchtegott Gellert war ein erklärter Gegner artifiziellen Wusts und plädierte nachdrücklich für einen klaren und sachbestimmten Ausdruck ohne Umschweife (vgl. Mohr). Sein Passionslied „Herr, stärke mich,

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dein Leiden zu bedenken“ entspricht diesen selbst gestellten Anforderungen und fasst in der vierten Strophe kurz und bündig zusammen, was als Zentralgehalt nicht erst der reformatorischen, sondern schon der paulinischen Kreuzestheologie gelten darf: „Gott ist gerecht, ein Rächer alles Bösen; / Gott ist die Lieb und lässt die Welt erlösen. / Dies kann mein Geist mit Schrecken und Entzücken / am Kreuz erblicken.“ (EG 91,4)

3. Wort vom Kreuz und inkarnierter Logos. Von der paulinischen zur johanneischen Soteriologie Lit.: C. Breytenbach, Versöhnung. Eine Studie zur paulinischen Soteriologie, Neukirchen 1989.  – R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 9.  Aufl., durchgesehen u. erg. v. O. Merk, Tübingen 1984. – Ders., Das Evangelium des Johannes, Göttingen 1953. – Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden. Bd.  VI: Sp-Z, Mannheim / Wien / Zürich 1981. – J. Frey, Die johanneische Eschatologie. I. Ihre Probleme im Spiegel der Forschung seit Reimarus. II. Das johanneische Zeitverständnis. III. Die eschatologische Verkündigung in den johanneischen Texten, Tübingen 1997/1998/2000. – Ders./B. Schließer (Hg.), Die Theologie des Paulus in der Diskussion. Reflexionen im Anschluss an Michael Wolters Grundriss, Neukirchen 2013. – G. Friedrich, Die Verkündigung des Todes Jesu im Neuen Testament, Neukirchen 21985. – K. Hammann, Der Glaube als freie Tat des Gehorsams. Herkunft, Bedeutung und Problematik einer Denkfigur Rudolf Bultmanns, in: ZThK 109 (2012), 206– 234. – N. Hoffmann, Sühne. Zur Theologie der Stellvertretung, Einsiedeln 1981. – Ders., Kreuz und Trinität. Zur Theologie der Sühne, Einsiedeln 1982. – W. Klaiber, Gottes Gerechtigkeit und Gottes Herrschaft. Ernst Käsemann als Ausleger des Neuen Testaments, in: J. Adam u. a. (Hg.), Dienst in Freiheit. Ernst Käsemann zum 100. Geburtstag, Neukirchen 2008, 59–82.  – M. Konradt, Luthers reformatorische Entdeckung – Eine Relektüre aus exegetischer Sicht, in: M. Heimbucher, Reformation erinnern. Eine theologische Vertiefung im Horizont der Ökumene, Neukirchen-Vluyn 2013, 13–41. – Chr. Landmesser, Rudolf Bultmann als Paulusinterpret, in: ZThK 110 (2013), 1–21. – J. Roloff, Neues Testament, Neukirchen 1977. – J. Werbick, Soteriologie, Düsseldorf 1990.  – M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neu­ kirchen-Vluyn 2011.

„Versöhnen“ heißt nach Maßgabe des großen Wörterbuchs der deutschen Sprache, „(zwei miteinander im Streit liegende Personen, Parteien) veranlassen, sich zu vertragen, Frieden zu schließen“ bzw. „nicht länger zu grollen, zu hadern“ (­Duden  VI, 2776); die Bedeutung von „sich versöhnen“ wird vom sechsbändigen Duden mit der Wendung umschrieben: „mit jmdm., mit dem man im Streit lag, Frieden schließen, sich vertragen“ (ebd.). Als ältere Version des Wortes „versöhnen“ wird „versühnen“ angegeben (vgl. ebd. sowie 2782), womit eine enge Sinnverwandtschaft der Termini Versöhnung und Sühne nahegelegt wird. Als Sühne hat gemäß Duden zu gelten, „was jmd. auf sich nimmt, jmd. tut, um ein begangenes Unrecht, eine Schuld zu sühnen“ (Duden VI, 2542); „sühnen“ hinwiederum soll bedeuten, entweder „eine Schuld abbüßen, für ein begangenes Unrecht eine Strafe, eine Buße auf sich nehmen“ (ebd.) oder – in seltenen Fällen – „ein begangenes Unrecht bestrafen, um es den Schuldigen sühnen … zu lassen“ (ebd.). Versöhnung und Sühne

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Im Deutsch Martin Luthers hängen „sühnen“ und „versühnen“ bzw. „versöhnen“ so eng zusammen, dass er zwei verschiedene Wörter des Neuen Testaments mit „versünen“ übersetzen konnte: katallassein und hilaskesthai. Katallassein (vgl. Röm 5,10; 1.  Kor 7,11; 2.  Kor 5,18 f.) und katallage (vgl. Röm 5,11; 11,15; 2. Kor 5,18 f.) begegnen in den neutestamentlichen Schriften allein bei Paulus. Ist ihre Bedeutung im paulinischen Gebrauch mit derjenigen von hilaskesthai, ­hilasmos bzw. hilasterion (vgl. Röm 3,25) identisch? Cilliers Breytenbach hat diese Frage in seiner „Versöhnung“ betitelten Studie zur paulinischen Soteriologie durch Klärung der Bedeutung von katallassein und seiner Derivate, durch Auslegung der einschlägigen Versöhnungstexte bei Paulus und durch Erörterungen zur Traditions­geschichte der paulinischen Versöhnungsvorstellung zu klären versucht. Vorangestellt ist ein instruktiver Forschungsbericht, der allerdings weniger klare Ergebnisse als vielmehr exegetische Uneinigkeit dokumentiert. Auf der einen Seite wird der Zusammenhang zwischen Versöhnung und Sühne bei Paulus stark betont, auf der anderen Seite der Bedeutungsunterschied beider pointiert hervorgehoben, ohne dass dabei jeweils ein sinnidentischer Gebrauch der Begriffe vorausgesetzt werden darf. Tendenzielles Einvernehmen besteht in der Annahme, dass es, mit 2. Kor 5,19 zu reden, Gott war, der in Christus die Welt mit sich selbst versöhnt hat (vgl. 2. Kor 5,18.20 f.; Röm 5,10 f.). Gott und Gott allein hat das Versöhnungswerk vollzogen, freilich nicht ohne Christus, sondern durch ihn und namentlich „durch den Tod seines Sohnes“ (Röm 5,10). Von daher stellt sich in modifizierter Form erneut die Grundfrage, ob bzw. inwieweit durch den Bezug auf den Kreuzestod Jesu Christi auch ein Sühnebezug mit dem paulinischen Versöhnungsgedanken verbunden ist. Sind Versöhnung und Sühne vom staurologischen Kontext her geurteilt so aufeinander bezogen, dass von Versöhnung ohne Sühne nicht die Rede sein kann, oder muss zwischen beiden Begriffen und ihren Wortfeldern eindeutig differenziert werden, weil Versöhnung im Sinne von katallage mit Schuldbehebung durch Sühne nicht oder nur bedingt zu tun hat? Folgt man Cilliers Breytenbach, dann muss bestritten werden, dass der Sühnegedanke zumindest hilaskesthai und in seiner kultischen Form ein konstitutives Bestim- katallassein mungsmoment der paulinischen Versöhnungsvorstellung ist. Der antike Versöhnungsbegriff habe von Hause aus mit Kult nichts zu tun, sondern seinen traditionsgeschichtlichen Sitz im individuellen und öffentlichpolitischen Leben, wie im Anschluss an Gerhard Friedrich (vgl. Friedrich, 98 f.) geltend gemacht wird (vgl. Breytenbach, 26, 82 etc.). Mit Ausnahme einiger weniger Fälle im hellenistischen Judentum und in der urchristlichen Literatur würden der Terminus katallassein und seine Ableitungen nirgendwo verwendet, „um auf einen Vorgang im religiösen Zusammenhang zu referieren“ (Breytenbach, 83). Aus diesem Befund zieht Breytenbach für den theologischen Sprachgebrauch folgende Konsequenz: „Trotz der gegenteiligen Annahme zahlreicher Studien zur neutestamentlichen soteriologischen Terminologie sind hilaskesthai und katallassein keine sinnverwandten Wörter. Darum muß man in der neutestamentlichen Exegese vom

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Sprachgebrauch der alttestamentlichen Wissenschaft abweichen und zwischen ‚versöhnen‘ und ‚sühnen‘ unterscheiden, wenn man mit diesen beiden deutschen Wörtern auf die griechischen Bezug nehmen will.“ (Breytenbach, 99) Unbeschadet seiner betonten Unterscheidung von Versöhnung und Sühne im paulinischen Sprachgebrauch und unbeschadet seiner dezidierten Abwehr des Versuches, Sühne zur Bedingung möglicher Versöhnung zu erklären, erklärt Breytenbach das Verständnis des Todes Christi als Sühne zu einem Interpretament der paulinischen Versöhnungsvorstellung und zwar in der Überschrift eines eigenen Paragraphen seiner Studie (vgl. Breytenbach, 193 ff.). Obwohl zwischen Sühne und Versöhnung terminologisch und traditionsgeschichtlich keine Einheit in Anschlag zu bringen sei, habe Paulus sie staurologisch dennoch in einer Weise verbunden, dass die Rede von einer durch den Sühnetod Jesu Christi erwirkten Versöhnung unter paulinischen Textbedingungen ihre Richtigkeit habe. Das Problem reduziert sich infolgedessen auf die Frage, „wie man diese Sühnevorstellung zu verstehen hat“ (Breytenbach, 194). Ist sie von den jüdisch-alttestamentlichen Kulttraditionen her zu interpretieren oder muss es als unstatthaft gelten, „bei Paulus vom Tod Jesu als Opfertod zu reden“ (Breytenbach, 195)? Nach Breytenbach ist evident, „daß weder Paulus noch die Tradition den Tod Christi als kultisches Opfer verstanden haben“ (ebd.): „Im hellenistischen Judenchristentum wird der Tod Jesu unter Zuhilfenahme von Jes 52,13–53,12 LXX als der Tod eines Gerechten, der stellvertretend Sühne bewirkt, verstanden, ohne daß der Gedanke eines kultischen Opfers dabei eine Rolle spielte.“ (Breytenbach, 215) Was hinwiederum Paulus betreffe, so stelle er einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Versöhnungsvorstellung und dem Stellvertretungstod Jesu Christi her, der „vorpaulinisch nicht nachzuweisen“ (Breytenbach, 221) sei, wobei er Jesu stellvertretendes Leiden und Sterben als Sühne interpretiere, ohne dass dabei opferkultische Vorstellungen den Rahmen bildeten. Im Zusammenhang der paulinischen Versöhnungsvorstellung und ihrem Ermöglichungsgrund, dem stellvertretenden Sühnetod Christi für uns, spiele der Gedanke eines kultischen Opfers keinerlei Rolle (vgl. Breytenbach, 215), was aber nach Breytenbachs Urteil nichts daran ändert, dass der Stellvertretungstod Jesu nach paulinischem Verständnis sühnend und als Sühnetod die Bedingung möglicher Versöhnung zu nennen sei. Breytenbach schließt seine Studie mit einigen BeBreytenbach und Wolter merkungen zum Verhältnis von Versöhnung und Rechtfertigung bei Paulus (vgl. Breytenbach, 220 ff.) und mit dem Hinweis ab, dass der durch den Sühnetod Jesu Christi ermöglichten Versöhnung Gottes mit dem Sünder dessen Rechtfertigung entspreche. „Die Rechtfertigung und die Versöhnung drücken die neue Relation, in die Gott den Menschen zu sich gestellt hat, aus.“ (Breytenbach, 169) Ähnlich sehen es die meisten Exegeten, auch wenn unterschiedliche Akzente gesetzt werden. Folgt man dem Grundriss, den Michael Wolter von der Theologie des Paulus gezeichnet hat (vgl. Frey / Schließer [Hg.]), dann handelt es sich bei der paulinischen Rechtfertigungslehre, wie sie im Galater- und Römerbrief sowie in Phil 3 entfaltet wird, „um eine

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ekklesiologische Theorie“ (Wolter, 5) im Problemkontext „des Zutritts der ‚Heiden‘ zur ecclesia bzw. der Nivellierung des soteriologischen Privilegs von Juden“ (Konradt, 31). Juden stehen wie Heiden unter der Sünde, der die ganze adamitische Menschheit verfallen ist. Errettung aus dem allgemeinen Sündenstatus ist möglich nicht durch das Gesetz und seine Werke, sondern nur durch den Glauben an das Evangelium Jesu Christi, der um unserer Sünden willen gestorben und um unserer Gerechtigkeit willen auferstanden ist (vgl. Röm 4,25). Durch den Glauben an den auferstandenen Gekreuzigten wird das Gesetz theologisch depotenziert (vgl. Wolter, 359 ff.). Es ist kein Heilsmittel mehr bzw. heilsgeschichtlich bedeutsam nur, insofern es die Universalität der Sünde aufdeckt. „Wie Gott ‚alle‘ durch Glauben gerecht spricht und dabei keine Rücksicht darauf nimmt, ob sie nach der Thora leben oder nicht, so sind dieselben ‚Alle‘ der Herrschaft der Sünde unterworfen und von Gottes Gerichtszorn bedroht, seien sie ­Juden oder Heiden.“ (Wolter, 383) Offenbart das Gesetz die richtende Gerechtigkeit Gottes, so wird die rechtfertigende durch Jesus Christus gewirkt und erschlossen, um in der Kraft des Geistes durch Glauben wahrgenommen zu werden. Der Christusglaube gibt Anteil am Heil Gottes und an seinem erwählten Volk (vgl. Wolter, 406), wodurch der Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden relativiert, ja aufgehoben wird. Der Frage, was mit Israel und näherhin mit dem nichtchristlichen Judentum künftig geschehen wird, versucht Paulus in Gal 4,21–31 und insbesondere in Röm 9–11 zu klären. Die Antwort problematisiert die Gewissheit nicht, dass Gott in Christus allen, die glauben, alles geschenkt hat, sondern erfolgt auf ihrer Basis: „Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken.“ (Röm 8,32) In der Hingabe des Sohnes am Kreuz, dessen heilswirksame Wirklichkeit an Ostern offenbar und vom Geiste bezeugt wird, ist der definitive „Beweis der Liebe Gottes zu uns“ (Wolter, 111) erbracht, der „bis in Ewigkeit“ (ebd.) Bestand hat. Was die unterschiedlichen Deutemodelle anbelangt, in denen Paulus den göttlichen Liebesbeweis expliziert, so beruhen sie Wolter zufolge theologisch alle auf derjenigen Deutung, die Gott selbst an Ostern dem Tod Jesu am Kreuz gegeben und durch seinen Geist für den Glauben erschlossen hat. Klassisch zum Ausdruck gebracht habe Paulus das „untrennbare Ineinander von Deutung und Wirklichkeit“ (Wolter, 99) in Röm 3,21–26, wo erklärt werde, „warum es der Christus-Glaube ist, der zur Rechtfertigung der Sünder führt: weil der Inhalt dieses Glaubens darin besteht, dass durch den Tod Jesu die Sünden der Glaubenden getilgt wurden.“ (Ebd.) Gläubiges Sein in Christus und Versöhnungs- und Rechtfertigungsglaube gehören sonach bei Paulus untrennbar zusammen. Eine Vorzugsstellung unter den paulinischen Deutemodellen der Heilswirklichkeit des Todes Jesu Paulinische Hamartiologie kommen nach verbreitetem exegetischen Urteil den mit einem personalen Bezugswort verbundenen Für-Formeln bzw. Wendungen zu, denen zufolge Christus für, wegen oder um unserer Sünden willen gestorben sei. Dass es eine entsprechende Deutung des Kreuzes bereits im vorpaulinischen Chris-

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tentum gab, zeigt exemplarisch 1. Kor 15,3. Paulus schließt an entsprechendes Traditionsgut an, um es hamartiologisch und soteriologisch zu vertiefen. Um als erstes die paulinische Hamartiologie in Erinnerung zu rufen und zwar in erneutem Anschluss an Rudolf Bultmann, der als hervorragender Systematiker und Exeget ein weiteres Mal den Maßstab kritischer und konstruktiver Orientierung bilden soll: Die Grundverfassung des Menschen ist vom Apostel mit verschiedenen Begriffen wie soma, psyche, pneuma sowie nous und syneidesis beschrieben worden, wobei der soma-Begriff der umfassendste ist, der alle anderen in sich zu integrieren vermag. Als soma-Natur ist der Mensch sarx. „Fleischlichkeit“ gehört durchaus zu seiner geschöpflichen Bestimmung. Nicht dass er en sarki, sondern dass er kata sarka lebt, wie das faktisch der Fall ist, lässt den Menschen seine Bestimmung verfehlen. Sarkischer Selbstverkehrtheit verfallen verhält er sich gottwidrig, um das Seine nur bei sich selbst und das Heil im Begehren des Irdischen zu suchen. Orientiert man sich an der Interpretation, die Bultmann in seiner Theologie des Neuen Testaments in existentialer Perspektive gegeben hat (vgl. Landmesser), dann findet die sündig-eigenmächtige Sarxhaltung des Menschen ihren abgründigsten Ausdruck in dem, was Paulus kauchesis nennt. Sein Sichrühmen, das mit ängstlicher Sorge um sich elementar verbunden ist, wird dem Menschen zum tödlichen Verhängnis. Denn indem er sich selbstüberheblich an die Stelle Gottes setzt, kehrt er sich nicht nur von seinem Schöpfer ab, sondern zugleich gegen seine geschöpfliche Bestimmung, ein sich gegebener Mensch unter Mitmenschen in einer gemeinsamen kreatürlichen Welt zu sein. Im ebenso hochmütigen wie verzweifelten Bestreben, unmittelbar seiner selbst und der Welt mächtig zu werden, erliegt der Mensch der Macht der Sünde, die in dämonischer Weise sein hybrides Ich in Beschlag nimmt, und verfällt dem Tod. Die Tödlichkeit der Sünde zeigt nach Paulus an, dass ihr Unwesen in einem Abgrund gründet, von dessen Bodenlosigkeit man sich keinen Begriff machen kann und der hinabreicht in die Höllen einer Bosheit, die in ihrer Mächtigkeit nicht nur den einzelnen Menschen, sondern die ganze Menschheit, ja alle Welt umfasst, um beständige Übel in ihr zu zeitigen. Nichtsdestoweniger ist nach Paulus die sarkische Verkehrung des Menschen kein Naturübel oder ein fatales Geschick, sondern von schuldhafter Art.  Die der Heillosigkeit seiner sarkischen Verkehrung entgegengesetzte Haltung des Menschen ist Bultmann zufolge die pistis, welche sich die in Jesus Christus offenbare Gnade Gottes in der Kraft des Hl. Geistes gefallen und in der Dankbarkeit reinen Empfangens geschenkt sein lässt. Glaube als vertrauensvolles Sich-Verlassen ist exzentrisches Sein in Jesus Christus. Indem er Jesus Christus vertraut, stirbt der Mensch seinem zwanghaft auf unmittelbare Selbstbestimmung und Selbstdurchsetzung fixierten Ich ab, um gerade so zu sich und zum wahren Leben zu gelangen, in dem sich seine geschöpfliche Bestimmung realisiert. Ein signifikantes Wirkzeichen hierfür ist nach Paulus die Taufe. Wie der Glaube, der sie empfängt, umfasst die Taufe mit der geistseelischen auch die leibhafte Existenz des Menschen, ja sie hat Auswirkungen bis in die physische Welt. Gleichwohl ist ihre entscheidende Heilsgabe die Befreiung von der als Schuld zuzurechnenden Sünde.

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Vom Zwang der Sünde und des Todes befreit ist der Mensch in die Lage versetzt, schon jetzt im Geiste zu wandeln, auch wenn die Vollendung der Schöpfung noch aussteht. Ihre endgültige Realisierung, die er erhofft, steht dem Glauben mit jener Gewissheit fest, die sein neues Selbstverständnis trägt, wie es durch Wort und Sakrament kerygmatisch erbaut wird. Von der Sorge um das ewige Heil durch Gottes Gnade entbunden, vermag der Glaube die göttlichen Gebote ansatzweise zu erfüllen – nicht durch Werke des Gesetzes, in denen der Täter auf Rechtfertigung seiner selbst aus ist, sondern durch Taten der Liebe, wie sie aus dem Dank für die gratis erfolgte Rechtfertigung hervorgehen, die der Sünder um Christi willen durch Glauben empfängt. Von der Macht der Sünde und des Todes und insofern auch vom Gesetz befreit, ist der Glaubende frei, sein gottbegnadetes Ich durch selbstlose Liebe zu realisieren. Mit der jüdischen Überlieferung stimmt Paulus Bultmann zufolge in der Überzeugung überein, dass Thora als Inbegriff göttdas Gesetz, wie es in der Thora dokumentiert ist, den lichen Willens offenbaren Inbegriff des göttlichen Willens darstellt. Dabei denkt er nicht nur und auch nicht in erster Linie an rituelle Vorschriften, sondern primär an die sittlichen Forderungen, wie sie speziell im Dekalog enthalten sind. Ihnen wird vorbehaltlos und ohne jede Einschränkung verbindliche Gültigkeit zuerkannt und zwar in universaler Hinsicht, sofern Juden wie Heiden unter dem Gesetz Gottes stehen. Dabei gilt unzweifelhaft, dass das Gesetz von Gott gegeben wurde, damit es erfüllt werde. Zugleich aber ist nach Paulus manifest, dass es eine wirkliche Erfüllung des Gesetzes durch den adamitischen Menschen nicht gebe. Als eine allein durch Selbstprüfung sub specie aeternitatis verifizierbare oder falsifizierbare Tatsachenbehauptung steht diese Annahme in keinem Widerspruch zur These göttlicher Forderung einer Erfüllung der Gebote. Bultmann hat die These vertreten, dass der Mensch gemäß Paulus durch Gesetzeswerke das Heil weder erlangen kann noch erlangen soll. Ist erstere Annahme differenzierungsbedürftig, aber auch differenzierungsfähig, so wird man letztere als falsch zu beurteilen haben. Zu ihrer Begründung wird angeführt, dass das Bemühen des Menschen, durch Erfüllung des Gesetzes sein Heil zu gewinnen, ihn zwangsläufig zu sündiger Verkehrtheit verführe und damit im Grunde selbst schon Sünde sei. Erst wenn man dies einsehe, werde der Gegensatz einer Rechtfertigung aus Gesetzeswerken, wie Paulus sie kategorisch ablehne, und einer solchen aus Gnade und Glauben allein in seiner Ausschließlichkeit erkannt. Zwar sei das Gesetz als solches gut und seinem Inhalt gemäß gottgeboten und recht. Doch die vom Gesetz gebotene gute Tat werde dem Menschen gerade dann zu tun unmöglich, wenn er sie aus eigenem Vermögen heraus zu erbringen versuche, um auf diese Weise den Forderungen des göttlichen Gesetzes gerecht zu werden. Wo solcher Versuch unternommen werde, trete nicht nur die Unmöglichkeit der Gesetzeserfüllung zutage, sondern das Gesetz werde selbst in verkehrter Weise verfehlt, ja zum Anlass und Grund jener kauchesis, die Paulus nach Bultmann als Inbegriff alles Verkehrten und als widriges Gegenteil der pistis gilt.

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Diese Argumentation vermag nicht zu überzeugen und hat eine Reihe von paulinischen Textbefunden gegen sich. Das Gesetz soll als Gottes Gebot durchaus erfüllt werden. Dass es faktisch nicht erfüllt wird und unter den Bedingungen sarkischer Verkehrung des Menschen auch nicht erfüllt werden kann, ist Schuld und hebt den Sollenscharakter des göttlichen Gebots nicht auf. Richtig dagegen ist, dass das göttliche Gebot aufgrund des dem Gesollten widersprechenden Seins des Menschen einen nicht nur richtenden, sondern zugrunderichtenden Charakter annimmt, indem es denjenigen, der im selbstverkehrten Vertrauen auf sich den Geboten zu entsprechen sucht, immer mehr in den sündigen Abgrund des Bösen hinabreißt. Indes ist dieses Werk des nomos nicht sein eigentliches, sondern sein fremdes, durch die Befremdlichkeit der Sünde hervorgerufenes und in seiner Fremdheit ihr zuzurechnendes Werk. Indem es die Sünde richtet und ihr das Gebotene vorhält, gegen das es sich verfehlt hat, bringt das Gesetz den Sünder in eine heillose Lage, deren Heillosigkeit durch die Tatsache, dass das Gesetz Sündenerkenntnis bewirkt, nicht behoben wird, weil gesetzesgewirkte Sündenerkenntnis nicht heilsam, sondern heillos ist, woran nur das Evangelium von der Rechtfertigung etwas ändern kann, wenn es der Gesetzesanklage mit dem die Heillosigkeit behebenden Gnadenzuspruch begegnet. Nach Bultmann sieht die paulinische Glaubenslehre Verständnis des Glaubens den Menschen im Widerstreit seiner sarkischen und seiner pneumatischen Bestimmung. Dass die gläubei Paulus bige Behebung dieses Widerstreits theologischchristologisch ermöglicht und fundiert ist, wird nicht nur nicht geleugnet, sondern ausdrücklich und entschieden vorausgesetzt. Der Glaube gründet im göttlichen Heilsgeschehen von Tod und Auferstehung Jesu Christi. Doch lässt sich der Sinn, den Paulus mit diesem Geschehen verbindet, nach Bultmann nur so erfassen, dass man es konsequent auf das menschliche Selbstverständnis bezieht. Paulus wisse von Jesus Christus und dem im auferstandenen Gekreuzigten offenbaren Gott nur im Modus sich wandelnden Selbstverständnisses. Dieses Votum ist der Abwehr unstatthaft objektivierender Gegenständlichkeit geschuldet, läuft aber nichtsdestoweniger auf eine Unterbestimmung des wirklichen Geschehenscharakters und der realen Wirksamkeit des göttlichen Heilsereignisses in Jesus Christus hinaus. Unterbestimmt wird der wirkliche Geschehenscharakter und die reale Wirksamkeit des Kreuzesereignisses auch dort, wo ihm eine lediglich explikative und keine soteriologisch konstitutive Funktion zugedacht wird. Dass Gott es ist, der Versöhnung schafft, duldet im Hinblick auf die paulinische Soteriologie und insbesondere auf 2. Kor 5,19 keinen Zweifel: „Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat …“ Nicht menschliche Sühneleistungen und Werke der Satisfaktion haben Versöhnung erwirkt, sondern Gott und sein Christus. „Gott handelt in Jesus Christus und macht ihn zum Ort der Sühne für die Verfehlungen der Menschen. Gott nimmt in der Lebenshingabe Jesu das Nein, das durch die Gottesverfehlung und Lebensverneinung des Menschen unausweichlich über ihrem Leben steht, auf sich und trägt es.“ (Klaiber, 72 f.) Dieser Satz ist gewiss nicht falsch,

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sondern im Gegenteil richtig, aber präzisierungsbedürftig. Nicht selten, so wurde mit Recht konstatiert, gerate 2. Kor 5,19 „in den Ideensog eines regelrechten göttlichen Handlungsmonismus“ (Hoffmann, Kreuz, 18 unter Verweis auf Hoffmann, Sühne, 39 f.). In abstrakter Theozentrik aber lässt sich der Sinn der Aussage, dass Gott in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, nicht fassen. Sie bedarf einer trinitätstheologischen Grundlegung. Das Neue Testament sagt bzw. setzt implizit voraus, „wie der Gott sein muß, der in der Weise der Sühne von der Sünde erlöst: dreieinig.“ (Hoffmann, Kreuz, 86) Ohne den in Jesus Christus manifesten Logos und ohne den Geist als den Dritten im göttlichen Bunde lässt sich die versöhnende Vaterliebe des allmächtigen und gerechten Gottes nicht erfassen. Namentlich Kreuz und Trinität sind „ineins zu schauen“ (Hoffmann, Kreuz, 88). Nur unter trinitätstheologischen Bedingungen kann das Kreuzesgeschehen nicht nur als Erkenntnis-, sondern auch als Wirkzeichen der Versöhnung gedacht werden. Dies aber ist nötig, um „eine folgenschwere soteriologische Entleerung des Kreuzes“ (Werbick, 266) zu vermeiden und es wirklich als „Realsymbol und Ereignis der Versöhnungsmacht Gottes“ (Werbick, 267) denken zu können. Das Kreuz offenbart die Vaterliebe Gottes und „erwirkt“ sie zugleich (anders Werbick, 266). Inwieweit der Tod Jesu Christi von Paulus als kultisches Opfer gedeutet wurde, kann dahingestellt Kreuz als Erkenntnisbleiben. Eine sakrifizielle Wirkung im Sinne tradi- und Wirkzeichen der tioneller Tempelkultrituale wird ihm sicherlich auch Versöhnung in Röm 3,21–26 nur in metaphorischer Weise zugesprochen. Entsprechendes gilt für andere soteriologische Motive, die sich bei ihm, aber auch in anderen neutestamentlichen Schriften neben dem Modell stellvertretender Sühne (vgl. Werbick, 226 ff.) finden: dem des Sieges über die Unheilsmächte (vgl. Werbick, 131 ff.) oder der rettenden Beziehung und der heilenden Teilhabe (vgl. Werbick, 174 ff.). Ein Metaphernfeld kann man mit der forensischen Sphäre assoziieren, aus der die juridischen Deutungen des Todes Jesu stammen, die bei Paulus soteriologisch eine zentrale Stellung einnehmen und Versöhnungs- und Rechtfertigungslehre aufs engste verbinden. Sünde ist Widerspruch gegen Gottes Recht und Gerechtigkeit. „Was zwischen Gott und dem Menschen steht, ist nicht nur Folge eines Mißverständnisses – etwa einer irrigen Gottesvorstellung –, sondern die Realität des Zornes Gottes (Röm 1,18 ff.) aufgrund der Übertretung seines heiligen Willens.“ (Roloff, 191) Versöhnung und Rechtfertigung des Sünders vor Gott können in Anbetracht der Gottwidrigkeit seiner Sünde, die der göttlichen Gerechtigkeit feind und zuwider ist, nur durch den Gekreuzigten ermöglicht werden, „der uns vom Fluch des Gesetzes erlöst hat, indem er für uns zum Fluch geworden ist“ (Gal 3,13). Jesus Christus erbringt keine „Ersatzleistung für die Gesetzesübertretungen der Menschen“ (Roloff, 191), sondern tritt dergestalt an ihre Stelle, dass er stellvertretend die Strafe der Sünde erleidet. An Ostern ist der Sinn des Kreuzesgeschehens offenbar: Der der Gottheit Gottes Zugehörige hat in der Gleichheit seines Wesens mit uns die Sünde

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der Menschheit auf sich genommen und das gerechte Gericht Gottes an unserer statt schuldlos ertragen, damit gottmenschliche Versöhnung sei. Es bedurfte des trinitarischen und christologischen Dogmas der Alten Kirche, um den österlichen Sinn des Leidens und Sterbens Jesu Christi theologisch recht zu erfassen. Der vierte Evangelist hat den Weg dorthin gewiesen – auf sehr andere Weise als Paulus, aber keineswegs konträr und gegenläufig zu ihm. Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe Paulinisches und markieren neben der paulinischen Theologie einen johanneisches Kerygma zweiten Höhepunkt neutestamentlicher Glaubensreflexion. Rudolf Bultmanns „Theologie des Neuen Testaments“ unterstreicht diesen Sachverhalt nachdrücklich und hebt zugleich die Entfernung hervor, die das johanneische Kerygma sowohl von der Verkündigung Jesu wie von der ältesten Gemeinde trenne. Im Unterschied zur synoptischen Tradition erscheine Jesus weder als über Gesetzesfragen disputierender Rabbi noch als der Prophet, der das nahende Gottesreich verkünde, sondern als der Offenbarer Gottes, dessen Verhältnis zur Welt in seinem Kommen vom und in seinem Gehen zum Himmel begriffen sei. Sehr groß ist nach Bultmann auch die Distanz des Corpus Iohanneum zu Paulus und der deuteropaulinischen Literatur. Denkweise und Terminologie werden als in hohem Maße verschieden beurteilt. Insonderheit die für den Paulinismus kennzeichnende heilsgeschichtliche Perspektive fehle im johanneischen Schrifttum vollkommen. Von einer Zugehörigkeit zur paulinischen Schule könne nicht die Rede sein. Der johanneische Kreis, für dessen Gemeinde­situation der bereits vollzogene Auszug aus dem Synagogenverband vorauszusetzen sei, repräsentiere eine andere, in ihrer Art eigenständige und originale Gestalt frühchristlicher Theologie. Trotz erheblicher Differenzen, die Paulus und Johannes trennen, entdeckt Bultmann auch eine tiefgreifende sachliche Verwandtschaft zwischen beiden. Sie ist nach seinem Urteil darin begründet, dass das eschatologische Geschehen bei beiden – wenngleich in radikaler Form erst bei Johannes – als ein schon gegenwärtig wirksames verstanden werde. Mit diesem Hinweis ist zugleich der Grund genannt, warum bei Bultmann die johanneische neben der und über die paulinische Theologie hinaus den zweiten, überragenden Höhepunkt neutestamentlicher Theologie bezeichnet. Sie verdankt diese Stellung der Konsequenz, mit der sie, wie Bultmann sagt, die überlieferten Heilstatsachen „vergeschichtlicht“ und auf den Augenblick konkreter Entscheidungssituation im Hier und Jetzt hingeordnet hat. Der äußere Rahmen, der die Jesusgeschichte im Johannesevangelium formt, ist nach Bultmann, wie anderwärts bereits erwähnt (vgl. Bd. 6, 135 ff.), durch den sog. gnostischen Erlösermythos vorgegeben, demzufolge der Erlöser als eine kosmische Gestalt und ein präexistentes Gottwesen erscheint, das vom Himmel herabkommt, Menschengestalt annimmt und nach erfolgter Erdentätigkeit in seine himmlische Herrlichkeit zurückkehrt, um seine Herrschaft über die unterworfenen Mächte anzutreten. Wie etwa das Christuslied Phil 2,6–11 oder Eph 4,8–10 belegten, habe der gnostische Mythos vom Abstieg und Wiederaufstieg des Erlösers das christolo-

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gische Denken des hellenistischen Christentums schon vor und bei Paulus beeinflusst. Auch im vierten Evangelium sei er formal rezipiert, inhaltlich aber zugleich radikal entmythologisiert und existential interpretiert worden. Dies gelte entsprechend auch für die dualistische Grundanschauung, deren Antithetik von Oben und Unten, Licht und Finsternis etc. konsequent auf die gegenwärtige Entscheidungssituation aktuellen Glaubens oder Unglaubens zu beziehen sei. Gemäß dem Bultmann’schen Johannes (vgl. Bultmann, Evangelium des Johannes) ist das Wesen der Das Johannesevangelium Welt Sein in der Knechtschaft des Todes und der nach Bultmann Sünde. Indes ist die Welt nicht durch eine kosmische Macht, sondern durch die Verkehrung menschlichen Willens geknechtet, der sich gegen seine geschöpfliche Bestimmung wendet und das Böse in der Schöpfung Gottes heraufbeschwört, um all dasjenige zu zeitigen, was im eigentlichen Sinne Übel zu nennen ist. Der üble Zustand der Welt ist kein fatales Geschick, sondern zwangsläufige Folge der abgründigen Verkehrtheit der Sünde, deren Gottwidrigkeit statt Licht, Wahrheit, Leben und Freiheit Unfreiheit, Tod, Lüge und Finsternis bewirkt. In der Erscheinung des Offenbarers wird dies manifest, und es tritt offen zutage, dass die menschliche Entscheidung gegen Gott die Welt zu dem gemacht hat, was sie faktisch ist. Die Sünde ist schuld daran, dass die Schöpfung Gottes zur „Welt“ verkommen ist. Was ihren Fall angeht, so führt ihn Johannes nach Bultmann nicht in mythologischer Manier auf einen urzeitlichen Frevel und eine teuflische Verführung in längst vergangenen Zeiten zurück. Der Fall der Sünde wird vielmehr je und je vollzogen, wo menschliche Gottwidrigkeit statthat, und der Teufel steckt, wenn man so will, in jedem Detail aktueller Untat. Nicht als verhängnisvolle Erbschaft der Vergangenheit ist das „peccatum originale“ wirksam, sie ist gegenwärtige Tatsache, deren Universalität das ganze Universum in den Bann zieht und dem Kosmos jedwede Zukunft raubt. Unter den Üblichkeitsbedingungen alltäglicher Weltanschauung werde dies zwar in der Regel verkannt, weil es zur Sünde gehöre, Einsicht in sich selbst nicht nur nicht zu eröffnen, sondern mehr oder minder bewusst und willentlich zu verstellen. Allenfalls mit einer uneindeutigen und in ihrer Art selbst zwielichtigen Erkenntnis der Sünde sei in der faktischen Welt zu rechnen. Im Lichte der Offenbarung aber wird der dualistische Gegensatz eindeutig manifest, welcher die finstere Welt der Sünde von Gott und vom Licht der göttlichen Wahrheit scheidet. Die Sendung des Sohnes bewirkt die Krise der Welt, deren Bosheit nachgerade in der Selbstsicherheit besteht, mit welcher der Mensch sich in ihr bewegt. Es ist ein wesentliches Kennzeichen solcher Krise, dass alle weltliche Selbstverständlichkeit fraglich und das gegebene Selbstverständnis des Menschen radikal infrage gestellt wird. Mit der Erscheinung des göttlichen Gesandten in der Welt, dessen Weg im Kommen und Gehen begriffen und nur in der Einheit von Kommen und Gehen, von Offenbarung und Verborgenheit zu begreifen ist, tritt eine Scheidung in der Welt ein, durch welche diese von sich selbst geschieden wird. Anders als im

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kosmologischen Dualismus der Gnosis wird diese Scheidung beim Bultmann’schen Johannes indes nicht mythologisch begründet, sondern in existentialer Weise namhaft gemacht. Der johanneische Dualismus ist, um es zu wiederholen, Entscheidungsdualismus. Demgemäß erfüllt sich die Sendung des Sohnes im Ruf zur Entscheidung. Eben darin ist sie eschatologisches Ereignis. Nach Bultmann ist die johanneische Eschatologie durch den Vollzug konsequenter Entmythologisierung und existentialer „Vergeschichtlichung“ ausgezeichnet. Die christologische Konzeption des vierten Evangeliums entspreche dem. Das zeige sich primär daran, dass der göttliche Gesandte nicht als mythisches Urwesen, als heroischer Halbgott, als Engel oder in sonstiger himmlischer Gestalt, sondern als Mensch auf die Welt komme, wie dies im Grundsatz des Johannesevangeliums, wonach der Logos Fleisch geworden sei, von Anfang an klar ausgesprochen werde. Deutlich sei dabei, dass die Menschwerdung des Gottessohnes nicht als natur­hafter bzw. supranaturaler Vorgang von temporärer Befristung erfasst werden könne. Deutlich sei fernerhin, dass der Offenbarer nicht als Mensch überhaupt oder als bloßer Träger menschlicher Natur, sondern als bestimmter Mensch namens Jesus von Nazareth in Erscheinung trete. Seine Menschheit sei in keiner Weise scheinhaft, sondern höchst konkret. Folgerichtig wenden sich der erste und zweite Johannesbrief nach Bultmann energisch gegen die Irrlehren, welche die reale, namentliche Identität zwischen dem Gottessohn und dem Menschen Jesus bestreiten, um die leibhafte Menschengestalt des Gottessohnes doketisch aufzulösen. Auch wenn Jesus in einigen Stücken des vierten Evangeliums im Sinne der hellenistischen Vorstellung eines „theios aner“ geschildert werde, der Wunder tue, über wundersames Wissen verfüge, die ihm Begegnenden durchschaue und für Gegner ungreifbar sei, sei seine menschliche Gestalt, wo Johannes aus dem Eigenen schöpfe, niemals bloßes Transparent göttlichen Wesens, sondern dessen konkrete und reale Erscheinung. Als wirklicher Mensch ist Jesus der Gottessohn, der dem Vater und dem der Vater aufs innigste verbunden ist. Das tritt nach Bultmann wesentlich darin zutage, dass der johanneische Jesus Gott just darin offenbart, dass er sich selbst als den menschgewordenen Logos kundtut: Dies widerspricht dem johanneischen Offenbarungsverständnis nicht, sondern hat als dessen elementares Implikat zu gelten, sofern es gerade die Verborgenheit der Offenbarung in der Welt ist, die deren in Finsternis befangene Blindheit zur Erkenntnis bringt. Entsprechend ist die Messianität und die Präsenz der Gottheit im Menschsein Jesu kein unmittelbar greifbares, sondern ein unbegreifliches Datum, das nur als unbegreifliches begriffen zu werden vermag. Das Zeichen und Siegel hierfür sei das Kreuz Jesu, in dessen geheimnisvoller und abgründiger Verborgenheit seine Gottesherrschaft und Herrlichkeit offenbar werde. Die Paradoxie des Offenbarungsgedankens, den erstmals Johannes ins Auge gefasst und zur Einsicht gebracht habe, liegt nach Bultmann darin begründet, dass die Gottheit Gottes und des Sohnes in der Abskondität des Kreuzes manifest werden. Damit habe Johannes die Messiasgeheimnistheorie des Markus eigentümlich fortgebildet und vertieft.

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Die johanneische Inkarnationstheologie einschließlich der Theorie von der Präexistenz und Staurologisch zentrierte Schöpfungsmittlerschaft des Logos, welche dessen Inkarnationstheologie postexistentes Sein stets mitbedenke, ist nach Bultmann entschieden staurologisch konzentriert. Das Kreuz sei die Erfüllung der Mission Jesu und die vollendete Manifestationsgestalt seiner göttlichen Sohnschaft, in der sich die Einheit Jesu als des Sohnes mit Gott dem Vater und damit die Gottheit Gottes in ihrer Väterlichkeit selbst offenbare. Die staurologische Konzentration werde durch die johanneischen Ostergeschichten nicht aufgehoben, sondern be­stätigt. Bultmann geht so weit zu sagen, dass die Auferstehung nach dem Verständnis des Johannes kein Ereignis von spezifischer Eigenbedeutung sei und sein könne, da sich Erhöhung und Verherrlichung Jesu bereits am Kreuz vollendeten. Durch die Auferstehung werde der am Kreuz vollbrachte Sieg Jesu über die Welt und ihre Herrschaft nicht erst begründet, sondern lediglich zeichenhaft veranschaulicht. Zwar werde der vierte Evangelist an der Realität des Ostergeschehens nicht gezweifelt haben: aber eine vom Kreuzesereignis unterschiedene Wirklichkeit habe er mit ihm nicht verbunden; im Grunde sei das Osterereignis entbehrlich. Von seiner christologisch-soteriologisch notwendigen Heilstatsächlichkeit könne unter johanneischen Bedingungen nicht die Rede sein. Am Beispiel von Thomas dem Zweifler (Joh 20,24–29) hat Bultmann dies in seinem Kommentar zum Johannesevangelium einprägsam illustriert. Um seiner Schwachheit willen werde Thomas die wundersame Erscheinung des Auferstandenen konzediert. Doch sollte es ihrer im Grunde nicht bedürfen, da gerade diejenigen selig zu preisen sind, die glauben, auch wenn sie nicht sehen. Der Wert der Ostergeschichten ist relativ, eine Realitäts­ garantie der Auferstehung des Gekreuzigten können sie nicht geben, da die österliche Wirklichkeit Jesu Christi nur dem Glauben aufgeht, der dem Kerygma des Kreuzes gehorcht und vertraut. Auch das Kreuz Jesu ist Bultmann zufolge bei Johannes keine Heilstatsache im Sinne der gemeinchristlichen Deutung als eines für die Sünden der Menschheit erbrachten Sühnopfers. Dieser Gedanke bestimme die johanneische Stauro­logie nicht nur nicht, sondern spiele in ihr keine oder allenfalls eine Rolle als ein aus der Gemeindetradition übernommener Fremdkörper. Konzeptionell folgenreicher noch als diese Feststellung ist Bultmanns Bemerkung, dass Jesus nach Johannes am Kreuz prinzipiell nicht leidendes Objekt einer göttlichen Heilsveranstaltung, sondern tätiges Subjekt der eschatologischen Offenbarung Gottes sei. Diese Bemerkung ist unter Gesichtspunkten johanneischer Gesamtkonzeption bzw. der Deutung, die Bultmann dieser zuteil werden lässt, insofern entscheidend, als ungeachtet der bisher betonten staurologischen Konzentration nunmehr der Passionscharakter des Kreuzesgeschehens tendenziell in Abrede gestellt wird. Bultmann bestätigt dies, wenn er sagt, im Unterschied zu Paulus, für welchen das Inkarnationsereignis dem Kreuzesgeschehen untergeordnet sei, subordiniere Johannes das Kreuzesgeschehen dem Inkarnationsereignis. Zwar relativiert er diese Subordinationsthese durch den Hinweis, dass Kommen und Gehen, also Menschwerdung und Tod des Gottes-

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sohnes eine Einheit bildeten. Doch entbehre der Tod Jesu bei Johannes im Unterschied zu Paulus einer eigenen Heilsbedeutung und sei lediglich die Vollendung des mit der Menschwerdung begonnenen Werkes. Wohl bestimmt Bultmann das am Kreuz vollendet erbrachte Werk Jesu als Gehorsamswerk: sein Leiden und Sterben sind die letzte Bewährung des Gehorsams, unter dem das ganze Leben Jesu steht. Das ändert indes nichts an der Tatsache, dass das Kreuz Jesu primär nicht als Passion, sondern als Aktion verstanden wird. Die Leidentlichkeit ist lediglich ein Moment der Tätigkeit Jesu, der bis ins Äußerste aktiv dem Willen dessen entspricht, der ihn gesandt hat. Ist es das tätige Gehorsamswerk Jesu als des am Passion als Aktion Kreuz offenbaren und verherrlichten Gottessohnes, auf welches Johannes nach Bultmann alles ankommt, so ist der Inbegriff des jesuanischen Werkes sein Wort. Die Identität von Werk und Wort gelte wie für das Leben Jesu insgesamt, so auch und besonders für die Vollendung seines Lebens im Tode am Kreuz. Das Kreuzeswerk ist das Wort, in dem der Logos auf vollendete Weise sich und seiner Sendung entspricht, um so zugleich in der Entsprechung des Gehorsams, wie sie dem vom Vater ausgehenden Wort gemäß ist, demjenigen zu entsprechen, welcher ihn gesandt hat. Was besagt das Werk Jesu, das sich am Kreuz vollendet und in dessen Tun der Gekreuzigte endgültig als der Logos Gottes offenbar ist? Gemäß dem Bultmann’schen Johannes nichts, was sich von dem Gekreuzigten ablösen ließe, der als das manifeste Wort Gottes in Person zu gelten hat, welches der Gottheit Gottes wesentlich zugehört. Der offenbare Logos, welcher der Gekreuzigte ist, lässt durch sein Kreuzeswerk keine zeitlosen Inhalte verlauten, vermittelt spezifisches Wissen weder von irdischen noch von göttlichen Dingen, sondern besagt nichts als sich selbst in seiner gehorsamen Entsprechung zum Vater. Was er durch sein Werk zu sagen hat, ist er selbst in seiner differenzierten Sohneseinheit mit dem göttlichen Vater. Nicht von ungefähr sind die meisten johanneischen Worte Jesu nach Bultmann Selbstaussagen. In den Ich-bin-Worten komme dies förmlich zum Ausdruck. Sie teilten nicht dieses oder jenes Wissen mit, sondern seien Selbstmitteilungen, in denen sich das Selbstbewusstsein des menschgewordenen Logos und am Kreuze Erhöhten als es selbst expliziere. Das Besondere und Entscheidende an diesen und analogen Worten liege entsprechend nicht in ihrem vom Gesprochenwerden differenten Gehalt, sondern im performativen Vollzug. Das Kreuzeskerygma, in dem der Gekreuzigte sich ausspricht und sein Werk selbst zur Sprache bringt, ist ein Wortgeschehen, das keine Informationen enthält, sondern zu unbedingtem Gehorsamsentscheid ruft. Unbedingter Gehorsam fragt nicht nach dem „Warum“ des an ihn ergangenen Rufes, sondern hat am reinen „Dass“ von dessen Ergangensein sein Genügen. Mehr und anderes als das „Dass“ der Offenbarung hat der vierte Evangelist nach Bultmann nicht zu bezeugen, da auch derjenige, den er bezeugt, nichts anderes bezeugt als sich selbst und den in seinem Selbstzeugnis sich bezeugenden Gott, der im Tod dessen, was Johannes Welt nennt, sein ewiges Leben erweist. Jesus offenbare als Offenbarer Gottes nichts

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anderes, als dass er der Offenbarer Gottes sei. Entscheidend ist nach Bultmann allein das „Dass“ seines Gekommenseins, seines Todes und der schieren Tatsache, dass er der göttliche Offenbarer ist. Jesu Selbstoffenbarung als Sohn Gottes vermittelt weder eine Lehre noch ist sie auf die Erweckung spezifischer Erlebnisse aus. Sie enthält keine anthropologischen und kosmologischen Informationen noch sonstige Mitteilungen, sondern nur den Ruf des Offenbarers zu sich selbst und zum göttlichen Vater, der ihn gesandt hat. Ist von der Offenbarung des göttlichen Logos im gekreuzigten Jesus nicht mehr als ihr bloßes „Dass“ Negation aller Selbstzu verkünden, so bleibt die Offenbarung in ihrer ab- und Weltsicherheit soluten Faktizität gleichwohl nicht leer, sofern sie als Negation aller menschlichen Selbstbehauptungsanstrengungen und -ansprüche fungiert. Als solche nimmt sie der Glaube wahr und als solche kann sie nur der Glaube wahrnehmen, der alles Welt- und Selbstvertrauen um Gottes willen hingibt, um beide von Gott her neu und recht, will heißen: in Negation aller Selbstund Weltsicherheit zu empfangen. Der Glaube gilt Johannes daher als die richtende und rettende Lebenskehre, mittels dessen Alt und Neu, Licht und Finsternis geschieden werden. Woher aber gewinnt der Glaube die ihm eigene Entschiedenheit, die ihn zum Scheidedatum von Heil und Unheil werden lässt? Die johanneische Antwort lautet nach Bultmann: aus dem „Dass“ der göttlichen Entscheidung, die in Jesus Christus definitiv gefallen ist und zwei Momente in eindeutiger Ausrichtung in sich trägt – Gericht über die eigenmächtige Welt und Negierung menschlicher Selbstbehauptung sowie Ermöglichung des Heils gläubigen Vertrauens auf Gott und Gott allein, aus dem menschliches Selbst- und Weltvertrauen hervorgeht, wie es der Gottebenbildlichkeit gemäß ist, zu der der Mensch geschaffen und eschatologisch bestimmt ist. Das ist gemeint, wenn Bultmann den Glauben eine freie Tat des Gehorsams nennt (vgl. Hammann). Sowenig die Faktizität der in Jesus Christus getroffenen göttlichen Entscheidung als eine vom Menschen distanzierbare Tatsache zu erfassen ist, sowenig stellt ihr „Dass“ schiere Indifferenz dar, welche auf absolutes Belieben verweist. Das „Dass“ göttlicher Entscheidung, wie sie in der Offenbarung Jesu Christi gefallen ist, geht den Menschen an in der Form von Anspruch und Zuspruch, genauer in der Weise von mortificatio und vivificatio, nämlich der Tötung tödlicher Selbstfixierung und der Bekehrung zu einem Leben aus Gott. Im Sprachereignis des Kerygmas und nirgendwo sonst bringt sich zu Gehör, was in Jesus Christus geschehen ist. Der Glaube lässt es sich zu seinem Heil gefallen, wohingegen der Unglaube in seinem Ungehorsam sich selbst zugrunde richtet. Verfällt der Unglaube seiner eigenen Verkehrtheit, so kommt der Mensch im Glauben zu sich und findet zu seiner Bestimmung, wobei er die ihm eigene Entschiedenheit als geschenkte wahrnimmt und weiß. In der Gewissheit, sich selbst von Gott gegeben zu sein, vermag des gläubige Ich selbstlose Liebe anfangsweise zu üben. Es beginnt die für den Christenmenschen charakteristische eschatologische Existenz. In der Welt der Welt entnommen wird der Christ seinem gläubigen Sein in Christus durch Gebet, Bekenntnis

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und Werke der Liebe tätig und leidend soweit zu entsprechen suchen, wie an ihm ist. Er wird dies nicht für sich allein erstreben, sondern in der Gemeinschaft der eschatologisch Existierenden, als welche die christliche Kirche, so Bultmann, nach­ Johannes zu verstehen ist. Die Bultmann’sche Johannesinterpretation ist von Kirchliche Redaktion bemerkenswerter Geschlossenheit und innerer Konsistenz. Exegetisch grundlegend für sie ist die literarkritisch-redaktionsgeschichtliche Annahme einer kirchlichen Überarbeitung des genuinen Evangeliums mit Korrekturen insbesondere in Bezug auf das Sakramentsverständnis und die Eschatologie. In letzterer Hinsicht bot sie Bultmann die Gelegenheit, das Nebeneinander präsentischer und futurischer Aussagen, wie es besonders schroff in Joh 5,24–29 zutage tritt, aufzulösen, um dem kirchlichen Redaktor die apokalyptisch-endzeitlichen Aussagen zuzuschreiben und den originären Evangelisten mit einer existential enttemporalisierten Eschatologie zu versehen. Diese Deutung und ihre historisch-kritischen Voraussetzungen werden in der gegenwärtigen Forschung in der Regel nicht mehr vertreten. Endzeitliche Apoka­lyptik und präsentische Eschatologie bilden im Johannesevangelium nach mehrheitlicher Exegetenmeinung einen sachlich begründeten Zusammenhang und lassen sich ebenso wenig trennen wie etwa temporale und spatiale, individuelle und kollektive oder anthropologische und kosmologische Vorstellungskomplexe. Als ihr Maß hat nach allgemeiner Auffassung die Christologie zu gelten, auf die alle johanneischen Einzelmotive hingeordnet sind. Auch die johanneische Eschatologie ist eine Funktion der Christologie (vgl. im Einzelnen Frey). In der Person des Gekreuzigten und Auferstandenen, des menschgewordenen Logos-Sohnes Jesus Christus, sind Anfang und Ende von Menschheit und Welt beschlossen, ohne dass dadurch die Differenziertheit der Zeiten und die temporale Erstreckung und Ausrichtung menschlichen Daseins in der Welt abstrakt negiert würde. Der durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestimmte Zeitverlauf ist in Jesus Christus erfüllt, der sich im Geist den Seinen im Modus von Erinnerung und Erwartung als Grund und Ziel aller Dinge präsentiert. Nicht dass der Glaube durch das Wirken des Geistes mit Christus unmittelbar vergleichzeitigt würde: Er weiß um seine temporale Distanz zur irdischen Erscheinung Jesu Christi und um dessen Abschied von der leibhaften Welt; er weiß mithin auch um die verbleibende Sünde der Menschheit einschließlich derjenigen der Christen und um die unbehobenen Übel der Welt. Gleichwohl ist er kraft des Parakletengeistes gewiss, dass Gott den Sünder durch Christi Tod mit sich versöhnt und durch den am Kreuz Erhöhten das Wunder der Erlösung vollbracht hat, was am getrost und mit Zu­versicht zu erwartenden Ende der Zeiten universal offenbar werden wird. Das differenzierte Gefüge temporaler Bestimmungen, welche das Johannes­ evangelium kennzeichnet, ist in dem erniedrigten und erhöhten Gekreuzigten, welcher im Parakletengeist als Sohn des göttlichen Vaters die Väterlichkeit Gottes offenbart, ebenso begründet wie zur Einheit gebracht. Die richtige Annahme von der christologischen Konzentration johanneischer Eschatologie ist daher zu der stauro-

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logischen These fortzuentwickeln, dass der erniedrigte und erhöhte Jesus Christus das eschatologische Wirkzeichen Gottes ist, welches der vergänglichen Welt Erlösung und dem sündigen Vergehen der Menschheit Versöhnung bereitet. Diese These vertritt auf seine Weise auch Bultmann. Doch lässt er sie vom Schema des aus seiner himmlischen Präexistenz in Menschengestalt auf die Welt kommenden und nach vollendeter irdischer Wirksamkeit in den Himmel zurückkehrenden Gottwesens überlagert sein, als welches der johanneische Sohn des Vaters sich von Anbeginn zu erkennen gibt. Zwar soll der von Bultmann religionsgeschichtlich in Anschlag gebrachte sog. gnostische Erlöser- Gnostischer mythos nur die Form der johanneischen Christo- Erlösermythos? logie und nicht deren Inhalt bestimmen, der vom Evangelisten vielmehr radikal entmythologisiert worden sei und demgemäß, wie es heißt, existential interpretiert werden müsse. Gleichwohl hat die von Bultmann behauptete formale Prägung johanneischer Christologie durch den sog. gnostischen Erlösermythos nicht unerhebliche Folgen für deren inhaltliches Verständnis und zwar gerade in staurologischer Hinsicht. Denn durch sie wird der Eindruck erweckt, als sei die für urchristliche Theologie grundlegende Annahme göttlicher Auferweckung des gekreuzigten Jesus christologisch überflüssig, weil dieser in seiner Gottheit schon von Anbeginn seiner Sendung offenbar sei, was durch das Kreuzesgeschehen nicht wesentlich tangiert und durch die Osterereignisse lediglich bestätigt, nicht aber konstituiert werde. Statt diesem Eindruck durch den Hinweis auf seinen formalen, dem Inhalt der johanneischen Verkündigung äußerlichen und fremden Charakter zu wehren, verstärkt ihn Bultmann, indem unter Be­rufung auf den vierten Evangelisten Ostern zu einem im Grunde entbehrlichen Ereignis von lediglich zeichenhaft illustrierender, nicht aber begründender Bedeutung herabgesetzt wird. Dem korrespondiert eine signifikante Unterbestimmung des Passionscharakters des Leidens und Sterbens Christi in der Bultmann’schen Johannesauslegung. Weil Johannes das Kreuzesgeschehen dem Inkarnationsereignis subordiniere und innerhalb des vom gnostischen Erlösermythos vorgegebenen Rahmens interpretiere, erscheine ihm der Gekreuzigte im Wesentlichen nicht als leidendes Objekt, sondern als das aktive Subjekt des Geschehens, welches in souveräner Freiheit über das Vermögen verfüge, sich hinzugeben und im Vollzug gehorsamer Hingabe sein Leben wieder an sich zu nehmen. Zwar betont Bultmann, dass die Sohnesfreiheit, wie sie sich am Kreuz vollendet bewährt, Jesus von seinem göttlichen Vater gegeben sei. Aber dieses Gegebensein nimmt unter der Voraussetzung der formal auf den sog. gnostischen Erlösermythos zurückzuführenden johanneischen Präexistenzchristologie die Form einer uranfänglichen, auch staurologisch nicht wirklich problematisierten Gegebenheit an. Zwar versucht Bultmanns Deutung den doketischen Schein, der dadurch auf die johanneische Christologie fällt, inhaltlich durch den Hinweis zu beseitigen, dass der Logos nach Maßgabe des vierten Evangeliums als bestimmter Mensch namens Jesus irdisch in Erscheinung ge-

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treten sei. Aber indem er die johanneische Inkarnationschristologie auf das bloße, von aller Bestimmtheit abstrahierte „Dass“ des Gekommenseins Jesu restringiert, tritt der doketische Schein genau an der Stelle wieder auf, an der beseitigt werden sollte. Der johanneische Jesus ist recht eigentlich kein singuläres Individuum, sondern eine exemplarische Größe, die in der schieren Faktizität des „Dass“ ihrer Erscheinung ein allgemeines Beispiel abgibt für das, was existentialer Interpretation als ein Existential gilt. Die systematischen Aporien der Johannesauslegung Bultmanns, die von den Aporien seines eigenen Theologieansatzes zu unterscheiden, nicht aber zu trennen sind, lassen sich nur beheben, wenn die johanneische Christologie sowohl ihrem Inhalt als auch ihrer Form nach konsequent von der in der Kraft des Geistes wirksamen österlichen Gottesoffenbarung im gekreuzigten Jesus von Nazareth her interpretiert wird. Erst von hier aus erschließt sich auch der Sinn der johanneischen Präexistenzchristologie. Das Recht dieser Annahme ist nicht nur durch die Tatsache gegeben, dass die Bultmann’sche These eines – auch nur formal prägenden – Einflusses des sog. gnostischen Erlösermythos als religionsgeschichtlich widerlegt gelten darf, es ist auch und vor allem durch den traditionsgeschichtlichen Zusammenhang begründet, in dem das Johannesevangelium unbeschadet seiner eigentümlichen Besonderheit mit der sonstigen frühchristlichen Überlieferung steht, für die allesamt Ostern das Urdatum von Christologie und Theologie markiert, wobei Kreuz und Auferweckung / Auferstehung Jesu Christi einen zwar differenzierten, aber untrennbaren Zusammenhang darstellen. Das Johannesevangelium bildet, wie eine genaue Exegese seiner Gesamtkomposition und seiner Einzeltexte zeigt, diesbezüglich keine Ausnahme. Das Verständnis des irdischen Daseins Jesu als Sendung des dem Vater wesentlich zugehörigen Sohnes, der vom Himmel kommt und in Vollendung seiner Mission zu seinem himmlischen Vater zurückkehrt, um vom Parakletengeist als der am Kreuz Erhöhte verherrlicht zu werden, ist österlich erschlossen und kann ohne Ostern nicht bestehen, wobei das Osterereignis keineswegs unmittelbar mit dem Kreuzesgeschehen gleichzusetzen ist. Ist die Differenz von Kreuz und Auferstehung im Personale Koinzidenz vierten Evangelium zwar nicht in der Weise akzenvon Erniedrigung und tuiert wie bei den Synoptikern, so duldet es doch Erhöhung keinen Zweifel, dass Johannes zwischen beiden unterscheidet, sofern auch nach seinem Zeugnis nicht der tote, sondern der österlich lebendige Jesus den leibhaftigen Grund und personalen Inhalt christlichen Geistzeugnisses bildet. Von einer Verflüchtigung des österlichen Ereignisses der Erhöhung des am Kreuz Erniedrigten in ein kerygmatischpneumatisches Glaubensgeschehen kann ebenso wenig die Rede sein wie bei den Synoptikern. Nachdrücklicher als diese hebt das johanneische Osterzeugnis neben der Faktizität der Auferweckung des Gekreuzigten durch Gott, die selbstverständlich vorausgesetzt wird, die von den Synoptikern durchaus geteilte Tatsache hervor, dass der von Gott auferweckte Gekreuzigte als er selbst auferstanden ist. In der Person des auferstandenen Gekreuzigten koinzidieren daher Erniedrigung und

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Erhöhung zu jener Identität, die das geisterschlossene Wesen Jesu Christi als Sohn des Vaters ausmacht. Als schöpferisches Handeln Gottes am toten und ins Grab versenkten Jesus ist Ostern reine Tat, aber eine Tat, deren Aktion durch die Passion des Gekreuzigten nicht unberührt bleibt, sondern durch diese im Innersten ihrer selbst affiziert ist. Gottes österliche Tat besteht im Akt seiner Selbstidentifikation mit dem Gekreuzigten. Als der von Gott Erweckte und als er selbst Erstandene gehört der gekreuzigte Jesus von Nazareth der Gottheit Gottes in der Kraft des lebendigen und lebensschaffenden Geistes unveräußerlich und von Ewigkeit zu Ewigkeit an. Die Alte Kirche hat von diesem österlichen Grundsatz her sowohl das Dogma von der Trinität, nämlich von dem einen Wesen Gottes und den drei göttlichen Personen, als auch das christologische Dogma von der personalen Einheit göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus formuliert. Beide Dogmen finden im Neuen Testament zwar nicht in expliziter Weise, doch durchaus implizit und der Sache nach ihren Grund. Die personale Einheit des österlich Erstandenen mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth, welche das christologische Dogma der Alten Kirche auf seine Weise bedenkt, wird von den Evangelien bereits durch ihre literarische Form und dann auch inhaltlich durchweg bestätigt. Das irdische Leben Jesu wird in ihnen so vorstellig, wie der erstandene Gekreuzigte es österlich zeigt. Dadurch wird die historische Tatsächlichkeit des irdischen Jesus keineswegs marginalisiert, sondern im Gegenteil vermöge österlicher Transfinalisierung so wahrgenommen, wie sie in Wahrheit ist und von Anbeginn war, um an Ostern erschlossen zu werden: als Wirk­zeichen der Menschlichkeit Gottes, dessen Logos in Jesus Christus tatsächlich Mensch geworden ist. Die Selbstidentifikation Gottes mit dem Gekreuzigten ist der Erschließungsgrund der Inkarnation des göttlichen Logos, die Ostern zur impliziten Voraussetzung hat. Im auferstandenen Gekreuzigten ist der inkarnierte Logos vollendet manifest. Erst von Ostern her können schließlich auch Menschwerdung und Kreuz zusammengedacht und das Leiden und Sterben Jesu als ein göttliches Heilsgeschehen uns zugute begriffen werden. Der soteriologische Für-Bezug, der dem Kreuz eignet, ist in der Proexistenz des Irdischen präfiguriert, die sein gesamtes Dasein kennzeichnet. Mit der Proexistenz des irdischen Jesus ist auch dessen Selbsthingabe am Kreuz, wie sie in der Konsequenz seiner Proexistenz lag, österlich verewigt in Gott. Als derjenige, welcher für uns da war und gestorben ist für uns, zeigt sich der auferstandene Gekreuzigte an Ostern. In seiner Auferstehungswirklichkeit sind all seine Worte und Werke, seine Person und Geschichte an sich selbst und für uns lebendig präsent. Das Gottesverhältnis, das Selbstverhältnis und das Verhältnis Jesu zu Mitmensch und Welt sind österlich als Momente des Verhältnisses manifest, in welchem der dreieinige Gott zu sich selbst steht. Im auferstandenen Gekreuzigten ist sonach das Leben Gottes selbst offenbar und zwar als ein solches, das kreatürliches Leben schafft, erhält und durch des Todes Tod und der Sünde Behebung, wie sie am Kreuz Jesu statthat, erlöst und mit sich versöhnt. Gott selbst war in der

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äußersten Niedrigkeit Jesu, die seiner Erhöhung voranging, um das heillose Dunkel heilsam zu erhellen. Darin besteht die Wirklichkeit Osterns und des österlichen Glaubens im Wesentlichen, wobei hinzuzufügen ist, dass Jesu Sein bei Gott, wie sie die Geschichte der Himmelfahrt als seine Erhöhung zur Rechten des Vaters zum Ausdruck bringt, zugleich sein Sein bei uns ist. Der zu Gott erhöhte und vollendet verklärte Gekreuzigte ist universal entschränkt, um in den Worten und Zeichen seiner Stiftung überall und zu aller Zeit da zu sein für uns.

4. Logoschristologie und trinitarische theologia crucis Lit.: J. Baur, Die Trinitätslehre als Summe des Evangeliums, in: ders., Einsicht und Glaube. Aufsätze, Göttingen 1978, 112–121. – M. Bauschke, Der Sohn Marias. Jesus im Koran, Darmstadt 2013. – C.-W. Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, München 1997. – J. Ehmann, Luther, Türken und Islam. Eine Untersuchung zum Türken- und Islambild Martin Luthers (1515–1546), Gütersloh 2008. – Th. Hainthaler, Arabisches Christentum vor dem Islam, in: ThG 56 (2013), 15–29. – Th. Kaufmann, Kontinuitäten und Transformationen im okzidentalen Islambild des 15. und 16. Jahrhunderts, in: L. Gall / D. Willoweit (Hg.), Judaism, Christianity, and Islam in the Course of History: Exchange and Conflicts, München 2011, 287–306. – A. Neuwirth, Eine „europäische Lektüre des Koran“ – Koranwissenschaft in der Tradition der Wissenschaft des Judentums, in: dies./G. Stock, Europa im Nahen Osten – der Nahe Osten in Europa, Berlin 2010, 107–129. – R. Paret, Der Koran. Kommentar und Konkordanz, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 21977. – Ders., Mohammed und der Koran. Geschichte und Verkündigung des arabischen Propheten, Stuttgart 102008. – K. Rahner, Bemerkungen zum dogmatischen Traktat „De Trinitate“, in: ders., Schriften zur Theologie. Bd. IV. Neuere Schriften, Einsiedeln / Zürich / Köln 21961, 103–133. – Ricoldus de Montecrucis, Cunfutatio Alcoranis (1300). Martin Luther, Verlegung des Alcoran (1542). Kommentierte lateinisch-deutsche Textausgabe von J. Ehmann, Würzburg-Altenberge 1999. – G. Wenz, „Das ist mein Glaube …“ (WA 26, 509, 19). Luthers Großes Bekenntnis von 1528 (WA 26, 499– 509), in: ders., Lutherische Identität. Studien zum Erbe der Wittenberger Reformation. Bd. 1, Hannover 2000, 9–34.

Weder die neutestamentlichen noch gar die alttestamentlichen Schriften enthalten eine explizite Lehre von der göttlichen Dreieinigkeit. Doch nötigten die Aussagen, die das Neue Testament über das Verhältnis von Jesus Christus zu Gott und seinem Geist auf dem Hintergrund jüdischer Messianologie und zeitgenössischer Logosvorstellungen machte, zu Reflexionen, in deren folgerichtiger Konsequenz es zur Entstehung der Trinitätslehre kommen musste. Den direkten Ausgangspunkt trinitarischer Lehrformeln bot zumeist der biblische Taufbefehl Mt 28,19 und die Bezugnahme auf den „Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ im Konstitutionsakt des Christseins. Als innerer Bestimmungsgrund trinitarischer Reflexionen darf insbesondere die eigentümliche Personbeziehung gelten, die nach neutestamentlichem Zeugnis Jesus und Gott zur Vater-Sohn-Einheit verbindet. Damit die personale Relationseinheit gedanklich erfasst werde, die das Verhältnis des irdischen Jesus zu seinem göttlichen Vater prägte, um nach seinem Kreuzestod in österlicher Vollendung in Erscheinung zu treten, mussten theologische Erwägungen angestellt werden mit dem Ziel, die personale Beziehung zwischen Jesus und Gott als eine Relation zu verstehen, die in der Gottheit Gottes selbst ihren

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Grund hat. Wäre das Jesus-Gott-Verhältnis doch nur äußerlich wahrgenommen, wenn es nicht auf ein innergöttliches, zur Gottheit Gottes unveräußerlich gehörendes Verhältnis zurückgeführt würde. Um Art, Modus und Reichweite einer solchen Rückführung zu klären, bedurfte es erheblicher Begriffsanstrengungen. Zunächst galt es Fehlbestimmungen abzuwehren. Weder durfte das Verhältnis Jesu Christi zu Gott noch dasjenige, in dem Jesus als Christus zu sich selbst steht, als vermittlungslos unmittelbares in Anschlag gebracht werden, sollte den biblischen Befunden Rechnung getragen werden. Dem christologisch-theologischen Realisierungszusammenhang, welchen das Neue Testament bezeugt, ließ sich gedanklich nur durch ein in sich differenziertes Relationsgefüge Geltung verschaffen, das sowohl die Differenziertheit der Personeinheit Jesu Christi als auch die Differenziertheit der Zugehörigkeit der Person Jesu Christi zur Gottheit des einen Gottes angemessen zum Ausdruck brachte. Das christologisch-trinitarische Dogma der Alten Christologisch-trinita­ Kirche ist das Ergebnis des langdauernden und mit risches Dogma erheblichem Streit verbundenen Bemühens, die skizzierte Aufgabe zu bewältigen. Dass dabei pneumatologische Aspekte nicht unberücksichtigt bleiben durften, war zeitig klar, obschon die theologische Diskussion um die Stellung des Geistes erst verhältnismäßig spät zu klaren Ergebnissen führte. Die Dogmatisierung der Gottheit des von Vater und Sohn unterschiedenen und zugleich wesentlich mit ihnen vereinten Geistes konnte gegen den anhaltenden Widerstand der sog. Pneumatomachen erst 381 durchgesetzt werden. Auch dieser Entwicklung wird man ihr biblisches Recht nicht bestreiten können. Sowohl die johanneischen Parakletensprüche, die Identifikation Gottes als Geist in Joh 4,23 f. oder die paulinischen Aussagen in 1. Kor 2,10–16 und 2. Kor 3,17a als auch die neutestamentlichen Zeugnisse von der pfingstlichen Geistsendung und der Gemeinde als dem pneumatischen Leib Christi erforderten es, sich gedankliche Klarheit über den theologischen Status des Geistes und über sein Verhältnis zur Vater-Sohn-Beziehung zu verschaffen. Wie die Erscheinungen des auferstandenen Gekreuzigten die wesentliche Zugehörigkeit Jesu Christi zur Gottheit Gottes offenbar werden ließen, so veranlassten die Wirkungen des Heiligen Geistes, die Anteil gaben an der österlich manifesten Vater-Sohn-Gemeinschaft, mit innerer Notwendigkeit dazu, die Wirklichkeit des Geistes theologisch zu begründen und die pneumatologisch eröffnete Beziehung auf ein innergöttliches Verhältnis zurückzuführen. Selbst der Tatsache, dass die pneumatologische Dimension der Trinitätslehre erst nach Wahrnehmung der christologischen entsprechende Reflexionsgestalt annahm, wird man ein theologisches Wahrheitsmoment nicht gänzlich bestreiten können, insofern der Geist zwar einerseits über die bloße Kenntnisnahme der irdischen Erscheinung Jesu himmelweit hinausführt und insofern als Möglichkeitsbedingung der Christologie fungiert, aber doch andererseits nicht mehr und nichts anderes als dasjenige erschließt, was im auferstandenen Gekreuzigten beschlossen ist. Es ist der Mittler selbst, welchen der Geist vermittelt, um Anteil zu geben an der in ihm offenbaren Vater-Sohn-Gemein-

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schaft. Ohne den göttlichen Geist wäre der gekreuzigte Jesus nicht, was er ist, nämlich der erhöhte Christus. Doch behält sich der Geist nichts vor, was er nicht mit dem auferstandenen Gekreuzigten verbinden würde, welcher alles, was er mit dem Vater gemeinsam hat, im Geist und durch ihn den Seinen zu geben gewillt ist. Gott Vater, Gott Sohn und Gott Hl. Geist – ein göttliches Wesen, drei göttliche Hypostasen: das in Ein Wesen, Nizäa 325 und Konstantinopel 381 definierte tri- drei Hypostasen nitarische Dogma der Alten Kirche stellt, indem es verbindliche Aussagen über die göttliche Dreieinigkeit resp. den dreieinigen Gott macht, vor die Aufgabe, die Einheit Gottes und den Unterschied, der unbeschadet ihrer wesentlichen Einheit zwischen den göttlichen Hypostasen waltet, gedanklich gleichermaßen zu achten. Diese Aufgabe wurde anfangs dadurch erschwert, dass die griechischen Begriffe ousia und hypostasis promiscue gebraucht und zur Bezeichnung bald der wesentlichen Einheit Gottes, bald der unterschiedenen Personen des göttlichen Wesens verwendet wurden, wie das noch im nizänischen Glaubensbekenntnis der Fall war. Erst die großen kappadozischen Theologen reservierten den Ausdruck ousia als Terminus für die Einheit des göttlichen Wesens, denjenigen der hypostasis als Bezeichnung der drei Personen Gottes. Im lateinischen Abendland gab man ousia in der Regel durch essentia wieder, gebrauchte aber auch substantia als Begriff der Einheit des göttlichen Wesens, was eigentlich dem griechischen hypostasis entsprach. Zur Bezeichnung der trinitarischen Hypostasen wählte man den persona-Begriff, der einen Anhalt am griechischen Terminus prosopon hatte, welcher trotz der modalistischen Assoziationen, die sich mit ihm verbinden konnten, noch längere Zeit neben dem Hypostasenbegriff als Bezeichnung der trinitas in der göttlichen unitas in Gebrauch war. Konkret unterschieden wurden die drei göttlichen Personen, deren Wesen als Einheit zu denken war, durch Eigentümlichkeiten, die ihr differenziertes Verhältnis zueinander bestimmten, nämlich Ungezeugtsein als Proprietät des Vaters, Gezeugtsein als diejenige des Sohnes sowie Ausgang als Eigentümlichkeit des Hl. Geistes. Nicht nur sollten Wesenseinheit und jene Differenz, die durch den Hypostasenbegriff im Unterschied zum Wesensbegriff gesetzt war, als identisch und different zugleich gedacht werden. Zu denken aufgegeben war auch, die ihre Indifferenzierung ausschließende Unterscheidung der trinitarischen Personen durch Eigentümlichkeiten, die ihnen nicht gemeinsam sind, mit der Gemeinsamkeit ihres einen Wesens zu vereinen. Dazu reicht es nicht hin, die Gedankenformel einer Identität von Identität und Differenz aufzustellen, weil diese nur den durch die Differenz von Wesen Gottes und göttlichen Hypostasen gesetzten Unterschied in sich aufzuheben, nicht aber der Tatsache Rechnung zu tragen vermag, dass die hypostatische Differenz als eine in sich differenzierte zu denken ist, die durch die von den Eigentümlichkeiten der Hypostasen – also durch ewiges Ungezeugtsein, ewiges Gezeugtsein und ewigen Ausgang – charakterisierte Sequenz bestimmt wird. Die Identität von Identität und Differenz, die im Zusammenhang von unitas Dei und göttlicher Trinität statthat, ist mit einem zwar nicht zeitlichen, aber ewigen Ur-

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sprungs- und Folgezusammenhang zusammenzudenken, der die göttlichen Hypos­ tasen in ihrem Verhältnis zueinander kennzeichnet. Trifft dies zu, dann genügt es nicht, den Gedanken der unitas in trinitate und denjenigen der trinitas in unitate als unmittelbare Identität von Einheit und Verschiedenheit zu denken, es muss vielmehr zugleich und in Differenzeinheit mit diesem Gedanken der Gedanke einer Differenz von Einheit und Verschiedenheit gedacht werden, der die Sequenz in sich bewahrt, die zwischen den göttlichen Hypostasen waltet und ihren konstitutiven Unterschied voneinander ausmacht, welcher unbeschadet nicht nur, sondern in ihrer wesenhaften Einheit besteht. Fragt man, warum sich diese trinitätstheologische Notwendigkeit einstellt, dann kann die Antwort nur in dem Hinweis bestehen, dass ohne Reflex auf die göttliche Ökonomie vom dreieinigen Gott nicht angemessen die Rede sein kann. Dass die Trinitätslehre in einem konstitutiven Bezug Immanente und ökonozur Heilsgeschichte steht, deren gottmenschlichen mische Trinität Sinngehalt sie bedenkt, ist traditionsgeschichtlich evident und sachlich insofern offenkundig, als die Rede von Vater, Sohn und Geist ihren Ursprung und dauerhaften Bezugspunkt erkenntlich in heilsökonomischen Zusammenhängen hat. Auch wird man schwerlich leugnen können, dass in diesem Zusammenhang der Erscheinung Jesu Christi als des auferstandenen Gekreuzigten eine besondere Stellung zukommt, unter Absehung von welcher die heilsgeschichtliche Ordnung von Schöpfung, Versöhnung und Vollendung sich nicht erschließen würde, wie sie von Vater, Sohn und Geist in gemeinsamer, aber doch je eigentümlicher Weise bestimmt wird. Der Entwicklungsgang der Theologie, welche die Heilsgeschichte bedenkt, enthält zweifellos einen Fortschritt von der Protologie hin zur Eschatologie, der in der göttlichen Ökonomie selbst ihren Grund hat. Aber dieser Fortschritt lässt sich herkunftsbewusst und zielorientiert nur wahrnehmen, wenn alle Aufmerksamkeit ungeteilt auf den Anfänger und Vollender des christlichen Glaubens gerichtet wird. Christozentrik und Wahrnehmung der Weite des heilsgeschichtlichen Horizonts schließen sich nicht aus, sondern bedingen sich im Gegenteil wechselseitig. Der Kanon des Alten und des Neuen Testaments, dessen Genese den pneumatologischen Prozess reflektiert, welcher die christliche Kirche konstituiert, gibt einen Beleg hierfür und weist zugleich der christlichen Trinitätslehre die Richtung, die sie zu nehmen hatte und die auch ihre diversen Auslegungen beizubehalten haben, sollen sie als konstruktiv angesehen werden. Die neutestamentlichen Zeugen hatten nicht die Absicht, in abstrakte Gedankenspekulationen über die Absolutheit des göttlichen Wesens und seine Binnenverfassung einzutreten; sie wollten vielmehr demjenigen, was ihrem Glauben in Jesus Christus als dem Messias der Juden und Christus der Heiden offenbar geworden war, im Zusammenhang der Überlieferungen des jüdischen Monotheismus konkreten Ausdruck verleihen. Ohne die monotheistische Voraussetzung zu verstellen, sollte das in Jesus Christus bereitete Heil für Menschheit und Welt dergestalt bezeugt werden, dass es als von Gott in der Kraft seines Geistes selbst erschlossen

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erkennbar wird. Die gesamte Entwicklungsgeschichte der kirchlichen Dreieinigkeitslehre samt ihrem Resultat ist entscheidend von diesem Faktor bestimmt. Das innere Leben Gottes lässt sich von der Wirklichkeit seiner heilsgeschichtlichen Offenbarung zwar unterscheiden, nicht aber trennen. Ökonomische und immanente Trinitätslehre stehen in einem differenzierten Zusammenhang, der Separierungen ebensowenig erlaubt wie indifferenzierende Gleichschaltungen. Nach einer von Karl Rahner geprägten Ultrakurzformel der Trinitätstheolo­ gie ist die sog. ökonomische Trinität die immanente und umgekehrt (vgl. Rahner, 123 ff.). Diese Formel hat ihre Richtigkeit, sofern sie besagt, dass Gott an sich selbst kein anderer ist als in seiner heilsgeschichtlichen Offenbarung. Indes dürfen nötige Differenzierungen nicht gleichschaltend unterschlagen werden. Sie sind unter mehrfachen Aspekten geltend zu machen: Was das Verhältnis von ökonomischer und immanenter Trinität betrifft, so muss klargestellt werden, dass der in seiner Offenbarung sich entsprechende Gott selbst als der Grund dieser Entsprechung fungiert. Für die ökonomische Erkenntnis bedeutet dies, dass sie allein in Gott und nirgend sonst die Bedingung ihrer Möglichkeit findet. Gott wird nur aus Gott und aus seiner Offenbarung heraus erkannt. Die Theologie hat also, gerade wenn sie mit einer Entsprechung zwischen göttlicher Ökonomie und Immanenz Gottes rechnet, die unergründliche Faktizität der Offenbarung ebenso zu achten, wie das unvordenkliche Geheimnis Gottes, das sich in ihr erschließt. Durch die christologische Konzentration, die unbeschadet der Differenziertheit göttlicher Heilsgeschichte für jede Form christlicher Theologie obligat ist, wird diese Notwendigkeit nicht außer Kraft gesetzt, sondern im Gegenteil bestätigt. Die Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus beseitigt nicht etwa das göttliche Geheimnis, sondern lässt es am Ort der Schöpfung, deren Ursprungsbestimmung durch Übel und Sünde verstellt ist, in der Kraft des Geistes als unergründliches Geheimnis erlösender und versöhnender Liebe offenbar werden. Die Gewissheit des Glaubens, welcher sich auf die Offenbarung des dreieinigen Gottes verlässt, ist daher mit einem Wissen um die Unergründlichkeit von deren Faktizität und mit dem beständigen Bewusstsein göttlichen Geheimnisses verbunden. Dieses Bewusstsein reflektiert sich u. a. in der dem Glauben nicht äußerlichen, sondern internen Differenzeinheit von protologischer Erinnerung und eschatologischer Erwartung, ohne welche aktuelle Glaubensgewissheit der Gegenwart des in Jesus Christus erschlossenen Geistes Gottes keinen Bestand hat. Die Trinitätslehre ist der Begriff der Unbegreif- Inbegriff der Unbegreiflichkeit des offenbaren Geheimnisses Gottes. Nur lichkeit Gottes wenn man ihre Bestimmung im Auge behält, das Geheimnis Gottes in seiner Offenbarung und damit den unergründlichen Grund des Glaubens gedanklich zu erschließen, kann man ihren Gehalt verstehen. Ansonsten ergeben sich bloß Ungereimtheiten und innere Widersprüche. Sie enden nur dann nicht in ausweglosen Aporien, wenn man die Trinitätslehre, statt sie an den Gesetzen der Verstandeslogik oder an den Regeln spekulativer Vernunft zu bemessen, dasjenige sein lässt, was sie ihrer Intention nach sein will: Denken des

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unvordenklichen und unausdenklichen Grundes allen Denkens, wie er in der Offenbarung Gottes manifest ist. Als Begriff des unbegreiflichen Ursprungs, Inbegriffs und Ziel allen Begreifens folgt die Trinitätslehre einer Logik, die alle Endlichkeitsschranken von Verstand und Vernunft transzendiert, ohne deshalb unverständlich oder vernunftwidrig zu sein. Gemäß kirchlicher Trinitätslehre findet der christliche Glaube offenbare Ur­ sache, Mitte und Ziel im wesenseinen Gott, der in drei Hypostasen subsistiert, die als einige Gottheit zu ehren sind. Eine andere Person ist Gott der Vater, eine andere der Sohn, eine andere der Hl. Geist. Doch sind nicht drei Götter, sondern es ist ein Gott. Jede göttliche Person ist ganz Gott und doch ist keine je für sich der ganze Gott, weil die trinitarischen Hypostasen wesenseinig verbunden sind und sich unbeschadet ihrer unaufhebbaren und eindeutig bestimmten hypostatischen Differenz wechselseitig perichoretisch durchdringen. Obwohl der Vater nicht der Sohn und der Geist, der Sohn nicht der Vater und der Geist und der Geist nicht der Vater und der Sohn ist, sind Vater, Sohn und Geist doch eines Wesens und ein Gott, so dass zu sagen ist: unter diesen drei Personen ist keine wesensmäßig vorrangig und keine wesensmäßig nachrangig, obwohl doch Gott Vater die erste, Gott Sohn die zweite und der Hl. Geist die dritte trinitarische Person nicht nur genannt werden muss, sondern tatsächlich ist. Wie lässt sich die trinitätstheologische Sequenz von Vater, Sohn und Geist, in welcher der hypostatische Unterschied der göttlichen Personen seine konkrete Gestalt hat, zusammendenken mit der wesentlichen Einheit Gottes, der einer ist und einziger Gott allein? Da nach Maßgabe ihrer hypostatischen Eigentümlichkeit der göttliche Sohn und der göttliche Geist qua generatio und processio in Gottvater ihren ewigen Ursprung haben, scheint es nahezuliegen, den Begriff des Vaters unmittelbar mit demjenigen der Einheit des göttlichen Wesens gleichzusetzen, wie dies in einigen ostkirchlichen Rezeptionsgestalten der nizänokonstantinopolitanischen Trinitätslehre der Fall zu sein scheint. Gleichwohl ist eine solche unmittelbare Gleichsetzung ebenso problematisch wie der gelegentlich im Westen begegnende Versuch, die Einheit Gottes unter abstraktem Verweis auf ein von den trinitarischen Personen abgehobenes göttliches Wesen begründen zu wollen. Beide Tendenzen laufen der inneren Logik der Trinitätslehre zuwider, wonach die ungeteilte Gottheit in verschiedenen göttlichen Personen zu denken ist, die in einem eindeutig gerichteten Sequenzverhältnis zueinander stehen. Die Trinitätslehre beansprucht, das offenbare Geheimnis Gottes zu bedenken, nicht aber zu beseitigen, um die eigene Einsicht an dessen Stelle zu setzen. Seinem Gehalt entsprechend ist der Gedanke des trinitarischen Gottes nur in Gestalt eines Denkens möglich, das offen ist für die Unvordenklichkeit seines Grundes. Trinitarisches Denken bedenkt die Unbegreiflichkeit Gottes, die gerade darin offenbar ist, dass Gott sich von sich aus zu begreifen gibt. Gott ist nicht verschlossen in sich selbst, sondern aufgeschlossen, um sich als Geheimnis zu offenbaren. Eben dies bedenkt die Trinitätslehre, und zwar nicht im Allgemeinen, sondern unter konkretem Bezug auf die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, wie sie im Geiste mani-

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fest ist. Ein ihr entsprechendes Denken wird sonach nicht mit dem Anspruch verbunden sein, den Glauben und das religiöse Gottesverhältnis, in welchem der Glaubende steht, theoretisch substituieren oder gnostisch überbieten zu wollen. Es wird vielmehr, wenn es denn ein theologisches, auf Gott ausgerichtetes Denken ist, der Unergründlichkeit des göttlichen Geheimnisses eingedenk sein und bleiben, zugleich aber den Glauben nicht vernunftloser Irrationalität anheimgeben, sondern ihn auf das ausgerichtet sein lassen, worauf er seinem Wesen nach ausgerichtet ist: auf Gott als den Inbegriff aller Wahrheit und den unausdenklichen Grund dessen, was vernünftigerweise Vernunft zu nennen ist. Die Trinitätslehre zielt auf die Vernunft des Glaubens und zugleich auf einen Glauben der Vernunft, ohne den diese nicht zu sein und zu bestehen vermag. Gott ist durch Jesus Christus in der Kraft des göttlichen Geistes als Geheimnis offenbar; aber er Gott ist Liebe ist als das Geheimnis offenbar, das er selbst ist. Der offenbare Gott ist Gott, wie er an sich selbst ist. Die Annahme hinter oder jenseits seiner Offenbarung stünde noch eine andere Wirklichkeit Gottes, liefe auf einen Widerspruch zur Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus hinaus, wie sie in der Kraft des HI. Geistes geschieht. Hat Gott in seiner Offenbarung nicht nur etwas von sich, sondern sich selbst als das Geheimnis offenbart, das er in seiner Gottheit ist, dann muss die in der Offenbarung erschlossene Wirklichkeit der ökonomischen Trinität auf differenzierte Weise eins sein mit der Realität, welche die sog. immanente Trinitätslehre zu bedenken hat. Das binnentrinitarische Leben Gottes bildet die Voraussetzung seiner Ökonomie und die Bedingung ihrer möglichen Erkenntnis. Doch gibt sich Gott in seiner ökonomischen Selbstoffenbarung nicht als ein anderer zu erkennen als der, welcher er in Wirklichkeit ist, sondern wirklich in seiner ewigen Eigenrealität. Die Gewissheit des Glaubens weiß darum. Sie weiß aber auch, dass all ihr Begreifen die Unbegreiflichkeit Gottes nicht auflöst, sondern bestätigt, damit zur Gewissheit gelange, was den Gehalt der christlichen Trinitätslehre als den Begriff der Unbegreiflichkeit Gottes im Tiefsten ausmacht: Gott ist nichts als reine Liebe. Das Sein Gottes, wie es in sich selber ist, ist kein anderes als das offenbare Sein Gottes. Gottes Gottheit transzendiert zwar seine Offenbarung, aber nicht um sich in einer der Offenbarung jenseitigen Transzendenz zu verschließen, sondern um sich als der unergründliche Grund der Offenbarung zu erweisen. Hat Gott sich in Jesus Christus in der Kraft seines Hl. Geistes wirklich offenbart, dann ist er an sich selbst von Ewigkeit her kein anderer als derjenige, der sich in seinem inkarnierten Sohn erschlossen hat, um seinen ihrer Sünde verfallenen und im Übel vergehenden Geschöpfen das Heil der Versöhnung und Vollendung zu bereiten. Die ökonomische und immanente Trinität stehen nicht nur nicht in Widerspruch zueinander, sondern in einem durch den offenbaren Gott selbst begründeten und erschlossenen Entsprechungsverhältnis. Mit der Annahme eines solchen Verhältnisses ist allerdings die Differenziertheit des Zusammenhangs von ökonomischer Trinität im Sinne der wirksamen Wirklichkeit Gottes des Vaters als des Schöpfers, Gottes des

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Sohnes als des Erlösers und Versöhners und Gottes des Hl. Geistes als des Vollenders, und der immanenten Trinität als der Wesenseinheit Gottes in drei göttlichen Hypostasen keineswegs bestritten. Ebensowenig führt die christologische Konzentration der ökonomischen Trinitätslehre, wie sie in der Regel für neuere westliche Ansätze kennzeichnend ist, eine Bestreitung der Komplexität der von der Protologie zur Eschatologie verlaufenden Heilsgeschichte mit sich. Die ökonomische Trinität ist die immanente und umgekehrt, wurde gesagt. Dieser Satz hat insofern, aber auch nur insofern seine Richtigkeit, als Gottes Gottheit und seine Ökonomie im auferstandenen Gekreuzigten koinzidieren, der als das offenbare Geheimnis Gottes zu gelten hat und von dem alle Aussagen über Gottes Heilsgeschichte und sein trinitarisches Wesen ihren Ausgang zu nehmen haben, weil er ihren Erschließungsgrund und ihr Sinnziel darstellt. Um die Zentralaspekte göttlicher Ökonomie ins Göttliche Ökonomie Auge zu fassen, welche die Tradition in der Regel mit den Begriffen der Schöpfung, der Versöhnung und der Vollendung beschrieben hat, so kann die christliche Schöpfungslehre als die Lehre vom göttlichen Konstitutions- und Erhaltungsgrund sowie vom Bestimmungsziel etc. alles Seienden auf heilsame Weise nicht unter Absehung von der Offenbarung in Jesus Christus entfaltet werden. Als der inkarnierte Logos, als welcher der Irdische an Ostern vorstellig wird, ist Jesus Christus der Mittler der Schöpfung, welche Gott der Vater in der Kraft seines Hl. Geistes ins Werk setzt. Am Kreuz des Irdischen hinwiederum, wie es im Lichte Osterns erscheint, werden Übel und Sünde in ihrem gottwidrigen Unwesen auf abgründige Weise erkenntlich. Dass gleichwohl nicht das Gericht des gerechten Gottes über den in sich widrigen Ungeist des Bösen das letzte Wort des Schöpfers über seine Kreatur ist, erschließt sich an Ostern am auferstandenen Gekreuzigten selbst, welcher in der Einheit seiner gottmenschlichen Person und seines gottmenschlichen Wirkens, wie der Hl. Geist sie bezeugt, als Gott der Versöhner und Erlöser zu bekennen ist, in welchem das Heil für Menschheit und Welt gründet, welches als Evangelium in Wort und Sakrament auf Glauben hin zu verkünden die vorrangige Bestimmung der Kirche ist. Sie entspricht dieser Bestimmung in der Gewissheit der Zukunft dessen, der gekommen ist, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Auch das eschatologische Lehrstück kommt ohne Christozentrik nicht aus, welche allerdings von Christomonismus jedweder Art entschieden abzuheben ist. Ist doch Jesus Christus, der auferstandene Gekreuzigte, Sohn und Offenbarer Gottes als die gottmenschliche Person, deren personale Wirklichkeit und Wirksamkeit nur aus einem trinitarischen Zusammenhang heraus und nur unter Voraussetzung dieses Zusammenhangs verstanden werden kann. Dies wird in der nötigen Klarheit spätestens dann deutlich, wenn die gebotene Christozentrik inhaltlich bestimmt wird. Die inhaltliche Bestimmung der trinitätstheologisch gebotenen Christozentrik kann allein in staurologischer Konzentration erfolgen. Dies ist keineswegs nur oder erst von reformatorischer Theologie, aber von ihr durch konsequente Rückbesinnung auf das neutestamentliche Zeugnis besonders deutlich erkannt worden. Das

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beste Beispiel hierfür bietet Luther. Trinitarisches Denken ist ohne theologia crucis nicht möglich und umgekehrt. Denn in seinem vollkommenen Liebeswesen für uns offenbar ist der dreieinige Gott nirgend anders als in der Gestalt des gekreuzigten Jesus von Nazareth, wie er österlich in der Kraft des göttlichen Geistes als Versöhner und Erlöser von Menschheit und Welt in Erscheinung tritt. Damit ist gesagt, dass der dreieinige Gott als deus pro nobis sub contrario crucis offenbar ist. Ver­ borgenheit gehört unveräußerlich zur göttlichen Offenbarung. Gott ist in der Menschenwelt im Verborgenen offenbar, nämlich in, mit und unter dem Zeichen des Kreuzes, in welchem sich das ganze Christentum zusammenfasst. Von der Verborgenheit Gottes in seiner Offenbarung, wie sie sub contrario, also im Zeichen des Verborgenheit Gottes Kreuzes statthat, ist zu unterscheiden, wenngleich und Selbstoffenbarung nicht zu trennen, was Luther absconditas dei in mai- sub contrario estate nennt. Über den Sinn dieser Unterscheidung zu befinden, gehört zu den wichtigsten, aber auch schwierigsten Aufgaben der Theologie. Um sie zu bewältigen, sind Zusatzdifferenzierungen in Betracht zu ziehen, die Luther mit der Unterscheidung der absconditas dei sub contrario crucis und der absconditas dei in maiestate verbindet. Die eine Abscondität Gottes nennt er diejenige des deus revelatus, der für uns in der Verborgenheit des Kreuzes heilsam offenbar geworden ist, die andere diejenige des deus nudus et non revelatus, dessen göttliches Wesen für uns nicht nur nicht offenbar, sondern verschlossen ist. Es ergibt sich ein aliter – aliter, das an die Grenzen des Fassbaren reicht, insofern es sich, wie es scheint, mit dem deus revelatus anders verhält als mit dem deus non revelatus, so dass von beiden ganz unterschiedlich, um nicht zu sagen: entgegengesetzt zu denken ist. Wie Luther in „De servo arbitrio“ sagt: „Aliter de Deo vel voluntate Dei nobis praedicata, revelata, oblata, culta, Et aliter de Deo non praedicato, non revelato, non oblato, non culto disputandum est. Quatenus … Deus sese abscondit et ignorari a nobis vult, nihil ad nos.“ (WA 18, 685) Formulierungen wie diese haben zu schwerwiegenden Interpretationsproblemen und zu Fragen Anlass gegeben, welche die innere Konsistenz der Theologie Luthers zweifelhaft machten. Trägt die Unterscheidung zwischen dem deus revelatus und dem deus absconditus nicht einen Gegensatz in den Gottesbegriff ein, der dessen Einheit auflöst, zu einem inneren Widerspruch und zuletzt zu einem dualistischen Gottesverständnis führt, das mit der Trinitätstheologie auch das gläubige Vertrauen auf Gottes ungeteilte Güte und Liebe zu destruieren droht? Steht der nichtoffenbare, der für uns verborgene und in der Majestät seiner Gottheit verschlossene deus absconditus in einem Ausschlussverhältnis zu dem in der Verborgenheit des Kreuzes Jesu Christi offenbaren deus pro nobis? Ist er nicht als Gott außer Christus ein ganz anderer Gott als der Gott in Christus? Hat er im Gegensatz zum deus pro nobis der Offenbarung als Gott wider uns zu gelten? Muss der unerschlossene deus absconditus in der Aseität seines majestätischen Allmachtswesens nicht gerade in der Perspektive der Offenbarung als ein Gott erscheinen, dessen Ungeheuerlichkeit derjenigen des Teufels zum Verwechseln ähnelt?

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Um sich von Anfragen dieser Art nicht zu abwegigen Interpretationsannahmen und zu Konsequenzen verleiten zu lassen, die in die Irre, ja in den Abgrund führen, ist als erstes zu bedenken, dass nach Luther die Rede von der absconditas dei nur dann christlich und christlicher Theologie gemäß ist, wenn sie unter allen Umständen und in jeder ihrer Gebrauchsweisen bezogen ist auf die Offenbarung Gottes in der österlichen Erscheinung des gekreuzigten Jesus von Nazareth. In seinem Kreuz ist Gott sub contrario offenbar. Auf die Abskondität des deus revelatus, der sich im Gekreuzigten verbirgt, um in der Kraft seines Geistes das österliche Heil für eine der Sünde verfallene Menschheit und vom Übel gezeichnete Welt zu offenbaren, ist daher die Rede von der Verborgenheit Gottes in jeder Hinsicht zu beziehen, wenn sie christusgemäß und christlich sein soll. Wird diese hermeneutische Regel beachtete, dann kann sich mit besagter Rede eine Reihe von sinnvollen Bedeutungen verbinden. Sie kann als ein Hinweis verstanden werden, dass Gottes Geheimnis in seiner heilsamen Selbsterschließung im auferstandenen Gekreuzigten nicht nur erhalten bleibt, sondern als absolutes Mysterium offenbar wird, so dass die Offenbarung die Abskondität der Gottheit Gottes nicht nur nicht beseitigt, sondern wahrt und zwar gerade als Offenbarung. Gott ist sub contrario crucis als das unausdenkliche Geheimnis der Liebe offenbar, das weder durch menschliche Theorie, noch durch menschliche Praxis, sondern nur durch Gott selbst erschlossen werden kann und in seinem göttlichen Erschlossensein nie aufhört, absolutes Mysterium zu sein. Die Trinitätslehre, so wurde wiederholt gesagt, ist der Begriff der Unbegreiflichkeit des offenbaren Gottes. Formaliter heißt dies, dass der Grundsatz trinitarischer Offenbarungstheologie, wonach Gott in seiner Offenbarung in Jesus Christus kraft des Hl. Geistes sich selbst erschließt, nicht den Status eines Prinzips von axiomatischer Notwendigkeit, sondern denjenigen eines Glaubenssatzes hat, der in Gottes treuer Bindung an seine Offenbarung keine Zwangsnotwendigkeit, sondern Gottes Freiheit am Werke sieht, die freilich das gerade Gegenteil arbiträrer Willkür darstellt. Der Offenbarungsglaube erkennt und anerkennt in diesem Sinne die Verborgenheit Gottes als die implizite Voraussetzung seiner Offenbarung. Diese beseitigt das Geheimnis Gottes nicht, sondern bringt seine Gottheit in ihrer Unvordenklichkeit zur Erkenntnis. Die Verborgenheit Gottes ist die förmliche Voraussetzung der Offenbarung. Sie ist dieser aber nicht nur formaliter, sondern materialiter insofern implizit, als sich Gottes Liebesgeheimnis sub contrario crucis offenbart. Um sich aus seiner Verborgenheit heraus zu erschließen, verbirgt sich Gott in der Ohnmacht des Gekreuzigten, um gerade so die Macht seiner Liebe zu erweisen, die jene Versöhnung schafft, von der das Evangelium der Rechtfertigung des Sünders kündet, dessen personaler Inbegriff der auferstandene Gekreuzigte ist. Die absconditas dei in cruce ist der entscheidende Skopus, auf den christliche Rede von der Verborgenheit Gottes auszurichten ist. Denn just in dieser Verborgenheit ist Gott heilsam und als derjenige offenbar, der Wirklichkeit und Werk seiner richtenden Gerechtigkeit zum opus alienum bestimmt, um das Liebeswerk der Rechtfertigung des Sünders als opus proprium zu verwirklichen. Auf diesen Zusammenhang ist die christliche Rede von

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der Verborgenheit Gottes im Sinne der absconditas dei in cruce und der göttlichen Offenbarung sub contrario vor allem auszurichten. Er ist grundlegend für die christliche Trinitätslehre und bindet diese und zwar gerade im Modus der Unterscheidung an den jüdischen Thoramonotheismus zurück. Nur wenn dies recht bedacht wird, kann ein weiterer Sinn christlicher Rede von der Verborgenheit Gottes erschlossen werden, nämlich derjenige, der sich auch der sog. natürlichen Theologie aufdrängt, wenn sie ihren metaphysischen Gottesbegriff mit den faktischen Weltzuständen ins Verhältnis zu setzen sucht. Wie immer man das Verhältnis des jüdischen Thoramonotheismus zu ontotheologischen Gottes- Offenbare Gerechtigkeit gedanken antiker Metaphysik zu bestimmen hat: Gottes Kennzeichnend für das jüdische Gottesverständnis ist nicht bereits die Annahme einer alles bestimmenden Wirklichkeit im Sinne einer prima causa, eines ens necessarium etc., sondern erst die Einsicht in die Gerechtigkeit des allmächtigen Gottes, wie sie durch die offenbare Gabe der Thora erschlossen ist. Der allmächtige Schöpfer Himmels und der Erde, so bezeugt es die jüdische Überlieferung, ist ein Gott der Gerechtigkeit, der seinen gerechten Willen in der Thora offenbart hat. Zwar ist der gerechte Gott in seiner Einzigkeit allmächtig, aber seine Allmacht ist von naturhafter Willkür, welche der pagane Knechtsgeist verehrt, kategorial zu unterscheiden, da sie im alleinigen Dienst seiner Gerechtigkeit steht. Widriges Geschick ist Juden und Heiden gleichermaßen zuwider. Aber der fromme Jude adressiert seine gegebenenfalls zur Anklage gesteigerte Klage nicht an fatale Schicksalsmächte und Gottheiten naturhafter Art, sondern an den Gott der Gerechtigkeit, dessen Wirklichkeit der irdischen Welt- und Selbsterfahrung zwar nicht selten als verborgen erscheint, ohne dass deshalb seine in der Thora offenbare Gerechtigkeit grundsätzlich in Zweifel zu ziehen wäre. Der jüdische Glaube weiß um die universale Allmacht Gottes ebenso wie um die allgemeinmenschliche Erfahrung göttlicher Verborgenheit in der Welt, die nicht immer als gut, sondern gelegentlich auch als höchst übel erscheint. Doch ist das Bestreben, das die jüdische Traditionsgeschichte bestimmt, eindeutig darauf ausgerichtet, auch dasjenige, was als sinnlos, ja als religiös sinnwidrig erfahren wird, auf den offenbaren Sinn zu beziehen, der in der Thora erschlossen wurde. Mag Gottes Wirken auch als widersprüchlich erfahren werden: dass die gerechte Weisung der Thora dem Willen und Wesen Gottes entspricht, bleibt gewiss. Mit einem dualistischen Widerstreit in Gott und einem kontradiktorischen Gegensatz zwischen Allmacht und Gerechtigkeit Gottes rechnet der jüdische Glaube nicht. Zwar ist die Gerechtigkeit Gottes unter den gegebenen Realitätsbedingungen, die durch Übel und durch die Bosheit der Sünde gezeichnet sind, noch nicht als alles bestimmende Wirklichkeit offenbar, so dass Gottes gerechte Allmacht als in bestimmter Weise verborgen zu gelten hat. Aber die Hoffnungsgewissheit des jüdischen Glaubens ist eindeutig auf den künftigen Allmachtserweis der in der Thora offenbaren Gerechtigkeit Gottes ausgerichtet. In der eschatologischen Zukunft des Reiches Gottes wird die Differenz zwischen göttlicher Gerechtigkeit und göttlicher Allmacht be-

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hoben und der gerechte Gott als allmächtig und der allmächtige Gott als vollkommene Gerechtigkeit erwiesen sein. Fragt man unter den Bedingungen jüdischer Religion nach der Ursache der Verborgenheit Gottes in der Welt, dann kann die Antwort hierauf nur durch Verweis auf die Sünde als den Widerspruch gegen die Gebote der Thora gegeben werden. Thorawidriges Verhalten verschuldet nicht nur die absconditas dei in mundo, sondern ist zugleich der Grund dafür, dass Gott seinen Menschengeschöpfen strafend begegnet und das opus alienum seines Zorns über die Ungerechtigkeit ausübt. Dass Gott sich unter der Strafe verbirgt, ist so gesehen eine Funktion der Offenbarung seiner Gerechtigkeit in der Thora, die mit dem antiken Verständnis von iustitia distributiva tendenziell konvergiert. Die Bedeutung der iustitia distributiva für den Gerechtigkeitsgedanken beschränkt sich nicht auf dasjenige, was man im Vertragsrecht Verteilungsgerechtigkeit nennt, um es auf die eine oder andere Weise von der Austauschgerechtigkeit, der iustitia commutativa, und sonstigen Gerechtigkeitsmodi zu unterscheiden (vgl. Canaris). Will man sich nicht die rechtspositivistische These aneignen, wonach Gerechtigkeit eine bloße Formel und ein Begriff ohne inhaltliche Bestimmtheit sei, dann wird man ein distributives Moment als für den Gerechtigkeitsgedanken in jeder seiner denkbaren Formen konstitutiv erachten müssen. Gerechtigkeit erfordert nicht nur angemessenes Verteilen, sondern ein genuines Urteilen, das zwischen Gut und Böse, gerecht und ungerecht scheidet. Als gutes Gebot Gottes ist das Gesetz, wie es in der Thora manifest und im Dekalog sowie im Doppelgebot der Liebe bündig zusammengefasst ist, als Manifestationsgestalt, ja als Selbstoffenbarung Gottes in der Einheit seines Willens und seines Wesens zu bekennen. Der Thoramonotheismus ist rechter Gottesglaube außerhalb und abgesehen von Jesus Christus, ja er ist vollendet in sich wie die Gerechtigkeit Gottes als in sich vollendet zu gelten hat. Der Gott Israels ist in seiner Einzigkeit wahrer Gott, und kein Gott ist außer ihm. Israels Gott aber ist gerecht und allem Ungerechten feind. Mag diese Feindschaft und sein Zorn über die Sünde auch ein opus alienum genannt werden, so gehört dieses doch dem opus proprium seiner Gerechtigkeit unveräußerlich zu. Hat diese Feststellung ihre Richtigkeit, dann kann das christliche Evangelium von der Rechtfertigung des ungerechten, gottlosen und gottwidrigen Sünders nur unter Voraussetzung der Behebung einer Differenz verkündigt werden, die als theologischer Gegensatz und als Widerstreit in Gott selbst ernst zu nehmen ist und durch keinen einsinnigen Offenbarungsbegriff und ebensowenig durch eine zum Prinzip verfestigte Trinitätslehre überbrückt werden kann. Die Rede von einer Offenbarung Gottes sub contrario gewinnt von hierher ihr eigentümliches Profil. Gott offenbart seine rechtfertigende Gerechtigkeit, indem er seine richtende unter dem Kreuz verbirgt, ja indem er sich im Gekreuzigten selbst an die Stelle des Sünders begibt, um dessen Rechtfertigung gratis zu betreiben. Die Rede von der absconditas dei erfüllt in Luthers Rechtfertigung im Theologie unterschiedliche Funktionen, wobei das Zeichen des Kreuzes um seiner Christusoffenbarung willen statthabende Sichverbergen Gottes im Zeichen des Kreuzes die

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wichtigste ist. Im Übrigen ist sie auch auf die, wenn man so will, allgemeine Gotteslehre bezogen und verweist auf die uneindeutige, ja zweideutige Stellung, welche Gott in ihr einnimmt. Gottes Gottheit ist omnipotent, und der Mensch begegnet ihr unausweichlich in allen Zusammenhängen seiner Selbst- und Welterfahrung. Aber die Gegenwart Gottes in der allgemeinen Selbst- und Welterfahrung des Menschen ist durch die Ambivalenz von Überall und Nirgendwo gekennzeichnet. Luther stellt eine cognitio Dei naturalis nicht in Abrede und leugnet die Möglichkeit einer metaphysischen Gotteslehre nicht. Gott ist auch unter heidnischen Bedingungen offenbar, aber auf eine dergestalt verborgene Weise, dass eine eindeutig heilsame Wahrnehmung seiner Gegenwart nicht zustande kommt. Die allgemeine Gotteslehre bestimmt im Verein mit der metaphysischen Philosophie das göttliche Wesen als prima causa, potentia absoluta, als alles bestimmende Wirklichkeit oder wie auch immer und trägt damit der Tatsache Rechnung, dass der Bezug auf einen fundierenden Grund von Selbst und Welt ein anthropologisches Universale darstellt, das auf die eine oder andere Weise zum Menschsein des Menschen in der Welt gehört. Die Gottesthematik ist von allgemeinmenschlicher Relevanz, wie Luthers Auslegung des ersten Gebots im Großen Katechismus beispielhaft bestätigt. Aber der Gott der Metaphysik oder der sog. allgemeinen Gotteslehre, in der sich das menschliche Streben nach Letztbegründung und Absolutheit theoretisch reflektiert, ist und bleibt eine uneindeutige Größe, deren Uneindeutigkeit eindeutig identifiziert werden muss, wenn sie nicht zweideutige Konsequenzen und Folgen zeitigen soll, die entweder in Hochmut oder in Verzweiflung enden. Wer nur um eine unbestimmte Allmacht weiß, dessen Selbst- und Welterfahrung ist haltlos hin- und hergerissen zwischen himmelhohem Jauchzen und tödlicher Betrübnis, welch letztere sich spätestens dann einstellt, wenn beispielsweise der Gedanke göttlicher Allverursachung mit sinnwidrigen Erfahrungen von Bosheit und Übel in Verbindung zu bringen ist. Wirkt Gott alles in allem, dann offenbar auch das Böse samt aller Übel mit der Folge, dass sein Wirken mit demjenigen des Teufels verwechselbar wird. Luthers Rede vom deus absconditus macht dies und damit eine Grenze namhaft, die der allgemeinen Gotteslehre gesetzt ist, ohne von ihr überschritten werden zu können. Überschritten werden kann die Grenze, die dem Gottesbegriff der Metaphysik und der allgemeinen Gotteslehre als Reflexionsgestalt einer Religiosität gesetzt ist, die als anthropologisches Universale gelten kann, nach Luther nur von Gott und seiner Selbstoffenbarung her, durch welche er aus der absoluten Verborgenheit in sich und aus der relativen Verborgenheit hervortritt, die seine Gegenwart in der allgemeinen Selbst- und Welterfahrung des Menschen umfängt, um sich als deus pro nobis zu erschließen. Nicht als ob die Abskondität Gottes durch seine Offenbarung beseitigt würde; sie bleibt als ein Moment in ihr erhalten, das durchaus den Charakter eines Spannungsmoments hat. Die Offenbarung Gottes löst das Rätsel nicht, das mit dem Faktum von Bosheit und Übel in der Welt des Menschen gesetzt ist, aber sie eröffnet die Möglichkeit eines Umgangs mit ihm, dem der Deus pro nobis und mit ihm der Sinn des Ganzen auch in Sinnlosigkeits- und Sinnwidrigkeitserfahrungen präsent und gewiss bleibt.

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Die Möglichkeit eines sinnvollen Umgangs mit demjenigen, was als sinnlos und sinnwidrig erscheint und als solches erfahren wird, ist durch Gottes Gebot und die Weisung der Thora erschlossen worden. Daran hält Luther als einem verbindlichen Zeugnis der Hl. Schrift unabdingbar fest. Erst im biblischen Zeugnis vom Gott­ Israels, der seinem Volk und mittels dessen der gesamten Menschenwelt seinen gerechten Willen offenbart hat, welcher seinem göttlichen Wesen entspricht, nimmt für den Reformator die Rede von Gott jene konkrete Gestalt an, ohne welche die Gotteslehre in vager Unbestimmtheit verbleiben müsste. Es ist der eine Gott universaler Gerechtigkeit, der als allmächtiger Schöpfer Himmels und der Erde zu bekennen ist. Mit diesem durch Gottes Selbsterschließung in der Thora ermöglichten Bekenntnis ist der Gottesgedanke jener Ambivalenz entnommen, in der er unter paganen Bedingungen begegnet, und einer konkreten Bestimmtheit zugeführt, die zwar, wie an biblischen Beispielen mannigfach zu belegen, die Spannung zwischen dem Gedanken göttlicher Allmacht und göttlicher Gerechtigkeit nicht einfachhin behebt, aber den Weg ihrer Lösung eindeutig anzeigt. Wer der göttlichen Weisung folgt, wird ans Ziel gelangen, wie steinig der Weg dorthin auch sein mag. Im Gesetz Israels ist Gott als er selbst offenbar. Die Thora ist der ewig gültige Ausdruck seines Willens, an den er sein Wesen bindet und den universal zu realisieren er seine göttliche Allmacht samt aller zugehörigen Attribute aufbietet. Von der offenbaren Gerechtigkeit Gottes ist daher auch sein für sich genommen ambivalent erscheinendes Allmachtswirken in den Blick zu nehmen, um einen Umgang mit den äußeren Widrigkeiten des Daseins zu bewerkstelligen, welcher der innersten Gewissheit jüdischen Glaubens gemäß ist. Der jüdische Glaube ist implizite Voraussetzung des christlichen und diesem unveräußerlich zugehörig. Für Luther stand dies als eine unbezweifelbare Wahrheit fest. Erst wo dies bedacht ist, wird man des tiefsten und abgründigsten Sinns seiner Rede vom deus absconditus und des Zusammenhangs gewahr, in welcher die Wendung von der absconditas Dei in maiestate zu derjenigen von der absconditas dei sub contrario crucis steht. Die Verborgenheit Gottes unter dem Kreuz Jesu Christi ist eine absconditas Dei absoluta. Der crucifixus ist die manifeste Gottverlassenheitsgestalt schlechthin, dem der Gott Israels nicht nur fern, sondern feind ist. Der gekreuzigte Sünderfreund ist dem Gott der Gerechtigkeit zuwider und Opfer eines Zorngerichts, in dem sich nicht weniger als das Recht göttlicher Gerechtigkeit selbst auswirkt. Von diesem Äußersten darf nicht abstrahiert werden, wenn konkret erfasst werden soll, was im Sinne Luthers Evangelium heißt. Was zwischen Kreuz und Auferstehung Jesu Christi statthat, kann nicht anders als ein Streit Gottes mit sich selbst verstanden werden. Über diesen göttlichen Widerstreit, in dem Gerechtigkeit und Gnadenliebe gegeneinander kämpfen, darf kein einsinniger Offenbarungsbegriff hinwegtäuschen, und er lässt sich trinitätstheologisch nur begreifen, wenn die Unbegreiflichkeit seines österlichen Ausgangs nicht unterschlagen, sondern glaubend bekannt wird. Der offenbare Grund der Rechtfertigung des Sünders, die das Evangelium auf Glauben hin zuspricht, ist ein unvordenkliches Ereignis und ein

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schlechterdings grenzwertiges Geschehen: nemo contra deum nisi deus ipse. Die Trinitätslehre ist die lehrhafte Form dieser Grenzaussage. Das Wort vom Kreuz führt an die Grenze des Sagbaren und redet von einem Unsäglichen, von Summe des Evangeliums dem man sich keinen Begriff machen kann: vom sinnlosen Übel sowohl als auch von der Sinnwidrigkeit des Bösen. Das Wort vom Kreuz bringt zur Sprache, was verstummen lässt: das Leid nicht nur, sondern die Sünde und ihre Schuld. Im Kreuz Jesu Christi erscheint Gott Mensch und Welt von Grund auf als entzogen und in einer Weise verborgen, die mit Abwesenheit zu umschreiben eine Verharmlosung wäre, weil sie die Form verheerenden Zugrunderichtens annimmt. Das Kreuz Jesu Christi ist Wirkzeichen göttlicher Sündenstrafe, wie sie der Gerechtigkeit Gottes entspricht. Dass es im Lichte Osterns zugleich über alles Vorhergehende hinaus als Sakrament göttlicher Gnade und Versöhnungslehre erscheint, ist ein unerforschliches Offenbarungswunder, das Luther zufolge nicht anders als dadurch geehrt und geachtet werden kann, dass man sich die im auferstandenen Gekreuzigten offenbare Liebe Gottes gratis geschenkt sein lässt, um sie um Christi willen durch Glauben zu empfangen. Der auferstandene Gekreuzigte als Grund christlichen Glaubens steht für beides: Für die absolute Entzogenheit jeder Möglichkeit des Sünders, sich vor der Gerechtigkeit Gottes selbst zu rechtfertigen, und für seine vollkommene Rechtfertigung im Glauben. Die Einsicht in das totus iniustus in me und das totus iustus in Christo ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, heilsame Reue und selbsttätige Werke der Liebe zu erbringen und in der Nachfolge Christi fortzuschreiten auf dem Weg zum eschatologischen Ziel, das Menschheit und Welt gesetzt ist. Luthers Soteriologie ist christologisch fundiert, seine Christologie staurologisch verfasst und auf das Kreuzesgeschehen konzentriert, ohne welches dem Reformator zufolge weder die Oster- und Pfingstereignisse noch die Wirklichkeit Gottes angemessen zu erfassen sind. Trinitätstheologie und theologia crucis bilden für ihn einen Zusammenhang mit dem auch die Lehre von der personalen Einheit Gottes und des Menschen in Jesus Christus in der vom göttlichen Geist erschlossenen Erscheinungsgestalt des auferstandenen Gekreuzigten ihren Skopus findet. Vom Evangelium, dessen Grund und personaler Inbegriff der auferstandene Gekreuzigte ist, lebt der christliche Glaube. Er ist, was er ist, durch Jesus Christus und den in ihm offenbaren dreieinigen Gott, der als deus pro nobis sich „uns allen selbs gantz und gar gegeben hat mit allem, das er ist und hat“ (WA 26, 505,38 f.). So hat es Luther in seinem Großen Bekenntnis von 1528 (vgl. WA 26, 499–509) bezeugt (vgl. Wenz, bes. 16 ff.), um zugleich deutlich zu machen, dass die mit dem christologischen Dogma und einer entsprechenden theologia crucis unveräußerlich verbundene Trinitätslehre für ihn „als Summe des Evangeliums“ (vgl. Baur) zu gelten hat. Als lehrmäßige Summe des im göttlichen Geist erschlossenen Evangeliums Jesu Christi ist die Trinitätstheologie für das Christentum unverzichtbar und gegen Bestreitungen von innen wie von außen her entschieden zu verteidigen. Ein Beispiel einschlägiger Externverteidigung bietet Luthers Verlegung, will heißen: Widerle-

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gung des Alcorans von 1542, die mehr oder minder kreativ die Confutatio Alcoranis des Ricoldus de Montecrucis von 1300 rezipiert, deren Text ihr zugrundeliegt, ohne buchstabengetreu wiedergegeben zu werden (vgl. Ricoldus). Luthers Ricoldus-Übersetzung, die „als flankierende publizistische Aktion zu Biblianders Koran-Ausgabe von 1542 zu interpretieren“ (Kaufmann, 299) ist, akzentuiert stärker noch als ihre Vorlage die inhaltlichen Gegensätze, die in Bezug auf die Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung, auf das Gesetzes-, Rechtfertigungsund Glaubensverständnis, die Regimentenlehre etc. sowie insbesondere in trinitätstheologisch-christologischer Hinsicht zwischen christlicher und muslimischer Tradition bestehen. Dabei kommt es nicht nur zu Überzeichnungen, sondern auch zu einer abwegigen Personalisierung des inhaltlichen Konflikts. Mohammed gilt Luther nicht nur als Inbegriff eines götzendienerischen Irrlehrers, sondern wird zugleich als Räuber, Frauenschänder und Mörder verunglimpft. Auch in inhaltlicher Hinsicht ist der Reformator nicht in der Lage, „eine kritische Rezeption der Tradition vorzunehmen. Die – notwendig begrenzte – islamkundliche Analyse zeigt nicht nur die polemische Zuspitzung, sondern auch die weitreichenden Missverständnisse schon des Ricoldus gegenüber islamischer Tradition überhaupt, von denen sich Luther nicht emanzipieren kann.“ (Ehmann, 190) Luthers Islambild ist alles andere als vorurteilsfrei und entscheidend durch die Türkenbedrohung seiner Zeit bestimmt. Die Türken, die pars pro toto für alle Muslime stehen, gelten ihm als ausgemachte Feinde des christlichen Glaubens, Gottes Zornes- und Zuchtrute, die als militärische Gegner legitim zu bekämpfen und als Feinde Christi dem endzeitlichen Untergang geweiht sind. Diese kämpferische Haltung ist für Luthers Stellung zum Islam von den Anfängen der Auseinandersetzung um 1515 bis hin zu den letzten Lebensjahren kennzeichnend. Ihre historische und theologische Entwicklung soll hier nicht weiter verfolgt und der Verweis auf die reformatorische Ricoldus-Rezeption lediglich zum Anlass genommen werden, unter einer aktuellen islamwissenschaftlichen Perspektive den Trinitätslehre und Christologie betreffenden Streit zwischen muslimischer und christlicher Tradition in den Blick zu nehmen, weil damit nachgerade die Thematik einer trinitarischen theologia crucis noch einmal eigens profiliert und konturiert zu werden verspricht. Die muslimische Theologie ist ein spätantikes ProMuslimische Kritik trinita­ dukt und in charakteristischer Opposition zum tririscher Kreuzestheologie nitarisch-christologischen Dogma entstanden. Mit dieser These machte die Islamwissenschaftlerin Angela Neuwirth über den engeren Bereich ihrer akademischen Disziplin hinaus von sich reden. Die islamische Religionsgeschichte beginnt ihr zufolge nicht erst mit dem um 570 in Mekka geborenen und am 8. Juni 632 in Medina gestorbenen Mohammed, weil der Koran keineswegs nur auf ihn bzw. auf göttliche Instruktionen zurückgehe, die allein ihm zuteil geworden seien, sondern das Resultat einer längeren, weit hinter den Propheten zurückreichenden Geschichte mündlicher Tradition darstelle. Form- und gattungsgeschichtlich betrachtet gebe sich der muslimische

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Kanon weniger als zu lesende Heilige Schrift, sondern als eine Heilige Rede zu verstehen, die zu rezipieren und im Sprechgesang vorzutragen sei. Bereits in ihren 1981 erschienenen „Studien zur Komposition der mekkanischen Suren“ hat Neuwirth durch akribische Reim- und Strukturanalysen der Koranverse, ihrer Wortakzentuierungen sowie der Bauelemente der Surenkomposition den Beweis für diese Annahme zu erbringen versucht. Worauf es primär ankomme, sei nicht der buchstäbliche Bestand des Koran, sondern das in ihm dokumentierte lebendige Wort als Ergebnis und Motivationsgrund des beständigen Gesprächs, das Allah mit seiner Gemeinde, dem ganzen muslimischen Volk, ja der Menschheit überhaupt zu führen gewillt sei. Das in der viva vox koranischer Rezitation manifeste menschengemäße Sprechen Gottes tritt Neuwirth zufolge sowohl an die Stelle des auf mosaischen Tafeln festgeschriebenen Gottesgesetzes als auch an die Stelle des Corpus Christi, dessen Hingabe am Kreuz durch Heilsmittel zeichenhaft-sakramental vergegenwärtigt werde (vgl. Neuwirth, 124). Wie immer man Neuwirths Vergleich von Judentum, Christentum und Islam theologisch zu beurteilen hat, historisch spricht einiges für ihre These, dass die Ursprünge des Korans demselben Kontext angehören, in welchem sich das rabbinische Judentum und das altkirchliche Christentum (vgl. Hainthaler) formiert und ausgebildet haben. Die „Debattenlandschaft der Spätantike“ (Neuwirth, 124; bei N. gesperrt) ist offenkundig auch für die muslimische Tradition prägend und bestimmend geworden. Als ein Beleg hierfür kann die Genese von Sure 112 gelten (vgl. Neuwirth, 125 ff.), in welcher das jüdische Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes konstruktiv aufgegriffen, die nizänokonstantinopolitanische Trinitätstheologie des Christentums hingegen dezidiert zurückgewiesen wird: „Sag: Er ist Gott, ein Einziger … Er hat weder gezeugt, noch ist er gezeugt worden. Und keiner ist ihm ebenbürtig.“ (Paret, Koran, 439) Von der muslimischen Verwerfung christlicher Trinitätstheologie als ten­denziell oder manifest polytheistisch war naturgemäß auch die christologische Lehre von der Inkarnation des Logos und der personalen Vereinigung göttlichen und menschlichen Wesens in Jesus Christus betroffen und das umso mehr, als die Rede von einem Leiden und Sterben des Sohnes Gottes unter den Bedingungen eines islamspezifischen Monotheismus als doppelter Widersinn erscheinen musste. Jesus gilt im Islam als einer der Propheten, nicht als inkarnierter Logos und Gottessohn. Die Lehre von der personalen Einheit göttlicher und menschlicher Natur im Gottmenschen wird trotz der Differenzierungen, die sie anbietet, abgelehnt, die Trinitätslehre als polytheistisch verworfen. Abgelehnt und verworfen wird auch die christliche Osterbotschaft von der Auferweckung des gekreuzigten Jesus von den Toten. Denn diese Botschaft setzt voraus, dass am Kreuz von Golgatha Jesus tatsächlich gestorben ist bzw. dass es tatsächlich Jesus war, der den Tod erlitten hat. Im Koran hingegen wird der Tod Jesu am Kreuz in Abrede gestellt. Ob die muslimische Tradition zu dieser Annahme von sich aus oder unter dem Einfluss von „Sektierer(n)“ (Paret, Mohammed, 15) unter den damaligen arabischen Christen kam, ist eine ebenso schwierige Frage wie diejenige der Auslegung

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von Sure 4,157, die im gegebenen Zusammenhang unter den zehn Dutzend Jesusversen im Koran von besonderer Bedeutung ist. Sie hat die Exegeten seit alters her vor besondere Herausforderungen gestellt. Dies ist u. a. durch die unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten bedingt, die der Vers bietet (vgl. u. a. Paret, Kommentar, 110). Die Grundaussage ist klar: „Aber sie haben ihn nicht getötet und (auch) nicht gekreuzigt.“ Die Rede ist von den Juden, die im vorhergehenden Satz mit der Behauptung zitiert werden, sie hätten Christus Jesus, den Sohn der Maria und Gesandten Gottes, zu Tode gebracht. Dies wird verneint und zwar eindeutig; Gott hat die Ermordung seines bevollmächtigten Botschafters (rasūl Allāh) verhindert und nicht zugelassen, dass er zum Opfer seiner Feinde wurde. Sein Kreuzestod wird dezidiert verneint (vgl. auch Sure 5,110). Weniger klar wird, wie man die göttliche Intervention und die auf die Verneinung der Tötung und Kreuzigung Jesu folgende Wendung zu verstehen hat: „wa-lākin shubbiha lahum“ (Sure 4,157). Das Perfekt Passiv des arabischen Verbs shabaha, „das im Koran nur an dieser einen Stelle in der zweiten Stammform vorkommt“ (Bauschke, 119), „kann sowohl ‚ähnlich machen‘ als auch ‚scheinbar, unklar, zweifelhaft sein lassen‘ bedeuten“ (ebd.). Bezieht man es, wie „von den zeitgenössischen Exegeten jedweder Provenienz“ (Bauschke, 120) bevorzugt, primär nicht auf Gott als mögliches Wirksubjekt, sondern auf den von den Juden behaupteten, vom Koran verneinten Vorgang der Tötung bzw. Kreuzigung Jesu, dann ergeben sich zwei Übersetzungsmöglichkeiten. Nach der ersten Übersetzungsmöglichkeit kam es den Juden lediglich vor, als hätten sie Jesus gekreuKein Kreuzestod Jesu zigt und getötet, ohne dass dies in Wirklichkeit der Fall war. Es schien ihnen nur so, wobei unentschieden bleiben kann, ob sie den falschen Schein durch eigene Verblendung selber hervorriefen oder ob der Anschein für sie durch Gottes Tätigkeit eigens erweckt wurde. Gemäß einer zweiten möglichen Übersetzung erfolgte besagter Tod nicht scheinbar, sondern real, aber dergestalt, dass er nicht Jesus, sondern einen anderen betraf, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah. Auch hier kann offen bleiben, ob die Verwechslung unmittelbar durch die Tötungswilligen hervorgerufen oder mittels eines besonderen Eingriffs Gottes veranlasst wurde. In jedem Fall ist es nicht Jesus selbst, sondern ein ihm äußerlich vergleichbarer Anderer, über dessen Eigenidentität nichts Näheres auszumachen ist, der als Ersatzmann bzw. Doppelgänger (arab. al-shabah) stellvertretend und an seiner statt den Tod (am Kreuz) erlitten hat. Die eine Übersetzungsvariante läuft also auf eine Illusions-, die andere auf eine Substitutionstheorie hinaus (vgl. Bauschke, 120). Unstrittig vorausgesetzt ist für beide Theorien, dass Jesus als Jesus, also als der, welcher er unverwechselbar selber ist, nicht getötet, nicht ge­ kreuzigt worden ist. Nach Maßgabe des Korans ist es nicht etwa nur ungewiss, ob Jesus getötet worden ist, sondern vielmehr gewiss, dass er am Karfreitag den Tod nicht erlitten hat. „Nein, Gott hat ihn zu sich erhoben“ (Sure 4,158) und zwar, wie man hinzufügen darf, nicht nach seinem Tod in Form österlicher Auferweckung, sondern zu seinen

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irdischen Lebzeiten, nämlich als einen, der vorher nicht gestorben ist. Was mit Erhebung genau gemeint ist, ob eine Entrückung in den Himmel oder ein weniger weit reichendes Errettungsgeschehen, bleibt unklar. Mit unmissverständlicher Klarheit hingegen wird ausgesprochen, dass Jesus von Gott vor dem Kreuzestod bewahrt worden ist. Dass aus der Verneinung des Kreuzestodes die Leugnung seiner Heilsbedeutung folgt, versteht sich von selbst. Indes gibt es gute Gründe für die Vermutung, dass die Leugnung einer auf das Kreuz bezogenen Soteriologie nicht das Ursprungsmotiv darstellt, die Tatsächlichkeit der Tötung Jesu in Abrede zu stellen. Der primäre Beweggrund hierfür dürfte eher in der Annahme zu suchen sein, dass die menschliche Tat der Hinrichtung eines von Gott bevollmächtigten Gesandten vom Range Jesu als im Widerspruch zur göttlichen Allmacht und Gerechtigkeit stehend empfunden und deshalb verneint wurde. Auch ist zweifelhaft, ob für Sure 4,157 überhaupt schon irgendeine Kenntnis christlicher Heilsdeutungen des Kreuzestodes Jesu vorausgesetzt werden darf. Gott hat seinen Gesandten Jesus aus Gründen seiner Allmacht und Gerechtigkeit nicht am Kreuz sterben lassen, sondern seine Tötung verhindert. Wie immer man sich die göttliche Intervention vorzustellen hat, ob als himmlische Entrückung oder anderweitige Entziehung vor menschlichem Zugriff: sie bewirkt eine einmalige, aber keine prinzipielle Bewahrung Jesu vor dem Sterbensgeschick. Als gottunterschiedener Mensch ist Jesus wie alle anderen Menschengeschöpfe – Mohammed eingeschlossen – sterblich. Dass jeder Sterbliche tatsächlich sterben muss, folgt daraus zwar nicht zwingend, da für die göttliche Allmacht die grundsätzliche Möglichkeit besteht, die Sterbensnotwendigkeit einzuschränken und um ihre Zwangsläufigkeit zu bringen. Doch spricht der Koran nicht nur in unbestimmter Weise von der Sterblichkeit Jesu, sondern an einigen Stellen auch bestimmt von seinem Tod, wenngleich sich zu dessen Umständen keine näheren Angaben finden und im Übrigen uneindeutig bleibt, was unter Tod im Falle Jesu genau zu verstehen ist: ein regelrechtes Sterben im Sinne gänzlichen Dahinscheidens, so dass es einer unmittelbaren schöpferischen Tat Gottes bedarf, den Toten zu neuem Leben zu führen; ein Hinwegnehmen nach Weise einer Entrückung ohne vorhergehendes Ableben; eine befristete Entschlafung, aus der der Entschlafene nach vorgesehener Zeit mehr oder minder von selbst wieder erwacht und so fort. Es ist schwierig zu sagen, was im Koran an den wenigen Stellen genau gemeint ist, wo vom Tode Jesu (niemals hingegen von seinem erfolgten Begräbnis) die Rede ist (vgl. neben Sure 4,159 bes. 3,55). Diese Schwierigkeit wird auch durch den Vorschlag klassischer Kommentare nur bedingt beseitigt, wonach der Tod Jesu in der Endzeit anzusetzen und zum impliziten Moment des eschatologischen Augenblicks allgemeinen Erscheinens aller Menschgeschöpfe zum Gericht zu erklären sei, so dass im jesuanischen Falle irdischer Tod und überirdisches Leben unmittelbar koinzidieren würden. Wie auch immer: Fest steht, dass Jesus nach Auffassung des Koran ein Sterblicher war, der die allgemeine Sterblichkeit des Menschengeschlechts teilte, aber nichtsdestoweniger ein besonderer Sterblicher, der, wenn er denn überhaupt je wirklich gestorben ist, was man eher anzunehmen als nicht anzunehmen

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hat, jedenfalls nicht am Kreuz von Golgatha gestorben und von Menschenhand getötet worden ist. Bleibt zu fragen, ob im Hinblick auf den KreuzesIllusions- bzw. tod, auf den Sure 4,157 Bezug nimmt, der IllusionsSubstitutionstheorie oder der Substitutionstheorie der interpretatorische Vorzug zu geben ist. Für die Substitutionstheorie spricht, wenn man so will, der empirische Augenschein. Am Kreuz wird erfahrungsgemäß gestorben. Wenn es also nicht Jesus war, der am Kreuz von Golgatha zu Tode kam, dann wird man unter der Voraussetzung, dass es sich bei jenem Ereignis um ein Geschehen an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit gehandelt hat, annehmen dürfen, dass ein anderer an Jesu Stelle getötet wurde. Liegt demnach die Substitutionstheorie in bestimmter Hinsicht nahe, so sprechen doch andererseits starke Gründe gegen sie, insbesondere die Annahme der Gerechtigkeit Gottes, um die es schlecht bestellt sein müsste, wenn um der Rettung des einen willen – und sei er auch ein göttlicher Gesandter – ein namenloser anderer zum schuldlosen Opfer gemacht und ersatzweise preisgegeben würde. Aus diesem Empfinden heraus hat man die traditionelle Ersatzthese bald schon durch den Hinweis zu modifizieren versucht, wonach ein Freiwilliger wohl aus dem Kreise der Jünger das Kreuz auf sich genommen habe, damit der Meister verschont bleibe. Aber dadurch wird die Angelegenheit im Grunde nicht besser und ihre Anstößigkeit allenfalls verdeckt, aber nicht wirklich beseitigt. Stimmiger scheint ein dritter Ansatz zu sein, den man die Bestrafungsvariante der Substitutionstheorie genannt hat (vgl. Bauschke, 126): Ihr zufolge wird durch ein Versehen der Akteure, die Jesus zu Tode bringen wollen, der oder ein Verräter an seiner Stelle gekreuzigt, so dass das begangene Unrecht unversehens bestraft und ein Exempel der Gerechtigkeit statuiert wird. Zwar wird man dieser Deutung innere Konsequenz nicht bestreiten können, doch entfernt sie sich zugleich denkbar weit von dem empirischen Augenschein als dem Ausgangspunkt der Substitutionstheorie. Sowenig aus Gerechtigkeitsgründen dagegen spricht, dass der Täter eines Unrechts zum Opfer seines eigenen Frevels wird, so unwahrscheinlich ist die in Anschlag gebrachte Verwechslung von Verratenem und Verräter unter Erfahrungsgesichtspunkten. Auch die Illusionstheorie rechnet mit einer Verwechslung, aber mit einer Verwechslung weniger äußerlicher als innerlicher Art. Was sich mit Jesus am Kreuz für den äußeren Augenschein ereignete, geschah nicht wirklich und in Wahrheit; und was wahrhaft und in Wirklichkeit geschah, entzog sich äußerer Betrachtung, in deren Perspektive Jesus am Kreuz litt und realiter starb, wohingegen beides nur scheinbar stattfand, da Gott seinen Gesandten vor dem Tode bewahrte. Ob diese Deutung dem Ursprungssinn von Sure 4,157 entspricht und inwieweit für sie und ihr Verständnis Einflüsse eines gnostischen Doketismus geltend zu machen sind, muss nicht entschieden werden. Nach Martin Bauschke haben fast alle muslimischen Interpretationen des Kreuzigungsverses „Wurzeln in der christlichen Gnosis. Sie machen Anleihen bei den doketischen Interpretationen der Passionsgeschichte durch gnostizierende Christen.“ (Bauschke, 121) Selbst wenn sich diese

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These historisch nicht bewahrheiten sollte, bleibt in systematischer Hinsicht bestehen, dass der muslimischen Tradition die tatsächliche Annahme eines Schmachtodes des Gottesmannes Jesus am Kreuz vergleichbar anstößig ist wie die Lehre von der göttlichen Dreieinigkeit. Für das Christentum hingegen markieren Trinitätslehre und theologia crucis Ursprung, Mitte und Skopus des Glaubens.

