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German Pages [363] Year 2013
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Studium Systematische Theologie
Band 8
Vandenhoeck & Ruprecht
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Gunther Wenz
Sünde Hamartiologische Fallstudien
Vandenhoeck & Ruprecht
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56712-8 ISBN 978-3-647-56712-9 (E-Book)
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Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Sünde und Schuld in biblischer Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
2. Der Fall Adams im Kontext der Sündenlehren Augustins und Anselms .
56
3. Grundzüge der Sündenlehre Luthers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
4. Tridentinische und thomanische Hamartiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 5. Das in sich Verkehrte in der Wittenberger Bekenntnistradition und in der Dogmatik altlutherischer Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 6. Hamartiologische Konstellationen im Umkreis Kants . . . . . . . . . . . . . . . . 140 7. Schleiermachers neuprotestantische Sündenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 8. Möglichkeit und Wirklichkeit der Sünde nach Schellings Freiheitsschrift 180 9. Kierkegaards idealismuskritische Hamartiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 10. Sünde als existentielle Entfremdung bei Tillich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 11. Hamartiologie aus dem Geist sündenvergebender Gnade bei Barth und Dalferth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 12. Kreatürliche Selbstzentrizität und die Verkehrtheit des Menschen bei Pannenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 13. De peccato: Hamartiologische Grundlegung jenseits von Pelagianismus und Manichäismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 14. Vom diabolischen Unwesen menschlicher Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 15. Leibliche Übel und die Frage der Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 16. Der Fall Judas: Gottes gerechtes Gericht und die Rechtfertigung des gottwidrigen Sünders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
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Einleitung
Lit.: K. Barth, Kirchliche Dogmatik. Vierter Band: Die Lehre von der Versöhnung. Erster Teil, Zürich 1960 (= KD IV/1). – H. u. G. Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 1983. – S. Brandt u. a. (Hg.), Sünde. Ein unverständlich gewordenes Thema, Neukirchen-Vluyn 1997. – Th. Buchheim, Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie, Hamburg 1992. – I. U. Dalferth, Malum. Theologische Hermeneutik des Bösen, Tübingen 2008. – Chr. Danz, Die philosophische Christologie F. W. J. Schellings, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. – G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens. Dritter Teil: Der Glaube an Gott den Vollender der Welt, Tübingen 1979. – F. Engels, Schelling, der Philosoph in Christo, oder die Verklärung der Weltweisheit zur Gottesweisheit. Für gläubige Christen, denen der philosophische Sprachgebrauch unbekannt ist (1842), in: K. Marx/ders., Werke. Erg.Bd. 2, Berlin 1977, 223–248. – G. Freund, Sünde im Erbe. Erfahrungsinhalt und Sinn der Erbsündenlehre, Stuttgart/Berlin/Köln/ Mainz 1979. – E. Garhammer, Rettende Formulierungen. Sünde in der modernen Literatur, in: ThPQ 160 (2012), 11–20. – D. Henrich, Endlichkeit und Sammlung des Lebens, Tübingen 2009. – K. Huizing, Ästhetische Theologie. Bd. I: Der erlesene Mensch. Eine literarische Anthropologie, Stuttgart 2000. – E. Jüngel, Zur Lehre vom Bösen und der Sünde, in: K. Aland/S. Meurer (Hg.), Wissenschaft und Kirche, Bielefeld 1989, 177–188. – E. Kinder, Die evangelischlutherische Lehre von der Erbsünde, in: ders., Die Erbsünde, Stuttgart 1959, 35–83. – T. Kleffmann, Die Erbsündenlehre in sprachtheologischem Horizont. Eine Interpretation Augustins, Luthers und Hamanns, Tübingen 1994. – M. Knapp, „Wahr ist nur, was nicht in diese Welt paßt“. Die Erbsündenlehre als Ansatzpunkt eines Dialoges mit Theodor W. Adorno, Würzburg 1983. – H. Krings, Die Entfremdung zwischen Schelling und Hegel (1801–1807), München 1977. – M. D. Krüger, Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie, Tübingen 2008. – M. Lasogga/U. Hahn (Hg.), Gegenwärtige Herausforderungen und Möglichkeiten christlicher Rede von der Sünde, Hannover 2010. – E. Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg, 1988. – O. Marquard, Felix culpa? – Bemerkungen zu einem Applikationsschicksal von Genesis3, in: M. Fuhrmann u. a. (Hg.), Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch (Poetik und Hermeneutik IX), München 1981, 53–71. – A. Mertin, Von Sünden und Sündern. Ihre Faszination in der heutigen Kultur, in: ThPQ 160 (2012), 4–10. – G. Pfleiderer, ‚Die eigentliche Sünde ist allen Menschen unbekannt‘. Überlegungen zum Verhältnis von Sünde und Sündenerkenntnis, in: NZSTh 43 (2001), 330–349. – F. W. J. Schelling, System der Weltalter. Münchener Vorlesung 1827/28 in einer Nachschrift von Ernst von Lasaulx. Hg. v. S. Peetz, Frankfurt a. M. 1990 (= MV). – Ders., Urfassung der Philosophie der Offenbarung. 2 Bd. Hg. v. W. E. Ehrhardt, Hamburg 1992 (= UPhO). – Ders., Einleitung in die Philosophie. Hg. v. W. E. Ehrhardt, Bad Cannstatt 1989 (= EPh). – Ders., Einleitung in die Philosophie der Mythologie. Philosophie der Mythologie. Philosophie der Offenbarung, in: ders., Sämmtliche Werke. Zweite Abtheilung. Erster bis vierter Band, Stuttgart/Augsburg 1856–58 (= SW II, 1–4). – G. Schulze, Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde, München 2006. – W. Sparn,
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Einleitung
Unbegreifliche Sünde. Wie, wem und was kann der dogmatische Begriff der Sünde zu verstehen geben?, in: Marburger Jahrbuch Theologie 20 (2008), 107–143. – G. Wenz (Hg.), Das Böse und sein Grund. Zur Rezeptionsgeschichte von Schellings Freiheitsschrift 1809, München 2010. – Ders., „. . . der Unterscheid des Gesetzes und Evangelii als ein besonder herrlich Licht“ (BSLK 790,21 f.) Fallbeispiele zur Aufnahme des hermeneutischen Kriteriums der Wittenberger Reformation in der Dogmatik des 20. Jahrhunderts, in: ders., Grundfragen ökumenischer Theologie. Gesammelte Aufsätze. Bd. 2, Göttingen 2010, 116–159.
Im Wintersemester 1831/32 hielt Friedrich Wilhelm Joseph Schelling an der Münchener Universität Vorlesungen, die ihr Herausgeber zur „Urfassung der Philosophie der Offenbarung“ erklärt hat. Über das historische Recht dieser Einschätzung ist nicht zu befinden; voraussichtlich werden die entwicklungsgeschichtlichen und philologischen Probleme der sog. Spätphilosophie Schellings die Forschung noch längere Zeit beschäftigen. Dennoch kann schon jetzt gesagt werden, dass die späten Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Offenbarung, auf deren Nachlassbeständen die entsprechenden Bände in der vom Schellingsohn Karl Friedrich August veranstalteten Ausgabe basieren (SW II/3 u. 4), nichts enthalten, was Schelling nicht bereits Anfang der 30er Jahre in München gelehrt hätte; das ist ein nicht lediglich lokalpatriotisch, sondern sachlich begründetes Urteil. Schelling ist kein Offenbarungspositivist und der Glaube, zu dem er sich bekennt, beruht nicht auf vernunftfremder Autorität. Dennoch verbindet er mit dem Begriff der Offenbarung die „Vorstellung, daß die Gegenstände derselben solche seyen, von welchen man nicht nur keine Wissenschaft habe, sondern die man schlechterdings nicht wissen könnte ohne die Offenbarung. . . . Wozu gäbe es eine Offenbarung, oder zu welchem Ende würde der Begriff einer solchen nur noch überhaupt beibehalten, wenn wir durch eine solche am Ende nichts weiter erführen oder inne würden, als was wir auch ohne sie und von selbst wissen oder doch wissen könnten?“ (SW II/4,4) Die Antwort auf diese rhetorische Frage wurde bereits in München gegeben: „Einer Philosophie der Offenbarung, wie diese wirklich ist, wird es nicht einfallen, die Offenbarung als einen notwendigen Prozeß darzustellen, noch als etwas a priori zu Begreifendes, sondern sie wird sich bescheiden, alles, was geschehen ist, als wirklich geschehen zu zeigen: sie wird zeigen, was geoffenbart und vermöge der Offenbarung zu sagen ist. Eine Philosophie der Offenbarung wird ihren Wert darein setzen, zu zeigen, daß die Offenbarung nicht ein notwendiges Erzeugnis, sondern eine Manifestation des allerfreiesten Willens der Gottheit ist, und hier haben wir die letzte Linie erreicht, wo wir es nimmer mit Notwendigkeit, sondern mit freiem Entschlusse zu tun haben.“ (UPhO, 408,33–409,7) Als Hauptgegner der Offenbarungsphilosophie Schellings Offenbarungswird Hegel ausgemacht. Schon seit 1807 soll es philosophie „kein Zeugnis einer Gemeinsamkeit“ (Krings, 22) mehr zwischen den einstigen Freunden und philosophischen Weggenossen gegeben haben. Wenngleich man dies so pauschal nicht sagen kann, da sich zumindest auf Seiten Schellings in der Freiheitsschrift und darüber hinaus noch mannigfache
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Einleitung
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Beeinflussungen durch Hegel registrieren lassen, ist eine Entfremdung doch unübersehbar. Zu ihren wichtigsten Ursachen zählt die unterschiedliche Bestimmung des Verhältnisses von Anschauung und Begriff, die sie zwar gemeinsam abweichend von Kant, aber doch auch untereinander kontrovers vornehmen. Kontrovers fiel entsprechend auch die Bestimmung der religiösen Vorstellung aus, die Hegel begrifflich aufzuheben gedachte, wohingegen Schelling auf ihrer Unaufhebbarkeit insistierte. Was der Münchener Schelling vom Denken seines älteren Studienkollegen hielt, lässt sich seiner Einleitung in die Philosophie vom Sommer 1830 entnehmen, die er unmittelbar vor der sog. Urfassung der Philosophie der Offenbarung vorgetragen hat. Über die Logik als ein „bloßes System der Begriffe“ (EPh, 61) sei Hegel recht eigentlich nicht hinausgelangt, weil er den „Übergang in die Natur“ (EPh, 62) und damit in die Realphilosophie nicht wirklich habe finden können. „Es ist leicht, in das reine Denken zu kommen, dies hängt von jedem selbst ab, aber nicht so leicht ist es, aus dem reinen Denken herauszukommen; denn die Welt besteht nicht nur aus jenen abstrakten Begriffen, als auch nicht aus den konkreten, sondern überhaupt nicht aus Begriffen. Auch der konkreteste Begriff ist noch ein Begriff, wenn auch nicht ein abstrakter. Die Welt besteht aus Begriffen und zufälligen Dingen; eben das Reale ist die Differenz vom Denken. Wie die Welt im Denken aussehe, ist leicht auszumachen, denn nichts ist begreiflicher als der Begriff; aber das, was wir über den Begriff in derselben noch finden, fordert eine Erklärung. Hic Rhodus, hic salta.“ (Ebd.) Diesen Sprung habe Hegel nicht zu leisten vermocht. Mit Hegels Definition, „daß die Natur die Idee in der Form des Andersseins“ (ebd.) sei, ist nach Schellings Urteil die philosophisch entscheidende Frage noch gar nicht gestellt, geschweige denn beantwortet. Denn diese laute, „wie die Idee dazu kommt, sich selbst ungleich zu werden“ (ebd.). Zwar stelle Hegel die Natur als den Abfall der Idee von sich selbst dar. Doch sei es ihm damit nicht wirklich ernst, da das Andere der Idee nur das Andere ihrer selbst, nicht aber ein reales Anderes sei: ist der Abfall wirklich, „so ist ein reelles Ereignis zu statuieren, und der Begriff ist in diesem Falle nicht mehr als Begriff“ (EPh, 63). Positive Philosophie hat es mit Faktizität zu tun, die aus dem Begriff nicht deduzierbar und rein begrifflich nicht zu fassen ist, wie dies die von Schelling als negativ qualifizierte Philosophie beanspruche. Diese sei zwar unverzichtbar, trotz ihrer Unverzichtbarkeit aber nicht in der Lage, die Tat-Sächlichkeit faktischer Realität hinreichend zu erfassen. „Wenn man erwägt wie die negative Philosophie zu dem Princip der Negation hinleitet, durch Abstraction nemlich endlich bei dem lezten Begriff ankommt wohin jeder gelangen muß wenn er sich von allem abstrahirt; – so ist es ganz anders mit dem Anfang der positiven Philosophie, denn dieses System kann seiner Natur nach nur Gegenstand eines durch Erfahrung vermittelten Erkennens sein.“ (MV, 86 [82]) So ist es bereits in der Nachschrift der Münchener Vorlesung Schellings von 1827/28 durch Ernst von Lasaulx unter dem Datum vom 18. Januar 1828 notiert, wo die Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie nach Urteil ihres Herausgebers „zum ersten Mal“ (MV, XVII) begegnet.
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Einleitung
Offenbarungsphilosophie ist Teil positiver Philosophie, diese ohne jene nicht zur Erfüllung zu bringen. Schon die schiere Tatsächlichkeit der Welt kann nach Schelling nur als Sache schöpferischer Tat und als Folge eines freien Willensentschlusses Gottes verstanden werden, dessen unvordenkliches Sein die welterzeugenden Potenzen umschließt und in sich vereint, nämlich das Seinkönnende, Seinmüssende und Seinsollende (vgl. dazu im Einzelnen SW II/1, 253 ff.; auch UPhO, 19 ff.). Als außer Gott gesetzte entwickeln sie sich sukzessiv, evolutionär und zugleich teleologisch, um im Laufe der Zeit im Menschen als dem vornehmsten Geschöpf zu ursprünglicher Einheit am Ort göttlichen Andersseins zu finden. Doch verkehrt das Menschengeschöpf diese Einheit, die seine Bestimmung ausmacht, durch den Fall der Sünde auf zwieträchtige Weise, welche Verkehrung zu beheben Sinn und Ziel der heilsgeschichtlichen Ökonomie darstellt, die zu bedenken positiver Philosophie in Sonderheit aufgegeben ist. Bekehrung aus sündiger Verkehrung kommt nicht auf rein gedankliche Weise, sondern faktisch nur durch eine Faktizität zustande, die auf begriffstranszendierende Weise durch Offenbarung ebenso frei wie tatsächlich gesetzt ist. Werde dies verkannt, dann reproduziere das Denken genau jene Verkehrtheit, die es zu beheben suche, ohne es zu vermögen. Frei werden von der Sünde, deren widerliche Untat auf in sich widrige Weise selbst ein unvordenkliches Faktum sei, könne die Vernunft nur, wenn sie durch Offenbarung von sich zu sich befreit werde. Eben jenen Befreiungsvorgang zu bedenken sei vornehmste Aufgabe positiver Philosophie, die auf die sog. negative zugleich bezogen und von ihr unterschieden ist. Alles Wissen samt dem sich wissenden BewusstUnvordenkliche Faktizität sein, ohne welches es kein Wissen gibt, weiß sich nach Schelling, wenn es sich recht versteht, als auf Offenbarung und in einem Faktum gegründet, das es aus sich heraus nicht zu genetisieren vermag, von dem als es selbst genetisiert zu sein es sich vielmehr gewiss zu werden hat, damit ihm das Aposteriori der Offenbarung zum Apriori aller Bewusstseinsvollzüge werde. In diesem Sinne wird nach Schelling in dem allgemein angenommenen Begriff der Offenbarung, von dem auch er ausgeht, ein göttlicher „Actus außer dem Bewußtsein“ (UPhO, 402,2) und ein „freies Verhältnis des Bewußtseins zu Gott gedacht, d. h. das ein von Seite Gottes freiwillig gegebenes ist“ (UPhO, 402,2–4). Was in der Offenbarung gegeben ist, ist kein durch Vernunft unmittelbar Gesetztes, auch kein Vorausgesetztes, das vernünftigerweise als nicht gesetzt zu setzen ist, sondern ein frei Erschlossenes, das nicht mit Vernunftnotwendigkeit zu erschließen ist, durch dessen faktisches Erschlossensein sich Vernunft gleichwohl ihrer eigenen Bestimmung zugeführt zu werden gewiss sein kann. Schelling hält es nicht mit denen, „welche die Offenbarung gerne auf bloße Vernunftwahrheiten zurückführen möchten, die den Unterschied zwischen Offenbarung und Vernunftwahrheiten ganz ausgleichen und vernichten wollen“ (UPhO, 402, 32–35). Zwar weiß die Vernunft auf ihre Weise von Gott, und das Bewusstsein göttlicher Möglichkeiten steht in ihrem Vermögen; aber die Wirklichkeit
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Einleitung
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Gottes ist ihr nicht aus ihr selbst heraus zugänglich, sondern nur durch die Tatsache freier Selbsterschließung Gottes erschlossen, deren offenbare Tatsächlichkeit ein Faktum darstellt, welches in seiner absoluten Positivität von der Vernunft um ihrer selbst und ihrer wahren Wirklichkeitserkenntnis willen anzuerkennen ist. Nicht dass Schelling das Denken der Irrationalität preisgeben wollte, um es an äußere Autorität zu binden oder in einem vernunftlosen bzw. vernunftwidrigen Abgrund versinken zu lassen. Die positive Philosophie hat die rein rationale zur Voraussetzung und bleibt auf sie auch unter der Bedingung bezogen, dass diese aus den angezeigten Gründen als negativ zu bestimmen ist. Negative und positive Philosophie sind ebenso wenig zu trennen wie unmittelbar in eins zu setzen. Sie bilden einen Zusammenhang, der zwar begrifflich nicht synthetisierbar, aber auch nicht in einen Gegensatz aufzulösen ist, und sie stehen, wie Schelling unter Bezug auf eine klassische Strukturformel reformatorischer Theologie sagt, in demselben Verhältnis wie Gesetz und Evangelium. „Zuerst das Gesetz, dann das Evangelium! Dies ist die natürliche Ordnung.“ (UPhO, 413,23 f.) Die Vernunft, deren Selbstvollzüge die negative Philosophie rein rational bedenkt, entspricht dem Gesetz, die vom Glauben wahrgenommene Offenbarung, auf welche die positive Philosophie ausgerichtet ist, dem Evangelium, welches das Gesetz nicht destruiert, sondern zu einem vollendeten Ende bringt. Mit der gesetzesförmigen negativen Philosophie der Vernunft ist der Anfang, mit der positiven Philosophie evangelischen Offenbarungsglaubens der Schluss zu machen und zwar dergestalt, dass in ihm der Anfang nicht aus-, sondern eingeschlossen und zu integrer Erfüllung gebracht ist. Es ist im gegebenen Zusammenhang nicht näher zu erörtern, wie Schelling seine positive Philosophie in ihrer differenzierten Beziehung zur negativen angelegt hat. Konstatiert seien lediglich die von Hegels System signifikant abweichende „Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie“ (vgl. Buchheim) und der von ihm als durchaus vernünftig qualifizierte Abschied der Vernunft von Versuchen ihrer Selbstbegründung. „Die Vernunft kann sich nicht in der Wirklichkeit eines absoluten Grundes ihrer eigenen Wirklichkeit versichern. Zwar realisiert die Vernunft, auf ein Absolutes bezogen zu sein, aber dessen Wirklichkeit als schöpferische Freiheit entzieht sich dem konzipierenden Ausgriff der Vernunft (, negative Philosophie’). Allerdings befreit die von der Vernunft eingesehene Möglichkeit dieser uneinholbaren Wirklichkeit zu einem – theoretisch nicht erzwingbaren, aber praktisch keineswegs als irrational denunzierbaren – Perspektivenwechsel (‚Religion‘).“ (Krüger, 3 f.) Die von Schleiermacher geltend gemachte Nichtsubstituierbarkeit von Religion durch Metaphysik und Moral bestätigt Schelling offenbarungsphilosophisch und durch positive Wertung geschichtlichen Offenbarungsglaubens, mittels dessen die Vernunft einer Vollendung zugeführt wird, die sie allein auf sich gestellt nicht nur nicht zu leisten vermag, sondern verfehlt.
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Einleitung
Die innere Mitte von Schellings positiver Philosophie der Offenbarung, wie sie an die sog. reinrationale bzw. negative Philosophie und die Philosophie der Mythologie anschließt, ist durch die Christologie, besser gesagt: durch die Person Jesu Christi bestimmt, des inkarnierten Logos und auferstandenen Gekreuzigten: „Christus ist nicht etwa bloß der Lehrer, sondern der Inhalt des Christentumes selbst.“ (UPhO, 391,24 f.) Vornehmste Aufgabe der Philosophie der Offenbarung muss es demgemäß sein, die Person Jesu Christi zu verstehen. Doch kann dies nach Schelling nicht in vermittlungsloser Unmittelbarkeit, sondern nur auf vermittelte Weise und durch vorausgegangene Reflexionen auf die impliziten Voraussetzungen des Offenbarungsereignisses geschehen, in welchem das Christentum gründet. In Jesus Christus erfüllt sich, was allem Volk und namentlich dem jüdischen von Anbeginn verheißen war. „In der ganzen Vorzeit war diese Person schon im Kommen begriffen.“ (UPhO, 392,4 f.) Doch war Jesus Christus im Heidentum und im Judentum nur verborgen, ja auf verstellte Weise und noch nicht als er selbst offenbar. „Christus ist in der Mythologie, nur nicht als Christus. In der Offenbarung ist er als Christus.“ (UPhO, 397,22 f.) Erst im offenbaren Christus ist schließlich auch Gottes Gottheit heilsam offenbar, wohingegen ein prächristologischer Gottesbegriff bestenfalls ein Vorgriff auf die in der Kraft des Geistes erschlossene Gottesoffenbarung in Christus zu sein vermag, der nicht nur nicht zum Heil, sondern zum Unheil gereicht, wenn er von der in der Person Jesu Christi inbegriffenen Heilsgeschichte absieht und abstrahiert. Unverstellt und als der, welcher er in sich und seinem Wesen nach ist, offenbart sich Gott allein in Christus, wohingegen er ohne ihn nur in Verborgenheit, ja unter Verstellungen manifest ist, die nicht nur einen teuflischen Schein hervorrufen, sondern durch Sündenschuld des Teufels sind. Dies gilt es theologisch von Anfang an und durchweg zu bedenken. Das Christentum ist eine monotheistische Religion. Was damit gemeint sei, ist nach Schelling nicht leicht zu sagen. „Kein Professor der christlichen Dogmatik wird sich finden, der nicht seine Verlegenheit eingesteht, die ihn stets beim Vortrage über den Begriff und die Lehre des Monotheismus befallen hat.“ (UPhO, 102,21–24) Dogmatisch beheben lässt sich diese Verlegenheit Schelling zufolge nur, wenn der Monotheismus nicht der Abstraktheit einer allgemeinen Gotteslehre überlassen wird, welche um der Einheit Gottes willen alles Differente von ihm ausschließt. Ein Theismus, der sich durch den Gegensatz zum Pantheismus bestimmt, ist abstrakt und nicht jener konkrete Monotheismus, der ein und alles in sich fasst, um in Form einer trinitarischen Alleinheitslehre expliziert zu werden. „Der bloße Theismus besteht darin, die Einheit ohne Allheit . . . zu setzen. Der Pantheismus besteht darin, . . . das All ohne geistige Einheit zu setzen. Daher ist es einleuchtend, daß Monotheismus als Alleinheitslehre das Vermittelnde beider ist. Gott wird in diesem System als Allheit und Einheit zugleich gesetzt.“ (UPhO, 139,25–31) Wie dies zu geschehen habe, entwickelt Schelling trinitätstheologisch: „der dreieinige Gott ist nur der bestimmte Ausdruck für: der alleinige Gott.“ (UPhO, 147,21 f.) Der kommende Christus
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Einleitung
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Konkreter Monotheismus ist trinitarischer Monotheismus (vgl. Krüger). Sein Begriff ist für die gesamte Philosophie der Mythologie und Offenbarung implizit vorauszusetzen. Doch vermerkt Schelling ausdrücklich, „daß der bloße Begriff der Alleinheit für sich noch abstrakt sei und noch weit verschieden von der geschichtlichen, christlichen Alleinheit“ (UPhO, 148,12 f.). Der trinitarische Begriff Gottes bleibt negativ, solange er nicht mit der Positivität göttlicher Ökonomie verbunden und durch diese erfüllt wird. Immanente und ökonomische Trinität sind als differenzierte Einheit aufzufassen. Dies ist möglich nur, wenn sich die Trinitätslehre auf den konkreten Vollzug der Selbstmanifestation Gottes in der Realität von Natur und Geschichte einlässt, deren Fluchtpunkt die Erscheinung Jesu Christi und der von ihm ausgehende pneumatologische Prozess darstellen. Ansonsten regrediert trinitarisches Denken in eine Gotteslehre von abstrakter Allgemeinheit und hört auf, lehrhafter Ausdruck eines konkreten Monotheismus zu sein, was seine Bestimmung ist. Als lehrhafte Ausdrucksgestaltung eines konkreten Monotheismus hat die Trinitätstheologie von Konkreter Monotheismus Schöpfung, Sünde, Versöhnung und Vollendung zu handeln. Trinitätstheologische Schöpfungslehre erhebt die ursprüngliche Bestimmung der Welt und namentlich diejenige des Menschen, mit dessen Fall „die Urtatsache der Geschichte“ (UPhO, 223,29 f.) gesetzt ist, auf welche ihr gesamter Verlauf rückbezogen bleibt. Durch seinen Schöpfer als ein Unabhängiges und für sich Bestehendes hervorgebracht und in Freiheit entlassen, hat sich das Menschengeschöpf durch einen unvordenklichen Akt unmittelbarer Selbstbestimmung von seinem göttlichen Grund losgerissen, um den Grund seiner selbst und seiner Welt nur mehr in sich zu suchen. Auf diese Tatsache und ihre Unvordenklichkeit ist die Sündenlehre bezogen. Sie ist, wenn man so will, Trinitätslehre im Modus unbegreiflicher Verkehrung und Verstellung der Potenzen göttlicher Schöpfungsallmacht durch menschliche Selbstvergottung. Im Bösen bestimmt sich Außergöttliches dazu, widergöttlich und damit zugleich kreaturwidrig zu sein. In der Sünde des Menschen ist dies manifest, ohne deshalb aufzuhören, unbegreiflich zu sein. Es ist im Gegenteil so, dass die Tatsache menschlicher Sünde das ipso facto nicht nur Unbegreifliche, sondern Begriffswidrige zu nennen ist. Die Sündenschuld ist daher weder durch theoretische noch durch praktische Vernunftanstrengungen zu beheben. Man hat gesagt, dass die von Schelling behauptete Notwendigkeit, die rein rationale Philosophie hinter sich zu lassen und von der positiven her als negativ zu bestimmen, primär hamartiologisch begründet sei (vgl. Marquard, 62 ff.). Richtig daran ist, dass im Bedenken der Sünde die Vernunft an eine Grenze ihrer selbst stößt, die sie nicht zu übersteigen vermag, sondern an der sie zu zerbrechen droht. Die unvordenkliche Faktizität des Falls kann durch keine Vernunftanstrengung theoretischer oder praktischer Art, sondern nur durch die unvordenkliche Faktizität einer freien Gottestat behoben werden, durch die sich Gott in seiner Tatsächlichkeit der Tatsache der Sünde und des Bösen entgegensetzt, um sie zu überwin-
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den. Will Philosophie dem Rechnung tragen, so kann sie dies nur auf positive Weise und in Form eines Denkens tun, das in dem Offenbarungsgeschehen gottmenschlicher Versöhnung in Jesus Christus seine religiöse Letztbegründung findet. Was in Jesus Christus als unvordenkliches Heilsfaktum offenbar ist, um religiös und im Glauben wahrgenommen zu werden, ist nach Schelling durch einen fortschreitenden mythologischen Prozess vorbereitet, der in der griechischen Mythologie seinen vorläufigen Abschluss findet, um dann durch Vermittlung des Judentums in die christliche Religion überführt zu werden, dessen offenbarer Grund im Christusereignis gegeben ist. Was anfänglich war, ist in Jesus Christus zur Vollendung gebracht, um sich in Gestalt der Kirche kraft des göttlichen Geistes und seiner Wirkmedien menschheitsgeschichtlich zu realisieren. „Geschichte im vollen Sinne“ (UPhO, 417) hebt in ihrem auf die Verwirklichung des Reiches Gottes hingeordneten Beginnen mit dem Perfekt an, welches Christologie zu bedenken hat; „erst mit dem Christentume gibt es eine eigentliche Geschichte“ (ebd.). Deren faktischer, aus keinem vorgefassten Begriff deduzierbarer Verlauf bildet den wesentlichen Gegenstand positiver Philosophie. Denn erst mit der Christentumsgeschichte, deren innerster Beweggrund das Christusgeschehen darstellt, ist der Übergang vom Reiche der Natur und der Notwendigkeit in dasjenige der Freiheit und Gnade wirksam vollzogen. Einer Philosophie, „die alle Rücksicht auf die Wirklichkeit von ihren Betrachtungen“ (UPhO, 416,27 f.) ausgeschlossen und alles Objektive beseitigt hatte, wie dies nach der Verabschiedung des Kant’schen „Ding an sich“ bei Fichte, Hegel und anderen der Fall gewesen sei, musste dieser Übergang nach Schelling zwangsläufig verborgen bleiben. Die Wahrnehmung seiner offenbaren Gestalt blieb seinem Urteil zufolge jener Philosophie vorbehalten, die er die positive nennt. Was darunter genau zu verstehen ist, macht er in der 51. und 52. seiner Münchener Vorlesungen von 1831/32 in Kritik und Konstruktion zusammenfassend deutlich, um zugleich die Methode zu erläutern, nach welcher positive Philosophie beim Bedenken der Verlaufsgeschichte des Christentums zu verfahren hat. In Gott ist die Einheit der Potenzen des Seinkönnenden, des Seinmüssenden und des Seinsollenden von Ewigkeit zu Ewigkeit gegeben. Er ist Natur und Geist in einem und als allmächtige potentia absoluta zwar anders, aber kein anderer denn als absolut Liebender, der in sich alles Differente zu vollkommener Identität zusammenschließt, ohne Differenz zu beseitigen, welche er im Gegenteil bis ins Unendliche hinein steigert. Im Menschen als dem höchsten Geschöpf ist die Einheit der Potenzen zwar ebenfalls ursprünglich gegeben, aber als „eine bloß sekundäre, geschaffene, also auch zerstörbare“ (UPhO, 434,2). Im Unterschied zu Gott ist es dem Menschen „nicht gegeben, während er der eine ist, auch der andere zu sein“ (UPhO, 434,3 f.). Der Mensch ist frei; aber seine Freiheit ist nicht Der Fall der Sünde unendlich wie diejenige Gottes, sondern endlich dergestalt, dass die Freiheit des einen an derjenigen
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des anderen ihre Grenze hat. Diese durch Gott gesetzte Grenze in anerkennender Liebe neidlos zu achten, ist die geschöpfliche Bestimmung des Menschen, wie sie das göttliche Gebot vernünftig umschreibt. Sie von Anbeginn mutwillig überschritten zu haben und ständig zu überschreiten, macht den Fall der Sünde aus, durch deren Unwesen der Mensch in gottwidriger Weise sich selbst samt Mitmensch und Welt abgründig zugrunde richtet, indem er die in Gott ewig gebundene Potenz willkürlichen Wollens bindungslos freisetzt und damit einen Prozess initiiert, der zwangsläufig Destruktion einschließlich Selbstzerstörung bewirkt. Die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung zu unterbinden und die Möglichkeit freier Realisierung ursprünglicher Bestimmung des Menschen aus göttlicher Gnade heraus zu eröffnen, ist Sinn und Ziel dessen, was die christliche Überlieferung die Menschwerdung Gottes nennt. Durch die Inkarnation wird das widergöttliche Verhältnis, in das sich der Mensch durch die Verkehrtheit seiner Sünde zum eigenen Schaden und zur Verderbnis allen außergöttlichen Seins gebracht hat, von Gott her insofern behoben, als sich dieser in seiner Logoshypostase entäußert, um sich so in ein neues Verhältnis zu setzen sowohl zum gottentfremdeten Sein der Schöpfung als auch zu sich selbst. Von einer durch die Logoskenose bewirkten Veränderung des Verhältnisses Gottes zu sich selbst muss nach Schelling insofern gesprochen werden, als die Behebung des göttlichen Unwillens über die Sünde sich nicht von selbst versteht. Zwar ist der Unwille Gottes, den die Hl. Schrift als strafenden Zorn oder mit vergleichbaren Wendungen kennzeichnet, „ein ihm selbst fremder, durch die Tat des Menschen ihm zugezogener Wille“ (UPhO, 445,37–446,1). Aber als solcher ist er ein Faktum, das sich nicht anders als durch eine Tat umbestimmen lässt, von der man sich noch ungleich weniger einen apriorischen Begriff machen kann als vom Fall der Sünde in seiner Unbegreiflichkeit. Die den Unwillen Gottes zum Heil des Menschen in reine Liebe wandelnde Tat ist durch den kenotischen Akt der Menschwerdung des Logos vorbereitet, um sich in der Passion des Gottmenschen zu vollenden. Es würde zu weit führen, Schellings Lehre von der Präexistenz Jesu Christi und seiner Erscheinung im Fleische, wie er sie unter Bezug namentlich auf den Johannesprolog und das Dogma altkirchlicher Christologie entwickelt, in ihren einzelnen Zügen nachzuzeichnen. Dies ist auch nicht nötig, insofern das Inkarnationsgeschehen lediglich den äußeren Grund dessen darstellt, was in Kreuz und Auferstehung seine innere Erfüllung findet. Knapp vermerkt sei lediglich Schellings eigentümliche Rezeption der traditionellen Zweinaturenlehre. Ihr zufolge existiert Jesus Christus „zwar in duabus naturis, aber nicht ex duabus naturis“ (UPhO, 573,18 f.), weil sich sein Personsein nicht aus vorgefassten Begriffen göttlicher und menschlicher Natur, sondern nur aus dem unvordenklichen Akt einer freien Setzung heraus begreifen lässt, der die personale Gott-Mensch-Einheit offenbart. Erst im inkarnatorischen Vollzug ist Jesus Christus „Gott und Mensch zugleich in einer Person“ (UPhO, 574,15 f.): „War er nicht wirklich der Mensch, so konnte er auch nicht als Gott erscheinen.“ (UPhO, 574,16 f.)