5. Die altkirchlichen Theosislehren von Athanasios und Maximus Confessor Lit.: B. Altaner / A. Stuiber, Patrologie. Leben, Schriften und Lehre der Kirchenväter, Freiburg / Basel / Wien 81978. – K. Anatolios, Athanasius. The coherence of his thought, London / New York 1988. – Athanasius Werke. Erster Band. Erster Teil: Die dogmatischen Schriften. Hg. von der patristischen Arbeitsstelle Bochum der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung von M. Tetz, Berlin / New York 1996. – H. U. v. Balthasar, Kosmische Liturgie. Das Weltbild Maximus’ des Bekenners, Einsiedeln 21961. – G. Bausenhart, „In allem uns gleich außer der Sünde“. Studien zum Beitrag Maximos’ des Bekenners zur altkirchlichen Christologie. Mit einer kommentierten Übersetzung der „Disputatio cum Pyrrho“, Mainz 1992. – G. E. M. Gasper, Anselm’s Cur Deus Homo and Athanasius’s De Incarnatione: Some Questions of Comparison, in: P. Gilbert a. o., Cur Deus Homo. Atti del Congresso Anselmiano Internazionale, Roma 1999, 147–164. – F. Heinzer, Gottes Sohn als Mensch. Die Struktur des Menschseins Christi bei Maximus Confessor, Freiburg / Schweiz 1980. – H. Hoping, Einführung in die Christologie, Darmstadt 22010. – G. Larentzakis, Einheit der Menschheit. Einheit der Kirche bei Athanasius. Vor- und nachchristliche Soteriologie und Ekklesiologie bei Athanasius v. Alexandrien, Graz 21981. – Maximus der Bekenner, Drei geistliche Schriften, Freiburg / Br. 1996. – E. P. Meijering, Orthodoxy and Platonism in Athanasius. Synthesis or antithesis?, Leiden 1968, 2 1974. – A. Pettersen, Athanasius and the human Body, Bristol 1990. – Philokalie der heiligen Väter der Nüchternheit. Bd. 2, Würzburg 2004. – R. Riedinger, Die Lateransynode von 649 und Maximos der Bekenner, in: F. Heinzer / Chr. Schönborn (Ed.), Maximus Confessor. Actes du Symposium sur Maxime le Confesseur, Fribourg, 2–5 septembre 1980, Fribourg 1982, 111– 121. – J. M. Robertson, Christ as Mediator. A Study of the Theologies of Eusebius of Caesarea, Marcellus of Ancyra and Athanasius of Alexandria, Oxford 2007. – H.-J. Schulz, Die Anastasis-Ikone als Erlösungsaussage und Spiegel des sakramentalen Christusmysteriums, in: Der christliche Osten 36 (1981), 3–12, 39–46. – E. Stickelberger, Freisetzende Einheit. Über ein christologisches Grundaxiom bei Maximus Confessor und Karl Rahner, in: F. Heinzer / Chr. Schönborn (Ed.), a. a. O., 375–384.  – B. Studer, Zur Soteriologie des Maximus Confessor, in: a. a. O., 239–246.  – K.-H. Uthemann, Das anthropologische Modell der hypostatischen Union bei Maximus Confessor. Zur innerchalkedonischen Transformation eines Paradigmas, in: a. a. O., 223–233.  – W. Völker, Maximus Confessor als Meister des geistlichen Lebens, Wiesbaden 1965. – R. Weichlein, Gottmenschliche Freiheit. Zum Verhältnis von Christologie und Willensfreiheit bei Maximus Confessor, Saarbrücken 2013.

Athanasios „Über die Menschwerdung des Logos“

Unter den altkirchlichen Soteriologien ragt das Werk des Athanasios von Alexandrien „Über die Menschwerdung des Logos und seine leibhafte Erscheinung unter uns“ (PG 25,96; CPG 2091) hervor. Es ist, wenn man so will, die ostkirchlich-grie-

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chische Parallele (vgl. Gasper) zur lateinischen Version „Cur Deus homo“, mit der Anselm von Canterbury für die Soteriologie des abendländischen Mittelalters bestimmend werden sollte. Athanasios, um 295 n. Chr. im ägyptischen Alexandrien geboren, wurde drei Jahre, nachdem er als Diakon unter Bischof Alexander am Konzil von Nizäa teilgenommen hatte, selbst zum Bischof seiner Heimatstadt geweiht. Im antiarianischen Kampf für das nizänische Bekenntnis avancierte er zur entscheidenden Gestalt. Für seine Kompromisslosigkeit handelte er sich fünfmalige Verbannung und mehrfache kirchliche Verurteilungen ein. Doch am Ende triumphierte Athanasios und starb 373 im Ruhm eines Patriarchen der Rechtgläubigkeit. Das Schrifttum des Kirchenvaters ist weithin durch den arianischen Streit und durch Gelegenheitstexte bestimmt, zu denen ihm seine bischöfliche Arbeit Anlass gab. Nicht nur kanongeschichtlich bedeutsam (vgl. Brief 39) sind seine Osterfestbriefe, die Zeugnis von Biographie, Theologie und Spiritualität des Athanasios geben. Mit dem „Leben des Antonius“ erzielte er nachhaltige Wirkung auf die Geschichte des Mönchtums und der Askese. Die Schrift „Über die Menschwerdung des Logos und seine leibliche Erscheinung unter uns“, die der modernen Dogmengeschichtsschreibung als klassischer Text altkirchlicher Soteriologie gilt, ist Teil eines Doppelwerkes, dem eine „Gegen die Heiden“ (PG 25,4; CPG 2090) gerichtete Abhandlung vorangestellt ist. Die Datierung des Werkes, über dessen Genese keine direkten Zeugnisse bekannt sind, ist in der Forschung strittig: seiner Beurteilung als einer vor Ausbruch des arianischen Streits aus dem alexandrinischen Schulbetrieb erwachsenen Jugendschrift steht die Zuweisung an eine spätere Zeit entgegen, wobei besonders die Zeit des Trierer Exils in Betracht gezogen wird. Grundlegend für die Inkarnationstheorie und Soteriologie des Athanasios ist die Schöpfungslehre (vgl. Anatolios, 26 ff.). Gott, der Allmächtige, über alles Erhabene und Transzendente, hat in seiner väterlichen Güte und überreichen Liebe durch seinen ihm als Eigentum zugehörigen Logos die Welt aus reinem Nichts erschaffen und ihr eine vernünftige Ordnung eingestiftet, mittels derer er sie erhält. Abzuweisen sind nach Athanasios die irrigen Annahmen, die Welt bzw. die Entitäten in ihr seien von selbst, aus Zufall oder aus einer bereits vorliegenden, unerschaffenen Materie entstanden bzw. von einem Gott erschaffen worden, der ein anderer ist als der Vater Jesu Christi. Besonderen Anteil an der Vernunftnatur des göttlichen Logos, mittels dessen alles, was ist, aus dem Nichts ins Dasein gerufen wurde, ist dem Menschengeschlecht gegeben, dessen Wesensbestimmung sich von der extrahumanen Kreatur durch Vernunft und selbstbewusste Willenstätigkeit unterscheidet. Als nach dem Bilde Gottes geschaffen ähnelt der Mensch als intelligibles Wesen dem Logos, der ihn zur verständigen Betrachtung der Dinge und zu sinnvollem Umgang mit ihnen bestimmt. Durch seine Gottebenbildlichkeit und die spezifische Logosteilhabe, die es kennzeichnet, ist das Schöpfung und Fall Menschengeschöpf darauf angelegt, die Welt des bloß Körperlichen und seine eigene Sinnlichkeit zu transzendieren. Nicht als ob das Sinnenfällige in seiner Körperlichkeit an sich schlecht wäre: ist es von Gott geschaf-

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fen und insofern und als solches gut. Zum Motiv des Bösen wird es erst, wenn es die menschliche Vernunftnatur okkupiert, statt von ihr nach Maßgabe des Logos, der die vernünftige Bestimmung des Menschen ausmacht, beherrscht zu werden. Zwar hat man gelegentlich den Eindruck, als wollte Athanasios die Logospartizipation des Menschen seiner Sinnlichkeit und der sinnlichen Körperwelt abstrakt entgegensetzen und den menschlichen Geist in eine Höhe erheben, in der er den Niederungen des Erdendaseins gänzlich entnommen und allein und ohne jede sinnliche Beimischung mit sich selbst beschäftigt ist. Aber dieser Tendenz widerstrebt die betonte Hervorhebung der konkreten Leiblichkeit der Menschenseele ebenso wie die erwähnte Tatsache, dass alles Geschaffene, also auch die sinnliche Körperwelt mitsamt der ganzen extrahumanen Natur als genuin und im Grundsatz gut zu bewerten ist. Böse ist nicht das Sinnliche selbst, sondern die Verkehrung der Verhältnisse, wie sie von Gott durch seine Schöpfung ursprünglich und auf Erhaltung hin ge­ ordnet sind. Diese Verkehrung hat statt, wenn die Sinnlichkeit zum Bestimmungsgrund der menschlichen Vernunftnatur wird, besser gesagt, wenn diese sich in Ver­kennung und in bewusster und willentlicher Ignoranz ihrer Teilhabe am göttlichen Logos vom Sinnlichen in der Weise der Begehrlichkeit bestimmen lässt, um so schuldhaft der Sünde zu verfallen. Die Schuld der Sünde besteht in der Übertretung des göttlichen Gebots, welches nichts anderes ist als die auf Erhaltung des Geschaffenen hin ausgerichtete Schöpfungsordnung, welche Gott durch seinen Logos gesetzt hat. Sie wird verkehrt, wenn der Menschengeist sich – durch sinnliche Ablenkung verführt – vom Geiste Gottes abwendet und von seinem Körper samt der übrigen Sinnenwelt in Beschlag nehmen lässt, um schließlich nur noch seiner begehrlichen Selbstsucht als dem Inbegriff aller sinnlichen Begierden zu frönen. Mit der kirchlichen Tradition setzt Athanasios voraus, dass der abgründige Fall der Sünde, deren Unwesen in selbstsüchtiger Begierde besteht, auf die Schuld des ersten Menschenpaares zurückzuführen ist. Doch begreift er den unbegreiflichen Sündenfall zugleich auf eine Weise, die ihn als je und je aktuelles Geschehen verstehen lässt, in das jeder Mensch involviert ist. Die Folgen des die Menschheitsgeschichte umklammernden Sündenfalls sind übel und verstricken in Schuld. Einmal in sich und seine Selbstgier verkehrt gerät der Mensch immer mehr in einen Zustand geistiger Verrücktheit, in dem das Unterste zuoberst, das Oberste zuunterst gekehrt und alles in diabolischer Weise durcheinander gebracht wird. Am deutlichsten spürbar sind die Folgen menschlicher Verkehrung göttlicher Schöpfungs- und Erhaltungsordnung in Form der Todesangst. Denn je weiter sich die in beständiger Bewegung begriffene Seele von ihrem göttlichen Ursprung entfernt, um sich weltlicher Sinnenlust hinzugeben, desto mehr ängstigt sie sich vor dem Sterben und der ihr bevorstehenden Trennung vom Leibe, der ihr zum höchsten Gut geworden ist. In fataler Konsequenz ihrer schuldhaften Verkehrtheit gerät die Seele in den Sog des Nichtigen. Der Nihilismus, der sich im Zuge dieser Entwicklung einstellt und die Seele zu blindem Hochmut oder zu schierer Verzweiflung treibt, was beides im

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Grunde ein und dasselbe ist, erinnert einerseits an das Nichts, aus dem alles geschaffen ist. Zugleich kündigt sich in solcher Erinnerung anderes an, was vom bloßen Nichts strikt zu unterscheiden ist, nämlich die Negation des Gewesenen durch Gottes gerechtes Gericht. In der Todesangst ängstigt sich der Mensch nicht nur in Bezug auf sein physisches Ende und vor einem bloßen Nichts, mit dem er es halten könnte, als sei nichts gewesen. Seine Verderbensangst ist abgründiger, sofern sie die Form höllischer Gewissenspein annimmt, was in Anbetracht der Logosbestimmtheit des Menschen letztlich unvermeidbar ist. Das Gute ist logoshaft und seinshaltig, das Böse nichtig sowie grund- und bodenlos, ohne einfachhin auf ein ontologisches Defizit zurückgeführt oder als ontisch defizitär qualifiziert werden zu können. Denn obzwar das Böse durch das Seinsdefizit hervorgerufen ist, welches dem Sinnlichen im Vergleich zum Logoshaften eignet, hat seine Realisierung und damit die Faktizität des Sündenfalls doch der Mensch als Vernunftwesen zu verantworten, da es der intelligiblen Natur des Menschen aufgetragen war, das Sinnliche des eigenen Leibes und der körperlichen Welt nach Maßgabe der durch den göttlichen Logos vermittelten Schöpfungsordnung zu gestalten. Die Möglichkeit zu solcher Gestaltung kann vom Menschen vernünftigerweise nicht in Abrede gestellt werden. Deshalb hat er keinen berechtigten Grund, die Schuld am Sündenfall seiner sinnlichen Natur zuzuschieben. Anderes zu behaupten, würde keine Entschuldigung bewirken, sondern die Schuld durch Steigerung ihrer Verblendung vertiefen. In diese Richtung scheint Athanasios zu argumentieren, wenn er den Fall der Sünde der Freiheit des Menschen zurechnet, der keineswegs gezwungen war, das Böse zu tun, sondern die Wahl des Guten gehabt hätte, wäre er den Weisungen des Logos gefolgt. Wahlfreiheit ist also nicht im Sinne von arbiträrer Indifferenzfreiheit zu verstehen, die gegenüber dem Unterschied zwischen Gut und Böse zumindest momentan unentschieden ist. Sie dem prälapsarischen Menschen zu attestieren, dient vielmehr dazu, die Faktizität des Sündenfalls für unentschuldbar zu erklären. Würde auf die menschliche Wahlfreiheit hingegen zum Zwecke einer gedanklichen Genetisierung der schieren Tatsächlichkeit des Bösen verwiesen, dann wäre dies wider den Logos, von dem her geurteilt es keinen vernünftigen Grund und keine Entschuldigung für den Fall der Sünde gibt. Die Todesangst und die Angst vor der Verderbensmacht der Verwesung, welche der Fall der „Gegen die Heiden“ Sünde als üble Folgen zeitigt, bringen es mit sich, Formen bodenlosen Übermuts oder abgründiger Verzweiflung hervorzutreiben. In diesen Zusammenhang gehört, was Athanasios in dem Traktat „Gegen die Heiden“ über die Unvernunft der Vielgötterei und die Vernunftwidrigkeit des Götzendienstes sagt. Vielgötterei und Götzendienst liegen in der Konsequenz sündigen Wahns, dem sie entspringen. Die trotz ihrer Logoshaftigkeit und dieser zuwider dem Nichtigen zugeneigte Seele hängt derart am Sinnlichen, dass sie der Abhängigkeit von diesem einen religiösen Sinn beilegt und vergottet, was doch nicht dem Göttlichen, sondern lediglich der Körperwelt angehört und vergänglich ist statt un­ vergänglich und ewig. Der Polytheismus, der das Viele verhimmelt und das Eine,

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was not tut, verkennt und verachtet, ist nach Athanasios ein theoretischer und praktischer Reflex der Verkehrtheit des Bösen, in der sich der logosbegabte Mensch von den Sinnen okkupieren und um seine Bestimmung bringen lässt. In Ermangelung der Seinsfülle des Guten, das sie verfehlten, hielten sich die Menschen in ihrer Bosheit ans Nichtige, um von Götzen ihr Heil zu erwarten, die doch nichts als Einbildungen und Hirngespinste, kurzum: Indikatoren eingetretener Verrücktheit sind. Schärfer als Athanasios kann man die Kritik paganer Religion kaum formulieren. Man lese die Kapitel 9–29 der Schrift „Gegen die Heiden“, um sich vom Recht dieser Behauptung zu überzeugen (vgl. Robertson, 139 ff.). Die menschliche Bosheit ist die Quelle des Götzendienstes, der das Nichtige mit erhabenem Schein versieht, ja zum Sein selbst verklärt. Idolatrie folgt auf die Verhimmlung der sinnlichen Welt, deren fatale Konsequenz sie ist. Statt die Welt und alles, was in ihr ist, Kreatur Gottes sein zu lassen, verwechselt die Sünde in einem Akt bewusster und willentlicher Selbsttäuschung Schöpfer und Geschöpf, um die Kreatur zu vergöttern. Kreaturvergötterung aber ist nicht nur vernunft-, sondern auch sittenwidrig und der Inbegriff eines praktischen Atheismus, der recht eigentlich nur an der körperlichen Welt und dem eigenen sinnlichen Selbst interessiert ist, sich aber die Einsicht in diesen Sachverhalt verstellt, um seinem Interesse umso ungehemmter und unter dem falschen Schein der Frömmigkeit frönen zu können. Verrückt gewordene Religion ist atheistischer als alle Religionskritik zusammen. Der religiöse Atheismus kann soweit gehen, das Böse selbst auf einen göttlichen Urheber zurückzuführen oder gar als solches zu vergotten. Nimmt Athanasios auf satanistische Verkehrungen des Religiösen allenfalls indirekt Bezug, so gilt dem theologischen Dualismus in allen seinen Gestalten seine direkte Kritik, sei es dass dieser das Sinnliche als solches, sei es dass er den Schöpfer der sinnlichen Welt für böse erklärt. Diese Erklärung ist nicht nur vernunftwidrig, sondern auch in sich böse, weil sie die Güte der Schöpfung und die Möglichkeit der Realisierung der Vernunft unter sinnlichen Bedingungen prinzipiell leugnet, was auf eine Entschuldigung sündiger Verkehrtheit hinausläuft. Die Schuld der Sünde zu leugnen und ihre Faktizität zu fatalisieren ist selbst Sünde. Das Gute ist das Seiende, das Böse hingegen das Nichtseiende, das keine Substanz und keine eigene Subsistenz hat, sondern ausschließlich in der Weise der Verkehrung ursprünglicher Seinsbestimmung besteht. Ohne an sich selbst eine wesenhafte Wirklichkeit zu sein, wird das Böse durch Abkehr des kreatürlich Seienden vom Sein Gottes gewirkt. Das Böse ist nur im Modus in sich widriger Verkehrtheit und nichts als bloße Untat, die durch Nichts begründet ist, was ihre nihilistische Abgründigkeit ausmacht. Gott hingegen, wie ihn die reine Seele schaut, ist lauteres Sein und von allem Nichtigen dergestalt frei, dass sein Sein nicht einmal durch den Unterschied zum Nichts bestimmt ist, was durch die Vorstellung von der Schöpfung aus dem Nichts nicht falsifiziert, sondern im Gegenteil bestätigt wird, weil das Nichts, aus dem Gott die Welt erschaffen hat, nicht als ein durch den Unterschied zu etwas Bestimmtes, sondern als das schlechterdings unbestimmte, indifferente, reine Nichts zu gelten hat. Der Vorstellung der Schöpfung aus dem

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Nichts korrespondiert daher der Gedanke absoluter schöpferischer Selbsttätigkeit des einen Gottes. Einsicht zu nehmen in die göttliche Einheit und Allwirksamkeit ist der reinen Seele gegeben. Ihr ist die Erkenntnis des Schöpfungsgrundes möglich, sofern sie sich ganz an den Logos hält und seinem Vernunftgebot entspricht. Zwar ist der Schöpfergott selbst über alles einschließlich der Menschenseele erhaben; doch selbst­transzendierend sich zur göttlichen Erhabenheit zu erheben und einen Begriff zu gewinnen von der Unbegreiflichkeit göttlicher Tätigkeit, die alles Wirkliche gewirkt hat und wirksam erhält, ist die Bestimmung der Seele. Um Gottes Schöpferkraft inne zu werden, bedarf sie keiner ihr äußerlichen Instanz; in ihrem Selbstverständnis ist das Verständnis des einen schöpferischen Grundes aller Dinge mitgesetzt, solange sich die Seele in ihrer ursprünglichen Reinheit und Logos­ haftigkeit erhält. Sobald sie sich indes in sich verkehrt und auf ebenso widrige wie widerliche Weise den sinnlichen Begierden überlässt, trübt und verdunkelt sich ihr Blick: dann treten die seelischen Nachtgestalten polytheistischer Götzen hervor und beginnen ihren dämonischen Spuk, der in Wahrheit auf nichts anderem beruht als auf der Verkennung und atheistischen Lästerung des einen Gottes in seiner Einzigkeit. Folgt die Menschenseele dem vernünftigen Prinzip, das ihr eingestiftet ist und das sie von vernunftlosen Geschöpfen unterscheidet, dann gelangt sie von selbst zur Erkenntnis dessen, was schöpfungstheologischer Monotheismus heißt. Kehrt sie sich hingegen vom Logos und seinen Grundsätzen ab, dann verfällt sie nicht nur der Unvernunft, sondern einer Vernunftwidrigkeit, die ungleich schlimmer ist als alle kreatürliche Vernunftlosigkeit zusammen. Tiere etwa und Pflanzen können ihre Bestimmung niemals derart ins Gegenteil verkehren wie der Mensch, der doch durch seine Vernunftnatur der extrahumanen Kreatur von Hause aus prinzipiell überlegen ist, weil er über sich und die Dinge außer sich nachzudenken, das Abwesende sich zu vergegenwärtigen sowie zu freiem Urteil und Willensentscheid zu gelangen vermag. Der Mensch ist in Verfehlung gegen seine Gottebenbildlichkeit der vernunftwidrigen Sünde verfal- Der Tod des Gott­ len mit entsprechend üblen Folgen für ihn selbst und menschen die gesamte Schöpfung. Mit dem Verweis auf dieses Faktum, welches die negative Prämisse der athanasianischen Argumentation bildet, ist die Frage nach Ursache und Zweck der Inkarnation des göttlichen Logos implizit bereits beantwortet. Der schöpferische Logos Gottes musste Mensch werden, um den Willen des Schöpfergottes auch unter postlapsarischen Bedingungen zu realisieren und Schöpfung und Menschengeschöpf aus dem Fall der Sünde und ihrer üblen Verderbensmacht zu befreien. Nach Erläuterung dieser Notwendigkeit und dem Aufweis des Dienstes, welchen der menschgewordene Logos zu irdischen Lebzeiten Jesu Christi geleistet hat, konzentriert sich Athanasios auf den Tod des Gottmenschen, um zunächst das Problem der Zweckmäßigkeit seiner Art und Weise zu erörtern (vgl. Kap. 20–25). War es sinnvoll und angemessen, dass der Gottmensch

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speziell den Kreuzestod starb? Das Verwesliche in Unverweslichkeit zu verwandeln, die Menschheit nach seinem Ebenbild wiederherzustellen und die Gottes­ erkenntnis zu erneuern, die allen Götzenkult beseitigt, war nur dem inkarnierten Logos möglich. Weil aber fernerhin die Schuld des Menschengeschlechts getilgt und die verhängte Todesstrafe bzw. der verhängte Straftod behoben werden sollten, nahm der Logos nicht nur einen Menschenleib an, sondern gab diesen, nachdem er seine Gottheit unter irdischen Bedingungen erwiesen hatte, als Opfer preis, um die Menschheit vom Fall der Sünde sowie allen mit ihm verbundenen Verfehlungen zu befreien und ihr Anteil zu geben an jener Unverweslichkeit, die an Ostern an seinem Leibe erstmals offenbar geworden ist. Die Möglichkeit zu sterben setzt Athanasios für den vom Logos angenommenen Menschenleib voraus, sofern dieser trotz seiner spezifischen Prärogativen im Prinzip sterblich war wie alle Menschenleiber (vgl. Pettersen, 35 ff.). Wegen seiner eigentümlichen Beziehung zum Logos indes war das Sterben des Menschenleibes Jesu Christi nicht von naturhafter Zwangsläufigkeit, sondern freiwilliger Natur insofern, als es aufgrund eines Willensentscheids des inkarnierten Logos stattfand. Bei dem einen und selben Vorgang des Sterbens Jesu Christi ist daher stets ein Doppeltes zu bedenken: Seine Notwendigkeit ist einerseits mit dem Strafverhängnis gegeben, von dem alle Menschen infolge ihrer Sündenschuld betroffen waren und das Tod und Verderben mit sich brachte: der inkarnierte Logos musste daher in seiner Leiblichkeit sterben, um die allgemeine Schuld zu bezahlen und sich für alle zu opfern, damit Versöhnung und Erlösung von allen Übeln möglich sei. Andererseits erfolgte das notwendige Sterben Jesu Christi nicht aus einem äußeren Zwang, sondern aus dem freien und unerzwungenen Willen des Logos heraus, die Inkarnation durch das Opfer seines angenommenen Leibes zum Heile aller zu vollenden, damit auf diese Weise der Teufel besiegt und der Tod und seine Verwesungsmacht endgültig überwunden würden. Niemand mehr muss seit Jesu Christi Leiden und Sterben den durch das Gesetz verhängten Gerichtstod sterben, wenn er glaubt. Zwar wird der sterbliche Leib im Tod eine Zeitlang aufgelöst, aber nicht, um der definitiven Verwesung zu verfallen, sondern um durch die Gnade der Auferstehung teilzu­ haben an der Herrlichkeit des Herrn. Hat der Tod Jesu Christi gemäß seiner vom Logos angenommenen Leiblichkeit als heilsnotwendig zu gelten, so war er dennoch nicht äußerlich erzwungen, sondern Folge freiwilliger Hingabe. Was Athanasios zu der vom inkarnierten Logos gewählten Todesart und der Weise seines leibhaften Sterbens ausführt, bestätigt diesen Grundsatz. Warum ist Jesus Christus nicht eines natürlichen Todes gestorben, sondern gekreuzigt worden? Hätte es dem Logos nicht besser angestanden, den angenommenen Leib auf übliche Weise abzulegen, als den Schmachtod am Kreuz auf sich zu nehmen? Nein, sagt Athanasios, dem ist nicht so, sondern der Kreuzestod war dem Sinn der Menschwerdung des Logos gemäß und von ihrem Zweck her erfordert. Wäre Jesus Christus infolge körperlicher Schwäche an einer Krankheit etwa oder durch altersbedingte Entkräftung gestorben, hätte man sein Leiden und Sterben als naturbedingt missverstanden und dem Schicksal derer gleichgesetzt, deren

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leibhaftes Dasein im Bett endet, wie das bei den meisten Menschen der Fall ist. Die Singularität des Todes Jesu Christi wäre auf diese Weise ebenso leicht verkannt worden wie die Tatsache, dass der vom Logos in der Inkarnation angenommene Leib aufgrund seiner innigsten Verbundenheit mit diesem allen Schwachheiten des irdischen Daseins überlegen war. Die Vorstellung eines Todes durch Krankheit oder Altersverfall passt damit nicht zusammen. Zwar war der Leib, den der Logos zur Wohnstatt erwählte, nicht apathisch, sondern durchaus sinnlichen Bedürfnissen körperlicher Art ausgesetzt und anfällig für Hunger und Durst, Krankheit und sonstige Übel. Aber vermöge seiner Einheit mit dem Logos hatte das Leibliche der körperlichen Natur keine Macht über ihn, wie denn auch der gestorbene Leib des inkarnierten Logos die Verwesung nicht sah, sondern in unverwester Leibhaftigkeit auferstand von den Toten. Eines natürlichen Todes zu sterben wäre dem vom Logos angenommenen leibhaften Menschen Zur Konvenienz aufgrund des Sinns und Zwecks der Logosinkarna­ des Kreuzestodes und tion nicht gemäß gewesen. Im Widerspruch zum zu seiner Notwendigkeit Ziel der Inkarnation wäre es aber auch gestanden, wenn der Logos den angenommenen Leib gleichsam beliebig in den Tod gegeben hätte. Der leibhafte Tod Jesu Christi war weder naturbedingt, noch Folge eines arbiträren Beliebens des Logos, sondern durch sündige Menschen verursacht, die in der Konsequenz der Sünde der Menschheit agierten. Den Nachstellungen des Bösen zu entfliehen, wäre der Inkarnationsgestalt des Logos ebenso unangemessen gewesen wie die unmittelbare Selbstpreisgabe durch eigenes Handeln. Bereit, ihn freien Willens auf sich zu nehmen, trat der Herr dem Tod entgegen, ohne sich äußerlich zwingen zu lassen oder sich selbst Zwang anzutun. So wartete er, wie Athanasios sagt, einerseits den Tod ab, um ihn zu vernichten, und andererseits drängte es ihn, zur Erlösung aller sein Todeslos zu besiegeln. Das Leiden, Sterben und der leibliche Tod des inkarnierten Logos sind frei und notwendig zugleich und unterliegen nicht der Alternative von arbiträrem Belieben und Fremddeterminiertheit: genau so sind sie für uns, für die Versöhnung unserer Sündenschuld und zur Bewerkstelligung unserer leibhaften Auferstehung geschehen. Der Logos entäußerte sich seines Leibes nicht, wie es heißt, in einem höchsteigenen Tod, sondern um den Tod des Menschengeschlechts und aller seiner individuellen Repräsentanten in seiner Negativität zu ratifizieren und zugleich zu negieren, damit die Verwesung überwunden und leibhafte Auferstehung für alle bereitet werde, wofür die Osterwirklichkeit Jesu Christi als Siegel und Unterpfand steht. Bleibt hinzuzufügen, dass die Öffentlichkeit des Kreuzestodes Jesu Christi die Voraussetzung dafür war, das Zeugnis seiner Auferstehung glaubwürdig publik zu machen. Wäre Jesus Christus nichtöffentlich, zu Hause, in einem Winkel oder an einem einsamen Ort gestorben, so hätte niemand das Zeugnis seiner Auferstehung ernst genommen, weil ja bereits sein Tod unbezeugt geblieben wäre. Nicht zuletzt um der Publizität des Auferstehungskerygmas willen musste der Tod Jesu Christi öffentlich sein.

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Der leibliche Tod Jesu Christi war keine Folge natürlicher Schwachheit oder sonstiger äußerer Faktoren, sondern dem inneren Sinn der Menschwerdung des Logos gemäß, dem er entsprach und in dem ihm sein Bestimmungsgrund vorgegeben war. Von diesem Bestimmungsgrund gefordert ist schließlich auch der Schmachcharakter des Todes am Kreuz. Der Kreuzestod galt als höchst ehrlos, ja als Inbegriff des Fluchs. Gerade weil Jesus Christus den abgründigen Fluchtod starb, den er nicht etwa willkürlich wählte, sondern der ihm als äußerste Passion zugefügt wurde und widerfuhr, wird in seiner Auferstehung die Überwindung auch der verderblichsten aller Todesarten manifest und offenbar, dass auch die Hölle, in die der Fall der Sünde führt, kein Ort der Gottverlassenheit mehr sein muss. Die Auferstehungsherrlichkeit des Herrn, an der die Glaubenden teilhaben, ist umso herrlicher, je schrecklicher, ehrloser und furchtbarer der Tod vorzustellen ist, den er erlitt: „Der Tod der Unehre, den sie ihm beizubringen wähnten, wurde zum Siegeszeichen über den Tod selbst.“ (De incarn. 24) Indem er gekreuzigt wurde und am Schand- und Fluchbalken des Kreuzes starb, hat Jesus Christus die äußerste Abgründigkeit des Todes erlitten, um gerade so die Auferstehungswirklichkeit zu höchster Herrlichkeit emporzuführen, die zu bezeugen Auftrag der Kirche ist. Für ihre vom Herrn gewollte Einheit kann die Tatsache als ein Hinweiszeichen gelten, dass sein am Kreuz geopferter Leib weder enthauptet oder anderweitig zerteilt wurde, sondern ungeteilt blieb. Waren die Ausführungen des Athanasios zur Angemessenheit der Todesart Jesu Christi bislang als Apologie des Christentums gegen seine Feinde gestaltet, so wird im letzten Abschnitt, der über Recht und Richtigkeit der Art und Weise des Sterbens am Kreuz handelt, den Christen selbst eingeschärft, dass im Fluchtod sich der Heilssinn des Leidens und Sterbens Jesu Christi vollendet, der zugleich die trennende Scheidewand den Heiden gegenüber aufhebt. Der Gekreuzigte begegnet mit ausgespannten Armen Juden und Heiden und ist offen für beide, um ihnen den Weg in den Himmel zu eröffnen. Die Luft dorthin ist rein, weil der Herr die unreinen Geister, ja den Teufel selbst aus ihr vertrieben hat. So steht es im 25. Kapitel der Schrift „Über die Menschwerdung des Logos“ geschrieben. Nachdem gezeigt ist, dass der für uns und an unseTod und Auferstehung in rer Stelle erlittene Tod Jesu Christi notwendig und ihrer Faktizität in seiner Art angemessen war, lässt Athanasios Überlegungen zum differenzierten Zusammenhang von Tod und Auferstehung und Beweise von beider Faktizität folgen. Dabei hebt er die leibhafte Identität des österlich Erstandenen mit dem am Kreuz Gestorbenen ebenso nachdrücklich hervor wie die Tatsache sowohl des Todes, der keineswegs nur zum Schein erfolgte, als auch der Auferstehung des Leibes des Gottmenschen, wie sie sich am dritten Tage nach dem Sterben am Kreuz ereignete. Die Frist der drei Tage sei lang genug gewesen, um die Realität des Kreuzestodes zu unterstreichen, und kurz genug, um nicht den falschen Eindruck zu erwecken, als überlasse der göttliche Logos den von ihm angenommenen Leib der Verwesung. Auch in anderer Hinsicht, etwa bezüglich des Jüngerbewusstseins, erweist sich die Dreitagefrist

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zwischen Kreuzestod und Auferstehung als angemessen: als der österliche Christus ihnen leibhaft erschien, war den Jüngern die Erinnerung an das irdische Leben und Sterben ihres Meisters noch so deutlich präsent, dass sie den Auferweckten und Auferstandenen unschwer als Jesus von Nazareth identifizieren konnten, ohne dass darüber die Grenze, die durch seinen Tod gesetzt wurde, in Vergessenheit geraten wäre. Was die Realität der Auferstehung Jesu Christi und die wirkliche Überwindung der Verderbensmacht der Verwesung durch ihn anbelangt, so wird sie u. a. durch die Verachtung bezeugt und verbürgt, mit der die Blutzeugen Jesu dem Tod begegneten. Sie erachteten den Tod für nicht mehr als einen Toten, der ihr ewiges Leben nicht zu gefährden vermag, wenn sie im Glauben standhaft blieben. Fürchtet das Menschengeschlecht den Tod von Natur aus und war er selbst für die Heiligen vor der leibhaften Erscheinung des Logos noch ein Schrecken, so haben Sterben und Auferstehen Jesu Christi dem Tod seine Macht genommen und das ewige Leben ans Licht gebracht. Die Märtyrer, unter denen auch Frauen und Kinder sind, haben dies Athanasios zufolge überzeugend unter Beweis gestellt und durch ihr Blutzeugnis besiegelt, was der Grund des christlichen Glaubens ist: der Sieg über Tod und Teufel durch Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi, der aus dem Grabe und aus höllischem Abgrund zu befreien vermag. Wie die aufgehende Sonne die Dunkelheit verscheucht, so fliehen im Lichte Osterns die Schreckens- und Trauergeister und der Morgenglanz der Ewigkeit bricht an. Wer im Glauben dem auferstandenen Gekreuzigten folgt, den schaudert es weder vor der Verwesung noch scheut er den Gang in die Unterwelt, da derjenige sein stetiger Begleiter ist, der den Tod besiegt und die Hölle überwunden hat. Die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu Christi erhellt nicht zum Geringsten aus der Wirkung, die sie unter denen hervorgerufen hat, die glauben und um ihres Glaubens willen Tod, Verwesung und die höllischen Abgründe nicht scheuen, die sich vor ihnen auftun. Wie, fragt Athanasios, kann solche Wirkung anders erzielt werden als durch einen Lebenden, genauer als durch einen, der über ewiges Leben verfügt und ewiges Leben zu verleihen vermag? Wäre der Gekreuzigte im Tod und im Grabe geblieben, hätte er dann die Wirkkraft und das Bestimmungsvermögen gehabt, die ihm augenscheinlich eignen? Hätte er die Macht, aus Götzen und Dämonendienern Verehrer des einen und wahren Gottes, aus Gottlosen und Gottwidrigen Gottesfürchtige, aus sittenlosen Übeltätern heiligmäßige Akteure des Guten, aus von Todes- und Höllenangst Besessenen furchtlose Zeugen der Freiheit, kurzum: aus Ungläubigen Gläubige zu machen? Die Antwort fällt klar und deutlich aus und wird durch den erneuten Hinweis unterstrichen, dass alle bösen Ungeister vor dem österlichen Geist Jesu Christi weichen und ihm die Reverenz erweisen müssen. Vor dem Zeichen des Kreuzes des Auferstandenen, in dem sich das Christentum zusammenfasst, fliehen alle Dämonen des Todes und der Verwesung, und selbst der Fürst der Hölle und seine teuflischen Machthaber stürzen in sich zusammen, wo sie mit dem Wirkzeichen des Kreuzes konfrontiert werden. Bedarf es eines weiteren Beweises für die österliche Realität, so ist er mit der Tatsache gegeben, dass der auferstandene Gekreuzigte, indem er Übel und Bosheit be-

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seitigt, Erlösung und Versöhnung schafft und die Seinen der Vollendung entgegenführt. Durch sein Heilswirken erweist der Heiland die Wirklichkeit seines österlichen Seins und Wesens. Wie das Wesen des unsichtbaren Gottes in seinen Werken in Erscheinung tritt, so bewahrheitet der auferstandene Gekreuzigte seine österliche Wirklichkeit vor allem durch die Folgen, die sie zeitigt. Das Fehlen seiner sichtbaren Präsenz in der sinnlichen Welt stellt daher entgegen der Meinung der Ungläubigen mitnichten eine Widerlegung der Auferstehung dar. Auch Gott ist unsichtbar und dennoch Grund und Inbegriff aller Realität. Statt sich von den Einwänden der Ungläubigen beeindrucken zu lassen, sollten die Christen daher die Bestreitung der Osterwirklichkeit als ein Verblendungsphänomen deuten, dessen falscher Schein durch die Verhaftung des Unglaubens an die Sinnenwelt hervorgerufen wird. Ungläubige sind Blinden gleich, die die Sonne nicht Wider Juden und Heiden sehen, obwohl sie offenkundig scheint. Und doch, sagt Athanasios, können auch Blinde, obwohl sie die Sonnenstrahlen nicht sehen, die von ihnen ausgehende Wärme spüren und so auf vermittelte Weise wissen, dass ein alles erhellendes Licht über der Erde erstrahlt. Christen sollen dieses Gleichnis als Aufforderung verstehen, die Ungläubigen und Widerspruchsgeister die erwärmende Kraft des Glaubens wahrnehmen zu lassen, um sie auf diese Weise zu überzeugen und aus ihrer augenblicklichen Verkehrung zu bekehren, damit auch sie bekennen, dass Jesus der Christus und inkarnierte Logos des allmächtigen göttlichen Vaters ist, der Tod, Verwesung und Hölle überwunden und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat. Ist der Beweis der Wirklichkeit leibhafter Auferstehung des Gekreuzigten Jesus Christus aus den Wirkungen, die er vollmächtig hervorbringt, nach Urteil des Athanasios hinreichend erbracht, so verbleibt ihm nur noch, eine abschließende Antwort auf den Unglauben der Juden und den Spott der Heiden zu geben, die darin übereinstimmen, dass ihnen das Kreuz als eine Torheit und die Menschwerdung des Logos als widersinnig gilt. In den Kapiteln 33–40 der Schrift über die Logosinkarnation werden die Juden daran erinnert, dass ihre Heiligen Schriften sowohl im Einzelnen als auch im Ganzen auf die Ankunft des Logos im Fleisch und auf den Tod hindeuten, den Jesus Christus um des Heiles aller willen zu erdulden hatte. Als einer unter mehreren Belegen wird das Gottesknechtslied Jes 53,3–5 angeführt; doch sind die beizubringenden Schrifthinweise nach Athanasios Legion. Durch ihre eigene Überlieferung sind die Juden klar und eindeutig an Jesus Christus gewiesen. Wenn sie dieser Weisung nicht folgen, ist dies nach Athanasios Ungehorsam, der keine Entschuldigung durch angebliche Unkenntnis zulässt. Kein Jude sage, er habe nicht wissen und nicht gewiss sein können, dass der Messias kommen und der Logos im Leibe erscheinen werde. Auch den Hinweis, man sei noch immer in Erwartung der kommenden Erscheinung begriffen, welche die Heiligen Schriften verheißen, und bezweifle, dass diese bereits stattgefunden habe, lässt Athanasios nicht als Entschuldigung gelten. Er beurteilt ihn vielmehr als eine Ausrede, da spezifische Zeitangaben in Dan 9,24 f. („Siebzig Wochen sind bestimmt

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…“) jedes weitere Warten auf den Messias verbieten. Der Messias wird nicht erst kommen, er ist bereits gekommen, was neben dem Schriftzeugnis u. a. damit begründet wird, dass der Jerusalemer Tempeldienst an sein Ende gelangt und die jüdische Prophetie zum Erliegen gekommen sei. „Wenn der Angekündigte da ist, was bedarf es dann noch solcher, die ihn anzeigen? Und wenn die Wahrheit anwesend ist, was soll dann noch der Schatten?“ (De incarn. 40) Jüdische Prophetie, jüdisches Priestertum und auch jüdisches Königtum enden zu dem Zeitpunkt, da derjenige erschienen ist, der Prophetie, Priestertum und Königtum in Personalunion vereint und als vollendeter Prophet, Priester und König zu gelten hat. Die Verheißungen, von denen das Judentum lebte, sind in Jesus Christus erfüllt. In Erfüllung gegangen und zur Vollendung gebracht ist mit der Inkarnation des Logos und dem Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi fernerhin alles, was im Heidentum wahr, schön und gut war. Dies wird in den Kapiteln 41–55 gezeigt. Wie die Juden haben auch die Heiden keinen Entschuldigungsgrund, der ihre Verkennung des inkarnierten Logos und ihren Spott über den Kreuzestod Jesu Christi rechtfertigen könnte. Geht man mit den griechischen Philosophen davon aus, dass der Logos als göttlicher Schöpfungsmittler das Universum durchwaltet und im Weltkörper, den er begründet und erhält, ganzheitliche Form und Gestalt annimmt, wie sollte es dann ungereimt sein, wenn selbiger Logos unter bestimmten Bedingungen und zum Zwecke der Erreichung sinnvoller Ziele in einem Leib Wohnung nimmt, der Teil des Weltganzen ist. Würde es unpassend sein, dass der Logos in einem Menschen vorstellig wird, dann wäre damit auch der Vorstellung einer Logospräsenz im Weltall im allgemeinen und im Menschengeschlecht im beson­ deren der Abschied zu geben, was erkenntlich sinnwidrig und wider den Geist griechischer Philosophie wäre. Gegen die Annahme erfolgter Inkarnation des Logos gibt es sonach für Athanasios keinen vernünftigen Grund. Wie die Vernunft, die den ganzen Menschen zu durchwirken bestimmt ist, durch ein Glied des Leibes, nämlich die Zunge, sich offenbart, um sich zur Sprache zu bringen und Verständigung unter Menschen in der gegebenen Welt zu erzielen, so spricht sich der Logos durch den angenommenen Leib aus, der ihm als Mittel und Werkzeug seiner Selbstkundgabe dient. Primäres Ziel der leibhaften Selbstkundgabe des Logos war die Rettung der verirrten und von Gott Rettung aus selbstabgekehrten Menschheit von dem Übel des Todes verschuldetem und der Schuld der Sünde, durch die der Mensch Verderbensgeschick sein fatales Verderbensgeschick über sich brachte. Darum musste aus bereits angegebenen Gründen, deren Vernünftigkeit nicht zu bezweifeln ist, Jesus Christus den leibhaften Tod auf sich nehmen, um unverwesliches Leben für die Menschheit durch seinen Ostersieg herbeizuführen. Die Wieder­ herstellung ursprünglicher, aber verloren gegangener Gotteserkenntnis kommt als weiteres Ziel der leiblichen Erscheinung des Logos im Leben, Leiden, Sterben und Auferstehung Jesu Christi hinzu. Nachdem die Menschheit die Omnipräsenz des Logos in der Welt infolge des Falles ihrer Sünde nicht nur nicht erkannt, sondern

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verkannt hatte, war es Gottes Wille und dem Wesen des Logos gemäß, die verfehlte Erkenntnis dadurch zu erneuern, dass der Sohn des himmlischen Vaters als Mensch unter Menschen in der Gestalt erschien, die allen Menschen gemeinsam und daher nicht befremdlich war, um sie definitiv vertraut zu machen mit der göttlichen Wahrheit. Die Definitivität der Gotteserkenntnis, die der inkarnierte Logos erschließt, ist von eschatologischer Art und mit der protologisch erschlossenen Gotteserkenntnis zwar vergleichbar, aber nicht gleichzusetzen. Wäre seit Anbeginn der Schöpfung nichts vorgefallen, dann hätte ein göttlicher Wink genügt, wie er sich in der creatio ex nihilo ereignete, um den Schein einer möglichen Störung der kreatürlichen Ursprungsordnung zu beseitigen und in seiner Scheinhaftigkeit zu erweisen. Aber Gott und der Logos wissen in ihrer göttlichen Weisheit, dass nicht davon ausgegangen werden kann, als wäre seit Anbeginn der Schöpfung nichts geschehen. Die Bestimmung kreatürlichen Seins und der menschlichen Existenz zumal ist daher nicht auf protologische Weise und gleichsam wie aus dem Nichts wiederherzustellen, sondern nur durch Setzung eines Neuanfangs in der geschaffenen Menschheit und Welt, wie sie mit der Inkarnation des Logos vollzogen und in Leben, Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi zur Vollendung gebracht ist. Nur durch sein leibhaftes Dasein, den leiblichen Tod und die leibliche Auferstehung des von ihm angenommenen individuellen Menschseins konnte der Logos auf angemessene Weise den Tod und das Verderbensgeschick für die Menschheit überwinden, welche beide ja nicht außerhalb, sondern im menschlichen Leib und durch ihn ihre üblen und verderblichen Wirkungen zeitigen. Im inkarnierten Logos, wie er in der Auferstehung des Gekreuzigten sich vollendet offenbart, sind Leib und Leben eins geworden, damit die leibhafte Seele des Menschen vom Verhängnis der Sündenschuld gerettet und vom Todesverderben der Verwesung befreit werde. Weil Tod und Verwesung nicht für sich, sondern infolge des Falls der Sünde und der verderblichen Folgen, die er zeitigte, leibhaftig ihr Unwesen treiben, konnten beide nur im Leibe, nämlich durch die Inkarnation des Logos zur Strecke gebracht und beseitigt werden, wie dies im Tod und im Auf­ erstehen Jesu Christi geschah. Indem sie im Glauben Anteil an diesem Geschehen gewinnen, sind Menschheit und Welt dazu befreit, getrost der Zukunft dessen entgegenzusehen, auf dessen Entgegenkommen eschatologischer Verlass ist, weil der inkarnierte Logos der Pantokrator ist, der den Kosmos, welcher seine Existenz der Schöpfungsmittlerschaft des Sohnes Gottes verdankt, zur Vollendung zu führen ebenso fähig wie willens ist. Nichts ist in der Lage, sich seiner Herrschaft zu entziehen. Gegen diese Einsicht werden sich die Heiden vernünftigerweise ebensowenig sperren können wie die Juden, denen die Ankunft des Erlösers und Versöhners eigens verheißen war. Seit die Theophanie des Logos unter den Menschen Wirklichkeit geworden ist, hat sich die vermeintliche Weisheit der Heiden als Torheit erwiesen und die wahre Weisheit Gottes auf Erden offenbart. Das Schwinden des paganen Dämonen- und Zauberglaubens und aller polytheistischen Konfusion sowie die unaufhaltsame Ausbreitung der Verehrung ein und desselben Herrn und Gottes gilt Athanasios

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hierfür als ebenso untrügliches Anzeichen wie die vielen Wunder und wundersamen-bewunderungswürdigen Ereignisse, die sich mit dem Gedächtnis Christi und seiner lebendigen Gegenwart bei den Seinen verbinden, die wie ihr Herr und Meister zu todesmutigen Lebens- und Friedensstiftern in einer friedlosen und mörderischen Zeit geworden sind. Genug der zahlreichen Beispiele, die Athanasios für die heilsame Wirkung des inkarnierten Logos aufführt: Wer den Logos nicht im Geiste zu schauen vermag, dem gibt er sich durch seine leibhafte Erscheinung wirkmächtig zu erkennen, damit deutlich werde, was der letzte Sinn und Zweck seiner Menschwerdung ist – die Vergöttlichung des Menschen und seine Erhebung aus dem Banne sinnlicher Verstrickung zur Erkenntnis des unsichtbaren Gottes und Vaters aller Dinge, in der Wahrnehmung von dessen Wahrheit sich menschliches Streben erfüllt und aus Leiden und Leidenschaft heraus zur seligen Ruhe im Grund und Ziel allen Seins gelangt. Athanasios schließt mit dem ermahnenden und ermutigenden Aufruf an den Freund Christi, dem er seinen Abriss der Glaubenslehre über Christus und seine göttliche Ankunft widmet, sich in die biblischen Schriften zu vertiefen, um zu fortgeschrittener Einsicht in das Geheimnis der Inkarnation zu gelangen und im Übrigen nach einem heiligmäßigen Leben zu streben, weil nur diejenigen Gott schauen werden, die reinen Herzens sind. Über die innere Mitte der Soteriologie des Athanasios wird man durch keine Vorstellung besser ins Anastasisikonographie Bild gesetzt als durch die der ostkirchlichen Tradition vertraute Anastasisikone und ihre Varianten. Sie bringt nicht etwa nur die Lehre von der Höllenfahrt Jesu Christi als ein Teilmoment des Heilsgeschehens von Kreuz und Auferstehung zur Darstellung, sondern die österliche Botschaft insgesamt und in der Totalität all ihrer Aspekte. Ikonographisch kennzeichnend ist die Darstellung des Osterereignisses „in Bezugsdimensionen, die keine isolierte Sicht eines vom Los der übrigen Menschheit unabhängigen Geschehens mehr erlauben, vielmehr die Totalität der Geschehensbedeutung im Hinblick auf die Gemeinsamkeit aller Sterblichen anzeigen“ (Schulz, 6). Wohl ist der Herr als er selbst auferstanden, aber doch nicht etwa nur für sich, sondern unseretwegen und um aller Menschen willen, an deren statt er stellvertretend den Kreuzestod erlitten hat. Der Solidarbezug zur Gemeinschaft der dem Tode und der Sünde Verfallenen gehört konstitutiv zur Heilsbotschaft von der Auferstehung des Gekreuzigten hinzu. Der neue Adam lässt den alten samt Eva nicht im Grabe und im Abgrund der Hölle, sondern entreißt beide der Verwesungsmacht des Todes und der Gewalt des Teufels, um auf diese Weise seinen Ostersieg unter Beweis zu stellen. Wer im Glauben auf den auferstandenen Gekreuzigten vertraut, den werden die Pforten des Todes und der Hölle nicht überwältigen, sondern der wird lebendigen Anteil haben an der Gottheit Gottes. Die Theosis des Menschen ist das eschatologische Ziel der Menschwerdung Gottes. Dieser Grundsatz altkirchlicher Soteriologie wird drei Jahrhunderte nach Athanasios durch Maximos Confessor erneuert, durch dessen Denken die östliche Theologie zu einem ihrer überragenden Höhepunkte geführt und zugleich in enge Verbindung mit westlichen Traditionen gebracht wurde. Er

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soll als zweites herausragendes Beispiel klassischer Soteriologie des christlichen­ Ostens angeführt werden. In der deutschsprachigen Theologie ist das Interesse Die Synthesen des am Denken von Maximos alias Maximus ConfesMaximus sor vor allem durch das Werk Hans Urs v. Balthasars „Kosmische Liturgie. Das Weltbild Maximus’ des Bekenners“ gefördert worden, das 1941 in Erstauflage, zwanzig Jahre später in einer überarbeiteten Zweitauflage erschienen ist – versehen mit deutschen Übersetzungen einiger zentraler Texte des großen Mystagogen. Nach v. Balthasar ist Maximus keineswegs der bloße Sammler und Kompilator von Disparatem gewesen, als der er lange Zeit hingestellt worden sei, sondern ein überragender Glaubensdialektiker, der umfassende Synthesen zu erstellen vermochte, ohne Unterschiede zu verschleifen, die er im Gegenteil im Vollzug der Synthetisierung in ihrem Differenzcharakter allererst zur rechten Geltung gebracht habe. Im Übrigen sei er ein in seiner Bedeutung schwer zu überschätzendes Bindeglied zwischen orientalem und okzidentalem Christentum: „Er ist der philosophisch-theologische Denker zwischen Ost und West.“ (v. Balthasar, 12) Die von ihm bereitgestellten Vermittlungspotentiale zwischen christlichem Morgen- und Abendland seien längst nicht ausgeschöpft. Auch wenn ein direktes „Verhältnis von Maximus (der so lange in Karthago weilte) zu Augustinus“ (v. Balthasar, 13) einstweilen nicht nachweisbar sei, so könne doch sein Gedanke einer „unvermischten Einheit“ göttlichen und menschlichen Willens in der Person Jesu Christi neue Perspektiven im sog. pelagianischen Streit eröffnen und das Verhältnis der Freiheit Gottes und des Menschen angemessen zu verstehen lehren (vgl. Weichlein). Auch als Bindeglied zwischen der alexandrinischkappadozischen Denkwelt, der er entstamme, und der aristotelisch geprägten mittelalterlichen Scholastik könne Maximus fungieren. In Vielem weise seine Systematik auf die großen Summen des westlichen Mittelalters voraus. Der Systemaufriss, den v. Balthasar zu Maximus bietet, folgt der Einsicht, dass alle Dinge bei ihm eingeordnet sind „in immer umgreifendere Synthesen … auf die letzte, alles rechtfertigende Synthesis Christi hin“ (v. Balthasar, 57). Die Synthese, die Jesus Christus in Person sei, vereine in sich Differentes als Differentes, ja sie lasse gerade durch Vereinigung Differentes differieren. Sie „eint, indem sie trennt, und trennt, indem sie eint“ (v. Balthasar, 62). Dieses christologische „Paradox der Synthese“ (ebd.) findet seinen offenbaren Grund im dreieinigen Gott, um im Verfolg der göttlichen Ökonomie den ganzen Kosmos zu durchwalten. Nach einer Chronik seines Lebens und Werks (vgl. v. Balthasar, 66–73) wird die Gotteslehre des Maximus (vgl. v. Balthasar, 74–131) trinitätstheologisch auf die kosmischen Synthesen hin expliziert, die in ihr grundgelegt sind. Sodann wird vom Menschengeschöpf und seiner Sündenschuld, von Pathos und Vergehen, von Existenz als Widerspruch, von der Dialektik der Leidenschaft und davon gehandelt, was v. Balthasar die „sexuelle Synthese“ nennt (vgl. v. Balthasar, 194–203). Wie die Sinnlichkeit überhaupt, so werde von Maximus auch die menschliche Sexualität grundsätzlich positiv bewertet; hingegen biete sie in ihrer zu konkupiszenter Gier entarteten Form das

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paradigmatische Exempel für die zentrale „Sünde der Philautie“ (v. Balthasar, 194), in der sich „Egoismus und pathische, fleischliche Lust“ (ebd.) begegneten. Die Anthropologie des Maximus, so v. Balthasar, wirke in ihrer Anlage völlig konventionell; der Mensch gelte ihr zufolge als ein zugleich intelligibles und sinnliches Wesen. In der „Nichtidentität des vernünftigen und unvernünftigen Teils des Menschen“ (v. Balthasar, 193) sei zwar potenziell das Böse beschlossen, aber auf eine, wenn man so will, noch verschlossene, eben lediglich potenzielle Weise. Aktiviert werde die böse Potenz erst durch eine intelligible Tat sich in sich verkehrender Vernunft, deren Grundverkehrtheit just darin bestehe, sich in einem perversen Willensentschluss vernunftloser Sinnlichkeit zu unterwerfen, die eben dadurch vernunft­widrigen Charakter annehme und zur Begierde entarte. Grund oder besser gesagt: Abgrund der Selbstverkehrung der Vernunft ist ihre Abkehr von Gott, die als unbegreiflich, weil begriffs- und vernunftwidrig qualifiziert werden muss. In ihrer Sinnwidrigkeit manifestiert sich gemäß der Maximusinterpretation v. Balthasars „der innere Widerspruch der Sünde, der alsbald als ihre immanente Strafe ausbrechen wird. In der sinnlichen Lust sucht der Geist einen selbstischen Ersatz seiner Hingabe an Gott; diese Hingabe trennt ihn gerade deshalb egoistisch ab, statt ihn mit dem Geliebten zu einen.“ (v. Balthasar, 194) Die Wollust erfüllt nicht, was sie verheißt, sondern wird dem Menschen zum Verhängnis dergestalt, dass seine gottunterschiedene Endlichkeit tödliche Form annimmt. So wird der Tod zum Sold der Sünde: Die Gier erzeugt Todesangst, statt sie zu bewältigen, und „die Verewigung des Lebens, die der Mensch erstrebt, ist eine Verewigung des Todes“ (v. Balthasar, 196). Aus diesem teuflischen Kreislauf findet der in sich verkehrte Mensch nicht heraus. Um einen Ausweg zu eröffnen, muss Gott selbst auf den Plan treten. „Mit fast geometrischer Strenge“, so v. Balthasar, „baut Maximus seine Lehre von der Menschwerdung auf die Anthropologie der Erbsünde auf.“ (v. Balthasar, 200) Die Inkarnation des göttlichen Logos muss in Gestalt des zweiten Adam zurechtbringen, was durch den ersten Adam verkehrt wurde: Das Verhältnis des Menschen zu Gott und mit diesem das menschliche Verhältnis zu sich selbst und zur Welt. Durch seine­ philautia statt zu Gott in ein religiöses Verhältnis zu sich selbst getreten lässt sich der Mensch durch Sinnlichkeit beherrschen, womit er sich um seine kreatürliche Vernunft bringt und einer Begierde verfällt, die den Schein vitalen Lebens erzeugt, in Wahrheit aber tödlich ist und die Strafe des Todes in sich trägt. Um die todbringende Dialektik der Sünde zu beheben, war es nach Maßgabe der Maximusinter- Wider die todbringende pretation v. Balthasars nötig, dass Jesus Christus Sünde ein Personleben in der Differenzeinheit von Mensch und Gott führte und stellvertretend die Angst vor dem Tode und diesen selbst erlitt und zwar als ungeschuldete Passion für jene pathe, die kennzeichnend ist für das Unwesen der Sünde. Durch sein williges Leiden, das er um Gottes und des Menschen willen auf sich nahm, setzte Jesus Christus der Tödlichkeit des Todes ein Ende, welche die sinnliche Leidenschaft herbeibeschworen hatte. Der Sünd-

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lose setzt sich selbst der Sünde und ihren Versuchungen aus, ohne ihnen zu erliegen. Dabei verhilft der Dyotheletismus des Maximus dazu, dieses Geschehen nicht nur äußerlich, sondern von innen her zu erfassen. „Um die Sünde innerlich zu überwinden, musste diese auf irgendeine Weise selbst innerlich werden.“ (v. Balthasar, 261) Am Kreuz wurde Jesus Christus des Unwesens der Sünde bis dahin inne, dass ihm sein Leiden und Sterben als Strafe für seine menschliche Natur, ja als Schuld seines Menschenwesens erscheinen musste. Doch ging er in der fremden Sündenschuld, die er sich aneignete, nicht unter, sondern erhob sich aus Grab und Höllentiefen in der Kraft des göttlichen Geistes, der ihn erweckte, um verherrlicht zu werden und allen an seiner Herrlichkeit Anteil zu geben, die an ihn glauben. Die Versöhnung von Gott und Mensch im auferstandenen Gekreuzigten, der in der personalen Einheit seiner beiden Naturen und Willen österlich-pfingstlich in Erscheinung tritt, wurde so zur Grundlage der Versöhnung des Menschen mit sich selbst samt Mitmensch und Welt sowie zur Voraussetzung und zum Urbild aller spirituellen Synthesen, wie sie für das Christentum kennzeichnend sind (vgl. v. Balthasar, 274–359). Worum es sich dabei näherhin handelt, hat Walther Völker in seiner Monographie „Maximus Confessor als Meister des geistlichen Lebens“ umfassend zur Darstellung gebracht; das Werk ergänzt gemäß eigener Einschätzung dasjenige v. Balthasars „nach der asketisch-mystischen Seite hin“ (Völker, V; vgl. Philokalie, 54–392). Das Denken von Maximus Confessor ist in Theorie und Praxis ganz auf das Werk gottmenschlicher Erlösung und Versöhnung mit dem Ziel der Theosis ausgerichtet, zu der die Menschengeschöpfe durch ihre Gottebenbildlichkeit bestimmt sind. Diese Bestimmung besagt nicht, dass der Mensch durch Angleichung an Gott aufhören sollte, Mensch zu sein. Die menschliche Theosis erfüllt sich im Gegenteil in Form der Menschwerdung des Menschen, wie sich an der Theanthropologie des Maximus exemplarisch studieren lässt. Dieser wird von seinen Interpreten einhellig als der Vollender der chalcedonischen Christologie und als ein Denker gerühmt, der das altkirchliche Dogma zu einer großen systematischen Synthese gestaltet habe (vgl. im Einzelnen Bausenhart, 9). Er sei der mit Abstand bedeutendste Theologe der byzantinischen Kirche des 7. Jahrhunderts gewesen und dabei „in lebendiger Verbindung mit der westlichen Kirche“ (Altaner / Stuiber, 521) gestanden, was man sowohl in christologischer als auch in hamartiologisch-soteriologischer Hinsicht erkennen könne. Was die für seine Soteriologie konstitutive und exemplarische Christologie betreffe, so sei für sie der Gedanke der freisetzenden Einheit grundlegend: „Es geht um die Erkenntnis, daß die Einheit des göttlichen Logos mit dem menschlichen Wesen, die hypostatische Union also, keine Beeinträchtigung, sondern im Gegenteil die Freisetzung der humanitas Jesu in ihren geschöpflichen Selbstand bedeutet.“ (Stickelberger, 375) Je inniger die Einheit Gottes und des Menschen in Jesus Christus gedacht werde, desto schärfer trete „auch die von Gott selbst gesetzte Differenz zwischen ihm und seinem Geschöpf in Erscheinung“ (Stickelberger, 376). Die gegenseitige Durchdringung von göttlicher und menschlicher Natur in der Person des Gottmenschen sei bei Maximus konsequent als­

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henosis asynchytos, also als eine perichoretische Einheit gefasst, welche die radikale Unterscheidung des Menschen von Gott ebenso in sich befasse wie den Unterschied des hypostatisch differenzierten einen Gottes von seinen Geschöpfen. „Gerade die hypostatische Union wacht darüber, dass die Differenz der Naturen gewahrt bleibt.“ (Stickelberger, 377) Sie ist als eine Einheit der Verschiedenen manifest, deren Verschiedenheit keinerlei trennenden Charakter hat, ohne deshalb aufzuhören, Verschiedenheit zu sein. Die Einheit des Menschen Jesus mit dem göttlichen Logos hebt sein Menschsein nicht absorbie- Dyotheletismus rend auf, sondern erfüllt es und zwar so, wie es der Eigenbestimmung des Menschen als eines Menschen gemäß ist. Die gänzliche Logosbestimmtheit des Personseins Jesu Christi mindert also nicht etwa dessen menschliche Selbstbestimmung, sondern lässt diese als ein offenbares Vollendungsdatum in Erscheinung treten und sich realisieren. An der „Struktur des Menschseins Christi bei Maximus Confessor“ hat Felix Heinzer diese Einsicht umfassend aufgewiesen und gezeigt, dass und inwiefern sie die Grundlage bildet für seinen entschiedenen und unbeugsamen Dyotheletismus. Die dyotheletisch bestimmte Christologie des Maximus begründe eine Sicht des Heilsmysteriums, „in der je größere Nähe zu Gott zugleich je größere Freisetzung und Verwirklichung des Menschen“ (Heinzer, 118 f.) bedeute. Theosis meine entsprechend „nicht eine Auflösung des Menschlichen in Gott hinein, sondern vielmehr gerade die volle Verwirklichung menschlichen Daseins“ (Heinzer, 144). Jesus Christus selbst stehe für diese in ihm offenbare Wahrheit in Person ein. Die enhypostatische „Inexistenz“ seiner menschlichen Einzelnatur im göttlichen Logos als der zweiten Hypostase der Trinität wahre sein Menschsein nicht nur, sondern bringe die menschliche Bestimmung des Menschen auf menschliche Weise und in Gestalt eines einzelnen Menschen zur Erfüllung und zwar unter Einwilligung von dessen selbstbestimmten Eigenwillen. Damit sei die Gefahr einer physizistischen Äußerlichkeit der Zwei-NaturenLehre überwunden und die Möglichkeit erschlossen, des theanthropologischen Gehalts der Christologie innerlich gewahr zu werden. Ohne den dezidierten Antimonotheletismus des Maximus wäre diese Wahrheit nach Heinzers Urteil nicht ans Licht gelangt. Gegen den Monotheletismus und Monenergismus insistiert Maximus Confessor darauf, dass Jesus Christus mit seinen beiden Naturen sowohl willensbegabt als auch handlungsfähig war. Weder wurde, was Jesus Christus wirkte, nur durch eine Energie gewirkt, noch war sein Wille lediglich einer. Denn ein eigener Wille eignet Jesus Christus nicht nur nach seiner Gottheit, sondern auch nach seiner Menschheit, die zur Selbstbestimmung befähigt ist. Indes darf der eigene Wille des Menschen Jesus nie eigenwillig im Sinne unmittelbarer Selbstbestimmung genannt werden. Er ist nämlich nach Maßgabe des identischen Personseins Jesu Christi stets ein mit dem göttlichen Willen einiger und einer, ohne deshalb aufzuhören, ein eigener, vom göttlichen unterschiedener Wille zu sein. Es ist im Gegenteil so, dass der menschliche Wille, indem er in den göttlichen einwilligt und mit ihm einig und

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eins ist, zur Erfüllung seiner eigenen Bestimmung und zu vollkommener Selbstbestimmung und Freiheit gelangt. Daraus erhellt, dass der freie Wille des Menschen Jesus Christus nicht mit dem gleichgesetzt werden darf, was Erasmus und andere später liberum arbitrium genannt haben. Maximus unterstreicht dies durch seine Bestreitung, der Mensch Jesus habe ein thelema gnomikon, einen gnomischen Willen besessen. „Unter dem gnomischen Willen versteht Maximus das konkrete SoWollen des Willens, das heißt die Freiheit (prohairesis), zwischen dem Guten und Bösen wählen zu können. Die höchste Freiheit des Menschen besteht für Maximus darin, ganz und gar für den göttlichen Willen und damit für das Gute entschieden zu sein – und zwar so radikal entschieden, dass es dem Willen unmöglich ist zu sündigen. Was von unserem Willen aufgrund seiner Inklination zum Bösen bestritten werden muss, das gilt deshalb vom menschlichen Willen Christi: das non posse peccare das heißt das ‚Nicht-sündigen-können‘.“ (Hoping, 119) „Was haben wir dir Böses getan, Herr Abt M ­ aximos, Disputatio cum Pyrrho ich und meine Vorgänger, daß du uns überall so angreifst und uns bei allem eine häretische Meinung zuschreibst“ (Bausenhart, 196), fragt der ehemalige Patriarch von Konstantinopel Pyrrhos (vgl. Bausenhart, 237) seinen Kontrahenten. „Mit welcher Meinung haben wir denn die christliche Überzeugung verworfen?“ (Bausenhart, 196) M ­ aximus antwortet prompt: „Mit der Meinung vom einen Willen der Gottheit Christi und seiner Menschheit …“ (Ebd.; MPG 91, 287: „Hen thelema tes theotetos tou Christou, kai tes anthropotetos autou doxantes.“). Ein Dutzend Jahre vor der berühmten Disputation zwischen ihm und Pyrrhos (vgl. MPG 91, 289–354) hatte der byzantinische Kaiser Heraklius die sog. Monophysiten mit der Formel für das Chalcedonense zu gewinnen versucht, derzufolge die die göttliche und die menschliche Natur vereinende Person Jesu Christi alles mit einer gottmenschlichen Energie wirke. Die politischen Gründe für die religiösen Einheitsbestrebungen waren verständlich: Wurde doch das Reich im Osten und im Süden nicht nur von „nationalkirchlichen“ Tendenzen, sondern auch durch herandrängende Sassaniden und dann verstärkt durch den islamischen Ansturm bedrängt. Als gegen den religionspolitischen Einigungsvorschlag des Kaisers, wonach Christus ein und dieselbe Wirksamkeit zuzuschreiben sei, Bedenken laut wurden und sich theologischer Widerstand formierte, forderte die Ekthesis pisteos des Heraklius von 638 (unter Verbot weiteren Streits um die Energienfrage), von dem einen thelema Jesu Christi zu sprechen: Nie habe dieser seiner Menschheit nach gesondert und aus eigenem Antrieb heraus seine natürlichen Bewegungen vollzogen, sondern wann, wie und in welchem Maße es dem göttlichen Logos gefiel (vgl. Bausenhart, 239). Somit müsse ein einziger Wille Jesu Christi bekannt werden. Gegen diesen christologischen Monotheletismus polemisiert Maximus, wenn er Pyrrhos vorhält, mit der Unterstützung der Ekthesis der Kirche als dem Leibe Christi schweren Schaden zugefügt zu haben. „Pyr.: Glaubst du etwa, daß, wer einen einzigen Willen Christi vertritt, sich von der christlichen Lehre entfernt hat? Max.: Ganz und gar.“ (Bausenhart, 197; MPG 91, 287: „Pany men oun.“)

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Trotz des 648 durch Konstans II. erlassenen kaiserlichen Verbots einer Fortsetzung der Debatte insistierte Maximus gegen den sog. Monenergismus und Monotheletismus darauf, dass in Jesus Christus unbeschadet der Einheit seiner Person in Entsprechung zu seinen beiden Naturen mit zwei Willen zu rechnen sei. Auch der Bischof von Rom, Martin I., teilte diese Auffassung und lehrte im Widerspruch gegen den Erlass des Kaisers dyotheletisch. Unter seiner „richtungsweisenden Leitung … fand im Oktober 649 im römischen Lateranpalast eine Synode von 105 Konzilsvätern gegen die Monotheleten statt“ (Riedinger, 111). In der Folge wurde der Papst auf kaiserlichen Befehl hin gefangen genommen und exiliert. Noch schlimmer erging es Maximus. Er wurde nach Konstantinopel verschleppt, verurteilt und verbannt und, nachdem er auch nach einem zweiten Prozess unbeugsam geblieben war, aufs Schrecklichste verstümmelt: Die rechte Hand wurde ihm abgehackt, seine Zunge herausgeschnitten; am 13. August 662 erlag er an der Ostküste des Schwarzen Meers, wohin er deportiert worden war, seinen Verletzungen. Maximus der Bekenner war ein dezidierter Dyothelet: In der einen Person Jesu Christi walten zwei den beiden Naturen zugehörige Willen, wenngleich mit einheitlicher Intention und in vollkommener Gemeinschaft unter- und miteinander. Die Monotheleten wandten ein, dass zwei Willen auch zwei wollende Personen voraussetzen würden. Dem widersprach Maximus mit dem Argument, dass der menschliche Wille Jesu Christi sich als menschlicher Wille gerade darin vollende, in seiner Unterschiedenheit und Selbstunterscheidung vom göttlichen ganz mit diesem eins zu sein, wie denn auch umgekehrt der göttliche Wille in der Vereinigung mit dem von ihm unterschiedenen Willen des Menschen Jesus seine Erfüllung finde. Leitend für diese Einsicht war der bereits erwähnte Gedanke der henosis asynchytos, den Maximus aus der neuplatonischen Philosophie aufgriff (vgl. Uthemann), um ihn christologiegemäß zu transformieren. Durch die „unvermischte Einigung“ von göttlicher und menschlicher Natur in der Person Jesu Christi sei das Menschsein des Menschen zu vollendeter Erfüllung gebracht und zwar auf eine nicht nur göttlich, sondern auch menschlich gewollte Weise. Zwar spricht Maximus der menschlichen Natur Jesu Christi keine Wahlfreiheit im Sinne eines libe- Perichorese rum arbitrium zu. Aber dies bedeutet keineswegs die Leugnung des Willens des Menschen Jesus und der Freiheit seiner Selbstbestimmung. Deutlich gemacht wird allerdings, dass Willensfreiheit etwas gänzlich anderes ist als willkürliches Belieben. Das arbiträre Moment der Freiheit und mit ihr die Möglichkeit zu sündigen ist im Menschsein Jesu Christi bestimmt negiert und von Grund auf willentlich behoben. Der menschliche Wille Jesu Christi will in seinem Gottesverhältnis nicht wählender Wille im Sinne arbiträrer Entscheidungsfreiheit sein, weil er kein willkürlicher, beliebiger und eigensinniger, sondern ganz und gar ein Wille sein will und tatsächlich ist, der in Gott die Erfüllung seiner selbst sucht und findet. Die Personierung der Person Jesu Christi durch den göttlichen Logos, also dasjenige, was man traditionell Enhypostasie bzw. die anhypostatische Verfassung der Menschennatur Jesu Christi nennt, schränkt nach Maximus seinen

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menschlichen Selbstvollzug nicht etwa ein, weil die Hypostase des Gottmenschen als dynamisches Selbstsein seiner Naturen (vgl. Bausenhart, 168 ff.) und Perichorese als Vollzug der gottmenschlichen Person (vgl. Bausenhart, 172 ff.) gedacht werden muss. Die perichoretische Struktur der Vergöttlichung des Menschen (vgl. Bausenhart, 178 ff.) und damit die Grundstruktur des soteriologischen Theosiskonzepts von Maximus ergeben sich aus dieser christologischen Einsicht. Man hat Maximus eine „soteriologische Vertiefung des Glaubens von ­Chalzedon“ (Studer, 241; bei St. kursiv) attestiert und vermerkt, dass seine konsequent dyotheletische Christologie des Heilswerkes Christi auf eine Weise inne zu werden vermöge, die jede quasinaturalistische Äußerlichkeit hinter sich lasse. Unbestreitbar hat die Fortentwicklung, welche die chalzedonische Christologie bei ihm gefunden hat, bemerkenswerte soteriologische Folgen gezeitigt und zu einer, wenn man so will, verinnerlichten Erkenntnis des Heilswerkes Jesu Christi geführt. Maximus hat „ohne Zweifel das Grundanliegen der altchristlichen Erlösungslehre zur letzten Konsequenz geführt, das im Axiom quod non assumptum  – non sanatum seit jeher ausgesprochen worden war. Er hat nämlich darin herauszustellen vermocht, daß das ewige Wort durch die Annahme des Innersten, was es im Menschen gibt, der menschlichen Freiheit, den Menschen auch von dem befreit hat, was ihn zuinnerst in den Gegensatz zu Gott stellen kann, die sündige Auflehnung.“ (Studer, 245) Nicht zuletzt wegen dieser Leistung ist Maximus Confessor zu einer der großen Vermittlungsgestalten ost- und westkirchlicher Theologie geworden.

6. Die Satisfaktionstheorie Anselms und das Alternativkonzept Abaelards Lit.: Abaelard, Expositio in epistulam ad Romanos. Römerbriefkommentar. Lateinisch / Deutsch. Übers. u. eingel. v. R. Peppermüller, Freiburg u. a. 2000. – Anselm von Canterbury, Cur Deus homo. Warum Gott Mensch geworden ist. Lateinisch und Deutsch (= CDh), Darmstadt 31970. – Ders., De veritate. Über die Wahrheit (= DV). Lateinisch-deutsche Ausgabe von F. S. Schmitt, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966.  – Ders., De libertate arbitrii. Über die Freiheit des Willens (= DLA), in: ders., Freiheitsschriften. Lateinisch / Deutsch. Übers. u. eingel. v. H. Verweyen, Freiburg u. a. 1994, 61–119. – H. U. v. Balthasar, Kosmische Liturgie. Das Weltbild Maximus’ des Bekenners, Einsiedeln 21961. – Das Leben des Heiligen Anselm von Canterbury. Beschrieben von seinem Schüler und unzertrennlichen Begleiter, dem Mönch Eadmer. Übers. v. G. Müller, München 1923. – St. Ernst, Anselm von Canterbury, München 2011. – Ders./Th. Franz (Hg.), Sola ratione. Anselm von Canterbury (1033–1109) und die rationale Rekonstruktion des Glaubens, Würzburg 2009. – F. van Fleteren, Traces of Augustine’s De Trinitate XIII in Anselm’s Cur Deus Homo, in: P. Gilbert u. a. (Hg.), Cur Deus homo, Rom 1999, 165–178. – G. Gäde, Eine andere Barmherzigkeit. Zum Verständnis der Erlösungslehre Anselms von Canterbury, Würzburg 1989. – G. E. M. Gasper, Anselm’s Cur Deus Homo and Athanasius’s De incarnatione: some questions of comparison, in: P. Gilbert u. a. (Hg.), a. a. O., 147–164.  – J. Gottschick, Studien zur Versöhnungslehre des Mittelalters, in: ZKG 22 (1901), 378–438 und 23 (1902), 35–67; 191–222; 321–375. – F. Hammer, Genugtuung und Heil. Absicht, Sinn und Grenzen der Erlösungslehre Anselms von Canterbury, Wien 1967. – R. Haubst, Anselms Satisfaktionslehre einst und heute, in: Analecta Anselmiana. Untersuchungen über Person und Werk Anselms von Canterbury, Bd. IV/2, Frankfurt a. M. 1975. – R. Hermann, Anselms Lehre vom Werke Christi in ihrer bleibenden Bedeutung, in: ZSTh 1 (1923), 376–396. – L. Hödl, Art. Anselm von Canterbury, in: TRE 2, 759–778. – K. Kienzler, Gott ist größer. Studien zu Anselm von Canterbury, Würzburg 1997.  – R. Peppermüller, Abaelards Auslegung des Römerbriefs, Münster 1972. – J. Pieper, Über den Begriff der Sünde, München 1977. – G. Plasger, Die NotWendigkeit der Gerechtigkeit. Eine Interpretation zu „Cur Deus homo“ von Anselm von Canterbury, Münster 1993. – F. S. Schmitt, Art. Anselm von Canterbury, in: RGG3 I, Sp. 397 f. – R. Schwager, Der Sieg Christi über den Teufel. Zur Geschichte der Erlösungslehre, in: ZThK 103 (1981), 156–177. – D. F. Strauß, Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft. 2 Bde., (Tübingen / Stuttgart 1841) Darmstadt 2009. – C. De Vocht, Maximus Confessor (ca. 580–662), in: TRE 22, 298–304. – K. Wengst, „… daß der Gesalbte gemäß den Schriften für unsere Sünden gestorben ist“. Zum Verstehen des Todes Jesu als stellvertretender Sühne im Neuen Testament, in: ETh 72 (2012), 22– 39. – H. Verweyen, Anselm von Canterbury 1033–1109. Denker, Beter, Erzbischof, Regensburg 2009. – B. A. Zimmermann, Die Gesetzesinterpretation in den Römerbriefkommentaren von Peter Abaelard und Martin Luther. Eine Untersuchung auf dem Hintergrund der Antijudaismusdiskussion, Frankfurt a. M. 2004.

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Maximus Confessor trägt seinen Namen zu Recht: Er war nicht nur ein Blutzeuge, der seinen Bekennermut mit Leiden und Tod bezahlte, sondern auch ein überragender Theologe, dem eine Mittlerfunktion zwischen Ost und West zuzuerkennen ist. Seine Sündenlehre ist von augustinischer Strenge, ohne auch nur ansatzweise in den Verdacht manichäischer Tendenzen zu geraten, und seine Soteriologie bewahrt das athanasianisch-altkirchliche Erbe in sich, um sich zugleich als aufgeschlossen für Entwicklungen innerhalb der okzidentalen Scholastik zu erweisen. Wer sich einen ersten und nachhaltigen Eindruck von dem großen Denker und Mystagogen verschaffen möchte, der greife zu den „Vier Zenturien über die Liebe“ (vgl. MPG 90, 959–1082), der „in den griechischen Klöstern meistgelesene(n) seiner Schriften“ (De Vocht, 299). Ihr Grundsatz lautet: Gottesliebe hat rechte Selbst- und Nächstenliebe zur Folge, wohingegen Abwendung von Gott zu Selbstverkehrung und Fremdenhass führt (vgl. MPG 90, 961 ff.). Schuld an der Abkehr von Gott ist Maximus zufolge neben Welt- und Kreaturvergötterung die Selbstvergottung des Menschen, der in dem, was philautia genannt wird, sein will wie Gott. Der Begriff der philautia bezeichnet genau dies, was Augustin amor sui nennt (vgl. v. Balthasar, 408 f.). Mag sein, dass Maximus während seines langen Aufenthalts in Nordafrika, wohin er sich im Jahre 626 während der persischen Belagerung Konstantinopels begeben hatte, mit augustinischem Gedankengut in Berührung gekommen ist, wie H. U. v. Balthasar vermutet. Aber auch wenn dies nicht der Fall gewesen sein sollte, ist die sachliche Parallele offenkundig. Ähnliches gilt in Bezug auf den pathe-Begriff, der nicht von ungefähr an den für Augustins Hamartiologie zentralen Begriff der Konkupiszenz erinnert. Bemerkt zu werden verdient, dass pathe sich nach Maximus keineswegs nur in hybris und in Formen der Selbstüberhebung äußert; die Verfallsform von Leidenschaft kann auch die Gestalt der akedia annehmen, des dumpfen Versinkens in sich selbst (vgl. v. Balthasar, 413). Klarzustellen ist, was freilich auch für Augustin gilt, dass Maximus mit pathe nicht die menschliche Sinnlichkeit als solche bezeichnet, die wie die sinnliche Welt und wie alles Geschaffene durchaus als ein Gut gelten darf, sondern die durch eine geistige Verfehlung des Menschen um ihre Bestimmung gebrachte und zur Gier pervertierte Sinnlichkeit. Nicht das Geschaffensein des Geschaffenen ist schuld am Bösen, sondern der kreatürliche Missbrauch der Schöpfung. Parachreisis verkehrt das Gute zum Bösen. Zwar trägt die Sinnlichkeit zur Verkehrung bei; sie hat, nachgerade in Form fleischlicher Lust, die Potentialität einer Betörung, die den vernunftbegabten Willen zum Tor zu machen und um seine Vernunft zu bringen vermag dergestalt, dass er sich als Opfer fühlt. Gleichwohl ist er selbst schuld daran, der sinnlichen Verführung erlegen zu sein: ist er doch vermöge seiner Vernunft­ begabung dazu bestimmt, Herrscher der Triebe zu sein, statt sich von ihnen äußerlich und innerlich beherrschen und unterjochen zu lassen. Vier Zenturien über die Liebe

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Maximus ist kein Leibfeind. Dass geistiger Genuss per se nur leiblosen Wesen möglich sei, bestreitet Lust und Freude er. Er kennt schöpfungsgemäße Lust und bestimmt ihren kreatürlichen Begriff so, dass von einer abstrakten Negation menschlicher Sinnlichkeit nicht die Rede sein kann. Wahre Lust besteht nicht in Abstraktion von Sinnlichkeit, sondern in der Freude, die sich einstellt, wenn alle sinnlichen Belange geistig durchformt und auf beherrschte Weise gestaltet werden. Erst wenn sie in schöpfungswidriger Weise beherrschende Stellung einnimmt und die Seele unterjocht, wird Lust zum Verderben mit jenen schmerzlichen Folgen, für welche zuletzt der Tod selbst steht, der mit dem Apostel als der Sünde Sold zu bezeichnen ist, nicht aber von ihrer Schuld zu befreien vermag. Dazu ist kein Werk des gefallenen Menschen und auch nicht sein Leiden und Sterben in der Lage, sondern nur der Tod dessen, in dem Gott selbst Mensch geworden ist. Nach dem Eintritt dessen, was er mit der Tradition den Fall der Sünde nennt, ist gemäß Maximus die conditio humana dergestalt verfasst, dass ohne ein Eingreifen Gottes kein Heil für den Menschen mehr möglich ist. Zwar stellt die Sünde kein naturhaftes Datum dar, sondern ist willentlich verschuldet. Aber seit sie durch die Schuld des Menschen in die Welt gekommen ist, kann sie fatalerweise selbst beim besten menschlichen Willen nicht mehr behoben werden. Dies ist nur dem Willen Gottes möglich und seinem Entschluss zur Inkarnation des göttlichen Logos. Im Mysterium der Menschwerdung Gottes, das alles Begreifen transzendiert und zugleich erfüllt, wonach jeder vernünftige Wille trachtet, ist das Heil beschlossen, sofern der Fall des alten Adam in der Erniedrigung des neuen als der Inkarnationsgestalt des göttlichen Logos seine Aufhebung findet. Vollbracht ist der Prozess der Erniedrigung am Kreuz, das durch die Auferweckung und Auferstehung des gekreuzigten Jesus Christus zum Heilszeichen aufgerichtet ist, das Versöhnung und Erlösung wirkt. Die Eigenart des staurologischen Befreiungsgeschehens konnte Maximus unter Rückgriff auf das alte Motiv des Teufelsbetrugs in derber Drastik beschreiben. Gott hält dem satanischen Drachen die menschliche Natur Jesu Christi als Köder unter die Nase, so dass der böse Leviathan in der ihm eigenen unersättlichen Gier sein Schandmaul aufreißt und den Sündlosen verschlingt. Doch kann er ihn ob seiner Sündlosigkeit nicht im Höllenschlund behalten, sondern muss den wahren Adam sogleich wieder von sich geben; und indem er sich übergibt, muss er mit dem verschluckten Gottmenschen die ganze Menschheit aus sich entlassen, die am inkarnierten Gottessohn hängt (vgl. MPG 90, 1181 f.). So drastisch die Schilderung – aufs Ganze gesehen bleibt das Motiv des Teufelsbetrugs bei Maximus marginal. Zentral dagegen ist das erwähnte Argument, wonach der Gottessohn sich als Menschensohn erniedrigt, um durch seine Erniedrigung alle gefallenen und verlorenen Söhne und Töchter des Menschengeschlechts an sich zu ziehen, ihnen durch erneuerte Logospartizipation theosis zu bereiten und sie erneut an seiner Gottheit teil­ nehmen zu lassen (vgl. MPG 90, 1203 f.). Voraussetzung dafür ist die Behebung ihrer Schuld, wie sie der Sündlose durch seinen Tod bewirkt. Von einer dem

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Teufel geschuldeten Lösegeldzahlung oder von vergleichbaren Rechtsverpflichtungen Gottes dem Satan gegenüber liest man bei Maximus in diesem Zusammenhang nichts. Der Teufel besitzt kein Recht gegenüber dem MenKeine Lösegeldzahlung schen, geschweige denn Gott gegenüber. Die Voran den Teufel stellung, durch den Tod Jesu Christi habe ein teuflischer Rechtsanspruch befriedigt werden müssen, hat deshalb als abwegig zu gelten. Zwar scheint durch die Sünde, zu der er die Menschen verführte, ein Besitz- und Eigentumsrecht des altbösen Feinds bezüglich des Sünders begründet zu werden. Doch ist dies in Wahrheit nicht der Fall, weil ein vermeintlicher Rechtsgrund, der auf schierem Unrecht basiert und in nichts besteht als in der Verkehrung des Rechts, vor Gott keine Geltung hat. Anderes zu behaupten, hieße den Teufel als gleichrangigen Partner Gott zur Seite zu stellen, was theologisch nicht nur unmöglich, sondern an sich selbst teuflische Sünde ist: „(S)i diabolus aut homo suus esset aut alterius quam dei, aut in alia quam in dei potestate maneret, forsitan hoc recte diceretur. Cum autem diabolus aut homo non sit nisi dei et neuter extra potestatem dei consistat: quam causam debuit agere deus cum suo, de suo, in suo, nisi ut servum suum puniret, qui suo conservo communem dominum deserere et ad se transire persuasisset, ac traditor fugitivum, fur furem cum furto domini sui suscepisset?“ (CDh I,7) Anselm von Canterbury hat sich mit seiner Sicht durchgesetzt, wonach der Gedanke einer Lösegeldzahlung an den Teufel soteriologisch unangemessen und abzulehnen sei; diese Annahme begegnet in der Folgezeit kaum mehr. Entsprechendes gilt für die im Kirchenvolk beliebte Vorstellung einer Erlösung des Menschengeschlechts durch göttliche Überlistung Satans. Indes darf man die Bedeutung beider Vorstellungskomplexe auch für die Zeit vor Anselm nicht überbewerten, wie das Beispiel des Athanasios oder des Maximus belegt (vgl. Gasper; ferner: Schwager). Der Akzent der altkirchlichen Erlösungslehren liegt nicht auf wie auch immer gearteten Maßnahmen gegenüber dem Teufel, sondern auf der Überwindung des Todes als der üblen Folge des Sündenfalls. Von der Befriedung von Ansprüchen Satans ist mit Vorliebe in häretischen Kreisen und ansonsten, wenn überhaupt, nur am Rande die Rede. Bei Markion und anderen Gnostikern findet sich die Lehre, der Gott der Güte habe die Freilassung des sündigen Menschen nur durch ein Zugeständnis an den Demiurgen bewirken können. Kirchlicherseits wurde die Notwendigkeit dieser Leistung an den Teufel zwar ausdrücklich abgelehnt, da der Apostat keinen eigentlich rechtmäßigen Anspruch auf den Menschen habe; aus Billigkeitsgründen, so meinte man, habe sich Gott aber dennoch entschieden, den Menschen durch Zahlung eines Lösegelds an den Teufel freizukaufen. Denn es sei, so etwa Irenäus (adv. haer. V, 1,1; MPG 7, 1119 f.), der göttlichen Vollkommenheit angemessener, selbst gegen den Ungerechtesten nicht mit unmittelbarem Allmachtsanspruch, sondern nach Art der Gerechtigkeit zu verfahren. Indem Christus den Menschen durch sein unschuldig vergossenes Blut aus der Macht des Teufels erlöst habe, habe er mit

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rechtmäßigen Mitteln die unrechtmäßige Herrschaft der Apostasie überwunden. In mannigfachen Formen ausgeführt und teilweise vermischt mit anderen Vorstellungen findet sich dieselbe Anschauung bei Origenes und vielen anderen. Auch im Abendland hatte die eigentümliche Lehre ihre Anhänger. Kein Geringerer als Augustin (vgl. van Fleteren) konnte sich mit der Theorie von einem an den Teufel bezahlten Lösegeld befreunden (vgl. etwa De Trin XIII,13/MPL 42,1026 ff.). Bei Augustin findet sich auch die Idee, dass der Teufel durch seinen höllischen Angriff auf den schuldlosen Gottmenschen Jesus Christus sein Recht auf das ganze Menschengeschlecht verwirkt habe. Mit dieser Auffassung hatte sich seit alters die Vorstellung vom Teufelsbetrug verbunden: sie findet sich bereits in der frühen Patristik und wurde später immer wieder aufgenommen, etwa, wie erwähnt, von Maximus, wenngleich nur am Rande. Der Teufel, dem der Gottmensch gegen die sündige Menschheit angeboten wird, geht, weil er über der menschlichen Gestalt des Sohnes Gottes die ihm innewohnende allmächtige Gottheit vergisst, begierig auf den Tausch ein, sieht sich dann freilich außerstande, den Sündlosen festzuhalten, und geht so zuletzt völlig leer aus. Der Betrug des Teufels besteht mithin recht eigentlich darin, dass jener durch seine blinde Konkupiszenz sich selbst täuschte. „Wie ein kluger Fischer verbarg Gott die höhere Natur Christi als die Angel unter der Lockspeise des Fleisches: der Teufel aber, wie ein gieriger Fisch, verschlang mit dieser auch jene. … Jener unrechte Biss bekam aber dem alten Leviathan so übel, dass er, wie einst Saturn, alle diejenigen wieder von sich geben musste, die er zuvor verschlungen hatte.“ (Strauß II, 254 f.) Die Vorstellung vom „geprellten Teufel“ (Strauß  II, 255) stieß schon frühzeitig auf religiöse und dogma- Erste scholastische tische Bedenken. Den Gedanken einer wie auch Soteriologie lateinischer immer gearteten Berücksichtigung des Teufels im Provenienz göttlichen Erlösungswerk hat sodann Anselm von Canterbury erledigt, indem er auch den letzten Rest eines diabolischen Eigenrechts bestritt. Anselm hat nicht nur der Vorstellung einer Erlösung durch Überlistung des Teufels oder Freikauf aus seinem Rechtsbereich ein dogmatisches Ende bereitet, er hat in seinem 1098 im italienischen Exil vollendeten (vgl. Eadmer, 124 f.) Spätwerk „Cur Deus homo“ „die erste genuin lateinische, scholastische Soteriologie“ (Hödl, 777) überhaupt entwickelt. Entscheidend für die Aufgabenstellung und die argumentative Durchführung des Themas ist das Problem des Verhältnisses von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes. Zum Zwecke der soteriologischen Behebung und Lösung dieses Problems sucht Anselm den Erweis der Notwendigkeit der Menschwerdung Gottes und des Todes des Gottmenschen zu erbringen, ohne welche es kein Heil des Sünders vor Gott geben könne. Ob bzw. inwiefern dieser Erweis objektiv und auf rein rationale Weise erbracht ist, wird ebenso zu erörtern sein wie die zentrale Interpretationskategorie der Satisfaktion, mit welcher Anselm die soteriologische Eigenart des Leidens und Sterbens Jesu Christi deutet. Auch nach der Verfasstheit des Handlungssubjekts des Satisfaktionswerks und seines Tuns und Leidens wird auf dem Hintergrund der chalcedonischen Christologie und des

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trinitarischen Dogmas der Alten Kirche zu fragen sein. Zuvor jedoch soll in groben Grundzügen der Gedankengang der Schrift skizziert werden, mit welcher der Lehre vom Versöhnungswerk Jesu Christi eine feste Grundlage gegeben wurde (vgl. Bd. 6, 336 ff.). Am Anfang der Versöhnungstheorie Anselms steht eine förmliche Definition der Begriffe „sündigen“ (peccare) und „für Sünde Genugtuung leisten“ (pro peccato satisfacere). Boso, dem im Zweifel befindlichen Gesprächspartner (vgl. Hammer, 96 ff.), wird klar gemacht, dass das Unwesen der Sünde in der Weigerung der vernunftbegabten Natur bestehe, sich dem Willen Gottes zu fügen und ihm die Ehre zu geben, die seiner Gerechtigkeit gebührt. Diese gebiete, die Ordnung des Universums und die eigene kreatürliche Bestimmung zu achten. Die Sünde aber missachte sie und verkehre den Kosmos, was Gott um seines gerechten Wesens willen nicht reaktionslos hinnehmen wolle und könne. Die Sünde „sola misericordia sine omni solutione“ (CDh I,12) zu erlassen, wäre unangemessen, weil durch ein solches Verfahren die Differenz von gut und böse egalisiert würde. Dagegen steht Anselm zufolge der Grundsatz, wonach es Gott nicht gezieme, etwas ungeordnet zu lassen in seinem Reich. Wegen der Gerechtigkeit Gottes und der rechten Ordnung seiner Herrschaft darf die Sünde nicht folgenlos bleiben. Entweder ist Strafe zu üben oder Genugtuung zu leisten. Auf die Sünde mit Strafe zu reagieren, wäre der Gottheit Gottes nach Anselms Urteil durchaus angemessen. Doch würde Bestrafung der unendlichen Verschuldung des Menschengeschlechts wegen dessen Auslöschung bedeuten, was Gott nicht will, weil er an seiner ursprünglichen Schöpfungsintention festhält und im Übrigen die gefallenen Engel durch Menschen zu ersetzen wünscht, die der ewigen Seligkeit teilhaftig werden. Bleibt die Möglichkeit einer Satisfaktion, eines Ersatzes des geforderten Rechtsguts durch eine äquivalente Gegenleistung. Zu erbringen hat sie der Mensch, weil die Sünde durch einen Menschen in die Welt gekommen ist. In der Lage dazu aber ist wegen der immensen Größe des menschlichen Vergehens nur Gott, woraus folgt, dass Gott Mensch werden muss, wenn die Leistung der Sündensatisfaktion erbracht werden soll. Mit diesem Ergebnis ist die Frage „Cur Deus homo“ beantwortet. Nachdem die Notwendigkeit von Menschwerdung und Satisfaktion hamartiologisch-soteriologisch bewiesen ist, geht Anselm dazu über, Wesen und Eigenart der Genugtuungsleistung zu bestimmen. Durch den Gebotsgehorsam und die aktive Gerechtigkeit seines irdischen Lebens hat der Gottmensch noch keine satisfaktorische Wirkung erzielt. Denn zu aktiver Obödienz war er wie jedermann von sich aus und als er selbst verpflichtet. Ein überpflichtiges Werk hingegen stellt sein freiwilliger Tod dar. Durch ihn wird Satisfaktion erbracht, die aufgrund der göttlichen Natur des Gekreuzigten Unendlichkeitsqualität besitzt. Unerschöpflicher Gotteslohn ist gewiss. Da aber der Gottmensch aufgrund seiner Vollkommenheit für sich nichts bedarf, kann sein Verdienst durch die kirchlichen Heilsmittel den Menschen zugute kommen und ihre Sünden beheben. Der Tod des Gottmenschen ist mithin der ebenso notwendige wie hinreichende Grund der Errettung des Menschen.

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Die Geschichte der Deutungen bzw. Missdeutungen von „Cur Deus homo“ ist lang (vgl. Hammer, Vorform der mittelalter13 ff.; Haubst, 111 ff.; Plasger, 1 ff.) und ermutigt nur lichen Summen bedingt zu ihrer Fortsetzung. Als verständnisförderlich und geeignet, Missverständnisse zu vermeiden, hat sich das namentlich von der jüngeren Forschung verfolgte Verfahren erwiesen, die klassische Schrift in den Kontext der sonstigen Anselmwerke einzuordnen, um sie aus deren Zusammenhang heraus zu interpretieren. Dieses Verfahren liegt umso näher als die Gesamtkonzeption der Schriften Anselms den Plan der späteren scholastischen Summen antizipiert. Zwar werden die inhaltliche Bestände der Scholastik von Anselm noch in verschiedenen Einzelschriften abgehandelt: Gottes- und Trinitätslehre in „Monologion“ und „Proslogion“, die Lehre von Schöpfung und Sünde in „De veritate“, „De libertate arbitrii“ und in „De casu diaboli“, Christologie und Soteriologie samt Gnadenlehre schließlich neben „Cur Deus homo“ in „De incarnatione Verbi“, in den Schriften über Jungfrauengeburt und Erbsünde und in „De concordia“ (vgl. Hödl, 764 ff.). Gleichwohl lassen sich „Gründe dafür anführen, dass sie im Ganzen als Gesamtentwurf und damit als Vorform der Summen gelesen werden können. Zum einen nämlich fällt auf, dass die zeitliche Entstehung seiner (sc. Anselms) Schriften genau dieser systematischen Abfolge entspricht, die auch die späteren Summen zu Grunde legen. Zum anderen ist – gerade aufgrund Anselms Methode der konsequenten rationalen Rekonstruktion des Glaubens – die thematische und gedankliche Verkettung der Einzelschriften miteinander, die Anselm selbst immer wieder an verschiedenen Stellen ausdrücklich herausstellt, sowie ihre innere begriffliche Konsistenz und Stringenz so groß, dass sie von sich her eine Einheit bilden.“ (Ernst, 31 f.) Das Fundament dieser Einheit ist mit den beiden Schriften zur Gotteslehre gelegt (vgl. Bd. 4, 28 ff.), die durch eine das Filioque verteidigenden Text „De processione Spiritus sancti“ ergänzt wurden. Als diejenige Wirklichkeit, über die hinaus eine höhere nicht gedacht werden kann und in der Denken und Sein, Idea­lität und Realität vollkommen eins und ungetrennt sind, ist Gott das ungeteilte eine und höchste Gut und der Grund alles Guten, der in und aus sich gut ist. In dem „unum argumentum“ für Gottes Existenz, wie es das „Proslogion“ bündig formuliert, ist der Beweis göttlicher Güte mitgesetzt, die in ihrer Absolutheit alles Gute zugleich fundiert und transzendiert. Ohne Gerechtigkeit lässt sich die Güte Gottes als des höchsten Gutes nicht denken. Was unter Gerechtigkeit näherhin zu verstehen ist, hat Anselm insbesondere in „De veritate“ deutlich gemacht. Wie Wahrheit nicht lediglich in äußerer Richtigkeit, sondern in rectitudo als der Adäquanz und rechten Übereinstimmung des Geäußerten mit seiner inneren Bestimmung besteht, so ist die Gerechtigkeit nach Anselm als eine um ihrer selbst willen bewahrte Rechtheit des Willens zu definieren (DV 12: rectitudo voluntatis propter se servata), der seiner vernünftigen Bestimmung nicht nur äußerlich, sondern innerlich entspricht. Während im gottunterschiedenen Vernunftgeschöpf die Möglichkeit einer Diskrepanz und eines eventuellen Widerspruchs zwischen Willensentschluss und vernünftiger Bestimmung

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nicht ausgeschlossen und im Falle der Sünde schuldhaftes Faktum geworden ist, sind in Gott Vernunft und Wille unscheidbar eins. Gottes Gerechtigkeit und die Rechtheit seiner Wahrheit sind, was sie sind, durch sich selbst, so dass sie in ihrem Wesen und Sein eins und in ihrer Einheit keiner Differenz zwischen Sein und Sollen unterstellt sind. Der göttliche Wille hat, obschon er wollen kann, was immer er will, mit Willkür und einer arbiträren Indifferenzfreiheit schlechterdings nichts gemein. „Als Wille dessen, über den Größeres und Besseres nicht gedacht werden kann, ist er in höchstem Maße vernünftig und an sich selbst gebunden.“ (Ernst, 71) Als absoluter Vernunftwille will der göttliche Wille stets das Vernünftige, das sich in Beziehung auf sein vernunftbegabtes Geschöpf und für dieses als ein Allgemeinverbindliches darstellt. Was Gott von ihm will, weiß der Mensch vermöge seiner vernünftigen Bestimmung, der willentlich zu entsprechen seine Gerechtigkeit ausmacht, wohingegen das Unrecht der Sünde in dem abgründigen Widerspruch seines eigensinnigen, Gott und seiner Schöpfung auf vernunftwidrige Weise sich entgegensetzenden Willens besteht. Freiheit ist nach Anselm ihrem recht verstandenen Über die Wahrheit Begriff gemäß kein arbi­träres Vermögen willkürund über die Freiheit licher Wahl bzw. die Möglichkeit, zu tun und zu des Willens lassen, was immer man aus reiner Willkür heraus, aus Lust und Laune will, sondern die potestas, die rectitudo des Willens um ihrer selbst willen zu bewahren (DLA 13: potestas servandi rectitudinem voluntatis propter ipsam rectitudinem). Die willentliche Abkehr von der um ihrer selbst willen zu bewahrenden Rechtheit, wie sie sich im Fall der Sünde aus eigensinniger Willkür heraus vollzieht, bringt daher mit dem Verlust der Gerechtigkeit zugleich den der Freiheit mit sich, die sich ins Gegenteil ihrer selbst verkehrt. Kein Wille ist freier als ein gerechter, kein Wille unfreier als ein ungerechter, der sich das Recht zu unmittelbarer Selbstbestimmung und Selbstdurchsetzung anmaßt, was nicht nur unvernünftig, sondern wider alle Vernunft ist. Hamartiologisch ergibt sich hieraus: Der durch den eigensinnigen Willen zu schöpfungswidriger Selbst- und Weltvergottung bewirkte Fall der Sünde hat wie das sündige Unwesen selbst als widervernünftig, ungerecht und freiheitsdestruierend zu gelten. Als ebenso widervernünftig, ungerecht und freiheitsdestruierend zu beurteilen wäre der Wunsch, dass Gott den willentlichen Eigensinn der Sünde und ihrer Schuld auf sich beruhen, ihn sola misericordia hingehen und so gewisser­ maßen gut sein lassen möge. Ein solches Unterfangen wäre nach Anselm gegen jeden theologisch sinnvollen Begriff von Vernunft, Freiheit und Gerechtigkeit gerichtet. Damit ist die Problemkonstellation umschrieben, wie sie das erste Buch von „Cur Deus homo“ entfaltet. Der Ungerechtigkeit der Sünde fehlt nicht nur Gerechtigkeit, sie stellt vielmehr eine aktive Verfehlung gegen diese dar, welche das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf und die Grundordnung der Schöpfung verkehrt. Dies will und kann Gott um seines gerechten Wesens willen nicht „ungerichtet“ lassen. Er schuldet das Gericht, das die Ungerechtigkeit richtet und der Gerechtigkeit Recht gibt, unmittelbar

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seiner Gottheit, der Widerspruchsfreiheit seines Wesens, auf vermittelte Weise aber auch seiner Schöpfung, die er aus freiem Willen, aber keineswegs aus Willkür erschuf, und namentlich den vernunftbegabten und zur Freiheit bestimmten Geschöpfen. Auch um ihrer Bestimmung willen will und kann Gott die Sünde nicht im Sinne einer Absehung von seiner Gerechtigkeit und der gerechten Ordnung seiner Schöpfung „sola misericordia“ vergeben. Es hat sonach seine Richtigkeit und Rechtheit, nach Maßgabe von Anselms rectitudo-Begriff zu sagen: „Gott schuldet die Widerspruchsfreiheit seines Wesens nicht nur sich selbst. Er schuldet auch dem Menschen etwas.“ (Verweyen, 102) Dieses „etwas“ ist freilich kein bestimmtes Etwas, sondern die Bestimmung, zu der alles Bestimmte und namentlich das Menschengeschöpf bestimmt ist: Gerechtigkeit, Vernunft und Freiheit. Das theologische Grundproblem der Anselm’schen Schrift „Cur Deus homo“ ist mit der Frage gegeben, Gerechtigkeit und ­ ob bzw. inwiefern göttliche Barmherzigkeit und Ge- Barmherzigkeit Gottes rechtigkeit Gottes vereinbar sind. Formal spiegelt sich dieses Problem bereits im Aufbau des Werkes wieder: Thema des ersten Buches ist im Wesentlichen die ­iustitita, Thema des zweiten Buches die misericordia Dei. Dass beide Bücher „wesentlich zusammen“ (Kienzler, 114) gehören, ist unstrittig. Die Hauptschwierigkeit ihrer Interpretation und ihres Verständnisses liegt in der genauen Bestimmung ihres Zusammenhangs begründet. Während Anselm eine göttliche Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit für theologisch ausgeschlossen hält, gilt ihm der Gedanke einer Gerechtigkeit, die allein das Recht walten lässt und die Ungerechtigkeit der Sünde durch Strafe richtet, als nicht nur denkbar, sondern vernünftig. Die Wendung „aut poena aut satisfactio“ umschreibt eine echte theologische Alternative; sie verweist auf eine göttliche Wahl, die im Gegensatz zu Bosos sola misericordia-Devise nicht von vornherein auf einen inneren Widerspruch hinauslaufen muss. Die Möglichkeit eines Strafersatzes, welcher der Gerechtigkeit Gottes Genüge tut, hat dabei solange offen zu bleiben, bis sie in unvordenklicher Weise tatsächlich realisiert wird, wie dies im Tode des Gottmenschen der Fall ist. In der neueren Anselm-Literatur begegnet häufig die These, dass die Barm­ herzigkeit Gottes die bessere und rechtere Form seiner Gerechtigkeit sei, in welche die richtende aufgehoben werden müsse. Weil das höchste Gut, als welches Gott als der in sich gründende Grund alles Guten zu gelten habe, von einer Güte sei, über die hinaus eine gütigere nicht gedacht werden könne, habe die Barmherzigkeit Gottes allen Anspruch darauf, für die vollkommene Gerechtigkeit erachtet zu werden: „denn der, der den Guten und den Bösen gut ist, ist besser als der, der nur den Guten gut ist.“ (Ernst, 58) Die den Guten und Bösen unterschiedslos gute Barmherzigkeit Gottes ist besser und insofern auch gerechter als jene Gerechtigkeit, die zwischen Guten und Bösen scheidet, urteilt und richtet; die richtende Gerechtigkeit ist sonach stricte dictu theologisch eigentlich gar nicht Gerechtigkeit zu nennen, weil dieser Name der göttlichen Barmherzigkeit vorzubehalten ist. Dass mit Argumentationen dieser Art das Anselm’sche Problem weniger gelöst als beseitigt wird, liegt auf der Hand. Anselm selbst prinzipialisiert den Gedanken

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göttlicher Gnade nicht nur nicht, sondern schließt eine solche Prinzipialisierung im Gegenteil grundsätzlich aus. Erst dadurch entsteht überhaupt das Problem, an dem sich seine Schrift „Cur Deus homo“ abarbeitet. Dabei ist der grundlegende Begriff der Gerechtigkeit derjenige der iustitia distributiva, wie er sich aus Anselms schöpfungsbezogenem Begriff der rectitudo als der Bezeichnung dessen ergibt, was für die auf Gott ausgerichtete Schöpfung richtig und rechtens ist. Die Gerechtigkeit, die sich am Maß dessen bemisst, was für die auf Gott ausgerichtete Schöpfung richtig und rechtens ist, trägt das Kriterium der urteilenden Scheidung von Gut und Böse in sich und ist so richtende Gerechtigkeit, die dem Bösen gerade nicht gut ist. Weiter als zu diesem Gedanken, der als vollkommen vernünftig zu gelten hat, und weiter als zu der Einsicht, dass über seine Vernünftigkeit hinaus nur Gott in soteriologisch sowohl notwendiger als auch unvordenklicher Weise etwas auszurichten vermag, kann eine rationale Theologie nicht gelangen. Das Faktum des in Jesus Christus offenbaren göttlichen Gnadenheils, welches ohne Verletzung der Gerechtigkeit Gottes die Ungerechten und gottlosen Sünder rechtfertigt, ist in seiner soteriologischen Notwendigkeit zwar vernünftig einsichtig zu machen, aber in seiner Faktizität durch keine Menschenvernunft zu setzen, sondern als unvordenkliches Ereignis vorauszusetzen. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind in Gott eins, doch nicht auf undifferenzierte oder gar indifferente Weise. In einem monistischen Gottesbegriff lässt sich ihr Zusammenhang nicht fassen; dazu bedarf es eines trinitarischen Gottesverständnisses und einer Christologie, welche das Verhältnis von göttlicher Gerech­ tigkeit und barmherziger Gnadenliebe sowohl als von Gott her gesetzten Zusammenhang als auch als eine durch kein menschliches Denken und Handeln synthetisierbare Differenz verständlich zu machen vermag. Man hat mit Recht auf den Zusammenhang von „Cur Deus homo“ mit der Gotteslehre des „Proslogion“ (vgl. Gäde, 72 ff.) und auf die grundlegende Bedeutung der ratio Anselmi für seine soteriologische Konzeption hingewiesen: „Si deo nihil maius aut melius, nihil iustius quam honorem illius servat in rerum dispositione summa iustitia, quae non est aliud quam ipse deus.“ (CDh I, 13) Für den Anselm’schen Begriff der Ehre und Gerechtigkeit Gottes ist das ontologische Argument schlechterdings entscheidend. Es erzwingt zugleich auf vernünftige Weise das Ergebnis des zitierten Kapitels, nämlich die Einsicht in die Notwendigkeit, „ut aut ablatus honor solvatur aut poena sequatur“ (ebd.). „Aut poena aut satisfactio“: ein Drittes kann es nach Aut poena aut satisfactio Maßgabe der Vernunft und um der Gerechtigkeit willen nicht geben, der auf die eine oder die andere Weise Genüge getan werden muss. Was die auf noch näher zu klärende Weise von der poena unterschiedene satisfactio betrifft, so gilt, dass derjenige, welcher sie zu erbringen hat, nämlich der Mensch, sie nicht zu leisten vermag, wohingegen derjenige, der sie zu leisten vermöchte, durch seine Gerechtigkeit von ihrer Erbringung, wie soll man sagen, abgehalten wird. Will Gott sein Sein und Wesen behalten, dann ist das ohne Selbstwiderspruch nur unter Wahrung seiner Gerechtigkeit

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möglich, deren Grund er selbst ist. Gott würde seine Aseität und mithin seine Gottheit opfern, wenn er seine Gerechtigkeit sola misericordia hingäbe. Gott ist gerecht. Die iustitia Dei stellt für Anselm „den Leitbegriff dar für seine Erlösungslehre“ (Gäde, 115), der indes zugleich ihr Grundproblem markiert. Denn der Leitbegriff göttlicher Gerechtigkeit bringt den schärfsten Einwand gegen die Rede von einer Sündenvergebung sola misericordia bzw. sola gratia zum Ausdruck, die als theologisch widersprüchlich, ja als Destruktion des Gottesgedankens disqualifiziert wird. Um unter den Bedingungen der Sünde ein neues Gottesverhältnis des Sünders zu begründen, bedarf es eines Faktums, welches kein Sünder von sich aus zu setzen vermag, dessen Setzung aber die Voraussetzung dafür ist, dass von einer Rechtfertigung des Sünders theologisch überhaupt die Rede sein kann. Mit der Inkarnation des Logos, genauer: mit dem Tod des Gottmenschen ist dieses Faktum gesetzt. Ohne dieses Faktum ließe sich die differenzierte Einheit von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit nicht zur Einsicht bringen, ja ohne es wäre Gott nicht zugleich gerecht und barmherzig, wie er es in seiner in Jesus Christus kraft des Hl. Geistes offenbaren Gottheit von Ewigkeit zu Ewigkeit ist. Es bedarf der Lehre von der göttlichen Trinität und der personalen Vereinigung Gottes und des Menschen in Jesus Christus, wie die Alte Kirche sie ausgebildet hat, um einen Begriff zu gewinnen von der Unbegreiflichkeit der zugleich gerechten und barmherzigen Liebe Gottes. Man kann nicht sagen, dass der barmherzige Gott im Vergleich zum gerechten der größere sei. Auch ist es unterkomplex, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit unmittelbar auf einen in sich einen göttlichen Willen zurückzuführen oder in der Person Jesu Christi differenzlos zusammenfallen zu lassen. Zwar ist Jesus Christus, der auferstandene Gekreuzigte, die manifeste Einheit göttlicher Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, jedoch so, dass die Asymmetrie beider nicht in Vergessenheit gerät, sondern durch den Geist im Verein mit der Einsicht in Erinnerung bleibt, in der sich das Ergebnis der Anselm’schen Soteriologie zusammenfasst: die iustitia Dei ist eine Gerechtigkeit, über die hinaus eine höhere nicht gedacht werden kann, die misericordia Dei eine rectitudo, die rechter und richtiger ist als der Mensch zu denken vermag und höher als seine Vernunft, deren Gesetz durch das Evangelium auf heilsame Weise transzendiert, aber nicht aufgehoben wird. Die „Antinomie von ‚iustitia‘ und ‚misericordia‘“ (Gäde, 282) kann nicht durch Antinomismus, sondern nur unter beständigem Glaubensbezug auf das Christusgeschehen überwunden werden, ohne welchen Bezug die Beziehung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit theologisch unbegriffen bleiben müsste. Trifft diese Feststellung zu, dann kann sie für die Beurteilung von Anselms Verfahren nicht folgenlos bleiben. In Bezug auf Methodik und theoretischen Status der Anselm’schen Konzeption wird seit alters kon- Vernunft des Glaubens trovers diskutiert, wie sich das Prinzip sola ratione bzw. remoto Christo bzw. sine scripturae auctoritate zu dem Grundsatz fides quaerens intellectum bzw. credo, ut intelligam, verhält (vgl. die Beiträge in St. Ernst /  Th. Franz [Hg.]). An der Bestimmung dieses Verhältnisses scheint sich zu entschei-

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den, ob Anselm die Faktizität der Menschwerdung des Gottmenschen spekulativ deduziert oder ihre Tatsächlichkeit als unbegreiflichen Ratschluss Gottes immer schon voraussetzt, um sich dann nachdenkend ihrer Notwendigkeit zu versichern. Die Antworten der Forschung fallen unterschiedlich aus. Dabei hat man Gegensätze an Anselm herangetragen, die so für ihn gar nicht bestanden haben dürften. Die Frage jedenfalls, ob die Wirklichkeit der Offenbarung aus einer zuvor zu denkenden Möglichkeit oder die Möglichkeit derselben aus ihrer faktischen Tatsächlichkeit zu entwickeln sei, dürfte sich in dieser alternativen Form für Anselm nicht gestellt haben, sofern er in der Verfolgung beider Denkwege offenbar eine nicht nur legitime, sondern durch die Gleichursprünglichkeit von Freiheit und Notwendigkeit in Gott förmlich geforderte methodische Aufgabe sah. Von daher versteht sich der (der Sprache des Gebets nach Anselms Auffassung keineswegs widersprechende, sondern entsprechende)  Anspruch, die tatsächliche Notwendigkeit der Menschwerdung des Sohnes Gottes unter Absehung von glaubensaxiomatischen Prämissen und in Überbietung bloßer Konvenienzargumente durch strengen Rationa­ litätsbeweis (necessaria ratio) zu erfassen. Die gewählte Methode ist dabei „die des Apologeten in seiner doppelten Funktion, dem Ungläubigen die Vernünftigkeit des christlichen Glaubens darzutun und dem Gläubigen den intellectus fidei, der zwischen Glauben und Schauen die Mitte hält, zu vermitteln. Methodisch stellt sich A(nselm) dabei auf den Standpunkt des Ungläubigen (oder sonstigen Gegners), und indem er diesem gerecht wird, befriedigt und erfreut er auch den Verstand des Gläubigen.“ (Schmitt, 398) Die Menschwerdung Gottes mit dem Ziel, durch den Tod des Gottmenschen Menschheit und Welt zu versöhnen und zu erlösen, muss nach Anselm theologisch als gerechte Notwendigkeit und freie Tat barmherziger Liebe zugleich ausgesagt werden. Dies hat Folgen für den Gottesbegriff, dessen trinitarische Fassung soteriologisch vorauszusetzen ist, und es hat Konsequenzen für die Christologie, die insbesondere das personale Zusammenwirken göttlicher und menschlicher Natur, genauer gesagt: die Einheit von Tun und Leiden in der Person Jesu Christi betreffen. Im Zentrum der Debatten um den Gottesbegriff von „Cur Deus homo“ stand traditionell der Begriff des honor Dei, von dem die Anselm’sche Theorie ihren Ausgang nimmt. Während einige Interpreten den theologischen Ehrbegriff im privatrechtlichen Sinne deuteten, verstanden ihn andere vorzugsweise als eine auf das öffentliche Recht verweisende Kategorie. Ist nach Urteil der einen Gott einem hochgestellten Privatmann zu vergleichen, dessen Ehrverletzung als Persönlichkeitsbeleidigung zu werten sei, tritt er gemäß der anderen Auffassung als ein Herrscher auf den Plan, der sich die öffentliche Ordnung seines Reiches angelegen sein lässt und seine ganze Ehre daransetzt, diese aufrecht zu erhalten und zur Geltung zu bringen. Letztere Interpretation kommt Anselms Intentionen zweifellos näher, wobei hinzuzufügen ist, dass in Gott der Unterschied von privat und öffentlich immer schon behoben ist bzw. gar nicht erst auftritt. Der Gott Anselms ist „weder ein mächtiger Privatmann noch auch bloß der Fürst über den gewaltigen Staat der zur ewigen Seligkeit bestimmten Engel und Menschen, sondern … vor allem der

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Schöpfer der Welt und der Menschheit“ (Hermann, 377). Von der gerechten Ordnung des Kosmos, der seine Schöpfung ist, macht er seine Ehre abhängig. Gott bindet seinen Willen an die Gerechtigkeit, die sein Wesen ist. Ihr Erhalt und die Durchset- Ehre Gottes zung ihrer Ordnung in seinem Reich ist ihm ein ureigenes Anliegen. Von daher erübrigt sich die Frage, ob die Ehre Gottes durch die Sünde tatsächlich oder nur scheinbar verletzt wird. Man hat zwischen einem immanenten und einem transeunten, einem subjektiven und einem objektiven honor Dei unterschieden. Richtig an dieser Unterscheidung ist, dass sie an zwei für Anselm gleichwesentlichen theologischen Überzeugungen festhält, nämlich einerseits an dem Gedanken völliger göttlicher Selbstgenügsamkeit, zum anderen an der in seiner Gottheit selbst begründeten Beziehung Gottes zur Welt. Gott ist als Gott Garant der Ordnung der Welt. Insofern beschreibt der Anselm’sche Begriff der göttlichen Ehre eine in sich differenzierte Einheit, die keine Begriffsspaltungen zulässt. Gottes Ehre ist nie ein bloß privates Gut, sondern als unveräußerliches göttliches Eigentum immer zugleich Inbegriff jener Gerechtigkeit, zu der die Welt durch die gebotene Ordnung bestimmt ist. Von daher versteht sich allererst die immer wieder zu Recht betonte Abgründigkeit des Anselm’schen Sündenverständnisses; der Abfall des Menschen von seiner schöpfungsmäßigen Bestimmung und der gesetzten Ordnung der Welt ist als solcher Auflehnung gegen Gott und Ungehorsam gegen den Herrn aller Dinge. Gottes Gerechtigkeit schließt aus, die Verkehrung der Schöpfungsordnung durch die Sünde sola misericordia auf sich beruhen und gut sein zu lassen. Ihre Behebung ist notwendig, sei es durch poena, sei es durch satisfactio; sie muss sein! Zwar unterliegt Gott keinerlei äußerer Zwangsnotwendigkeit im Sinne einer necessitas coactionis. Aber die necessitas immutabilitatis als die ewige innere Übereinstimmung Gottes mit sich selbst erzwingt in einem Sinne, der mit dem Anselm’schen Begriff göttlicher Freiheit völlig konvergiert, dass der göttlichen Gerechtigkeit Genüge getan wird. Dass dabei in Form der satisfactio überhaupt eine Alternative zur poena eröffnet wird, ist bereits ein Indiz der barmherzigen Liebe Gottes, wie sie in Jesus Christus als der Gottheit Gottes ewig eigen offenbar ist, ohne unter Absehung von der Faktizität des Leidens und Sterbens des Gottmenschen erfasst und begründet werden zu können. „Erst dann ist die Barmherzigkeit Gottes recht verstanden, wenn sie vom Christusgeschehen her verstanden wird. Es ist keine allgemeine Barmherzigkeit, nicht Barmherzigkeit als Prinzip. Sondern im Christusgeschehen hat Gott selber gezeigt, was seine Barmherzigkeit ist.“ (Plasger, 170) Sie wendet durch ein die Schranken allen Denkens und Handelns transzendierendes Offenbarungsereignis göttlicher Freiheit die Not, die durch die Notwendigkeit göttlicher Strafgerechtigkeit über die Sünder entstanden ist. In Bezug auf „Cur Deus homo“ ist ein doppeltes Missverständnis zu vermeiden: Das Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes wird weder einseitig von der Gerechtigkeit, noch einseitig von der Barmherzigkeit her, sondern als ein Zusammenhang bestimmt, der durch kein menschliches Denken und Handeln

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herstellbar, vom dreieinigen Gott indes auf ebenso vernünftige wie wunderbare Weise gesetzt ist. Vom Menschen her ist die Differenz zwischen göttlicher Gerechtigkeit und göttlicher Barmherzigkeit nicht behebbar und zur Synthese zu bringen; Gott aber hat im auferstandenen Gekreuzigten in der Kraft des Hl. Geistes seine unbedingte Gnadenliebe offenbart, ohne seiner Gerechtigkeit den Abschied zu geben, die in Jesus Christus vielmehr erfüllt ist: durch seinen tätigen Gehorsam für sein eigenes Menschsein, durch seinen leidenden für uns. Christi Satisfaktionswerk, das der göttlichen GeÜberpflichtige Tat rechtigkeit Genüge tut und eine notwendende Alternative zur gerechten Sündenstrafe erschließt, ohne deren Notwendigkeit zu bestreiten, erfüllt sich in der Passion. Was die Herkunft des Anselm’schen Satisfaktionsbegriffs betrifft, so wird einerseits auf den Einfluss germanischer Rechtsanschauungen, andererseits auf eine Prägung durch das römische Strafrecht verwiesen. Daraus ergeben sich Unterschiede sowohl in der Einschätzung des Bußinstituts, wie es zu Zeiten Anselms existierte, als auch in der Wertung der Bedeutung, die dieses für die Konzeption von „Cur Deus homo“ gewonnen hat. Sachlich betrifft die Kontroverse insbesondere die Frage, ob satisfactio als Strafersatz oder als Ersatzstrafe zu verstehen sei. Das germanische Rechtsinstitut des sog. Wer- bzw. Sühnegelds kennt die Möglichkeit eines nach bestimmten Regeln taxierten materialen Ausgleichs von Schuld, wodurch Strafe sich erübrigt. Daran, sagen einige Interpreten, schließe Anselms Satisfaktionsgedanke an, der im Sinne einer Bußzahlung zu verstehen sei, welche durch äquivalente Leistung Straflosigkeit sichere. Die von Gott gewählte Versöhnung sei das Entgelt, also die Gegenleistung für das in überpflichtigter Freiwilligkeit geleistete unschuldige Leiden und Sterben Jesu Christi: satisfactio bedeutet demnach Strafersatz. Diesem Ansatz wurde unter Verweis auf das römische Strafrecht und eine von dort her gewonnene Interpretation des Bußinstituts entgegengehalten, dass satisfactio nicht als Strafersatz, sondern als Ersatzstrafe im Sinne von poenitentia zu verstehen sei, die nur persönlich, nie in lediglich dinghafter Weise, also nach Art einer Sacherstattung oder einer Geldzahlung zu erbringen sei. Wie immer man die traditionsgeschichtliche Herkunft der Anselm’schen Konzeption zu beurteilen hat: als bloßer Schadensersatz lässt sich die von Jesus Christus erbrachte satisfactio kaum interpretieren. Doch auch ihre Deutung als Ersatzstrafe bietet Schwierigkeiten, da von einem poenalen Charakter der satisfactio im Sinne eines stellvertretenden Strafleidens schwerlich gesprochen werden kann. Generell wird von Anselm das Leidentliche der Passion weniger akzentuiert als die Freiwilligkeit aktiver Tat, mit der Christus seinen Tod auf sich nahm, um durch sein unschuldiges und überpflichtiges Leiden und Sterben ein Verdienst zu erwerben, dessen er selbst nicht bedurfte und das mithin den Sündern mittels der kirchlichen media salutis auf Glauben hin zugeeignet wird. Christi Passion ist für Anselm eine überpflichtige Tat, die Straferlass für den Sünder mit sich bringt. Vermöge seiner Sündlosigkeit, die er durch seinen tätigen Gehorsam zeitlebens unter Beweis gestellt hat, war der Mensch, der als die Inkarna-

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tion des Logos zu bekennen ist, zu sterben nicht schuldig. Sein leidensgehorsamer Tod stellt daher ein opus supererogationis dar, das alles Gottgebotene trans­zendiert und gerade so das göttliche Gesetz der strafenden Gerechtigkeit in evangelische Schranken zu weisen vermag, so dass gilt: um des Todes Christi willen ist Gott dem Sünder gnädig, dem ob seiner Ungerechtigkeit gerechte Strafe gebührt. „Gratis“ und „satis“ gehören zusammen; weil Christus Genugtuung geleistet hat, lässt Gott Gnade vor Recht ergehen. Dass Gott durch die Passion Jesu Christi selbst „in Mitleidenschaft“ (Wengst, 31) gezogen wird, lässt sich im Sinne Anselms kaum sagen. Seine Trinitätslehre hält sich im Großen und Ganzen im Rahmen dessen, was seine allgemeine Gotteslehre über dasjenige zu sagen vermag, über das hinaus Höheres nicht gedacht werden kann. Ja, selbst das Leiden Christi hält sich, wenn man so sagen darf, bei Anselm in Grenzen, insofern es vornehmlich des Gottmenschen Tat ist, welche Versöhnung schafft. Sucht man das Handlungssubjekt der Versöhnungstat christologisch genauer zu bestimmen, so verbindet es „Cur Deus homo“ zwar wiederholt mit der persona Jesu Christi; doch ist es, wovon ein Blick in „De redemptione humana“ schnell überzeugen kann, im Wesentlichen die menschliche Natur Jesu Christi, die das Satisfaktionswerk unter dem Beistand des Logos verrichtet. „Dedit itaque humana natura Deo in illo homine sponte et non ex debito quod suum erat, ut redimeret se in aliis, in quibus quod ex debito exigebatur, reddere non habebat.“ (MPL 158, 766, 3 ff.) Das Problem, das Formulierungen wie diese hervorrufen, besteht nicht im dezidierten Dyotheletismus Anselms, sondern in der offenen Frage, wie das Satisfaktionswerk der Versöhnung sowohl als Werk des Menschen Jesus als auch als göttliches Werk zum Ausdruck gebracht und wie vermieden werden soll, dass der göttlichen Natur bzw. dem göttlichen Willen nur die Funktion zugedacht wird, den Wert der von der menschlichen Natur und dem menschlichen Willen Jesu Christi Erbrachten unendlich zu potenzieren. Eng verbunden mit diesem Problem ist die Frage, wie unter den Bedingungen einer entschieden als genugtuende Tätigkeit verstandenen satisfactio der Passions- und Geschickcharakter des Leidens und Sterbens Jesu festgehalten werden kann. Bereits nach einer Generation erwuchs Anselm in Peter Abaelard (1079–1142) ein ernsthafter An- Scholastisches tipode, der seiner Satisfaktionslehre ein Alternativ- Alternativkonzept konzept entgegensetzte. Zwar stimmte Abaelard mit Anselm in der vorbehaltlosen Leugnung eines Anrechts des Teufels auf den Menschen überein; doch deutete er den Kreuzestod Jesu Christi nicht als Satisfaktion zur Behebung gerechter Sündenstrafen, sondern als die exemplarische und vollendete Offenbarung der am gesamten Auftreten Jesu Christi in Erscheinung tretenden Liebe Gottes durch welche des Menschen Gegenliebe erweckt und so die Sünde vertrieben wird: „Iustior quoque, id est amplius Deum diligens, quisque fit post passionem Christi quam ante, quia amplius in amorem accendit completum beneficium quam speratum. Redemptio itaque nostra est illa summa in nobis per passionem Christi dilectio, quae nos non solum a servitute peccati liberat, sed veram nobis

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filiorum Dei libertatem acquirit, ut amore eius potius quam timore cuncta impleamus, qui nobis tantam exhibuit gratiam, qua maior inveniri … non potest …“ (Abaelard, 290,2–11) Die zitierte Passage stammt aus dem berühmten Exkurs, der in Abaelards „Expositio in epistulam ad Romanos“ an die Exegese von Röm 3,21–26 anschließt. In diesem Text handelt der Apostel vom Kreuz Jesu Christi als dem Grund der neuen Gerechtigkeit, nachdem er zuvor festgestellt hatte, dass niemand durch Werke des Gesetzes vor Gott gerecht zu werden vermag (vgl. Zimmermann). Insbesondere Vers 25 gibt Abaelard Anlass zu der Frage, „quae sit videlicet ista nostra redemptio per mortem Christi aut quomodo nos in eius sanguine iustificari Apostolus dicat“ (Abaelard, 280,5–7). Gott, sagt der Apostel in Röm 3,25, hat Jesus Christus dazu bestimmt, Sühne zu leisten mit seinem Blut, wirksam durch Glauben. So erweise er seine Gerechtigkeit. Die Vulgataversion, die Abaelards Kommentar zugrunde liegt (vgl. Abaelard, 19 ff.), spricht von der „redemptio, quae est in Christo Jesu, quem proposuit Deus propitiationem per fidem in sanguine ipsius, ad ostensionem iustitiae suae“. Abaelard erläutert die Schlusswendung, indem er ergänzt: „ad exhibendam nobis suam dilectionem vel ad insinuandum nobis, quantum eum diligere debeamus, qui ‚proprio Filio non pepercit‘ pro nobis.“ (Abaelard, 276,28–278,1) Damit ist gesagt, dass der Sinn von Christi Leiden und Sterben im Wesentlichen im Erweis der Liebe Gottes bzw. in der Mitteilung besteht, wie sehr wir ihn als denjenigen zu lieben schulden, der seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn um unserer Rettung willen dahingegeben hat. Der Tod Jesu Christi ist nach Abaelard die vollendete Offenbarung der mit seiner Gerechtigkeit einigen Liebe Gottes – iustitita und caritas bzw. dilectio werden ausdrücklich identisch gesetzt (vgl. u. a. Abaelard, 276,27 f.) – für den Glauben, um die Gläubigen zu jener Gegenliebe gegen Gott, den Mitmenschen und die ganze kreatürliche Welt zu bewegen, welche Sündenvergebung mit sich führt und rechtfertigt. Entfaltet wird der Grundsatz Abaelard’scher Soteriologie in einem nachfolgenden Exkurs, der auf vier Fragen genauer eingeht: „1. aufgrund welcher Notwendigkeit Gott den Menschen Jesus angenommen hat, um uns zu erlösen; 2. von wem er uns erlöst hat; 3. mit welchem Recht er uns aus dessen Gewalt befreit hat; 4. welchen Preis er gezahlt hat.“ (Abaelard, 35; vgl. 280,10 ff. sowie Peppermüller, 87) Die Antwort auf diese Fragen erfolgt in Kritik und Konstruktion, nämlich in Negation der schon von Anselm zurückgewiesenen, in der Tradition verbreiteten Annahme, der Teufel habe durch die Verführung des Menschen einen Rechtsanspruch auf ihn erworben, der von Gott abgegolten werden müsse, sowie in Affirmation der Lehre einer Versöhnung durch gottmenschliche Liebe. Gottes durch Jesu Christi Leben, Leiden und Sterben erwiesene Liebe erschließt mittels gläubigen Dankes, zu dem sie bewegt, die Gegenliebe des Menschen und erlöst diesen so aus sündiger Selbstverschlossenheit, wodurch Vergebung der Sündenschuld und Versöhnung bereitet werden. „Redemptio itaque nostra est illa summa in nobis per passionem Christi dilectio.“ (Abaelard, 290,6 f.) Die durch die Passion Jesu Christi von Gott erwiesene höchste Liebe, die durch den Glauben in uns wirk-

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sam ist, befreit nicht allein von der Knechtschaft der Sünde, sondern erwirbt uns die wahre Freiheit der Kinder Gottes, „ut amore eius potius quam timore cuncta impleamus“ (Abaelard, 290,9 f.). Gott hat uns in Christus eine so große Gnade erwiesen, „qua maior inveniri … non potest“ (Abaelard, 290,10 f.); der Dank für sie ist das Motiv, das den Glauben zur Liebe gegen jedermann bewegt, die Feindesliebe eingeschlossen. Die Wendung, wonach über die durch den Tod Jesu Christi erwiesene göttliche Gnadenliebe hinaus eine größere nicht gefunden werden kann, erinnert an die ratio Anselmi. Ob Abaelard „Cur Deus homo“ gekannt hat, ist in der Forschung umstritten. Von den Befürwortern wird zum einen auf Argumentationsähnlichkeiten in der Ablehnung der traditionellen Theorie einer Lösegeldzahlung für den Teufel, zum anderen auf die harsche Polemik verwiesen, mit der sich Abaelard gegen die Vorstellung wendet, Gottes Zorn über die Sünde habe durch das Blut eines Unschuldigen gestillt werden müssen (vgl. etwa Abaelard, 288,9 ff.). Doch sind beide Argumente nur bedingt beweiskräftig: die kritischen Einwände gegen ein vermeintliches Teufelsrecht können keine Abhängigkeit wahrscheinlich machen und ohne weiteres auf Abaelard selbst zurückgeführt werden; seine Bedenken gegen die Annahme eines dem göttlichen Zorn über die Sünde geschuldeten Blutopfers Christi hinwiederum sind so allgemein gehalten, dass ein Bezug auf Anselms Genugtuungslehre nicht notwendig ist. Der Terminus „satisfactio“ kommt bei­ Abaelard bemerkenswerterweise „überhaupt nicht vor“ (Peppermüller, 92). Die Frage, ob Abaelard wirklich gegen Anselm polemisieren wollte, muss offen bleiben. Doch be- Anselm und Abaelard rührt dies nicht die Tatsache, dass sein Entwurf in der Folgegeschichte als Alternative zu Anselms Soteriologie gedeutet wurde. Ob diese Alternative durch die Entgegensetzung eines sog. subjektiven und eines objektiven Soteriologietyps angemessen erfasst ist, darf bezweifelt werden. Setzt doch auch Abaelard eine objektive salvatio durch Christi Kreuzestod jedenfalls insofern voraus, als ohne diesen von Gottes heilsamer und versöhnender Liebe zu den Sündern nicht überzeugend die Rede sein könnte. Deutlicher noch als der Exkurs zu Röm 3,21–26 zeigen Auslegungen anderer Stellen im Römerbriefkommentar­ Abaelards, dass auf seine Weise auch er „eine objektive Heilsbedeutung des Werkes Christi gelehrt hat“ (Peppermüller, 104; bei P. teilweise gesperrt). Verwiesen wurde in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Exegese von Röm 5,12 ff. (vgl. Abae­lard, 390 ff.), in der „von unserer auf dem Wege nicht nur der Barmherzigkeit, sondern auch der Gerechtigkeit erfolgenden Befreiung vom Gesetz durch das Verdienst Christi die Rede“ (Gottschick, 418) sei. Auch an späteren Kommentarstellen habe Abaelard „die objektive Aufhebung der Strafe (und Schuld) durch den Tod Christi in die große göttliche Wohlthat, die uns zur Liebe antreibt, ausdrücklich eingerechnet“ (Gottschick, 429 unter Verweis auf Abaelards Auslegung zu Röm 8,3 f.). Was aber die häresiomachische Kritik betreffe, die Bernhard von Clairvaux (vgl. Gottschick, 384 ff.) und vor ihm Wilhelm von Thierry (vgl. Gottschick, 400 ff.) unter dem Einfluss Anselms an Abaelards

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soteriologischen Römerbriefexegesen geübt hätten (vgl. MPL 180, 249 ff.; MPL 182, 1049 ff.), so bestehe begründeter Anlass zu einer Infragestellung ihres Rechts: Haben Wilhelm und Bernhard „in ihrer heiligen Entrüstung mit der Auslegung von 3, 25. 26 ihre Lektüre beschlossen? Oder haben sie sich in dem einmal geschöpften Vorurteil gegen jede Korrektur verstockt? Jedenfalls sind sie nicht die letzten ge­ wesen, die in der einen oder anderen Weise es schlimmer gemacht haben, als wie Röm. 10,2 geschrieben steht.“ (Gottschick, 429) An besagter Stelle spricht der Apostel vom Eifer für Gott, aber von Eifer ohne Erkenntnis. Das Verhältnis von Anselms und Abaelards SoterioAugustins Regel logie ist komplexer, als dass es sich in einer einfachen Alternative fassen ließe. Dies hängt nicht zum Geringsten damit zusammen, dass beide abgesehen von der Einschätzung der Rolle des Teufels im Versöhnungsgeschehen im Anschluss an Augustin konzipiert wurden, der auf seine Weise bereits eine „zusammenhängende Anschauung von der Versöhnung durch Christus“ (Gottschick, 378) entwickelt hat. Augustins Verständnis des Kreuzestodes des Gottmenschen ist von der Regel bestimmt, dass in Gott vergeltende Gerechtigkeit, welche Recht und Unrecht scheidet, die Ungerechtigkeit richtet sowie die Sünde bestraft, und gratis gebende Barmherzigkeit dergestalt untrennbar zusammengehören, „dass keine von ihnen sich bethätigt, ohne daß zugleich die andere in irgend welchem Maße auch wirksam würde“ (Gottschick, 380; bei G. teilweise gesperrt). Diese Regel gilt auch für Anselm und Abaelard und wird von beiden anerkannt. Während indes für letzteren die Strafgerechtigkeit ein im Grunde untergeordnetes bzw. aufgehobenes Moment der barmherzigen Liebe Gottes darstellt, die durch Christi Leiden und Sterben weniger bewirkt als erwiesen und zur Erkenntnis gebracht wird, ist die Manifestation göttlicher Barmherzigkeit und Liebe für Anselm nicht ohne einen wirksamen und wirklichkeitsbegründenden Vollzug denkbar, durch welchen der Absolutheit der Gerechtigkeit Genüge getan wird, an welche sich der Schöpfer um seiner Gottheit und der Ordnung seiner Schöpfung willen in unbedingter Freiheit gebunden hat. Von einer solchen für die Offenbarung der barmherzigen Liebe Gottes konstitutiven, durch Leiden und Sterben Jesu Christi erbrachten Genugtuungsleistung ist bei Abaelard nichts zu hören. Darin liegt der entscheidende Unterschied zu Anselm, der auch dann erhalten bleibt, wenn man die Abaelard’sche Soteriologie nicht im Subjektiven aufgehen lässt, sondern die objektive Heilsbedeutung hervorhebt, die auch in ihr dem Tode Jesu Christi zuerkannt wird. Wie immer man das Verhältnis der VersöhnungsFrühscholastische lehren Anselms und ­Abaelards zueinander und ihre Lehrentwicklung Beziehung zur Lehre Augustins im Einzelnen zu beurteilen hat: im Blick auf das Gesamtspektrum frühscholastischer Lehrentwicklung, an der beide je auf ihre Weise mitgewirkt haben, lassen sich für die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts Grundkonturen einer relativ einheitlichen Anschauung einigermaßen deutlich erkennen: „Die Erlösung von der Gewalt des Teufels hat Christus dadurch vollzogen, dass er uns von Sünde

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und Tod oder Sündenstrafe erlöste, bzw. uns mit Gott versöhnte. Denn der Teufel hatte keinerlei Rechtsansprüche auf den Menschen und hat nicht etwa Christi Blut als Lösegeld empfangen; bei seiner Gewalt kann von Recht nur insofern die Rede sein, als Gott über die Menschen eine gerechte Strafe verhängt hat, indem er ihn in des Teufels Gewalt, d. h. unter die Knechtschaft der Sünde und des Todes kommen ließ.“ (Gottschick, 437) Mit dieser Auffassung konnte man sich auf Anselm und Abaelard gleichermaßen berufen. Näher bei Anselm als bei Abaelard steht die für die Frühscholastik übliche Kennzeichnung der eigentümlichen Bedeutung des Werkes Christi für die Erlösung von Schuld und Strafe der Sünde. Zwar wird die Notwendigkeit der von der göttlichen Gerechtigkeit geforderten Sühneleistung durch den Tod des Gottmenschen nicht derart absolut gesetzt wie in „Cur Deus homo“; zurückhaltender beurteilt als bei Anselm wird ferner die vernünftige Einsehbarkeit dieser Notwendigkeit. Aber dass der Gerechtigkeit Gottes notwendig Rechnung getragen werden musste, damit seine Barmherzigkeit offenbar werden konnte, steht faktisch außer jedem Zweifel. „Einerlei ob diese Leistung Lösegeld, Opfer, Verdienst, Genugthuung, Übernahme der Strafe für unsere Sünden genannt wird, es ist damit eine freiwillige oder nichtpflichtmäßige, mit Schmerz oder Pein verbundene Handlung gemeint, deren Wert den Unwert der menschlichen Sünde aufwiegt. Der Tod, den Christus als Gottessohn und Gerechter nicht zu sterben brauchte, und den er – im Gehorsam gegen Gott und in Liebe zu uns als Märtyrer für die Gerechtigkeit sowie indem er uns ein Vorbild gab – freiwillig gestorben ist, hat zweifelsohne diesen Wert und erwirkt demgemäß bei Gott objektiv die Aufhebung der ewigen Verdammnis oder die Eröffnung des himmlischen Paradieses für die Glieder des Leibes Christi: die einzelnen empfangen subjektiven Anteil an diesem Erwerb, indem sie durch die Taufe der Kirche einverleibt werden und in ihr nicht nur Erlaß des reatus, sondern auch effektive Tilgung der Sünde oder Wiedergeburt erlangen.“ (Gottschick, 438) Indem Jesus Christus, der in seinem irdischen Leben dem göttlichen Schöpfungsgebot jederzeit entsprach und das Gesetz vollkommen erfüllte, durch sein freiwilliges Leiden und Sterben der Gerechtigkeit Gottes überpflichtige Satisfaktion leistete bzw. ein entsprechendes Opfer erbrachte, begründete er die Befreiung von Sünde, die im gläubigen Empfang der der Kirche von ihrem Herrn anvertrauten Mittel des Heils tatsächlich erfolgt. Um Christi willen vergibt Gott die Schuld der Sünde und behebt als ihre Folge den sog. reatus. Mit dem „uns völlig abhanden gekommenen, wenngleich klassisch-antiken Namen“ (Pieper, 110) reatus, der sich vom lateinischen reus, schuldig, herleitet, bezeichnen die mittelalterlichen Scholastiker „den Zustand des Schuldigseins“ (ebd.) im Sinne von Haftbarkeit bzw. Strafwürdigkeit. Sind diese und die Schulden der Sünde behoben, dann ist ein von Grund auf neues Verhältnis zu Gott gegeben, an dessen effektiver Wirklichkeit nicht zu zweifeln ist. Eine Bestätigung dieser Grundform frühscholastischer Soteriologie kann man sowohl im Werk Hugos von St. Viktor finden, das weit über seine Schule hinaus einflussreich war, als auch bei Petrus Lombardus, dessen „Sententiae in IV libris distinctae“ zum paradigmatischen Schulbuch mittelalterlicher Theo-

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logie und zur Grundlage umfangreicher Sentenzenkommentare beispielsweise von Albertus Magnus, Bonaventura oder Thomas von Aquin werden sollten. Auf die Versöhnungslehre des Aquinaten wird noch Grundbestände eigens Bezug zu nehmen sein. Vorerst soll es bei hochscholastischer der zusammenfassenden Bemerkung sein Bewenden Soteriologie haben, dass die Grundbestände hochscholastischer Versöhnungslehre trotz zahlreicher Unterschiede im Detail verhältnismäßig einheitlich gestaltet sind. Die durch Christi Passion erwirkte Befreiung aus der Knechtschaft des Teufels bleibt ein untergeordnetes Moment geleisteter Versöhnung mit Gott, welche Vergebung der Sünde in Form der Behebung von culpa und des besagten reatus poenae ermöglicht. Der Anselm’sche Grundsatz, wonach Gott um seiner Gerechtigkeit willen die Sünde nicht ungestraft lassen kann, wird bekräftigt, das Leiden und Sterben des Gottmenschen einhellig zur Ursache von Versöhnung und Rechtfertigung des Sünders erklärt. Erwirkt wird die remissio peccatorum nicht schon durch das Verdienst, welches das gerechte Leben des Gottmenschen mit sich führt, sondern erst durch seinen Tod, dessen Bedeutung keineswegs in einer äußeren Ersatzleistung aufgeht. Um dies zu unterstreichen, scheut man sich nicht, den von Anselm gemachten Unterschied von poena und satisfactio zu relativieren und in Bezug auf Christi Passion von einer poena satisfactoria zu sprechen. Der leidentliche Charakter ihrer Pein wird lediglich dadurch in Schranken gehalten, dass sie der Gottmensch freiwillig und in selbsttätiger Weise, nicht gezwungenermaßen auf sich genommen hat. Doch steigert dies seine Passion insofern, als sie nicht in Form äußerlicher Abstrafung, sondern unter innerster Beteiligung und somit in jener äußersten Intensität erlitten wurde, zu welcher der Gottmensch fähig war. Dass das Leiden des Gottmenschen aus göttlicher Liebe zum Menschen heraus geschah, wird stets vorausgesetzt, doch immer so, dass der Erweis der Liebe Gottes an die Faktizität des Todes Christi gebunden bleibt. Ohne die Tatsache des Kreuzes und ohne die genugtuende, sühnende etc. Wirkung der Selbstopferung des Gekreuzigten kann von Gottes versöhnender Liebe zum Sünder nicht angemessen die Rede sein. In welch modifizierter Weise der Anselmismus auch immer rezipiert wurde: der Lehraspekt, demzufolge Christus durch seine Passion auf den gerechten Gott „eingewirkt“ hat, um ihn zur Barmherzigkeit zu bewegen, wird nicht unterschlagen, sondern im Gegenteil zumeist entschieden in Anschlag gebracht. Dies geschieht unter der Prämisse, dass besagte Bewegung nicht als äußerlich herbeigeführt, sondern als innere Bewegung in Gott zu denken ist. Wie dies im Rahmen des trinitarischen und christologischen Dogmas der Alten Kirche zu bewerkstelligen ist, gehört zu den interessantesten Interpretationsaufgaben scholastischer Theologie.

7. Luthers Lehre vom Strafleiden Christi im Kontext scholastischer Anselmrezeption Lit.: H. Alpers, Die Versöhnung durch Christus. Zur Typologie der Schule von Lund, Göttingen 1964. – Chr. J. Amor, „Um unseres Heiles willen …“ Eine Hinführung zum Heilsverständnis bei Thomas von Aquin, Innsbruck / Wien 2009. – Anselm von Canterbury, Cur Deus homo. Warum Gott Mensch geworden ist. Lateinisch und Deutsch (= CDh), Darmstadt 31970. – G. Aulén, Die drei Haupttypen des christlichen Versöhnungsgedankens, in: ZSTh 8 (1931), 501–538.  – H.-M. Barth, Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers, Göttingen 1967. – J. Baur, Martin Chemnitz, in: ders., Einsicht und Glaube. Aufsätze, Göttingen 1978, 154– 172. – G. Bonner, Art. Pelagius / Pelagianischer Streit, in: TRE 26, 176–185. – L. Bormann, Gerechtigkeitskonzeptionen im Neuen Testament, in: M. Witte (Hg.), Gerechtigkeit, Tübingen 2012, 69–97. – W. Dettloff, Art. Biel, Gabriel, in: TRE 6, 488–491. – Ders., Art. Duns Scotus / Scotismus, in: TRE 9, 218–231. – B. Goebel, Rectitudo. Wahrheit und Freiheit bei Anselm von Canterbury. Eine philosophische Untersuchung seines Denkansatzes, Münster 2001.  – J. Gottschick, Studien zur Versöhnungslehre des Mittelalters, in: ZKG 22 (1901), 378–438 sowie ZKG 23 (1902), 35–67; 191–222; 321–375. – L. Grane, Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio Contra Scholasticam Theologiam 1517, Gyldendal 1962. – G. Greshake, Gnade als konkrete Freiheit. Eine Untersuchung zur Gnadenlehre des Pelagius, Mainz 1972. – Ders., Erlösung und Freiheit. Zur Neuinterpretation der Erlösungslehre Anselms von Canterbury, in: ThQ 153 (1973), 323–345. – R. Guardini, Die Lehre des Heil. Bonaventura von der Erlösung. Ein Beitrag zur Geschichte und zum System der Erlösungslehre, Düsseldorf 1921. – G. Hornig, Offenbarungstheologie und Motivforschung in Schweden, in: NZSTh 16 (1974), 146–174. – B. Janowski, Der barmherzige Richter. Zur Einheit von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Gottesbild des Alten Orients und des Alten Testaments, in: R. Scoralick (Hg.), Das Drama der Barmherzigkeit Gottes. Studien zur biblischen Gottesrede und ihrer Wirkungsgeschichte in Judentum und Christentum, Stuttgart 2000, 33–91. – H. Kessler, Die theologische Bedeutung des Todes Jesu. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung, Düsseldorf 1970. – Th. Kobusch, Art. Nominalismus, in: TRE 24, 589–604. – G. Leff / V. Leppin, Ockham / Ockhamismus, in: TRE 25, 6–18. – V. Leppin, „Gerechtigkeit“: Entwicklungslinien in der Kirchengeschichte, in: M. Witte (Hg.), a. a. O., 99–123. – W. Maurer, Die Geltung des lutherischen Bekenntnisses im ökumenischen Zeitalter, in: Publica doctrina heute, Berlin / Hamburg 1969, 94–112. – K.-H. Menke, Musste einer für alle sterben? Eine kritische Bilanz der Opfer-Christologie, in: V. Hampel / R. Weth (Hg.), Für uns gestorben. Sühne – Opfer – Stellvertretung, Neukirchen 2010, 191–222. – P. Minges-Quaracchi, Beitrag zur Lehre des Duns Scotus über das Werk Christi, in: ThQ 89 (1907), 241–279. – A. Nygren, Eros und Agape. Gestaltwandlungen der christlichen Liebe. 2 Bde., Gütersloh 1930/37. – H. A. Oberman, Spätscholastik und Reformation. Bd. 1: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965. – E. Recktenwald, Die ethische Struktur des Denkens von Anselm von Canterbury, Heidelberg 1998. – R. Schwarz, Gott ist Mensch. Zur Lehre von der Person Christi bei den Ockhamisten und bei Luther, in: ZThK 63 (1966), 289–351. – G. Söhngen, Rectitudo bei Anselm von Canterbury als

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Oberbegriff von Wahrheit und Gerechtigkeit, in: H. Kohlenberger (Hg.), Sola ratione. AnselmStudien, Stuttgart 1970, 71–77. – O. Tiililä, Das Strafleiden Christi. Beitrag zur Diskussion über die Typeneinteilung der Versöhnungsmotive, Helsinki 1941. – E. Troeltsch, Die Sozial­ lehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912. – H. Verweyen, Die Einheit von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit bei Anselm von Canterbury, in: IKaZ 14 (1985), 52–55. – M. Witte, Von der Gerechtigkeit Gottes und des Menschen im Alten Testament, in: ders. (Hg.), a. a. O., 37–67.  – E. Wolf, Die Rechtfertigungslehre als Mitte und Grenze reformatorischer Theologie, in: ders., Peregrinatio II. Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, München 1965, 11–21.

Gerechtigkeit ist ein bestimmendes Motiv biblischer Theologie. Es zieht sich „durch alle Überlieferungsbereiche und literarischen Schichten des Alten Testaments“ (Witte, 37) und führt in die innerste Mitte neutestamentlichen Zeugnisses: „Sache und Begriff der Gerechtigkeit sind für das Neue Testament zentral.“ (Bormann, 73) Kennzeichnend für alle biblischen Gerechtigkeitskonzepte hinwiederum ist ihre Theozentrizität. Gott ist der Grund und Inbegriff von Gerechtigkeit, nach deren Maß er sein Verhältnis zu seinem auserwählten Volk und dessen Gliedern, zu allen Menschen, ja zur ganzen Schöpfung gestaltet. Der Trend zur Universalisierung biblischer Gerechtigkeitstheologie reicht weit in die Religionsgeschichte Israels zurück, um in der neutestamentlichen Tradition seine Fortsetzung zu finden. Der eine Gott, zu dem sich Juden und Christen bekennen, ist als allmächtiger Schöpfer Himmels und der Erden Herr von Menschheit und Welt, und er übt seine Herrschaft nach Maßgabe seines gerechten Willens aus, wie er ihn in den Geboten um der Wahrung der rechten Ordnung seiner Schöpfung willen bekundet hat. Vom göttlichen Willen der Gerechtigkeit her haben sich in Sonderheit alle Verhältnisse des zum Ebenbild Gottes erschaffenen Menschen zu bestimmen: sein Gottesverhältnis, sein Verhältnis zu sich selbst sowie sein Verhältnis zu Mitmensch und Welt. Gerechtigkeit ist nach biblischem Verständnis ein Relationsbegriff. Sie „beschreibt im Alten Testament immer eine konkrete Beziehung zwischen zwei Größen. Im Blick auf Gott finden die Begriffe für Gerechtigkeit so ihre Anwendung im Blick auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch, zwischen Gott und Gesellschaft, zwischen Gott und einzelnen Menschen. Hinsichtlich des Menschen betrifft Gerechtigkeit dementsprechend das Verhältnis zwischen Mensch und Welt, zwischen Mensch und Gott sowie zwischen Mensch und Gesellschaft. Aus dem Beziehungscharakter der Gerechtigkeit ergibt sich ihr dynamischer und prozesshafter Charakter.“ (Witte, 39) Dabei ist es stets der eine Gott, der die innere Einheit der Dynamik der Gerechtigkeit und ihres Prozesses begründet und erhält, so wie allein er es ist, der durch Bekundung seines Willens die Basis gerechter Verhältnisse schafft, die der rechten Ordnung seiner Schöpfung gemäß sind. Die Theozentrik der Gerechtigkeitskonzeptionen des Alten Testaments, deren fundamentale Basis in der Thora gelegt ist, bleibt unter neutestamentlichen BeGerechtigkeit als bestimmendes Motiv biblischer Theologie

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dingungen erhalten, um die Gerechtigkeitsdiskurse im Raum der christlichen Kirche und ihre Theologie auch fernerhin zu bestimmen (vgl. Leppin). Daran ändern die Einflüsse antiker dikaiosyne- und iustititia-Traditionen nichts: „der wesentliche Ausgangs-, Bezugs- und Zielpunkt von Gerechtigkeit“ (Witte, 62) ist und bleibt Gott selbst, freilich als derjenige, der sich im auferstandenen Gekreuzigten in seiner Barmherzigkeit erwiesen hat, die er im Geist Jesu Christi auch den Ungerechten und Gottlosen auf Glauben hin zusagt und verspricht. Ohne Christologie und eine entsprechende Pneumatologie ist das neutestamentliche Gerechtigkeitsverständnis in seinen verschiedenen Ausprägungen und namentlich jenes Verständnis nicht zu erfassen, welches Paulus von der den Sünder rechtfertigenden Gerechtigkeit Gottes entwickelt. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind bereits im Gottesbild des Alten Testaments vereint und lassen sich nicht trennen. Gott begegnet als der gerechte, aber zugleich barmherzige Richter, dessen Barmherzigkeit indes nicht seine richtende Gerechtigkeit aufhebt, die zwischen gerecht und ungerecht urteilend scheidet. Wie verhält es sich hiermit im Christentum? Verträgt sich die Botschaft einer Rechtfertigung der Ungerechten und Gottlosen, wie sie namentlich in paulinisch-reformatorischer Tradition begegnet, mit dem Gerechtigkeitsgedanken, wie er nicht nur für das Alte Testament, sondern auch für die antike Tradition grundlegend ist? Gerechtigkeit entspricht ihrem Begriff nur, wenn sie den Unterschied von recht und unrecht nicht vergleichgültigt, sondern ihn in Geltung setzt und in Geltung belässt. Ein distributives Bestimmungselement gehört ebenso zu ihrem Wesen wie ein richtendes Moment, welches das Verhältnis der Gerechtigkeit zu demjenigen bestimmt, was ihr widerspricht. Eine Gerechtigkeit, die das Unrecht rechtfertigt, verdient ihren Namen nicht, sondern ist ungerecht in sich selbst. Wie kann die christliche Rechtfertigungslehre diese Konsequenz vermeiden und Gerechtigkeit und Barmherzigkeit theologisch so ins Verhältnis setzen, dass beider Unterschied ebenso gewahrt wird wie ihr Zusammenhang? Es ist üblich geworden, Anselms Satisfaktionslehre und sein Verständnis der Versöhnung durch Karikierende Kritik Christi Tod als „äußerlich, objektiv-sachhaft, rechnerisch und juridisch“ (Kessler, 165) abzutun. Seine ordnungsgebundene Gerechtigkeit beraube Gott seiner allmächtigen Freiheit, die Sünde aus reiner Barmherzigkeit zu vergeben und zwinge ihn, entweder zu strafen oder eine gleichwertige Genugtuungsleistung zu fordern: „Jesu Tod bedeutet deren Erbringung. Auf diese Weise wird die Befriedigung der ordnenden Gerechtigkeit Gottes durch eine äquivalente, äußerlich-sachhafte satisfactio und die dadurch erreichte Wiederherstellung der gestörten, gleichfalls äußeren Rechtsordnung zum Hauptzweck des Erlösungshandelns. Die Totalhingabe Jesu in seinen Tod, Gegenstück aller sündlichen Selbstverweigerung, kann hier jedenfalls nur als dingliche Ersatzleistung und sachhafte Ehrung gedacht werden.“ (Kessler, 161) Man muss Anselms soteriologische Theorie nicht kritiklos teilen, um in Kennzeichnungen dieser Art eine karikierende Verzeichnung ihres Gehalts und ihres Gerechtigkeitsverständnisses zu entdecken.

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Mit Recht wurde betont, dass die in der Neuzeit verbreitete, oft vehemente Ablehnung von Anselms Genugtuungslehre auf einem „Klischee“ (Greshake, Erlösung, 323) beruhe. Doch sollte man ein Klischee möglichst nicht dadurch zu korrigieren suchen, dass man es gegen ein anderes vertauscht, etwa indem man der angeblichen „Einheit von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit bei Anselm von Canterbury“ (vgl. Verweyen) die „unheilvolle Spaltung“ (Greshake, Erlösung, 342) kontrastiert, wie sie die reformatorische Anselmrezeption im Anschluss an Skotismus und Nominalismus bestimmt habe: „Bei Luther und Calvin wird die stellvertretende satisfactio Christi auf eine satispassio hin umgedacht. Christus erleidet Gottes Zorn für uns, auf daß sich darin sub contrario Gottes Barmherzigkeit für uns ereigne. Hier ist nichts mehr von Freiheit und Ermächtigung des Geschöpfs zu verspüren, sondern nur noch von jener düsteren Vermittlung der Gottesattribute Barmherzigkeit und Gerechtigkeit auf dem Rücken Jesu Christi. Gott gegen Gott! Eben so hat es Anselm nicht verstanden. Die neuzeitliche Kritik an seiner Satisfaktionslehre trifft darum gar nicht ihn, sondern jene Umformung seiner Lehre, in der allenfalls noch die Begriffe, aber nicht mehr der Geist Anselms lebendig ist.“ (Greshake, Erlösung, 342) Der für den Anselmismus einschließlich seiner reformatorischen Ausprägung zentrale Begriff lautet Anselms rectitudo rectitudo. Er fungiert bei Anselm selbst als Oberbegriff von Wahrheit und Gerechtigkeit (vgl. Söhngen) und umfasst zugleich, was Freiheit zu nennen ist. Wahrheit ist Rechtheit im Sinne innerer Übereinstimmung von Sein und Begriff, Gerechtigkeit die willentliche Entsprechung zur Wahrheit, Freiheit schließlich das Vermögen, die Rechtheit des Willens um dieser Rechtheit selbst willen zu bewahren. Der seinem wahren und rechten Begriff gemäße freie Wille unterliegt keinem Zwang, aber er ist zugleich von Willkür strikt unterschieden und zwar wegen seiner Selbstbindung an Gerechtigkeit und Wahrheit, dem alles Streben nach commoditas zu unterstellen ist. Freiheit als sittliche Gutheit ist die Grundlage der Glückseligkeit (vgl. Goebel, 283 ff.). Glückseligkeitsstreben und der Wunsch nach Selbstverwirklichung sind recht, aber sie sind es nur unter Wahrung der rectitudo, in der sie ihr Maß finden. Alle Kreatur, die vernünftige zumal, ist auf beatitudo ausgerichtet. Doch um dieses Aussein in geschöpflichem Maß und Rahmen zu halten und vor exzessiver Entartung zu bewahren, bedarf es der Unterscheidung des Geschöpfs von seinem Schöpfer als Grundkriterium menschlicher Gerechtigkeit. Die bewusste und willentliche Anerkennung, Geschöpf des Schöpfers und nicht der göttliche Schöpfer selbst zu sein, ist die Bedingung der Gerechtigkeit kreatürlicher Vernunftwesen und die Voraussetzung für sie, ihre wahre Bestimmung zu erfüllen und ihr Freiheitsvermögen so zu realisieren, dass es unter Integration des Strebens nach Glückseligkeit zur Vollendung gelangt. Gerechtigkeit ist im Verein mit Wahrheit und Freiheit die höchste Bestimmung aller Vernunftgeschöpfe, und sie ist dies, weil der Schöpfergott als das summum bonum, über das hinaus ein höheres Gut nicht gedacht werden kann, gerecht, ja die Gerechtigkeit selbst ist. Gott und Gerechtigkeit sind eins. „Gottes Sein besteht in

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seinem Rechtsein. Seine voluntas ist nichts anderes als rectitudo, seine rectitudo ist nichts anderes als sein Wille.“ (Recktenwald, 76) Wird dasjenige, über das hinaus Höheres nicht gedacht werden kann, als id, quo maius cogitari non potest, gedacht, dann wird es sowohl als Einheit von Begriff und Sein, nämlich als existenter Gott, als auch als realer Inbegriff von rectitudo gedacht und zwar zugleich und in einem. Gottes Gottheit und seine Gerechtigkeit lassen sich nach Anselm nicht scheiden. Als summum bonum ist Gott gerecht an sich selbst. Gilt dies, dann steht bereits der Schöpfungsgedanke unter der theologischen Voraussetzung der Gerechtigkeit Gottes. Nicht dass Gott zu seiner Selbstverwirklichung dessen bedürfte, was er nicht unmittelbar selbst ist. Er ist, was er ist, in und durch sich selbst. Doch darf es als ein Indiz der Gerechtigkeit seines allmächtigen Willens gelten, dass er aus sich und dem Verhältnis heraus, in dem er zu sich selbst steht, eine externe Beziehung dadurch erschließt, dass er aus dem Nichts kreatürliches Sein erschafft, um es nach Maßgabe seiner Gerechtigkeit zu erhalten. Versteht man die Schöpfung als eine Explikation göttlicher Gerechtigkeit, die zusammen mit der Wahrheit und Freiheit Gottes von vernünftigen Geschöpfen als dasjenige zu erkennen und anzuerkennen ist, über das hinaus Höheres nicht gedacht werden kann, dann wird verständlich, warum es nach Anselm mit der Gottheit Gottes unvereinbar ist, „aliquid inordinatum in suo regno dimittere“ (CDh I, 12). Die Sünde als schuldhafte Verkehrung des Verhältnisses kreatürlicher Vernunftwesen zu Gott, Selbst und Welt bringt die Ordnung der Schöpfung nicht nur äußerlich durcheinander, sondern kehrt sich gegen ihren inneren Grund und damit gegen Gott selbst, der sie ins Sein gerufen hat und sie darin um seiner Gerechtigkeit willen zu erhalten gewillt ist. Es ist der tödliche Ernst der Lage, in die Anselm die Schöpfung Gottes durch die Schuld der Sünde gebracht sieht, welche den Ansatz von „Cur Deus homo“ bestimmt und den großen Eindruck erklärt, den der Text auf die theologische Nachwelt gemacht hat. Wo es von ihm abwich, konnte Abaelards soteriologisches Konzept mit dem Anselm’schen in Mittelalter und Reformationszeit in aller Regel nicht konkurrieren. Für die mittelalterliche Scholastik belegt dies neben bspw. Bonaventura, dessen Erlösungslehre Romano Guardini eine monographische Studie gewidmet hat (vgl. Guardini), kein Geringerer als Thomas von Aquin, für die reformatorische Theologie in exemplarischer Weise Martin Luther. Was den Aquinaten betrifft, so wird die Relevanz des Satisfaktionsgedankens für seine Soteriolo- Satisfactio bei gie von ausnahmslos allen Interpreten betont: „wenn Thomas von Aquin Thomas etwas sagen will, was exklusiv nur dem Tode Jesu zukommt, dann redet er von der satisfactio.“ (Kessler, 170) Zwar begegne auch die Rede von redemptio oder sacrificium (vgl. Kessler, 184 ff.), doch soteriologisch bestimmend sei das von Anselm her geläufige Motiv der Genugtuung. Nicht wenige Ausleger sehen die Bedeutung dieses Motivs allerdings dadurch eingeschränkt, dass Thomas das Leiden Christi „nicht als ein absolut notwendiges Geschehen“ (Amor, 306) erachte. Manche meinen gar, dadurch sei eine Grundsatz­ differenz zu Anselm begründet (vgl. Kessler, 171 ff.). Richtig ist, dass Thomas in

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Bezug sowohl auf die Menschwerdung des Logos als auch auf das Passionsgeschehen keine metaphysische Notwendigkeit, sondern eine solche lehrt, die unter der Bedingung göttlicher Freiheit steht. Die Einsicht in sie ist daher nicht durch bloße Vernunftspekulation und unter Absehung von der Heilsgeschichte, sondern nur unter der Voraussetzung heilsgeschichtlicher Faktizität zu erlangen. Ob Anselm dies grundsätzlich anders sah, darf bezweifelt werden und das umso mehr, als Inkarnation und Passion auch für Thomas in ihrer faktischen Bedingtheit nicht aufhören, absolut notwendig in dem Sinne zu sein, dass ohne sie Heil für Menschheit und Welt nicht gedacht werden kann. Zwar kann Thomas zufolge die Vernunft für die Heilsnotwendigkeit des Leidens und Sterbens Jesu Christi nur Konvenienzargumente liefern. Durch die Autorität der Offenbarung aber, welche die Unergründlichkeit der freien Wahl Gottes wahrt und zugleich die Definitivität des getroffenen Heilsratschlusses belegt, wird die Einsicht in dessen Alternativlosigkeit durchaus erschlossen und zwar keineswegs auf vernunftwidrige, sondern auf vernunftkonforme Weise. Will man der thomasischen Theologie nicht einen Gottesbegriff unterstellen, der den göttlichen Willen in willkürlicher Weise gegen das göttliche Wesen ausspielt, dann wird man zwar einerseits den Vorbehalt gegen die Annahme einer absoluten Vernunftnotwendigkeit der Satisfaktion anzuerkennen haben, ohne daraus den Schluss zu ziehen, ihr faktischer Vollzug, den Thomas als heilsgeschichtlich gegeben voraussetzt, sei lediglich eine beliebige soteriologische Möglichkeit unter anderen. Gott untersteht nach Thomas keiner ihm äußerlichen Ordnung. Einen Zwang, Satisfaktion zu fordern, gibt es daher für ihn nicht. Gleichwohl wäre es abwegig, daraus zu folgern, die von Christus faktisch geübte Genugtuung entbehre theologischer Notwendigkeit. Denn da sie Gott, wie Thomas annimmt, tatsächlich gewollt hat, ist sie auch nötig und in ihrer Notwendigkeit für die Vernunft des Glaubens einsichtig zu machen, nämlich als ein untrügliches Indiz göttlicher Gerechtigkeit. Der Verweis, dass Gott auch anders gekonnt und es vermocht hätte, den Menschen sola misericordia zu erlösen, ist unter diesen Voraussetzungen eine lediglich abstrakt in Anschlag zu bringende metaphysische Möglichkeit, die durch das konkrete Offenbarungsereignis von Menschwerdung und Passion faktisch aufgehoben ist. Zwar ist das „satisfaktorische Leiden Jesu Christi als unergründliche Setzung Gottes“ (Kessler, 177; bei K. gesperrt) zu achten; doch geschieht dies nach Thomas rechtens nicht durch Reduktion ihrer Faktizität auf allmächtige Willkür, sondern durch ebenso gläubige wie vernünftige Anerkennung des Geheimnisses des in Jesus Christus in der Kraft des Hl. Geistes offenbaren Gottes, in welchem göttliche Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in unvordenklicher Weise eins sind. Das Kreuzesgeschehen ist nach Thomas ein göttlicher actus iustitiae und ein göttlicher actus misericordiae in einem, jedoch so, dass die Einheit beider Akte nur in und durch die faktische Offenbarung gottmenschlicher Versöhnung erschlossen wird, wie sie sich in Tod und Auferstehen Jesu Christi ereignet. Was den richtenden Akt der Gerechtigkeit betrifft, so ist es nicht möglich, aber auch nicht nötig, die thomasische Theorie vom Leiden Jesu Christi, dessen Ausmaß bis hin zur Gott­

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verlassenheit reicht (vgl. Amor, 311 ff.), sowie das Satisfaktionskonzept des Aquinaten (vgl. Amor, 328 ff.) im Rahmen seiner Verdienstlehre im Einzelnen zu entfalten. Genügen mag die Feststellung, dass die Passion Jesu Christi nach Thomas „nicht nur eine hinreichende (sufficiens), sondern eine überreiche (superabundans) Genugtuung für die Sünden der Menschen (war). In seinem Fleisch hat Christus stellvertretend für alle Menschen die Sündenstrafe erlitten.“ (Amor, 336) Das stellvertretende Strafleiden des Gekreuzigten ist Thomas zufolge „einerseits von der göttlichen Gerechtigkeit gefordert. Andererseits stellt die Passion des Sohnes den Liebeserweis Gottes an die sündige Menschheit dar.“ (Amor, 349) Als vereint zu erkennen geben sich beide Aspekte nur im Horizont des christologischen und trinitarischen Dogmas als der lehrhaften Explikation des in Jesus Christus beschlossenen Geheimnisses der Liebe Gottes, welche die Sünde richtet, aber den Sünder aus Gnade zu rechtfertigen gewillt ist. Kein Theologe hat die mittelalterliche Soteriologie in vergleichbarem Maße wie Anselm und­ Die Akzeptationstheorie Thomas zu bestimmen vermocht, auch Duns ­Scotus von Duns Scotus nicht. Im Unterschied zu Anselm, aber auch zu­ Thomas, der sie als ein malum von gewisser Unendlichkeit bezeichnet, da sie gegen den unendlichen Gott gerichtet sei, hat Duns die unendliche Schwere der Sünde mit der Begründung bestritten, die Behauptung einer Sündenunendlichkeit tendiere zum Manichäismus und zur Annahme einer gottähnlichen Stellung des Bösen. Wie den Unwert der Sünde schätzt er auch den Wert der Genugtuung Christi nicht als stricte dictu unendlich ein. „Von einem eigentlich unendlichen Wert kann doch nur da formell die Rede sein, wo unendliches Sein vorhanden ist, d. h. nur innerhalb des Göttlichen. Sobald dabei Geschöpfliches irgend welche Rolle spielt, befinden wir uns wieder in den Grenzen des Geschöpflichen und damit des Endlichen.“ (Minges-Quaracchi, 250) Unendlicher Wert kommt der durch Christi Leiden und Sterben geleisteten Satisfaktion nur durch göttliche Akzeptation zu, wohingegen es an sich selbst etwas Endliches und Beschränktes ist. Die Akzeptation hinwiederum erfolgt aus keiner absoluten Notwendigkeit heraus, sondern aus freiem Willensentschluss Gottes, der rein in sich selbst gründet. Entsprechend muss die Frage, ob die Erlösung des Menschengeschlechts durch Jesu Christi Leiden und Sterben alternativlos war, von Duns verneint werden. Prinzipiell hätte Gott auch auf eine ganz andere Weise verfahren können, um die sündige Menschheit mit sich zu versöhnen. Die Leugnung der Annahme, dass die Menschwerdung des Logos durch den Fall der Sünde bedingt sei, gehört in diesen Zusammenhang. Der Sohn Gottes wäre nach Duns auch Mensch geworden, wenn die Sünde nicht in die Welt gekommen wäre. Denn entscheidend für die Inkarnation ist seinem Urteil zufolge nur der Ratschluss Gottes und die ihm entsprechende kontingente Faktizität des tat­ sächlichen In-die-Welt-Gekommenseins Jesu Christi. Hätte Gott es gewollt, wäre die Menschheit auch auf andere Weise, als geschehen, zu erlösen gewesen, etwa durch ein bloßes Geschöpf oder sola misericordia. Eines Gottmenschen und eines Werkes der Satisfaktion hätte es nicht zwingend bedurft.

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Allerdings gesteht Duns zu, dass die Art und Weise, wie das Versöhnungsgeschäft durch Jesus Christus verrichtet wurde, höchst plausibel und einleuchtend sei, weil Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes in ihm gleichermaßen zur Geltung kämen. Dadurch werde manifest, dass Gott seinem Wesen nach, zu dem er sich willentlich bestimmt, das höchste Gut sei. Aber wie seine wesentliche Güte nach Duns eine Folge und keine implizite Prämisse seiner absoluten Selbstsetzung ist, so hängt auch die Bedeutung des faktischen Wirkens Christi ganz an der willentlichen Akzeptanz durch Gott, der über Genese und Geltung gleichermaßen befindet und zwar in absoluter Freiheit: „Das Leiden und Werk Christi war nicht innerlich notwendig, ist etwas Geschaffenes, Transeuntes, nicht etwas Ewiges, Immanentes wie Gott selbst. Es ist etwas Kontingentes. Wie die Inkarnation des Gottmenschen, so hängt auch sein ganzes Werk vom freien Willen Gottes ab; erst durch diesen Willen erhielt es Realität, reales Sein, Wahrheit und Güte. Deshalb ist das Werk Christi gut, weil Gott es wollte, nicht umgekehrt. Nachdem es aber einmal realisiert war, wollte und liebte es Gott freilich notwendig und zwar nach dem Grade seiner objektiven Güte. Diese Notwendigkeit ist aber nur eine relative, keine absolute, da sie auf dem freien Ratschluß Gottes gründet.“ (Menges-Quaracchi, 271) Das von Gott unterschiedene Endliche ist seiner Möglichkeit nach zwar notwendig, in seinem faktischen Sein hingegen kontingent. Die Kontingenz des Endlichen hinwiederum birgt nach Duns die Möglichkeit in sich, dass der endliche Wille willkürlich entartet und nicht will, was er seinem kreatürlichen Wesen nach zu wollen bestimmt ist. Mit dem göttlichen Willen verhält es sich anders: Seine unendliche Vollkommenheit kennt keine mögliche Indifferenz, sondern wählt in absoluter Freiheit mit derjenigen Notwendigkeit, die in Gottes Gottheit selbst begründet liegt, stets das Gute, dessen Güte indes von endlichen Größen nicht an sich selbst, sondern nur in der Positivität kreatürlichen Gesetzseins erkannt werden kann. Doch ändert dies nichts an dem Grundsatz, dass „der absolut souveräne Wille Gottes mit dem Wesen Gottes identisch ist und somit auf Grund der absoluten Gutheit des göttlichen Wesens per se kein ‚willkürlicher‘ Wille sein kann“ (Dettloff, Duns Scotus, 230). Jedenfalls insoweit geht Duns mit Thomas konform; ob er mit Luther „leichter ins Gespräch“ (Dettloff, Duns Scotus, 228) zu bringen ist als dieser kann ebenso dahingestellt bleiben wie die Frage, ob seine „Betonung der absoluten Unverfügbarkeit Gottes“ (ebd.) einem „der wichtigsten reformatorischen Anliegen“ (ebd.) nachkommt. So bedeutsam die Fernwirkungen von Duns ­Scotus Tätiger Gehorsam bis hin zur Genese der Neuzeit sind, so wenig stellt nach Gabriel Biel der sog. Scotismus eine einheitliche Schulbildung dar. Entsprechendes gilt in Bezug auf Ockham und seine Anhänger. Entgegen früherer Annahmen gab es an den philosophischen und theologischen Fakultäten des 14.  und 15.  Jahrhunderts „weder eine ockhamistische Schule noch einen einheitlichen Komplex von Lehren, den man als Ockhamismus ansprechen könnte“ (Leff / Leppin, 16). Auch der sog. Nominalismus, zu dessen Initiator Ockham gewöhnlich erklärt wird, bezeichnet keine eindeutig und

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ohne Randunschärfen identifizierbare Größe, sondern eine Denkrichtung, die in den besagten Jahrhunderten „hinsichtlich bestimmter Themenbereiche ‚neue Wege‘ im Vergleich zur traditionellen Philosophie und Theologie beschreitet“ (Kobusch, 590). Davon ist im gegebenen Zusammenhang nicht zu handeln. Etwas näher in Augenschein genommen werden soll wegen seines direkten Bezugs zu Luther lediglich jener Theologe, den man den letzten Scholastiker genannt hat und dessen Theologie „eine Synthese der von Duns Scotus und Wilhelm von Ockham beeinflussten Theologie des 14. und 15. Jh.“ (Dettloff, Biel, 490) darstellt: Gabriel Biel. In Luthers Disputatio contra scholasticam theologiam vom 4. September 1517 stellt dieser den Hauptgegner dar. Inhaltlich ist die Disputation gegen die Behauptung eines soteriologischen Eigenvermögens des sündigen Menschen und gegen die These gerichtet, der Sünder könne vermöge verbleibender natürlicher Kräfte sein Heil wenn nicht bewirken, so doch an ihm mitwirken. Mit einer pessimistischen Anthropologie haben Luthers Argumente „Contra Gabrielem“ entgegen häufiger Behauptung nichts zu tun: „Das Bild des Menschen, das Luther zeichnet, gilt allein für die Situation der Rechtfertigung, d. h. für den vor Gott gestellten Menschen. In diesem Zusammenhang werden alle Möglichkeiten des Menschen verneint. In diesem Zusammenhang ist das Gesetz in allen seinen Formen lex non bona.“ (Grane, 376) Hieraus ergibt sich Luthers Ablehnung der Biel’schen Soteriologie. Gabriel Biel modifizierte die Anselm’sche Tradition an entscheidender Stelle, indem er das Leben Jesu Christi, nicht seinen Tod zum Zentrum von Erlösung und Versöhnung erklärte. „In der Sprache der Orthodoxie des späten sechzehnten Jahrhunderts würde man sagen, dass Biel mehr Nachdruck auf die obedientia activa, Christi Erfüllung des Gesetzes während seines ganzen Lebens, als auf die obedientia passiva, seinen stellvertretenden Tod für die Sünden der Menschheit, legt.“ (Oberman, 248 f.) Im Unterschied zu Anselm lehnt er nicht nur die Notwendigkeit eines satisfaktorischen Selbstopfers Jesu Christi, sondern die Genugtuungsvorstellung selbst ab. Christi Tod ist die Vollendung seiner Hingabe an Gott und Mensch, in der sich sein Leben erfüllt, um ein unvergleichliches Beispiel zu geben sowohl für Gottes Liebe zum Menschen als auch für des Menschen Liebe zu Gott, die in der Nachfolge Christi in Form von imitatio zu üben ist. Luther konnte sich mit Biels soteriologischer Auffassung, die mehr bei Abaelard als bei Anselm steht (vgl. Oberman, 249), nicht befreunden. Ob der Grund hierfür lediglich in seinem entschiedenen Antipelagianismus oder zugleich in seiner Vorliebe für Anselm zu suchen ist, wird zu fragen sein und zwar unter Bezug auf einen neueren Versuch, den Ver­ söhnungsgedanken und seine Geschichte typisierend zu ordnen. In seiner 1930 in schwedischer Sprache publizierten Geschichte des christlichen Versöhnungsgedan- Auléns Typologie kens, deren englische Übersetzung unter dem Titel „Christus Victor. A Historical Study of the Three Main Types of the Idea of the Atonement“ ein Jahr später in London erschien, hat der Lundener Theologe Gustav Aulén „drei Haupttypen des christlichen Versöhnungsgedankens“ (vgl. Aulén) unterschieden: den klassischen, den lateinischen und den sog. subjektiven Typ.

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Während der klassische Typ die Versöhnung durch Christus als Sieg der göttlichen Agape über die Verderbensmächte Tod und Teufel darstelle, gelte dem lateinischen Typ die Versöhnung als stellvertretende Genugtuungsleistung Christi an die göttliche Gerechtigkeit. Gegen diesen Typ wende sich sodann der sog. subjektive Versöhnungstyp der Aufklärung und der liberalen Theologie, in welchem Versöhnung als die Erkenntnis der von Christus verkündigten, unveränderlichen Liebe Gottes zu den Menschen verstanden werde. Grundlegend bestimmt wird die Eigenart der drei Typen nach Aulén durch ihr jeweils unterschiedliches Gottesbild: Der klassische Typ ist geprägt von einer dualistischen Kampfperspektive; Gott als der im Christusgeschehen eigentlich Handelnde setzt sich in machtvoller Liebestat gegen die den Menschen bedrückenden dunklen Gewalten siegreich durch. Die Überwindung der Sünde ist dabei ein integriertes, keineswegs aber das zentrale oder gar das einzige Motiv des göttlichen Kampfesgeschehens in Jesus Christus. Die Versöhnung fungiert als ein Moment der Erlösung. Demgegenüber ist im lateinischen Typus der kämpferische Dualismus Gott – Teufel völlig zurückgedrängt, die Erlösung zu einem untergeordneten Element der Versöhnung geworden. Kennzeichnend ist der Gedanke göttlicher Gerechtigkeit, deren Verletzung durch menschliche Sündenschuld eine Satisfaktion von Seiten der Menschen erfordert. Die Heilstat Christi wird entsprechend als menschliche Erfüllung göttlicher Rechtsforderung vorgestellt. Der sog. subjektive Versöhnungstyp schließlich geht nach Aulén vorweg von dem Gedanken invarianter Vaterliebe Gottes aus und sieht das Versöhnungsgeschehen in der Weise eines menschlichen Bewußtseinswandels wirksam. Die beherrschenden Grundmotive der einzelnen Versöhnungstypen Auléns lassen sich demnach zusammenfassend wie folgt charakterisieren: „Im klassischen Typ offenbart sich in der Versöhnung die göttliche Liebe, indem sie hinabsteigt in das Elend, in dem der Mensch ohne Gott zu leben verdammt ist; sie opfert sich hinein in das Sünden-, Todes- und Zornesverhängnis des sündigen Menschen; ihr Opfer ist Tat, Kampf und schließlich Sieg der souveränen Liebesmacht über die Unheilsmächte dieses Äons und damit zugleich Anbruch der Herrschaft des göttlichen Liebeswillens im Herzen der von ihm bezwungenen Menschen. – Im lateinischen Typ fordert der gerechte Gott des Gesetzes vom Menschen die genugtuende Leistung für seine Sünde zur Versöhnung; und doch hilft er durch die Sendung Christi nachsichtig dem schwachen Menschen zur Erfüllung seiner Forderung. Der Tod Christi gibt als solche Erfüllung dem gerechten und auch barmherzigen Gott die Möglichkeit, durch das schuldvergebende und die Strafe erlassende Urteil die Gemeinschaft mit dem Menschen wieder aufzunehmen, der sich in rechter Weise das Verdienst Christi aneignet. – Im anthropozentrischen Typ wird der Mensch durch die Begegnung mit dem in ungebrochener Gottesgemeinschaft lebenden Idealmenschen Christus von allen Wahnvorstellungen über einen zürnenden oder in seinem Wesen gespaltenen Gott frei und dessen inne, daß Gott immer und unveränderlich den Menschen liebe, ihm seine Sünden als menschliche Schwachheit vergebe, aber doch auf sein gutes oder böses Leben mit väterlicher Güte oder Strenge reagiere. Diese

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Gewißheit um die in unserem Lebensschicksal wirksame Güte Gottes versöhnt den Menschen mit Gott, aber auch mit den Ordnungen in der Welt, die seinen Selbstbehauptungswillen als Geistwesen gefährdeten.“ (Alpers, 45 f.) Den religionsphilosophischen Rahmen der Aulén’schen Versöhnungstypologie bildet die sog. Lundener Motivforschung (vgl. Hornig), wie sie von Anders Nygren in dem Werk „Eros und Agape. Gestaltwandlungen der christlichen Liebe“ prominent vertreten wurde (vgl. Nygren). Mit Nygren teilt Aulén die Vorliebe für das urchristliche Agapemotiv, das er nicht nur einem paganen Erosstreben, sondern auch einer am Nomos orientierten Theorie und Praxis kontrastiert, wie sie das okzidentale Mittelalter nicht zuletzt in soteriologischer Hinsicht geprägt hätten. Es sei das Verdienst Martin Luthers gewesen, vom nomosbestimmten Versöhnungstyp des lateinischen Westens zu dem klassisch-altkirchlichen des griechischen Ostens zurückgelenkt zu haben, in welchem sich das urchristliche Agapemotiv erhalten und in der Vorstellung des siegreichen, die versöhnende Liebe Gottes offenbarenden Kampfes Jesu Christi gegen die Verderbensmächte von Tod und Teufel zur Geltung gebracht habe. Mit Nachdruck betont Aulén, „daß Luther die rein juristischen Termini wie satisfactio und meritum oft ihrer juristischen Grundbedeutung beraube, daß Luther eine Vorliebe für Streitbilder habe und daß er gerade dort das Kampfmotiv bringe, wo er am unmittelbarsten spricht: in seinen Liedern und im Kleinen Katechismus“ (Barth, 54). Während die altprotestantische Orthodoxie die von Anselm systematisch ausgearbeitete, am Nomosmotiv ausgerichtete Versöhnungslehre lateinischen Typs fortführe, sei die Soteriologie des Reformators selbst als Vertiefung des klassisch-altkirchlichen Typs zu werten. Luther stehe Athanasius von Alexandrien näher als Anselm von Canterbury. Auléns eigenwillige Lutherdeutung blieb auch innerhalb der skandinavischen Forschung nicht lange Tiililäs Kritik unbestritten. Nachhaltige Kritik haben sie und ihr typisierender Gesamtansatz insbesondere durch den finnischen Theologen Osmo Tiililä und sein Werk „Das Strafleiden Christi“ erfahren. Als Motto vorausgestellt ist der Arbeit Luthers Diktum (WA 10/I, 718): „Viel größer ist Schuld denn Pein, Sünde denn Tod.“ (Vgl. Tiililä, 3) Im Folgenden wird überzeugend nachgewiesen, dass Luthers Versöhnungslehre durchaus in den Kontinuitätszusammenhang der lateinischen Tradition gehöre. Zentral sei nicht die Vorstellung eines kosmischen Erlösungsdramas dualistischer Prägung, sondern der Gedanke versöhnender Überwindung göttlichen Zorns über die selbstverschuldete Sünde des Menschen. Indem er das Nomosmotiv juridisch-moralisch auffasse und in den Rahmen einer „Werkreligion“ einordne, verkenne Aulén den Stellenwert von Gesetz, Sünde und Schuld bei Luther und messe dem Leiden Christi für uns „nicht die ihm zukommende Bedeutung bei“ (Tiililä, 27; bei T. kursiv), nämlich diejenige tatsächlichen Straf­ leidens. „Die Schuldfrage ist der Kern des Versöhnungsdenkens.“ (Tiililä, 100) Dies gilt nach Tiililä sowohl für das biblische Zeugnis als auch für Luther, dessen Versöhnungslehre in ihrem Zentrum vom Gedanken stellvertretenden Strafleidens für die Sündenschuld der Menschen geprägt sei (vgl. Tiililä, 196 ff.). Der Strafleidens-

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gedanke schließe einerseits an Anselms Satisfaktionslehre an, modifiziere diese aber zugleich und zwar nicht zuletzt dadurch, dass der Reformator das Tun und Leiden des Versöhners als ein gottmenschliches Geschehen deute, das mit der Person des Gottmenschen die Gottheit des trinitarischen Gottes selbst betreffe. Tiililäs Sicht ist gegenüber der Aulén’schen eindeutig der Vorzug zu geben (vgl. Alpers, 81 ff.). Die Soteriologie des Reformators ist von der „Schuldlinie“ (vgl.­ Tiililä, 200 ff.) bestimmt, ihr primäres Thema die Versöhnung als Sühnung von Schuld, wie sie durch stellvertretendes Strafleiden des Gottmenschen erfolgt.­ Luther versteht Christi Passion als wirkliche Übernahme göttlicher Sündenstrafe. Wenn er soteriologisch in Anschluss an Anselm von Satisfaktion und Genugtuung spricht, was häufig der Fall ist, dann meint er damit recht eigentlich keinen Strafersatz, da die Schuld sündhafter Verkehrung nach seinem Urteil nur durch persönliches Erleiden von Strafe getilgt werden kann und zwar einer Strafe, die nicht nur die körperliche Außensphäre, sondern das Innerste der Seele betrifft. Der Gedanke des Rechts und der Gerechtigkeit ist Strafleiden Christi für Luthers Soteriologie zentral und entscheidend, doch nicht in Gestalt einer, wenn man so will, nomistisch-legalistischen Äußerlichkeit, sondern in zutiefst verinnerlichter Form. In extremer Zuspitzung zeigt sich dies in Luthers Lehre, Christus habe wirklich die Stellung des Schuldigen eingenommen und mithin verdiente Strafe erlitten. Nicht als innerlich unbeteiligter Träger der Sünde sei er vorzustellen, vielmehr als derjenige, welcher selbst zur Sünde und zum Fluch geworden sei und alle Schrecken der Schuld bis zur resignatio ad infernum an sich selbst erduldet habe (vgl. Tiililä, 231 ff.). So wird an Christi Kreuzesnot, die ihn in die Finsternis der Gottverlassenheit und der Höllenqual hinabführt, der Gerichtsernst Gottes in einer Weise offenbar, die keine Steigerung mehr denken lässt. Die Möglichkeit, den Kreuzestod als eine verdienstliche Leistung des Menschen Jesus Gott gegenüber zu deuten, war damit von Grund aus verschlossen. Sein Leiden und Sterben stellt sich weniger als satisfactio denn als satispassio dar, als ein Strafleidensgeschick, das jedem Gedanken einer möglichen Gerechtigkeit durch Werke ein definitives Ende bereitet. Ecce homo: Angesichts des Kreuzestodes Jesu von Nazareth kann von einem soteriologischen Eigenvermögen des sündigen Menschen nicht länger die Rede sein. Man hat die Christologie Luthers wiederholt eine „Christologie der Alleinwirksamkeit Gottes“ genannt und die These vertreten, Anselms Theorie vom Genugtuungstod des Gottmenschen sei deshalb zum „protestantische(n) Zentraldogma“ (Troeltsch, 447) erhoben worden, um „mit der als Ersatz verstandenen Stellvertretung“ (Menke, 197, Anm. 5) jede Mitwirkung des Sünders an seinem Heil auszuschließen: „Das ‚sola gratia‘ der lutherischen Rechtfertigungslehre schien durch die Kennzeichnung des Kreuzes als der durch Jesus Christus allein dem Vater geleisteten Satisfaktion bestätigt.“ (Ebd.) Richtig an dieser Kennzeichnung ist, dass der Reformator die Soteriologie ganz von der Wirklichkeit und vom Wirken Gottes in Jesus Christus her verstand. Gott ist es, der im Versöhnungsgeschehen waltet und wahrhaft Versöhner zu nennen ist. Nicht von ungefähr hat man in reformatorischer

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Tradition deshalb lieber vom Amt als vom Werk Jesu Christi gesprochen. Für­ Luther selbst folgt aus dieser Perspektive, dass er die überkommenen Interpretamente des Kreuzestodes mit einer neuartigen Bedeutung versieht. Am Beispiel der Folgen, die seine Kritik an mittelalterlichen Bußtheorien für die soteriologische Verwendung des Satisfaktionsbegriffs zeitigt, ließe sich dies im Einzelnen verdeutlichen. Luthers Christologie und Soteriologie sind entschieden theozentrisch konzipiert. Hat die These einer Lehre von der Alleinwirksamkeit Gottes insoweit ihre Richtigkeit, so muss sie gleichwohl zu erheblichen Missverständnissen führen, wenn man sie von ihren trinitätstheologischen und binnenchristologischen Grundlagen abstrahiert. Gott ist nicht so Subjekt des Versöhnungsgeschehens, dass er Jesus zum bloßen Objekt seines Tuns Tod Gottes herabsetzen würde. Es zählt vielmehr zu den gewissen Überzeugungen Luthers, dass im Sterben dieses Menschen Gott sich selbst ins Elend begibt. Zu Luthers „theologia crucis“ gehört somit das Bekenntnis zur unauflöslichen Personeinheit von Gott und Mensch in Jesus Christus untrennbar hinzu: „Nein geselle, wo du mir Gott hinsetzest, da mustu mir die menscheit mit hin setzen, Sie lassen sich nicht sondern und von einander trennen, Es ist eine person worden und scheidet die menscheit nicht so von sich, wie meister Hans seinen rock aus zeucht und von sich legt, wenn er schlaffen gehet.“ (WA 26, 333,6 ff.) Von daher kann, ja muss Luther das harte Wort vom Tode Gottes wagen: „Aber nu Gott und Mensch vereinigt ist in einer Person, so heisst recht Gottes tod, wenn der mensch stirbt, der mit Gott ein ding oder eine Person ist.“ (WA 50, 590,20 ff.) Die Einheit der beiden Naturen in Jesu Christi Person spricht also die der humana natura zukommenden Prädikate des Leidens und Sterbens auch dem fleischgewordenen Gott zu. Dementsprechend gilt: „Vere dicitur: Iste homo creavit mundum et Deus iste est passus, mortuus, sepultus etc.“ (WA 39/II, 93,8 f.) Luther ist kein Patripassianer, und er vertritt, so gerne ihm das unterstellt wird, auch keine monophysitische bzw. monotheletische Christologie. Aber er interpretiert die Wirklichkeit des auferstandenen Gekreuzigten, in dessen Person das Versöhnungsgeschehen begründet und inbegriffen ist, dergestalt christologisch-trinitätstheologisch, dass richtende Gerechtigkeit und barmherzige Liebe Gottes in ihrem Gegensatz und in ihrer Einheit gleichermaßen zur Geltung kommen (vgl. Schwarz). Am Kreuz erleidet Jesus Christus die göttliche Strafe für die Sünde des Menschen; zugleich ist österlich offenbar, dass der Gekreuzigte der Gottheit Gottes unveräußerlich zugehört, ja dass sich Gott der gerechte Richter in ihm an die Stelle des Gerichteten begeben hat, um das Gericht stellvertretend für uns zu erleiden. In Christus begibt sich Gott selbst in den Tod, in die resignatio ad infernum, in die Hölle der Gottverlassenheit. Daran hängt für Luther die von Anfechtung befreiende Kraft der Versöhnungsgewissheit. Sie hängt freilich ebenso sehr daran, dass Gott im Kreuzesgeschehen lebendige Allmacht bleibt und, indem er den toten Jesu als sein Eigen annimmt, diesem zur Auferstehung verhilft, so dass der Tod verschlungen ist in den Sieg des göttlichen Lebens. Im Miteinander von Tod und Auf-

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erstehen Jesu Christi, die einen einzigen Zusammenhang bilden, ist die Versöhnung geschehen. Die Frage, wie die von Christus erwirkte Versöhnung dem sündigen Menschen zugute kommt, erfordert für Luther nicht eigentlich einen Neueinsatz der Überlegung. Indem der Mensch in Christus Gott selbst den Tod als Sündenstrafe auf sich nehmen sieht, vermittelt sich ihm das Bewußtsein der eigenen Rettung. Wo er sich darauf verlässt, dass die menschliche Nichtigkeit bei Gott angenommen ist, weiß er sich selbst erlöst. Dies meint Luther, wenn er sagt, die Versöhnung komme durch den Glauben in uns: denn der Glaube ist als „fides apprehensiva“ nichts anderes als vertrauensvolles Anerkennen und Geltenlassen der Leidenstat Gottes in Christus. Durch ihn wird der Mensch gleichsam in das Versöhnungsgeschehen hineingezogen, und die in Christus offenbare Wirklichkeit wird gegenwärtig in ihm. Gegenüber einem „anstatt“, das sich durch äußere Weisen der Zueignung zu vermitteln sucht, ohne doch seine Fremdartigkeit loszuwerden, vertritt Luther demnach einen Stellvertretungsgedanken, der durchaus inklusiv genannt zu werden verdient. Der Glaube schafft im Menschen Christi Art und Wesen, nimmt ihn in dessen Tod hinein und gibt ihm durch diesen hindurch Anteil am Leben des Auferstandenen. Luther kann die Gegenwart Christi im Glauben so sehr betonen, dass manche Formulierungen in der Exklusive und inklusive Gefahr stehen, die Differenz zwischen beiden einStellvertretung zuziehen und die Einmaligkeit des Christusgeschehens in einen punktuellen Glaubensaktualismus aufzulösen. Dass damit das Zuvorkommen Gottes aus dem Blick wäre, wusste der Reformator freilich selbst. Deshalb betont er ebenso sehr die Singularität des Werkes Gottes in Christus und lehnt es entschieden ab, eine tropologische Deutung des Kreuzestodes im Sinne der mittelalterlichen Bußlehre vorzunehmen. Kreuzesnachfolge kann nicht imitatives Selbstgericht sein. Dem inklusiven Verständnis des Werkes Gottes in Christus muss deshalb ein exklusives notwendig korrespondieren. An der kontingenten Einmaligkeit der Gottestat hat alles menschliche Tun einen Halt, der freilich gerade nicht dessen Stillstand befördert, sondern es stets neu in Gang setzt. Das Verhältnis von Exklusivität und Inklusivität ist bei Luther nicht als Alternative, sondern als einiger Zusammenhang entwickelt, der sich in der Christusgemeinschaft des Glaubens als der Einheit von „extra me“ und „in me ipso“ erfüllt. Die externe Gerechtigkeit Christi übereignet sich dem Glauben dadurch, dass er seiner exzentrischen Struktur entsprechend seine Identität nicht auf sich, sondern auf das extra se Christi gründet. Eben in diesem Sinne ist das Evangelium von der im Versöhnungsgeschehen Jesu Christi manifesten Rechtfertigung des Sünders Inbegriff der Theologie Luthers und Mitte und Grenze evangelisch-lutherischen Bekenntnisses. Es wäre ein Missverständnis des Rechtfertigungsartikels als des „höchsten fürnehmsten Artikel(s) der ganzen christlichen Lehre“ (Apol. IV,2; BSLK 159,4 f.; vgl. auch BSLK 239,15 f. u. a.), als der „formelhafte(n) Mitte und sichernde(n) Zusammenfassung der neuen Christuserkenntnis und Christusverkündigung, mit der die Reformation die Antwort gibt auf ihre Zentralfrage nach der

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wahren Kirche“ (Wolf, 11), wollte man ihn zu einem spezifischen Lehrstück neben anderen oder selbst zum Gegenstand des Glaubens bzw. zu einem axiomatischen Prinzip erklären, aus dem sich alle Wahrheit des Glaubens deduktiv entfalten ließe. Vielmehr ist der Rechtfertigungsartikel stets hingeordnet auf den konkreten Vollzug der Zusage des Versöhnungsevangeliums Jesu Christi durch Wort und Sakrament. Die reine Verkündigung und die rechte Verwaltung der Sakramente dadurch zu gewährleisten, dass er sie beide zu Medien der vorbehaltlosen göttlichen Gnade bestimmt, wie sie in Jesus Christus offenbar ist, dies ist die theologische Funktion der Rechtfertigungslehre, in der sie ihrem Gehalt entspricht. Es kommt nicht von ungefähr, dass es in den direkt auf Luther zurückgehenden Bekenntnisschriften „keine Formel für die Rechtfertigungslehre“ (Maurer, 109) gibt. „In seinem Bekenntnis von 1528 ebenso wie im Kleinen und Großen Katechismus und in den Schmalkaldischen Artikeln wird die Rechtfertigung mit biblischen Begriffen unmittelbar aus der Kraft des Werkes Christi abgeleitet.“ (Ebd.) So heißt es in den Articuli Smalcaldici: „Hie ist der erste und Häuptartikel: … Daß Jesus Christus, unser Gott und Herr, sei ‚umb unser Sunde willen gestorben und umb unser Gerechtigkeit willen auferstanden‘. … Dieweil nu solchs muß gegläubt werden und sonst mit keinem Werk, Gesetze noch Verdienst mag erlanget oder gefasset werden, so ist es klar und gewiß, daß allein solcher Glaube uns gerecht mache. … Von diesem Artikel kann man nichts weichen oder nachgeben, es falle Himmel und Erden oder was nicht bleiben will.“ (BSLK 415,6 ff.) Christi Lehre kennen heißt mithin nichts anderes als: „in Christum credere sine omnibus operibus“ (WA 29, 481,17). Auch wenn in CA IV von der Rechtfertigung bereits in einem bestimmten Lehrartikel gehandelt wird, beweist doch seine Einordnung in Aufbau und Gliederung der CA , dass das in ihm thematisierte Thema der Theologie schlechthin und in allen Einzellehrstücken mitgesetzt ist. Die Weise, wie Christus und der Glaube im Rechtfertigungsgeschehen zusammenstehen, entscheidet Fides apprehensiva über das theologische Verständnis Gottes wie des Menschen und damit über die Gesamtheit christlicher Lehre. Indem er nichts vom eigenen Vermögen, aber alles von den Möglichkeiten Gottes in Jesus Christus erwartet, ist der Glaube, was er ist, fides apprehensiva. Fiducia als die erfüllte Gestalt des Glaubens ist an sich selbst jenes Sich-Verlassen, welches das Seine nicht bei sich selbst, sondern allein im extra nos Jesu Christi sucht. Auf sich und seine vermeintliche Kraft und Fähigkeit gerichtet hingegen ist der Glaube in sich verkehrt und zum Unglauben geworden, welcher in seinem Eigensinn vergehen muss. Luther hat dieses exzentrische Wesen des Glaubens in prägnanten Formeln (simul iustus et peccator; iniustus in me, iustus in spe) dem selbstverkehrten Unwesen des Unglaubens eindrucksvoll kontrastiert. Der so verstandene Rechtfertigungsartikel bestimmt als Organisationszentrum aller Inhalte die innere Einheit reformatorischer Theologie. Dabei muss der materiale Wert der Rechtfertigungslehre nicht mit der Überzeugungskraft jener Vorstellungen stehen und fallen, in denen sie jeweils zur Sprache kam. Was in der Lehre von der iustificatio angesagt ist, ist vielmehr einer

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regulativen Idee zu vergleichen, die in allen Momenten der Glaubenswahrheit bestimmend mitgesetzt ist, wie Luther denn auch seine reformatorische Zentraleinsicht ohne weiteres im Zusammenhang der Freiheitsthematik entfalten konnte. Zusammenfassend lässt sich über die Struktur des in allen Einzelthemen mitgesetzten Grundgedankens reformatorischer Theologie Folgendes sagen: Die externe Versöhnungsgerechtigkeit Jesu Christi ist im Glauben gerade darin real und effektiv, als sich dieser in keiner Weise auf seine vorfindliche und tatsächliche Gerechtigkeit verlässt, sondern – exzentrisch – einzig und allein auf die Gerechtigkeit Christi, wie sie das Evangelium ihm zuspricht. An den lutherischen Ausführungen zur Sündenlehre oder etwa zur Frage der Willensfreiheit ließe sich diese Einsicht im Einzelnen bestätigen. So steht das lutherische Bekenntnis zur radikalen Abgründigkeit der Sünde in gleichsam negativer Korrespondenz zum Zeugnis von der unverdienten und nicht zu verdienenden, mithin unbedingten Rechtfertigungsgnade Gottes in Jesus Christus und will von daher und nur von daher verstanden werden. Entsprechend wird etwa die Unterscheidung zwischen der natura hominis corrupta und der substantia corrupti hominis, wie sie die Konkordienformel gegen Flacius vornimmt, zugleich dem menschlichen Vermögen entzogen, indem der konstatierte Unterschied allein aus Gottes Heilstat hergeleitet wird (vgl. FC Ep  I, BSLK 770, 26–772,33; vgl. BSLK 843,6 ff.). Die Identität menschlicher Natur im Prozess ihrer heilsamen Veränderung bzw. Erneuerung lässt sich nicht unmittelbar aus dieser Natur selbst begründen, sondern verdankt sich einzig und allein dem Selbstvollzug der Liebe Gottes, welcher dem Menschen – trotz seiner und gegen seine sündige Selbstverfassung – eine bleibende Selbstidentität zu geben gewillt ist. Das Menschsein des Menschen wird also gerade verfehlt, wenn es aus sich heraus begründet und identifiziert werden soll; denn seine eigene Voraussetzung und identischer Grund seiner selbst sein zu wollen, ist die Ursünde des Menschen. Demgegenüber hat in Bezug auf das Wesen des Menschen durchgängig zu gelten, was Luther in seiner „Disputatio de homine“ von 1536 gemäß Röm 3 klassisch so formuliert: „hominem iustificari fide“ (WA 39 I, 176, These 32). Aus Luthers anthropologischer Definition ergeben sich alle antipelagianischen bzw. antisemipelagianischen Abgrenzungen von selbst. Die Freiheit des Menschen kann nach lutherischer Lehre nur als Befreiung durch Gott ausgesagt werden. Dies impliziert die generelle Bestreitung einer menschlichen facultas applicandi se ad gratiam und jeder Wirkung oder Mitwirkung eines im Sinne eines menschlichen Freiheitsvermögens gefassten liberum arbitrium zum Heil. Die göttliche Befreiung betrifft das subjectum convertendum indes keineswegs wie ein Keil den Klotz. Der befreiende göttliche Zuspruch in Jesus Christus nimmt vielmehr den Menschen als freie creatura rationalis in Anspruch, die zu sein er in sündiger Selbstverkehrung versagte. Die durch Gott gegebene Begründung menschlicher Freiheit kann deshalb auch nicht als bloße Gegebenheit bestimmt und gegen deren praktischen Vollzug ausgespielt werden. Denn durch die göttliche Befreiung ist der Mensch zu sich selbst befreit. Insofern wird von der Reformation keineswegs der verpflichtende Wert guter Werke in Abrede gestellt. Deutlich gemacht werden soll allerdings, dass

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sich die Basis christlichen Seins und Wirkens jeder Begründung und Erhaltung durch selbsttätiges menschliches Handeln entzieht, weil Gottes Wirken in Jesus Christus allem menschlichen Tun zuvorgekommen ist und stets zuvorkommt. Durch dieses zuvorkommende göttliche Handeln wird sinnvolle menschliche Praxis nicht unmöglich gemacht, vielmehr allererst ermöglicht. Denn indem der Glaube, da er sich in gänzlichem Vertrauen auf Gott verlassen kann, frei ist von der Sorge ums Eigene, ist er zugleich und nun erst frei zu dankbarer Fürsorge und sinnvoller Tat der Liebe. Versucht der Mensch hingegen selbsttätig sein Heil zu wirken, verkehrt er sich zwangsläufig in sich selbst und ist in allen seinen vermeintlichen guten Werken nur selbstbezogen mit der Konstitution seiner selbst beschäftigt, welch leeres Kreisen um sich selbst von den Reformatoren etwa anhand einer Reihe sinnloser frommer Verpflichtungen identifiziert wurde. Aus der skizzierten Gedankenreihe lassen sich alle Einzelbestimmungen im Umkreis lutherischer Imputationstheorie Versöhnungs- und Rechtfertigungslehre entfalten. Das gilt auch von der Imputationslehre; auch sie hat ihren ursprünglichen Ort im Gedanken exzentrischer Christusgemeinschaft des Glaubens, wenngleich unter dem Einfluss schwärmerischer Verkehrungen dieser Zusammenhang später seltener ausdrücklich wurde. Dadurch konnte die Gedankenform einer äußerlichen Zurechnung der Gerechtigkeit Christi in den Vordergrund treten. Für Melanchthons forensische Imputationslehre ist dies unverkennbar. Aber auch im Blick auf die Lehrbestimmungen der Konkordienformel wurde nicht selten beklagt, sie erweckten den Eindruck, als werde die Gerechtigkeit Christi im Glauben nur äußerlich zugerechnet, ohne in ihm und durch ihn effektiv wirksam zu werden. Die Formula Concordiae versteht die iustificatio tatsächlich forensisch-imputativ und ana­thematisiert ausdrücklich die Behauptung, „daß in den Sprüchen der Propheten und Aposteln, wann von der Gerechtigkeit des Glaubens geredt wird, die Wort rechtfertigen und gerechtfertiget werden nicht sollen heißen von Sünden ledig sprechen und Vergebung der Sünden erlangen, sondern vonwegen der durch den Heiligen Geist eingegossenen Liebe, Tugend und daraus folgende Werk mit der Tat und Wahrheit gerecht gemacht werden“ (FC SD III,62; BSLK 935, 20 ff.; vgl. BSLK 935 Anm. 3). Sachlich entsprechend hatte sich bereits Martin Chemnitz, der an dem Zustandekommen des Konkordienwerks maßgeblich beteiligt war, in seinem „Examen Concilii Tridentini“ gegenüber den römisch-katholischen Lehrbestimmungen zum Rechtfertigungsbegriff geäußert. Er verband damit wie die FC eine kompromisslose Ablehnung jeder Form eines Synergismus, jedes analytischen Verständnisses der iustificatio, jeder Verkehrung des Verhältnisses von Rechtfertigung und Heiligung, Glaube und Liebe (vgl. FC Ep III, BSLK 785 f.; SD III, BLSK 930,15–932,18). Deutlich gemacht werden sollte durch diese forensisch-imputative Form der Rechtfertigungslehre nicht zuletzt gegenüber der tridentinischen Lehre von der iustificatio Folgendes: Wird das göttliche Rechtfertigungsurteil zuletzt doch auf Verfassung und Werke des Menschen bezogen, so ändert auch die Behauptung, die neue Qua­

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lität des Menschen sei nicht von ihm selbst, sondern von Gott gewirkt, nichts an der Verkehrtheit der theologischen Gesamtperspektive. Denn im Entscheidenden wird der Mensch schließlich doch auf sich selbst und seine eigene Gerechtigkeit gestellt. Selbstgerechtes und das heißt ungläubiges Wesen Chemnitz und entsteht für Chemnitz und die FC nicht nur, wo die die Konkordienformel Gerechtigkeit des Menschen mehr oder minder als selbstgewirkte ausgegeben wird, sondern auch dort, „wo die Gnade dem Menschen überstellt wird als ihm einwohnende und dann als mit seinem eigenen Vermögen vermittelte zum Grund des göttlichen Urteils gemacht wird“ (Baur, 169). Auch hierin noch sah man die Exzentrizität der fides iustificans in Selbstzentriertheit verkehrt. Der eigentliche Sinn der juridisch-imputativen Formeln ist es demnach, deutlich zu machen, dass der Rechtfertigungsglaube allein aus der Beziehung zu Christus und der Gemeinschaft mit ihm lebt. Es wäre ein Missverständnis, wollte man hinter ihnen nicht mehr als einen äußerlichen Rechtsformalismus entdecken, der die innere, ethische Lebensthematik des Menschen nicht betrifft. Dass dieses Missverständnis in der Dogmatik der altprotestantischen Orthodoxie teilweise Schule machte und den Hintergrund bildete für die im Namen des sittlichen Selbstverständnisses des Menschen geführte Kritik frühaufklärerischer und aufklärerischer Theologie, ist nicht zu leugnen. Zuzugeben ist auch, dass die fortschreitende Favorisierung forensischer Vorstellungsgehalte nicht die entsprechende Terminologie darbot, um den für das reformatorische Rechtfertigungsverständnis grundlegenden Sachverhalt der Christusgemeinschaft des Glaubens unmissverständlich zur Geltung zu bringen. So unbestreitbar es ist, dass es zwischen 1530 und 1577 zu einer Reihe bedeutender Begriffsverschiebungen kam, so unbestreitbar ist auch, dass sich eine strukturelle Einheit lutherischer Lehrbildung identifizieren lässt, die alle Begriffsmomente prägt. Sie zielt durchweg auf jenes Gottesverhältnis, in welchem der Mensch, aller eigensinnigen Selbstmächtigkeit enthoben, sich ganz auf die Gerechtigkeit Gottes in Jesus Christus verlässt, um in ihm wahrhaft zu sich selbst und zu seiner rechten Bestimmung zu gelangen. Die lutherische Soteriologie ist durchweg und entschieden antipelagianisch, ohne deshalb manichäisch zu sein (vgl. Bd. 8, 272 ff.); sie steht im Streit zwischen Pelagius und Augustin eindeutig auf augustinischer Seite und zwar selbst für den Fall, dass Pelagius gar nicht pelagianisch gelehrt haben sollte, sondern lediglich pelagisch. Was ist damit gesagt? Vor geraumer Zeit ist problematisiert und infrage gestellt worden, ob Pelagius selbst überhaupt ein Pelagianer war. Nach Gisbert­ Greshake, der der Gnadenlehre des Pelagius eine eigene Monographie gewidmet hat, lehrte dieser pelagisch, nicht aber pelagianisch. Der biblische Laientheologe (vgl. Bonner, 176) habe „ein Mann der Kirche sein und bleiben“ (Greshake, Gnade, 39) wollen, und es könne und müsse gefragt werden, „ob und inwieweit der Streit zwischen Augustin und Pelagius nicht (so sehr) ein Streit zwischen kirchlicher Orthodoxie und Häresie ist, sondern (auch) als Auseinandersetzung zweier Theologen, die das christliche Glaubensverständnis in verschiedener Weise und Akzentuierung formulieren“ (ebd.; zum Verhältnis von Pelagius und Augustins vgl. 193 ff.), be-

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trachtet werden kann. Sei Augustins Denken stets auf Konstitutionsfragen ausgerichtet, so orientiere sich Pelagius primär an Realisierungszusammenhängen, in denen sich die göttliche Gnade als Motivationskraft konkreter Freiheit und Selbsttätigkeit des Menschen in Erfahrung bringen lasse. Der pelagische Freiheitsbegriff ist nach Greshake mit arbiträrer Indifferenz keineswegs gleichzuset- Pelagius und zen. Diese sei zwar ein unveräußerliches Moment der Pelagianismus von Freiheit, aber dazu bestimmt, in einen positiven Begriff derselben aufgehoben zu werden. Wahre Freiheit sei keine vermeintlich neutrale Entscheidungsfähigkeit, sondern Realisierung gottgegebener Bestimmung des Menschen. „Das heißt: die Freiheit zum Bösen steht in strikter funktionaler Abhängigkeit vom eigentlich mit der Frei-Setzung des Menschen von Gott Gemeinten und Beabsichtigten, ‚daß wir nämlich seinen Willen aus unserem Willen heraus tun‘.“ (Greshake, Gnade, 61 unter Verweis auf MPL 30, 18A) Zwar sei Freiheit ihrer formalen Möglichkeit nach auch Freiheit zur Sünde und dazu, sich der göttlichen Zuwendung zu widersetzen; aber indem die Freiheit diese förmliche Möglichkeit vollzieht, bringt sie sich zugleich um sich selbst und um ihren materialen Bestand. Aus dieser Selbstverkehrtheit könne nur die Gnade Christi befreien (vgl. Greshake, Gnade, 143 ff.). Das pelagische Gnadenverständnis ist Greshake zufolge eindeutig christologisch begründet, aber in einer protologisch rückvermittelten und eschatologisch ausgerichteten Weise. Durch seinen Schöpfer ist der Mensch gnadenhaft in eine Freiheit gesetzt, welche die Möglichkeit zur Selbstbestimmung eröffnet, ohne mit willkürlichem Belieben identifiziert werden zu können. Denn Beliebigkeit und Willkür sind Fehlbestimmungen der Freiheit und in ihrem Vollzug identisch mit dem Fall der Sünde selbst, aus deren Abgrund nur die Gnade Christi herausführen kann. Sie allein wirkt, wie Pelagius Greshake zufolge sagen kann, das Heil für den Sünder, aber sie wirkt es nicht auf determinierend-zwanghafte Weise und nicht ohne Verantwortung und persönliche Entscheidung, mittels derer der Mensch seine Rettung zwar nicht ursächlich bedingt, aber doch an ihr mitwirkt, weil ohne freien Mitvollzug die göttliche Gnade nicht als Begnadung des Menschen gedacht werden kann. Nach Greshake ist das anschaulichste „Vorstellungsbild für das Verhältnis von Freiheit und Gnade im Denken des Pelagius … ziemlich genau im Modell der Erziehung gegeben“ (Greshake, Gnade, 153), welches an das antike Paideia-Ideal anschließt, um es christlich zu transformieren (vgl. Greshake, Gnade, 158 ff., bes. 173 ff.). Vergleichbares habe das tridentinische Sünden- und Rechtfertigungsdekret in Bezug auf die humanistische Bildungsbewegung der Zeit geltend gemacht. Skopus der Gnadenlehre sei hier wie dort die Wiederherstellung der durch die Sünde zwar korrumpierten, aber doch nicht einfach verlorenen oder ins Gegenteil verkehrten Gottebenbildlichkeit des Menschen. Der Ansatz augustinisch-reformatorischer Soteriologie sei demgegenüber ein anderer. Ob und inwiefern sich diese Differenz auf unterschiedliche Grunderfahrungen zurückführen lässt, wie sie Greshake

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in Bezug auf die Augustin-Pelagius-Debatte in Anschlag bringt (vgl. Greshake, Gnade, 230 ff.), wäre zu diskutieren. Folgt man der Auffassung Greshakes, so lassen sich alle Einsprüche Augustins gegen Pelagius „auf eine letzte einheitliche Mitte zurückführen: Es ist die neue Erfahrung der Subjektivität, derzufolge die Gnade, deren der Mensch bedarf und die ihm vom Heilswerk Christi zuerteilt wird, weder durch seine Natur noch durch ein geschichtliches Außen vermittelt sein kann, sondern eine Wirklichkeit ist, die den Menschen direkt und unmittelbar in seinem Inneren ergreift, ihm Freiheit gewährt, Liebe schenkt und so auch, nämlich in der persönlichen Erfahrung, ihr Paradigma und ihre Verifikation findet.“ (Greshake, Gnade, 251 f.) Weil die Gnade „in die Zwiespältigkeit und Ohnmacht der Subjektivität selbst eindringen und diese in fundo erneuern“ (Greshake, Gnade, 239 f.) müsse, könne sie nach Augustin „nicht mehr im Rahmen des Schöpfungsordo erfahren“ (Greshake, Gnade, 240) werden, sondern nur mehr „als ein besonderes göttliches Tun, das ohne geschöpfliche Vermittlung und ohne Mittun des Menschen ihn selbst in seinem Innern unmittelbar erreicht und ihm die wahre Freiheit = Liebe allererst schenkt“ (ebd.). An diese Grundeinsicht Augustins schließt die reAntipelagianisch und formatorische Soteriologie auf ihre Weise an. Sie ist antipelagisch nicht nur antipelagianisch, sondern gewiss auch antipelagisch und gegen die Gnadenlehre gerichtet, die Greshake mit Pelagius verbindet. Doch liefe es auf ein grobes Missverständnis hinaus, wenn man ihr deshalb einen prädestinationstheologischen Determinismus unterstellte, der für menschliche Freiheit keinen Platz biete. Denn eine der Pointen reformatorischer Rechtfertigungslehre besteht nachgerade in der Einsicht, dass eine freie Realisierung der menschlichen Bestimmung nur unter der Voraussetzung bedingungsloser Annahme durch Gott möglich ist. Das mere passive wäre sonach der eigentliche Grund vollkommener Selbsttätigkeit des Menschen. Ihr freier Vollzug ist ganz und gar gnadenhaft bestimmt, wobei die gratia nicht nur gratis gegeben wird, sondern auch gratis gegeben bleibt, ohne je zur Habe des Menschen zu werden. Wo Augustins Gnadenlehre anders zu optieren schien, wurde sie korrigiert.

8. De principiis salutis. Calvin und ein soteriologisches Fallbeispiel altlutherischer Orthodoxie Lit.: K.-P. Blaser, Calvins Lehre von den drei Ämtern Christi, Zürich 1970. – J. Calvin, Opera selecta. Ed. P. Barth / W. Niesel. Vol. III: Institutio Christianae Religionis 1559. Lib. I / II, München 1928. – W.-D. Hauschild. Art. Gnade IV. Dogmengeschichtlich (Alte Kirche bis Reformationszeit), in: TRE 13, 476–495. – H. Heppe, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt, Neukirchen 1935.  – L. Hödl, Art. Anselm von Canterbury, in: TRE 2, 759–778. – M. Honecker, Art. Gerhard, Johann (1582–1637), in: TRE 12, 448–453. – J. F. König, Theologia positiva acroamatica (Rostock 1664). Hg. u. übers. v. A. Stegmann, Tübingen 2006. – M. Matthias, Art. Orthodoxie I. Lutherische Orthodoxie, in: TRE 25, 464–485. – C. H. Ratschow, Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung. Teil I u. II, Gütersloh 1964/66. – E. Ruckstuhl, Art. Gnade III. Neues Testament, in: TRE 13, 467–476.  – H.  Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt. Neu hg. und durchges. v. H. G. Pöhlmann, Gütersloh 9 1979. – O. Weber, Johannes Calvin: Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Reli­ gionis Christianae. Nach der letzten Ausgabe übersetzt und bearbeitet. Erster Band (Buch  I u. II), Neukirchen 1936. – G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit. 2 Bde., München 1984/86. – Ders., Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch. 2 Bde., Berlin / New York 1996/98. – J. Zehner, Art. Heil. III. Dogmatik, in: RGG4 III, 1524–1526.

Man hat soteriologische Termini, welche den allgemeinen Heilsbegriff spezifizieren, gelegentlich mit Gratia gratis data besonderen Epochen der Christentumsgeschichte in Verbindung gebracht: „Erlösung (Alte Kirche), Genugtuung (MA), Rechtfertigung (Reformation) und Versöhnung (19. und 20. Jh.)“ (Zehner, 1524). Diese Zuordnung mag ihre heuristische Bedeutung haben; sie darf aber nicht zur Trennung dessen führen, was historisch und sachlich zusammengehört. So begründet, um ein Beispiel zu geben, der später zum „articulus stantis et cadentis ecclesiae“ erklärte IV. Artikel der Confessio Augustana die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade durch Glauben mit der Wendung: „propter Christum, qui sua morte pro nostris peccatis satisfecit“ (CA IV,2). Nicht nur bei Melanchthon und den sog. Philippisten, auch bei Luther selbst und bei denen, die man Gnesiolutheraner nannte, ist der Zusammenhang von Rechtfertigungs- und Satisfaktionslehre stets erhalten geblieben unbeschadet aller christologischen (communicatio idiomatum) und soteriologischen Modifikationen (Strafleidenstheorie), die der Reformator am Anselmismus

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vorgenommen hatte. Der die Heilslehre betreffende Streit mit den „Altgläubigen“ bezog sich infolgedessen auf die von Anselm herrührenden Überlieferungen nur indirekt, nämlich in gnadentheologischer Hinsicht. Ihre Eigentümlichkeit erhielt die Rechtfertigungslehre der Wittenberger Reformation durch eine spezifische Auffassung der gratia gratis data, deren Wirkzeichen das Kreuz Jesu Christi und sein strafleidend-satisfaktorischer Sühnetod sind: „Danach ist ‚Gnade‘ der Inbegriff der göttlichen Barmherzigkeit, die dem an Christus Glaubenden um Christi willen die Sünde nicht zurechnet, ihm vielmehr die fremde Gerechtigkeit Christi als eigene anrechnet. In diesem Übertragungsvorgang wird nicht wie bei Augustin und den Scholastiker die Gnade zu einer im Menschen wirkenden göttlichen Kraft, sondern bleibt außerhalb seiner als virtus Gottes (so z. B. WA 3,117,6f). Christliche Existenz ist im extra se der Heilstat Christi gegründet; darum wird die Gnade durch das Wort Gottes als Evangelium, als befreiende Zusage der Barmherzigkeit im Hören und Vertrauen angenommen.“ (Hauschild, 490) Der Glaube konstituiert die in Jesus Christus kraft des Hl. Geistes offenbare Gnade Gottes nicht, sondern verlässt sich auf sie, um in und durch Christus begnadet zu sein. Die Gnadenauffassung Luthers und der Wittenberger Reformation ist vor allem im Anschluss an das charis-Verständnis des Apostels Paulus (vgl. Ruckstuhl, 468 ff.) ausgebildet worden, der das Gnadenwirken Gottes ebenfalls „vor allem mit der Liebestat Jesu in seinem Sühnetod gleichgesetzt“ (Ruckstuhl, 475) hat. Im Westen ist die paulinische Gnadentheologie dann vor allem durch Augustin zur Geltung gebracht worden. Zwar hat die augustinische Kritik an Pelagius, der „dogmengeschichtlich einen voraugustinischen Typ der Gnadenlehre von durchaus be­ achtlichem Niveau“ (Hauschild, 481; bei H. z. T. kursiv) repräsentiert, sog. pelagianische bzw. semipelagianische Tendenzen in westlichen Gnadenlehren keineswegs durchweg zu verhindern vermocht. Aber dennoch gab die Gnadenlehre Augustins die Richtung für die offizielle, schließlich förmlich dogmatisierte Doktrin vor, auf deren Basis dann die scholastischen Systematisierungen mit dem System des Thomas von Aquin als „Höhepunkt“ (Hauschild, 487) erfolgten. Für die Kontroverstheologie des 16.  Jahrhunderts Reformatorischer lautete die entscheidende soteriologische Frage, wie und scholastischer sich der reformatorische Augustinismus zum schoAugustinismus lastischen verhält, an welchem das Rechtfertigungsdekret von Trient anknüpfte, der aber auch im binnenreformatorischen Bereich auf die ein oder andere Weise Anhänger fand (vgl. im Einzelnen Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften II, 59 ff.; 541 ff.). Hingegen wurde über die Anselm’sche Soteriologie nicht explizit, sondern allenfalls indirekt gestritten. Es trifft zu: „Anselms Heils- und Erlösungslehre war die erste genuin lateinische, scholastische Soteriologie, deren Geltung auch die Reformation nicht erschütterte.“ (Hödl, 777) Es ist im Gegenteil so, dass der Anselmismus in der evangelischen Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung (vgl. Ratschow) eine Renaissance erfuhr und zwar sowohl auf lutherischer (vgl. Schmid) als auch auf

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reformierter (vgl. Heppe) Seite. Dabei steht die Rückwendung hin zu Anselm in einer erkennbaren Verbindung mit antisozinianischen Bestrebungen, in deren Zusammenhang die altprotestantische Versöhnungslehre teilweise erst ihre feste Gestalt angenommen hat. Umgekehrt forcierte der altprotestantische Anselmismus nicht selten die im Namen des sittlichen Selbstverständnisses des Menschen an der Vorstellung einer satisficatio vicaria und eines stellvertretenden Strafleidens geübte Kritik, welche namentlich in der Annahme einer forensischen Imputation der Tatund Leidensgerechtigkeit Christi „nicht mehr zu sehen vermochte als einen der ethischen Lebensthematik äußerlichen Rechtsformalismus“ (Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre I, 76). Genauer beschrieben ist der Zusammenhang von altprotestantischem Anselmismus und Antisozinia­ Munus triplex nimus im vierten Abschnitt der „Vorgeschichte“ meiner zweibändigen „Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit“. Dort finden sich auch einige Hinweise auf die grundlegende Bedeutung des Schemas vom dreifachen Amt bzw. Werk Jesu Christi für die systematische Ausgestaltung altprotestantischer Soteriologie. In die Dogmatik eingeführt wurde das Schema vom munus triplex Jesu Christi durch Calvin (vgl. im Einzelnen Blaser), dessen „Institutio“ überhaupt die erste systematische Ausführung der Versöhnungslehre in der reformatorischen Theologie enthält (vgl. Inst. II,15 ff.). Um zu wissen, wozu Christus vom Vater gesandt wurde und was er uns gebracht hat, müssen nach Calvin insbesondere drei seiner Aufgaben ins Auge gefasst werden, die prophetische, die königliche und die priesterliche: „Nam et Propheta datus est, et Rex et Sacerdos.“ (Inst. II,15,1) Christus ist uns von Gott als Prophet, als König und als Priester gegeben. Doch würde es wenig nützen, die Begriffe zu verwenden, ohne zu ergründen, was mit ihnen gemeint sei. Zu bedenken ist Calvin zufolge vorzugsweise, dass gemäß jüdischer Tradition im Christustitel alle drei Amtsbezeichnungen inbegriffen seien: „scimus enim sub Lege sacro oleo tam Prophetas quam sacerdotes ac reges fuisse unctos.“ (Inst. II,15,2) Zwar sei der alttestamentliche Messiasname vor allem auf den König und sein Amt zu beziehen. Doch habe man unter dem Gesetz auch Propheten und Priester mit dem heiligen Öl gesalbt, so dass es naheliege, die drei Amtsbezeichnungen insgesamt mit dem Messiastitel zu verbinden und sie alle Jesus als dem Christus zuzuerkennen, in welchem die prophetischen, königlichen und priesterlichen Sendungen des Alten Bundes sämtlich zur vollendeten Erfüllung gelangt seien. Was das prophetische und das königliche Amt Jesu Christi anbelangt, so behandelt Calvin sie vergleichsweise kurz, wobei er beim Königsamt vor allem dessen geistliche Natur hervorhebt (vgl. Inst. II,15,3 ff.): Das Königreich Christi ist ein regnum spirituale, in dem der Gottesgeist der Gerechtigkeit und Liebe herrscht und alle ungerechte und lieblose Gewalttat überwunden sein wird. Erwägungen zu den ekklesiologischen Implikationen der Lehre von der Königsherrschaft Jesu Christi, ihrem eschatologischen Charakter sowie ihrem trinitätstheologischen Verhältnis zur Lehre vom Reich Gottes des Vaters und des Geistes schließen sich an.

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Sodann kommt Calvin auf das priesterliche Amt Jesu Christi zu sprechen, dem sein Hauptaugenmerk gilt. Finis et usus, Zweck und Nutzen des munus sacer­ dotale Jesu Christi liegen darin begründet, „ut sit mediator purus omni macula, qui sanctitate sua Deum nobis conciliet“ (Inst. II,15,6). Über der Sünde liegt Gottes gerechter Fluch (ebd.: iusta maledictio), und der göttliche Zorn ist gegen die der Sünde Verfallenen gerichtet. Um Zorn und Fluch zu beheben, muss nach Weisung des alttestamentlichen Gesetzes durch den sacerdos ein sacrificium dargebracht werden, durch welches das durch den Sünder verkehrte Verhältnis von Mensch und Gott auf Gottes gnädige Anordnung hin zurechtgebracht wird. Durch Jesus Christus ist das priesterliche Opfer in vollkommener Weise erbracht und damit aller Priesterdienst vollendet und zu seinem Ende geführt. Weitere priesterliche Opfer sind nicht nur nicht mehr nötig, sondern unter christlichen Bedingungen ausgeschlossen, was namentlich gegen die Sacrificiumstheorie und -praxis „in Papatu“ (Inst. II,15,6) zur Geltung gebracht wird, „ubi missa censetur immolatio Christi“ (ebd.). Unter Berufung vor allem auf den Hebräerbrief wird eingeschärft, dass das einmal am Kreuz Jesu Christi dargebrachte Opfer ein für allemal wirksam ist und das umso mehr, als der erhöhte Heiland sein priesterliches Werk durch beständige intercessio beim Vater selbst ratifiziert. Der auferstandene und zum Himmel gefahrene Gekreuzigte ist unser ewiger Fürsprecher bei Gott, „cuius patricinio favorem consequimur“ (ebd.). Obwohl Calvin jeder Vorstellung einer wie auch immer gearteten Ersetzung, Wiederholung oder Ergänzung des Kreuzesopfers Jesu Christi eine entschiedene Absage erteilt, spricht er den Gläubigen, die im Glauben an ihrem Herrn hängen, lebendigen Anteil an seinem Priestertum und priesterlichen Opferwerk zu. „Nam qui in nobis polluti sumus, in ipso tamen sacerdotes, offerimus nos et nostra omnia Deo, caelesteque sanctuarium libere ingredimur, ut grata sint ac boni odoris in conspectu Dei quae a nobis proveniunt sacrificia precum et laudis.“ (Ebd.) In uns selbst verkehrt, unrein und ungerecht sind wir in Christus, auf den wir uns im Glauben verlassen, rein und gerecht und willkommene Teilhaber an seinem Opferpriestertum. Im sechzehnten Kapitel des zweiten Buches seiner Calvins Lehre vom munus „Institutio Christianae Religionis“, die hier wie im sacerdotale Jesu Christi Folgenden nach der Ausgabe von 1559 zitiert wird, kommt Calvin im Einzelnen auf Christi Heils- und Erlösungswerk zu sprechen, dessen einzelne Stationen er im Anschluss an das Apostolikum und unter Konzentration auf das Leiden „sub Pontio Pilato“, auf Kreuz, Tod, Grablegung und descensus ad inferna bedenkt, wobei der Grundsatz gilt, dass ohne Ostern und die himmlische Erhöhung des Gekreuzigten von der Heilsamkeit seines Leidens und Sterbens nicht die Rede sein kann (vgl. Inst. II,16,13 ff.). Den Ausgang der Erwägungen bildet die Zusammenfassung des bisher Gesagten: „Quae hactemus de Christo diximus, ad unum hunc scopum referenda sunt ut in nobis damnati, mortui et perditi, iustitiam in ipso, liberationem, vitam et salutem quaeramus.“ (Inst. II,16,1) Unser Heil findet seinen Grund nicht in uns selbst,

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sondern allein in Jesus Christus, der seine Gerechtigkeit uns zuteil werden und die unsere sein lässt. Was die Gerechtigkeit Christi näherhin anbelangt, so ist sie von der Art, dass sie der göttlichen Gerechtigkeit, welche die Sünde richtet, Genüge tut und damit Versöhnung des Sünders mit Gott und Rechtfertigung des Gottlosen vor ihm ermöglicht. In seiner Tiefe zu ermessen vermag das von Jesus Christus getane und erlittene Werk der Rechtfertigung und Versöhnung nur, wer Einsicht genommen hat in den Abgrund menschlicher Sündenverfallenheit und des Zornes Gottes über die Gottfeindschaft der Sünde gewahr geworden ist. Dazu bedarf es nach Calvin der Kenntnis des göttlichen Gebots, in welchem Gottes Gerechtigkeit ursprünglich offenbar ist. Wer sich gegen Gottes gerechtes Gebot verfehlt, der wird nach seinem Gesetz gerichtet, ja er richtet sich durch seine Feindschaft gegenüber dem Schöpfer, die dessen Zorn provoziert, selbst zugrunde. Aus dem Verderbensgericht, welches der der Gerechtigkeit Gottes widerstreitende Sünder sich bereitet, kann nur die durch Christus und sein freiwilliges Leiden und Sterben für uns bereitete Versöhnungs- und Rechtfertigungsgerechtigkeit retten. Bleibt zu fragen, ob das durch Christus priesterlich bereitete Versöhnungs- und Rechtfertigungswerk eine Änderung in Gott dergestalt bewirkt, dass dieser ein anderer wird als er ursprünglich war. Calvin verneint diese Frage: Gott ist ursprünglich und seinem Wesen nach Liebe und nichts als Liebe. Jesu Christi Werk hat entsprechend als in der Wirklichkeit Gottes selbst begründet zu gelten und ist nicht nach Weise einer äußeren Einwirkung auf diese zu erfassen. Doch gilt auch, dass die göttliche Liebeswirklichkeit an sich selbst gerecht ist und zwar von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der Schein eines Widerspruchs zwischen göttlicher Liebe und göttlicher Gerechtigkeit wird nach Calvin nicht etwa durch Gott und das Ursprungswerk seiner Schöpfung, sondern allein durch die Bosheit der Sünde hervorgerufen, um für diese dann allerdings den Charakter einer zugrunderichtenden Realität anzunehmen, aus deren Abgründigkeit nur die Heilstat Jesu Christi zu erretten vermag, von deren Faktizität um der Wirklichkeit von Versöhnung und Rechtfertigung willen nicht abgesehen werden kann. Vom sündigen Geschöpf und der gefallenen Schöpfung her ist – trotz ihres gütigen Erhalts durch Gott – unter postlapsarischen Bedingungen die Einheit von Liebe und Gerechtigkeit Gottes nicht mehr einzusehen und zur Gewissheit zu bringen, woran indes nicht Gott, welcher der gütige Schöpfer seiner Schöpfung ist und bleibt, sondern die Sünde und sie allein die Schuld trägt. Versöhnung von göttlicher Gerechtigkeit und Liebe sowie Rechtfertigung des sündigen Menschen vor Gott kann es allein in Jesus Christus geben, ohne dessen gottmenschliche Person die Gottheit Gottes nicht heilsam zu denken ist. Die Trinitätslehre ist der theologische Ausdruck dieses Sachverhalts, was durch die Ausführungen Calvins zur Frage bestätigt wird, ob Christus uns durch sein Verdienst (meritum) Gottes Gnade und das Heil erworben hat. Jesus Christus ist nach Calvins Urteil keineswegs bloßes Instrument, sondern Wirkzeichen der göttlichen Gnade. In einem eigenen, dem siebzehnten Kapitel des II. Buches der Institutio, wird dies im Einzelnen ausgeführt (vgl. Inst. II,17).

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In Otto Webers deutscher Übersetzung der Institu­ tio von 1559 ist der dritte Abschnitt des sechzehnten Kapitels des zweiten Buches mit der Überschrift versehen: „Gottes Zorn gründet in seiner Gerechtigkeit, das Erlösungwerk in seiner Schöpfermacht.“ (Weber, 565) Diese These ist durch die Ausführungen Calvins nicht bzw. nur dann gedeckt, wenn Gottes Schöpferallmacht mit der Ohnmacht des Gekreuzigten zusammengedacht wird. Denn ohne den Gekreuzigten kann nur von dem in der Gerechtigkeit Gottes gründenden Zorn über den Sünder die Rede sein – und auch dies nur auf heillose Weise –, nicht aber von göttlicher Versöhnung und Erlösung. Daher erweist sich auch der von Weber dem vierten Unterabschnitt des Kapitels vorangestellte Satz als problematisch, wonach das Werk der Versöhnung aus Gottes Liebe kommt, diese „also nicht begründet“ (Weber, 566) hat. Zwar sagt Calvin, dass die väterliche Liebe des Schöpfers dem Versöhnungswerk des Sohnes vorausgesetzt ist. Aber er schließt daraus nicht, dass das Werk der Versöhnung, welches der inkarnierte Sohn durch sein Leben, Leiden, Sterben und Auferstehen ausgerichtet hat, keine konstitutive Bedeutung für die Vaterliebe des Schöpfers in seiner gerechten Allmacht habe. Es ist nach Calvin im Gegenteil so, dass unter postlapsarischen Bedingungen ohne Jesus Christus und ohne den in ihm erschlossenen Geist gottmenschlicher Versöhnung vom Vatersein Gottes nicht die Rede sein könnte. Ohne den Geist Jesu Christi vermöchte Gott vom sündigen Geschöpf nicht nur nicht als liebender Vater erkannt zu werden; er wäre für dieses auch nicht, was er an sich selbst ist. Die Frage, auf welche Weise Christus die Sünde gesühnt und Versöhnung zwischen Gott und Mensch bereitet hat, ist im Sinne Calvins im Grundsatz bereits beantwortet worden. Unterstrichen werden soll nur noch, dass dies durch den Gehorsam von Christi ganzem Leben in Tun und Leiden geschah und zwar aus eigener Entscheidung heraus und auf freiwillige Weise, so wie es dem im Kontext des chalcedonischen Dogmas entwickelten Dyotheletismus entspricht. Gemäß seiner menschlichen Natur hat Jesus Christus einen eigenen, gottunterschiedenen Willen, der trotz dieser Unterschiedenheit und trotz aller Spannungen, die bis hin zu Todesangst und Leidenswiderstreben reichen, ganz und gar und in Person mit dem göttlichen einig und auf differenzierte Weise eins war. Der Passionscharakter williger Selbsthingabe wird Calvin zufolge durch die Verurteilung Jesu Christi durch einen irdischen Richter, durch seine Hinrichtung als Verbrecher sowie durch die Art und Weise der Tötung hervorgehoben; stelle das Kreuz doch nicht nur nach gemeiner Ansicht, sondern nach Maßgabe der Thora Gottes ein Zeichen des Fluches und der Verdammnis dar. In diesen Zusammenhang gehört auch Calvins Verständnis der Höllenfahrt Jesu Christi, die er als Ausdruck äußerster, nicht mehr steigerungsfähiger Seelenqual deutet, die Jesus Christus unter der Last unserer Sünden für uns erlitten hat. „Nihil actum erat si corporea tantum morte defunctus fuisset Christus: sed operae simul pretium erat ut divinae ultionis severitatem sentiret: quo et irae ipsius intercederet, et satisfaceret iusto iudicio.“ (Inst. II,16,10) Gerechter Zorn und Versöhnungsliebe Gottes

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Calvin scheut sich nicht, von einer gottverlassenen Höllenverzweiflung Jesu Christi am Kreuz zu sprechen. Diese extreme Aussage hält er um des Heiles des Sünders willen für unvermeidbar und notwendig. Damit sein Kreuz der Grund des Lebens für den Sünder werde, musste Jesus Christus Angst und Schrecken nicht nur leiblich erfahren, sondern seelisch in höllischer Pein erdulden. Nur so konnte durch ihn für den Sünder die Hölle zum Himmel gewandelt werden, wie sich dies an Ostern und im Geiste Pfingstens den Seinen erschloss, damit auf ihr Zeugnis hin allen, die an den auferstandenen Gekreuzigten glauben, Teilhabe an seiner Herrlichkeit gegeben werde. Calvins Soteriologie schließt in tröstlicher Eröffnung eschatologischer Perspektiven: „Hinc egregia exoritur consolatio, quod penes eum iudicium audimus esse qui nos sibi in iudicando honoris consortes iam destinavit: tantum abest ut in condemnationem nostram tribunal sit conscensurus.“ (Inst. II,16,18) Auf Seiten der Wittenberger Reformation hat das von Calvin in die Dogmatik eingeführte Schema Das Beispiel Johann vom munus triplex Jesu Christi erstmals Johann Friedrich Königs Gerhard verwendet, der „als der gelehrteste und bekannteste Vertreter der lutherischen Orthodoxie“ (Honecker, 448) gelten darf. Die 1610–1622 erschienenen „Loci theologici“, Gerhards wichtigstes dogmatisches Hauptwerk, folgen in ihrem theologischen Vorgehen „nicht der reinen Lokalmethode, sondern bemühen sich um stärkere systematische Durchgliederung“ (Honecker, 450) und zwar unter Nutzung der „erneuerte(n) aristotelische(n) Schulphilosophie und Metaphysik“ (ebd.). Noch stärker systematisiert wurde der dogmatische Stoff nach Einführung der sog. analytischen Methode in der nächsten Theologengeneration (vgl. im Einzelnen Matthias), der u. a. Johann Friedrich König angehört, dessen „Theologia positiva acroamatica“ von 1664 (die nachfolgenden Verweise im Text beziehen sich hierauf) bereits in protologischer Hinsicht als Fallbeispiel in Betracht gezogen wurde und dessen Dogmatikkompendium nun ein Exempel für einen soteriologischen Ansatz der Dogmatik altlutherischer Orthodoxie geben soll. Dabei ist es aus systematischen Gründen unerlässlich, neben dem munus triplex auch die christologisch-trinitätstheologischen Rahmenbedingungen der Lehre vom Amt und Werk Jesu Christi ins Auge zu fassen; denn nur so kann Einsicht in die Prinzipien des Heils genommen werden. Die Prinzipien menschlichen Heils sind nach König die göttlichen Gnadenhandlungen seiner Bewirkung und dreieinig verfasst. Das erste Prinzip des durch Gnadenhandlungen zu bewirkenden Heils des sündigen Menschen ist das Wohlwollen Gottes des Vaters als ein actus efficacissimae dilectionis (König III,5). Gottes väterliches Wohlwollen ist konsequenter Wille wirksamster Liebe, das menschliche Heil durch geeignete Mittel zu realisieren. Gegenstand des allgemeinen göttlichen Wohlwollens sind generell alle sündigen Menschen – ohne Ausnahme auch nur eines einzigen (König III,9: ne uno quidem excepto). Mit dem Willen, der allen folgenden Willensaktivitäten vorausgeht (König III,6: voluntas antecedens), will Gott der Vater das Heil des gesamten Menschengeschlechts, welches er im Modus intensivster, ernsthaftester und durch hinreichende und wirksame H ­ eilsmittel

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ge­ordneter Liebe (König III,12: dilectio … non absoluta, sed ordinata) zu verwirklichen trachtet. Aus dem allgemeinen Wohlwollen Gottes des Vaters gegenüber dem ganzen sündigen Menschengeschlecht, welches die willentliche Mitwirkung des göttlichen Sohnes und des Hl. Geistes nicht aus-, sondern einschließt und sich „in mediorum salutis ordinatione“ (König III,15) äußert, entspringt die „benevolentia specialis“ (ebd.), die in der Vorherbestimmung zum Leben (ebd.: in praedestinatione ad vitam) sichtbar wird. Nach einer onomatologischen Bestimmung des Prädestinationsbegriffs im Sinne des biblischen Sprachgebrauchs und nach entsprechenden Ausführungen zum Begriff der electio verbindet König beide pragmatologisch mittels des Begriffs des göttlichen Vorherwissens. In der Konsequenz seiner aller Zeit vorausgehenden ewigen Vorherbestimmung, die den göttlichen Willen, dass allen Menschen geholfen werde, zur Voraussetzung hat (vgl. König III,27), erwählt Gott in der Freiheit seines Willens vor Grundlegung der Welt aus rein gnadenhafter Gnade (König III,35: ex gratia mere gratuita), die jedes Verdienst menschlicher Werke gänzlich ausschließt, in Christus kraft des Hl. Geistes jene menschlichen Sünder zum Heil, die finaliter glauben, will heißen: die sich die in den media salutis ordnungsgemäß wirksame Heilszuwendung Gottes vorbehaltlos und beständig gefallen lassen, statt sich ihr gegenüber zu versperren (vgl. König III,6: obice objecto). Die prädestinatorische Erwählung erfolgt sonach nicht unmittelbar, sondern auf eine Weise, die durch die göttliche „praevisio futurae fidei finalis in certis individuis“ (König III,29) vermittelt ist. „Gegenstand“ der Erwählung sind entsprechend nicht einfach die Menschen überhaupt, obzwar ihnen Gottes benevolentia generalis ausnahmslos gilt, sondern die beständig und bis ans Lebensende – kraft des in den Medien des Heils wirksamen Hl. Geistes – an Christus Glaubenden. Dabei ist vorausgesetzt, dass es sich bei den Glaubenden um gefallene Menschen handelt, denen als Sündern trotz ihrer heillosen und heilswidrigen Sünde, die alles soteriologische Eigenvermögen zersetzt, göttliches Heil durch Glauben zuteil wird. Hinzuzufügen ist, dass auch die der Erwählung der Glaubenden und dem allgemeinen Wohlwollen Gottes gegenüber dem sündigen Menschengeschlecht insgesamt zuwiderlaufende Verwerfung, in der sich die strafende bzw. vergeltende Gerechtigkeit Gottes (König III,45: justitia DEI punitiva seu vindicativa) gegenüber der Sünde am ungläubigen Sünder auswirkt, nicht von unmittelbarer, sondern von vermittelter Art und durch das göttliche Vorherwissen der definitiven Zurückweisung des Verdienstes Christi durch den unbußfertigen Unglauben der Ungläubigen bedingt ist. Ist das erste Prinzip des Heils die benevolentia Dei Benevolentia Dei universalis et specialis gegenüber dem gefallenen und fraterna Jesu Christi Menschengeschlecht, so schließt sich als zweites die redemptio fraterna Jesu Christi redemptio an, in Bezug auf die zwischen Erlöser und Erlösung bzw. zwischen Christologie und Soteriologie unterschieden wird, ohne dass diese Unterscheidung als Trennung missverstanden werden dürfte. Die Christologie als Lehre vom Erlöser handelt nach einer kurzen Notiz zu den nomina redemtoris von seiner Person

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(de persona), von seinem Amt (de officio) und von seinen Ständen (de statibus). Die christologische Lehre von der Person des Erlösers setzt die Lehre von der (asar­ kischen) zweiten trinitarischen Person voraus, wie sie vor ihrer Inkarnation von Ewigkeit her war, und handelt von ihr als der ensarkischen, wie sie in der Fülle der Zeit (König III,58: in temporis plenitudine) durch Aufnahme (ebd.: assumtio) unserer menschlichen Natur in die unendliche Hypostase des Sohnes Gottes zu sein begann. Die ensarkische, fleischgewordene Person des Erlösers besteht aus zwei Naturen (König III,59: ex duabus constat naturis): der göttlichen, die sie von Ewigkeit her vom ewigen Vater durch die ewige, wahre, allein dem Sohn zukommende substantiale Zeugung hat, und der menschlichen, die in der Zeit aus dem Blut der jungfräulichen Mutter durch das wunderbare und außerordentliche Über-sie-Kommen des Hl. Geistes hervorgebracht und vom Logos in seine eine Hypostase aufgehoben wurde. Was die Lehre von den beiden Naturen der Person des Erlösers näherhin betrifft, so werden diese entweder absolut und an sich, nämlich hinsichtlich ihres Seins als solchen behandelt oder in ihrer Beziehung zueinander und als personale Einheit. Die göttliche Natur Jesu Christi ist absolut und an sich selbst betrachtet „eadem numero essentia Divina“ (König III,62), das der Zahl nach eine und selbe Wesen, welches auch, wenngleich auf unterschiedliche Weise, Gottvater und der Hl. Geist haben. Jesu Christi menschliche Natur hat ihr Wesen als differenzierte Einheit der vernünftigen Seele und des leiblichen Körpers mit allem, was ihm zugehört, und verfügt über Eigenschaften, die einerseits der ganzen menschlichen Art gemeinsam sind (einschließlich natürlicher Schwächen sowohl des Leibes als auch der Seele wie „ignorantia purae negationis“ [König III,76], Unwissen im rein negativen, nicht schuldbedingten Sinn oder wie „animi perturbationes naturales“ [ebd.], natürliche Affekte und Seelenbedrängnisse) und die andererseits nur und individuell dem Menschsein Jesu Christi zukommen wie erstens einwohnende Sündlosigkeit, zweitens durch die göttliche Hypostase ermöglichte Anhypostasie und drittens eine „singularis animae & corporis excellentia“ (König III,78). Die einzigartige Vollkommenheit der Seele der menschlichen Natur Jesu Christi ist dreifacher Art und auf intellectus, voluntas und appetitus bezogen; die Vollkommenheit des Leibes wiederum beinhaltet höchste Ausgewogenheit, intrinsische Unsterblichkeit bei extrinsischer Möglichkeit des Sterbens (ohne im freiwillig auf sich genommenen Tod verweslich zu sein) und höchste Schönheit und Anmut des Aussehens. In ihrer Beziehung zueinander kommen die beiden Naturen Jesu Christi zunächst hinsichtlich des Zustandekommens ihrer Einheit (König III,83: quoad actum), sodann hinsichtlich der Gegebenheit dieser Einheit (ebd.: quoad statum) in Betracht. Das Zustandekommen personaler Einheit göttlicher und menschlicher Natur vollzieht sich in einem punktuellen Geschehen und in einem vorübergehenden Augenblick, in dem sich die beiden Naturen zu einer Hypostase verbinden. Dieser Vollzug wird unbeschadet aller Differenzierungen, die terminologisch zu beachten sind, traditionell Einigung (König III,85: unitio), Inkarnation (vgl. König III,86) oder „(a)ssumtio“ (König III,87) des Menschseins in die Person des

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Logos genannt und mit Wendungen wie „(v)erbum caro factum est“ etc. (vgl. König III,94) umschrieben. Die causa efficiens unitionis ist inchoative die ganze Trinität, terminative nur der Logos, „qui solus incarnatus est“ (König III,89) und dessen Person im Vollzug der unitio als Vereiniger handelt und die Vereinigung vollendet, wohingegen die anhypostatische menschliche Natur passiv vollendet wird. Die Person des Logos ist es auch, welche die Einigung formt und das eigenständige Bestehen des Menschseins Wirklichkeit werden lässt (König III,91: terminet in subsistendo humanitatem). Der Logos personiert die menschliche Natur Jesu Christi und durchdringt sie in aktiver Perichorese aufs innigste und rundum (König III,92: intime & circumcirca), um sich ihr in ihrer Gänze ganz mitzuteilen. Die Wirkungen der unitio sind zum einen der beständige und unveränderliche Status der unio personalis göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus selbst, sodann die Einigungs- bzw. Einheitsprädikationen (König III,93: praedicationes singulares) und schließlich die Vollzüge von Eigenschaftsmitteilung (ebd.: communicatio propriorum), die durch sie erschlossen sind. Was den Zustand personaler Einheit göttlicher und Lehre von der Person menschlicher Natur in Jesus Christus (status uniound vom Amt Jesu Christi nis) betrifft, der dem actus unionis folgt, so ist sein Zweck die Ausführung der zum Amt Christi ge­ hörenden Handlungen, deren Möglichkeitsbedingungen er gewährleistet. Lehre von der Person und Lehre vom Amt Christi bilden sonach eine differenzierte Einheit. Ihrer Form nach ist die unio die unaufhörliche Personalbeziehung der beiden wesensunterschiedenen, aber gänzlich füreinander aufgeschlossenen Naturen, die in dauerhaftester und innigster Gemeinschaft wechselseitiger Kopräsenz einzigartig verbunden sind. Die personale Einheit Gottes und des Menschen, wie sie im Gottmenschen unbeschadet der Wesensdifferenz göttlicher und menschlicher Natur gegeben ist, unter dem Aspekt der Personthematik und insbesondere der Thematik der Mitteilung von jeweiligen Natureigenschaften zu bedenken und näher zu explizieren, ist Aufgabe der Lehre von der communicatio idiomatum im weiteren und im engeren Sinn. Die die Person Jesu Christi betreffenden Aussagen, die sich aus der unio göttlicher und menschlicher Natur ergeben, explizieren, indem sie Jesus Christus den göttlichen Menschen, den menschlichen Gott, den Gottmenschen nennen, etwas Konkretes und nicht etwas Abstraktes. Sie sagen das Konkrete der einen Natur vom Konkreten der anderen Natur so aus, wie es der Einzigartigkeit der unio personalis göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus entspricht. Ihr Aussagegehalt ist keineswegs von bloß verbaler oder bildlicher Bedeutung, sondern real und eigentlich zu verstehen. Die christologische Aussage, dieser Mensch ist Gott, sagt eine wirkliche Identität aus, ohne eine Identitätsaussage von unmittelbarer und allgemeiner Art zu treffen, welche von der konkreten Einzigartigkeit jenes Vermittlungsgeschehens abstrahiert, das die unio personalis Gottes und des Menschen in Jesus Christus begründet. Die Logizität der generellen Aussagenlogik wird dadurch nach König zwar einerseits transzendiert und auf eine Wahrheit hin überschritten, die höher

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ist als alle Vernunft; ihre Geltung wird aber andererseits auch nicht einfachhin suspendiert und außer Kraft gesetzt, weil sonst über das alles Begreifen übersteigende Geheimnis der unio personalis göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus überhaupt keine begrifflichen Aussagen von innerer Logizität und Verständlichkeit gemacht werden könnten. Zum Begriff christlicher Theologie gehört es, um die Unbegreiflichkeit ihres Gegenstandes zu wissen, ohne deshalb der Begriffslosigkeit zu verfallen und im nichtssagenden Schweigen zu enden. Diese Einsicht wird durch Königs Lehre von der communicatio idiomatum bestätigt, die sich im engeren Sinne auf die gegenseitige Mitteilung der Eigenschaften und Eigenheiten sowie im weiteren Sinne auf Taten, Widerfahrnisse, Wirkungen und Handlungen der beiden Naturen im Wirken Jesu bezieht. Es gibt drei Arten der Idiomenkommunikation als einer wirklichen und nicht bloß verbalen, wenngleich übernatürlichen Mitteilung von Eigenschaften der personal vereinten Naturen Jesu Christi. Die erste Art, das genus idiomaticum, betrifft die kraft der unio personalis mögliche reale Zuschreibung von Eigenheiten einer der beiden Naturen in Bezug auf die ganze Person des inkarnierten Logos mit Rücksicht auf die jeweilige Natur, der die betreffende Eigenheit zukommt. Die zweite Art der Idiomenkommunikation, das genus maiestaticum, das zu einem christologischen Charakteristikum der Lehrentwicklung der Wittenberger Reformation wurde, ist auf die Mitteilung von Hoheitseigenschaften der göttlichen an die menschliche Natur bzw. auf die Erhöhung der in die Hypostase des Logos aufgenommenen menschlichen Natur zur Inbesitznahme (König III,176: ad possessionem) der ganzen Fülle und Herrlichkeit der erhabenen Gottheit bezogen, wie sie unter der Voraussetzung und in der Kraft personaler Gottmenscheinheit in Jesus Christus statthat. Diese Mitteilung hat ebenfalls als wahrhaft und wirklich zu gelten, ohne dass es zu irgendeiner Vermischung der beiden Naturen und ihrer Eigenschaften käme. Bleiben im genus idiomaticum der communicatio idiomatum die göttlichen Eigenschaften formal der göttlichen Natur vorbehalten, so werden sie im zweiten genus als der menschlichen Natur wenn auch nicht unmittelbar, so doch mittels der Personeinheit zukommende betrachtet. Das genus apotelesmaticum schließlich als die dritte Art der Idiomenkommunikation hat das gemeinsame Handeln der beiden personal vereinten Naturen zum Thema, wobei die gottmenschlichen Handlungen sowohl Erhabenes als auch Niedriges umfassen. Auch im Passions­geschehen sind beide Naturen des Gottmenschen vereint wirksam, wenngleich auf unterschiedliche, ihrer jeweiligen Wesenswirklichkeit entsprechende Weise. Zielbestimmung von unitio und unio menschlicher und göttlicher Natur in der Person Jesu Christi Satisfactio und intercessio ist sein Heilswerk, welches zu verrichten seines Amtes ist, das er als Prophet, Priester und König wahrnimmt. Das officium bzw. munus prophe­ticum hat Jesus Christus während der Zeit seines irdischen Daseins durch Verkündigung des Evangeliums und rechte Auslegung des göttlichen Gesetzes persönlich ins Werk gesetzt. Mittelbar ist das prophetische Amt in besonderer Weise den Aposteln und ihren Nachfolgern aufgetragen, die den stellvertreten-

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den Dienst, zu dem sie berufen sind, bis zum Jüngsten Tage ausüben werden. Das officium sacerdotale, das Jesus Christus ausübt, um die gefallenen Menschen mit Gott zu versöhnen, besteht aus zwei Teilen: satisfactio und intercessio (vgl. König III,218). Das principium quod der Genugtuung ist allein der Gottmensch, ihr principium quo eine jede seiner beiden Naturen und zwar die göttliche originale et formale, die menschliche organicum, also auf werkzeugliche Weise und zwar so, dass sie aus der ihr durch die unio personalis mitgeteilten göttlichen Kraft heraus handelt (vgl. König III,221–223). Dargebracht wird die Genugtuung nicht etwa dem Teufel, wie von einigen in der Alten Kirche verbreiteten, schon von Anselm zurückgewiesenen volkstümlichen Vorstellungen nahegelegt, sondern allein dem dreieinigen Gott und zwar nicht als einer willkürlichen Macht, sondern als dem gerechten Richter, der nach Maßgabe der Strenge seiner unendlichen Gerechtigkeit, welche die Differenz von gut und böse niemals vergleichgültigt oder vergleichgültigen lässt, eine unendlich wertvolle Genugtuung fordert (vgl. König III,224). Ihr objectum pro quo sind in personaler Hinsicht ausnahmslos alle gefallenen Menschen, für deren „omnia omnino peccata“ (König III,226) sowie zeitliche und ewige Sündenstrafen insgesamt Satisfaktion geleistet wird. Das Mittel hierzu ist das „pretium universae Christi obedientiae“ (König III,228), also der Wert sowohl seines leidenden als auch seines aktiven Gehorsams, durch welchen Christus freiwillig die ganze fremde Schuld bezahlt hat. Diese im göttlichen Gericht angerechnete Bezahlung (König III,229: solutio) des Mittlers gilt nicht nur aufgrund göttlicher Annahme (ebd.: ex Divina acceptatione), sondern auch „secundum se“ (ebd.) und kraft ihres Eigenwertes, der ihr zum einen wegen der Unendlichkeit der genugtuenden Person und zum anderen wegen der vollständigen Mitteilung der göttlichen Majestät an die menschliche Natur in der unio personalis zukommt. Der seit dem ersten Augenblick seiner Erniedrigung bis in die äußerste Gottferne des Kreuzestodes hinein durch vollkommenen Gehorsam dem dreieinigen Gott gegenüber freiwillig erbrachten Genugtuung des Gottmenschen, die ihm im göttlichen Gericht um der Erlösung der Menschen willen als Verdienst angerechnet wird, folgt seine Fürbitte (intercessio), mit der er den gerechten Gott durch Verweis auf die geleistete satisfactio und das daraus resultierende meritum zu beständiger Barmherzigkeit bewegt, um so den grundlegenden Dienst seines priesterlichen Amtes zu ratifizieren und für den in Sünde gefallenen Menschen dauerhaft das­ jenige zu erwirken, von dem er weiß, dass es für Leib und Seele heilsam ist. Solche priesterliche Fürbitte leistet der gottmenschliche Mittler generell für alle Menschen insgesamt und im Einzelnen, im Besonderen aber für die Glaubenden und Erwählten. Dem Eintreten des Hl. Geistes für uns ist die Fürsprache Jesu Christi verwandt, ohne doch damit identisch zu sein; denn diese beruht im Unterschied zu jenem nicht auf dem Verdienst eines anderen, sondern auf dem Verdienst des Fürbittenden selbst. Das dritte unter den munera Jesu Christi besteht in seinem officium regium, wobei sein königliches Reich ein dreifaches ist, nämlich dasjenige der Macht (regnum potentiae), dasjenige der Gnade (regnum gratiae) und dasjenige der Herrlichkeit

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(regnum gloriae). Generell gilt, dass Jesus Christus seine königliche Regentschaft gemäß seinen beiden personal vereinten Naturen ausübt und zwar, was die menschliche Natur angeht, im Prinzip vom ersten Augenblick der Empfängnis an, doch in umfassender und nicht endender Weise erst seit seiner Erhebung zur Rechten der Majestät Gottes. Gemäß der Herrschaft der Macht regiert Jesus Christus als der zur Rechten Gottes Erhöhte gänzlich alles von Gott Erschaffene mit der unbeschränkten Majestät seiner beiden Naturen, wobei seinem Menschsein vollkommene Herrschaftsteilhabe zukommt, insofern es jedem geschaffenen „Wo“ und damit jedem „Ort“ des Reiches der Macht auf ubiquitäre Weise präsent ist (vgl. König III,255). Im Reich der Gnade herrscht Jesus Christus durch Wort und Sakrament, um sich in der Menschenwelt eine Kirche zu sammeln und sie zu regieren, zu schützen und zu bewahren, damit der Name Gottes gepriesen, das satanische Reich zerstört und das Heil der Glaubenden realisiert werde. Am Ende der Welt wird die Königsherrschaft im Reich der Gnade aufhören und Jesus Christus sein officium regale im Reich der Herrlichkeit als himmlischer Herrscher der Engel und erwählten Menschen zur Ehre des dreieinigen Gottes und zur Freude der Seligen vollenden. Zwar übt er die Herrschaft im Himmel der Seligen gemäß seiner Gottheit von Ewigkeit an und auch gemäß seiner Menschheit schon seit dem ersten Augenblick seiner Erhöhung zur Rechten des Vaters aus. Aber vollkommen manifest und definitiv vollendet wird das regnum gloriae erst im Eschaton sein, wenn die Seligen um den göttlichen Thron versammelt sind und die Kirche triumphieren wird. Als letztes Thema der Christologie kommt nach der Lehre vom dreifachen Amt die Ständelehre in Exinanitio und exaltatio Betracht, wobei zwei status Christi unterschieden werden: exinanitio und exaltatio (vgl. König III,276). Dem Stand der Erniedrigung werden im Anschluss an das Apostolische Glaubensbekenntnis die Empfängnis, mit der er seinen Anfang nahm, die Geburt, das Leiden und der Tod sowie das Begräbnis bzw. die Grabesruhe bis zu jenem, den Beginn der Erhöhung markierenden Augenblick zugerechnet, in dem der Leib des Gekreuzigten lebendig gemacht und mit seiner Seele wiedervereinigt wurde. Subjectum quod der Erniedrigung ist der inkarnierte Logos, subjectum quo seine menschliche Natur, an der sie sich auswirkt. In statu exinanitionis entäußert sich Jesus Christus nicht nur seiner göttlichen Gestalt (König III,280: hoc est status Divinus gloriosus), sondern verzichtet hinsichtlich seiner menschlichen Natur auch freiwillig und real auf den vollen und ununterbrochenen Gebrauch der ihm und seinem Menschsein kraft der unio personalis zukommenden göttlichen Majestätseigenschaften wie Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart, um der göttlichen Gerechtigkeit Genugtuung „pro commissio in protoplastis Dei-formitatis raptu“ (König III,283) zu leisten und das Heil für die Gefallenen zu erwerben. Mit dem ersten Augenblick der Inkarnation, wie er im Empfängnismoment statthat, beginnt der Status der Erniedrigung und zwar auf folgende Weise: Nach erfolgter Reinigung des Mutterleibes, der den einzigartigen Fötus mere obedientialiter (König III,293) empfangen soll, wird die Seele Christi vom Hl. Geist aus der

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Seele der Jungfrau Maria hervorgebracht und die Leibeswohnstatt für die Seele allmählich ausgebildet, bis das göttliche Kind den Leib der jungfräulichen Mutter verlassen und das Licht der Welt erblicken kann. Ob die Geburt Jesu Christi mit dem Ende der Jungfräulichkeit Mariens einhergeht oder nicht, lässt sich nach König aus der Schrift nicht entscheiden. Die Frage der ewigen Jungfrauenschaft Mariens muss daher offen bleiben. Auf die Geburt des Gottmenschen folgt sogleich sein Leiden, das mit der frühesten Kindheit Jesu Christi beginnt (wenn es nicht überhaupt mit dem Stand der Erniedrigung gleichzusetzen ist), und während seines ganzen irdischen Lebens anhält, um sich am Lebensende dramatisch zu verdichten und zu vollenden. Auch wenn das Leiden Jesu Christi recht eigentlich nur seine menschliche Natur angeht, weil die göttliche gänzlich leidensunfähig ist, so ist durch es doch auch die göttliche Natur auf vielerlei Weise (vgl. König III,307) im Innersten betroffen bis dahin, dass sie sich die Passion des Menschseins des Erlösers auf hypos­ tatisch vermittelte Weise appropriiert (vgl. ebd.). Zweck des Leidens Jesu Christi, das wahrhaft und wirklich und keineswegs bloß scheinbar war, ist die vollständige Sühne für alle Sünden des Menschengeschlechts und die Befreiung von den Strafen der Hölle. Seine äußerste Tiefe erreicht der status exinanitionis des Gottmenschen mithin im Erleiden der göttlichen Sündenstrafe, was nicht nur dem ewigen Tod gleichkommt, sondern unendlich viel mehr wiegt als die ewigen Tode aller Verdammten zusammen (König III,309: omnes omnium damnatorum aeternas mortes infinities supergrediens). Im Erleiden der göttlichen Strafe verfällt der GeResignatio ad infernum kreuzigte der resignatio ad infernum als dem inneren Abgrund seiner Passion. Die unaussprechliche Gottverlassenheit, über die Jesus Christus am Kreuz nicht in Bezug auf andere, sondern höchst persönlich klagt und die neben dem schmerzlichen Empfinden des sterbenden Leibes, ausweglos dem physischen Tod entgegen zu gehen, auch die höllische Seelenpein eines Ausgeliefert- und Preisgegebenseins an den Teufel umfasst, besteht primär und vor allem im Entzug des inneren Fühlens der himmlischen Gnade, des Trostes und der Wonne, welches ansonsten mit der einwohnenden Gottheit verbunden ist. Dem um der Sünde des Menschengeschlechts willen dem Strafgericht göttlicher Gerechtigkeit ausgelieferten Jesus Christus musste Gott als gnadenlos und seine Lage als absolut trostlos erscheinen. Anders konnte er nicht zum Erlöser und Versöhner werden, der aus dem Grab des Todes und der Bodenlosigkeit der Hölle zu befreien vermag. Die Passion Jesu Christi ist einzigartig und ohne Beispiel und zwar hinsichtlich des Leidenden selbst (König III,327: ratione derelicti), des Ursprungs des Leidens (König III,328: ratione principii) und seiner Schwere (König III,329: ratione intensionis) sowie der erlittenen Schmerzen (König III,330: ratione consequentium dolorum). Letztere waren so groß, wie sie keiner der Verdammten in der Hölle je erleiden kann. Der Schrei der Verlassenheit am Kreuz ist die Klage desjenigen, der das unerträgliche Flehen aller Verzweifelnden und zu Verdammenden auf sich nimmt und an sich selbst zu ertragen gewillt ist. Der Sünde des Menschengeschlechtes wegen, die

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er insgesamt und für jeden Einzelfall auf sich lud, wurde niemand jemals von Gott für einen größeren Sünder erachtet als Christus (König III,329: nemo unquam major peccator reputatus a DEO fuit), und die Strafe, die er zu erleiden hatte, war mit dem schlimmsten aller göttlichen Flüche verbunden: „quia enim hic omnia omnino omnium hominum peccata in se susceperat, non potuit non Pater coelestis vi justitiae suae extreme odisse ipsum tanquam kataran, Gal. 3,13. & peccatorem, quos sol unquam vidit, omnium maximum, 2. Cor. 5,21.“ (König III,328) Was vom Tod, dessen Dauer einen Zeitraum von drei Tagen umfasste, und dem anschließenden Begräbnis des entseelten Leibes Jesu Christi gesagt wird, ist ebenfalls auf den Zweck der Sühne für die menschliche Sünde und der Erlösung vom ewigen Tod bezogen. Genauer bedacht zu werden verdient dabei die Bemerkung, dass Jesus Christus während seines dreitägigen Todes zwar wahrhaft als tot, aber wegen der hypostatischen Fortdauer der auf natürliche Weise getrennten Teile von Leib und Seele im Logos wegen der Unveränderlichkeit der personalen Einheit weiterhin als wahrer Mensch zu betrachten ist (vgl. König III,338). Die Lehre vom status exaltationis handelt von der gesamten seiner Erniedrigung entgegengesetz- Höllenfahrt, Auf­ ten Verherrlichung Jesu Christi. Subjekt der Er- erstehung, Himmelfahrt höhung ist wie im Falle der Erniedrigung der inkarnierte Logos hinsichtlich seines angenommenen Menschseins. Ihr Vollzug geschieht stufenweise und hebt an mit der Lebendigmachung des gestorbenen Leibes des Gekreuzigten und seiner Wiedervereinigung mit der Seele Jesu Christi. Die göttliche Erweckungsaktion ist die Vor- und Grundbedingung der exaltatio, welche an den status exinanitionis anschließt und dessen Momente in sich aufhebt. Nach König ist die erste Stufe der Erhöhung die nach erfolgter Lebendigmachung als realis profectio vollzogene Niederfahrt Jesu Christi zur Hölle, die seiner Auferstehung noch vorhergeht. Zwar könne unter der Höllenfahrt metaphorisch auch das Erleiden höllischer Schmerzen oder das Fühlen des göttlichen Zorns verstanden werden. Aber im eigentlichen Sinne einer wirklichen Fahrt in die Hölle sei der descensus ad inferos der erste Erhöhungsgrad (König III,370: primus exaltationis gradus), wie dies 1. Petr 3,18 ff. oder in der zutreffenden Vorstellung der Alten vorausgesetzt werde, die Höllenfahrt Christi habe in jenem großen Erdbeben stattgefunden, das sich frühmorgens vor Sonnenaufgang am Passahtag ereignete. Der Zweck des Geschehens ist der Triumph Christi über seine Feinde, die Bestätigung seines vollen Sieges und der Erweis seiner absoluten Macht über Lebende und Tote. Erst nachdem dieser Zweck erfüllt worden war, ereignete sich die Auferstehung als zweite Stufe der Erhöhung Jesu Christi. Unter Auferstehung versteht König das von der Lebendigmachung (Auf­ erweckung) zu unterscheidende und ihr folgende Herausgehen des wieder lebendig gemachten Leibes aus dem Grab (König III,372: redivivi corporis egressio e ­sepulchro) am dritten Tag (vgl. König III,379) sowie dessen Erscheinung vor anderen (König III,372: egressi praesentationem ad alios). Materie der Auferstehung ist der an Substanz und Zahl selbe, wenngleich mit neuen Eigenschaften ausgestattete

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Leib Jesu Christi, der zuvor gestorben war und begraben wurde und mit derselben Seele, die zuvor vom Leib getrennt war, wiedervereinigt ist. Als Wirkursache der Auferstehung fungiert im Verein mit Gottvater und dem Hl. Geist der auferstehende Gottmensch selbst, der in der Auferstehung indes nicht nur gemäß seiner göttlichen Natur, sondern auch secundum humanitatem tätig wird, weil seine menschliche Natur kraft unio personalis an der lebendigen Wirkmacht der göttlichen vollgültigen Anteil hat. Was schließlich den formalen Zweck der Auferstehung betrifft, so liegt er in der Bestätigung des errungenen Sieges Jesu Christi über Tod und Teufel mit allen Implikationen begründet, die dieser perfekte Sieg zur Folge hat. Der Auferstehung folgt als dritte Stufe der Erhöhung die Himmelfahrt Jesu Christi, die zu seiner Inthronisation zur Rechten des göttlichen Vaters als der vierten und letzten Exaltationsstufe führt. Aus dieser Reihenfolge geht hervor, dass König die Himmelfahrt nicht im weiten Sinne himmlischer Platzierung und Verherrlichung Jesu Christi, sondern im engen Sinne einer visibilis elevatio, einer sichtbaren Erhöhung des Auferstehungsleibes Jesu Christi in den Himmel und damit zugleich als Voraussetzung der Tatsache versteht, dass der Gottmensch nicht nur als Gott, sondern auch als Mensch zur Rechten Gottes sitzt und an dessen Königsherrschaft teilhat. Als ein die menschliche Natur Jesu Christi primär betreffender, wenngleich von der gottmenschlichen Person insgesamt in der trinitarischen Gemeinschaft bewirkter Vorgang hebt die Himmelfahrt an einem spezifischen Ort an (König III,388: mons oliveti), um in Form einer wahren und wirklichen Ortsveränderung (König III,391: loci mutatio) der freilich besonderen Art (zum modus ascensionis vgl. im Einzelnen König III,392 ff.) an den translokalen Ort zu gelangen, wo die Seligen wohnen, um daselbst für die sündigen Menschen das durch ihre Schuld verschlossene Paradies zu öffnen und ihnen eine dauerhafte Bleibe im Himmel zu verschaffen. Sein Sitzen zur Rechten Gottes (zum Verständnis der Wendung vgl. König III,397 ff.), in der sich seine Fahrt in den Himmel erfüllt, ist in differenzierter Weise ebenfalls auf diesen Zweck ausgerichtet, den Jesus Christus durch sein unaufhörliches und vollmächtiges königliches Herrschen im Reich der Macht, der Gnade und der Herrlichkeit zu erfüllen trachtet und tatsächlich erfüllt. Das dritte Prinzip des Heils nach der benevolenDe gratia spiritus sancti tia des göttlichen Vaters und der fraterna redemtio applicatrice Jesu Christi ist die gratia spiritus sancti applicatrix, die zueignende Gnade des Hl. Geistes. Von ihr handelt König im Anschluss an eine verhältnismäßig kurz gehaltene christologische Erlösungslehre (vgl. König III,408–424), die sich an die Lehre von Person, Amt und Ständen des Erlösers anschließt. Wie bereits der Name des redem(p)tors zeigt, ist das soteriologische Werk der Erlösung von seiner persönlichen, amtlichen und die Stände betreffenden Wirklichkeit nicht zu trennen. Dies wird in dem kurzen Lehrstück „De redemtione“ eigens unterstrichen. Aus der Onomatologie resultiert, dass unter redemtio unsere kostspielige Erlösung aus der geistlichen Gefangenschaft zu verstehen ist; die Pragmatologie kommt zu dem Ergebnis: „Est itaque Redemtio haec alterum salutis nostrae Principium, quo Goel noster, in aeterno Sacrosanctae

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Trini­tatis consilio Redemtor ordinatus, in temporis plenitudine secundum utramque naturam genus humanum, spiritualiter captivum, soluto pro universis & singulis consummatissimae obedientiae lytro, ab ira Dei, legis maledictionis, peccato, Diabolo, morte & inferno liberavit, ut hac ratione in libertatem asserti, aeternum cum ipso viveremus.“ (König III,424; bei K. großteils kursiv) Differenziert wird diese Definition u. a. durch den Hinweis, dass die Gefangenschaft der gefallenen Menschen nicht Geldschuldcharakter habe, sondern durch die kriminelle Straftat einer Beleidigung der Gerechtigkeit Gottes bedingt sei, der als alleiniger Empfänger der Lösegeldzahlung in Betracht komme, wohingegen dem Satan keinerlei Genug­ tuung geschuldet werde. Erbracht wird die Leistung der Satisfaktion durch die aktive und passive Obödienz Jesu Christi, der als Gottmensch brüderlich Mitleidender und die Güte, Liebe und Barmherzigkeit Gottes selbst in Person ist. Im Anschluss an diese knappen soteriologischen Bestimmungen handelt das pneumatologische Lehrstück vom dritten Prinzip des Heils und der Gnade des Hl.  Geistes, welche die aus Gottes Wohlwollen durch Jesus Christus erworbene Erlösung dem gefallenen Sünder anbietet und zueignet. Die wichtigsten actus, durch welche diese Zueignung geschieht, sind nach König Berufung (vocatio), Wieder­ geburt (regeneratio), Bekehrung (conversio), Buße (poenitentia), Rechtfertigung (iustificatio), mystische Vereinigung der Glaubenden mit Gott (unio credentium mystica cum deo) und Erneuerung (renovatio). Der pragmatologischen Erörterung der einzelnen Handlungen des Geistes ist jeweils eine mehr oder minder ausführliche onomatologische Bestimmung vorgeschaltet, die eine Nominaldefinition der einzelnen Begriffe in ihrem Unterschied und Verhältnis zueinander zu leisten versucht. Die Berufung, mit der der pneumatologische ordo salutis beginnt, erfolgt, wenn sie denn als vocatio ordinaria geschieht, durch die generell an das ganze gefallene Menschengeschlecht gerichtete äußere Predigt des Worts (König III,431: per externam Verbi concionem), mittels dessen das nach Gottes Willen durch Christus erworbene Gut in suffizienter und wirksamer Weise angeboten wird. In der Wiedergeburt werden dem in Sünden gänzlich toten Menschen – sei er erwachsen oder ein Kind – durch Wort und Sakrament (oder auf außerordentliche Weise) jene Kräfte zugeeignet, durch die ihm Gott geistliches Leben schenkt und sein Seelenvermögen des Verstandes und des Willens so bestimmt, dass er offen zu werden vermag für die Erkenntnis des Heils und, was den Willen betrifft, für den Heilsempfang durch herzliches und vertrauensvollen Sich-Verlassen (König III,469: recumbentia fiducialis). Die Umkehr vom Unglauben zum Glauben, wie sie mit der Berufung anhebt, setzt sich neben der Wiedergeburt und in einem differenzierten Zusammenhang mit ihr fort in der Bekehrung, die, wenn sie in einem von Rechtfertigung und Erneuerung unterschiedenen Sinn verstanden wird, die Hinkehr des geistig toten (erwachsenen) Menschen zum Heil bedeutet, wie sie vom Hl. Geist üblicherweise durch das äußere Wort bewirkt wird. In der unmittelbaren Vollzugskonsequenz der nur durch den in den Heilsmitteln wirkenden Hl. Geist, nicht aber durch moralische Überzeugungsarbeit zu leistenden Bekehrung als einer allmählichen und stu-

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fenweisen ersten Überführung des gefallenen Menschen aus dem Stand der Sünde in den Stand des Glaubens liegt die Buße. Buße tritt dann ein, wenn dem Bekehrungshandeln des Geistes, bei dem es sich um eine actio non irresistibilis, sed re­ sistibilis (vgl. König III,510) handelt, kein Riegel vorgeschoben wird, durch den sich der Sünder der gewährten Gnade verschließt. Die Buße als Folge der transitiv verstandenen BeContritio und fides kehrung besteht materialiter aus zwei Teilen: contritio & fides (König III,531), Reue und Glaube. Die Reue als erste der übernatürlich gewirkten und alle Eigenkräfte des Sünders transzendierenden Bußhandlungen wird ermöglicht durch die Erkenntnis der Sünde aus dem Gesetz (König III,524: agnitio peccati ex lege) und besteht im Empfinden des Gotteszornes, dem das Bewusstsein der Sünde als Schuld entspricht sowie in dem Entsetzen und einer herzlichen Betrübnis über das begangene Böse. Doch ist nicht bereits die Reue als solche heilsam, sondern erst der Glaube, mit welchem der vom Gesetz verklagte Sünder mit zerknirschtem Herzen das Verdienst Christi ergreift. Ohne Glauben bleibt die Gewissenspein heillos. Der Glaube und der Glaube allein ist das Mittel zur Aneignung der versöhnenden Gnade (König III,534: medium apprehendendae gratiae reconciliatricis) Gottes, wie sie Christus bereitet hat und der Hl. Geist offeriert. Die unmittelbare Folge des geistgewirkten Bußglaubens ist die Rechtfertigung des sündigen Menschen vor Gott, als mittelbare Konsequenzen ergeben sich Annahme (König III,561: adoptio) zu Kindern Gottes, Vereinigung mit Christus und der neue Gehorsam der vom Hl. Geist Ergriffenen, der den guten Vorsatz sowie die äußerliche Ausübung des Glaubens in Form guter Werke umfasst. Durch das Rechtfertigungshandeln wird der sündige Mensch wegen des im Glauben angenommenen Verdienstes (König III,562: propter Christi meritum fide apprehensum) durch die Vergebung der Sünden (ebd.: remissis peccatis) aus reiner Gnade (ebd.: gratis) von Gott gerecht gesprochen (ebd.: justus reputat). Es ist der Glaube und der Glaube allein, der die von Gott dargereichte Rechtfertigung empfängt. Doch stellt nicht er, sondern allein die in der Kraft des Hl. Geistes wirksame Gnade Gottes in Christus den Grund der Rechtfertigung dar, durch welche dem Glaubenden die Sünde durch Zurechnung des fremden Gehorsams (König III,558: obedientia aliena) Christi nicht zugerechnet wird. In diesem Sinne ist zwischen imputatio (positive)  und non-imputatio (privative)  zu unterscheiden (vgl. König III,552) und klarzustellen, dass der Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet wird, nicht soweit er unser Handeln ist, sondern allein soweit er Christi Verdienst annimmt. „Omnis itaque fidei imputabilitas ad justitiam haud aliunde, quam ex objecto justifico apprehenso est.“ (König III,557) Der Grund der Rechtfertigung ist nicht im Menschen, sondern außerhalb des Menschen (König III,559: non in homine, sed extra hominem) zu suchen und zu finden. Gleichwohl ist die ungeschuldete imputatio der Gerechtigkeit vor Gott keineswegs scheinbar, sondern ganz und gar wirklich (ebd.: haut imaginaria, sed realissima)  und der gerechtfertigte Sünder gänzlich gerecht, zwar nicht in sich selbst in Form

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einer inhäsiven Eigenqualität, wohl aber in Christus, auf den er sich glaubend verlässt. Im Verein mit der Gotteskindschaft und anderen ewigen Gütern wirkt die Rechtfertigung die mystische Einheit des Glaubenden mit Gott und die Erneuerung, mit deren Behandlung König das Lehrstück „De gratia Spiritus Sancti applicatrice“ beschließt, ohne damit die Behauptung zu verbinden, eine in jeder Hinsicht erschöpfende pneumatologische Beschreibung des ordo salutis geleistet zu haben. Im geheimnisvollen Geschehen der unio mystica vereinigt sich der dreieinige Gott in seiner göttlichen Substanz mit der Substanz des Glaubenden, nicht um eine Transsubstantiation von dessen Menschsein oder eine der personalen Vereinigung des Logos mit der menschlichen Natur Jesu Christi analoge Verbindung herbeizuführen, sondern um den mit dem Elend dieses Lebens ringenden Glaubenden der Rechtfertigungsgnade dauerhaft gewiss zu machen und ihnen die nötige Beständigkeit im Glauben zu verleihen. Auch die Bewirkung der Einheit der Glaubenden untereinander in Glauben und Liebe gehört zu den Zielen der unio mystica. Zu den vortrefflichen Gütern, die sie in sich enthält (vgl. König III,585), ist des Weiteren die Tatsache zu rechnen, dass sich Gottes Gottheit auf eine zwar nicht hypostatische, aber gleichwohl reale Weise alles zueigen macht, was den frommen Gliedern der Gemeinde zustößt, um ihnen beständig hilfreich zu sein, damit sie das ewige Leben ererben. Die von Wiedergeburt und Rechtfertigung unterschiedene Erneuerung, die auch Heiligung (sanctifi- Vom Wert guter Werke catio) genannt wird, bezeichnet den Übergang vom alten zum neuen Menschen, die voneinander „non ratione substantiae, sed ratione qualitatum diversarum“ (König III,599) unterschieden werden, und eine Veränderung des sündigen Menschen dergestalt, dass sein verfinsterter Verstand erleuchtet, sein verkehrter Wille zum Guten gekehrt und seine falsche sinnliche Begierde überwunden und in ein Begehren dessen überführt wird, was Gottes Gottheit gemäß ist. Auf diese Weise werden durch das Erneuerungshandeln des Hl. Geistes gute Werke in den Glaubenden hervorgerufen. Doch sind diese, was den sie tätigenden Menschen betrifft, unvollkommen und durch die Differenz von Wachstum und Abnahme bestimmt. Als nachträglicher Grund der Rechtfertigung kommen sie nicht infrage. Es bleibt dabei, dass der Mensch ohne alle menschlichen Werke allein um Christi willen gerechtfertigt wird: sola gratia, sola fide.