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Das wirkliche und wahre Menschsein Jesu Christi ist nach Schelling die conditio sine qua non der Offenbarung des Logos, dessen Gottheit von seiner menschlichen Erscheinung nicht zu trennen ist. „Nur weil er ganz und wahrhaft Mensch ist, ist er göttlich. Wenn Christus von sich in der Unterscheidung vom Vater spricht, so meint er sich als jenes Subjekt, das, um mit dem Vater eins zu sein, Mensch wurde. Als dieses Subjekt war der Sohn in vollkommener Freiheit gegen den Vater; er konnte sein substantielles Sein behalten oder auch dem Vater als menschliches unterordnen. Dieses Subjekt also, das von Gott unabhängig sein konnte, hat nicht die menschliche Natur bloß angezogen, wie man etwa ein Kleid anzieht, sondern es ist ganz und gar in humanitatem conversum, und nur durch diese conversio gewinnt es wieder die Gottheit in sich, seine Einheit mit dem Vater.“ (UPhO, 576,13–24) Schelling schließt mit der selbstbewussten Bemerkung, er glaube „die Wahrheit und Realität der menschlichen Natur des Logos besser und sicherer dargestellt zu haben, als es nach irgendeiner der bisherigen Theorien möglich ist“ (UPhO, 579,1–3). Der Skopus des inkarnatorischen Vollzugs, von dem her sich allererst dessen tiefster Sinn erschließt, ist nach Schelling durch die Ereignisse von Kreuz und Auferstehung markiert, in deren differenziertem, aber eindeutig gerichtetem Zusammenhang die Geschichte Gottes und des Menschen in einer Weise kulminiert, die alles Weltgeschehen in sich trägt und umfasst. Die in der Menschwerdung statthabende Logoskenose vollendet sich im freiwilligen Leidensgehorsam Jesu Christi und in der Passion des Kreuzestodes als der größten Handlung seines Lebens, durch die sowohl der all-einigen Gottheit Gottes und seiner erhabenen Gerechtigkeit Genüge getan als auch die Rechtfertigung des Menschen dadurch bewirkt wird, dass ihm trotz des Falles seiner Sünde ein unveräußerlicher Bestand in Gott selbst bereitet wird. An Ostern ist dies offenbar. „Die Auferstehung Christi ist das entscheidende Faktum, womit die ganze höhere, von gemeinem Standpunkte aus nicht begreifliche, Geschichte sich schließt.“ (UPhO, 599,25–27) Ostern ist nach Schelling das Urdatum des ChrisUrsprüngliche Einsicht tentums, ja das Zentralereignis der Weltgeschichte, welches deren Sinn blitzartig erhellt und zu erleuchteter Erkenntnis bringt. Ohne das Faktum der Auferweckung und Auferstehung des Gekreuzigten bliebe der innere Sinn des äußeren Geschichtsverlaufs verborgen. „Wir können den Verlauf des äußeren Prozesses von Punkt zu Punkt wissen, aber nicht verstehen, wenn wir nicht das höhere Prinizip kennen. Die äußere Geschichte ist nicht aufzulösen in jene höhere; aber ihren Zusammenhang mit der höheren zu erhalten, muß unter andern eine der Wirkungen der Philosophie der Offenbarung sein. Die Auferstehung Christi ist ein unschätzbares, ja das schätzbarste Faktum, das man keinen Grund hat sich rauben zu lassen; denn es steht in der höhern Geschichte so fest, als irgendein anderes.“ (UPhO, 600,11– 20) Ohne Voraussetzung dieses Faktums, das in seiner unvordenklichen Tatsächlichkeit das Offenbarungsfaktum schlechthin darstellt, weil in ihm Gott unter den Bedingungen seiner Schöpfung sich selbst menschlich und den Sündenfall des
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Menschen versöhnend offenbart, wäre nicht nur Jesus Christus nicht, was er ist, ohne sie gäbe es auch kein Christentum, dessen Gehalt nichts anderes als der auferstandene Gekreuzigte in Person ist. Sein Werk wider Tod und Teufel (vgl. UPhO, 616 ff.) unter englischem Beistand (vgl. UPhO, 658 ff.) zu bezeugen, ist der Auftrag der Kirche (vgl. UPhO, 672 ff.) in der Abfolge ihrer petrinischen, paulinischen und johanneischen Erscheinungsgestalt (vgl. UPhO, 681 ff.), den zu erfüllen sie durch Mandat und Verheißung ihres Herrn bestellt ist. Zum kirchlichen Zeugnis gehört nach Schelling gewiss auch praktische Tat; doch habe die Philosophie der Offenbarung in das „Praktische des Christentumes, z. B. in die Moral . . . nicht einzugehen“ (UPhO, 671,30–32); denn die „Moral ist nur die Folge der theoretischen Idee“ (ebd.). Schellings Philosophie der Offenbarung ist ihrem Selbstverständnis nach keine Praxislehre christlicher Sittlichkeit, aber auch keine „spekulative Dogmatik“ (UPhO, 671,33 f.), sondern eine Unternehmung, der es „nur um einen höhern geschichtlichen Zusammenhang zu tun ist“ (ebd.), dessen alle Theorie und Praxis transzendierende, weil sie allererst begründende Positivität in der Weise vernehmender, die Unvordenklichkeit ihres Gegenstands anerkennender Vernunft zu bedenken ist. Von einem irrationalen Offenbarungspositivismus weiß sie sich durch das Bemühen um gedankliche Vermittlung, von einem rationalistisch-spekulativen Vernunftapriorismus durch die Wahrnehmung der begrifflich nicht synthetisierbaren Differenz unterschieden, die nach ihrem Urteil zwischen negativer und positiver Philosophie waltet. Am Verständnis ihres differenzierten Zusammenhangs entscheidet sich jede Interpretation. Sie stellt vor ähnliche Probleme wie die Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium, welche die Reformatoren zur Zentralaufgabe der Theologie erklärt hatten. Darauf wird im Zusammenhang der Frage der hamartiologischen ratio cognoscendi zurückzukommen sein. Die Auslegungen der Schelling’schen Spätphilosophie bewegen sich häufig zwischen Irrationalismusbedenken und dem Vorwurf unstatthafter Rationalisierung hin und her. Dabei wird nicht selten verkannt, dass es zur Vernünftigkeit der Vernunft gehört, sich mit demjenigen auseinanderzusetzen, was ihr nicht nur äußerlich, sondern zuwider ist. Vernünftige Verständigung erfolgt nach Gründen, die Selbstverständigung der Vernunft unter Ausrichtung auf einen Grund, in dem alles gründet. Das vernunftwidrige Böse aber entzieht und widersetzt sich jeder vernünftigen Begründung, ohne in seiner Faktizität und Realität vernünftigerweise geleugnet werden zu können. Mag das äußere Übel notfalls noch mit Vernunft in Einklang gebracht werden können, so muss das schuldhafte malum der Vernunft als grundverkehrt und gleichwohl evidentermaßen existent gelten. Daraus scheint sich eine Aporie zu ergeben, die der Vernunft nicht äußerlich ist, sondern sie im Innersten angeht und betrifft. Ist die Möglichkeit oder gar die Wirklichkeit des Vernunftwidrigen in der Vernunft selbst begründet? Der Grund, in dem sie sich und alles begründet weiß, was ihr zugehört und wahrhaft ist, drohte ihr dann offenbar unversehens ins Zwielicht nicht nur, sondern in einen Widerstreit mit
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sich selbst zu geraten. Schellings Unterscheidung einer Natur in Gott von Gottes Existenz scheint in diese Richtung zu weisen. Ist sie im Sinne einer Metaphysik des Bösen zu verstehen, welche dessen Ursprung auf einen Abgrund in Gott zurückführt, ja ins göttliche Wesen selbst verlegt? Oder denkt sie dem Bösen lediglich eine ontologische Möglichkeit zu, ohne damit die Unableitbarkeit des Falles der Sünde und die Verantwortlichkeit des Menschen für ihn zu leugnen oder infrage zu stellen? Macht sich das Böse nach Schelling nicht tatsächlich „unmöglich“, sobald es unverantwortlicherweise ergriffen wird? Besteht unter diesen Bedingungen der traditionelle theologische Verdacht seiner ontologisch-metaphysischen Rechtfertigung zurecht? Der Versuch, den Grund des vernunftwidrigen Paradigmatische malumBösen vernünftig aufzuklären, gehört seit alters zu Theorien den Elementarbestrebungen menschlichen Denkens, wobei sich aus der historischen Betrachtung drei Erklärmuster ergeben, die als typisch gelten dürfen. Der erste Typ sucht das Böse auf dualistische Weise, nämlich so zu erklären, dass er es auf ein dem Guten zwar entgegengesetztes, aber ihm gegenüber gleichursprüngliches eigenständiges Prinzip zurückführt. Unter monotheistischen Bedingungen kann dieser Lösungstyp keinen Bestand haben, da er dem einen – guten – Gott einen zweiten – bösen – gewissermaßen paritätisch zur Seite stellt oder einen Gegensatz in die Gottheit einträgt, der ihre Einheit auflöst und ihre Güte zersetzt. Christliche Theologie hat ihn deshalb ob gegen die Manichäer oder vergleichbare Bewegungen stets und dezidiert abgelehnt. Weniger strikt fiel die Ablehnung gegenüber einem zweiten Erklärtyp aus, der die Sünde als einen Irrtum beurteilt, welcher auf eine Verwechslung von Gut und Böse hinausläuft. Wer nach Bösem trachtet, hält dieses offenbar für ein Gut; ansonsten würde er es nicht erstreben. Umgekehrt scheint das Gute im Falle seiner Unterlassung als ungut wahrgenommen zu werden, weil es andernfalls nicht unterlassen würde. Wer sündigt, irrt. Dieser in der antiken Philosophie und namentlich im Platonismus häufig begegnende Grundsatz wurde im Unterschied zum manichäistischen Dualismus von christlicher Hamartiologie nicht einfachhin verworfen, da nach ihrem Urteil jeder Sünde tatsächlich auch ein Irrtum innewohnt. Doch handelt es sich dabei nicht lediglich um ein zu entschuldigendes oder durch Aufklärung zu beseitigendes Versehen, sondern um eine Verkehrung, die Vernunft und Wille an sich selbst betrifft. Der Irrtum der Sünde stellt sich recht eigentlich als bewusster und willentlicher Lug und Trug dar. In sich trügerisch und verlogen wäre es daher, ihn mit dem Schein des bloß Irrtümlichen zu versehen. Einem entsprechenden Einwand sieht sich gelegentlich auch die auf Aristoteles zurückgehende Privationstheorie ausgesetzt, derzufolge das Böse in einem Mangel an Sein begründet liegt. Zwar wurde diese Theorie christlicherseits in antidualistischer Absicht nicht selten rezipiert; das Böse ist anders als das Gute kein eigenständiges Prinzip und kein Seiendes im Sinne des Seins des Guten. Aber diese Rezeption erfolgte zumeist unter dem Vorbehalt, dass das prinzipielle Seinsdefizit des Bösen
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nicht lediglich ein Mangel an Gutem, sondern dessen Abwesenheit und ein Fehlen von derjenigen Unart sei, die des Guten nicht nur entbehrt, sondern es zu destruieren trachtet und zwar mit aller zu Gebote stehenden Intensität. Das böse Unwesen, welches die Sünde treibt, ist kein bloßer Unfug und nicht lediglich ein Irrtum oder Mangel, sondern in sich verkehrte Perversion des Guten. Wohl ist das Böse kein eigenständiges Gegensatzprinzip zum Guten, ohne welches es nichts ist und zu wirken vermag. Aber seine Angewiesenheit auf das Gute hält das Böse nicht davon ab, sich von ihm abzuwenden. Es ist im Gegenteil so, dass das Böse seine konstitutive Beziehung zum Guten allein dazu nutzt, Schlechtes zu wirken. In seiner Negation des Guten, die im Falle der Sünde mit Fleiß, will heißen: unter Inanspruchnahme nicht nur aller Sinne, sondern von Bewusstsein und selbstbewusstem Willen geschieht, ist das Böse nicht lediglich privative, sondern positive Verkehrtheit. Es war namentlich Schelling, der dieser Grundeinsicht christlicher und nachgerade reformatorischer Hamartiologie in der Moderne neue Geltung zu verschaffen und zu verhindern suchte, dass sie der Vergessenheit anheimfiel. Vor allem deshalb und weil sie klaren Einblick in die neuzeitlichen Schwierigkeiten und Herausforderungen dogmatischer Grundlegung und Organisation bietet, wurde der hamartiologische Anfang mit einer Fallstudie zu Schellings Offenbarungsphilosophie gemacht, auf deren Ursprung in der Freiheitsschrift von 1809 an späterer Stelle zurückzukommen sein wird. Dieses Verfahren wird u. a. in dem Erweis seine Rechtfertigung finden, dass von Sören Kierkegaard bis hin zu Paul Tillich und Karl Barth sowie darüber hinaus das Grundthema Schelling’scher Lehre vom Bösen in unterschiedlichen Variationsformen immer wieder begegnet (vgl. Wenz [Hg.]). Theologie handelt vom Bösen hamartiologisch. Doch begegnet der Begriff auch in anderen Kon- Positive Verkehrtheit texten, auf welche die theologische Lehre von der Sünde zwar einerseits elementar bezogen ist, von denen sie aber andererseits auch charakteristisch abweicht. Bei allen Unterschieden seiner Verwendung wird der Begriff des Bösen alltagssprachlich durchweg im pejorativen Sinne des Schlechten und Schlimmen verwendet. Bedeutungsmäßig differenziert wird dabei in der Regel zwischen einem Bösen, das als Schuld zurechenbar, und einem solchen, bei welchem dies nicht der Fall ist, obwohl es ebenfalls schlecht und schlimm zu nennen ist. Schuldhaft Böses in rechtlicher und sittlicher Bedeutung setzt Zurechnungsfähigkeit und damit eine Verantwortlichkeit voraus, ohne welche von Schuld nicht die Rede sein kann. Was unter zurechnungsfähiger Verantwortlichkeit genau zu verstehen ist, lässt sich im Einzelnen schwer bestimmen; generell gesagt werden kann immerhin dies, dass sie nicht bei allen Wesen gegeben ist, weil nicht allem, was ist, das Vermögen eignet, sich zu verantworten. Auch im Falle der Menschen ist Verantwortungsvermögen nicht in allen Lebenslagen und bei jedem gleichermaßen vorhanden, wenngleich menschliches Sein prinzipiell darauf angelegt und dazu bestimmt ist, zu Bewusstsein und zu einem Sich-Wissen zu gelangen, welches Verantwortlichkeit ermöglicht und grundsätzliche Unzurechnungsfähigkeit als
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einen Grenzwert erscheinen lässt, mit dem zu rechnen und human umzugehen ist, ohne dass er zur Richtschnur des Menschlichen überhaupt werden könnte und werden dürfte. Während im Privatrecht Schuld in der Regel eine Leistungsverpflichtung des Schuldners bezüglich rechtmäßig bestehender Forderungen des Gläubigers und im Strafrecht wesentlich ein Verschulden bezeichnet, das dem Straftäter als ein vermeidbarer Verstoß gegen die äußere Rechtsnorm willentlich zugerechnet werden kann, ist der sittlich-moralische gefasste Schuldbegriff von größerer Reichweite als der rechtliche, insofern er meist auch die Innensphäre des Menschseins umfasst. Auch wenn nicht jede sittlich-moralische Schuld im rechtlichen Sinne als strafwürdig gilt, so ist sie doch nichtsdestoweniger ein Indiz des Bösen insofern, als Bosheit nicht in der Verwerflichkeit äußeren Verhaltens aufgeht, sondern im bewussten Wollen des Verwerflichen und in der das verwerfliche Wollen bewirkenden Willensverkehrtheit ihren inneren Grund hat. Was in christlicher Überlieferung Sünde heißt, steht in Beziehung zu sittlicher Schuld und zu dem, was gerechtem Recht als strafwürdig gilt. Vermittelt ist der Bezug durch den Begriff der Gerechtigkeit, von der abgewichen und gegen die sich gewendet zu haben nach theologischem Urteil auch das Unwesen der Sünde ausmacht. Selbst das peccatum originale wird nach traditioneller Lehre als ungerechte und gerechtigkeitswidrige Schuld qualifiziert, was durch die Bestimmung der Ursünde als Erbsünde dann verdunkelt oder verstellt zu werden droht, wenn diese als bloßes Gattungsgeschick und naturhaftes Übel betrachtet wird. Doch bezeichnet trotz und unbeschadet seiner rechtlichen und sittlichen Bezüge der theologische Begriff des peccatum originale eine Verkehrung von metaiuridischer und transmoralischer Art, welche primär das religiöse Verhältnis zu Gott angeht. Die Kennzeichnung der Ursünde als Unglaube und fehlendes Gottvertrauen bzw. als Selbstvergottung belegt dies und zeigt an, dass es in ihrem Fall nicht allein um einen Verstoß gegen eine positive Rechtsnorm oder um eine Abkehr vom vernünftigen Sittengesetz, sondern um eine Verkehrung des Verhältnisses zu jenem absoluten Grund zu tun ist, der Selbst und Welt schlechterdings basal fundiert. Zwar handelt es sich auch bei rechtlichen Vergehen Sünde und Schuld vielfach und bei sittlichen Verfehlungen fast stets nicht nur um Verhaltensweisen von lediglich äußerer Art, die das Innere des rechtswidrigen und amoralisch Handelnden unberührt lassen; gleichwohl rechnet rechtliche und sittliche Schuldzuweisung auch in Extremfällen von Rechts- und Sittenwidrigkeit mit der Voraussetzung und dem bleibenden Gegebensein eines willensfreien Entscheidungssubjekts, das als eine in sich bestehende und beständige Größe, welche Identität und ihre Dauer gewährleistet, die Bedingung der Möglichkeit von Schuldzuweisung, also die Voraussetzung desjenigen ist, was sittlich-rechtliche Zurechnungsfähigkeit heißt. Der religiöse Begriff der Sünde indes, jedenfalls wie die reformatorische Lehre vom peccatum originale ihn thematisiert, benennt nicht nur verkehrte Taten, auch nicht allein momentane Verkehrungen bewussten Wollens, sondern stellt das Handlungssub-
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jekt selbst samt seinem Willen und vernünftigen Selbstbewusstsein dergestalt zur Disposition, dass dort, wo einst Subjekt war, schuldhafte Besessenheit zu registrieren ist, die jede Möglichkeit zum Guten entzieht. Der hamartiologische Begriff des Bösen, wie er für die theologische Sündenlehre kennzeichnend ist, steht in Beziehung zu Recht und Moral, ist aber unbeschadet dessen von transiuridischer und transmoralischer Bedeutung, was in Anbetracht landläufiger Rede von Sünde eigens und vorweg zu betonen ist. Der Sündenbegriff zählt, wie es im Editorial eines jüngst erschienenen Heftes der Theologisch-Praktischen Quartalschrift zum Thema heißt (ThPQ 160 [2012], 2 f., hier: 2; vgl. Mertin; Garhammer; Schulze), zu den „janusgesichtigen Schlüsselwörtern“ von Religion und Christentum, deren theologische Verwendung sich signifikant „von der Bedeutung und Verwendung in der säkularen Alltagskultur“ unterscheidet. „Theologisch zentral, aber auch belastet wie kaum ein anderer in der einen Hemisphäre, wird er in der anderen zusehends zu einer ironisch schillernden Chiffre für allerlei Verbotenes, dessen Übertretung jedoch nicht mehr mit dem Verlust des Himmels konnotiert, sondern geradezu den Gewinn von Lust, Glück und Leben verheißt.“ Man kann das Dilemma auch so beschreiben: „Der Zentralstellung des Sündenbegriffs in der theologischen Anthropologie steht die lebensweltliche Bedeutungslosigkeit der Vokabel gegenüber.“ (Huizing, 69) Notorisch ist infolgedessen die Klage der professionellen Hamartiologen, dass ihr Thema unverständlich geworden sei und dringender Klärung bedürfe (vgl. bspw. Brandt u. a. [Hg.]; Lasogga/ Hahn [Hg.]). Dem ist so. Nicht auszuschließen ist freilich auch, dass ein Moment des Nichtverstehens und der Unverständlichkeit auch und gerade dann zurückbleibt, wenn die nötige Klärung in theologisch rechter Weise erfolgt. Ja, man kann sogar fragen, ob Sünde nicht umso unverständlicher wird, je angemessener man ihren „Begriff“ versteht. Ist es nicht so, dass sich eine „Fassungslosigkeit des Begriffs“ (Freund, 47) nachgerade dann einstellt, wenn Hamartiologie ihr Thema mit äußerster Begriffsanstrengung verfolgt? Und büßt umgekehrt die Lehre von der Sünde ihren thematischen Gehalt nicht immer dann ein, wenn sie den Anspruch vertritt, zu einem theoretischen Abschluss gelangt zu sein? Es waltet, wie es scheint, eine negative Dialektik eigener Art, wenn Unart und Verkehrtheit der Sünde recht bedacht werden (vgl. Knapp, bes. 53 ff., 253 ff.). Die Vermutung liegt nahe, „daß die Schwierigkeit, die fortgesetzte Unselbstverständlichkeit des Sündenbegriffes auch etwas mit der Sünde selbst zu tun haben könnte“ (Kleffmann, 37). Auch dürfte es ratsam sein, schwierige Begriffe, die sich nicht von selbst verstehen, sondern ein offenkundiges Problem darstellen, hamartiologisch ernst zu nehmen, bevor man sie disqualifiziert. Ob es sich beim Kompositum „Erbsünde“ um einen solchen Begriff handelt, wird zu prüfen sein, wobei dahingestellt bleiben kann, ob es sich bei ihm um eine Übersetzung der lateinischen Wendung peccatum haereditarium oder um eine „originelle Bildung der deutschen Sprache“ (Kleffmann, 26) handelt.
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Hamartiologie hat es mit Aporien zu tun, die begrifflich lösen zu wollen die Gefahr in sich birgt, sie zu vertiefen. Ohne einen Begriff ihrer Unbegreiflichkeit scheint Sünde nicht nur unverstanden zu bleiben, sondern zwangsläufig missverstanden zu werden. Man kann weiter gehen und sagen, dass es zum förmlichen Unwesen der Sünde gehört, ihr Missverständnis einschließlich ihres Selbstmissverstehens permanent zu erzeugen und auf Dauer zu stellen. Die Probleme der Lehre vom peccatum originale und universale, aus dessen Grundverkehrtheit sich alle peccata actualia ergeben, verdichten sich daher in der Frage nach den Bedingungen möglicher Sündenerkenntnis. Was ist nach traditioneller Lehre Sünde und was der Grund ihrer Erkenntnis? Christliche Hamartiologie, die reformatorische zumal, redet von ihrem Thema vorzugsweise im Singular, zunächst von der Sünde und dann erst von den Sünden. Als Verkehrung des Gottesverhältnisses, welches die Sünde ihrem theologischen Begriff nach ist, betrifft sie nicht nur einzelne Untaten des Menschen in seinen äußeren Bezügen zur Welt, sondern sein inneres Selbstverhältnis. Durch die Sünde ist das Ich des Sünders in sich verkehrt. Dies ist gemeint, wenn von der Sünde als peccatum originale, principale, capitale oder auch haereditarium die Rede ist, wobei der Erbsündenbegriff zunächst nur einen unter mehreren Ausdrücken für die Totalverkehrtheit sündigen Unwesens bezeichnet. Seine spezifische Bedeutung besteht darin, den sündigen homo incurvatus in se ipsum in einen Zusammenhang mit dem adamitischen Menschengeschlecht zu bringen und seinen Fall mit dem menschheitlichen Fall der Sünde überhaupt zu verbinden. Wie dies zu geschehen hat, bedarf eingehender Überlegungen, weil der Begriff der Erbsünde missverständnisträchtig ist und zu zahlreichen Missverständnissen Anlass gegeben hat. Als abgründige Verkehrung des Gottes-, des Selbst- und des Weltverhältnisses des Menschen ist die Sünde durch hybrid-hochmütige oder verzweifelte amor sui, durch concupiscentia im Sinne des neutestamentlich-paulinischen Begriffs der epithymia und durch eine aversio Dei charakterisiert, die nicht nur einen Mangel an Gottesfurcht und fehlendes Gottvertrauen darstellt, sondern ein aktives, bis zum Gotteshass gesteigertes Widerstreben. Der Sünder versagt sich seinem Schöpfer und lehnt sich gegen ihn und seine eigene Geschöpflichkeit auf, indem er sein will wie Gott. Alles kreatürliche Vermögen wird in den Dienst dieser Auflehnung gestellt, die sowohl aus triebhafter Neigung als auch bewusst und willentlich geschieht und zwar zugleich. Der Sünder hat in jeder Hinsicht Lust zum und am Bösen, auf welches er seine ganze Natur und Person ausrichtet, um diese um ihre geschöpfliche Bestimmung zu bringen. Als Radikalverkehrung menschlicher Wesensnatur und Personalität ist das peccatum originale, principale, capitale etc. sowohl Schuld als auch Verhängnis und zwar in einem – wenngleich auf zwieträchtige Weise. Der Verhängnischarakter der Ursünde wird vor allem durch den Begriff peccatum haereditarium unterstrichen, der sie als ein angeborenes, unausweichliches und in seiner Unausweichlichkeit Hamartiologische Aporie
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faktisch universales Erbgebrechen kennzeichnet. Offenbar findet sich der Mensch, noch ehe er in einzelnen Handlungen tätig ist, in seiner schieren Existenz immer schon als sündig und unentrinnbar in Sünde verstrickt vor. Doch trotz der Unentrinnbarkeit des Sündengeschicks, welches die Reformatoren in Bezug auf alle Adamskinder mit Nachdruck hervorhoben, soll der Schuldcharakter der sog. Erbsünde nach Urteil der Tradition einschließlich der reformatorischen dezidiert erhalten bleiben. Ausdrücklich betonen CA II und andere einschlägige Bekenntnistexte der Reformation, „daß durch den Verhängnis- und Zwangscharakter der Sünde als Erbsünde doch ihr Schuld-Charakter nicht aufgehoben sei, dass dieser vielmehr gleichzeitig unvermindert bestehe“ (Kinder, 61). Mögen die einzelnen Aktualsünden zwanghaft-zwangsläufig aus dem peccatum originale hervorgehen, so ist nach reformatorischem Urteil doch gerade dieses im strikten Sinne schuldhaft zu nennen, sofern der Grundsatz gilt: „Wir sind für unser Sosein verantwortlich. Diese Grundhaltung des Menschen: innerste Auflehnung gegen Gott aus Selbstseinwollen und eigener Mittelpunktstellung, aus der alle einzelnen Aktsünden, ja sündige Entschlüsse immer schon kommen, – das ist eben seine Schuld, dass er so ist!“ (Kinder, 64) Es gehört zur inneren Widersprüchlichkeit, die Erkenntnis der Sünde das Unwesen der Sünde ausmacht, dass in ihr durch Gesetz und Schuld und Verhängnis, Wollen und Müssen zwieEvangelium trächtig vereint sind. Dies zu erkennen ist aus der Sünde heraus nicht und zwar deshalb nicht möglich, weil ihre Verkehrung nicht nur unvernünftig, sondern widervernünftig bis dahin ist, dass sie sich die Einsicht in sich selbst bewusst verstellt. Die Frage nach der hamartiologischen ratio cognoscendi gewinnt von daher ihre Dringlichkeit. Die Antwort auf sie ist traditionell strittig. In der Regel wird in der Überlieferung das Gesetz Gottes zum Erkenntnisgrund der Sünde erklärt. Die reformatorische Tradition macht diesbezüglich keine Ausnahme, wenngleich stets auch gesagt wurde, dass „nicht das isolierte Gesetz, sondern nur das mit dem Evangelium zusammenwirkende Gesetz . . . rechte Erkenntnis der Sünde (wirkt)“ (Kinder, 76). Es überrascht daher nicht, wenn in ihr auch das Evangelium als ratio cognoscendi der Sünde geltend gemacht wurde. Beispiele finden sich bei Luther, aber etwa auch bei Schleiermacher oder bei Albrecht Ritschl (vgl. Jüngel, 178 f.). Folgt man Karl Barth, dann hat allein Jesus Christus als Erkenntnisgrund der Sünde zu gelten. Nur kraft seiner Erkenntnis lasse sich wirklich erkennen, dass der Mensch Sünder sei. Das Bewusstsein der Sünde als Schuld werde durch das Evangelium der Sündenvergebung und nicht durch einen „abstrakt verstandenen Gottesnomos“ (KD IV/1, 156) bzw. die dem menschlichen Wesen gewissensmäßig eingeschriebene lex naturalis vermittelt. Einen „selbständigen, im leeren Raum zwischen Schöpfungs- und Versöhnungslehre zu konstruierenden Locus De peccato“ (KD IV/1, 155) könne es daher „nicht geben“ (ebd.). Der der Sündenlehre angemessene Ort sei vielmehr „sehr natürlich unmittelbar hinter der Christologie zu suchen“ (KD IV/1, 156). Dem entspricht der Aufbau der Kirchlichen Dogmatik.