9. Die sozinianische Kritik der orthodoxen Kirchenlehre Lit.: Anselm v. Canterbury, Cur Deus homo. Warum Gott Mensch geworden. Lateinisch und Deutsch, Darmstadt 31970. – F. Chr. Baur, Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung von der ältesten Zeit bis auf die neueste, Tübingen 1838. – A. Beutel, „Wir Lutherischen“. Zur Ausbildung eines konfessionellen Identitätsbewusstseins bei Martin Luther, in: ZThK 110 (2013), 158–186.  – Bibliotheca Fratrum Polonorum, quos Unitarios vocant, Amsterdam 1656 (= BFP). – A. Calov, Scripta anti-sociniana, 3 Bde., Ulm 1684. – W. Dilthey, Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert, in: ders., Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. GS II, Leipzig / Berlin 1964, 129–144. – O. Fock, Der Sozinianismus nach seiner Stellung in der Gesamtentwicklung des christlichen Geistes, nach seinem historischen Verlauf und nach seinem Lehrbegriff, Kiel 1847 (Neudruck der Ausgabe: Aalen 1970). – J. Ph. Gabler, Kleinere theologische Schriften. Hg. v. Th. A. u. J. G. Gabler, I. Bd., Ulm 1831. – J. W. Goethe, Sämtliche Werke. Bd. 5: Die Faustdichtungen, Zürich (1950) 1979. – P. Hauptmann, Art. Sozinianer / Sozinianismus, in: RGG4 VII, 1519–1521.  – A. M. Hill, Art.  Unitarier, in: TRE 34, 332–339.  – J. F. König, Theologia positiva acroamatica (Rostock 1664). Hg. u. übers. v. A. Stegmann, Tübingen 2006.  – Ph. Marheineke, Christliche Symbolik. Hg. v. St. Matthies u. W. Vatke, Berlin 1848. – A. Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. 5: Beichte, Haustafel, Traubüchlein, Taufbüchlein, Göttingen 1994. – F. Ricken, Art. Naturrecht. I. Altkirchliche, mittelalterliche und römisch-katholische Interpretationen, in: TRE 24, 132–153. – A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. 1. Bd.: Die Geschichte der Lehre, Bonn 41903. – St. Schaede, Stellvertretung. Begriffsgeschichtliche Studien zur Soteriologie, Tübingen 2004. – M. Schmeisser (Hg.), Sozinianische Bekenntnisschriften. Der Rakower Katechismus des Valentin Schmalz (1608) und der sog. Soner-Katechismus, Berlin 2012. – E. Troeltsch, Gesammelte Schriften. Erster Band: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912. – W. Urban, Art. Sozzini / Sozinianer, in: TRE 31, 598–604. – F. Wagner, Art. Naturrecht II. Neuzeitliche und evangelische Interpretationen seit der Reformation, in: TRE 24, 153–185. – J. Wallmann, Art. Calov, Abraham, in: TRE 7, 563–568. – G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit. Bd. 1, München 1984. – P. ­Wrzecionko (Hg.), Reformation und Frühaufklärung in Polen. Studien über den Sozinianismus und seinen Einfluß auf das westeuropäische Denken im 17. Jahrhundert, Göttingen 1977.

Die Kirche, der ich zugehöre, nennt sich evangelisch-lutherisch, obwohl Martin L ­ uther seine Anhänger nachdrücklich ermahnte, „man wolt meynes namen geschweygen und sich nit lutherisch, sondern Christen heysen“ (WA 8, 685,4–6). Tatsächlich handelt es sich bei den Ausdrücken „lutherisch“ und „Lutheraner“ ursprünglich um polemisch konnotierte Fremdbezeichnungen. „MutmaßEvangelisch-lutherisch

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lich hat Johannes Eck, der in Ingolstadt als Theologieprofessor bestallt war und als ein früher, erbitterter Gegner Luthers hervortrat, diese Begriffsprägung als erster vollzogen.“ (Beutel, 159) Er sprach anlässlich der Leipziger Disputation vom Frühjahr 1519 von vielen anwesenden „Lutterani“, die er mit „Wittenbergern“ gleichsetzte. Luther und die Seinen wehrten eine solche Titulierung anfangs entschieden ab, weil sie nicht mit einem Parteinamen versehen werden wollten, der sie in häresiomachischer Absicht zu einer Sondergruppe abstempelte. Der Reformator war der festen Überzeugung, dass er lediglich ein Werkzeug des Herrn sei und Christus seiner nicht bedürfe, um die Kirche zu reformieren: „Denique maledictum nomen Martini, maledicta gloria Martini in aeternum, ut solius patris nostri nomen sanctificetur, qui in coeli.“ (WA 2, 616,21 f.) In der frühen Geschichte der Reformation waren die Begriffe „lutherisch“ bzw. „Lutheraner“ Fremdbezeichnungen, die von Gegnern aufgebracht und gebraucht wurden. L ­ uther selbst und seine Anhänger lehnten sie ab. Dies änderte sich im Laufe der 20er und dann vor allem der 30er Jahre des 16. Jahrhunderts. Im Zuge der Konfessionalisierung der abendländischen Christenheit erwachte bei den Kirchenreformern ein Bewusstsein eigener kirchlicher Identität mit der Folge, dass aus einer anfänglichen Fremdbezeichnung allmählich eine Selbstbezeichnung wurde. Unter dem Titel „Wir Lutherischen“ hat Albrecht Beutel diesen Prozess am Beispiel Luthers selbst nachgezeichnet. Beutels Studie ist „für eine künftig zu schreibende Initialgeschichte des lutherischen Protestantismus“ (Beutel, 159) mehr als „nützlich und anregend“ (ebd.). An Luthers Verhalten zu dem die Wittenberger Reformationsbewegung „mit seinem Namen titulierenden Neologismus“ (Beutel, 168) wird paradigmatisch das wachsende und sich verfestigende konfessionelle Gruppenbewusstsein der sog. Lutheraner deutlich. An die Stelle anfänglicher Abwehr tritt beim Reformator selbst zuerst neutrale Rezeption, dann entschiedene Affirmation. Mit dem Ausgang des Augsburger Reichstags erfolgte der definitive Umschwung. „In den 1530er Jahren scheint die Selbstbezeichnung als ‚Lutherani‘ Allgemeingut geworden zu sein.“ (Beutel, 178) Der wortstatistische Befund bei Luther bestätigt dies, wie Beutel detailliert aufzeigen kann. Das von ihm „spätestens zur Mitte der 1530er Jahre realisierte konfessionelle Identitätsbewusstsein“ (Beutel, 185) lässt Luther nun „jederzeit ganz freimütig von ‚uns Lutherischen‘ als einem ‚Part‘ im religiösen Wahrheitskampf sprechen“ (ebd.). Allerdings blieb nach Beutel die affirmative Verwendung der ursprünglichen Fremdbezeichnung und ihre Annahme als Selbstbezeichnung beim Reformator stets ad extra, also darauf bezogen, die eigene Glaubensgemeinschaft von anderen, namentlich der römisch-katholischen abzugrenzen, wohingegen der Reformator von einem positiven Gebrauch ad intra bewusst abgesehen habe. „Ad intra … wollte er, was dann in der Identitätsgeschichte des Luthertums nur allzu oft übersehen oder missachtet wurde, von einer Berufung auf seinen Namen nichts wissen. Würde man ihn als ‚caput Ecclesiae Wittenbergensis‘ ansprechen, so wäre darin, wie er seiner Gemeinde einschärfte, ganz sicher der Teufel am Werk. Nachdrücklich hielt

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er darum noch zuletzt jedes einzelne Glied seines ‚Parts‘ an: ‚Am jungsten tage will Jch nit horen: D. Martinus hat mich das geleret, sondern so soltu sagen: Jch gleub an gott, den vater, Son, heiligen geist‘.“ (Beutel, 185 unter Verweis auf WA 45, 309,8–310,1 sowie WA 49, 684,32–34) Über den Gegensätzen, welche sich in den KonfesSchule statt Kirche sionsbezeichnungen lutherisch, reformiert oder römisch-katholisch reflektieren, werden leicht die Gemeinsamkeiten übersehen, welche die konfligierenden Hauptdenominationen des Reformationsjahrhunderts verbinden und zwar auch und gerade in ekklesiolo­ gischer Hinsicht. Alle drei verstehen sich als Kirchen und zwar im Sinne von Heilsanstalten, die mehr und anderes sind als schulische Lehranstalten. So folgt in der Dogmatik der altprotestantischen Orthodoxie, wie das Beispiel J. F. Königs belegt, auf die Lehre von den Prinzipien des Heils sogleich diejenige von den Heilsmitteln, welche mit der Ekklesiologie aufs Engste verbunden ist. In dieser entwickelt die orthodoxe Dogmatik ihren Begriff von Kirche, der für sie insofern systemkonstitutiv ist, als sie sich selbst dezidiert als Funktion von Kirche begreift. Dieses theologische Selbstverständnis teilen trotz ihrer divergierenden konfessionellen Ausrichtung sowohl die Dogmatiken bzw. Dogmatiker der altlutherischen und altreformierten Orthodoxie als auch diejenigen der tridentinisch-katholischen Barockscholastik. Man muss sich dies vor Augen halten, um den Neuansatz der Sozinianer und die Erschütterungen zu ermessen, die ihre Kritik am altkirchlichen Dogma und am Zentrum der traditionellen Soteriologie, der Lehre von der stellvertretenden Heilsmittlerschaft Jesu Christi, über die Konfessionsgrenzen hinweg bewirkte. Basiert das Verständnis von Theologie und Kirche im Altprotestantismus ebenso wie im tridentinischen Katholizismus auf dem alle Menschenvernunft transzendierenden Heilserweis des dreieinigen Gottes in Jesus Christus, so funktionieren die Sozinianer die Kirche tendenziell in eine Schule um, deren Haupt- und Oberlehrer sich mittels seiner theologischen Gefolgschaft vor allem der moralischen Erziehung des Menschengeschlechts nach Maßgabe sittlicher Vernunft widmet. Aus dem in den kirchlichen media salutis präsenten Mittler des Heils wird, wenn man so will, ein Schulmeister im höheren Chor, dessen Schule, die Kirche, als moralische Erziehungs- und Besserungsanstalt agiert. Die sozinianische Lehre „will mit Einem Wort die Religion allein in das Practische, in das Moralische gesetzt­ wissen und die Theologie zur Sittenlehre machen“ (Marheineke, 440). Religion, so die Devise, hat zu erziehen. „Nichts anderes als die Schule ist denn auch der­jenige Begriff der christlichen Gemeinschaft, welche die Socinianer unter dem Namen Kirche definiren und erstreben.“ (Ritschl, 321) Mit der reformatorischen Ekklesiologie ist dieser Begriff nicht kompatibel. „Die Reformatoren hatten die Kirche definirt als die Gemeinschaft der Gläubigen oder Heiligen, deren Zeichen die Predigt des göttlichen Wortes und die richtige Ausübung der Sacramente sind, durch welche eben Gott das Dasein von Gläubigen bewirkt und verbürgt.“ (Ebd.) Anders die Sozinianer: Sie bestimmen die Kirche als Paedagogicum, als theologische und

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ethische Schule. Diese Bestimmung ist nicht nur den Grundsätzen der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen, sondern auch denjenigen der tridentinischkatholischen Kirche entgegengesetzt. Ritschl beurteilt es daher zu Recht als „eine­ Illusion oder eine Fiction“ (Ritschl, 322), wenn die sozinianische Bewegung „doch zugleich die anderen Kirchen mit sich unter dem Gedanken der allgemeinen Kirche zusammenfaßt“ (ebd.); denn nach deren zumindest diesbezüglich übereinstimmendem Urteil bildet der Sozinianismus keine, um es so zu sagen, Kirche im eigentlichen Sinn. Am ehesten ist die „socinianische Ausprägung des Christenthums als Schule“ (Ritschl, 323) mit anabaptistischen Kreisen verwandt. Hier wie dort nämlich „wird die Gemeinschaft ausschließlich als Product besonderer Acti­vität der Genossen gesetzt“ (ebd.). Kirche als Heilsanstalt oder als Schule? Um den ekklesiologischen Gegensatz zu verdeutlichen, der Altprotestantische sich im 16. Jahrhundert bezüglich dieser Frage zwi- Ekklesiologie schen den sich etablierenden konfessionellen Denominationen einerseits und den Sozinia­nern andererseits auftrat, soll zunächst noch einmal die König’sche Dogmatik den Ton angeben, um auf ihrem Hintergrund deutlicher die Eigenart der sozinianischen Position markieren zu können, mit der die altlutherische noch weitaus weniger gemein hatte als mit der altreformierten oder der tridentinisch-katholischen. Königs einschlägiger Text, auf den sich die nachfolgenden Seitenverweise beziehen, setzt ein mit der Lehre von den kirchlichen Heilsmitteln, die in solche im engeren und eigentlichen sowie in solche im weiteren, uneigentlichen Sinne unterschieden werden. Zu den media salutis im weiten Sinne zählen Tod, Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht und annihilatio mundi im Sinne einer Nichtung alles Nichtigen, weil sich in gewisser Weise auch mit ihrer Hilfe das ewige Heil realisiert. Die media salutis im engeren und eigentlichen Sinn sind von zweifacher Art, nämlich, was Gott angeht, darreichende und, was den Menschen betrifft, empfangende. Als media salutis exhibitiva werden Wort und Sakrament bezeichnet. Das Wort ist entweder dasjenige des Gesetzes oder des Evangeliums (König III,608: Verbum est Legis vel Evangelii). Was das göttliche Gesetz betrifft, so ist zwischen einer lex divina perpetua et moralis und einer lex divina temporaria et Judaica zu differenzieren. Das göttliche Gesetz von zeitlich begrenzter Gültigkeit bindet allein die Juden und steht und fällt mit ihrem Gemeinwesen (vgl. König III,646). Dies gilt sowohl für das jüdische Zeremonialgesetz (vgl. König III,648–670) mit seinen diversen Opfer- und sonstigen Vorschriften als auch für die lex forensis seu judicialis (vgl. König III,677–686) und seine das Judentum ordnenden Rechtsregeln. Dauerhaft gültig und von bleibender Verbindlichkeit sind nur die angeborene lex naturalis s­ owie das moralische Gesetz im engeren Sinn. Lex naturalis meint im gegebenen Zusammenhang nicht die Naturgesetze bzw. die Ordnungen, wie sie die Kreatur einschließlich der extrahumanen insgesamt bestimmen, sondern das „jus homini per naturam impressum“ (König III,611), also das mit der Wesensnatur und geschöpflichen Bestimmung des Menschen gegebene Recht.

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Das ihm angeborene bzw. von Natur aus eingeprägte Gesetz verpflichtet den Menschen zu einem seinem Wesen und seiner geschöpflichen Bestimmung entsprechenden Verhalten gegen Gott, gegen sich selbst und gegenüber Mitmenschen und Welt. Dem humanen Naturrecht eignen zwar immutabilitas und indispensabilitas absoluta; gleichwohl ist es nicht nur insuffizient in Bezug auf Verdienst und Heil, sondern auch von postlapsarischer Unvollkommenheit (König III,626: imperfectio post lapsum). Es bedarf daher unter postlapsarischen Bedingungen zu seiner Vervollkommnung der förmlichen Ergänzung durch das moralische Gesetz im engeren, nämlich im Sinn besonderer göttlicher Verfügungen. Zu denken ist dabei in Sonderheit an den Dekalog, dessen allgemeinverbindliche Bestimmungen das Gewissen zu vollkommenem Gehorsam verpflichten. Die Zehn Gebote sind in Gänze aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzem Gemüt und mit allen Kräften vorbehaltlos und konsequent zu befolgen. Andernfalls drohen schwerste und ewige Strafen, die dem Gesetzesübertreter von Gott auferlegt werden. Zwar verheißt die göttliche lex moralis, deren Inhalt mit der lex naturalis koinzidiert, unter den Bedingungen ihrer Befolgung das ewige Leben. Realiter aber erweist es, dass der Mensch in seiner vorfindlichen Verfassung zur geforderten vollkommenen Gesetzeserfüllung unfähig ist, und enthält insofern die Aufforderung in sich, einen Arzt zu suchen (König III,642: ad medicum quaerendum compulsio), der das tödliche Gebrechen zu heilen vermag. Die Lehre von den usus legis moralis ergibt sich hieraus jedenfalls teilweise von selbst. König unterscheidet einen vierfachen Gebrauch des Gesetzes, den politischen, den überführenden (usus elenchticus), den pädagogischen und den didaktischen (vgl. König III,643). Der zuletzt genannte usus didacticus legis besteht in der Lenkung des Lebens und Verhaltens der Wiedergeborenen und Gerechtfertigten und ist sonach derjenige, der nach Maßgabe von FC VI üblicherweise der dritte Gebrauch des Gesetzes genannt wird. Zu einer abweichenden Zählung gelangt König deshalb, weil er nach dem usus politicus, der auf die Funktion äußerer Bändigung und Zügelung des sündigen Menschen beschränkt wird, dem usus elenchticus, der den Menschen seiner Sünde überführt und zum Bewusstsein der Schuld kommen lässt, einen weiteren Gebrauch zudenkt, nämlich den pädagogischen, der den zerknirschten Sünder mittels der Erkenntnis seiner Sündenschuld dazu bewegt, bei dem im Evangelium offenbaren Christus seine Zuflucht zu suchen. Der zweite Gesetzesgebrauch wird also, wenn man so will, als in sich gedoppelt wahrgenommen: indem das Gesetz dem Sünder den höllischen Abgrund seines Falls zur Einsicht bringt und dadurch alles soteriologische Eigenvermögen entzieht, kann es, ohne an sich selbst bereits heilsames Evangelium zu sein, zum Zuchtmeister auf Christus hin werden. Interessant und bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass König die Zuordnung der hörbaren gesetzgebenden Stimme nur zur Person des Sohnes unter Verweis auf Apg 7,38 und Dtn 33,2 für richtig erklärt (vgl. König III,631). Auch wenn der pädagogische Gebrauch des Gesetzes zur Flucht auf Christus hin bewegen kann, so ist es doch das Evangelium und das Evangelium allein, durch welches das von Christus erworbene Heil für den Sünder durch Gott in der Kraft

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des Hl. Geistes erschlossen wird. Zwar kann der Begriff des Evangeliums neben seiner Anwendung auf die neutestamentlichen Evangelien generaliter so verwendet werden, dass er zusammen mit dem Wort der Gnade auch dasjenige des Gesetzes umfasst. Im engeren und eigentlichen Sinn aber bedeutet er die pneumatische Zusage der durch Christus erwirkten Gottesgnade. Das Evangelium ist entsprechend „promissio gratiae gratuita“ (König III,695), Verheißung ungeschuldeter Gnade. Als Adressaten evangelischer Gnadenverheißung kommen grundsätzlich alle Menschen infrage; aber heilbringend ergriffen wird das Wort des Evangeliums allein durch den Glauben. Seiner Realdefinition gemäß ist es sonach reine, vom Wort des Gesetzes unterschiedene Gnadenpredigt, die den Menschen das Verdienst Christi und die damit erworbenen Wohltaten anbietet und durch den Glauben zueignet, zur Ehre Gottes und zum Glaubensheil derer, denen sie verkündigt wird (vgl. König III,703). Wie das Wort in seinen Gestalten als Gesetz und Evangelium sind auch die Sakramente Heilsmittel Wort und Sakrament der darreichenden Art.  Gemäß seiner von König verwendeten Bedeutung bezeichnet der Sakramentsbegriff einen von Gott eingesetzten solennen Vollzug, in welchem durch ein äußeres und sichtbares Zeichen (König III,705: per externum & visibile signum) unsichtbare Güter (ebd.: bona invisibilia) gnadenhaft angeboten, zugeeignet und besiegelt werden (ebd.: gratiose offeruntur, conferuntur & obsignantur). Während die Sakramente des Alten Bundes, nämlich Beschneidung (vgl. König III,729–751) und Passahzeremonie (vgl. König III,752–774), in ihrer Geltung begrenzt und befristet sind und in ihrer Vorläufigkeit auf diejenigen des Neuen Bundes vorausweisen, haben diese als Mittel des in Christus durch den Hl. Geist vollendet erschlossenen göttlichen Heils für den Menschen perfekten Charakter. Die Sakramente des Neuen Bundes sind wie diejenigen des Alten zwei: Taufe und Herrenmahl (König III,776: Baptismus & Coena Domini). Sie sind von Gott unter Einschluss der menschlichen Natur Jesu Christi, der aufgrund ihrer personalen Einheit mit dem Logos eine potestas instituendi Sacramenta (König III,708) zukommt, dazu eingesetzt, durch Darbietung der unsichtbaren res sacramenti mittels des mit den Einsetzungsworten verbundenen sichtbaren äußeren Elements die Verheißung der gnadenhaften Vergebung der Sünden durch Christus zuzueignen und zu besiegeln (vgl. König III,726). Die Taufe als das erste, nichtwiederholbare Sakrament des Neuen Bundes ist ein Wasserbad der Wiedergeburt im Wort, mittels dessen Gott durch seinen Sohn in der Kraft des Hl. Geistes allen Menschen ohne Unterschied von Herkunft, Stand, Geschlecht und Alter Glauben und Bundesgnade anbietet und diese auch zu­ eignet und besiegelt, wenn der Mensch sich nicht gegen die angebotene Gnadengabe sperrt. Die Taufe wird ordnungsgemäß durch ordentlich berufene und recht­ gläubige Amtsträger der Kirche vollzogen; doch kann sie im Notfall auch durch einen minister haereticus, ja sogar – in dieser Reihenfolge – durch einen Laien oder eine Frau (vgl. König III,785 f.) gespendet werden, wenn die Spendung rite, das heißt stiftungsgemäß, geschieht. Von solchen Ausnahmen ist im Hinblick auf das

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Abendmahl nicht die Rede, dessen Verwaltung allein den kirchlichen Amts­trägern vorbehalten bleibt (vgl. König III,806). Im zweiten – wiederholbaren und regelmäßig zu wiederholenden – Sakrament des Neuen Bundes gibt der dreieinige Gott den Mahlteilnehmern mittels des konsekrierten Brotes und Weines den wahren und wirklichen Leib und das wahre und wirkliche Blut Jesu Christi auf übernatürliche, aber reale Weise mündlich zu essen und zu trinken, um den Glauben zu stärken und die Bundesgnade Gottes zum Lobpreis seiner Güte und zum Heil der Teilnehmenden zu besiegeln. An die Erörterung der darreichenden Heilsmittel Wort und Sakrament schließen sich Ausführungen „De testamentis divinis“ (König III,829 ff.) an, die zeigen, dass die Hl. Schrift Alten und Neuen Testaments in der altlutherischen Dogmatik nicht nur als principium cognoscendi der Theologie, sondern auch im Kontext der media salutis in Betracht kommt. Unter Testament versteht König eine „letztwillige“, durch den Tod des „Testators“ besiegelte freie Verfügung Gottes „de religionis legitima dispensatione“ (König III,836), also „de cultu Divino, mediisque salutis, ac forma regiminis in Ecclesia“ (König III,837). Die alttestamentlichen Verfügungen, als deren hauptsächliche Wirkursache die göttliche Dreieinigkeit, insbesondere der logos asarkos fungiert, beziehen sich auf die Institution der wahren Kirche vom Anfang der Welt bis zum Kommen des Messias (vgl. König III,839), auf den sie verweisen und zu dem sie hinführen. Die vom Alten Testament eingesetzten Erben (König III,843: haeredes instituti) sind in erster Linie die Juden, dann aber auch die Heiden, denen die Bundesverheißung zwar nicht hinsichtlich der verheißenen leiblichweltlichen, wohl aber hinsichtlich der geistlich-himmlischen Güter galt. Obwohl auch das Neue Testament zuerst auf die Juden und dann erst auf die Heiden bezogen ist, hat Christus die Trennwand zwischen ihnen definitiv eingerissen, so dass die Ungleichheit beider als aufgehoben gelten darf (vgl. König III,857). Die neutestamentlichen Verfügungen, die der Hauptsache nach im trinitarischen Verein vor allem der logos ensarkos, der inkarnierte Gottessohn Jesus Christus gewirkt hat, sind nicht mehr nur durch das Blut des Opfertiers, das auf den Opfertod Christi vorausweist (König III,851: sanguine pecuino typico), sondern durch diesen selbst versiegelt und durch die Apostel über den ganzen Erdkreis (König III,853: per universum terrarum orbem) verbreitet worden, damit das mosaische Gesetz im Evangelium aufgehoben und vollendet werde. Auflistungen von Übereinstimmungen (vgl. König III,867 ff.) und Unterschieden (vgl. König III,876 ff.) des Alten und des Neuen Testaments schließen sich an. Die media salutis proprie dicta sind ex parte Dei darGlaube als notitia, reichende Mittel (vgl. König III,606). Empfangsassensus und fiducia mittel der media salutis exhibitiva ist der Glaube, der insoweit, aber auch nur insoweit als medium salutis zu gelten hat, als er sich die angebotene Gabe gegeben sein und zueignen lässt. Die materialen Bestandteile des Glaubens als eines Heilsmittels der indirekten Art sind notitia, assensus und fiducia (König III,894). Notitia ist verstandesmäßige Erkenntnis, assensus verständige Zustimmung und Anerkenntnis der Gnadenverheißung

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von Sündenvergebung und Rechtfertigung in Christus, fiducia schließlich persönliche Annahme des durch Christus erworbenen Heils im Sinne herzlichen, ungeteilt-individuellen Sich-Verlassens. Erst in der die Momente von notitia und assensus in sich aufhebenden fiducia als eines mit dem Intellekt den ganzen Willen des Menschen umfassenden Vertrauens vollendet sich die fides. Fides iustificans ist infolgedessen allein der Fiduzialglaube zu nennen, der sich in der Kraft des Hl. Geistes ganz auf den durch Jesus Christus rechtfertigenden Gott verlässt, dessen unbedingtes Heil das Evangelium in Wort und Sakrament nach Maßgabe des Neuen Testaments zusagt. Ist die unmittelbare Folge des Fiduzialglaubens als der fides iustificans die Rechtfertigung, so gehen als mittelbare Wirkungen die guten Werke aus ihm hervor. Es gilt der Grundsatz: „Quoad influxum in productionem bonorum operum habet se fides haec ad analogiam formae ad propria sua, quorum causa per emanationem ipsa est.“ (König III,908) Lässt sich der glaubende Mensch im Glauben die Gnadenzusage des Evangeliums gefallen, statt dem Wirken des Hl. Geistes einen hindernden Riegel vorzuschieben (König III,910: malitiosum obicem), um sich in sich selbst und seinem Eigensinn zu verschließen, dann öffnet sich sein Tun auf gute Werke hin, die in zwangloser Freiheit und Spontaneität aus dem menschlichen Gottvertrauen hervorgehen. Ihre Norm ist den Werken, durch die der Glaube tätig ist, durch die lex Dei gegeben, die sie formt, obzwar sie göttliches Wohlgefallen nicht wegen des Gesetzes und der Befolgung seiner Vorschriften, sondern um des Glaubens an das Evangelium willen finden, aus dem sie hervorgehen. Was über das christliche Tun der guten Werke im Einzelnen und insgesamt auszuführen ist, kann Geistlicher und weltnach König mit der Wendung „Militia Christiana“ licher Stand (König III,926) umschrieben und zusammengefasst werden. Der christliche Kriegsdienst vollzieht sich unter dem Feldzeichen des Kreuzes samt all den Anfechtungen, Versuchungen und sonstigen Prüfungen (vgl. König III,932 ff.), die damit für die Frommen verbunden sind. Doch ist das Kreuz der Christen durch Christi Kreuz geheiligt und keine Strafe im eigentlichen Sinn, sondern eine väterliche Zurechtweisung, die allein Gutes und Heilsames beabsichtigt. Das wichtigste Hilfsmittel des christlichen Kriegsdienstes (König III,945: Subsidium militiae Christianae praecipuum) ist die oratio fidelis, das Gebet des Glaubenden, mit dem dieser den dreieinigen Gott einschließlich der in der Hypostase des Logos subsistierenden menschlichen Natur Jesu Christi in der Gewissheit von dessen interzessorischem Wirken in Bitte, Fürbitte und Danksagung vertrauensvoll anruft. Die Reichweite der militia Christiana ist raumzeitlich grenzenlos. Funktional erstreckt sie sich namentlich auf den kirchlichen, den politischen und den häuslichen Bereich, wie König in der Lehre „De tribus statibus hierarchicis“ ausführt. Bezüglich des kirchlichen Standes wird „De ministerio ecclesiastico“ (vgl. König III,966 ff.) gehandelt, nämlich von dem von Gott eingesetzten und an eine ordnungsgemäße Berufung gebundenen kirchlichen Amt der öffentlichen Wortverkündigung, Sakramentsverwaltung und der potestas clavium. Das Recht, in die-

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ses Amt zu berufen, zu senden und zu ordinieren, hat unter Beachtung der nötigen Ordnung bei seiner Ausübung die ganze Kirche. Ein ministrorum gradus (König III,975) ist vorgesehen, ohne dass dadurch die wesentliche Einheit des ministerium ecclesiasticum aufgelöst würde. Der status politicus wird in Bezug auf die weltliche Obrigkeit thematisch, wie sie durch Wahl, Nachfolge oder berechtigte Inbesitznahme (vgl. König III,978) konstituiert ist. Der Zuständigkeitsbereich des magistratus civilis erstreckt sich neben dem Politischen im engeren Sinn auch auf die Kirche, doch nur auf dasjenige, was zum äußeren Kirchenregiment gehört (König III,982: ad externum Ecclesiae regimen). Zweck der weltlichen Obrigkeit, den sie nach dem Maß der ihr zugestandenen Gewalt und entsprechend der Vorschrift der geltenden Gesetze zu verfolgen hat, ist neben der gebührenden Verehrung Gottes die Sicherung und Förderung des Gemeinwohls generell und insbesondere des öffentlichen Friedens und Anstands sowie der freien Religionsausübung. Was schließlich den häuslichen Stand (status oeconomicus) angeht, so wird er unter Bezug auf die Ehe expliziert. Die Ehe ist eine von Gott zum Zweck des Erhalts des Menschengeschlechts durch Zeugung und Erziehung von Nachkommen, zur gegenseitigen Unterstützung und als „remedium adversus vagas libidines“ (König III,995) eingesetzte unauflösliche Verbindung zweier erwachsener Menschen, und zwar eines Mannes und einer Frau, deren Verlobung ihren gemeinsamen Willen zu jener einzigartigen Gemeinschaft bekundet, die „per copulam carnalem in nuptiis“ (König III,988) vollzogen wird. Zwar kann das Gesamtaggregat, das die hierarKirche als Heilsanstalt chischen Stände bilden, nach König ecclesia genannt werden (sowie denn auch der große Antichrist [vgl. König III,1044 ff.] der gemeinsame Feind der gesamten Kirche und aller hierarchischen Stände ist), doch ist seinem Urteil zufolge der Begriff im eigentlichen Sinne auf jene congregatio sacra zu beschränken, die gemäß CA VII Kirche heißt. Von ihrer synthetischen und repräsentativen Form wird zum Abschluss des Lehrabschnitts über die Empfangsorgane und annehmenden Mittel des Heils gehandelt. Die zusammengesetzte Kirche ist der coetus promiscuus (vgl. König III,1025) der durch das Wort Gottes zum Heil berufenen und im äußerlichen Bekenntnis der wahren Lehre übereinstimmenden Menschen, seien es Heilige oder Heuchler. Repräsentativ vertreten wird die ecclesia synthetica durch die berufene congregatio Doctorum (vgl. König III,1027), deren Versammlung auch Konzil oder kirchliche Synode genannt wird und der neben dem Vorsitzenden, als der nach guter Regel, wenn auch nicht notwendig, der Fürst fungiert, „non tantum Episcopi, sed quivis fideles, literarum sacrarum periti“ (König III,1033), also nicht nur leitende Geistliche, sondern alle Glaubenden angehören können, die sich in der Hl. Schrift auskennen, welche den alleinigen kanonischen Maßstab für Entscheidungen in kirchlichen Lehr-, Sitten- und Zeremonialfragen darstellt. Nachdem unter den Heilsmitteln im engeren und eigentlichen Sinn neben den darreichenden auch diejenigen der empfangenden Art umfassend behandelt worden sind, verbleiben noch die media salutis im weiteren Sinn, denen Tod, Totenauferstehung, Jüngstes Gericht und annihilatio

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mundi zugerechnet werden. Auf deren Behandlung durch König ist nicht mehr einzugehen, weil das Ziel erneuter Beschäftigung mit seiner Dogmatik erreicht ist, nämlich einen dogmatischen Begriff von der auf der Heilsmittlerschaft Christi basierenden Heilsvermittlung der Kirche zu verschaffen, als deren Funktion sich die König’sche Theologie und diejenige seiner Zunftgenossen versteht. Zu den am meisten bekannten zeitgenössischen Zunftgenossen Königs gehörte Abraham Calov (1612–1686), der im gegebenen Zusammenhang vor allem deshalb eigens zu erwähnen ist, weil er unter den Dogmatikern der altlutherischen Orthodoxie derjenige ist, der sich am intensivsten mit den Sozinianern auseinandergesetzt hat. Calov war ein in vielerlei Hinsicht außergewöhnlicher Mann. So befolgte er Luthers Rat, man solle lieber drei- oder gar sechsmal nacheinander in den Ehestand treten, statt sich von seinen libidinösen Begierden zu Unzucht verleiten zu lassen (vgl. WA 26, 527,3), „überaus wörtlich; zwei Jahre vor seinem Tode heiratete er noch mit 72 Jahren die achtzehnjährige Tochter seines Kollegen Quenstedt, nachdem er 5 Gattinnen und 13 Kinder begraben hatte“ (Peters, 110 f.). Im Übrigen hat sich der aus Ostpreußen stammende, in Rostock, Königsberg, Danzig und Wittenberg als Pastor und Professor wirkende Mann vor allem als dogmatischer Polemiker einen Namen gemacht. Ein glänzendes Beispiel hierfür gibt sein „Socinismus profligatus“ von 1652 ab (vgl. Calov II, 2–352). „Im Gedächtnis der Nachwelt lebt er (sc. Calov) fort als der Prototyp des lutherisch-orthodoxen Streittheologen, so wie ihn schon Lessing in einem Atemzug mit Johann Melchior Goeze nannte.“ (Wallmann, 568) Calovs „Socinismus profligatus“ ist „das be­ deutendste antisozinianische Werk des orthodoxen Calovs „Socinismus Luther­tums“ (ebd.). Bereits im umfangreichen Werk- profligatus“ titel bezeichnet er die satisfactio Christi als „Acropolin fidei“ (Calov II,2), um sie dann im Text selbst als die Zentrallehre, an der das Kirchesein der Kirche hängt, entschieden gegen Bestreitungen zu verteidigen. Die am Kreuz Jesu Christi vikarisch erbrachte Genugtuung sei Grundlage und Bedingung menschlichen Heils vor Gott. Jesus Christus habe an unsrer Stelle den Fluchtod auf sich genommen und so Satisfaktion erbracht für unsere Sünde, die um seinetwegen von Gott aus Gnade durch Glauben vergeben werde. Man hat Calovs Grundthese als Beleg dafür genommen, „wie sehr die Argumentationen der lutherischen Orthodoxie trotz zunehmender Bedeutung des Stellvertretungsmotivs noch vom Satisfaktionsmotiv beherrscht werden“ (Schaede, 496). Doch darf nicht verkannt werden, dass nach Urteil reformatorischer Dogmatik Satisfaktions- und Stellvertretungsmotiv sachlich zusammengehören und sich nicht trennen lassen. Dies gilt auch dann, wenn stärker als bei Anselm der Passionscharakter des Genugtuungsvollzugs hervorgehoben und die satisfactio vicaria als stellvertretender Straftod verstanden wird. Die Aussage, dass Jesus Christus für uns die Sündenstrafe erlitten habe, wird ebenso wie die stellvertretend geleistete Genugtuung von Calov als schriftgemäß und der Vernunft nicht widerstreitend affirmiert. Calov ist ein strikter Verteidiger des Gedankens stellvertretender Genugtuung und vikarischen Sühneleidens Christi für die Sünden der Menschheit. Diese An-

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nahme hat ihre sachliche Richtigkeit, auch wenn der deutsche Stellvertretungsbegriff terminologiegeschichtlich jüngeren Datums ist und wahrscheinlich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts soteriologisch in Gebrauch genommen wurde; auch Anselm lehrte der Sache nach eine satisfactio vicaria, obwohl die förmliche Wendung noch nicht bei ihm, sondern erst bei den Dogmatikern der altprotestantischen Orthodoxie anzutreffen ist. Was Calovs soteriologische Apologie betrifft, so kann man sie nachlesen in den Ausführungen des „Socinismus profligatus“ „De officio Christi sacerdotali“ (vgl. Calov II,112 ff.) sowie insbesondere in seinen Antworten zu den Fragen „Utrum Christus pro peccatis nostris satisfecerit?“ (vgl. Calov II,124 ff.) und „Utrum Christus nostri loco substitutus, vel surrogatus fuerit in passione et morte?“ (vgl. Calov II,127 ff.). Ja, sagt Calov, Christus hat an unserer statt Genugtuung geleistet: Nicht etwa zum Schein oder nur im Sinne einer Als-ob-Exemplifikation zu didaktischen Zwecken, sondern in Wirklichkeit sei die culpa der Menschheit auf Christus transferiert worden (vgl. Calov II,130), damit er sie stellvertretend trage. Eben dadurch, dass er unsere Sündenschuld am Kreuz getragen und unter ihrer Last gestorben sei, habe er uns Gott versöhnt (vgl. Calov II,166). Anderes zu lehren, wie die Sozinianer dies täten, sei Ketzerei. Die nachfolgenden Erörterungen „De sacrificiis“ (vgl. Calov II,199 ff.) bestätigen dieses Verdikt ebenso wie die sonstigen antisozinianischen Schriften Calovs. „Wie die Socinisten in andern Glaubens-Artickeln ihrer Vernunfft den Zügel schiessen lassen / und sich erheben wider das Erkantnuß Gottes / und sein heiliges Wort: Also thun sie es auch in diesem hohen Artickel von der Erlösung des Menschlichen Geschlechts“ (Calov III, 231); diesem Unterfangen sei dezidiert und kompromisslos zu widerstehen  – und zwar, so Calov, sowohl aus­ biblischen Gründen als auch aus Gründen der geschaffenen Menschenvernunft. Während Calov darauf bestand, dass Jesus Christus Lelio und Fausto Sozzini stellvertretende Genugtuung geleistet und am Kreuz an unserer statt die Strafe der Sünde erlitten habe, wurde dies von sozinianischer Seite entschieden in Abrede gestellt. Sozinianern werden seit dem 17. Jahrhundert (vgl. Hauptmann, 1519) die Anhänger von Lelio (1525–1562) und Fausto (1539–1604) Sozzini genannt, die auch als Antitrinitarier bzw. Unitarier in die „Ketzergeschichte“ eingegangen sind. Zur Infragestellung und Bestreitung des biblischen Rechts der Trinitätslehre waren sie u. a. durch „Einsicht in den textgeschichtlich sekundären Charakter des Comma Johanneum in I Joh 5,7“ veranlasst worden, „die sich in der Fortlassung dieser Passage in den ersten Auflagen des griechischen Neuen Testamentes des Erasmus niedergeschlagen hatte“ (Hill, 332). Entscheidend für den sozinianischen Antitrinitarismus waren indes weniger bibeltheologische als vielmehr Gründe, die in ihrem Vernunft- bzw. Rationalitätsverständnis begründet lagen. Dies gilt auch für die Kritik am Stellvertretungsgedanken und an der Annahme einer satisfactio vicaria Jesu Christi, mit der die Sozinianer in der westlichen Aufklärung, in deren Vorgeschichte sie gehören (vgl. Urban, 602 f.), viele Anhänger fanden. Ihrem Selbstverständnis nach wollten sie als Vollender der Reformation gelten, wovon ein Zweizeiler zeugt, „demzufolge

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ganz Babylon eingestürzt sei, nachdem Luther das Dach, Calvin die Mauern und Sozzini die Fundamente zerstört hätten“ (Hauptmann, 1519). Vergessen wird bei solcher Betrachtung, dass mit der Bestreitung stellvertretender Genugtuung bzw. vikarischen Strafleidens Jesu Christi, die einhergeht mit einer dezidierten Ablehnung der Erbsündentheorie, die Grundlagen der reformatorischen Rechtfertigungslehre und damit die Grundlagen des articulus stantis et cadentis ecclesiae „aufgegeben“ (ebd.) sind. Mit der Rechtfertigungslehre stürzt die reformatorische Kirche, für deren Bestandserhalt König, Calov und sonstige Repräsentanten altprotestantischer Orthodoxie theologisch und ekklesiologisch Stellung bezogen. „Tota ruit Babylon: tecta destruxit Lutherus, muros Calvinus, sed fundamenta­ Socinus.“ (Urban, 600) Das Bewusstsein eigener Bedeutung hat sich in diesem Distichon, das man sich unter den Sozinianern vorsagte, selbstsicheren Ausdruck verliehen. Das Haupt der Gemeinschaft wird in die Galerie der prominentesten Reformatoren eingereiht, mehr noch: Fausto Sozzini gilt als Vollender der Reformation. Wirkungsgeschichtlich und aus der aufgeklärten Perspektive des postkonfessionalistischen Zeitalters hat sich dies auch manchem evangelischen Theologen so dargestellt. Man musste kein Extremneologe oder Radikalpietist sein und auch nicht zum Triumvirat vom „rationalistischen Tischgedeck“ gehören, um J. Ph. Gablers Frage, „ob die Socinianer auch zu den Protestanten gehören“ (vgl. Gabler, 554–569), ohne größere Vorbehalte bejahen zu können. Im ersten Band meiner „Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit“ habe ich dies an einer Reihe von Theologen zu verdeutlichen versucht (vgl. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre  I, 149–216), wobei der moderate J. G.  Töllner (vgl. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre  I, 170 ff.) besondere Aufmerksamkeit verdient, weil er – gerade in seiner Zurückhaltung – kennzeichnend ist für den weiteren Entwicklungsgang. Die mit Töllners Bestreitung des vikarischen Charakters des tätigen Gehorsams Jesu Christi „beginnende rückgängige Bewegung konnte ihr natürliches Ziel nur auf einem dem kirchlichen Dogma entgegengesetzten Standpunkt finden, dieser Standpunkt war jedoch kein anderer, als derselbe, auf welchen sich die Socinianer und Arminianer längst gestellt hatten, nur mit dem Unterschied, daß der bisher außerhalb der protestantischen Kirche sich bewegende Widerspruch gegen das Satisfactionsdogma jetzt innerhalb derselben seinen weitern Verlauf nehmen sollte“ (Baur, 492). Nicht nur in Deutschland, auch im übrigen Europa fanden die sozinianischen Theorien großen Anklang, etwa im englischen Deismus. Nach verbreiteter Annahme nimmt die sozinianische Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glaube bzw. Vernunft und Offenbarung den Standpunkt vorweg, den beispielsweise John Locke im „Essay concerning Human Understanding“ eingenommen hat (vgl. Wrzecionko [Hg.], 86–92). Auch John Tolands 1696 erschienener Traktat „Christianity not Mysterious“ sei im Grunde „identisch mit der Meinung der Sozinianer, inhaltlich (Crell, Wiszowaty) und auch in der Formulierung (Stegmann)“ (­ Wrzecionko [Hg.], 110; vgl. 92–112). Auch Matthew Tindal, dessen Werk „Christianity as Old as the Creation“ von 1730 den reifen Deismus repräsentiere,

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spreche immer die Sprache des Sozinianismus, wenn er die Rolle der Vernunft in der Religion erörtere (vgl. Wrzecionko [Hg.], 114). Kein Geringerer als Wilhelm­ Dilthey hat diese Sicht der Dinge geteilt; er hat in den Sozinianern die „Mauer­ brecher der neueren Zeit“ erkannt und ihnen eine erstrangige Bedeutung für die Geistesgeschichte der Moderne eingeräumt (vgl. Dilthey, 129–144). Rationales Fundament des sozinianischen LehrsysAntitrinitarischer tems ist in Kritik und Konstruktion der Satz vom Unitarismus zu vermeidenden Widerspruch. Alles kann der Fall sein, nur nichts Widersprüchliches. Auch Gott vermag, obwohl allvermögend, nichts Kontradiktorisches zu wollen und zu tun. Dies ist deshalb ausgeschlossen, weil das Prinzip axiomatisch in Geltung steht, dass eines, welches identisch ist mit sich selbst, nicht zugleich das sein kann, was es nicht ist: A ≠ non A! Mit diesem rationalen Grundsatz ist die Basis für den sozinianischen Antitrinitarismus gelegt. „Eins ist, was ungetheilt ist in sich. – Ein Wesen hat zu einer Zeit nur eine vollständige Existenz, und eine Substanz nur eine Subsistenz. – Dreimal eins ist drei, nicht eins; und dreimal Einer sind drei, nicht Einer. – Wo drei ist und ausserdem eins, da ist vier.“ (Fock, 388) Mit einem Antitrinitarier späterer Tage zu reden: „Es war die Art zu allen Zeiten, / Durch Drei und Eins und Eins und Drei / Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten.“ (Goethe, 221 [2559–2562]) Vergleichbar wie über das trinitarische urteilen die Sozinianer über das christo­ logische Dogma: Ist Jesus Christus wahrer Mensch, dann kann er nicht zugleich wahrer Gott sein und umgekehrt. Die Lehre von einer ungetrennten und unvermischten Einheit Gottes und des Menschen in einer Person gilt ihnen als ausgemachter Nonsens. Gefragt, wer Jesus Christus in Wirklichkeit sei, antworten die Sozinianer unmissverständlich: nicht Gott, sondern ein exemplarischer und vorbildlicher Mensch. Näheres hierzu und zum Antitrinitarismus der Sozinianer kann man neben den sozinianischen Bekenntnisschriften (vgl. Schmeisser [Hg.]) dem Sammelwerk der „Bibliotheca Fratrum Polonorum, qui Unitarios vocant“ (= BFP) entnehmen, die ein Enkel Fausto Sozzinis im Jahre 1656 in Amsterdam herausgegeben hat. Amsterdam war damals ein Hauptort der unitarischen Bewegung der Sozinianer, die im Titel des Sammelwerkes Polnische Brüder genannt werden, weil viele von ihnen ehemals in Polen eine Heimstatt gefunden hatten. Als sie nach einem vom Warschauer Reichstag verfügten Dekret das Land verlassen mussten, wichen die meisten nach Schlesien, Siebenbürgen oder in die Niederlande aus. Die intellektuelle Elite kam hauptsächlich in Amsterdam unter. Dass Christus nicht wahrer Gott sein kann, geht aus der sozinianischen Kritik der Trinitätslehre unmittelbar hervor. Demgemäß lehrt Fausto Sozzini in seiner „Christianae Religionis Institutio“: „Ego vero, antequam respondeo, te monitum volo, me ex iis, quae ad Christi seu filii Dei essentiam pertinent, nihil magis nobis credendum ac cognoscendum esse statuere, quam illum natum fuisse verum hominem.“ (BFP I, 656, Sp. 2) Christus ist wahrer Mensch: in diesem Satz konzentriert sich die ganze sozinianische Christologie. Die Annahme der Gottheit Christi wird kontradiktorisch ausgeschlossen, das christologische Dogma dem Spott preis­

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gegeben: Die Rede von der Menschwerdung Gottes sei ebenso abwegig wie die Rede von einer Eselwerdung des Menschen. Wer anderes behaupte, mache sich im übertragenen Sinne selbst zum asinus. Dass in Christus zwei kategorial unterschiedene Wesenheiten zu personaler Einheit zusammengehen, beurteilen die Sozinianer als Widersinn, der durch eine Lehre von der Naturkommunion und von der communicatio idiomatum nicht besser, sondern noch widersinniger werde. Der traditionellen Lehre von der Person Jesu Christi wird daher vergleichsweise umstandslos der Abschied gegeben, um fernerhin alle christologische Aufmerksamkeit auf das Werk Jesu Christi zu richten, welches vorzugsweise als dasjenige eines zur Erziehung des Menschengeschlechts bestellten Lehrers bestimmt wird. Dass es sich dabei um einen besonderen Lehrer handelt, leugnen die Sozinianer nicht. Sie können sogar sagen, dass Jesus Christus durch seine unvergleichliche Weisheit und Einsicht alle Menschen überragt habe und insofern mehr als ein natürlicher Mensch ge­wesen sei. Selbst von einer übertragenen Gottheit des exemplarischen Menschen kann die Rede sein. Aber dabei handelt es sich wie bei der zugestandenen jungfräulichen Geburt Jesu Christi, seiner Sündlosigkeit und überragenden Heiligkeit um Präroga­ tiven ratione qualitatum, nicht ratione essentiae. Im Grunde bietet die sozinianische Christologie nichts weiter als eine potenzierte Anthropolo- Christologie als potengie, wobei alles auf moralische Steigerung und sitt- zierte Anthropologie liche Überhöhung abgestellt ist. Als prophetischer Sittenlehrer unterrichtet der sozinianische Christus das Menschengeschlecht in Form eines neuen Gesetzes, das sich dem mosaischen gegenüber wie das vollkommene zum unvollkommenen verhält. „Christi lex“, sagt Fausto Sozzini, „est complementum & perfectio legis Mosaicae, sine dubio ipsa lege Mosaica est perfectior. Nec tamen negandum est, quin ipsa quoque lex Mosis, ab hominibus interiorem probitatem requireret, licet non tam exactam, ut Christi lex requirit, quae vicissim non minus quam lex Mosis externam probitatem seu sanctitatem postulat, sed multo tamen excellentiorem.“ (BFP II, 454, Sp. 2, Z. 11) Die Äußerlichkeit des mosaischen Gesetzes und seiner Bestimmungen wird von Christus nach innen gewendet und auf das Doppelgebot der Liebe konzentriert. Was aber das Evangelium betreffe, so diene es im Wesentlichen der moralischen Motivation, insofern es die geforderte Erfüllung des Gesetzes mit Verheißungen versehe und himmlische Belohnungen in Aussicht stelle. Wie sein irdischer Erzmagister verfährt auch der göttliche Schulleiter päda­ gogisch: Er setzt die evangelischen promissiones als motivierende Impulse zur Realisierung sittlicher Vorschrift ein. Die Vergewisserung der Verlässlichkeit göttlicher Verheißungen hinwiederum leistet vornehmlich die Anschauung des Geschicks Jesu Christi. Er, der in absoluter Sündlosigkeit die Werke des Gesetzes erfüllte und in seinem Sterben ein unübertreffliches Beispiel der Gesetzestreue gab (so dass sich in seinem Tode gleichsam seine moralische Selbstverwirklichung vollendete), wird zur Belohnung durch die Auferweckung, näherhin durch die Himmelfahrt, in sein königliches Amt eingesetzt, wobei ihm Gott in der Weise der Übertragung Anteil

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gibt an seiner göttlichen Allmacht. Entsprechendes ist den Schülern Jesu Christi in Aussicht gestellt, die konsequent auf den vom Meister der Schule vorgezeichneten Bahnen der Sittlichkeit wandeln. Die gesamte sozinianische Christologie ist unter der Prämisse ihrer Aneigenbarkeit durch menschliche Subjektivität gestaltet. Nichts hat in ihr bleibenden Bestand, was nicht in den moralischen Nachvollzug überführt werden kann; sie ist ganz und gar auf imitatio Christi angelegt. Die menschliche Freiheit zur Nachahmung wird ungeachtet hamartiologischer Bedenken vorausgesetzt. Doch ist die Freiheit des Menschen ihrem sozinianischen Begriff nach erst im Werden begriffen, wie das Beispiel Adams belegt. Der anfängliche Mensch ist in jeder Hinsicht ein Kind. Dass der Protoplast den Tieren und seiner Frau Namen gegeben hat, gilt den Sozinianern als nichts Besonderes, denn das hätte jeder „quantusvis stupidus“ (BFP II, 296, Sp. 2), jeder noch so Dumme auch gekonnt. Auch das moralische Vermögen des Protoplasten ist noch recht mangelhaft. Der Begriff der „iustitia originalis“ wird ausdrücklich infrage gestellt: „Justitia“, heißt es, „non est perfectio hominis naturalis, sed voluntaria. Quare non potuit eam homo in creatione nancisci: sed si libero arbitrio liberaque voluntate, qua praeditus erat, recte usus fuisset, eam adeptus esset.“ (BFP I, 540, Sp. 1) Adam galt den Sozinianern in jeder Hinsicht als Anfänger, als Kind, als – sit venia verbo – Naturbursche. Seine Eva hinwiederum kann man am treffendsten als Unschuld vom Lande bezeichnen. Warum ist das so? Antwort: Die Despektierlichkeit dem Urvater Adam und der Urmutter Eva gegenüber ist eine Konsequenz des sozinianischen Begriffs der Freiheit. Freiheit meint kein natürliches Datum, sondern eine auf perfectio voluntaria hingeordnete Anlage. Auf ihre Weise antizipieren die Sozinianer, was Herder später die werdende Gottebenbildlichkeit des Menschen genannt hat. Die Freiheit des Menschen ist kein Naturdatum, sondern im Werden begriffen und nur als eine im Werden begriffene zu begreifen. Dass dem moralischen Fortschritt des Menschen Hemmungen entgegentreten, darf nicht übermäßig stören. Die Widerständigkeit der Sünde gilt dem Sozinianismus als grundsätzlich überwindbar; die klassische Lehre von der Erbsünde wird abgelehnt. Damit ist die grundsätzliche Überle­ genheit moralischen Tuns der Sünde gegenüber ausgemacht, zumal da gilt, dass die göttliche Hilfe mit Notwendigkeit, wo ein Wille ist, auch Wege schafft. Es verwundert nicht, dass dem Sozinianismus Glaube mit werktätigem Gehorsam und Rechtfertigung mit Heiligung zusammenfällt. Näherhin zeigt sich, dass auch der Vorsprung Christi dem moralischen Wandel der Menschen gegenüber nur ein gradueller ist. Wo sich menschliche Moralität vollendet, ist sie von derjenigen Christi nicht mehr zu unterscheiden. So holt die sozinianische Anthropologie die Christologie und mit ihr die Theologie zuletzt in sich ein. Der sozinianische Lehrbegriff kann dargestellt werDe Jesu Christi Servatore den, ohne dass vom sog. priesterlichen Amt Jesu Christi die Rede sein müsste. Die traditionellen Bestände der Lehre vom munus sacerdotale verfallen denn auch restlos der Kritik. Dies belegt in wünschenswerter Klarheit die 1578 in Basel geschriebene, allerdings erst

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sechzehn Jahre später gedruckte Schrift des sozinianischen Gründervaters Fausto Sozzinis „De Jesu Christo Servatore“ (vgl. BFP II, 115–246). Alles, was die So­ zinianer sonst noch zum Thema geschrieben haben, liegt tendenziell auf dieser Linie: Eine stellvertretende Satisfaktion im Sinne der Kirchenlehre ist „weder nothwendig noch möglich“ (Fock, 615). Die Notwendigkeit einer stellvertretenden Genugtuung Jesu Christi für die Sünden der Menschheit bzw. eines entsprechenden Straf- und Sühneleidens wurde seit Anselm in der Regel mit dem Hinweis auf die Gerechtigkeit Gottes begründet. Wollte Gott gerecht bleiben und die sündige Menschheit dennoch erlösen, musste ein stellvertretendes Sühnopfer geschehen. Dem widersprechen die Sozinianer und zwar aus dezidiert theologischen Gründen. Gott ist einer und als solcher absoluter Herr, dessen Wille sich selbst einziger Grund und Gegenstand ist. Gott kann mithin wollen, was immer er will. Er kann mithin auch in souveräner Manier das sündige Menschengeschlecht sola misericordia und ohne das Kreuzesopfer Jesu Christi erlösen. Die göttlichen Eigenschaften der rectitudo und aequitas stehen dem nach sozinianischem Urteil nicht entgegen. Denn beide Begriffe umschreiben lediglich die Annahme, dass Gott unmittelbar sich selbst gleich und nur sich selbst verpflichtet sei. War Gott bei Anselm, dem mittelalterlichen Herrscher vergleichbar, gemäß dem ordo-Gedanken, der zugleich Gottes honor und dignitas bestimmt, Garant für die Ständigkeit der Rechtsverhältnisse in seinem Reich, so ist der sozinianische Gott einem absoluten Souverän zu vergleichen, der nach seinem Belieben Recht setzt und exekutiert. Das hat u. a. zur Folge, dass die Sünde nicht mehr als Verletzung der öffentlichen Ordnung, sondern als bloße Privatehrenbeleidigung Gottes gilt, deren Bestrafung dessen reine Privatsache ist. Stand beim Anselm’schen iustitia-Gedanken die Ordnung des Universums – der Kosmos – auf dem Spiel, so bewegt sich die sozinianische Idee der Gerechtigkeit weitgehend in der Sphäre des Privatrechtlichen. Gesetzt den Fall, so argumentieren die Sozinianer weiter, Gott hätte, obgleich ihn nichts dazu nötigen konnte, das Kreuzesopfer nun doch gewollt, was ja aufgrund des arbiträren Charakters seines Willens als durchaus möglich erscheint und durch das Fehlen der Notwendigkeit nicht ausgeschlossen ist, so hätte er sich damit einen Widerspruch in sich selbst eingehandelt, jedenfalls dann, wenn ein Zusammenhang zwischen Satisfaktion und Sündenvergebung vorausgesetzt wird. Denn satisfactio und remissio stehen in einem kontradiktorischen Gegensatz zueinander. Wo nämlich Genugtuung ist, da bedarf es keiner Vergebung, denn die Schuld ist getilgt, wo aber Vergebung ist, da bedarf es keiner Genugtuung, denn die Schuld wird erlassen. In diesem Sinne hatte einst schon Boso bescheiden bei Anselm angefragt: „Si … solvimus quod debemus: cur oramus ut dimittat? Numquid deus in­ iustus est, ut iterum exigat quod solutum est?“ (Anselm I, 19) Anselm hatte darauf geantwortet, dass die Bitte um Vergebung durchaus zur Abzahlung hinzugehöre. Im Gegensatz zum artigen Boso gaben sich die Sozinianer mit dieser Antwort nicht zufrieden, hielten vielmehr entschieden an ihrer Kritik fest: „Remittere peccata, & sibi pro ipsis vere satisfieri, plane contraria sunt, nec ulla ratione simul consistere queunt.“ (BFP I, 568, Sp. 1)

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Nach sozinianischem Urteil ist das stellvertretende Kreuzesopfer Jesu Christi nicht nur nicht notwendig, weil Gott auch ohne es vergeben kann, es ist auch nicht möglich, weil es den Rationalitätsgrundsatz verletzt, der bereits zur Ablehnung der Trinitätslehre geführt hatte: Eines ist mit sich selbst identisch und kann nicht an die Stelle eines anderen treten oder durch ein anderes in dem, was es ist, vertreten werden. Die klassische Satisfaktionstheorie hatte in all ihren Varianten zur Grundlage das Schema der Stellvertretung. Ebendies aber bestreiten die Sozinianer aus logischen und moralischen Gründen, dass im menschlichen Leben Stellvertretung stattfinden könne. Die in sich gegründete Selbständigkeit des Menschen lässt die Übertragung des Eigenen auf einen anderen nicht zu. Suum cuique – das ist der Elementargrundsatz sozinianischen Rechtsempfindens. Gerechtigkeit teilt jedem das Seine zu; hingegen muss es als widersinnig beurteilt werden, die Gerechtigkeit oder das Unrecht des Einen auf einen anderen übertragen zu wollen. Zwar könne es einen Sachaustausch geben; Schuld hingegen sei definitiv keine trans­missible Verbindlichkeit, wie Kant später sagen wird. Während, um das beliebteste sozinianische Demonstrationsbeispiel zu wählen, eine Geldstrafe dem Schuldner vom Gläubiger oder einem Bürgen gegebenenfalls abgenommen werden kann, ist dies für körperliche Strafen und nachgerade für solche ausgeschlossen, die es mit persönlicher Schuld zu tun haben. Dass Christus die Schuld anderer getragen und abgebüßt habe, muss daher als ein in sich unmöglicher Vorgang erachtet werden. Der Haupteinwand gegen den Gedanken stellvertretender Satisfaktion bzw. stellvertretenden Strafleidens ist damit benannt. Aber selbst unter der fiktiven Voraussetzung, der Stellvertretungsgedanke sei denkbar, entbehrt seine traditionelle Verwendung nach sozinianischer Auffassung jeder inneren Stringenz. Denn da Christus einer ist, kann er unmöglich den Tod vieler übernehmen. Jeder einzelne Sünder bräuchte vielmehr seinen persönlichen Erlöser, und so müsste die Anzahl der Erlöser gleich denen der Sünder sein. In struktureller Entsprechung zur Kritik an der satisfactio passiva steht diejenige an der satisfactio activa: Die Erfüllung des Gesetzes hat jeder für sich selbst zu leisten, als ureigene Handlung und Tat. Gesetzt, dem wäre nicht so, bedürfte immer noch jeder zur Gesetzeserfüllung Verpflichteter eines eigenen Stellvertreters. Unendlich viele wären mithin vonnöten, was erkenntlich auf vollkommenen Unsinn hinausläuft. Summa summarum: Nach sozinianischem Urteil ist weder die aktive noch die passive Gerechtigkeit übertragbar. In Sünden- und Schuldangelegenheiten hat jeder für sich selbst einzustehen. Dass ein anderer als derjenige, welcher sie verschuldet hat, für persönliche Sündenschuld haftet, gilt als widervernünftige und unsittliche Annahme: „Quid enim iniquius, quam insonentem pro sontibus punire, praesertim cum ipsi sontes adsunt, qui ipsi puniri possunt?“ (BFP I, 570 Sp. 2) Wie u. a. sein Lehrer Albrecht Ritschl hat Ernst Troeltsch in seinem Werk über „Die Soziallehren der christlichen Lehren und Gruppen“ den Sozinianismus als „humanistische Theologie“ (Troeltsch, 870) qualifiziert, dessen Gemeinschaften „mehr Aehnlichkeit mit der Schule“ (Troeltsch, 871) hatten als mit einem kirchWider Stellvertretung und Satisfaktion

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lichen Verband. Gelehrt werde in den sozinianischen Schulen nach Maßgabe ihres Gründervaters Fausto Sozzini, der „die Ethik der Dogmatik gleich(gestellt)“ (Urban, 602) hatte, vorzugsweise die in den Geboten Gottes und seines Christus enthaltene Moral, die hinwiederum im Sinne einer natürlichen, besser gesagt: vernünftigen Gerechtigkeit verstanden werden. Auf ihre Weise markieren die Sozinianer so eine erste Station im Übergang „vom alteuropäischen Naturrecht zum neuzeitlichen Vernunftrecht“ (Wagner, 163), worauf in einem Epilog noch eigens aufmerksam zu machen ist, um erstens ein weiteres Beispiel ihrer geistesgeschichtlichen Wirkmacht zu geben und zweitens auch in dieser Hinsicht den Zusammenhang mit Hugo Grotius herauszustellen, dessen „Defensio fidei catholicae de satis­ factione adversus Faustum Socinum Senensem“, von der sogleich zu reden sein wird, mit dem vermeintlichen Gegner in vieler Hinsicht mehr gemeinsam hat als mit der verteidigten Lehre. Was es mit dem sog. Naturrecht auf sich hat, ist schwerer zu sagen als man meint. Schon das Wort Vom Naturrecht zum selbst „steht für einen weiten, undifferenzierten Be- Vernunftrecht griff. Eine Auseinandersetzung mit dem sachlichen Anliegen des Naturrechts setzt voraus, daß die vielfachen Bedeutungen beider Bestandteile des Wortes geklärt werden.“ (Ricken, 132) Der terminologiehisto­rische Befund fällt, wie nicht anders zu erwarten, äußerst komplex aus. Sowohl der Begriff der Natur als auch derjenige des Rechts samt dem jeweils dazugehörigen griechischen und lateinischen „Äquivalent“ werden im Laufe der Geschichte ihrer Verwendung mit recht unterschiedlichen Bedeutungen versehen, und auch die Kombination beider Begriffe fällt keineswegs durchweg einheitlich aus. Als Resultat ergibt sich offenbar, Naturrecht sei, was man jeweils dafür hält, also ein Titel ohne sinnidentischen Gehalt. Doch scheint es nichtsdestoweniger inhaltliche Konstanten zu geben, die sich dauerhaft mit diesem Titel verbinden. Nach Friedo Ricken, der in der Theologischen Realenzyklopädie einen Überblick über die altkirchlichen, mittelalterlichen und römisch-katholischen Interpretationen des Naturrechts gegeben hat, ist für dieses der „Gedanke des religiösmetaphysischen Ursprungs sozialer Normen“ (ebd.) wesentlich. Ob der Naturrechtsgedanke nun kosmologisch im Sinne einer alles umfassenden Weltordnung, ontologisch im Sinne eines Wesens allen Seins oder rationalistisch im Sinne eines universal verbindlichen Vernunftgesetzes begriffen werde, stets sei für ihn die Unterscheidung von einer willkürlichen Setzung kennzeichnend. Dies verbindet den Naturrechtsgedanken mit dem, was im naturwissenschaftlichen Sinne Naturgesetz heißt. Doch darf man daraus kein naturalistisches Verständnis des Naturrechts folgern. Denn es gehört, wenn man so will, zur Natur des Rechts, von der naturalen Natur unterschieden zu sein. Die Gesetze des Naturrechts sind daher naturgemäß anderer Art als diejenigen der Natur, obwohl durch diese Feststellung nicht jeder Vergleich beider ausgeschlossen ist. Für die Entwicklung des neuzeitspezifischen Naturrechts, die Falk Wagner in einem eigenen TRE -Artikel dargestellt hat, bildet der Zerfall der relativen Einheits-

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Die sozinianische Kritik der orthodoxen Kirchenlehre

kultur im Prozess der Konfessionalisierung der westlichen Christenheit die Ausgangsbasis: „Das ius naturae geht im Zuge seiner parteilich-konfessionellen Auslegung seines unverfügbar-überpositiven Charakters verlustig. Diese konfessionelle Partikularisierung stellt daher eine entscheidende Entstehungsbedingung für das spezifisch neuzeitliche Naturrecht dar, das die gegenüber positiv-christlichen Tra­ ditionen und theologischen Autoritäten sich verselbstständigende (Sozial- und Rechts-)Philosophie und Jurisprudenz als Vernunftrecht neu begründen. Dieses seit dem 17. Jh. geschaffene und im 18. Jh. endgültig entfaltete Vernunftrecht zielt mit der Grundlegung des Rechts zugleich auf die Aufbauprinzipien der Staats- und Gesellschaftsverfassung, die insbesondere im Zuge der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution auch politisch verwirklicht und positiviert werden.“ (Wagner, 154) Frühe Beispiele für die „Tendenz zur enttheologisierGrotianische Defensio ten Verselbstständigung des Naturrechts“ (Wagner, 166) bieten Hugo Grotius, Samuel Pufendorf oder Christian Thomasius, um nur diese zu nennen. Unbeschadet dessen und unbeschadet der Positivierung naturrechtlicher Grundsätze im staatlichen Recht bleibt der überpositive Charakter des Naturrechts erhalten. Auch später, etwa in der klassischen deutschen Philosophie des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, fungiert das Natur- bzw. Vernunftrecht „als Beurteilungs- und Kontrollinstanz des positiven Rechts“ (Wagner, 167). Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts kam es „zu einer zunehmenden Delegitimierung vernunft- und naturrechtlicher Konzeptionen“ (Wagner, 154). Der Rechts- und Gesetzespositivismus wird führend, der durch Hans Kelsens „Reine Rechtslehre“ seine „konsequenteste Begründung“ (Wagner, 172) erfahren hat. Wie diese Begründung ausfällt und welcher Erfolg den Bemühungen um eine Renaissance des Naturrechts nach 1945 hierzulande und anderwärts beschieden war, ist im gegebenen Zusammenhang nicht weiter zu erörtern. Erinnert werden sollte lediglich an die Bedeutung, welche den Sozinianern nicht zuletzt in Bezug auf die Transformation des alten Naturrechts in ein modernes Vernunftrecht zukam. Dass besagter Transformationsprozess fließend erfolgte, bestätigt auf seine Weise auch Grotius, dessen „Hauptwerk von 1625 De Jure Belli ac Pacis einen noch zögerlichen und durch den Eklektizismus scholastisch-aristotelischer, humanistischer, reformatorischer und stoisch-ciceronianischer Elemente gebremsten Übergang zum neuzeitlichen Vernunftrecht widerspiegelt“ (Wagner, 163). Doch mag gerade seine Zögerlichkeit dazu beigetragen haben, dass dem Werk des Grotius jene große Wirkung zuteil wurde, die es auszeichnet. Auch seine ihrem Titel gemäß antisozinianische, in Wahrheit dem Sozinianismus inhaltlich in vielem verbundene „Defensio fidei catholicae de satisfactione“ gibt zu dieser Vermutung begründeten Anlass.

10. Versöhnung durch Moral: Von Grotius zu Kant Lit.: K. Aner, Die Theologie der Lessingzeit, Halle 1929. – K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 1947. – F. Chr. Baur, Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung von der ältesten Zeit bis auf die neueste, Tübingen 1838. – J. Baur, Salus Christiana. Die Rechtfertigungslehre in der Geschichte christlichen Heilsverständnisses. Bd. 1: Von der christlichen Antike bis zur Theologie der Aufklärung, Gütersloh 1968. – W. Bender, Johann Konrad Dippel. Der Freigeist aus dem Pietismus. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Aufklärung, Bonn 1882. – A. Beutel, Walser, Paulus und die Liebe. Und zugleich: Eine merkwürdige literarische Barth-Renaissance, in: Pastoraltheologie 103 (2014), 418–429. – F. Dexinger u. a., Ist Adam an allem schuld? Erbsünde oder Sündenverflochtenheit?, Innsbruck / Wien / München 1971. – J. C. Dippel, Eröffneter Weg zum Frieden mit Gott und allen Creaturen etc., 3 Bde., Berleburg 1747. – J. Ph. Gabler, Ueber die Frage: ob die Socinianer auch zu den Protestanten gehören?, in: J. Ph. Gablers kleinere theologische Schriften, hg. v. Th. A. Gabler und J. G. Gabler, 1. Bd., Ulm 1831, 554–569. – P. Gastrow, Joh. Salomo Semler in seiner Bedeutung für die Theologie mit besonderer Berücksichtigung seines Streites mit G. E. Lessing, Gießen 1905. – H. Grotius, Defensio fidei catholicae de satisfactione adversus Faustum Socinum Senensem, in: Ders., Opera Omnia Theologica (1679). Tom. III, Stuttgart / Bad Cannstatt 1972, 293–338. – A. Heit, Versöhnte Vernunft. Eine Studie zur systematischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens für Kants Religionsphilosophie, Göttingen 2006. – E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. 5 Bde., Darmstadt 51975. – I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hg. v. K. Vorländer. Unveränderter Abdruck der 6. Auflage von 1956, Hamburg 1961. – R. Koselleck, „Neuzeit“. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, 300–348. – L. Kratzert, „Freund, lass uns geistlich und gerade so recht denken!“ Barths Streit um die Sache der Theologie mit der Schweizer Liberalen Theologie um 1935, in: ThZ 70 (2014), 193–207. – A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Erster Band: Die Geschichte der Lehre, Bonn 41903. – St. Schaede, Stellvertretung. Begriffsgeschichtliche Studien zur Soteriologie, Tübingen 2004. – J. Schollmeier, Johann Joachim Spalding. Ein Beitrag zur Theologie der Aufklärung, Gütersloh 1967. – J. Schlüter, Die Theologie des Hugo Grotius, Göttingen 1919. – D. F. Strauß, Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft. 2 Bde., Tübingen / Stuttgart 1841. – E. Troeltsch, Das Historische in Kants Religionsphilosophie (1904), in: Ders., Kritische Gesamtausgabe Bd. 6: Schriften zur Religionswissenschaft und Ethik (1903– 1912). Hg. v. T. Rendtorff, Berlin / New York 2013, 865–1078.  – G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit. 2 Bde., München 1984/86.  – M. Werner, Das Prinzip der liberalen Theologie in der Gegenwart, in: SThU 6 (1936), 53–72. – D. Wolf, Die Irenik des Hugo Grotius, Marburg 1969.

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In anabaptistischen, spiritualistischen und in den Kreisen derer, die man später die Linksprotestanten nannte, machte einst der Satz die Runde, es gehe nicht an, dass der Christ „auf Christi Kreide zeche“ (vgl. Ritschl, 314 ff.). Die Sozinianer haben diese Sentenz zum Grundsatz erhoben und den Stellvertretungsgedanken aus theoretischen Gründen und aus Gründen praktischer Sittlichkeit verworfen. Es sei wider alle Vernunft, einen für die Schuld eines anderen leiden zu lassen und die Gerechtigkeit des Unschuldigen dem Schuldigen zuzurechnen. Schuld ist keine übertragbare Verbindlichkeit. So wie jeder seinen eigenen Tod sterben müsse, so habe er auch selbst die Strafe für seine Verfehlungen zu ertragen, jedenfalls dann, wenn durch diese nicht lediglich ein Sachschaden angerichtet worden sei, der sich durch Einsatz von Sachmitteln beheben lasse. Geldschulden müssten nicht notwendigerweise durch jenen beglichen werden, der sie angehäuft habe; persönliche Schuld hingegen hänge an ihrem Verursacher und lasse sich nicht veräußern, weil sie das Innerste dessen angehe, der sich verschuldet habe. Durch die Doktrin einer stellvertretenden Genugtuung und eines vikarischen Strafleidens Jesu Christi sahen die Sozinianer die moralisch-sittliche Identität und Personalität des Menschen, die Unentschuldbarkeit und Haftbarkeit des In­ dividuums für seine Tat verletzt. Damit verschaffte sich im soteriologischen Lehrzusammenhang eine in dieser Deutlichkeit bisher nicht vernommene Stimme Gehör, nämlich die Stimme der ihrer Eigenständigkeit gewissen und auf ihr beste­ henden menschlichen Subjektivität. Durch die Sozinianer ist in der Geschichte der Versöhnungs- und Erlösungslehre der terminus a quo einer neuen Zeit markiert. Man nennt sie gewöhnlich die Neuzeit. Zwar hat sich der Neuzeitbegriff „erst durchgesetzt, nachdem rund vier Jahrhunderte vergangen waren, die er als Einheit umfassen sollte“ (Koselleck, 302 f.); lexikalisch ist er erst im letzten Viertel des 19.  Jahrhunderts breit bezeugt. Doch muss das nicht weiter erstaunen: „Jede Periode kann erst nach einem gewissen Verlauf auf einen diachronen Nenner, auf einen Begriff gebracht werden, der gemeinsame Strukturen bündelt.“ (Koselleck, 304) Zur formalen Eigenart des Kompositums „Neuzeit“ gehört, dass es die von ihr geleistete Zusammenfassung vielfältiger historischer Erscheinungen inhaltlich gänzlich unbestimmt lässt. „Der Ausdruck selber qualifiziert nur die Zeit, und zwar als neu, ohne über den geschichtlichen Gehalt dieser Zeit, gar als einer Periode, Auskunft zu geben. Die Formalität dieses Ausdrucks gewinnt ihren Sinn zunächst aus dem Kontrast zur vorangegangenen, zur ‚alten‘ Zeit, oder, soweit er als Epochenbegriff verwendet wird, aus dem Kontrast zu den Bestimmungen vorausgegangener Zeitalter.“ (Ebd.) In diesem Sinn dient der Begriff „Neuzeit“ primär der Selbstunterscheidung und erhält seine Kontur durch Kontrastierung. Die Sozinianer erwiesen sich unter diesem Gesichtspunkt betrachtet als zwar frühe, aber doch typische Vertreter der Neuzeit, sofern sie ihr System primär durch Gegensätze profilierten und eher durch ihre Kritik als durch den konstruktiven Charakter ihrer Lehre bedeutsam geworden sind. Frühe Neuzeit

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Alle sozinianischen Lehrinhalte sind im Wesentlichen durch ein und dasselbe Interesse bestimmt: Selbsttätige Subjektivität der moralischen Selbsttätigkeit des individuellen Subjekts die nötige Geltung zu verschaffen. Nach Maßgabe dieses praktischen Erkenntnisinteresses wurden von den Sozinianern die Lehrbestände der Tradition rezipiert und kritisiert. So gewinnt im sozinianischen System „das Subjekt eine Selbstständigkeit, eine Macht und Bedeutung“ (F. Chr. Baur, 371), die es auf dem Standpunkt der Reformation sowie der mittelalterlichen und antiken Kirche „nicht haben kann. Es hat schon in seinem unmittelbaren Selbstbewußtseyn den Inhalt, welcher ihm als die an sich seyende Wahrheit gelten soll.“ (Ebd.) Ähnlich wie Ferdinand Christian Baur urteilt Albrecht Ritschl, der zweite große Historiograph der Lehrgeschichte der Soteriologie: Zwar ist ihm sehr daran gelegen, ein massives Einwirken skotistischer und ockhamistischer Gedanken auf die sozinianische Bewegung nachzuweisen und zu zeigen, dass das theologische Prinzip der uneingeschränkten Willkür Gottes, welches das nominalistische System bestimmt habe, „durch Bernardino Ochino wirksam auf Laelius Socinus und weiter auf dessen Neffen Faustus geworden“ (Ritschl, 320) sei. Doch trotz seines Bestrebens, den Sozinianismus als Folge spätmittelalterlicher Entwicklungen zu kennzeichnen, ist Ritschl der epochale Neuansatz nicht verborgen geblieben, der sich im sozinianischen System zur Geltung bringt. Er entdeckte ihn vorzugsweise im Verständnis der Kirche als Schule, dem auch nach seinem Urteil ein bisher nicht gekanntes Insistieren auf der Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit menschlicher Subjektivität zugrunde lag. Die Sozinianer haben sich als die konsequenten Vollstrecker der Reformation und als die Initiatoren einer neuen Zeit verstanden, der zentrale Teile der Lehrüberlieferung als alt und vergangen erscheinen mussten. Betroffen waren neben dem trinitarischen vor allem das christologische Dogma und in seinem Zusammenhang insbesondere die überlieferte Lehre vom Werk Jesu Christi. Die sozinianischen Einwände gegen sie haben auf die Zeitgenossen Eindruck gemacht, und selbst erklärten Verteidigern der überkommenen Kirchenlehre ist es schwer gefallen, sich der Argumentationstendenz zu entziehen, die ihre Gegner eingeschlagen hatten. Am besten belegen lässt sich dies am Beispiel der „Defensio fidei catholicae de satisfactione adversus Faustum Socinum Senensem“, die der berühmte Rechtsgelehrte Hugo ­Grotius 1614 entworfen und drei Jahre später publiziert hat. Grotius war trotz für ihn sehr bedrohlicher Verwicklungen in die arminianischen Streitigkeiten (vgl. im Einzelnen Wenz I, 128 ff.) ein großer Ireniker vor dem Herrn, der die zerstrittenen Parteien seiner Zeit im Zentrum dessen vereinigen wollte, was ihm als der allgemeine christliche Glaube galt, um so den Stellenwert der kontroversen Auffassungen zu relativieren (vgl. Wolf). Dieses Programm verfolgte er auch in seiner „Defensio“. Gott, so die Ausgangsthese, sei in allen hamartiologischen und soteriologischen Angelegenheiten Defensio fidei catholicae nicht als Privatperson bzw. unter privatrechtlichen Gesichtspunkten, sondern als rector und princeps mundi, also unter öffentlichrechtlichen Aspekten in Betracht zu ziehen. Dies werde von den Sozinianern ver-

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kannt. Zwar sei Gott durch die Schuld der Sünde auch unmittelbar an sich selbst betroffen; doch lasse sich dadurch sein Recht zu strafen bzw. genugtuende Sühne zu fordern, nicht begründen. Das „punire aut impunitum dimittere“ stehe ihm nur als Leiter der Rechtsgemeinschaft zu: „Si punit Deus & poenam tollit ut Princeps, non ergo ut pars offensa. Non potest enim idem duobus diversis tribui qua ­talibus. Interim non negamus Deum, qui peccata punit, vel impunita dimittit, recte dici partem offensam; sed punire, aut impunitum dimittere, ei tribui qua pars offensa est, negamus“ (Grotius, 307,1). Die Sache verhält sich so: „sicut Iurisconsultus canit, non qua Iurisconsultus, sed qua Musicus.“ (Ebd.) Nach der Beantwortung der Frage, „quomodo in hoc negotio (sc. dem Versöhnungsgeschehen) Deus considerandus sit“ (vgl. Grotius, 306 ff.), wendet sich ­Grotius dem Problem zu, „qualis sit Deus actus in hoc negotio“ (vgl. Grotius, 310 f.). Es gilt die Anselm’sche Maxime, dass aus Gründen des öffentlichen, die Ordnung des gottgeschaffenen Kosmos betreffenden Rechts Gott nichts ungeordnet lassen könne in seinem Reich. Sündenschuld müsse demnach geahndet werden. Denkbar sei aber eine „legis relaxatio sive dispensatio“ (vgl. Grotius, 310), „die Aufhebung des in Geltung bleibenden Gesetzes für den einzelnen Fall“ (Schlüter, 38). Eine solche Ausnahme ist nach Grotius rechtlich möglich und hebt die Allgemeingeltung der Gerechtigkeit nicht auf, sofern gute Gründe vorliegen und klar ist, dass das Abweichen von der Regel diese nicht aufhebt, sondern bestätigt. Um letzteres zu gewährleisten, räumt Gott zwar um der Errettung seiner gefallenen Menschengeschöpfe willen „legis relaxatio sive dispensatio“ ein, verzichtet aber nicht völlig auf jedwede Bestrafung. Gott will dem sündigen Menschen Nachlass und Dispens zuerkennen, zugleich aber ein Strafexempel statuieren, damit seiner Gerechtigkeit Genüge getan, Genugtuung verschafft werde. Die exemplarische Bestrafung anstelle des sündigen Menschengeschlechts wird am sündlosen Jesus Christus vollzogen, was Grotius als ein unübertreffliches Zeichen göttlicher Weisheit wertet. Zur bisher ungeklärten Voraussetzung hat die groStrafexempeltheorie tianische Argumentation, dass die Statuierung eines Strafexempels nicht per se ungerecht sei. Wegen der Dringlichkeit dieser Frage hat Grotius ihr ein ganzes Kapitel seiner Untersuchung gewidmet. Dass es unrecht sei, einen für ein fremdes Delikt leiden zu lassen, „negat Scriptura, quae Deum hoc saepius fecisse ostendit: negat natura, quia vetare non probatur, negat aperte consensus Gentium“ (Grotius, 315,1). Die Begründung folgt anschließend in Form rhetorischer Fragen: „… quis injustam putat decimationem usitatam in Romanis legionibus, ubi is qui deliquit, & cui posset ignosci non minus quam alteri, punitur non pro suo tantum, sed pro omnium delicto? quis injustum putet, si Summa Potestate legem relaxante vir aliquis Reipublicae utilis, sed ob culpam exilium meritus, retineatur in Republica, alio tamen sponte sua se ad exilium obligante, ut exemplo satisfiat?“ (Ebd.) Die Selbstverständlichkeit, mit der Grotius voraussetzt, dass sich diese Fragen von selbst beantworten, mag unser Rechtsempfinden überraschen. Für ihn ist evident, dass die Statuierung eines Strafexempels rechtens und gerecht ist, wenn „aliqua conjunctio“ (Grotius, 312,2; vgl. 313,1),

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irgendeine Verbindung zwischen Schuldigem und Bestraftem bestehe. „Conjunctio autem haec est aut naturalis, ut inter patrem & filium; aut mystica, ut inter Regem & populum; aut voluntaria, ut inter reum & fidejussorem“ (313,1). Im Falle Christi trifft nach Grotius all dies zu: er hat unser Fleisch angenommen, verhält sich zu uns wie das Haupt zu den Gliedern und hat sich freiwillig an unsere Stelle gesetzt (vgl. 312,2 u. a.): Dass Christus an unserer statt die Sündenstrafe erleidet, ist also gerecht. Das an Christus statuierte Strafexempel hat nach Grotius nicht stricte dictu den Charakter einer „solutio“, einer vollständigen Erledigung der Strafverpflichtung, sondern denjenigen einer „satisfactio“, welche nach der juristischen Definition, die Grotius ihrem Begriff gibt, als „quaevis solutio“ die bestehende „obligatio legis“ nur unter der Voraussetzung der Zustimmung des Gläubigers bzw. des gerechten Reichsregenten, im gegebenen Fall also Gottes als des rector et princeps mundi bewirkt. Gott musste das an Christus statuierte Exempel als satisfaktorischen Strafersatz eigens anerkennen, um ihm Geltung zu verschaffen. Daher könne auch entgegen anders lautenden Behauptungen der Sozinianer zwischen satisfactio und göttlicher remissio peccatorum unterschieden werden. Diese Unterscheidung ist Grotius zufolge nicht zuletzt deshalb sinnvoll und notwendig, weil nach Gottes Verfügung die für die vollständige Befreiung von den Straffolgen der Sündenschuld erforderliche „remissio“ erst dann eintreten soll, „wenn die über Christo verhängte Strafe ihren Zweck erreicht (hat) und die Menschen an diesem Strafexempel den Zorn Gottes über die Sünde erkannt (haben) und dadurch zur Buße geführt (sind)“ (Schlüter, 41). Demgemäß gilt: „Satisfactio enim non jam sustulerat debitum, sed hoc egerat ut propter ipsam debitum aliquando tolleretur.“ (Grotius, 320,2) Remissio peccatorum wird nach Grotius auf der Basis der durch Jesus Christus geleisteten satisfactio Satisfactio und solutio von Gott nur dann gewährt, wenn der Mensch sich durch das Strafexempel von der Bosheit der Sünde abschrecken und auf den Weg der Besserung führen lässt. Moralischer Fortschritt wird so zur conditio sine qua non des Heils. Erst durch ethisches Tun ratifiziert der Mensch die dogmatische Vorgabe, die trotz des Verteidigungsversuchs, den er der orthodoxen Kirchenlehre zukommen lässt, bei Grotius durchaus anders ausfällt als in dieser. „Während die Kirchenlehre unter der satisfactio den Akt versteht, demzufolge Christus die äquivalenten Sündenstrafen erlitten, nennt Grotius satisfactio einen Akt, in dem der Schuldige oder dessen Stellvertreter non idem sed aliud leistet. Für den Akt, den die Kirche satisfactio nennt, hat er den Begriff solutio. Eine solutio liegt aber in dem Versöhnungswerk Christi nicht vor, da Christus nicht die ewigen Sündenstrafen erlitten hat.“ (Schlüter, 42) Damit aus der satisfactio solutio werde, bedarf es göttlicher Akzeptanz, die nur dann gewährt wird, wenn das Strafexempel Jesu Christi zum Motiv sittlicher Selbsttätigkeit des Sünders wird. Dieser Skopus vereint die Apologie der traditionellen Soteriologie mit dem moralischen Grundmotiv der Sozinianer, gegen die Grotius seine Verteidigungsschrift von Hause aus gerichtet hatte. Möglicherweise stärker noch als der Sozinianismus wurde die Theorie des Grotius

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Wegbereiterin aufgeklärter Trends und neologischer Gedanken in der Soteriologie, „da sie, ohne aus dem kirchlichen Rahmen herauszutreten, doch alle die Tendenzen des neuen Geistes in sich trug. So fand sie ihren Weg viel leichter in die Kirche als die Theologie der Sozinianer, die offen mit den kirchlichen Dogmen brach.“ (Schlüter, 118) Subjektivität ist der Epochenindex der Neuzeit (vgl. Wenz I, 33 ff.) Die Tendenz des neuzeitlichen Geistes ist durch die Hinwendung von der passiven, hinnehmenden Vernunft zur aktiven, hervorbringenden bestimmt. Das selbstbewusste Subjekt erkennt sich als Bezugspunkt und Voraussetzung aller Gehalte. Was sich so thesenartig als die Quintessenz und innere Einheit einer Epoche zusammenfassen lässt, ergibt sich doch erst aus einem langdauernden und in sich komplexen Umwandlungsprozess. Aus theologiegeschichtlicher Perspektive ist dabei besonders das spannungsvolle Zusammenwirken von Pietismus und Aufklärung interessant. Beide haben, zwar aus divergenten Motiven, oft aber auch unter sich kaum mehr unterscheidbar, das Ihre zur Herausarbeitung der Selbstständigkeit selbstbewusster Subjektivität beigetragen. Schon im Pietismus erklärt sich das selbstbewusste Pietistische Soteriologie Subjekt zur conditio sine qua non. Der ordo salutis verändert sich, das fromme, auf die Selbstgewissheit seiner Innerlichkeit gegründete Subjekt tritt ins Zentrum des Christentums, die Kategorie der Entscheidung wird führend, das Interesse richtet sich weniger auf die Wahrheit der Lehre denn auf die Wahrhaftigkeit der praxis pietatis, die Frage nach der Verfassung des Theologen wird der Frage nach der Sache der Theologie vorgeschaltet. Dem entspricht eine allgemeine Verfeinerung und Kultivierung des selbstzugewandten Individuums, wie sie sich u. a. in einer ausufernden Briefliteratur, biographischer und autobiographischer Produktion niederschlägt. Psychologie bestimmt die Predigt der Zeit. Sie zielt auf die Erziehung, Verwandlung und Wiedergeburt des Einzelnen. Die Innerlichkeit des individuellen Glaubens bildet schließlich auch das Konstitutionsprinzip seiner äußeren Verfassung. Der hergebrachte Kirchenbegriff ist in Auflösung begriffen: der sich anbahnenden Differenzierung von Staat und Gesellschaft entspricht die Trennung von Amts- und Bekenntniskirche. Die wahrhaft Gläubigen bilden in privater Übereinkunft freie Gemeinschaften mit tendenziell überkonfessionellem Charakter, in denen die Wiedergeborenen das geistliche Priestertum innehaben. Das individuelle Subjekt avanciert so zum durchgängigen Organisationsprinzip der Wirklichkeitsgestaltung. Den Erkenntniswert der idealtypischen Charakteristik schränkt der richtige Hinweis nicht ein, sie werde von der Realgeschichte des Pietismus nur bedingt bestätigt. Ihren Trend jedenfalls gibt sie zutreffend wieder. Für die pietistische Soteriologie bringt diese Entwicklung eine zunehmende Reserve gegenüber der Lehre einer imputativen Zurechnung der Gerechtigkeit Christi im Versöhnungsgeschehen mit sich. Ein entsprechender Vorbehalt war bereits bei den mystisch und spiritualistisch Gesinnten im Umkreis der Reformation gegeben und hatte sie neben den Sozi­ nianern in die Opposition gegen das kirchliche Satisfaktionsdogma geführt (vgl.

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F. Chr. Baur, 459 ff.). Namen wie Caspar von Schwenckfeld, Valentin Weigel und Jakob Böhme sind hier ebenso zu nennen wie etwa die Gemeinschaft der Quäker, die „The Inward Light“ zur Quelle und zum Prinzip der Versöhnung erhoben. In dieselbe Reihe gehört auch Johann Conrad Dippel, in dem sich Mystik und extremer oder, wenn man so will, konsequenter Pietismus vereinen, der aber ebensosehr in die Entstehungsgeschichte der Aufklärung gehört, insofern er „alle wesentlichen Ideen der deutschen Aufklärung folgerecht aus den pietistischen Postulaten entwickelt“ (Bender, 30). In Dippel konvergieren die bestimmenden Strömungen der Zeit. In der Theologiegeschichte lebt er Christianus Democritus als derjenige fort, „der als erster im deutsch-luthe­ rischen Kreise die Satisfaktions- und Imputationstheorie als Ganzes mit einer scharfen theologischen Einzelkritik umstoßen und durch eine völlig neue Fassung der Erlösungs- und Rechtfertigungslehre ersetzen wollte“ (Hirsch II, 283). Die Devise lautet: Vom „Christus vor resp. für uns“ zum „Christus in uns“. Sie könnte freilich ebenso lauten: Vom „Christus theoreticus“ zum „Christus practicus“. Denn Dippels Absicht, das Äußere nach Innen zu wenden, zielt nicht sosehr auf die plane Ruhe mystischer Innerlichkeit als vielmehr darauf, die äußerliche Objektivität des Heilsereignisses am Ort des Subjekts praktische Wirklichkeit werden zu lassen. Es „wäre Christus noch kein rechter Erlöser, wo er nur die Schuld dem himmlischen Vater wollte zahlen, und unterdessen den armen Menschen, der durch den Fall sich in das Reich der Finsterniß und den geistlichen ewigen Tod gestürtzt, in seinem Gefängniß unter der Gewalt der Sünden und des Satans liegen lassen. Dieses wäre gespottet; und diejenige Thoren, die Christum auf keine andere Art, als nur in seinem Genugthun und in der Vergebung der Sünden, wollen zum Erlöser und Heyland haben, haben nicht allein närrische und lästerliche Gedancken von dem Werck des Heyls in Christo Jesu, sondern empfinden auch noch nicht ihr äusserstes Verderben und Elend in wahrer Reu und Buß, wissen nicht, daß sie des Satans und des Todes Sclaven von Natur sind, sonst würde ihnen die Erlösung in der Vergebung der Sünden, und in der bloßen Imputation … des Verdienstes Jesu Christi, so abgeschmackt und närrisch vorkommen, so ungereimt und absurd es einem gefässelten und zum ewigen Gefängniß verurtheilten Dieb würde vorkommen, wann iemand zu ihm wollte kommen, und ihm dieses Evangelium predigen: es habe einer vor ihn die Schuld bezahlt, und seinen Herrn versöhnet, darauf soll er sich getrost verlassen, und sicherlich glauben, daß er wieder bey seinem Herrn in Gnaden stehe. Unterdessen sollte er dennoch die Zeit seines Lebens in dem Kärcker verbleiben, weil niemand zu ihm hinunter wollte steigen, und ihm die Bande auflösen …“ (Dippel I, 301). Auf einen Reim gebracht erschließt sich der Sinn der Dippel’schen Rede noch leichter: „So lerne nun den Weg: Weil du durch Lust verlohrn / Das Leben, so aus Gott, so führt dich Christi Leben / Durch einen Tod zurück: Du wirst nicht neu gebohrn, / Bis daß dein Eigen=Sinn sich an das Creutz gegeben, / Und, da in Gottes Zorn verschlungen und verzehrt, / Der Liebe machet Raum, die alles trägt und

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nährt. / Wer sich so bringen läßt, von Tod / durch Tod / zum Heyl, / Durch Christum, der in ihm das gantze Werck vollführet, / Der ist von Gott erwählt, und hat in seinem Theil / Die Herrlichkeit erreicht, die Gottes Kinder zieret. / In Christo steht die Wahl: Er ruft die gantze Welt, / Und wer sich finden läßt, den macht er auserwählt.“ (Dippel  I, 339) Der Protest wider die orthodoxe Lehre von der Imputation der Gerechtigkeit Jesu Christi mündet in einem Aufruf zu Orthopraxie und seligmachender Tat. In seiner „Vera Demonstratio Evangelica“ hat Dippel den konstruktiven Sinn seiner Kritik näher zu entwickeln versucht (vgl. im Einzelnen Wenz I, 162 ff.). Dippel, der sich Christianus Democritus nannte, weil er auf das äußere Gesicht Verzicht tut, um das Innere in den Blick zu nehmen, war als, wenn man so will, Extrempietist zu seiner Zeit ein Einzelgänger und eine Sondergestalt. Der allgemeine Verlauf der Dinge ging zögernder voran als es sein stürmisches Vorwärtsdrängen nahelegte. Doch war auch im gemäßigten Pietismus immer ein Element kritischer Aufklärung wirksam. Signifikanterweise vollzog sich die Ablösung der pietistischen Richtung der theologischen Fakultät zu Halle durch Aufklärung und Rationalismus bereits nach zwei Menschenaltern trotz anfänglichen Widerstandes zuletzt beinahe unbemerkt. Was hinwiederum die Haltbarkeit der orthodoxen Satisfaktionsund Imputationslehre anbelangt, so wurde sie bereits eine Generation nach Dippel selbst im Kreise derer angezweifelt, die als bewusste Lutheraner gelten wollten. In breiter Front hebt die Aufklärung in der ChrisAufklärung und Neologie tenheit Deutschlands an, als die Theologie mehr und mehr unter den Einfluss der Leibniz-Wolff’schen Philosophie gerät. „(E)in bestimmter materieller Einfluß aber, welchen sie auf die Behandlung des Satisfactionsdogma’s gehabt hätte, läßt sich, obgleich dieß öfters behauptet wird, nicht nachweisen.“ (F. Chr. Baur, 459) Darin ist Baur unbeschadet einzelner Hinweise Ritschls (vgl. Ritschl, 373 ff.; 383 ff.) aufs Ganze gesehen recht zu geben. Überhaupt hat das Leibniz-Wolff’sche System in kritischer Hinsicht eher sedativ gewirkt. So wurde es der Orthodoxie nicht allzu schwer gemacht, sich ihrerseits für die Ansprüche der Vernunft aufzuschließen und ohne übermäßigen Bruch in die Neologie überzugehen. Hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Rechtfertigungslehre hat Jörg Baur die Geschichte dieser Entwicklung im Einzelnen nachgezeichnet (vgl. J. Baur, 111 ff.). Seine Ergebnisse haben ihre Bedeutung auch für die Versöhnungslehre im engeren Sinne. Die Namen J. F. B. Buddeus, C. M. Pfaff, S. J. Baumgarten, J. L. v. Mosheim, J. G. Walch, J. S. Semler und J. J. Spalding markieren, ob vorwärtsdrängend oder eher konservativ, Stationen auf einem Weg, in dessen Verlauf mehr und mehr die menschliche Selbsttätigkeit zum Aktionsprinzip des Erlösungsgeschehens wurde. Für den Geist der theologischen Aufklärung sind die beiden Letztgenannten besonders signifikante Beispiele: Indem Semler die historische Genese der Dogmen und biblischen Gehalte aufweist, entlastet er die Gegenwart von deren unmittelbarem Anspruch. Das eröffnet die Möglichkeit, zwischen Religion und Theologie, allgemein relevanten Fundamentalartikeln und allein für kirchliche Amtsträger ver-

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bindlichen Lehren zu unterscheiden. Dem entspricht die Differenzierung von verfasster Kirche und freiem Christentum, das sich nicht durch äußere Gegebenheit, sondern durch private und durch den moralischen Vollzug qualifizierte Zustimmung zu den Wesensgehalten der Religion konstituiert. Neben die kirchlich gebundene Lehrart kann deshalb eine freie, an der selbsttätigen Beteiligung des Einzelnen orientierte Lehrart treten. Wenngleich Semler nie, auch nicht bei der Gegenüberstellung von natürlicher und geoffenbarter Theologie, strikte Alternativen intendierte, ist doch kritische Sonderung bestimmend für sein Unternehmen. In der Neologie bringt sich die Selbstständigkeit des selbstbewussten Subjekts weitgehend negativ – im Medium der Kritik – zur Geltung. Das auf sich selbst gerichtete Subjekt arbeitet die Instanzen der Tradition hinweg und wird im Negieren des anderen seiner selbst bewusst (vgl. Gastrow, 160 ff.). Dies trifft auch für Spalding und seine für die praktischen Neigungen der Zeit so charakteristischen Hauptschrift von 1772 „Über die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung“ zu. Das Interesse an Religion wird in kritischer Absicht ganz auf das sittlich-pragmatische reduziert. Aus diesem Grund kommt die kirchliche Satisfaktionstheorie für den Kanzelvortrag und den Volksunterricht nicht infrage. Mit der Feststellung ihrer praktischen Unbrauchbarkeit ist das Urteil über sie im Wesentlichen gefällt (vgl. Schollmeier, 94 ff.). Ausdrücklich wird dies etwa in der 1772/78 in zwei Bänden publizierten „Neue(n) Apologie des Sokrates, oder Untersuchung der Lehre von der Seligkeit der Heiden“ von J. A. Eberhard (vgl. Wenz I, 190 ff.) oder in dem 1778 erschienenen „System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christenthums“ von G. S. Steinbart (vgl. Wenz I, 201 ff.), der „mit kürzeren Stößen“ (Aner, 290) in „dasselbe Horn“ (ebd.) blies wie Eberhard. Es dauerte nicht lange, da wurde die Frage, „ob die Socinianer auch zu den Protestanten gehören“ (vgl. Gabler), von evangelischen Theologen nicht nur ungeniert gestellt, sondern auch und gerade in versöhnungstheologischer Hinsicht rundweg bejaht. Die Verteidiger der Kirchenlehre hinwiederum wie etwa der Erlanger Theologe G. F. Seiler (vgl. Wenz I, 206 ff.), von dem eine gegen Eberhard und Steinbart gerichtete Schrift „Ueber den Versöhnungstod Jesu Christi“ (1778/79) stammt, bezogen im Wesentlichen die von Grotius eingenommene Stellung, deren Orthodoxie nicht unproblematisch ist. Eines Gottessohnes bzw. Gottmenschen im Sinne Anselms und der kirchlichen Tradition jedenfalls hätte es zur Verrichtung des Werkes, das Grotius Jesus Christus zuschreibt, „nicht bedurft“ (Wenz I, 143; kritisch hierzu Schaede, 430 Anm. 50 bzw. 446 Anm. 85). Begonnen hatte der Zersetzungsprozess der herkömmlichen Genugtuungslehre in der bestallten Töllner und die Folgen Theologie eher zurückhaltend. Der besonnene J. G. Töllner (vgl. Wenz I, 170 ff.) hatte mit seiner 1768 in Breslau erschienenen Schrift „Der thätige Gehorsam Jesu Christi“ zunächst nur den „jüngeste(n) Weisheitszahn der orthodoxen Theorie“ (Strauß II, 319) gezogen, indem er die Zurechenbarkeit der aktiven Obödienz Jesu Christi in Abrede stellte, die von Anfang an nicht unumstritten war. Aber dahinter stand im Grunde doch bereits die Auffassung:

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„Der Mensch ist, was er ist, in sich selbst und nicht in einem anderen.“ (J. Baur, 138). Daher Töllners im hamartiologischen Kontext diskutierte Frage: Was haben wir in Adam verloren? (vgl. Dexinger). Die klassische Lehre von Erbsünde, Erlösung und Versöhnung musste dem Zeitgeist mehr und mehr als ein Zeugnis der Selbstentfremdung des Menschen erscheinen. Die Charakteristik, die ihr David Friedrich Strauß später in seiner Glaubenslehre gegeben hat, könnte in ähnlicher Form schon von einem Theologen der Aufklärung stammen: „So lange der Mensch sich selbst entfremdet, oder des Geistes in ihm selber nicht mächtig und inne geworden ist, kann er auch den Springquell seiner Handlungen und Zustände nicht in sich, sondern eben nur da finden, wohin er seinen Geist verlegt hat, nämlich ausser sich: wie er durch fremde Schuld verdammlich geworden ist, so wird er durch fremdes Verdienst gerecht und selig. Das Band, welches dessenungeachtet zwischen der fremden That und ihm selber stattfinden muss, ist dabei auf ein Minimum herabgebracht, und selbst so mehr von der objectiven Seite als von ihm selber aus geknüpft: durch Gottes verborgene Gerechtigkeit und des Menschen noch geheimnissvollere Theilnahme an der That des Stammvaters wächst dessen Schuld ihm zu; durch Gottes Gnade und seinen Glauben wird das Verdienst Christi auf ihn übertragen.“ (Strauß II, 75) Das sollte nun nicht mehr gelten: der Mensch erklärt sich selbst zum Agenten seines Unheils und seines Heils. Die Bewegung in der Geschichte der Soteriologie, die mit Dippel in stürmischer, mit Töllner in moderater Weise begann, um in Eberhard, Steinbart oder einem Mann wie J. F. C. Löffler (vgl. Wenz I, 213 ff.) vom bereits erwähnten „rationalistischen Tischgedeck“ ihre Fortsetzung zu finden, weist zurück auf den Standpunkt, „auf den sich die Socinianer und Arminianer längst gestellt hatten“ (F. Chr. Baur, 492), und voraus auf die konstruktiv-kritische Form, in der sich Kant unter der sozinianischen Voraussetzung, dass Schuld keine transmissible Verbindlichkeit sei, die traditionelle Versöhnungslehre modernitätsspezifisch angeeignet hat. Mit Kants Philosophie verbindet sich der Anspruch, die Aufklärung über sich selbst aufzuklären. Dieser Anspruch ist auch in soteriologischer Hinsicht bedeutsam. Stellte in der neologischen Soteriologie das individuelle Subjekt und seine sittliche Selbsttätigkeit die entscheidende Bezugsgröße der Argumentation dar, macht Kant die allgemeine und überindividuelle Verbindlichkeit der Moralität derart stark, dass begangene Schuld vom Einzelnen nicht mehr ohne weiteres weggearbeitet werden kann. Individuelle Besserung allein genügt nicht; Strafe muss sein. An der Kant’schen Reformulierung des soterio­ Kants Religionsschrift logischen Begriffs der Stellvertretung lässt sich der gegenüber der Neologie vollzogene Wandel am besten ersehen. Kant kritisiert zwar eine bestimmte Art seiner Verwendung, gibt den Stellvertretungsbegriff aber nicht prinzipiell preis, sondern überführt ihn in den subjektivitätstheoretischen Kontext seiner praktisch orientierten Religionsphilo­ sophie, wo von drei Weisen heilsamer Vertretung die Rede ist, nämlich erstens von derjenigen, gemäß welcher der gebesserte neue Mensch mittels seiner guten Gesinnung innere Pein bezüglich der abgelegten schlechten seines alten Adams erlei-

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det, und zweitens von der Vertretung, welche statthat, wenn die integre Gesinnung die ihr stets nur annähernd entsprechende Tatwirklichkeit heiligt und als ein Ganzes erscheinen lässt. Die dritte Redeweise schließt direkt an die zweite an, wenn es heißt, dass die Qualität der Gesinnung für den mangelnden Grad ihrer Realisierungskraft eintritt. Was ist damit näherhin gemeint? Die Antwort auf diese Frage gibt Kants Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ aus dem Jahr 1793, deren Inhalt aus gegebenem Anlass unter Wiederaufnahme von bereits Gesagtem (vgl. Bd. 1, 161 ff.; ferner Wenz I, 217 ff.) auszugsweise zu repetieren und zu paraphrasieren ist. Dem ersten Lehrstück der Kant’schen Religionsschrift zufolge ist die Situation, in der sich das empirische Subjekt faktisch vorfindet, durch das sog. radikale Böse charakterisiert, will heißen: durch einen freier Willkürsetzung des Menschen zuzurechnenden Hang, trotz klaren Bewusstseins der sittlichen Maxime von dieser abzuweichen. Im Einzelnen lassen sich drei Stufen des menschlichen Hanges zum Bösen unterscheiden: 1. die Gebrechlichkeit, 2. die Unlauterkeit, 3. die Bösartigkeit als der Hang zur Annahme böser Maximen. In ihr, der Bösartigkeit, ist die Verderbtheit des Menschen auf die Spitze getrieben. Doch fügt Kant hinzu, dass auch die Bösartigkeit der menschlichen Natur nicht eigentlich Bosheit genannt werden könne, da man darunter eine Gesinnung verstehe, „das Böse als Böses zur Triebfeder in seine Maxime aufzunehmen“ (Kant, 36); das aber sei teuflisch und finde beim Menschen nicht statt. Dieser Vorbehalt zeigt in der nötigen Deutlichkeit an, dass auch Kants Lehre vom Bösen trotz aller betonten Radikalität auf die Realisierung von Freiheit hin angelegt ist, indem das Böse ein Hindernis zwar, niemals aber eine unüberwindliche Schranke sittlicher Selbstverwirklichung darstellt. Allerdings bedarf es zur Überwindung des Bösen und zur Wiederherstellung des guten Prinzips des Kampfes, von welchem das zweite Hauptstück der Religionsschrift handelt. Es enthält Kants Christologie, wobei sogleich hinzuzufügen ist, dass die religiöse Vorstellung des in Jesus Christus erschienenen Gottessohnes und Erlösers nur im Sinne einer personifizierten Idee des guten Prinzips bzw. eines Urbilds der Menschheit in ihrer moralischen Vollkommenheit vernünftige Geltung beanspruchen kann. Nach Kants Auffassung stehen der Verwirklichung der in Jesus Christus personifizierten Idee der gottwohlgefälligen Menschheit und damit der Realisierung des Reiches Gottes drei Schwierigkeiten entgegen: Zum ersten erscheint uns, die wir vom Bösen ausgehen, das Vorbild der Heiligkeit, das uns im Sohne Gottes vor Augen gestellt ist, stets unendlich fern und niemals erreichbar, da wir das vollbrachte Gute der Tat nach zu jedem Zeitpunkt als dem Sittengesetz unzulänglich ansehen müssen. Dennoch kann nach Kant der im kontinuierlichen Fortschritt zum Guten begriffene Mensch davon ausgehen, dass Gott, dessen Begreifen nicht an die Beschränktheit diskursiven Denkens gebunden ist, in seiner reinen intellektuellen Anschauung den unendlichen Progress um der ihn leitenden Ge­ sinnung willen auch der Tat nach als ein vollendetes Ganzes beurteilt. Das Vertrauen des Menschen auf die Unveränderlichkeit seiner einmal angenommenen sittlichen Gesinnung, welches nicht weniger ist als das Vertrauen auf moralische

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Glückseligkeit und die Güte Gottes überhaupt, ohne das die Tugendübung keinen dauernden Bestand hat, kann zweitens unter Bedingungen der Endlichkeit niemals den Charakter sicherer Gewissheit annehmen. Dennoch kann den Menschen eine Art von „Syllogismus practicus“, der freilich nicht vom physischen Wohl­ ergehen, sondern von dem bisher geführten Lebenswandel auf den dahinterstehenden Vorsatz rückschließt, davon überzeugen, dass dem ständigen Fortschreiten tätiger Besserung eine immer kräftiger werdende Gesinnung entspricht, welche darauf hoffen lässt, dass man auch in Zukunft nicht vom rechten Pfad der Tugend abkommt. Jener Pfad, so Kant, dürfe als geradewegs in den Himmel führend vorgestellt werden. Die letzte und „dem Anscheine nach größte Schwierigkeit“ (Kant, 94), die der Realisierung der in Jesus Christus exemplifizierten Idee entgegensteht, bezieht sich auf die Strafgerechtigkeit Gottes. Mit ihr stellt sich Kant dem Problem, dass der Mensch auch nach vollzogener Umkehr zur Sittlichkeit mit einem Rückstand behaftet bleibt. „Wie es auch mit der Annehmung einer guten Gesinnung an ihm zugegangen sein mag, und sogar, wie beharrlich er auch darin in einem ihr gemäßen Lebenswandel fortfahre, so fing er doch vom Bösen an, und diese Verschuldung ist ihm nie auszulöschen möglich.“ (Ebd.) Auch der gebesserte Mensch wird demnach seine verkehrte Vergangenheit nicht los, sie bleibt ein durch keine Zukunft einholbarer Vorwurf. Denn die Übung der Tugend kann, weil der Mensch zu ihr an sich pflichtmäßig verbunden ist, keine überschüssigen Werke hervorbringen und somit geschehenes Unrecht nie abgelten und wiedergutmachen. Auch ein noch so behender und ausdauernder moralischer Fortschritt kann, so scheint es, nicht der verdienten Strafe entgehen. Es liegt nahe, bei Christus als einem Nothelfer Zuflucht zu nehmen und die Schuld ihm zu übergeben: Kant versperrt diesen Weg. Das Wesen der Moral erlaube es nicht, das eigene Unrecht auf einen anderen zu schieben und von ihm tilgen zu lassen. Echt sozinianisch lehrt Kant, dass Schuld „keine transmissibele Verbindlichkeit (sei), die etwa, wie Keine Übertragbarkeit eine Geldschuld (bei der es dem Gläubiger einerlei persönlicher Schuld ist, ob der Schuldner selbst oder ein anderer für ihn bezahlt), auf einen anderen übertragen werden kann, sondern die allerpersönlichste, nämlich eine Sündenschuld, die nur der Strafbare, nicht der Unschuldige, er mag auch noch so großmütig sein, sie für jenen übernehmen zu wollen, tragen kann“ (Kant, 95). In Sachen der Moral findet eine Stellvertretung also unter keinen Umständen statt. Es scheint sonach nichts daran vorbeizuführen, dass jeder Mensch wegen der Verletzung einer allgemeinen und ewigen Maxime durch böse Gesinnung unendliche Strafe und den ewigen Verlust des Gottesreiches, mithin die Hölle, zu gewärtigen habe. Obzwar nämlich gemäß Kant nach erfolgtem Gesinnungswandel eine Bestrafung des moralisch geänderten und in sittlicher Hinsicht zu einem anderen gewordenen Menschen der göttlichen Gerechtigkeit unangemessen wäre, da Gott in seiner Eigenschaft als „Herzenskünder“ aufgrund gegebener Gesinnung richtet, so darf geschehenes Unrecht gleichwohl nicht übergangen werden,

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vielmehr muss der höheren Gerechtigkeit, vor der kein Strafbarer straflos sein kann, Genüge geschehen. Nirgends zeigt sich deutlicher als in seiner Lehre von der strafenden Gerechtigkeit, wie weit Kant den durchschnittlichen aufklärerischen Standpunkt hinter sich gelassen hat: Die Idee der Gerechtigkeit erlaubt es auch nach erfolgter Besserung nicht, geschehenes Unrecht gut sein zu lassen. Strafe muss sein, und die Differenz zwischen Gut und Böse darf unter keinen Umständen relativiert und vergleichgültigt werden. Hinzuzufügen ist, dass Strafe nach Kant nicht zum bloßen Mittel und damit auf die Ebene des Sachenrechts herabgesetzt werden darf, sondern als Selbstzweck im strengen Sinne proportionaler Vergeltung zu vollziehen ist. Die Aporie scheint unauflösbar: Strafe muss aus Gründen göttlicher Gerechtigkeit sein, und doch wäre in Anbetracht geänderter Gesinnung eine Verwerfung des in Besserung Begriffenen der Gerechtigkeit Gottes unangemessen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist nach Kant nur dann möglich, wenn davon ausgegangen werden kann, dass im Vollzug der Sinnesänderung selbst schon diejenigen Übel mitenthalten sind, „die der neue gutgesinnte Mensch als von ihm (in anderer Beziehung) verschuldete und als solche Strafen ansehen kann, wodurch der göttlichen Gerechtigkeit ein Genüge geschieht“ (Kant, 97 f.). Eben dies sei tatsächlich der Fall: Denn die mortificatio des alten und die vivificatio des neuen Menschen, wie sie in der Gesinnungsänderung Ereignis würden, dürften nicht als „zwei durch eine Zwischenzeit getrennte moralische Aktus“ (Kant, 98), müssten vielmehr als simultaner Vorgang gedacht werden, „weil die Verlassung des Bösen nur durch die gute Gesinnung, welche den Eingang ins Gute bewirkt, möglich ist, und so umgekehrt“ (ebd.). Das gute Prinzip hält sich im Vollzug der Gesinnungsänderung identisch durch, so dass die Negation des sündigen und die Affirmation des guten Menschen eine Einheit bilden. „Das gute Prinzip ist also in der Verlassung der bösen ebensowohl als in der Annehmung der guten Gesinnung enthalten, der Schmerz, der die erste rechtmäßig begleitet, entspringt gänzlich aus der zweiten.“ (Ebd.) Indem der erstehende neue Mensch sich als den alten aufopfert, leistet er durch den damit verbundenen Schmerz stellvertretende Sühne für die Sünden des alten, vergehenden Menschen und übernimmt so dessen Strafe. Denn ob der Mensch „gleich physisch (seinem empirischen Charakter als Sinnenwesen nach betrachtet) ebenderselbe strafbare Mensch ist und als ein solcher vor einem moralischen Gerichtshofe, mithin auch von ihm selbst gerichtet werden muß, so ist er doch in seiner neuen Gesinnung (als intelligibles Wesen) vor einem göttlichen Richter, vor welchem diese die Tat vertritt, moralisch ein anderer, und diese in ihrer Reinigkeit, wie die des Sohnes Gottes, welche er in sich aufgenommen hat, oder (wenn wir diese Idee personifizieren) dieser selbst trägt für ihn, und so auch für alle, die an ihn (praktisch) glauben, als Stellvertreter die Sündenschuld, tut durch Leiden und Tod der höchsten Gerechtigkeit als Erlöser genug und macht als Sachverwalter, daß sie hoffen können, vor ihrem Richter als gerechtfertigt zu erscheinen, nur daß (in dieser Vorstellungsart) jenes Leiden, was der neue Mensch, indem er dem alten abstirbt, im Leben fortwährend übernehmen muß, an dem Repräsentanten der Menschheit als ein für

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allemal erlittener Tod vorgestellt wird“ (Kant, 98 ff.). Damit hat Kant seine Theorie zuletzt auch noch in dogmatische Terminologie gekleidet, was freilich nicht über den grundstürzenden Transformationsprozess hinwegtäuschen kann, dem die traditionellen theologischen Themenbestände ausgesetzt wurden. Im Zuge konsequenter moralischer FunktionalisieReligion als Funktion rung religiöser Gehalte wurden diese ihrer Exterder Moral nität und äußeren Geltung gänzlich enthoben und völlig auf die Innerlichkeit sittlicher Selbstwahrnehmung selbstbewusster Subjektivität zurückgeführt. An die Stelle eines äußeren Gerichts, wie es am Kreuz Jesu Christi statthat, tritt das forum internum des Gewissens, wobei indes hinzuzufügen ist, dass das Gewissen bei Kant ungleich schärfer urteilt, als das im neologischen Durchschnittsbewusstsein üblich war. In der Neologie wurde in der Regel nicht in Zweifel gezogen, dass vergangenes Unrecht durch tätige Besserung hinweggearbeitet werden könne. Auf die Beförderung künftiger Tugendübung hatte sich demgemäß der Umgang mit Sünde und Schuld in der Strafe primär auszurichten. Dabei sollte sich der Sinn der Strafe in Selbstbestrafung erfüllen, in individueller Gewissensqual und Selbsterkenntnis als dem ersten Weg der Besserung. So beachtenswert diese Position ist, unreflektiert vorausgesetzt wird in ihr stets, dass das Bewusstsein des Guten, welches sich dem sündigen Menschen mittels des schlechten Gewissens vorhält, für diesen in unmittelbarer und gleichsam naturhafter Weise gegeben ist. Die tiefgreifende kritische Wende, die Kant gegenüber der Neologie vollzogen hat, zeigt sich in praktischer Hinsicht besonders auffällig am unterschiedlichen Umgang mit dem Unrecht begangener Untat. Eine gerechte Zukunft in Gestalt des Reiches Gottes als eines realisierten moralischen Gemeinwesens ist nach Kant nicht denkbar ohne eine durchaus als Vergeltung zu verstehende Sühnung geschehener Untat im göttlichen Gericht. Indes versucht auch Kant zu verhindern, dass die Radikalität des Bösen bzw. das Gericht darüber die Identität des moralischen Selbstbewusstseins als der Grundlage seiner ethischen Subjektivitätstheorie sprengt. Das entscheidende Argument in diesem Zusammenhang ist die These, die im Gesinnungswandel sich vollziehenden Geschehnisse der mortificatio des alten und der vivificatio des neuen Menschen dürften nicht als „zwei durch eine Zwischenzeit getrennte moralische Aktus“ (Kant, 98), müssten vielmehr als ein Zugleich, als einziger Zusammenhang gedacht werden. Die von Kant so genannten Rationalisten unter den Rationalisten und Theologen ließen sich seine Auflösung des soterioloSupranaturalisten gischen Problems gefallen, wohingegen die sog. Suprarationalisten bzw. ‑naturalisten mit dem Hinweis Widerspruch einlegten, dass das in Sündenschuld gefallene Subjekt unmöglich aus sich selbst heraus Strafaufhebung und Vergebung der Sünde bewirken könne. An den 1793 erschienenen „Annotationes quaedam theologicae ad philosophicam Kantii de religione doctrinam“ des Tübinger Supranaturalisten G. Chr. Storr und an seiner Strafleidenstheorie (vgl. Wenz  I, 239 ff.) kann man die Implikationen

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und Folgen dieses Einspruchs ebenso exemplarisch studieren wie an der anschließenden Kontroverse zwischen dem Storrschüler F. G. Süskind und dem Kantianer J. H. Tieftrunk (vgl. Wenz I, 246 ff.). Während die rationalistischen Kantianer zum Standpunkt der Aufklärung zurücktendierten (vgl. Ritschl, 470 ff.; Wenz I, 259 ff.), entwickelten sich die Supranaturalisten in unterschiedlicher Richtung, um entweder „Rationalisten vom halben Wege“ (vgl. Hirsch V, 56 ff.), Restaurationstheologen oder Theoretiker vom Schlage Albrecht Ritschls zu werden, der als später suprarationalistischer Kantrezipient zu gelten hat. Neben F. D. E. Schleiermacher hat er im 19. Jahrhundert als einziger deutschsprachiger evangelischer Theologe Schule gemacht (vgl. Wenz II, 63 ff.). Am Beispiel des Textes eines Schülers sei zumindest ansatzweise illustriert, wie Ritschls Kantrezeption in Kritik und Konstruktion fortwirkte und erneut schul­ bildend wurde, etwa durch Hervorbringung der sog. Religionsgeschichtlichen Schule. Im Vorwort seiner Schrift über „Das Historische in Kants Religionsphilosophie“ aus dem Jahr 1904 bekennt Ernst Troeltsch „mit der damals in Göttingen studierenden Generation durch Ritschl den unauslöschlichen Eindruck von der grundlegenden Wahrheit und Wichtigkeit der Kantischen Lehre über Wissen und Glauben empfangen (zu haben), welche Lehre ja das Fundament der Theo­ logie Ritschls und seiner Schule bildet, und welche meine ganze seitherige theologische Arbeit fortzuführen bestrebt ist“ (Troeltsch, 869). In diesem Sinne betrachte er sich „durchaus als Schüler Ritschls“ (ebd.); doch habe er schon als Student zwei grundsätzliche Bedenken gegenüber der vom Lehrer geleisteten Durchführung seiner Lehre gehabt: „Einmal schien mir jene Trennung (sc. zwischen Glauben und Wissen) zwar die Unabhängigkeit der Begründung des religiösen Glaubens von der Welterkenntnis und dem wissenschaftlichen Weltbild zu besagen, aber nicht die Unabhängigkeit in der Durchführung der religiösen Glaubensgedanken selbst. Diese schien mir vielmehr in der Gegenwart eine starke Einwirkung von dem veränderten Weltbild erfahren zu müssen, welche bei Ritschl nur unter der Hand und verstohlen, aber nicht offen und prinzipiell und eben darum nicht klar und vollständig zu erfolgen schien. Andererseits schien mir insbesondere die Verknüpfung der heute geltenden und für die Gegenwart sich gestaltenden religiösen Ideen mit der Historie von Ritschl ohne genügende Rücksicht auf die längst errungene und bei allen offenen Fragen doch grundsätzlich fertige kritische Geschichtsforschung vollzogen. Den letzteren Eindruck verstärkten die Einflüsse, die auf uns damals von hervorragenden Philologen und Historikern, von Paul de Lagarde, Julius Wellhausen, Bernhard Duhm, Rudolf Smend, Adolf Jülicher und Albert Eichhorn ausgingen. Unter ihrem Einfluss habe ich mich überwiegend dem zweiten Problem mit problemgeschichtlichen Forschungen und mit systematischen Untersuchungen zugewendet, welche freilich des Abschlusses und der Zusammenfassung noch ent­ behren.“ (Ebd.) Wie Kant selbst im Zusammenhang seiner Grundgedanken und insbesondere in seiner Religionsschrift von 1793 die Beziehung von Historie und aktuell geltenden Ideen bestimmt habe und in welchem Verhältnis diese Bestimmung zu der von

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Ritschl vorgenommenen stehe, ist nach Angabe von Troeltsch die zentrale Frage seiner Untersuchung von 1904. Nach einer knappen Auseinandersetzung mit den Darstellungen der Kant’schen Religionsphilosophie von Kuno Fischer, Otto Pfleiderer, Albert Schweitzer, Ernst Sänger, Georg Hollmann, Emil Arnoldt und Friedrich Paulsen (vgl. Troeltsch, 870–892), wird „Kants Ausgangspunkt für die Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Geschichte“ (vgl. Troeltsch, 892–915; bei T. kursiv) skizziert. Über sie sei durch die Verhältnisbestimmung von RationalNotwendigem und Empirisch-Tatsächlichem vorweg entschieden, deren Sphären Kant zwar aufeinander beziehe, jedoch unter der Prämisse einer vorhergehenden strengen Sonderung. Entsprechend werde der Zusammenhang von reinen Religionsideen und Religionsgeschichte so bestimmt, dass erstere die apriorischen Voraussetzungen dessen bildeten, was im Hinblick auf letztere in Erfahrung gebracht werden könne. Die eigentümliche „Sprödigkeit der Kantischen Religionsphilosophie gegen die Geschichte“ (Troeltsch, 912 f.) erkläre sich von hieraus. Die Religionsgeschichte und alles, was in der Religion geschichtlich ist, findet bei Kant Troeltsch zufolge in den reinen Religionsideen den Maßstab vernünftiger Geltung. Zwar gebe die Religionsschrift von 1793 wegen ihres Kompromisscharakters (vgl. Troeltsch, 915–976) diesen Sachverhalt nicht sofort zu erkennen; doch zeige sich auch in ihr bei näherem Zusehen rasch, was die eigentliche Lehre Kants sei (vgl. Troeltsch, 977–1065). Um es an der Stellung Jesu in der Religionsschrift zu verdeutlichen: Dieser exemplifiziere die tatsächlich mögliche Realisierung des ethischen Menschenideals und zwar grundsätzlich unabhängig von der Frage, ob die historische Einzelperson, die mit seinem Namen verbunden wird, je existiert habe oder nicht. Zwar wolle Kant das Religionsideal nicht einfachhin von geschichtlicher Positivität abstrahieren: „Er will nicht Religion aus reiner Vernunft, sondern ‚Rektifikation‘ der positiven Religion durch die Vernunftreligion.“ (Troeltsch, 1033) Aber das ändere nichts an dem Grundsatz, dass die Religionsgeschichte nach seinem Urteil an dem Ideal reiner Vernunftreligion das Kriterium ihrer Geltung finde. Mit Lessing teile Kant die Überzeugung, dass das Historische die Wahrheit der Religion nur illustrieren, nicht aber demonstrieren könne, was allein der Vernunft, im gegebenen Fall der praktischen vorbehalten sei (vgl. Troeltsch, 1062 ff.). Während Kant nach Urteil von Troeltsch der Historie in religiösen Wahrheitsfragen eine lediglich illustrierende Funktion zugedacht hat, kommt der Religionsgeschichte beim supranaturalistischen Kantrezipienten Albrecht Ritschl, bei dem Troeltsch in die Lehre ging, eine vernunftkonstitutive Bedeutung zu. Mehr noch: Ritschl ist der grundsätzlichen Auffassung, dass ohne religiöse Überlieferung und namentlich ohne die Tradition der christlichen Religion die Vernunft keinen Bestand habe, unter welcher er im Anschluss an Kant vorrangig die praktische versteht. Moral ohne Religion verfällt. Namentlich dort, wo es um sittliche Verfehlungen gehe, erweise sich die Moral als machtlos, weil sie der Möglichkeit einer Schuldaufhebung entbehre. Diese Möglichkeit erschließe sich nur aus religiösen Vorgaben heraus, im gegebenen Fall vor allem aus der Gabe, die im auferstandenen Gekreuzigten zum Zwecke der Rechtfertigung und Versöhnung und Sünde

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gegeben sei. Im dritten Band seines systematischen Hauptwerkes hat Ritschl diese Einsicht auf klassisch zu nennende Weise zur Darstellung gebracht. Der Entwurf verdient ein intensives Studium wie nur wenige Soteriologien der Neuzeit. Eine ausführliche Anleitung hierzu gibt § 14,2 meiner Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit. Komprimierter als dort lässt sich nach meinem Urteil Ritschls Lehre von Rechtfertigung und Versöhnung nicht zusammenfassen. Daher soll es mit einem entsprechenden Textverweis sein Bewenden haben (vgl. Wenz  II, 80–118). Des Weiteren sei auf A. Heits „Studie zur systematischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens für Kants Religionsphilosophie“ verwiesen, die zusätzliche Belege dafür beibringt, wie Ritschl das religionsphilosophische Programm Kants rezipiert und in suprarationalistischer Manier reformuliert. Rechtfertigung und Versöhnung seien „Mittel zum Zweck des Reiches Gottes“ (Heit, 245), dessen Idee und Realität „nicht, wie bei Kant angenommen, aus rein praktischer Vernunft erschlossen werden (könne), sondern … seinen Ursprung allein in der positiven Offenbarung Christi (habe)“ (Heit, 247). Wirkungsmächtiger als der supranaturalistische Kantianer Albrecht Ritschl war für die Geschichte evangelischer Soteriologie im 19.  Jahrhundert abgesehen von den Versöhnungstheorien Hegels und der spekulativen Theologie (vgl. Wenz I, 277–341) nur Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, dessen Erlösungs- und Versöhnungslehre namentlich in der Form, wie sie in der Zweitauflage seiner Dogmatik von 1831/32 vorliegt, weit über die Erweckungstheologie hinaus schulbildend wurde (vgl. Wenz  I, 343–467). Ihr sei deshalb mitsamt der Schleiermacher’schen Lehre vom ordo salutis eine eigene Fallstudie gewidmet. Was Schleiermacher für Jahrzehnte des 19., war Karl Barth jedenfalls für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts: die entscheidende schulbildende Größe innerhalb der evangelischen Theologie in Deutschland und weit darüber hinaus. Während sich nach seinem Urteil bei Schleiermacher das christlich fromme Selbstbewusstsein nur selbst „betrachtet und beschreibt“ (Barth, 409), soll Barth zufolge alle theologische Aufmerksamkeit der Subjektivität Gottes in seiner Offenbarung gelten. In den frühen Kommentaren zum Römerbrief des Apostels Paulus hat Barth seinem Theologieprogramm emphatischen Ausdruck verliehen, was neben kritischen Reserven wahre Begeisterungsstürme hervorrief, die teilweise bis heute fortwirken. Ein aktuelles Beispiel hierfür bietet die Theologieprofessorin Maja­ Schneilin in Martin Walsers Briefroman „Das dreizehnte Kapitel“, auf den an späterer Stelle zurückzukommen sein wird. Einstweilen sei nur zitiert, was ein im Übrigen durchaus wohlwollender Kollege zu den theologiegeschichtlichen Kenntnissen von Frau Prof. Schneilin anmerkt: „Die grenzenlos schwärmerische, abgöttische, jedem kritischen Maß Hohn sprechende Verehrung des frühen Karl Barth, die von der protestantischen Theologieprofessorin durchweg zelebriert wird, wäre unter seriösen Wissenschaftlern ihres Faches längst unvorstellbar, zumal in dem gegenwärtigen theologischen Klima Berlins. Und dass sie den Text der Erstausgabe von Barths Römerbrief, mit dem sie ihr Gatte beglückt, in derart euphorischer Überraschung begrüßt, offenbart nur einen peinlichen, bei der eingefleischten Barthia-

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nerin geradezu grotesk wirkenden Mangel an theologischer Elementarbildung, da doch diese Version seit Jahrzehnten in der monumentalen Karl Barth Gesamtausgabe wieder leichthin und wohlfeil verfügbar ist.“ (Beutel, 427 f.) Wie auch immer: Die Bedeutung der Theologin Maja Schneilin mag dahingestellt und der Dichtkunst überlassen bleiben, die bleibende Relevanz der Theologie Karl Barths steht fest und lässt sich auch nicht dadurch unterminieren, dass man ihr – wie einstmals in München (vgl. Bd. 7, 23 ff.) – faschistoide Tendenzen unterstellt, was im Übrigen nicht neu war: Bereits 1936 schrieb Martin Werner, einer der profiliertesten Repräsentanten der damaligen Schweizer liberalen Theologie, von drei „Faschismen“ (Werner, 54), von denen man sich abzusetzen habe, nämlich „dem kirchlich-theologischen, dem nationalistisch-völkischen und dem internationalistisch-kommunistischen“ (ebd.); mit der ersten Faschismusform war eindeutig „die Theologie Barths (ge)meint“ (Kratzert, 204). Es sind nicht Fehlurteile dieser Art oder „merkwürdige literarische Barth-Renaissancen“ (vgl. Beutel), die es geraten sein lassen, von einer soteriologischen Fallstudie zum führenden Theologen der sog. Dialektischen Theologie abzusehen. Die Entscheidung liegt schlicht und einfach darin begründet, dass – wie im Falle Ritschls – eine ausführliche Darstellung der Barth’schen Versöhnungslehre bereits gegeben wurde (vgl. Wenz II, 193– 278). Statt sie zu repetieren, sei der Explikation der Soteriologie Schleiermachers eine Analyse des Ansatzes von Paul Tillich zur Seite gestellt, der nach eigenen Angaben ebenfalls als ein Theologe der Krise zu gelten hat, wenngleich er stärker auf Integration der Theologietraditionen der Moderne bedacht war als Barth. Als Darstellungsbeispiel wird seine frühe Schrift über „Rechtfertigung und Zweifel“ gewählt. Für den späteren Tillich sei auf meine 1979 in München erschienene Dissertation „Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs“ verwiesen, für einige aktuelle Soteriologieentwürfe auf den Abschnitt über Grundfragen gegenwärtiger Kreuzestheologie im zweiten Band der „Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit“ (Wenz II, 279–486).

11. Beseligende Kräftigung des Gottesbewusstseins. Schleiermachers neuprotestantische Soteriologie Lit.: Chr. Axt-Piscalar, Religion als Prinzip von Geselligkeit. Individuum und Gemeinschaft als Thema der christlichen Theologie, in: Pastoraltheologie 96 (2007), 334–349.  – U. Barth, Schleiermacher-Literatur im letzten Drittel des 20.  Jahrhunderts, in: ThR 66 (2001), 408– 461. – J. Dierken, Das zwiefältige Absolute. Die irreduzible Differenz zwischen Frömmigkeit und Reflexion im Denken Friedrich Schleiermachers, in: ZNThG / JHMTh 1 (1994), 17–46. – Ders., Glaube und Lehre im modernen Protestantismus. Studien zum Verhältnis von religiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit bei Barth und Bultmann sowie Hegel und Schleiermacher, Tübingen 1996. – D. Lange, Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß, Gütersloh 1975.  – F. D. E. Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe. Erste Abteilung: Schriften und Entwürfe. Teilband 6: Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Hg. v. D. Schmid, Berlin / New York 1998 (= KGA I/6). – Ders., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Auf Grund der zweiten Auflage und kritischer Prüfung des Textes neu hg. und mit Einleitung, Erläuterungen und Register versehen v. M. Redeker, Berlin 71960 (= GL2).  – W. Steck, Alltagsdogmatik. Ein unvollendetes Projekt, in: Pastoraltheologie 94 (2005), 287–307. – G. Wenz, Ergriffen von Gott. Zinzendorf, Schleiermacher und Tholuck, München 2000.

Gemäß Schleiermachers „Kurzer Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Frömmigkeit und Vorlesungen“, die „das systemtheoretische Rückgrat Reflexion des Theologiebegriffs seiner Reifezeit“ (Barth, 433; vgl. Wenz, 150 ff.) bildet, besteht die Aufgabe der Dogmatik darin, auf den Begriff zu bringen und zusammenhängend darzustellen, was in einem christlichen Kirchentum gegenwärtig als Bewusstsein des Glaubens gelten darf. Dies ist nötig, um jene wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln zu vermitteln, „ohne deren Anwendung ein christliches Kirchenregiment“ (KGA I /6, 249), also die Erfüllung desjenigen praktischen Zweckes nicht möglich ist, auf den die gesamte Theologie hingeordnet ist. Schleiermachers „Glaubenslehre“ – deren Zweitauflage im Folgenden aus Gründen leichterer Lesbarkeit des ohnehin schwierigen Textes in der von M. Redeker herausgegebenen Form zitiert wird – entspricht dem in seiner theologischen Enzyklopädie entwickelten Begriff der Theologie als einer scientia practica. Sie bringt den christlichen Glauben nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche zusammenhängend und auf eine durch den Autor repräsentierte zeitgenössische Weise zur Darstellung und zwar dergestalt, dass sie, wie es heißt, die Tatsachen

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des christlich-frommen Selbstbewusstseins zunächst unter Absehung, sodann unter Berücksichtigung des Gegensatzes von Sünde und Gnade entwickelt, wobei die einzelnen Themenbestände jeweils unter anthropologischen, kosmologischen und theologischen Gesichtspunkten ins Auge gefasst werden. Dabei nimmt der anthropologische Gesichtspunkt stets die erste Stelle ein, weil nach Schleiermachers Urteil für jeden dogmatischen Satz das durch ihn repräsentierte fromme Selbstbewusstsein grundlegend ist. Es gehört zu den spannendsten Fragen der Schleiermacherinterpretation, wie sich in der Glaubenslehre und im theologisch-religionsphilosophischen Gesamtwerk Frömmigkeit und Reflexion, religiöser Vollzug und begriffliche Bestimmtheit zueinander verhalten (vgl. Dierken); stellt doch der Bezug von Lehre und Leben bei Schleiermacher nicht nur ein praktisches Anwendungsproblem, sondern „ein grundsätzliches Aufbauproblem der Theologie“ (Barth, 449) dar. Bei aller Gelehrsamkeit kann Schleiermachers Glaubenslehre durchaus als „Alltagsdogmatik“ bezeichnet werden, da sie durchweg rückgebunden bleibt „an ihren Ursprung, die gelebte Religion“ (Steck, 297). Im gegebenen Zusammenhang muss es mit der Erinnerung sein Bewenden haben, dass dogmatische Sätze Schleiermacher zufolge als Ausdruck gläubiger Subjektivität zu gelten haben. Sätze, welche von der Beschaffenheit der Welt oder den Eigenschaften Gottes handeln, sind im Vergleich dazu Nebenformen von sekundärer, abgeleiteter Bedeutung. Dies gilt auch in gnadentheologischer Perspektive, also in Hinblick auf diejenige Seite der Darstellung des Gegensatzes von Sünde und Gnade, die es mit der Entwicklung des Bewusstseins der Gnade zu tun hat. Gehandelt wird in soteriologischer Hinsicht erstens vom Zustand des Christen, sofern er sich der göttlichen Gnade bewusst ist (vgl. GL2 §§ 91–112), zweitens von der Beschaffenheit der Welt bezüglich auf die Erlösung (vgl. GL2 §§ 113–163) und drittens von den göttlichen Eigenschaften, welche sich auf die Erlösung beziehen (vgl. GL2 §§ 164–169). Die Gnadentheologie im engeren Sinne wird in der ersten Paragraphenreihe thematisiert und zwar unter dem Titel „Von dem Geschäft Christi“ (vgl. GL2 §§ 100–105) als dem zweiten Lehrstück der Lehre „Von Christo“, welches der Lehre von der Art, wie sich die Gemeinschaft mit der Vollkommenheit und Seligkeit des Erlösers in der einzelnen Seele ausdrückt, vorhergeht. Wie sich die Lehre von Christus und vom Christen präzise zueinander verhalten, ist eine der Schlüsselfragen der Schleiermacherinterpretation. Unter formalem Aspekt kann in Bezug auf sie zunächst nur konstatiert werden, dass Schleiermacher im grundlegenden Teil seiner Gnadenlehre zwar die Lehre von Christus derjenigen vom Christen vorordnet, dass aber besagte Vorordnung unter der Gesamtüberschrift vorgenommen wird: „Von dem Zustande des Christen, sofern er sich der göttlichen Gnade bewusst ist.“ Das „Grundbewußtsein eines jeden Christen von Christus und der Christ seinem Gnadenstande“ (GL2 § 91,1) ist durch einen differenzierten Zusammenhang insofern bestimmt, als Christus in ihm als Verursacher der Begnadung, der Christ als der die Gnade Empfangende vorstellig wird. In diesem Sinne gilt: „Wir haben die Gemein-

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schaft mit Gott nur in einer solchen Lebensgemeinschaft mit dem Erlöser, worin seine schlechthin unsündliche Vollkommenheit und Seligkeit die freie aus sich herausgehende Tätigkeit darstellt, die Erlösungsbedürftigkeit des Begnadigten aber die freie in sich aufnehmende Empfänglichkeit.“ (GL2 § 91, Leitsatz) Diesem Grundsatz entsprechend ist vom Zustand des Christen, sofern er sich der göttlichen Gnade bewusst ist, derart zu handeln, „daß zuerst entwickelt werde, wie vermöge dieses Bewußtseins der Erlöser gesetzt ist, dann aber wie der Erlöste“ (GL2 § 91,2). Was die Christologie als die Lehre vom Erlöser betrifft, so wird sie traditionellerweise in ein Lehrstück „De persona Jesu Christi“ und „De officio Jesu Christi“ unterschieden. Schleiermacher folgt aus formalen Darstellungsgründen dieser Unterscheidung nach Maßgabe folgenden Grundsatzes: „Die eigentümliche Tätigkeit und die ausschließliche Würde des Erlösers weisen aufeinander zurück, und sind im Selbstbewußtsein des Gläubigen unzertrennlich eines.“ (GL2 § 92, Leitsatz) Ver­ geblich wäre es, „dem Erlöser eine höhere Würde beizulegen, als die Wirksamkeit, die ihm zugleich zugeschrieben wird, erfordert, indem aus dem Überschuß der Würde doch nichts erklärt wird, und ebenso ihm eine größere Wirksamkeit zuzuschreiben, als aus der Würde, die man ihm zugestehen will, folgen kann.“ (GL2 § 92,2) Die Lehre von der Person und die Lehre vom Werk Jesu Christi sind in diesem Sinne zwar zu unterscheiden, nicht aber zu trennen, was vergleichbar für das Verhältnis der Lehre von Christus und vom Christen gilt. Die Lehrstücke seiner Gnadentheologie werden von Schleiermacher in Form differenzierter Zusam- Erbsünde und menhänge zur Darstellung gebracht. Es wird, ohne versöhnende Tätigkeit Trennungen vorzunehmen, unterschieden: im Falle der Lehre vom Werk bzw. Geschäft Jesu Christi zwischen einer erlösenden und einer versöhnenden Tätigkeit. Erstere besteht darin, dass Jesus Christus die Gläubigen „in die Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins“ (GL2 § 100, Leitsatz), letztere darin, dass er sie „in die Gemeinschaft seiner ungetrübten Seligkeit“ (GL2 § 101, Leitsatz) aufnimmt. Gemeinsam ist beiden Tätigkeiten, dass sie wirksam sind, indem sie die Selbsttätigkeit der Gläubigen bewirken, um sich in derselben und durch dieselben zu realisieren. Begnadung bedeutet in diesem Sinne dem teleologischen Charakter christlicher Frömmigkeit entsprechend „die zur eigenen Tat gewordene Tat“ (GL2 § 100,1) Jesu Christi: „Sonach wäre, wenn wir von diesem Punkt ausgehn, das eigentümliche Geschäft des Er­lösers zunächst dieses Taterzeugen in uns, näher betrachtet aber, da das Beschriebene immer schon eine gemeinsame Tat des Erlösers und des Erlösten ist, wäre die rein abgesondert ihm angehörige vor jeder fördernden Tätigkeit, die unser wäre, hergehende ursprüngliche Tätigkeit des Erlösers die, vermöge deren er uns in diese Gemeinschaft seiner Tätigkeit und seines Lebens aufnimmt, deren Fortdauer hernach das Wesen des Zustandes der Gnade ausmacht, indem das neue Gesamtleben der Ort dieses Taterzeugens Christi ist, in welchem sich die fortwährende Wirksamkeit seiner unsündlichen Vollkommenheit offenbart.“ (GL2 § 100,1)

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Um seine „Darstellung der erlösenden Tätigkeit Christi als Stiftung eines neuen, ihm und uns gemeinsamen, in ihm ursprünglichen, in uns aber neuen und von ihm ausgehenden Lebens“ (GL2 § 100,3) näher zu charakterisieren, bezeichnet Schleiermacher sie als mystisch, um sie einer sog. magischen und lediglich empirischen Darstellung gleichermaßen zu kontrastieren bzw. als deren Mitte zu erweisen. Stellt die magische Auffassung die erlösende Tätigkeit Jesu Christi als unmittelbare Einwirkung auf den Einzelnen vor, ohne sie durch ein Gesamtleben vermittelt sein zu lassen, so besteht die Heilswirksamkeit für die entgegengesetzte empirische Auffassung lediglich darin, ein exemplarisches Vorbild abzugeben für selbsttätige Nachahmung, ohne im eigentlichen Sinne erlösend zu sein (vgl. im Einzelnen Lange). Die Person Jesu Christi verkörpert zwar gemäß Schleiermacher durchaus „die exemplarische Gestalt religiöser Subjektivität“ (Barth, 446), aber sie verkörpert sie nicht nur, sondern bewirkt zugleich, was sie darstellt. Der Mittler ist exemplum und, wenn man so will, sacramentum des Glaubens. Dies ist gemeint, wenn Christus zum Urbild des bzw. der Christen erklärt wird. Der Aufnahme in die Kräftigkeit des Gottesbewusstseins, welche Jesu Christi erlösende Tätigkeit wirkt, ist die Aufnahme in seine ungeteilte Seligkeit als Wirkung seiner versöhnenden Tätigkeit untrennbar zugeordnet. Beider Verhältnis zu­ einander lässt sich folgendem Satze entnehmen: „Wie demnach die erlösende Tätigkeit Christi eine dem Sein Gottes in Christo entsprechende Gesamttätigkeit stiftet für alle Gläubige: so stiftet das versöhnende Element, nämlich die Seligkeit des Seins Gottes in ihm, ein seliges Gesamtgefühl für alle Gläubige und jeden besonders.“ (GL2 § 101,2) Wie zuvor seine Darstellung der erlösenden, so bezeichnet Schleiermacher auch diejenige der versöhnenden Tätigkeit Christi als mystisch, um sie einer magischen und einer empirischen Missinterpretation gleichermaßen entgegenzusetzen. Auffällig an Schleiermachers Lehre von der erlösenAktive Leidenshingabe den und versöhnenden Tätigkeit ist gemäß seinem eigenen Hinweis, dass „das Leiden Christi gar nicht zur Sprache kommt, so daß auch nicht einmal Gelegenheit gewesen ist, die Frage aufzuwerfen, ob und inwiefern es zur Erlösung oder zur Versöhnung gehört“ (GL2 § 101,4). Schleiermacher verbindet mit diesem Hinweis folgende Bemerkung: „Aus dieser Verzögerung ist aber nur zu schließen, daß kein Grund vorhanden war, es als ein primitives Element aufzuführen weder an dem einen noch an dem andern Orte. Und dies hat auch seine Richtigkeit, weil sonst keine vollkommne Aufnahme in die Lebensgemeinschaft mit Christo, aus welcher sich Erlösung und Versöhnung vollkommen begreifen lassen, möglich gewesen wäre vor dem Leiden und Tode Christi. Als ein Element der zweiten Ordnung jedoch gehört es zu beiden; aber unmittelbarer zur Versöhnung, und zur Erlösung nur mittelbar. Die Tätigkeit Christi in Stiftung des neuen Gesamtlebens konnte nur in ihrer Vollkommenheit wirklich erscheinen – wenngleich der Glaube an diese Vollkommenheit auch ohnedies vor­ handen sein konnte – wenn sie keinem Widerstande wich, auch dem nicht, welcher den Untergang der Person herbeizuführen vermochte. Die Vollkommenheit liegt

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also hier nicht eigentlich und unmittelbar in dem Leiden selbst, sondern nur in der Hingebung in dasselbe.“ (Ebd.) Die kritische Behandlung der traditionellen Lehre vom Geschäft Jesu Christi, wie sie auf der Basis des entwickelten Verständnisses seiner erlösenden und versöhnenden Tätigkeit erfolgt, ist orientiert an der klassischen Einteilung der „Gesamttätigkeit Christi in drei Ämter desselben, das prophetische, hohepriesterliche und königliche“ (GL2 § 102, Leitsatz). Diese Einteilung hat nach Schleiermachers eigenem Urteil „auf den ersten Anblick den Schein einer großen Willkür gegen sich“ (GL2 § 102,1). Bei genauerem Zusehen aber ergibt sich ein anderer Eindruck: Die Amtsfunktionen des munus triplex sind nicht lediglich bildliche Ausdrücke, sondern haben ihre Abzweckung offenbar darin, „daß die Verrichtungen Christi an dem von ihm begründeten Gesamtleben mit denen verglichen werden sollen, durch welche unter dem jüdischen Volk die Gottesherrschaft dargestellt und zusammengehalten ward; und diese Vergleichung ist auch noch jetzt im Lehrgebäude nicht zu vernachlässigen.“ (Ebd.) Der Sinn des Vergleichs Christi mit der idealen Gestalt des alttestamentlichen Propheten, Priesters und Königs besteht darin, das Verhältnis des alten und neuen Gottesreiches dadurch zu verdeutlichen, dass man die proto­ typischen Amtsfunktionen des ersteren im Gründer des letzteren zusammengefasst und vereint sein lässt. „Damit nun soll gesagt sein, daß in diesem Gottesreich, von dem sich immer versteht, daß es nicht von dieser Welt ist, die Stiftung und Erhaltung der Gemeinschaft eines jeden mit Gott und die Erhaltung und Leitung der Gemeinschaft aller Glieder untereinander nicht getrennte Verrichtungen sind, sondern dieselben; und daß auch wiederum diese Tätigkeiten und das freie Walten des Geistes in Erkenntnis und Lehre aus nicht verschiedener Quelle entspringen, sondern aus derselben.“ (GL2 § 102,2) Sieht Schleiermacher sonach begründeten Anlass, die überkommene Lehre vom munus prophe- Dreiämterlehre ticum, sacerdotale und regale im Unterschied etwa zur Zwei-Stände-Lehre, die „beseite gestellt und der Geschichte zur Aufbewahrung übergeben“ (GL2 § 105, Zusatz) wird, zu rezipieren und kritisch in sein System zu integrieren, so leugnet er doch nicht, dass Schwierigkeiten einer Darstellung der Gesamtwirklichkeit Christi unter den Formen des munus triplex verbleiben. Sie betreffen vor allem das munus regale, treten aber auch in Hinblick auf das prophetische und priesterliche Amt zutage. Grundsätzlich gilt, dass durch das Werk Jesu Christi dasjenige von Propheten, Priestern und Königen im Prinzip sowohl vollendet als auch beendet wird. Das prophetische Amt Jesu Christi besteht dem einschlägigen Schleiermacher’schen Leitsatz zufolge „im Lehren, Weissagen und Wundertun“ (GL2 § 103, Leitsatz). Ersterer Aspekt bezieht sich auf die selbstbestimmte Aufgabe Jesu Christi, „dem kräftigen, das heißt zugleich auch schöpferischen Gottesbewußtsein, wie es sich in seinem geistigen Organ ausprägte, vollkommen zu genügen, und es in seinen Lehren so wiederzugeben, daß dadurch auch das Aufgenommenwerden der Menschen in seine Gemeinschaft bewirkt wurde.“ (GL2 § 103,2) Dabei lassen sich drei

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das Wesen der Lehre Jesu konstituierende Elemente nicht voneinander trennen: „die Lehre von seiner Person, welche zugleich nach außen hin die Lehre von seinem Beruf oder von der Mitteilung des ewigen Lebens in dem Reiche Gottes, und nach innen die Lehre von seinem Verhältnis zu dem ist, der ihn gesendet oder von Gott als seinem sich ihm und durch ihn offenbarenden Vater.“ (Ebd.) Die Weissagung als zweites Moment des munus propheticum war in Jesus Christus anders als in Falle des alttestamentlichen Propheten „mit seiner Lehre völlig eins“, insofern diese ihre Erfüllung nicht außer sich hatte, sondern in sich trug: „und in diesem Sinne weissagte er ohne Vorhersagung.“ (GL2 § 103,3) Auch was die gelegentliche Wundertätigkeit Christi anbelangt, so hat sie nach Schleiermacher keine eigenständige Bedeutung neben seiner Lehre. Mag zwar zu seinen irdischen Lebzeiten die Anerkennung Jesu Christi in Einzelfällen durch Wunder veranlasst oder bestätigt worden sein, ohne doch eigentlich ihren Grund in diesen zu finden, „so müssen sie für uns hinsichtlich unseres Glaubens gänzlich überflüssig sein. Denn Wunder können nur vermöge ihrer unmittelbaren Anschaulichkeit das geistige Bedürfnis auf einen bestimmten Gegenstand hinlenken, oder wenn es sich schon dahin gewendet hat, dieses innere Verhältnis auf eine äußerliche Weise rechtfertigen. Aber die Anschaulichkeit verliert sich nach Maßgabe, wie der, welcher glauben soll, von dem Wunder selbst räumlich und zeitlich entfernt ist. Was aber für unsere Zeit an die Stelle der Wunder tritt, das ist die geschichtliche Kunde von der Beschaffenheit, sowie von dem Umfang und Bestand der geistigen Wirkungen Christi. Diese haben wir vor den Zeitgenossen des Erlösers voraus, und an ihnen ein Zeugnis, dessen Kraft in demselben Maß zunimmt, nach welchem die Anschaulichkeit der Wunder sich verliert.“ (GL2 § 103,4) Das hohepriesterliche Amt Jesu Christi als zweites Element des munus triplex „schließt in sich seine vollkommne Gesetzerfüllung oder seinen tätigen Gehorsam, seinen versöhnenden Tod oder seinen leidenden Gehorsam, und die Vertretung der Gläubigen beim Vater“ (GL2 § 104, Leitsatz). Dabei gilt, dass aktive und passive Obödienz in jedem Augenblick und in allen Momenten des Lebens Christi „miteinander verbunden“ (GL2 § 104,2) waren. „Daher denn auch, weil weder das Tun Christi ohne sein Leiden hätte erlösend, noch das Leiden ohne sein Tun versöhnend sein können, weder dem tätigen Gehorsam allein die Erlösung, noch dem leidenden allein die Versöhnung zugeschrieben werden kann, sondern beiden beides.“ (Ebd.) Vorauszuschicken ist ferner, dass weder der tätige noch der leidende Gehorsam Jesu Christi ersatzweise für uns ins Werk gesetzt wurde, was durch das Lehrstück von der interzessorischen Vertretung Christi (vgl. GL2 § 104,5) nicht infrage gestellt, sondern bestätigt wird; sondern der sowohl aktive als auch passive Gesamtgehorsam Christi „gereicht nur insofern zu unserm Besten, als durch denselben unsere Aufnahme in die Lebensgemeinschaft mit ihm bewirkt wird, und in dieser wir von ihm bewegt werden, mithin das ihn bewegende Prinzip auch das unsrige wird; eben wie wir auch durch die Sünde Adams nur mit verdammt werden, sofern wir in der natürlichen Lebensgemeinschaft mit ihm und auf dieselbe Weise bewegt auch alle selbst sündigen.“ (GL2 § 104,3)

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Statt von stellvertretender Genugtuung spricht Schleiermacher im Hinblick auf den differenzier- Genugtuender Stell­ ten Zusammenhang aktiver und passiver Obödienz vertreter von Christus als genugtuendem Stellvertreter, womit gemeint ist, „daß er einesteils vermöge seiner urbildlichen Würde in seiner erlösenden Tätigkeit die Vollendung der menschlichen Natur so darstellt, daß vermöge unseres Einsgewordenseins mit ihm Gott die Gesamtheit der Gläubigen nur in ihm sieht und würdiget, andernteils indem sein Mitgefühl mit der Sünde, welches stark genug war, um die zur Aufnahme aller Menschen in seine Lebensgemeinschaft hinreichende erlösende Tätigkeit hervorzubringen, deren absolute Kraft sich in seiner freien Hingebung in den Tod am vollkommensten darstellt, immer noch unserm unvollkommnen Bewußtsein der Sünde zur Ergänzung und Vervollständigung dient“ (GL2 § 104,4). Im Großen und Ganzen ist damit schon benannt, was Schleiermacher zum tätigen und leidenden Gehorsam Jesu Christi im Einzelnen ausführt. Um in erster Hinsicht nur noch dieses zu ergänzen: „Darum ist wie dort der Hohepriester, so hier Christus derjenige, der uns rein darstellt vor Gott vermöge seiner eignen vollkommnen Erfüllung des göttlichen Willens, wozu durch sein Leben in uns der Trieb auch in uns wirksam ist, so daß wir in diesem Zusammenhang mit ihm auch Gegenstände des göttlichen Wohlgefallens sind. Dies ist der uns eigne und auf christlichem Boden nicht anzufechtende Sinn jenes oft mißverstandenen Ausdrucks, daß Christi Gehorsam unsere Gerechtigkeit sei, oder daß seine Gerechtigkeit uns zugerechnet werde; sehr leicht mißzuverstehen, aber gewiß nicht gründlich zu verteidigen ohne die Voraussetzung eines gemeinsamen Lebens, welches übrigens auch in dem Begriff des Hohepriesters auf das Bestimmteste vorausgesetzt wird.“ (GL2 § 104,3) Was hinwiederum den leidenden Gehorsam anbelangt und den „Sinn der von außen oft angefochtenen Ausdrücke, daß Christus durch seine freie Hingebung in Leiden und Tod der göttlichen Gerechtigkeit, als welche den Zusammenhang zwischen Sünde und Übel geordnet hat, genug getan, und uns dadurch von der Strafe der Sünde befreit habe“ (GL2 § 104,4), so gilt, „daß durch das Leiden Christi die Strafe hinweggenommen sei, weil in der Gemeinschaft seines seligen Lebens auch das erst im Verschwinden begriffene Übel wenigstens nicht mehr als Strafe aufgenommen wird“ (ebd.). Im Kreuzestod hat die Aufhebung von Strafleiden statt, weil Jesu Christi seliges Leben in seinem durch sein Mitleiden mit menschlicher Sündenschuld herbeigeführten Kreuzestod sich als „sich selbst schlechthin verleugnende Liebe“ (ebd.) vollendet, in welcher selbstlosen Liebe hinwiederum sich uns in der vollständigsten Anschaulichkeit die Art und Weise vergegenwärtigt, „wie Gott in ihm war, um die Welt mit sich zu versöhnen, so wie auch am vollkommensten in seinem Leiden, wie unerschütterlich seine Seligkeit war, mitgefühlt wird. Daher man sagen kann, daß die Überzeugung von seiner Heiligkeit sowohl als seiner Seligkeit uns immer zunächst aus dem Versinken in sein Leiden aufgeht. Und wie der tätige Gehorsam Christi seinen eigentlich hohenpriesterlichen Wert vornehmlich darin hat, daß

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Gott uns in Christo als Genossen seines Gehorsams sieht: so besteht der hohepriesterliche Wert des leidenden Gehorsams vornehmlich darin, daß wir Gott in Christo sehen und Christum als den unmittelbarsten Teilhaber der ewigen Liebe, welche ihn gesendet und ausgerüstet hat.“ (Ebd.) Ist in der Lehre vom munus sacerdotale Jesu Christi die Einsicht vom vollendeten Ende alles Priestertums mitgesetzt, „so daß die Rückkehr des Priestertums in die Kirche als eines der größten Mißverständnisse angesehen werden muß“ (GL2 § 104,6), so beinhaltet die Lehre vom officium regium, die Lehre vom königlichen Amt Jesu Christi, wie sich von selbst versteht, eine Vorstellung vom Königtum, die mit den üblichen Formeln politischer Machtausübung wenig gemein hat, sofern unter der Macht Christi nur diejenige zu verstehen ist, „welche mit dem Reich der Gnade anfängt, und in demselben wesentlich beschlossen ist“ (GL2 § 105,2). Ohne auf „die Unterscheidung der königlichen Gewalt Christi von dem bürgerlichen Regiment“ (ebd.) weiter einzugehen, sei lediglich festgehalten, dass das wahre Reich Christi identisch ist mit dem einen Reich der Gnade, „welches nun auch das einzige ist, wovon das Bewußtsein in unsern frommen Gemütszuständen wirklich vorkommt, und wovon wir auch allein, weil unser wirksamer Glaube da­ rauf gerichtet sein muß, einer leitenden Erkenntnis bedürfen“ (ebd.). Dem entspricht der vorangestellte Leitsatz, welcher lautet: „Das königliche Amt Christi besteht darin, daß alles, was die Gemeinschaft der Gläubigen zu ihrem Wohlsein erfordert, immerwährend von ihm ausgeht.“ (GL2 § 105, Leitsatz) Das Lehrstück vom Geschäft Jesu Christi vermittelt Urbildchristologie die Lehre von seiner Person mit derjenigen von der Person des Christen bzw. von dem Zustand, in dem sich dieser im Bewusstsein der göttlichen Gnade befindet. Indem der Erlöser die Gläubigen in die Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins und in die Gemeinschaft seiner ungeteilten Seligkeit aufnimmt, indem er sie also erlöst und versöhnt, gibt er ihnen Anteil an seiner Person, um zugleich ihr personales Christsein zu konstitutieren, dessen individuelle Verfassung Schleiermacher im zweiten Hauptstück seiner Gnadentheologie thematisiert. Um, bevor hierauf einzugehen ist, noch einige Bemerkungen zum ersten Lehrstück des ersten Hauptstücks, nämlich zur Lehre von der Person Jesu Christi nachzutragen, so wird diese zum einen durch das Stichwort der Urbildlichkeit, zum anderen durch den Grundsatz gekennzeichnet, dass der Erlöser vermöge der Selbigkeit der Natur zwar allen Menschen gleich, durch die stetige Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins aber von allen charakteristisch unterschieden sei (vgl. GL2 §§ 93–94). Was die sog. Urbildchristologie betrifft, so vermag die seiner Wirkung entsprechende Würde des Erlösers nach Schleiermacher angemessen nur dann gedacht zu werden, wenn der geschichtliche Gesamtverlauf seines Lebens urbildlich das enthält, worauf die Erlösung ihrem vollendeten Begriff gemäß hinzielt. Diese Urbildlichkeit, die „eigentlich das Sein des Begriffes selbst aussagt“ (GL2 § 93,2), ist gegeben in der geschichtlich steten Kräftigkeit des Gottesbewusstseins Jesu Christi. Um Missverständnisse zu vermeiden fügt Schleiermacher an, daß das Urbildliche dem bloß Vorbildlichen keineswegs gleichzusetzen sei, weil das lediglich

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Exemplarische die Möglichkeit seiner Befolgung bereits voraussetzt, wohingegen das Urbildliche als die Bedingung der Möglichkeit seiner Konsequenzen fungiert. Ist in Jesus Christus das Urbildliche geschichtlich realisiert, so beinhaltet dies u. a., dass er „in allen Momenten auch seiner Entwicklungsperiode frei sein (musste) von allem, wodurch das Entstehen der Sünde in dem einzelnen Menschen bedingt ist“ (GL2 § 93,4). Die gänzliche Freiheit des Erlösers von aller Sündhaftigkeit hindert indes nach Schleiermacher „keinesweges die vollständige Identität der menschlichen Natur“ (GL2 § 94,1). Sie verleiht dieser Identität aber einen geschichtlich schlechterdings singulären Status und einzigartigen Charakter vermöge der schlechthinnigen Kräftigkeit stetigen Gottesbewusstseins im Menschen Jesus Christus. Dieses schlechthin kräftige Gottesbewusstsein des Menschen Jesus Christus ist nach Schleiermacher nichts anderes als Gottes Sein in ihm. Dabei ergeben eindringliche Reflexionen über den Ausdruck „Sein Gottes in irgend einem andern“ (GL2 § 94,2), dass recht eigentlich Jesus Christus der „einzige ursprüngliche Ort“ (ebd.) für ein Sein Gottes im andern ist. „Ja wir werden nun rückwärtsgehend sagen müssen, wenn erst durch ihn das menschliche Gottesbewußtsein ein Sein Gottes in der menschlichen Natur wird, und erst durch die vernünftige Natur die Gesamtheit der endlichen Kräfte ein Sein Gottes in der Welt werden kann, daß er allein alles Sein Gottes in der Welt und alle Offenbarung Gottes durch die Welt in Wahrheit vermittelt, insofern er die ganze neue eine Kräftigkeit des Gottesbewußtseins enthaltende und entwickelnde Schöpfung in sich trägt.“ (Ebd.) Der Anfang des Lebens Jesu Christi gilt Schleiermacher sonach „als die vollendete Schöpfung der menschlichen Natur“ (GL2 § 94,3). Im zweiten Adam erfüllt sich die Bestimmung des ersten. Es ist im gegebenen Zusammenhang nicht nötig, Schleiermachers Kritik des christologischen Dogmas der Alten Kirche zu kommentieren. Sie ergibt sich direkt und konsequent aus der für ihn eigentümlichen Konstruktion des Lehrstücks von der Person Jesu Christi. Anzumerken ist lediglich, dass nach Schleiermachers Urteil „(d)ie Tatsachen der Auferstehung und der Himmelfahrt Christi sowie die Vorhersagung von seiner Wiederkunft zum Gericht … nicht als eigentliche Bestandteile der Lehre von seiner Person aufgestellt werden (können)“ (GL2 § 99, Leitsatz). Als Auferstehung und Himmelfahrt betreffende Begründung wird angeführt, „daß der richtige Eindruck von Christo vollständig vorhanden sein kann und auch gewesen ist, ohne eine Kunde von diesen Tatsachen“ (GL2 § 99,1): „Die Jünger erkannten in ihm den Sohn Gottes, ohne etwas von seiner Auferstehung und Himmelfahrt zu ahnden, und dasselbe können wir auch von uns sagen: so wie auch die von ihm verheißene geistige Gegenwart, und alles, was er von seinem fortwährenden Einfluß auf die Zurückbleibenden sagt, durch keine von diesen beiden Tatsachen vermittelt wird.“ (Ebd.) Der christologischen Marginalisierung von Auferstehung und Himmelfahrt korrespondiert die untergeordnete Stellung, die Schleiermacher dem Leiden und Sterben Jesu Christi im Rahmen seiner Gesamtwirksamkeit zudenkt. Der Totaleindruck, den seine Person und sein Wirken hinterlassen haben, geht von seiner Le-

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bensaktivität und weniger von seiner Passion aus. Die Lehre von der Art, wie sich die Gemeinschaft mit der Vollkommenheit und Seligkeit des Erlösers in der einzelnen Seele ausdrückt, ratifiziert diesen Sachverhalt. Indem der Einzelne in die Lebensgemeinschaft Christi aufgenommen wird, wird er ein neues Geschöpf, ein neuer Mensch oder, wie Schleiermacher am liebsten sagt, eine „neue Persönlichkeit“ (GL2 § 106,1), deren Kennzeichen Religiosität und Frömmigkeit sind: „Unter einer frommen Persönlichkeit … ist eine solche zu verstehen, in welcher jeder überwiegend leidentliche Moment nur durch die Beziehung auf das in der Einwirkung des Erlösers gesetzte Gottesbewußtsein beschlossen wird, und jeder tätige von einem Impuls eben dieses Gottesbewußtseins ausgeht.“ (Ebd.) Das eigentümliche Selbstbewusstsein der frommen Frommes und religiösen Persönlichkeit wird nach Maßgabe Selbstbewusstsein des Leitsatzes von GL2 § 106 unter den beiden Begriffen der Wiedergeburt und der Heiligung dargestellt. Deren differenzierter Zusammenhang ergibt sich aus der Tatsache, dass die neue Persönlichkeit des frommen und religiösen Menschen vermöge der Selbigkeit psychischer Lebenseinheit in bleibender Beziehung steht zur – wenn man so will – Vergangenheit ihrer alten Herkunft. Ihr neues Leben ist daher „in der Erscheinung nur ein werdendes. Dennoch kann der Zustand, in welchem dasselbe ein werdendes ist, wenn in der Erinnerung auf den bezogen, in welchem es auch noch kein werdendes war, nur angeknüpft werden und mit dem vorigen zu der zeitlichen Stetigkeit derselben Person nur verbunden werden durch die Voraussetzung eines Wendepunktes, mit welchem die Stetigkeit des Alten aufhörte und die des Neuen zu werden begann; und dies ist das Wesentliche des Begriffs der Wiedergeburt. So wie auf der andern Seite die wachsende Stetigkeit des Neuen, worin die der Formel des­selben angemessenen Momente immer mehr aneinandertreten, die das alte Leben repräsentierenden aber immer schwächer und seltener wiederkehren, durch den Ausdruck Heiligung bezeichnet wird.“ (GL2 § 106,1) Bleibt hinzuzufügen, dass Wiedergeburt und Heiligung als die Bestimmungsmomente des Selbstbewusstseins der frommen Persönlichkeit nach Schleiermacher in einer offenkundigen christologischen Analogie zum Akt der Vereinigung göttlicher und menschlicher Natur in der Person Jesu Christi einerseits und zu dem Zustand ihres Vereintseins andererseits stehen: „Nur daß dort eine Person erst rein entstand und daher auch der Zustand der Vereinigung eine ununterbrochene Stetigkeit war und eine ebensolche Verbreitung in der menschlichen Natur, welches daher auch hier der Fall sein müßte, wenn nicht vermöge der Identität des Subjekts mit der früheren Persönlichkeit immer noch Elemente aus dem Leben der Sünd­haftigkeit her als hemmend vorhanden wären. Und ebensowenig wie dort eines ohne das andere sein konnte, ebensowenig läßt sich auch hier die Wiedergeburt isolieren oder die Heiligung.“ (Ebd.) Das Lehrstück von der Wiedergeburt entfaltet Wiedergeburt Schleiermacher in zwei Lehr­sätzen, deren erster von der Bekehrung und deren zweiter von der Rechtfer-

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tigung handelt. Unter dem Aspekt der Bekehrung wird das in der Wiedergeburt statthabende Aufgenommenwerden in die Lebensgemeinschaft mit Christo „als veränderte Lebensform“, unter dem Aspekt der Rechtfertigung „als verändertes Verhältnis des Menschen zu Gott“ betrachtet (GL2 § 107 Leitsatz). Was den ersten Aspekt betrifft, so soll unter Lebensform nichts anderes verstanden werden „als die Art und Weise, wie die einzelnen Zeitteile des Lebens werden und sich aneinanderreihen; und das Selbstbewußtsein wird also betrachtet in seinem Übergang in Tätigkeit, das heißt als Grund des Willens. In dem verlassenen Zustande nun waren die Erregungen des Selbstbewußtseins, in welchen das Gottesbewußtsein mitgesetzt war, nicht willenbestimmend sondern nur durchlaufend, und nur das sinnliche Selbstbewußtsein war willenbestimmend. Der Lebenszusammenhang mit Christo aber bringt eine Umwandlung dieses Verhältnisses beider Elemente hervor, und dies wird durch den Ausdruck Bekehrung bezeichnet.“ (GL2 § 107,1) Was hinwiederum das menschliche Gottesverhältnis als den mit dem Rechtfertigungsbegriff verbundenen Aspekt des Aufgenommenwerdens in die Lebensgemeinschaft mit Christus anbelangt, so haben wir ein Verhältnis zu Gott „nur wirklich in unserm ruhenden Selbstbewußtsein, wie es sich im Gedanken reflektiert festhält, und nur sofern das Gottesbewußtsein darin mitgesetzt ist. Nun kennen wir, als dem Leben im Zustand der Sündhaftigkeit eigen, nur ein Verhältnis des Menschen zu der göttlichen Heiligkeit und Gerechtigkeit, und dieses ist nichts anderes als das Selbstbewußtsein der Schuld und der Strafwürdigkeit. Daß nun dieses mit dem Anfang der Lebensgemeinschaft Christi aufhören muß, und nicht etwan erst mit irgendeinem Grade der Vollkommenheit in derselben, leuchtet von selbst ein, da beides gar nicht miteinander bestehen kann; und es kein wahres Bewußtsein von Gemeinschaft mit Christo geben kann, so lange jenes Bewußtsein noch fortbesteht.“ (Ebd.) Zu ergänzen ist, dass Bekehrung und Rechtfertigung als Bestimmungsmomente der Wiedergeburt einen zwar differenzierten, aber untrennbaren Zusammenhang bilden, so dass beide als unzertrennlich und simultan auftretend zu denken sind. Schleiermacher stellt daher fest: „Die Ordnung scheint bei der Gegenseitigkeit der Beziehung völlig gleichgültig, es wird aber in vieler Hinsicht bequemer sein, die Bekehrung voranzuschicken.“ (GL2 § 107,2) Während der allgemeine Begriff der Wiedergeburt „den Anfang eines zusammenhängenden Lebens“ nach Schleiermacher „am bestimmtesten“ ausdrückt, tritt die „Beziehung auf das Vorhergegangene“ (ebd.) in ihm sehr zurück. Diesen Mangel kompensiert der Bekehrungsbegriff: denn „(v)on dem Wort Bekehrung für Umwendung, Umkehr zum Besseren, leuchtet unmittelbar ein, daß es Anfang einer Reihe ist im Gegensatz einer früheren“ (ebd.). Bestimmt ist der Vollzug der Bekehrung im Wesentlichen durch zwei Momente: durch Buße und durch Glaube. Mit dem Leitsatz von § 108 zu reden: „Die Bekehrung, als der Anfang des neuen Lebens in der Gemeinschaft mit Christo, bekundet sich in jedem Einzelnen durch die Buße, welche besteht in der Verknüpfung von Reue und Sinnesänderung und durch den Glauben, welcher besteht in der Aneignung der Vollkommenheit und Seligkeit Christi.“

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Nachdem die Legitimation des gewählten Sprachgebrauchs vor der Terminologie der dogmatischen Tradition erfolgt (vgl. GL2 § 108,1) und die Auffassung, der Vollzug der Bekehrung sei minutiös zu terminieren (vgl. GL2 § 108,3), ebenso abgewiesen ist wie die Meinung, für als Christenkinder Geborene bedürfe es keiner Bekehrung (vgl. GL2 § 108,4), bleibt für Schleiermacher vor allem die Frage zu beantworten, wie sich im Vollzug der Bekehrung „die aufnehmende Tätigkeit Christi und der leidentliche Zustand des Aufzunehmenden gegeneinander verhalten“ (GL2 § 108,4). Er unterstreicht die reformatorische Auffassung, wonach der Mensch im Vollzug seiner Begnadung gänzlich rezeptiv und mere passive zu denken sei. Der in Begnadung Begriffene verhalte sich in ihr in einer zweifachen Weise untätig, nämlich in Form eines Nichtmehr- und in Form eines Nochnichttätigseins, womit gesagt ist: die Christwerdung geht einher mit einem Aufhören des sündigen Wirkens und mit einem Beginnen heilsamer Selbsttätigkeit, dessen Anfang als Nullpunkt zu gelten habe. Ursache des anfänglichen Christenlebens ist allein Christus, der auch fernerhin alleiniger Grund des Christen insofern bleibt, als ohne das Urbild dem Abbild keine Wirklichkeit zukommt. Allerdings vermittelt sich die Wirklichkeit des Urbilds dem Abbild dergestalt, dass von dessen Mitwirkung bei der urbildlichen Tätigkeit nicht nur die Rede sein kann, sondern die Rede sein muss. Indes bedeutet Mitwirkung nach Schleiermacher recht eigentlich nichts anderes als ein „Freilassen der lebendigen Empfänglichkeit (GL2 § 108,6) für die Einwirkung Christi. Wie sich die Bekehrung als erstes Bestimmungsmoment der Wiedergeburt in Buße und Glaube unterscheidet, so die Rechtfertigung als das zweite Bestimmungsmoment in göttliche Sündenvergebung und Adoption. Mit dem Leitsatz von GL2 § 109 zu reden: „Daß Gott den sich Bekehrenden rechtfertigt, schließt in sich, daß er ihm die Sünden vergibt und ihn als ein Kind Gottes anerkennt. Diese Umänderung seines Verhältnisses zu Gott erfolgt aber nur, sofern der Mensch den wahren Glauben an den Erlöser hat.“ Zu letzterem Aspekt merkt Schleiermacher u. a. an, dass der göttliche Akt der Rechtfertigung mit der Wirksamkeit Christi in der Bekehrung untrennbar zusammengehört und der Missverstand strikt zu vermeiden ist, „als ob eines ohne das andere sein könnte“ (GL2 § 109,3). Was aber die Momente des göttlichen Rechtfertigungsvollzugs an dem sich bekehrenden Menschen anbelangt, so verhalten sich Sündenvergebung und Adoption wie negatives und positives Element eines Ganzen, was dem Verhältnis von Buße und Glaube als den charakteristischen Elementen der Bekehrung analog ist: „die Buße, als das durch das Bewußtsein der Sünde bewegte Selbstbewußtsein kommt ebenso in der Sündenvergebung zur Ruhe, wie der von seiner Entstehung an durch die Liebe tätige Glaube im Gedanken das Bewußtsein der Kindschaft Gottes ist, als welches dasselbe ist mit dem von der Lebensgemeinschaft mit Christo.“ (GL2 § 109,2) Der zuletzt erwähnte Gesichtspunkt der AdopHeiligung tion als des zweiten Elements des die Wiedergeburt vollendenden Rechtfertigungsgeschehens leitet direkt über zum Aspekt der Heiligung, welcher demjenigen der Wiedergeburt un­veräußerlich beigesellt ist. Die wiederholte Betonung der Unmöglichkeit, „daß

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Christus in uns lebe, ohne daß auch sein Verhältnis zu seinem Vater sich in uns gestalte, wir mithin an seiner Sohnschaft teilnehmen, welches die von ihm herrührende Macht ist, Kinder Gottes zu sein“, verbindet Schleiermacher mit dem ausdrücklichen Hinweis: „und dieses schließt die Gewährleistung der Heiligung in sich. Denn das Recht der Kindschaft ist, zur freien Mittätigkeit im Hauswesen erzogen zu werden, und das Naturgesetz der Kindschaft ist, daß sich durch den Lebenszusammenhang auch die Ähnlichkeit mit dem Vater in dem Kinde entwickle.“ (GL2 § 109,2) Der zusammenfassende Leitsatz zum Lehrstück von der Heiligung unterstreicht dies erneut, wenn es heißt: „In der Lebensgemeinschaft mit Christo werden die natürlichen Kräfte der Wiedergebornen ihm zum Gebrauch angeeignet, woraus sich ein seiner Vollkommenheit und Seligkeit verwandtes Leben bildet, welches der Stand der Heiligung heißt.“ (GL2 § 110, Leitsatz) Um Missverständnisse zu vermeiden, fügt Schleiermacher an, dass der Zustand der Heiligung nicht mit Heiligkeit oder Heiligsein gleichzusetzen ist. Der Ausdruck Heiligung bezeichnet vielmehr das Trachten nach Heiligkeit, also ein im Werden begriffenes Sein. Würde es sich anders verhalten, was nicht der Fall ist, „so wäre in der Wiedergeburt schon eine völlige Verwandlung zustande gekommen, so daß jeder Zusammenhang mit dem sündigen Gesamtleben ganz aufgehoben wäre und im Augenblick das ganze Wesen von dem Leben Christi vollkommen durchdrungen und in seiner Gewalt sein müßte. Alsdann aber wäre diese Umwandlung ganz ein Teil der Wiedergeburt und es wäre über das, was sich aus ihr entwickelt, gar keine Lehre aufzustellen.“ (GL2 § 110,1) Das Sein des Christen ist im Werden begriffen. Zielpunkt des Prozesses des Christenlebens ist die Einheit mit Christus als der Ursache und des Grundes allen Christseins. Je mehr sich der Christ „der Gleichheit mit Christo nähert“ (GL 2 § 110,3), desto mehr entspricht er seinem Begriff. Denn der wahre und urbildliche Christ ist niemand anderes als Christus selbst. Ihm soll der Christ kraft der Gnade Christi dadurch angeglichen werden, dass er das Tun der Sünde fortschreitend hinter sich lässt, um konsequent auf dem Wege der Besserung zu wandeln. Besserung manifestiert sich im Wachstum guter Werke, die dem Glauben unveräußerlich zugehören. Doch betont Schleiermacher unmissverständlich, dass der Fortschritt im Tun guter Taten realiter stets nur ein anfänglicher sein könne. Als Gegenstand göttlichen Wohlgefallens haben daher recht eigentlich nicht die Handlungen der Wiedergeborenen als solche zu gelten, wie sie in der Erscheinung hervortreten, „sondern nur dasjenige darin, was Tätigkeit des Glaubens, mithin Ausdruck unsrer Lebensgemeinschaft mit Christo ist. Mithin ist nur die Liebe in unsern guten Werken das Gottgefällige, so wie sie in dem Wollen des Reiches Gottes zugleich Liebe zu den Menschen und Liebe zu Christo und Liebe zu Gott ist und zugleich auch die in uns und durch uns fortwirkende Liebe Christi selbst. Wie nun überhaupt nicht das, was bald ist, bald nicht ist, Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens sein kann: so muß dasselbe vorzüglich auf diesem in allen Momenten im Stande der Heiligung sich selbst Gleichen ruhen, wie es auch das Wechselnde an sich zieht und sich assimiliert. Daher ist es ganz richtig, daß eigentlich nur die Person, und zwar nur wie Gott sie

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in Christo sieht, Gegenstand des Wohlgefallens ist, die Werke aber nur um der Person willen. Und dieses mit dem Wollen des Reiches Gottes notwendig verbundene Bewußtsein ist die jenes Wollen begleitende Seligkeit.“ (GL2 § 112,3; zum Problem eines sog. tertius usus legis vgl. § 112,5) Man hat Schleiermachers Religionsverständnis als Individualität und abstrakt individualistisch kritisiert und tut es noch. Sozialität Diese Kritik ist abwegig. Das Phänomen eines unkirchlichen Individualismus widerspricht „nicht nur dem altprotestantischen Typus von Frömmigkeit, der sich ekklesial rückgebunden verstand, … also einem Luther, Calvin und Zwingli. Es hat dieser Frömmigkeitstypus … auch bei den Protagonisten der theologischen Moderne keine theo­ retischen Ahnen. Weder für Kant noch für Schleiermacher und schon gar nicht für Albrecht Ritschl, um einmal die Heroen des Neuprotestantismus aufzuführen, ist dieser Religionstypus des auf sich bezogenen religiösen Individualisten theoretisch irgendwie im Blick. Sich für die individualistische moderne Frömmigkeit auf diese zu berufen, sei es positiv als deren Gewährsmänner, sei es kritisch als die für sie Verantwortlichen, geht an deren Intention vorbei.“ (Axt-Piscalar, 341) Der einzelne Christ ist, was er ist, nicht ohne die Gemeinschaft der Christen, sondern nur in Zusammenhang mit ihnen. Wie seine christliche Glaubenslehre durchaus als kirchliche Dogmatik gestaltet ist, so ist auch Schleiermachers Soteriologie insgesamt hingeordnet auf die Ekklesiologie, welche die Lehre von der Beschaffenheit der Welt in Bezug auf die Erlösung beinhaltet. Enthält die Lehre von der christlichen Kirche als der Gemeinschaft der Christgläubigen nach seinem Urteil doch alles, „was durch die Erlösung in der Welt gesetzt wird“ (GL2 § 113, Leitsatz). Zu entfalten sind die auf die Erlösung der Welt bezogenen ekklesiologischen Aussagen in dreifacher Hinsicht: erstens im Hinblick auf die Entstehung, zweitens im Hinblick auf den Bestand und drittens im Hinblick auf die Vollendung der Kirche. Mit Schleiermachers eigenen Worten: „(S)o müssen wir zuerst handeln von dem Entstehen der Kirche oder der Art und Weise, wie sie sich aus der Welt bildet, demnächst von der Art und Weise der Kirche, im Gegensatz gegen die Welt zu bestehen, und zuletzt von der Aufhebung dieses Gegensatzes oder von den Aussichten auf die Vollendung der Kirche“ (GL2 § 114, Leitsatz). Zwar bildet der zweite Aspekt, die „Lehre von der Kirche in ihrem Zusammenbestehen mit der Welt“ den „eigentliche(n) Kern“ des ganzen ekklesiologischen Abschnitts, „so daß es auch ganz sachgemäß wäre, dieses zuvörderst festzustellen und die andern beiden mehr anhangweise zu behandeln“ (GL2 § 114,2). Gleichwohl entscheidet sich Schleiermacher für die gegebene Reihenfolge der ekklesiologischen Lehrstücke, um nach Maßgabe der „bei einem geschichtlichen Verlauf natürliche(n) Ordnung“ (ebd.) mit dem protologischen Ursprung der Kirche beginnen und mit ihrer eschatologischen Zielangabe schließen zu können. Das Entstehen der Kirche ist nach Schleiermacher „durch das Zusammen­treten der einzelnen Wiedergebornen zu einem geordneten Aufeinanderwirken und Miteinanderwirken“ (GL2 § 115, Leitsatz) gekennzeichnet. Näher bestimmt wird der

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Prozess kirchlicher Genese „durch die beiden Lehren von der Erwählung und von der Mitteilung des Heiligen Geistes“ (GL2 § 116, Leitsatz). Der Begriff der Erwählung „hat es mit demjenigen zu tun, was bei dem Entstehen der Kirche nach dem Obigen die Sache der göttlichen Weltregierung ist, daß nämlich diejenigen, welche die Kirche bilden sollen, aus der Welt müssen ausgesondert werden. Dies ist daher die Betrachtung des Entstehens der Kirche, wenn man rückwärts sieht nach dem Ort hin, woher ihre Mitglieder kommen. Der andere Begriff aber hat es mit demjenigen zu tun, was in den Einzelnen der Grund ist von der Stetigkeit ihres Zusammenwirkens und Aufeinanderwirkens. Da nun in diesem das Wesen der christlichen Kirche besteht, so wird in diesem Begriff das Entstehen der Kirche betrachtet, indem man vorwärts sieht auf das so entstehende Gesamtleben, welches nur durch die Selbigkeit des Bewegenden und Treibenden in allen und jedem Einzelnen eine wahre Lebenseinheit, nach Art nämlich einer zusammengesetzten oder sogenannten moralischen Person werden und bleiben kann, so daß sich aus diesem dem Einzelnen als Erwählten mitgeteilten Prinzip das ganze Leben und Wirken der Kirche muß erklären lassen.“ (GL2 § 116,1) Expliziert wird das Lehrstück von der Erwählung, dessen Zentralproblem in der fehlenden Deckungsgleichheit zwischen dem von Christus gestifteten Reich Gottes und dem gegebenen Menschengeschlecht besteht (vgl. GL2 § 117 f.), in den beiden Lehrsätzen von der Vorherbestimmung (vgl. GL2 § 119) und von den Bestimmungsgründen der Erwählung (vgl. GL2 § 120). Die Entfaltung des Lehrstücks von der „nach der Entfernung Christi von der Erde“ (GL2 § 122, Leitsatz) erfolgten Mitteilung des Hl. Geistes „als des Gemeingeistes des von Christo gestifteten neuen Gesamtlebens“ (GL2 § 121, Leitsatz) hinwiederum wird in drei Lehrsätzen vorgenommen, welche folgendermaßen lauten: „Der Heilige Geist ist die Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in der Form des das Ge­ samtleben der Gläubigen beseelenden Gemeingeistes.“ (GL2 § 123, Leitsatz) „Jeder Wiedergeborne ist des Heiligen Geistes teilhaftig, so daß es keine Lebensgemeinschaft mit Christo gibt ohne Einwohnung des Heiligen Geistes und umgekehrt.“ (GL2 § 124, Leitsatz) „Die von dem Heiligen Geist beseelte christliche Kirche ist in ihrer Reinheit und Vollständigkeit das vollkommne Abbild des Erlösers, und jeder einzelne Wiedergeborne ist ein ergänzender Bestandteil dieser Gemeinschaft.“ (GL2 § 125, Leitsatz) Im Zentrum der Schleiermacher’schen Ekklesiologie steht das Lehrstück vom Bestehen der Kirche Lehre von der Kirche in ihrem Zusammensein mit der Welt. Zwei Gesichtspunkte sind bei der Entfaltung dieses Lehrstücks leitend: der Aspekt zeit­ invarianter Selbigkeit kirchlichen Wesens und der Aspekt kirchlichen Wandels im empirischen Lauf der Zeiten. Mit Schleiermachers Worten: „Wenn die Gemeinschaft der Gläubigen als ein geschichtlicher Körper im menschlichen Geschlecht in stetiger Wirksamkeit dasein und fortbestehen soll: so muß sie beides in sich vereinigen, ein sich selbst Gleiches, vermöge dessen sie im Wechsel dieselbe bleibt, und ein Veränderliches, worin sich jenes kundgibt.“ (GL2 § 126,1) Zu ergänzen ist, was

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indirekt aus dem zitierten Satz bereits hervorgeht, dass nämlich „das sich selbst Gleiche und Unveränderliche des Christentums“ (GL2 § 126,2) sich stets im differenzierten Zusammenhang und nie in gänzlicher Separation von dessen geschichtlicher Erscheinung darbietet, so wie denn auch umgekehrt die geschichtliche Erscheinung des Christentums ekklesiologisch relevant ist nur im Verein mit seinem gottgestifteten Bestimmungsgrund. Die darstellungstechnisch unvermeidbare Unterscheidung zwischen den wesentlichen und unveränderlichen Grundzügen der Kirche und dem Wandelbaren, was der Kirche vermöge ihres Zusammenseins mit der Welt zukommt, darf also keinesfalls als Trennung missverstanden werden. Die Lehre von den wesentlichen und unveränderlichen Grundzügen der Kirche, welcher die erste Hälfte des zweiten ekklesiologischen Hauptstücks gewidmet ist, beinhaltet diejenigen kirchlichen Haupttätigkeiten, durch welche das Beginnen der Kirche nicht nur anfänglich, sondern dauerhaft bestimmt ist. Anders formuliert: Das ekklesiologisch Unveränderliche „gründet sich wesentlich darauf, daß die Kirche nur durch dasjenige fortbestehen und zu ihrer Vollkommenheit gelangen kann, wodurch sie auch entstanden ist“ (GL2 § 126,2). Systematisch geordnet werden die Konstitutions- und Erhaltungsfaktoren der Kirche, welche ihr unveränderliches Wesen ausmachen, unter drei Aspekten, die in sich jeweils zweigeteilt sind: „Die christliche Gemeinschaft ist ohnerachtet des von ihrem Zusammenbestehen mit der Welt unzertrennlichen Wandelbaren doch immer und überall sich selbst gleich, insofern erstlich das Zeugnis von Christo in ihr immer dasselbige ist, und dies findet sich in der heiligen Schrift und im Dienst am göttlichen Wort; zweitens insofern die Anknüpfung und Erhaltung der Lebensgemeinschaft mit Christo auf denselben Anordnungen Christi beruht, und diese sind die Taufe und das Abendmahl; endlich insofern der gegenseitige Einfluß des Ganzen auf den Einzelnen und der Einzelnen auf das Ganze immer gleich geordnet ist, und dieser zeigt sich im Amt der Schlüssel und im Gebet im Namen Jesu.“ (GL2 § 127, Leitsatz) Da die drei Aspekte, wie erwähnt, jeweils in sich dreigeteilt sind, ergeben sich im Zusammenhang der Entfaltung der wesentlichen und unveränderlichen Grundzüge der Kirche sechs Lehrstücke, die hier lediglich benannt und nicht ausgeführt werden sollen: 1. Von der Hl. Schrift (GL2 §§ 128–132). 2. Vom Dienst am göttlichen Wort (GL2 §§ 133–135). 3. Von der Taufe (GL2 §§ 136–138). 4. Vom Abendmahl (GL2 §§ 139–142). 5. Vom Amt der Schlüssel (GL2 §§ 144 f.). 6. Vom Gebet im Namen Jesu (GL2 §§ 146 f.). Die Lehre von dem Wandelbaren, was der Kirche vermöge ihres Zusammenseins mit der Welt zukommt, stellt die zweite Hälfte des ekklesiologischen Lehrstücks vom Bestehen der Kirche dar und ist durch zwei Grundsätze bestimmt, die beide auf die Differenz von ecclesia visibilis und ecclesia invisibilis konzentriert sind: „Dadurch, daß die Kirche sich aus der Welt nicht bilden kann, ohne daß auch die Welt einen Einfluß auf die Kirche ausübt, begründet sich für die Kirche selbst der Gegensatz zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Kirche.“ (GL2 § 148, Leitsatz) „Der Gegensatz zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Kirche läßt sich in den beiden Sätzen zusammenfassen, daß die erste eine geteilte ist, die andere aber un­geteilt

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eine, und daß die erste immer dem Irrtum unterworfen ist, die andre aber untrüglich.“ (GL2 § 149, Leitsatz) Aus dem zweiten Leitsatz ergibt sich die Gliederung für alles Weitere: auch dies soll hier lediglich registriert und nicht weiter entfaltet werden. Ein erstes Lehrstück (GL2 §§ 150–152) handelt von der Mehrheit der sichtbaren Kirche in Bezug auf die Einheit der unsichtbaren, ein zweites (GL2 §§ 153–156) von der Irrtumsfähigkeit der sichtbaren Kirche in Bezug auf die Untrüglichkeit der unsichtbaren. Schleiermachers ekklesiologisch entfaltete Lehre von der Beschaffenheit der Welt in Bezug auf die Er- Eschatologische Voll­ lösung wird beschlossen durch das Lehrstück von endung der Vollendung der Kirche, deren eschatologische Vorstellung aufs engste verbunden ist mit der Vorstellung vom Zustand der menschlichen Persönlichkeit nach dem Tode. „Die Lösung beider Aufgaben, die Kirche in ihrer Vollendung und den Zustand der Seelen im künftigen Leben darzustellen, wird versucht in den kirchlichen Lehren von den letzten Dingen, denen jedoch der gleiche Wert wie den bisher behandelten Lehren nicht kann beigelegt werden.“ (GL2 § 159, Leitsatz) Letzteres ist deshalb der Fall, weil der Inhalt der Eschatologie „als unser Fassungsvermögen übersteigend keine Beschreibung unseres wirklichen Selbstbewußtseins ist“ (GL2 § 157,2). Gleichwohl enthält nach Schleiermacher das an der „Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in der Person Christi“ (GL2 § 158, Leitsatz) orientierte christliche Selbstbewusstsein Hinweise, die es ermöglichen, der eschatologischen Phantasie eine eindeutige Richtung zu weisen und einen Rahmen zu benennen, innerhalb dessen sich das dem Glauben innewohnende „Ahnungsvermögen“ (GL2 § 159,2) entwickle. Solches zu leisten ist die Aufgabe sog. prophetischer Lehrstücke, deren namensgebend Prophetisches von Schleiermacher in Bestätigung des bisher Gesagten als jenes deklariert wird, „welches in seiner höheren Bedeutung keinen Anspruch darauf macht, eine Erkenntnis im eigentlichen Sinne hervorzubringen, sondern nur schon erkannte Prinzipien anregend zu gestalten bestimmt ist“ (GL2 § 163, Zusatz). Vom Ansatz der aus der Ekklesiologie heraus entwickelten Eschatologie Schleiermachers, die den Fluchtpunkt seiner Lehre von der Beschaffenheit der Welt in Bezug auf die Erlösung bildet, und von den vier prophetischen Lehrstücken der Wiederkunft Christi, der Auferstehung des Fleisches, des Jüngsten Gerichts und der ewigen Seligkeit, wird im Kontext der Lehre von den Letzten Dingen noch eigens gehandelt werden. Zur Soteriologie bleibt nachzutragen, was Schleiermacher von den göttlichen Eigenschaften lehrt, welche sich auf die Erlösung beziehen. Es handelt sich dabei um die göttliche Liebe und die göttliche Weisheit. Liebe bestimmt Schleiermacher als „die Richtung, sich mit anderem vereinigen und in anderem sein zu wollen; ist daher der Angelpunkt der Weltregierung, die Erlösung und die Stiftung des Reiches Gottes, wobei es auf Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur ankommt, so kann die dabei zum Grunde liegende Gesinnung nur als Liebe vorgestellt werden. Unter Weisheit aber versteht man die richtige Entwerfung der Zweckbegriffe, diese in ihrer mannigfaltigen Bestimmbarkeit und in

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der Gesamtheit ihrer Verhältnisse zueinander gedacht. Zeigt sich daher die göttliche Weltregierung in der zusammenstimmenden Anordnung des ganzen Gebietes der Erlösung: so nennen wir mit Recht neben der göttlichen Liebe die Weisheit als die Kunst, gleichsam die göttliche Liebe vollkommen zu realisieren.“ (GL2 § 165,1) Dabei ist wegen des gänzlichen Fehlens einer Entzweiung von Wollen und Verstand in Gott als selbstverständlich vorauszusetzen, dass die göttlichen Eigenschaften der Liebe und der Weisheit „gar nicht irgendwie getrennt, sondern so gänzlich eines (sind), daß man jede auch als in der andern schon enthalten ansehen kann“ (GL2 § 165,2). Der Erkenntnisgrund der göttlichen Liebe als der Göttliche Liebe und „Eigenschaft, vermöge deren das göttliche Wesen Weisheit sich mitteilt“, ist das „Werk der Erlösung“ (GL2 § 166, Leitsatz). Ebenso ist es die Wirksamkeit der Erlösung, um derentwillen die Menschen Bezugspunkt göttlicher Liebe sind. Für das Verhältnis Gottes zu den Menschen gilt sonach der Grundsatz, „daß er sie nur liebt, sofern er sie in Christo sieht, wie auch sie nicht eher, als wenn sie selbst in Christo sind, zur Erkenntnis der göttlichen Liebe kommen“ (GL2 § 166,2). Als weiterer Grundsatz hat zu gelten, dass die göttliche Eigenschaft der Liebe und nur sie dem Sein und Wesen Gottes unmittelbar gleichzusetzen ist, wie dies durch § 167 bestätigt wird, dessen Überschrift schlicht und einfach lautet: „Gott ist die Liebe.“ Hat in der Erlösung in Christus die Selbstoffenbarung des göttlichen Wesens als Liebe statt, so muss die göttliche Weisheit als „das die Welt für die in der Erlösung sich betätigende göttliche Selbstmitteilung ordnende und bestimmende Prinzip“ (GL2 § 168, Leitsatz) gelten. Als das die Welt für die göttliche Erlösung in Christus ordnende und bestimmende Prinzip ist die göttliche Weisheit zugleich „der Grund, vermöge dessen die Welt als Schauplatz der Erlösung auch die schlechthinnige Offenbarung des höchsten Wesens ist, mithin gut“ (GL2 § 169, Leitsatz). Allgemein manifest ist die Güte der Welt erst, wenn sie insgesamt vom Logos durchdrungen und an sich dessen geistvolle Inkarnation ist. Dazu ist es nötig, „daß alles, was an und für sich selbst göttliche Mitteilung aufzunehmen nicht fähig ist, in Lebensverbindung mit dem soll gebracht werden, worin solche Mitteilung ihren Sitz hat; woraus denn folgt, daß solange diese Verbindung noch nicht nach allen Seiten ins Werk gesetzt ist, und der Geist sich noch nicht in allem Vernunftlosen doch irgendwie ausspricht und darstellt, solange auch die göttliche Weisheit uns nicht in allem erscheinen kann, daß aber, wenn die Welt durch uns wird für uns fertig sein, sich auch deutlich zeigen wird, daß alles nur insofern ist, als es auch ein Gegenstand der göttlichen Liebe sein kann.“ (GL2 § 169,2). Dogmatik und Ethik gehören zusammen. Die christliche Glaubenslehre verweist von sich aus in das Gebiet der christlichen Sittenlehre, „indem uns die Aufgabe entsteht, die Welt als die gute immer mehr zur Anerkennung zu bringen, und der ursprünglich der Weltordnung zum Grunde liegenden göttlichen Idee gemäß alles dem göttlichen Geist als Organ anzubilden, und so mit dem System der Er-

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lösung in Verbindung zu bringen, auf daß wir in beider Hinsicht zur vollkommnen Lebensgemeinschaft mit Christo gelangen, sowohl insofern als der Vater ihm Macht gegeben hat über alles, als auch sofern er ihm immer größere Werke zeigt, als die er schon erkannt hat. Daher denn die Welt nur insofern als vollkommne Offenbarung der göttlichen Weisheit gefaßt werden kann, als der Heilige Geist von der christlichen Kirche aus sich als die letzte weltbildende Kraft geltend macht.“ (GL2 § 169,3) Mit entsprechenden pneumatologischen Ausführungen endet nicht nur Schleiermachers Gnadenlehre, sondern seine gesamte Dogmatik. Die beigegebenen Erwägungen „Von der göttlichen Dreiheit“ bringen recht eigentlich nichts mehr Weiterführendes, sondern nur noch die Zusammenfassung des gnadentheologisch bereits Entfalteten. Betrachtet man sie als Integral der Gnadentheologie, dann kann die Trinitätslehre als der krönende Abschluss der Glaubenslehre gelten, ohne im Wesentlichen über sie hinauszuführen. Sie stellt nun einmal keine „unmittelbare Aussage über christliches Selbstbewußtsein, sondern nur eine Verknüpfung mehrerer“ (GL2 § 170, Leitsatz) dar – ganz abgesehen davon, dass sie nach Schleiermachers Urteil in ihrer überlieferten kirchlichen Fassung theoretisch unhaltbar ist.

12. Die Rechtfertigung der Zweifler und Verzweifelnden. Tillichs Soteriologie der Krise Lit.: Th. W. Adorno, Nachgelassene Schriften. Hg. vom Th. W. Adorno-Archiv. Abt. IV: Vorlesungen Bd. 16: Vorlesungen über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66. Hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 2003. – K. Barth, Einführung in die reformierte Lehre auf Grund des Heidelberger Katechismus (1. Vorlesung, 5.  Mai 1936). Hg. v. P. Rich und H.-A. Drewes, in: ThZ 69 (2013), 266–276. – Ders., Die Kirchliche Dogmatik. Vierter Band. Die Lehre von der Versöhnung. Vier Teile, Zürich 1953 ff. (= KD IV, 1–4). – E. Busch, „Jesus Christus, dein einziger Trost“. Der Heidelberger Katechismus und der Theologe Karl Barth, in: ThR 78 (2013), 518–540. – Der Heidelberger Katechismus (1563). Hg. v. O. Weber, Hamburg 1963 (= HK). – I. A. Dorner, Das Prinzip unserer Kirche nach dem inneren Verhältnis der materialen und formalen Seite desselben zueinander, in: ders., Gesammelte Schriften aus dem Gebiet der systematischen Theologie, Exegese und Geschichte, Berlin 1883. – H. Reichel, Dogmatik auf dem Weg. Karl Barths hermeneutischer Schlüssel zum Heidelberger Katechismus, in: M. Freudenberg / J. M. J. Lange van Ravenswaay (Hg.), Die Geschichte und Wirkung des Heidelberger Katechismus, Neukirchen-Vluyn 2013, 171–184. – A. Ritschl, Über die beiden Prinzipien des Protestantismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Freiburg u. Leipzig 1893. – P. Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, in: ders., Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933). Erster Teil. Hg. v. E. Sturm, Berlin / New York 1999, 127–230.  – Ders., Main Works / Hauptwerke, Berlin / New York 1989 ff. (= MW / HW).  – Ders., Gesammelte Werke, Stuttgart 1959 ff. (= GW). – Ders., Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken, Stuttgart 1971 ff. (= EW). – E. Troeltsch, Briefe I (1884–1894). Hg. v. F. W. Graf, Berlin / New York 2013 (Kritische Gesamtausgabe Bd. 18). – G. Wenz, Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs, München 1979. – Ders., Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit. Bd.  2, München 1986.  – M. ­Wüthrich, Ein „theologischer Betriebsunfall“? Erwägungen zum sog. Extracalvinisticum ausgehend vom Heidelberger Katechismus, in: ThZ 70 (2014), 97–117.

Mit der Antwort auf die erste Frage ist alles gesagt: „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“ „Daß ich mit Leib und Seel, beide im Leben und im Sterben (Rm. 14,7.8), nicht mein (1. Kor. 6,19), sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin (1. Kor. 3,23), der mit seinem teuren Blut (1. Pt. 1,18.19) für alle meine Sünden vollkömmlich bezahlet (1. Joh. 1,7; 2,2) und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöset hat (1. Joh. 3,8) und also bewahret (Joh 6,39), daß ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen (Mt. 10,29–31; Lk 21,18), ja auch mir alles zu meiner Seligkeit dienen muß (Rm. 8,28). Darum er mich auch durch seinen heiligen Geist des ewigen Heidelberger Katechismus

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­ ebens versichert (2. Kor. 1,20–22; Eph. 1,13.14) und ihm forthin zu leben von L Herzen willig und bereit macht (Rm. 8,14.16).“ (HK 1) Im ersten Satz des Heidelberger Katechismus von 1563 ist alles grundgelegt und inbegriffen, was in den folgenden Fragen und Antworten analytisch entfaltet wird und zwar anhand dreier Stücke, die, wie es heißt, zu wissen nötig sind, um im Trost, den der in Jesus Christus pro me und pro nobis erschlossene dreieinige Gott bereitet, seliglich zu leben und zu sterben: „Erstlich, wie groß meine Sünde und Elend seien (Joh. 9,41; 15,22). Zum anderen, wie ich von allen meinen Sünden und Elend erlöset werde (Joh. 17,3). Und zum dritten, wie ich Gott für solche Erlösung soll dankbar sein (Eph 5,8–11; 1. Pt. 2,9.10; Rm. 6,1.2.12.13).“ (HK 2) Im ersten Teil des Heidelberger Katechismus (HK 3–11) wird von der Erkenntnis des Menschenelends aus Gottes Gesetz gehandelt, von des Gesetzes Forderungen und vom Unvermögen aller Adamskinder, sie vollkommen zu erfüllen, sowie von der göttlichen Gerechtigkeit, welche den menschlichen Ungehorsam ihrem Wesen gemäß nicht gut sein lässt, sondern straft. „Dieweil wir denn nach dem gerechten Urteil Gottes zeitliche und ewige Strafe verdient haben, wie möchten wir dieser Strafe entgehen und wiederum zu Gnaden kommen?“ (HK 12) Mit der Beantwortung dieser Frage und dem Hinweis auf die gottmenschliche Person dessen, der Genugtuung geleistet und versöhnend zwischen dem gerechten Gott und dem sündigen Menschen vermittelt hat, setzt das Lehrstück „Von des Menschen Er­ lösung“ (HK 12–85) ein, in welchem in Konzentration auf den auferstandenen Gekreuzigten und sein Evangelium, das vom gesetzlichen Verdammungsfluch befreit, der Glaube an den dreieinigen Gott entfaltet wird. Trinitarischer Glaube glaubt an den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde, der um seines Sohnes Jesus Christus willen mein Gott und mein Vater ist und seine Vorsehung mir zugute walten lässt; an Gott den Sohn, der Zeit seines irdischen Lebens und sonderlich an dessen Ende den gerechten Zorn Gottes wider die Sünde des ganzen Menschengeschlechts getragen und durch seine Auferstehung von den Toten die Rechtfertigung vor Gott, die er am Kreuz erwirkte, uns hat zuteil werden lassen, damit wir durch seine Kraft zu einem neuen Leben erweckt und der ewigen Seligkeit zugeführt werden; und an Gott den Hl. Geist, der den auferstandenen, zum Himmel gefahrenen, zur Rechten Gottes sitzenden und am Ende der Tage wiederkommenden gottmenschlichen Versöhner für uns beglaubigt, damit wir im Leben und Sterben nicht in heillos-heilswidriger Weise auf uns selbst, sondern allein auf den dreieinigen Gott und seine Gnade vertrauen, die vom Evangelium zugesprochen und von den Sakramenten des Neuen Testaments, Taufe und Abendmahl, besiegelt wird. Was schließlich das vom Dekalog gebotene Handeln und die guten Werke des durch Christus versöhnten und erlösten Christen betrifft, so verhandelt sie der dritte Teil des Heidelberger Katechismus unter der Überschrift „Von der Dankbarkeit“ (HK 86–129). Dabei hat als das vornehmste christliche Tun das Gebet und vornehmlich das Beten des Vaterunsers zu gelten, das als das vom Herrn selbst gebotene Gebet die Verheißungsgewissheit seiner Erfüllung direkt in sich enthält und zu vermitteln verspricht.

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Der Heidelberger Katechismus „ist der Katechismus der alten reformierten Kirche geworden“ (Barth, Einführung, 271). Karl Barth hat sich in seiner akademischen Tätigkeit mehrmals mit ihm beschäftigt (vgl. Reichel) und auf seiner Grundlage Einführungen in die reformierte Theologie gegeben, die als Introduktionen sowohl in den christlichen Lehrzusammenhang überhaupt als auch in den seiner eigenen Dogmatik gelten können. Zwar bezeichnete er in einer seiner Vorlesungen zum Thema die Art und Weise, wie in den Katechismusfragen 47 und 48 das von lutherischer Seite polemisch so genannte Extracalvinisticum eingesetzt werde, als einen „theologische(n) Betriebsunfall“ (vgl. Wüthrich), und auch in der Zuordnung von Gesetz und Evangelium ging er im Vergleich mit dem Heidelberger Katechismus eigene Wege. Doch in der Christozentrik und in den soteriologischen Kernaussagen stimmte er völlig mit ihm überein, wovon neben der ersten und zweiten These der Barmer Theologischen Erklärung die Gesamtanlage seiner „Kirchlichen Dogmatik“ und insbesondere ihre im IV. Band entwickelte Versöhnungslehre zeugt: „(D)ie in der Kirchlichen Dogmatik geltend gemachte Erkenntnis von der Gottesoffenbarung in Christus und speziell ihre Zuspitzung in den Barmer Thesen demonstriert, wie im Hören auf diesen alten Text (sc. den Heidelberger Katechismus) dasselbe, worum es damals ging, in einer wegweisend neuen Weise fruchtbar und lebendig wird.“ (Busch, 528) Die Versöhnungslehre ist das innerste Zentrum der Versöhnungslehre Kirchlichen Dogmatik. Karl Barth bestätigt das in Barths Kirchlicher ausdrücklich: „Der Gegenstand, Ursprung und InDogmatik halt der von der christlichen Gemeinde vernommenen und verkündigten Botschaft ist in seiner Mitte die freie Tat der Treue Gottes, in der er die verlorene Sache des Menschen, der ihn als seinen Schöpfer verleugnet und damit sich selbst als sein Geschöpf ins Verderben gestürzt hat, in Jesus Christus zu seiner eigenen Sache macht, zu ihrem Ziele führt und eben damit seine eigene Ehre in der Welt behauptet und anzeigt.“ (KD IV/1,1: § 57; bei B. fett gedruckt) Die anschließende Übersicht über die Lehre von der Versöhnung skizziert den architektonischen Aufbau des Ganzen: „Der Inhalt der Lehre von der Versöhnung ist die Erkenntnis Jesu Christi, der (1) der wahre, nämlich der sich selbst erniedrigende und so der versöhnende Gott, aber (2) auch der wahre, nämlich der von Gott erhöhte und so versöhnte Mensch, und der in der Einheit beider (3) der Bürge und Zeuge unserer Versöhnung ist. In dieser dreifachen Erkenntnis Jesu Christi ist beschlossen die Erkenntnis von des Menschen Sünde: (1) seines Hochmuts, (2) seiner Trägheit, (3) seiner Lüge – die Erkenntnis des Geschehens, in welchem sich seine Versöhnung vollzieht: (1) seiner Rechtfertigung, (2) seiner Heiligung, (3) seiner Berufung – die Erkenntnis des Werks des Heiligen Geistes: in der (1) Sammlung, (2) Auferbauung, (3) Sendung der Gemeinde und des Seins der Christen in Jesus Christus (1) im Glauben, (2) in der Liebe, (3) in der Hoffnung.“ (KD IV/1,83: § 58; bei B. fett gedruckt) Diesem kunstvollen Aufbau und der ihm innewohnenden Dynamik entsprechen die folgenden drei Hauptteile der Versöhnungslehre. Unter der Überschrift

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„Jesus Christus, der Herr als Knecht“ entwickelt Barth im Verfolg des Gehorsams des Sohnes Gottes, dessen wahre Gottheit sich in seinem Weg in die Fremde hin zum Kreuz erweist (vgl. KD IV/1,171 ff.: § 59), seine Lehre von des Menschen Hochmut und Fall (vgl. KD IV/1,395 ff.: § 60), seiner Rechtfertigung (vgl. KD IV/1,573 ff.: § 61) sowie eine Pneumatologie der Sammlung christlicher Gemeinde (vgl. KD IV/1,718 ff.: § 62) und der Erweckung des Einzelnen zum Glauben (vgl. KD IV/1,826 ff.: § 63). Unter der Überschrift „Jesus Christus, der Knecht als Herr“ wird im Verfolg der Erhöhung des Menschensohnes, dessen wahre Menschheit an Ostern königlich zutage tritt (vgl. KD IV/2,1 ff.: § 64), die Lehre von des Menschen Trägheit und Elend (vgl. KD IV/2,423 ff.: § 65), seiner Heiligung (vgl. KD IV/2,565 ff.: § 66) sowie eine Pneumatologie der Erbauung der christlichen Gemeinde (vgl. KD IV/2,695 ff.; IV/2,1 ff.: § 67) und der Erweckung des Einzelnen zu christlicher Liebe (vgl. KD IV/2,825 ff.: § 68) dargetan. Schließlich kommt unter der Überschrift „Jesus Christus, der wahrhaftige Zeuge“ die Herrlichkeit des Mittlers (vgl. KD IV/3.1,1 ff.: § 69) zur Darstellung, welche die Lehre von des Menschen Lüge und Verdammnis (vgl. KD IV/3.1,425 ff.: § 70) sowie von seiner Berufung (vgl. KD IV/3.2,553 ff.: § 71) ebenso erschließt wie die Pneumatologie der Sendung der christlichen Gemeinde (vgl. KD IV/3.2,780 ff.: § 72) und individueller Erwählung zu christlicher Hoffnung (vgl. KD IV/3.2,1035 ff.: § 73). Barths Kirchliche Dogmatik endet mit Ausführungen zur Begründung des christlichen Lebens in KD IV/4, die Fragment bleiben und lediglich eine Skizze der durch den Unterschied von Geisttaufe und Wassertaufe bestimmten Tauflehre enthalten. Der Grundsatz lautet: „Eines Menschen Wendung zur Treue gegen Gott und so zu dessen Anrufung ist des treuen Gottes eigenes Werk, das, in der Geschichte Jesu Christi vollkommen geschehen, vermöge deren erweckender, belebender und erleuchtender Macht als seine Taufe mit dem Heiligen Geist zum Neubeginn gerade seines Lebens wird. Der erste Schritt seines Gott gegenüber treuen und also seines christlichen Lebens ist seine in eigener Entscheidung von der Gemeinde begehrte und durch sie vollzogene Taufe mit Wasser als das verbindliche Bekenntnis seines Gehorsams, seiner Umkehr, seiner Hoffnung, abgelegt in der Bitte um Gottes Gnade, in der er ihrer Freiheit die Ehre gibt.“ (KD IV/4,1; bei B. fett gedruckt) Die soteriologischen Gehalte der „Kirchlichen Dogmatik“ Karl Barths sind im zweiten Band meiner „Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit“ sehr ausführlich dargestellt (vgl. Wenz, Versöhnungslehre II, 193–278). Detailliert ausgeführt ist auch ihre Rezeptionsgeschichte in der deutschsprachigen Theologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; am Beispiel der Konzeptionen Wolfhart Pannenbergs, Jürgen Moltmanns und Eberhard Jüngels wird skizziert, wie die Soteriologie der sog. Dialektischen Theologie aufgegriffen und in Kritik und Konstruktion fortgebildet und umgestaltet wurde (vgl. Wenz, Versöhnungslehre II, 279–354). Hierauf und auf die abschließenden Bemerkungen zu Grundfragen aktueller Kreuzestheologie (vgl. Wenz, Versöhnungslehre II, 355– 486) sei eigens verwiesen, um die Begrenzung der Erwägungen zur Geschichte der

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Soteriologie im 20. Jahrhundert auf ein Fallbeispiel zu legitimieren, nämlich auf den rechtfertigungs- und versöhnungstheologischen Ansatz, welchen Paul Tillich unter seinen geistesgeschichtlichen Entwicklungsbedingungen (vgl. Wenz, Tillich, bes. 58 ff.) im Kontext der sog. Theologie der Krise gewählt hat. Die erste von Paul Tillich nach der Katastrophe des Tillichs Ansatz Ersten Weltkriegs verfasste Arbeit trägt den Titel „Rechtfertigung und Zweifel“. Sie liegt in zwei Ausführungen vor. Die im Vergleich zur handschriftlichen Erstversion knappere und besser gegliederte typographische Zweitfassung hat Tillich nach Ansicht des Editors des lange unveröffentlichten Textes, Erdmann Sturm, der Berliner Theologischen Fakultät 1919 in der Absicht vorgelegt, sich als Privatdozent zu präsentieren und Anteil zu geben an seinem theologischen Denken. Erklärtes Ziel der Schrift war es, den Rechtfertigungsartikel in die Sprache der Zeit zu übersetzen, deren Begriff nach Tillich derjenige von Subjektivität und Zweifel ist. „Im Zweifel ist die Subjektivität rein aktualisiert, sie hat das Objekt verloren und noch kein neues gefunden; sie ist ganz in sich selbst. Darum ist Cartesius in seiner Formulierung so klassisch; in ihm erfaßt sich die Subjektivität als Grundelement der kommenden Kultur. Der Zweifel ist ein uneliminierbares Ferment des Geisteslebens geworden.“ (Tillich, 199 f.) Solle daher der Rechtfertigungsartikel dem Zeitgenossen verständlich und in seinem Gehalt aktuell hilfreich sein, müsse der Zweifel in ihn und in das religiös-theologische Prinzip aufgenommen werden, dessen Ausdruck die Lehre von der iustificatio impii sei. Hingegen werde jeder Versuch, den Zweifel durch theologische Apologetik zu überwinden, zwangsläufig scheitern, da der Zweifel wie die in ihm sich aktualisierende Freiheit des Subjekts seinem Wesen nach unbegrenzbar sei. Mit diesen wenigen Hinweisen ist das Programm, das Tillich mit seinem Entwurf „Rechtfertigung und Zweifel“ verfolgt, in Grundzügen skizziert. Die Durchführung nimmt ihren Ausgang bei der Unterscheidung eines schrifttheologischen Formal- und eines rechtfertigungstheologischen Materialprinzips reformatorischer Lehre (vgl. Dorner, 49–150; Ritschl, 234–247). Trotz ihrer breiten Verwendung in den theologischen Schulrichtungen des 19. Jahrhunderts ist sie nach Tillich „im Grunde der Ausdruck für den Mangel eines Prinzips im Protestantismus“ (Tillich, 189), nicht etwa die Lösung seiner Grundsatzprobleme. Schon in logischer Hinsicht laufe die Differenzierung auf eine Antinomie hinaus: „Eine Zweiheit der Prinzipien widerspricht dem Wesen des Prinzips. Prinzip bedeutet einen Anfang, der nicht nur das zeitlich und logisch Erste, sondern auch das sachlich Grundlegende enthält, das Erste nicht nur im Sinne des Zählens, sondern auch des Wägens, das Beherrschende, das den Fortgang ständig leitet. Spricht man von zwei Prinzipien, so hebt man entweder diesen Begriff von Prinzip auf oder man ordnet stillschweigend das eine dem andern unter, falls man nicht beide unbewußt unter eine Art drittes, höheres Prinzip stellt. Von zwei angeblichen Prinzipien kann in Wahrheit nur eins oder gar keins Prinzip sein.“ (Tillich, 188 f.) Widerspricht eine Zweiheit von Prinzipien deren prinzipiellem Wesen, so muss der Versuch unternommen werden, die Differenz von Formal- und Materialprinzip

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in einen Grundsatz aufzuheben. Dieser Versuch kann nach Tillich nur beim rechtfertigungstheologischen Materialprinzip seinen Ausgang nehmen, weil das schrifttheologische Formalprinzip den Grund seiner Geltung nicht in einer förmlichen, sondern in einer materialiter gegebenen Schriftautorität findet. Autoritativ sei die Schrift gemäß genuiner reformatorischer Lehre als kanonisches Zeugnis des Rechtfertigungsevangeliums und als Urkunde evangelischen Glaubens. Sie begründe daher nicht eigentlich ein eigenes Prinzip, sondern sei ein Moment des Prinzips, das in der reformatorischen Rechtfertigungslehre seinen klassischen Ausdruck gefunden habe. Um den ursprünglichen Gehalt der Rechtfertigungslehre und das Wesen des sog. reformatorischen Materialprinzips in prinzipientheoretischer Absicht angemessen zu erfassen und für seine Fragestellung fruchtbar zu machen, hebt Tillich zunächst den von reformatorischer Theologie eingeschärften synthetischen Charakter des göttlichen Rechtfertigungsurteils hervor. „Das richterliche Urteil Gottes über den Sünder ist nicht begründet in der realen Qualität des Beurteilten, sondern steht zu dieser in Widerspruch.“ (Tillich, 191) Zwar würden in der Rechtfertigungslehre Rechtskategorien auf das Verhältnis von Gott und Mensch in Anwendung gebracht, aber zugleich werde ihre Geltung für dieses Verhältnis aufgehoben, sofern Gott den Menschen nicht aufgrund einer wie auch immer gearteten Qualitätsanalyse, sondern – synthetisch – sola gratia und sola fide rechtfertige. Der streng gefasste reformatorische Rechtfertigungsgedanke habe sonach wesensmäßig einen paradoxen Charakter. Damit der Rechtfertigungsgedanke im Tillich’­ schen Sinne als theologisches Prinzip zu fungie- Soteriologische Paradoxie ren vermag, darf die Paradoxie des Rechtfertigungsurteils nicht abgeschwächt werden. Abschwächungen bzw. Aufhebungen der rechtfertigungstheologischen Paradoxie lassen sich nach Tillich in vieler Hinsicht identifizieren. Sie können von der Formulierung der Rechtfertigungslehre selber oder von der mit ihr verbundenen Versöhnungs- und Erlösungslehre ausgehen. In letzterem Fall kann zwar der synthetische Charakter der Rechtfertigung des Menschen durch Gott unangetastet bleiben. Doch werden die juristischen oder anderweitigen Voraussetzungen des Rechtfertigungsgeschehens durch „irgendeine Variation des Stellvertretungsgedankens“ (Tillich, 192) als erfüllt hingestellt. Die Rechtfertigung erscheint als eigene Leistung des Stellvertreters, der sie für Gott ermöglicht. Damit ist nach Tillich das theologische Paradox der Soteriologie christologisch aufgelöst. Erhalten bleiben könne das theologische Paradox nur, wenn in Christus Gott das an keine Bedingung geknüpfte Werk der Versöhnung und Erlösung selbst vollziehe, also im Stellvertreter die Stellvertretung übernehme. Die theopaschitischen Paradoxien, von denen die Tradition weiß, gehören nach Tillich in diesen Zusammenhang. Einen Versuch, sie trinitätstheologisch zu erfassen, macht er allerdings nicht. Der nach seinem Urteil mythologische Charakter des Gedankens eines realen Leidens Gottes verhindere dessen theologische Durchführung. Immerhin wird der Annahme einer innergöttlichen Passion mystische und erbau-

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liche Bedeutung zuerkannt und der sog. mythologischen Fassung der Versöhnungsund Erlösungslehre „unter allen Umständen“ (Tillich, 193) der Vorzug gegeben vor Lehrtypen wie demjenigen Abaelards, wo primär mit ethischen Kategorien operiert und Christi Werk nicht als Realbedingung, sondern lediglich als Mitteilungsbedingung für Gottes auf die Rechtfertigung des Sünders gerichteten Willensentschluss geltend gemacht werde. Zu den Abschwächungen bzw. Aufhebungen der Paradoxie des Rechtfertigungsgedankens, die nicht in einer vorgeordneten Versöhnungs- und Erlösungslehre, sondern in dessen Formulierung selber begründet liegen, rechnet Tillich die sakramentale Verdinglichung und Entpersönlichung der Rechtfertigungstheologie, wie sie angeblich im römischen Katholizismus erfolgt. „Für den Katholizismus ist die Rechtfertigung nur die Fortsetzung der in der Menschwerdung realisierten Vereinigung von göttlicher und menschlicher Natur durch die sakramentale Tätigkeit. Für den einzelnen ergibt sich daraus die Forderung, daß er sich bewußt in diesen dinglich-paradoxen Prozeß hineinstellt. Er muß ihn intellektuell anerkennen und sich ihm praktisch unterordnen, und von dem Maße, in dem er dieses tut, ist seine Gerechtmachung abhängig. Das Verhältnis zwischen Gott und ihm ist vermittelt durch eine Sphäre der Dinglichkeit und wird eben dadurch zu einem bedingten. Die Paradoxie wird als das objektive mysterium tremendum erlebt, der Glaube wird zur Unterwerfung.“ (Tillich, 194) Es versteht sich für Tillich von selbst, dass eine solche Fassung des rechtfertigungstheologischen Paradoxes mit der protestantischen nicht kompatibel ist. „Das Paradox des Katholizismus ist dinglich, das des Protestantismus persönlich.“ (Tillich, 193) Im Unterschied zum Katholiken, der auf kirchlich-sakramentale Vermittlung angewiesen sei, um, wie Tillich sagt, „an Gott heranzukommen“ (Tillich, 194), ist das rechtfertigungstheologische Paradox für den Protestanten „unmittelbar auf ihn selbst bezogen“ (ebd.) und sein Glaube durch persönliche Gottunmittelbarkeit gekennzeichnet. Weitergehende Differenzierungen der rechtfertigungstheologischen Konfessionstypologie finden sich nicht. Katholisierende Tendenzen, die eine Abschwächung bzw. tendenzielle Auflösung der Paradoxie des Rechtfertigungsgedankens bewirken, entdeckt Tillich auch im Protestantismus, etwa „wenn pietistische Richtungen den Glauben zum Realgrund für die Rechtfertigung machen“ (ebd.) oder wenn in Spielarten rationalistischer Theologie kryptoanalytische Auffassungen des göttlichen Rechtfertigungsurteils vertreten würden (vgl. Tillich, 195). In beiden Fällen werde die theologische Unbedingtheit des Rechtfertigungsgedankens unterminiert und die Gottunmittelbarkeit des Rechtfertigungsglaubens durch Zwischenschaltung einer bedingenden Vermittlung beseitigt. Im pietistischen Fall sei der Glaube nicht unmittelbar auf Gott, sondern auf sich selbst gerichtet, um das Heil der Rechtfertigung mehr oder minder von der eigenen Entschiedenheit und Stärke abhängig zu machen. Glaubensgewissheit werde mit Selbstgewissheit des Glaubenden identifiziert, um ihre Unbedingtheit gebracht und durch Bindung an Bedingungen wechselnder Selbsterfahrung letztlich zur Ungewissheit herabgesetzt. Dem sei entgegen-

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zuhalten, dass der Rechtfertigungsglaube mit dem Absehen von jeder Qualität des Glaubenden auch von derjenigen absehe, dass er glaube, um sein Vertrauen ganz und allein auf Gott zu richten. Entsprechendes gelte für die erwähnten rationalistischen Fälle, denenzufolge das göttliche Rechtfertigungsurteil wenn nicht von einer bereits erfolgten, so doch von einer künftig zu erfolgenden und von Gottes Vorsehung schon jetzt in Anschlag gebrachten Änderung des Sünders bzw. von der Folgerichtigkeit des Prozesses seiner Heiligung abhängig gemacht werde. Auch den Deutungen der Rechtfertigung durch den ethischen Akt der Verzeihung, wie er sie bei Ritschl und Theologen der Ritschlschule finde, steht Tillich ablehnend gegenüber, da diese die offenkundige Gefahr einer erneuten Rationalisierung enthielten. Eine Rationalisierung des Rechtfertigungsparadoxes sei in anderer Weise schließlich auch dort gegeben, wo dieses logisch-metaphysisch aufgelöst werde wie in der spekulativen Theologie und ihrem Bestreben, Unendlichkeit und Endlichkeit dialektisch zu vermitteln. Rein und in ihrem schlechthin unbedingten Charakter ist die Paradoxie der Rechtfertigung nach Negation und Affirmation Tillich allein dann erkannt und gewahrt, wenn man sie als unhintergehbares Paradox in persönlich-unmittelbarer Weise und so erfasse, dass diese Erfassung „nicht selbst wieder Gegenstand des Glaubens wird“ (Tillich, 196). Das Rechtfertigungsparadox kann nur auf glaubensparadoxale Weise erfasst werden: Um das paradoxe Gesamtgeschehen des Ereignisses göttlicher Rechtfertigung des Menschen allein aus Glauben dem Wesen und Grund dieses Glaubens gemäß und damit nach Maßgabe dieses Ereignisses selbst zum Ausdruck zu bringen, ist es nach Tillich angemessen und geboten, sich am elementaren Ja und Nein der Urteilsform zu orientieren. Diese eigne sich am besten zur Elementarartikulation des Rechtfertigungsgeschehens, bei dem es sich um den einheitlichen Akt des absoluten Nein und des absoluten Ja Gottes über den Menschen handele, „der gerichtet ist auf denselben Menschen in seinem gesamten empirischen Bestande. Das ist die Paradoxie der Rechtfertigung und die unmittelbare persönliche Bejahung dieses Urteils, die Anerkennung sowohl des Ja als auch des Nein oder vielmehr der Einheit beider als göttliches Urteil über mich, das ist der Akt des Glaubens.“ (Tillich, 197) In der umschriebenen Elementarform ist der Rechtfertigungsartikel nach Tillich „articulus stantis et cadentis ecclesiae“ und in der Lage, zum theologischen Prinzip zu werden. Vorausgesetzt ist dabei stets, dass die Rechtfertigungslehre nicht zu einer – und sei es zur wichtigsten – dogmatischen Lehre neben anderen herabgesetzt, sondern in Kritik und Konstruktion als regulative und organisatorische Idee wahrgenommen wird, die Mitte und Grenze der Theologie bestimmt. Ihr prinzipieller Gehalt darf demgemäß mit ihrer historischen Gestalt nicht unmittelbar gleichgesetzt werden. Um die ursprüngliche Einsicht der Reformation in ihrer grundsätzlichen Bedeutung festzuhalten, genügt es nicht, die ehemalige Form ihrer Explikation zu repetieren, sie muss vielmehr gerade um ihres prinzipientheore­ tischen Status willen stets neu und zeitgemäß reformuliert werden.

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Im Unterschied zum Mittelalter und zur Zeit der Reformation ist das religiöse Problem der Moderne im Allgemeinen und dasjenige seiner eigenen Gegenwart im Besonderen nach Tillich weniger in der Frage der Sündenschuld als vielmehr in der Sinnfrage begründet, die nicht nur abgründiger sei als das durch Übel und Tod, sondern auch als das durch peccatum originale und peccata actualia gestellte Problem. Durch den Zweifel am Sinn des Ganzen seien nämlich nicht nur das Weltbewusstsein und das sittliche Selbstbewusstsein betroffen, sondern das Gottesbewusstsein und damit der Inbegriff und Zentralgehalt der Theologie. Ursache für diese grundlegend veränderte Lage, die eine Beschränkung der Rechtfertigungsthematik auf das Thema Sündenvergebung und Versöhnungsgewissheit unmöglich mache, sei die modernitätsspezifische Subjektivität, die radikalen Zweifel zu einem Epochenindex der Neuzeit und ihrer Kultur habe werden lassen. Subjektivität bezeichnet nach Tillich keine eigentRadikaler Zweifel liche Position, auch kein Einheitsprinzip oder ähnliches, sondern zunächst allein „Negativität“ (Tillich, 187), will heißen: Negationsfähigkeit überhaupt bzw. das Vermögen, alles in Zweifel zu ziehen. Verdrängen lässt sich das Moment der Subjektivität nur um den Preis religionskultureller Absage an die Moderne, wie Tillich sie im zeitgenössischen Katholizismus gegeben sieht. Wolle man nicht in unreformatorischer Rekatholisierungsabsicht das vorzeitige Ende der Neuzeit proklamieren, vielmehr das Verhältnis von Religion und Moderne im protestantischen Sinne bestimmen, müssten Subjektivität und Zweifel in das theologische Prinzip aufgenommen werden, auch wenn dadurch der Eindruck der Zwiespältigkeit, den das historische Geistesleben des Protestantismus hinterlasse, systematisch zugesteigert zu werden scheine. Doch muss die Spannung, ja die Widersprüchlichkeit, die durch Aufnahme zweifelnder Subjektivität in das theologische Prinzip einzieht, nach Tillich nicht zwangsläufig zu zerstörender Auflösung führen. Sie kann seinem Urteil gemäß zur differenzintegrierenden Spannung geisterfüllten Lebens werden, wenn sie von der zugleich unbedingt negierenden und bedingungslos bejahenden Macht des Absoluten bestimmt ist, die „in jedem Augenblick … die Einheit herstellt“ (Tillich, 191) und zweifelnde Kritik und konstruktive Gestaltung produktiv verbindet (vgl. im Einzelnen Tillich, 188–191). Die traditionelle Rechtfertigungslehre ist vor Zweifel nicht gefeit, und ihre Grundlagen sind in der Moderne vielfach in Zweifel gezogen worden. „Welche Bedeutung gewinnt der Rechtfertigungsgedanke für den Fall des Zweifels an den Voraussetzungen dieses Gedankens? Oder: Welche Formung gewinnt der Glaube durch den Zweifel an den ihm immanenten gegenständlichen Voraussetzungen? Wenn es das Wesen des Glaubens ist, das absolute Paradox zu bejahen, so kann die Frage nur so heißen: Welche Formung nimmt die absolute Paradoxie an, wenn diejenigen Voraussetzungen, die seine Formung innerhalb des Rechtfertigungsgedankens bedingen, in ungelöstem Zweifel stehen?“ (Tillich, 199) An Fragen wie diesen arbeitet sich Tillich im zweiten Teil seines Entwurfs in der überzeugten Annahme ab, dass der Zweifel ins theologische Prinzip zu integrieren sei. Kirchliche

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Apolo­getik, die den Zweifel, der doch seinem Wesen nach ins Unendliche gehe, einseitig zu negieren und zu Ende zu bringen suche, müsse zwangsläufig scheitern und hinterlasse nichts als den peinlichen Eindruck eines Werkes intellektueller Selbstrechtfertigung. Nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch beanspruchte Werkgerechtigkeit steht in kategorialem Widerspruch zum Rechtfertigungsgedanken, der nach Tillich nicht auf die praktische Sphäre der Sittlichkeit zu beschränken, sondern auf das Gebiet des Theoretischen und Intellektuellen zu übertragen ist. Theoretische Zweifel und die mit ihnen verbundene Wahrheitsgewissheit haben seinem Urteil zufolge mit dem Bewusstsein der Schuld zwar ebenso Gemeinsamkeiten wie Heilsgewissheit und Wahrheitsgewissheit verbunden sind. Aber die Parallelen zwischen ihnen erlaubten keine Gleichsetzung und keine Aufhebung der Selbständigkeit der theoretischen Sphäre zugunsten der Praktischen, da letztere erstere zur Basis habe. Sittliche Praxis sei ohne theoretische Sinngewissheit nicht denkbar. Heilsgewissheit im Sinne gewisser Erlösung und Versöhnung habe Wahrheitsgewissheit zur Voraussetzung und zur Bedingung ihrer Möglichkeit, Wahrheitsungewissheit wiederum Heilsungewissheit zur zwangsläufigen Folge. „Der Zweifel als Heilsungewißheit bezieht sich auf die Gesinnung Gottes, der Zweifel als Wahrheitsungewißheit auf die Existenz Gottes. Das Erste setzt das Zweite voraus.“ (Tillich, 201) Verfalle die Gewissheit der Existenz Gottes dem Zweifel, dann sinke auch die Gewissheit göttlich bewirkten Heils dahin. Wie können die Wahrheitsungewissheit, der Zweifel am Dasein Gottes und die in der Konsequenz dieses Zweifels liegende radikale Sinnverzweiflung überwunden werden? Nach Tillich kann dies „nur auf dem Wege des Paradox“ (ebd.) geschehen. „Der Zweifler sucht nach einem Ausweg aus der als sinnwidrig gefühlten Negativität des Zweifels. Ein realer Ausweg, ein Aufhebung des Zweifels ist un[auf]findbar. Es bleibt nur der paradoxe Ausweg, im Glauben zu bejahen, daß der Zweifel das Stehen in der Wahrheit nicht aufhebt. Wer gibt das Recht zu einem solchen Urteil? Die Frage ist die gleiche, als sollte gefragt werden, wer gibt das Recht zum Rechtfertigungsglauben auf ethischem Gebiet? Wir hatten gesehen, wie alle Versuche, ein solches Recht zu begründen, die Paradoxie aufheben und Gott unter Bedingungen stellen. Aber grade die Unbedingtheit seiner Gnade ist der Inhalt des Glaubens. So auch in der Wahrheitsgewißheit: Jede Begründung würde ja wieder unter den Zweifel fallen und der intellektuellen Rechtfertigung die Kraft der Paradoxie nehmen. Der Glaube an die Unbedingtheit des absoluten Paradox ist gerade der Sinn des Glaubens auch auf dem Gebiet des Erkennens.“ (Tillich, 218) Allein der Glaube als Bejahung des absoluten Paradoxes kann den rettenden Ausweg aus der zur Ver- Der Glaube an Gott zweiflung neigenden Not des Zweifels bieten. Alle über Gott gegenständlichen Inhalte, auf die sich der Zweifel richtet, sind dem paradoxalen Absolutheitsglauben vergangen. Er erhebt sich und weiß sich in der ihm eigenen Gewissheit über die gesamte Sphäre des Zweifels und des Bezweifelbaren zu einem Jenseitigen erhoben, in dem der Gegensatz von Zweifel

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und Bezweifeltem aufgelöst und die Absolutheit desjenigen manifest ist, dessen Unbedingtheit in jedem unbedingten Zweifel konstitutiv mitgesetzt ist. Es ist dies die Absolutheit eines Gottes über Gott. „Die Dialektik des Zweifels treibt … zu einem Gott über Gott, zu einem Gott des Zweiflers, ja des Atheisten.“ (Tillich, 219) Der Gott über Gott ist nicht Ich und nicht Nicht-Ich, nicht Subjekt und Objekt, sondern das Unbedingte, das alles Bedingte in Negation und Affirmation bedingt. In seiner alles Bedingte durch Kritik und konstruktive Gestaltung transzendierenden Unbedingtheit rechtfertigt der Gott über Gott den Zweifel gerade in seinen unbedingten Zügen, also in seiner Form als Zweifel an Gott und als Sinnverzweiflung. Als das alles Bedingte bedingende Unbedingte ist der Gott über Gott kein Seiendes, auch kein einzelner Sinn, sondern „der Sinn schlechthin, der Ausdruck dafür, daß überhaupt ein Sinn ist, die Setzung der Sinnsphäre. Indem das Ich das Unbedingte bejaht, bejaht es zugleich sich selbst als sinnvoll, erhält es erst einen Sinn. Ein Zweifel am Sinn schlechthin aber ist nicht möglich, da der Zweifel die Bejahung der Sinnsphäre bereits voraussetzt und zwar umso deutlicher, je tiefer er erlebt wird. Aber nicht dieser analytisch aus dem Zweifel zu entwickelnde abstrakte Begriff ist es, der die Rechtfertigung trägt, sondern der Sinn, der sich dem erlebenden Ich paradox offenbart, der Sinn, der ein unbedingtes Ja und ein unbedingtes Nein gleichzeitig über den Zweifler bedeutet. Also nicht die abstrakte Erwägung, daß im Zweifel überhaupt ein Sinn vorausgesetzt ist, hilft weiter – sie ist noch Gesetz und kann erzwungen werden –, sondern nur die glaubensvolle, lebendige und persönliche Erfassung dieses Sinnes.“ (Ebd.) Die Begründung des theologischen Prinzips, die Tillich in seinem Entwurf „Rechtfertigung und Zweifel“ erstrebt, ist damit im Wesentlichen geleistet. Was sonst noch vorgebracht wird, dient hauptsächlich der Abgrenzung gegen religiöstheologische Versuche, die Überwindung zweifelnder Wahrheitsungewissheit bzw. von Sinnverzweiflung anders erreichen zu wollen als auf dem Weg des Paradoxes. Irrig sei es zum einen, den theoretischen Zweifel als Schuld und als sündiges Widerstreben gegen Gott zu beurteilen (vgl. Tillich, 201 ff.). Diese Beurteilung bringe gerade in religiöser Hinsicht kontraproduktive Folgen hervor, indem sie bei den Zweiflern, denen es mit ihrem Zweifel ernst sei, entweder den Trotz entschiedener Areligiosität oder das verzweifelte Bewusstsein der Verworfenheit vor Gott erzeuge. Befreiung aus diesem Dilemma vermag nach Tillich nur die evangelische Botschaft zu bereiten, dass der Zweifel an Gott im gegenständlichen Sinne keine Schuld gegen Gott im, wie es heißt, „urständlichen Sinne“ (Tillich, 203) bedeute, zu dessen Wahrheit „wir uns wahrhaftig und insofern ‚gerecht‘ nur verhalten können durch den unendlichen Zweifel hindurch“ (Tillich, 203 f.). Statt ihn zu beschuldigen und mit einem schlechten Gewissen zu belasten, müssten Religion und Kirche den Zweifler zu jener Gewissheit führen, die sich gerade im unbedingten Zweifel an allem Bedingten Durchbruch verschaffe. Durch eine umfassende Kritik aller Apologetik auf Absolutes Paradox der Grundlage einer allgemeinen Gewissheitslehre sucht Tillich die Alternativlosigkeit des theologi-

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schen Prinzips von der Rechtfertigung des Zweiflers definitiv zu erweisen. Als Grundform der Gewissheit gilt ihm die Evidenz. Evidentermaßen lasse sich der religiöse Gegenstand weder auf formale noch auf materiale Weise zur Gewissheit bringen. Denn weder in den rein formalen Kategorien der Auffassung jeder möglichen Wirklichkeit, wie sie dem menschlichen Geist unmittelbar eigen seien, noch in dem vorbegrifflichen Bewusstseinsdatum reinen Inhalts sei die Realität des religiösen Gegenstandes unbezweifelbar enthalten. Auch auf pragmatische, er­ lebnispsychologische, überzeugungstheoretische, moralphilosophisch-ethikotheologische Weise oder durch welche Reflexionsanstrengungen auch immer lasse sich die Realität Gottes als des Inbegriffs religiöser Gegenständlichkeit nicht unbezweifelbar vergewissern (vgl. Tillich, 204 ff.). In Anbetracht dieser Aporie scheint es konsequent, den Punkt, der jenseits jeder Möglichkeit des Zweifels liegt, in Form einer Urentscheidung zu bestimmen und ihn ebenso entschlossen wie paradox mit der Positivität eines absoluten Konkretum zusammenzubringen, wie Tillich dies bei Karl Heim exemplarisch gegeben sieht, dessen konkretes Paradox Jesus Christus heißt und außerhalb dieses einen Namens nicht zu fassen ist. Tillich zollt dem Heim’schen Verfahren Respekt, sofern es einen folgerichtigen Schluss aus dem Scheitern traditioneller Apologetik ziehe. Doch ergebe sich das Resultat nicht durch vernünftiges Schließen, sondern durch reine Dezision. Es vermöge daher nur den ohnehin bereits Entschiedenen zu überzeugen, wohingegen der Zweifel der Unentschiedenen verstärkt werde. Heims Gedanke, das gesamte theoretische und praktische Bewusstsein auf einen konkreten Punkt, nämlich auf die absolute Positivität des im Namen Jesu Christi beschlossenen konkreten Paradoxes einstellen zu wollen, ist nach ­Tillich zwar großartig, aber „ein unrealisierbares Postulat“ (Tillich, 215). Mit Heim, der bewusst und in äußerster Konsequenz „vor ein ungeheuer be­ deutungsvolles Entweder-Oder“ (Tillich, 216) führt, gelangt die traditionelle Apologetik nach Tillich zur Vollendung und zugleich an ihr Ende. Das Erlebnis der tiefsten Not verzweifelten Zweifelns solle zum Glaubenssprung motivieren und die negative Begründung für die Bejahung des konkret Absoluten abgeben. Der „Dogmatiker des modernen Pietismus“ (ebd.) betreibe Bekehrungstheologie auf höchstem Niveau. Seine kritischen Ausführungen seien unwiderleglich. Seine positive Lösung indes kann Heim nach Tillichs Urteil nur auf rein dezisionistische Weise etablieren, wodurch der Zweifel, statt im Unendlichen aufgehoben zu werden, auf infinite Dauer gestellt werde. Für Tillich ergibt sich daraus die Notwendigkeit, das System einer Theologie des konkreten in dasjenige einer Theologie des absoluten Paradoxes zu überführen. Wenige Wochen nach Tillichs Tod hat Theodor W. Adorno zu Beginn einer Vorlesung an der Frank- Adornos Abschied furter Universität seines, wie er ausdrücklich sagte, „verstorbenen Freundes“ („einer der außerordentlichsten Menschen …, die mir in meinem Leben begegnet sind“) in tiefster Dankbarkeit gedacht (Adorno, 1–13, hier: 10). Für jede geistige Erfahrung fast schrankenlos aufgeschlossen und bei

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größter Entschiedenheit im persönlichen Handeln eine wahrhaft irenische Natur habe Tillich nicht nur über eine unvergleichliche pädagogische Begabung, sondern auch über eine unbeschreibliche Humanität im Umgang mit Schülern verfügt, die selbst noch dem scheinbar unbedeutendsten Beitrag hohe Bedeutung abzugewinnen vermochte. „Glauben Sie mir, daß es nicht nur sehr wenige Menschen gibt, die für mich so viel in meinem eigenen Schicksal bedeutet haben, sondern denen ich eine solche Wirkung zuspreche, – eine Wirkung weit über das hinaus, was in ihren Schriften kodifiziert ist. Denn Tillich gehörte zu jenen Denkern, die in dem persönlichen Umgang und in der lebendigen Initiative das weit übertroffen haben, was in ihren Schriften sich niedergelegt findet. Und Sie, die Sie ihn nicht mehr gekannt haben, … können sich wirklich davon nur schwer eine Vorstellung machen.“ (Adorno, 12 f.) Nicht nur kaum eine, sondern gar keine Vorstellung von seiner Bedeutung im Werk und Wirken Paul Tillichs kann man sich machen, wenn man das protestantische Prinzip des absoluten Paradoxes nur unter Bezug auf jene Folgen bedenkt, die in dem Entwurf von 1919 explizit erörtert sind: Ist doch, wie es in der Überschrift des dritten Teils von „Rechtfertigung und Zweifel“ ausdrücklich heißt, das absolute Paradox „Prinzip der Theologie und Kultur überhaupt“ (Tillich, 222). In ihm ist sonach nicht weniger als alles inbegriffen, was Tillichs theologisches Werk und Wirken zu denken gibt. Es bedürfte einer Gesamtanalyse, um von der Relevanz des protestantischen Prinzips eine angemessene Vorstellung zu gewinnen. Mehr als eine Ahnung von seinem umfassenden Bedeutungsgehalt vermag die kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs konzipierte Programmskizze nicht zu vermitteln. Bevor Tillich in seiner Studie das theologische Prinzip des Protestantismus in Kritik und Konstruktion konzipiert, unternimmt er anfangsweise den Versuch, das aktuelle Kulturbewusstsein knapp auf den Begriff zu bringen. Charakteristisch für den Geist der Zeit sei dessen Zerrissenheit, die im Protestantismus besonders deutlich zutage trete. Seine problematische Lage lasse sich historisch auf den Widerspruch zweier Grundelemente zurückführen, nämlich auf die in seiner geschichtlichen Realität angelegte Antithese von mittelalterlich-supranatural-autoritativer und modern-immanent-autonomer Weltanschauung. Auch wenn dieser Gegensatz nicht exklusiv, sondern im Sinne einer Binnenbeziehung mit vielfältigen Möglichkeiten der Abstufung wirksam sei, berge er doch die stetige Gefahr einer einheitszersetzenden Auflösung des Protestantismus in sich. Aus diesem Befund ergibt sich für Tillich die systematische Frage, „ob unterhalb des sichtbaren Gegensatzes der modern-protestantischen Kultur eine Einheit vorhanden ist, die, einmal zum Bewußtsein gebracht, die Zwiespältigkeit des religiös-kulturellen Lebens zu überwinden im Stande wäre“ (Tillich, 186). Das protestantische Prinzip bietet nach Tillich die Antwort auf diese Frage, insofern es ein Moment in sich enthält, „durch dessen Entfaltung es in Einheit kommt mit einem auf Autonomie aufgebauten Geistes­ leben“ (Tillich, 187). Dadurch werde nicht nur dem historischen Protestantismus ein Bewusstsein seiner inneren Einheit vermittelt, sondern die Möglichkeit erschlossen, den Zwiespalt aktuellen Kultur- und Geisteslebens zu beheben.

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Der Zwiespalt aktuellen Kultur- und Geisteslebens und die mit ihm verbundene Zerrissenheit Negative Dialektik haben im radikalen Zweifel als der elementarsten Realisierungsform neuzeitlicher Subjektivität ihren Grund. Überwunden werden können sie weder durch den Zweifel selbst noch ohne Achtung seiner Radikalität, sondern allein dadurch, dass der Zweifel über sich hinaus und einer Sinnbestimmung zugeführt wird, die aus sinnwidriger und sinnzersetzender Verzweiflung ebenso befreit wie aus unbesonnen-besinnungslosem Hochmut als ihrer Kehrseite. Nach Tillich ist die Geisteskultur der Moderne, wie erwähnt, vor allem durch die drohende Verzweiflung am Lebenssinn überhaupt gekennzeichnet. Als modernitätsspezifisches Problem schlechthin habe das Sinnthema zu gelten, das noch tiefgreifender und abgründiger sei als der Fall von Sünde und Schuld, der das mittelalterliche Bewusstsein beschwerte. Die aktuelle Dramatik des Themas von Rechtfertigung und Zweifel liege im drohenden Sinnverlust des Geistes einer Zeit begründet. Sei es doch beim Zweifel „gerade die Negation eines Sinnzusammenhanges überhaupt, die seine Kraft ausmacht; denn diese Negation wird zugleich als unmöglich, als sinnwidrig aufgefaßt. Die Sinnwidrigkeit der Sinnwidrigkeit, dieser Widerspruch wird erfahren, ohne daß die Möglichkeit [besteht], darüber hinwegzukommen. Nun wird auch die ganze Sphäre des Schuldbewußtseins problematisch, die Realität, die im Schuldbewußtsein so intensiv gefühlt wird, ist unterwühlt. Dadurch hat dieser Zustand eine viel größere Universalität als der des Schuldbewußtseins. Ist das Schuldbewußtsein wesentlich bezogen auf das eigene Ich, so wird hier alle Wirklichkeit und werden alle Werte hineingezogen in die Vernichtung. In beiden Fällen handelt es sich um Sein oder Nicht-Sein, im Falle des Schuldbewußtseins um Sein als sittliche Persönlichkeit, im Falle des Zweifels um Sein, das Sein eines Sinnes überhaupt. Nichtlösung des Widerstreits führt in beiden Fällen zur Verzweiflung, im ersten Falle zur Verzweiflung am eigenen Lebenswert, im zweiten Falle zur Verzweiflung am Lebenssinn überhaupt.“ (Tillich, 223) Es ist die drohende Verzweiflung am Lebenssinn überhaupt, welche nach Tillich die größte kulturelle Herausforderung der Neuzeit an die Religion darstellt. Ihr kann seiner Auffassung gemäß nicht nur moralisch, ihr muss mit höchsten intellektuellen Anstrengungen begegnet werden, da diese nachgerade für die Bildung von Sittlichkeit und sittlicher Charaktere unentbehrlich sind. Denn nur wer zu intellektueller Sinneinsicht gelange, sei zu moralischem Handeln fähig. „Das intellektuelle Werden“, sagt Tillich, „ist nicht ein rein logischer Prozeß, sondern ein Gesamtprozeß des geistigen Lebens, in dem das Logische zwar schlechterdings autonom bleibt, aber der Gehalt, den es zu fassen sucht, aus den letzten Tiefen der Persönlichkeit selbst strömt. Dadurch bekommt die intellektuelle Aufgabe ihren absoluten Ernst und zugleich die Nötigung, sich in jedem Moment unter das absolute Paradox zu stellen, durch das sie zugleich verneint und bejaht wird.“ (Tillich, 224 f.) Das absolute Paradox als Grund des Bewusstseins, sowohl unter dem unbedingten Nein als auch unter dem unbedingten Ja des Absoluten zu stehen und als radikaler Zweifler gerechtfertigt zu sein, ist nach Tillich nicht nur von religiöser Be-

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deutung, sondern zugleich Norm und leitendes Prinzip aller Kulturarbeit. Indem das konkrete Moment des theologischen Prinzips im religiösen Lebensprozess vom Absoluten her zugleich verneint und bejaht wird, werden unter Ausschluss autoritativer Fixierungen stets neue schöpferische Synthesen hervorgetrieben. Der Zwiespalt von Religion und Kultur ist behoben, die unendliche Subjektivität des modernen Geisteslebens zu einem Moment des religiösen Prinzips selbst geworden. Damit gehört der Gegensatz von profaner und heiliger Sphäre prinzipiell der Vergangenheit an. „Es ist alles profan, nämlich autonom begründet, und es ist alles religiös, nämlich unter dem absoluten Paradox stehend. An Stelle des Zwiespalts tritt eine vollkommene Einheit, der Forderung entsprechend, die das dritte Moment des theologischen Prinzips idealiter erhebt. Ihre unendliche Erfüllung stellt die Theologie der Kultur dar, die Entfaltung nämlich des in jeder Kulturschöpfung vorhandenen religiösen Gehaltes, der Offenbarung des absoluten Paradox in dem Geistesprozeß überhaupt.“ (Tillich, 228 f.) Es folgt der Hinweis auf einen demnächst erscheinenden Beitrag in der Vortragsreihe der Kant-Gesellschaft „Über die Idee einer Theologie der Kultur“ (vgl. MW / HW II, 69–85), dem alles Weitere zu entnehmen sei. Der Vortrag wurde am 16. April 1919 gehalten. Der Paradoxiebegriff ist missverständnisträchtig. Das weiß auch Tillich. Deshalb äußert er sich zum Schluss seiner Abhandlung von 1919 noch einmal zusammenfassend über den richtigen und falschen Gebrauch des Begriffs „Paradox“. Damit soll zugleich der Statuierung von allen möglichen Paradoxien eine Grenze gesetzt werden, was nur durch Klärung des Verhältnisses der Paradoxie zum Logischen geleistet werden kann. Für das Logische ist der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch grundlegend und wesentlich. In seiner Sphäre ist daher für Paradoxien kein Platz. Wenn überhaupt, dann kann ein Ort des Paradoxes nur im logischen Prinzip selbst gelegen sein. „Nur wenn dem Logischen ein antilogisches Moment immanent ist, kann mit Recht von einem Paradox gesprochen werden. Das ist nun aber der Fall. Sobald der Satz A=A verlassen und zu dem Satz A=B übergegangen wird, ist etwas schlechthin Antilogisches in den logischen Prozeß aufgenommen: Das Andere, das doch das Eine sein soll. Diese letzte Paradoxie der Einheit von Identität und Differenz, von Rationalem und Irrationalem, von Wesen und Widerspruch, die jedem logischen Akt innewohnt, ist nun die Rechtsgrundlage für die Erfassung des Paradox im logischen Sinne. Es gibt im Grunde nur eine, nämlich diese dem Logischen selbst wesentliche Paradoxie. Alle andren sind nur konkrete Anwendungen dieser einen, und müssen ihr logisches Recht von ihr empfangen.“ (Tillich, 229 f.) Auch die Paradoxie der Gegensatzeinheit von Absolutem und Relativem, auf die er sein theologisches Prinzip gegründet weiß, ist nach Tillich nur eine Applikation und spezifische Formulierung der dem Logischen eigentümlichen Paradoxie von Identität und Differenz, Wesenseinheit und Widerspruch. Doch bleibt es nicht bei dieser Feststellung, sofern, wie Tillich abschließend vermerkt, das Paradoxieprinzip auf sich selbst anzuwenden und als Prinzip dem – seinem prinzipiellen Wesen zugehörigen – Widerspruch dergestalt auszusetzen ist, dass jeder prinzipialistisch-for-

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melhafte Umgang mit ihm ausgeschlossen wird. Die Formel des Prinzips des absoluten Paradoxes ist „Denkwerk, Gesetz und steht unter dem Zweifel. Auch über sie, wie über alle Vernunft, erhebt sich der Glaube, der das Unbedingte selbst erfaßt, das absolute Paradox.“ (Tillich, 230) Der letzte Satz in Tillichs Entwurf bestimmt dessen Prinzip im Modus der Selbstanwendung so, dass von diesem nur insoweit ein grundsätzlicher Gebrauch gemacht werden kann, als es nicht in der Weise eines prinzipiellen Grundsatzes gebraucht wird. Ist damit das absolute Paradox konsequent zu Ende gedacht oder am Ende zum Ungedanken einer Paradoxie des Absoluten verkehrt? Um das Problem ins Christologische, also dorthin zu wenden, wo die Realisierung des Unend- Christologie und lichen unter den Bedingungen des Endlichen nach historischer Jesus Maßgabe christlicher Theologie konkret zu bedenken ist: Bereits acht Jahre vor dem Entwurf von 1919 hatte Paul Tillich einer Gruppe befreundeter Theologen eine Thesenreihe vorgelegt zu dem Thema „Die christliche Gewißheit und der historische Jesus“ (MW / HW VI, 21–37; die nachfolgenden Thesenangaben beziehen sich hierauf), welche nach seinen eigenen Worten zur Folge hatte, dass er „in Deutschland als radikaler Theologe angesehen wurde“ (GW XII, 33). Ausgangspunkt der Überlegungen Tillichs war die brisante Frage, „wie die christliche Lehre zu verstehen wäre, wenn die Nichtexistenz des historischen Jesus historisch wahrscheinlich würde“ (GW XII, 32). In seiner Antwort begnügte sich Tillich nicht mit der Feststellung der tatsächlich vorherrschenden Ungewissheit über den historischen Jesus, die zu beheben weder ein historischer (Thesen 9–28) noch ein dogmatischer (Thesen 29–80) Beweis in der Lage sei, er bemühte sich vielmehr zugleich, deren „prinzipielle Notwendigkeit“ (These 81) aufzuzeigen. Für die Kontextualisierung der Thesenreihe mag der Hinweis nützlich sein, dass die theologische Konferenz auf der Kassler Wilhelmshöhe, anlässlich derer die Thesen vorgetragen wurden, von Hermann Schafft arrangiert worden war, der Tillich nach eigenem Bekunden den Geist Martin Kählers „vielleicht mehr (vermittelte), als dessen Vorlesungen es taten“ (EW V, 28). Nach Urteil Tillichs war Kähler einer der ersten, der das durch die historische Kritik gestellte christologische Problem in seiner ganzen Radikalität erkannt hat. Gleichwohl vermisste Tillich selbst bei ihm noch eine letzte Konsequenz wissenschaftlicher Ehrlichkeit und konstatierte eine latente Tendenz, die kritische Methode profaner Geschichtswissenschaft biblizistisch zu unterminieren. In der historischen Jesusfrage empfand Tillich die wissenschaftliche Überlegenheit eines Ritschl, Harnack und Troeltsch deshalb als unbestreitbar, wenngleich es ihm und seinen Freunden unmöglich war, die theologische Position der Liberalen zu übernehmen, da man fand, „die konservative Tradition (habe) mehr von einem wahren Verständnis der menschlichen Natur und der Tragik der Existenz bewahrt … als die liberale fortschrittlich-bürgerliche Ideologie“ (GW XIII, 24). Nach eigenem Bekunden machte Tillich daher eine Krise durch, als – um ihn selbst zu zitieren – „ich die Universität Halle, auf der der Biblizismus

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herrschte, verließ und mich dem Studium der Bibelkritik zuwandte. Besonders­ Albert Schweitzers ‚Geschichte der Leben-Jesu-Forschung‘ (1906) überzeugte mich von der Unzulänglichkeit eines Biblizismus, der die historischen Fragen nicht ernst nimmt.“ (EW II, 185 f.) Daneben war es „die Wellhausensche, dann die Gunkelsche, im engeren Sinne religionsgeschichtliche Interpretation des Alten Testaments“ (GW XII, 32), die Tillich faszinierte und ihm die theologische Unabweisbarkeit der historisch-kritischen Methode verdeutlichte. An diesem Punkte trennte er sich deshalb, wie er sagt, „sehr bald von den Hallensern“, um sich endgültig „von allen vermittlungstheologischen und apologetischen Resten“ (ebd.) zu befreien. Das Ergebnis der Kritik des historischen Beweises, mit dem der erste Teil der Thesenreihe beginnt, fällt entsprechend radikal aus: als wissenschaftlicher Tatbestand, der aus dem Kampf der Schulen resultiere und durch die Gesetze der historischen Anschauung bestätigt werde, steht für Tillich fest, „daß auf historischem Wege eine Gewißheit über den historischen Jesus nicht zu erreichen ist“ (These 28). Doch reicht die Radikalität dieser These mitnichten an die Wurzeln des Problems, das durch die Frage nach der christlichen Gewissheit und dem historischen Jesus gestellt ist. Grundlegend bestimmt ist die Problemkonstellation durch den Unterschied, der nach Tillich zwischen dem die Vorstellungen Jesus und Christus gleichsetzenden christlichen Glaubenssatz „Jesus ist der Christus“ und dem historischen Urteil zu machen ist, Jesus, der Christus, hat empirisch existiert. Ist die Gleichung zwischen Jesus und dem Christus Grundlage aller christlichen Gewissheit und Basis allen Christentums, so bleibt zu prüfen, ob sich die Faktizität dieser Voraus­ setzung, wie sie in Sätzen wie: Jesus, der Christus, hat realiter existiert etc. artikuliert wird, verifizieren und zur Gewissheit bringen lässt. Die intendierten Beweise der Faktizität besagter Voraussetzung, die zur Prüfung anstehen, sind nach Tillich in zwei Typen zu unterteilen. Der erste, historische Beweis nimmt bei der Vorstellung „Jesus“ seinen Ausgang, um die Tatsächlichkeit der Gleichung zwischen Jesus und Christus, wie sie der christliche Glaube voraussetzt, zu beweisen. Dieser Beweis hat nach Tillich, wie schon erwähnt, als gescheitert zu gelten. Aber auch er zweite, der sog. dogmatische Beweis, der von der Vorstellung „Christus“ aus versucht, den Satz: Jesus, der Christus, ist, hat als Seiender existiert etc. zur Gewissheit zu bringen, kann nach Tillichs Urteil diese Leistung nicht erbringen. Weder vom Wesen Christi noch von seinen Werken und Wirkungen her, die sich in menschlicher Gottesgemeinschaft erfüllen, lässt sich so auf dessen Wirklichkeit schließen, dass deren Tatsächlichkeit im Sinne des empirischen Urteils: Jesus, der Christus, ist bzw. hat als empirische Entität existiert, gewiss wird. Der historische Beweis und der dogmatische Beweis der empirischen Faktizität der Identität Jesu Christi scheitern und enden bzw. vollenden sich danach Tillich zufolge in der aporetischen Einsicht, dass die Empirizität Jesu Christi tatsächlich ungewiss ist und faktisch nicht zur Gewissheit gebracht werden kann. Die eigentliche Pointe der Thesenreihe ist damit alNotwendig ungewiss lerdings noch nicht erreicht. Sie wird erst in ihrem zweiten Teil ausgesprochen. Die Identität Jesu

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Christi, so lautet der Grundsatz, ist historisch, will heißen, im Sinne einer seienden, empirisch identifizierbaren Entität nicht nur tatsächlich nicht gewiss, sondern notwendig ungewiss. Erst im systematischen Erweis der Notwendigkeit der historischempirischen Ungewissheit der Identität eines Individuums namens Jesus mit dem Christus Gottes erreicht die Tillich’sche Thesenreihe über die christliche Gewissheit und den historischen Jesus ihr Ziel. Sehe ich recht, dann ist der Entwurf von 1919 über Rechtfertigung und Zweifel eine spezifische Variation genau jenes Themas, das 1911 christologisch eröffnet wurde. Der historische Jesus ist wie jede endliche Individualgestalt radikalem Zweifel ausgesetzt und zwar nicht nur tatsächlich, sondern mit jener unendlichen Notwendigkeit, welche die negative Voraussetzung absoluter Affirmation ist. In seiner raumzeitlichen Erscheinungsgestalt kann der irdische Jesus ebenso wenig für absolut erklärt werden wie alle sonstigen religiösen Manifestationsformen. „Jede Absolutheitserklärung einer konkreten religiösen Erscheinung“, heißt es im Entwurf von 1919 programmatisch, „ist intellektueller Perfektionismus und tastet an die Majestät des Unbedingten.“ (Tillich, 226) Fallen insoweit nach Tillichs Urteil „Begriffe wie Absolutheit des Christentums hin“ (ebd.), so kann doch der christliche Glaube weder in seiner individuellen noch in seiner sozialen Gestalt darauf verzichten, „das absolute Paradox konkret zu erfassen und zu einem System oder Überzeugung in dem lebendigen Prozess des Geisteslebens auszubilden“ (ebd.). Konkret erfasst ist das absolute Paradox nach kirchlichem Glauben und nach dem Glauben jedes einzelnen Christen, der seinem Begriff entspricht, in Jesus Christus. In ihm ist das Unbedingte zur Anschauung gebracht, und daher nimmt er für das christliche Bewusstsein die „Züge des absoluten Seins, des absoluten Wertes, des absoluten Ichs an“ (Tillich, 220), ohne doch „zu diesen dreien oder ihre Einheit“ (ebd.) zu werden und an sich selbst das Absolute zu sein. Würde dieses behauptet, wäre „an Stelle des Glaubens die Metaphysik getreten“ (Tillich, 221) und das religiöse Verhältnis durch Theorie und begriffliche Spekulation substituiert. Religion aber ist, wie Tillich mit Schleiermacher festhält, weder durch Praxis noch auch durch Theorie ersetzbar. Sie ist zwar unveräußerlich auf Theorie bezogen, aber in diese nicht aufhebbar. Das Schweben des religiösen Bewusstseins zwischen Anschauung und Begriff hat hierin seinen Grund. Es ist im Wesen der Religion selbst begründet. Auch die Theologie kann, wo sie mit der Religion Verbindung hält, dieses „Oszillieren“ (ebd.) nicht vermeiden. Die Christologie gibt dafür ein Beispiel, insofern sich in ihr auf exemplarische Weise „ein Vergegenständlichen des Sinnes zu einem Seienden durch die Anschauung und ein Entgegenständlichen des Seienden zu einem Sinn durch den Begriff“ (ebd.) vollzieht. Jesus Christus ist, wenn man so will, Anschauung und Begriff in einem, wenngleich auf differenzierte Weise. Er ist das absolute Sein, der absolute Wert, das absolute Ich, ja das Unbedingte in hypostasierter, personifizierter Form, ohne doch an sich selbst das Unbedingte als solches zu sein. Als Konkretion des Absoluten steht daher auch er unter einem unbedingten Ja und Nein, und er muss, wie T ­ illich sagt, „einerseits das negative, andererseits das positive Urteil des Absoluten über sich tra-

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gen“ (Tillich, 227). Das negative Urteil betrifft alles, was Jesus Christus in seiner gegenständlichen Gestalt darstellt. In seiner gegenständlichen Gestalt ist Jesus Christus daher nicht nur tatsächlich, sondern notwendig und zwar im Sinne theologischer Notwendigkeit bezweifelbar und vom Zugriff radikalen Zweifels nicht ausgenommen. „Die historische Kritik ist eine seiner Formen, zu ihr gesellt sich der Zweifel an den geistigen Inhalten des Christusbildes. Beide Arten des Zweifels sind unendlich. Daraus folgt, daß der Glaube sich nie auf dieses Konkrete richten kann, insofern es konkret ist, sondern nur insofern es Offenbarung des Absoluten ist. Der Glaube richtet sich durch das Konkrete hindurch auf das Absolute. Hindurch, das bedeutet einerseits die Blickrichtung auf Christus hin, andererseits das Hinaus über ihn auf das Absolute selbst. Darum ist der Kampf um die Absolutheit Christi der Kampf um die Möglichkeit, in Christus das absolute Paradox mit seinem vollen Ja und Nein auch über ihn selbst rein anzuschauen. Dieser Kampf ist identisch mit der Geschichte des Christentums und seiner Auseinandersetzung mit Geist und Religion außer ihm. Eine Gewißheit a priori über den Ausgang dieses Kampfes gibt es nicht, das kann höchstens Gegenstand der Überzeugung sein. Und doch kommt in de(n) Glauben selbst dadurch keine Ungewißheit, denn er ist in sich ruhend, in jedem Moment, wo durch ein Konkretes hindurch das Absolute gläubig bejaht wird.“ (Ebd.) Es ist nicht der historische Jesus, in dem der christliche Glaube das Absolute anschaut. Sein CharakWirkzeichen unbe­ terbild schwankt in der Geschichte und ist nicht dingter Verneinung nur tatsächlich, sondern notwendig ungewiss. Das und Bejahung Christentum sieht das absolute Paradox vielmehr im Gekreuzigten erfüllt, in dessen Tod und Auferstehen es das Symbol und Wirkzeichen unbedingter Verneinung und unbedingter Bejahung des Bedingten durch das Absolute zu erkennen vermag. Im auferstandenen Gekreuzigten findet der christliche Glaube seine Gewissheit. In ihm wird jene die Identität des Christentums bestimmende Einheit von Einheit und Widerspruch vorstellig, die sich auf empirische Weise und in Gestalt historischer Individualität nicht nur faktisch nicht, sondern notwendig nicht vergewissern lässt. Das Wissen um solche Ungewissheit gehört nach Tillich konstitutiv zur Gewissheit des christlichen Glaubens, in welcher die faktische und notwendige Ungewissheit des empirischen Individuums bezüglich seiner selbst, der Zweifel nicht nur, sondern auch die Verzweiflung an der eigenen Tatsächlichkeit aufgehoben sind. Ob und inwiefern die christliche Gewissheit unter den Bedingungen der Aufhebung faktischer und notwendiger Ungewissheit des Individuellen mit individuellem Sichwissen verbunden bleibt, wäre einer eigenen Untersuchung wert, welche Tillichs Auferstehungsverständnis zum Gegenstand haben müsste. Dass die Wirklichkeit der Auferstehung empirisch nicht zu verifizieren ist, ja historisch ungewiss bleiben muss, gilt ihm als ausgemacht so wie ihm die Form, in der die Überwindung des Todes vorgestellt wird, systematisch ganz gleichgültig ist. Gleichwohl soll gelten, dass in der österlichen Erscheinung Christus als Jesus vorstellig wird, womit

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dem von allem Selbstischen befreiten individuellen Selbst schließlich doch ein unveräußerlicher Bestand im Absoluten zuerkannt wird. „Die Beziehung auf das einzelne, nicht nur als aufgehobenes, sondern als sich behauptendes und doch gerechtfertigtes und erlöstes, d. h. geliebtes, bleibt ewig in Gott.“ (EW IX , 365) Was dieser Satz aus der Systematischen Theologie Tillichs von 1913 präzise besagt und bedeutet, dürfte auch im Hinblick auf den Entwurf „Rechtfertigung und Zweifel“ von 1919 eine der interessantesten Fragen sein. Sie sei zum Anlass genommen, die zugestandenermaßen sehr auswahlsweise dargebotenen soteriologischen Fallstudien systematisch auf einige Sachaspekte hin zu fokussieren, was nicht zuletzt in der Absicht geschehen wird, einem alten Motiv nachgerade lutherischer Theologie neue Geltung zu verschaffen, das gelegentlich und besonders in jüngerer Zeit verkannt zu werden droht, obwohl es noch von Theologen wie Tillich oder Ernst Troeltsch sehr intensiv wahrgenommen worden ist. In einem Brief an seinen Freund Wilhelm Bousset vom 6. Mai 1888 erklärte es Ernst Troeltsch für „entschieden nicht lutherisch“ (Troeltsch, 237), die Liebe Gottes seinem gerechten Zorn überzuordnen und letzteren zu einer „schließlich nur subjektiven Erfahrung des Menschen“ (ebd.) zu erklären. „Augustana u Apologie, die ich eben wieder gelesen habe, überzeugen mich davon vollständig. Mir scheint es ein einfach verständlicher, nicht weiter zu zerpflückender Gedanke, daß die treue alles überwindende Hingabe des Religionsstifters Gott bestimmt, von seinem Zorn gegen die Menschen aufzugeben (sic!), die in dieser Religion sich mit dem Stifter verbinden.“ (Ebd.) In einem fünf Jahre später an Friedrich Loofs gerichteten Schreiben wird Troeltsch von der „lutherischen Antinomie zwischen Gesetzesordnung u(nd) Gnadenordnung“ (Troeltsch, 350) reden. Wie es darum bestellt ist, wird im Folgenden genauer zu erörtern sein. Dabei soll gezeigt werden, dass das Evangelium nicht über einen Sachverhalt aufklärt, der auch ohne das Kreuz Jesu Christi Bestand hätte, da, was Gnade heißt, in diesem seinen konstitutiven Grund findet. Wenige haben diese Wahrheit dem theologischen Bewusstsein nachdrücklicher eingeschärft als Tillichs Hallenser Lehrer Martin Kähler, dessen Wahlspruch lautete: Crux sola nostra theologia (vgl. Wenz, Versöhnungslehre II, 132–166).

13. Heil. Soteriologische Nomenklaturen Lit.: O. Bayer, Art. Kreuz IX. Dogmatisch, in: TRE 19, 774–779. – I. U. Dalferth, Art. Opfer VI. Dogmatik, in: TRE 25, 286–293. – Duden. Bd. 10: Das Bedeutungswörterbuch, Mannheim / Zürich 2010. – W. Foerster, Art. Sozo und soteria im Griechentum, in: ThWNT VII, 966–970. – Ders., Art. Sozo und soteria im Neuen Testament, in: ThWNT VII, 989–999. – Ders., Art. Soter, in: ThWNT VII, 1004–1012, 1015–1022. – H. Frankenmölle, Art. Vergebung der Sünden III. Neues Testament, in: TRE 34, 668–677. – Chr. Gestrich, Art. Sühne V. Kirchengeschichtlich und dogmatisch, in: TRE 32, 348–355. – J. W. Goethe, Sämtliche Werke. Bd. 5: Die Faustdichtungen, Zürich (1950) 1979. – R. Heiligenthal, Art. Gebot I. Neues Testament, in: TRE 12, 124–130.  – O. Hofius, Art.  Sühne IV. Neues Testament, in: TRE 32, ­342–347. – W. Joest, Art. Gebot II. Systematisch-theologisch, in: TRE 12, 130–138. – K. Kertelge, Art. Rechtfertigung II. Neues Testament, in: TRE 28, 286–307. – T. Kleffmann, Grundriss der Systematischen Theologie, Tübingen 2013. – F. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin / New York 1999. – R. P. Knierim, Art. Strafe II. Altes Testament, in: TRE 32, 199–201. – T. Koch, Die ‚Passion-Betrachtungen‘ der Catharina Regina von Greiffenberg im Rahmen ihres Lebenslaufes und ihrer Frömmigkeit, Göttingen 2013.  – U. Köpf, Art. Kreuz IV. Mittelalter, in: TRE 19, 732–761. – D. Korsch, Art. Versöhnung III. Theologiegeschichtlich und dogmatisch, in: TRE 35, 22–40. – H.-W. Kuhn, Art. Kreuz II. Neues Testament und frühe Kirche (bis vor Justin), in: TRE 19, 713–725. – G. Lanczkowski, Art. Kreuz I. Religionsgeschichtlich, in: TRE 19, 712 f. – Chr. Levin, Erinnerung der Zukunft. Ein Grund­zug biblischer Geschichtsschreibung, in: ZThK 111 (2014), 127–147.  – S.  Chr. Murray, Art. Kreuz III. Alte Kirche, in: TRE 19, 726–732. – K.-H. zur Mühlen, Art. Kreuz V. Reformationszeit VI. Pietismus und Aufklärung VII. 19. Jahrhundert, in: TRE 19, 762–768. – B. Nitsche, Christologie, Paderborn 2012. – G. Röhser, Art. Strafe IV. Neues Testament, in: TRE 32, 205–207. – G. Sauter, Art. Rechtfertigung. IV. Das 16. Jahrhundert, V. Das 17. und 18. Jahrhundert. VI. Das 19.  und 20.  Jahrhundert. VII. Dogmatisch, in: TRE 28, 315–364.  – A. Schenker, Art. Sühne II. Altes Testament, in: TRE 32, 335–338. – Ders., Art. Vergebung der Sünden I. Altes Testament, in: TRE 34, 663–665. – H. Schneider, Blut und Blutglaube in der Neuzeit IV/2, in: TRE 6, 740–742. – St. Schreiner, Art. Sühne III. Judentum, in: TRE 32, 338–342. – H. Seebaß, Art. Opfer II. Altes Testament, in: TRE 25, 258–267. – M. Seils, Heil und Erlösung IV. Dogmatisch, in: TRE 14, 622–637. – D. Sitzler-Osig, Art. Sühne I. Religionsgeschichtlich, in: TRE 32, 332–335. – H. Spieckermann, Art. Rechtfertigung I. Altes Testament, in: TRE 28, 282–286.  – G. Stemberger, Art.  Opfer III. Judentum, in: TRE 25, ­267–270. – B. Studer, Soteriologie. In der Schrift und Patristik, Freiburg / Basel / Wien 1978 (Handbuch der Dogmengeschichte. Bd. III. Fasz. 2a). – M. Tetz, Art. Athanasius von Alexandrien, in: TRE 4, 333–349. – H. G. Thümmel, Art. Kreuz VIII. Ikonographisch (Reformationszeit bis zur Gegenwart), in: TRE 19, 768–774. – J. Track, Art. Strafe V. Kirchengeschichtlich und systematisch-theologisch, in: TRE 32, 207–220. – A. van den Beld, Art. Schuld II. Philosophisch-ethisch, in: TRE 30, 577–586. – G. Wingren, Art. Aulén, Gustaf, in: TRE 4, 748– 752. – H. Wißmann, Art. Blut I. Religionsgeschichtlich, in: TRE 6, 727–729. – E. Wolf, Die Rechtfertigungslehre als Mitte und Grenze reformatorischer Theologie, in: ders., Peregrinatio.

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Bd. II. Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, München 1965, 11–21. – F. M. Young, Art. Opfer IV. Neues Testament und Alte Kirche, in: TRE 25, 271–278. – J. Zehner, Art. Heil III. Dogmatik, in: RGG4 III, 1524–1526.