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Im Jahr 1935 erschien in der Zeitschrift „Theologische Existenz heute“ ein Beitrag Barths mit dem programmatischen Titel „Evangelium und Gesetz“. Seine zentrale These lautet, dass man vom Evangelium wissen müsse, um zu wissen, was Gesetz sei. Das Wesen des Gesetzes werde erst von seiner Erfüllung in der Gnadenoffenbarung Gottes in Jesus Christus her erkannt. Entsprechend könne es Erkenntnis der Sünde nur in gläubiger Anerkenntnis ihrer in Jesus Christus erfolgten Vergebung geben, welche das Evangelium zuspreche. Barth will erklärtermaßen das Gesetz nicht in das Evangelium aufheben. Der Unterschied beider soll gewahrt werden. Selbst der traditionellen Reihenfolge „Gesetz und Evangelium“ gesteht er unter der Voraussetzung des zuvorkommenden Evangeliums ihr Recht zu. Doch bleibt die Frage, ob dieses Recht durch die bekannte Formel gewährleistet wird, wonach das Gesetz die notwendige Form des Evangeliums sei, dessen Inhalt in Jesus Christus und in der in ihm offenbaren Gnadenwirklichkeit Gottes bestehe. Bedenken wurden gegen die Barth’sche Formel zur Zeit ihres Aufkommens nicht nur von prominenten Vertretern des Luthertums geäußert, sondern auch im engsten Umkreis der sog. Dialektischen Theologie (vgl. im Einzelnen Wenz). Die Vorbehalte sind nicht lediglich Zeitumständen geschuldet, sondern von systematischer Grundsatzbedeutung. Entscheiden sich doch am strittigen Problem Struktur und organisatorische Gesamtanlage der Dogmatik nicht nur in hamartiologischer Hinsicht. In der Lehre von Gesetz und Evangelium, heißt es in G. Ebelings „Dogmatik des christlichen Glaubens“, geht es „gewissermaßen um die Logik der Sache der Theologie“ (Ebeling, 289). Als unstrittig darf unter evangelischen Theologen gelten, dass zwischen Gesetz und Evangelium zwar nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden ist. Dass das Evangelium nicht Gesetz und das Gesetz nicht Evangelium ist, sagt ausdrücklich auch Barth. Dass auch für die Hamartiologie und die Frage der ratio cognoscendi der Sünde entscheidende Problem besteht darin, wie man den Unterschied beider zu begreifen und der ihm gemäßen Bestimmung zuzuführen hat. Die Annahme, dass diese Bestimmung nur auf das Evangelium hin und vom Evangelium her angemessen, will heißen: in einem heilsamen Sinne getroffen werden kann, ist kein Barth’sches Sondergut, sondern Allgemeingut evangelischer Theologie, die diesen Namen verdient. Gesetz und Evangelium lassen sich nur unter der Voraussetzung des Evangeliums recht unterscheiden. Der Streit kann sich also nicht darum, sondern lediglich um die Frage handeln, ob die unter evangelischen Voraussetzungen zu treffenden Unterscheidung diejenige von Gesetz und Evangelium oder diejenige von Evangelium und Gesetz zu sein hat. Bringt das Evangelium die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium oder diejenige von Evangelium und Gesetz mit sich bzw. was bedeutet die jeweilige Reihenfolge unter der Voraussetzung des Evangeliums? Haben am Ende beide Reihenfolgen je an ihrem Ort ihre Richtigkeit, und wie ist dieser Ort gegebenenfalls zu bestimmen? Folgt man G. Ebeling, dann verhalten sich Evangelium und Gesetz wie Form und Materie zueinander. Das Evangelium ist „der Schlüssel zum Ganzen – in aris-
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totelischer Begrifflichkeit könnte man sagen: die forma – , während dem Gesetz in diesem Unterscheidungsgeschehen, als das sich das Heilsgeschehen theologisch darstellt, die Rolle der materia zufällt, die ihre Bestimmung durch das Evangelium erhält“ (Ebeling, 290). Terminologisch scheint alles auf einen Gegensatz zu Barth hinauszulaufen. Doch bleibt diese Feststellung vordergründig, solange nicht das Unterscheidungsgeschehen näher in Betracht gezogen wird, als das sich nach Ebeling das Heilsgeschehen theologisch darstellt. Denn dieses Unterscheidungsgeschehen lässt sich offenbar in einem einfachen Unterschied nicht fassen, sondern bedarf der Mehrfachdifferenzierung. Um am Gesetzesbegriff zu verdeutlichen, was es mit der nötigen Mehrfachdifferenzierung auf sich Usus legis hat: Im Lichte des Evangeliums erscheint das Gesetz in protologischer Rückbezüglichkeit, die mit oder gegebenenfalls auch gegen Barth um des Ereignischarakters des Heilsgeschehen willen unbedingt festzuhalten ist, als gutes, freilich vom Menschen faktisch nicht nur nicht erfülltes, sondern übertretenes und verfehltes Schöpfungsgebot Gottes. Auch unter den Bedingungen des Falls der Sünde bleibt die Ursprungsgüte der göttlichen lex insofern erhalten, als es durch Beschränkung des sündigen Chaos die äußere Sphäre des Daseins zu wahren und zu sichern hilft. Doch ist der usus politicus legis nicht nur nicht der eigentlich theologische Gebrauch des Gesetzes, sondern als dasjenige, was er ist, nur dann recht zu gebrauchen, wenn der eigentliche theologische Gebrauch des Gesetzes ganz und man muss sagen: ausschließlich auf den usus elenchthus legis konzentriert wird. Vom Evangelium her geurteilt ist unter postlapsarischen Bedingungen die theologische Funktion des Gesetzes, in der dieses sein Wesen erfüllt, einzig diejenige der mortificatio. Göttliches Heil und ewiges Leben sind vom Gesetz nicht zu erwarten. Nur unter dieser Voraussetzung und damit unter der Voraussetzung rechter Unterscheidung von usus politicus und usus theologicus legis, wie sie nur auf das Evangelium hin und vom Evangelium her getroffen werden kann, hat der sog. politische Gebrauch des Gesetzes seinen beschränkten Wert. Dieser Wert liegt geradezu in seiner Beschränktheit begründet. Seine eigene Bedeutung beruht ausschließlich darauf, vom usus elenchticus als dem eigentlich theologischen Gesetzesgebrauch unterschieden und durch diesen Unterschied limitiert zu sein. Wird diese Limitierung aufgehoben und der politische Gebrauch des Gesetzes entschränkt, dann verkehrt sich die aufs Äußere beschränkte Erhaltungsfunktion, die der lex unter postlapsarischen Bedingungen zukommt, ins schiere Gegenteil und der nach Totalisierung strebende usus politicus legis wirkt nicht nur apolitisch, sondern politisch zerstörerisch. Für sich genommen und, wenn man so will, unter gesetzlichen Bedingungen lässt sich das Verhältnis von usus politicus und usus elenchticus legis nicht mit der nötigen Bestimmtheit erfassen. Eindeutig erfasst und seiner zur Zweideutigkeit nicht nur, sondern zur Verhältnisverkehrung tendierenden Uneindeutigkeit entnommen wird der Gesetzesbegriff erst durch seinen Zusammenhang mit dem
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Evangelium. Mit Ebeling zu reden: „Die Unterscheidung der zwei usus legis ist der Widerschein des Evangeliums am Phänomen des Gesetzes. Nicht dass das Evangelium das Gesetz zweideutig machte. Das Evangelium als das schlechterdings eindeutige bringt auch das Gesetz zu eindeutiger Klarheit.“ (Ebeling, 289) Eindeutige Klarheit in Bezug auf dasjenige, was Gesetz heißt, gibt es nur im Lichte des Evangeliums. Damit ist indes nicht gesagt, dass das Gesetz durch das Evangelium allererst gesetzt und von diesem nicht als ein von ihm unterschiedenes Datum vorausgesetzt würde. Zwar kann in einem evangelischen Sinne vom Gesetz nur im Zusammenhang mit dem Evangelium und in der differenzierten Weise jener Unterscheidung zweier usus legis die Rede sein, in der sich nach Ebeling die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium am Ort des Gesetzes reflektiert. Ohne Bezug auf das Evangelium wird nicht nur die besagte Differenz seiner beiden Gebrauchsweisen, sondern mit dieser das Gesetz als ein Datum des Heilsgeschehens insofern hinfällig, als es faktisch nichts als Unheil wirkt. Ist sonach „das Gesetz Sünde? Das sei ferne!“ (Röm 7,7) Das Gesetz ist offenbarer Ausdruck von Gottes Willen und seiner Gerechtigkeit und bleibt dies in alle Ewigkeit. Antinomismus jedweder Art ist mit dem Christentum ebenso unvereinbar wie Antijudaismus. Doch erschließt der nomos unter den Bedingungen der Sünde das Heil des Sünders nicht nur nicht, sondern verschließt es, freilich mit einem Recht, das vom Evangelium her nicht zu leugnen, sondern anzuerkennen ist. Diese Anerkenntnis hat zur impliziten Prämisse, dass das Evangelium das Gesetz voraus- und nicht etwa zu seiner bloßen Folge herabsetzt. Sie beinhaltet aber auch, dass dem Gesetz das Vermögen, Erkenntnis der Sünde zu wirken, prinzipiell nicht abzusprechen ist: „Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“ (Röm 3,20) Dieser Grundsatz wird durch das Evangelium und den evangelischen Glauben nicht falsifiziert, sondern affirmiert. Die Frage kann also nicht sein, ob das Gesetz Erkenntnis der Sünde zu wirken vermag oder nicht. Fraglich ist allerdings, ob die gesetzeswirksame Erkenntnis der Sünde vom Sünder auf heilsame Weise angeeignet und zur Selbsterkenntnis gebracht werden kann oder ob nicht heilsame Sündenerkenntnis allein „durch das die Sünde vergebende Evangelium, also durch das Wort von der die Macht des Bösen überwindenden Liebe Gottes bewirkt wird“ (Jüngel, 180). Mit der Möglichkeit einer heillosen SündenerHeillose und heilsame kenntnis ist nicht nur ausnahmsweise zu rechnen; Sündenerkenntnis sie stellt nach Maßgabe evangelischen Glaubens viel eher den hamartiologischen Regelfall bzw. den Fall dar, der unter den regelwidrigen Bedingungen der Sünde der übliche ist. Durch seine Sünde verstellt sich der Sünder seine Einsicht in sie in derart verkehrter Weise, dass er auch noch ihre Erkenntnis, wie das Gesetz als lex naturalis und humane Wesensbestimmung des Menschen sie tatsächlich wirkt, dahingehend pervertiert, sie zu verkennen. Es gibt eine Form von Sündenerkenntnis, die sich selbst ganz in den Dienst der Sünde stellt. Erkennen und Verkennen sind im Falle der Sünde keineswegs stets zweierlei. Nachgerade das Bewusstsein der Sünde kann ganz darauf angelegt sein, sie zu
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verkennen. Schuldbewusstsein ist nicht immer eindeutig, sondern ambivalent, sofern es dem Sünder dazu dienen kann, sich in seiner Sünde zu befestigen und sich ihrem Abgrund in entweder hochmütiger Verzweiflung oder verzweifeltem Hochmut zu ergeben. Der Fall des Judas galt der Tradition als manifester Beleg hierfür. Die Sündenlehre und insbesondere die augustinisch-reformatorische Lehre vom peccatum originale gehörte lange Zeit eher zu den Randthemen der Theologie. Dies hat sich neuerdings geändert. „Zu den erstaunlichen Retraktationen der neueren wissenschaftlichen Theologie evangelischer Provenienz gehört das starke, oft prononciert vorgetragene Engagement in der Hamartiologie“ (Sparn, 107): Alle wesentlichen Traditionselemente „erfreuen sich wieder eines breiten Konsenses und scheinen fraglos zum Kernbestand evangelischer Lehre zu gehören, insbesondere die Annahme der Universalität und Totalität der (Erb-)Sünde.“ (Sparn, 107). Walter Sparn hat Zweifel an der dogmatischen Validität dieser Tendenz und Kritik an der Neigung zu begrifflichem Überschwang geübt, den er an vier hamartiologischen Hauptsätzen evangelischer Gegenwartstheologie namhaft macht: 1. Sündenerkenntnis ist Glaubenserkenntnis; 2. Sünde ist Unglaube; 3. Alle Menschen sind Sünder; 4. Auch Christenmenschen bleiben Sünder. Was die Lehre vom bleibenden Sündersein des Gerechtfertigten angeht, wie sie sich in der reformatorischen simul iustus et peccator-Formel bündig ausspricht, so wäre diese in der Tat inakzeptabel, wenn sie konkrete Fortschritte auf dem Weg der Heiligung ausschließen würde. Es wird zu zeigen sein, dass nach reformatorischer Theologie die in der Formel umschriebene Wahrheit Besserungsfortschritte partieller Art (partim-partim) nicht nur nicht ausschließt, sondern dadurch ermöglicht, dass sie alles Vertrauen auf Christus ausrichtet. Allein, wer im Glauben der Sorge ums eigene Seelenheil gänzlich ledig ist, kann sinnvolle Taten der Liebe für Mitmensch und Welt erbringen. Im Blick auf sich selbst und sein Vermögen, sich von sich aus zum Heil zu bestimmen, wird gerade der Christ seine gänzliche Unzulänglichkeit, ja die Tatsache bekennen, als in Selbstbezüglichkeit begriffenes Subjekt ganz Sünder und nicht jenes Glaubensich zu sein, welches zu sich kommt, indem es sich auf Jesus Christus verlässt. Aus dieser Einsicht umstandslos auf das Sündersein aller Menschen zu schließen, wäre indes ebenso pauschal wie die Annahme, die Universalität der Sünde sei naturhaftes Erbe Adams, in dem alle Gattungsrepräsentanten sündigten. Auch besteht der Hinweis zu Recht, dass nach traditioneller Lehre „zwar die Möglichkeit der Sünde, nicht aber die Sünde selbst eine anthropologische Universalie“ (Sparn, 119) darstellt. Vom Sündersein aller Menschen kann nicht nur nicht ausnahmslos, wofür das wahre Menschsein des sündlosen Jesus steht, sondern auch nicht in einer dem menschlichen Geschöpfsein direkt vergleichbaren Weise, sondern offenbar nur im individuellen Reflex auf die Verkehrtheit des eigenen Wesens die Rede sein, wie sie allein dem Glaubenden möglich ist, dessen Allgemeinurteile gerade in hamartiologischer Hinsicht nicht abstrakt, sondern konkret, nämlich dergestalt ausfallen werden, dass aus der gänzlichen Heilsbedürftig-
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keit der eigenen Existenz auf die universale Heilsbedürftigkeit der Menschheitsgattung geschlossen wird. Die These einer Universalität menschlicher Sünde Sünde als Unglaube ist ein Glaubensurteil und lässt sich von dem Grundsatz nicht ablösen, dass Sünde Unglaube und Sündenerkenntnis Glaubenserkenntnis sei. In der Sündenerkenntnis des Glaubens wird Sünde als Unglaube erkannt. Unglaube ist Religion im grundverkehrten Modus der Selbstvergottung, des amor sui und der Konkupiszenz, die ihr Unwesen nicht nur im Sinne passiver Nichtentsprechung, sondern aktiven Widerspruchs gegen Gott und die göttliche Weisung treibt, welche der Schöpfer seinem Geschöpf der Bestimmung der Schöpfung gemäß zu halten geboten hat. Das erste aller Gebote gebietet die menschliche Achtung des Verhältnisses von Schöpfer und Geschöpf durch gläubiges Gottvertrauen. In der Missachtung dieses Gebots durch gottlosen und gottwidrigen Unglauben liegt in abgründiger Weise begründet, was die Theologie peccatum originale nennt. Dass die Ursünde zwangsläufig Aktualsünden mit sich führt, ist von jüdischer und christlicher Hamartiologie stets behauptet worden. Von einer religiösen Irrelevanz der Mehrzahl der Gebote kann und darf daher nicht die Rede sein. Die Identifikation der Sünde als Unglaube soll nicht dahin führen, „dass Tatsünden in ihrer Pluralität und Varianz . . . keine wesentliche Rolle mehr spielen“ (Sparn, 123). Ein transmoralischer Sündenbegriff darf weder zu einer Ontologisierung der Sünde noch zu einer Trennung der Lehre vom peccatum originale und derjenigen von den peccata actualia führen. Die Folge einer solchen unstatthaften Trennung wären nicht nur hamartiologische Blässe und Unkonkretheit, sondern eine fatale Fehlbestimmung der Ursünde selbst, die eine Verkehrung aller vernünftig zu nennenden Willensvollzüge und Tätigkeitsweisen ins Werk setzt. Es wäre fatal, wenn der transmoralische Charakter der Sünde, auf den ihr religiöser Begriff abhebt, ihre Entmoralisierung zur Folge hätte, die ihre sittliche Beurteilung unmöglich macht. Der zu bewährende hamartiologische Grundsatz hat im Gegenteil folgendermaßen zu lauten: Nur wenn die „metaethische und metaempirische, mithin die dogmatische Struktur des Sündenbegriffs theologisch expliziert wird, kann die Sündenlehre auch adäquate ethische und kulturdiagnostische Orientierungsleistung freisetzen“ (Pfleiderer, 333). Es gehört zur subversiven Verkehrtheit der Sünde, sich selbst zu verkennen und die Einsicht in ihre Schuld bewusst und willentlich zu verstellen und zwar nicht nur für ihre Außen-, sondern auch und vor allem für ihre Selbstwahrnehmung. Dies kann dazu führen, dass der Sünder sich seiner Sünde nicht nur nicht schämt, sondern sie zum Anlass des Stolzes und dafür nimmt, sich ihrer zu rühmen und sich ihretwegen für einen überragenden Menschen zu halten. Stets umgibt sich die Sünde mit dem Schein des Guten; ihre äußerste Perversion erreicht sie dort, wo sie sich selbst für gut hält und ihre Bosheit als Güte qualifiziert. Würde sich die Bosheit des Bösen im Widerstreit der Sinnlichkeit gegen die Sittlichkeit erschöpfen, wäre es ein vergleichsweise Leichtes, ihre Amoralität zu identifizieren. Doch
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liegt die Herrschaft der Sünde eigentlich nicht in dem Übermaß des Sinnlichen, sondern darin begründet, dass sie alles Bewusstsein und Willensvermögen okkupiert, um auf diese Weise ihren Täter in Beschlag zu nehmen. Für das Unwesen des Bösen ist kennzeichnend, das Subjekt sündiger Untat zu ihrem Objekt herabzusetzen. Die Sünde nimmt ihren Täter dergestalt in Besitz, dass sie ihn dem Willkürgesetz eigener Verkehrtheit unterwirft. Der Wille zur Sünde führt zwangsläufig dazu, sich nicht mehr willentlich von ihr distanzieren und befreien zu können. Auch das Wissen um ihre Verkehrtheit wird durch die Sünde nicht nur getrübt, sondern bewusst dahingehend verstellt, dass dem Sünder ein Bewusstsein seiner selbst als Sünder abgeht. Das sündige Bewusstsein hat kein bzw. ein bewusstseinswidriges, sich selbst verblendendes Bewusstsein seiner Sünde. Es erkennt sie nicht, erkennt auch nicht, dass es sie nicht erkennt, sondern verkennt sie – und dies unter vollem Einsatz des Bewusstseinsvermögens. Das sündige Bewusstsein macht so durch eigene Schuld Sündenbewusstsein unmöglich. Das sündig in sich verkehrte Selbstbewusstsein verkennt sich im Vollzug seiner Erkenntnis bewusst. Heilsame Sündenerkenntnis ist unter den Bedingungen der Sünde daher nicht nur nicht möglich, sondern ausgeschlossen. Ihr Ort, von dem aus offene Einsicht zu nehmen ist in das widerliche Unwesen der Sünde, ist der Glaube als die Wahrnehmungsgestalt eines Erschließungsgeschehens, das den homo incurvatus in se aus seiner Selbstverkehrtheit reißt, ihn von sich zu sich befreit und zum wahren Bewusstsein seiner selbst bringt, welches er sich durch eigene Sündenschuld verstellt hat. Es herrscht weitgehende Übereinstimmung innerhalb der neueren evangelischen Hamartiologie, „dass wahre Erkenntnis der wirklichen Sünde eine Einsicht des Glaubens ist“ (Sparn, 115) und zwar desjenigen Glaubens, der auf das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders vertraut und sich allein auf Gottes Gnade in Jesus Christus verlässt. Strittig ist nicht dieser Grundsatz, sondern die Antwort auf die Frage, „ob und inwiefern er exklusiv gelten soll“ (Sparn, 116). Während, um erneut auf das hamartiologische Zentralproblem der ratio cognoscendi der Sünde Bezug zu nehmen, Karl Barth und seine Schüler dazu tendieren, das im Glauben empfangene Evangelium zum alleinigen Erkenntnisgrund der Sünde zu erklären, wie die dogmatische Verortung der Hamartiologie in der christologisch begründeten Versöhnungslehre dies förmlich belegt, ist die traditionelle lutherische Theologie geneigt, mit einer – wenngleich vorläufigen, weil uneindeutigen bzw. zweideutigen – Sündenerkenntnis unter dem Gesetz zu rechnen, das dem Evangelium vorhergeht. Sie belässt daher die Sündenlehre an ihrem angestammten Ort zwischen Schöpfungs- und Versöhnungslehre, wie dies auch in der vorliegenden Konzeption der Fall ist. Relativiert wird diese Differenz und die Auseinandersetzung um die Reihung von Gesetz und Evangelium bzw. Evangelium und Gesetz durch die von beiden Seiten geteilte Auffassung, dass die Zuordnung von Gesetz und Evangelium nur vom Evangelium her recht zu treffen sei. Heilsame Sündenerkenntnis ist entsprechend stets auf das Evangelium und auf den Glauben bezogen, der allein auf Gottes Gnade in Jesus Christus vertraut. Ob bzw.
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inwiefern dogmatisch gleichwohl an einer „prächristologischen“ Hamartiologie resp. an einer Sündenerkenntnis festzuhalten ist, die dem Glauben an das Evangelium vorhergeht, wird im Zusammenhang der nachfolgenden Fallstudien eigens und mit besonderer Aufmerksamkeit zu erörtern sein. Die hamartiologischen Fallstudien im vorliegenden Schelling und andere achten Band der Reihe zum Studium SystematiHamartiologen sche Theologie sind auf die namentlich von Paulus und Augustin geprägte Tradition reformatorischer Sündenlehre insbesondere Wittenberger Provenienz und ihre Rezeptionsgeschichte konzentriert. Aber auch den Hamartiologien von Thomas von Aquin und des Konzils von Trient soll die Aufmerksamkeit gewidmet werden, die ihnen sachlich gebührt. Unter den neuzeitlichen Entwürfen kommen zunächst diejenigen Kants und Schleiermachers näher in Betracht, um sodann Möglichkeit und Wirklichkeit der Sünde in Schellings sog. Freiheitsschrift zu thematisieren. Schellings auf die konstruktive Kritik Hegels fokussierte Freiheitsschrift von 1809 ist grundlegend nicht nur für seine eigene Spätphilosophie, deren Form und Gehalt eingangs anhand seiner Münchener Vorlesungen vom WS 1831/32 skizziert wurde; sie ist darüber hinaus von weichenstellender Bedeutung für die weitere geistesgeschichtliche Entwicklung auch und gerade in hamartiologischer Hinsicht geworden. Dies ist an der Sündenlehre Sören Kierkegaards oder Paul Tillichs ebenso zu zeigen wie etwa an derjenigen von Julius Müller, der als der Sündenmüller in die evangelische Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts eingegangen ist (vgl. Wenz [Hg.]). Der „Philosoph in Christo“ (Engels, 223), wie Friedrich Engels Schelling spöttisch nannte, gibt der Theologie nachgerade in hamartiologischer Hinsicht viel zu denken. Bestimmend für seine positive Philosophie und das Verhältnis, in welches sie sich zur negativen gestellt weiß, ist die Einsicht „in die soteriologische Ohnmacht der Vernunft“ (Danz, 17) angesichts ebenso unbegreiflicher wie unleugbarer Sündenfaktizität, der die Erkenntnis des vernunftkonstitutiven Charakters des Christusgeschehens korrespondiert, wie es im unvordenklichen Osterfaktum in der Kraft des göttlichen Geistes offenbar ist. Von Schellings Spätphilosophie her und der „Selbstbescheidung des Idealismus“ (vgl. Buchheim), die sie bewirkte, lassen sich über das 19. Jahrhundert hinaus Bezüge zu vielen Hamartiologiekonzeptionen herstellen. Vergleichbares gilt hinsichtlich der gesteigerten Aufmerksamkeit für „das Andere der Vernunft“ (H. u. G. Böhme), wie sie für weite Teile gegenwärtiger Philosophie kennzeichnend ist. Philosophen bewegen sich seit geraumer Zeit häufig und gerne auf der „Spur des Anderen“ (E. Levinas), dessen „Exteriorität“ alles begrifflich Identifizierbare transzendiert und eine unfassbare Fülle von irreduzibel Differentem freisetzt. Differenziert betrachtet begegnet die Exteriorität des Anderen in verschiedenen Gestalten. Als Externes im Sinne eines dem Inneren Äußeren oder in sonstigen Äußerlichkeiten, aber auch als radikal Fremdes, das vom lediglich Unbekannten und Unverständlichen wesentlich dadurch unterschieden ist, dass es vom Eigenen weder herzuleiten noch in seinen Horizont zu integrieren ist. Dergestalt Befremdliches
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verhält sich zur gewohnten Ordnung nicht lediglich wie ein Außerordentliches, sondern es ist dazu angetan, das Heimische auf unheimliche Weise in Frage zu stellen. Um es in Erfahrung zu bringen, bedarf es nicht notwendig der Exkursionen in fernliegende Gebiete. Auch am Nächstliegenden, nämlich am eigenen Leibe, lässt sich befremdliche Alterität erfahren, etwa in Form unbewusster „Es“Triebe oder im Schmerz. Die befremdlichste Form von Alterität ist der Hamartiologie zu bedenken aufgegeben. Denn im Befremdliche Alterität Vollzug dessen, was die Theologie Sünde nennt, bringt sich das Ich bewusst und willentlich und damit schuldhaft in einen widrigen Gegensatz zu seiner Bestimmung, um sich durch Abkehr vom Grund von Selbst und Welt bzw. durch Verkehrung der Beziehung zu ihm von sich selbst und allem, was ist, zu entfremden. Alterität nimmt im Falle der Sünde die widerliche Form des In-sich-Widrigen an. Mit Recht ist festgestellt worden, dass für den christlichen Umgang mit dem Bösen zwei Momente elementar seien: Es ist „nicht zu überschätzen, aber es ist auch nicht zu verharmlosen“ (Dalferth, 508). Weder darf das Böse zu einem Gegenprinzip Gottes erhoben, noch zu einem Faktum herabgesetzt werden, das vor Gott letztlich ohne Belang ist. Überschätzung und Verharmlosung des Bösen sind hamartiologisch nachgerade deshalb zu vermeiden, weil für die Unart der Sünde überheblicher Hochmut und stumpfsinnige Feigheit zugleich und in einem kennzeichnend sind. In seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Dr. Leopold-Lucas-Preises, der an den im September 1943 in Theresienstadt ermordeten ehemaligen Rabbiner der jüdischen Gemeinde im schlesischen Glogau erinnert, hat der Münchener Philosoph Dieter Henrich den nationalsozialistischen Terror als eine Ausgeburt nihilistischer Aktion gekennzeichnet, in der sich das Bewusstsein schierer Belanglosigkeit des Daseins mit dem aggressiven Willen zu unmittelbarer Selbstbehauptung und Selbstdurchsetzung gepaart habe. Als „die prägnanteste Form der Gegenmöglichkeit zu dem, was sich in der Affirmation eines Lebens vollzieht, die mit Sammlung einhergeht“ (Henrich, 71), repräsentiere der moderne Nihilismus eine Bewusstseinslage, in welcher die Gewissheit eines fundierenden Sinngrundes endlicher Subjekte und ihrer Welt abhanden gekommen sei und daher alles zwar nicht als unwirklich, aber als letztlich sinnlos und ohne Belang erscheine. In seiner genuinen Form verhält sich das nihilistische Bewusstsein nach Henrich primär leidentlich, um in der Regel in einem allgemeinen Untergangspathos zu verharren, das ausnahmslos alles umfasst. Der passive Nihilismus sei reflexer Natur, wesentlich nach innen gerichtet und daher mit einer Neigung eher zur Selbstaufgabe als zur Weltdestruktion verbunden. Anders stelle es sich im Falle des aktiven Nihilismus dar, der als ein Nihilismus im Modus der Verstellung zu qualifizieren sei: auch ihm erscheine das Dasein im Grunde als leer, nichtig und eitel und das Leben einschließlich des eigenen als prinzipiell unwert, gelebt zu werden. Für lebenswert wird das eigene Dasein nur aus dem einen, auf Nichts bauenden Grund erachtet, den Nihilismus aggressiv nach außen zu wenden und allen Mit-
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menschen feindselig ihre Nichtigkeit anzudemonstrieren, am besten dadurch, dass man sie vernichtet. „Die Vernichtungslager von Hitlers SS lassen sich – was immer man sonst über ihre Genese wissen kann – als Orte einer solchen nihilistischen Aktion verstehen.“ (Henrich, 77) Dass die nihilistische Aktion auf eine Verstellung Nihilistische Aktion der im Ernst durchlebten und d. h. durchlittenen nihilistischen Erfahrung hinausläuft, zeigt sich nach Henrich daran, „dass sie den Täter, der die Nichtigkeit des Menschenlebens demonstriert, von dieser Demonstration ausnehmen will. Eine Folge davon ist, dass diese Praxis nur in Gang kommen kann, wenn sie sich mit einer anderen Motivation, nämlich einem vitalen Aggressionspotential verbindet, das unter der nihilistischen Erfahrung eigentlich zum Erliegen gekommen sein müsste. Nur soll dann die Aggression in der Kälte, welche dieser Erfahrung eignet, in Wirkung gesetzt werden.“ (Ebd.) Für die in den Dienst des Nihilismus gestellte, nihilistisch erkaltete Aggression wird Mord zu einem Akt der Disziplin, den sie nicht nur gefühllos, sondern in dem Bestreben ausübt, die Opfer an Leib und Seele ihre gänzliche Nichtigkeit so fühlen zu lassen, dass sie diese zuletzt „als ihr eigenes Selbstbild (annehmen). Die Möglichkeit, einen letzten Gedanken zu fassen, der auf anderes als den verstellten Nihilismus der Täter hinausläuft, soll ihnen genommen werden.“ (Henrich, 83) Nicht immer, aber oft wird es faktisch zum Entzug dieser Möglichkeit und zum Triumph des Bösen gekommen sein. In ihrer Nichtigkeit ist die Bosheit der Sünde von einer Negationsmacht, der auf Erden nichts Negatives gleichkommt.