Reichhaltig ist der Sagenkranz, der sich um das Kreuzesholz rankt, dem die Kaisermutter Helena Sagenkranz einst auf Golgatha nachspüren ließ. Die tiefsinnigste und Kreuzesholz Legende, die sich mit ihm verbindet, stellt eine Beziehung her zu dem Baum in der Mitte des Paradieses, dessen auf Adams Grab gepflanzter Ableger das Material geliefert haben soll, aus welchem das Kreuz Christi gezimmert wurde. Bringt man Adams Grab mit dem Fall seiner Sünde in Verbindung, dann kann die Legende vom Kreuzesholz und dem Baum ursprünglicher Verfehlung den hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis einer theologia­ crucis bilden, die wie die lutherische ganz auf die Rechtfertigung des Sünders vor Gott ausgerichtet ist. Zwar wird nach Luthers Urteil das heillose Unwesen der Sünde bereits durch Konfrontation mit dem Gebot Gottes als der Manifestation seines gerechten Willens zur Erkenntnis gebracht mit den tödlichen Folgen, die das Gesetz für den Sünder zeitigt. Aber in seiner höllischen Tiefe wird der bodenlose Abgrund des Bösen erst am Kreuz dessen offenbar, der als der Gerechte Gottes zum Opfer der menschlichen Sünde wurde. Zugleich ist es allein der von Gott aus der Tiefe erhöhte und aus der Hölle in den Himmel erhobene Gekreuzigte, der den Sünder aus der Heillosigkeit seines selbstverschuldeten Verderbens zu heilsamer Sündenerkenntnis zu bewegen und mit Gott zu versöhnen vermag. Wer sich von der Wirkmacht dieser Einsicht einen bewegenden Eindruck verschaffen möchte, lese beispielsweise die „Passionsbetrachtungen“ der Catharina Regina von Greiffenberg (1633–1694), in deren Barockdichtung im Zeichen des Kreuzes Orthodoxie und Herzensfrömmigkeit innigst verbunden sind (vgl. Koch). Im Kreuzeszeichen fasst sich das ganze Christentum zusammen. Zwar ist das Kreuz „ein ural- Im Zeichen des Kreuzes tes, seit prähistorischen Zeiten nachweisbares und äußerst weit verbreitetes Zeichen“ (Lanczkowski, 712), aber die Bedeutung, die dem Kreuzes­zeichen im Christentum zukommt, hat es nirgends sonst erlangt. Dies ist deshalb der Fall, weil im Zentrum christlicher Religion der auferstandene Gekreuzigte steht. Als die den Römern und anderen Völkern geläufige Todesstrafe der Kreuzigung unter Konstantin dem Großen „nach 320 abgeschafft“ (Kuhn, 714) wurde, da geschah dies wegen des Kreuzes Christi und unter der Voraussetzung des in seinem Zeichen errungenen Sieges. Sind eindeutig christliche Kreuzes­zeichen für die neutestamentliche Zeit und die Zeit der frühen Kirche „archäologisch nicht nachzuweisen“ (Kuhn, 723), so ändert sich dies spätestens seit dem Konstantinischen Zeitalter. Nicht nur entsteht im Zuge der der Kaisermutter Helena zugeschriebenen Kreuzesauffindung eine „öffentliche Kreuzesverehrung“ (Murray, 728) mit entsprechenden ikonographischen Folgen; auch in der Frömmigkeit der

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einzelnen Christen gewinnen Kreuze und Kruzifixe zunehmende Relevanz, um dann ihm Mittelalter und darüber hinaus in der christlichen Religion und Kunst eine beherrschende Stellung einzunehmen. Man studiere im einschlägigen TRE -Artikel, wie das Kreuz im Wort, im sichtbaren Abbild oder in rituellen Handlungsvollzügen vergegenwärtigt wurde, welche Funktion Kreuze als kirchliche Geräte etc. erfüllten und wie der Kruzifixus samt Kreuzesgeschehen in direkten oder indirekten Nachbildungen zur Darstellung kam und kultisch verehrt wurde. Dank seiner „unvergleichlichen, universalen Symbolkraft“ (Köpf, 750) rückt das Kreuz „im Mittelalter ins Zentrum christlicher Frömmigkeit und religiöser Praxis“ (ebd.). In der Reformation setzt sich dieser Prozess bei allen sonstigen Unterschieden ungebrochen, ja teilweise forciert fort (vgl. Mühlen), ohne dass auf die ikonographischen Implikationen dieser Entwicklung und auf Stil- und Typuswandlungen von Kreuzesdarstellungen etc. in der Folgezeit näher ein­gegangen werden könnte (vgl. Thümmel). Bei aller traditionellen Hochschätzung des KreuzesBrutum factum zeichens und des Wortes vom Kreuz darf nicht vergessen werden, dass der symbolisierenden Darstellung „unaufhebbar das harte historische Faktum der Kreuzigung Jesu von Nazareth sub Pontio Pilato“ (Bayer, 775) zugrunde liegt. Zur Historizität dieses Faktums gehört die Uneindeutigkeit seiner Einschätzung, die alles Historische kennzeichnet, gerade wenn es historisch-kritisch in Betracht gezogen wird. Die differenzierte Wahrnehmung historischer Komplexität sperrt sich dagegen, auf einen eindeutigen dogmatischen Begriff gebracht zu werden, und ist gerade darin von dogmatischer Relevanz. Im Falle der Kreuzigung Jesu durch die Römer unter dem Präfekten Pontius Pilatus tritt zur allgemeinen Uneindeutigkeit historischer bruta facta die irritierende Feststellung hinzu, dass der Verkündiger der Gottesherrschaft „so gut wie sicher als politischer Rebell von den Römern hingerichtet worden ist“ (Kuhn, 717) – „obgleich er zweifellos nicht als solcher aufgetreten ist“ (ebd.). Die an einem Freitag erfolgte Hinrichtung Jesu auf Golgatha, die trotz Unsicherheiten bezüglich des Todesjahres als „das sicherste historische Faktum seines Lebens“ (Kuhn, 715) zu gelten hat, beruht also offenkundig auf einem historischen Fehlurteil, ob dieses nun irrtümlich vollzogen wurde oder nicht. Dieser Sachverhalt gibt zu denken und muss bei der dogmatischen Deutung des Kreuzestodes Jesu und der Würdigung der Bedeutung des Gekreuzigten mitberücksichtigt werden, zu dessen Person und Geschichte, wie es scheint, nicht nur die Uneindeutigkeit und Ambivalenz ihrer historischen Betrachtung hinzugehören, sondern auch das Faktum manifester Verkennung. Was Wunder, wenn die „Ereignisse, die unmittelbar zur Kreuzigung Jesu führten, … historisch nur sehr bedingt aufzuhellen“ (Kuhn, 718) sind. Das römische Strafverfahren, das sich historisch am ehesten fassen lässt, ist, selbst wenn es als verfahrensrechtlich einwandfrei zu qualifizieren sein sollte, alles andere als erhellend, insofern es zur Verurteilung Jesu wegen eines Vergehens führte, das er offenkundig nicht begangen hatte. Was aber den „Prozess“ vor dem Synedrium anbelangt, so ist bereits seine Historizität zweifelhaft ganz abgesehen

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davon, dass sie jüdischen Behörden in keinem Fall die Rechtskompetenz hatten, ein Todesurteil zu vollstrecken. Zwar wurde Jesus aller Wahrscheinlichkeit nach von jüdischer Seite gefangen genommen und an Pontius Pilatus ausgeliefert; aber aus welchen Gründen dies geschah, lässt sich nur noch vermutungsweise erheben: Am ehesten kommt als Motiv der Inhaftierung „Agitation im Tempel vor dem Passafest“ (Kuhn, 719) infrage. Wie auch immer: „(E)in unmittelbarer Zusammenhang zwischen Jesu Worten und Taten in Galiläa und seiner Verhaftung ist schwerlich nachzuweisen.“ (Ebd.) Heißt dies, dass ein solcher Zusammenhang – sei er nun unmittelbar oder vermittelt – überhaupt nicht bestanden hat? Diese Annahme dürfte gerade unter historischen Gesichtspunkten kaum verifizierbar sein, was zu der dogmatischen Anfrage an die historisch-kritische Exegese Anlass gibt, ob für die markinische Theorie des Messiasgeheimnisses unbeschadet ihres konstruktiven Charakters nicht doch auch einige Gründe geschichtlicher Wahrscheinlichkeit sprechen. Geschichte wird „nicht um ihrer selbst willen geschrieben“ (Levin, 127). Historische Kritik bestätigt Erinnerung der Zukunft die Wahrheit dieses Satzes, der für jede Historiographie gilt, die historisch-kritische eingeschlossen. Was die Geschichtsschreibung der jüdisch-christlichen Antike und namentlich die biblische anbelangt, so erinnert sie Vergangenes nie als ein bloß Gewesenes, sondern stets auf aktuelle Zukunft hin, die durch Vergegenwärtigung der Vergangenheit erschlossen werden soll. Biblische Historiographie bringt Gewesenes um eines Zukunftszieles willen gegenwärtig in Erinnerung. Dies hat Christoph Levin unlängst an vier historiographischen Entwürfen der Bibel, welche die biblische Geschichtsdarstellung insgesamt geprägt haben, exemplarisch aufgewiesen, nämlich am jahwistischen, am deuteronomistischen, am priesterschriftlichen und am Geschichtswerk des Markusevangeliums. „Alle vier Geschichtsentwürfe zeigen in ihrem Verhältnis zu der Vergangenheit, die sie darstellen, eine vergleichbare Haltung. Alle wollen Verlusterfahrungen bewältigen. Sie schildern, was geschehen ist, um es wiederzugewinnen. Alle gestalten in Wahrheit nicht die Vergangenheit, sondern eine Erwartung, die in das Gewand der Vergangenheit gekleidet ist. Sie sind weniger historische als vielmehr prophetische Schriften. Sie erinnern daran, wie es sein wird.“ (Levin, 128) Biblische Geschichten erinnern ihre Gegenwart an die Zukunft. Für J ist die Geschichte von Anfang der Welt an „eine einzige große Verheißung“ (Levin, 137) und offen für die „von Jahwe versprochene Zukunft“ (ebd.). Auch P bietet einen geschichtlichen „Zukunftsentwurf“ (ebd.), und im deuteronomistischen Geschichtswerk, welches Prognostik im historischen Gewande enthält, ist alles hingeordnet auf die „Wiederkehr des Königtums“ (Levin, 135) und auf die Erneuerung der davidischen Dynastie. „Für den Deuteronomisten ist Geschichte nicht zuerst Vergangenheit, sondern Zukunft. Es hat seinen guten Sinn, dass die jüdische Tradition die Bücher Josua bis Könige zu den Propheten zählt.“ (Ebd.) Das für die alttestamentliche Geschichtsschreibung charakteristische Ineinander von Vergangen­ heitserinnerung und Zukunftserwartung kennzeichnet auch die neutestamentliche

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Historiographie, wie das älteste Evangelium nach Markus zeigt. „Das ganze Evangelium ist ein nachösterlicher Text, der Jesus von vornherein als den Wiederkommenden auftreten lässt. Das Messiasgeheimnis aber ist das Mittel, unter dieser Bedingung nicht Mythos, sondern Geschichte zu schreiben.“ (Levin, 145) Zu seinen irdischen Lebzeiten war die Messianität Messiasgeheimnis Jesu ein verborgenes Geheimnis, das erst in der österlichen Auferstehung des Gekreuzigten offenbar werden sollte, weil das Kreuz es ist, an dem das Heil von Menschheit und Welt hängt. Dies haben nicht nur die Randständigen, sondern auch die Jünger Jesu verkannt, deren Unverständnis nach markinischem Bericht immer dann besonders groß war, wenn Jesus von seinem künftigen Leiden sprach und sein bevorstehendes Sterben ankündigte. Der Felsenmann Simon Petrus gibt dafür ein besonders signifikantes Beispiel. Auch an Ostern erkennen die Seinen den Erstandenen zuerst häufig nicht, und er muss sich selbst durch ein Wort oder Zeichen zu erkennen geben, um Einsicht in sein offenbares Geheimnis zu erschließen. Doch die Menge bleibt weiterhin blind und verblendet. Erst künftig werden allen Menschen die Augen aufgehen, damit sie sehend werden wie Paulus und dem Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade um Christi willen glauben, das aus dem eschatologischen Endgericht rettet. Auf diese Zukunft hin erzählt Markus die Jesusgeschichte, was durch den ursprünglichen Schluss des Evangeliums Mk 16,8 nicht falsifiziert, sondern im Gegenteil verifiziert wird (vgl. Levin, 143 ff.). Mk 16,8 ist ein konzeptionell stimmiger Abschluss des ältesten Evangeliums. Dennoch sollte man, was in 9–20 folgt, nicht unecht im abwertenden Sinne nennen, wenngleich die Verse erst im 2. Jahrhundert nachträglich hinzugefügt worden sind. Denn was sie bezeugen, ist Gemeingut neutestamentlicher Verkündigung. Ohne die Erscheinungen des Auferstandenen sind der Skopus der Lebensgeschichte Jesu und die Bedeutung seines Kreuzestodes nicht zu fassen, jedenfalls nicht auf heilsame Weise. Ostern ist der „Schlüssel für das Erlösungsverständnis“ (Nitsche, 128) und die grundlegende Manifestation gottmenschlicher Versöhnung (vgl. Kleffmann, 141). Fasst sich, wie eingangs gesagt wurde, das ganze Christentum im Zeichen des Kreuzes zusammen, so gilt dies doch nur unter der Voraussetzung Osterns, was nicht nur durch die theologische Lehre des Christentums, sondern auch durch seinen Festkalender und seine liturgische Praxis von Anfang an und durch die Geschichte hindurch bestätigt wird. Das deutsche Wort „Ostern“ dürfte vom germaÖsterliches Pascha nischen austro / ostarun herrühren, das Morgenröte bedeutet. Frühchristliche Franken haben mit dieser Bezeichnung wahrscheinlich die Albae paschales der in der Osternacht Getauften bezeichnet. Im Übrigen verweist die Morgenröte auf die aufgehende Sonne und damit im übertragenen Sinne auf die strahlende Erscheinung des auferstandenen Gekreuzigten, die an jedem Osterfest gefeiert wird. Die jährliche Feier des Osterfests zur Zeit des ersten Frühlingsvollmondes geht auf frühchristliche Zeiten zurück. Seit dem Nizänischen Konzil 325 ist der Sonn- und Herrentag nach der ersten Mond-

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fülle des Frühlings als Osterzeitpunkt festgelegt. Dass die Termine der östlichen und westlichen Christenheit dennoch häufig voneinander abweichen, ist durch Differenzen zwischen dem julianischen und dem gregorianischen Kalender bedingt. Das aramäisch-griechische Wort Pascha bzw. Passa(h), mit dem das Osterfest in Ost und West (wo es als lateinisches Lehnwort aus dem Griechischen begegnet) bezeichnet wird, stammt vom hebräischen Pessach. Am Pessachfest gedenkt das Volk Israel seines Auszugs aus Ägypten und seines Durchzugs durchs Rote Meer, wohingegen die Christenheit mit ihrer österlichen Pascha- bzw. Passa(h)feier Jesu Christi Übergang vom Tod zum Leben begeht, an dem alle teilhaben, die an den österlichen Herrn glauben. Die Vorbereitungszeit auf Ostern umfasst vierzig Tage, die österliche Freudenzeit hingegen fünfzig. Die sechs Siebenerwochen des Fastens verweisen nach alter symbolischer Deutung auf die Arbeitstage der Woche und auf das Werk tätiger Buße, das dem Gesetz zufolge zu vollbringen ist; die sieben Siebener­ wochen der Pentekoste dagegen stehen im Zeichen evangelischer Vollendung, deren Symbol die Siebenzahl namentlich dann ist, wenn sie mit sich selbst multi­ pliziert wird. Die verbleibende Eins ist Gott vorbehalten, der im auferstandenen Gekreuzigten österlich offenbar ist, um in der Kraft seines Hl. Geistes Anteil zu geben am unvergänglichen Sabbat / Sonntag ewigen Lebens, in dem sich die Schöpfung erfüllt. Entsprechend ist das Pfingstfest, das fünfzig Tage nach dem Osterpascha gefeiert wird, auf die Auferstehung des Gekreuzigten Jesus Christus rückbezogen, dessen himmlische Verherrlichung vorausgesetzt und zugleich hingeordnet wird auf die Zukunft des Gekommenen, mit welcher Kirche, Menschheit und Welt ihr eschatologisches Ziel vorgegeben ist: die endgültige Realisierung des Reiches des dreieinigen Gottes, dem das Hochfest der Trinität gewidmet ist. Das Osterereignis, welches der göttliche Pfingstgeist bezeugt, ist Grund und Ursprung christlicher Eschatologie, sofern die Endzeiterwartung des Christentums ganz auf die Zukunft des auferstandenen Gekreuzigten und seine Parusie ausgerichtet ist. Das Heil ist vollbracht: Dies bezeugt der älteste Evangelist von Anfang bis zum Schluss seines Evangeliums von Jesus Christus. Aber das Heil ist auf verborgene Weise offenbar, im Geheimnis der Messianität des Gekreuzigten, der in der Kraft des österlichen Geistes den Seinen als der Auferstandene erscheint und ihrem Glauben die gewisse Hoffnung auf seine eschatologische Wiederkunft vor aller Welt erschließt. Ohne Zukunftsoffenheit ist das Perfekt des Heils aktuell nicht zu erfassen. Das historische Interesse, welches christliche Soteriologie am Kreuz Jesu von Nazareth und seinem Leben nimmt, ist eschatologisch bestimmt und erinnernd ausgerichtet auf die Zukunft des Gekommenen. Soteriologie ist ein Lehnwort aus dem Griechi­ schen und bedeutet Lehre von der soteria. In der Pro- Heil fangräzität steht das Wort für Rettung, Bewahrung, Wohltun und Heil im umfassendsten Sinne des Begriffs (vgl. Foerster, 966 ff.). Seine neutestamentliche Bedeutung erschließt sich wie diejenige hebräischer Äquivalente im Alten Testament vor allem vom Heilshandeln her, mittels dessen sich

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Gott dem Einzelnen, seinem Volk und der ganzen Menschheit in mannigfachen Situationen des Unheils zuwendet. Bei Paulus ist der Begriff „offenbar bewußt auf das Verhältnis des Menschen zu Gott beschränkt“ (Foerster, 992), jedoch so, dass das durch Jesus Christus in der Kraft des Geistes erschlossene Gottesverhältnis des Menschen nicht nur den seelischen Selbstbezug, sondern auch den leibhaften Bezug zu Mitmensch und Welt, also den ganzen Menschen in all seinen Bezügen umfasst. Endgültige und vollkommene soteria steht nach neutestamentlichem Zeugnis zwar erst im kommenden Gottesreich zu erwarten; doch ist das ewige Heil im auferstandenen Gekreuzigten jetzt schon in einer Weise antizipiert, die Jesus Christus im Glauben als den personalen Inbegriff des soter, als den offenbaren Heiland erkennen und bekennen lässt. Dies gilt trotz der Tatsache, dass im Neuen Testament vom christologischen Titel soter nur relativ zurückhaltend Gebrauch gemacht wurde, wohingegen sozo und soteria „im gesamten Urchristentum wichtige Begriffe zur Bezeichnung des Heiles und der Rettung“ (Foerster, 1021) sind. Obwohl auch andere Übersetzungen möglich sind und tatsächlich begegnen, wird soteria im Deutschen in der Regel mit „Heil“ wiedergegeben, das im Allgemeinen Glück und Wohlergehen, Unversehrtheit und integre Ganzheit, Gesundheit und Intaktheit im weitesten Sinne bezeichnet. Die genaue Bedeutung des Terminus ist stets nur kontextuell und auch nicht annähernd aus dem Wortbestand selbst heraus zu erfassen. Damit mag es zusammenhängen, dass der Begriff „Heil“ im Unterschied zu anderen soteriologischen Begriffen im Deutschen „nie zum Bestand theol(ogischer) Fachtermini“ (Zehner, 1524) gehört hat. Zwar fungierte er stets als „ein soteriologisches Schlüsselwort“ (Seils, 622) mit weitem und umfassendem Bedeutungsspektrum; doch ist er „nie im strengeren Sinn ein Wort der dogmatischsoteriologischen Fachsprache gewesen“ (Seils, 623): „Im geschichtlichen Ent­ wicklungsverlauf der dogmatischen Soteriologie hat nicht das Wort ‚Heil‘ im Mittelpunkt gestanden, sondern die Wörter ‚Erlösung‘ (redemptio) und ‚Versöhnung‘ (reconciliatio), zeitweise ergänzt oder ersetzt durch ‚Genugtuung‘ (satisfactio) und weithin auch aufgefüllt durch ‚Gnade‘ (gratia) oder ‚Rechtfertigung‘ (iustifi­catio), wobei ‚Rechtfertigung‘ aber auch in den zentralen soteriologischen Aussagezusammenhang vorrücken konnte.“ (Ebd.) Eine genaue terminologische Orientierung ist schwer Erlösung und Versöhnung möglich, da es „in der Lehrgeschichte keine ausdrückliche Reflektion der soteriologischen Nomenklatur“ (ebd.) und abgesehen von einigen Ansätzen im 19.  und 20.  Jahrhundert „keine kritische Aufarbeitung der soteriologischen Sprach- und Begriffsgeschichte“ (ebd.) gibt. Eine halbwegs präzise Bestimmung hat sich allenfalls mit der Unterscheidung von Erlösung und Versöhnung verbunden, sofern die Vorstellung von Heil als Erlösung von ihrem Bildgehalt her primär auf die lösende Befreiung von bindenden Unheilsmächten, das Heilsverständnis der Versöhnung hingegen in erster Linie auf Aufhebung von Schuld im Sinne wie auch immer gearteter Sühnung bezogen ist. In der Dogmengeschichtsschreibung ist es üblich geworden, die Erlösungsvorstellung vor allem mit der altkirchlich-ostkirchlichen, das Verständnis

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des Heils als Versöhnung vorzugsweise mit der mittelalterlichen und reformatorischen Soteriologie des Westens zu assoziieren. Für diese Verbindung lassen sich Gründe geltend machen, ohne dass von ihr ein pauschaler Gebrauch gemacht werden dürfte. Neben den Termini der Erlösung und Versöhnung und ihren Äquivalenten sind zahlreiche andere Wörter dem sprachlichen Umfeld soteriologischer Begrifflichkeit zuzurechnen. Ihre Bedeutung ergibt sich wie diejenige des Heilsbegriffs ebenfalls erst aus dem jeweiligen Kontext ihrer Verwendung. Nur aus dem Kontext heraus lassen sich auch die vielfältigen „Fragen nach der Einheit der gemeinten Sache in der Variabilität der Ausdrucksweisen und nach der Kontinuität der bezeugten Wahrheit unter dem Wechsel der geschichtlich in den Vordergrund tretenden Vorstellungskomplexe“ (Seils, 624) beantworten. Unter terminologisch-terminologiegeschichtlichen Gesichtspunkten können sonach allenfalls einige Grundlinien der Soteriologie skizziert werden, wie dies in dem TRE -Artikel von Martin Seils zum Thema „Heil und Erlösung. Dogmatisch“ „in vorzüglicher Dichte und Präzision“ (Korsch, 23) geschehen ist. Seils sichtet zunächst Verständnislinien von „Heil“ in Bezug auf die göttliche Heilsintention, die man traditionell entweder supralapsarisch, von jenseits des Sündenfalls her oder infralapsarisch, unter der Voraussetzung des Sündenfalls bestimmt habe (vgl. Seils, 625 f.), sodann in Bezug auf die Heilsverwirklichung, die in der Überlieferung teils auf den Inkarnationsgedanken, teils auf das Geschehen von Kreuz und Auferstehung, teils auf „den Heilscharakter der Verkündigung und des Verhaltens Jesu“ (Seils, 626) konzentriert gewesen sei (vgl. Seils, 626 f.). Schließlich geht es um Sichtung der Heilswirkung im altkirchlichen Sinne erlösender Theosis etwa oder einer versöhnenden Rechtfertigung, wie reformatorische Soteriologie sie gelehrt hat (vgl. Seils, 627–629). Was hinwiederum die Verständnisgrundlagen für „Heil“ anbelangt (vgl. Seils, 629–635), so erörtert Seils neben trinitarischen, christologischen, anthropologischen und kosmologischen Bezügen vor allem den FürBezug, der alle Formen christlichen Heilsverständnisses kennzeichne. „An diesem ‚pro nobis‘ vorbei läßt sich eine genuin christliche Soteriologie, die der soteriologischen Grundüberzeugung des Neuen Testaments entspricht, kaum entwickeln.“ (Seils, 629) In Leben und Lehre der Alten Kirche hat die Soteriologie noch „keine klaren Umrisse bekommen“ Altkirchliche Soteriologie (Studer, 57). Doch lassen sich einige Hauptideen, Grundlinien und Leitgedanken identifizieren; Basil Studer hat sie für die vor­ nizänische Zeit (vgl. Studer, 59 ff.) sowie für die Zeit nach dem Konzil von Nizäa (vgl. Studer, 116 ff.) und im Umkreis des Chalcedonense (vgl. Studer, 175 ff.) sehr detailliert erhoben. Dabei wurde neben Gregor von Nyssa und Augustin Athanasius und seiner antin Soteriologie eine Ausnahmestellung zuerkannt, da in ihr eine klare Vorstellung von Erlösung entwickelt worden sei. Als ausgezeichneter „Vorkämpfer der nizänischen Orthodoxie“ (Studer, 126) habe Athanasius die Inkarnation des Logos dezidiert ins Zentrum des christlichen Glaubens gestellt und sie sote-

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riologisch als Grundlage und Anfang der Vergöttlichung des Menschen verstanden, die zwei Gesichtspunkte umfasse: „den Sieg über den Tod, die Wiederherstellung der Unvergänglichkeit (aphtharsia) und die Zurückerstattung der Erkenntnis Gottes, d. h. die Wiederherstellung der Ebenbildlichkeit oder der Gotteskindschaft (Incarn. 9).“ (Studer, 128) Unter diesen beiden Aspekten eignet sich Athanasius die von der Tradition vorgegebenen soteriologischen Themen an: „den Tod Jesu als Loskauf, das Sühnopfer für die vielen, den Sieg des Kreuzes, den Triumph über den Teufel, die Vorbereitung des Weges zum Himmel, die pax christiana, in der sich sowohl die Monarchie wie der Monotheismus durchsetzen, usw.“ (Studer, 127) Basil Studers Untersuchungsergebnisse zur altkirchlichen Soteriologie wurden durch die Fallstudie zur Lehre des Athanasius von der Menschwerdung des Logos bestätigt. Zentral ist bei Athanasius wie in der Soteriologie der Alten Kirche überhaupt der inkarnationstheologisch explizierte Gesichtspunkt einer Erlösung des Menschen von den Verderbensmächten Tod und Teufel. Doch da die leidvolle Gefangenschaft unter der Macht des Verderbens selbstverschuldet ist, bleibt das Versöhnungsmotiv demjenigen der Erlösung nicht derart fremd, wie das gelegentlich behauptet wird; und die Inkarnationslehre entbehrt keineswegs der Hinordnung auf die theologia crucis. Man wird sich also vor pauschalierenden Gegenüberstellungen hüten und bei aller Kontrastierung den kontinuierlichen Überlieferungszusammenhang im Auge behalten müssen, der die Entwicklungsgeschichte christlicher Soteriologie kennzeichnet. Typisierende Betrachtungen, wie sie etwa in dem Werk „Den kristna försonningstanken“ (1930) von Gustaf Aulén angestellt werden – es erlebte in englischer Übersetzung (Christus Victor, 1931) „mehr als 20 Auflagen“ (Wingren, 749) –, mögen ihre heuristische Bedeutung haben; den historischen Befunden werden sie nur sehr bedingt gerecht, ganz abgesehen davon, dass der Verdacht einer Rückprojektion gegenwärtiger Problemkonstellationen in die Vergangenheit naheliegt. Nach Urteil von Dietrich Korsch verdankt sich „das Schema, nach dem ein urchristlich-klassischer (von Luther wiederaufgenommener), originär-kraftvoller, in den Begriffen Kampf und Sieg geformter Typus gegenüber den beiden anderen Gestaltungen, einem lateinisch-legalistischen und einem neuzeitlich-moralistischen Typus, zu bevorzugen sei, … sichtlich der Semantik einer Epoche, die Macht gegen Recht und Moral auszuspielen bereit war“ (Korsch, 24). Immerhin könne A ­ uléns Typologie als Versuch gelesen werden, „das Eigenrecht des Religiösen gegen sein Verschwinden in der ethischen Praxis zu betonen“ (ebd.). Was immer man von­ Auléns Typologie halten mag: An einem „klassischen Text“ (Tetz, 345) wie dem­ jenigen des Athanasius von Alexandrien über die Menschwerdung des Logos lässt sich zeigen, dass der altkirchlichen Erlösungslehre das Versöhnungsmotiv keineswegs fremd war; entsprechend wird die Frage „Cur Deus homo“ auf Lateinisch nicht völlig anders beantwortet als auf Griechisch. Differenzierung tut not; aber sie darf nicht zur Trennung dessen führen, was historisch und sachlich zusammengehört. Unter diesem Vorbehalt kann soteriolo­ gischen Typologien ihr historischer Wert durchaus zuerkannt werden. Dies bestä-

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tigt trotz seiner Aulénkritik auch Dietrich Korsch im Zusammenhang seines bemerkenswerten Versuchs, der Soteriologie durch Historiographie den Weg zu ihrem dogmatischen Begriff zu bereiten. Zwei Grundbegriffe stehen nach Korsch im Zentrum christlichen Heilsverständnisses, derjenige der Erlösung und derjenige der Versöhnung. Beide seien auf die „Neuordnung des Verhältnisses von Gott und Mensch“ (Korsch, 22) bezogen, aber nach Urteil einer langen dogmenhistoriographischen Tradition in unterschiedlicher Weise. Während der Versöhnungsbegriff bereits terminologisch eine Beziehung voraussetze, „die durch Schuld zerstört ist“ (Korsch, 23), sei dies beim Begriff der Erlösung nicht notwendig der Fall. Die Geschichte der christlichen Soteriologie kenne zwar viele „Kombinationen von Er­ lösung und Versöhnung“ (ebd.); doch ließen sich in ihrem Verlauf typische Akzentsetzungen unterscheiden, die für eine jeweilige Epoche kennzeichnend seien: „In der Alten Kirche wird die religiöse Bedeutung der Christusgeschichte wesentlich als Rettung menschlichen Lebens durch die Erlösung der menschlichen Natur verstanden“ (Korsch, 25), wobei „die Rolle der Schuld für den Begriff der Sünde relativ unbestimmt“ (ebd.) bleibe. „Die Zuordnung von gottmenschlicher Natur Christi und seinem Kreuzestod bildet die offene Flanke der altkirchlichen Soteriologie. In dieser Unbestimmtheit spiegelt sich das noch ungeklärte Verhältnis zwischen menschlichem Sein und menschlichem Handeln (und entsprechend göttlichem Sein und göttlicher Geschichte).“ (Ebd.) Diese Unklarheit betreffe vor allem den griechischen Osten, obwohl auch im lateinischen Westen der Gedanke der Versöhnung in der Alten Kirche „weder rein gefaßt noch zentral verwendet wurde. Kritisch“, so Korsch, „muß man überdies festhalten, daß die Rede von einem (wie immer beschränkten) Recht des Teufels auf die Menschen einen schwer beherrschbaren Dualismus in den gesamten Vorstellungskomplex einträgt, der schließlich verhindert, Gottes Wesen, die Erscheinung Christi und das Heil der Menschen in einen schlüssigen Zusammenhang zu bringen.“ (Korsch, 26) Zum vermeintlichen Recht des Teufels auf den Menschen hat Anselm das Nötige gesagt. Auch Mittelalterliche ansonsten hat er die für die westliche Tradition Soteriologie entschei­denden soteriologischen Weichenstellungen vorgenommen. Spätestens bei ihm verlagert sich der Akzent des Heilsinteresses von der erlösenden Logosinkarnation auf den die Sündenschuld sühnenden Versöhnungstod Christi, der aufhört, ein „soteriologisches Nebenthema“ (Gestrich, 349) zu sein wie gelegentlich in der Alten Kirche. Hatte schon Athanasius der „Konzentration auf die Sühne Christi vorgearbeitet“ (ebd.), so wird diese Ausrichtung bei Anselm bestimmend. Die an ihn anschließende soteriologische Lehrtradition kann insofern mit Recht als Versöhnungstheorie qualifiziert werden und zwar im Sinne eines Versöhnungsbegriffs, der denjenigen der Sühne unveräußerlich in sich enthält. Gemäß dem „Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache“ von F. Kluge ist der Versöhnungs- eindeutig vom Sühnebegriff abgeleitet (vgl. Kluge, 861), wohingegen die Etymologie des Begriffs Sühne „unklar“ (Kluge, 808) bleibe; möglicherweise bestehe ein Zusammenhang mit dem altnordischen sóa „opfern,

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töten“, „so daß von ‚Sühneopfer o. ä.‘ auszugehen wäre“ (ebd.). Gemäß aktuellem Sprachgebrauch bedeutet Sühne „etwas, was jmd. als Ausgleich für eine Schuld oder ein Verbrechen auf sich nimmt oder auf sich nehmen muss“ (Duden 10, 911), und sühnen „(ein Unrecht) unter persönlichen Opfern wiedergutmachen, eine Schuld abbüßen, für etwas eine Strafe, Sühne auf sich nehmen“ (ebd.). Der Sühnevollzug setzt schuldhaft begangenes Unrecht voraus, auf dessen Negativität er negierend bezogen ist, worin er mit Vollzügen der Buße, der Strafe und der Satisfaktion etc. vergleichbar ist. Zugleich hat er wie diese am Recht das Maß seiner Geltung. Sühne bemisst sich am Recht und erfolgt nicht willkürlich, sondern „nach dem Prinzip ausgleichender Gerechtigkeit“ (Schreiner, 339). Nachgerade das jüdische Sühneverständnis lässt daran keine Zweifel aufkommen. Sachschäden können durch Bußgeldzahlungen und Sühneleistungen sachlicher Art beglichen werden, schuldhaft zugefügte Personschäden hingegen erfordern personale Sühnevollzüge. So ist etwa für einen Mord „Sühngeld nicht akzeptabel (vgl. Num 35,31), da der Getötete es nicht mehr annehmen kann. Mord kann daher nur durch den Tod des Mörders gesühnt werden.“ (Ebd.) Sühne durch Tod ist wie im juridischen so auch im kultisch-rituellen Bereich ein Zentralthema jüdischer Theorie und Praxis. Das sühnende Sünd- und Schuldopfer im Tempel wird primär durch Tötung vollzogen, nicht zwar unmittelbar durch diejenige des oder der Schuldigen, wohl aber auf vermittelte Weise. Wie immer man sich die Entwicklung vom rituellen Menschenzum Tieropfer zu denken hat: Blutvergießen mit Todesfolge gehört nicht nur, aber auch in Israel zentral zum Tempelkult. Substitute für das Sühnegeschehen im Tempel gibt es nicht erst in tempelloser Zeit. Doch bleibt auch in ihnen die für den Sühnebegriff grundlegende Annahme erhalten, dass Sünde und Schuld tendenziell tödliche Folgen nach sich ziehen und nur auf schmerzliche Weise gesühnt werden können: Der Tod ist nun einmal der Sünde Sold, und letztlich nur durch ihn kann die Schuld behoben werden, welche der Sünder durch seine Sünde schuldhaft auf sich geladen hat. Auch wenn sich der Sühnevollzug vom kultischen Äußeren nach Innen verlagert, um etwa durch Fasten und Beten geübt zu werden, so bleibt die erfolgende Umkehr doch dem Geschehen von Leiden und Sterben vergleichbar. Im Neuen Testament wird Sühne vor allem mit LeiSühnemotiv den, Sterben und Tod Jesu Christi am Kreuz asso­ ziiert, das an zentralen Stellen als Sühnopfer verstanden wird. Den traditionsgeschichtlichen Hintergrund hierfür bildet zweifellos die alttestamentliche Sühnetheologie und zwar vor allem die einschlägigen „Aussagen der Priesterschrift … über das Sündopfer (Lev 4 f.) und den Ritus des Großen Versöhnungstages (Lev 16)“ (Hofius, 343), die aber im christologischen Kontext gründlich transformiert werden: „Im Unterschied zu den auf Wiederholung angelegten und ausschließlich für Israel bestimmten alttestamentlichen Sühnopfern handelt es sich bei dem Sühnetod Jesu um ein eschatologisches Ereignis, das ein für allemal geschehen ist und in universaler Weite allen Menschen aller Zeiten gilt. Das aber hat seinen Grund darin, daß hier in strenger Ausschließlichkeit Gott selbst den für das Sühnegeschehen konstitutiven Akt der Identifizierung voll-

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zieht – und zwar in der Seins- und Handlungseinheit mit Jesus Christus, dem ‚Sohn Gottes‘, der seinem Ursprung und Wesen nach auf die Seite des Vaters gehört und mit der Inkarnation auf die Seite des Menschen getreten ist, um als der wesenhaft Sündlose ‚für‘ ihn zu sterben. Vorausgesetzt ist dabei zum einen die totale und radikale Sündenverfallenheit aller Menschen und zum andern das Verständnis der Sünde als einer Größe, die den Menschen in seinem Sein betrifft und ihm deshalb ebensowenig abgenommen werden kann wie der Tod.“ (Hofius, 344) Der für den Begriff der Versöhnung etymologisch grundlegende Sühnebegriff ist in seiner Bedeutung auf denjenigen von Unrecht und Schuld elementar bezogen. Dieser Elementarbezug wird durch die biblischen Befunde durchweg belegt, wobei die Begriffe von Unrecht und Schuld ihrerseits konstitutiv bezogen sind auf das­ jenige, was Recht und Gerechtigkeit heißt. Als theologisch gerecht hat im Sinne der Bibel zu gelten, was dem gerechten Willen Gottes entspricht. Manifest ist der göttliche Wille im Gesetz, welches nach Maßgabe der Gerechtigkeit gebietet, was recht ist. Die Begriffe Gebot und Gesetz können nach biblischem Sprachgebrauch demnach synonym verwendet werden. Eine Unterscheidung zwischen ihnen „läßt sich für das Alte Testament weder terminologisch noch inhaltlich begründen“ (Heiligenthal, 124). Ein vergleichbarer Befund ergibt sich in Bezug auf das Neue Testament. Auch wenn in ihm im Anschluss an entsprechende Tendenzen im hellenistischen Judentum der „Inhalt der Tora auf wenige Dekaloggebote und die beiden Hauptgebote reduziert“ (ebd.) wird, kann von einer spezifischen Differenz zwischen Gebot und Gesetz eigentlich nicht die Rede sein. Eine solche Differenz ergibt sich erst, wenn man auf die differente Funktion reflektiert, welche die göttliche Weisung unter prä- bzw. postlapsarischen Bedingungen ausübt. Das ursprünglich auf die geschöpfliche Bestimmung und ihre Erfüllung bezogene Gottesgebot nimmt im Falle der Sünde die Form des anklagenden Vorwurfs an, welcher den Sünder richtet. Das Gebot verliert dadurch nicht seine Ursprungsgüte, hört aber auf, ein Mittel des Heils zu sein, was nicht seine, sondern die Schuld des Sünders ist, der sich gegen die göttliche Weisung kehrte. Für ihn wirkt das gute Gottesgebot tödlich und zugrunderichtend. Im Kontext der lutherischen Lehre von Gesetz und Evangelium wurde die tötende und richtende Funktion, die das Gottesgebot in Gestalt des usus elenchticus legis für den Sünder annimmt, häufig „gesetzlich“ genannt. Paul Althaus machte sogar „den terminologischen Vorschlag, den Begriff ‚Gesetz‘ auf die Bezeichnung jener die Sünde richtenden Funktion zu beschränken, hingegen in bezug auf Inhalt und Begegnung des Gotteswillens abgesehen von dieser besonderen Funktion nur von ‚Gebot‘ zu sprechen“ (Joest, 130). Man muss diesem Vorschlag terminologisch nicht folgen, um anzuerkennen, dass er auf ein sachliches Problem von theologisch zentraler Bedeutung aufmerksam macht. Gott ist gerecht und sein in der Thora offenbarer Wille manifeste Gerechtigkeit. Was die Thora gebietet, ist gut für die Schöpfung und nachgerade für das Menschengeschöpf, das im göttlichen Gebot seiner eigenen Bestimmung zu gottebenbildlicher Menschlichkeit begegnet. Unter

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den Bedingungen sündiger Verkehrung indes wendet sich die Bestimmung des Menschen gegen ihn und wird zum Vorwurf, zur Anklage und zum Gericht. Unrecht ist nicht recht; seine Verkehrtheit muss zuKultisches Opfer rechtgebracht werden, damit Versöhnung möglich sei. Ein Mittel dazu ist die Sühne, unter deren Stichwort sich die Religionswissenschaft mit diversen „Entstörungs- und Korrekturhandlungen“ (Sitzler-Osing, 332) befasst, von denen das kultische Opfer nur eine, wenngleich keineswegs die unwichtigste ist. Wo geopfert wird, fließt häufig Blut. „Blut ist in Sühneriten ein bevorzugtes Reinigungsmittel.“ (Sitzler-Osing, 334) Dass Blut nicht nur in Goethes Faust, sondern in der gesamten Religionsgeschichte der Menschheit als ein „ganz besondrer Saft“ (Goethe, 195 [1740]) angesehen wird, hat mit der menschlichen Elementarwahrnehmung zu tun, „daß Blutverlust die Kräfte schwinden läßt“ (Wißmann, 727), während Blutzufuhr sie mehrt, was den Schluss nahelegt, „daß im Blut das Leben selbst präsent sei“ (ebd.). Im Alten und Neuen Testament belegte allgemeine Blutscheu und besondere Blutriten bestätigen, dass auch dem biblischen Menschen Blut als ein spezifischer Lebenssaft galt. Die eigentümliche Bedeutung der Rede von Leib und Blut Jesu Christi im Abendmahl, wie sie unter ausdrücklichem Bezug des Kelchworts auf den Tod Jesu statthat, ist mit diesem Hinweis zwar längst nicht erschlossen; die Berücksichtigung religionsgeschichtlicher Bluttraditionen trägt aber zweifellos auch zu ihrem Verständnis bei. Was die reformatorische Theologietradition anbelangt, so stehen ihre Aussagen über das kostbare Blut Jesu Christi „(in Verbindung und weitgehend austauschbar mit Begriffen wie Leiden, Kreuz, Tod) entsprechend neutestamentlichem Sprachgebrauch für das Ganze des Erlösungswerks“ (Schneider, 740), um „im Kontext der Lehre vom Abendmahl zum Gegenstand besonderer Reflexion“ (ebd.) zu werden. Die Heilskraft der unter den Gestalten von Brot und Wein gegebenen Abendmahlsgaben von Leib und Blut Jesu Christi liegt nach traditioneller Lehre darin begründet, dass der Heiland am Kreuz seinen Leib für uns dahingegeben und sein Blut für uns vergossen hat: „Jesus ist kommen, ein Opfer für Sünden, / Sünden der ganzen Welt träget dies Lamm.“ (EG 66,6) Wie hat man die opfertheologischen Interpretationen des Kreuzes Christi systematisch zu beurteilen? Antwort: „Man kann die Lehre vom Opfertod Jesu Christi zurückweisen, ohne damit zu bestreiten, daß dieser Tod ein Heilstod ist; und man kann die Heilsbedeutung von Jesu Kreuzestod ohne dessen opfertheologisches Verständnis vertreten. Das dogma­tische Problem besteht nicht in der Frage, ob Jesu Kreuzestod ein Heilstod ist – davon geht theologisches Denken aus. Die Frage ist vielmehr, ob dieser Heilstod als Opfertod verstanden werden kann, verstanden werden muß oder verstanden werden sollte.“ (Dalferth, 289) Nach Urteil I. U. Dalferths lassen sich die ersten beiden Fragen verhältnismäßig leicht beantworten: „Daß es möglich ist, Jesu Heilstod als Opfertod zu verstehen“ (ebd.), werde durch das neutestamentliche Zeugnis ebenso eindeutig belegt wie die Tatsache, dass es sich bei der Vorstellung des Kreuzes als eines Opfers nicht um „das einzig mögliche“ (ebd.) Interpretament handelt. „Keine Deutung des Todes Jesu

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kann beanspruchen, das Heil als einzige authentisch zur Sprache zu bringen, auch nicht das opfertheologische Verständnis.“ (Ebd.) Schwieriger ist die dritte Frage einer Antwort zuzuführen, ob nämlich das Kreuzesgeschehen opfertheologisch gedeutet werden sollte. Um diesbezüglich Klarheit zu erlangen, sind vorweg einige Präzisierungen vorzunehmen. Wo das Kreuz Jesu Christi im Neuen Testament als (Sühn-)Opfer gedeutet wird, da geschieht dies nirgends in der Absicht, die Staurologie zu einem Spezialfall der Opfertheologie zu erklären und sie in den allgemeinen Zusammenhang ritueller Theorie und Praxis einzuordnen. So ist nach Maßgabe des Hebräerbriefs, der das Kreuz vorzugsweise opfertheologisch deutet, das durch den Tod Jesu Christi erbrachte vollgenügsame Opfer zugleich das Ende aller kultischen Opfervollzüge. Mit dem Kreuzestod des Priesters, welcher sich selbst als endgültiges Opfer darbringt, endet der Tempelkult mit der Folge, dass „das Christentum von Anfang an keine Opferreligion war“ (Dalferth, 290), was sich unter den religionsgeschichtlichen Bedingungen der Antike nicht von selbst versteht, sondern als außerordentlich zu gelten hat. Es erhellt, dass nach Zeugnis des Hebräerbriefes, ja nach Zeugnis des Neuen Testamentes überhaupt „mittels der Opferkategorie selbst ausgedrückt und gezeigt wird, daß das Opfer als Vollzugsweise und als Denkform des Heils überholt ist“ ­(Dalferth, 291), überholt freilich nicht durch abstrakte Negation, sondern durch aufhebende Erfüllung dessen, wozu der Opferkult gestiftet war. Es ist also problematisch zu sagen: „Nicht die Erfüllung aller Erfordernisse des Kultopfers durch Jesus Christus, sondern die Auflösung des Opfers als kultischer Praxis und die Zerbrechung der Opfervorstellung als soteriologischer Kategorie ist die Pointe der paradoxalen Gleich­ setzungs- und Übersteigerungsargumentation des Hebräerbriefs und der sote­ riologischen Umbesetzungsargumentation des Paulus: Mit Christus sind Opfer und Opferkult an ihr Ende gekommen, weil er dafür steht, daß die gestörte, beschädigte Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch, die durch Opfer wiederhergestellt, bereinigt und neu geordnet werden sollte …, auf ganz anderem Weg ein für allemal und ewig gültig wiederhergestellt, bereinigt und neu geordnet ist: durch Gottes eschatologische Selbstvergegenwärtigung in Kreuz und Auferweckung Jesu Christi.“ (Dalferth, 291 f.) Am Kreuz Jesu Christi sind Opfer und Opferkult an ihr Ende gelangt, aber nicht dadurch, dass sie in Vollendetes Opfer ihrer Bedeutung abstrakt negiert, sondern durch Erfüllung aufgehoben und zur Vollendung gebracht sind, wobei Gott selbst es ist, der die Vollendung stiftet, indem er den Gekreuzigten für den Glauben hinstellt als hilasterion, Sühne zu leisten mit seinem Blut, damit sich Gottes Gerechtigkeit erweise durch die Vergebung der Sünden (vgl. Röm 3,25). Dem Stamm hilask- in der Verwendung der Septuaginta liegt das hebräische Verb kpr zugrunde, das profane oder religiös-kultische Sühne bezeichnen kann (vgl. Schenker, Sühne, 335). Ausführlich thematisiert wurden Vollzüge kultischer Sühne in der Priesterschrift (vgl.  Schenker, Sühne, 336 f.). Ihr zufolge hat Jahwe selbst die Opfer für Israel gestiftet, um die Möglichkeit der Versöhnung zu erschließen. „Sühnopfer sind

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somit Zeichen der Gnade.“ (Schenker, Sühne, 337) Sie sind dies indes als Sühnopfer, also in der Form bestimmter Negation von Sünde und Schuld, wie sie in Schlachtund Brandopfern sowie in anderen Opferarten statthat (vgl. im Einzelnen Seebaß). Davon darf die Rede vom „Vollzug der Sühne als Heilsgeschehen“ (Seebaß, 262), dem „alle Hauptarten an Opfern“ (ebd.) zuzurechnen seien, nicht hinwegtäuschen. Rabbinische Äußerungen zum Thema (vgl. Stemberger) bestätigen diesen Sachverhalt ebenso eindeutig wie Aussagen des Neuen Testaments, welche im Zusammenhang der Deutungen des Kreuzestodes von Opfer und Sühne sprechen (vgl. Young). Wenn Paulus sagt, Gott habe Jesus Christus für den Glauben als ein hilasterion in seinem Blut hingestellt, dann ist das Kreuzesereignis unzweifelhaft als Heils- und Gnadengeschehen bestimmt, aber eben nicht unmittelbar, sondern mittels seiner simultanen Bestimmung als versöhnungstiftendes Opfer- und Sühnegeschehen. Man kann exegetisch geteilter Meinung sein, welche Bedeutung sühneopfertheologischen Schemata für die neutestamentliche Staurologie im Allgemeinen und für die paulinische im Besonderen zukommt. Auch das Syntagma Sühnopfer selbst bedarf der Prüfung, weil der Zusammenhang, den es zwischen Sühne und Opfer herstellt, keineswegs notwendig ist. Das Neue Testament kennt auch nichtkultische Sühne, und nicht jede Rede vom Opfer muss notwendig sühnetheologisch verstanden sein. Auch bei der Verwendung des Versöhnungsbegriffs im neutestamentlichen Kontext ist jeweils seine genaue Bedeutung zu erforschen. Zu prüfen ist freilich auch, warum schon im Neuen Testament und dann forciert in der Alten Kirche recht unterschiedliche Vorstellungskomplexe zu einem soteriologischen Verstehenszusammenhang verbunden wurden. Die neutestamentlichen Deutungen des Todes Jesu Christi sind vielschichtig und lassen sich nicht auf einen Typus reduzieren. Gleichwohl schließen sie sich wechselseitig nicht aus, sondern stimmen strukturell darin überein, dass sie äußerste Negativität und nicht mehr steigerungsfähige Affirmation in differenzierter Weise vereinen. Der Gekreuzigte ist der österliche Erlöser und das Wort vom Kreuz das Versöhnungsevangelium, welches dem Sünder Rechtfertigung zuspricht und sein schuldhaft verkehrtes Gottesverhältnis zurechtbringt, ohne deshalb die Sünde für rechtens zu erklären. Dass das Evangelium, welches der auferweckte GeJuridische kreuzigte in Person ist, den Sünder rechtfertigt, Interpretamente ohne deshalb die Sünde zu rechtfertigen, wird neben den vorzugsweise aus dem Kult stammenden Kategorien, die das Kreuz als Sühne, als Opfer etc. denken, auch durch Auslegungsmittel speziell aus dem juridischen Bereich zum Ausdruck gebracht. Sachlich berühren sie sich ohnehin mit aus der Kulttradition stammenden Interpretamenten, da auch diese, wenngleich in anderer Weise, auf das Problem schuldhaften Unrechts und seiner Behebung bezogen sind. Schuld hat jemand, wenn er „für einen unheilvollen, strafwürdigen, bestimmten Geboten o. Ä. zuwiderlaufenden Vorgang, Tatbestand“ (Duden 10, 831) verantwortlich ist. Der Schuldige hat sein Soll nicht erfüllt, sondern ist das Gesollte schuldig geblieben, ob nun durch aktive Tat oder durch Passivität (vgl. Kluge, 744). Dabei kann es um der Gerechtigkeit willen nicht bleiben.

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Schuld muss gesühnt werden, sei es durch Opfer, sei es durch Strafe oder durch welche Maßnahmen auch immer. Während sich das Wort Opfer seiner Lautform nach vom lateinischen „operari“, seiner Bedeutung nach wahrscheinlich von „offere“ herleitet, ist die Herkunft des Strafbegriffs unbekannt. Seinem aktuellen Bedeutungsgehalt nach bezeichnet er etwas, was jemandem „zur Sühne für ein begangenes Unrecht“ (Duden 10, 897) auferlegt wird. Strafe ist ein aus Rechtsgründen auferlegtes Übel. Demjenigen, der ein Übel verschuldet hat, wird Leid zugefügt, um ihn zu bestrafen. Das Alte Testament „kennt keinen für Strafe ausschließlich verwendeten Begriff“ (Knierim, 199), wohl aber eine Vielfalt von Typen und Formen aktiver Intervention sei es von menschlicher Seite, sei es von Seiten Gottes, die sich mehr oder minder einheitlich als Strafe qualifizieren lassen. Als gerecht haben Strafen dann zu gelten, wenn sie auf erwiesener Schuld beruhen und ihr angemessen sind. Für göttliche Strafen trifft dies der Gerechtigkeit Gottes wegen stets und ausnahmslos zu, wann und auf welche Weise immer sie vollstreckt werden. Gesetzlicher Maßstab des Strafgerichts Gottes ist die Thora, in der er seinem Volk und aller Welt seine Gerechtigkeit erschlossen hat. Die Zwecke gerechten Strafens Gottes sind unterschiedlich. Doch verfolgen sie durchweg das Ziel, der göttlichen Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen und ihre Herrschaft zu befördern. Alle Strafzwecke sind diesem Ziel einheitlich zugeordnet, das sich angesichts ihrer Relativität als absoluter Strafzweck erweist. Ihn zu verfolgen ist Gott seiner Gerechtigkeit und damit sich selbst schuldig. In der Verkündigung Jesu und im neutestamentlichen Zeugnis ist wie der Gedanke des Lohnes auch derjenige göttlicher Strafe fest verankert, wobei Gottes kritisches Einschreiten gegen Sünde und Schuld häufig in juridisch-forensischen Kategorien beschrieben wird (vgl. Röhser, 206). Als der offenbare Sohn wird der auferstandene Gekreuzigte bei seiner Wiederkunft selbst als Weltenrichter fungieren. Wie sich zur richterlichen Funktion Jesu Christi diejenige als eschatologischer Retter verhält, ist die alles entscheidende soteriologische Frage, von der nicht allein Luthers Theologie im Innersten bewegt wurde (vgl. Track, 209 f.). Beantworten lässt sie sich nicht durch abstrakte Entgegensetzung von Rettung und Gericht, sondern nur durch Verweis auf ihre differenzierte Einheit in jenem, der unser Retter als der für uns und um unserer Sünden willen Gerichtete ist. Nur von dem stellvertretend gerichteten Richter ist Rettung im Endgericht zu erwarten. Durch die von ihm erlittene Strafe sind wir frei. Wie sich Luthers Strafleidenstheorie, die unveräußerlich zu seiner theologia crucis gehört, zur Sa- Schuld und Strafe tisfaktionstheorie Anselms von Canterbury verhält, wurde bereits erörtert und ist hier nicht erneut zu diskutieren. Festgehalten sei lediglich, dass auch der Genugtuungsbegriff, selbst wenn er dem Strafbegriff kontrastiert wird, auf schuldhaft zugefügtes Unrecht bezogen ist, welches durch Erbringung eines angemessenen Ausgleichs für den erlittenen Schaden satisfaktorisch behoben werden soll. Man mag das Verhältnis von poena und satisfactio bei Anselm und anderwärts bestimmen, wie man will: Beide Begriffe konfrontieren wie alle an-

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deren Zentralbegriffe der für die klassische Soteriologie des Westens bestimmenden Versühnungs- bzw. Versöhnungstheorie einen Unrechtszustand mit geltendem Recht und lassen Sündenvergebung, ohne ihren unbedingten Gnadencharakter zu leugnen, nicht unvermittelt, sondern auf eine durch Unrechtsnegation wenn nicht vermittelte, so doch mitbestimmte Weise geschehen. Während Erlösung im Grunde die Befreiung von allen möglichen Übeln und so auch die Lösung aus einem unverschuldeten Los bedeuten kann, so sind die terminologischen Bestimmungs- und Explikationsmomente des Versöhnungsbegriffs stets schuldbezogen. Wie die soteriologischen Begriffe, die auf ihn bezogen sind, ist auch der Schuldbegriff ein hochkomplexer Terminus. Seine Bedeutung wird bestimmt von Bezügen zu Täter, Tat, Tatopfer sowie zu dem System, an dem sich das Geschuldete bemisst. Nicht jedes Übel ist verschuldet, und nicht alles Leid durch eine Ursache herbeigeführt, der Schuld zugerechnet werden kann. Schuldzuweisungen setzen Verantwortungsvermögen voraus. Wo dieses fehlt und Unzurechnungsfähigkeit zu attestieren ist, kann von Schuld im eigentlichen Sinne nicht die Rede sein. Man kann zwar unfreiwillig schuldig werden; aber selbst für diesen Fall ist das prinzipielle Gegebensein von Freiheit und Wille vorausgesetzt. Entitäten, denen Willensfreiheit und vernünftiges Einsichtsvermögen grundsätzlich abgeht, können zwar übles Leid bedingen, nicht aber schuldig werden. Objektive Tatschuld lässt sich ohne Berücksichtigung des Tätersubjekts nicht konstatieren, welches einen Sach- oder Personschaden herbeigeführt hat. Wie beide Schäden präzise zu differenzieren und intern zu bemessen sind, stellt vor schwierige rechts- und moraltheoretische Fragen, die bei einer Qualifizierung von Schuld und einer Festlegung des Strafmaßes ebenso zu berücksichtigen sind wie die Täterbelange. Namentlich personale Tatopfer haben hierauf einen rechtlichen und moralischen Anspruch, woraus folgt, dass Schuld einen Relationsbegriff darstellt, dessen Bedeutung sich erst aus dem Zusammenhang unterschiedlicher Verhältnisse ergibt. Als Relationsbegriff des Rechts verlangt Schuld nach Strafe, auch wenn diese nicht zwangsläufig Schuldfolge sein muss. Als Relationsbegriff der Moral ist Schuld das sittlich zu Tadelnde, das auch dann zu verurteilen ist, wenn von einem Rechtsurteil abgesehen werden kann. Während ein moralisches Schuldurteil intentional auf Schuldbewusstsein ausgerichtet ist, das entweder vorausgesetzt wird oder doch hervorgerufen werden soll, muss das beim Rechtsurteil nicht notwendigerweise der Fall sein. Dieses kann schuldig sprechen, auch wenn kein Bewusstsein von Schuld vorhanden ist. Was es mit der Sündenschuld auf sich hat, wurde im hamartiologischen Kontext bereits ausgiebig erörtert. Dabei ergab sich, dass „Schuld als Sünde keine essentielle menschliche Eigenschaft“ (van den Beld, 584) sein kann, weil eine solche Annahme auf eine Fatalisierung und damit Entschuldigung der Sünde hinausliefe. Man sollte deshalb nicht von „ontologische(r) Schuld“ (ebd.) sprechen. Andererseits ist nach christlichem Urteil die Schuld der Sünde als peccatum originale von einer Abgründigkeit, die rechtlich-moralisch nur bedingt zu ermessen und in ihrer Abgründigkeit allein religiös wahrzunehmen ist. Entsprechendes gilt für die Sündenver-

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gebung, ohne die nicht angemessen von demjenigen die Rede sein kann, was nach reformatorischem Urteil den Skopus der Soteriologie darstellt: von der Rechtfertigung des schuldigen Sünders. Der Rechtfertigungsvollzug impliziert Vergebung der Sünde als unveräußerliches Bestimmungsmoment, ja er koinzidiert nach reformatorischem Urteil im Wesentlichen mit dieser. Als theologischer Fachbegriff gehört das Syntagma Sündenvergebung „zu einem Wortfeld, einem Sündenvergebung Netz von Metaphern, das sich in allen neutestamentlichen Schriften finden läßt“ (Frankenmölle, 676), wobei die Semantik der Wendung wie diejenige der gesamten soteriologischen Terminologie „durch und durch von den heiligen Schriften Israels in der griechischen Übersetzung“ (Frankenmölle, 669), der sog. Septuaginta, abhängig ist. Dies bringt es mit sich, dass die neutestamentliche Thematik der Sünde und ihrer Vergebung von Anfang an mit den alttestamentlichen Überlieferungskomplexen in Verbindung gebracht wurde, die von thorawidrigem Widerspruch gegen Gottes Gerechtigkeit und von der Bekehrung der Sünde durch kultische oder nichtkultische Sühne handeln. Dabei ist stets vorausgesetzt, dass Gott und niemand sonst die Möglichkeit der Sühne gewährt, ihren tatsächlichen Vollzug aber zugleich zum konstitutiven Implikat seiner Versöhnungsbereitschaft erklärt (vgl. Schenker, Vergebung). Theologisch zu denken ist dies nicht anders als auf trinitarische Weise. Wie die sühnetheologischen können auch die rechtfertigungstheologischen Gehalte der christlichen Soteriologie „ohne Rückbindung an den dreieinigen Gott nicht angemessen erfaßt werden“ (Gestrich, 353). Statt die Rechtfertigungslehre, zu deren Leitbegriff im Kontext der sonstigen soteriologischen Nomenklatur noch einige abschließende Anmerkungen zu machen sind, in abstrakter Weise zum Prinzip des Protestantismus oder zu seinem Kardinaldogma zu stilisieren (vgl. Sauter, 329), ist sie im Sinne einer regulativen Idee konkret so zu gebrauchen, dass sie der aktuellen Zusage des in Jesus Christus bereiteten Heils für Menschheit und Welt dient. In diesem Dienst besteht ihre kriteriologische Funktion, durch die sie „Mitte und Grenze reformatorischer Theologie“ (vgl. Wolf) markiert. Wahrnehmen kann sie ihre Funktion als Kriterium kirchlicher Lehre und Verkündigung nur durch beständigen Verweis auf denjenigen, der offenbarer Grund und personaler Inbegriff des Rechtfertigungsevangeliums ist: auf den auferstandenen Gekreuzigten. Auf ihm und der durch ihn bereiteten gottmenschlichen Versöhnung (vgl. Sauter, 338 f.) basiert die Gnadenwirklichkeit des aus dem Gericht rettenden Rechtfertigungsurteils (vgl. Sauter, 354 f.), welches dem Einzelnen gilt und zugleich die kirchliche Gemeinschaft der gerechtfertigten Sünder stiftet (vgl. Sauter, 359 f.). Dieses Urteil ist zwar nicht wider, aber über alle Vernunft und im Grunde weder theoretisch noch praktisch zu begreifen. „Es klingt nicht nur befremdlich, sondern läßt sich offensichtlich nicht plausibel machen, daß Gott den Gottlosen rechtfertigt.“ (Sauter, 362) Nur der Glaube, der sich – vom Rechtfertigungsevangelium ergriffen – auf die gratis und bedingungslos geschenkte Gnade verlässt, wird in ihr das unergründliche Geheimnis der Liebe Gottes erkennen, wie sie in Jesus Christus kraft des Hl. Geistes offenbar ist.

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Was im Neuen Testament und insbesondere bei Paulus „mit Derivaten des Stammes dik-“ (Kertelge, 286) bezeichnet wird, gibt sich „erst in nachträglicher Reflexion als Lehrbegriff zu erkennen“ (ebd.). Eine explizite Rechtfertigungslehre liegt im neutestamentlichen Zeugnis nicht vor. Dies gilt auch für das Alte Testament, in dem sich das Problem der Rechtfertigung erst da stellt, „wo auf theologischer Ebene die Frage der Gerechtigkeit strittig wird“ (Spieckermann, 282). Steht die Gottesgerechtigkeit außer Frage, dann wird auch die Frage der Rechtfertigung nicht zum Problem, weil sie sich leicht beantworten lässt. Gerechtfertigt wird derjenige, der „wirklich saddiq ‚gerecht, unschuldig‘ ist. Vor Gericht wird dem Unschuldigen / Gerechten bzw. dem Schuldigen / Frevler (rasa)  kein neuer Status zugesprochen. Die Gerechtigkeit wird nicht imputativ, sondern habituell gedacht. Diese Sicht der Dinge ist auch da in Geltung, wo Gott oder der König in Recht schaffender oder durchsetzender Funktion vorkommen (vgl. zu dem gesamten Bereich Ex 23,7; Dtn 25,1; II Sam 15,4; I Reg 8,32 par. II Chr 6,23; Jes 5,23; Ps 82,3; Prov 17,5). Der Akt der Bestätigung der Gerechtigkeit kann in diesem Zusammenhang als Rechtfertigung bezeichnet werden.“ (Ebd.) Gerechtfertigt und für gerecht erklärt wird, wer wirklich gerecht ist und der Gerechtigkeit entspricht. Der Ungerechte hingegen muss um der Gerechtigkeit willen gerichtet werden, weil er das Recht zum Unrecht nicht hat, das er meinte sich he­ rausnehmen zu können. Sein unrechter Anspruch muss ihm daher genommen und sein Unrecht bestraft werden. Eine Rechtfertigung des Ungerechten in seiner gesetzeswidrigen Gottlosigkeit ist unter diesen Bedingungen nicht vorgesehen und zwar zu Recht, wie man hinzuzufügen hat. Darf doch die Differenz von Recht und Unrecht um der Gerechtigkeit willen nicht vergleichgültigt werden. Zwischen Recht und Unrecht zu scheiden ist richtig und gut, es nicht zu tun, ungut und böse. Man wird von diesem „alttestamentlich-jüdischen Grundsatz“ (Kertelge, 287), der als allgemeines Vernunftgesetz gelten darf, nicht absehen können, wenn man die neutestamentlich-paulinische Rechtfertigungsbotschaft verstehen will; Paulus selbst bringt ihn in Röm 2,13b „verbal zum Ausdruck: es sind die ‚Täter des Gesetzes‘, die (im Endgericht) ‚gerechtgesprochen werden‘ (dikaiothesontai).“ (Ebd.) Dieser Sprachgebrauch entspricht demjenigen der Septuaginta, in welcher der Mensch „insofern als dikaios bezeichnet (wird), als er in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes lebt“ (ebd.). Wie verhält sich zu dieser Aussage der neutestamentliche Rechtfertigungsbegriff, mit dem Paulus nicht nur gegen „Judaisten“ polemisiert, sondern in Röm 1,16 f. „den Kerngehalt des von ihm verkündigten Evangeliums bestimmt“ (Kertelge, 288)? Was heißt es, wenn Paulus im Römer- und im Galaterbrief, aber der Tendenz nach schon in seinen frühen Briefen sagt, dass der Mensch durch den Glauben und nicht aus Werken des Gesetzes vor Gott gerechtfertigt werde, obwohl das Gesetz doch seiner Grundbestimmung nach nichts anderes ist als das Gebot göttlicher Gerechtigkeit? Eine Antwort auf diese Frage kann nur von der Christologie als dem „(t)ragende(n) Grund der paulinischen Rechtfertigungstheologie“ (Kertelge, 296), Rechtfertigung

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näherhin von der theologia crucis her gegeben werden, wie sie in Gal 3,13 unter Verweis auf Dtn 21,23 (vgl. 27,26) in äußerster Dichte zum Ausdruck gebracht ist: „Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes erlöst, indem er für uns zum Fluch geworden ist.“ Das Gesetz als Gebot der Gerechtigkeit wird gerechterweise demjenigen zum Fluch, der es bricht Gesetz und Evangelium und sich dadurch das gerechte Gottesgericht zuzieht. Rettung vom zugrunderichtenden Fluch des Gesetzes kann es nur von dem her und im Glauben an den geben, der am Schandpfahl des Kreuzes für uns, um unsretwillen und an unserer statt zum Fluch geworden ist. „Das Kreuz Christi wird so zum Zeichen des universalen Heilshandelns Gottes, eben in der Weise des befreienden Eintretens des einen für die vielen. Der gekreuzigte Christus wird in seiner letzten Selbstentäußerung zum tragenden ‚Grund‘ der grundlos liebenden Vergebung Gottes. Eben dies ist der Kern der paulinischen Rechtfertigungsbotschaft: nicht aus Werken des Gesetzes, sondern aus Glauben an Christus Jesus; nicht nach Verdienst, sondern aus Gnade. Diese Botschaft stellt kein in sich geschlossenes Heilssystem dar, sondern bietet in ihren verschiedenen Teilaspekten Gesichtspunkte zu einer verstehenden Annäherung an Gottes Gerechtigkeit und Liebe.“ (Kertelge, 294) Dass die paulinische Authentizität dieser Botschaft auch unter den exegetischen Bedingungen des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts (vgl. Kertelge, 299 ff.) zu behaupten ist, wurde im zweiten Abschnitt dieses Bandes gezeigt. Daraus erhellt, dass die reformatorische Rechtfertigungslehre nicht derart unpaulinisch ist, wie gelegentlich unterstellt wird. Die ursprüngliche Einsicht, die ihr zugrunde liegt, stimmt bei allen abweichenden geschichtlich-situativen Akzentsetzungen sachlich mit den Grundsätzen der paulinischen Botschaft von der dikaiosyne tou theou überein, aus deren Kontext die reformatorische Theologie das Wortfeld iustitia / iustificatio primär übernommen hat, um Rechtfertigung als „Inbegriff des Widerfahr­nisses (zu verstehen), das ein Leben aus Glauben in der Hoffnung auf die Vollendung dieses Lebens mit Gott trägt: das Leben, das Gott angenommen hat, indem er es in sich aufnimmt und umgestaltet. Der Gottlose ist gerecht vor Gott allein durch den Glauben und in ihm.“ (Sauter, 315)

14. Alter Ego. Zum Stellvertretungsgedanken Lit.: M. Bieler, Befreiung zur Freiheit. Zur Theologie der stellvertretenden Sühne, Freiburg /  Basel / Wien 1996.  – Chr. Brunners, Paul Gerhardt. Weg  – Werk  – Wirkung, Göttingen 2 2006. – W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes (1957). Zweite erweiterte Auflage, Frankfurt a. M. 1965. – W. Enderlein, Rechtfertigungslehre und Mystik. Zum mystischen Kern der Rechtfertigungslehre bei Luther, in: ThZ 70 (2014), 118–141. – Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen, München o. J. (= EG) – R. Frisch / M. Hailer, „Ich ist ein Anderer“. Zur Rede von Stellvertretung und Opfer in der Christologie, in: NZSThuRPh 41 (1999), 62–77. – P. Gerlitz, Art. Stellvertretung I. Religionsgeschichtlich, in: TRE 32, 133–135. – Chr. Gestrich, Christentum und Stellvertretung. Religionsphilosophische Untersuchungen zum Heilsverständnis und zur Grundlegung der Theologie, Tübingen 2001. – Ders./T. Hüttenberger, Art. Stellvertretung. V. Kirchengeschichtlich und systematisch-theologisch, in: TRE 32, 145–153. – V. Hampel / R. Weth (Hg.), Für uns gestorben. Sühne – Opfer – Stellvertretung, Neukirchen-Vluyn 2010. – D. Henrich, Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt a. M. 2007. – Chr. Janowski u. a. (Hg.), Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte. Bd. 1. Interdisziplinäres Symposion Tübingen 2004, Neukirchen 2006. – E. Jüngel, Caritas fide formata. Die erste Enzyklika Benedikt XVI.  – gelesen mit den Augen eines evangelischen Christenmenschen, in: IKathZ Comm 35 (2006), 595–614. – K. H. Menke, Stellvertretung. Schlüsselbegriff christlichen Lebens und theologische Grundkategorie, Freiburg 1991. – F. Nüssel, „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20a). Dogmatische Überlegungen zur Rede vom „Sein in Christus“, in: ZThK 99 (2002), 480–502. – J. Ringleben, Heilsgewissheit. Eine systematische Betrachtung, in: ZThK 95 (1998), 65–100. – G. Röhser, Art. Stellvertretung IV. Neues Testament, in: TRE 32, 140–145. – J. M. Ruschke, Paul Gerhardt und der Berliner Kirchenstreit. Eine Untersuchung der konfessionellen Auseinandersetzungen über die kurfürstlich verordnete „mutua tolerantia“, Tübingen 2012. – St. Schaede, Stellvertretung. Begriffsgeschichtliche Studien zur Soteriologie, Tübingen 2004.  – D. Sölle, Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem „Tode Gottes“ (1965), Gütersloh 1972. – H. Spieckermann, Art. Stellvertretung II. Altes Testament, in: TRE 32, 135–137. – J. Stolzenberg, Art. Ich, in: RGG4 IV, 7 f. – Chr. Tietz, Freiheit zu sich selbst. Entfaltung eines christlichen Begriffs der Selbstannahme, Göttingen 2005. – S. Vollenweider, Der Geist Gottes als Selbst des Glaubenden. Überlegungen zu einem ontologischen Problem in der paulinischen Anthropologie, in: ZThK 93 (1996), 163–192.

Als Johann Gottlieb Fichtes Sohn zum ersten Mal „Ich“ sagte, soll der Philosoph wider seine Gewohnheit eine Flasche Wein entkorkt und ein Glas auf das Wohl seines zum Bewusstsein seiner selbst gelangten Sprößlings getrunken haben. Vater Fichte ist als der Ichphilosoph par excellence in die Geistesgeschichte eingegangen, sofern er „unter dem Begriff der Tathandlung das reine, in einer intelFichtes Sohn

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lektuellen Anschauung zugängliche Ich als oberstes Prinzip der theoretischen und praktischen Philos(ophie) auf(faßte)“ (Stolzenberg, 8). Er vollendete damit eine für neuzeitliches Denken charakteristische Entwicklung, deren Beginnen in der Regel mit René Descartes verbunden wird. Diesem zufolge bezeichnet „der Begriff des Ich ein substanzielles denkendes Wesen (res cogitans), das über ein unmittelbares und unbezweifelbares Wissen von seiner Existenz verfügt, aufgrund dessen es zum Fundament der Philos(ophie) und des Systems der Wissenschaften gemacht werden kann“ (Stolzenberg, 7). Die entscheidenden Weichen für die nachfolgende Philosophie des Deutschen Idealismus wurden durch Immanuel Kant gestellt. Dieser differenzierte ichtheoretisch zwischen einem empirischen und einem transzendentalen Ich: „Während das empirische Ich Gegenstand einer inneren Erfahrung werden kann, faßt Kant das transzendentale Ich als ein logisch einfaches, bloß funktionales Einheitsprinzip von Bewußtsein auf. Da ihm keine Anschauung entspricht, kann es unter den erkenntniskrit(ischen) Prämissen Kants nicht als Objekt einer Erkenntnis unter dem Begriff der Substanz gedacht werden.“ (Stolzenberg, 8) Fichte, um auf ihn zurückzukommen, hob die zwischen transzendentalem Ich und allen Formen empirischer Selbst- und Weltwahrnehmung statthabende Differenz auf, um das in spontaner Tathandlung der Freiheit sich selbst setzende Ich zu prinzipialisieren und damit jenen sog. subjektiven Idealismus zu etablieren, der nach traditioneller Philosophiegeschichtsschreibung im Schelling’schen Denken objektive und im Hegel’schen absolute Gestalt annahm. Die Problematisierung der idealistischen Systeme, auf die bereits die Spätphilosophie Fichtes und Schellings hindeuteten, erbrachte dann zwar eine Relativierung des Prinzipienstatus des Ich und gelegentlich auch dessen Reduktion auf (sozial-)psychologische oder physiologische Faktoren. Doch wird auch in der Gegenwartsphilosophie der Ichthematik eine grundlegende Stellung zuerkannt, wofür das Werk des emeritierten Münchener Philosophen Dieter Henrich ein prominentes Beispiel gibt. Zu nennen sind etwa die Ergebnisse seiner breit angelegten philosophiegeschichtlichen Konstellationenforschungen, die 2004 in einer zweibändigen Monographie vorgelegt wurden: „Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen-Jena 1780–1794“; zu nennen ist fernerhin eine Reihe von systematischen Werken zur Ichthematik, die auf zahlreichen Studien namentlich zur klassischen Epoche der Philosophie in Deutschland basieren, wie z. B. die Vorlesungen über Subjektivität aus dem Jahre 2007 (vgl. Henrich), von denen im Folgenden einige Grundgedanken skizziert werden sollen. Was Ich heißt, ist nicht nur mit sich selbst identisch, es weiß auch um seine Selbigkeit mit sich. Henrichs Vorlesungen Grundsätzlich ist Identität allem zuzuschreiben, was über Subjektivität ein Selbiges im Unterschied zu anderem Selbigen ist. Aber nicht jedes Einzelne ist seiner Selbigkeit inne. Dies ist nur bei Lebe­wesen der Fall. Die rudimentärste Form des Inneseins von Identität ist das elementare Empfinden von Lust und Unlust, wie es für alle fühlenden Wesen kennzeichnend und auch für die Selbstidentifikation leibhafter Ichsubjekte basal ist. Schmerzempfin-

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dung etwa impliziert die unmittelbare Gewissheit, selbst derjenige zu sein, von dem Schmerzempfindung ausgesagt werden kann. Die Evidenz dieser Gewissheit ist nicht falsifizierbar und für menschliche Personidentität insofern fundamental, als sie die Grundlage darstellt für Selbstzuschreibungen aller, auch der fehlbaren Art. Personale Selbstidentifikation hat ohne Gebrauch von Identitätskriterien statt, wie er für die Identifikation von Objekten notwendig ist. Das Ich ist mit sich selbst vertraut, bevor es sich als es selbst weiß. Es ist seiner selbst leibhaft inne, ohne freilich als sich wissendes Selbstbewusstsein bloßer Körper zu sein. Kann sich das leibhafte Ich doch, solange es bewusst lebt, immer auch seiner Körperlichkeit gegenüber mehr oder minder differenziert verhalten. Als einem in seiner Leibhaftigkeit sich zu sich selbst verhaltenden Wesen eignet dem Ich sich wissendes Selbstbewusstsein und Weltbewusstsein in einem. Die Welt des Ich ist der Inbegriff dessen, wovon derjenige, der von sich weiß, im Wissen von sich selbst und über dieses Wissen hinaus weiß bzw. wissen kann. Der Dimension einer offenen, aber gleichwohl einheitlichen Welt gehört alles an, wozu das um sich wissende Subjekt unter Voraussetzung seines Sich-Wissens über dieses Sich-Wissen hinaus etwas realiter weiß bzw. wissen kann. Indem das sich wissende Subjekt in der Welt als dem Inbegriff des über sein Sich-Wissen hinaus möglichen Wissens sein konkretes Dasein als leibhafte Person hat, ist die Notwendigkeit gesetzt, sich als ein Einzelnes unter anderen Einzelnen zu verstehen, weil ohne solches Verstehen Selbstund Weltverständigung realiter nicht möglich ist. Das sich wissende Ich weiß sich, wenn es realiter zum individuellen Bewusstsein seiner selbst kommt, als ein Subjekt unter Subjekten in einer gemeinsam gegebenen Welt. Ichwesen sind individuelle Subjekte, die im selbstbewussten Wissen um sich ein personales Leben in einer Welt zu führen haben, die ihre Welt, aber nicht allein ihre Welt ist. Sie sind dabei ihrer selbst wie alle fühlenden Wesen unmittelbar inne, was sie kategorial von Selbstverhältnissen sozialer Systeme unterscheidet. Personen eignet das Vermögen, ihrer Identität und der ihr unveräußerlich zugehörigen Individualität unmittelbar gewahr zu werden. Eben dieses Vermögen macht es unmöglich, das personale Ichwesen in überindividuellen Subjektivitätsstrukturen aufgehen zu lassen. Ich ist auf der Welt stets Individuum und im Gefühl etwa des Schmerzes unmittelbar seiner Einzelheit inne. Man kann das auch so sagen: Körperlichkeit ist ein unveräußerliches Moment von Subjektivität und personaler Selbstbeziehung. Sie ist unter den Bedingungen realen Selbstseins ebensowenig in reine Geistigkeit aufhebbar wie ein menschliches Ich ohne Welt zu denken ist, welche es sinnlich affiziert. Nicht als ob das Ich in Wirklichkeit eine Weltfunktion wäre und sich aus Sinnlichkeit herleiten ließe. Zwar weiß sich das Ich niemals auf weltlose Weise, doch ist ebensowenig eine Welt ohne Ich zu haben. Es ist im Gegenteil so, dass ohne Bewusstsein des sich wissenden Ich von Welt nicht die Rede sein kann. Zwar ist das Bewusstsein, dass das Ich von der Welt hat, Weltbewusstsein, also Bewusstsein von einem Sein, das ist, auch wenn es nicht zu Bewusstsein gebracht und bewusst wahrgenommen wird. Aber diese Differenz von Wissen und Sein, wie sie für das Reali-

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tätsbewusstsein kennzeichnend ist, hat zur Bedingung ihrer Möglichkeit, dass sie wie alles, von dem gesagt werden kann, es ist, unter der Voraussetzung steht, gewusst werden zu können. Um weitere Aufschlüsse bezüglich der psychophysischen Einheit menschlicher Ichsubjekte zu erlangen, studiere man etwa Wolfgang Cramers „Grundlegung einer Theorie des Geistes“, die 1957 in erster, 1965 in zweiter Auflage erschienen ist (vgl. Cramer); Dieter Henrich hat ihr in der Philosophischen Rundschau (6 [1958], 237 ff.) eine ausführliche Rezension gewidmet: „Über System und Methode von Cramers deduktiver Monadologie“. Ichsubjekte sind Individuen, die im Wissen um sich selbst und im Mitsein mit anderen ein personales Leben in der Welt in leibhafter Konkretheit zu führen haben. Dabei setzt Henrichs philosophischem Urteil zufolge der willentlich-selbstbewusste Gebrauch des Personalpronomens „Ich“ ein Wissen von sich selbst voraus, das weder aus dem Ich selbst noch aus der Welt des Ich heraus genetisiert werden kann. Der Grund seiner selbst und seiner Welt wird dem Ich daher notwendig zur Frage, und es richtet sich – Selbst und Welt transzendierend – auf die Dimension des Ursprungs des Bewusstseins von sich aus. Das sich wissende Ich findet seinen Grund nicht in der Welt, weil alles Weltbewusstsein und weltliches Wissen subjektives Selbstbewusstsein zur Voraussetzung hat und ohne dieses nicht denkbar ist. Aber auch aus dem Selbstsein des Subjekts heraus kann das sich wissende Ich nicht begründet werden, da die Annahme einer unmittelbaren Selbstsetzung von Selbstbewusstsein ebenso auf eine petitio principii hinausläuft wie der Versuch, den Grund des Ich reflexiv einzuholen. Der Grund von Selbst und Welt ist dem Ich nicht zuhanden, obwohl es von sich her auf ihn verwiesen und angewiesen ist. Subjekte, die um sich und ihre Welt wissen, wissen, dass sie nicht in der Welt und in sich gründen, und sie wissen zugleich, dass sie von dem Grund von Selbst und Welt kein Wissen von der Art haben, wie es ihnen aus sich heraus und von der Welt her zu haben möglich ist. Indem sie darum wissen, denken sie wesensmäßig über sich hinaus, ohne doch Kenntnisse von ihrem und der Welt Grund im Sinne realen Transzendenzwissens erlangen zu können. Die herkömmlichen Weisen, auf die Dimension des Ursprungs des Bewusstseins von sich Bezug zu Mythos, Religion, nehmen und sich des Grundes von Selbst und Welt Philosophie zu versichern, sind Mythos und Religion. Henrich geht davon aus, dass die in ihnen wirksame Praxis der Selbstverständigung im Kern Denken ist. „Es gibt keinen Mythos und keine Religion, die nicht eben jenes Denken in Anspruch nehmen, das im Prozess der Subjektivität verwurzelt ist. In Mythos und Religion ist dies Denken freilich unausdrücklich und also ohne Kenntnis seiner selbst am Werke. Es bildet sich im Medium des Entwurfs von Geschichten aus, die eben deshalb, weil sie lebenserschließende und lebensbewahrende Bedeutung haben, als verbindliche Grundlagen des Lebensvollzugs eingesetzt und aufgenommen werden können. Wenn aber das Denken, das ihnen innewohnt, auf sich selbst gestellt und als solches in Bewegung versetzt wird, dann wird es zur Philosophie und verliert in einem damit die Autorität der heiligen Texte und der

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religiösen Verständigungsart, die gegen jede Alternative abgeschottet bleiben.“ (Henrich, 252) Mythos und Religion sind, um universale Verständigung zu ermöglichen, nach Henrich in philosophische Form zu überführen. Aber auch in dieser wird das auf den Grund sich wissender Subjektivität und des ihr zugeordneten Weltganzen gerichtete Denken, welches in Mythos und Religion vorphilosophische Gestalt angenommen hatte, „nicht zur theoretischen Erkenntnis“ (ebd.). Den genauen Status jenes Denkens zu bestimmen, bleibt daher philosophisches Desiderat. Henrich umschreibt es als synthetisch, extrapolierend und postulierend, letzteres „insofern, als es ihm nicht darum gehen kann, einen Nachweis seiner Wahrheit zu führen. Es kann sich nur als konsistent und als annehmbar erweisen – auch gegenüber allen Alternativen. Das aber tut es dadurch, dass es der Subjektivität eine Selbstverständigung ermöglicht, die allen Zügen, die in ihrer Explikation aufgewiesen wurden, gerecht wird und die alle diese Züge zugleich in einen einsichtigen Zusammenhang einbegriffen sein lässt.“ (Henrich, 253) Um den synthetisch, extrapolierend und postulierend zu denkenden Grund von Selbst und Welt als Das Ich und sein Grund Grund spontan sich wissender, aber zur Begründung ihres Selbstbewusstseins unvermögender Subjektivität denken zu können, muss er als entzogen und präsent, als unbegreiflich und dem Begriff von Subjektivität entsprechend zugleich gedacht werden. „Nur so ergibt sich wenigstens der Umriss eines Gedankens, der nicht dem entgegensteht, dass dem Subjekt, obwohl es nicht aus sich begründet ist, dennoch Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung eignen können. Der Grund ist insofern als interne Ermöglichung der Selbsttätigkeit zu denken, nicht als eine verdeckte Ursache, die dann die Selbstbestimmung als bloße Illusion nach sich zieht.“ (Henrich, 256) Sollen Spontaneität und Selbstbestimmung menschlicher Ichwesen nicht vorweg in Abrede gestellt werden, dann muss der Grund von Selbst und Welt, auf den das religiöse Verhältnis ausgerichtet ist, so vorstellig werden, dass er spontane und selbstbestimmte Subjektivität nicht eo ipso ausschließt. Es wäre in hohem Maße reizvoll, Henrichs subjektivitätstheoretisch angelegte Religionsphilosophie in Beziehung zu setzen zu den im Umkreis von Kant, Fichte, Schelling und Hegel, aber etwa auch Schleiermachers geführten religionsphilosophischen Diskursen oder etwa zu offenbarungstheologischen Konzeptionen im Kontext beispielsweise der Dialektischen Theologie. Doch sei im gegebenen Zusammenhang Henrichs Entwurf, ohne weiter analysiert zu werden, lediglich als eindrucksvoller Beleg aktueller Denkwürdigkeit der Ichthematik benannt, die weder philosophisch noch theologisch marginalisiert werden kann. Was Ich heißt, lässt sich aus keinen weltlichen Gegebenheiten ableiten, aber auch nicht unmittelbar aus sich selbst heraus begründen. Der Grund des Ich und seiner Welt wird nach Henrich im Zuge menschlicher Selbstverständigung primär in mythisch-religiöser Form vorstellig, kann aber auch gedanklich wahrgenommen werden, ohne dass das Denken des Ursprungs des Welt- und Selbstbewusstseins den Status einer theore-

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tischen Erkenntnis erlangen würde. Philosophisches Ursprungs- und Letztbegründungsdenken bleibt, wenn man so will, religionsaffin und als Metaphysik des Absoluten mit Theologie verwandt, die ebenfalls nicht den Anspruch erheben kann, Religion theoretisch zu substituieren. Der Grund des Ich und seiner Welt bleibt dem unmittelbaren gedanklichen Zugriff entzogen, ohne sich deshalb einfachhin ins Unbegreifliche zu entziehen. Kann der Ursprung von Selbst- und Weltbewusstein doch nur sein, was er ist, wenn er sich als Grund aufgeschlossen erweist für das Begründete und offen für Wissen, welches ohne ein sich wissendes Ich nicht zu denken ist. Um Grund des Ich und seiner Selbstverständigung zu sein, muss sich das Gründende selbst als ichoffen, ja als ichförmig erweisen, wie das in der biblischen Tradition eindeutig der Fall ist. Was hinwiederum das Neue Testament im Besonderen angeht, so bezeugt es Gott als denjenigen, der in Jesus Christus Mensch und zu jenem Alter Ego geworden ist, indem mein und aller Menschen Ich den Sinngrund von Selbst und Welt zu finden vermögen und zwar in schöpfungstheologischer, hamartiologischer, soteriologischer und eschatologischer Hinsicht. Der Stellvertretungsgedanke hat, wie sich zeigen wird, in diesem Zusammenhang seinen systematischen Ort. Um ihn vorzubereiten und in seinen Kontext einzuführen, sei zunächst nach der spezifischen Verwendungsweise biblischer Ichformeln gefragt. In der Bibel werden Ichformeln in dreifachem Sinne gebraucht: in theologischer, christologischer Biblische Ichformeln und anthropologischer Verwendungsweise. Zu allererst und in schlechterdings unvergleichlicher Weise ist es Gott, der sich selbst als Ich proklamiert. Wie immer man Ex 3,14 zu übersetzen hat: „Ich“ im emphatischen Sinn ist Gott und Gott allein. Ihm kommt absolute Subjektstellung zu. Er kann von sich sagen: „Ich bin es, nur ich, und kein Gott ist außer mir.“ (Dtn 32,39). In den Gottesreden des zweiten Jesaja tritt dies besonders deutlich zutage: Das Ich Gottes steht für seine unvergleichliche Einheit und Einzigkeit und für die universale Allmacht seines schöpferischen Handelns. Menschheit und Welt haben in ihm ihren Konstitutions- und Erhaltungsgrund, und aus der Verkehrtheit von Übel und Sünde zu befreien vermag kein anderer als er. Nirgendwo und bei niemand ist Rettung außer bei ihm. Er und er allein ist es zugleich, der den Menschen zu sich und zum rechten Bewusstsein seiner selbst kommen lässt, indem er sich als das göttliche Ich, in welchem das menschliche gründet, durch Selbsterschließung zu erkennen gibt. „Gott ist Herr, der Herr ist Einer, / und demselben gleichet keiner, / nur der Sohn, der ist ihm gleich …“ (EG , 123,3). Nicht, dass das Christentum je den Monotheismus bestritten hätte: „Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott, der Herr, der ist und der war und der kommt, der Herrscher über die ganze Schöpfung.“ (Apk 1,8) So wird es im letzten Buch der Bibel ausdrücklich und in völliger Übereinstimmung mit dem Alten Testament bekannt. Es bleibt in Geltung, was Israels König und Erlöser, der Herr der Heerscharen von sich sagt: „Ich bin der Erste, ich bin der Letzte, außer mir gibt es keinen Gott.“ (Jes 44,6b) Das christologische

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Ich, das im Neuen Testament begegnet, steht dazu nicht in Widerspruch. Es entspricht ihm vielmehr darin, dass das Ureigenste Gottes, das sein Ich im Innersten ausmacht, nämlich sein göttliches Vaterherz, in demjenigen erschlossen ist, der der göttliche Sohn zu nennen ist, weil er an Ostern als solcher erwiesen wurde und sich selbst als solcher erwiesen hat. Wie Gott selbst kann der österliche Christus von sich sagen: ego eimi, ich bin. Er kann das ohne Zusatz und ohne jede prädikative Bestimmung und damit auf eine Weise tun, die der Selbstvorstellung Gottes in Ex 3,14 entspricht: „Ich bin, der ich bin.“ In diesem einen Wort ist die ganze österliche Erkenntnis erschlossen, in der das Christentum gründet: „Ich bin’s.“ Erkennt mich als den, als welchen ich mich zu erkennen gebe, als den Sohn, der mit dem Vater eins ist, um in der Kraft des Hl. Geistes allen Menschenkindern, auch und gerade den verlorenen Söhnen und Töchtern Gottes, Anteil zu geben am himmlischen Reich. Während das emphatische Ego in den synoptischen Jesusworten noch verhältnismäßig selten begegnet, tritt es im johanneischen Schrifttum ins Zentrum der theologischen Aufmerk­ samkeit. Der Sohn, der vom Vater erkannt ist und den Vater erkennt, gibt sich durch den Geist als derjenige zu erkennen, der Teilhabe am göttlichen Heil und Rettung für Menschheit und Welt erschließt. Ich bin, sagt der johanneische Christus, das Licht, der Weg, die Wahrheit, die Auferstehung und das ewige Leben; wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe. Der christliche Glaube hält sich an diese Aussage und verlässt sich auf ihren Gehalt. Das christliche Ich gründet im österlichen Christus, um im Geist, der von ihm zeugt, zu sich und zum Bewusstsein seiner selbst zu gelangen. Der Grund des Ich und seiner Welt ist nach BeEgo eimi kenntnis christlichen Glaubens im österlichen Geist Jesu Christi manifest, der Gott, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, als Vater seiner Menschenkinder und aller Kreaturen offenbart. Was das näherhin heißt, wird durch das neutestamentliche Osterzeugnis verdeutlicht. Ophthe: er ließ sich sehen, er erschien, zunächst, wie in 1. Kor 15,5 ff. gesagt wird, dem Kephas, also Simon Petrus, dann den Zwölfen, danach mehr als fünfhundert Brüdern zugleich, schließlich dem Jakobus, dann allen Aposteln. Als letztem zeigte er sich auch noch ihm (vgl. 1. Kor 9,1), der unzeitigen Geburt, der Fehl- oder Missgeburt, wie man auch übersetzen kann, dem zwar nach eigener Auskunft geringsten, aber doch wirkungsmächtigsten unter den Aposteln, Paulus. Als dieser sich Damaskus näherte, um die frühe Christengemeinde zu verfolgen, da geschah es, wie die Apostelgeschichte berichtet, „dass ihn plötzlich ein Licht vom Himmel umstrahlte. Er stürzte zu Boden und hörte, wie eine Stimme zu ihm sagte: Saul, Saul, warum verfolgst du mich? Er antwortete: Wer bist du, Herr? Dieser sagte: Ich bin Jesus, den du verfolgst.“ (Apg 9,3b-5) Als eine apokalypsis Jesu Christi hat Paulus selbst sein österliches Damaskuserlebnis im Galaterbrief umschrieben (Gal 1,12), als ein Widerfahrnis, durch welches Gott seinen Sohn in ihm offenbarte (Gal 1,16). In einer Rede, die Lukas Paulus später in Apg 22,1–21 im Tempelvorhof von Jerusalem halten lässt, liest man, dass

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das Ereignis von Damaskus plötzlich um die Mittagszeit (Apg 22,6) geschah, also weder im Schlaf in Form eines Traumgesichts oder auch nur in der Nacht, sondern „mitten am Tag“ (Apg 26,13) und bei klarem Bewusstsein mit der Folge freilich, dass einstweilen Hören und Sehen vergingen. Aus dem alten Ich wurde ein neues, aus Saulus Paulus. Nicht mehr ich bin der Grund meiner selbst, sondern Christus in mir, bekennt Paulus, wenn er in seinen Briefen auf den österlichen Wandel zu sprechen kommt, der mit ihm geschah und ihn zum christlichen Glauben kommen ließ. Was ist damit gesagt? Folgt man der synoptischen Tradition, dann ist bei der Antwortsuche von der Botschaft des Engels am leeren Grab des gekreuzigten Jesus auszugehen. Frauen, Maria aus Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome kamen am ersten Tag der Woche, wie es im ältesten Evangelium Mk 16,1 ff. (vgl. Mt 28,1 ff.; Lk 24,1 ff.; Joh 20,1 ff.) heißt, in aller Frühe bei Aufgang der Sonne zum Grab, um den Verstorbenen mit wohlriechenden Ölen zu salben. Doch der, dessen Leichnam sie die letzte Ehre erweisen wollten, ist nicht da, wo sie ihn suchen. Aus berufenem Mund erfahren die zu Tode Erschrockenen, was dies zu bedeuten hat: Er ist nicht hier, er ist auferstanden. Doch Schrecken und Entsetzen bleiben. Die Frauen ergreifen die Flucht und sagen niemand etwas von dem Erlebnis, das ihnen am offenen Grab zuteil wurde: „denn sie fürchteten sich.“ (Mk 16,8) Die Furcht, die am ursprünglichen Ende des ältesten Evangeliums eigens hervorgehoben wird, um den Blick für Kommendes zu öffnen, weicht erst, als der auferstandene Gekreuzigte selbst in Erscheinung tritt und sich der Verheißung des Engels gemäß sehen und hören lässt. Furcht‑, Verkennungs- und vergleichbare Motive finden sich auch in anderen Ostergeschichten. Zu reden wäre von der nur bei Lukas überlieferten Erscheinung Jesu vor zwei Jüngern auf dem Wege nach Emmaus (Lk 24,13–35), von der Jüngererscheinung in Abwesenheit (Lk 24,36–43; vgl. Joh 20,19–23) und in Anwesenheit des Thomas (Joh 20,24–29), beim Mahl (Mk 16,14–18), auf einem Berg in Galiläa (Mt 28,16–20) und am See von Tiberias (Joh 21,1–14), außerdem von den Evangelienschlüssen und ihren österlichen Gehalten. Um auf die Erscheinung Jesu vor den Frauen zurückzukommen und Paulus ein weibliches Pendant zur Seite zu stellen, sei zum Schluss nur noch die Szene Joh 20,11–18 erwähnt. Von Engeln nach Anlass und Ursache ihrer Trauer gefragt, antwortet die weinend über der Grabkammer Jesu gebeugte Maria Magdalena: „Man hat meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wohin man ihn gelegt hat. Als sie das gesagt hatte, wandte sie sich um und sah Jesus dastehen, wusste aber nicht, dass es Jesus war. Jesus sagte zu ihr: Frau, warum weinst du? Wen suchst du? Sie meinte, es sei der Gärtner, und sagte zu ihm: Herr, wenn du ihn weggebracht hast, sag mir, wohin du ihn gelegt hast. Dann will ich ihn holen. Jesus sagte zu ihr: Maria! Da wandte sie sich ihm zu und sagte auf Hebräisch zu ihm: Rabbuni!, das heißt: Meister.“ (Joh 20,13b-16) Wie bei Paulus auch in der Ostergeschichte Maria Magdalenas eine Wendung um einhundertachtzig Grad durch die Zuwendung dessen, der sich von sich aus österlich sehen und hören lässt, der erkannt wird, indem er sich zu

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erkennen gibt und erkennt: „Maria!“ – „Rabbuni!“ Damit ist alles gesagt und das unbegreifliche Geheimnis offenbar, in dem der christliche Glaube gründet und welches zu bezeugen er beauftragt ist. Ostern ist das Urdatum des Christentums. An Ostern erschließt der gekreuzigte Jesus von Nazareth als der erweckte und auferstandene Christus in der Kraft des Hl. Geistes, welchen der in dem Himmel und zur Rechten seines göttlichen Vaters erhöhte Menschensohn sendet, allen denen, die an ihn glauben, den fundierenden Grund ihrer selbst und ihrer Welt. Das Ich des christlichen Glaubens ist dadurch bestimmt, dass es sich auf Christus als den Grund seiner selbst und seiner Welt verlässt. Hieraus ergeben sich der systematische Sinn des Stellvertretungsgedankens und seine schöpfungstheologischen, hamartiologischen, soteriologischen und eschatologischen Bedeutungsgehalte. Bevor diese anhand von vier Liedstrophen Paul Gerhardts ansatzweise erhoben werden sollen, seien einige exkursartige Bemerkungen zum förmlichen Begriff der Stellvertretung zwischengeschaltet. Das Abstraktnomen „Stellvertretung“ ist sprachStellvertretung geschichtlich jung und im Deutschen erst in nachreformatorischer Zeit im Zuge der Aufklärung ausgebildet worden. Sein Sinn besteht darin, lateinische Ausdrücke wie vicariatio, substitutio, subrogatio, procuratio, repraesentatio, locitenentia und intercessio wiederzugeben. Detaillierte Untersuchungen zur Vorgeschichte des Stellvertretungsbegriffs (vgl. Schaede, 7–270) haben ergeben, dass der Stellvertretungsbegriff nicht zu den Ausdrücken gehört, „die aufgrund einer singulären begriffsgeschichtlichen Konstellation bei seiner Einführung mit einer bestimmten, eindeutig bestimmbaren Semantik verknüpft wurden, die dann die weitere Begriffsgeschichte dominiert hat“ (Schaede, 268): „Auf der Grundlage der lateinischen Vorgeschichte des Ausdrucks Stellvertretung ist es nicht möglich, die Definition von Stellvertretung vorzulegen.“ (Ebd.) Die Bedeutung des Begriffs schwankt in der Geschichte, und sein Sinn ist vom jeweiligen Kontext seines Gebrauchs abhängig. Seit wann genau das Stellvertretungsmotiv und dann auch der Stellvertretungsbegriff mittels lateinischer Vorläufertermini in den soteriologischen Sprachzusammenhang adaptiert wurden, ist umstritten. K. H. Menke hat vermutet, dass dies erst „Ende des 18. Jhs.“ (Menke, 24) der Fall gewesen sei. St. Schaede plädiert dagegen für eine frühere Entstehungszeit und Adaption. Der Begriff stehe seit den Auseinandersetzungen um die sozinianische Kritik der traditionellen Soteriologie in Gebrauch; ein lateinischer Antezedent begegne sogar schon zu Zeiten der Sozinianer in der theologischen Diskussion (vgl. Schaede, 625). Man könne daher nicht sagen, „der Gedanke der Stellvertretung sei erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Verbalnomen auf den Begriff gebracht worden“ (ebd.). Bereits mit Sigmund Jakob Baumgarten sei „der Ausdruck Stellvertretung zur Stelle“ (Schaede, 271; vgl. im Einzelnen 548 ff.), um dann indes bis Kant nur zögerlich rezipiert und nicht selten kritisch oder ablehnend beurteilt zu werden. „Nach dem terminologischen Durchbruch bei Baumgarten scheint die Rezeption des Ausdrucks Stellvertretung sogleich zu stagnieren. Unter den Neologen … findet er keinen rechten

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Zuspruch.“ (Schaede, 577) Dies hänge damit zusammen, dass die meisten unter ihnen sachlich die sozinianische Kritik teilten, was auch noch für Kant gelte, wenngleich nur unter einem signifikanten Vorbehalt: Denn seine Kritik bewirke, was eine „qualifizierte Krise“ (Schaede, 624) des Begriffs zu nennen sei. Mit dem Verweis auf die Genese des Stellvertretungsbegriffs im Kontext der sozinianischen Kritik traditioneller Soteriologie ist bereits ein möglicher Grund für seine Ausbildung angedeutet. „Jahrzehntelang war diskutiert worden, ob die als unstrittig angesehene Genugtuung oder Sühne, die Jesus Christus am Kreuz leistete, tatsächlich auch eine stellvertretende gewesen sei. Darüber löste sich allmählich das Moment des Stellvertretens von der Genugtuung ab.“ (Gestrich / Hüttenberger, 146) Die explizite Begriffsbildung und gesonderte Rede von Stellvertretung sei eine Folge davon. Wie immer man diese These zu beurteilen hat: Dass das Abstrakt­ nomen „Stellvertretung“ historisch und sachlich mit dem „Abschied von Anselm“ (vgl. Schaede, 271–624) bzw. den Versuchen einer Abschiedsverhinderung zu tun hat, scheint evident zu sein. Ist der Stellvertretungsbegriff selbst auch jüngeren Datums und wahrscheinlich erst im Zuge der Repräsentation und Streitigkeiten aus Anlass sozinianischer Soteriolo- Substitution giekritik als Abstraktnomen ausgebildet worden, so ist die Sache, welche er benennt, doch sehr viel älter. Zwar besitzt der Terminus weder im Alten noch im Neuen Testament „eine direkte lexikalische Entsprechung“ (Röhser, 140); dennoch ist das von ihm Bezeichnete in der Bibel vielfach präsent (vgl. Janowski [Hg.], 43 ff.; 87 ff.). Während im Alten Testament im Unterschied zur „allgemein verbreiteten Konzeption von Stellvertretung als Repräsentation … die Stellvertretung im Sinne der Substitution sehr selten belegt“ (Spieckermann, 136) ist, begegnet die substitutive Bedeutung der Vorstellung im Neuen Testament im christologisch-soteriologischen Kontext durchaus häufig. Jesus Christus fungiert als Stellvertreter nicht nur im repräsentativen, sondern im substitutiven Sinn, wenn er für uns und um unsretwillen stirbt. Als traditionsgeschichtlicher Hintergrund substitutiven Leidens und Sterbens kommt die Vorstellung einer Übernahme des vom sündigen Menschen zu leistenden Sühnopfers durch das Opfertier, die Gottesknechtüberlieferung Jes 53 oder die Annahme einer Sühnewirkung des Martyriums nach 2. Makk 7,37 f. oder 4. Makk 6,27 ff.; 17,20 ff. infrage. „Von entscheidender Bedeutung (für alle genannten Ansätze und darüber hinaus) ist ohne Zweifel der alttestamentlich-jüdische Tat-Ergehen- bzw. Sünde-Unheil-Zusammenhang, nach welchem einem bestimmten menschlichen Tun notwendig ein entsprechendes Ergehen nachfolgt (Röm 6,23a: ‚der Sold der Sünde ist Tod‘). Dieser von Gott konstituierte und getragene (,schicksalwirkende Tatsphäre’) bzw. eigens hergestellte (,gerechtes Gericht’) Zusammenhang erfordert es, daß eine Sünde nicht ‚einfach‘ vergeben oder gar ignoriert werden kann, sondern sich entweder auswirken (Unheil, Strafe) oder zusammen mit ihrer Strafe ‚aufgehoben‘, ‚(weg)getragen‘, beseitigt werden muß. Letzteres leistet nach dem Neuen Testament Christus an unser aller Statt und ein für allemal –

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durch sein stellvertretendes Leiden und Sterben für alle Menschen und für alle Sünden.“ (Röhser, 143) Das Neue und das Alte Testament kennen kein Äquivalent des deutschen Wortes Stellvertretung. Der Begriff ist fremd, nicht aber die bezeichnete Sache. Stellvertretungsvorgänge des „Repräsentierens, Symbolisierens, Interzedierens …, Platzhaltens …, Stellen-Schaffens, Substituierens und Vikariierens“ (Gestrich / Hüttenberger, 145) begegnen im biblischen Zeugnis häufig, ohne dass ein alle diese Formen umgreifender Grundsinn von Stellvertretung unmittelbar erkennbar wäre. Dieser Grundsinn wird nach christlichem Zeugnis erst auf vermittelte Weise, nämlich im Mittler offenbar, in welchem Gott an die Stelle des Menschen tritt und zwar nicht nur an die Stelle des Menschen im Allgemeinen, sondern an meine und an deine Stelle und zwar nicht unter den Bedingungen des status integritatis, sondern des status corruptionis, also unter postlapsarischen Bedingungen und unter der Vo­ raussetzung des Falls der Sünde, der alle Adamskinder und nicht zuletzt mich und dich auf eine Weise betrifft, die Selbst und Welt destruiert. „Stellvertretung ist theologisch grundlegend, weil das Zentrum des christlichen Glaubens sich in den Satz fassen läßt: Gott tritt für uns – die Menschen, die Sünder – in Jesus Christus ein; Gott tritt an unsere Stelle.“ (Gestrich / Hüttenberger, 145) Neuerdings ist die übliche Annahme infrage gestellt worden, „Anselms Werk habe den Tod Christi als stellvertretende Genugtuung gedeutet“ (Schaede, 275). Richtig ist, dass der Satisfaktionstheoretiker nicht nur kein lateinisches Äquivalent des eigens ausgebildeten Stellvertretungsbegriffs kannte, sondern auch nie explizit von einer „satisfactio vicaria“ spricht. Als terminus technicus setzte sich diese Wendung „letztlich erst im 17. Jh. in der protestantischen Theologie durch“ (Gestrich / Hüttenberger, 148), ein Jahrhundert später dann auch in der katholischen Theologie. Dennoch wird man nicht leugnen können, dass das von Dogmatikern der altprotestantischen Orthodoxie in den soteriologischen Diskurs eingeführte Kompositum bei Anselm selbst insofern einen Anhalt hat, als gemäß „Cur Deus homo“ „Christus statt der Sünder etwas für diese leistet“ (Schaede, 307). Handelt es sich bei dieser Leistung um ein lediglich apersonales Gut? Kann man sagen, „daß Anselm mit seiner Satisfaktionslehre einer quantifizierend sachhaften Deutung des Todes Christi das Wort geredet hat“ (Schaede, 309)? Für Luthers Rezeption der Satisfaktionslehre und ihre Vertiefung zur Strafleidenstheorie trifft dies jedenfalls nicht zu, was für sein Verständnis des Stellvertretungsmotivs und seine Rede vom vicarius Christus nicht belanglos ist (vgl. Schaede, 310 ff.; zu den Be­ funden bei Calvin, Melanchthon, Chemnitz, in der Konkordienformel und der altlutherischen Orthodoxie vgl. 348 ff., 394 ff., 457 ff.). In den Kontext der Bedeutungsgeschichte der Wendung „satisfactio vicaria“ im Allgemeinen und der Historie des Stellvertretungsbegriffs im Besonderen gehört die bis heute übliche Unterscheidung einer inklusiven und einer exklusiven Stell­ vertretung. Nach St. Schaedes Vermutung hat sie Albrecht Ritschl eingeführt (vgl. Schaede, 627 Anm. 8). Auf jeden Fall ist sie deutlich „nach Aufkommen des Stellvertretungsbegriffs in soteriologischem Kontext gebildet worden“ (Schaede, 627).

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Ihr Problem besteht nach Schaedes Urteil wesentlich „darin, daß es trivialerweise in der Eigenart jedweder Stellvertretung liegt, exklusive und inklusive Momente miteinander zu verknüpfen. Denn es geht immer darum, daß die Existenz, das Tun oder Lassen einer vertretenden Instanz auf die Existenz, das Tun oder Lassen der vertretenen Instanz bezogen wird. Insofern nun die vertretene Instanz nicht selbst anwesend ist, agiert oder etwas an sich geschehen läßt, ist jede Stellvertretung exklusiv. Und insofern die Vollzüge in der Stellvertretung sich auf die vertretene Instanz beziehen, ist sie inklusiv. Die Stellvertretung lebt von dieser Dialektik zwischen Inklusion und Exklusion.“ (Ebd.) Inklusion und Exklusion sind im Stellvertretungs­ begriff auf differenzierte Weise vereint und lassen sich Inklusive und exklusive nicht trennen, ohne ihn zu destruieren. „Wird … die Stellvertretung Exklusion … verabsolutiert, verabschiedet man sich von der Stellvertretung zugunsten des Ersatzgedankens. … Wird umgekehrt die Inklusion zu stark betont, verlässt man das Stellvertretungskonzept hin zum Solidaritätskonzept.“ (Janowski [Hg.], 134; vgl. Schaede, 628, bes. Anm. 10 mit Verweis auf Menke, 456) Dass Stellvertretung nicht mit Ersatz zu verwechseln sei, hat mit besonderem Nachdruck Dorothee Sölle in einer 1965 zum Thema erschienenen Studie unterstrichen. Während Ersatz den „endgültige(n) Austausch von totem, dinghaftem und verdinglichtem Sein“ (Sölle, 22) bezeichne, meine Stellvertretung „vorläufiges Eintreten von Personen für Personen“ (ebd.). Es gelte der Grundsatz: „Der Mensch ist unersetzlich, aber vertretbar.“ (Sölle, 41 ff.) In sozialanthropologischer Perspektive werden von Sölle sodann die allgemeinen Strukturmerkmale von Stellvertretung erhoben: Personalität und Zeitlichkeit. An die Stelle einer unaustauschbaren Person kann zeitweilig eine andere als Platzhalter treten, nicht um personale Freiheit zu destruieren, sondern ihre Möglichkeit offen zu halten. Innerhalb dieses generellen Rahmens werden die spezifischen Kennzeichen eines christlichen Stellvertretungsbegriffs geltend gemacht. Die Stellvertretung Jesu Christi vereint nach Sölle Individualität und Universa­ lität, Aktion und Passion, ja mehr und anders noch – sie vereint auf theanthropologische Weise Mensch und Gott untereinander: „Christus vertritt uns nicht nur vor Gott, sondern gleichermaßen vertritt er Gott bei uns.“ (Sölle, 132) Er tue dies auf eine vorläufige und nachgerade in ihrer Vorläufigkeit völlig inklusive Weise, nämlich dergestalt, dass er nach Erfüllung seiner Stellvertretungsfunktion zurücktrete, um Gott und Mensch als sie selbst je an die Stelle treten zu lassen, die er ihnen und ihrer Beziehung freihalte. Was den Menschen betreffe, so halte ihm Jesus Christus als zweiter Adam vorläufig seine ursprüngliche, aber gründlich verfehlte Bestimmung frei, damit er schließlich selbst die schuldig gebliebene Verantwortung übernehme. Der Stellvertreter gewähre Aufschub mit dem Ziel, sich selbst nach Erfüllung seiner Mission möglichst überflüssig zu machen. Das Missverständnis von Stellvertretung als Ersatz ist damit abgewehrt, zugleich aber ihr Exklusivitätsmoment tendenziell zugunsten eines „Solidaritätskonzepts“ (Janowski [Hg.], 134) eingezogen.

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Von Arthur Rimbaud stammt das Wort „Ich ist ein Anderer“. Exakt dies, so wurde konstatiert, behaupte „evangelische Theologie, wenn sie rechtfertigungstheologisch davon spricht, daß Christus um der Versöhnung willen ‚für uns ge­ storben‘ sei“ (Frisch / Hailer, 76). Der gekreuzigte Christus als mein Alter Ego: Was diese Aussage bedeutet, ist die grundlegende Frage, die mit dem Begriff der Stellvertretung gestellt, aber noch nicht beantwortet ist. Erst ihre Beantwortung kann darüber entscheiden, ob bzw. inwiefern er, um mit dem Untertitel einer einschlägigen Arbeit von K. H. Menke zu reden, als „Schlüsselbegriff christlichen Lebens“ und als „theologische Grundkategorie“ taugt. Menke sieht den eigentlichen Sinn des Stellvertretungsbegriffs darin begründet „daß jemand durch Selbsthingabe und Selbsteinsatz einem anderen die ‚Stelle‘ für dessen eigenes Dasein eröffnet und ihn so freisetzt ins Selbstsein“ (Menke, 24). Zurückhaltender wird zu Beginn des dem Begriff gewidmeten TRE -Artikels definiert: „Stellvertretung ist Handeln anstelle eines anderen, für einen andern oder von etwas anderem.“ (Gerlitz, 133) Die dem alttestamentlichen Beitrag vorangestellte Bestimmung sekundiert: „Man kann in einem weiten Sinn jedes Mittleramt rechtlicher und religiöser Art, in dem jemand anstelle von (einem) anderen handelt, als Stellvertretung bezeichnen.“ (Spieckermann, 135) Enger und, wie ausdrücklich gesagt wird, exklusiver ist die Begriffsbedeutung im Artikel zum Neuen Testament gefasst, wenn es heißt: „Stellvertretung meint das Erbringen einer Leistung bzw. das Auf-sich-Nehmen eines Geschicks durch einen dazu geeigneten religiösen ‚Mittler‘, welche der Vertretene nicht oder nicht in derselben Weise zu erbringen bzw. auf sich zu nehmen vermag wie der Vertreter und welche unmittelbar, d. h. ohne eigene Aktivitäten …, der Herstellung oder Wiederherstellung eines intakten Gottesverhältnisses des Vertretenen oder seiner InBeziehung-Setzung mit Gott überhaupt (in der Fürbitte) dienen.“ (Röhser, 141) Im Unterschied zum Entwurf Sölles wird in neueren Konzeptionen der Stellvertretung wieder stärker das exklusive Moment hervorgehoben, das dem Begriff eignet. Ein Beispiel hierfür bietet M. Bielers Monographie zur Theologie der stellvertretenden Sühne „Befreiung zur Freiheit“. Bieler sucht „Stellvertretung“ als „Schlüsselkategorie für das Verständnis christlicher Versöhnungslehre und der neuzeitlichen Freiheitsproblematik“ (Bieler, 408) zu erfassen. Die Schlüsselfrage seiner Konzeption lautet: „Wie muss der Stellvertreter beschaffen sein, wenn stellvertretende Sühne für alle Menschen zu allen Zeiten möglich sein soll?“ (Bieler, 418) Die Antwort wird im Anschluss an die altkirchliche Trinitätslehre und Christologie gegeben, deren Potentiale zur Lösung der neuzeitlichen Freiheitsproblematik eigens herausgearbeitet werden. Durch die Stellvertretung Jesu Christi ist die Freiheit durch Befreiung vom Zwang unmittelbarer Selbstbestimmung zu sich selbst befreit. Die stellvertretende Sühne der gottmenschlichen Person des inkarnierten Logos bekehrt den Sünder aus der Verkehrtheit seiner Sünde und versöhnt ihn so mit sich und seiner Bestimmung, die er verfehlt hat. Dies geschieht auf exklusive und inklusive Weise zugleich. „Die inklusive Kraft stellvertretender Sühne nötigt zur Anerkennung der Wirksamkeit menschlicher Vermittlung der Gnade Gottes, so Ich als Anderer

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dass so etwas wie stellvertretende Sühne als Liebe analog auch von Menschen ausgeübt werden kann. Allerdings gründet diese gänzlich im streng exklusiven Kreuz Christi.“ (Bieler, 422 f.; vgl. ThLZ 122 [1997], 485 f. [Rez. Wenz]) Ähnlich wie Bieler argumentiert Chr. Gestrich in seinen Untersuchungen zu Christentum und Stellvertretung. Christus gibt nicht nur ein Beispiel für die menschliche Fähigkeit, füreinander einzutreten, er ist als Stellvertreter der Menschen vor Gott zugleich derjenige, welcher die Stelle zwischen dem alten und neuen Adam einnimmt, um auf diese Weise Gott für mich und mich für Gott zu erschließen und offenzuhalten. Stellvertretung ist ein gottmenschliches Geschäft, das inklusive und exklusive Momente umfasst und beide trinitarisch zu integrierter Einheit zusammenschließt. In diesem Sinn kann Gestrich den dreieinigen Gott zum realen Inbegriff von Stellvertretung erklären (vgl. etwa Gestrich, 270). Stellvertretung ist nicht mit Ersatz zu verwechseln. Ersatz macht den Ersetzten überflüssig, Stellvertretung hingegen setzt ins Selbstsein frei und eröffnet die vertretene Stelle eines anderen für dessen eigenes Dasein (vgl. Menke, 24). Stellvertretung benennt ein Erschließungsgeschehen, welches dem anderen das Ureigene des Stellvertreters offenbart und eben dadurch und zugleich das Selbstsein des Vertretenen eröffnet. In diesem Sinn gehört das Wort in der Tat „zu den wenigen ‚Schlüssel-Begriffen‘ christlicher Theologie und Glaubenspraxis“ (Menke, 454) und zu den Grundkategorien einer soteriologisch orientierten Christologie und Trinitätslehre. Seine theologisch-soteriologische Funktion zu erfüllen vermag der Stellvertretungsbegriff indes nur, wenn sich die exklusiven und inklusiven Bestimmungsmomente, die er enthält, gedanklich vereinen oder doch zumindest so ins Verhältnis setzen lassen, dass der Sinn ihrer Verbindung erhellt. In dieser Funktionsbestimmung, die, wenn man so will, seinen Begriff ausmacht, liegt die „hohe systematische Faszination“ (Schaede, 641) begründet, die von dem Terminus „Stellvertretung“ ausgeht. „Aber dieser Faszination korrespondiert keine entsprechende Klarheit. Um der Klarheit theologischer Rede willen spricht einiges dafür, sich statt des Ausdrucks selbst auf präzise Beschreibungen zu verlegen oder aber den Stellvertretungsbegriff ausdrücklich im Sinne eines begrifflichen Merkpostens im theologischen Vokabular zu führen.“ (Ebd.) Um mit der nötigen Deutlichkeit zu erfassen, wofür der Stellvertretungsbegriff als Merkposten steht Christi Geist als Selbst (vgl. auch Hampel / Weth [Hg.]), ist auf die ich- des Glaubenden philosophischen Anfangsüberlegungen und auf das Grundbekenntnis christlichen Glaubens zurückzukommen, wonach an Ostern Jesus Christus in der Kraft des göttlichen Geistes als Alter Ego offenbar ist, in welchem das menschliche Ich den Grund seiner selbst und zwar sowohl unter, traditionell zu reden, prä-, als auch und vor allem unter postlapsarischen Bedingungen findet. Der österliche Christus erweist sich als Stellvertreter in schöpfungstheolo­ gischer, hamartiologisch-soteriologischer sowie in eschatologischer Hinsicht, wobei der hamartiologisch-soteriologische Aspekt nicht von ungefähr das traditionelle Zentrum des Lehrzusammenhangs markiert. Denn in Kreuz und Auferstehung

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nimmt Jesus Christus seine Stellvertretungsfunktion nicht lediglich exemplarisch, sondern auf sakramentale Weise wahr. An Ostern erweist sich Jesus Christus, der inkarnierte Logos, als Stellvertreter des Menschengeschöpfs, dessen irdische Bestimmung er realisiert hat. Zugleich ist der auferstandene Gekreuzigte als stellvertretendes Opfer der Sünde und als derjenige offenbar, der Sühne und gottmenschliche Versöhnung bereitet hat. Schließlich ist im Osterereignis der Grund der Gewissheit gelegt, dass der eschatologische Richter kein anderer sein wird als derjenige, welcher stellvertretend an unserer statt die Strafe der Sünde erlitten und der Gerechtigkeit Gottes Genüge getan hat sowie für uns vom Tode am Kreuz erstanden ist, damit wir teilhaben am ewigen Leben in seinem göttlichen Reich. Um die Sequenz etwas ausführlicher und diesmal ohne explizite Verwendung des Stellvertretungsbegriffs zu umschreiben: 1. Indem­ Jesus Christus in der Kraft des göttlichen Geistes sein irdisches Leben in Erinnerung bringt und sich als der inkarnierte Logos offenbart, bewirkt er im GlaubensIch eine Schöpfungsanamnese und bringt zu Bewusstsein, dass Ich und Welt im allmächtigen Gott gründen und dazu bestimmt sind, ihrer gottgegründeten Geschöpflichkeit der Ordnung der Schöpfung gemäß zu entsprechen. 2. Indem Jesus Christus in der Kraft des göttlichen Geistes seinem Leiden und Sterben ein unvergängliches Gedächtnis stiftet, vergegenwärtigt er dem Glaubens-Ich, dass es seiner geschöpflichen Bestimmung nicht nur nicht entspricht, sondern widerspricht, und dass es mit seiner sündigen Welt übel bestellt ist. Im gekreuzigten Jesus wird das Gericht des gerechten Gottes vorstellig, was Schuldbewusstsein, Gewissenspein und Reue zur Folge hat. Der theologische Hiatus, der an dieser Stelle besteht, erfordert nicht nur einen Absatz, sondern einen Neueinsatz: 3. Indem Jesus Christus sich in der Kraft des göttlichen Geistes österlich als der für uns, um unserer Sünde willen und allen Übeln der Welt zugute Gestorbene erweist, wird er als Wirkgrund der Versöhnung Gottes und des Menschen und als Heiland der Welt manifest. Im auferstandenen Gekreuzigten wird dem Glaubens-Ich die Gewissheit der Rechtfertigung des Sünders zuteil, die es die Erlösung von allem Übel für sich selbst und die gesamte Kreatur erhoffen lässt. 4.  Die eschatologische Erwartung des Glaubens-Ich, die aus Schöpfungsanamnese im Sinne erinnernder Kreaturbestimmung, aus dem Innesein von Sünde und Übel sowie aus der aktuellen Gewissheit der Sündenvergebung hervorgeht, findet ihren festen Anhalt abermals am österlichen Jesus Christus, der sich in der Kraft des göttlichen Geistes als der zukünftig Wiederkommende zu erkennen gibt, der Gottes endzeitliche Herrschaft als ein Reich barmherziger Gerechtigkeit und ewiger Liebe aufrichten wird. Was hiermit gesagt und in den vier Schlussbänden vorliegender Reihe im Einzelnen expliziert bzw. Paul Gerhardts Summe zu explizieren ist, lässt sich auch anders und ungleich dichter zum Ausdruck bringen, nämlich anhand einschlägiger Liedstrophen Paul Gerhardts, die dazu anleiten, dass das christliche Ich seines gottmenschlichen Grundes in Jesus Christus gewahr werde, der für es gelebt und gelitten hat, gestor-

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ben und auferstanden ist, um bis zum Ende der Tage sein Stellvertreter zu sein. Auf diese Weise gelangt es zur Einsicht in seine geschöpfliche Gottebenbildlichkeit sowie in die Verkehrtheit seiner Sünde und erkennt sich als gerechtfertigter Sünder, der Eingang finden wird in Gottes himmlisches Reich. Dass die Gerhardt’schen Strophen, die zum Abschluss weitgehend unkommentiert zitiert werden sollen, in ihrer Abfolge einen – im Gang des Kirchenjahrs beispielhaft reflektierten – Verlaufsprozess zur Geltung bringen, dürfte ebenso evident sein wie die Tatsache, dass die Eindeutigkeit, mit der dieser Prozess auf endgültiges Heil ausgerichtet ist, nicht durch das christliche Ich selbst, sondern durch Christus als seinen Grund gewährleistet wird, in dem allein das Christen-Ich seinen Bestand als es selbst und seine Bestimmung findet. Zum ersten, das geschaffene Ich, Evangelisches Gesangbuch, Lied 37 „Ich steh an deiner Krippen hier“, Strophe 2: „Da ich noch nicht geboren war, / da bist du mir geboren / und hast mich dir zu eigen gar, / eh ich dich kannt, erkoren. / Eh ich durch deine Hand gemacht, / da hast du schon bei dir bedacht, / wie du mein wolltest werden.“ Das Ich des Glaubens kommt vor dem in der Krippe liegenden göttlichen Menschenkind zu stehen (die in Horizontale und Diagonale angedeutete Kreuzesform will bedacht sein), um in ihm den inkarnierten Logos und den schöpferischen Grund seiner selbst (und aller Welt) zu erkennen, der – vor allem Existieren, Erkennen und Wollen des Ich – sein Ureigenes zu werden beschlossen hat. Zum zweiten, EG 85 „O Haupt voll Blut und Wunden“, Strophe 4, das gefallene Ich: „Nun, was du Herr, erduldet, / ist alles meine Last; / ich hab es selbst verschuldet, / was du getragen hast. / Schau her, hier steh ich Armer, / der Zorn verdienet hat. / Gib mir, o mein Erbarmer, / den Anblick deiner Gnad.“ Die Anschauung des Gekreuzigten bringt das christliche Glaubens-Ich zur Erkenntnis seiner Sünde und zum Bewusstsein einer Schuld, durch die es seine geschöpfliche Bestimmung verfehlt und sich das Gericht der göttlichen Gerechtigkeit zugezogen hat, aus der nur die im auferstandenen Gekreuzigten offenbare Gnade Gottes erretten kann. Zum dritten, das gerechtfertigte, mit Gott versöhnte Ich, „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“, EG 112,6: „Ich hang und bleib auch hangen / an Christus als ein Glied; / wo mein Haupt durch ist gangen, / da nimmt er mich auch mit. / Er reißet durch den Tod, / durch Welt, durch Sünd, durch Not, / er reißet durch die Höll, / ich bin stets sein Gesell.“ Wer im Glauben beständig am Crucifixus hängt, wird durch Tod und Hölle hindurchgerissen und gewinnt trotz seiner Sündenschuld als Geselle seines Meisters lebendigen Anteil an Christi österlicher Herrlichkeit in Gott. Zum vierten und letzten, das vollendete Ich: „Ach, denk ich, bist du hier so schön / und läßt du’s uns so lieblich gehn / auf dieser armen Erden: / was will doch wohl nach dieser Welt / dort in dem reichen Himmelszelt / und güldnen Schlosse werden, / und güldnen Schlosse werden!“ Bei der zitierten Strophe handelt es sich um die neunte des Liedes „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ (EG 503). Der schönen Gärten Zier, die sich in der lieben Sommerzeit Gottes Willen gemäß mir und dir ausgeschmückt haben, wird zum vorausweisenden Gleichnis für die hohe

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Lust und den hellen Schein, der in Christi Garten und in dem güldenen Himmelsschloss sein wird, das er umgibt. Paul Gerhardt hat sich „während seines gesamten Christus als Alter Ego Lebens als gehöriger Schüler der strengen lutherischorthodoxen Lehre Wittenbergs gezeigt“ (Ruschke, 507). Seine Rolle im Berliner Kirchenstreit erklärt sich hieraus. Doch nicht auf diesen, sondern auf einen anderen Aspekt seiner Biographie sei abschließend hingewiesen: Gerhardt war ein Langzeitstudierender! Am 2. Januar 1628 wurde er an der Leucorea als Student der Theologie immatrikuliert, um noch im Jahre 1641 „in einer Wittenberger Kirchenbucheintragung als ‚studiosus‘ bezeichnet“ (Brunners, 30) zu werden. Gründe für Gerhardts „lange Studienzeit sind nicht bekannt“ (ebd.); man wird aber sagen dürfen, dass die vielen Jahre an der Universität jedenfalls in seinem Fall von hohem Nutzen waren. Denn Paul Gerhardt hat in kaum überbietbarer Dichte zum Ausdruck gebracht, was mit dem Begriff der Stellvertretung und der Formel „Ich ist ein Anderer“ im lutherischen, im evangelischen, im christlichen Sinne gemeint ist. Luther zufolge ist Jesus Christus dem Glaubenden „näher und vertrauter … als der Glaubende sich selbst“ (Enderlein, 130), ja Christus wird in der Kraft des Geistes selbst zum „Selbst des Glaubenden“ (Enderlein, 128; bei E. kursiv), wobei der Geist dafür steht, dass das Ich des Glaubenden eben dadurch ganz zu sich kommt (vgl. Vollenweider). Der durch Christi Geist aus seiner Selbstverkehrung Befreite gewinnt „Freiheit zu sich selbst“ (vgl. Tietz) und zu einer Selbstannahme, die Hingabe und selbstlose Liebe ermöglicht: caritas fide formata (vgl. Jüngel)! Was aber das Wissen des Glaubens-Ich um sich und was sein Selbstbewusstsein anbelangt, so eignet ihm eine Gewissheit, die sich in der Kraft des Geistes Christi selbst als in Gott gegründet weiß: „Glaube ist gewiss als Innesein der eigenen Begründung durch das, woran er glaubt.“ (Ringleben, 81) Wie der Apostel mit Glaubensgewissheit bezeugt: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal 2,20a; vgl. Nüssel)

15. Articulus stantis et cadentis ecclesiae: Rechtfertigung und Versöhnung Lit.: J. Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990. – S. Bitter, Art. Loofs, Friedrich, in: TRE 21, 464–466. – V. H. Drecoll / M. Kudella, Augustin und der Manichäismus, Tübingen 2011. – F. Dürrenmatt, Turmbau, Stoffe IV–IX, Zürich 1991. – Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. IV. Abtheilung. 27. u. 28. Band, Weimar 1903. – M. Greschat, Zwischen Tradition und neuem Anfang. Valentin Ernst Löscher und der Ausgang der lutherischen Orthodoxie, Witten 1971. – E. Jüngel, Um Gottes willen – Klarheit! Kritische Bemerkungen zur Verharmlosung der kriteriologischen Funktion des Rechtfertigungsartikels  – aus Anlaß einer ökumenischen „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, in: ZThK 94 (1997), 394–406. – W. Kasper, In allem Christus bekennen. Einig in der Rechtfertigungslehre als Mitte und Kriterium des christlichen Glaubens?, in: KNA-ÖKI 32 vom 12. August 1997, 5–7. – B. Kollmann (Hg.), Die Verheißung des Neuen Bundes. Wie alttestamentliche Texte im Neuen Testament fortwirken, Göttingen 2010. – E. Langner, Art. Löscher, Valentin Ernst, in: RGG2 III, 1710. – Chr. Levin, Das Gottesvolk im Alten Testament, in: Chr. Albrecht (Hg.), Kirche, Tübingen 2011, 7–35. –  I. Lønning, Claritas Scripturae. Die in Vergessenheit geratene Voraussetzung der Rechtfertigungslehre, in: W. Schlichting (Hg.), Rechtfertigung und Weltverantwortung, Neuendettelsau 1993, 99–105. – F. Loofs, Der articulus stantis et cadentis ecclesiae, in: ThStKr 90 (1917), 323–420. – Th. Mahlmann, Zur Geschichte der Formel „Articulus stantis et cadentis ecclesiae“, in: Lutherische Theologie und Kirche 17 (1993), 187–194.  – P. Neuner, Apostolizität der Kirche. Historische und systematische Überlegungen in ökumenischer Sicht, in: Cath (M) 68 (2014), 151–165. – J. Ratzinger, Heilsgeschichte, Metaphysik und Eschatologie, in: ders., Theologische Prinzipienlehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie, München 1982, 180–199. – Ders./Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Zweiter Teil. Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Freiburg /  Basel / Wien 2011. – J. Ringleben, Lutherische Anfragen an Joseph Ratzingers Darstellung der Passion Jesu, in: Th. Söding (Hg.), Tod und Auferstehung Jesu. Theologische Antworten auf das Buch des Papstes, Freiburg / Basel / Wien 2011, 127–142. – U. Swarat, Das Kreuz Jesu als Gottesdienst vollkommenen Gehorsams? Zum Verständnis der Heilsbedeutung des Todes Jesu im Buch Joseph Ratzingers, in: Th. Söding (Hg.), a. a. O., 160–178. – M. Tilly, Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2005. – J.-H. Tück (Hg.), Was fehlt, wenn Gott fehlt? Martin Walser über Rechtfertigung – theologische Erwiderungen, Freiburg / Basel / Wien 2013. – M. Walser, Über Rechtfertigung, eine Versuchung, Reinbek bei Hamburg 42014. – G. Wenz, Der sog. historische und der biblisch-kirchliche Jesus. Zum Jesusbuch des Papstes, in: US 62 (2007), ­241–255. – E. Wolf, Die Rechtfertigungslehre als Mitte und Grenze reformatorischer Theologie, in: ders., Peregrinatio. Band II. Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, München 1965, 11–21.