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1. Sünde und Schuld in biblischer Überlieferung
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Es war einmal ein König namens Gilgamesch, der herrschte vor unvordenklichen Zeiten in der Stadt Gilgameschepos Uruk und zog aus, ein dem Tode gewachsenes Heilkraut der Unsterblichkeit zu suchen. Nachdem er es schließlich nach langen und beschwerlichen Wegen gefunden hatte, verlor er es alsbald und unversehens wieder. Schuld daran waren er selbst und eine Schlange. Das klassische akkadische
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Sünde und Schuld in biblischer Überlieferung
Zwölftafelepos von Gilgamesch ist nur noch als Torso vorhanden und nicht mehr in allen Teilen rekonstruierbar. Nicht zu rekonstruieren sind ferner alle überlieferungsgeschichtlichen Entwicklungsstufen, die in altbabylonische und altsumerische Urzeiten hinabweisen. Dieser Mangel ändert nichts an der Faszination, die von dem Werk ausgeht, sondern ist eher geeignet, sie zu steigern und selbst jene mythologische Form annehmen zu lassen, die ihren Gegenstand kennzeichnet. Der ferne Held geht auch heute noch nahe, namentlich wenn er in Wort und Tat dem menschlichen Todesgeschick trotzt. Ob er „mehr Odysseus als Jung-Siegfried“ (Edzard, 11) zu vergleichen ist, mag dahingestellt bleiben; als ein Mensch von urtümlicher Art darf er trotz seiner göttlichen Abstammung allemal gelten. Panbabylonisten haben die Gilgameschdichtung (vgl. Ranke) einst zum Ursprung der ganzen Weltliteratur erklärt. Dies mag übertrieben sein; um einen weltliterarischen Prototyp handelt es sich gleichwohl. Wer das Epos von Gilgamesch, zu zwei Dritteln ein Gott, zu einem Drittel ein Mensch, gelesen hat, wird weder den ersten Auftritt des aus der Steppenwildnis stammenden animalisch-vitalen Engidu, der sich vom fremdartigen Feind zum vertrauten Freund wandelt, noch die Abenteuer vergessen, die er zusammen mit dem Helden der Geschichte zu bestehen hat. Als beide nach erfolgreichem Kampf gegen den Zedernwaldriesen Huwawa alias Chumbaba nach Uruk zurückkehren, erkrankt Engidu und stirbt. Gilgamesch ist untröstlich, wie auf der achten Keilschrifttafel zu lesen steht: „Einem Löwen gleich erhob er die Stimme, einer Löwin gleich brüllte er auf. Er wendet sich dem Freunde zu, er raufte seine Haare und streute sie hin . . .“ Es folgt zu Beginn der neunten Tafel die bange Frage: „Werde nicht auch ich wie Engidu sterben? Wehklage ist in mein Herz gezogen. Ich habe Furcht vor dem Tod bekommen, deshalb eile ich über die Steppe.“ Bewegendes Heldenwort aus jenen urtümlichen Vorzeiten, in denen, mit dem ersten Vers der altbabylonischen Atramchasis-Dichtung zu reden, „die Götter (auch noch) Mensch waren“ (v. Soden, 618)! Den Zweidrittelgott Gilgamesch ereilt, wie es auf der zehnten Tafel heißt, das Schicksal der Menschen, dem er bis an das Ende der Welt zu entfliehen sucht auf der Suche nach jenem Kraut, das gegen Sterblichkeit und Tod gewachsen ist. Die Episode von Sintflut und Arche auf Tafel XI ist auf dem Weg dorthin nur ein Zwischenspiel. Als Gilgamesch auf seiner Flucht vor dem Tod, der ihn überall verfolgt, das Kraut ewigen Lebens schließlich gefunden hat, wird es ihm aufgrund einer Unachtsamkeit von einer Schlange alsbald wieder weggeschnappt. Das ewige Leben ist verscherzt und verloren. „Gilgamesch setzte sich nieder und weint, über sein Antlitz rinnen Tränen . . . Für wen kreist das Blut meines Herzens? Ich wirkte nicht Gutes für mich selbst, für den Wurm der Erde habe ich Gutes getan!“ Dem ins Haus seiner Mutter zurückgekehrten Heroen bleibt nichts als sich ins menschliche Todesschicksal zu fügen, das über alles Lebendige seinen Schatten wirft. Die Schlussworte des verblichenen Freundes, dessen Stimme Gilgamesch aus dem Totenreich zu hören bekommt, lassen nichts Gutes erwarten: „Wenn ich die Satzung der Erde, die ich schaute, dir sagte, müsstest du dich hinsetzen und den ganzen Tag weinen!“
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Auch die Urgeschichte der Bibel reicht hinab in unvordenkliche Zeiten und weiß von einem heillo- Biblische Urgeschichte sen Bruch zu berichten, der die Existenz des Menschen und sein Dasein in der Welt von Grund auf und in faktisch unhintergehbarer Weise durchzieht. Dabei verarbeitet sie eine Reihe von Traditionen, die ihr vorgegeben sind und an die sie anschließt, um sie dem Eigenen anzuverwandeln. Die Sintflutgeschichte bietet dafür ein Beispiel. Urflutsagen begegnen in vielen alten Kulturen. Den beiden Fassungen des biblischen Genesisbuches stehen diejenigen aus dem sumerisch-babylonischen Überlieferungskreis am nächsten. Doch lässt ein Vergleich zwischen Gen 6 ff. und der Sintflutepisode, wie sie sich auf der XI. Tafel des Gilgameschepos findet, rasch Unterschiede erkennen, die bei aller Differenzierungsbedürftigkeit im Einzelnen einen signifikanten Perspektivenunterschied erkennen lassen. Während in der Gilgameschdichtung das Sintflut- wie das menschliche Todesgeschick überhaupt als gleichsam naturhaftes Verhängnis erscheinen, wird in der Genesis das Verderben des Menschen auf seine Verderbnis und verderbt-verdorbene Schlechtigkeit zurückgeführt. Die Bosheit des Herzens, die all sein Sinnen und Trachten bestimmt (vgl. Gen 6,5), bildet Ursache und tiefsten Abgrund jenes üblen Geschicks des Menschen, das recht eigentlich keine Fatalität, sondern eine Folge von als Schuld zurechenbarer Sünde darstellt. Die volkstümliche Umdeutung der Sint-, will heißen: der großen Flut in eine Sündflut, in der Gott die Verkehrtheit seiner Geschöpfe straft, hat von daher ihre biblische Richtigkeit. Im Hinblick auf das Verständnis des Bösen bestätigt sich, was in schöpfungstheologischer Perspektive bereits festgestellt und nur mehr zu rekapitulieren ist: die Traditionsgeschichte, welche die Gehalte der hebräischen Bibel prägt, nimmt ihren Anfang zwar bei naturreligiösen Vorstellungen, wie sie in den Polytheismen der altorientalischen Umwelt verbreitet waren, zielt aber auf einen Toramonotheismus, der die jüdische Religion kanonisch bestimmt und zu der Form ausbildet, an welche das Christentum sowohl in schöpfungstheologischer als auch in hamartiologischer Hinsicht anschließt, wobei die Lehre von der Sünde, der Bosheit und des Übels das Bekenntnis zur Güte der Schöpfung zur Voraussetzung hat, wie sie in der Allmacht des gerechten Gottes gründet. Längst bevor Israel um die Wende vom 2. zum 1. vorchristlichen Jahrtausend in das Licht der Geschichte eingetreten war, hatten die umgebenden Hochkulturen von Mesopotamien und Ägypten große kosmogonische Konzepte entwickelt, wobei Theogonien und mannigfache Theomachien der Kosmogonie in der Regel vorausgingen, die wiederum mit ätiologischen Zwecken der Kult- und Herrschaftsetablierung bzw. -stabilisierung aufs Engste verbunden war. Motive dieser Art, die in der altorientalischen Religionsgeschichte keine Seltenheit sind, und, wie u. a. die Textfunde von Ugarit bestätigen, auch im syrisch-palästinischen Raum und in der kanaanäischen Schöpfungsmythologie häufig begegnen, haben auf die eine oder andere Weise auf die religiösen Vorstellungen im Alten Israel eingewirkt, beispielsweise unter dem Aspekt der Erlangung und Verteidigung der Königsherr-
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schaft Jahwes gegen andere Götter. Schöpfungspsalmen, wie etwa Psalm 90, welche älteste alttestamentliche Traditionen repräsentieren, belegen dies und geben zugleich Beispiele für Verbindungen zwischen dem Götterkampfmotiv und anderen Motivkomplexen wie der schöpferischen Gestaltung und Erhaltung des Landes durch den zuständigen Gott, von dessen kultischer Verehrung Hilfe und Rettung zu erwarten ist. Als Bezwinger der Chaosmächte des Meeres und Herr des Landes, das er den Seinen anvertraut hat, garantiert Jahwe die Grundlagen des natürlichen und sozialen Lebens, schenkt Regen und Fruchtbarkeit und gewährt Beistand gegen äußere und innere Feinde. Seine kultische Verehrung trägt die Verheißung schöpferischen Erhalts jener Ordnung in sich, welche die Bedingung kreatürlicher Existenz und geregelten Daseins seines Volkes und all seiner Glieder ist. Ohne Beistand Jahwes gibt es keinen natürlichen und sozialen Bestand. Von ihm allein haben die Gemeinschaft und der Einzelne in ihr Hilfe zu erwarten in chaotischer Bedrängnis. Dies gilt unter israelitischen Bedingungen auch für den König, dessen irdische Macht der Herrschaft Jahwes strikt untergeordnet ist. Die hymnische Verehrung des auf dem Berg Zion thronenden und im Jerusalemer Tempel residierenden Jahwes als Herr der Herrlichkeiten bestätigt dies und belegt zugleich die dienende Funktion, die der Schöpfungsthematik im Kontext der das Gottkönigtum Jahwes preisenden Psalmen zukommt. Sie ist schon hier ein sekundärer Reflex der Gewissheit göttlicher Heilsgegenwart. Ein etwas anderes Bild als in den sog. Schöpfungspsalmen bietet sich in der älteren Spruchweisheit dar, die aus der gegebenen Welt- und Selbsterfahrung heraus auf die kosmische Ordnung und ihren Grund zu schließen sucht, ohne dadurch den Gottesglauben allererst generieren zu wollen, dessen traditionelle Gestalt vielmehr vorausgesetzt und nicht etwa durch prinzipielle Skepsis in Frage gestellt wird. „Was der Mythos in den Hymnen unmittelbar auf das Wirken des Königsgottes zurückführt, sucht die ältere Weisheit in den Gegebenheiten der Welt und den Ordnungen des Lebens selbst zu entdecken.“ (Kratz/Spieckermann, 280) Dabei bleibt der Entdeckungszusammenhang dem überlieferten Begründungszusammenhang durchweg verbunden. „Hymnus und Weisheit schließen einander nicht aus, sondern sind zwei Seiten derselben Medaille.“ (Ebd.) Dieser Zusammenhang bestätigt sich auch im Blick auf den Grundbestand der Traditionen, die in dem sog. jahwistischen Schöpfungsbericht der Genesis verarbeitet sind. Aufs Ganze gesehen ergibt sich folgender tradiJüdischer tionsgeschichtliche Befund: „Wir wissen heute, Toramonotheismus dass Israel und Juda sich während der Königszeit religiös nicht grundsätzlich von ihrer Umgebung im alten Vorderen Orient unterschieden. Dass das Alte Testament am Ende zum Monotheismus fand, kann nur das Ergebnis eines Wandels gewesen sein.“ (Levin, 154) Er ist trotz unbestreitbarer Kontinuitätsmomente durch die Zäsur charakterisiert, die das Ende der Königszeit und das Exil markieren. Im vierten Band dieser Reihe sind der religionsgeschichtliche Prozess, der von Polytheismus und Jahwemonolatrie im Alten Israel zum jüdi-
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schen Toramonotheismus führte, und die Bedeutung ausführlich beschrieben worden, welcher der Exilskrise für die besagte Entwicklung zukommt. Sie ist auch in schöpfungstheologischer Hinsicht von kaum zu überschätzender Bedeutung, wie sich im siebten Reihenband zeigte. Erst im Verein mit der entwickelten Einsicht in die Einzigkeit und universale Verbindlichkeit der Gerechtigkeit Gottes und seines Gesetzes, das in Gestalt der Tora die innere Mitte der Hl. Schriften des Judentums darstellt, kommt es zur Ausbildung umfassender Schöpfungskonzepte, und die göttliche Erschaffung von Himmel und Erde wird zum expliziten Thema der Überlieferung. Im Einzelnen verfolgen lässt sich der Übergang von der altisraelitischen zur frühjüdischen Schöpfungstheologie an exilischen Psalmen, an einschlägigen Stellen in den Prophetenbüchern und vor allem bei Deuterojesaja. Der Herr Israels, der sein Volk erwählt und durch die Zeiten geführt hat, ist der Schöpfer und Erhalter aller Dinge von Anbeginn, und seine Herrschaft erstreckt sich über alle Völker, um den ganzen Kosmos zu umfassen und zu erfüllen. Seine Gerechtigkeit hat kein Ende und gilt universal. Er und er allein ist Gott, wohingegen alle Götter neben und außer ihm als Götzen, ja als Nichtse zu gelten haben, die ihre Verehrer zuschanden werden lassen, weil ihnen die schöpferische Allmacht und Gerechtigkeit des einen Gottes vollständig abgeht. Der Schöpfungsbericht der perserzeitlichen Priesterschrift in Gen 1 markiert einen vorläufigen Endpunkt dieser Entwicklung. Für den weiteren Entwicklungsgang ist vor allem das Problem bestimmend geworden, ob bzw. wie sich der monotheistische Glaube an den allmächtigen Schöpfergott und seine Gerechtigkeit mit der Erfahrungstatsache verträgt, dass es den toragehorsamen Frommen in der Welt häufig schlecht, den gottlosen Frevlern, die dem göttlichen Gesetz zuwider handeln, nicht selten dem äußeren Augenschein nach wohlergeht. Texte der jüngeren Weisheit aus spätpersischer und hellenistischer Zeit wie das Hiobbuch oder das Buch Kohelet arbeiten sich an diesem Problem intensiv ab. Im Hiobbuch, das in einem langen Kompositionsprozess entstanden ist, wird das Schicksal des leidenden Gerechten in schneidender Schärfe gegen die überkommene Schöpfungsweisheit gewendet. Die zur Anklage zugesteigerte Klage des darniederliegenden Frommen kommt erst zur Ruhe, als Gott dem Angefochtenen eine Ahnung seiner göttlichen Unbegreiflichkeit verschafft und die Augen öffnet für sein schöpferisches Geheimnis. Fataler scheint sich die Situation im Koheletbuch darzustellen: aus dem undurchsichtigen Dunkel, das ihn umfängt, findet der Weise offenbar nur dadurch einen Ausweg, dass er sich dem verordneten Geschick möglichst widerspruchslos fügt und den bescheidenen Rest verbleibender Lebensfreude auskostet, soweit es ihm möglich ist. Man hat den Verfasser des Koheletbuches den „Schopenhauer des Alten Testaments“ (Blumenberg, 32) genannt. In eine andere Kategorie gehört jene Bewegung, die der Schleiermacherschüler Friedrich Lücke mit dem Neologismus „Apokalyptik“ bezeichnete und deren ersten Entwurf einer biblischen Geschichtsanschauung in endzeitlich-universaler Perspektive er im Buch Daniel entdeckte (Lücke, 50 f.; vgl. Stegemann). Die schöpfungstheologische Krise der Weisheit
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wird durch die Apokalyptik, deren großer Traditionseinfluss auf das werdende Christentum offenkundig ist, konstruktiv durch Eschatologisierung bewältigt, ohne dass dabei das Kommen des Künftigen Herkunftszusammenhängen unvermittelt entgegengesetzt und weisheitlichen Motiven generell der Abschied gegeben würde. In eine ganz andere Richtung scheinen Konzeptionen wie diejenige Jesus Sirachs zu weisen, der die ursprüngliche Ordnung der Schöpfung durch die fromme Praxis gesetzeskonformen Tempelkults und die lebensweltliche Verwirklichung der mit der präexistenten Tora identifizierten Weisheit repräsentiert sein lässt. In einer in hellenistisches Denken transformierten Gestalt begegnet eine vergleichbare Auffassung in dem von einem philosophisch gebildeten Autor ursprünglich auf Griechisch geschriebenen Werk der Sapientia Salomonis, der die hypostasierte Weisheit des Schöpfergottes mit dem Begriff des Logos und dem stoischen Pneumabegriff identifiziert, inhaltlich aber wie Jesus Sirach ganz durch die Tora bestimmt sein lässt, nach deren Gesetz der gerechte Gott Gottlose verurteilt und den Frommen den Lohn unvergänglichen Lebens zuteil werden lässt. Wie sehr sich Entwürfe dieser Art von apokalyptischen zu unterscheiden scheinen, so stimmen doch beide in der innersten Gewissheit der kriteriologischen Stellung und Funktion überein, die der Tora sowohl in protologischer als auch in eschatologischer Hinsicht zukommt. Es überrascht daher nicht, dass sich der apokalyptische Weg frühjüdischer Schöpfungstradition und der durch Texte wie Jesus Sirach oder die Weisheit Salomos dokumentierte im Laufe der Zeit vielfach kreuzten, um in Werken wie dem IV. Esra oder dem syrischen Baruch vollends zu koinzidieren. Regulatives Prinzip jüdischer Protologie und Eschatologie ist und bleibt die Tora: Diese und ihr dekalogisches Konzentrat bilden nach Zeugnis der hebräischen Bibel den Maßstab der Beurteilung des Menschengeschöpfs und aller Kreatur sowie das Kriterium zwischen gottgefällig und gottwidrig, gerecht und sündig, gut und böse zu unterscheiden. Durch Gebot und Verbot wird geltend gemacht, was Gottes Wille und menschliche Bestimmung ist, wobei offenbar „die Unterlassung einer positiven Pflicht für weniger schlimm erachtet (wurde) als die Verletzung einer negativen Vorschrift, weshalb die Tora nur für den Negativkatalog Sanktionen vorsieht“ (Jauss, 442). Nur im Verhältnis zur Tora lässt sich auf angemesSünde als Torawidrigkeit sene Weise darlegen, was es etwa mit der biblischen Rede vom Zorn Gottes auf sich hat. Die Wendung umschreibt den Unwillen, mit dem Gott demjenigen begegnet, was ihm zuwider ist (vgl. etwa Num 11,1; Ps 6,2; Jes 12,1; 42,25; Jer 52,3; Dan 9,16; ferner: Röm 1,18; 9,22; 1. Thess 5,9; Apk 6,17; 14,10; 16,1). Nach der Judentum und Christentum gemeinsamen Überzeugung hat Gott gemäß seinem göttlichen Wesen, welchem sein Wille entspricht, als vollkommene Gerechtigkeit zu gelten, der seine Allmacht und Herrlichkeit zugeordnet sind. Unter Zorn Gottes darf sonach theologisch kein willkürlicher Affekt naturhafter Art verstanden werden, der wie ein blindes Schicksal waltet. Gottes Zorn ist gerechter Unwille über das Böse, das sich gegen seine Gerechtigkeit kehrt und damit von seiner Gottheit abwendet. Wäh-
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rend Gott seiner Kreatur in ungeteilter schöpferischer Liebe zugewandt ist, gilt der Verkehrung der kreatürlichen Schöpfungsordnung, wie sie in den göttlichen Geboten manifest ist, sein gerechter Zorn. Indem er das Ungerechte richtet, verschafft er dem Rechten sein gottgemäßes Recht, um auf diese Weise seine Schöpfung zu erhalten. Gottes Zorn ist so die Kehrseite und das fremde Werk seiner Liebe. Naturhafte Übel können allenfalls indirekt als Wirkungen göttlichen Zorns begriffen werden. Direkt ist dieser gegen die Sünde gerichtet, die als Schuld zurechenbar ist. Die schuldhafte Verkehrtheit, in der die Sünde ihr Unwesen treibt, ist der abgründige Grund göttlichen Zorns, der ihre Gottwidrigkeit straft. Ob es trotz der Sträflichkeit seiner Sündenschuld göttliches Heil für den Sünder geben kann, ist eine der bewegendsten und drängendsten Fragen biblischer Religion. Der christliche Glaube beantwortet sie mit dem Hinweis auf das Kreuz Jesu Christi, in dem Gottes Zorn über die Sünde und seine Versöhnungsliebe gegenüber dem Sünder gleichermaßen offenbar geworden sind. Die Zahl der Begriffe, mit denen die hebräische Bibel Ungerechtigkeit und Bosheit bezeichnet, ist groß, und weitaus größer und umfänglicher noch sind die Kontexte, in denen vom Thema der Sünde ausdrücklich oder unausdrücklich die Rede ist. Eine erste alttestamentliche Begriffsgruppe setzt sich „aus unbedingten und bedingten Disqualifikationsbegriffen“ (Knierim, Sünde, 365), eine zweite aus Begriffen zusammen, „die nicht stillschweigend vorausgesetzte Handlungen als Vergehen verurteilen, sondern umgekehrt als Vergehen vorausgesetzte Handlungen konkret oder ihrer Typik nach benennen“ (Knierim, Sünde, 367). Die im Alten Testament sich abzeichnenden Hamartiologien, die indes kaum je in förmlicher Systematik entwickelt worden sind, suchen die verschiedenen Aspekte der Sündenthematik in eine Gesamtperspektive zu integrieren, deren Horizont im Wesentlichen durch die Tora erschlossen und durch die Weisungen des göttlichen Gebots umschrieben sind. Sünde ist, mit welchen Begriffen und in welchen Wortfeldern sie auch immer bezeichnet wird, nach Urteil der hebräischen Bibel und der Septuaginta, die auf sie aufbaut, stets und vor allem Verfehlung gegen Gott und seinen in der Tora offenbaren Willen. Alle sonstigen Missverhältnisse haben in der Verkehrung des Gottesverhältnisses ihren ursächlichen Grund. „Jedes im Alten Testament erwähnte Vergehen wird als Vergehen gegen Gott verstanden.“ (Knierim, Gestalt, 104) Gehalt und Gestalt alttestamentlicher Hamartiologie ergeben sich aus diesem Grundsatz, wie Rolf P. Knierim überzeugend gezeigt hat. Seine differenzierten Ausführungen zu den Terminologien, Texten und Textgruppen, in denen sich das Sündenverständnis der hebräischen Bibel zum Ausdruck bringt, enthalten alles, was thematisch zu wissen nötig ist. Was sich der Mensch selbst und seinen Mitmenschen samt aller Kreatur schuldig bleibt und durch sündige Werke antut, ist durch die Abkehr von Gott und von seinen im Dekalog und im Doppelgebot der Liebe bündig zusammengefassten Weisungen bedingt. In Bezug auf das heilige, gerechte und gute Gesetz Gottes entscheidet sich das hamartiologische Urteil sowohl über Israel, als auch über Fremdvölker und die Menschheit insgesamt. Entsprechend der universalen Schöpfer-
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macht des einen Gottes, der Himmel und Erde gemacht hat, ist auch der Anspruch seiner Gerechtigkeit von allgemeinverbindlicher und keineswegs bloß partikularer Bedeutung, so sehr die Gabe der Tora vor allem und allen zuvor dem erwählten Volke Israel gegeben worden ist. Israels Erwählung gründet im Willen Gottes und hat daher ihre Geltung als Zweck in sich selbst. Doch schließt dies nicht aus, sondern ein, dass sie auf eine universale Sendung zielt, in der sich die Bestimmung erfüllt, die ihr eigen ist. Spätestens in persischen und hellenistischen Zeiten, in denen sich das Judentum formierte und zu demjenigen wurde, was es ist, kam dies dem erwählten Volk theologisch zu Bewusstsein, um in seinen Hl. Schriften beurkundet zu werden, die damals im Begriffe standen, ihre überlieferte Gestalt anzunehmen. Die rabbinische Tradition basiert auf diesem Bewusstsein und setzt es voraus, um konstruktiv daran anzuschließen. Nach klassischer Lehre rabbinischen Judentums ist Sünde alles, was der Weisung der Tora widerspricht. Sünde hat als „Kehrseite“ (Schreiner, 372) des göttlich Gebotenen zu gelten, gegen das sie sich verfehlt. Die vielfältigen Klassifizierungen ihrer Erscheinungsformen hebt die Grundtatsache nicht auf, sondern bestätigt sie, dass das Unwesen der Sünde in ihrer Torawidrigkeit besteht. Der Sünder tut nicht, was die Tora gebietet, sondern er tut, was durch sie verboten wird. Beide Male handelt er Gottes Gebot zuwider, unbeschadet dessen, dass „in der rabbinischen Literatur das Tun des Verbotenen gegenüber dem Unterlassen des Gebotenen als das Schwerwiegendere erachtet wird“ (Schreiner, 373). Auch die rabbinische Einteilung in „Sünden gegen Gott und Sünden gegen den Nebenmenschen oder sich selbst“ (ebd.; bei Sch. gesperrt) erfolgt innerhalb einer Hamartiologie, welche die Einheit ihres Themas in dem Begriff der Sünde als Gebotswidrigkeit findet. Dies gilt umso mehr, als auch sündige Verkehrungen des menschlichen Selbstverhältnisses und des Verhältnisses zu Mitmensch und Welt als Sünden gegen Gott und Gottes Gebot zu gelten haben. Am durchweg theologischen Charakter seines Sündenbegriffs lässt der Rabbinismus auch dort keinen Zweifel, wo er zwischen vorsätzlichen und unabsichtlichen, zwischen schwereren und leichteren, Haupt- und Nebensünden etc. unterscheidet. Bei aller Notwendigkeit äußerer Differenzierung, die nicht selten unter kasuistischen Gesichtspunkten erfolgt, wird das innere Unwesen der Sünde stets in der Nichtentsprechung und im Widerspruch gegen Gottes Willen gefunden, wie er in der Tora und ihren Geboten erschlossen ist. Die rabbinische Hamartiologie liegt in der KonseJüdisches und christliches quenz des Sündenverständnisses der hebräischen Sündenverständnis Bibel, deren zentraler Gehalt durch die Tora bestimmt ist. Auch das werdende Christentum setzt das Traditionszeugnis der Hl. Schriften Israels hamartiologisch voraus, wobei als Kriterium der Rezeption das Bekenntnis zu Jesus Christus fungiert, der für unsere Sünden gestorben ist gemäß der Schrift. Die christliche Hamartiologie ist vom soteriologischen Christuszeugnis nicht zu trennen. Insbesondere die Annahme einer universalen Sündenverfallenheit des Menschengeschlechts und „die Erkenntnis, daß in den Sünden die Sünde transethisch und für alle Menschen unausweichlich nach Herrschaft greift,
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vollzieht sich . . . angesichts der Rettung der Sünder“ (Karrer, 385). Man hat in der christlichen Lehre von der Universalität der Sünde im Sinne gänzlicher Sündenverfallenheit aller Menschen „den entscheidenden Unterschied nicht nur zwischen jüdischer und christlicher Auffassung vom Menschen, sondern zwischen Judentum und Christentum überhaupt“ (Schreiner, 374) sehen wollen. Problematisch ist diese Sichtweise, sofern sie zu Pauschalierungen neigt und die interne Pluralität sowohl des Judentums als auch des Christentums nicht hinreichend in Rechnung stellt. Trotz seines gemeinsamen Bezugs auf die grundlegene Weisung göttlicher Tora, wie sie in den Hl. Schriften verbindlich dokumentiert wurde, war das Judentum bereits in jesuanischer Zeit in eine Mehrzahl von Gruppierungen gesondert, was sich auch in Unterschieden des Sündenverständnisses reflektierte. Vergleichbares gilt in Bezug auf das Christentum. Dennoch beinhaltet die Kontrastierung jüdischer und christlicher Hamartiologie ein Wahrheitsmoment: Ist doch die jüdische Religion unbeschadet aller internen Differenzierungen darin eins, dass die Tora nicht nur Gottes verbindliches Gebot, sondern als göttliche Weisung auch ein verlässliches Mittel des Heils darbietet, welches durch keine anderen Heilsmittel relativiert werden darf. Vorausgesetzt ist dabei, dass mit der Tora auch das Vermögen ihrer Befolgung grundsätzlich erschlossen ist. Wo die Möglichkeit prinzipiell bestritten oder gar behauptet wird, der Mensch werde gerecht ohne die Werke der Tora, ja durch diese werde das Heil faktisch verfehlt, da sind die religiösen Grenzen des Judentums überschritten, innerhalb deren von Sünde nur gesprochen werden kann, „wenn zuvor dem Menschen die Fähigkeit zu einer eigenen Entscheidung zugunsten oder gegen eine Sünde zugebilligt wird, was wiederum die Anerkennung eines freien Willens aufseiten des Menschen voraussetzt“ (Schreiner, 374). Zwar rechnet auch die jüdische Religion in ihren unterschiedlichen Formen mit einem Hang des Menschen zum Bösen von Jugend auf. Dezidiert abgewiesen werden dagegen Annahmen, wie sie im Christentum nicht nur bei Paulus, Augustin und Luther, sondern auch anderwärts begegnen, wonach der Mensch, wie er sich in der vorhandenen Welt vorfindet, gänzlich unfähig sei, von sich aus auch nur irgendetwas für sein ewiges Heil leisten und beitragen zu können. Nicht nur kennt das Judentum keine Erbsündenlehre, auch eine förmliche Lehre von einem das menschliche Gottesverhältnis von Grund auf verkehrenden peccatum originale sucht man in seinem Kontext vergeblich. Eine alles Beginnen des Menschen von Anfang an zugrunderichtende Mächtigkeit ist dem Trieb zu sündigen jüdischerseits nie zuerkannt worden. „Weil der ‚böse Trieb‘ zudem niemals als eine unentrinnbare schicksalhafte Veranlagung, sondern immer nur als individuelle und damit beherrschbare Versuchung zur Sünde aufgefaßt worden ist, hat man in der Sünde auch niemals einen Zustand oder eine Befindlichkeit des Menschen, sondern stets eine auf individueller Entscheidung beruhende konkrete Tat gesehen. . . . Zwar verstärkt jede begangene Sünde die Neigung zu ihr; dennoch bleibt sie auch dann noch immer eine einzelne Tat und wird auch durch Wiederholung oder Dauer nicht zu einem Zustand oder einer menschlichen Befindlichkeit.“ (Ebd.)
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Die prinzipielle Gegebenheit der Mittel ihrer Befolgung muss nach jüdischem Glauben als eine implizite Voraussetzung der Tora in Anspruch genommen werden, die Gottes ursprünglichen Willen für sein Volk und durch dieses der ganzen Menschheit und Welt offenbart. Jüdischerseits nicht akzeptabel ist dagegen die Annahme, durch die Gebote werde das göttliche Heil für den Menschen nicht nur nicht erschlossen, sondern am Ende gar verschlossen. Wer die Tora anerkennt, muss unter jüdischen Bedingungen auch anerkennen, dass ihre Weisung erfüllbar und vom Menschen in seiner Welt faktisch zu befolgen ist. Anderes zu behaupten, hieße nach jüdischem Urteil die Sünde zu fatalisieren und ihre Untat als unvermeidliches Geschick zu entschuldigen. Zwar rechnet auch das Judentum mit fatalen Konsequenzen der Sünde, die in ihrer Mächtigkeit sowohl ihren Täter als auch die Gemeinschaft zu beherrschen trachten, in welcher er sich befindet. Nichtsdestoweniger lässt sich der Ursprung der Sünde auf willentliche Tat zurückführen, deren Schuld nachgerade darin liegt, in freier Entscheidung zu gründen. Christliche Hamartiologie setzt das Sündenverständnis der jüdischen Tradition voraus und affirmiert es, um sich nicht nur von Fatalismus, sondern auch von Antinomismus dezidiert abzugrenzen. Damit folgt sie dem Beispiel Jesu, der die Verbindlichkeit des gerechten Gottesgebots eingeschärft, seine Übertretung als Sünde bezeichnet und „nicht statt des zornigen Gottes den liebenden Gott verkündigt hat, sondern den zornigen Gott als den liebenden Gott“ (Lange, 303 f.). Das Osterkerygma bezeugt die Erfüllung dieser Botschaft: Im auferstandenen Gekreuzigten ist der gerechte Gott Israels als derjenige offenbar, der die Sünde hasst, aber den Sünder in bedingungsloser Gnade liebt. Das göttliche Gebot bleibt in Geltung, aber es richtet denjenigen nicht, der dem Evangelium glaubt. Durch den Glauben an das Evangelium wird der Sünder von der Sünde geschieden und gerechtfertigt vor Gott, um, der Sorge um das eigene Seelenheil ledig, Fürsorge zu üben nach Maßgabe des göttlichen Gebots, das unter christlichen Bedingungen nicht nur Bestand hat, sondern neue Verbindlichkeit gewinnt. Das schöpfungsgemäße Verhältnis des Menschen zu seinem Schöpfer und zur Schöpfung ist in den göttlichen Geboten grundgelegt, in denen sich der Wille Gottes für seine Geschöpfe manifestiert. Die Gebote beinhalten das Grundgesetz der Schöpfung, in dem sich dessen genuine Ordnung reflektiert und zu Bewusstsein bringt, damit ihr willentlich entsprochen werde. Der Verfassung der Schöpfung und ihrer verbrieften Urkunde nicht zu entsprechen, sondern bewusst und willentlich zu widersprechen, macht nach biblischem Zeugnis das Unwesen der Sünde und den Inbegriff alles Bösen aus. Darin stimmt die neutestamentliche Überlieferung mit der alttestamentlichen, an die sie anschließt, vorbehaltlos überein. Die Gebote der Tora bleiben, sofern sie schöpfungstheologisch begründet und auf Universalisierung hin angelegt sind, auch unter christlichen Bedingungen in Geltung. Denn nach christlichem Zeugnis ist Jesus Christus nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen. Strittig ist zwischen Judentum und Christentum nicht die göttliche Bedeutung der Tora als eines verbindlichen Ausdrucks des universalen Gerechtigkeitswillens des allmächtigen Schöpfergottes. Der
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Streit, wie er von Paulus in exemplarischer Weise ausgetragen wurde, bezieht sich ausschließlich auf die Frage, ob das Gesetz unter Bedingungen der Sünde als ein bleibendes Mittel zum Heil fungieren kann. Diese Frage wird im paulinischen Kerygma und nicht nur in ihm unter Verweis auf Jesus Christus und insbesondere auf seinen Kreuzestod verneint. Das Heil für den Sünder ist im Evangelium des auferstandenen Gekreuzigten beschlossen, nicht im Gesetz, das ihn vielmehr verwirft. Zwar wirkt das Gesetz Erkenntnis der Sünde; aber heilsam ist auch diese nur, wo sie umgriffen ist vom Gnadenevangelium Jesu Christi, auf welches ganz zu vertrauen das Wesen christlichen Glaubens ausmacht. Zwar ist das Bewusstsein der Sünde als Schuld, welches das Gesetz bewirkt, ein konstitutives Bestimmungsmoment evangelischer Glaubensgewissheit. Aber seines Heiles gewiss ist der Glaube nur, wenn er sich ganz und gar auf Jesus Christus verlässt, ohne den sein Schuldbewusstsein, das ihn bleibend bestimmt, in Heillosigkeit vergehen müsste. In dieser im Evangelium des auferstandenen Gekreuzigten beschlossenen Einsicht stimmt trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen das kanonische Zeugnis des Neuen Testaments vollkommen überein, und sie prägt nicht zuletzt das neutestamentliche Sündenverständnis in all seinen Aspekten, wobei, was Sünde heißt, keineswegs verharmlost, sondern im Gegenteil radikalisiert und menschheitsgeschichtlich universalisiert wird. Statt für die soteriologische Grundausrichtung neutestamentlicher Hamartiologie eine Vielzahl Röm 7,7–25 von Einzelbelegen anzuführen und dabei Gefahr zu laufen, über der Fülle der Aspekte das Ganze aus dem Blick zu verlieren, sei in paradigmatischer Absicht lediglich ein Text ausgewählt, der neben seiner unbestreitbaren Exemplarität, die gerade in seiner Analogielosigkeit besteht, den Vorzug besitzt, im Verein mit der Sünde zugleich das Gesetz zu thematisieren, an dem sich nicht nur nach jüdischem, sondern auch nach christlichem Verständnis ihre Erkenntnis bemisst. Besagter Text gehört zu den schwierigsten, aber auch zentralsten und hermeneutisch aufschlussreichsten im Neuen Testament und findet sich im 7. Kapitel des Briefes des Apostels Paulus an die Christengemeinde zu Rom. In einem „Exkurs im Kontext“ (Käsemann, 184), der die Verse 7–25 umfasst, handelt Paulus von dem komplexen Verhältnis, in welchem Gesetz und Sünde zueinander stehen, und von Folgen, die sich hieraus ergeben. Der Abschnitt hat unter den Paulusauslegern seit altkirchlichen Zeiten besonderes Interesse gefunden, aber auch sehr unterschiedliche exegetische Interpretationen hervorgerufen, die sich kaum zu einem systematischen Ausgleich bringen lassen. Gelegentlich wurde in Anbetracht der Vielzahl verschiedener, teilweise widerstrebender Exegesen Zweifel geäußert, ob sich der Text überhaupt einem stimmigen Verständnis zuführen lasse. Doch ist diese resignative Einschätzung ihrerseits nicht mit der Tatsache vereinbar, dass der Text für Paulus „offensichtlich von höchster Bedeutung war“ (Käsemann, 187) und aus Gründen, die für das Verständnis des Neuen Testaments insgesamt bedeutsam sind, nicht vernachlässigt werden darf. Das 7. Kapitel des Römerbriefs des Apostels Paulus beginnt mit einer solennen
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Proklamation der Freiheit des Christen vom Gesetz. Das Leben im Geist beendet die Gesetzesherrschaft, von der diejenigen, welche an Christus glauben, durch den Tod ihres Herrn befreit sind. Damit ist das zentrale Thema benannt, welches Paulus im Folgenden beschäftigt und das für ihn „von überaus starkem Gewicht ist: Wie steht es um das Gesetz?“ (Lohse, 205) Die Dringlichkeit der Gesetzesfrage war nicht zum Geringsten dadurch bedingt, dass Paulus von seinen theologischen Widersachern als Antinomist disqualifiziert wurde, der „ein den Wünschen und Schwächen der Heiden angepaßtes Evangelium“ (Stuhlmacher, 97) verkündige. Ein entsprechender Verdacht war auch unter römischen Christen verbreitet. „Hält man sich einige polemische Spitzensätze des Galaterbriefes vor Augen: ‚Christus hat uns losgekauft vom Fluch des Gesetzes‘ (Gal 3,13); das Gesetz ist erst vierhundertunddreißig Jahre nach der an Abraham ergangenen Verheißung am Sinai erlassen worden, und zwar ‚um der Übertretungen willen‘ (Gal 3,17.19); das Gesetz vermag nicht lebendig zu machen (Gal 3,21); und nimmt man zu ihnen noch den Satz aus 1. Kor 15,56 hinzu: ‚Das Gesetz ist die treibende Kraft der Sünde‘, kann man die Gegner des Paulus ein Stück weit verstehen. Ihre Behauptung, Paulus stelle Gesetz und Sünde auf eine Ebene (Röm 7,7), erscheint nicht einfach aus der Luft gegriffen! Auch die bisherige Argumentation zum Gesetz im Römerbrief löst das Problem noch nicht. Der Apostel hat zwar mit Nachdruck erklärt, er wolle mit seiner Glaubensverkündigung das Gesetz als Maßstab des Gerichtes (2,12 ff.), als Schriftzeugnis (3,21) und als von Jesus erfüllten Gotteswillen nicht abschaffen, sondern aufrichten (3,31); aber hart daneben stehen seine für Juden und Judenchristen nach wie vor schwer erträglichen Feststellungen, Werke des Gesetzes führten vor Gott nicht zur Rechtfertigung, vielmehr käme es durch das Gesetz nur zur Erkenntnis der Sünde (3,20, vgl. Gal 2,16), das Gesetz erwirke das Zorngericht Gottes (4,15), es sei zwischen Adam und Christus hereingekommen, um die Sünde zu steigern (5,20), und die Christen seien kraft ihrer Taufe der Sünde und dem Gesetz abgestorben (6,14;7,6). Schon logisch scheint das nicht aufzugehen: Wie kann man gleichzeitig im Glauben das Gesetz aufrichten und das Ende seiner Herrschaft proklamieren wollen!? Angesichts dieser höchst komplizierten Gesprächslage hat Paulus allen Anlaß, auf den gegen ihn erhobenen Vorwurf, er stelle Gesetz und Sünde praktisch gleich, ausführlich einzugehen und Klarheit in jenen Widerspruch zu bringen.“ (Stuhlmacher, 97) Die Klarstellung erfolgt in zwei Argumentationsschritten: in den Versen 7–12 wird das verwickelte Verhältnis von Gesetz und Sünde, in dem Abschnitt 13–25 die Aporie namhaft gemacht, in deren Ausweglosigkeit sich das „Ich“, von dessen Bedeutung und Stellung im Text eigens zu handeln sein wird, angesichts von Gesetz und Sünde faktisch befindet. „Ist das Gesetz Sünde?“ Die Antwort des Apostels auf diese rhetorische Frage fällt knapp, eindeutig und unmissverständlich aus: Mitnichten, keineswegs, dies sei ferne. Dass der nomos hamartia, die lex peccatum sei, wird in Vers 7 sogleich in kompromissloser Entschiedenheit in Abrede gestellt. Der Schlussvers bestätigt dies in Form eines Parallelismus membrorum: Das Gesetz ist heilig und das Gebot heilig, gerecht und gut (vgl. Röm 7,12). Was
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Paulus unter Gesetz versteht, ist evident und duldet in seiner Evidenz keinen Zweifel; es ist die Tora, in deren Geboten sich der Wille Gottes für sein Volk und alle Menschheit verbindlich manifestiert. Eine Beschränkung der Gültigkeit ihrer Weisungen im Sinne der in Kreisen des hellenistischen Judentums üblichen Unterscheidung zwischen sittlichen Geboten und rituellen Vorschriften wird zwar nicht vorgenommen, wohl aber eine Konzentration auf eine Bestimmung, in der sich der Gehalt der Tora verdichtet und einheitlich zusammenfasst: „ouk epithymeseis“, „non concupisces“, auf Deutsch: „Du sollst nicht begehren!“ (Röm 7,7) In diesem Gebot ist unter offenkundiger Bezugnahme auf den Dekalog (vgl. Käsemann, 185 f.) die gesamte Weisung Gottes für den Menschen beschlossen und der Skopus der Tora bündig umschrieben. Zugleich wird klar, worin der Apostel das Unwesen der Sünde und aller sündigen Vollzüge des Menschen begründet sieht: im grundverkehrten Streben der Begierde, der concupiscentia, der epithymia. Begierde bezeichnet nach üblichem Sprachgebrauch das leidenschaftliche Verlangen nach einem vermeintlichen Gut, welches im Unterschied zum vernünftigen Wollen durch unbeherrschte Sinnlichkeit angestrebt wird. In diesem Sinne begegnet der Begriff der epithymia in diversen Variationsformen in den Überlieferungen der antiken Philosophie und anderwärts im griechischen und lateinischen Altertum. Auch der Begriff der concupiscentia benennt in seiner üblichen Verwendung vor allem sinnliche Begehrlichkeit. Als bloßer Naturtrieb sittlich indifferent wird die Konkupiszenz zum moralischen Problem, sobald sie die Vernunftfähigkeit und das vernünftige Willensvermögen des Menschen in Frage stellt und zu dominieren trachtet. Dass in das Verständnis des paulinischen epithymia-Begriffs überkommene Bedeutungselemente eingeflossen sind, belegt die Auslegungsgeschichte von Röm 7,7 in offenkundiger Weise und zur Genüge. Indes ist bei Paulus selbst das Begehrensverbot primär nicht gegen ein Übermächtigwerden der Sinnlichkeit, wie in vielen Teilen antiken Denkens, aber auch der patristischen und der nachfolgenden Paulusexegese, sondern gegen ein verkehrtes Bestreben des Menschen gerichtet, das ihn von Grund aus und durchaus nicht nur von außen, sondern von seinem Innersten her ergreift, um von ihm gottwidrig Besitz zu nehmen und ihn in einen schuldhaften Gegensatz zu bringen zu seiner geschöpflichen Bestimmung. Epithymia ist nach Paulus ein gegen Gott und die Ordnung seiner Schöpfung gewendetes Streben, das alle Kräfte des Menschen einschließlich seiner seelischen umfasst, um sein ganzes Sinnen und Trachten zu bestimmen. Weit davon entfernt, nur ein sinnlicher Trieb zu sein, von dem man sich vernünftig und willentlich distanzieren könnte, ist die Begierde dazu angetan, den Menschen radikal in sich selbst zu verkehren. Sie ist daher bereits an sich und nicht erst in den Folgen, die sie zeitigt, als sündig und als dasjenige zu identifizieren, was dem göttlichen Gebot von Grund aus widerstrebt. Anhand des paulinischen sarx-Verständnisses ließe sich präzise entfalten, was es mit der menschlichen Begehrlichkeit näherhin auf sich hat: Sie ist keineswegs bloß naturhafter Trieb, sondern schuldhafte Sünde in sich selbst.
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Gottes heiliges, gerechtes und gutes Gebot identifiziert die Begierde als dasjenige, was sie ihrem unheiligen, ungerechten und bösen Unwesen nach ist, und lässt sie als Sünde erkennen, indem es ihre Schuldhaftigkeit zu Bewusstsein bringt. Das Gesetz wirkt Schuldbewusstsein und Erkenntnis der Sünde. Dabei handelt es sich um eine Wirkung, welche die Heiligkeit, Gerechtigkeit und Güte des Gesetzes nicht aufhebt, sondern bestätigt. Selbst im Blick auf den Sünder lässt sich nicht generell in Abrede stellen, dass es für ihn gut ist, zur Erkenntnis der Sünde und zum Bewusstsein seiner Schuld gebracht zu sein. Die grundsätzliche Güte des Gesetzes ist demnach auch in dieser Hinsicht zu affirmieren. Doch liegt es nach Paulus in der abgründigen Verkehrtheit der Sünde begründet, dass unter ihren Bedingungen die Güte der durch das Gesetz bewirkten Sündenerkenntnis nicht nur nicht erkannt, sonden zwangsläufig verkannt wird, wobei die Zwangsläufigkeit besagter Verkennung nicht aus-, sondern einschließt, dass sie bewusst und willentlich und sonach auf schuldhafte Weise erfolgt. Als gut für ihn könnte die durch das Gesetz gewirkte Sündenerkenntnis vom Sünder nur wahrgenommen werden, wenn ihm durch sie die Möglichkeit erschlossen würde, sich von sich selbst als Sünder zu distanzieren. Gerade diese Möglichkeit aber wird ihm durch das Gesetz nicht nur nicht erschlossen, sondern verschlossen, indem es ihn erkenntlich und in nicht nur äußerlicher, sondern innerlich zustimmungspflichtiger Weise als Sünder identifiziert, und zwar nicht nur teilweise, sondern in seiner Gänze. Mittels des Gesetzes, in dem ihm nicht nur eine positive Vorschrift, sondern seine eigene gottgegebene Bestimmung begegnet, gelangt der Sünder zur gewissensgewissen Erkenntnis seiner Sünde und zum Bewusstsein schuldhaften Begehrens, durch das er sich als er selbst durch sich selbst in sich selbst verkehrt und von Gott als dem Grund seiner selbst in abgründiger Weise abkehrt. Der Ichstil, in welchem Paulus diese Einsicht zum Ausdruck bringt, ist alles andere als ein bloß literarischer Kunstgriff, weil er durch den Gegenstand der Aussage selbst gefordert ist, der das Subjekt, von dem die Rede ist, unmittelbar angeht. Die vom Gesetz gewirkte Sündenerkenntnis betrifft das Ich als es selbst, in dessen Schuldbewusstsein in zwieträchtiger Weise ein Doppeltes manifest ist: Selbstidentifikation und gänzlicher Selbstentzug, der das Ich zunichte macht und zugrunde richtet. Im Bewusstsein der Schuld, welches das Gesetz in ihm wirkt, muss der Sünder seine Sünde sich einerseits selbst zuschreiben, ohne es wirklich zu können, weil dies ein Vermögen der Selbstdistanzierung voraussetzen würde, welches dem Sünder durch das Urteil des Gesetzes nicht nur nicht gegeben, sondern entzogen wird. Die an sich gute Wirkung des heiligen und gerechten Gesetzes, dessen Güte Paulus keinen Augenblick infrage stellt, wird für den Sünder so zum Fluch und zu einem Motiv nicht der Besserung und der Abkehr vom Bösen, sondern dazu, den bodenlosen Fall der Sünde auf ebenso schuldhafte wie fatale Weise voranzutreiben und sich mit Fleiß dem höllischen Abgrund entgegenzustürzen. Durch die Sünde wird die Wirkung des Gesetzes ins gerade Gegenteil verkehrt. Sündige Begierde
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Mit Paulus zu reden: „Und so stellte sich heraus, daß das Gebot, das zum Leben führen sollte, mich geradewegs in den Tod riss. Denn die Sünde machte sich das Gebot zunutze und betrog mich und tötete mich mit seiner Hilfe.“ (Röm 7,10 f.) Es ist die Schuld der Sünde und ihrer Bosheit, dass das Gebot, das nach Gottes Willen dem Leben dienen sollte, tödliche Folgen nach sich zog. „Ist mir nun das Gute zum Tod geworden? Das sei ferne. Aber die Sünde bewirkte, damit sie als Sünde in Erscheinung träte, mir durch das Gesetz den Tod, damit die Sünde durch das Gebot im Übermaß sündig werde.“ (Röm 7,13) Die Tora und ihre Weisungen, wie sie im Gebot, nicht zu begehren, bündig zusammengefasst und vereint sind, haben, das ist wahr, als offenbarer Wille des heiligen, gerechten und guten Gottes als heilig, gerecht und gut zu gelten. Aber unter den Bedingungen der Sünde, deren Verkehrtheit es zu identifizieren und dem Sünder im Bewusstsein der Schuld zur Erkenntnis zu bringen hat, wirkt das gute Gesetz Gottes nicht zum Leben, sondern zum Tode, weil die Sünde die Güte des Gebotes ins Böse wendet und aus der gesetzesgewirkten Sündenerkenntnis eine Ignoranz hervorgehen lässt, die Gottes Gebot bewusst und willentlich verkennt und zum Anlass nimmt, sich immer weiter von der Quelle des Lebens zu entfernen. Es liegt im Unwesen der Sünde begründet, der verfallen zu sein die Schuld des Sünders ist, begehrlich danach zu trachten, sich selbst samt allem, was von ihr beherrscht wird, zugrunde zu richten und dabei jegliches Lebensgut in den Dienst ihres todbringenden Vernichtungswerkes zu stellen. In dieser aporetischen Situation findet sich der Mensch sub lege faktisch vor, und das Gesetz kann ihm keinen Ausweg aus dieser Aporie verschaffen, dessen Ausweglosigkeit es im Gegenteil ratifiziert, wie in den Versen 13–25 des 7. Kapitels des paulinischen Römerbriefs näher ausgeführt wird. Man hat gerätselt, wie das Problem des ego in Röm 7 zu lösen sei und wen genau Paulus meine, wenn es etwa in Vers 19 heißt: „Denn ich tue nicht, was ich will, sondern das Böse, das ich nicht will.“ Die Antworten auf diese Frage sind in der Auslegungstradition unterschiedlich bis kontrovers ausgefallen. Nachdem er Röm 7,7 ff. vormals „als Beschreibung der verzweifelten Lage des Sünders ante gratiam ausgelegt“ (Wilckens, 103) hatte, bezog Augustin das dort begegnende „Ich“ später auf den Christen Paulus, der in den betreffenden Abschnitten dem „Widerstreit zwischen Wollen und Mißraten“ (Lohse, 213) Ausdruck verliehen habe. Die Reformatoren sind Augustin in dieser Deutung weithin gefolgt. Luther hat sie dahingehend erweitert, dass er die Situation des Christenmenschen unter Berufung namentlich auf Röm 7,25 mit der Wendung „zugleich gerecht und Sünder“ kennzeichnete. In Bezug auf sich ist und bleibt der Christenmensch ganz Sünder, in der Vertrauensbeziehung des Glaubens zu Christus hingegen ist er ganz gerecht, um sich in der Gewissheit der in Christus gratis geschenkten Glaubensgerechtigkeit approximativ auf dem Wege der Besserung fortzubewegen. In der neueren Exegese wird Luthers Auslegung, ohne dass deshalb über ihren theologischen Sinngehalt befunden wäre, zumeist ebenso wenig vertreten wie die Annahme, Paulus spreche in Röm 7 in biographischer Absicht von seiner vorchristlichen Existenz. Das Text-Ich wird in der Regel auf den adamitischen Men-
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schen überhaupt und die Situation bezogen, in welcher sich der unter dem Gesetz stehende Sünder generell vorfindet. Wenn Paulus von „Ich“ rede, dann meine er damit nicht, jedenfalls nicht allein, sich selbst, sondern sich selbst nur insofern, als es sich bei ihm wie bei jedem anderen Adamsnachkommen um einen individuellen Repräsentanten der gefallenen Menschheit handle. Jeder Mensch ist nach Maßgabe des Gesetzes derart radikal der Sünde verfallen, dass er der Möglichkeit gänzlich entbehrt, sich von ihr zu distanzieren. Auch die durch das Gesetz gewirkte Sündenerkenntnis erschließt kein Eigenvermögen des Sünders zum Guten, weil der verkehrte Eigensinn der Sünde das Bewusstsein der Schuld nicht nur um seine Geltung bringt, sondern zum Motiv nimmt, sich und den Sünder, der sie zu ihrer Herrschaft ermächtigt, nur umso unentrinnbarer in Bosheit zu verstricken. Was das Gesetz in seiner heiligen und gerechten Güte an Gutem im Sünder zu wirken sich anschickt und tatsächlich wirkt, wendet sich der nicht nur alogischen, sondern sinnwidrigen Logik der Sünde gemäß ipso facto ins gerade Gegenteil, um verwirkt und ins Böse verkehrt zu werden. Von daher und diesbezüglich ist die Lage des Sünders unter dem Gesetz als heillos nicht nur, sondern als heilswidrig und alles Heil zersetzend zu bezeichnen, woran, wie gesagt, in keiner Weise das Gesetz, sondern einzig und allein die Sünde schuld ist, deren Gottlosigkeit und Gottwidrigkeit dazu führen, dass ihr der heilige, gerechte und gute Gott nicht anders denn als Feind begegnet und dies nicht etwa nur zum Schein, sondern in einer Faktizität, die durch die Untat des Falls der Sünde schuldhaft provoziert ist. Die Sünde bereitet sich so ihre eigene Hölle, um dem Abgrund zu verfallen, der sie selbst ist. Die paulinische Rede vom Ich unter dem Gesetz der Sünde, des Todes und des Teufels endet in Vers 24 mit einem Klageruf armseliger Verzweiflung und einer förmlich herausgeschrienen Frage, in der sich nichts anderes artikuliert als die Einsicht in die Aussichts- und Ausweglosigkeit der gegebenen Situation. Dass dieser aus den Tiefen der Sündenschuld hervorbrechende Schrei bei Gott kein Gehör findet, sondern an der Grenze des göttlichen Gesetzes verhallt, ist durch den Schluss der paulinischen Ichrede nicht ausgeschlossen. Sie endet mit einer Frage, deren Offenheit ins Leere gehen, ja in Finsternis vergehen müsste, wäre ihr nicht jene Antwort gegeben, die von dort her kommt, wo die paulinische Theologie und ihr gemäß alles Christentum seinen ersten, letzten und einzigen Grund findet: von demjenigen her, der um unserer Sünde willen gekreuzigt und um unserer Gerechtigkeit willen auferstanden ist. „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn.“ (Röm 7,25a) Für die, welche in Christus Jesus sind, gibt es keine gesetzliche Verurteilung mehr. „Denn das Gesetz des Geistes und des Lebens hat dich frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes.“ (Röm 8,2) Auf diese durch österliche Offenbarung höchst persönlich erschlossene Einsicht hin und von ihr her ist alles gesagt, was Paulus in Röm 7 ausführt. Ohne diese Einsicht lässt sich weder das Sündenverständnis des Apostels noch das Verständnis erfassen, das er vom Gesetz und seiner Wirkung unter den Bedingungen der Sünde hat. Die transmoralisch-metaethi-
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sche, religiös-theologische Struktur des paulinischen Sündenbegriffs, welcher die Unbegreiflichkeit, ja Begriffswidrigkeit der Sünde nicht beseitigt, sondern eigens namhaft macht, wird nur dann in Form jener Fassungslosigkeit erfasst, die ihm und der unfassbaren Sinnwidrigkeit des von ihm zu Begreifenden gemäß ist, „wenn die Verkehrung, welche die Sünde ist, präzise als diejenige faktische Selbstverkehrung bestimmt ist, die der Sünder sich einerseits selbst zuschreiben muß, die er sich andererseits nur gerade dann zuschreiben kann, wenn er sich von sich selbst als Sünder unterschieden wissen darf“ (Pfleiderer, 333). Es ist die Funktion des Gesetzes, den Sünder als denjenigen zu identifizieren, welcher er ist, und In sich selbst verkehrtes Ich ihn zur Erkenntnis der Sünde dadurch zu bringen, dass es ihn förmlich nötigt, sich diese selbst zuzuschreiben. Diese gesetzliche Funktion sieht Paulus durchaus erfüllt, ohne dass er ihre Erfüllung als heilsam zu qualifizieren vermöchte. Das Gesetz wirkt Schuldbewusstsein, aber ein Schuldbewusstsein, welches den Sünder dergestalt mit sich identisch setzt und bei seiner Schuld behaftet, dass er aus der gegebenen Ausweglosigkeit just jenen Ausweg zu erstreben begehrt, welcher die gegebene Aporie nur umso aporetischer macht. Unter den Bedingungen der Sünde verkehrt sich das gesetzlich gewirkte Schuldbewusstsein ebenso zwang- wie schuldhaft ins gerade Gegenteil, um das heillose und heilswidrige Treiben der Begierde – sei es hochmütig, sei es verzweifelt, oder in beider Weise zugleich – bis in die tiefsten Abgründe des Bösen hinein fortzutreiben. Der mit seiner Sünde alleingelassene Sünder verweigert, wenn man so will, gerade aus dem Bewusstsein seiner Schuld heraus, zu dem ihn das Gesetz nötigt, die Erkenntnis der Sünde, um sie mit Fleiß und unter Aufbietung allen Vernunft- und Willensvermögens vor anderen und insbesondere vor sich selbst zu verbergen. Verstellung nicht nur, sondern Selbstverstellung und bewusstes Verkennen eigener Schuld gehört unveräußerlich zu jener Bosheit, welche das Unwesen der Sünde charakterisiert. Heilsame Sündenerkenntnis und ein Bewusstsein der Schuld, das aus ihr herausführt, statt umso tiefer in sie hineinzuführen, ist möglich nur, wenn dem Sünder eine Möglichkeit eröffnet wird, die ihm erlaubt, sich von sich selbst als Sünder zu unterscheiden und unterschieden zu wissen. Eine solche Selbstunterscheidung vermag der Sünder nach Paulus weder aus eigenem Vermögen noch durch Wirkung des Gesetzes zu erlangen. Sie erschließt allein das Evangelium, welches dem sündigen Ich in Jesus Christus ein neues Sein und ein alter Ego wirksam zusagt. Nur vermöge des neuen und anderen Ich, das Gott in und durch Jesus Christus erschlossen hat, damit es der Glaube in der Kraft des Geistes als das Seine wahrnehme, sind heilsame Sündenerkenntnis und ein Schuldbewusstsein möglich, das den ersten Schritt auf dem Wege der Besserung hin zur Erfüllung der Rechtsforderung des Gesetzes darstellt, von welcher der Apostel Röm 8,2 ff. spricht. Bleibt hinzuzufügen, dass das Glaubensich, durch welches sich der Sünder von sich selbst unterscheidet und unterschieden wissen darf, nach Paulus keine unmittelbar, sondern allein mittels des Geistes Jesu Christi, also auf exzentrische Weise in sich bestehende Größe ist.
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Das Ich des Glaubens kommt zu sich, indem es sich auf Jesus Christus verlässt, und es bleibt, was es ist, in und durch Bleiben in ihm. Ansonsten würde es aufhören, es selbst zu sein, und in die heillose Situation zurückfallen, aus welcher es Christus befreit hat. Bedenkt man dies recht, dann stellt sich Luthers Exegese von Röm 7 trotz ihrer historischen Fragwürdigkeit theologisch mitnichten als so abwegig dar, wie dies nach Urteil mancher Exegeten der Fall zu sein scheint. Historisch und theologisch gleichermaßen abwegig hingegen ist die Deutung, welche die entscheidende Pointe von Röm 7 in der Kritik einer angeblich im Judentum religiös verbreiteten Haltung zu erkennen glaubt, die danach strebe, das Gesetz durch Werke tätigen Gehorsams zu erfüllen. Dieses Bestreben hat auch unter christlichen Bedingungen seine Richtigkeit und kann daher nicht als per se, sondern nur unter der Voraussetzung als verkehrt gelten, dass es zu religiösem Hochmut oder einer ihm entsprechenden Verweiflung führt, welche beide Erscheinungsformen jener „Sucht der Selbstbehauptung gegenüber Gott und dem Nächsten“ (Käsemann, 186) darstellen, die das Unwesen der Begierde als der „Grundsünde schlechthin“ (ebd.) ausmacht. Dieser Hinweis ist nicht zuletzt deshalb von historischer und theologischer Wichtigkeit, damit vom paulinischen Verständnis von Gesetz und Sünde sowie der Analyse der aporetischen Situation des Sünders unter dem Gesetz jede Form von Antijudaismus ferngehalten wird. Zwar muss die paulinische Annahme, die Tora bringe nicht nur die Sünde und die aus ihr gesetzmäßig folgende Todesverfallenheit des Sünders zur Erkenntnis, sondern stelle darüber hinaus einen „dynamischen Faktor der Steigerung, der Universalisierung der Sündigkeit“ (Oberdorfer, 131) dar, unter jüdischen Frömmigkeitsbedingungen, denen zufolge das Gesetz als Mittel des Heils zu gelten hat, als unangebracht, ja als „lästerlich“ (Käsemann, 187) erscheinen. Aber dieses verständliche Urteil darf nicht das pauschale Gegenurteil provozieren, die jüdische Religion sei gewissermaßen von Hause aus heilsuntauglich oder heilshinderlich, weil sie zur Gesetzlichkeit oder zu der frommen Überheblichkeit verleite, sich das ewige Heil selbstätig bereiten zu können. Eine solche Annahme liegt Paulus fern. Seine Hamartiologie zielt mit ihrer These allgemeiner und radikaler, durch das Gesetz zur Erkenntnis zu bringender, aber nicht zu behebender Sündhaftigkeit des Menschen generell nicht auf Einzelphänomene, sondern auf die conditio humana überhaupt, nämlich auf die Lage der gesamten adamitischen Menschheit, wie sie sich in österlicher Retrospektive und im Rückblick des christlichen Glaubens auf eine Vergangenheit darstellt, die keine fremde, sondern die ureigene ist und deren Vergänglichkeit und aktuelles Vergehen nicht lediglich einen historischen, sondern einen prinzipiellen Sachverhalt darstellt, wie denn auch das Osterereignis selbst, in dessen Lichte besagter Sachverhalt wahrgenommen wird, ein Datum von Ewigkeitsbedeutung ist, ohne deshalb aufzuhören, in geschichtlicher Zeit geschehen zu sein. Um zusammenzufassen und mit einem Hinweis Gen 3,1–24 auf jenen biblischen Text zu schließen, der die christliche Hamartiologie intensiver beschäftigt hat
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als jeder andere, Gen 3,1–24: Das Verständnis dessen, was in biblischer Tradition Sünde heißt, hängt von Prämissen ab, die über die Hamartiologie hinausweisen. Die Gründe ihrer Geltung und eigentümlichen Verfassung sind der Lehre von der Sünde vorausgesetzt. Ein vergleichbarer Sachverhalt war bereits in schöpfungstheologischer Hinsicht zu registrieren. Obwohl auf Uranfängliches und Allumfassendes bezogen, beruht das biblische Schöpfungszeugnis auf Voraussetzungen, ohne die es nicht zu verstehen ist. Traditionsgeschichtlich geurteilt darf als ausgemacht gelten, dass reflektierte und reflexiv explizierte Schöpfungskonzeptionen zu den erst verhältnismäßig spät ausgebildeten Theologumena des Alten Testaments gehören, die in aller Regel nachexilisch zu datieren sind. Dieser überlieferungsgeschichtliche Befund ist bemerkenswert und nicht nur historisch, sondern auch theologisch bedeutsam. Vieles spricht dafür, dass das Judentum zu weit ausgreifenden Reflexionen über göttliches Schöpfungshandeln erst auf der Basis der Einsicht gelangte, die Israel nach naturreligiös-polytheistischen Anfängen und einer monolatrischen Phase, die durch soziomorphe Auffassungen von Gottheit und göttlicher Macht gekennzeichnet war, in der Exilszeit vom einen Gott und seiner Gerechtigkeit gewonnen hatte. Der Toramonotheismus ist das Fundament jüdischer Schöpfungstheologie, deren Skopus das Bekenntnis zur universalen Herrschaft des einen und einzigen Gottes darstellt. Die Gerechtigkeit, die sein Wesen ausmacht, manifestiert sich in der Tora, die Gottes Immanenz und Transzendenz gleichermaßen zur Geltung bringt. Es ist primär das Bewusstsein der Einzigkeit Gottes und seiner Gerechtigkeit sowie der Allgemeinverbindlichkeit seines Gesetzes, welches sich in der jüdischen Schöpfungstheologie reflektierten Ausdruck verschafft. Die weltgeschichtliche Mission des Judentums, welche sie über die Grenzen alles bloß Ethnischen hinausführen sollte und schon zu Jesu Zeiten in weiten Teilen hinausgeführt hatte, liegt in dieser Einsicht begründet. Sie ist von anderer Art und Herkunft als die Auffassungen, die sich in den altorientalischen Kosmogonien spiegeln, welche auf alttestamentliche Konzeptionen zwar eingewirkt haben, ohne ihre Zentralbotschaft zu bestimmen. Für das Schöpfungsverständnis der hebräischen Bibel ist der im Judentum der exilischen und nachexilischen Zeit ausgebildete Toramonotheismus grundlegend. Entsprechendes gilt für das alttestamentliche Verständnis der Sünde. Es basiert auf der offenbaren und glaubensgewissen Einsicht, dass der eine und allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden seinen Willen in der seinem auserwählten Volk gegebenen Weisung erschlossen hat, deren Gültigkeit nicht ethnisch beschränkt, sondern von universaler Bedeutung ist. Ihrem allgemeinsten Begriff nach ist Sünde daher alttestamentlichem Urteil zufolge Torawidrigkeit und Widersetzlichkeit gegenüber dem in den Geboten offenbaren Willen Gottes, dessen Verbindlichkeit unbegrenzt ist und die ganze Menschheit und alle Welt umfasst. Zwar enthält die Tora auch Gesetze von beschränkter Reichweite; aber ihr Zentralbestand ist von universaler Bedeutung und für alle Menschengeschöpfe verbindlich. Es bedurfte nicht des Christentums, um zu dieser Einsicht zu gelangen; sie ergibt sich
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aus der Eigenentwicklung der jüdischen Religion, um spätestens in hellenistischer Zeit ihr ausdrücklicher Besitz zu werden. In den universalen Horizont, der sich dem nachexilischen Judentum durch den Glauben an den einen Gott eröffnet hat, dessen Gerechtigkeit allmächtig und dessen Allmacht vollkommen gerecht ist, muss unter rezeptionsgeschichtlichen Gesichtspunkten auch die alte Geschichte vom Fall Adams eingezeichnet werden, auf die sich die Aufmerksamkeit einer biblisch orientierten Hamartiologie traditionellerweise besonders konzentrierte. Die adamitische Sünde ist durch Abkehr vom universal gültigen göttlichen Willen, durch Verkehrung geschöpflicher Bestimmung und durch ein Verhalten verschuldet, welches das gebotene Verhältnis des Menschen zu Gott, zu sich selbst und zu Mitmensch und Welt pervertiert. In dieser Verschuldung liegt das Unwesen der Sünde begründet, und überall, wo sie statthat, ereignet sich der Fall Adams und Evas, der sich nicht in einem Einzelgeschick erschöpft, sondern die ganze Menschheit und mit ihr und durch sie die Schöpfung insgesamt betrifft. Sünde ist Schöpfungswidrigkeit, die dem Willen des allmächtigen Schöpfergottes zuwider ist. Die Folgen des Falles der Sünde sind von Übel, ja tödlich, wie die hamartiologische Tradition im rabbinischen Judentum und im Christentum gleichermaßen einschärft. Zwar eignete dem prälapsarischen Adam nach Urteil der Überlieferung keine Immortalität wie diejenige des ewigen Gottes. Aber eine Zwangsnotwendigkeit zu sterben war ebenso wenig gegeben. Solange er sich in Gott gegründet wusste, war und blieb Adams Zeit unbeschadet ihrer temporalen Erstreckung unvergänglich. Vergänglich wurde sie erst durch sein sündiges Vergehen, welches das Verhängnis des Todesgeschicks zwangsläufig nach sich zog. Adam musste weder sündigen noch sterben. Solange er unter dem himmlischen Schutz des gütigen Gottes verblieb und sich an der Fülle seiner Erkenntnis genug sein ließ, hatten Tod und Teufel keine Macht über ihn. In den Bann ihrer Herrschaft geriet er erst durch den Fall der Sünde und durch den Ungehorsam gegen das göttliche Gebot, das von allen Paradiesbaumesfrüchten zu essen gestattete außer von der Frucht des Baums der Erkenntnis, dessen Genuss Gott verbot, um den heilsamen Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf zu wahren. Indem er sich diesem Gebot versagte, das sowohl als göttliche Setzung als auch als menschliches Wesensgesetz zu gelten hat, verfiel der Mensch der Sünde und ihren Abgründen, deren Außenseite die physische Todesverfallenheit und deren Innenseite die höllische Pein der Schuld ist. Gen 3 war seit alters der Standardtext christlicher Symbolik des Bösen Hamartiologie, und er ist es bis heute geblieben. Einen exemplarischen Beleg für seine aktuelle Bedeutung bieten u. a. Paul Ricoeurs phänomenologische Arbeiten zu Schuld, menschlicher Fehlbarkeit und zur Symbolik des Bösen. Mit ihnen soll der Abschnitt über Sünde und Schuld in biblischer Tradition beschlossen werden, weil sie nicht nur eine interessante Auslegung der Geschichte vom Fall Adams und Evas enthalten, sondern mit der Unterscheidung zwischen der Möglichkeit sündiger
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Verfehlung, die mit der menschlichen Fehlbarkeit gegeben sei, und dem tatsächlichen Fehl als einer faktischen Realisierung des Verfehlenkönnens (vgl. im Einzelnen Polke) das hamartiologisch zentrale, in der Tradition kontrovers verhandelte Problem der causa peccati anspricht. Die Fehlbarkeit des Menschen als die Möglichkeit, seine Bestimmung zu verfehlen, liegt Ricoeur zufolge in der Spannung zwischen seiner Herkunft aus göttlicher Unendlichkeit und seiner endlichen Verfassung begründet. Die Vorstellung einer ursprünglichen und integren Einheit beider Bestimmtheitsweisen des Menschen, wie sie in der Paradiesgeschichte narrativ expliziert werde, könne nur imaginär erhoben werden: die Imagination der genuinen Unschuld „ist nichts anderes als die Vorstellung eines menschlichen Lebens, das alle seine Grundmöglichkeiten ohne Auseinanderklaffen seiner Urbestimmung und ihrer geschichtlichen Kundgabe verwirklichen würde. Die Unschuld wäre die Fehlbarkeit ohne Fehl, und diese Fehlbarkeit wäre nur Zerbrechlichkeit, Schwäche, aber nicht Fall.“ (Ricoeur, Phänomenologie I, 187). Im Mythos eines ursprünglichen status integritatis des Menschen werde seine genuine Unschuld symbolisch vorstellig, ohne dass mit dem Integritätsstand geographische Lokalität oder historische Zeit zu assoziieren wäre. „Wesentlich am Mythos der Unschuld ist, daß er ein Symbol des Ursprünglichen hergibt, das in der Verderbtheit durchscheint und sie als Verderbtheit anzeigt; meine Unschuld, das ist meine Urverfassung, in eine phantastische Geschichte projiziert.“ (Ebd.) Für das religiöse Bewusstsein des Christentums, so ließe sich hinzufügen, steht diese phantastische Projektion nicht länger unter Fiktionsverdacht, da sie an der Erscheinung des irdischen Jesus, wie sie sich im Lichte Osterns darstellt, einen festen Anhalt hat. Das Menschengeschöpf ist fehlbar, aber zur faktischen Verfehlung seiner Bestimmung nicht gezwungen, was ihm durch eine imaginative, aber nicht bloß fiktive Urstandsanamnese vorstellig gemacht wird. Der Fall der Sünde, der den status corruptionis mit sich führt, gibt sich vermittels einer Ahnung, die durch die österliche Erinnerung des irdischen Jesus ihre Bestätigung findet bzw. evoziert wird, als Sprung vom Guten ins Böse und als eine schuldhafte Setzung desselben zu erkennen. Zwar steht, was über menschliche Fehlbarkeit gesagt wurde, immer schon unter der Voraussetzung faktischer Verfehlung, aber diese setzt ihrerseits, um als das, was sie ist, begriffen werden zu können, die grundsätzliche Denkbarkeit eines Status voraus, in welchem der Mensch trotz seiner Fehlbarkeit unschuldig blieb. Die Möglichkeit zu fehlen, ohne es tatsächlich zu tun, und der Fall faktischer Verfehlung sind, obwohl empirisch niemals zu trennen, doch voneinander unterscheidbar. Entsprechend ist methodisch zwischen einer Phänomenologie menschlicher Fehlbarkeit und jener zu unterscheiden, die in der Symbolik des Bösen ihren Ausdruck findet. Der zwischen beiden waltende Hiatus wiederholt „den Hiatus im Menschen zwischen Fehlbarkeit und Fehl“ (Ricoeur, Phänomenologie I, 185). In der Symbolik des Bösen kommt nach Ricoeur dem biblischen Mythos vom Sündenfall eine hervorgehobene Stellung zu. Danach geht die Sünde zwar aus der Fehlbarkeit des Menschen hervor, doch nicht unwillkürlich, sondern als eine wil-
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lentlich gesetzte. Die Sünde ist Schuld und Erzeugnis menschlicher Schwäche in einem: die „Bewegung der Schwäche, die nachgibt, im biblischen Mythos durch die Gestalt der Eva symbolisiert, ist koextensiv mit dem Akt, durch den das Böse geschieht“ (Ricoeur, Phänomenologie I, 189). Es ist die Tragik des Bösen, Folge einer Schwäche zu sein. Doch entschuldigt dies nicht den tatsächlichen Fall der Sünde. Das Urfaktum menschlicher Verfehlung ist als Schuld zuzurechnen, obwohl es mit der fehlbaren Schwäche des Menschen ursächlich zusammenhängt. Auf dieses, wie er sagt, zentrale hamartiologische „Paradox“ (ebd.) ist Ricoeurs Symbolik des Bösen im zweiten Band seiner Phänomenologie der Schuld bezogen. Sie handelt von den Ursymbolen Makel, Sünde und Schuld sowie von den Anfangs- und Endmythen, die wie die Ursymbole, die sie narrativ in sich vereinen, je auf ihre Weise zu denken geben, ohne in ihrer Bedeutung einfachhin in Denken überführt werden zu können. Die Theoreme vom peccatum originale und peccatum haereditarium gehören in diesen Zusammenhang; sie sind nach Ricoeur rationale Konstrukte, die es zu dekonstruieren gilt, um ihren symbolischen Sinn zu erheben: „das Wissen soll zum Scheitern gebracht werden, damit die orthodoxe Intention, der rechte Sinn, der Sinn der christlichen Erfahrung wieder hervortritt“ (Ricoeur, Erbsünde, 155), also der Sinn dessen, „was wir im Sündenbekenntnis an Tiefstem und Wesentlichstem bekunden“ (ebd.). Das peccatum originale ist Malheur, Missgeschick im Sinne generativen Erbes und schuldhafte Untat in einem, jedoch so, dass der Geschickcharakter des Bösen erst durch die böse Tat in Kraft gesetzt und zur Macht gebracht wird, die sich dann freilich ipso facto als übermächtig erweist. Die Aktualsünde ermächtigt das Böse, erweist sich aber, indem sie das Böse tätigt, zugleich als Folge seiner Macht, die sie als all ihrem Handeln zuvorkommend ratifiziert. Dies als das im Unwesen der Sünde beschlossene Paradox erkannt zu haben, ist nach Ricoeur der unaufgebbare Vorzug der Augustinischen Sündenlehre, die bei allen Mängeln ihrer Durchführung gegen Pelagius und semipelagianische Tendenzen zu verteidigen sei. Augustins dezidierten Antipelagianismus manichäisch zu nennen, sei trotz unleugbarer persönlicher und sachlicher Beziehungen zum Manichäismus unstatthaft. Die Augustinische Sündendoktrin müsse jenseits des Gegensatzes von Pelagianismus und Manichäismus verortet werden, was freilich nur gelingen könne, wenn man ihre dogmatische Lehrgestalt symbolisch transformiere und sie als entsprechenden Ausdruck christlicher Bußerfahrung interpretiere. Drei Elemente sind nach Ricoeur für die christliche Bußerfahrung und das christliche Sündenbekenntnis konstitutiv: die Einsicht in den Realismus der Sünde und die Erkenntnis, dass deren Ausmaß das Bewusstsein von ihr über- bzw. unterbiete; die aus dieser Erkenntnis hervorgehende Anerkennung ihrer transindividuellen, kommunitären Dimension; schließlich die Wahrnehmung, dass das Elend der Sünde das menschliche Ich im Ureigenen seiner selbst im Zuge freier Selbstbestimmung immer schon ergriffen hat, noch bevor es einzelne sündige Akte ins Werk setzt. Wohl sei es wahr, dass jeder Einzelne die Sünde je für sich inauguriere; doch geschehe dies nicht in vermittlungsloser Unmittelbarkeit, da jedes sün-
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dige Beginnen auf einen bösen Anfang zurückverweise, der bereits gemacht sei. „Für jedes Bewusstsein, das zur Verantwortlichkeit erwacht, ist das Böse schon vorhanden“ (Ricoeur, Erbsünde, 159) und zwar auf eine undistanzierbar das Eigene betreffende Weise. Dies werde in der Geschichte vom Fall Adams symbolisch zur Darstellung gebracht. „Indem der Mythos den Ursprung des Bösen auf einen fernen Ahnen überträgt, enthüllt er die Situation eines jeden Menschen: Was er erzählt, hat bereits stattgefunden; ich beginne das Böse nicht; ich setze es nur fort; ich bin in das Böse hineinverwickelt; das Böse hat eine Vergangenheit; es ist seine Vergangenheit; es ist seine eigene Tradition.“ (Ebd.) Was in der Geschichte vom Fall Adams symbolisch zum Ausdruck komme, habe die Lehre von der Ur- und Erbsünde in eine theoretische Form zu gießen versucht, ohne zu dem erstrebten Erfolg gelangt zu sein. Entstanden sei vielmehr ein monströses Mischgebilde, „das einen juridischen Begriff der Zurechnung, der das Willentliche wahren soll, mit einem biologischen Vererbungsbegriff vereint, der dem Unwillentlichen, Erworbenen, Übernommenen Rechnung trägt“ (Ricoeur, Erbsünde, 161). Um den symbolischen Sinngehalt von Gen 3,1–24 wiederzugewinnen, muss nach Ricoeur das Erbsündendogma, das aus dem Mythos vom Sündenfall lehrhaft gefolgert worden sei, dergestalt dekonstruiert werden, dass sich eine doppelte Einsicht einstellt: diejenige einer spekulativ nicht behebbaren Aporie der Sünde und diejenige einer Offenheit ihrer heilsgeschichtlichen Lösung. Die Thematik christlicher Anthropologie ist seit alters in eigentümlicher Weise thematisch gedoppelt, insofern sie die Gottebenbildlichkeit und die Sünde des Menschen zugleich zu bedenken hat. „Die theologische Lehre vom Menschen hat nur ein Thema: daß der Mensch sich, wahrhaft vor sich selbst, nicht ohne Gott verstehen kann – und daß der Mensch das dennoch, sich selbst gründlich mißverstehend, tun kann: sich ohne Gott verstehen und folglich sich selbst verabsolutieren.“ (Koch, 548) Doch ist, was als das eine Thema christlicher Anthropologie bezeichnet wird, wirklich einheitlich und in einem zu denken? Als gottebenbildliches Geschöpf steht der Mensch in Entsprechung zu seinem Schöpfer, als Sünder im Widerspruch zu ihm. Lässt sich beides vereinen? Man wird diese Frage im Sinne christlicher Anthropologie weder einfachhin bejahen, noch einfachhin verneinen können, vielmehr das bestehende Problem einer inneren Widersprüchlichkeit faktischer menschlicher Existenz zu identifizieren und durch Identifikation offen zu halten haben, damit sich die Christologie in ihrer soteriologischen Wahrheit erweise. Christologie ist ohne Anthropologie nicht denkbar, wenn anders „Jesus in Person als grundlegendes und maßgebendes Bild des neuen Menschseins“ (Hegermann, 484; bei H. kursiv) gelten soll. Christologie erschöpft sich aber nicht in exemplarischer Anthropologie, sondern ist theanthropologisch auf einen soteriologischen Skopus ausgerichtet, ohne dessen Wahrnehmung die christliche Lehre vom Menschen nicht nur in einer Doppelheit verharren, sondern in einer Aporie enden müsste.