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Articulus stantis et cadentis ecclesiae: Rechtfertigung und Versöhnung

Am Beginn des 15. soll eine Reminiszenz an „Das dreizehnte Kapitel“ stehen. So lautet der Titel eines am Ende des 10. Abschnitts bereits erwähnten Romans von Martin Walser aus dem Jahr 2013, der in Form eines Briefwechsels zwischen dem in die Jahre gekommenen Dichter Basil Schlupp und der Theologieprofessorin Maja Schneilin gestaltet ist. Er enthält eine Reihe von altersweisen Sinnsprüchen wie etwa diesen: „Gerade Theologen und noch mehr Theologinnen müssen zeigen, dass sie zu allem auch noch lachen können.“ (Walser, Das dreizehnte Kapitel, 36) Hilfreich ist ferner der tröstliche Hinweis, wonach nicht oder nicht mehr gelesen zu werden „von jener nie ganz zu überwindenden Schwäche (befreit), verständlich sein zu müssen“ (Walser, Das dreizehnte Kapitel, 181). Nicht minder relevant hinwiederum sind die zahlreichen Bezüge auf den dreizehnten und, wie es heißt, „raffiniertesten Apostel“ (Walser, Das dreizehnte Kapitel, 53), nämlich auf Paulus, sowie auf den Römerbriefkommentar von Karl Barth, dessen „berühmt-berüchtigte erste Fassung“ (Walser, Das dreizehnte Kapitel, 72) von 1919 Frau Prof. Schneilin besonders beeindruckt: „Es ist einfach unglaublich, was dieser Mann vermag. Sie als Nicht-Theologe können nicht ermessen, was er da in wenigen Tagen vollbracht hat.“ (Walser, Das dreizehnte Kapitel, 72) Gleich nach dieser Notiz wird Maja dem alten Basil verraten, was sie ihr „LebensGeheimnis“ (Walser, Das dreizehnte Kapitel, 73) nennt, nämlich mit Korbinian, ihrem Ehemann, überhaupt nur deshalb zusammenbleiben zu können, „weil ich der Zeit entgegenlebe, in der ich ihm Karl Barth erlebbar machen werde. Das weiß ich ganz sicher. Diese Zeit wird kommen. Er ist noch nicht so weit. Ich bin noch nicht so weit. Wie schrieb Karl Barth: Dieses Buch kann warten. Auch auf uns. Es handelt sich natürlich nicht um den Theologen Karl Barth, sondern um eine Weise, über Gott zu sprechen.“ (Walser, Das dreizehnte Kapitel, 74) Ähnlich angetan wie Martin Walsers literarisches Geschöpf Maja Schneilin von Barths RömerbriefFriedrich Dürrenmatts kommentar zeigte sich ein knappes Vierteljahrhun„Vinter“ dert vorher der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt von der „Kirchlichen Dogmatik“. Man lese hierzu einige Stücke aus den „Stoffe(n)“, die unter dem Titel „Turmbau“ gesammelt sind, etwa das „Vinter“ überschriebene, wo von persönlichen Begegnungen zwischen Dichter und Theo­logen berichtet wird. Zwar be­urteilt Dürren­matt das opus magnum Barths als eine Fiktion, die – wie einst Thomas von Aquin den Aristoteles – Hegel in die Bibel transponiert habe (vgl. Dürrenmatt, 193). Aber das tut der Begeisterung keinen Abbruch, im Gegenteil: „Dramaturgisch gesehen“, so liest man, „stellt das christliche Glaubenssystem eine der größten Leistungen der dialektischen Phantasie dar, nur vergleichbar mit der Mathe­matik.“ (Dürrenmatt, 195) Was Barth näherhin angeht, so fühlte sich der Pfarrerssohn Dürrenmatt durch ihn intensiv an seinen Vater erinnert, auf dessen Glauben, der nicht mehr der seine war, er an späterer Stelle ausführlich zu sprechen kommt. In diesem Kontext findet sich folgende Passage: „Die Schriftstellerei und der Glaube sprechen die gleiche „Das dreizehnte Kapitel“ Martin Walsers

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Sprache. Aus der gleichen Not heraus, sich verständlich zu machen, die eine Unmöglichkeit ist, denn jedem Gleichnis liegt die Unmöglichkeit zugrunde, es anders zu sagen, eindeutig, direkt, würde doch jede Eindeutigkeit, jede Direktheit, die hinter dem Gleichnis stünde, es in eine Einkleidung, in eine Allegorie und damit in etwas Überflüssiges verwandeln. Natürlich gibt es den Versuch, über den Inhalt eines Glaubens, über das, was man glaubt, objektiv, direkt zu sprechen, die Erhabenheit des Credos, die Riesengebäude der Dogmatik oder der philosophischen Systeme (die ja auch Glauben fordern). Aber wer legt sein Credo heute nicht ab, wer ist heute nicht Berufschrist oder Berufsmarxist: Wirtschaftskapitäne, Politiker, Dichter, Revolutionäre usw., nicht daß an ihrem Credo zu zweifeln wäre, das ist das Ver­ teufelte, es ist nur durch nichts zu beweisen, daß sie es auch glauben, nicht einmal der Papst vermag zu beweisen, daß er ein Christ, oder Gorbatschow, dass er ein Kommunist ist, was er immer wieder behauptet, vielleicht ist gerade für sie ihr Credo nichts als eine Rechtfertigung ihrer Macht, denn jede Macht will sich rechtfertigen. Der Glaube ist auf eine schreckliche Weise kein Gesprächsgegenstand, darum wohl wird so viel von ihm geschwatzt.“ (Dürrenmatt, 227 f.) Von Dürrenmatts assoziativen Erwägungen ist der Weg zu Martin Walsers ­Essay „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“ nicht allzu weit. In ihm ist erneut vom „größten Theologen des 20.  Jahrhunderts“ (Walser, Das dreizehnte Kapitel, 72) die Rede. Barth wird als vorläufiger Endpunkt einer Reihe vorgestellt, die von Paulus über Augustin, Luther und Calvin auf ihn zuläuft, den „einflussreichsten Theo­logen der Epoche“ (Walser, Rechtfertigung, 28). Walser gibt ihm vor liberalen Theologen vom Schlage Adolf von Harnacks den eindeutigen Vorzug, wovon ihn „der uns schon als Experte bekannte Kurt Flasch“ (Walser, Rechtfertigung, 55) ebensowenig abbringen kann wie von seiner Bewunderung für Augustinus. Walser findet es nicht nötig, aus dem Bischof von Hippo, dessen Sünden- und Gnadenlehre häufig als „verdeckte(r) Manichäismus“ (Drecoll / Kudella, 199) beurteilt worden ist, „einen Klassiker christlicher Intoleranz zu machen“ (Walser, Rechtfertigung, 39). Ursächlich für diese Haltung sind rechtfertigungstheologische Gründe. „Recht zu haben ist der akzeptierte Ersatz für Rechtfertigung“ (Walser, Rechtfertigung, 29), stellt Walser fest, um dem Festgestellten seine Anerkennung zu versagen und auf eine Alternative zu sinnen: „Zur Ehre der Religion sei gesagt, dass sie von Paulus über Augustinus bis zu Calvin, Luther und Karl Barth die Frage, wie ein Mensch Rechtfertigung erreiche, nie hat aussterben lassen.“ (Walser, Recht­ fertigung, 27) Was ist an der theologischen Rechtfertigungsfrage nach Walsers Urteil so wichtig und bedeutsam? Dass sie, statt Defizite und Aporien zu verschleiern, das Bewusstsein eines Mangels offenhält. Es fehlt etwas, wenn Gott fehlt und der Mensch meint, sich die Rechtfertigung seines Seins selbst besorgen zu können und zu müssen. Mit seinem Rechtfertigungsessay ist es Walser „gelungen, ein Grundwort der paulinischen Botschaft, das Zentralmotiv reformatorischer Theologie neu ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken“ (Tück [Hg.], 9). Welcher Sinn mit diesem Grundwort zu verbinden ist, bedarf genauerer Klärung. Sie kann

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nur dann erfolgen, wenn nicht vergessen wird, dass dem Begriff der Rechtfertigung derjenige der Gerechtigkeit zugrundeliegt. Gerechtigkeit ist ein Urwort der Menschheitsge­ Gerechtigkeit als schichte. Man erweitere den Horizont seines kulmenschheitsgeschichtturellen Gedächtnisses ins Äußerste, denke an das liches Urwort Alte Ägypten und lasse sich von Jan Assmann daran erinnern, was ehedem Ma’at hieß. In den „Klagen des Oasenmannes“, einem allseits beliebten Text aus Ägyptens Mittlerem Reich, wird die Bedeutung des Begriffs im Modus der Verkehrung bestimmt: „Der Verteiler ist geizig, / der Friedensstifter verursacht Trauer, / der Heiler stiftet Krankheit …“ (zit. n. Assmann, 71). Dieses und viel Ungemach mehr hat statt, wenn die als Ma’at bezeichnete Daseinsverfassung durcheinander gebracht wird. Wird hingegen Ma’at eingehalten und gewahrt, erweist sich der Verteiler als freigiebig und der Friedenstifter und der Heiler entsprechen ihrem Beruf, statt sich in Widerspruch zu ihm zu begeben. Der ursprüngliche Sinn des Wortes Ma’at bzw. Mu’at lässt sich mit „lenken, richten, den Dingen eine Richtung geben“ (Assmann, 15) wiedergeben. Dabei hat das Richtige zugleich als das Wahre und das Rechte als dasjenige zu gelten, was die soziale Gerechtigkeit und zugleich die kosmische Grundordnung ausmacht. Ma’at heißt, was in rechter Weise alles mit allem verbindet und die Menschen untereinander zu einer differenzierten Einheit zusammenschließt. Unter altägyptischen Bedingungen ist das Gemeinwesen und das Gefüge der gesellschaftlichen Ordnung vertikal-hierarchisch organisiert und nicht horizontalegalitär, wie das heutzutage vielfach der Fall ist. Nicht dass alle gleich seien, lautet die soziale Maxime, sondern dass alle je an ihrem Ort jener Regel folgen, die ihnen durch Ma’at vorgegeben ist, ohne zur Wahl und zur Disposition ihres Willens zu stehen. Erst im Späten Reich, so Jan Assmann in seiner Studie „Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten“, sei diesbezüglich ein Wandel eingetreten. Assmann hat die Geschichte des Begriffs, in dem sich wie in keinem anderen die Innenansicht und das Eigenverständnis ägyptischer Kultur erschließe, in drei Phasen unterteilt: Im Alten Reich befinde sich der Begriff und das umfassende Ordnungskonzept, welches er bezeichne, noch im Latenzstadium, des noch nicht explizit gewordenen Impliziten. Reflexiv und ausdrücklich werde die Ma’at-Lehre vertikaler Solidarität erst in der „Phase der Ersten Zwischenzeit und der Restauration der pharaonischen Zentralherrschaft im Mittleren Reich“ (Assmann, 288). Nun entstehen die großen und klassischen Tugend- und Weisheitstexte, und was der Oasenmann sagt, findet breites Gehör. Im Konzept „Ma’at“ werden „menschliches HanDas ägyptische deln und kosmische Ordnung miteinander verMa‘at-Konzept knüpft und damit Recht, Moral, Staat, Kult und religiöses Weltbild auf eine gemeinsame Grundlage (ge)stellt“ (Assmann, 17). Der Begriff fungiert auf der Höhe seiner Zeit als ein umfassendes Integral, und er macht namhaft, was in Ägypten in Theorie und Praxis in Geltung steht und rechtens der Fall ist. Ein Sprichwort, welches in den „Klagen

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des Oasenmannes“ zitiert wird, bringt es auf den Punkt: „Ma’at-Tun ist Luft für die Nase“ (zit. n. Assmann, 81), will heißen: ist der Atem, der alles belebt, und ohne welchen menschliches Leben in der Welt keinen Bestand und keine Bleibe hat. Ja, der Geist des Lebens, den Ma’at wirksam bezeichnet, ist derart kräftig, dass er selbst die Schranke transzendiert, die durch den Tod gesetzt ist: „Durch die Verwirklichung der Ma’at im Diesseits erwirbt sich der einzelne einen Status, der ihm die Fortdauer im Grab garantiert.“ (Assmann, 99) Ma’at bindet den Einzelnen nicht nur im Hier und Heute, sondern für immer in die Sozialgemeinschaft und in eine kosmische Sinnordnung ein. Wer sein Leben Ma’at-gemäß führt, besteht die Reise ins Jenseits und lebt im Gedächtnis des Gemeinwesens und der Weltordnung auf entsprechende Weise fort. Das Totengericht findet nach Maßgabe von Ma’at statt. In ihr begegnet der Verstorbene der nicht selten personifizierten Norm ordentlichen Verhaltens, der entsprochen oder nicht entsprochen zu haben über sein weiteres Geschick entscheidet. Wer für recht befunden wird, bleibt in lebendigem Gedächtnis, wohingegen derjenige, dessen Unrecht offenbar geworden ist, der großen „Fresserin“ anheimfällt, einem „Monstrum mit Krokodilkopf, Löwenrumpf und Nilpferdhinterteil“ (Assmann, 134). Im Begriff der Ma’at ist ursprünglich und in ungeteilter Form vereint, was sich erst später ausdifferenzieren wird: Recht und Moral, Religion und alles, was mit Wahrheit und Sinn menschlichen Lebens in der kosmischen Ordnung der Welt zu tun hat. Seit den ersten Jahrhunderten des 3. Jahrtausends v. Chr., in denen die Ägypter erstmals in der Menschheitsgeschichte das „Projekt einer eminent überregionalen Reichsgründung“ (Assmann, 242) realisiert haben, bildet sich allmählich das System der Ma’at aus, das im Mittleren Reich auf den Höhepunkt seiner Wirkmächtigkeit gelangt, um den umfassenden Sinnhorizont damaligen ägyptischen Lebens zu kennzeichnen, bis es dann zur Krise der Ma’at und zur Ersetzung seines Prinzips durch ein neues kommen sollte. Assmann umschreibt das neue Prinzip mit der Wendung „Theologie des Willens“: „Der Begriff der Ma’at steht und fällt … mit der gewissermaßen selbstregulativen Immanenz einer Ordnung, die in der Natur der Dinge liegt. Wenn der Wille Gottes an die Stelle tritt, verschwindet die Ma’at.“ (Assmann, 252) Die Weisheit des Alten und Mittleren Reiches ist auf einen Ordnungszusammenhang ausgerichtet, der immer währt, wohingegen sie im Neuen Reich an ihre Grenze gerät und gleichsam nominalistische Gestalt annimmt. „Das Weltbild öffnet sich ins radikal Unverfügbare und Unerkennbare. An die Stelle der auf immanente Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten gerichteten Weisheit tritt eine Frömmigkeit der Ergebung mit resignativen und quietistischen Zügen.“ (Assmann, 256) Mit dem Neuen Reich des antiken Ägypten werden die ältesten Schichten der Geschichte Israels erreicht, die im Vergleich zu derjenigen ihrer altorientalischen Nachbarn als sehr jung zu gelten hat. Noch jüngeren Datums als die Historie des Alten Israel in seiner vorstaatlichen und königlichen Zeit hinwiederum ist da­jenige, was in der hebräischen Bibel kanonisch als jüdische Religion bezeugt wird. Diese kann mit der Religion des Alten Israel nicht gleichgesetzt werden, sondern ist, wie

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das Judentum selbst, erst in exilisch-nachexilischer Zeit entstanden. Die Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese sprechen mit hoher Evidenz dafür, dass die Hl. Schriften Israels in ihren wesentlichen Beständen Zeugnisse des Judentums der persischen und hellenistischen Epoche dokumentieren. Zwar will die hebräische Bibel „die Geschichte des alten Israel von der Schöpfung bis zum babylonischen Exil darstellen; doch in Wahrheit war es das Judentum, das im Alten Testament ein Bild seines eigenen Ursprungs gezeichnet hat.“ (Levin, 9) Überlieferungen der Jahwe­ religion Israels und Judas aus vorexilischer Zeit sind in der von den Christen Altes Testament genannten Bibel durchaus und in nicht geringem Maße enthalten; doch werden sie in der Regel nicht unmittelbar, sondern in konstruktiver Kritik und in jener transformierten Gestalt rezipiert und tradiert, die dem Thoramonotheismus entspricht, zu welchem das Judentum seiner ursprünglichen Einsicht gemäß erst nach Ende der Königszeit gelangt war. Wenn das nachexilische Judentum den Anspruch erhebt, mit dem vorexilischen Israel und seiner staatlichen und mehr noch seiner vorstaatlichen Religionsform identisch zu sein, dann ist dies eine theologische Aussage, deren historische Bedeutung primär dort zu suchen und zu finden ist, wo der besagte Anspruch erhoben wurde. Das Judentum der persischen und der hellenistiJüdisches schen Epoche, in der die meisten Schriften der hebThoraverständnis räischen Bibel ihre vorliegende Gestalt angenommen haben, definierte seine Identität nicht mittels politischer Herrschaft, die ihr faktisch abhanden gekommen war bzw. als Fremdbestimmung begegnete, sondern im Medium einer Religion, deren Wesen durch göttliche Weisung und Thoraobservanz bestimmt war. Wohl wurde die Zugehörigkeit zum Judentum auch ethnisch begründet; doch konnte das jüdische Volk mit der einheimischen Bevölkerung umso weniger gleichgesetzt werden, je mehr dieses auch von Menschen bewohnt war, die nach Kriterien jüdischer Religion als Heiden zu qualifizieren waren. In gesteigertem Maß galt dies in der Situation der außerpalästinischen Diaspora, in der sich im Laufe der Zeit immer mehr Juden befanden. Dies führte tendenziell dazu, den Zusammenhang zwischen jüdischer Religion und genealogisch vermittelter Volksgemeinschaft weniger eng zu fassen als es zunächst und für die vormalige Zeit erscheinen mochte. Das Merkmal ethnischer Gruppenzugehörigkeit konnte so mehr und mehr unter religiöse Ägide treten und mit einem Vorzeichen versehen werden, welches die Universalisierung jüdischer Religion dadurch beförderte, dass der Zugang zu ihr auch Menschen eröffnet wurde, die von Hause aus als Nichtjuden zu gelten hatten. Dieser Trend verstärkte sich nach Zerstörung des Tempels, um sowohl im rabbinischen Judentum als auch im Christentum fortzuwirken, welches im Zuge seiner Entwicklung die Bindung zwischen Religion und ethnischer Volkseigentümlichkeit zumindest in der Theorie nahezu völlig auflöste. Als Name der jüdischen Gemeinde bezeichnet Israel das Gottesvolk, das sich nicht allein durch Abstammung, sondern auch und vor allem durch den Glauben an den einen Gott definiert weiß, der als allmächtiger Schöpfer Himmels und der

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Erden seinen Willen in der Thora bekundet und schriftlich niedergelegt hat, damit ihm gehorsam entsprochen werde. Thoraobservanz ist das charakteristische Kennzeichen und Identitätsmerkmal des Judentums seit nachexilischer Zeit. Auch nachdem die Tempelgemeinde ihre Existenzgrundlage verloren hatte, änderte sich daran grundsätzlich nichts. Gebotsgehorsam ist das Kriterium, welches Judentum von Nichtjudentum scheidet. Je deutlicher dies wurde, desto mehr konnte die ethnische Basis der jüdischen Religion relativiert werden. „Die Frommen standen den Gerechten aus den Völkern näher als ihren gottlosen Volksgenossen.“ (Levin, 31) So trug gerade die strenge Thoraobservanz dazu bei, dass das Judentum sich transethnisch auszuformen begann und tendenziell universalistische Gestalt annahm. Die Universalisierung der Weisungen der Thora und die Entschränkung der Reichweite ihrer Geltung korrespondierte diesem Prozess, an den das Christentum anschließen konnte und tatsächlich angeschlossen hat. Mochten im Rabbinismus gegenläufig zu Entwicklungen im hellenistischen Judentum teilweise auch Sonderbestimmungen, die sich schwerlich verallgemeinern ließen, mit gesteigertem Gewicht versehen werden, so wurde doch auch von den jüdischen Schultheologen und Schrift­ gelehrten die Überzeugung bewahrt und gepflegt, dass der wahre Jude derjenige sei, der sich an die Gebote hält, die Gott in der Thora und durch Israel allen Völkern und allem Volke geboten hat. Die Konzentration der Thoragebote auf Dekalog und auf das Doppelgebot der Liebe kommt diesem Entwicklungstrend entgegen und forciert ihn. Vergleicht man, um auf das Alte Ägypten zurückzukommen, das jüdische Thora­ verständnis mit dem altägyptischen Konzept „Ma’at“, dann wird man über die Distanz hinweg, die beide historisch auseinanderhält, immerhin darin eine Gemeinsamkeit entdecken können, dass sie eine für Mensch und Welt verbindliche Ordnung von Recht und Gerechtigkeit in Anschlag bringen, dem sich alles, was ist, je auf seine Weise zu fügen hat, weil just darin die Bestimmung des Einzelnen besteht, der er gerecht zu werden hat. Was aber die von Assmann für das Neue Reich Ägyptens attestierte nominalistische Tendenz samt ihren „resignativen und quietistischen Zügen“ (Assmann, 256) anbelangt, so mag es sich damit verhalten wie es will: Im exilischen und nachexilischen Judentum jedenfalls findet eine entsprechende Entwicklungsrichtung keine Fortsetzung. Zwar denkt der jüdische Thoramonotheismus Gott als weltüberlegen und transzendent. Doch erweist Gott seine Gottheit nicht auf willkürliche Weise, da er seine Allmacht ganz und gar in den Dienst einer universalen Gerechtigkeit stellt, welche den Kosmos ordnend durchwaltet und an der das menschliche Verhalten sein beständiges Richtmaß findet. In der Ausrichtung auf eine Ordnung, die bloßes Belieben ausschließt, statt sich auf arbiträre Willkür zu gründen, zeigen jüdisches Thoraverständnis und ägyptische Ma’at-Konzeption durchaus Übereinstimmungen. Die Unterschiede betreffen im Verein mit dem Monotheismus im Wesentlichen die Anlage der Gerechtigkeits­ ordnung. Ist sie im ägyptischen Fall, mit Assmann zu reden, primär vertikalhierarchisch orientiert, so entwickelt sie sich im antiken Judentum eher in eine horizontal-egalitäre, alle Menschen umfassende Ordnung. Im Christentum ist diese

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Entwicklung verstärkt und ins Prinzipielle gesteigert worden. Die Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische und ihre griechische Fortschreibung können hierfür signifikante Belege liefern. Wahrscheinlich um die Mitte des 3.  Jahr­hunderts Die Septuaginta als v. Chr. wurde die Thora im ägyptischen AlexanKanon der Alten Kirche dria ins Griechische übersetzt. Einer antik-jüdischen Ent­stehungslegende zufolge geschah dies durch je sechs gelehrte Männer aus den Zwölf Stämmen Israels. Auf die Abrundung ihrer Zahl geht die Bezeichnung „Septuaginta“ zurück, die erstmals bei Justin begegnet, der unter diesem Namen im Dialog mit Tryphon (137,3; vgl. MPG 6, 792) eine bereits umfänglichere, die Prophetenbücher mitumfassende Übersetzung zitiert. Andere frühchristliche Autoren haben diese Nomenklatur übernommen. Im Laufe der Zeit ist es üblich geworden, die griechische Übersetzung der gesamten hebräischen Bibel einschließlich der sog. Apokryphen bzw. deuterokanonischen Schriften samt einiger zusätzlicher Bücher als Septuaginta zu bezeichnen. Nähere Informationen zu Genese, Umfang, An­ordnung und Überlieferung des Textmaterials der LXX sind etwa der „Einführung in die Septuaginta“ von Michael Tilly zu entnehmen. Dort finden sich auch Hinweise auf gebräuchliche moderne Textausgaben, auf das große Septuagintaprojekt der Göttinger Akademie der Wissenschaften und auf die mittlerweile vorliegende deutsche Septuagintaübersetzung LXX . D. Die Textüberlieferung der LXX ist sehr kompliziert und variantenreich, ein „Urtext“ nur bedingt zu erfassen. „Die Septuaginta ist eine gewachsene Sammlung von Übersetzungen aus dem Hebräischen (bzw. Aramäischen) und von Schriften, die in griechischer Sprache abgefaßt wurden.“ (Tilly, 20) Eine förmliche Kanonisierung der Textsammlung ist in der Antike nicht erfolgt, ihr Abschluss wird aber etwa seit den Zeiten des Origenes als Faktum vorausgesetzt. Der im Vergleich zur hebräischen Bibel größere Umfang der Septuaginta und die veränderte Einteilung und Abfolge der Bücher in ihr (Gesetzesbücher, Geschichtsbücher, Lehrbücher und Propheten) wurde aus der heilsgeschichtlichen Perspektive des Christentums heraus in der Regel als Vorzug gewertet. Generalisierend lässt sich sagen, dass die Septuaginta und nicht eigentlich die hebräische Bibel das christliche Alte Testament darstellt. Schon für die neutestamentlichen Autoren und Redaktoren gilt, „daß sie nicht die hebräischen Heiligen Schriften des Judentums als die entscheidende Textbasis ihrer literarischen Produktion ansahen, sondern ihre griechische Übersetzung“ (Tilly, 100). War das Christentum bis in die zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts hi­ nein historisch-genetisch geurteilt „eine innerjüdische Entwicklung“ (ebd.), so hatte „(s)pätestens seit Beginn der paulinischen Mission unter den Völkern und der sukzessiven Ablösung der frühchristlichen Gemeinden vom Judentum … der Gebrauch des griechischen Textes den Gebrauch der hebräischen Bibel fast vollständig verdrängt; sowohl die Kommunikation zwischen diesen christlichen Gemeinden im gesamten östlichen Mittelmeerraum als auch deren religiöse Belehrung sowie die Verkündigung und narrative Deutung der Christusbotschaft fanden seitdem in griechischer Sprache statt. Sämtliche frühchristlichen Evangelien, Sendschreiben,

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Predigten und Gemeindeordnungen bezogen sich auf die Septuaginta. Die Septuaginta bildet den speziellen geschichtlichen Erfahrungs- und Sprachhorizont, aus dem heraus die frühchristlichen Texte weitgehend geformt wurden.“ (Tilly, 101) Hält man die historisch unzutreffende Vorstellung eines förmlich und definitiv fixierten Kanons fern, dann kann die Septuaginta als die Bibel der Alten Kirche bezeichnet werden. Ihrer wachsenden Bedeutung in der sich entwickelnden Christenheit korrespondiert die fortschreitende Distanzierung des rabbinischen Judentums von ihr. „Das erkennbare rabbinische Desinteresse an der Weitergabe der griechischen Texttradition schlug in der Folgezeit nach und nach um in die kategorische Ablehnung ihrer liturgischen Verwendung in der Synagoge.“ (Tilly, 113) Je intensiver das Christentum von der Septuaginta Gebrauch machte, desto sus­ pekter wurde sie dem Judentum und das umso mehr, als der christliche Gebrauch der griechischen Übersetzung der Hl. Schriften Israels sich mit deren Qualifikation als Altes Testament verband. Sosehr diese Qualifikation Ausdruck christlichen Selbstverständnisses bzw. Funktion einer christologischen Schriftdeutung war, sowenig konnte sie von jüdischer Seite akzeptiert werden. Die nicht zuletzt in Abgrenzungsabsicht vom Christentum erfolgte kanonische Fixierung der hebräischen Bibel, die für das Judentum das Buch der Bücher schlechthin darstellt, ist ein Beleg hierfür. Der Exkurs, der im Alten Ägypten seinen Anfang nahm, um über Israel und das frühe Judentum ins ägyptische Alexandria zurückzuführen, scheint vom eigentlichen Thema abgelenkt zu haben, das unter der Überschrift „Articulus stantis et cadentis ecclesiae“ zur Verhandlung ansteht. Doch der Eindruck der Abwegigkeit trügt, weil zum einen ein Verständnis von Rechtfertigung und Versöhnung einen entwickelten Begriff von Gerechtigkeit zur Voraussetzung hat und weil zum anderen zu zeigen war, dass weder der Gerechtigkeitsbegriff, noch die Universalisierung seiner Geltung christentumsspezifisch waren. Christentumsspezifisches kommt erst in den Blick, wenn man die Gerechtigkeit, deren universale Verbindlichkeit theologisch in Geltung steht, mit der Botschaft von der Rechtfertigung des Ungerechten konfrontiert und nach den versöhnungstheologischen Implikationen und Voraussetzungen dieser Botschaft fragt. Um des Gesetzes und des gerechterweise Gebotenen hätte es des Christentums nicht bedurft; beides war bereits vor ihm bekannt, im Judentum und darüber hinaus. Das Neue, das durch das Christentum in die Welt gekommen ist, besteht im Evangelium Jesu Christi, welches den Ungerechten aus dem Gericht zu retten verspricht, ohne die Gerechtigkeit preiszugeben. Wie verhalten sich Gesetz und Evangelium, alte und neue Gerechtigkeit zueinander? Diese Frage führt ins Zentrum des Artikels, mit dem die christliche Kirche steht und fällt. Nach reformatorischem Urteil ist sie nur auf biblischer Grundlage angemessen zu beantworten. Einfachhin zu behaupten, das Alte Testament sei die Bibel des frühen Christentums gewesen, ist irre­ Altes und führend und problematisch. Denn zum einen erfolgte Neues Testament eine genaue Festlegung des hebräischen Kanons erst

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Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. im Zuge jüdischer Konsolidierung nach der erlittenen Kriegskatastrophe und in Abgrenzung zum Christentum. Zum anderen steht seine Bezeichnung als Altes Testament im Widerspruch zum Selbstverständnis derer, welche die hebräische Bibel kanonisierten. „Sie wurde aus der Gegenüberstellung eines alten und neuen Bundes in 2Kor 3,6 abgeleitet und begegnet erstmals in der zweiten Hälfte des 2. Jh. in heilsgeschichtlichen Zusammenhängen bei den christlichen Theologen Melito von Sardes und Irenäus von Lyon.“ (Kollmann [Hg.], 10) Die Wendung Altes bzw. Neues Testament ergab sich dabei aus der Wiedergabe des griechischen Wortes für Bund diatheke durch das lateinische „testamentum“. Auch die hebräische Bibel kennt die Rede von einem Neuen Bund und Testament, wenngleich sich eine entsprechende Verheißung allein in Jer 31,31–34 findet (vgl. Kollmann [Hg.], 187 ff.). Danach wird Gott sein Gesetz ins Menschenherz hineinschreiben mit der Folge, dass die Thora absolut verinnerlicht wird und anders als eine äußerliche Weisung und Vorschrift nicht mehr gebrochen werden kann. Gemäß seiner Sonderstellung wurde der Text im antiken Judentum nur spärlich rezipiert. Auch im Neuen Testament wird nur in Hebr 8,8b-12 direkt auf Jer 31 Bezug genommen, wobei Jesus Christus als der nach Ps 110 zur Rechten Gottes erhöhte Priesterkönig als der Mittler des Neuen Bundes fungiert (vgl. Kollmann [Hg.], 157 ff.). Sehr viel breiter angelegt ist die indirekte neutestamentliche Rezeption, wie sie sich bei Paulus und in den Kelchworten der Abendmahlsparadosis findet. Entscheidend ist dabei das Stichwort des Neuen Bundes, das aus dem Textzusammenhang herausgelöst und christlich-christologisch profiliert wird. „Was neuer Bund bedeutet, entfalten Paulus in 2Kor 3 und die Einsetzungsworte der lukanischen und paulinischen Abendmahlsüberlieferung mit Bezug auf das apostolische Amt und das Kreuz Jesu Christi.“ (Kollmann [Hg.], 198 f.) Nach Hebr 8 schließlich, wo Jer 31,31–34 wörtlich zitiert wird, ist die Verheißung des Neuen Bundes im einmaligen und ein für allemal gültigen Selbstopfer Jesu Christi, des königlichen Priesters nach Weise des Melchisedek, erfüllt, der Opferkult am Tempel, wie er im Ritual des großen Versöhnungstages (Lev 16,1–34) kulminierte (vgl. Kollmann [Hg.], 94 ff.), an sein vollendetes Ende gelangt und der vormalige Bund durch den neuen für „veraltet und überlebt“ (Hebr 8,13) erklärt. Durch ihre Konzentration auf das österlich offenbare Christologisches Kriterium Heilsgeschehen im gekreuzigten Jesus von Nazareth ist die frühchristliche Rezeption von Lev 16,1–34, Ps 110 oder Jer 31,31–34 charakteristisch von entsprechenden Bezugnahmen im antiken Judentum unterschieden. Entscheidendes Kriterium christlicher Differenzierung eines Alten und eines Neuen Testaments ist Jesus Christus, wie denn auch umgekehrt die jüdische Definition des hebräischen Kanons nicht unwesentlich von der Absicht motiviert war, sich von der christlichen Häresie abzugrenzen. Unbeschadet der auf beiden Seiten erkennbaren Separierungstendenzen ist für das Selbstverständnis des frühen Christentums der Bezug auf die israelitisch-jüdische Überlieferungsgeschichte stets konstitutiv geblieben. Dabei bildete den basalen Referenztext beizeiten die sog. Septuaginta, die griechische Übersetzung der heiligen Schriften

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Israels. Sie ist von der Biblia Hebraica nicht nur in quantitativer Hinsicht unterschieden. „Zwangsläufig mussten die Übersetzer nicht selten auch eine Interpretation vollziehen, indem sie sich bei ihrer Wortwahl auf einen bestimmten Textsinn festlegten, der nicht immer mit der Intention des hebräischen Urtextes deckungsgleich ist. Auch wo die Septuaginta dem hebräischen Wortlaut eng folgt, vollzieht sich Übersetzung als Übertragung der biblischen Texte in einen neuen Kulturkreis. Dabei werden mit Neuakzentuierungen und Sinnverschiebungen nicht selten Anknüpfungspunkte für die spätere christliche Rezeption geschaffen.“ (Kollmann [Hg.], 11) Ein Beispiel hierfür unter vielen ist die Ankündigung des Immanuel nach Jes 7,14 (vgl. Kollmann [Hg.], 171 ff.) bzw., wie manche meinen, die Übersetzung des hebräischen Begriffs der almah mit dem griechischen parthenos. „Hierbei wird häufig eine Abweichung vom hebräischen Text angenommen. Es muss aber gefragt werden, ob das wirklich zutrifft. Vom Wortsinn her ist das nicht unbedingt der Fall, da der Begriff parthenos im Griechischen zwar die Bedeutung der Jungfräulichkeit tragen kann, aber nicht notwendig tragen muss.“ (Kollmann [Hg.], 176 f.) Wie auch immer: Es will sorgsam beachtet sein, dass die neutestamentliche Rezeption des sog. Alten Testaments in der Regel mittels der Septuaginta erfolgte. Die alttestamentlichen Schriften werden im Neuen Testament von der österlichen Erscheinungsgestalt des auferstandenen Gekreuzigten her gedeutet, welche Deutung sich in der Unterscheidung von Altem und Neuem Testament förmlich reflektiert. Zugleich wurde das neutestamentliche Verständnis des Christusgeschehens entscheidend durch alttestamentliche Vorgaben geprägt. Dies gilt für das Verständnis des Lebens und insbesondere auch für dasjenige des Sterbens Jesu Christi. Die ersten und grundlegenden Interpretationen des Kreuzestodes sind allesamt und durchweg von alttestamentlichen Deutekategorien bestimmt. Die Klage des Gerechten in Ps 22 gibt dafür ein hervorragendes Beispiel. „Kaum ein alttestamentlicher Text ist im Neuen Testament so prominent wie Psalm 22. Im Lichte dieses Psalms vor allem interpretiert die christliche Gemeinde das unschuldige Leiden des Gerechten Jesus.“ (Kollmann [Hg.], 149) Hemeneutisch zentral für das frühchristliche Verständnis des Todes Jesu sind ferner die Aussagen vom leidenden Gottesknecht in Jes 52,13–53,12. „Der dort geschilderte Vorgang eines stellvertretenden Erleidens von Gottes Strafe zum Heil anderer“ (Kollmann [Hg.,], 200) wird zu einem Grundparadigma christlicher Kreuzesdeutung. Im leidenden Gottesknecht ist präfiguriert, was im Gekreuzigten zur Vollendung gelangt, um österlich zum Heil von Menschheit und Welt offenbar zu werden. Daneben wäre auf die typologische Funktion der Motivik des Großen Versöhnungstages für den Hebräerbrief, auf Röm 3,25 in seinem Zusammenhang mit Lev 16,13–15 oder auf den Einfluss des „im Neuen Testament geradezu allgegenwärtig(en)“ (Kollmann [Hg.], 163) Psalms 110 zu verweisen. Diese und viele innertestamentarische Bezüge belegen, dass der sog. Neue den Alten Bund, das Evangelium das Gesetz, die Zusage versöhnender Rechtfertigung den Anspruch der Gerechtigkeit zur impliziten Prämisse hat. Der christliche Glaube hat nicht nur historische, sondern auch prinzipielle Voraussetzungen, von denen sein Bestand

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abhängt, ohne dass er sich auf sie reduzieren ließe. Die Gerechtigkeitstradition ist die wichtigste von ihnen und die conditio sine qua non jeden Christentums, das gleichwohl seiner Bestimmung nach nicht lediglich ein höheres Maß an Gerechtigkeit, sondern anderes als Gerechtigkeit in die Welt zu bringen hat, nämlich die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders, der dem Versöhnungsevangelium Jesu Christi glaubt. Der Rechtfertigungsartikel gilt gemäß klassischem Universale Gerechtigkeit reformatorischen Urteil als „articulus stantis et­ und Rechtfertigung cadentis ecclesiae“, auch wenn die Wendung nicht des Sünders unmittelbar auf Luther selbst zurückgeht. Zwar bezeichnete dieser in seinen Schmalkaldischen Artikeln von 1536 die Rechtfertigungslehre als den „erste(n) und Häuptartikel“ (BSLK 415,6), von welchem „man nichts weichen oder nachgeben (kann), es falle Himmel und Erden oder was nicht bleiben will“ (BSLK 415,21 f.); daraus erhellt, dass die Rechtfertigungslehre für den Reformator in der Tat jene zentrale Bedeutung hatte, um derentwillen sie später zum articulus stantis et cadentis erklärt wurde. Die Wendung selbst allerdings findet sich weder bei Luther noch bei den reformatorischen Theologen in seinem unmittelbaren Umkreis. Das hat der Dogmengeschichtler Friedrich Loofs in einer Abhandlung zum Thema detailliert nachgewiesen. Er hat zugleich die Vermutung geäußert, Valentin Ernst Löscher, „der letzte bedeutende Vertreter der lutherischen Orthodoxie in Deutschland“ (Langner, 1710; vgl. Greschat) und streitbarer Gegner des Halleschen Pietismus, könnte überhaupt der erste gewesen sein, der die Rechtfertigungslehre ausdrücklich als „articulus stantis et ­cadentis ecclesiae“ bezeichnet habe. Als Belege werden Veröffentlichungen aus den Jahren 1712 und 1718 angeführt. Was die sachliche Bedeutung der Formel vom „articulus stantis et cadentis ecclesiae“ bei Löscher anbelangt, so markiert die Wendung nach Loofs das Ende einer Entwicklung, in deren Verlauf die ursprüngliche Einsicht der Reformation von der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade um Christi willen durch Glauben zum Schlussstein in der orthodoxen Systemkonstruktion einer doktrinär verfassten Lehrkirche gestaltet wurde. Loofs Urteil über diesen Entwicklungsprozess und sein rechtfertigungstheologisches Resultat ist, wenn auch nicht einfachhin negativ, so doch höchst ambivalent: „Die Orthodoxie muß als konsequente Weiterbildung der Gedanken Luthers anerkannt werden, sobald bei Luther die durch seine neuen Erkenntnisse tatsächlich antiquierten, aber von ihm doch festgehaltenen Traditionen der alten durch die Geltung der lex fidei zu einer empirischen Größe zusammengeschlossenen Lehrkirche für unaufgebbar angesehen wurden. Denn dann können seine neuen Erkenntnisse nur in der Verkürzung zu ihrem Rechte kommen, welche die Festhaltung jener alten Traditionen erzwingt.“ (Loofs, 349) Unverkürzt und der neuen und ursprünglichen Einsicht Luthers gemäß hingegen erschließe sich der Rechtfertigungsgedanke primär nicht in Form lehrhafter Äußerungen kirchlicher Doktrin, sondern im Innewerden dessen, dass „es der rechtfertigende Glaube allein (ist), der den Christen macht. Mit ihm wird und mit ihm vergeht daher auch die

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Kirche Jesu Christi. Denn sie ist nichts anderes als die für Menschenaugen nicht abgrenzbare, daher auch in keiner Organisation darstellbare Gesamtheit der im Sinne der Rechtfertigungslehre Gläubigen.“ (Loofs, 349 f.) Die Studie von Loofs, dessen in kritischer Schülerschaft zu Albrecht Ritschl konzipierter „Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte“ (Halle 1889) „neben den Werken Harnacks und Reinhold Seebergs als Klassiker seiner Disziplin (gilt) und … noch heute ein unübertroffenes Lehrbuch (ist)“ (Bitter, 464 f.), zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass sie den Sinn der Formel von der Rechtfertigungslehre als articulus stantis et cadentis ecclesiae aus dem Zusammenhang von deren Ent­ stehungsgeschichte heraus zu begreifen sucht, sie hat auch den schätzenswerten Vorzug, dabei das eigentümliche Verhältnis von Rechtfertigungsverständnis und Ekklesiologie sowie von persönlicher Glaubensgewissheit und theologischer Lehre bzw. Kirchendoktrin beständig im Auge zu behalten. Dennoch bedarf Loofs Untersuchung einer Korrektur und zwar sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht. Was die Historie betrifft, so ist es Theodor Mahlmann gelungen, vier Autoren zu benennen, die bereits vor Löscher die berühmte Formel vom „articulus stantis et cadentis ecclesiae“ tradieren. Namentlich erwähnt sei neben dem anti­ orthodoxen Polemiker Johann Konrad Dippel alias Christianus Democritus, von dem Löscher die Formel direkt oder indirekt entlehnt haben dürfte, lediglich der Leipziger Theologe und Calixtgegner Johannes Hülsemann, bei dem sich bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts wortwörtlich die Aussage findet, der Rechtfertigungsartikel sei „fundamentum stantis et cadentis ecclesiae“ (Mahlmann, 190). Was damit gemeint ist, lässt sich einem trefflichen Abschnitt aus dem Locus de iustificatione der Fundamentum stantis et 1607 erschienenen „Theologia positivo-polemica“ cadentis ecclesiae des Hülsemann nahestehenden Theologen Hieronymus Kromayer entnehmen. Der Passus ist bei Mahlmann in deutscher Übersetzung ganz zitiert und soll hier im Anschluss daran zumindest in Teilen wiedergegeben werden, weil er zeigt, dass Loofs Urteile über die Stellung der Formel vom articulus stantis et cadentis ecclesiae innerhalb der Dogmatik altlutherischer Orthodoxie nicht nur unter historischen, sondern auch unter systematischen Aspekten korrekturbedürftig sind. In der erwähnten Stelle bei Kromayer ist zum Thema „Rechtfertigung“ folgendes zu lesen: Es „ist von allen das grundlegendste (fundamentalissimum), zur Heilserkenntnis äußerst notwendig und wahrhaft der Nabel der Theologie (eine Metapher nicht aus der Anatomie, sondern der Architektur genommen) – das wird jeder mit der Theologie nicht völlig Unbekannte ohne weiteres zugeben. Wie nämlich in dem Knauf oder Schlußstein eines Gewölbes die Linien zusammenlaufen: so streben die übrigen Artikel des Glaubens dieser Mitte (centrum), nämlich dem Artikel von der Rechtfertigung zu. Daher wird er von irgendjemandem ‚heiliger Ozean‘, in den die übrigen Artikel einfließen und aus dem sie aus­ fließen, genannt. Denn alles, was wir vom Ebenbild Gottes, der Sünde, dem freien oder vielmehr geknechteten Willen, kurz von unserem Elend, und umgekehrt vom Heilmittel, der Person und dem Amt Christi, der Buße, dem Glauben wissen

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müssen, läuft auf diesen Artikel, durch den wir vor Gott gerechtfertigt und gerettet werden, zu. Wiederum: was in diesem Artikel hinsichtlich unseres Elends und des Heilsmittels enthalten ist, dehnt sich durch alle Artikel weit aus … Wenn denn die Artikel des Glaubens in fundamentale, neben-fundamentale und außer-fundamentale unterteilt werden, ist dieser in allen der fundamentalste (fundamentalissismus), dessen Unkenntnis mit dem Verlust des Heiles verbunden ist. Wenn denn auf die analytische Anordnung (ordinem analyticum) geachtet wird, stellt dieser Artikel das innere Ziel der Theologie (finem Theologiae internum) dar, durch welches wir das äußere Ziel (finem externum), das ewige Heil, erreichen; wenn nicht jemand ihn vielleicht das unmittelbar zum Heil führende Mittel und daher als äußerst notwendig bezeichnen will. Denn in der Theologie wird ja der Mensch als ein zu rechtfertigender und ewig selig zu machender Sünder betrachtet.“(Mahlmann 191 f.) Mag es auf den ersten Blick so erscheinen, als bestätige der zitierte Text das Loof’sche Urteil von einer doktrinären Fixierung des Rechtfertigungsgedankens im Sinne eines orthodoxen Lehrsystems, so zeigt sich doch bei näherem Zusehen, dass es Kromayer gar nicht darauf ankommt, die Rechtfertigungslehre als Speziallehre, will heißen: als einen dogmatischen locus neben anderen zum axiomatischen und zeitinvarianten Prinzip reformatorischer Rechtgläubigkeit zu stilisieren, um sie auf diese Weise selbst zum buchstäblichen, satzhaft-gesetzlich zu wahrenden Glaubensgegenstand zu erheben. Denn nach Maßgabe der entwickelten Argumentation kommt der Rechtfertigungslehre prinzipielle Bedeutung recht eigentlich nicht in ihrer spezifischen Gestalt, sondern in ihrer Funktion zu, gleichsam regulative Idee des Gesamtzusammenhangs reformatorischer Dogmatik in konstruktiver und kritischer Hinsicht zu sein. In diesem und nur in diesem Sinne ist der Rechtfertigungsartikel „articulus stantis et cadentis ecclesiae“ sowie Mitte und Grenze reformatorischer Theologie: „Mitte – das heißt: alles in reformatorischer Theologie ist auf sie bezogen; in ihr wird ja das subiectum theologiae zentral erfaßt. Grenze – das heißt: alles, was außerhalb des durch diese Mitte Bestimmten und Zusammengefaßten liegt, ist ‚error et venenum‘ in theologia.“ (Wolf, 14) „Um Gottes willen – Klarheit!“ Mit dieser emphaKriteriologische tischen Überschrift versah Eberhard Jüngel eine Funktion des Recht­ Reihe von kritischen Bemerkungen zur angeblichen fertigungsartikels bzw. tatsächlichen Verharmlosung der kriteriolo­ gischen Funktion des Rechtfertigungsartikels, welche er in Bezug auf den 1997 vorgelegten endgültigen Vorschlag einer „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (= GER ) von Lutherischem Weltbund und päpstlichem Einheitssekretariat meinte konstatieren zu müssen. Den unmittelbaren Anlass der Philippika bildete ein Beitrag von Jüngels ehemaligem Tübinger Kollegen und nachmaligem Bischof und Kardinal Walter Kasper in der Katholischen Nachrichtenagentur vom 12. August 1997. Kasper berichtete darin von der überaus positiven Aufnahme der GER bei der Neunten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes im Juli 1997 in Hongkong und erklärte diesen Vorgang zu einem höchst wichtigen Ereignis für die künftigen ökumenischen Beziehungen

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zwischen der römisch-katholischen Kirche und den Kirchen der lutherischen Reformation des 16. Jahrhunderts. Auch der Vorsitzende des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, Kardinal Edward Idris Cassidy, habe in Hongkong diesbezüglich zu Recht von einer großen Ermutigung und der Eröffnung einer neuen Phase und Dimension des römisch-katholisch-lutherischen Dialogs gesprochen. Es fehle freilich, so Kasper weiter, „nicht an kritischen Stimmen, vor allem aus der akademischen Theologie im deutschen Sprachraum, die den glücklicherweise erreichten Grundkonsens nochmals in Frage stellen. Die kritische Anfrage richtet sich nicht so sehr auf den Grundkonsens in den materialen Einzelfragen als auf die Frage, ob die ‚Gemeinsame Erklärung‘ der zentralen und der kriteriologischen Stellung, die der Rechtfertigungslehre in der lutherischen Reformation zukommt, gerecht wird.“ (Kasper, 5) Unter der Zwischenüberschrift „Die Rechtfertigung als unverzichtbares, aber nicht exklusives Kriterium“ bemerkte Kasper zu dieser Anfrage unter anderem folgendes: Als unverzichtbares Kriterium ist die Rechtfertigungslehre „nicht einfach ein Kriterium neben gleichberechtigten anderen Kriterien; sie hat auch nicht nur eine besondere, sondern eine unverzichtbare Funktion. Das heißt: Es ist nicht ins Belieben gestellt, ob man sie anwendet oder nicht; sie ist als Kriterium immer und in jedem Fall anzuwenden und kann nicht durch andere Kriterien außer Kraft gesetzt werden.“ (Kasper, 6) Eberhard Jüngel war mit dieser bischöflichen „Metakritik“ (Jüngel, 395) nicht zufrieden. Im Gegenteil: Kasper, so das professorale Verdikt, habe „da, wo ein klärendes Wort überaus angebracht gewesen wäre, theologischen Nebel erzeugt“ (ebd.). Wenn im Zusammenhang der Formel vom unverzichtbaren Kriterium überhaupt von Licht die Rede sein könne, dann, meint Jüngel, von „Zwielicht“ (Jüngel, 401): „Denn ein Kriterium ist entweder unverzichtbar oder aber überflüssig.“ (Jüngel, 400) Sollte der Sinn der Wendung vom unverzichtbaren Kriterium demnach der sein, alle denkbaren weiteren Kriterien für gegebenenfalls verzichtbar zu erklären? Oder wollte, ich zitiere Jüngels anschließende Frage, „Walter Kasper das keineswegs impliziert wissen? Sollte ‚unverzichtbar‘ nur eben dies besagen, daß das Kriterium – wie Kasper schreibt – ‚immer und in jedem Fall anzuwenden‘ ist und ‚nicht durch andere Kriterien außer Kraft gesetzt werden‘ kann? Doch wenn in diesem Sinne auch die anderen Kriterien, von denen Katholiken sich in Pflicht genommen sehen, unverzichtbare Kriterien sein sollen, dann kann die Rechtfertigungslehre ihnen gegenüber gerade nicht die kriteriologische Funktion wahrnehmen, die ihr nach reformatorischer Einsicht zusteht. Dann würde das ‚unverzichtbare Kriterium‘ der Rechtfertigungslehre durch die anderen ebenfalls unverzichtbaren Kriterien empfindlich relativiert werden. Und damit hätte der Rechtfertigungsartikel genau die Funktion verloren, die die lutherische Reformation ihm zuerkannt hat, nämlich ‚magister et princeps, dominus, rector et iudex super omnia genera doctrinarum‘ zu sein, ‚qui conservat et gubernat omnem doctrinam ecclesiasticam et erigit conscientiam nostram coram Deo. Sine hoc articulo mundus est plane mors et tenebrae‘.“ (Ebd. unter Verweis auf WA 39/I, 205,2–5) Ob Eberhard Jüngel sich zufrieden gezeigt hätte, wenn ihm katholischerseits folgende Antwort

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zuteil geworden wäre, muss offen bleiben: „Es konnte Übereinstimmung darüber erzielt werden, dass es keine gleichwertigen und unabhängigen Kriterien neben der Botschaft von der Rechtfertigung gibt, das Amt also nicht als zusätzliches Kriterium verstanden werden darf.“ (Neuner, 163) Der Artikel von der Rechtfertigung als der Meister und Fürst, der Herr, Lenker und Richter über alle Arten von Lehre, welcher – unser Gewissen vor Gott aufrichtend – alle kirchliche Lehre bewahrt und steuert und ohne welchen die Welt nichts als Tod und Finsternis ist – mit seinem unter Berufung auf Luther erfolgten kritischen Widerspruch gegen die von GER vorgenommene Bestimmung der kriteriologischen Funktion des Rechtfertigungsartikels und ihrer Verteidigung durch Walter Kasper hat Eberhard Jüngel dem gegenwärtigen theologischen Bewusstsein erneut das alte Problem präsentiert, was es denn heißt, wenn die Rechtfertigungslehre in reformatorischer Tradition der articulus stantis et cadentis ecclesiae genannt wird. Die Antwort kann nur lauten, dass das rechtfertigungstheologische Kriterium insofern einzigartige Bedeutung hat, als es im gesamten Lehrzusammenhang funktional am Werke ist gemäß der kritisch-normativen Maxime: „Alles Reden vom Menschen, das – explizit oder implizit – davon absieht, daß der Mensch vor Gott Sünder und schuldig ist, redet vom Menschen falsch. Alles Reden von Gott, das – explizit oder implizit – davon absieht, daß Gott derjenige ist, der den Sünder / Gottlosen rechtfertigt, redet von Gott falsch.“ (Lønning, 103) Die Rechtfertigungslehre hat als Mitte und Grenze Mitte und Grenze reforreformatorischer Theologie zu gelten. Sie ist dies matorischer Theologie freilich nicht in ihrer äußeren Gestalt als Teilstück der Glaubenslehre, sondern nach Maßgabe ihres inneren Sinngehalts, demzufolge sie als kritischer und konstruktiver Inbegriff aller Glaubenswahrheit fungiert. Dabei ist die konsequente Hinordnung des Recht­fertigungsartikels auf den konkreten Vollzug der Zusage des Versöhnungsevangeliums Jesu Christi in Wort und Sakrament strikt zu beachten, welche Hinordnung einerseits die Lehrgestalt reflexiv zu bestimmen hat und sie andererseits zugleich in einer Weise relativiert, wie sie dem erwähnten, die gesamte Glaubenswahrheit bestimmenden rechtfertigungstheologischen Sinngehalt gemäß ist. Die reine Verkündigung und die rechte Verwaltung der Sakramente dadurch zu gewährleisten, dass sie beide zu Medien der vorbehaltlosen göttlichen Gnade bestimmt werden, wie sie in Jesus Christus offenbar ist, dies ist die genuine Funktion des Rechtfertigungsartikels, in welcher er seinem theologischen Gehalt entspricht und ist, was er zu sein hat: „tragende Mitte und sichernde Grenze der Verkündigung des wirksamen Wortes Gottes in der Welt an sie, formelhafte Zusammen­fassung evangeliumsgemäßer Christusverkündigung.“ (Wolf, 15) Was in der Lehre von der Rechtfertigung angesagt ist, lässt sich mit einer regulativen Idee vergleichen, die in allen Momenten der Glaubenswahrheit bestimmend mitgesetzt ist. Hermeneutisch ergeben sich daraus u. a. folgende Konsequenzen: Will man der inneren Einheit reformatorischer Theologie gewahr werden, wird man in ihr jenen einheitsstiftenden Organisationszusammenhang zu entdecken haben,

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von dem her ihre inhaltlichen Bestimmungen zugleich auf ihre funktionale Bedeutung hin durchsichtig werden. Dabei ist davon auszugehen, dass der materiale Sinngehalt der Rechtfertigungslehre nicht unmittelbar von der Überzeugungskraft jener Vorstellungen abhängt, in deren Zusammenhang er ehedem zeitgemäß zur Sprache kam und die aufs engste verbunden sind mit der mittelalterlichen Bußtheorie. Man muss daher dasselbe gegebenenfalls auch anders sagen, gerade um es in seiner Selbigkeit entsprechend zum Ausdruck zu bringen. Die biblische Rechtfertigungsbotschaft gibt dafür ein kanonisches Exempel, das Luther u. a. dadurch befolgte, dass er seine rechtfertigungstheologische Grundeinsicht ebensogut im Kontext und in der Terminologie der Freiheitslehre explizieren konnte, wofür die Schrift „De libertate christiana“ von 1520 ein klassisches Beispiel gibt. Der Rechtfertigungsartikel ist nach reformatorischem Bekenntnis der Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt. Er ist dies nicht als ein Lehrstück unter anderen, sondern im Sinne einer regulativen Idee und eines organisatorischen Zentrums, das den gesamten Lehrzusammenhang zu innerer Einheit und zu einem integrierten Ganzen zusammenschließt. Nur so kann der Artikel von der iustificatio seine kriteriologische Funktion erfüllen. Dabei steht seine lehrhafte Form ganz im Dienst des Rechtfertigungsevangeliums, das der auferstandene Gekreuzigte in Person ist. Dem Osterevangelium Jesu Christi dogmatischen Ausdruck zu verschaffen, um seine Verkündigung zu befördern und die Geltung seines Sinngehalts auf konstruktive und kritische Weise zu bewahren, ist die vornehmste Aufgabe, die reformatorisches Bekenntnis der Rechtfertigungslehre zuweist. Der österlich erstandene und in der Kraft des göttlichen Geistes als Messias der Juden und Chris- Personaler Inbegriff tus der Heiden manifeste gekreuzigte Jesus von Na- des Rechtfertigungszareth hat nach reformatorischer Lehre als der per- evangeliums sonale Inbegriff des Rechtfertigungsevangeliums zu gelten. Daraus ergibt sich unmittelbar, dass der articulus stantis et cadentis ecclesiae ohne christologisch-trinitätstheologische Grundlegung ebensowenig ist, was er ist, wie ohne soteriologische Bezugnahme auf das in Sünde gefallene Menschengeschöpf und die Übel der kreatürlichen Welt. Der Rechtfertigungsartikel trägt lehrhafte Sorge dafür, dass der in Jesus Christus kraft seines Hl. Geistes offenbare Gott evangeliumsgemäß als deus pro nobis und deus pro me verkündigt wird, der sich in unbedingter und bedingungsloser Gnadenliebe dem Sünder und seiner Welt zuwendet, um wegen des Gekreuzigten und in seiner und durch seine Auferstehung gottmenschliche Versöhnung und Erlösung von allen Übeln zu bereiten. In diesem Sinne ist es nicht nur nicht falsch, sondern vollkommen richtig und dem reformatorischen Lehrbekenntnis gemäß, wenn gesagt wird: „‚Jesus ist auferstanden‘ – dieser Satz ist … zunächst und zuerst der wahre articulus stantis et cadentis ecclesiae, von dem sich allermeist die Struktur des Glaubens und der Theologie bestimmen lassen muß.“ (Ratzinger, Heilsgeschichte, 193) Ostern ist das Urdatum des Christentums und der bleibende Basisgrund des der kirchlichen Verkündigung aufgetragenen Rechtfertigungsevangeliums, weil im

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auferstandenen Gekreuzigten Gott in der Kraft seines Geistes als derjenige offenbar ist, der die Sünde um seiner Gerechtigkeit willen richtet, aber den Sünder aus Gnade um Christi willen aus Glauben rechtfertigt. Dabei ist es die am Kreuz vollbrachte und an Ostern in der Erscheinungsgestalt des Auferstandenen manifeste gottmenschliche Versöhnung, welche die Rechtfertigung des Sünders ermöglicht und bewirkt und dem Rechtfertigungsglauben einen verlässlichen Grund seines Heilsvertrauens gibt. Das sola fide gründet im solus Christus, weil der Glaube nur dann ist, was er ist, wenn er sich einzig und allein, ganz und gar auf denjenigen verlässt, in dem ihm der gerechte Gott als rechtfertigende Versöhnungsliebe begegnet. Dies geschieht im auferstandenen Gekreuzigten und durch den Geist, der ihn durch Wort und Sakrament bezeugt, um göttliches Heil zu wirken für Menschheit und Welt. In seiner Trilogie über „Jesus von Nazareth“ hat Joseph Ratzinger als damals amtierender Papst die These vertreten, dass der sog. historische Jesus, „wie er im Hauptstrom der biblischen Exegese aufgrund ihrer hermeneutischen Voraussetzungen erscheint, … inhaltlich zu dürftig (sei), als dass von ihm große geschichtliche Wirkungen hätten ausgehen können“ (Ratzinger, Jesus, 13): „er ist zu sehr in der Vergangenheit eingehaust, als dass persönliche Beziehung zu ihm möglich wäre.“ (Ebd.) Wie immer man diese These und ihre impliziten Voraussetzungen im Einzelnen zu beurteilen hat (vgl. Wenz), richtig ist, dass Jesus ohne Ostern nicht wäre, was er nach dem Bekenntnis christlichen Glaubens in Wirklichkeit ist. Der „reale Jesus“, wie Benedikt XVI. ihn nennt, erschließt sich, wenn man so will, nur in der differenzierten Einheit von historischem und kerygmatischem Jesus. Denn er ist keine Vergangenheitsgestalt, die nur von Gnaden des Bewusstseins derer lebt, die sich seiner erinnern, sondern selbst lebendiges Subjekt seines Gedächtnisses, das sich von sich aus zu vergegenwärtigen und in der Kraft des Hl. Geistes durch die Medien des Heils aktuell zu präsentieren und Zukunft zu eröffnen vermag. Gleichwohl ist der Tendenz zu wehren, den sog. historischen im kerygmatischen Jesus dergestalt aufgehen zu lassen, dass eine Gleichsetzung zustande kommt, die in Gefahr steht, die Differenz zu nivellieren, welche zwischen dem Kreuz Jesu von Nazareth und dem Ostergeschehen besteht. Diese Differenz ist nach menschlichem Ermessen nicht und wenn überhaupt nur von Gott her behebbar, der sie nach dem Bekenntnis des christlichen Glaubens tatsächlich und zwar so behoben hat, dass der auferstandene Christus und der gekreuzigte Jesus von Nazareth von Ewigkeit zu Ewigkeit eins sind. Die Identität Jesu Christi lässt sich nur in Form eines theologischen Urteils aussagen, das die nach menschlichem Ermessen unbehebbare Differenz, die zwischen Kreuz und Auferstehung waltet, nicht beseitigt, sondern bestätigt und zur Geltung bringt. Andernfalls tritt der Passionscharakter des Kreuzestodes Jesu Christi nicht so vor Augen, wie dies gerade in österlicher Perspektive der Fall zu sein hat. Es sind staurologische Gründe, die eine mehr oder Ratzingers minder unmittelbare Gleichsetzung von historiKreuzestheologie schem und kerygmatischem Jesus verbieten. Um das Anliegen reformatorischer theologia crucis unter

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Bezug auf das Jesusverständnis von Joseph Ratzinger noch einmal ansatzweise zu verdeutlichen: Seine Darlegungen zu Kreuzigung und Grablegung schließen mit einem Abschnitt über „Jesu Tod als Versöhnung (Sühne) und Heil“ (­R atzinger, Jesus, 254 ff.), in dem anhand einer Exegese einiger Paulustexte und Worte aus dem Hebräerbrief Sinn und Bedeutung des Kreuzesgeschehens zusammenfassend entfaltet werden. Der Grundsatz lautet, dass der prophezeite und von frommen Juden erwartete, aber „bisher noch nicht definierte neue Kult“ (Ratzinger, Jesus, 254) am Kreuz von Golgatha „Wirklichkeit geworden“ (ebd.) sei. „Im Kreuz Jesu war das geschehen, was in den Tieropfern vergeblich versucht worden war: Die Welt war entsühnt. Das ‚Lamm Gottes‘ hatte die Sünde der Welt auf sich genommen und weggetragen. Das durch die Schuld der Menschen gestörte Verhältnis Gottes zur Welt war erneuert. Versöhnung war geschehen.“ (Ebd.) Grundgelegt und vollzogen wurde das Versöhnungsgeschehen durch den Gehorsam Jesu, der sich in seiner Passion vollendete. In der vollkommenen Selbsthingabe, wie sie sich in seinem Leiden und Sterben ereignet, ist das eine Opfer erbracht, durch welches alle bisherigen aufgehoben und an ihr Ende gebracht sind. „Die Tempelopfer – die kultische Mitte der Tora – hatten ausgedient. Christus war an ihre Stelle getreten.“ (Ratzinger, Jesus, 255) In der vollkommenen Selbsthingabe Jesu am Kreuz sind alle Tempelopfer be­ endet, weil durch das Kreuzesopfer ein für allemal versöhnende Sühne geleistet wurde. Nach Ratzinger ist dies deshalb der Fall, weil im Tode des Menschen Jesus Gottes unendliche Güte sich nicht nur der menschlichen Endlichkeit, sondern allen Leids, ja aller Schuld angenommen hat, um sie auf sich zu nehmen. „Gott selbst richtet sich als Ort der Versöhnung auf und nimmt das Leid in seinem Sohn auf sich. Gott selbst schenkt seine unendliche Reinheit in die Welt hinein. Gott selbst ‚trinkt den Kelch‘ alles Schrecklichen aus und stellt so das Recht wieder her durch die Größe seiner Liebe, die im Leid das Dunkle verwandelt.“ (Ratzinger, Jesus, 256) Im Kreuz Jesu Christi, des inkarnierten Logos, ist das göttliche Werk gottmenschlicher Versöhnung vollbracht. Im Leiden und Sterben Jesu wirkt Gott selbst Sühne, um sich mit der in Sündenschuld gefallenen Menschheit zu versöhnen und die Welt von allen Übeln zu erlösen. Vorausgesetzt ist dabei stets, dass es sich bei dem gekreuzigten Jesus um den inkarnierten Logos und Sohn Gottes handelt. „Der Logos selbst, der Sohn, wird Fleisch; er nimmt einen menschlichen Leib an. So ist ein neuer Gehorsam möglich, ein Gehorsam, der über alle menschliche Erfüllung der Gebote hinausreicht. Der Sohn wird Mensch und trägt in seinem Leib das ganze Menschsein zu Gott zurück. Erst das fleischgewordene Wort, dessen Liebe sich am Kreuz vollendet, ist der vollkommene Gehorsam.“ (Ratzinger, Jesus, 259)­ Ratzingers theologia crucis wird vom Inkarnationsgedanken her entwickelt, der zugleich den stellvertretenden Charakter sowohl des Lebens als auch des Leidens und Sterbens Jesu begründet. Als Inkarnationsgestalt des Logos umschließt Jesus die ganze Menschheit mitsamt ihrer Welt, um sie durch den von und in ihm gestifteten neuen Kult seiner Kirche hineinzunehmen in seine Geschichte und insbesondere in sein Kreuzesgeschehen, in welchem sich sein Gehorsam vollendet. „Sein

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leibhaftiger Gehorsam ist das neue Opfer, in das er uns alle mit hineinzieht und in dem zugleich all unser Ungehorsam aufgehoben ist durch seine Liebe.“ (Ratzinger, Jesus, 259) Vermittels des kirchlichen Kults und seiner Zentralvollzüge Taufe und Eucharistie schenkt der auferstandene Gekreuzigte in der Kraft des göttlichen Geistes lebendigen Anteil an der Wirklichkeit seines tätigen und leidenden Gehorsams und damit an der Versöhnungswirklichkeit selbst, die im Glauben empfangen wird, freilich nicht mere passive, sondern so, dass die Empfänger selbst Täter des Empfangenen werden: „(D)ie Größe der Liebe Christi zeigt sich eben darin, dass er uns in all unserer Armseligkeit in sich, in sein lebendiges und heiliges Opfer aufnimmt, so dass wir wirklich ‚sein Leib‘ werden.“ (Ratzinger, Jesus, 261) Jesu Christi Opfer gehorsamer Selbsthingabe ist stellvertretend erbracht, aber in der Weise einer inklusiven Stellvertretung, die mittels des Kults der Kirche die Vielen, ja, man darf wohl immer noch sagen: alle in sich zu schließen bestrebt ist. Christliche Existenz, wie sie von den Märtyrern vorbildlich gelebt wurde, ist darauf angelegt, eins zu werden mit dem Geheimnis Jesu Christi, auf dass sich dieses im Leben und Leiden des Christen selbst mitteilt und, wie es abschließend heißt, „seine Liebe uns selber zur Gabe an Gott und die Menschen werden lässt“ (Ratzinger, Jesus, 264). Die Ausführungen Joseph Ratzingers alias Benedikt XVI. zu Jesu Tod als Versöhnung und Heil schließen mit der Mahnung, das Geheimnis der Sühne nur ja „keinem besserwisserischen Rationalismus“ (Ratzinger, Jesus, 264) zu opfern. Die kritische Anfrage mag daher überraschen, „ob die Heilsbedeutung des Kreuzes in Ratzingers Auslegung nicht unterbestimmt wird. Anders als viele moderne Theologen bekennt sich Ratzinger zum Sühnecharakter des Sterbens Christi. In seiner Entfaltung des Sühnegeschehens bleibt er jedoch hinter dem zurück, was nicht nur in der kirchlichen Tradition, sondern auch im Neuen Testament dazu gesagt wurde.“ (Swarat, 174) Um durch Zitation dieser Anfrage nicht den Eindruck zu erwecken, päpstlicher sein zu wollen als der Papst, seien einige kommentierende Erläuterungen angefügt, ohne die nachgerade in der Versöhnungslehre statt Verständnis nur Missverständnisse befördert werden. Der Sühnegedanke ist nicht leicht zu fassen und insbesondere dann nicht, wenn er sich mit der Opfervorstellung und dem Stellvertretungsmotiv verbindet. Nicht von ungefähr ist die traditionelle Lehre vom stellvertretenden Sühnopfer Jesu Christi am Kreuz seit der Zeit der Sozinianer Gegenstand heftigster Kritik außerhalb, aber auch innerhalb von Theologie und Kirche. Diese Kritik richtet sich einerseits unter Anführung sittlicher Gründe gegen die Annahme, Stellvertretung sei im Falle persönlicher Schuld möglich, andererseits dagegen, der göttlichen Gerechtigkeit müsse durch Sühnopfer Genüge getan werden, um Versöhnung zu leisten. Beide kritischen Einwände gegen die Sühnopferlehre, die im Laufe der Moderne unterschiedlich vaProblematische riiert wurden, sind theologisch ernst zu nehmen. Sühnopferlehre Ernst zu nehmen ist allerdings auch die Tatsache,

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dass sowohl die neutestamentliche Tradition als auch die kirchliche Überlieferung mit einem stellvertretenden Sühnopfer des gekreuzigten Jesus Christus rechnen. Zwar ist die Sühnopfervorstellung nicht die einzige Form der Deutung des Todes Jesu Christi. Daneben oder im Zusammenhang mit ihr findet sich eine Reihe von Modellen, die an anderen Kontexten orientiert sind, etwa an medizinischen, politischen oder militärischen. Auch die Verbindung von Versöhnungs- und Opfergedanken ist variabel ganz abgesehen davon, dass der Gedanke des Opfers nicht notwendig auf überkommene Kultpraktiken festgelegt ist. Differenzierung ist nicht nur in Bezug auf die exegetischen Befunde, sondern auch in theologiegeschichtlicher Hinsicht nötig, wie sich am Beispiel der Satisfaktionslehre Anselms von Canterbury und ihrer Wirkungsgeschichte paradigmatisch erweisen lässt. Ging Anselm von der Alternative „aut poena aut satisfactio“ aus, so lehrte etwa die Dogmatik der altprotestantischen Orthodoxie ausdrücklich eine Genugtuung durch Strafleiden und wies die Theorie einer Satisfaktion in Form von Strafersatz ab. Der Sühnopfergedanke nimmt so die Form einer Strafleidenstheorie an, wie sie schon Luther vertrat, um die Passion Jesu Christi als konstitutives Moment des Geschehens gottmenschlicher Versöhnung zu bezeugen. Hält man sich an Luther, dann kommt dem Gottverlassenheitsschrei Jesu am Kreuz eine hermeneutische Zentralbedeutung für das Verständnis des gesamten gottmenschlichen Versöhnungsgeschehens zu. „Die Radikalität und vergleichungslose Schärfe dieses seines besonderen Leidens an der Abwesenheit Gottes in extremis darf auf keinen Fall unterbetont oder gar ausgeblendet werden, denn sie betrifft zentral den Sachverhalt, dass und wie Gott auf eine (auch für Jesus) unverwechselbar neue, schöpferische Weise eben dieses Todesleiden zum Ort seiner versöhnenden Gegenwart gemacht hat.“ (J. Ringleben, 134) Jesu Christi Schrei am Kreuz (Mk 15,34) gemahnt, seine Person als „Ort eines zerreißenden Widerspruchs zu begreifen“ (Ringleben, 130), der nur von Gott her zu beheben und dessen vollzogene Behebung durch keinen vorgefassten Gottesbegriff, sondern nur trinitätstheologisch zu erfassen ist. Worin hat der zerreißende Widerspruch, wie er am Kreuz manifest ist und im Schrei des Gekreuzigten zum Ausdruck kommt, seinen tiefsten theologischen Grund? Nach Luther ist er in der das Innerste der Gottheit berührenden Differenz begründet, die zwischen Gottes in der Thora offenbaren universalen Gerechtigkeit und der vorbehaltlosen Vaterliebe waltet, die Jesus in seiner Reich-Gottes-Botschaft in Wort und Tat verkündet hat. Diese Differenz ist durch keinen menschlichen Theorie- und Praxisvollzug zu beseitigen. Die versöhnende Synthese ist alleiniges Werk Gottes, wie er im auferstandenen Gekreuzigten in der Kraft seines Hl. Geistes offenbar ist, um vom Glauben als der dreieinige bezeugt zu werden. Der das Innerste der Gottheit berührende Konflikt zwischen der universalen Gerechtigkeit des einen Gottes, wie ihn der jüdische Thoramonotheismus in einer für alle Zeiten verbindlichen Weise bezeugt, und dem unbedingten Liebeswillen des Vaters Jesu Christi, der kein anderer ist als der Gott Israels, wurde am Kreuz Jesu Christi ausgetragen, um durch Auferweckung und Auferstehung des Gekreuzigten

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einer Versöhnung zugeführt zu werden, in der Gerechtigkeit und Liebe Gottes nicht länger unvereinbar, sondern dergestalt vereint sind, dass Gesetz und Evangelium unter evangelischen Bedingungen – auf differenzierte Weise und ohne ihre Spannung zu verlieren – zusammenbestehen können. Der soteriologische Sinn des trinitarischen und christologischen Dogmas erschließt sich nach reformatorischer Lehre in der Explikation dessen, was alles menschliche Begreifen transzendiert und in seiner Unvordenklichkeit nur religiös und durch Glauben zu erfassen ist, der sich kraft des Geistes auf die Offenbarung Gottes im auferstandenen Gekreuzigten verlässt: Der allmächtige Gott ist in seiner trinitarischen Gottheit absolute Gerechtigkeit und nichts als reine Liebe, die den Sünder bedingungslos rechtfertigt, ohne das Böse gut sein zu lassen und den Unrechtleidenden ihr Recht auf Gerechtigkeit zu entziehen. Der Rechtfertigungsartikel als der Artikel, mit dem Der Vater Jesu Christi als nach reformatorischem Bekenntnis die christliche Gott Israels Kirche steht und fällt, lehrt, dass wir Gerechtigkeit vor Gott aus Gnade um Christi willen durch Glauben erlangen. Das „propter Christum, qui sua morte pro nostris peccatis satis­ fecit“ (CA IV,2), darf dabei nicht unterschlagen werden. Ob und inwieweit die Satis­faktionsvorstellung bzw. die Vorstellungen von Sühnopfer oder Strafleiden angemessene Deutekategorien des Kreuzesgeschehens darstellen, bedarf eingehender Prüfung, die ohne genaue exegetische und theologiegeschichtliche Kenntnisse nicht zu leisten ist. Ihre Erläuterungsbedürftigkeit wird kein Kenner der Materie bestreiten. Doch erbringt man die nötige Interpretationsleistung nicht dadurch, dass man traditionelle Deutekategorien umstandslos als anachronistisch und unzeitgemäß verabschiedet, sondern nur dann, wenn man die jesuanische Botschaft von der unendlichen Vaterliebe Gottes, der bedingungslos vergibt, nicht ablöst von dem nachgerade von Jesus selbst geteilten Glauben Israels, dass der eine und allmächtige Gott ein Gott universaler Gerechtigkeit ist, der dem Unrecht wehrt und den Rechtlosen und Unrecht Leidenden Recht verschafft. Der Vater Jesu ist kein anderer als der Gott Israels. Will man an diesem Grundsatz festhalten und nicht im Antinomismus enden, wird man den religiösen Konfliktgehalt der Botschaft Jesu und den potentiellen und tatsächlichen Gegensatz nicht gering achten dürfen, der zwischen der theologisch unaufgebbaren Gewissheit der universalen Gerechtigkeit des einen und allmächtigen Gottes und dem Glauben an Gottes bedingungslose Versöhnungsliebe waltet. Liebe ohne Gerechtigkeit hat ebenso wenig Bestand wie ein Christentum ohne Judentum. Eben aus dieser Einsicht heraus hat das frühe Christentum den Kreuzestod Jesu in traditionellen Vorstellungsformen jüdischer Überlieferung gedeutet, um in ihnen und durch sie hindurch das unvergleichlich Neue zu bezeugen, das in der österlichen Erhöhung des Gekreuzigten offenbar geworden ist: Der gerechte Gott rechtfertigt den Sünder, der dem Evangelium Jesu Christi glaubt. Nicht als ob Gott durch äußeres Einwirken hätte gnädig gestimmt und in seinem Zorn über die Sünde durch den Opfertod eines Menschen hätte besänftigt wer-

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den müssen. Diese Annahme ist in der Tat zu anthropomorph, um theologisch überzeugend zu sein. Doch nicht minder unangemessen ist es, das Leben, Leiden und Sterben Jesu lediglich als zeitliche Manifestation eines zeitlos-ewigen Liebes­ willens Gottes auszulegen. Das Leben Jesu und nachgerade sein Tod erweisen sich im Lichte Osterns nicht lediglich als Exempel, sondern als Sakrament, nämlich als reales Wirkzeichen göttlicher Gnadenliebe, von der ohne dieses Wirkzeichen nicht die Rede sein könnte. In diesem Sinne klärt das Kreuz des Auferstandenen nicht nur über ein Verhältnis auf, das zwischen Gott und Mensch seit jeher bestand, auch wenn es menschlicherseits bisher weitgehend missverstanden wurde. Es steht vielmehr für ein neues Verhältnis ein, das ohne den auferstandenen Gekreuzigten und seinen Geist nicht bestünde. Von hierher und nur von hierher ergibt sich dann auch ein entsprechender Zugang zum Stellvertretungsgedanken. Um auf die Deutung zurückzukommen, die Benedikt XVI. dem Kreuzesgeschehen im zweiten Teil seines Jesusbuches hat zuteil werden lassen: Zentral ist für ihn der Gedanke vollkommener Hingabe, die Jesus im Leben und im Sterben bis in den Tod hinein seinem göttlichen Vater durch tätigen Gehorsam geleistet hat, um im Geist seiner Auferstehung die Vielen in diesen hineinzuziehen, damit sie durch Glauben teilhätten an seiner Vollendung. Zu fragen ist, ob mit diesem Gedanken dem Passionscharakter des Leidens und Sterbens Jesu Christi und demjenigen hinreichend Rechnung getragen wird, was sich im Gottverlassenheitsschrei des Gekreuzigten unartikulierten Ausdruck verschaffte. Für Paulus und Luther jedenfalls stellte sich das Passionsgeschehen nicht nur als letzte Konsequenz eines ganz Gott hingegebenen Lebens, sondern zugleich als ein Ereignis dar, in dem das Gericht des gerechten Gottes sich an demjenigen auswirkte, der Sohn seines himmlischen Vaters nicht sein wollte ohne die verlorenen Söhne und Töchter des gefallenen Menschengeschlechts. Dem Sünderfreund drohte der gerechte Gott selbst feind zu werden, und er ist es ihm am Kreuz tatsächlich geworden, was den Gekreuzigten gerade in seinem Gottesverhältnis in eine exklusive Einsamkeit und an einen Ort führte, den Hölle zu nennen aller Grund besteht. Ohne diese abgründige Exklusivität der Passion Jesu Christi ist nach paulinisch-reformatorischem Urteil das österliche Heil göttlicher Versöhnung mit dem Sünder und das Evangelium seiner Rechtfertigung ebenso wenig zu fassen wie die universale Inklusivität, auf welche das durch den Gekreuzigten – in seiner alleinigen, allein vom dreieinigen Gott geteilten Einsamkeit – gewirkte Heil angelegt und hingeordnet ist.

16. Schicksalskontingenz und Erlösungshoffnung Lit.: W. W. Bartley, Flucht ins Engagement. Versuch einer Theorie des offenen Geistes, München 1964. – G. Büchner, Werke und Briefe, München 71973. – W. B. Drees (Ed.), Is Nature Ever Evil? Religion, Science and Value, London 2003. – H. Deuser, Art. Kontingenz II. Theologisch, in: TRE 19, 551–556.  – T. Eagleton, Das Böse, Berlin 2011.  – A. Faust, Der Möglich­ keitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen. 2 Bde., Heidelberg 1931/32. – B. Gesang, Angeklagt: Gott. Über den Versuch, vom Leiden in der Welt auf die Wahrheit des Atheismus zu schließen, Tübingen 1997. – Chr. Gestrich, Peccatum – Studien zur Sündenlehre, Tübingen 2003. – D. Henrich, Glück und Not, in: H. Weinrich (Hg.), Positionen der Negativität, München 1975, 512–518. – F. Hermanni, Das Böse und die Theodizee. Eine philosophisch-theo­ logische Grundlegung, Gütersloh 2002.  – W. Iser, Laurence Sternes „Tristram Shandy“. In­ szenierte Subjektivität, München 1987.  – G. W. Leibniz, Die Theodizee. Übersetzung von A. Buchenau, Hamburg 21968. – C. S. Lewis, Über den Schmerz. Mit einem Nachwort von J. Pieper, München 1978. – S. Lewitscharoff, Vom Guten, Wahren und Schönen. Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen, Berlin 2012.  – H.  Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Graz / Wien / Köln 1986. – N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft. Hg. v. A. Kieserling, Frankfurt a. M. 2000. – O. Marquard, Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 2004. – N. Murphy / R. J. Russell / W. R. Stoeger (Eds.), Physics and Cosmology. Scien­tific Perspectives on the Problem of Natural Evil, Vatican City State 2007.  – G. Neuhaus, Theodizee – Abbruch oder Anstoß des Glaubens, Freiburg / Basel / Wien 1993. – W. Oelmüller (Hg.), Worüber man nicht schweigen kann. Neuere Diskussionen zur Theodizeefrage, München 1994. – G. Renz, Zufall und Kontingenz. Ihre Relevanz in philosophisch-kosmogonischen, evolutionären und schöpfungstheologischen Konzeptionen, Tübingen 1996.  – J. Schmidt, Klage. Überlegungen zur Linderung reflexiven Leidens, Tübingen 2011.  – R. Spaemann, Das un­ sterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne, Stuttgart 2007. – W. Sparn, Das Bekenntnis des Philosophen. Gottfried Wilhelm Leibniz als Philosoph und Theologe, in: ders., Frömmigkeit, Bildung, Kultur. Theologische Aufsätze I: Lutherische Orthodoxie und christliche Aufklärung in der Frühen Neuzeit, Leipzig 2012, 187–232. – A. Stifter, Abdias (1842), in: ders., Werke. Zweiter Teil: Studien. Dritter und vierter Band. Hg. v. G. Wilhelm, Berlin / Leipzig / Wien / Stuttgart 1910, 227–307. – P. Vogt, Kontingenz und Zufall. Eine Ideenund Begriffsgeschichte, Berlin 2011. – F. J. Wetz, Das nackte Daß. Die Frage nach der Fakti­ zität, Pfullingen 1990.

Um es vorweg zu sagen: die Hoffnung, das Problem von schicksalskontingentem Übel einer theoretischen oder praktischen Lösung zuführen zu können, die es beseitigt, wird enttäuscht werden. Das Problem bleibt und zwar gerade dann, wenn es adäquat wahrgenommen wird. Nicht um Beseitigung des Problems, sondern um seine Identifizierung geht es im Folgenden und darum, der Klage, die Keine Lösung

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nach Erlösung schreit, zu ihrem Recht zu verhelfen. Der Skopus der Ausführungen ist auf die Verheißung gerichtet, dass Gott sich des „kläglichen“ Lebens annehmen und seinen Schrei in Jesus Christus erhören wird, ja in der Kraft seines Geistes schon erhört hat, der sich unserer Schwachheit annimmt und für uns eintritt „mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können“ (Röm 8,26). Die Theologie wird sich, wo es um übles Leid geht, religiös zu bescheiden haben: Sie hat keine Erlösungsrezepte zu bieten, die Not in Freude und Klage in Lob verwandeln. „Klage ist Klage wie Leiden Leiden ist, Schmerz Schmerz, Not Not. Klage macht Gott als letztgültig Verantwortlichen ansprechbar, indem sie ihn – mit Hilfe biblischer und liturgischer Sprache – noch im Eindruck seiner radikalen Abwesenheit anredet. Die klagende Anrede Gottes als Rede unter dem Eindruck seiner Abwesenheit ist daher kein Ereignis gottinniger Intimität, wie die Rede vom Festhalten des Klagenden an Gott suggeriert. Klage verklagt den deus absconditus beim deus revelatus, d. h. sie lässt, zugleich bedrängend und sich distanzierend, vor diesem ihr Leid an jenem zum Ausdruck kommen, auf dass die Klage gehört und dem Klagenden in diesem Leben ein anderes Leben zuteil werde“ (Schmidt, 175 f.) – ein Leben, das auch den Tod umfasst und über ihn hinausweist ins ewige Leben. Nachdem dies vorweg gesagt ist, habe nun der Großtheoretiker der Theodizee das Wort, damit erkundet werde, was bei ihm malum metaphysicum, malum physicum und malum morale heißt. Gottfried Wilhelm Leibniz wird gerne der letzte Universalgelehrte genannt. Tatsache ist, dass er Letzter Universalgelehrter nicht nur als Philosoph, sondern auch als Mathematiker, Physiker und Techniker, Jurist und Politologe sowie als Sprach- und Geschichtsforscher höchst erfolgreich tätig war. Grundlegend für seine Metaphysik ist die Idee der Monade und der prästabilierten Harmonie. Monaden bilden je für sich ein mikrokosmisches Ganzes, welches das makrokosmische All vorstellungshaft reflektiert. Die Verschiedenheit der individuellen Universen ist durch den verschiedenen Grad monadischer Perzeption bestimmt. Während die göttliche Monade reine Selbsttätigkeit ist, kein Moment untätiger Passivität in sich enthält und daher als Inbegriff von Welt zugleich als deren schöpferisches und erhaltendes Prinzip fungiert, bilden die gottunterschiedenen Monaden eine Stufenreihe, die von den geschaffenen Geistmonaden über die bloß fühlenden in den vegetabilischen und anorganischen Bereich hinabführt bis hin zur „monade tout nue“ als der untersten Monadenrangstufe. Sind die unteren Monadenstufen mehr oder minder von Gesetzen eines Naturmechanismus geleitet, deren Geltungsbereich alles umfasst, was die monadische Geistes- und Vorstellungskraft äußerlich beschränkt, so kommen Freiheit und Weisheit im Reich der Notwendigkeit, ohne dieses einfachhin zu beseitigen, zu umso stärkerer Herrschaft, je mehr sich das selbsttätige Wesen der Monaden Geltung verschafft, das von den Gesetzen innerer Zweckursächlichkeit bestimmt ist. Nach Leibniz befinden sich alle Monaden in einem Grundverhältnis prä­ stabilierter Harmonie, die ihren Gesamtzusammenhang kennzeichnet und den Inbegriff ihrer Beziehungen zueinander charakterisiert. Die Gesamtfolge und der Ge-

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samtumfang aller existierenden Entitäten, die der Weltbegriff benennt, hat entsprechend als wohlgeordnet, die Grundmelodie des Kosmos als harmonisch und auf Zusammenklang gestimmt zu gelten. Zwar hätte Gott kraft seiner absoluten Schöpfermacht auch eine andere Welt erschaffen können; doch hat er aus der Unendlichkeit möglicher Welten, die zu schaffen in seinem Vermögen stand, gemäß seiner vollkommenen Vernunft und Weisheit, die seinem Willen wesentlich und ohne die zu handeln er prinzipiell nicht gewillt ist, in freier Notwendigkeit und notwendiger Freiheit jene gewählt, welche alternativlos als die denkbar beste zu erkennen und zu beurteilen ist. Es ist Zweck und Ziel der Leibniz’schen „Essais de Theodicée“ von 1710, auf die bereits ausführlich Bezug genommen wurde (vgl. Bd. 8, 323 ff.), diese Erkenntnis und dieses Urteil als vernunftgemäß zu erweisen und gegen Argumente zu verteidigen, die ihnen entgegengesetzt sind. Formal bedient sich Leibniz dabei der logischen Grundsätze, die nach Maßgabe seiner Wissenschaftslehre die apriorischen Bedingungen aller möglichen Erkenntnis darstellen, nämlich des Satzes der Identität, dem ausnahmslos alle Vernunftwahrheiten zu entsprechen haben, des korrespondierenden Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch und des Satzes vom zureichenden Grund. Die Argumente gegen das System prästabilierter System prästabilierter Harmonie und seine Zentralthese der bestmögHarmonie lichen Weltordnung, in der alles grundlegend und auf prinzipiell stimmige Weise geregelt ist, bündeln sich in dem Zentraleinwand, wonach eine Welt, in der es Böses in Gestalt von Sünde und Leiden gibt, nicht die beste aller möglichen sein könne, weil eine Welt ohne Schlechtes jedweder Art eine zweifellos bessere wäre. Um ansatzweise zu verstehen, wie Leibniz dem gegnerischen Einwand begegnet, ist zunächst die Kenntnis der Differenzierungen vonnöten, mittels derer er den Begriff des malum zu präzisieren sucht. Unterschieden wird zwischen malum im metaphysischen, moralischen und physischen Sinn. Das malum physicum besteht im Erleiden von Übeln, das malum morale in schuldhaften Verfehlungen und Sünde, das malum metaphysicum, welches der Möglichkeit und der sich aus ihr möglicherweise ergebenden Tatsächlichkeit des Schlechten zugrunde liegt, in einer Unvollkommenheit, die im Begriff der Welt als solcher notwendig mitgesetzt ist. Leibniz umschreibt sie als „simple imperfection“. Als geschaffen und vom Schöpfergott unterschieden ist jede denkbare Welt als universaler Inbegriff aller endlichen Entitäten vernunftnotwendig als unvollkommen zu denken. Die Unvollkommenheit der Welt liegt in ihrem ursprünglichen Wesen insofern begründet, als sie nicht in sich, sondern in Gott gründet, von dessen Vollkommenheit sie mithin zu unterscheiden ist. Die Unterschiedenheit von Gott ist in der Bestimmung der Welt als Schöpfung unmittelbar mitenthalten. Gilt dies, dann kann die geschaffene Welt nach Leibniz nicht so vollkommen sein wie Gott, sondern nur in einer Weise, die ihrer grundlegenden Gottunterschiedenheit und der darin mitgesetzten Unvollkommenheit Rechnung trägt. Die Vollkommenheit der Welt, die Leibniz keineswegs generell in Abrede stellt, sondern im Gegenteil in

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spezieller Hinsicht zu beweisen sucht, ist als weltliche Vollkommenheit unvollkommene Vollkommenheit, will heißen: von Gott und der göttlichen Vollkommenheit ursprünglich und wesentlich verschiedene Vollkommenheit. Ihre Unvollkommenheit besteht in nichts anderem als in ihrer Gottunterschiedenheit, die für Begriff und Sein von demjenigen konstitutiv ist, was Welt heißt. In der für Begriff und Sein von Welt konstitutiven Gottunterschiedenheit, die ihre Unvollkommenheit im Sinne von „simple imperfection“ ausmacht, ist die Möglichkeit von malum als nicht ausgeschlossen mitgesetzt und zwar auf alternativlose Weise. Metaphysisches malum als Möglichkeitsgrund des physischen und des moralischen ist durch das schiere Faktum von Welt bzw. durch ihren Charakter als Schöpfung bedingt. Vermeiden ließe sich das malum metaphysicum nur unter Vermeidung einer geschöpflichen Welt überhaupt; ansonsten hat es als unvermeidbar zu gelten. Gott ist in seiner Unendlichkeit an sich selbst vollkommen, Welt als der Inbegriff des Gottunterschiedenen endlich und unvollkommen im Sinne begrenzter Vollkommenheit. In ihrer begrenzten Vollkommenheit, die ausmacht, was Leibniz ihre einfache bzw. bloße Unvollkommenheit nennt, ist die Möglichkeit des malum als Potentialität angelegt, welche prinzipiell ausschließen zu wollen auf eine metaphysische Unmöglichkeit hinausliefe, weil Welt ohne malum metaphysicum nun einmal nicht zu denken ist. Die Weltaffirmation, wie sie durch Gott und seine Schöpfung gleichermaßen geboten ist, schließt den Willen eines prinzipiellen malum-Ausschlusses als unvernünftig und vernunftwidrig aus. Damit glaubt Leibniz seine Gegner im Grundsatz widerlegt zu haben. Gehört es doch ihm zufolge notwendigerweise zum Begriff der Welt überhaupt und speziell zu demjenigen endlicher Vernunftwesen, in ihrer Vollkommenheit beschränkt und in der damit gegebenen Unvollkommenheit gegen Schlechtes nicht immun und im Falle gegebenen Verschuldungsvermögens grundsätzlich fähig zu sein, Böses zu tun. Die Faktizität sowohl des malum morale als auch des malum physicum stellt nach Leibniz keineswegs Gottunterschiedenheit per se einen Einwand gegen die These dar, dass die der Welt gegebene Welt die beste aller denkbaren sei. Eine bessere nämlich könnte nur gedacht werden, wenn auf den Gedanken von Welt überhaupt verzichtet würde, was in sich widersprüchlich und nicht nur fakten-, sondern auch und vor allem vernunftwidrig wäre. Der Grundsatz der Identität und des zu vermeidenden Widerspruchs verbietet es nach Leibniz, den Gedanken einer Welt zu denken, die als von Gott unterschiedene zugleich Gott gleich wäre und ebenso vollkommen wie er. Schöpfer und Geschöpf sind different und können in ihrer Differenz nicht unmittelbar identisch gesetzt werden. Damit sei ein zureichender Grund für die Unvollkommenheit der Welt und für jenes malum meta­physicum angegeben, welches unveräußerlich der Welt zugehört, weil ohne es von Welt nicht die Rede sein könnte. Ein eigentliches Übel kann das malum metaphysicum nicht oder nur unter dem Vorbehalt genannt werden, dass es mit der Gegebenheit der Welt als Welt not­ wendig mitgegeben ist. Es bezeichnet keinen Mangel weltlichen Wesens, sondern

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gehört bestimmungsmäßig und unveräußerlich zur Natur von Welt. Abwegig und falsch wäre es, Leibniz deshalb der Fatalisierung des Schlechten zu bezichtigen und ihm einen metaphysischen Determinismus zu unterstellen, der die Faktizität des Bösen zu einer zwangsläufigen Notwendigkeit macht. Hat doch nach seinem Urteil jedenfalls das malum morale keinesfalls als schicksalhaftes Geschick, sondern als Schuld zu gelten, die auf einen Missbrauch von Freiheit, nicht auf naturhafte Zwangsmechanismen zurückzuführen ist. Moralisches Übel im Sinne von schuldhafter Verfehlung und Sünde ist zwar seiner schieren Möglichkeit nach in der unvollkommenen Verfasstheit der Welt angelegt, aber durch diese Anlage keineswegs erzwungen. Vielmehr ist es so, dass die Realisierung der welthaft nicht ausgeschlossenen und auszuschließenden Möglichkeit und damit die aktuale Setzung des malum morale der Selbstbestimmung vernunftbegabter und zu vernünftiger Willenstätigkeit befähigter Geschöpfe zuzurechnen ist. Sie haben unbeschadet des Vermittlungszusammenhanges, in dem sie sich befinden, das Böse unmittelbar verschuldet und als Schuld zu verantworten. In diesem Sinne ist das malum metaphysicum vom malum morale zwar nicht zu trennen, aber kategorial zu unterscheiden. Weil sie nicht nur Teile der makrokosmischen Welt sind, sondern selbst je für sich einen Mikrokosmos bilden, dessen vernünftige Bestimmung es ist, sich willig in die prästabilierte Harmonie der Gesamtordnung einzufügen, hat jedes dieser Ordnung entgegengesetzte Streben und Tun als schöpfungs- und vernunftwidrige Schuld zu gelten. Kein Mensch ist gezwungen, das malum morale zu realisieren, dessen Realisierungsmöglichkeit durch das malum metaphysicum zwar nicht ausgeschlossen, aber ebensowenig im Sinne einer Naturnotwendigkeit bedingt ist. Wer dennoch moralisch Böses übt, ist selbst schuld und kann seine Schuld nicht auf die Verfassung der Welt schieben, die als die denkbar beste durch das malum morale keine Förderung, sondern eine Beschränkung ihrer Erkenntnis erfährt, die weniger in der Beschränktheit der Welt als in der Selbstbeschränkung der Vernunft und im verkehrten Gebrauch ihrer Gaben begründet liegt. Leibniz nennt den das malum morale begründenden Grund im Anschluss an die Tradition bezeichnenderweise nicht causa efficiens, sondern causa deficiens, um ihn so dezidiert von der Ursächlichkeit zu unterscheiden, welche die Welt und alles, was ihr zugehört, ursprünglich trägt und auf stimmige Weise ordnet und lenkt. Im malum morale ist recht eigentlich keine Ursache wirksam, die vernünftigerweise mit Gott und der genuinen Ordnung der Welt in Verbindung gebracht werden könnte; wirksam ist in ihr nur eine Verwirkursache, die mit der Ordnung der Welt zugleich den Grund zu verwirken trachtet, auf dem sie aufruht. Erst das malum morale ist eigentlich böse zu nennen, Die Bosheit des malum während das malum metaphysicum mit dem Gumorale ten auf ursprüngliche Weise verbunden ist, sofern es lediglich eine Unvollkommenheit benennt, die grundlegend zur Verfasstheit der besten aller denkbaren Welten hinzugehört. Zum malum schlechthin wäre das malum morale unter der Voraussetzung zu erklären, dass sich alles, was berechtigterweise schlecht zu nennen ist, als Schuld der Sünde

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oder als Strafkonsequenz schuldhaften Vergehens erweisen ließe. Leibniz neigt zwar gelegentlich zu einer solchen Erklärung, und er folgt in dieser Neigung einem verbreiteten Trend christlicher malum-Theorien, alles Schlechte auf die Schuld der Sünde zurückzuführen. Dennoch rechnet er, wie schon die ausdrückliche Unterscheidung von malum morale und malum physicum belegt, mit Übeln, die sich, obwohl wahrhaft Übel zu nennen, nicht als Schuld der Sünde bzw. als deren Straffolgen verstehen lassen. Der Begriff der Sünde sowie derjenige schuldhafter Vergehen setzt nach Leibniz den Begriff der Freiheit voraus, die spontan und ungezwungen zu wirken vermag. Diese Voraussetzung ist im Falle des malum physicum jedenfalls nicht durchgängig gegeben, auch wenn viele physische Übel Konsequenzen schuldhafter Vergehen sind. Doch gilt dies nicht von allen mala physica. Ihren verbleibenden Beständen sucht Leibniz durch eine Strategie kosmologischer Teleologisierung beizukommen, die er auf andere Weise bereits in Bezug auf das malum morale dadurch in Anwendung brachte, dass er die Erfahrung von Sünde mit einem Motiv der Besserung versah, um so auch das Faktum von Schuld zum Besten der Welt wenden zu können (vgl. Hermanni, 197 ff.). Diese Strategie ist nicht ohne traditionelle Vorbilder. Schon die altkirchlichen Väter suchten das malum zu einem Instrument göttlicher Pädagogik zu erklären, mittels dessen ein Lernprozess in Gang gesetzt und fortbewegt wird, der zu einem Ende führt, mit dessen Erreichen im wahrsten Sinne des Wortes alles gut sein wird. In der späteren Theologie hat dieses Motiv vielfach fortgewirkt, und es lässt sich auch bei denen finden, deren malum-Lehren grundsätzlich privationstheoretisch angelegt sind. Augustin gibt dafür ein Beispiel. Er kann das Motiv göttlicher malum-Pädagogik integrieren, ohne deshalb die Lehre einer erst im Werden begriffenen Gottebenbildlichkeit des Menschen bzw. die Vorstellung einer Schöpfungsgüte zu vertreten, die weder gewesen war, noch ist, sondern erst sein wird, um eschatologisch zur Erfüllung zu gelangen: Sah er doch durch Annahmen dieser Art die Zurechenbarkeit des Falls der Sünde als Schuld gefährdet. Zweck zum Guten zu sein, kann nicht als primärer Begriff des Bösen gelten. Auch bei Leibniz stellt die kosmologische Teleologisierung des malum lediglich ein Motiv zweiter Ordnung seiner Lehre vom Bösen dar, so naheliegend die Wahrnehmung dieses Motivs von dem grundlegenden Gedanken einer prinzipiellen Unvollkommenheit der Welt und alles Geschaffenen her erscheint. Verbietet sich die unmittelbare pädagogisch-eschatologische Funktionalisierung des Bösen aus moralischen Gründen, so behält sie doch nach Leibniz im Falle des malum physicum ihr unbestreitbares Recht, sofern physische Übel nach seinem Urteil Anlass geben können und tatsächlich geben, sich sittlich zu bewähren. Insofern sprechen Leiden und Schmerz nicht per se gegen die behauptete Optimalität der Welt. Die Fassung, die Leibniz dem Begriff des malum physicum gibt, ist auf die Bestätigung dieser These angelegt. Es bleibt durchweg auf den Begriff des malum morale rückbezogen und wird dadurch prinzipiell relativiert dergestalt, dass von einem „absoluten“ malum physicum nicht die Rede sein kann.

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In der physischen Sphäre, welche der Physik zu bedenken aufgegeben ist, kommt, was malum zu nennen ist, nach Leibniz nicht vor, weil es für den Begriff des Übels konstitutiv ist, dass dieses als solches empfunden wird. Entitäten, für welche die Differenz von Lust und Unlust bedeutungslos ist, erleiden keinerlei mala, auch keine mala physica, so sehr sie fühlenden Wesen solche bereiten können und unter bestimmten Bedingungen realiter bereiten und zwar mit Stetigkeit. Bleibt der Begriff des malum physicum insofern grundsätzlich der organischen Sphäre vorbehalten, wohingegen er die anorganische nichts angeht, so ist Leibniz zudem geneigt, ihn weiter dadurch einzuschränken, dass er mala physica stricte dictu nur jene Übel nennt, die als solche nicht nur gefühlt, sondern als gefühlte zu Bewusstsein gebracht und reflexiv wahrgenommen werden, wie das eigentlich nur beim Menschen der Fall ist. Leibnizens Begriff des malum physicum ist ein Reflexionsbegriff und als solcher anthropozentrisch angelegt. Nicht dass ein Empfinden für den üblen Charakter extrahumanen Leids fehlen würde: Aber auch Mitleid und Mitgefühl sind anthropologische Kategorien und ebenso reflexionsabhängig wie der Begriff des malum physicum, den Leibniz stricte dictu vernunft- und willensbegabten Lebewesen vorbehält, deren Verhältnis zum Übel zumindest der Möglichkeit nach ein Sich-Verhalten ist. Falls aber der Schmerz derart überhand nimmt, dass es unmöglich wird, sich bewusst zu ihm zu verhalten, dann bewirkt er, dass Hören und Sehen vergehen und Bewusstlosigkeit und gegebenenfalls der Tod eintritt, der allem Übel ein Ende bereitet, ohne doch an sich selbst ein Übel im eigentlichen Sinne zu sein. Denn als Übel empfunden wird er nur, solange er nicht eingetreten ist. Auch der Tod, der in der Regel als das schlimmste aller physischen Übel gewertet wird, richtet daher nach Leibniz gegen die prästabilierte Harmonie des Kosmos zuletzt nichts aus und kann die Annahme nicht falsifizieren, die gegebene Welt sei die beste aller möglichen. Sinndestruktive Macht gewinnt der Tod erst infolge und durch das malum morale, dem die Schuld daran zuzurechnen ist. Bleibt zu fragen, ob es nicht besser und der Idee Theorie der denkbar besten aller Welten gemäßer gewesen wäre, wenn Gott sein Schöpfungswerk auf die Erder Kompensation schaffung intelligibler Wesen beschränkt und vernunftlose Entitäten ausgespart hätte. Leibniz stellt sich dieser Frage und versucht sie durch eine Theorie der Kompensation zu parieren (vgl. im Einzelnen Hermanni, 206 ff.). Dieser zufolge ist der höchst mögliche Vollkommenheitsgrad der Welt nur dann gegeben, wenn die in ihrem Weltcharakter begründete Unvollkommenheit durch ein Höchstmaß ausdifferenzierter Fülle kompensiert wird, wie sie nur dann vorhanden ist, wenn die gottunterschiedene Schöpfung in einer Differenziertheit in Erscheinung tritt, die einen keiner denkbaren Steigerung zuzuführenden Superlativ darstellt. Eine optimale Welt erfordert eine Höchststufe interner Differenziertheit und gewissermaßen definitiv eine indefinite, begrifflich nicht zu erschöpfende Gestaltenfülle, wie sie unter Ausschluss von Körperlichkeit nicht gegeben wäre. Die infinitesimale, ins unendlich Kleine gehende Verfassung der Welt gehört nach Leibniz konstitutiv zu ihrer Größe, und als die denkbar Beste ist sie nicht an-

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ders zu denken als unter Voraussetzung einer als zahllos erscheinenden Zahl leibhaftiger Formen und Gestalten. Dass mit ihnen zugleich eine Unzahl von Übeln körperlicher Art verbunden ist, muss, wie er meint, billigend in Kauf genommen werden, weil anders weder Welt überhaupt noch gar die beste aller möglichen denkbar und wirklich wäre. Weil der Wunsch nach einer übelfreien Welt nach Leibniz in letzter Konsequenz dahin tendiert, überhaupt keine Welt zu wollen, muss er seinem Urteil zufolge als in sich widersprüchlich und an sich selbst als ein malum gelten und zwar als ein malum morale. Im Übrigen ist Leibniz fest überzeugt, dass bei vernünftiger Güter-Übel-Abwägung die Bilanz schon unter den Bedingungen empirisch zu erhebender Welterfahrung günstig ausfällt. Verbleibende Bedenken seien am besten dadurch zu zerstreuen, dass man sich durch Besinnung auf den schöpferischen Grund der Welt zugleich ihres Zieles vergewissert, was vernünftigerweise sowohl möglich als auch geboten sei (vgl. Sparn). Dem Leibniz’schen Theodizeekonzept ist bereits im 18. Jahrhundert zum Teil heftig widersprochen Schopenhauers worden, wofür Voltaires „Candide, ou l’optimisme“ Leibnizkritik von 1759 nur das bekannteste Beispiel abgibt. Unter den Kritikern des 19. Jahrhunderts ragt, wie erwähnt (vgl. Bd. 8, 331 ff.), neben Nietzsche Arthur Schopenhauer hervor, insofern er die bestehende Welt statt für die bestmögliche ausdrücklich zur schlechtesten aller möglichen und das malum zu derjenigen Realität erklärt hat, die den berechtigtesten Anspruch darauf habe, für die realste zu gelten. Schopenhauer hat sich damit nicht nur entschieden gegen jede Negations- oder Privationstheorie des malum ausgesprochen, sondern dem Übel die Stellung eines ens realissimum und eines Erkenntnisgrundes alles lebendigen Seins zugedacht: Ich leide, also bin ich. Schmerz ist die evidenteste, nicht falsifizierbare Realitätswahrnehmung. Im Verein mit der Wollust liegt sie jeder Form von Wirklichkeitserkenntnis in jener – keiner weiteren Vermittlung bedürftigen – Unmittelbarkeit zugrunde, die das Leibgefühl ausmacht. Man muss kein Anhänger seiner Philosophie sein, was unter christlichen Bedingungen schwerlich möglich sein dürfte, um Schopenhauers Ansatz und seine Leibnizkritik als theologische Herausforderung ernst zu nehmen. Alles Natürliche, das einen gewissen Grad an Komplexität erreicht hat, endet nicht nur, sondern stirbt. Der Tod ist nicht der einfache Gegensatz zur Lebendigkeit natürlichen Lebens, sondern dessen Implikat. Für diesen Grundsatz spricht alle Erfahrung. Nicht nur lebt und entwickelt sich jede Gattung von Lebewesen durch den Tod seiner individuellen Exemplare hindurch, auch das Verhältnis der Gattungen zueinander ist durch das Gesetz von Leben und Sterben, Überleben und Töten bestimmt. Ist das gut so? Kann dieses Gesetz der Natur als gottgewollt begriffen werden? Nicht als ob in der Natur keine Vernünftigkeit im Sinne naturhafter Logizität erkennbar wäre: Ihre Ordnungsgesetze sind verständig und werden von ihr gleichsam mit Verstandesnotwendigkeit befolgt. Zweckmäßigkeit kann der Natur vernünftigerweise nicht bestritten werden. Doch ebenso wenig ist zu bestreiten, dass durch den bloßen Verweis auf sie die Frage nach dem Sinn der Natur und der natürlichen Gesetzlichkeit nicht

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beantwortet werden kann. Ja, man wird sagen müssen, dass es zum Gesetz und förmlichen Zweck der Natur gehört, gegenüber der Differenz von Sinn und Widersinn gleichgültig zu sein. Sinnindifferenz gehört wie Indifferenz in moralischsittlicher Hinsicht gleichsam zum Wesen der Natur, was in Abrede zu stellen nicht sinnvoll und daher sinnvollerweise zu erkennen und anzuerkennen ist. Ohne Wahrnehmung ihres befremdlichen Andersseins kann es humane Naturwahrnehmung nicht geben. Das Staunen über das Wunder des Lebens lässt sich vom Grauen angesichts der Schrecken des Todes zwar unterscheiden, nicht aber trennen. Denn der Tod gehört zum Gesetz des Lebens, von dem die Natur kündet. Dass er unter natürlichen Gesichtspunkten zweckmäßig ist, lässt sich ernsthaft nicht leugnen, auch wenn die Frage nach seinem möglichen Sinn dadurch nicht beantwortet wird. Es ergibt sich die Notwendigkeit, zwischen dem, was Natur an sich selbst, und demjenigen zu differenzieren, was sie für uns bzw. für fühlende Wesen aller Art ist. Nur so vermag man dessen gewahr zu werden, was es mit der Differenz von Außen und Innen und dem Innesein dieser Differenz auf sich hat, die für alle lebende Wesen kennzeichnend ist, wenngleich auf unterschiedliche Weise. Lebewesen sind Teil der Natur und können sich zugleich differenziert zu ihrer natürlichen Umwelt verhalten. Dies gilt ansatzweise bereits für vegetabilisches, in gesteigerter Form für animalisches und in voll entwickelter Weise für das Leben des Menschen. Erst für den Menschen werden die gegebene Welt und der Antagonismus von Tod und Leben in ihr zum Sinnproblem. Darin hat Leibniz zweifellos recht. Zweifel melden sich allerdings, wenn er in dem sinnvollen und berechtigten Bestreben, die Welt auf den Menschen hin und von ihm her zu begreifen, den extrahumanen Übeln tendenziell bestreitet, stricte dictu mala physica zu sein. Denn diese Tendenz zur Entüblung animalischen Leids ist auch in anthropologischer Hinsicht insofern bedenklich, als es dem Menschen trotz und unbeschadet aller Notwendigkeit, sich moralisch zu ihm zu verhalten, nur bedingt möglich ist, den Schmerz des eigenen Leibes zu beherrschen, geschweige denn des Leids aller Kreatur Herr zu werden. So bleibt das malum physicum ein Fragmal, das sich nicht wegmoralisieren und durch keine rationale Teleologie beseitigen lässt. Zwar kann Schmerz bei distanzierter Betrachtung insofern für ein Gut erachtet werden, als er als Indikator eines Befindens fungiert, dessen Wahrnehmung die Bedingung möglicher Korrektur im Dienste des Selbsterhalts ist. Doch erstens dient Schmerz keineswegs in jedem Falle einem erstrebenswerten Zweck und zweitens bleibt er selbst unter dieser Voraussetzung ein Übel in sich selbst, das mehr und anderes ist als fehlende Lust. Nimmt man dies ernst, wird es nicht länger gelingen, das malum phy­sicum metaphysisch um seine „positiven“ Negationspotentiale zu bringen und es zum bloßen Moment eines vernünftigen und rational erschließbaren Entwicklungsprozesses herabzusetzen. Zwar lässt sich das Üble am malum physicum nur Schrei nach Erlösung bedingt objektivieren, weil sich das Leid, welches es bereitet, von der Eigenwahrnehmung fühlender Wesen nicht trennen lässt. Aber gerade als „Selbsterfahrungen der bewußten Person“ (Henrich, 513) stehen die Not, die physische Leiden zwar nicht in jedem Falle be-

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reiten müssen, aber doch vielfach bereiten und zwar nicht selten auf eine Weise, die zwangsläufig zu nennen ist, und dasjenige, was man Glück, Wohlergehen, kurzum: ein Gut nennt, in einem „besonderen Ausschlußverhältnis“ (ebd.). Humanes Mitgefühl wird es sich nicht nehmen lassen, dieses Ausschlussverhältnis von Not und Glück auch in Bezug auf extrahumane Lebewesen eines gewissen Entwicklungsstandes, über dessen Grad sensibel zu befinden ist, in Anschlag zu bringen und deshalb auch tierischem Leid den Charakter eines tatsächlichen Übels nicht bestreiten. Insgesamt wird man nicht umhin können, die Aporie anzuerkennen, die durch die unleugbare, aber nicht als malum morale zurechenbare Faktizität leibhafter Übel in der Welt auch und gerade in theologischer Hinsicht gegeben ist. Die unleugbare Faktizität des malum physicum in der Welt schreit nach einer Lösung, ohne dass diese auf theoretische und praktische Weise hinreichend erbracht werden könnte. Trifft es zu, dass Religion in besonderer Weise auf Probleme bezogen ist, die grundsätzlich keiner theoretischen oder praktischen Lösung zuzuführen sind, dann handelt es sich bei demjenigen des physischen Übels um ein echt religiöses. Man hat die theoretische und praktische Nichtsubstituierbarkeit der Religion und ihre Unersetzbarkeit durch andere soziale Systeme einschließlich der Wissenschaft mit der von ihr geleisteten Transformation unbestimmbarer in bestimmbare Kontingenz begründet (vgl. Luhmann) und ihre Funktion als Kontingenzbewältigungspraxis beschrieben (vgl. Lübbe). Dem wurde entgegengehalten, dass der Gedanke von Kontingenz selbst religiöser Natur sei und erst „auf dem Hintergrund des Gedankens eines Ursprungs der Welt aus einer freien Entschließung“ (Spaemann, 25) habe entstehen können. Religion, die christliche zumal, generiere in gewisser Weise selbst das Problem, als dessen Lösung sie erscheine, wenn sie Kontingenz­ bewältigungspraxis genannt werde (vgl. Spaemann, 109). Wichtiger als dieser Hinweis erscheint im gegebenen Zusammenhang der malum physicum-Thematik die Feststellung, dass sich die Rede von einer Kontingenzbewältigungspraxis „wie eine Gestaltungsanweisung aus(nimmt), die der bloß funktional gemeinte Begriff nicht leisten kann“ (Deuser, 555). Während dieser „nur auf das Faktum der bestehenden Religiosität trotz und nach der Religionskritik der Neuzeit aufmerksam (mache), auf die unumgängliche Akzeptierung der Lebens- und Sterbensumstände, die nicht zu menschlicher Disposition stehen“ (ebd.), bestreite Religion „im Namen Gottes dem bloß Vorhandenen seine Alternativlosigkeit“ (ebd.), wobei über das Recht dieser Bestreitung nicht lediglich funktional, sondern theologisch zu befinden sei. Denn nur wenn Gott selbst eine Alternative zu den fraglos vorhandenen Lebensund Sterbensübeln eröffne, könne Kontingenzbewältigung nicht nur zum Schein und in der Weise eines Placeboeffekts, sondern wirklich und wahrhaft erfolgen. Lässt sich über den Realitäts- und Wahrheitsgehalt religiöser Kontingenzbewältigung nicht le- Zum Begriff diglich funktional, sondern nur theologisch entschei- der Kontingenz den, so setzt ein sinnvoller Gebrauch der Wendung wie auch derjenigen einer Transformation unbestimmter in bestimmbare und bestimmte Kontingenz ein förmliches Verständnis ihres Leitbegriffs und seiner tra-

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ditionellen Kontexte voraus. Es ist kein Zufall, sondern wesentlich kontextuell bedingt, dass die Bedeutungen des Kontingenzbegriffs terminologiegeschichtlich schwanken, ja Sinndifferenzen mit sich führen, wie sie gegensätzlicher kaum sein könnten. Das Wort Kontingenz ist dem Lateinischen entlehnt und leitet sich her vom Begriff contingentia als der seit dem 4.  Jahrhundert n. Chr. begegnenden Übersetzung des griechischen endechomenon, das bei Aristoteles das Mögliche entweder im Unterschied zum Unmöglichen oder als dasjenige bezeichnet, was weder unmöglich noch notwendig ist. Vor allem im Sinne der zweiten Bestimmung hat der Kontingenzbegriff im abendländischen Denken und in der Theologie der westlichen Christenheit vielfältige Verwendung gefunden. Zu einer in der Scholastik auftretenden Bedeutungsverschiebung kam es dadurch, dass contingentia bzw. contingens begrifflich weniger auf die Paarung von nichtnotwendig / möglich als vielmehr auf diejenige von nichtnotwendig / wirklich bezogen wurde. Als kontingent galt demnach das nicht notwendige Faktum, über dessen Möglichkeit unterschiedlich befunden werden konnte. Damit war die prinzipielle Voraussetzung für die Annäherung und eventuelle Koinzidenz des Kontingenz- mit dem Zufallsbegriff geschaffen, sofern dieser im Allgemeinen ebenfalls das nichtnotwendig Zufallende in seiner realen Tatsächlichkeit bezeichnet (vgl. Vogt, 43 ff.). Inwieweit dieses Verständnis mit demjenigen übereinstimmt, welches die Griechen mit dem tyche-Begriff oder vergleichbaren Begriffen (symbebekos, automaton) verbanden, kann unentschieden bleiben (vgl. Vogt, 67 ff.). Wollte man den in der Alltagssprache häufig begegnenden Zufallsbegriff von dem alltagssprachlich viel seltener verwendeten Begriff der Kontingenz absetzen, könnte man ihn im Anschluss an Aristoteles als eine – Intentionalität betreffende – Form nichtnotwendiger Faktizität bestimmen. Zufällig wäre etwa dasjenige zu nennen, was einem Wollenden ohne oder gar wider seinen Willen, in jedem Fall unwillkürlich begegnet. Tritt in einem im Verlauf befindlichen Handlungsgeschehen eine unerwartete und unvorhergesehene Begebenheit ein, die nicht beabsichtigt war, in ihrer Tatsächlichkeit aber unleugbar ist, nennt Aristoteles dies Zufall. Zufall heißt ihm zufolge ein nec necessarium in Form einer „Relation oder Koinzidenz – entweder zweier Handlungen oder aber einer Handlung mit einer handlungsunabhängigen Begebenheit“ (Vogt, 145). Er liegt gemäß diesem Sprachgebrauch immer dann vor, „wenn sich für ebendiese Relation oder Koinzidenz weder eine Ursache ermitteln noch eine Intention angeben lässt, auch wenn die einzelnen Bestandteile dieser Relation oder Koinzidenz durchaus ursächlich bedingt und intentional strukturiert sein mögen“ (ebd.). Als Bezeichnung eines nicht notwendigen, aber auch nicht bloß möglichen, sondern faktisch gegebenen und tatsächlich Realen ist der Kontingenzbegriff zu einem Leitterminus christlicher Schöpfungslehre geworden. Als solcher bezieht er sich nicht nur auf ein Partikularfaktum, sondern auf die Faktizität von Welt schlechthin. In dieser Bedeutung wurde der Begriff in dem eingangs erwähnten Passus von Spaemann verwendet und dem Verständnis von Religion als Kontingenzbewältigungspraxis kontrastiert. Nicht nur alles, was in der Welt der Fall ist, sondern dass

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überhaupt eine gottunterschiedene Welt existiert, ist kontingent. „Schöpfungstheologisch ist es die Welt schlechthin, nicht nur dieser oder jener Bestandteil dieser Welt, die Gott aus dem Nichts geschaffen hat, obgleich er dies nicht hätte tun müssen. Insofern ist die Welt im Ganzen, weil sie Gottes Schöpfung ist, kontingent.“ (Vogt, 194 f.) Sie ist weder notwendig noch unmöglich, sondern von Gott in schöpferischer Freiheit ermöglicht und realiter gesetzt, ohne dass es dazu einer außergöttlichen Voraussetzung bedurft hätte, was vielmehr ausgeschlossen wird. „Die Rede von der contingentia mundi ist auf unhintergehbare Weise mit der Rede von einer göttlichen creatio ex nihilo verknüpft. Die eine ist ohne die andere nicht zu haben.“ (Vogt, 195) Das Problem, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts, das, wenn es problematisch wird, in unbestimmte Leeren und bodenlose Tiefen zu reißen droht, wird im christlichen Glauben mit dem Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer Himmels und der Erden beantwortet, womit zugleich die Frage nach dem schieren Gegebensein von Faktizität in ihrem „nackte(n) Daß“ (vgl. Wetz) einer Antwort zugeführt ist. Der der Lehre von der creatio ex nihilo korrespondierende Gedanke einer „Totalkontingenz der Totalkontingenz der Welt Welt“ (Renz, 25) besagt, dass diese an sich selbst nicht göttlich und ewig wie Gott sei, sondern gottunterschieden und in ihrer Gottunterschiedenheit kein ens necessarium, sondern ein Nichtnotwendiges, dessen Realität allein durch Gottes Wirken ermöglicht, tatsächlich gesetzt und im Sein gehalten werde. Weder die Möglichkeit noch die Tatsächlichkeit ihres Seins liegt in der Welt selbst begründet; beides ist einzig durch den Ratschluss Gottes erschlossen. Es ist offenkundig, dass diese theologischen Spitzenaussagen Modifikationen der überkommenen Begriffe von Faktizität, Notwendigkeit, aber auch Möglichkeit nach sich ziehen mussten. Das Mögliche wurde von einem possibile reale zu einem possibile logicum bzw. possibile per se ipsum fortbestimmt, das nicht nur die Möglichkeit von diesem oder jenem, sondern die im allmächtigen Schöpfungsvermögen der potentia absoluta gründende Möglichkeit von Welt überhaupt umschreiben sollte. Das possibile logicum soll die Möglichkeit der Faktizität von Wirklichkeit überhaupt klären, was über den aristotelischen Gedanken der Realpotenz, ja über den Möglichkeitsbegriff der antiken Philosophie insgesamt hinausweist (vgl. Faust). Die Möglichkeit von Welt liegt allein in der reinen, durch sich selbst ermöglichten Möglichkeit Gottes begründet, in dessen alleinigem Willensvermögen es steht, sie frei und ungezwungen zu setzen. Die Realität von Welt ist mithin ein kontingentes Faktum, das aus dem Weltzusammenhang nicht erklärt werden kann, sondern in seiner Faktizität als schlechterdings, nämlich durch Gott gegeben vorauszusetzen ist. Ob auch der göttliche Schöpfungsakt selbst kontingent zu nennen ist, war in der scholastischen Theologie strittig. Bei Thomas und in der thomasischen Tradition wurde die im willentlich gesetzten Schöpfungsakt tätige Freiheit Gottes von jedweder Willkür abgehoben und im Wesen der göttlichen Vernunft fundiert, welche nicht nur einen kontradiktorischen Widerspruch ausschließe, sondern die schlechthinnige Vernünftigkeit des Schöpfungshandelns und seines Resultats

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gewährleiste. Im Nominalismus, bei Duns Scotus und namentlich bei Wilhelm von Ockham etwa, scheint es dagegen so zu sein, als könne der göttliche Wille kraft seines Allvermögens außer logisch Widersprüchlichem alles Mögliche und damit auch dieses wollen, was sich jeder vernünftigen Einsicht entzieht. Die Annahme einer denkbaren Mehrzahl möglicher Welten entspricht dieser Prämisse sowie dem Gedanken, dass der faktisch gegebene Kosmos durch nichts als durch die freie Wahl aus einer absoluten Fülle von Möglichkeiten erklärt werden kann, wie sie Gott in schlechterdings unvordenklicher Weise getroffen habe. Die verbreitete These von dem jeden vernünftigen Begriff transzendierenden Voluntarismus der franziskanischen Scholastik, die das All der Schöpfung in unvordenklicher Weise gänzlich und allein durch das Allvermögen göttlicher potentia absoluta, also im Sinne reiner Setzung und Positivität begründet, wäre ebenso genauer Prüfung wert wie die schöpfungstheologische Differenz, die üblicherweise im Verhältnis von Thomisten einerseits und Scotisten andererseits angesetzt wird. Doch mag es bei dem Hinweis sein Bewenden haben, dass selbst die radikalsten Nominalisten unter den Theologen einen Unterschied zwischen der Kontingenz der Welt und derjenigen des Schöpfungshandelns Gottes zu wahren suchten. Auch wenn er ansonsten als grundlos zu beurteilen ist, gründet der freie Schöpfungsentschluss samt dem ihm entsprechenden Akt doch in Gott, der in sich selbst gründet und dessen Unergründlichkeit von Grundlosigkeit weltlicher Kontingenz unbedingt zu unterscheiden ist. Die Welt enthält weder den Konstitutions- noch den Erhaltungsgrund ihrer selbst unmittelbar in sich. Sie ist nicht ens necessarium, sondern kontingent und zwar was ihren Grundbestand als auch was ihre Binnenverfasstheit, ihre fortschreitende Verlaufsform etc. angeht. Der Gedanke der creatio ex nihilo ist daher mit demjenigen einer creatio continua so zu verbinden, dass zum einen die mit ihrer kontingenten Ursprungssetzung faktisch gegebene Tatsächlichkeit einschließlich der ihr zugehörigen kosmischen Grundordnung bewahrt bleibt, andererseits der Erhaltungsgedanke die Ursprungskontingenz dergestalt in sich aufnimmt, dass er mit fortwährenden Kontingenzmomenten der Weltentwicklung rechnet. Der schöpfungstheologische Grundgedanke der Totalkontingenz der Welt, wie er dem Theorem der creatio ex nihilo entspricht, wirkt im Rahmen der creatio continua so fort, dass er, um es beispielhaft zu sagen, Kontinuität und Diskontinuität auf differenzierte Weise vereint. Die Verbindung von Kontinuität und Diskontinuität tritt in unterschiedlichen Varianten, doch mehr oder minder strukturanalog in den meisten schöpfungstheologischen Erhaltungslehren auf, und sie wird in neuerer Zeit insbesondere daran erkennbar, wie Evolutionstheorien naturwissenschaftlicher und vorzugsweise biologischer Provenienz rezipiert werden. Aus der Kontingenz der Gesamtnatur kann beispielsweise in einem ersten Schritt die Kontingenz der in ihr geltenden Gesetzlichkeiten gefolgert werden, um in einem zweiten sodann die in ihrer Kontingenzförmigkeit grundsätzlich affirmierte Naturgesetzlichkeit offen zu halten für kontingente Einzelereignisse, aus denen heraus ihre Gültigkeit je neu zu überprüfen und

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zu begründen ist. Die Kontingenz der Natur als solcher kann so mit Kontingenzgeschehnissen in ihr zusammengedacht werden, ohne den Gedanken einer geregelten Naturbeständigkeit generell zu gefährden. Evolutionstheoretische Ansätze lassen sich nach einem vergleichbaren Argumentationsmuster adaptieren, wenn sie nicht bereits selbst ihm gemäß strukturiert sind und verfahren. Der Evolutionsbegriff legt die Vorstellung einer fortschreitenden Entwicklung von Komplexität aus Evolution und Emergenz vorhergehender Einfachheit bzw. Indifferenz nahe, die als mit der Potenz, sich zu differenzieren, ausgestattet gedacht wird. Im Unterschied zu einem mechanischen oder wie auch immer zu nennenden Evolutionismus, der unter Ausschluss von kontingentem Neuen mit einer prinzipiellen Reduzibilität des evolutionären Prozesses auf seinen den weiteren Verlauf determinierenden Ursprung rechnet, bestimmt ein solcher der, wenn man so will, innovationsoffendynamischen Art den evolutionären Prozess so, dass Kontingenz nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden muss. Stichwörter wie Emergenz, Supervenienz und Fulguration etc. verweisen auf die im Evolutionsprozess unbeschadet seiner Kontinuität in Anschlag gebrachten Diskontinuitätsmomente. Wer Diskontinuität generell perhorresziert, für den bleibt alles beim Alten und dem muss gleichsam zwangsläufig das Neue entgehen, welches zur Natur und offenbar mehr noch und in anderer Weise zu der Wirklichkeitssphäre gehört, die man Geschichte nennt. Auch in der Geschichte wirken Kräfte mit gleichsam naturgesetzlicher Notwendigkeit, doch offenbar nicht oder jedenfalls nicht nur in Form jenes deterministischen Nezessarismus, der generell die Wirkungen der Freiheit eines Geistes ausschließt, der Neues zu schaffen vermag. Hat man schon für die Sphäre der Natur und für ihre Gesetze mit einem wechselseitigen In- und Durcheinander von Ordnung und Kontingenz zu rechnen, so gilt dies in besonderer Weise für den zwar nicht naturunabhängigen, wohl aber naturtranszendierenden Bereich von Kultur und Geschichte, wobei geschichtliche Kontingenz offenbar noch einmal anders zu beurteilen ist als natürliche, sowenig eine Trennung beider Bereiche infrage kommt. Kontingenz ist nach Urteil christlicher Schöpfungslehre nicht nur für den schöpferischen Initialakt, der die Welt uranfänglich setzt, sondern auch für den weiteren Verlauf derselben in Anschlag zu bringen, der von Gott im Sinne der creatio continua schöpferisch gelenkt und geleitet wird. Die providentia Dei schließt Kontingentes nicht aus, weil sie nicht wie ein Fatum wirkt, das alles Geschehen deterministisch prädestiniert und als solchermaßen prädestiniert vorhersieht. Dem ist durch begriffliche Differenzierungen Rechnung zu tragen. So sehr sich der Kontingenzbegriff im Kontext der creatio ex nihilo von dem im Kontext der creatio continua gebrauchten unterscheidet, so sehr muss bei aller terminologischen Synonymität zwischen Naturkontingenz und Geschichtskontingenz differenziert werden. Die Fixierung auf herkömmliche Unterscheidungen wie diejenige zwischen einer Möglichkeit, die weder Notwendigkeit noch Unmöglichkeit ist, und einem nichtnotwendigen und nicht durch sich selbst ermöglichten Wirklichen sind dabei nur bedingt hilfreich. Entsprechendes gilt für denkbare Unterscheidungen zwischen

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Kontingenz und Zufall. Denn erstens werden diese Unterscheidungen in der einschlägigen Literatur in aller Regel nicht trennungsscharf durchgeführt und zweitens lassen sie sich selbst unter der Voraussetzung eines entsprechend differenzierten Gebrauchs nicht ohne weiteres auf die Themenfelder abbilden, von denen schöpfungstheologisch zu reden ist. In Anbetracht der Tatsache, „dass die Ideen und BeSchicksals- und griffe von Kontingenz und Zufall in der Ideen- und Beliebigkeitskontingenz Begriffsgeschichte tatsächlich immer wieder auf untrennbare Weise vermengt wurden“ (Vogt, 280), bedarf es jeweils präziser Angaben darüber, was im jeweiligen Kontext unter ihnen verstanden wurde (vgl. die ideengeschichtlichen Skizzen bei Vogt, 343 ff.) bzw. verstanden werden soll. Für den Gebrauch der Begriffe Kontingenz und Zufall im Kontext der Anthropologie, die Religion und Theologie noch intensiver angeht als die Kosmologie, kann die von Odo Marquard in die Diskussion eingeführte Unterscheidung zwischen Schicksals- und Beliebigkeitskontingentem bzw. Schicksals- und Beliebigkeitszufälligem hilfreich sein (vgl. Marquard). Beide Kontingenzformen sind auf Widerfahrnisse bezogen, mit denen in einem intendierten Vollzug nicht gerechnet wurde und die diesem, aus ihm unableitbar, in die Quere kommen sei es auf unbeabsichtigt natürliche oder auf eine durch einen fremden Willen bedingte Weise. Um Beliebigkeitskontingenz handelt es sich nach Marquard bei einem Zufallswiderfahrnis dann, wenn mit ihm, unbeschadet seiner Zufälligkeit und ohne dieselbe dadurch zu beseitigen, beliebig, also willenskonform verfahren werden kann. Wenn sich die Trambahn, mit der ich von der Münchener Paradiesstraße zum Isartor zu fahren gewillt war, sei es, wie unlängst geschehen, durch den Schlag eines Blitzes in die Oberleitung, sei es durch einen Falschparker verspätet, dann ist dies zwar ein unvorhergesehenes, mir gegen meinen Willen zufallendes Widerfahrnis, dessen Zufälligkeit aber insofern in mein Belieben gestellt ist, als ich die Zeit der Trambahnverspätung beispielsweise durch die Lektüre beigeführter Kontingenzliteratur oder andere mir sinnvoll erscheinende Tätigkeiten meiner Wahl überbrücken kann. Anders verhält es sich im Falle dessen, was Marquard Schicksalszufälligkeit nennt, die sich beim besten Willen nicht in Handlungssinn transformieren und ins freie Belieben übersetzen lässt. Schicksalskontingenz konfrontiert mit Zufällen, die als fatale Unfälle oder als Widerfahrnisse erfahren werden, die Fragen nach dem Sinn des Ganzen nicht nur in theoretischer Weise, sondern in Form existentieller Betroffenheit hervorrufen. Auf solche, wie er sie nennt, „harte“ Kontingenz ist Lübbes eingangs zitierte Bestimmung von Religion als Kontingenzbewältigungspraxis vorzugsweise bezogen. Lübbes Verständnis von Religion als KontingenzKontingenzbewältigung bewältigungspraxis schließt an Luhmanns Religionstheorie an, derzufolge die soziale Notwendigkeit und Nichtsubstituierbarkeit von Religion in ihrer Funktion bestehe, unbestimmte in bestimmbare Kontingenz zu transformieren. „Religion garantiert die Bestimm-

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barkeit allen Sinnes gegen die miterlebte Verweisung ins Unbestimmbare.“ (Luhmann, 127) An der, wie er es nennt, Kontingenzformel Gott (vgl. Luhmann, 147 ff.) und an der für alles Weitere grundlegenden Unterscheidung von Gott und Welt lässt sich die elementare Funktion von Religion nach Luhmann paradigmatisch verdeutlichen. Die Schöpfungslehre transformiert Unbestimmbares in Bestimmbares, indem sie einen Grund angibt, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts, eine Grunddifferenz einführt, welche die Bedingung jeden Begriffs von Welt und sinnvollen Weltbegreifens darstellt, und somit die Bestimmbarkeit dessen konditioniert, was ansonsten gänzlich unbestimmt bliebe. Im Verein damit löst sie durch Annahme einer ebenso differenztranszendenten wie differenzgenerierenden Identität das andernfalls unlösbare „Problem der Einheit der Vielheit“ (Luhmann, 133) einschließlich aller damit einhergehenden Folgeprobleme wie etwa dasjenige eines Werdens der Zeit. Man wird nicht leugnen können, dass mit diesen Hinweisen wesentliche Funktionen auch des christlichen Schöpfungsglaubens nachvollziehbar beschrieben sind. Im Bekenntnis, dass Gott die Welt erschaffen hat, wird deren Gegebenheit anerkannt und die Frage einer Antwort zugeführt, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts. Auch das Problem, warum das Ich sich selbst gegeben ist, das auf re­ flexive Weise nicht zu lösen ist, weil Reflexion Selbstbeziehung immer schon voraussetzt, wird durch den Verweis auf den Schöpfergott als Grund von Selbst und Welt in einer Weise beantwortet, die bestimmbar macht, was ansonsten unbestimmbar bliebe. Die These, dass Religion der kultivierte Umgang mit Unverfügbarem sei, das prinzipiell nicht zur Disposition stehe, scheint also gerade durch den Schöpfungsglauben bestätigt zu werden. Doch entzieht er, indem er in jüdisch-christlicher Tradition den Ursprung von Selbst und Welt auf einen freien Willensentschluss Gottes zurückführt, in paradoxer Weise nicht genau dasjenige, was er zu gewähren vorgibt, und zwar just dadurch, dass er es gewährt? Ist es nicht so, wie Spaemann sagt, dass Religion das Problem selbst generiere, ja auf die Spitze treibe, dessen angebliche Lösung sie sein soll, wenn man sie Kontingenzbewältigungspraxis nennt? Das Verständnis der Religion als Praxis der Kontingenzbewältigung, wie Lübbe es vertritt, ist primär auf dasjenige bezogen, was Marquard Schicksalskontingenz nennt. Als schicksalskontingent wird erfahren, was den Sinn des eigenen Daseins, ja den Sinn des Ganzen fraglich werden lässt. „My Tristram’s misfortune began nine months before ever he came into the world“, steht in Laurence Sternes Roman „Tristram Shandy“ zu lesen, der ein prominentes literarisches Beispiel dafür abgibt, dass es mit dem Anfang von Lebensgeschichten seine Not hat, weil ihr vorauszusehendes Ende in jedem Anfang bereits mitgesetzt ist. Man mag diese Not des Anfangs für übertrieben und für literarisch inszeniert erachten, was sie im Falle von Sternes „Tristram“ tatsächlich ist (vgl. Iser). Doch lässt sich schwerlich leugnen, dass schicksalskontingente Missgeschicke ein Leben dergestalt betreffen können, dass ihm der Sinn allen Beginnens, seines eigenen sowohl als desjenigen der Welt, bis zur Verzweiflung hin zweifelhaft wird.

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Kummer, Trübsal, Not, Leid, kurz: alles, was weh tut und schmerzt, kann verzweifelte Betroffenheit faktisch hervorrufen. Dass diese Faktizität als solche noch keinen Grund abgibt, sie für unvermeidlich zu erachten, trifft zu. Man kann Gründe der Sittlichkeit namhaft machen, das Übel aller Art dem Menschen zur moralischen Bewährung dienen und gerade nicht zum Anlass genommen werden sollen, der Verzweiflung zu verfallen, was in sich unsittlich sei. Man kann weiter gehen und sagen, dass Übeln ein religiöser Sinn insofern innewohne, als sie dazu angetan seien, den Eigensinn des Menschen und seine selbstischen Neigungen zu kränken, um ihn geneigt und willens zu machen, sich ganz auf Gott und auf Gott allein zu verlassen statt auf sich selbst und auf die Welt, die um ihn ist: „Leiden in sich selbst ist nicht gut. Das Gute in aller Erfahrung von Leid ist für den, dem es widerfährt, daß er sich dem Willen Gottes unterwirft; und das Gute für den Zuschauer ist, daß er durch das Leid zu Mitgefühl und Erbarmen geführt wird.“ (Lewis, 129) Auch wenn man zugesteht, dass Argumentationen dieser Art weniger abwegig sind, als sie dem ersten Eindruck nach anmuten, sind sie dennoch nicht geeignet, diejenige Frage zum Verstummen zu bringen, die sich mit Notwendigkeit immer dann einstellt, wenn am protologischen Charakter der Schöpfungslehre unbeschadet der schöpfungstheologischen Bedeutung teleologischer und eschato­logischer Perspektiven und am Gedanken eines Ursprungs der Welt aus einer freien Entschließung Gottes festgehalten werden soll: unde malum? Warum gibt es überhaupt Leid, wenn dieses doch in sich nicht gut ist? Lässt sich die unleugbare Faktizität kreatürlichen Übels mit der vollkommenen Güte der Schöpfung und mit der Gutheit des allmächtigen Schöpfers vereinbaren, der nicht eher als am siebten Tage ruhte, „nachdem er das ganze Werk der Schöpfung vollendet“ (Gen 2,2) und für „sehr gut“ (Gen 1,31) befunden hatte? Verträgt sich diese frohe Kunde mit dem Elend, das den Kosmos erfüllt und die Grenzen menschlicher Fassungskraft sprengt? Man dürfe, wird gemahnt, das Problem des Übels nicht schlimmer machen als es ist: „So etwas wie die ‚Summe von Leid‘ gibt es gar nicht; denn es gibt niemanden, der sie erleidet.“ (Lewis, 135) Man mag diese Rechnung beurteilen, wie man will; die schöpfungstheologische Frage, warum überhaupt mit Leid gerechnet werden muss, beantwortet sie nicht. Damit scheint der Exkurs zum Kontingenzbegriff und seinen unterschiedlichen Verständnisweisen genau zu dem Problem zurückzuführen, von dem das Leibniz’sche Theodizeekonzept seinen Ausgang nahm, ohne zu einer befriedigenden Lösung zu führen. Offenbar verlaufen die Gedanken im Kreis, um auf diese Weise ihre theoretische Aporie zu bestätigen. John Milton wird der Satz zugeschrieben, die theoretische Diskussion des Problems des natürlichen Übels und seiner Herkunft sei „one of the pastimes of the damned in hell“, eine der Angelegenheiten, mit denen die in der Hölle Verdammten ihre Zeit verbringen müssen. Was liegt näher, als sein Heil in der „Flucht ins Engagement“ (vgl. Bartley) zu suchen, um auf diese Weise einen Ausweg aus der aporetischen Theoriesituation Über Schmerz und Missgeschick

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zu finden! Natur kenne nun einmal keine Moral, sei sittlich indifferent und gegenüber dem Gegensatz von Gut und Böse gleichgültig: „Dort, zum Beispiele, wallt ein Strom in schönem Silberspiegel, es fällt ein Knabe hinein, das Wasser kräuselt sich lieblich um seine Locken, er versinkt – und wieder nach einem Weilchen wallt der Silberspiegel wie vorher.“ (Stifter, 227) Statt sich durch Exempel wie dieses zu sentimentalischen Betrachtungen hin- und in eine trostlose Gram hineinreißen zu lassen, gelte es die Natur durch entschlossene Vernunftpraxis zu transzendieren, um zu tun, was möglich ist, und unvermeidbares Leidensgeschick gelassen hinzunehmen. Kann es das Christentum beim Rat zur Gelassenheit Leidensgeschick und Schicksalskontingenz Paradise Lost gegenüber belassen? Diese Frage ist nur unter Vorbehalten zu bejahen. Der eine Vorbehalt richtet sich gegen eine vorschnelle Entschuldigung des Menschen in Bezug auf Leid und dagegen, menschengemachtes Elend als kontingent auszugeben; bevor die Theodizeefrage gestellt wird, ist zuvor das Problem der Anthropodizee ernsthaft zu erwägen. Ein weiterer Vorbehalt ist auf die mögliche Verwechslung von Gelassenheit mit Resignation bezogen; Hoffnungslosigkeit verträgt sich nicht mit dem christlichen Glauben und ist nach traditionellem hamartiologischen Urteil eine Sünde, was auf den transmoralischen Charakter des überlieferten Sündenbegriffs verweist. Zwar ist Sünde nach Maßgabe hamartiologischer Tradition „oft zugleich Schuld im moralischen Sinn. Und doch geht Sünde niemals in der unmoralischen Handlung auf. Der Begriff der Sünde ist sehr viel weiter.“ (Gestrich, VIIf.) Er betrifft nicht nur die einzelne Handlung, sondern die handelnde Person, „ja, er betrifft die Person mehr als die von ihr begangene Handlung“ (Gestrich, VIII). Warum ist das so? Weil nach Urteil der Sündenlehre die durch Tat und Unterlassung schuldhaft begangene Verfehlung Folge einer personalen Verkehrtheit ist, die ihr vorhergeht. Sie betrifft das Leib-Seele-Verhältnis des Menschen und mit ihm das Verhältnis zwischen menschlicher Selbstbeziehung und Beziehung zur Welt. Dieser Beziehungszusammenhang ist durch diabolische Verkehrung des kreatürlichen Verhältnisses des Menschen zu seinem göttlichen Grund faktisch und in geistwidriger Weise durcheinandergebracht. Der paradiesische Urzustand ist nach klassischer Schöpfungslehre etwas anderes als ein Zustand der Natur, den zu transzendieren vielmehr zur ursprünglichen Bestimmung des Menschen gehört. Ohne Überschreiten natürlicher Selbstzentriertheit kann die menschliche Wesensnatur nicht im Sinne dessen gedacht werden, was die Tradition status integritatis nannte. Die Integrität des sog. Urstands beruht auf einer im Gottesverhältnis fundierten rechten und gerechten Bestimmung des menschlichen Verhältnisses zu sich selbst und zur Welt, die seinem Selbstverhältnis leibhaft zugehört. Was die traditionelle Stellung des status integritatis im dogma­ tischen Lehrsystem angeht, so gilt beides: Seine Realisierung ist protologisch denkbar und nicht unmöglich, aber menschheitsgeschichtlich faktisch und von Grund auf verfehlt. Nach Maßgabe der Kriterien des vorfindlichen Menschen scheint die Verfehlung im Wesentlichen durch äußere Verhältnisse und das Rätsel weltlicher Übel bedingt. Die christliche Hamartiologie stellt eine derartige Ursächlichkeit

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zwar nicht einfachhin in Abrede, erklärt sie aber nicht nur nicht zur eigentlichen causa peccati, sondern verweist sie im Gegenteil in den Folgezusammenhang der Sünde; ein integres Verhältnis des Menschen zur leibhaften Sinnenwelt wird trotz faktischer Desintegration auf der Basis eines kreatürlichen Ursprungsverhältnisses zu Gott für grundsätzlich möglich erachtet; der irdische Jesus gilt hierfür als vornehmster Zeuge. Sind wir Sünder, weil wir sterben müssen, oder müssen wir sterben, weil wir Sünder sind? (Vgl. Oelmüller [Hg.], 36) Das Wort des Apostels in Röm 6,23, wonach der Tod der Sünde Sold sei, scheint eindeutig letzteres nahezulegen. Mag auch das Ende unseres Lebens und die Befristetheit weltlichen Daseins durch die gottunterschiedene Endlichkeit des geschöpflichen Wesens des Menschen bedingt sein, so wird die Tödlichkeit des Lebensendes von Paulus offenbar zur Schuld der Sünde erklärt. Kann daraus gefolgert werden, dass der menschliche Sündenfall schlechterdings an allem kreatürlichen Leid schuld ist? Auch diese Frage lässt sich nicht ohne Vorbehalte bejahen. Zwar trifft es zu, dass menschliche Leidenserfahrung erst durch die Sünde sinndestruierend wirkt. Auch ist es Schuld der Sünde, wenn die Menschenseele ihre leibhafte Existenz als Verhängnis begreift. Dies müsste nicht so sein, wenngleich es tatsächlich und in einer Weise der Fall sein kann, welche den Schein des Fatalen zwangsläufig hervorruft und mit sich führt. Man lese, was Sybille Lewitscharoff in einer ihrer Frankfurter Poetikvorlesungen (Realismus und Vulgarität) zum Thema ausgeführt hat (vgl. Lewitscharoff, bes. 97; ferner: Eagleton). Doch trotz des strikten Verbotes, die menschliche Sünde zu entschuldigen, wäre es doch ebenso verhängnisvoll und an sich selbst eine ihrer fatalen Folgen, sie in einem ursächlichen Sinne für alles Leid auf Erden verantwortlich zu machen. Das Rätsel des Übels wird durch den Hinweis auf Adams Fall nicht gelöst; es bleibt bestehen und lässt die Frage nicht ruhen: „Is nature ever evil?“ (vgl. W. B. Drees [Ed.]; ferner Murphy-Russell / Stöger [Eds.]) „(W)arum leide ich?“, fragt der Revolutionär Payne Fels des Atheismus? in Georg Büchners Schauspiel „Dantons Tod“ und kommt in Bezug auf kreatürliches Leiden und Sterben zu dem Schluss: „Das ist der Fels des Atheismus.“ (Büchner, 40) „Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten.“ (Ebd.; vgl. Neuhaus, 27 ff.; ferner: Gesang) Sich durch eigenes Leid zum Atheismus verführen zu lassen, gilt christlicher Hamartiologie ebenso als Sündenschuld, wie die Schwäche des Leibes als Entschuldigungsgrund der Sünde geltend zu machen. Mag sein, dass das Böse ein wesentliches Motiv, Existenz zu vernichten, aus dem Ärger bezieht, den ihm die eigene Leibesschwäche bereitet; doch ist dieses Ärgernis nicht der Schwäche des Leibes, sondern derjenigen der Seele zuzurechnen und zwar als eine Schuld, durch welche die Leibesschwäche erst dazu ermächtigt wird, zum Anlass des Bösen genommen zu werden. So wahr und zutreffend all diese Bemerkungen der hamartiologischen Tradition sind: Die schiere Faktizität von Leid, wie sie, um im Anschluss an Büchner zu reden, mit dem leisesten Zucken kreatürlichen Schmerzes gegeben ist, wird damit

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nicht erklärt. Es verbleibt das Empfinden unerklärbarer Risse und Sprünge in der Schöpfung, die zwar zum Fall Adams in Beziehung stehen, aber zugleich Fälle eigener Art darstellen. Sollen sie nicht zu hoffnungslosen Fällen werden, muss die Soteriologie eschatologisch ausgerichtet und mit der Erwartung verbunden werden, dass der Versöhner zugleich der Erlöser ist, der mit dem Sünder auch die seufzende Kreatur rettet, die nicht weiß bzw. nicht wissen kann, warum sie leidet.