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2. Der Fall Adams im Kontext der Sündenlehren Augustins und Anselms Lit.: Anselm von Canterbury, De veritate. Über die Wahrheit (= DV). Lateinisch-deutsche Ausgabe v. F. S. Schmitt, Stuttgart/Bad Canstatt 1966. – Ders., De libertate arbitrii. Über die Freiheit des Willens (= DLA), in: ders., Freiheitsschriften. Übers. u. eingel. v. H. Verweyen, Freiburg u. a. 1994, 61–119. – Ders., De casu diaboli. Vom Fall des Teufels (= DCD), in: ders., Freiheitsschriften, 121–247. – J. Baur, Schuld und Sühne, in: ders., Einsicht und Glaube. Bd. 2, Göttingen 1994, 126–134. – A. Böhlig, Art. Manichäismus, in: TRE 22, 25–45. – J. Bolewski, Der reine Anfang. Dialektik der Erbsünde in marianischer Perspektive nach Karl Rahner, Frankfurt a. M. 1991. – W. Breuning, Die Sünde als Grundbefindlichkeit des Menschen im Angesicht Christi und seiner Gnade, in: N. Lohfink u. a., Zum Problem der Erbsünde. Theologische und philosophische Versuche, Essen 1981. – H. Denzinger, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum / Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Hg. v. P. Hünermann, Freiburg i. Br./Basel/Rom/Wien 371991 (= DH). – V. H. Drecoll (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007. – St. Ernst, Selbstwiderspruch der Freiheit. Anselms Lehre von der Ursünde in seiner Schrift „De casu diaboli“, in: ders./Th. Franz (Hg.), Sola ratione. Anselm von Canterbury (1033–1109) und die rationale Rekonstruktion des Glaubens, Würzburg 2009, 205–227. – K. Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980. – J. Gross, Geschichte des Erbsündendogmas. 4 Bd., München/Basel 1960–1972. – H. Häring, Die Macht des Bösen. Das Erbe Augustins, Zürich 1980. – H. Holze, Sünde/Schuld und Vergebung. VI. Kirchengeschichtlich und dogmengeschichtlich. 1. Alte Kirche. 2. Mittelalter und Reformation, in: RGG 47, Sp. 1881–1886. – H. Köster, Urstand, Fall und Erbsünde. In der Scholastik (Handbuch der Dogmengeschichte. Bd. II/3b), Freiburg/Basel/Wien 1979. – Chr. Levin, Das verlorene Paradies (Genesis 2–3), in: St. Gehrig/St. Seiler (Hg.), Gottes Wahrnehmungen, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 2009, 85–101. – B. Lohse, Epochen der Dogmengeschichte, Stuttgart/Berlin 21969. – J. Milton, Paradise Lost. Edited by R. Bentley, London 1732. – K. Rahner, Theologisches zum Monogenismus, in: ders., Schriften zur Theologie, Einsiedeln/ Zürich/Köln 1954, 253–322. – L. Scheffczyk, Urstand, Fall und Erbsünde. Von der Schrift bis Augustinus (Handbuch der Dogmengeschichte. Bd. II/3a[1]), Freiburg/Basel/Wien 1981. – K. Schmitz-Moormann, Die Erbsünde. Überholte Vorstellung. Bleibender Glaube, Olten/Freiburg i. Br. 1969. – K. Schöpflin, Die Bibel in der Weltliteratur, Tübingen 2011. – K.-H. Weger, Theologie der Erbsünde. Mit einem Exkurs „Erbsünde und Monogenismus“ von K. Rahner, Freiburg/ Basel/Wien 1970. – J. Ziegler, Iob 14,4–5a als wichtigster Schriftbeweis für die These „Neminem sine sorde et sine peccato esse“ (Cyprian, test 3,54) bei den lateinischen christlichen Schriftstellern, München 1985.
„She gave him of that fair enticing Fruit / With lib’ral hand: He scrupled not to eat / Against his better Kwowledge; not deceiv’d, / But fondly overcome with female charm.“ (Milton, 301 [IX, 996–999]) In dem Ende 1665 abgeParadise Lost
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schlossenen epischen Hauptwerk John Miltons (1608–1674), des bedeutendsten Dichters englischer Zunge im Gefolge reformatorischer Tradition, kann man sich in der edlen Blankversform fünffüßiger Jamben zu Gemüte führen, was es mit dem Fall der Sünde und seinen Folgen auf sich hat: Paradise Lost. Als Eva durch die Schlange verführt von den verbotenen Früchten des Baumes gegessen und ihrem Mann einen Bissen gereicht hatte, da gingen beiden, wie es in Gen 3,7 heißt, die Augen auf. Sie erkannten, dass sie nackt waren, schämten sich und scheuten Gott, der sie nach Ankündigung künftiger Mühsal vom Garten Eden wegschickte und aus dem Paradies vertrieb (vgl. im Einzelnen Schöpflin, 35 ff.). Der Fall Adams und Evas betrifft nach biblischem Zeugnis die gesamte Menschheitsgattung. Das hebräische Wort adam, das in Gen 2,7 etymologisch von adama (Erde) hergeleitet wird, steht gelegentlich für einen Eigennamen (Gen 4,25; Gen 5,1.3–5; 1. Chr 1,1), in der Regel aber für Mensch und Menschheit überhaupt, was durch die häufige Beifügung eines bestimmten Artikels unterstrichen wird. Der Protoplast kommt als Einzelmensch und Menschheitsrepräsentant zugleich in Betracht; entsprechendes gilt für Eva, die individuelle Mutter einzelner Menschen und die Urmutter des ganzen Menschengeschlechts. Der ursprüngliche Einklang des Menschen mit seinem Dasein, zu dem er sich kreatürlich bestimmt wusste, ist durch den Fall Adams und Evas dahin, das Verhältnis zum Schöpfergott, zu sich selbst und zu Mitmensch und Welt verkehrt. Die Tür zum Paradies ist hinter Adam und Eva ins Schloss gefallen, eine Rückkehr in den Urstand, den status integritatis, unmöglich. Auch wenn in Gen 3 keinerlei Anstalten gemacht werden, den Fall der Sünde rational zu erklären, so wird das Geschehen doch in äußerst feinsinniger Psychologie gestaltet. Mit Recht wurde gesagt, der Dialog zwischen Frau und Schlange sei „die ausgekochteste Szene, die man im Alten Testament finden kann“ (Levin, 94): „Schon der erste Satz trägt alles Weitere in sich: ‚Sollte Gott wirklich gesagt haben: Ihr dürft nicht essen von allen Bäumen im Garten?‘ Die Unterstellung ist absurd. Wie hätte Gott ein Gebot erlassen sollen, das dem Menschen die Lebensgrundlage verweigert! Ganz im Gegenteil stand am Beginn die großzügige Erlaubnis: ‚Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen‘ (2,16), die nur eine einzige Einschränkung erfährt: ‚Von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, von ihm darfst du nicht essen‘ (2,17). Es ist das wahrhaft Teuflische an der hypothetischen Frage, dass sie die Proportionen zwischen Gottes Güte und Gottes Verbot auf den Kopf stellt; als würde durch den Umstand, dass es jenes einzige Verbot gibt, die Großzügigkeit als Ganze in ihr Gegenteil gekehrt. Es ist eine Haltung des ‚alles oder nichts‘, die alles verdirbt: Wenn Gott das eine verbietet, ist es gerade so, als ob er alles verboten hätte; weil da nämlich überhaupt ein Verbot im Raum steht, das dem Menschen deutlich macht, dass er nicht Herr der Welt, sondern Empfänger dessen ist, was Gott ihm schenkt. Im Grunde verlangt die Gehorsamsprobe nur eines: den Unterschied zwischen Gott und Mensch anzuerkennen.“ (Levin, 94 f.) Die Anerkenntnis dieses Unterschieds, in der die Ordnung der Schöpfung und seines kreatürlichen Daseins in ihr gründet, bleibt der Mensch schuldig. Darin und in nichts anderem besteht der Fall seiner Sünde.
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Die Sage von Adam und Eva benennt keinen Grund für den Fall der Sünde. Gleichwohl umschreibt sie „den Vorgang des Zerbruchs. Zwischen die Güte des Gebers und das daraus fließende Gutsein des Empfangenden bricht die Bestreitung des göttlichen Urteils ein: ‚Sollte Gott gesagt haben?‘ Die Rückgabe im Vertrauen wird unterbrochen durch die Sorge um einen Mehrwert, den der Geber verweigere; die selbst gewählte Aneignung von Möglichkeiten soll das schöpferische Geben ergänzen. Das Begehren, in sich selbst zu sein, wie die Gottheit! soll die zugemutete Endlichkeit ablösen.“ (Baur, 133) Durch den Sündenfall der Ureltern des Menschengeschlechts verkehren sich die im paradiesischen Urstand herrschenden Umstände grundstürzend und zwar im Verhältnis beider zu Gott, zu sich selbst und zu ihrer Umwelt. Die Auflehnung gegen die gute Ordnung und das väterliche Gebot des Schöpfergottes auf Geheiß der Schlange hat die Entfremdung von ihm zur Folge: „Als sie Gott, den Herrn, im Garten gegen den Tageswind einherschreiten hörten, versteckten sich Adam und seine Frau vor Gott, dem Herrn, unter den Bäumen des Gartens.“ (Gen 3,9) Auch ihre Beziehung untereinander und zu sich selbst wird korrumpiert; sie schämen sich, wie gesagt, ihrer Nacktheit, die ihnen vorher nicht als Blöße erschien. Insgesamt ist die leibhafte Welt nicht mehr wie sie ursprünglich war: Schwangerschaftsbeschwerden und schmerzliche Geburtswehen belasten Eva, und Adam muss im Schweiße seines Angesichts auf dem mit Dornen und Disteln gespickten Acker sein tägliches Brot verdienen. Zum Staub, aus dem er genommen wurde, soll er zuletzt wieder werden. In Übereinstimmung mit dem biblischen Zeugnis Status corruptionis betont die kirchliche Tradition, dass Adam und Eva an ihrer Vertreibung aus dem Paradies selbst schuld sind, auch wenn sie die Schuld am Fall der Sünde von sich weg schieben: Eva auf die Schlange, Adam auf Eva. Die Ursprungssünde ist kein fatales Geschick und Verhängnis, das am Ende gar auf Gott zurückzuführen wäre, sondern unter diabolischem Einfluss durch den verkehrten Willen des Menschen bzw. durch menschliche Willensverkehrung gewirkt. Entsprechend ist die Sünde von einem bloß naturhaften Übel strikt zu unterscheiden, so sehr gemäß biblischer Kunde ein verborgener Zusammenhang zwischen beiden besteht. Hat der status integritatis primär als ein status rectitudinis et iustitiae zu gelten, so ist die Verdorbenheit und Verderbnis des status corruptionis vor allem der Sünde zuzurechnen, die das Recht auf rechtswidrige Weise beugt und statt Gerechtigkeit Ungerechtigkeit gegen Gott, Mensch und Welt übt. Zwar hat der Fall der Sünde auch gleichsam naturhafte Implikationen und Folgen, wie denn auch die Paradiesesvorstellung mit Gartenassoziationen und Assoziationen heiterer Natur versehen ist. Doch trat das Unheil der Paradiesesvertreibung mitsamt allen damit verbundenen Übeln nicht in Form einer Naturkatastrophe, sondern auf schuldhafte Weise ein. Darin stimmen die christlichen Theologien des Ostens und des Westens im Grundsatz überein, auch wenn die Akzente anders gesetzt werden. Auch Übel sind schlecht und, insofern sie schlecht
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sind, böse zu nennen. Gleichwohl ist der Abgrund des Bösen durch den Fall der Sünde bezeichnet, deren Schuld den Inbegriff von Bosheit und Schlechtigkeit ausmacht. Die Lehre vom Schlechten und Bösen ist daher in erster Linie als Sündenlehre zu entfalten, so sehr die Lehre von den Übeln in den hamartiologischen Kontext gehört. Dieses Vorgehen korrespondiert dem Verfahren der Schöpfungstheologie insofern, als diese zwar in der Regel bei der Weltschöpfung ihren Ausgang nimmt, diese aber auf die Erschaffung des Menschen hinordnet und damit die Anthropologie zum Skopus schöpfungstheologischer Kosmologie erklärt. Nach Gen 1,27 hat Gott den Menschen als Mann und Frau zu seinem Ebenbild geschaffen. Dass Adam und Eva auch nach dem Fall ihrer Sünde Geschöpfe Gottes zu nennen sind, ist innerhalb christlicher Theologie auch dort nicht bestritten worden, wo die Totalität sündiger Verkehrung hervorgehoben und betont wurde, durch den Sündenfall seien menschliche Natur und menschliches Wesen ganz verdorben worden und verderbt. Differenzierungsmöglichkeiten bezüglich der postlapsarischen Verfasstheit des Menschen bot die griechische Übersetzung der in Gen 1,27 begegnenden Terminie zelem und demut, welche die Septuaginta mit eikon und homoiosis, lateinische Bibelausgaben mit imago und similtudo widergaben. So konnte auf der einen Seite die auch unter postlapsarischen Bedingungen erhaltene Geschöpflichkeit Adams und Evas mit einem verbleibenden imago-Rest erklärt und auf der anderen Seite die Abgründigkeit des Sündenfalls mit Hinweis auf den Verlust der similitudo bzw. auf die Unterbrechung des Prozesses der Angleichung an Gott erläutert werden, zu welcher der Schöpfer sein Menschengeschöpf ursprünglich bestimmt hatte. Mögliche Zusatzdifferenzierungen ergaben sich, wenn man die Unterscheidungspotentiale der Ebenbildlichkeitsterminologie mit der komplexen Thematik von Natur und Übernatur, Wesen und Gnade etc. kombinierte. In der Scholastik wurden Kombinationen dieser Art bis zur Ausschweifung hin genutzt; über die Gründe ihrer Ablehnung in reformatorischer Theologie wird noch zu handeln sein. Mit der biblischen Geschichte von der ErschafMonogenismus versus fung Adams und Evas und ihrem Sündenfall ist Polygenismus traditionell die Lehre des sog. Monogenismus verbunden, derzufolge alle Menschen vom Urelternpaar abstammen, die beide als geschichtliche Personen vorgestellt werden, welche Gott ohne Vermittlung durch vorhergehende Generationen hervorgebracht habe: Adam zunächst und durch Eingriff in ihn dann auch Eva. Erst in der Folge kamen nach monogenistischer Auffassung die Menschen auf gewissermaßen natürliche Weise auf die Welt, nämlich durch geschlechtliche Fortpflanzung. In Form der Urelternschaft sind Adam und Eva dem Menschengeschlecht genuin verbunden; zugleich unterscheiden sie sich von allen anderen Menschen ursprünglich und grundsätzlich durch ihre Entstehung. Die Genesis Adams und Evas ist anderer Art als der generative Hervorgang aller Folgegenerationen der Menschheit. Im christologischen Kontext begegnet eine in gewisser Hinsicht vergleichbare Konstellation, sofern Jesus Christus durch seine Mutter Maria in den Zusammenhang der Menschheitsgenerationen
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gehört, ihm aber durch die supranaturale Weise seiner Empfängnis zugleich entzogen ist. Die Adam-Christus-Typologie setzt diese Vergleichbarkeit formal voraus, um materialiter den zweiten Adam als eschatologischen Versöhner dem ersten als protologischen Sünder antitypisch zu kontrastieren. Interessant ist ferner, welche hamartiologischen und insbesondere erbsündentheologischen Perspektiven sich aus dem römisch-katholischen Dogma der immaculata conceptio Mariens ergeben. Soll doch durch die unbefleckte und jungfräuliche Empfängnis der Gottesmutter ein „reiner Anfang“ (vgl. Bolewski, bes. 88 ff.; 282 ff.) gesetzt sein, der einerseits konstitutiv auf die Inkarnation des Logos bezogen ist, andererseits auf das ursprüngliche Beginnen des Menschengeschlechts rückverweist. Nimmt man das assumptio-Dogma hinzu, dann werden Horizonte erschlossen, die von der Schöpfungstheologie über die Hamartiologie und Soteriologie bis hin zur Ekklesiologie und Eschatologie reichen. Zurück zum ersten Adam: durch ihn sollen nach traditioneller Erbsündenlehre alle natürlich geborenen Menschen in den Fall der Sünde hineingezogen und vor allen eigenen sündigen Einzeltaten schuld geworden sein. Als kanonischer Beleg wurde vorzugsweise die Vulgataübersetzung von Röm 5,12 angeführt, wonach in Adam alle gesündigt hätten (in quo omnes peccaverunt). Diese Wiedergabe des Urtexts hat sich als irrig erwiesen. Stärker indes fällt die neuzeitliche Krise der Mongenismustheorie ins Gewicht, welche lange Zeit die problemlose Prämisse des Dogmas bildete, wonach die Sünde durch einen Menschen in die Welt gekommen und durch ihn auf das ganze Menschengeschlecht übergegangen sei (DH 372: per unum hominem in omne genus humanum transiisse). Obwohl die römische Bibelkommission noch im 20. Jahrhundert ein wirkliches und historisches Verständnis der drei ersten Kapitel des Buches Genesis für verbindlich erklärte (vgl. DH 3512–3519), hat die Kritik der Vorstellung einer Abstammung aller Menschen von einem ersten Menschenpaar und einer Sünde aller in Adam seit langem auch in der katholischen Theologie ebenso Eingang gefunden wie evolutionstheoretisches Denken im Stile Teilhards de Chardin (vgl. Schmitz-Moormann). Gemäß der bereits im 17. Jahrhundert vertretenen Präadamitenthese war Adam nach biblischem Verständnis allein der Stammvater Israels, sodass mit anderen Menschen und Völkern vor und neben ihm zu rechnen sei. Der sog. Polygenismus führt das Menschengeschlecht auf eine Vielzahl von Stammeltern zurück, wobei die Frage, wie es zu dieser Vielfalt gekommen sei, unterschiedlich beantwortet wird. Mittlerweile wird auch von vielen katholischen Theologen die moderne Vorstellung geteilt, wonach sich die Hominisation in Form eines allmählichen Übergangs von den Hominiden, einer menschenartigen Familie im System der Primaten, zum homo sapiens als dem jetztzeitlichen Menschentyp und seinen abstammungsmäßigen Vorformen vollzogen habe; die Anthropogenese stellte demnach kein momentanes Ereignis, sondern einen Vorgang dar, der sich über Jahrtausende oder gar -millionen erstreckte. Über die theologischen Implikationen dieser empirischen Annahme ist hier nicht zu befinden. Festgehalten sei lediglich die mittlerweile häufig vertretene Ansicht, wonach „der biologische Monogenismus, wie
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auch die Übertragung der Erbsünde durch die Zeugung, nicht zur definierten Lehre der Kirche gehört, ja selbst eine einmalige Funktion ‚Adams‘ (wenn sie innerhalb einer Population gedacht wird) für das Heil oder Unheil der Gesamtmenschheit nicht in der von der traditionellen Lehre verstandenen Weise ausgesagt ist“ (Weger 53). Zwar sei der Monogenismus in der überlieferten Erbsündentheologie üblicherweise vorausgesetzt worden; doch schließe dies nicht aus, dass „ein biologischer Polygenismus mit den Grundaussagen katholischer Erbsündenlehre grundsätzlich vereinbar sei“ (Weger, 74): „Die genealogische Abstammung von einem einzigen Stammelternpaar gehört . . . nicht zu den unaufgebbaren Voraussetzungen katholischer Erbsündenlehre.“ (Weger, 107) Auch wenn, wie etwa Karl Rahner annimmt, die Monogenismusidee als Ausdruck der Arteinheit des Menschengeschlechts und der irreduziblen Wesensnatur des Menschen nicht nur ihre metaphysische Richtigkeit besitze, sondern als generell unverzichtbar zu gelten habe, so sei unter Adam doch nicht so sehr ein im zeitlich-zahlenmäßigen Sinne erster, sondern der menschheitliche Mensch schlechthin zu verstehen, der in Gott seinen Individuum und Gattung umfassenden Ursprung habe. Als der ursprüngliche Mensch stehe Adam für die differenzierte Einheit von Individualität und Menschenwesen, ohne mit einem empirisch-biologisch ohnehin nicht fassbaren Anfangsmenschen gleichgesetzt werden zu können. Adam ist samt seiner Eva „die transzendente durch Gott gesetzte Menschheit, so sehr er Individuum ist; er ist der Ursprung, nicht bloß der Anfang der Menschheit; die geschaffene Quelle, nicht bloß der erste Tropfen aus einer Quelle, die hinter der Menschheit in Gott läge“ (Rahner, 320). Wie immer man Karl Rahners metaphysisch-theologische Fassung der Theorie des Monogenismus zu beurteilen hat: ein biologisches Verständnis des Begriffs gehört nach weithin geteilter Überzeugung nicht zu den definitiven Beständen römisch-katholischer Lehre. Erbsündentheologisch ergibt sich hieraus, dass das peccatum originale primär nicht im anfänglichen, sondern in jenem ursprünglichen Sinne zu verstehen ist, der die humane Phylo- und Ontogenese insgesamt betrifft. Die Sünde Adams ist jedermanns Sünde und zwar so, dass die persönliche Schuld an ihr nicht zu trennen ist von einem Herkommen, in dem sich der Mensch immer schon vorfindet, ohne durch besagte Vorfindlichkeit bezüglich seiner Sünde entschuldigt zu sein. Was im individuellen Fall gilt, gilt allgemein, weil es für jeden Einzelnen zutrifft: Er ist für sein Jedermanns Sünde Herkommen aus dem Menschengeschlecht, das zu seiner Wesensnatur gehört, generell verantwortlich, auch wenn ihm seine genealogische Herkunft im ursächlichen Sinne nicht zugerechnet werden kann. Hamartiologisch folgt daraus, dass die Sünde des Einzelnen immer schon in einem sündigen „Erb“-Zusammenhang steht, wodurch sie nicht entschuldigt wird, sofern die individuelle Sünde just jene Verkehrtheit reproduziert, die das adamitische Menschengeschlecht insgesamt kennzeichnet. Obwohl seiner persönlichen Entscheidung nicht nur chronologisch, sondern im prinzipiellen Sinne einer verkehrten Ausgangslage vorgegeben, ist der Einzelne für die elementare Situation, in welcher
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er sich befindet, doch unbeschadet ihrer Herkünftigkeit insofern verantwortlich, als diese die seine ist und zwar nicht nur im äußerlichen, sondern im innerlichen Sinn. Nicht lediglich durch äußere Nachahmung eignet sich der Einzelne die Verkehrtheit der Verhältnisse und des Verhaltens an, in denen er sich vorfindet. Er hat vielmehr sein Innerstes durch das peccatum haereditarium schon vor jedem Versuch äußerer Imitation dergestalt in Beschlag nehmen lassen, dass das menschheitsgeschichtliche peccatum originale zu seiner Ursünde und zum verkehrten Grund aller seiner Aktualsünden geworden ist. Das Unheil der Herkunftssünde bestimmt ihn nicht nur fremdursächlich, weil er sich von ihr gerade in dem, was er an sich selbst ist, bestimmt sein lässt. So ist die Sünde Adams, obwohl ursprungsverschieden, doch im Grunde seine eigene, so dass zu sagen ist: „Wo es persönliche Schuld gibt, muss es auch Erbsünde geben“ (Weger, 107) und umgekehrt. Mit dieser steilen These sind die Lehre vom peccatum originale bzw. haereditarium und zugleich das Problem auf den Punkt gebracht, das sich jenseits von Übersetzungsfragen und Monogenismustheorie im Kern mit ihr verbindet. Zeitigt eine Hamartiologie, welche die sündige Verkehrtheit der Person radikal, nämlich so denkt, dass durch sie nicht nur Äußerungen der Person, sondern deren Personalität an sich selbst betroffen wird, nicht zwangsläufig ebenso entmoralisierende wie demoralisierende Folgen? Schon gegen die Monogenismusthese wurden außer naturwissenschaftlichen immer auch andere, gravierendere Bedenken geäußert. Es sei unangemessen, die Einheit der Menschheit und ihren Zusammenhang primär genetisch zu bestimmen; das Menschsein des Menschen und der Begriff der Menschheit seien im Wesentlichen geschichtlich und nicht naturhaft vermittelt. Unstatthaft sei insbesondere die Annahme einer vererbten, also auf natürlichem Abstammungswege auf alle Menschen überkommene Adamssünde. Eine Erbsünde sei allenfalls fatales Gattungsgeschick, nicht aber ein strafwürdiges Vergehen schuldhafter Art. Selbst unter Voraussetzung der Monogenismusthese könne die Sünde Adams seinen Nachkommen billigerweise nicht als Schuld zugerechnet werden. Wenn sie die imputative Zurechnung des adamitischen Sündenfalls mit der göttlichen Vorhersehung und der Einwilligung aller Menschen in ihn begründe, bestätige die Kirchenlehre nur die Verlegenheit der Erbsündenlehre statt sie zu beheben. In seiner vierbändigen „Geschichte des Erbsündendogmas“, auf die zu Beginn des nächsten Abschnitts genauer Bezug genommen wird, hat J. Gross dessen Genese und Niedergang detailliert und in der kritischen Perspektive der Moderne zur Darstellung gebracht. Bei aller Berechtigung der Kritik darf freilich nicht übersehen werden, dass die Vererbung der Sünde Adams auf dessen Nachkommen kaum je im biologisch-biologistischen Sinne verstanden wurde. Es ist weniger der naturhaft-äußere, sondern der innere Zusammenhang des Menschengeschlechts mit dem Ursünder Adam, auf den sich das Interesse christlicher Hamartiologen von Anfang an richtete. Die förmlichen Definitionen der Erbsündenlehre bilden darin keine prinzipielle Ausnahme. Mit gewisser Berechtigung kann gesagt wer-
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den, „daß die Transmission biologischer Art nicht zur Wesensaussage des Dogmas gehört“ (Scheffczyk, 21). Insofern relativiert sich auch dessen Bindung an die sog. Monogenismustheorie. Tatsächlich wurde die Lehre von der biologischen Abstammung und historischen Abkunft aller Menschen von einem geschichtlichen Urmenschenpaar selbst niemals förmlich dogmatisiert. Dass sie nach lange gültiger lehramtlicher Auffassung eine notwendige Voraussetzung des Erbsündendogmas darstellte, wird sich hingegen schwerlich bestreiten lassen. Heute wird diesbezüglich in der römisch-katholischen Kirche auch offiziell anders geurteilt, was der biblische Befund insofern nahelegt, als Adam in der Urgeschichte der Genesis nicht nur als individueller Einzelmensch, sondern als korporative Urperson vorstellig wird, welche die ganze Menschheitsgeschichte in sich fasst. Die Universalität des peccatum originale, auf das es der Erbsündenlehre im Wesentlichen ankam, kann daher festgehalten werden, ohne mit Erbvorstellungen operieren zu müssen. Die Sünde darf nach allgemeinchristlichem Wider Manichäismus und Urteil weder theologisch überhöht und in dualistiPelagianismus scher Manier auf ein gottgleiches Ursprungsprinzip zurückgeführt, noch in ihrer gottwidrigen Abgründigkeit unterschätzt werden. Eine unstatthafte Überhöhung läge grundsätzlich dann vor, wenn mit dem Fall der Sünde nicht nur der Verlust urständischer Gerechtigkeit, sondern derjenige des Geschöpfseins des Sünders überhaupt verbunden würde. Hingegen liefe die Annahme eines Verbleibs von soteriologischen Eigenmöglichkeiten des gefallenen Menschen, sich selbsttätig und von sich aus zu seinem Heil zu bestimmen, auf eine verharmlosende Unterschätzung der Sünde hinaus. Damit sind zwei Grenzen markiert, die für christliche Sündenlehre insgesamt bestimmend sind: Die eine Grenzziehung erfolgt gegenüber einem Verständnis, welches die Sünde ein bloßes Naturgeschick oder eine metaphysische Notwendigkeit sein lässt, die andere richtet sich gegen die Annahme, sündige Verkehrtheit sei durch sittliche Anstrengung mehr oder minder zu vermeiden oder zu überwinden. Die erste Abgrenzung wurde insbesondere in Abwehr manichäischer Irrlehren, die zweite in antipelagianischer Absicht vor allem von Augustin und in seinem Gefolge vollzogen. Schon die christlichen Gnostiker hatten die Sünde durch Verweis auf die Materiebindung des Menschen, welche einem dem wahren Gott entgegengesetzten Demiurgen anzulasten sei, tendenziell zu einem beklagenswerten metaphysischen Schicksal erklärt. Die Manichäer haben diese Tendenz auf ihre Weise weiterverfolgt, indem sie „das Tun des Bösen als Naturnotwendigkeit deuteten“ (Holze, 1882). Im Hintergrund stand wie im Gnostizismus ein Prinzipiendualismus, der die Herkunft von Licht und Finsternis, Gut und Böse „durch Annahme zweier sich von Anfang an gegenüberstehender Reiche“ (Böhlig, 31) löste. Die altkirchliche Theologie trat dem mit der Betonung der Einheit und Ursprungsgüte der Schöpfung, dem Verweis auf die gottebenbildliche Bestimmung des Menschen und mit der These entgegen, der Sünder sei an seinem Fall selbst schuld, weil Sünde kein fatales Geschick, sondern einen vernünftigen Willen als Verfehlung zuzurechnen sei.
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Unbeschadet aller Ansätze zu einer spekulativen Ausgestaltung der Hamartiologie, wie sie sich beispielsweise in der Vorstellung eines Engelsturzes oder in der von Origenes vertretenen Annahme eines vorzeitlichen Sündenfalls durch freie Tat intelligibler Wesen zeigten, blieb in der Alten Kirche die Überzeugung grundlegend, dass die Sünde des Menschen seinem absichtlich vom Gottesgebot abweichenden Willen zuzurechnen sei. Unstrittig war dabei, dass dem Menschen das Halten der göttlichen Gebote und die Erfüllung seiner geschöpflichen Bestimmung nicht ohne den Beistand Gottes möglich sei. Dies änderte indes nichts daran, dass die Schuld der Sünde auf ein willentliches Vergehen des Menschen zurückgeführt wurde, dessen Entscheidungsfreiheit ihm grundsätzlich durchaus ermöglicht hätte, anders zu handeln, als im Falle der Sünde faktisch geschehen. Auch wenn sie all sein Vernunft- und Willensvermögen in ihren Bann schlägt, ist Sünde zurechenbare Schuld des Menschen, die von fatalem Naturgeschick klar unterschieden werden muss. Der Fall Adams und die Folgen seiner Ursünde sind nach Urteil traditioneller christlicher Hamartiologie keine bloßen Übel und naturhafte Missgeschicke, sondern schuldhaft zurechenbar, so abgrundtief und das ganze menschliche Dasein umfassend die sündige Verkehrung auch ist. An zwei klassischen Sündenlehren der westlichen Christenheit sei diese Grundannahme paradigmatisch verdeutlicht, an derjenigen Augustins, der die okzidentale Hamartiologie wohl am nachhaltigsten geprägt hat, und an derjenigen Anselms von Canterbury. Der eine markiert den „Übergang von der Antike zum Mittelalter“ (Flasch, 10; vgl. 403), der andere steht am Anfang der mittelalterlichen Scholastik, als deren ingeniöser Initiator und Motivator er fungiert. Was Augustin betrifft, so fand er über das Studium von Cicero, Aristoteles und der stoischen Schultradition sowie im Durchgang durch eine manichäische und anschließende skeptische Phase zu Platon und zum Platonimus plotinischer Prägung, dessen Gedankengut er auch nach seiner „Bekehrung“ von 386 unter Bedingungen wachsender Bindung an Bibel und kirchliche Tradition pflegte. Die Akzente verlagern sich gegenüber den Frühschriften, aber das antike Erbe bleibt erhalten, wenngleich, wenn man so will, in paulinisch gebrochener bzw. durch wachsende Konzentration auf die Sünden- und Rechtfertigungsthematik gewandelter Form. Dass seine Hamartiologie und Gnadenlehre den in Augustins Hamartiologie der Antike entwickelten Begriff der sittlichen Persönlichkeit zerstört (vgl. Flasch, 198) und dem Bösen „gerade in dessen Überwindung ein endgültiges Recht“ (Häring, 277) gewährt habe, wird man schwerlich sagen können. Richtig allerdings ist, dass Augustin transmoralische Aspekte der christlichen Religion neu erschloss, die im antiken Christentum eher in den Hintergrund getreten waren und erst im Mittelalter im allgemeinen Glaubensbewusstsein wieder zum Vorschein kamen. Luthers Frage nach dem gnädigen Gott, die seine gesamte Theologie umtreibt, ist ohne Augustin und seine mittelalterliche Wirkungsgeschichte nicht denkbar. Ebensowenig kann die tridentinische Hamartiologie und Soteriologie ohne den Augustinis-
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mus verstanden werden. Bis in die Gegenwart hinein bildet er „eine intellektuelle Grundlage der großen christlichen Konfessionen“ (Flasch, 218) zumindest des Westens, wobei es durchaus seine Richtigkeit hat zu sagen, die historische Relativität der Wirkung Augustins habe in derjenigen seines Werkes seinen inneren Grund. Die Hamartiologie Augustins gewinnt ihr eigentümliches Profil durch eine doppelte, wenngleich wechselnde Frontstellung. In antimanichäischer Absicht vertrat er anfangs die Auffassung, die Sünde gründe in einer Abkehr des menschlichen Willens von Gott, die sich unter der Voraussetzung gegebener Entscheidungsfreiheit auch hätte vermeiden lassen. Von der Unvermeidlichkeit der Sünde für alle Adamskinder überzeugte er sich erst im Vorfeld und im Verlauf seiner Auseinandersetzungen mit Pelagius und dessen Anhängern. Pelagius war gewiss, dass Gott vom Menschen unmöglich etwas verlangen könne, was dieser grundsätzlich nicht zu leisten vermöchte. Des Weiteren lehnte er die Annahme möglicher Zurechnung eines Vergehens als ungerecht ab, welches der betreffende Mensch nicht selbst begangen habe. Die Vorstellung einer auf dem Wege der Fortpflanzung erfolgten Vererbung einer adamitischen Ursünde galt ihm als inakzeptabel. Zwar bestritt Pelagius nicht, dass Adam auf die nachfolgenden Generationen einen schlechten Einfluss ausgeübt habe. Zugerechnet werde die Verfehlung Adams aber nur ihren Nachahmern. Dabei bleibe den Adamskindern die Freiheit unbenommen, dem üblen Vorbild ihres Stammvaters nicht zu folgen; andernfalls hätten die Forderungen des Gesetzes, das auf freiwillige Gehorsamsleistung angelegt sei, keinen Sinn. Nicht dass der Mensch zur Leistung der gebotenen Werke nach Pelagius nicht der Gnade Gottes bedürfte, für die bereits die geschöpfliche Vernunftbegabung des Menschen ein Zeichen sei. Auch zur Sündenvergebung sei Gott nach biblischem Zeugnis gerne bereit, aber zum Zwecke der Abkehr von der Verkehrtheit der Sünde und auf Besserung hin, welche die Erfüllung der Gebote erstrebe, für die Jesus Christus in Wort und Tat ein überragendes Beispiel gegeben habe. „Kann denn ein Reiner von Unreinem kommen?“ Mitnichten: Kein Reiner kann von Unreinem kommen, keiner, auch nicht einer. Alles, was von Unreinem herrührt, ist selbst unrein und nicht rein. Wie immer man den ursprünglichen Sinn der im hebräischen Text eher deplatziert wirkenden Stelle exegetisch zu beurteilen hat, „von den griech. und lat. Vätern . . . ist Iob 14,4–5a als Hauptbeleg für die Erbsünde verwendet worden“ (Ziegler, 6). Dies gilt besonders für Augustin, der wie kein anderer vor ihm der Erbsündenlehre in antipelagianischer Absicht ihr schroffes Profil verlieh. Doch bedarf es der Differenzierung, um fatal-fatalistische Missverständnisse zu vermeiden, die durch die Schärfe der augustinischen Argumentation nicht selten provoziert worden sind. Entscheidend ist die Einsicht in den gnadentheologischen Grund der Erbsündenlehre des Bischofs von Hippo. Wie für Pelagius ist Jesus Christus auch für Augustin ein Exempel, an dem sich Christen ein Vorbild zu nehmen haben. Aber nach seinem Urteil erschöpft sich die Sendung des Gottmenschen nicht darin, ein Beispiel der Nachahmung zu geben; sie findet ihre Erfüllung vielmehr in der Wirkung unverdienter Gnade,
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deren offenbarer Grund in der Person des auferstandenen Gekreuzigten beschlossen und im Hl. Geist durch Wort und Sakrament erschlossen ist. Augustins antipelagianische Sündenlehre korrespondiert dieser christologisch-soteriologischen Einsicht. Anders als den Manichäern galt ihm die Sünde keineswegs als naturhaftes Geschick und fatales Verhängnis. Sie ist seinem Urteil zufolge vernunftwidrige Willensverkehrung und betrifft mitnichten nur oder auch nur zuerst die menschliche Sinnlichkeit. Zwar kann Augustins sog. Erbsündenlehre und die Funktion, die er in ihrem Zusammenhang geschlechtlicher Begierde zudachte, einen gegenteiligen Eindruck erwecken. Doch darf nicht verkannt werden, dass sein Konkupiszenzbegriff weit mehr umfasst als sinnliche Begierde. Es wäre daher eine unstatthafte Verharmlosung der Augustinischen Auffassung, das sündige „Erbe“ Adams nur unter äußerlichen Gattungs-, um nicht zu sagen: Begattungsgesichtspunkten zu bewerten. Der „Vater der Erbsünde“ (Häring, 183) verstand diese nicht nur und auch nicht primär unter biologischen Zeugungsaspekten. Die menschliche Generationenfolge ist geschlechtVater der Erbsünde lich vermittelt und ohne sexuelle Betätigung nicht zu erhalten. Daraus zieht Augustin den hamartiologischen Schluss, dass die Sünde im Medium geschlechtlicher Begierde fortgezeugt werde. Doch ist der Fortpflanzungsgesichtspunkt ein eher äußerlicher Aspekt seiner sog. Erbsündenlehre, deren innerer Skopus auf die Identifikation einer grundverkehrten Gesamtausrichtung menschlicher Existenz zielt, für welche der Protoplast den Prototyp abgibt. Die Existenzform, in der sich jeder Repräsentant der Menschheitsgattung und ihrer Generationen vorfindet, ist durch eine Grundverkehrtheit bestimmt, aus der sich niemand aus eigenen Kräften zu befreien vermag, obwohl sie – als den eigenen Willen samt allem Vernunftvermögen betreffend – schuldhaft zuzurechnen ist. Keiner kann von sich aus beheben, was peccatum originale heißt. Dazu ist nur Gott in seiner Gnade fähig, wie sie in Jesus Christus kraft des Hl. Geistes gegeben ist. Vermöge der göttlichen Gnade und durch sie allein geschieht, was kein Mensch durch sich selbst zu leisten vermag: Bekehrung des durch Abkehr vom göttlichen Grund in sich verkehrten menschlichen Willens und Befreiung menschlicher Vernunft von sinnwidriger Unvernunft, damit sich die aus Gnade zu sich selbst befreite Freiheit des Menschen leibhaft und in Bezug zur sinnlichen Welt ihrer Bestimmung gemäß realisiere. Augustins Hamartiologie ist ein Korrelat seiner gnadentheologischen Soteriologie und ohne Wahrnehmung dieses Bezugs nicht zu verstehen. Eine einheitliche und systematisch durchentwickelte Theorie der Sünde hat er in keiner seiner Werke vorgetragen. Als Kennzeichen, das ihr Unwesen auf schöpfungswidrige Weise charakterisiert, gilt ihm zusammen mit der concupiscentia insbesondere der triebhaft nach Selbstvergottung strebende amor sui, welcher die causa deficiens abgründiger Selbstverfehlung und die destruktive Ursache aller Vergehen darstellt, die sich der Mensch Gott, sich selbst sowie Mitmensch und Welt gegenüber zuschulden kommen lässt. Ursprünglich ganz zum Guten bestimmt und befähigt,
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nicht zu sündigen (posse non peccare), befindet sich der Mensch unter postlapsarischen Bedingungen, die seine Existenz nicht nur äußerlich, sondern im Innersten prägen, in der Lage, nicht nicht sündigen zu können (non posse non peccare). Zwar hebt das gänzliche Unvermögen, die Sünde zu vermeiden, deren Schuldcharakter nicht auf, weil der Mensch auch als Sünder seiner geschöpflichen Bestimmung verbunden und verpflichtet bleibt. Eine Substantiierung des Bösen oder seine Hypostasierung zu einer metaphysischen Ursprungsgröße von prinzipieller Widergöttlichkeit lehnt Augustin entschieden ab. Alles substantiell Seiende ist an sich gut, das Böse privatio boni, welches seine gott- und seinswidrige Macht nicht ohne menschliche Einwilligung entfalten kann. Doch sobald diese erfolgt und der Mensch dem Bösen willfährig geworden ist, ist seine Willensfreiheit ihm gegenüber dahin, und die entfesselte Macht des Bösen bewirkt im Menschen eine zwanghafte Notwendigkeit zu sündigen. Die Zwangsnotwendigkeit zu sündigen ist nicht von äußerer Art wie ein übles Naturgeschick, von welchem man sich gegebenenfalls innerlich distanzieren kann; sie ist vielmehr im inneren Unwesen der Sünde und in jener Widrigkeit begründet, die alles einschließlich des menschlichen Freiheitsvermögens von Grund auf verkehrt mit der Folge, dass der Täter des Bösen ipso facto durch seine eigene Tat besessen wird. Ihr charakteristisches Format hat Augustins in Grundzügen skizzierte Hamartiologie im Verein mit seiner Gnadenlehre erst im sog. pelagianischen Streit angenommen (vgl. Drecoll [Hg.], 488 ff.). Ob bzw. inwiefern die Lehre von Sünde und Gnade des antipelagianischen Augustins mit derjenigen seiner Frühzeit übereinstimmt, ist in der Forschung umstritten. Dass er in seiner Auseinandersetzung mit dem Manichäismus, dem er anfangs selbst nahe stand, andere Akzente setzte und zu Einschätzungen gelangte, die er später selbst als irrtümlich bezeichnete, ist unbestreitbar. Von einer Rückkehr des antipelagianischen Augustins zum Manichäismus seiner Anfänge (vgl. Flasch, 28 ff., 104 ff., 186 ff.) kann dennoch nicht die Rede sein. Seine Sünden- und Gnadenlehre, wie er sie seit den Auseinandersetzungen um die Kindertaufe in Karthago 411–413, im Streit um die Rechtgläubigkeit des Pelagius 414–418 und in den fortgesetzten Differenzen mit Bischof Julian von Eclanum ab 418 ausgebildet hat (vgl. Drecoll [Hg.], 179 ff.), versucht unzweifelhaft eine Stellung jenseits des Gegensatzes von Manichäismus und Pelagianismus zu beziehen. Seiner Selbsteinschätzung zufolge ist Augustin nicht nur Antipelagianer, sondern er bleibt als Antipelagianer zugleich Antimanichäer. Ein abschließender Blick auf einzelne Werke seines antipelagianischen Schrifttums kann das Recht dieser Selbsteinschätzung unter der Voraussetzung bestätigen, dass man die gnadentheologische Perspektive stetig im Blick behält, welche die hamartiologische Ansicht bestimmt. Am Schluss des Prologs seiner Retractationes, Antipelagianisches die man die Confessiones seines Greisenalters Schrifttum genannt hat, ermahnt Augustin seine Leser, sie möchten ihn nicht in seinen Irrtümern, sondern in seinen Fortschritten zum Besseren hin nachahmen: „inveniet enim fortasse, quomodo scribendo profecerim,
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quisquis opuscula mea ordine, quo scripta sunt, legerit. Quod ut possit, hoc opere, quantum potero, curabo, ut eundem ordinem noverit.“ (CSEL [= Corpus sciptorum ecclesiasticorum Latinorum] 36,10,8–11) Grundlegend für Augustins antipelagianische Positionierung ist seine Schrift „De peccatorum meritis et remissione et de baptismo parvulorum“ (CSEL 60,3–151), deren Endfassung 413 fertiggestellt wurde. Sie enthält wesentliche Aussagen zur Erbsünde und zur Adam-Christus-Typologie. Einen thematischen Neuansatz wählten die nachfolgenden Werke „De spiritu et littera“ (CSEL 60,155–229) und „De natura et gratia“ (CSEL 60, 233–299), indem sie die Beziehung von Sünde und Gnade mit derjenigen von lex operum und lex fidei in Verbindung brachten, um die gänzliche Unfähigkeit des postlapsarischen Menschen zu erweisen, durch Werke des Gesetzes Gerechtigkeit vor Gott zu erlangen. Der Mensch hat durch den Fall der Sünde alles soteriologische Eigenvermögen verloren. Heil zu vermitteln vermag einzig und allein Jesus Christus. Während das Gesetz Gottes gebietet, nicht zu begehren, folgt Sünde der Begehrlichkeit, um sich zu gebotswidrigen Taten hinreißen zu lassen. Was es mit der Begierde näherhin auf sich hat, ist in den beiden Ende 418/Anfang 419 entstandenen Büchern „De nuptiis et concupiscentia“ (CSEL 42,211–319) ausgeführt worden. Sündige Konkupiszenz ist nach Augustin nicht identisch mit sinnlicher Lust, sondern in vielerlei Formen des Begehrens wirksam, etwa in gierigem Streben nach sozialer Anerkennung und Ehre. Doch ist es nach seinem Urteil die concupiscentia carnalis geschlechtlichen Begattungsdrangs, mittels derer sich das peccatum originale von Adam her durch alle Generationen hindurch als Erbsünde fortzeugt, um die Natur aller Adamskinder zu verderben. Errettung aus der universalen Verderbnis, welcher die ganze natürliche Menschheitsgattung durch Schuld der Adamssünde verfallen ist, kann nach Augustin nur das Sakrament der Taufe vermitteln, durch welches Gott in der Kraft seines Hl. Geistes die Gnade Jesu Christi zeichenhaft wirksam werden lässt und aus verlorenen und verdammten Menschenkindern Kinder Gottes macht. Kurz und bündig umschrieben hat Augustin die Wirksamkeit der Gnade in einem Brief an den späteren römischen Bischof Sixtus aus dem Jahr 418: „Die Gnade sei unverdient. Sie allein bewirke Glauben, vorgängig zur menschlichen Willensfreiheit, und zwar nur in denen, die Gott dazu vorherbestimmt habe. Die menschliche Willensfreiheit an sich sei machtlos.“ (Drecoll [Hg.], 341) Dass die Alleinwirksamkeit der Gnade Gottes menschliche Freiheit nicht ausschließe, sondern aus der Verkehrtheit zu sich befreie, hat Augustin in der Schrift „De correptione et gratia“ (CSEL 92,219–280) zu zeigen versucht. Im Christusglauben werde nicht nur die urständische Möglichkeit wiederhergestellt, nicht zu sündigen, und die Verderbnis behoben, nicht nicht sündigen zu können; in ihm werde vielmehr mit dem Können auch das Wollen zurechtgebracht dergestalt, dass der Glaube nicht sündigen, sondern dem Willen Gottes entsprechen will. Die Konformität des menschlichen mit dem göttlichen Willen im Glauben schließt einen eigenen Menschenwillen nicht aus, führt diesen im Gegenteil seiner Bestimmung zu.
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Handle es sich bei der Schöpfungsgnade um ein „adiutorium sine quo aliquid non fit“ (CSEL 92,259,17 f.), gewähre die Gnade Christi nicht nur eine Unterstützung, ohne die dasjenige, wozu sie gegeben wird, nicht geschieht, sondern eine Unterstützung, durch die geschieht, wozu sie gegeben wird (ebd.: „quo fit propter quod datur“). Die Gnade Christi vereint den Begnadeten in der Kraft des Geistes, der Glauben wirkt, mit der Wirklichkeit Gottes selbst. Erhebliche Probleme hat bereitet und bereitet nach wie vor, dass Augustin anzunehmen scheint, Gott behalte seine Gnade der Schar der electi und praedestinati vor, die er von Ewigkeit her und ohne präszienten Bezug auf ihren nachfolgenden Glauben aus der massa perditionis des Menschengeschlechts erwählt und zum Heil bestimmt habe. Widerspricht diese Annahme nicht der biblischen Gewissheit des universalen Heilsratschlusses Gottes, der will, dass allen Menschen geholfen werde? Ein solcher Widerspruch liegt nur dann nicht vor, wenn man den Gedanken unbedingter Erwählung und Vorherbestimmung nicht im arbiträren Sinne einer Willkürentscheidung versteht, sondern ihn in dem für ihn konstitutiven Zusammenhang mit dem Gedanken bedingungsloser Begnadung belässt, welcher hinwiederum vom Glauben herkommt und auf Glauben zielt und zu rationalistischen Schlüssen auf das ewige Unheil anderer weder Recht noch Anlass gibt. Der in seiner Unergründlichkeit verborgene Ratschluss Gottes ist in Jesus Christus kraft des Hl. Geistes für den Glauben als reine Gnade offenbar, die mit sich selbst zugleich die Gewissheit ewiger Erwählung und Vorherbestimmung zum Heil ohne Vor- und Rücksicht auf Würdigkeit und Werke vermittelt. Wie der Glaube selbst ist auch das Beharren in ihm reine Gnadengabe. Es liegt nicht im Vermögen des Glaubenden, im Glauben zu verbleiben. Dieser hat sich deshalb nicht nur anfangsweise, sondern in all seinem Beginnen bis ans Ende seiner Tage und darüber hinaus allein auf Gott in Christus zu verlassen. So hat es Augustin in „De praedestinatione sanctorum“ (PL [= J.-P. Migne, Patrologiae cursus completus. Series Latina] 44,959–992) ausgeführt. Auch diese Schrift ist dem Vorwurf ausgesetzt worden, zu Fatalismus und in Zweifel zu führen, die zwangsläufig Verzweiflung nach sich zögen. Unzutreffend ist dieser Vorwurf dann und nur dann, wenn die Gnade einschließlich der gratia perseverantiae ganz auf die Konstitution des Glaubens und auf die Begründung der Gewissheit seines in Christus gegebenen Heils bezogen wird, wie dies von der Hl. Schrift verheißen und gefordert, beurkundet und vorgeschrieben ist. Allein durch göttliche Gnade kann der Sünder aus dem Zwang, den er sich selbst angetan hat, befreit und einem Leben zugeführt werden, dessen Ziel Augustin mit der Wendung non posse peccare umschreibt. Dieses Ziel liegt jenseits des irdischen Menschenlebens in dieser Welt und ist erst erreicht, wenn das Eschaton angekommen und Gott alles in allem sein wird. Auch nach gläubig empfangener Begnadung bleibt das Leben der Christenmenschen ein unvollendeter, wenngleich eindeutig gerichteter Prozess, dessen Vollendung empirisch nicht abzusehen, aber durch göttliche Prädestination und Vorsehung gewiss ist.
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Die Gnadenlehre Augustins und die ihr korrespondierende Hamartiologie haben sich für die gesamte westliche Lehrbildung als nachhaltig wirksam erwiesen, wenngleich nicht selten in abgeschwächter Form. Der Streit, der seit dem beginnenden zweiten Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts n. Chr. die Gemüter bewegte, endete mit der offiziellen Verurteilung der Augustingegner. Bereits im Jahre 418 wurde der Pelagianismus auf der Generalsynode von Karthago verdammt (vgl. DH 222–230), ohne dass von einer Dogmatisierung der gesamten Augustinischen Lehre von Sünde und Gnade die Rede sein könnte. Gelehrt wird die alle Menschen einschließlich der Kleinkinder umfassende Allgemeinheit der von Adam herrührenden Erbsünde sowie die Heilsnotwendigkeit der gratia iustificationis, ohne welche niemand selig werden könne. Bemerkenswert ist, dass auch das von Kaiser Theodosius II. einberufene dritte Ökumenische Konzil zu Ephesus 431 die Pelagianer verurteilt zu haben scheint (vgl. DH 267 f.). Doch ist der Bericht über die entsprechenden Sätze historisch umstritten, so dass die These diskussionsbedürftig bleibt, durch sie seien „die wichtigsten Ergebnisse des pelagianischen Streites Gemeingut sowohl der griechischen als auch der lateinischen Kirche geworden“ (Lohse, 126). Seine Fortsetzung fand der Streit nach einer ersten Phase in den Auseinandersetzungen, die man gewöhnlich mit einer erstmals in der Formula Concordiae von 1577 begegnenden Begriffsbildung als semipelagianisch bezeichnet. Sie zogen sich über ein Jahrhundert hin und fanden ihren Abschluss erst auf der zweiten Synode von Orange 529 (vgl. DH 370–397), deren Beschlüsse durch den Brief „Per filium nostrum“ an Bischof Caesarius von Arles vom 25. Januar 531 bestätigt wurden (DH 398–400) und Eingang in die kirchlichen Rechtssammlungen fanden. Danach sind durch die Sünde Adams er selbst und all seine Nachkommen ganz, nicht nur secundum corpus, sondern auch secundum animam (vgl. DH 371), der Verderbnis verfallen. Anathematisiert wird, wer durch den Irrtum des Pelagius getäuscht schriftwidrig lehre, lediglich der Leib sei durch die Sünde verderbt und dem Todesverhängnis unterworfen worden, wohingegen die Freiheit der Seele unversehrt fortbestanden habe. In Wahrheit sei nicht nur der Tod des Leibes als Strafe der Sünde, sondern auch der Tod der Seele als Inbegriff der Sünde selbst von dem gefallenen Adam auf das ganze Menschengeschlecht übergegangen. Seelisch dem Guten erstorben vermag es der postlapsarische Mensch nicht, kraft seines Willens an Gott zu glauben und ihn zu lieben, wie es geboten und heilsnotwendig ist. Dies bewirkt allein die göttliche Gnade. Ohne sie ist niemand fähig, das ewige Heil zu ererben. Selbst die Bitte um Gnade und der Glaube an sie sind gnadengewirkt. Die Gnade ist es, die den ungläubig verkehrten Willen des Menschen zum Glauben bekehrt. Dieser ist dazu selbst nicht in der Lage. Der Gnade entbehrend vermag er nicht nur nichts zu seinem Heil zu leisten, sondern bleibt der Sünde verfallen. Alles Gute in ihm ist Wirkung der Gnade, die im Glauben zu empfangen und sich gefallen zu lassen die einzige Mitwirkung des Menschen mit ihr darstellt, aus welcher die Werke der Liebe hervorgehen. Kurzum und mit den Kampf um die Gnadenlehre
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Schlussworten von Bischof Caesarius geredet: es gilt, „daß der freie Wille durch die Sünde des ersten Menschen so gebeugt und geschwächt wurde, daß hernach keiner Gott lieben, wie es sich gehört, an Gott glauben oder Gottes wegen wirken kann, was gut ist, wenn ihm nicht die Gnade der göttlichen Barmherzigkeit zuvorkommt“ (DH 396). Papst Bonifatius II. bekräftigte dies, wenn er in ausdrücklicher Erwähnung Augustins (vgl. DH 399) schreibt, „daß der Glaube, mit dem wir an Christus glauben, so wie auch alle Güter den einzelnen Menschen aufgrund des Geschenks der himmlischen Gnade, nicht aufgrund der Macht der menschlichen Natur zukommen“ (DH 399). Ohne Gnade gibt es nichts Gutes, das einer anfangen, wirken oder vollenden könnte: „Certum est enim atque catholicum, quia in omnibus bonis, quorum caput est fides, nolentes nos adhuc misericordia divina praeveniat, ut velimus, insit in nobis cum volumus, sequatur etiam ut in fide duremus.“ (Ebd.) Praedestinationstheologische Begründungen dieser und vergleichbarer Sätze werden nicht vorgenommen. Angemerkt wird lediglich, dass eine göttliche Vorherbestimmung irgendwelcher zum Bösen nicht nur nicht anzunehmen, sondern dezidiert abzulehnen sei: „si sunt, qui tantum mali credere velint, cum omni detestatione illis anathema dicimus.“ (DH 397) Dass damit auf Augustin gezielt wurde, der gemäß den von Prosper von Aquitanien Mitte des 5. Jahrhunderts in Rom zusammengestellten Sentenzen zuvor ausführlicher und in vorbehaltloser Zustimmung zitiert wurde, ist ausgeschlossen, was belegt, dass seine Anhänger bei ihm keine Lehre von einer praedestinatio gemina vermuteten. Durch die Beschlüsse der Synode von Orange 529 wurde nach und neben Trinitätslehre und Christologie „ein neuer Bereich christlicher Glaubensaussagen dogmatisch geklärt, und zwar gerade derjenige, der seit langem in besonderem Maße voll von Unklarheiten gewesen war. Eine radikale Auffassung von der Sünde im Sinne der Unfreiheit des Menschen gegenüber Gott und der Notwendigkeit des göttlichen Gnadenwirkens sowie die Anschauung, dass die Gnade in jedem Fall das erste ist, nicht dagegen das Verdienst des Menschen, gehörten von nun an auch ausdrücklich zu den Grundbekenntnissen des christlichen Glaubens.“ (Lohse, 131) Selbst wenn manche Probleme offen blieben und Fragen wie etwa diejenige der fortgesetzten Wirkung der Sünde in den getauften Gläubigen, der Form des gnadentheologischen Rechtfertigungsurteils oder des Verhältnisses von Rechtfertigung und Heiligung noch keiner hinreichend präzisen Antwort zugeführt wurden, so war doch durch die getroffenene Entscheidungen „eine Schranke errichtet worden, hinter welche die Kirche als solche nicht mehr zurück kann“ (ebd.). Die Richtigkeit dieser Annahme wird auf die eine oder andere Weise durch eine Vielzahl von Repräsentanten der nachfolgenden Theologiegeschichte und insbesondere von jenem Theologen bestätigt, der zum Prototyp mittelalterlicher Scholastik werden sollte: Anselm von Canterbury. Die Theologie des Mittelalters hat zwischen seiner und der Augustinischen Hamartiologie keinen Gegensatz empfunden, sondern die Zentralgesichtspunkte beider vereint: „‚carentia debitae iustitiae‘ als formal-bestimmendes, ‚concupiscentia‘ als materiales Element“ (Breu-
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ning, 190). Sünde ist Mangel, Fehlen sowie träges Versagen und zugleich hybrides Aufbegehren, aktive Widersetzlichkeit. In Grundzügen entwickelt hat Anselm seine SünAnselms Harmatiologie denlehre in dem Traktat „De casu diaboli“, der letzten Schrift einer nach Anweisung des Autors im Zusammenhang zu lesenden Trilogie. Der erste Text „De veritate“ bestimmt Wahrheit als rectitudo im Sinne einer adaequatio nicht bloß äußerlicher Art, sondern einer „Übereinstimmung . . . einer Aussage, eines Vollzugs oder auch einer Sache mit ihrem durch ihr Geschaffensein vorgegebenen eigenen inneren Maß“ (Ernst, 205). Anselms Gerechtigkeitsverständnis entspricht seinem Freiheitsbegriff, insofern iustitia die willentliche Übereinstimmung eines vernunftbegabten Geschöpfs mit seiner kreatürlichen Bestimmung zu nennen ist. Gerechtigkeit ist Rechtheit des Willens, rectitudo voluntatis, genauer: „rectitudo voluntatis propter se servata“ (DV, 12). Der gerechte Wille wahrt die Gerechtigkeit, die zu wollen er bestimmt ist, um ihrer und seiner selbst willen. Indem er dies tut, ist der Wille wahrhaft frei, wie Anselm in der Schrift „De libertate arbitrii“ ausführt. Willensfreiheit ist nach Anselms Definition die „potestas servandi rectitudinem voluntatis propter ipsam rectitudinem“ (DLA, 13), das Vermögen, die Rechtheit des Willens wegen dieser Rechtheit selbst zu bewahren. Aktualisiert ist diese Potenz im freien Vollzug des seiner inneren Bestimmung folgenden Willens, der will, was seine rectitudo und veritas ausmacht, und der nichts will, was ihn von der Ausrichtung auf die Wahrheit abbringt, in der er gründet. Die rechte Tat ist dem Vermögen der Freiheit nicht äußerlich. Vielmehr entspricht sie im Vollzug des Rechten ihrem eigenen Begriff: sie wird der Rechtheit gerecht, die ihre Bestimmung ausmacht. Darin ist sie eins mit sich, und Zwietracht wohnt nicht in ihr. Es gilt der Grundsatz: „Quod nihil sit liberius recta voluntate.“ (DLA, 9) Nichts ist freier als ein rechter Wille. Selbst Gott kann, wie Anselm ausdrücklich sagt (vgl. DLA, 8), dem Willen die Rechtheit nicht nehmen. Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit sind ihrem Begriff nach grundsätzlich eins, da es ihre Bestimmung ist, der schöpferischen Herkunft gemäß zu sein, in der sie ihren Ursprung und Bestand haben. Wahr ist alles Geschaffene zu nennen, was mit seinem kreatürlichen Wesen übereinstimmt, gerecht derjenige Wille, der sich zum Zweck setzt, worin er geschöpflich gründet, frei schließlich das Vernunftgeschöpf, welches die Möglichkeit hat, die Rechtheit des Willens um ihrer selbst willen zu bewahren. Die potestas peccandi gehört nach Anselm dezidiert nicht zur Freiheit des Willens (vgl. DLA, 1); so steht es bereits in der Überschrift des ersten Kapitels der Schrift „De libertate arbitrii“ ausdrücklich zu lesen. Das Vermögen zu sündigen gehört nicht zum Wesensbestand der Freiheit des Willens. Nichtsdestoweniger ist die Sünde Faktum, was Anselm nicht nur nicht leugnet, sondern entschieden behauptet. Worin diese Tatsache seinen Ursprung hat, ist die entscheidende Frage. Wie konnte es zur Ursünde kommen? Eine Antwort deutet sich bereits in der Schrift vom freien Willen an, wenn es heißt: Der apostata angelus und sein teuflischer Anhang sowie der gefallene Mensch sündig-
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ten zwar aufgrund ihrer Entscheidung, die nicht notwendig, sondern unerzwungen und insofern frei war (vgl. DLA, 2: per arbitium suum quod erat liberum); der sündige Wille sündigte aber nicht aufgrund dessen, woher diese Entscheidung frei war (vgl. ebd. 2: non per hoc unde liberum erat), d. h. nicht „per potestatem qua poterat non peccare et peccato non servire“ (ebd. 2). Der Grund der Sünde liegt, obwohl der Fall unerzwungen und keineswegs notwendig ist, nicht im kreatürlichen Freiheitsvermögen, welches gut ist, gut war und stets gut bleiben wird, sondern im verkehrten Gebrauch desselben, in der sich die Freiheit verwirkt. Die Sünde kam nach Anselm nicht durch die Sinnlichkeit in die Schöpfung, deren materiell-leibhafte Verfasstheit vielmehr als prinzipiell gut zu erachten ist. Zwar hat die menschliche Sünde etwas mit Sinnlichkeit zu tun; doch besteht ihre Verkehrtheit nicht in dieser, sondern in dem verkehrten Verhältnis, in welches sich die Freiheit des Menschen zur Sinnlichkeit setzt. Erst dadurch werden Wahrheit und Gerechtigkeit vertan, in denen sich das Menschengeschöpf ursprünglich befindet. Um seinen primär nicht sinnlichen, sondern geistigen bzw. geistwidrigen Charakter zu unterstreichen, sucht Anselm den Fall der Sünde zuförderst in der intelligiblen Sphäre auf, um ihn als Engelsapostasie, als casus diaboli zu thematisieren. Der Fall der Sünde ist gerade darin diabolisch, dass er sich nicht auf einen sinnlichen Trieb zurückführen lässt, sondern einem unwahren und unrechten, ja Wahrheit und Gerechtigkeit ins widrige Gegenteil wendenden Motiv nicht vernunftloser, sondern derjenigen Geschöpfe entspringt, die vernunftbestimmt sind. Dass Anselm in „De casu diaboli“ vom Teufel handelt, „bedeutet nicht, dass seine Ausführungen De casu diaboli nicht auch auf die menschliche Freiheit zuträfen. Grundsätzlich geht es ihm um den Willen der vernunftbegabten Kreatur generell.“ (Ernst, 206 f.) Der Wille der vernunftbegabten Kreatur ist zu Wahrheit und Gerechtigkeit frei und hat das Vermögen, seine veritas und rectitudo um ihrer selbst willen zu bewahren. Warum er dieses Bewährungsvermögen nicht bewährt, ist vernünftig nicht zu begründen, weil die fehlende Bewährung auf eine Verfehlung zurückgeht, für die es keinen vernünftigen Grund gibt. Der Grund der Sünde beruht auf einem falschen Schein, der statt Licht zu erzeugen alles verdunkelt. In der Aufklärung der nichtenden Nichtigkeit jenes Scheins und der Scheinrealität, die er erzeugt, erfüllt sich der Sinn Anselm’scher Hamartiologie. Die Freiheit vernunftbegabter Geschöpfe ist endliche Freiheit. Sie ist gegeben, besser gesagt: sich gegeben und hat ihren Grund nicht unmittelbar in sich selbst, sondern in Gott. Als gottgegebene ist kreatürliche Freiheit gottunterschiedene Freiheit. Ihre Gottunterschiedenheit lässt geschöpfliche Freiheit indes keineswegs aufhören, Freiheit zu sein. Es ist im Gegenteil so, dass geschöpfliche Freiheit in der Wahrung ihrer Unterschiedenheit von Gott jene Erfüllung findet, die ihrer Bestimmung entspricht. Ihre Endlichkeit ist durchaus als Vollendungsdatum zu denken. Sie entspricht sich selbst, wenn sie ihr Sich-Gegründet- und ihr SichGegebensein in Gott affirmiert, wozu sie von ihrem göttlichen Grund her das Vermögen hat. Wenn es trotz des gottgegebenen Vermögens zum Fall der Sünde