17. Soteriologie und Eschatologie Lit.: S. Benardete, On Plato’s Symposium. Über Platons Symposion. Hg. v. H. Meier, München 1993. – M. Bieber, Hermeneutische Antwort auf das Unde malum – eine religionsphänomenologische Suche, in: US 69 (2014), 250–263.  – J. Blank / J. Werbick (Hg.), Sühne und Ver­ söhnung, Düsseldorf 1986. – O. Cullmann, Unsterblichkeit oder Auferstehung der Toten? Antwort des Neuen Testaments, Stuttgart 1986. – A. Feuerbach, Gemälde und Zeichnungen aus der staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, Karlsruhe 21978. – F. Förg, Die Ursprünge der alttestamentlichen Apokalyptik, Leipzig 2013. – J. Hauck, „Das Böse redet zum Frevler in seinem Herzen“ (Ps 36,2). Zum Umgang mit dem Unding nach Heiliger Schrift, Liturgie und monastischer Tradition, in: US 69 (2014), 288–304. – H. Hübner, Kreuz und Auferstehung, in: ThR 54 (1989), 262–306. – C. Keisch, Um Anselm Feuerbachs „Gastmahl“, Berlin 1992. – B. M. Levinson, Die biblischen Auseinandersetzungen mit dem Prinzip der generationenübergreifenden Strafe, in: ders., Der kreative Kanon. Innerbiblische Schriftauslegung und religionsgeschichtlicher Wandel im alten Israel, Tübingen 2012, 65–99. – O. Marquard, Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie, in: ders., Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, 11–32. – Ders., Art. malum, in: HWTh 5, Sp. 652–656. – P. Metzger, „Woher kommst du?“ Die Geburt des Teufels aus dem Geist des Monotheismus, in: US 69 (2014), 264–273. – J. Moltmann, „Verstehst Du auch, was Du liest?“ Neutestamentliche Wissenschaft und die hermeneutische Frage der Theologie. Ein Zwischenruf, in: EvTh 71 (2011), 405–414. – G. van Oyen / T. Sheperd (Ed.), Resurrection of the Dead. Biblical Traditions in Dialogue, Leuven u. a. 2012. – Platon, Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Dritter Band: Phaidon. Das Gastmahl. Kratylos (Deutsche Übers. v. F. Schleiermacher), Darmstadt 31990.

Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach (1775– 1833), Begründer der modernen deutschen Strafrechtslehre („nulla poena sine lege“), hatte zwei Söhne, den späteren Archäologen Anselm (1798–1851) und Ludwig (1804–1872), den berühmten Religionskritiker. Der Maler Anselm Feuerbach (1829–1880) war Enkel des Juristen und Sohn des Archäologen, also Anselm III., wenn man so will. Seinen eigenen Stil, der ihn zum Vollender des Klassizismus in der deutschen Malerei werden ließ, bildete er vor allem unter dem Eindruck von Tizian und Raffael aus. Den geistigen Orientierungspunkt bot die klassische Antike Griechenlands, die sein Bildungsideal bestimmte. Zu beispielhaftem malerischen Ausdruck gebracht ist dies in den beiden Gemälden „Das Gastmahl des Platon“, in denen Feuerbach nach Maßgabe der Rahmenhandlung des platonischen Symposions jenes feierliche Bankett darstellt, zu welchem der Dichter Agathon 416 v. Chr. aus Anlass seines ersten Dramensieges geladen hatte (vgl. Benardete). Die erste Bildversion stammt aus dem Jahr 1869 und ist in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe zu sehen (vgl. Feuerbach, 34 ff.), die zweite, mit üppigem Feuerbachs Symposion

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Zierrat und dekorativem Beiwerk versehene Berliner Fassung, welche die römischen Jahre Feuerbachs und seine klassische Phase beschließt, wurde wenige Jahre später ausgeführt und Anfang 1824 vollendet (vgl. Keisch, 26 ff.). Außer einem Stich gleichen Inhalts von Pietro Testa wurden im „Gastmahl des Plato“ Motive zahlreicher klassischer Kunstwerke verarbeitet. Der platonische Dialog war Feuerbach seit 1854 bekannt. Hinweise auf die dargestellten Personen hat er seinem Bild selbst auf dessen erster Ausstellung in München mitgegeben. Gleichwohl sind abgesehen von Agathon, Alkibiades und Sokrates nicht alle dargestellten Personen eindeutig zu identifizieren, und manche Zuweisung bleibt der produktiven Einbildungskraft des Betrachters vorbehalten. Auf archäologische Korrektheit legte Feuerbach Symposiumsinszenierung keinen gesteigerten Wert. In der Mitte der Szene steht – eindeutig zu erkennen – der Gastgeber, der preisgekrönte Dramatiker Agathon, der das Bild, von dem im Folgenden nur die Erstfassung in Betracht gezogen werden soll, in zwei Hälften teilt: in eine dionysische zur Linken und eine apollinische zur Rechten. Der bekränzte Dichter, zugleich ein sophistisch geschulter Rhetor, ist der linken Seite zugewandt, um den soeben mit bacchantischem Gefolge in wonnetrunkenem Rausch spät und unerwartet eintreffenden Alkibiades zu begrüßen. Dem im Diskurs vertieften Sokrates zur Rechten hat Agathon, dessen Erostheorie ganz an äußerer Schönheit orientiert ist, den Rücken zugewandt. Doch findet sich in der zuchtvollen Kleidung, statuarischen Haltung, aber auch in Gestalt eines halb verdeckt hinter ihm sitzenden gealterten Freundes (möglicherweise Pausanias), der den Blick auf eine verdüsterte Außenwelt eröffnet, die Antithese und zugleich der bleibende Vorbehalt markiert gegenüber dem halbnackt und umrankt von leichtbekleideten Schönen in Erscheinung tretenden Alkibiades. Auf dem rechten, apollinischen Gemäldeteil, der den linken – dionysischen – zumindest für den Kreis der Philosophierenden nur in Gestalt von Wandbildern fixierter Erinnerung gegenwärtig hält, ist Sokrates zu sehen – im Gespräch begriffen, vermutlich mit Aristophanes, dem Vollender der altattischen Komödie. Beider Sitzplatz wird durch Leuchten flankiert, diejenige des Sokrates ist mit der Asklepiosschlange versehen, was sowohl als ein Hinweiszeichen auf seinen bevorstehenden Tod als auch als Identifizierungsindiz des namhaften Athener Arztes Eryximachos verstanden werde kann, der sich dem in Gestalt des Alkibiades und seines Gefolges anströmenden jugendfrischen Leben zuwendet, ohne die Distanz zu ihm zu verlieren, was durch die Gegenwart Phaidons eigens unterstrichen wird. Rätsel gibt der im Schatten der Säulenecke zur Linken hinter Sokrates halb verborgen sinnierende Jüngling auf, der als dritter Mann neben Alkibiades und Agathon nicht sitzt oder bei Tische liegt, sondern steht. Man hat ihn mit Aristodemos in Verbindung gebracht, einem dem Philosophen Wort für Wort folgenden, gleichsam hörigen Anhänger. Diese Annahme ist insofern reizvoll, als sie dazu einlädt, den ganz am rechten Bildrand mit hell erleuchtetem Gesicht und in gespannter Aufmerksamkeit sitzenden Knaben mit Platon zu identifizieren, der dem Meister zwar ebenfalls folgt, aber nicht wie ein Schatten, sondern in der konstruktiven Aufmerk-

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samkeit, die den Selbstdenker auszeichnet. Platon wäre nach dieser Les- bzw. Schauart zugleich jener, der vom äußersten Rand her die Feuerbach’sche Gastmahlszene erinnert und eine abbildhafte Darstellung des genuinen Symposions erschließt. Am Ende des Gastmahls, wie Platon es überlieDas Gastmahl des Plato fert, finden wir nur mehr Agathon, Aristophanes und Sokrates wachend und aus einem großen Becher rechtsherum trinkend, wie es schön heißt. Der Philosoph wird der Diskussionen nicht müde und will zu guter Letzt seine beiden verbleibenden Mitdiskutanten zu dem Geständnis nötigen, es gehöre sich für einen und denselben, Komödien und Tragödien dichten zu können, und der rechte Tragödiendichter sei immer auch ein Komödiendichter und umgekehrt. Nachdem darüber Aristophanes und dann auch Agathon der Schlaf übermannt hatte, stand, so bei Platon zu lesen, Sokrates auf, ging weg und ins Lykeion, wo später Aristoteles seinen Unterricht abhalten sollte. Erst abends begab sich der trinkfeste Dialektiker nach Hause und zur Ruhe. Sinngenüsse sind Sokrates nicht fremd, wie Platons „Symposion“ belegt. Doch erliegt der apollinische Weise der Sinnlichkeit nicht, sondern sucht sie zu be­ herrschen, weil er weiß, dass der dionysische Rausch nicht von Dauer ist. Am Rande des Gelages lauert Düsternis, und die Schlange des Sohnes Apolls, als der Asklepios den Griechen galt, gemahnt an Krankheit und Sterben sowie daran, dass den sinnlichen Leib schon zu Lebzeiten in Zaum halten muss, wer seinen Seelen­frieden nicht fahrlässig aufs Spiel setzen will. Endgültiger Friede ist der Seele erst dann verheißen, wenn sie ihre Leibesgefangenschaft definitiv hinter sich lässt, wie das mit dem Tode der Fall ist, der von daher als vollendeter Meister der Heilkunst gewürdigt zu werden verdient. Die sokratische Lobrede auf den Eros, die kurz vor der Ankunft des Alkibiades endet, hat eben diese Einsicht zum hintergründigen Ziel. Um mit der sagenhaften Priesterin Diotima zu reden, von welcher der Meister seine Eros betreffenden Einsichten empfangen haben will: Wahre Liebe erfüllt sich in der Schau ewiger Schönheit, die nicht vergeht, und in der Aus- und Fortbildung un­ vergänglicher Ideen, welche die Tugend befördern. „Wer aber wahre Tugend erzeugt und aufzieht, dem gebührt, von den Göttern geliebt zu werden, und, wenn irgendeinem anderen Menschen, dann gewiss ihm auch, unsterblich zu sein.“ (Platon, 351 [212a]) Was Diotima sagt, wird von Sokrates nach Ankunft Der platonische Sokrates des Alkibiades noch einmal bekräftigt. Dem jungen Lobredner, der seine diversen Vorzüge rühmt, wird zu bedenken gegeben, er möge das Wesen der Schönheit nicht mit äußerem Schein verwechseln: „Das Auge des Geistes fängt erst an, scharf zu sehen, wenn das leibliche von seiner Schärfe schon verlieren will, und davon bist du noch weit entfernt.“ (Platon, 375 [219a]) Diese Bemerkung hatte, wenn sie denn jemals so fiel, auch und mehr noch in Bezug auf denjenigen seine Richtigkeit, der den Sinnspruch der Nachwelt überliefern sollte. Platon, um 43 Jahre jünger als Sokrates, war mit ca. 20 dessen Schüler geworden. Zur Zeit der Dichterfeier Agathons 416 v. Chr. war

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er noch ein Kind. Es vergingen mindestens 30 Jahre, bis er dem Symposion der Alten ein literarisches Denkmal setzte, um es für das abendländische Gedächtnis klassisch werden zu lassen. Platons „Gastmahl“ dürfte nicht vor 385 v. Chr. entstanden sein. Sokrates was damals schon mehr als ein Dutzend Jahre tot. Er wurde 399 v. Chr. als Siebzigjähriger in Athen zum Tode verurteilt. Einen literarischen Bericht von den damaligen Geschehnissen enthält der Dialog „Phaidon“, der vom Sterben des Sokrates berichtet und im Zusammenhang damit eine Lehre von der Seele und ihrer Unsterblichkeit entwickelt. Der Tod befreit nach Ansicht des platonischen Sokrates die Seele vom Leib als ihrem Gefängnis und führt mithin zu jenem Ziel, das nachgerade der Philosoph, der seinen Namen zu Recht führt, zeitlebens erstrebte. Sein Sinnen und Trachten sei auf Erkenntnis aus. Wolle er diese in der nötigen Klarheit und Reinheit erlangen, müsse er sich losmachen von aller Sinnlichkeit, um mit der Seele die Dinge an sich selbst zu erschauen. Erst durch den Tod werde diese Schau zur Vollendung geführt. „Denn alsdann wird die Seele für sich allein sein, abgesondert vom Leibe, vorher aber nicht.“ (Platon, 33 [66e]). Es folgen diverse Beweise für die Unsterblichkeit der Seele: aus dem Kreislauf des Lebens und demjenigen, was Platon Anamnese nennt, aus der seelischen Nähe zum Unvergänglichen und aus dem Kontext der Lehre von den Ideen. Hierauf, auf die Widerlegung von Einwänden sowie auf die Ausführungen zu den postmortalen Schicksalen der Seelen ist hier ebensowenig einzugehen wie auf die Umstände des Todes des Sokrates, von dem der Schluss des Dialogs „Phaidon“ handelt. Von der antiken und namentlich von der christlichen Rezeption der sokratisch-platonischen Seelenlehre wird im Folgeband zur Eschatologie, der die Reihe beschließt, noch ausführlich die Rede sein. Hier sei nur in Erinnerung gerufen, was im vierten Reihenband über Sokrates und Platon (vgl. Bd. 4, 210 ff., bes. 240 ff.), zu Platon und Aristoteles etc. (vgl. Bd. 4, 257 ff.) sowie zur Frage der Implikationen und Konsequenzen der Bestimmung des Leib-Seele-Verhältnisses in der griechischen Philosophie ausgeführt wurde. Je mehr man der Seele die Möglichkeit einräumte, sich ohne innere Verluste vom Leib und seinem Le- Leib und Seele ben zu sondern, desto geringer und weniger prinzipiell schien das Problem irdischer Übel veranschlagt werden zu müssen. Insgesamt hat es den Anschein, als habe sich die altgriechische Heiterkeit durch Leibesnöte weit weniger betrüben lassen als dies unter christlichen Bedingungen von Anfang an der Fall war. Im Christentum hängt die Seele offenbar ungleich stärker an ihrem Leib als unter Voraussetzungen des antiken Griechentums. Nicht als ob nicht auch bei den Christen und im hellenistischen Judentum zu seelischer Distanzierung dem Leib und seinen Belangen gegenüber aufgerufen worden wäre. Aber die geforderte Leib-Seele-Distanz führte doch nie zu beider Separierung; auch dort, wo man Anschluss an den Platonismus suchte, wurde stets und durchgängig die psychosomatische Einheit des Menschen betont und zwar selbst auf die Gefahr hin, ihm dadurch die seelische Abstandnahme von leiblichen Problemen und Problemen der leiden-

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den Kreatur, die Sympathie in Form von Mitleid auf sich zieht, bis dorthin zu erschweren, dass diese Probleme als aporetisch und unlösbar erscheinen mussten. Im Schlussabschnitt sei daher der Blick noch einmal kurz auf die Thematik des malum gerichtet, um von der Aporetik aus, die sie bereitet, und auf der Basis dessen, was bisher zur christlichen Religion im Allgemeinen und zu ihrer Soteriologie im Besonderen expliziert wurde, einige eschatologische Perspektiven und Grundzüge einer im Einzelnen auszuarbeitenden Lehre „De novissimis“ zu entwerfen. Odo Marquard hat die „Theodizee“ von Leibniz ein philosophisches „Initial­ tribunal“ (Marquard, Entlastungen, 13) genannt: Sie zuerst habe „die Philosophie an ihrer Hauptstelle zum Tribunal gemacht: zum Prozess Mensch gegen Gott in Dingen Übel in der Welt“ (ebd.). Der Schöpfer der Welt findet sich auf der Anklagebank wieder, um vor dem Forum der Vernunft verhört und durch diese zu gegebener Zeit verteidigt zu werden. Eine Verteidigung Gottes erscheint Leibniz nur dann als möglich, wenn die Übel der Welt sich auf vernünftige Weise erklären lassen. Damit sei der prozessualen „Entübelung der Übel“ (Marquard, Entlastungen, 21), ihrer „Gutmachung“ (ebd.), kurzum: „der Malitätsbonisierung“ (ebd.) und damit „einer Generaltendenz der modernen Welt und Philosophie“ (ebd.) der Weg bereitet. Nach Marquard führt dieser Weg zu einer fortschreitenden Tribunalisierung nicht nur in Bezug auf Gott, sondern in Bezug auf alle Verhältnisse, in denen sich der Mensch befindet. Erweckt wird der Schein einer Lösung, ohne sie wirklich erbringen zu können. Denn Übel lassen sich allenfalls ansatzweise, aber nie vollkommen aus der Welt schaffen und zwar weder auf theoretische noch auf praktische Weise. Mit Marquard zu reden: „Es existieren menschliche Probleme, bei denen es gegenmenschlich, also ein Lebenskunstfehler wäre, sie nicht zu haben, und übermenschlich, also ein Lebenskunstfehler, sie zu lösen.“ (Marquard, Entlas­ tungen, 28 f.) Problemlösungsverfahren werden inhuman, wenn Aporetisches Problem sie bestehende Aporien verkennen und über ausweglose Lagen hinwegtäuschen, in denen Theorie und Praxis an ihre Grenzen stoßen. „Probleme zu haben, mit denen man nicht fertig wird“, sagt Marquard, sei „menschlich normal“ (Marquard, Entlastungen, 28). Ob nun normal oder nicht: In jedem Fall wäre es unmenschlich, aporetische Probleme grundsätzlich in Abrede stellen bzw. generell leugnen zu wollen, dass es kontingente Geschicke gibt, zu denen sich der Mensch sinnigerweise nur religiös verhalten kann, weil sie ansonsten als nicht nur sinnlos und sinnwidrig, sondern als sinndestruierend erfahren werden müssten. In der Frage, unde malum, artikuliert sich, wenn sie denn ernst gemeint ist, ein solches Problem. Weil der Teufel aus der neuzeitlichen Philosophie (und Theologie) im Großen und Ganzen verbannt worden sei, habe er Marquard zufolge ins Detail ausweichen müssen; „dort, bekanntlich, steckt er auch noch heute und sorgt dafür, dass – etwa – im ‚Historischen Wörterbuch der Philosophie‘ der Artikel ‚Böse‘ ‚vergessen‘ wird“ (Marquard, malum, 654). Glücklicherweise nicht vergessen wurde im HWPh ein malum-Artikel mit vielen Unterabschnitten, in denen ein kenntnisreicher Über-

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blick über die philosophische Diskussion „der Begriffe des Übels und des Bösen, des Schlechten und des Schlimmen, Schrecklichen, des Unvollkommenen, Mangelhaften, Defekten, Defizitären und Inferioren, des Unordentlichen, Dysfunktionalen, Widrigen, Kranken, Fatalen, des Ruchlosen, der Sünde und der Schuld, des Verkehrten, Irrigen, Lasterhaften, der Entfremdung, des Leides, des sonstwie Nichtigen und Negativen“ (Marquard, malum, 653) gegeben wird. Summa summarum: „das Problem bleibt, was es war: ungelöst und offen.“ (Marquard, malum, 656) Es wird es wohl bis ans Ende der Tage trotz aller ontologischen, kosmologischen, anthropologischen und sonstigen Antworten bleiben, welche die unde malum-Frage im Laufe der Geistesgeschichte erhalten hat (vgl. etwa Bieber). Auch der Verweis auf den Teufel und die Zurückführung alles Bösen auf den Bösen erbringt diese Problemlösung nicht, solange die Frage unbeantwortet bleibt, die im Eingang des Hiobbuches Gott selbst dem Satans stellt: „Woher kommst du?“ (Hi 1,7; vgl. Metzger, 264) Die Problematik des malum führt in eine Aporie und zwar nicht nur in Form des bewusst verübten Bösen, sondern auch und gerade des nicht von Menschen verschuldeten Leidens. Nichtsdestoweniger muss man auf sie eingehen, da es trotz ihrer theoretischen und praktischen Unlösbarkeit unmöglich ist, sich nicht zu ihr zu verhalten; „auch wenn unserem Denken Wesen und Ursprung des Bösen letztlich verborgen bleiben, müssen wir tagtäglich mit ihm umgehen – es zu ignorieren, ist keine Enthaltung, sondern auch eine Entscheidung“ (Hauck, 288), und zwar eine schlechte, wie man hinzufügen darf. Es gibt gewiss sinnvolle theoretische und praktische Umgangsweisen mit dem Problem des irdischen Übels. Beseitigen lässt es sich nicht. Es ist und bleibt daher eine Herausforderung, nachgerade für die Religion und zumal für die christliche, die im Zeichen des Kreuzes direkt auf Leiden und Sterben bezogen ist und ihre soteriologische Hoffnung ganz auf den auferstandenen Gekreuzigten und seine eschatologische Wiederkunft setzt. Wie sich der Zusammenhang von Soteriologie und Eschatologie näherhin darstellt, sei im Folgenden skizziert und zwar zunächst in der Weise einer allgemeinen dogmatischen Grundlegung, dann unter Konzentration auf das Ende alles Endlichen und auf die eschatologische Hoffnung auf die Erlösung von allen Übeln. Religion ist durch Theorie und Praxis nicht substituierbar. Zwar steht sie in einem konstitutiven Be- Christliche zug zu Denken und Handeln, ohne den sie nicht Offenbarungsreligion wäre, was sie ist. Aber ersetzt werden kann sie weder durch das eine noch durch das andere noch durch beides zusammen. Sie ist auf Probleme bezogen, die weder einer theoretischen noch einer praktischen Lösung zuzuführen sind, obwohl sie jeden Denkenden und Handelnden unmittelbar angehen. Solche Probleme betreffen den Weltbezug und den Selbstbezug menschlicher Subjektivität sowie die Beziehung, die zwischen beiden Bezügen waltet. In Bezug auf die Welt als Inbegriff des Erfahrbaren stellt sich unvermeidbar die Frage nach ihrem Konstitutions- und Erhaltungsgrund und nach einem möglichen Sinnziel, auf welches Welterfahrung insgesamt und zuletzt ausgerichtet ist. In Bezie-

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hung auf sich selbst ist das Subjekt vor die Frage gestellt, was das Ich als einheitliches Prinzip alles Denkens und Handelns an sich selbst ist und worin es gründet. Als solcher Grund kommt weder einzelnes Weltliches noch das Weltganze infrage, da das Ich eine transmundane Größe insofern ist, als es alle Weltbezüge bedingt und sie zugleich transzendiert; aber auch das Ich selbst scheidet als Letztbegründungsinstanz aus, da die Annahme seiner Selbstsetzung in Aporien führt, die sie als unhaltbar erweisen. Dem christlichen Glauben hat sich der Grund des religiösen Verhältnisses und damit der Grund seiner selbst in Jesus Christus erschlossen. Zu ihm bekennt er sich als dem Offenbarer Gottes. Ihrem formalen Begriff nach ist Offenbarung die Selbsterschließung des fundierenden Grundes von Selbst und Welt, auf den das religiöse Verhältnis ausgerichtet ist. Nach dem Glaubensbekenntnis der christlichen Religion ist dieser Grund in Jesus Christus offenbar. Das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus Gottes bildet entsprechend die innere Mitte des christlichen Credo: „Ich gläube, daß Jesus Christus … sei mein HERR .“ (BSLK 511,23–26) Es ist der Christologie als dem Zentrum christlicher Lehre aufgegeben, den Sinn dieses Satzes und die Dimensionen seiner Bedeutung zu bedenken, um seiner geistigen Im­ plikationen und Folgen pneumatologisch gewärtig zu werden. Christologie ist Theanthropologie unter Einschluss Ostern als Urdatum kosmologischer Bezüge. Als Urdatum hat Ostern zu des Christentums gelten. An Ostern ist Jesus Christus als der inkarnierte Sohn Gottes und Gott, der Schöpfer Himmels und der Erden, als Vater Jesu Christi manifest. Gewirkt ist diese Offenbarung im göttlichen Geist, um für Menschheit und Welt auf Glauben hin erschlossen zu werden. Als göttliches Offenbarungsereignis ist Ostern das Urdatum und der beständige Grund des Christentums. Nicht nur würde Jesus als Christus und Sohn Gottes nicht ohne Ostern erkannt; hätte ihn Gott in der Kraft seines Geistes nicht aus dem Tode erweckt, dann wäre er auch nicht die gottmenschliche Person, die er ist. Ebensowenig wäre Gott als Vater des Sohnes manifest, wäre dieser nicht durch den Hl. Geist aus dem Grabe erstanden. Ostern ist sowohl in noetischer als auch in ontischer Hinsicht von schlechterdings grundlegender theologischer Bedeutung. Es ist das absolute Faktum christlicher Theologie und in seiner Faktizität nicht weniger als das aktuelle Wirkzeichen der ewigen Gottheit Gottes in der Menschheits- und Weltgeschichte, dem denkend nachzusinnen der Sinn des altkirchlichen Dogmas in der differenzierten Einheit christologischer und trinitätstheologischer Lehrbildung ist. Das Dogma der Alten Kirche bekennt Jesus Christus als den inkarnierten Logos Gottes, der als zweite göttliche Person der Gottheit Gottes gleichwesentlich, obzwar in hypostatisch differenzierter Weise zugehört wie Vater und Geist. Erkenntnis- und Realgrund dieses Bekenntnisses ist Ostern. Wohl war Jesus von Anbeginn seiner irdischen Existenz der inkarnierte Logos, ja sein menschliches Sein ist für keinen Augenblick abgesehen von der Inkarnation des göttlichen Logos zu denken, der sein Personsein von Anbeginn konstituiert, ohne dass dadurch das

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Menschsein Jesu in irgendeiner Weise beschnitten wäre; Jesus verfügt über ein individuelles menschliches Selbstbewusstsein und über einen eigenen Willen, dessen gänzliche Konformität mit dem göttlichen keineswegs als Indiz unvollkommenen, sondern gleich seiner Sündlosigkeit im Gegenteil als Indiz vollkommenen Menschseins zu werten ist. Durch sein österlich offenbares gottmenschliches Personsein, wie es in der Identitätsaussage „Jesus ist der Christus“, die den Grundsatz des Christentums bildet, ursprünglich bekannt wird, ist der irdischen Jesus als der inkarnierte Logos erwiesen. Dieser Erweis gilt ohne Einschränkung, jedoch so, dass er zugleich die Einsicht in den proleptischen Charakter des irdischen Daseins Jesu Christi erschließt, der in seiner Hinordnung auf das Kreuzesgeschehen seinen innersten Grund hat. Der vorösterliche Jesus ist der inkarnierte Logos zwar nicht in eingeschränkter, aber insofern in vorläufiger Gestalt, als das irdische Leben Jesu zum Kreuzestod hin verläuft, der mit dem Grundkonflikt zusammenhängt, „in welchem Jesus von dem Augenblick an stand, als er die große Versöhnung Gottes mit den Menschen unabhängig vom Tempel“ (Blank / Werbick [Hg.], 82) und unabhängig von der Gesetzeserfüllung (vgl. Hübner) zu predigen begann. In diesem Richtungssinn des Lebens Jesu ist alles inbegriffen, was über die Unscheinbarkeit und Uneindeutigkeit seines irdischen Daseins ausgeführt wurde. Es liegt in der Verfasstheit von Historizität im Allgemeinen und in der hierauf elementar bezogenen Historie des vorösterlichen Jesus im Besonderen begründet, dass beider Sinn nicht eindeutig und ohne verbleibende Ambivalenzen zu erfassen ist. Erst im Lichte Osterns weicht der Schein der Zweideutigkeit, der die historische Existenz Jesu, wie sie mit Mitteln historischer Urteilsbildung zu rekonstruieren ist, zeitlebens umgeben hat, nicht um das Faktum historischer Uneindeutigkeit zu beseitigen, sondern um es in seinem staurologischen Sinn zu identifizieren. Die gegen Deutungsambivalenzen nicht vorweg abgesicherte historische Existenz Jesu gibt sich österlich als Wesensmerkmal seiner ans Kreuz führenden Proexistenz zu erkennen, der auch das seinem irdischen Dasein eignende Vergänglichkeitsmoment zuzudenken ist. Gewesensein gehört zum Wesen Jesu. Doch ist die Vergangenheit Jesu durch Ostern als ein Faktum von unvergänglicher Ewigkeitsbedeutung gesetzt, dessen protologischen Sinn zu erheben Primäraufgabe christlicher Schöpfungslehre ist. Zentraler Erschließungsgrund christlicher Schöpfungslehre, an dem sie sich zu orientieren hat, um ih- Inkarnation und rem Thema, ohne Uneindeutigkeitsaspekte zu leug- Schöpfungsanamnese nen, die nötige Eindeutigkeit zu verleihen, ist der irdische Jesus, wie er im Lichte Osterns erscheint. Der österlich offenbare irdische Jesus ist als wirklicher Mensch der wahre Mensch, der Einsicht in das rechte menschliche Selbst- und Weltverhältnis erschließt. Im wahren Menschsein Jesu verwirklicht sich die kreatürliche Bestimmung jedes Menschen und damit der Menschheit überhaupt. Diese Bestimmung ist im menschlichen Geschöpfsein grundgelegt und in den göttlichen Schöpfungsgeboten expliziert. Sie vollendet sich entsprechend in der Erfüllung der göttlichen Gebote, deren Inbegriff das Doppelgebot der Liebe ist.

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Im irdischen Jesus als der exemplarischen Gestalt der Gottes- und der Menschenliebe ist das Schöpfungsgebot Gottes erfüllt. Sein Werk entspricht in Wort und Tat der von Gott gesetzten Wirklichkeit der Schöpfung. Als wahrer Mensch, dessen Werk in Wort und Tat das göttliche Schöpfungsgebot erfüllt und der kreatürlichen Bestimmung der Menschheit gerecht wird, ist der irdische Jesus, wie er im Lichte Osterns erscheint, der inkarnierte Logos in Person und das Wirkzeichen göttlicher Realpräsenz in der Welt. Der inkarnierte Logos, als welcher der irdische Jesus an Ostern leibhaft offenbar ist, um in der Kraft des Geistes pfingstlich wirksam zu sein, ist die personale Manifestationsgestalt ursprünglicher Gott-Mensch-Gemeinschaft und als solche nicht nur Offenbarer der Bestimmung des Menschengeschöpfs, sondern zugleich Offenbarer des Schöpfergottes, der dem Wesen seiner Gottheit gemäß nicht sein will ohne den Menschen und seine Welt. In dem österlich als inkarnierter Logos offenbaren irdischen Jesus wird das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf als personales Verhältnis der Vater- und Kindschaft offenbar. Gott der allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden ist im inkarnierten Sohn als Vater seiner Kreaturen manifest, für deren Bestimmung zur Gotteskindschaft der logospersonierte irdische Jesus einsteht. Im trinitarisch-christologischen Dogma der Alten Kirche ist präfiguriert, wie dieser Zusammenhang näherhin zu denken ist, wobei die Lehre von der communicatio idiomatum den vorzugsweise zu gebrauchenden hermeneutischen Schlüssel darbietet, die genuine Gemeinschaft göttlichen und menschlichen Wesens zu erschließen, wie sie in der unio personalis Jesu Christi statthat. Als der österlich offenbare inkarnierte Logos Gottes ist der irdische Mensch Jesus der entscheidende Erschließungsgrund christlichen Schöpfungsglaubens. Dieser ist und bleibt zwar auf vorausgehende Überlieferungen bezogen, die aber erst durch ihre christologische Bestimmtheit materialiter und formaliter zu eindeutiger Gewissheit gelangen. Bleibt erneut zu fragen, wie sich der irdische Jesus, der an Ostern in der Kraft des göttlichen Geistes als wahres Geschöpf und inkarnierter Schöpfungslogos manifest ist, zum sog. historischen Jesus verhält. Jürgen Moltmann hat diese Frage unlängst auf folgende Weise formuliert und beantwortet: „Wodurch wird eigentlich eine geschichtliche Person historisch? Durch ihre Vergangenheit, durch ihren Tod. Der historische Jesus ist der tote Christus, um es hart, aber klar zu sagen.“ (Moltmann, 407) Dieser bemerkenswerte Satz verdient es, bedacht zu werden und zwar in doppelter Hinsicht. Die Evangelien, das ist wahr, erzählen die Historie des irdischen Jesus als „Geschichte eines Lebenden“ (E. Schillebeeckx), also unter österlichen Voraussetzungen. Ja, nicht nur sie, alle Zeugnisse des Neuen Testaments sind explizit und im­ plizit durch die Osterbotschaft geprägt. Dieser Sachverhalt lässt sich weder theologisch noch historisch bestreiten. Doch ebenso unbestreitbar ist, dass das neutestamentliche Osterzeugnis in keiner seiner Gestalten den Tod Jesu jemals re­ voziert und für unwirklich erklärt hat. Seine Faktizität ist und bleibt vielmehr die durchgängige Prämisse der Osterbotschaft als des Zeugnisses von der Aufer­ weckung und Auferstehung des Gekreuzigten. Entsprechend erzählen die Evan-

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gelien das Leben des irdischen Jesus, von dem sie österliches Zeugnis geben, nicht als ein Leben, das den Tod bereits hinter sich, sondern als ein solches, das ihn noch vor sich hat. Zumindest in dieser Hinsicht stimmt der irdische Jesus des Neuen Testaments mit dem sog. historischen ganz und gar überein. Die Evangelien sind Passionsgeschichten mit verlängerter Einleitung (Martin Kähler). Der Tod Jesu ist für ihr Zeugnis konstitutiv. Konstitutiv für dessen Verständnis ist entsprechend auch das Vergehen der historischen Existenz Jesu, deren Historizität nachgerade im Lichte Osterns staurologisch zu denken ist. Im Lichte Osterns, so wurde gesagt, ist der irdische Jesus als wahres Geschöpf und inkarnier- Staurologische ter Logos offenbar. Dieser Satz ist zutreffend, aber Konzentration er wäre soteriologisch unterbestimmt, wenn das Leben Jesu nicht als ein Leben zum Tode verstanden würde. Das Kreuz ist der Skopus des jesuanischen Daseins, die inkarnationstheologische Christologie staurologisch zu konzentrieren. Dies ist deshalb notwendig, weil das genuine Verhältnis von Gott und Mensch, welches die Schöpfungslehre bedenkt und welches im österlich offenbaren irdischen Jesus definitiv manifest ist, durch den Fall der Sünde als vom Menschen her prinzipiell verfehlt zu gelten hat. Für den sündigen Menschen ist die Ursprungsgüte der Schöpfung grundsätzlich vergangen. Sein ursprüngliches Wesen und das seiner Welt ist, wenn man so will, für ihn nur noch im Modus des Gewesenseins bzw. als ein Vorwurf präsent. Dass dem so ist, wird durch die Offenbarung ursprünglicher Schöpfungsgüte, wie sie in der Gestalt des irdischen Jesus im Lichte Osterns statthat, nicht falsifiziert, sondern verifiziert. Der irdische Jesus erscheint den Menschen, wenn er ihnen im Lichte Osterns und im pfingstlichen Geiste als logospersonierter wahrer Mensch erscheint, gerade nicht als derjenige, welcher der betreffende Mensch selbst ist, sondern als ein Alter Ego, ein ganz anderer, welcher zu sein ich zwar bestimmt bin, dem ich aber nicht nur nicht entspreche, sondern widerspreche. Aus diesem manifesten Widerspruch kann weder das Vorbild Jesu noch die Tatsache erretten, dass in seinem Leben die theanthropologische Ursprungsbestimmung von Schöpfung offenbar geworden ist. Erretten kann aus ihm nur der Gekreuzigte, dessen Passion an Ostern als die unvergleichliche göttliche Heilsaktion offenbar ist, die Sünder zu rechtfertigen und verlorene Menschensöhne und -töchter mit Gott zu versöhnen vermag. Der Heiland von Menschheit und Welt ist der irdische Jesus nicht als Ur- und Vorbild wahrer Geschöpflichkeit, das er auch ist, sondern als derjenige, der um unseretwillen in den Tod gegangen und historisches Vergehen auf sich genommen hat. Es sind im Wesentlichen staurologische Gründe, welche die Behauptung einer Identität von irdischem und historischem Jesus unverzichtbar machen einschließlich aller Ambivalenzen, ja Aporien, die mit ihr verbunden sind. Ist doch nachgerade der österlich Erstandene kein anderer als der Gekreuzigte, dessen im Tod endendes Leben mit dem ewigen dergestalt eins geworden ist, dass er lebendiges Heil für Menschheit und Welt zu erschließen vermag, wie dies in der Kraft des Geistes geschieht.

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Im Hl. Geist gibt Gott durch Wort und Sakrament dem Glauben bedingungslosen Anteil an seiner Offenbarung in Jesus Christus, dem auferstandenen Gekreuzigten. Diese Anteilsgabe erfolgt ohne Vorbehalte; im Geist partizipiert der Glaubende, indem er sich auf ihn verlässt, ganz an Jesus Christus, der ihm in Wort und Sakrament alles zu eigen gibt, was sein ist. Als Grund des Glaubens ist Jesus Christus im göttlichen Geist dem Glaubenden nicht äußerlich, sondern innerlich verbunden und näher als dieser sich selbst nahe zu sein vermag. Jesus Christus ist das Alter Ego des Christen, und er ist es im Geiste so, dass der Glaubende in ihm den richtenden und rettenden Grund seiner selbst und damit sich einerseits in seiner kreatürlichen Bestimmung und deren schuldhafter Verfehlung sowie andererseits als gerechtfertigt, versöhnt und zu erlöster Vollendung bestimmt mit einer Gewissheit erkennt, die all sein Denken und Handeln umgreift. Diese Erkenntnis hat in Form jenes pneumatischen Christusgedächtnisses statt, wie es in Wort und Sakrament zeichenhaft wirksam geübt wird. In Zeichen, deren Sinn er gestiftet hat, um sie als ExPneumatisches plikationsmittel seiner selbst zu bestimmen, bringt sich Jesus Christus in der Kraft des göttlichen GeisChristusgedächtnis tes selbst lebendig in Erinnerung. Als Subjekt seines Gedächtnisses bewirkt er Schöpfungsanamnese, innige Erkenntnis des abgründigen Falls der Sünde, um als Versöhner Gottes und des Menschen Rechtfertigung des Sünders zu erschließen und die Zukunft vollendeten Heils zu eröffnen, in der auch alle irdischen Übel behoben sind. Der göttliche Geist wirkt nicht in vermittlungsloser Unmittelbarkeit, sondern mittels Wort und Sakrament, damit sich durch diese Jesus Christus repräsentiere, den wegen des Heils von Menschheit und Welt zu verherrlichen das Wesen des Hl. Geistes ist. In den Medien von Wort und Sakra­ment wird nicht dies oder jenes vermittelt; in ihnen vermittelt sich der gottmenschliche Mittler, in welchem Gott und Mensch versöhnt sind, kraft des Geistes als er selbst, um im Erweis des vollendeten Perfekts seiner österlichen Erscheinung sich als inkarnierten Logos, den Gekreuzigten, den Auferstandenen und als denjenigen zu präsentieren, der wiederkommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten. In Jesus Christus, der mittels Wort und Sakrament im Pfingstgeist als derjenige vorstellig wird, der österlich erschienen und zur Rechten Gottes erhöht ist, offenbart sich der Verlauf und Richtungssinn der göttlichen Ökonomie von der Schöpfung hin zur Vollendung. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Geschichte Gottes mit Menschheit und Welt sind in Jesus Christus als demjenigen beschlossen, in dessen österlicher Erscheinung der göttliche Grund von Selbst und Welt offenbar ist. Was das bedeutet, muss in menschlicher Hinsicht und in Bezug auf Gott durchdacht werden, damit der differenzierte Zusammenhang beider Perspektiven und mit ihm das theanthropologische Verhältnis von Protologie und Eschatologie erfasst werde. Der theologische Ort, an dem dies in sachentsprechender Weise zu geschehen hat, ist die Pneumatologie und vermittels ihrer die Ekklesiologie als die Lehre der christlichen Kirche, in welcher das Wort des Evangeliums verkündet und

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die Sakramente gefeiert werden, damit die himmlische Herrlichkeit des auferstandenen Gekreuzigten zum Vorschein komme. Die himmlische Verherrlichung des auferstandenen Gekreuzigten und seine Erhebung zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, vollenden das Leben des irdischen Jesus als das Leben dessen, der für uns gestorben ist. Die Vollendung des Lebens des für uns gestorbenen Jesus entnimmt diesen den Schranken von Zeit und Raum und begründet seine universale Christusherrschaft. Die Gestalten, in denen der erhöhte Jesus seine Herrschaft unter den Bedingungen einer unvollendeten Menschheit und Welt wahrnimmt, sind Wort und Sakrament. In Wort und Sakrament ist Jesus Christus durch den Geist in wirksamer Zeichenhaftigkeit gegenwärtig, um lebendigen Anteil zu geben an der heilsamen Wahrheit, die in ihm offenbar ist. Im Zeichen der Taufe gibt er in der Kraft des göttlichen Geistes individuellen Anteil an seinem Sohnesverhältnis zum Vater. Im Zeichen des Abendmahls gibt er sozialen Anteil an seinem Sohnesverhältnis zum Vater. Im Zeichen des Wortes, wie es in Gesetz und Evangelium wirksam und im Kanon der Hl. Schrift beurkundet ist, gibt Jesus Christus die gleichursprüngliche Einheit von gottgefälliger Individualität und gottgefälliger Sozialität, welche in seinem Namen inbegriffen ist, dem Glauben im Geist zu verstehen, um eine Kirche für Menschheit und Welt zu begründen, auf dass das Reich Gottes universal wirklich werde. Die Wirkung des Wortes Gottes in Gesetz und Evangelium entspricht der Wirklichkeit des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Wahrgenommen wird die der Wirklichkeit des auferstandenen Gekreuzigten entsprechende Wirkung des Wortes Gottes nach reformatorischem Bekenntnis vornehmlich durch contritio und fides. Reue, als persönliche Wahrnehmungsgestalt des Falls der Sünde im Bewusstsein eigener Schuld, und Glauben an das Evangelium der Rechtfertigung und Versöhnung sind die konstitutiven Momente des Vollzugs, welchen der Geist Jesu Christi im Menschen zustande bringt. Alle weiteren Vollzugsmomente des pneumatologischen Prozesses, welcher den ordo salutis bestimmt, sind strukturell in Reue und Glaube enthalten, welche ihrerseits nichts anderes als das Rechtfertigungsgeschehen in seiner differenzierten Einheit bezeichnen. Indem der auferstandene Gekreuzigte kraft des Hl. Geistes durch Wort und Sakrament sich ver- Die Bestimmung von gegenwärtigt, realisiert er die Rechtfertigung des Selbst und Welt Sünders aus Gnade durch Glauben. Im Rechtfertigungsglauben, der die Reue heilsam bestimmt, sind notitia und assensus in reinem Vertrauen aufgehoben. Als fiducia hat die fides realen Anteil an der Wirklichkeit Jesu Christi und darf ihres ewigen Heiles vorbehaltlos gewiss sein. Indem er der Sorge um sein eigenes Seelenheil gründlich enthoben ist, ist der Glaube nicht nur frei zu Fürsorge und selbstloser Tat der Liebe, sondern auch offen für eine Zukunft, die alle Schranken des Endlichen transzendiert, nicht um diesem den endgültigen Abschied zu geben, sondern um es zu vollenden und zur Erfüllung zu bringen. Auf dieses eschatologische Ziel ist die Hoffnung des Glaubens ausgerichtet. Sie erwartet von Gott eine Zukunft für Selbst und Welt, in der sich beider Bestimmung vollkommen realisiert.

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Alles, was der Welt zugehört, ist eines unter anderem. Jedes Seiende ist differenzbestimmt: Es ist, was es ist, im Unterschied zu demjenigen, was es nicht ist. Die rudimentärste Form der Differenzbestimmtheit alles Weltlichen ist das Nebeneinander des Raumes, worauf das zeitliche Nacheinander folgt. Der Raum, der das Weltall bestimmt, ist der äußerlichste Bezug des Einen zum Anderen, wohingegen mit der Zeit sich ein Innenverhältnis anbahnt, sofern in ihr eines als eines anders wird und so Veränderung statthat. Alles raumzeitlich Bestimmte ist endlich. In ihrer Negativität manifest wird die Endlichkeit des Endlichen, wenn im Vollzug einer Veränderung die Identität des Einen, das anders wird, nicht erhalten, sondern zerstört wird. Dann findet Veränderung nicht länger in Form eines Sich-Änderns statt, weil eine Entität dergestalt anders wird, dass sie aufhört, sie selbst zu sein. Der Lauf der Zeit nimmt Vergänglichkeitscharakter an. In Bezug auf den Vergänglichkeitscharakter anorganischer Entitäten wird in der Regel kein großes Gewese gemacht. Wenn ein Atom zerspalten, ein Molekül in seine Bestandteile zerlegt oder ein Stein zerschlagen wird, hält sich die Trauer in Grenzen. Entsprechend verhält es sich, wenn Sachen kaputt gehen, die bloßen Gebrauchswert und nicht mehr als die Bedeutung von austauschbaren Waren haben. Nicht unerheblich anders stellt sich die Angelegenheit für den Fall dar, dass beispielsweise eine geerbte Vase zu Bruch oder ein Erinnerungsstück verloren geht, das einem lieb und teuer geworden war. Dann ist man zumindest für den Augenblick betrübt und betroffen, weil man meint, Unersetzbares sei abhanden gekommen. Ein noch einmal ganz anderes Empfinden begleitet den Verlust eines Tieres, an dem man hing. Jedes Kind weiß, was gemeint ist, und auch Erwachsene haben eine bleibende Ahnung davon, sofern sie ihr kindliches Gemüt und die dazugehörige Sensibilität nur ein wenig bis ins fortgeschrittene Alter hinein erhalten haben. Wenn das Haustier, mit dem in stillschweigender Übereinkunft zusammenzuleben man gewohnt war, steif und regungslos vor einem liegt, dann wird uns bange ums Herz und die Sympathie wandelt sich zu dem, was ihr Begriff seiner originären Bedeutung gemäß besagt: in Mitleid und in das Empfinden, dass ein Unikat dahingeschieden ist. Ins Unerträgliche steigert sich dieses Empfinden beim Tod eines geliebten Menschen. Schlagartig wird uns dann klar, Einmaliges unwiederholbar und unwiederbringlich verloren zu haben. Alles Endliche endet. Doch nur Lebewesen sterben. Von der Endlichkeit Im pflanzlich-vegetabilischen Bereich bahnt sich alldes Endlichen mählich an, was Leben und Sterben heißt, um in der tierisch-animalischen Sphäre vollends zutage zu treten. Leblose Entitäten sind da, aber nicht für sich; lebendige Wesen hingegen sind nicht nur an sich, sondern auch für sich präsent. Die urtümlichste Weise der Selbstpräsenz ist das taktile Gefühl. Lebewesen sind fühlende Wesen, Wesen, die der anfangs erwähnten Differenzbestimmtheit alles Seienden nicht nur äußerlich unterliegen, sondern ihrer innewerden. Fühlen heißt, der Differenz von Innen und Außen inne sein zu können. Erst mit dem möglichen Innesein der Innen-Außen-Differenz hebt Leben an. Lebewesen stehen, in welch rudimentärer oder entwickelten Weise

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auch immer, in einem Verhältnis zu sich. Die Bestimmung von einem zum andern nimmt unter diesen Bedingungen eine neue Qualität an. Lebewesen sind fühlende Wesen und der Differenz von Innen und Außen inne. In der fühlenden Wahrnehmung der Innen-Außen-Differenz ist diejenige von Lust und Unlust elementar mitgesetzt. Lebendiges, das fühlt, kann Lust und Unlust und damit Formen oder Vorformen dessen empfinden, was Freude und Leid heißt. Die elementarste Weise von Unlust und Leid ist der Schmerz, den jedes Lebewesen instinktiv scheut, zu vermeiden bzw. zu beseitigen trachtet. Schmerz dient durchaus dem Lebenserhalt, ist aber zugleich ein Indiz der Verletzlichkeit des Lebens und insofern ein Vorbote des Todes. Auch wenn Tiere eine empfindsame Ahnung von ihm haben, so fehlt ihnen doch ein explizites Wissen vom Tod. Der Mensch als animal rationale hingegen hat ein entwickeltes Todesbewusstsein und ein Bewusstsein eigener Sterblichkeit, wodurch sein Empfinden von Lust und Unlust, Freude und schmerzlichem Leid bei aller Vergleichbarkeit einen kategorial anderen Charakter annimmt als im Falle des Tieres. Ein Tier wird vom Tod betroffen, wenn es stirbt oder in seinem vitalen Trieb akut bedroht ist. Uns Menschen hingegen begleitet der Tod ein Leben lang. Dies ängstigt. Angst ist von Furcht zu unterscheiden, auch wenn zwischen beiden ein unbestreitbarer Zusammenhang besteht, vor allem derjenige eines Empfindens von Unwohlsein und von Unlust. Furcht hat einen Gegenstand; man fürchtet sich vor etwas. Angst dagegen kann sich auch ohne Objektbezug einstellen. Sie ist dann Angst vor nichts, wobei es angstgemäßer ist, Nichts großzuschreiben. Angst weiß in der Regel nicht genau zu sagen, wovor sie sich ängstigt; gerade darin besteht ihre Unheimlichkeit als Nichtigkeitsangst. Die Todesangst ist nicht lediglich Angst vor physischer Vernichtung, sondern vor einem psychosomatischen Verderben, welches den ganzen Menschen erfasst und ihn in den bodenlosen Abgrund von Sinnlosigkeit, ja Sinnwidrigkeit hinabfallen lässt. Todesangst kann höllische Ausmaße annehmen. Seit es Menschen gibt, haben sie nach einem Leben nach dem Tod bzw. nach einem Sinn des Leibhafte Toten­ Lebens gefragt, der auch im Tod und durch ihn auferstehung und hindurch unvergänglichen Bestand hat. Im Chris- Unsterblichkeit der Seele tentum und in der christlichen Theologie sind zwei Antworten auf diese Frage verbunden worden, die ursprünglich getrennt entstanden, aber schon im vorchristlichen Hellenismus in Beziehung zueinander gesetzt worden sind: Die vorzugsweise in der jüdischen Apokalyptik ausgebildete Erwartung einer leibhaften Auferweckung aller Toten am Ende der Menschheits- und Weltgeschichte (vgl. im Einzelnen van Oyen / Sheperd [Ed.]) und die aus der griechischen Antike stammende Annahme einer Unsterblichkeit der Seele. Gelegentlich hat man die Hoffnung auf Auferstehung der These einer Seelenunsterblichkeit in schroffer Alternative kontrastiert (vgl. etwa Cullmann), ohne hinreichend klären zu können, „was denn nun die Kontinuität zwischen dem irdischen Menschen

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und dem die gleiche Individualität besitzenden Menschen nach der Auferstehung ist“ (Hübner, 305). Nicht zuletzt um dieses sachlichen Problemes willen werden in der Überlieferung schon des frühen Christentums beide Vorstellungen kombiniert, wobei zunächst die allgemeine Auferstehung am Ende der Zeiten im Vordergrund der Lehre stand, wohingegen später vor allem der Gedanke der Seelenunsterblichkeit das Interesse auf sich zog mit der Folge, dass sich der Lehrakzent immer mehr von der universalen zur individuellen Eschatologie hin verschob. Mit der Akzentverschiebung von der universalen hin zur individuellen Eschatologie hängt das Problem des sog. Zwischenzustands, also die Frage zusammen, ob und wie sich beide Eschatologieformen miteinander vermitteln lassen. Hierauf und auf den differenzierten Zusammenhang von endzeitlicher Erwartung einer leibhaften Auferstehung aller Toten und der Annahme individueller Seelenunsterblichkeit wird ein erster Hauptteil der nachfolgenden Erörterungen konzentriert sein. Er behandelt, wenn man so will, die förmlichen Rahmenbedingungen christlicher Eschatologie. In einem anschließenden zweiten Hauptteil werden sodann die materiale Bestimmtheit der äußeren Form christlicher Eschatologie und ihr innerer Gehalt thematisiert: Zu handeln ist vom gerechten Endgericht nach den Werken und von der endzeitlichen Rechtfertigung des Sünders aus Gnade um Christi willen durch Glauben. Der christliche Glaube bekennt, wie die altkirchlichen Symbole belegen, die Auferstehung der Toten und das Leben in der kommenden Welt des Reiches Gottes. Die Erwartung des nahe herbeigekommenen Gottesreiches bestimmte nicht nur die Botschaft Johannes des Täufers und die Zeichenhandlung, von der er seinen Beinamen erhielt, sondern auch die Verkündigung des irdischen Jesus. Es genügt ein Blick in die synoptischen Evangelien, um sich von der Richtigkeit dieser Annahme zu überzeugen. Im Zentrum der Logien Jesu, seiner Gleichnisreden und der Zeichen, die er durch seine Taten setzte, stand die vollmächtige Ansage der nahen Herrschaft Gottes, den er seinen und den Vater aller zur Gotteskindschaft berufenen Menschen nannte. Der urchristliche und altkirchliche Glaube hielt an dieser Aussage fest und verband sie nach der österlichen Auferstehung des Gekreuzigten, die als Antizipation des Anbruchs des Gottesreiches gedeutet wurde, mit der gewissen Aussicht auf die Parusie, auf den zweiten Advent des in den Himmel zur Rechten Gottes erhöhten Herrn, wie der Pfingstgeist sie verhieß. Am Jüngsten Tag, wenn Menschheits- und Weltgeschichte enden werden, wird Jesus wiederkommen zu richten die Lebenden und die Toten. Die Vorstellung eines Jüngsten Gerichts, zu dem alle Jüngstes Gericht Menschen am Ende der Tage vor Gott zu erscheinen haben, hat sich nicht erst im Christentum ausgebildet, sondern ist bereits durch die apokalyptische Tradition des Frühjudentums überliefert worden, wobei die Erwartung einer allgemeinen Totenauferstehung ein konstitutives Implikat der Endgerichtsvorstellung bildet: Um vor den Richterstuhl Gottes treten zu können, müssen die Toten aus ihren Gräbern gerufen und erweckt werden zu einem neuen Leben. Dabei bewirkt die Neuheit des eschatologischen

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Lebens einerseits einen Wandel dem gewesenen, im Tode endenden gegenüber, sofern es alle Verwesung abstreift und ein unvergängliches Dasein hervorbringt, das keinem Tod mehr entgegengeht. Andererseits ist das neue Leben der zukünftigen Welt kein dergestalt anderes, dass der aus dem Tode erweckte Mensch nicht mehr derselbe wäre, der er vor seinem Tod und zu seinen irdischen Lebzeiten war. Seine Identität wird vielmehr gewahrt und zwar, um es scholastisch zu formulieren, in der Weise numerischer Selbigkeit. Die am alltäglichen Vorgang des Erwachens vom Schlaf orientierte metaphorische Rede von Auferweckung und Auferstehung legt die Annahme eines Identitätserhalts gleichsam von selbst nahe. Sobald wir aus dem Schlaf erwachen, finden wir, wenn wir nicht Gregor Samsa heißen, in der Regel unmittelbar zu uns, um augenblicklich bei uns und im Bewusstsein unserer selbst und unserer Welt zu sein. Zugleich fühlen und wissen wir uns identisch mit uns und als dieselben, die wir waren, als wir zu Bett gingen. Damit ist allerdings erkennbar die Grenze des Vergleichs zwischen Schlaf und Tod, Schlafeserwachen und Totenauferstehung erreicht. Denn suchen wir die Potenz, aus dem Schlaf zu erwachen, nicht ohne Grund im Schlafenden, der ja, auch wenn er schläft, am Leben bleibt, so finden wir ein solches Vermögen im Falle eines Toten erfahrungsgemäß nicht. Es ist im Gegenteil ein förmliches Kennzeichen des Todes, dass es aus ihm kein Erwachen gibt. Tote zu erwecken, so dass sie auferstehen, vermag nur derjenige, der nicht nur am Anfang der Schöpfung, sondern auch in ihrem Verlauf aus dem Nichts zu erschaffen vermag und zwar so, dass die Identität des im Tode Negierten erhalten bleibt. Dieser Eine ist Gott und Gott allein. Von dieser Voraussetzung geht der Auf­ erstehungsglaube der frühjüdischen Apokalyptik ebenso selbstverständlich wie entschieden aus. Er ist strikt theozentrisch orientiert. Mit unsterblichen Teilen, die den Menschen von sich aus eignen, rechnet er nicht. Der Mensch wird ganz von Gott und von Gott ganz auferweckt. Die Auferstehung betrifft den ganzen Menschen, wie ihn zuvor sein Tod im Ganzen und nicht nur in Biblische Anthropologie Teilen bzw. zur Hälfte betraf. Es ist der Anthropologie der hebräischen Bibel von Hause aus fremd, den Menschen in einzelne Teile zu zerlegen und beispielsweise ewiges Leben nur seiner Geistigkeit und nicht seinem Leib zuzuschreiben. Nein, die Auferstehung wird gemäß frühchristlicher Erwartung durchaus leiblich-leibhaftig stattfinden. Damit ist zugleich gesagt, dass der Auferstehungsgedanke vom menschlichen Weltbezug nicht abstrahiert werden kann. Ist der Leib doch der Inbegriff des Weltverhältnisses des Menschen und das Medium, mittels dessen er am Weltgeschehen teilhat. Wer mithin eine leibhafte Auferstehung erwartet, kann an dieser Erwartung konsequenterweise nicht nur Einzelne oder einen Einzelnen teilhaben lassen, er muss sie auf die ganze Menschheit, ja auf die gesamte Welt ausdehnen, um alle Kreatur von ihr umfangen sein zu lassen. Im frühjüdischen Auferstehungsglauben, wie ihn die Apokalyptik überlieferte, ist dies eindeutig der Fall. Zwar werden ihm zufolge die Auferweckten individuell auferstehen, aber doch nicht allein, sondern im Verein mit allen Menschen,

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wobei die allgemeine Totenauferstehung einhergehen wird mit Ende und Vollendung der Welt. Aus diesem Grunde findet sie endzeitlich statt, wobei die Endzeit einen Zeitbezug beinhaltet, zugleich aber als Ende der Zeit deren Verlauf transzendiert und aufhebt. Der Glaube an eine endzeitliche Auferstehung der Toten war in der Religion Israels nicht immer und von Anfang an vorhanden, sondern hat längere Zeit gebraucht, um sich auszubilden und durchzusetzen. Zur Zeit Jesu wurde er bekanntlich keineswegs von allen Juden geteilt, wie das Beispiel der Sadduzäer belegt. Hinzu kommt, dass der Auferstehungsgedanke im Frühjudentum eine, wenn man so sagen darf, Annahme sekundärer Art und zweiten Grades war. Auch diejenigen, die ihn vertraten, wie beispielsweise die Pharisäer, taten dies primär nicht um des Gedankens der Auferstehung selbst willen, sondern zu dem Zweck, sich und andere der Gerechtigkeit Gottes zu vergewissern, die vielen ihrer Glaubensgenossen zweifelhaft geworden war. Durch den Grundsatz einer generationenübergreifenden Belohnung bzw. Bestrafung mochten diese Zweifel noch geraume Zeit in Schach gehalten werden; doch wurde das Prinzip, das „möglicherweise schon zu Beginn der exilischen Periode ein Allgemeinplatz“ (Levinson, 65) war, im Zuge fortschreitender Individualisierung immer mehr selbst als Problem empfunden und bereits im Alten Testament als ungerecht kritisiert. Das Judentum, dessen religiöse Identität sich weniger im alten Juda und Israel der Könige, sondern erst in exilisch-nachexilischer Zeit ausbildete, lässt sich in Kürze als universaler Thoramonotheismus charakterisieren: Gott ist einer und in seiner Einheit und Einzigkeit universaler Schöpfer Himmels und der Erden, allmächtiger Herr der Welt. Offenbart hat der eine und allmächtige Gott seine Gottheit in der Thora, damit sein Volk vor aller Welt Zeugnis gebe von seiner Gerechtigkeit. Gott ist gerecht. Er waltet nicht nach naturhaftem Belieben oder arbiträrer Willkür, sondern nach Maßgabe seiner Gerechtigkeit, die zwischen Gut und Böse scheidet und dem Guttun Wohlergehen zuordnet, wohingegen sich am Bösen das Geschick seiner Bosheit auswirken wird. Jede Nivellierung oder gar Vergleichgültigung der Differenz von Recht und Unrecht ist dem frommen Juden zuwider und zwar zu Recht. Denn es ist gut, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, wohingegen die Egalisierung dieses Unterschieds böse ist an sich selbst. Die religionsgeschichtliche Bedeutung der usprüngScheidung von Gut und lichen Einsicht des Judentums lässt sich schwer überBöse schätzen, und man tut als christlicher Theologe gut daran, sie unter keinen Umständen zur Disposition zu stellen. Es gibt ein Judentum ohne Christentum; ein Christentum ohne Judentum kann und wird es nicht geben! Die Gewissheit, dass der eine Gott ein Gott universaler Gerechtigkeit ist, hat für den christlichen und für den jüdischen Glauben gleichermaßen als grundlegend zu gelten. Bereits im vorchristlichen Judentum war besagte Glaubensgewissheit schweren Anfechtungen ausgesetzt. Stimmt es denn, dass zwischen Tun und Ergehen ein von Gott geordneter und gemäß göttlicher Gerechtigkeit proportionierter Zusammenhang besteht? Spricht die Erfahrung

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nicht eher gegen einen solchen Zusammenhang? Und falsifiziert nicht spätestens der Tod den Grundsatz der Gerechtigkeit, indem er alles gleich und keinen Unterschied macht zwischen Gerechten und Ungerechten, so dass der Eindruck entstehen muss, dieser Unterschied habe im Grunde ebenso wenig Bestand wie die Gerechtigkeit, weil am Ende alles doch so ist, als sei nichts gewesen? Das Ringen mit solchen und ähnlichen Fragen hat im Alten Testament in einer Reihe von Büchern seinen Niederschlag gefunden, in den Psalmen etwa oder bei Hiob, und u. a. zu jener Eschatologisierung der jüdischen Religion geführt, wie sie für die apokalyptische Bewegung kennzeichnend wurde, in deren Überlieferungszusammenhang sowohl Jesus als auch Johannes der Täufer gehört. Mit Apokalyptik wird heutzutage alles Mögliche und Unmögliche assoziiert. Doch ist ihr religiöses Grundmotiv, das sich durchaus innerkanonisch rekonstruieren lässt (vgl. Förg), recht einfach und unschwer zu erkennen, wenn man einmal von allerlei ornamentalem Beiwerk absieht. Die apokalyptische Frömmigkeit gibt lieber die ganze Erfahrungswelt als die Gewissheit der Gerechtigkeit Gottes preis: Mögen auch Himmel und Erde vergehen, mögen die schlechten und schlimmen Erfahrungen der Gerechten sein, wie sie sind, und mögen die Ungerechten über die Gerechten spotten und höhnen: Am letzten Ende wird der eine Gott seine gerechte Allmacht und allmächtige Gerechtigkeit erweisen und Endgericht halten über die ganze Menschheit und alle Welt. Zu diesem Primärzweck werden alle Toten auferweckt. Um des Endgerichts und der göttlichen Gerechtigkeit willen findet die allgemeine Totenauferste- Äußerer Rahmen und hung statt. Sie bildet, wenn man so will, den äußeren innerer Grund Rahmen des eschatologischen Gerichts, wohingegen dieses den inneren Grund der Auferstehung der Toten bildet. Nirgends zeigt sich dies deutlicher als an der Tatsache, dass die Totenauferstehung an sich selbst einen ambivalenten Charakter hat. Für die Gerechten zwar ist sie nichts als gut, für die Ungerechten hingegen, so muss es den Anschein haben, wäre es besser, wenn sie im Tode belassen würden. Denn in ihrem Fall zieht die Auferstehung ein Gericht nach sich, dessen Folgen nicht anders als höllisch zu nennen sind. Der erstandene Un­ gerechte verfällt dem bodenlosen Abgrund seiner Verkehrtheit, als der die Sünde vor Gott, Menschheit und Welt und nicht zuletzt vor ihm selbst offenbar wird. Man sagt der Anthropologie der griechischen Antike häufig ein dualistisches Menschenbild nach. Sie habe menschliche Intelligibilität und Sensibilität geschieden und Leib und Seele im Unterschied zum ganzheitlichen Menschenbild der hebräischen Bibel unstatthaft auseinanderdividiert und getrennt. Dieser Vorwurf beruht auf einem Pauschalurteil und trifft schon für Platon nur sehr bedingt und noch weniger für seinen großen Schüler Aristoteles zu. Ihm zufolge ist die Seele die Form des Körpers, die ihn zweckmäßig und zielorientiert zum lebendigen Leib und zum Organ bewussten und willentlichen Denkens und Handelns gestaltet. Ohne Seele könnte kein Lebewesen in seiner Lebendigkeit erfasst werden, am allerwenigsten der lebendige Mensch, dessen Seelenvermögen dasjenige der Tiere oder gar der Pflanzen, die Aristoteles ebenfalls als anfangsweise beseelt denkt, bei Weitem über-

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trifft und transzendiert. Umgekehrt gilt im aristotelischen Sinne freilich auch, dass menschliches Seelenleben am Leib hängt und ohne diesen allenfalls abstrakt gedacht, nicht aber konkret begriffen werden könnte. Konsequenterweise hat Aristoteles daher die individuelle Seelenunsterblichkeit geleugnet. Wenn das Christentum von Seelenunsterblichkeit sprach, dann stets in Bezug auf die Einzelseele. Damit wurde es für christliche Theologie im Grunde gänzlich unmöglich, die Seele ohne Bezug auf den Leib als das Individuationsprinzip bzw. Vermittlungsorgan seelischer Individuierung zu denken und ihr gewisser­maßen leiblose Unsterblichkeit zu attestieren. Sofern sie es im Zuge der Bestimmung des Todes als Trennung von Leib und Seele dennoch tat, geschah dies im Bewusstsein einer Aporie, die einerseits zwar als aporetisch, andererseits aber auch als unvermeidbar zu erachten sei. Wie dem auch sei: Fügt man der die psychosomatische Einheit zwar nicht auflösenden, aber differenzierenden Unterscheidung von Leib und Seele noch den Geist hinzu, dann ergibt sich eine anthropologische Trias, die auf ihre Weise durchaus geeignet ist, die Verfassung des Menschen als eines Beziehungswesens zu ergründen. Als Leib und mittels desselben steht der Mensch in einer Beziehung zur Welt, die ihn sinnlich affiziert und der er selbst zugehört. Ohne leibhaften Weltbezug lässt sich menschliches Leben nicht denken, wobei der Leib selbst Kriterien bereitstellt, zwischen weltlichen Gegebenheiten phänomenologisch zu differenzieren und etwa lebendige von nicht lebendigen Entitäten zu unterscheiden. Trotz und unbeschadet der Unentbehrlichkeit, welche „Welt“ für ihn hat, geht der Mensch nicht in ihr auf, sondern ist zugleich eine transmundane Größe, die in einem Selbstverhältnis steht, welches auf Weltverhältnisse nicht reduziert werden kann. Nicht als ob das Ich, als welches der Mensch sich selbst wahrnimmt, nicht von dieser Welt wäre; davon kann nicht die Rede sein. Dennoch eignet ihm in Bezug auf die Welt und alles, was dieser zugehört, eine Irreduzibilität, ohne deren Anerkennung verkannt werden müsste, was Ich heißt. Für die Irreduzibilität des Ich und für die weltliche Unverrechenbarkeit des menschlichen Selbstverhältnisses steht der Seelengedanke ein, der damit bezeichnet, was im strikten Sinne die personale Identität eines Menschen und seine Selbigkeit ausmacht. Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Er steht in Beziehung zu Mitmensch und Welt und zugleich Mensch als in Beziehung zu sich selbst, wobei beide BeziehunBeziehungswesen gen sich zwar unterscheiden, nicht aber trennen lassen, so dass von einer Beziehung beider Beziehungen zu reden ist. Seele und Leib, Ich und Welt gehören auf differenzierte Weise zusammen, ohne dass die Einheit des differenzierten Zusammenhangs in einem der beiden Relate gefunden oder von diesem synthetisiert werden könnte. Dies wahrzunehmen ist, wenn man so will, die Aufgabe des Geistes als des Dritten im anthropologischen Bunde, der von seinem Begriff her nicht von ungefähr an den Dritten im göttlichen Bunde verweist und entsprechende theanthropologische Überlegungen nahelegt. Wenn der Leib für den Weltbezug und die Seele für den Selbstbezug steht, dann steht der Geist für den

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Gottesbezug, also für jene Beziehung, die konstitutiv ist für Leib und Seele bzw. Selbst und Welt und zwar nachgerade in ihrem differenzierten, aber untrennbaren Zusammenhang. Religion kann man formal die Beziehung eines Subjekts oder von Subjekten zu einem fundierten Sinngrund von Selbst und Welt nennen, wobei hinzuzufügen ist, dass das religiöse Verhältnis sich selbst und alle sonstigen Verhältnisse in demjenigen Grund gegründet weiß, auf den es sich bezieht. Es ist die Funktion des Offenbarungsbegriffs, dieses Begründungsverhältnis förmlich zu bezeichnen. Im Judentum weiß sich das religiöse Verhältnis in Gottes Selbsterschließung in der Thora, im Christentum in der Erscheinungsgestalt Jesu Christi begründet. Aus diesem Grund heraus, wie er den religiösen Geist bestimmt, ist über den materialen Sinn sowohl der Annahme einer endzeitlichen Totenauferstehung als auch derjenigen einer Unsterblichkeit der Seele sowie über die Kombination beider Annahmen zu befinden, wie sie nicht erst im Christentum, sondern schon im hellenistischen Judentum der vorchristlichen Zeit in Teilen der Tradition vorgenommen wurde. Der formale Grund für diese Verbindung dürfte vor allem in der Notwendigkeit liegen, den universalen Aspekt der Eschatologie, der in der Vorstellung einer allgemeinen Totenauferstehung am Ende der Menschheits- und Weltgeschichte dominiert, mit dem individuellen zu vermitteln, den die Lehre von der Seelenunsterblichkeit jedenfalls in ihrer jüdisch-christlichen Rezeption unterstrich. Die Annahme einer Unsterblichkeit der Einzelseele setzt die Allgemeinheit der endzeitlichen To- Identitätswahrung tenauferstehung ins Verhältnis zum individuellen Todesfall und betont zugleich die für den Gedanken der allgemeinen Auferstehung der Toten ohnehin konstitutive Prämisse, dass sie die Identität des jeweiligen Menschen wahrt. Man muss diese Identität keineswegs mit einem seelischen Eigenvermögen bzw. mit einer unsterblichen Seelensubstanz begründen; eine solche Begründung ist im Gegenteil als abwegig abzulehnen. Dennoch ist festzuhalten, dass in der endzeitlichen Auferweckung Gott jeden als ihn selbst und in der Selbigkeit des Ichs, das er zu seinen Lebzeiten war, auferstehen lassen wird. Unter diesem Gesichtspunkt verhält sich der Seelengedanke im Allgemeinen und der Gedanke seelischer Unsterblichkeit im Besonderen zu dem Gedanken allgemeiner Totenauferstehung als nicht nur kompatibel, sondern komplementär. Ebenso und möglicherweise stärker noch als der Gedanke allgemeiner Toten­ auferstehung auf denjenigen der Seelenunsterblichkeit ist dieser auf jenen angewiesen, sofern die unsterbliche Einzelseele, die ihres Leibes und des leibhaften Weltbezugs entbehrt, im Grunde nicht ist, was zu sein sie bestimmt ist. Die christlichen Theoretiker der Seelenunsterblichkeit affirmieren dies nachdrücklich und richten die abgeschiedene Einzelseele konsequent aus auf die Wiedervereinigung mit ihrem Leib in der allgemeinen Auferstehung der Toten, der sie entgegenstrebt. Die Lehren von der Unsterblichkeit der Einzelseele und der allgemeinen Totenauferstehung stehen so in einem wechselseitigen Verweisungszusammenhang und in einer Beziehung, in der keiner des jeweils anderen entbehren kann, obwohl eine abschließende

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Synthese aussteht. Doch mag man genau dies als ein Indiz für die spezifische Eigenart des eschatologischen Lehrstücks werten. Individuelle und universale Eschatologie sind konIndividuelle und stitutiv aufeinander bezogen, ohne, wie es scheint, universale Eschatologie zu einer abschließenden Synthese gebracht werden zu können. Um Ansätze zu einer Vermittlung bzw. zu einem intermedialen Ausgleich sind sog. Zwischenzustandstheorien bemüht. Sie sind besonders zu einer Zeit virulent geworden, als sich der Akzent christlicher Eschatologie von der universalen, welche die altkirchlichen, frühmittelalterlichen Erwartungen bestimmte, auf die individuelle Eschatologie verlagert hatte, was bereits im Laufe des Mittelalters der Fall war und zwar aus einsichtigen Gründen. Die Urchristenheit erwartete den Anbruch des Reiches Gottes und die Parusie ihres Herrn als unmittelbar bevorstehend. Paulus etwa äußert im 1. Thessalonicherbrief die Vermutung, dass er und andere Gemeindeglieder den Eintritt des Eschatons noch erleben werden. Er sagt aber auch, dass die am Tag des Herrn bereits Ver­storbenen keinerlei eschatologische Nachteile zu gewärtigen hätten, womit er den Unterschied zwischen Toten und Lebenden sub specie aeternitatis zugleich relativiert. Diese Relativierung änderte indes nichts an der paulinischen Naherwartung, die von der Urchristenheit geteilt wurde. Ob die sog. Parusieverzögerung, also die Nichterfüllung der Erwartung eines zeitlich unmittelbar bevorstehenden Anbruchs des Gottesreiches und einer baldigen Wiederkunft Christi, tatsächlich jene tiefe Enttäuschung und Glaubenskrise bewirkte, die manche Exegeten vermuten, kann man bezweifeln. Offenbar fand die Christenheit Mittel und Wege, mit dem Problem umzugehen und seine Lösung der Vorsehung Gottes zu überlassen, bei dem 1000 Jahre wie ein Tag sind. Eschato­ logisch gespannt und erwartungsvoll blieb der christliche Glaube gleichwohl. Doch überrascht es nicht, dass sich das Interesse allmählich von universalen Endzeit­ perspektiven auf die Frage nach dem eschatologischen Los des Einzelnen und seinem postmortalen Geschick verlagerte. Die jesuanische Gleichnisrede von dem bereits vor dem Ende der Menschheits- und Weltgeschichte in Abrahams Schoß ruhenden Lazarus oder die Zusage des Gekreuzigten an den Schächer zu seiner Rechten, er werde noch heute mit ihm im Paradiese sein, kamen diesem Perspektivenwandel entgegen und unterstützten ihn. So setzte sich nach einigem Streit, der sogar unter Päpsten ausgetragen wurde, kirchenoffiziell die Auffassung durch, dass das Eschaton für die einzelne Menschenseele im Augenblick des Todes unmittelbar und ohne weiteren Verzug anbreche. Zwar stehe dann die Wiedervereinigung von Leib und Seele im Zuge der allgemeinen Totenauferstehung noch ebenso aus wie das universale Endgericht, aber ein besonderes Gericht, das im Grundsatz über ihn entscheide, finde für den Menschen sofort nach Ende seiner individuellen Lebenszeit statt. Bleibt zu fragen, was zwischen dem eschatologischen Zwischenzustandstheorien Vorentscheid über den Einzelnen und dem universalen Endgericht nach erfolgter allgemeiner Toten-

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auferstehung geschieht? Auf diese Frage wollen die bereits erwähnten Zwischenzustandstheorien eine Antwort geben. Die sog. Seelenschlaftheorie, um mit ihr zu beginnen, löst das Problem, indem sie es beseitigt: Zwar werde, so die Annahme, über das Seelenheil von Verstorbenen bereits im Augenblick ihres Todes entschieden. Aber sie selbst wie alle anderen Menschen erfahren vom getroffenen Entscheid erst am Jüngsten Tag. Bis dahin bleibt die Menschenseele bezüglich ihres ewigen Heils oder Unheils bewusstlos, weil in einen Tiefschlaf versenkt. Luther hat die Seelenschlaftheorie gelegentlich vertreten; doch konnte sie sich auch im Luthertum nicht allgemein durchsetzen. Gründe hierfür sind unschwer zu erkennen: Eine Menschenseele, die einem Ich gleicht, das keinerlei Bewusstsein seiner selbst hat, scheint ihrem Begriff zu widersprechen. Trotz naheliegender Einwände sollte man sich die Vorzüge der Theorie eines bis zum Jüngsten Tag währenden postmortalen Seelenschlafes nicht verhehlen. Für den Verstorbenen beginnt der Jüngste Tag im Augenblick seines Todes, so dass sich in dieser Hinsicht die Frage nach etwaigen Zwischenzuständen ebenso erübrigt wie die nach dem eschatologischen Verhältnis von Leib und Seele. Denn das Erwachen der Seele wird sich im Verein mit der Auferstehung ihres Leibes vollziehen. Was aber die Hinterbliebenen anbelangt, so können sie ihre Verstorbenen in Frieden ruhen lassen, ohne sich über ihren Verbleib sorgen zu müssen. Dürfen sie doch im Glauben gewiss sein, dass alle, die sich auf Gott verlassen, auch im Tode nicht verlassen werden, sondern ihre Ruhe finden in ihm, welche Ruhe sich im ewigen Lichte Gottes betrachtet als identisch erweisen wird mit unvergänglichem und vollendetem Leben. Denn in Gott seine Ruhe zu finden, bedeutet nicht Totenstille und tödliche Erstarrung, sondern eine Lebendigkeit, über die hinaus eine lebendigere nicht gedacht werden kann. Lehnt man die Seelenschlaftheorie ab, dann kehren die Zwischenzustandsprobleme bzw. die Probleme der Vermittlung von individueller und universaler Eschatologie zwangsläufig wieder, ohne einer abschließenden Lösung zugeführt werden zu können. Um nur einige dieser Probleme zu benennen: Fällt der grundsätzliche Entscheid über das eschatologische Los der Menschenseele im Augenblick ihres Todes, dann wird es schwierig zu sagen, was ihre noch ausstehende Wiedervereinigung mit dem Leib im Zuge der allgemeinen Totenauferstehung am Ende der Tage Weitergehendes erbringen soll? Wird hingegen der Endentscheid dem Jüngsten Gericht vorbehalten, dann befindet sich die Menschenseele bis dahin sozusagen in einem Wartestand, der unter der Voraussetzung gegebenen Bewusstseins für sie – selbst im Falle ihrer Bestimmung zum Heil – quälende Ungewissheit mit sich führen muss? Man kann gegen diese Ungewissheit die die Schranken des Todes transzendierende Solidargemeinschaft der Kirche und ihrer Glieder, die Macht des fürbittenden Gebets und möglicher sonstiger Hilfen für die abgeschiedenen Seelen in Stellung bringen; aber all dies ändert doch nichts an der verbleibenden Ungewissheit ihres Status und der prinzipiellen Offenheit des eschatologischen Prozesses. Umgekehrt wird, wo primär von der individuellen Eschatologie her gedacht wird, ihr universaler Charakter leicht unterbestimmt und mit ihm der kommuniale

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Aspekt, der bei keiner christlichen Eschatologie fehlen darf. Wie immer man es dreht und wendet: Individuelle und universale Eschatologie lassen sich theoretisch nicht abschließend zum Ausgleich bringen und synthetisieren. Geboten werden stets nur Interimslösungen. Doch kann aus der Einsicht in diese Aporie und ihre Unvermeidbarkeit eine konstruktive Konsequenz gezogen werden, die für das Selbstverständnis eschatologischer Lehre von grundlegender Bedeutung ist: Offenbar gehört es zur Eigenart des eschatologischen Themas, nicht definitiv auf den Begriff gebracht werden zu können. Es ist nun einmal ein charakteristisches Kenn­ zeichen christlicher Hoffnung, dass sie ihr Vertrauen auf die unbegreifliche Liebe Gottes und auf einen himmlischen Frieden setzt, der höher ist als alle Vernunft. Sowohl die Erwartung einer allgemeinen AufersteAmbivalente Erwartung hung der Toten am Ende der Welt als auch die­ jenige eines seelischen Erhalts des einzelnen Menschen durch den Tod hindurch bleibt ambivalent und ist nur bedingt Hoffnung zu nennen. Warum? Weil nach traditioneller Lehre der individuelle Seelenerhalt um des besonderen, die allgemeine Auferstehung um des universalen Endgerichts willen geschieht. In der Frage nach ihrem Verhältnis konkretisiert und spezifiziert sich das generelle Problem der Beziehung von individueller und universaler Eschatologie. Aber dieses Problem ist nicht das eschatologisch Entscheidende. Eschatologisch entscheidend ist vielmehr, wer im besonderen und allgemeinen Endgericht besteht. Gibt es Rettung im Gericht und warum? Auf diese Frage vor allem hat christliche Eschatologie zu antworten, welche Antwort durch den bloßen Verweis auf die zu erwartende allgemeine Auferstehung der Toten bzw. auf den postmortalen Erhalt der einzelnen Menschenseele noch keineswegs gegeben ist. Dieser Verweis bleibt solange soteriologisch uneindeutig, ja zweideutig und ambivalent, bis derjenige in Erscheinung tritt, der als eschatologischer Richter zugleich und zuvörderst derjenige ist, der aus dem Gericht rettet, weil er stellvertretend für uns – an unserer statt und uns zugute – gerichtet wurde, damit die Gerechtigkeit Gottes erfüllt und in ihm und durch ihn kraft des österlichen Pfingstgeistes als vorbehaltlose Liebe manifest werde. Das größte und schlimmste Defizit christlicher Eschatologie besteht nicht im fehlenden Ausgleich individueller und universaler Eschatologie, der abschließend nicht zu leisten ist, sondern darin, dass sie den eschatologischen Retter Jesus­ Christus weithin hinter den Richter hat zurücktreten lassen mit der Folge, dass der Heiland von Menschheit und Welt kaum mehr zu erkennen war. Um nicht missverstanden zu werden: Der Gedanke eschatologischen Gerichts, das endgültig und definitiv zwischen gerecht und ungerecht scheidet, ist nicht nur unter jüdischen, sondern auch unter christlichen Bedingungen unaufgebbar. Denn er ist der göttlichen Gerechtigkeit geschuldet, ohne welche Gott nicht als derjenige gedacht wird, der er ist. Liebe ohne Gerechtigkeit verdient ihren Namen Richter und Retter nicht, sondern erweist sich zuletzt als reines Belieben und als arbiträre Willkür naturhafter Art. So-

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lange das Christentum am jüdischen Erbe festhält, ohne welches es kein Christentum gibt, wird es daher Liebe nicht mit Belieben verwechseln und kein Evangelium verkünden, das nicht in differenzierter Weise auf das Gesetz bezogen ist. Es darf als ein Zeichen der in der Thora offenbaren Güte Gottes gelten, dass er kraft seiner Gerechtigkeit für den Unrechtleidenden eintritt und dem Übeltäter das vermeintliche Recht nicht lässt, Unrecht zu tun. Es gehört zur göttlichen Gerechtigkeit, dass sie urteilt und das Unrecht richtet, damit der Unterschied von Gut und Böse nicht nivelliert und vergleichgültigt werde; ansonsten nämlich wäre zuletzt und im Grunde alles egal und nicht nur sinnlos, sondern sinnwidrig zu nennen und der Teufel hätte gesiegt und sei es auch unter dem falschen Schein der Liebe. Der Gott, den Jesus Christus seinen Vater genannt und als dessen Sohn er sich in der Kraft des Hl. Geistes erwiesen hat, ist kein anderer als der gerechte Gott ­Israels, in dessen kommenden Reich sich durch Universalisierung göttlicher Gerechtigkeit die Schöpfung vollenden wird. Dass der Anbruch der Gottesherrschaft nach dem Bekenntnis christlichen Glaubens mit der Parusie Jesu Christi einhergehen wird, steht in keinem Gegensatz zur eschatologischen Erwartung gerechter Gottesherrschaft, sondern in völligem Einklang mit ihr. Wie das Apostolikum bekundet: Der österlich erhöhte Herr, der zur Rechten des Vaters sitzt, wird wiederkommen und gerechtes Gericht halten über Lebende und Tote, um der Gerechtigkeit Gottes die Ehre zu geben und ewiges Leben im Geist zu erwirken. Das Maß der göttlichen Gerechtigkeit, nach dem Jesus Christus in seiner gottmenschlichen Personeinheit eschatologisch richtet, ist dabei nach traditioneller Lehre ganz und gar menschlich. Jesus Christus richtet, wie die Dogmatik sagt, gemäß seiner menschlichen Natur, bemisst den Menschen also nicht an einem ihm fremden Gesetz, sondern nach dem Gesetz seiner eigenen Bestimmung zur Humanität. Ob er menschlich, also ein Mensch war, der seinem humanen Begriff entsprach, wird die entscheidende Frage sein, die jeder im Jüngsten Gericht durch Jesus Christus gestellt und zwar so gestellt bekommen wird, dass die Stimme des Herrn mit derjenigen des eigenen Gewissens völlig übereinkommt. Es ist dies die nämliche Frage, die bereits die recht verstandene Thora stellt und deren Basis im Dekalog und im Doppelgebot der Liebe bündig zusammengefasst ist, das als Grundgesetz der Menschlichkeit und als Verfassungsurkunde einer menschlichen Schöpfungs­ ordnung gelten darf. Formales Kennzeichen des Doppelgebots der Liebe sind Verallgemeinerungsfähigkeit und universales Geltungsvermögen; materialiter aber gebietet das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe nichts anderes, als was die Bestimmung eines jeden Menschengeschöpfs ist, nämlich ein gottunterschiedener Mensch unter Menschen in einer gemeinsam gegebenen Welt zu sein. Spätestens an dieser Stelle ist eschatologisch von der ursprünglichen Einsicht der Reformation zu re- Ursprüngliche Einsicht den, die nach reformatorischem Urteil als die ur- der Reformation sprüngliche Einsicht des Christentums überhaupt zu gelten hat. Mit dem Gesetz konfrontiert und nachgerade mit dem seiner eigenen Bestimmung muss der Mensch erkennen, dass er dem gesetzlichen Anspruch

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im Grunde und zuletzt nicht nur nicht entspricht, sondern widerspricht. Zwar vermag er sich äußerlich mit dem gesetzlich Gebotenen konform zu erweisen; aber im Innersten seiner selbst widersetzt er sich bewusst und willentlich, weil er nicht einer unter anderen, sondern einer allein und das Ein und Alles zu sein bestrebt ist, um welches sich die ganze Welt dreht. Dieser Widersetzlichkeit überführt ihn das Gesetz und zwar, wie die Alten sagten, gemäß seinem theologischen Gebrauch, dem usus elenchticus legis. Das Gesetz ist wie die kreatürliche Bestimmung des Menschen eine gute Gabe Gottes. Doch unter den Bedingungen des Falls der Sünde, wie er in seiner unbegreiflichen Faktizität gesetzlich identifiziert wird, nimmt es die Form des vernichtenden Vorwurfs und einer Anklage ein, die auf heillose Weise zugrunde richtet. Die Erscheinung Jesu Christi falsifiziert diesen Tatbestand nicht, sondern bestätigt und bekräftigt ihn auf staurologische Weise. Der wahre Mensch, der seiner Bestimmung im Unterschied zum alten Adam auf vollkommene Weise entsprach, endet am Kreuz als Opfer der Bosheit der Sünde. Doch ist mit dieser Einsicht die christologische Erkenntnis längst nicht erschöpft, sondern erst im Werden begriffen. Denn der am Kreuz als Opfer der Sünde Gestorbene ist kein anderer als der Freund der Sünder und derjenige, welcher der göttliche Menschensohn nicht sein wollte ohne die verlorenen Söhne und Töchter des gefallenen Menschengeschlechts. An Ostern erscheint der Gekreuzigte daher nicht nur als Opfer der Sünde, sondern zugleich als derjenige, welcher sich für die Sünder als Opfer dargebracht hat, um Rechtfertigung zu erwirken für sie. Erst damit ist der christologische Skopus formuliert, die göttliche Sendung Jesu Christi erfasst und der Richter als Retter begriffen, der Heillosigkeit in Heil zu verwandeln vermag. Wer dem auferstandenen Gekreuzigten vertraut, wird gerettet im Gericht. Erspart werden wird das Gericht ihm nicht; er wird vielmehr in der Nachfolge seines Herrn die Sündenerkenntnis bis hin zur resignatio ad infernum durchlaufen und den Tod nicht nur des äußeren, sondern auch die mortificatio des inneren Menschen erfahren. Aber er hat, indem er seinem Herrn folgt, die Hölle grundsätzlich bereits hinter sich gelassen und nur mehr den Himmel zu gewärtigen. Mit dem, was Hölle heißt, ist eine Grenze markiert, Himmel und Hölle die sich jedem theoretischen Zugriff entzieht und einem Stoppschild gleicht, das vor jenem bodenlosen Abgrund warnt, dem die Sünde in ihrer unausdenklichen Verkehrtheit verfallen ist. Die Lehre von der apokatastasis panton, der Wiederbringung aller muss als häretisch abgelehnt werden, weil sie die Differenz zwischen Gut und Böse auflöst. Aber ebenso wenig lässt sich die Eschatologie auf die sog. Lehre eines doppelten Ausgangs festlegen, wonach eine bestimmte Gruppe von Menschen in den Himmel kommt, wohingegen die anderen, welche nach traditionellem Urteil die Mehrheit bilden, in die Hölle fahren werden, um dort für immer und ewig gepeinigt zu werden. Stattdessen gilt die Mahnung, jeder möge selbst zusehen, wo er bleibt, um zu der Einsicht zu gelangen, dass die einzige Bleibe, die heilsam und ewig zu sein verspricht, bei Jesus Christus ist, in dem sich Gott nicht nur des Menschengeschöpfs im Allgemeinen, sondern auch und insbesondere des sündigen Menschen angenommen hat.

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Was kommt auf uns zu und zwar nicht nur im futurischen, sondern in jenem adventlichen Sinne, den die Eschatologie bedenkt? Die christliche Antwort darauf kann nur lauten: Die Zukunft dessen, der gekommen ist, zu suchen und zu retten, was verloren ist. Der eschatologische Retter ist kein anderer als der eschatologische Richter, gewiss. Aber er will nicht zugrunde richten, sondern den Sünder aufrichten und rechtfertigen, der glaubt und sich im Geist auf Gottes Gnadenzusage verlässt. Ihm wird der Himmel zuteil und zwar gratis! Im IV. Artikel der Confessio Augustana ist, was gratis rechtfertigungstheologisch besagt, in bündiger Weise zum Ausdruck gebracht, ohne doch im XVII. Artikel, der von der Wiederkunft Jesu Christi handelt, eschatologisch bereits hinreichend zum Ausdruck gebracht worden zu sein. Wer an Christus glaubt, der durch seinen Tod der Gerechtigkeit Gottes Genüge geleistet hat, um an Ostern und in der Kraft des pfingstlichen Geistes die Gnadenliebe Gottes zu offenbaren, der wird im Endgericht bestehen, weil er um Christi willen gerechtfertigt wird, und er wird teilhaben am ewigen Leben des dreieinigen Gottes und an der himmlischen Welt. Das Gericht fällt auch für den Glaubenden nicht dahin, ja, man wird sagen müssen, dass im Glauben die sündige Verkehrtheit am schmerzlichsten und peinlichsten erfahren wird, wie das Beispiel des Petrus belegt, der nach seinem Verrat vom Blick seines dem Kreuz entgegengehenden Herrn im Innersten betroffen bitterlich weint. Aber die Reue des Petrus ist, gerade in ihrer die Wurzeln des eigenen Ich berührenden Abgründigkeit, eine heilsame Reue, weil sie von der Anschauung des Heilands hervorgerufen wird und daher unter dem Vorzeichen des Heils steht. Was haben wir eschatologisch zu erwarten? Was kommt auf uns zu? Was dürfen wir über das eigene Was kommt auf uns zu? Ende und das Ende von Menschheitsgeschichte und Welt hinaus erhoffen? Wir dürfen die Rettung im Gericht durch Sündenvergebung und Rechtfertigung aus Gnade um Christi willen durch Glauben erhoffen, um noch einmal an den IV. Artikel des Augsburger Bekenntnisses zu erinnern. Der Erfüllung dieser Hoffnung kann gewiss sein, wer auf Jesus Christus vertraut. Zwar kommt der vom Tode auferstandene und erhöhte Herr durchaus als Richter auf uns zu; aber sein Gericht ist auf Rettung hingeordnet, ja steht in deren Diensten. Wie die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium nur unter Bezug auf das Evangelium recht zu treffen ist, ist ein heilsames Verständnis des eschatologischen Endgerichts nur von der im auferstandenen Gekreuzigten bereiteten Rettung her und auf sie hin zu gewinnen. Gott ist gerecht, und Gottes Gerechtigkeit richtet zwischen Recht und Unrecht. Aber in Jesus Christus ist Gott durch den Hl. Geist zugleich und von Ewigkeit her als der dreieinige und in seiner Dreieinigkeit in unvordenklicher Weise als das Geheimnis der Liebe offenbar, welche will, dass allen Menschen geholfen und der Sünder gerechtfertigt werde, der die in Christus offenbare Liebe Gottes sich gefallen lässt und gläubig auf sie vertraut. Wer sich auf Gott verlässt, wird von Gott auch in der Verlassenheit des Todes und am Ende der Zeiten nicht verlassen, sondern ver-

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ewigt werden in ihm und zwar als er selbst und in Verein mit allen anderen Verewigten, ja mit der gesamten vollendeten Schöpfung. Was muss ich tun, um das ewige Heil zu erlangen? Antwort: Nichts! Vertraue nur darauf, dass dir das Heil in Jesus Christus von Ewigkeit her bereitet ist. Wie können wir bewirken, dass das Reich Gottes herbeikommt und seine Herrschaft über Menschheit und Welt anbricht? Antwort: Seid in dieser Hinsicht vollkommen sorglos, denn das Gottesreich kommt von selbst, wie denn auch für euer Seelenheil all eurem Denken und Tun zuvor verlässlich gesorgt ist. Man hat Sätzen wie diesen Quietismus, ja tendenzielle Amoralität nachgesagt und gefolgert, wo der Glaube allein für heilssuffizient erachtet werde, da würde der Wert guter Werke zwangsläufig gering geschätzt. Doch handelt es sich hierbei um einen Fehlschluss. Richtig ist vielmehr das Gegenteil: Erst wenn wir von der Sorge um das Heil unserer Seele und um die letzte Zukunft der Welt und den Sinn der Menschheitsgeschichte gründlich entledigt sind, können wir sinnvolle Werke der Nächstenliebe und der Weltgestaltung überhaupt erbringen. Wer meint, den Sinn des Ganzen durch sein Wissen und Tun erst herstellen zu müssen, der wird ihn von Grund auf verfehlen. Menschliches Denken und Handeln kann sinnvollerweise stets nur endliche Ziele verfolgen, was die Gegebenheit von Sinn voraussetzt. Selbsttotalisierung von Theorie und Praxis hingegen wirkt stets kontraproduktiv und zersetzend. Sinngegebenheit ist ein Datum, das nur religiös und als gottgegebene Gabe erfasst werden kann. In protologischer Hinsicht hat die Theologie entsprechend an das Gegebensein der Welt und aller Kreatur sowie daran zu erinnern, dass ich mir selbst mit Leib und Seele gegeben bin. Die Soteriologie hat theologisch präsent zu halten, dass Gott am Sinn seiner Schöpfung auch unter den Bedingungen ihrer Verkehrung durch den Fall der Sünde und aller Übel, die damit verbunden sind, festhält. In eschatologischer Hinsicht schließlich ist die Aussicht auf die Vollendung der Schöpfung durch Gott zu eröffnen, auf welche hoffen zu dürfen die conditio sine qua non sinnvoller Selbst- und Weltgestaltung ist, weil ohne solche Hoffnung das Ganze der Welt und meines eigenen Lebens zuletzt als sinnlos, ja als sinnwidrig erscheinen müsste. Solchem Sinnlosigkeits- und Sinnwidrigkeitsempfinden begegnet die Eschatologie. Sie dient durch einen Jenseitstrost, der mit billiger Vertröstung ganz und gar nichts zu tun hat, indirekt, aber umso effektiver menschlichem Leben in der diesseitigen Welt. Nicht primär, aber doch auch um dieses Effektes willen kommt gerade im eschatologischen Lehrstück alles darauf an, das Verhältnis von Gesetz und Evangelium, Glaube und Werke, Rechtfertigung und Heiligung angemessen zu bestimmen. Die Reformation, deren 500-jährige GedächtnisGedächtnisfeier feier 2017 begangen wird, nahm ihren Anfang mit der Reformation Thesen, die mehr oder minder alle in einem Bezug zum eschatologischen Lehrstück standen. Es ist im gegebenen Zusammenhang nicht vom Ablasswesen zu handeln: Man mag gute Gründe für seine Verteidigung finden; jedenfalls ändert aller Missbrauch, den Luther zu Recht kritisierte, nichts an der Tatsache, dass die Solidargemeinschaft der

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communio sanctorum die Grenze des Todes zwar zu achten hat, ohne doch durch sie absolut beschränkt zu sein. Auch die Purgatoriumsidee, auf welcher die Theorie und Praxis des Ablasses wesentlich basierte, muss in reformatorischer Perspektive nicht per se als abwegig beurteilt werden. Zwar teilt sie das Problem aller Zwischenzustandslehren, aber dies ist für sich genommen noch kein Grund, sie prinzipiell abzulehnen. Das entscheidende Kriterium ihrer Beurteilung muss sich aus dem besagten Zusammenhang rechter Verhältnisbestimmung von Glaube und Werken ergeben. Auch reformatorische Eschatologie lehrt ein Gericht nach den Werken. Doch als heilsam gedacht werden kann dies nur, wenn ihm die eschatologische Rechtfertigung aus Glauben und aus Glauben allein zugrunde liegt. Weder die dem Glauben vorhergehenden Werke, noch diejenigen, welche ihm folgen, bedingen Gerechtigkeit vor Gott und ewiges Heil. Denn Sündenvergebung und Rechtfertigung, mit denen Leben und Seligkeit verbunden sind, empfängt allein der Glaube, der sich in der Kraft des Geistes auf die Gnade Gottes in Jesus Christus verlässt. Entsprechend ist das Endgericht nach den Werken, soll es als heilsam gedacht werden können, der eschatologischen Rechtfertigung nicht vor- und nicht bei-, sondern dergestalt einzuordnen, dass es als implizite Konsequenz ihrer Prämisse erscheint. Muss dem die römisch-katholische Lehre vom Purgatorium notwendigerweise widersprechen, und ist diese Annahme inkompatibel mit der ostkirchlichen Eschatologietradition? Darüber ist im ökumenischen Diskurs zu befinden. Dabei wird man sich evangelischerseits, falls man es vergessen hat, daran erinnern zu lassen haben, dass sich weder das besondere Endgericht von dem allgemeinen, noch die eschatologische Rechtfertigung des Einzelnen von ihrer kommunialen und universalen Dimension ablösen lässt, welche nicht nur die menschliche Gemeinschaft umfasst, sondern auch die extrahumane Kreatur; das ewige Leben im Reiche Gottes wird nicht weltlos sein.

Personenregister erstellt von Manuela Thormann (In den Literaturangaben aufgeführte Personennamen werden in der Regel nicht eigens benannt.) Abaelard, P.  14, 123, 137 ff., 147, 151, 244 Adorno, T. W.  249 f. Aepinus, J.  30 Albertus Magnus  142 Althaus, P.  269 Anselm von Canterbury  8 ff., 12, 14, 103, 126 ff., 145 ff., 151, 153 f., 164 f., 174, 191 f., 197, 204, 209, 267, 273, 287 f., 315 Aristoteles  296, 328, 340 f., 355 f. Assmann, J.  298 f., 301 Athanasios/Athanasius von Alexandrien  8 ff., 102 ff., 126, 153, 265 ff. Augustin  9, 52, 116, 124, 127, 140, 160 ff., 164, 265, 297, 323 Aulén, G.  151 ff., 266 Balthasar, H. U. v.   32, 116 ff., 124 Barth, K.  20, 41, 217 f., 240 f., 296 f. Baumgarten, S. J.  208, 286 Baur, F. C.  7 ff., 20, 48, 57, 203, 208 Baur, J.   208 Bauschke, M.  100 Benedikt XVI./Ratzinger, J.  312 ff., 317 Bergoglio, J. M. siehe Franziskus I./ Bergoglio, J. M. Bernhard von Clairvaux  139 f. Biel, G.  150 f. Böhme, J.  207 Bonaventura  142, 147 Bousset, W.  257 Büchner, G.  336 Buddeus, J. F. B.  208 Bultmann, R.  43 ff., 49, 66 ff., 70 ff. Calov, A.  191 ff. Calvin, J.  29, 146, 165 ff., 193, 232, 288, 297 Cartesius 242

Cassidy, E. I.  309 Catharina Regina von Greiffenberg  259 Chemnitz, M.  159 f., 288 Christianus Democritus siehe Dippel, J. C./ Christianus Democritus Clemens Alexandrinus  8 Cramer, W.  281 Cyrill von Alexandrien  8 Dalferth, I. U.  270 Descartes, R.  279 Dilthey, W.  194 Dippel, J. C./Christianus Democritus  207 f., 210, 307 Duhm, B.  215 Dunn, J. D. G.  50, 52, 54 f. Duns Scotus, J.  149 ff., 330 Dürrenmatt, F.  296 f. Eberhard, J. A.  209 f. Eck, J.  183 Eichhorn, A.  215 Erasmus von Rotterdam  40, 120, 192 Eriugena, J. S.  9 Feuerbach, A.  338 f. Feuerbach, L.  338 Fichte, J. G.  278 f., 282 Flasch, K.  297 Franziskus I./ Bergoglio, J. M.  22  Friedrich, G.  63 Gabler, J. P.  193 Gagern, J. G.  55 Gellert, C. F.  60 Gerhard, J.  169 Gerhardt, P.  286, 292, 294 Gestrich, C.  291

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Personenregister

Goethe, J. W. v.  18, 60, 270 Gregor der Große  9, 29 Gregor von Nyssa  8, 265 Greshake, G.  160 ff. Grotius, H.  199 f., 203 ff., 209 Gunkel, H.  26, 254 Harnack, A. v.  253, 297, 307 Hegel, G. W. F.  13, 20, 57, 217, 279, 282, 296 Heim, K.  249 Helena 259 Henrich, D.  279, 281 f. Heraklius 120 Herder, J. G.  196 Hippolyt 8 Hofmann, J. C. K. v.  19 Hugo von St. Viktor  141 Hülsemann, J.  307

Löscher, V. E.  306 f. Lübbe, H.  332 f. Luhmann, N.  332 f. Luther, M.  18, 28 ff., 52 f., 63, 89 f., 92 ff., 146 f., 150 f., 153 ff., 163 f., 182 f., 191, 193, 232, 259, 266, 273, 288, 294, 297, 306, 310 f., 315, 317, 359, 364

Ignatius von Antiochien  57 f. Irenäus  8 f., 57, 126, 304

Mahlmann, T.  307 Maria Magdalena  285 Markion 126 Marquard, O.  332 f., 342 Martin I.  121 Maximus Confessor  116 ff., 124 ff. Melanchthon, P.  159, 163, 288 Menke, K.-H.  286, 290 Menken, G.  16 Milton, J.  334 Mohammed  96, 99 Moltmann, J.  241, 346 Mosheim, J. L. v.  208 Müller, J.  20

Johannes der Täufer  59, 352, 355 Jülicher, A.  41, 215 Jüngel, E.  18, 241, 308 ff. Justin  8, 57, 302

Neuwirth, A.  96 f. Nietzsche, F. 325 Nikolaus von Kues  29 Nygren, A.  153

Kähler, M.  14 ff., 20, 253, 257, 347 Kant, I.  13, 20, 198, 210 ff., 232, 279, 282, 286 f. Kasper, W.  308 ff. Kelsen, H.  200 Knebel, C. L. v.  18 König, J. F.  169 f., 172 f., 176 ff., 181, 184 ff., 193 Konstans II.  121 Konstantin der Große  259 Korsch, D.  266 f. Kromayer, H.  307 f.

Ochino, B.  203 Origenes  8 f., 127, 302

Lagarde, P. A. d.  215 Leibniz, G. W.  208, 319 ff., 342 Leo der Große  9 Lessing, G. E.  191, 216 Levin, C.  261 Lewitscharoff, S.  336 Locke, J.  193 Löffler, J. F. C.  210 Loofs, F.  257, 306 f.

Pannenberg, W.  241 Paulus  19, 37 f., 40 ff., 46 ff., 63 ff., 73 f., 145, 164, 217, 262, 264, 271 f., 276, 284 f., 296 f., 304, 317, 336, 358 Pelagius  160 ff., 164 Petrus  30, 47 f., 262, 284, 363 Pfaff, C. M.  208 Pfleiderer, O.  216 Platon  338 ff., 355 Pontius Pilatus  34, 260 f. Pufendorf, S.  200 Pyrrhos 120 Rahner, K.  85 Ratzinger, J. siehe Benedikt XVI./Ratzinger, J. Ricken, F. 199 Ricoldus de Montecrucis  96 Rilke, R. M.  32 Rimbaud, A.  290

Personenregister Ritschl, A.  8 ff., 13 ff., 17, 20, 185, 198, 203, 208, 215 ff., 232, 245, 253, 288, 307 Sanders, E. P.  50 ff. Schaede, S.  286, 288 f. Schafft, H.  253 Schelling, F. W. J.  279, 282 Schleiermacher, F. D. E.  13, 215, 217 ff., 235, 237, 255, 282 Schöndorf, H.  18 f. Schopenhauer, A.  325 Schweitzer, A.  57 ff., 216, 254 Schwenckfeld, C. v.  207 Seeberg, R.  307 Seiler, G. F.  209 Seils, M.  265 Semler, J. S.  208 f. Seneca 40 Smend, R.  215 Socinus, F. siehe Sozzini, F. Socinus, L. siehe Sozzini, L. Sokrates  209, 339 ff. Sölle, D.  289 f. Sozzini, F.  192 ff., 197, 199 Sozzini, L.  192, 203 Spaemann, R.  328, 333 Spalding, J. J.  208 f. Steinbart, G. S.  209 f. Stendahl, K.  51 f. Sterne, L.  333 Storr, G. C.  214

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Strauß, D. F.  210, 219 Striet, M.  20 ff. Studer, B.  265 f. Süskind, F. G.  215 Tholuck, F. A. G.  20 Thomasius, C.  200 Thomas von Aquin  142, 147 ff., 164, 296, 329 Tieftrunk, J. H.  215 Tiililä, O.  153 f. Tillich, P.  218, 242 ff. Tilly, M.  302 Tindal, M.  193 Toland, J.  193 Töllner, J. G.  193, 209 f. Troeltsch, E.  198, 215 f., 253, 257 Voltaire 325 Wagner, F. 199 Walch, J. G.  208 Walser, M.  217, 296 f. Weber, O.  168 Weigel, V.  207 Wellhausen, J.  215, 254 Werner, M.  218 Wilhelm von Ockham  151, 330 Wilhelm von Thierry  139 f. Zwingli, H.  232

Sachregister erstellt von Manuela Thormann Abendmahl/Herrenmahl  38, 187 f., 234, 239, 270, 304, 349 Alter Ego  36, 278, 283, 290 f., 294, 347 f. Anselmismus  142, 146, 163 ff. Anthropologie  117, 151, 195 f., 332, 353, 355 Antipelagianismus  151, 158, 160, 162 Antisozinianismus  165, 191 f., 200 Antitrinitarier  192, 194 Apokatastasis panton  362 Arianischer Streit  103 Articulus stantis et cadentis ecclesiae  18, 163, 193, 245, 295, 303, 306 ff., 310 f. Assensus  188 f., 349 Auferstehung  9, 30, 44, 59, 108 f., 177 f., 185, 190, 235, 256, 284, 312, 551 ff., 354 f., 257 ff. –– Jesu Christi  21, 30, 32, 43, 56, 58, 68, 73, 78 f., 94, 110 ff., 125, 148, 155, 168, 177 f., 227, 239, 256, 262 f., 265, 291, 311, 315, 317, 346 Auferweckung  17, 351, 353, 355, 357 –– Jesu Christi  31 ff., 37, 41, 46, 48, 77 f., 97 f., 111, 125, 177, 195, 271 f., 315, 346 Aufklärung  152, 160, 164, 192, 206 ff., 210, 213, 215, 286 Barmherzigkeit  19, 28, 132 ff., 139 f., 145 f. –– Gottes  60, 127, 131 ff., 135 f., 140 ff., 145 f., 148, 150, 164, 174, 179 Bekehrung  40, 53, 75, 112, 179 f., 228 ff., 249, 275, 290 Beliebigkeitskontingenz siehe Kontingenz Benevolentia Dei  170, 178 Buße  16, 45, 62, 136, 155 f., 179 f., 198, 205, 207, 229 f., 263, 268, 307, 311 Chalcedonense 118, 120, 127 Christus-victor-Motiv 30 Communicatio idiomatum  163, 172 f., 195, 346

Confessio Augustana/CA  17, 157, 163, 190, 316, 363 Deismus, englischer  193 Descensus –– ad inferna  166 –– ad inferos  27 ff., 31 f., 177 Deus –– absconditus  89 ff., 93 f., 319 –– pro me  311 –– pro nobis  89, 93, 95, 311 –– revelatus  89 f., 319 Dialektische Theologie  20, 214, 218, 282 Doketismus  72, 77 f., 100 Dyotheletismus  118 f., 121 f., 137, 168 Ecclesia visibilis  234 Ehre Gottes  38, 128, 132, 134 f., 175, 187, 361 Eigenvermögen, soteriologisches siehe Soteriologie Ekklesiologie  65, 165, 184 f., 193, 232 f., 234 f., 307, 348 Enteschatologisierung  59, 355 Entmythologisierung  71 f., 77 Entschuldigung  105 f., 112 f., 274, 335 f. Erbsünde siehe Sünde/Sünder Erlösung  8 f., 11 f., 18, 51, 61, 69 f., 76, 79, 85, 88 f., 108 f., 112, 114, 118, 122, 125 ff., 133 f., 138, 140 f., 143, 146 ff., 151 ff., 156, 163 f., 168, 170 f., 174, 176 ff., 192, 197 f., 202, 207, 210 f., 213, 217, 220 ff., 226 ff., 230, 232 f., 235 f., 238 f., 243 f., 247, 257, 262, 264 ff., 272, 274, 277, 283, 292, 311, 313, 319, 326, 337, 348 –– Erlösungsbedürftigkeit  20 f., 221 –– Erlösungshoffnung  318, 343 –– Erlösungswerk/-handeln  127, 145, 166, 168, 208, 270

Sachregister Erwartung, eschatologische  58, 85, 292, 361 Eschatologie  24, 44 ff., 51, 53, 55, 58 f., 70, 72 f., 75 ff., 84, 88, 91, 95, 99, 114 f., 161, 165, 169, 232, 235, 263, 268, 271, 283, 286, 291, 323, 334, 337 f., 341 ff., 348 f., 352, 357 ff. –– eschatologische Erwartung siehe ­Erwartung –– eschatologisches Gericht siehe Gericht –– eschatologischer Retter siehe Retter –– eschatologischer Richter siehe Richter –– eschatologische Vollendung siehe Vollendung –– individuelle  352, 358 ff. –– universale  358 ff. Ethik  8, 14, 45, 160, 165, 185, 199, 205, 214, 216, 236, 244 f., 247, 266 Exaltatio  175, 177 f. Exinanitio  175 ff. Fides apprehensiva  156 f. Fiducia  157, 179, 188 f., 349 Fluchtod siehe Tod Formalprinzip 243 Formula Concordiae/FC  30, 158 ff., 186 Freiheit  21, 28, 47, 71, 77, 90, 105, 111, 116, 120 ff., 130 f., 134 f., 139 f., 145 ff., 150, 158, 161 f., 170, 189, 196, 211, 227, 241 f., 274, 279, 289 f., 294, 311, 319 f., 322 f., 329, 331 Gekreuzigter  18, 21 f., 29, 33, 39, 42 f., 46, 48, 50, 56, 69, 74 ff., 79, 83, 89 f., 92, 94, 97, 110 f., 114 f., 125, 128, 142, 149, 155, 168, 175 ff., 256, 260, 262 f., 271 f., 277, 285 f., 290, 292 f., 304 f., 311 ff., 315 ff., 346 ff., 352, 358, 362 –– auferstandener  16, 18, 30, 35, 42 ff., 50, 52, 56, 58 ff., 65, 68, 79, 82 ff., 88, 90, 95, 111 f., 115, 118, 133, 136, 145, 155, 166, 169, 216, 239, 256, 259, 273, 275, 285, 292, 305, 311 f., 314 ff., 343, 348 f., 362 f. –– auferweckter  78, 272 –– erhöhter  41, 76, 80, 166, 259 Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre/GER siehe Recht­fertigung Genugtuung  128, 137, 139 f., 145 ff., 151 f., 154, 163, 174 f., 179, 191 ff., 197, 202, 204, 209, 225, 239, 264, 273, 287 f., 315 –– Genugtuungstod siehe Tod

371

–– Jesu Christi  149, 152, 174, 191, 197, 239, 287 –– stellvertretende  191 ff., 202, 225, 288 Gerechtigkeit  9 f., 13 f., 18 f., 22, 24, 28 ff., 37, 52 ff., 56, 64 f., 92, 100, 126, 128 ff., 138 ff., 144 ff., 154, 156 ff., 160, 166 f., 180, 197 ff., 202, 204 f., 210, 213 f., 225, 244, 248, 257, 268 f., 272 f., 276 f., 282, 287, 298, 301, 303, 305 f., 315 f., 335, 346, 352, 355, 360, 365 –– aus Glauben  52, 56, 60, 65, 157, 159, 180 –– Christi  156, 158, 164 f., 167, 206, 208, 225, 259, 305 –– Gottes  9, 16 f., 24, 28, 31, 34 ff., 42, 51, 54 ff., 60 f., 65, 69, 88, 90 ff., 94 f., 99 f., 105, 127 ff., 138, 140 ff., 144 ff., 152, 160, 165 ff., 170, 174 ff., 179, 197, 204, 210, 212 f., 225, 239, 259, 269, 271, 273, 275 ff., 292 f., 312, 314 ff., 354 f., 360 f., 363 –– rechtfertigende  42, 92, 145, 167 –– richtende  65, 90, 131 f., 145, 155 –– strafende  36, 135, 137, 140, 212 f. –– Werkgerechtigkeit  51, 53 f., 56, 67, 154, 247 Gericht  28, 34, 65, 94, 108, 154 ff., 167, 176, 213 f., 270, 273, 276, 287, 299 –– eschatologisches/Endgericht  22, 24, 27, 42, 50, 75, 88, 99, 105, 130, 174, 227, 262, 273, 275 f., 303, 352, 355, 358, 360 ff., 365 –– gerechtes  70, 88, 105, 130, 176, 277, 292 f., 317, 352, 361 –– göttliches  56, 70, 88, 105, 174, 176, 214, 273, 277, 292 f., 317 –– Jüngstes  185, 190, 235, 352, 359, 361 Gesetz  33 ff., 41 f., 45, 47 ff., 65, 67 ff., 85, 94, 96, 108, 133, 139, 141, 150 f., 153, 157, 165 f., 180, 185 ff., 189 f., 195, 198 ff., 204, 211, 224, 231, 239, 248, 253 f., 257, 259, 263, 269, 273, 276 f., 299, 302 f., 305, 308, 319, 325 f., 330 f., 345, 361 f. –– göttliches  11, 56, 67, 92, 97, 137, 152, 167, 173, 185, 239, 304 –– und Evangelium  35, 42, 56, 240, 269, 277, 303, 316, 349, 363 f. –– Werke des Gesetzes  50 ff., 54, 56, 67, 138, 195, 276 f. Gesinnung/Gesinnungswandel  210 ff., 235, 247

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Sachregister

Glaube  21 f., 27, 31, 33, 37, 41 ff., 46 f., 56 ff., 65, 67 f., 70 f., 73, 75 f., 78, 80, 85 ff., 94 ff., 101, 103, 108, 110 ff., 114 ff., 120, 122, 129, 134, 136, 138 f., 141, 145, 148, 156 ff., 164, 170, 174 f., 179 f., 183 f., 187 ff., 196, 198, 203, 206 f., 210, 215, 219 ff., 224 ff., 229 ff., 235 ff., 239, 241, 243 ff., 253 ff., 262, 265, 271 f., 277, 284 ff., 288, 291 ff., 296 f., 305 ff., 310 ff., 314 ff., 329, 333, 335, 344, 346, 348 f., 352 ff., 358 f., 363 ff. –– Christusglaube  51 ff., 59 f., 65 f., 75, 84, 111, 115, 118, 133, 156, 164, 166, 169 f., 181, 213, 232, 240, 263 f., 277, 284, 286, 306, 312, 316, 363 –– Glaubensbekenntnis  27, 83, 175, 291, 312, 344, 361 –– Gottesglaube  45, 75, 92, 247, 300 –– Rechtfertigungsglaube  18, 51 f., 54, 65, 95, 156 f., 160, 163, 180, 244 f., 247, 275 f., 306 f., 312, 349, 352, 363 Gnade  11, 14, 17, 28, 32, 38, 45, 53, 56, 68, 108, 129, 160 ff., 164, 170, 175 f., 178 ff., 187, 189, 207, 220 f., 226, 231, 237, 239, 257, 264, 272, 274 f., 297, 312 –– Christi  161, 231 –– Gnadenliebe  16 f., 27, 60, 94, 132, 136, 139, 311, 317, 363 –– Gnadentheologie  164, 220 f., 226, 237 –– Gottes  36, 51, 66 f., 95, 132, 137, 139, 157, 161, 164, 167, 169, 180, 187 f., 191, 210, 220 f., 226, 239, 241, 247, 290, 293, 310, 363, 365 –– Rechtfertigung aus Gnade siehe Rechtfertigung Gnosis  49, 70, 72, 77 f., 87, 100 Gottebenbildlichkeit  75, 103, 107, 118, 161, 196, 269, 293, 323 Gottesreich  33 ff., 42 f., 46, 70, 165, 212, 223, 233, 264, 315, 349, 352, 358, 364 Gottessohn  9, 31, 72, 74, 75, 97, 125, 141, 149, 188, 209, 211, 227, 269, 313, 344 Gratia  138, 158, 162, 170, 175, 180 f., 187, 264 –– spiritus sancti applicatrix  178 –– gratis data  162 ff. Gratis  17, 50, 67, 92, 95, 137, 140, 162 ff., 180, 275, 363 Hamartiologie  20, 25, 27, 36, 65 f., 118, 124, 128, 130, 196, 203, 210, 274, 283, 286, 291, 335 f.

Heidelberger Katechismus  238 ff. Heidenchristentum  47 ff., 55 Heil  10, 24, 30, 32, 35, 37 f., 42, 44, 47, 50 ff., 60, 65 ff., 70, 73 ff., 80, 84, 87 ff., 90, 93, 95, 99, 106, 108, 110, 112, 115, 119, 125, 127, 132 f., 139 f., 148, 151, 154, 158 f., 161, 163 f., 166, 169 f., 175, 178 f., 184 ff., 191, 205, 207, 210, 222, 244, 247, 258, 262 ff., 267, 269 ff., 275, 277, 284, 293, 305, 307 f., 132 ff., 317, 334, 347 ff., 359, 362 ff. –– eschatologisches  44, 51 –– Heilsgeschehen  37, 68, 79, 115, 304 –– Heilsgeschichte  84 f., 88, 148, 302, 304 –– Heilsmittel  56, 65, 97, 128, 136, 141, 169 f., 179, 184 f., 187 f., 190, 307 ff., 312 –– Heilsmittlerschaft  184, 191 –– Heilstat/-werk Christi  16, 112, 122, 152, 158, 162, 164, 166 f., 173, 230 –– Heilstod siehe Tod Heiland  112, 166, 238, 264, 270, 292, 347, 360, 363 Heilige Schrift  16 f., 30, 37, 49, 94, 97, 176, 188, 190, 234, 243, 349 Heiligung  159, 181, 196, 228, 230 f., 240 f., 245, 364 Hellenismus/Hellenisten  26, 31, 41, 46 ff., 58 f., 63 f., 71 f., 269, 300 f., 341, 351, 357 Herrenmahl siehe Abendmahl/Herrenmahl Himmelfahrt  80, 177 f., 195, 227 Höllenfahrt Christi 27, 177 Hypostase  83 f., 86, 88, 119, 122, 171, 173, 189 Ich  66 f., 75, 248, 251, 255, 278 ff., 290 ff., 296, 333, 344, 356 f., 359, 363 Idealismus  20, 279 Identität  30, 40 ff., 48, 72, 74, 79, 83 f., 98, 110, 156, 158, 172, 183, 202, 214, 227 f., 252, 254 ff., 279 f., 300, 312, 320 f., 333, 345, 347, 350, 353 f., 356 f. Idiomenkommunikation siehe communicatio idiomatum Imitatio Christi  151, 196 Imputationslehre/imputatio  159, 165, 180, 207 f. Inkarnation  29, 73, 77 ff., 103, 108 f., 115, 148 f., 171, 175, 236, 265 f., 313, 345, 347 –– des Logos siehe Logos Intercessio  166, 173 f., 286

Sachregister Jesus –– historischer   44 f., 253 ff., 312, 346 –– kerygmatischer  44, 312 Judenchristentum  41, 46 ff., 55, 64 Jüngster Tag  174, 184, 352, 359 Konkupiszenz  124, 127 Kontingenz  40, 150, 327 ff., 330 ff. –– Beliebigkeitskontingenz 332 –– Kontingenzbewältigung  327 f., 332 f. –– Schicksalskontingenz  318, 332 f., 335 Kreuz  21 ff., 29, 33, 36 f., 44, 60 f., 65, 69, 72 ff., 76 ff., 88 ff., 92, 94, 97, 99 ff., 108 ff., 112, 115, 118, 125, 142, 154 ff., 166, 168 f., 176, 189, 192, 239, 241, 259 f., 262, 265 f., 270 ff., 277, 287, 291, 293, 305, 312 ff., 317, 343, 345, 347, 362 –– Jesu Christi  17 f., 28, 32 f., 36, 56, 60, 72 ff., 79, 89 f., 94 f., 111, 138, 164, 166, 169, 189, 191, 214, 257, 259, 263, 270 f., 277, 291, 304, 312 f., 315, 317 –– Kreuzesgeschehen/Kreuzesereignis  16 f., 22, 32 f., 36 f., 68 f., 73, 77 f., 95, 148, 155, 260, 271 f., 313, 316 f., 345, 363 –– Kreuzesopfer siehe Opfer –– Kreuzestheologie  17, 22, 28 f., 33, 50, 61, 96, 218, 241, 312 –– Kreuzestod  siehe Tod –– Kreuzeszeichen/Zeichen des Kreuzes  89, 92, 111, 189, 259 f., 262, 343 –– Kreuzigung  49, 98, 259 f., 313 Lex moralis  186 Lex naturalis  51, 185 f. Liebe Gottes  16 f., 31, 36, 56, 60, 65, 69, 75, 85, 89 f., 95, 103, 124, 133 ff., 142, 149, 151 ff., 155, 158, 165, 167 ff., 179, 235 f., 257, 275, 277, 311 ff., 360, 363 Logos  69, 74 ff., 77, 79, 81, 103 ff., 118 ff., 121, 125, 137, 171 f., 177, 181, 187 ff., 236, 313, 346 f. –– Kreuzeslogos  18, 32, 74 –– Menschwerdung/Inkarnation/inkarnierter  9, 32, 59, 62, 72, 74, 79, 88, 97, 102 f., 107 ff., 112 ff., 125, 133, 137, 148 f., 173, 175, 177, 265 f., 267, 290, 292 f., 313, 344 ff. –– Schöpfungsmittlerschaft des Logos  73, 105, 107, 113, 346 Ma’at  298 f., 301

373

Malum –– metaphysicum  319 ff. –– morale  319 ff. –– physicum  319 ff. Messias  32, 44, 46, 72, 84, 112 f., 165, 188, 261 f., 311 Monade 319 Monophysitismus  120, 155 Monotheismus  45, 84, 91 f., 97, 107, 266, 283, 300 f., 315, 354 Monotheletismus  119 ff., 155 Munus –– propheticum  173, 223 f. –– regale 223 –– sacerdotale  166, 174, 196, 223, 226 –– triplex  165, 169, 223 f. Naturrecht  186, 199 f. Neuzeit  15 f., 19 f., 28, 146, 150, 165, 193, 199 ff., 202, 206, 217 f., 241, 246, 251, 266, 279, 290, 327, 342 New Perspective on Paul  50 ff., 54 f., 59 Nominalismus  146, 150, 203, 299, 301, 330 Offenbarung  43, 71 ff., 78, 85 ff., 134 f., 137 f., 140, 148, 193, 217, 227, 236 f., 240, 252, 256, 282, 316, 343 f., 347 f. Opfer –– Kreuzesopfer  166, 197 f., 313, 362 –– Opfertod siehe Tod –– Schuldopfer 268 –– Sühnopfer  35, 73, 197, 211 f., 266, 268, 287, 314 ff. –– stellvertretendes  197 f., 292, 314 f. –– Versöhnungsopfer  21, 271 f., 314 f. Ordo salutis  179, 181, 206, 217, 349 Orthodoxie –– altlutherische   163, 169, 191, 288, 306 f. –– altprotestantische  15, 153, 160, 184, 192 f., 288, 315 –– altreformierte 184 Ostern  21 f., 28, 32 f., 35, 42 ff., 46, 48, 52, 56, 59 f., 65, 69 f., 73, 77 ff., 88 ff., 94 f., 97 f., 103, 108 ff., 115, 118, 155, 166, 169, 241, 256, 262 f., 272, 284 ff., 291 ff., 304 f., 311 f., 316 f., 344 ff., 352, 360 ff. Paradox –– absolutes  246 ff., 250 ff., 255 f. –– rechtfertigungstheologisches  243 ff.

374

Sachregister

–– soteriologisches  243 ff. Parusie  58 f., 263, 352, 358, 361 Passion  22, 28 ff., 32, 34, 73 f., 77, 79, 100, 110, 117, 136 ff., 142, 148 f., 154, 168, 173, 176, 191 f., 228, 243, 259, 289, 312 f., 315, 317, 347 Peccata actualia  246 Peccatum originale  71, 246, 274 Pelagianischer Streit  116 Pelagianismus  160 f., 164 Perichorese  121 f., 172 Pharisäismus  33 f., 41, 49 f., 354 Philippisten 163 Pietismus  20, 193, 206 ff., 244, 249, 306 Poena siehe Strafe/poena Präexistenz  70, 73, 77 f. Purgatorium 365 Quäker 207 Rationalismus  20, 27, 193, 199, 208, 210, 214 f., 244 f., 314 Rechtfertigung  8, 14, 17 ff., 21 f., 37, 39, 42 f., 51 f., 54, 56, 59 f., 64 f., 67 ff., 92, 95 f., 113, 116, 138, 145, 149, 151, 154, 157 ff., 167, 179 ff., 186, 189, 193, 196, 207 f., 213, 216 ff., 224, 229 f., 238 ff., 245 ff., 255, 257, 264 f., 275 ff., 290, 293, 295, 297 f., 303, 305 ff., 316 f., 348, 362 ff. –– aus Glauben  51 f., 54, 67, 95 –– aus Gnade  18, 50, 67, 149, 158, 163, 181, 262, 277, 306, 312, 316, 349, 352, 363 –– des Sünders  21, 30 f., 50, 57, 65, 69, 90, 92, 94, 132 f., 142, 156, 163, 180, 244, 259, 262, 272, 275, 282, 293, 306, 347 f., 352 –– Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre/GER  18, 308 ff. –– Rechtfertigungsartikel  18, 156 f., 242, 245, 306 ff., 316 –– Rechtfertigungsevangelium  243, 275, 311 –– Rechtfertigungstheologie  242 ff., 275 f., 290, 297, 306, 310 f., 363 Rectitudo  129 ff., 146 f., 197 Reich Gottes siehe Gottesreich Remissio  142, 197, 205 Resignatio ad infernum  28, 154 f., 176, 362 Retter  42, 273, 360, 362 –– eschatologischer  273, 360, 363 Richter  28, 145, 155, 168, 174, 213, 273, 310, 360, 362 f. –– eschatologischer  273, 292, 360 f., 363

Sadduzäer  33, 354 Sakrament  59, 67, 76, 88, 95, 97, 157, 175, 179, 185, 187 ff., 239, 244, 292, 310, 312, 317, 348 f. Satisfaktion/satisfactio  12, 15, 20 f., 35, 68, 123, 127 f., 131 f., 135 ff., 139, 141 f., 145 ff., 152 ff., 163, 173 ff., 179, 191 ff., 197 ff., 203, 205 ff., 264, 268, 273, 288, 315 –– stellvertretende  152, 191 ff., 197 f., 202, 225, 288 Schicksalskontingenz siehe Kontingenz Schmalkaldische Artikel  157, 306 Scholastik  116, 124, 127, 129, 137, 140 ff., 147, 151, 164, 184, 200, 328 ff., 353 Schöpfung  10, 20 f., 24 ff., 71, 84 f., 88, 103 ff., 114, 124 f., 128 ff., 135, 141, 144, 147, 167, 263, 269, 283, 286, 291, 300, 320 ff., 328 ff., 345 ff., 353, 361, 364 –– Schöpfungsanamnese  292, 345, 348 –– Schöpfungsmittlerschaft/Schöpfungsmittler  73, 88, 105, 107, 113 f., 346 –– Schöpfungsordnung  25, 104 f., 131, 135, 140, 144, 147, 162, 292, 361 –– Vollendung der Schöpfung siehe Vollendung Schuld  8 f., 17, 19 f., 25, 27, 35 f., 53, 56, 60, 62, 66, 68, 70, 92, 100, 104 f., 108, 113, 117 f., 124 ff., 127 f., 130 f., 136, 139, 141, 147, 153 f., 167, 171, 174, 178 f., 180, 187, 197 f., 202, 205, 207, 210, 212 ff., 248, 251, 267 ff., 272 ff., 289, 310, 313 f., 320 ff., 335 f., 343, 348 –– Schuldaufhebung/Schuldbehebung 63, 216, 264, 268 –– Schuldbewusstsein  36, 186, 229, 247, 251, 274, 292 f., 349 –– Schuldopfer siehe Opfer –– Schuldvergebung  19, 125, 152 –– Sündenschuld  10 f., 26, 30, 36, 95, 104, 106, 108 f., 113 f., 116, 118, 138 f., 141, 147, 152 ff., 180, 186, 192, 198, 204 f., 212 ff., 225, 246, 267, 274, 293, 313, 322 ff., 335 f. Seele  56, 104 ff., 114, 125, 154, 168, 171, 174 ff., 186, 220, 228, 235, 340 f., 335 f., 355 ff., 364 –– Seelenheil  349, 359, 364 –– Seelenschlaf 359 –– Seelenunsterblichkeit  341, 351 f., 356 f. Semipelagianismus 164 Septuaginta  38, 49, 64, 271, 275 f., 302 ff.

Sachregister Skotismus  146, 150 Sohn Gottes  siehe Gottessohn Sola fide  181, 243, 312 Sola gratia  133, 154, 181, 243 Solutio  174, 205 Soteriologie  16 ff., 20, 22, 27, 30 ff., 37 f., 41 f., 46, 48, 50, 51, 53, 57, 63, 65 f., 68 f., 73, 79, 95, 99, 102 f., 115 f., 118, 122, 124, 126 ff., 132 ff., 145, 147 ff., 151, 153 ff., 160 ff., 164 f., 169 f., 178 f., 184, 192, 202 f., 205 f., 210, 214, 217 ff., 220, 232, 235, 238, 240 ff., 257 f., 263 ff., 271 ff., 283, 286 ff., 291, 311, 316, 337 f., 342 f., 347, 360, 364 –– Geschichte der Soteriologie  20 ff., 203 ff., 210 ff. –– partizipatorische 52 –– soteriologisches Eigenvermögen  151, 154, 170, 186 –– soteriologisches Paradox siehe Paradox Sozinianismus  182, 184 f., 202 f., 205 f., 212, 286 f., 314 Status integritatis  288, 335 Staurologie  21, 36 f., 73, 271 f. Stellvertretung/Stellvertreter  21, 28 f., 35 f., 56, 64, 69, 117, 143, 146, 149, 154 ff., 174, 184, 191 f., 197 f., 202, 205, 210, 212 f., 243, 273, 278, 283, 286 ff., 313 f., 317, 360 –– stellvertretende Genugtuung/Satisfaktion siehe Satisfaktion –– stellvertretendes Opfer siehe Opfer –– stellvertretendes Strafleiden siehe Strafe –– stellvertretende Sühne siehe Sühne –– Stellvertretungstod siehe Tod Strafe/poena  18, 26 ff., 35 f., 56, 60, 62, 100, 108, 117 f., 128, 131 f., 135 ff., 139, 141 f., 145, 154, 176 f., 179, 186, 189, 197 f., 202, 204 f., 210, 212 ff., 225, 229, 239, 259 f., 268, 272 ff., 276, 287, 315, 323, 338, 354 –– göttliche  28, 92, 135, 137, 155, 176, 239, 273, 305 –– Straferlass  136, 152 –– Strafersatz  131, 136, 154, 205, 315 –– Strafexempel  204 f. –– Strafgerechtigkeit  135, 137, 140 f., 170, 212 f. –– Strafleiden  28 f., 35, 149, 153 f., 163 ff., 193, 197 f., 202, 214, 225, 273, 288, 315 f. –– Strafleiden, stellvertretendes  136, 149, 153 f., 165, 198, 292, 305

375

–– Straftod siehe Tod –– Sündenstrafe  56, 69, 95, 136 f., 141, 149, 154 ff., 174, 176, 191 f., 205, 225, 292 Subjektivität  12 f., 36, 162, 196, 202 f., 206, 210, 214, 217, 220, 222, 242, 246, 251 f., 279 ff., 343 Sühne  15 f., 21 f., 35 ff., 48, 60, 62 ff., 68 f., 136, 138, 141, 164, 176 f., 197, 267 ff., 275, 287, 292, 313 f. –– stellvertretende  30, 35, 64, 69, 191, 204, 213, 290 f. –– Sühnetod siehe Tod –– Sühnopfer siehe Opfer Sünde/Sünder  8 ff., 16 f., 18 f., 21 f., 24 ff., 30 ff., 42, 46, 50, 53, 56 f., 60, 64 ff., 71, 73, 76, 79, 85, 87 f., 90 ff., 94 f., 104 ff., 113 ff., 124 ff., 135 ff., 145, 147, 149, 151 ff., 161, 163 f., 166 ff., 174, 176 f., 179 f., 186 f., 191 f., 196 ff., 204 f., 207, 213 f., 216, 220, 224 f., 227, 230 f., 238 ff., 243 ff., 251, 259, 262, 267 ff., 272 ff., 283, 287 f., 290, 292 f., 297, 306 ff., 316 f., 320, 322 f., 335 ff., 343, 347 ff., 352, 355, 362 ff. –– Erbsünde  117, 129, 193, 196, 210, 221 –– Ursünde 158 –– Sündenfall  23, 27, 31 f., 71, 104 f., 107 f., 110, 125 f., 130, 149, 161, 265, 336, 347, 364 –– Sündenschuld siehe Schuld –– Sündenstrafe siehe Strafe –– Sündenvergebung  133, 138, 159, 180, 187, 189, 197, 207, 230, 246, 271, 274 f., 292, 363, 365 Supranaturalismus  20, 214 ff. Suprarationalismus  214 f., 217 Taufe  66, 141, 187, 234, 239, 241, 314, 349 Teufel  8 ff., 24, 28, 31 f., 71, 89, 93, 108, 110 f., 115, 126 f., 137 ff., 152 f., 174, 176, 178, 183, 238, 266, 342 f., 361 Teufelsbetrug  125, 127 Theanthropologie  118 f., 289, 344, 347 f., 356 Theologia crucis  17, 30, 32 f., 35, 50, 56 f., 60, 81, 89, 95 f., 101, 155, 259, 266, 273, 277, 312 f. Theosis  102, 115, 118 f., 122, 125, 265 Thora  31, 33, 35, 41 f., 45 ff., 57, 65, 67, 91 f., 94, 144, 168, 269, 273, 275, 300 ff., 304, 315, 354, 357, 361

376

Sachregister

Tod  9 f., 19 ff., 27 f., 31 ff., 56, 66 f., 71, 75, 79, 93, 113 ff., 124 ff., 141, 147, 152 f., 155 f., 171, 176 ff., 186, 188, 190 f., 198, 202, 207, 213 f., 225, 235, 246, 249, 259, 263, 266, 268 f., 285, 287, 299, 310, 319, 324 ff., 336, 339 ff., 346 f., 350 f., 353, 355 ff., 363, 365 –– Fluchtod  110, 191 –– Genugtuungstod 154 –– Gottes 155 –– Heilstod  33, 65, 270, 313, 347 –– Jesu Christi  9, 20, 22, 29 f., 32 ff., 45 f., 48, 56 f., 59, 63 ff., 68 f., 73 ff., 81, 97 ff., 107 ff., 125 ff., 131, 133 f., 136 ff., 141 f., 145, 147 f., 151 f., 154 ff., 166, 174 f., 195, 207 f., 222, 225, 256, 260 ff., 266 ff., 270 ff., 288, 292 f., 305, 312 ff., 344 ff., 363 –– Kreuzestod  20, 22, 29 f., 32 ff., 36 ff., 46, 56, 59, 63, 74, 81, 98 ff., 108 ff., 113, 115, 137, 139 f., 154 ff., 174, 225, 260, 262, 267 f., 270 ff., 292, 305, 312, 316, 345 –– Opfertod  188, 270 ff., 316 –– Stellvertretungstod  64, 98, 115, 151, 191, 288, 347 –– Straftod  108, 191 –– Sühnetod  60, 64, 164, 268 ff. –– Todesangst  104 f., 111, 117, 168, 351 –– Versöhnungstod  12, 141, 209, 224, 267, 290, 292, 313 ff. Trinität  17, 22, 33, 35 f., 43, 69 f., 79, 81 ff., 94 ff., 101, 116, 119, 128 f., 132 ff., 137, 142, 149, 154 f., 165, 167, 169, 171 f., 178 f., 188, 192, 194, 198, 203, 237, 239, 243, 263, 265, 275, 290 f., 311, 315 f., 344, 346 Unitarier 192 Unschuld  126, 136 f., 139, 180, 196, 202, 212, 276, 305 Unsterblichkeit der Seele siehe Seelenunsterblichkeit Ursünde siehe Sünde/Sünder Usus elenchticus  186, 269, 362 Vernunft  85 ff., 96, 103 ff., 113, 117, 124 f., 128 f., 129 f., 136, 141, 146 ff., 171, 173, 184, 191 ff., 198 ff., 202, 206, 208, 211, 216 f., 227, 236, 249, 253, 274 ff., 320 ff., 324 ff., 329 f., 335, 342, 360 Vernunftrecht  199 f.

Versöhnung  –– des Sünders  14, 31, 36, 50, 64, 69, 77, 142, 149, 167, 174, 267, 313, 317, 337 –– Geschichte der Versöhnungslehre  7 ff., 17, 19 f., 37, 95, 128, 138, 140, 142, 159, 165, 193, 202, 210, 217, 240 ff., 265 ff., 290 –– gottmenschliche  30, 36, 57, 59 f., 70, 118, 134, 148, 153, 168, 262, 275, 292, 311 ff., 315, 345, 348 –– Versöhnungsbegriff  8, 11 f., 17 f., 62 ff., 267 ff., 272 –– Versöhnungsevangelium  157, 272, 306, 310 –– Versöhnungsgeschehen am Kreuz/im Gekreuzigten  36, 42 f., 69, 79, 88 ff., 112, 118, 125, 155 f., 216, 259, 316 –– Versöhnungsliebe  17, 69, 85, 139, 142, 153, 168, 312, 316 –– Versöhnungsopfer siehe Opfer –– Versöhnungstag  268, 304 f. –– Versöhnungstat /-werk Jesu Christi  14, 19, 56, 64, 68, 76, 89, 108 f., 128, 137, 140 ff., 145, 150 ff., 156 ff., 167 f., 176, 192, 205 f., 221 ff., 239 ff., 243, 290, 313, 347 –– Versöhnungstod siehe Tod Vivificatio  75, 213 f. Vollendung  –– der Schöpfung  67, 227, 334, 348, 354, 361, 364 –– der Welt  59, 114 –– eschatologische  8, 59, 84, 87 f., 112, 175, 235, 348 Wächterbuch  24, 31 Wahrheit –– Glaubenswahrheit  157 f., 310 –– Gottes  71, 87, 114 f., 119, 130, 147, 150, 248 –– Vernunftwahrheit 320 Weisheit  144, 195, 235 f., 298 f., 319 f. Weisheit Gottes  114, 204, 235 ff. Wiedergeburt  141, 179, 181, 187, 206, 228 ff. Wiederkunft Christi  52, 58, 227, 235, 263, 273, 343, 358, 363 Wort vom Kreuz  32, 62, 95, 260, 272 Zeichen des Kreuzes siehe Kreuz Zweifel, radikaler  246 ff., 255 ff. Zwischenzustand  352, 258 f., 365