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kommt, dann deshalb, weil die endliche Freiheit sich in einen Widerspruch zu sich selbst dadurch bringt, dass sie sich unmittelbar in sich zu gründen bzw. aus sich selbst heraus zu begründen sucht. Dieser Versuch verweist auf eine Versuchung, welcher zu erliegen für die endliche Freiheit keinerlei Zwangsnotwendigkeit besteht. Der Wille hat, wie Anselm sagt (vgl. DLA, 6 f.), trotz seiner scheinbaren Ohnmacht das Vermögen, den Versuchungen zu widerstehen, da diese auf nichts beruhen denn auf dem falschen Schein, es sei nicht gut für die kreatürliche Freiheit dasjenige zu sein, was sie ist. Verantwortlich für die Erzeugung dieses falschen Scheins ist zuletzt die endliche Freiheit selbst, deren verkehrte Neigung ihn hervorruft. Der freie Wille vernunftbegabter Geschöpfe ist seiner Bestimmung nach darauf ausgerichtet, dem Willen Gottes dadurch zu entsprechen, dass er sich als gottgegeben will, um all sein Wollen von dorther begründet sein zu lassen. Dem widersetzt sich ein Widerwille aufgrund einer Scheinrealität, die er geneigt ist, sich grundlos zugrunde zulegen; er ist motiviert durch das falsche Bewusstsein, es sei für ihn nicht gut, gottunterschiedener und darin endlicher Wille zu sein. Ihm will es scheinen, es sei gut für ihn, gottgleich und nicht gottunterschieden zu sein. Wollen heißt auf etwas aus sein. Der Wille ist seinem Wesen nach offen, exzentrisch und selbsttranszendent. Der gute, gerechte und wahrhaft frei zu nennende Wille übersteigt sich auf Gott hin, in welchem er gründet, um all sein Wollen dadurch bestimmt sein zu lassen. Auch der böse Wille übersteigt sich selbst, aber nicht um sich auf seinen göttlichen Grund hin zu transzendieren, sondern dergestalt zu pervertieren, dass er seinen unmittelbaren Eigensinn zum höchsten Gut und zum Maß aller Dinge erklärt. Der böse Wille bestimmt sich in böswilliger Weise zu schierer Willkür, die ihm das Gut aller Güter, ja der Grund des Guten selbst zu sein scheint, obwohl sie doch nichts ist als nichtig und nichtend. Der böse Wille will nur sich selbst und strebt danach, dass seine Willkür ein und alles sei. Darin versagt er sich seiner Kreatürlichkeit mit allen verheerenden Konsequenzen, die dieses Versagen nach sich zieht. In „De casu diaboli“ begegnen „zwei durchgängige, mit einander verschlungene Gedankengänge“ (Ernst, 207), die sich unterscheiden, nicht aber trennen lassen. Der eine ist von dem ontologischen Grundsatz bestimmt, dass von Gott nur das Gute und das Sein, nicht aber das Böse komme, das mithin als Nichts bzw. als Fehlen von Sein zu qualifizieren sei: „omne bonum sit essentia, et omnis essentia bonum.“ (DCD, 1) Ist alles Seiende gut und alles Gute ein Seiendes, dann ist das Böse nichts anderes als Fortfall des Guten und Gerechten, eine privatio, „quae nullam habet essentiam“ (DCD, 9). An sich selbst ist das Böse nichts, freilich ein Nichts der, wenn man so sagen darf, besonderen Art, „quia hoc nomen, videlicet nihil, non significat nihil sed aliquid, et non significat aliquid sed nihil“ (DCD, 11). Zwar ist das Böse nichts Seiendes und insofern nichts, aber doch kein einfachhin nichtiges Nichts, sondern ein nichtendes Nichts, das sich mit dem Schein der Realität umgibt, ja sich in seiner gottwidrigen Verkehrtheit den Anschein des ens realissimum gibt. Das Böse erscheint in seiner Nichtigkeit als „quasi aliquid“ (ebd.). Es tut so, als
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ob es nicht nur etwas, sondern die alles bestimmende Wirklichkeit sei. An sich selbst nichts als Fehlen des geschuldeten Guten, welches ohne Fehl ist, ist das Böse eine Verfehlung von bodenloser Abgründigkeit, die alles Sein in seinen Fall hineinzuzerren und vor allem das freie Personsein vernunftbegabter Geschöpfe von innen heraus zu destruieren bestrebt ist. Einmal gewollt und ins Werk gesetzt, nimmt das Böse von seinem Täter Besitz, um seinen Willen zu knechten und sein Vermögen zum Guten um alle Macht und Möglichkeit zu bringen. Wer dem Bösen einmal verfallen ist, kann von sich aus nicht mehr zur Gerechtigkeit zurückfinden (vgl. DCD, 17). Für die in „Cur Deus homo“ entfaltete Soteriologie ist dieser Aufweis von grundlegender Bedeutung; Anselm hat ihn ontologisch im Sinne seiner skizzierten Lehre von der nichtenden Nichtigkeit des Bösen, aber zugleich auf freiheitstheoretische Weise zu erbringen versucht, wobei das eine vom anderen nicht ablösbar ist. Der Fall der Sünde ist Untat der Freiheit, durch welche diese sich selbst schuldhaft verwirkt. Weder auf die ursprüngliche Schöpfung, die als gänzlich gut zu gelten hat, noch gar auf Gott selbst kann die Sünde zurückgeführt werden. Schuld an ihr ist allein die böse Untat bzw. der verkehrte Wille, der sie tätigte. Er hielt die ursprüngliche Gerechtigkeit und Güte, die ihm von Gott gegeben wurde, nicht fest, wie es ihm von Gott und seiner eigenen kreatürlichen Bestimmung her geboten und möglich war, sondern ließ sie willentlich fahren; er ließ es, wie Anselm sagt, „sponte“ (DCD, 3) am „pervelle“ (ebd.), aus freien Stücken am Durch-Wollen fehlen, welches Fehlenlassen seine Verfehlung ausmacht. „Iterum quaero quare non pervoluit.“ (Ebd.). Anselms Antwort auf die Frage, warum der Wille Willkürlich verkehrter Wille nicht „durchgewollt“ und seine ursprüngliche Güte festgehalten hat, lautet: weil er etwas lieber wollte als das Ursprungsgut, da es ihm besser erschien als dieses. Er verstellte sich bewusst und willentlich die Einsicht, dass es der Schöpfergott als das höchste Gut, über welches hinaus ein höheres nicht gedacht werden kann, ganz gut mit ihm meint, und strebte in schuldhafter Abkehr von seiner kreatürlichen Bestimmung, die zu verkennen er sich zum Ziel setzte, danach, sich selbst an Gottes Statt zu setzen. Der die Sünde verschuldende Wille bestimmt sich zum Bösen, indem er erstrebt, was er nicht zu erlangen vermag, und preisgibt, was in seinem Vermögen steht. Er will, was er weder wollen kann noch wollen soll und darf. Der Wunsch, glücklich zu sein, ist ein notwendiges Verlangen jedes endlichen Vernunftwesens. Diesen Grundsatz vertritt nicht erst Kant, sondern bereits Anselm. Alles Seiende ist auf Wahrung und Steigerung des ihm jeweils Eigenen aus; fühlende Wesen bilden den Trieb der Lustvermehrung und Unlustvermeidung aus, und auch mit Bewusstsein und Selbstbewusstsein ausgestattete Geschöpfe streben nach dem, was sie als gut für sich erachten. Daran ist nach Anselms Urteil an sich nichts Schlechtes, solange das kreatürliche Maß nicht gesprengt wird, das jedem Geschöpf seinem eigentümlichen Wesen gemäß gesetzt ist. Verkehrt und böse wird das Streben nach dem, was Anselm „commodum“, „beatum“ oder ähn-
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lich nennt, als maßloses Verlangen und als ein Begehren, welches die Ordnung der Schöpfung dadurch zu verkehren trachtet, dass es das Geschöpf an die Stelle des Schöpfers setzt. Genau darin besteht der Teufelssturz: „At cum hoc voluit quod deus illum velle nolebat, voluit inordinate similis esse deo.“ (DCD, 4) Der abgründige Fall der Ursünde ist durch den ebenso grundlosen wie entschiedenen Willen bewirkt, sein zu wollen wie Gott. Indem er Gott gleich sein will, will der sündige Wille nichts als seinen Eigensinn, den er unmittelbar affirmiert. Ja, der verkehrte Wille will, vermöge der Willkür, zu der er sich bestimmt, nicht nur Gott gleich, sondern größer sein als Gott, über dessen Willen er willkürlich seinen eigenen setzt. Wie Anselm sagt: „Non solum autem voluit esse aequalis deo quia praesumpsit habere propriam voluntatem, sed etiam maior voluit esse volendo quod deus illum velle nolebat, quoniam voluntatem suam supra dei voluntatem posuit.“ (Ebd.) Indem er sich Gottes enthebt, bereitet sich der böse Wille des Vernunftgeschöpfs auf widervernünftige Weise den Abgrund, dem er verfällt, um gierig alles, dessen er sich bemächtigt, in seinen Höllenschlund zu stürzen. Der verkehrte Wille entzieht sich den eigenen Grund, um auf nichts denn auf seiner Nichtigkeit zu bestehen, welcher er durch böswilliges Streben nach Vernichtung des Seienden Geltung zu verschaffen versucht. Dabei erweist er sich als Meister der Verführungskunst, der er selbst erlegen ist, um sein Nihilierungsverlangen ins Werk zu setzen: „(O)mnes bene sibi esse volunt, et male sibi esse nolunt.“ (DCD, 12) Den Wunsch aller, dass es ihnen gut und nicht schlecht gehe, will er zu selbstischem Eigenwillen und gegen den Schöpfer und die Allgemeinordnung seiner Schöpfung kehren, damit die voluntas commodi sich in Gegensatz zur voluntas iustitiae setze und grenzenlose Begierde universale Zwietracht bewirke. Zu beachten ist erneut, dass Konkupiszenz in Anselms Argumentation nicht nur und auch nicht primär ein sinnliches, sondern ein geistiges Begehren darstellt. Dabei soll gelten, dass das allgemeine Begehren von Wohlergehen sich seiner geistigen Natur nach auf eine Glückseligkeit höchsten Grades ausrichtet und daher wesentlich Theosisstreben, Streben nach Angleichung an Gott ist. Dieses Bestreben ist Anselm zufolge keineswegs per se wahrheitswidrig, unrecht und sündig. Eine Konvergenz von voluntas commodi und voluntas iustitiae ist durchaus denkbar, ja, sie wird für den status integritatis als ursprünglich gegeben vorausgesetzt. Auch die guten Engel, die nicht gefallen sind, streben, wenn man so will, beständig nach Höherem, um gerade so ihre engelhafte Güte stetig unter Beweis zu stellen. Ihr vollkommenes Ruhen in Gott schließt innere Bewegung nicht aus, sondern ein. In subtilen angelogischen Erwägungen hat Anselm dies herausgearbeitet. Was gute Geister auszeichnet und kategorial von bösen scheidet ist nicht das Streben nach eigener Glückseligkeit als solches, das unter Geschöpfen ebenso allgemein wie notwendig waltet, sondern der beharrliche Wille, dieses Streben im Rahmen der kreatürlichen Ordnung zu halten und nicht zu jenem maßlosen Willensexzess ausarten zu lassen, der darauf aus ist, den Unterschied von Schöpfer und Geschöpf zu negieren. Die Bedingung der Möglichkeit rechter Angleichung des
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Geschöpfs an seinen Schöpfer ist die konsequente Vermeidung seiner Gleichsetzung mit ihm, wie der sündige Wille sie vollzieht, um just dadurch zur Willkür zu verkommen.
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3. Grundzüge der Sündenlehre Luthers
Lit.: F. Beißer/A. Peters, Sünde und Sündenvergebung. Der Schlüssel zu Luthers Theologie, Hannover 1985. – H.-U. Delius, Augustin als Quelle Luthers. Eine Materialsammlung, Berlin 1984. – D. Demmer, Lutherus interpres. Der theologische Neuansatz in seiner Römerbriefexegese unter besonderer Berücksichtigung Augustins, Witten 1968. – M. Doerne, Gottes Ehre am gebundenen Willen. Evangelische Grundlagen und theologische Spitzensätze in De servo arbitrio, in: LJ XX (1938), 45–92. – V. H. Drecoll (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007. – Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften. Ausgabe in acht Bänden. Lateinisch und Deutsch. Hg. v. W. Welzig, Bd. 4, Darmstadt 1969. – J. Gross, Geschichte des Erbsündendogmas. Ein Beitrag zur Geschichte des Problems vom Ursprung des Übels. Bd. I: Entstehungsgeschichte des Erbsündendogmas. Von der Bibel bis Augustin, München/Basel 1960. Bd. II: Entwicklungsgeschichte des Erbsündendogmas im nachaugustinischen Altertum und in der Vorscholastik (5.–11. Jahrhundert), München/Basel 1963. Bd. III: Entwicklungsgeschichte des Erbsündendogmas im Zeitalter der Scholastik (12.–15. Jahrhundert), München/Basel 1971. Bd. IV: Entwicklungsgeschichte des Erbsündendogmas seit der Reformation, München/Basel 1972. – R. Hermann, Luthers These „Gerecht und Sünder zugleich“, Darmstadt 21960. – E. Herms, Die Bedeutung des Gesetzes für die lutherische Sozialethik, in: ders., Erfahrbare Kirche. Beiträge zur Ekklesiologie, Tübingen 1990, 1–24. – W. Joest, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967. – E. Kinder, Evangelisch-lutherische Lehre von der Erbsünde, in: ders., Die Erbsünde, Stuttgart 1959, 35–83. – T. Kleffmann, Die Erbsündenlehre in sprachtheologischem Horizont. Eine Interpretation Augustins, Luthers und Hamanns, Tübingen 1994. – J. Lange van Ravenswaay, Augustinus totus noster. Das Augustinverständnis bei Johannes Calvin, Göttingen 1990. – K. E. Løgstrup, Wille, Wahl und Freiheit, in: E. Dinkler (Hg.), Zeit und Geschichte (FS R. Bultmann), Tübingen 1964, 517–530. – B. Lohse, Ratio und Fides. Eine Untersuchung über die ratio in der Theologie Luthers, Göttingen 1958. – M. Luther, Werke, Weimar 1883 ff. (= WA). – W. Pannenberg, Systematische Theologie. Bd. II, Göttingen 1991. – A. Peters, Der Mensch, Gütersloh 1979. – Ders., Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. I: Die Zehn Gebote. Luthers Vorreden. Hg. v. G. Seebaß, Göttingen 1990. – Th. Schneider/G. Wenz (Hg.), Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische Klärungen, Göttingen 2011. – E. Schott, Fleisch und Geist nach Luthers Lehre unter besonderer Berücksichtigung des Begriffs „totus homo“, Darmstadt (1928) 1969. – W. Sparn, Persönliche und ererbte Schuldigkeit, in: H. Neuhaus (Hg.), Erbsünde? Was du ererbt von deinen Vätern hast . . . , Erlangen 2006, 11–41. – G. Wenz, Die Zehn Gebote als Grundlage christlicher Ethik. Zur Auslegung des ersten Hauptstücks in Luthers Katechismen, in: ZThK 89 (1992), 404–439.
Noch vor allen Einzeltaten ist der Mensch vom Bösen bestimmt. So sagt es die Lehre vom peccatum originis bzw. originale. Zwar lassen sich Aktualsünden von der Ursprungssünde nicht sondern. Aber ein Unterschied zwischen beiden ist insofern zu machen, als hinter den peccata actualia eine Grundverkehrtheit steckt, wel-
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che alle Einzelverfehlungen nach sich zieht. Im deutschen Sprachraum ist der lateinische Ausdruck peccatum originale seit dem 13. Jahrhundert vielfach mit Erbsünde wiedergegeben worden, wohingegen der Begriff „Ursünde“ erst im 19. Jahrhundert begegnet (vgl. im Einzelnen Kleffmann). Mit Erbe wird in der Regel der nach dem Tode einer natürlichen Person, des sog. Erblassers, erfolgende bzw. erfolgte Übergang von Vermögensrechten und -pflichten auf eine andere natürliche oder auch juristische Person bezeichnet. Doch kann der Begriff auch im übertragenen Sinne verwendet werden, etwa im Sinne von kulturellem Erbe oder ähnlichem. Im hamartiologischen Kontext wird von Erbsünde zumeist in direktem Bezug auf die Folgen des Adamfalls gesprochen, wobei die genaue Bedeutung des Begriffs davon abhängt, was unter Adam und seinem Sündenfall jeweils verstanden wird (vgl. Sparn). Im biblischen Sprachgebrauch begegnen keine terminologischen Äquivalente zum Erbsündenbegriff. Dies hinderte nicht, die Erbsündenlehre schrifttheologisch zu begründen, vorzugsweise unter Bezug auf Gen 3 oder auf die in Röm 5 entwickelte Adam-Christus-Typologie. Als klassische Belegstelle wurde in der abendländischen Theologie im Anschluss an Augustin bis in die neuere Zeit hinein insbesondere die Vulgataversion von Röm 5,12 (in quo omnes peccaverunt) angeführt, obwohl sie schon von Erasmus von Rotterdam als Fehlübersetzung kritisiert wurde. Die bislang umfangreichste Monographie zur Genese des Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der sog. Erbsündendogmas Erbsündenlehre hat Julius Gross vorgelegt. Ausgehend von dem einschlägigen Dekret des Trienter Konzils, dessen Aussagen zu Existenz, Übertragung, Folgen und Tilgung der Erbsünde er in auffallender Übereinstimmung mit CA II sieht (vgl. Gross I, 21), schildert Gross in einem ersten Band auf der Basis biblischer Befunde die Genese der altkirchlichen Erbsündenlehre bis zu Augustin, dessen in der pelagianischen Kontroverse erfolgten Definitionen zu Urstand und Ursünde besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dem nachaugustinischen Altertum mit seinen deutlich zutage tretenden Spannungen zwischen Okzidentalen und Orientalen, der Vorscholastik und dem Zeitalter der Scholastik sind der zweite und dritte Band gewidmet. Während sich die von Rom sanktionierte Lehre Augustins in der abendländischen Tradition im Wesentlichen durchgesetzt habe, sei die Ostkirche ihr gegenüber weitgehend „immun“ (Gross II, 302) geblieben. Zwar sähen die morgenländischen Väter übereinstimmend „in den physischen Übeln dieser Welt, als deren Wurzeln sie die Verweslichkeit und Sterblichkeit betrachten, Straffolgen der Adamssünde“ (Gross II, 301) und lehrten mehrheitlich, dass der konkupiszente Hang zum Sündigen „eine durch die Ursünde verursachte Erbverderbnis“ (Gross II, 302) sei. Doch erachteten sie die Begehrlichkeit „nicht für eine eigentlich verdammliche Schuld“ (ebd.), und von einer Sündenvererbung stricte dictu könne nicht die Rede sein: die Idee einer „Natursünde“ werde dezidiert abgelehnt. Nach Urteil von Gross haben die pelagianischen und semipelagianischen Kontroversen im ostkirchlichen Schrifttum „so gut wie keine Spur hinterlassen. Die
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Verurteilung der Häupter des Pelagianismus durch das 3. allgemeine Konzil war für die Orientalen offenbar mehr ein kirchenpolitischer Akt als eine Lehrentscheidung.“ (Ebd.) Daran ändere sich auch in der Zeit vom 9. bis zum 11. Jahrhundert nichts. Während sich „die augustinische Lehre von der Existenz einer verdammungswürdigen Erbsünde, deren Wesen und Fortpflanzungsmittel die Konkupiszenz ist“ (Gross II, 506), im Abendland habe behaupten können, vermochte sie im orientalischen Christentum „nicht Fuß zu fassen“ (Gross II, 571). Wenn Photios die Lehre ausdrücklich als häretisch verwerfe, „wonach infolge der Übertretung Adams die Sünde als eine verdammliche Schuld der menschlichen Natur eingepflanzt sei und bei der Zeugung auf alle Nachkommen Adams übergehe“ (ebd.), dann habe er mit dieser Verurteilung nichts Neues vorgebracht, sondern „eine in der Ostkirche traditionelle Meinung lediglich klar formuliert und zum Ausdruck gebracht“ (ebd.). Auch fernerhin halte sich diese Auffassung konsequent durch. Während der ganzen byzantinischen Periode habe sich das abendländische Erbsündendogma in der Ostkirche „nicht durchzusetzen“ (Gross III, 419; vgl. 430) vermocht. Auch die abendländische Frühscholastik hat nach Urteil von Gross die augustinische Hamartiologietradition nicht kritiklos fortgesetzt. Zwar sei das Erbsündendogma förmlich „unangetastet“ (Gross III, 167) geblieben. Doch habe man den Schuldcharakter des peccatum haereditarium teilweise problematisiert, indem man entweder die Erbsündenschuld auf einen bloßen Mangel der Urgerechtigkeit reduzierte, auf äußere Imputation zurückführte oder zur Kollektivstrafe ohne eigentliche individuelle Verschuldung erklärte. Probleme habe in diesem Zusammenhang auch die von Augustin nahegelegte Weise der Fortpflanzung des peccatum originale im Menschengeschlecht bereitet, ohne dass sich klare Lösungen abzeichneten. Die Mehrheit, so Gross, zog es vor, sich in dieser und anderen das Dogma betreffenden Fragen „hinter dem Geheimnis zu verschanzen“ (Gross III, 168). Hochkomplex gestaltete sich die Theoriebildung in der Hochscholastik. „Die in der Frühscholastik eingeleitete Weiterentwicklung der abendländischen Urstandsund Erbsündenlehre augustinischen Ursprungs setzt sich . . . verstärkt fort, ohne dass die Autorität des Bischofs von Hippo grundsätzlich infrage gestellt würde.“ (Gross III, 341) Die Übertragung der Erbsünde versuchte man mittels diverser Imputations-, Infektions- oder Inkorporationslehren zu erklären, ihr Wesen u. a. dadurch näher zu bestimmen, dass man den augustinischen mit dem anselmschen Erbsündenbegriff kombinierte: „Die habituelle Konkupiszenz wird zum Materialelement, der Mangel der Ungerechtigkeit zum Formalelement der Erbsünde erklärt. Vom Aquinaten und dessen Schule übernommen und verteidigt, gewinnt diese Erbsündendefinition in der großen Erbsündenkontroverse des 13./14. Jahrhunderts die Oberhand.“ (Gross III, 342) Doch blieb die Wesensbestimmung der Erbsünde weiter umstritten. In der Spätscholastik erscheint die auf sie bezogene Lehrentwicklung nach Gross aufs Ganze gesehen „eher rückläufig“ (Gross III, 389). Als wichtigste Neuerung gilt ihm die Annahme, derzufolge die Erbsünde
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„nicht allein im Mangel der Urgerechtigkeit besteht, sondern auch im schuldhaften Mangel der Heiligungsgnade“ (ebd.). Der vierte und letzte Band des Monumentalwerkes von Gross, der die Geschichte des Erbsünden- Luthers Augustinismus dogmas seit der Reformation thematisiert, endet mit der lakonischen Feststellung, dass „die moderne Wissenschaft . . . die Erbsünde getötet“ (Gross IV, 352) habe. Während katholische Theologen von Ausnahmen abgesehen bemüht seien, „wenigstens deren Namen zu konservieren“ (ebd.), lehnten ihre protestantischen Kollegen das traditionelle Dogma mehrheitlich offen ab, da sie „auf kein lebendiges unfehlbares Lehramt Rücksicht zu nehmen brauchen“ (ebd.). Angesichts dieses Schlussvotums erübrigt es sich, Gross’ Darstellung der Erbsündenlehre der Reformatoren und der tridentinischen und nachtridentinischen Theologie nachzuzeichnen. Das definitive Urteil ist gesprochen: Namentlich Luthers „übersteigerter Augustinismus“ (Gross IV, 36) lasse die desaströsen Implikationen und Konsequenzen der Erbsündenlehre offen zutage treten. Ihm zufolge sei die Radikalzerstörung der Menschennatur durch das peccatum originale nicht einmal durch die Taufe zu beheben, weil die Konkupiszenz im Getauften verbleibe und wahrhaft Sünde sei. Die Rechtfertigung des Sünders erfolge lediglich äußerlich-imputativ. Zugrunde liege dem Ganzen nicht nur ein extrem voluntaristischer Gottesbegriff (ebd.: „Kein Zweifel, Luthers Gott ist der verborgene, furchtbare Willkürgott der Nominalisten.“), sondern auch und vor allem eine Anthropologie, deren Pessimismus kaum zu übertreffen sei, jedenfalls weit über den augustinischen hinausreiche. Die sachliche Beurteilung, die Julius Gross der Sündenlehre Luthers zuteil werden lässt, ist abwegig. Doch muss eine angemessene Replik differenzieren. Außer Zweifel steht, dass Augustin für den Reformator der Kirchenvater par excellence und die wichtigste Traditionsautorität außer der Bibel war. Wie später Calvin (vgl. Lange) hat er die Lehre des Bischofs von Hippo intensiv rezipiert (vgl. Delius) und in den Kontext seiner eigenen Theologie integriert (vgl. Demmer). Sein besonderes Interesse galt dabei dem antipelagianischen Augustin. Offenbar hat Luther ihn „als geschichtliche Analogie zu seiner eigenen, neu aufgebrochenen theologischen Frontstellung entdeckt“ (Drecoll [Hg.], 617). Sein Kampf gegen den Synergismus von Teilen der spätscholastischen Theologie parallelisierte er mit demjenigen Augustins gegen die Pelagianer. Auch wenn der Bischof von Hippo die wiederentdeckte paulinische Lehre von der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade um Christi willen durch Glauben nicht in jeder Hinsicht in sein Denken eingeholt habe, sei er ihr doch näher gekommen als jeder Scholastiker nach ihm. Zwar vermochte sich die bisweilen vertretene These nicht durchzusetzen, „der Augustiner-Eremit Luther sei durch den in seinem Orden gepflegten spätmittelalterlichen Augustinismus zu einer spezifischen Rezeption des Kirchenvaters angeregt worden“ (Drecoll [Hg.], 617); dies ändert indes nichts an der Tatsache, dass der Reformator zeitlebens ein theologischer Gefolgsmann von Augustin war. Man wird freilich hinzufügen müssen, dass der Augustinismus schon zu Anfang des
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Reformationsjahrhunderts eine allgemeine Renaissance erfahren hatte: „Zu Beginn des 16. Jahrhunderts galt Augustin als der unangefochtene Patron der Theologie.“ (Drecoll [Hg.], 621 unter Verweis auf WAT 3,142,30 f.) Strittig war unter den Zeitgenossen nicht die förmliche Autorität der augustinischen Theologie, sondern die Deutung ihres Inhalts. An dieser Stelle haben die Einwände gegen die Lutherdeutung von Julius Gross anzusetzen. Weder lehrte der Reformator einen Gott, der nach reinem Belieben erwählt oder verwirft und die Verworfenen „an der Erfüllung seiner Gebote (hindert), deren Beobachtung ihnen ohnehin unmöglich ist“ (Gross IV, 35: „Gott will also die Sünde, zwar nicht um ihrer selbst, sondern um der Strafe willen.“), noch vertritt er eine Anthropologie, die mit der Kennzeichnung „pessimistisch“ angemessen charakterisiert wäre. Der erste Eindruck, den Luthers Lehre vom Menschen hinterlässt, ist konventionell. Die überkommenen Dicho- bzw. Trichotomien (sensus-ratio; corpusanima-spiritus etc.), mit denen die eigentümliche Verfassung des Menschen und seine spezifische Stellung unter den Lebewesen traditionellerweise umschrieben werden, kann der Reformator, wie es scheint, umstandslos rezipieren, ohne sich dabei im Einzelnen terminologisch festzulegen (vgl. Joest, 163 ff., Peters, Mensch 27 ff.). Betont wird in der Regel die psychosomatische Einheit des Menschen, der nicht in Leib und Seele, Sinnlichkeit und Vernunft aufgespalten werden könne, sondern stets beides zugleich und auf simultane Weise sei. Das ändert nichts daran, dass auch Luther trotz Abwehr unstatthafter Trennungen an anthropologischen Differenzierungen festhält und zwischen einer leiblichen und einer seelischgeistigen Verfasstheit des Menschen unterscheidet, wobei an der kreatürlichen Überordnung der menschlichen Geistseele über den Leib ebenso wenig Zweifel besteht wie an der Sonderstellung des Menschen im Kosmos sowohl dem Tier als auch der sonstigen extrahumanen Kreatur gegenüber. Scheint Luthers Lehre vom Menschen insoweit Widerstreit von Fleisch ganz im konventionellen Rahmen zu verbleiben, und Geist so wird sie höchst brisant, wenn man die anthropologische Polarität von Leib und Geistseele auf den Antagonismus von sarx und pneuma bezieht, was nach Urteil des Reformators theologisch notwendigerweise der Fall zu sein hat. Dann nämlich ergibt sich, dass das Übereinander von Leib und Seele in keiner Weise gleichzusetzen oder zu parallelisieren ist mit dem Gegeneinander von Fleisch und Geist. Das Verhältnis beider Verhältnisse ist kein analoges, sondern ein jeden Vergleich sprengendes, sofern – um zunächst nur vom sarkischen Missverhältnis zu sprechen – die fleischliche Verkehrtheit der Sünde nicht auf den Leib und die Sinnlichkeit des Menschen zu beschränken ist, sondern gerade seine der leiblichen Sphäre vorgeordneten seelisch-geistigen Dimensionen betrifft, deren sündige Perversionen ungleich abgründiger sind als diejenigen des Leibes. Ja, es muss im Sinne Luthers noch mehr gesagt und hinzugefügt werden, dass die Verkehrtheit der Sünde die getroffene Unterscheidung von Leib und Geistseele des Menschen an sich selbst betrifft, sofern sie deren kreatürliches Verhältnis auf schöpfungswidrige Weise verkehrt und zum Bösen wendet.
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Es ergibt sich, dass der Unterschied bzw. die Unterscheidung von Leib und Geistseele des Menschen vom Widerstreit von sarx und pneuma selbst immer schon tangiert ist und nicht unabhängig von diesem Widerstreit in einer gleichsam neutralen Weise gesehen und vorgenommen werden kann. Ist doch der anthropologisch konstatierte Unterschied von Leib und Geistseele an sich selbst Funktion einer Selbstunterscheidung, deren verkehrter Vollzug zwangsläufig zu einer Verkehrung des zu konstatierenden Unterschieds führt. In dieser Verkehrung nimmt die psychosomatische Verfasstheit des Menschen nicht nur indifferente, sondern eine Differenziertheit und Identität gleichermaßen zersetzende Missgestalt an. Verleugnet der Mensch seinen göttlichen Grund, was unter postlapsarischen Bedingungen nach Luther faktisch und allgemein der Fall ist, ja den Fall der Sünde selbst ausmacht, dann verkehrt er sich und damit zugleich die differenzierte Schöpfungsgabe von Leib und Seele und verfehlt auf diese Weise seine kreatürliche Aufgabe, den eigenen Leib samt der leibhaft gegebenen Welt durch das Seelenvermögen vernünftigen Wollens dem göttlichen Schöpfungsauftrag gemäß zu bestimmen. Im Modus solcher Verkehrung ist der differenzierte Zusammenhang von Leib und Seele nur noch in einer ihn selbst pervertierenden Weise präsent, nämlich dergestalt, dass die Seele samt ihrem vernünftigen und willentlichen Vermögen sich gewissermaßen mit dem Leib verwechselt und sich vom körperlichen Prinzip natürlicher Selbsterhaltung derart beherrschen lässt, dass sie die Form unmittelbarer Selbstbestimmung und Selbstdurchsetzung annimmt, wohingegen der Leib als solcher beansprucht, vernünftiger Allgemeinwille zu sein, und in seiner körperlichen Besonderheit das Ganze zu besitzen begehrt. Überein kommen die – in der Verkehrtheit des peccatum originale impliziten – Verwechslungen in der selbstsüchtigen Konkupiszenz, die ihrem in sich widersprüchlichen Unwesen gemäß nichts anderes ist als eine bodenlose Selbstverkennung, die, obwohl sich selbst undurchsichtig, doch von Bewusstlosigkeit bzw. der Sphäre des Un- oder Unterbewussten grundsätzlich zu unterscheiden ist, da sie alle Grade der Bewusstheit umfasst und den ganzen Menschen beherrscht. Nicht als ob Luther gelehrt hätte, was später in der lutherischen Bekenntnistradition, näherhin im ersten Artikel der Konkordienformel von 1577 ausdrücklich verworfen wurde, dass nämlich der Fall der Sünde die geschöpfliche Substanz des Menschen destruiert und ihn zu einer „imago Satanae“ deformiert hat. Trotz einiger scheinbar gegenteiliger Aussagen (vgl. WA 14,111,9; 24,50,8 f.; 37,454,9 ff.; 42,47,22 etc.) ist Luther der festen Überzeugung, dass der Mensch auch als Sünder Gottes Geschöpf bleibt. Gleichwohl verkehrt die Sünde die dem Menschen zugeeigneten kreatürlichen Gaben auf eine Weise, dass von solcher Verkehrung nicht nur der sinnlich-affektive Bereich, sondern auch die Vernunft und der Wille des Menschen betroffen sind. Sünde ist sonach „eine Totalbestimmtheit der menschlichen Existenz“ (Doerne, 49). Aus der Einsicht in die sündige Totalverkehrung menschlicher Existenz ergibt sich, dass die Geistseele des Menschen nicht eo ipso und auf quasi substantielle Weise ein göttliches Vermögen darstellt bzw. ein Vermögen, Heil vor Gott von
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sich aus zu erlangen. Über den theologischen Status menschlicher Geistseele entscheidet vielmehr ausschließlich der konkrete Gottesbezug, dessen rechte Gestalt der pneumatische Glaube ist, wohingegen sarkischer Unglaube die Verkehrung des Gottesverhältnisses zu praktischer Gottlosigkeit, ja Gottwidrigkeit darstellt mit heillosen Konsequenzen für Selbst, Mitmensch und Welt. In diesen Widerstreit von pneuma und sarx, Glaube und Unglaube ist der ganze Mensch hineingezogen, so dass die menschliche Geistseele nicht etwa neutral als substantielles Glaubensvermögen bestimmt werden kann, weil sie selbst ebenso wie ihre Unterschiedenheit vom Leib, die ihre Bestimmung ausmacht, theologisch recht nur vom Vollzug des Gottesverhältnisses her und in dessen Zusammenhang begriffen werden kann. Alle substantiellen Aussagen vom Menschen sind nach Luther Funktionsmomente der Gottesrelation. Abgesehen von dieser Relation lassen sich theologisch keine unzweideutigen anthropologischen Bestimmungen vornehmen, und zwar weder im Positiven noch im Negativen: So kann nach Luther weder gesagt werden, dass das Unwesen der Sünde primär in der Sinnlichkeit des Leibes bzw. in einem ungeordneten Überwiegen sinnlicher Triebe über das vernünftige Willensvermögen der Geistseele begründet liegt, noch kann die Geistseele als die von sich aus auf Gott hin disponierte Verfasstheit des Menschen behauptet werden. „Die Entgegensetzung von Geist und Fleisch und die Polarität des Geistigen und Leiblichen im Menschen sind auseinandergetreten.“ (Joest, 197; vgl. Peters, Mensch, 32; Schott, 85 ff.; Hermann, 207 ff.) Vernunft und Wille als Vermögen menschlicher Geistseele sind nach Luther keine per se guten oder auch nur neutralen Größen; ihre Güte bzw. Schlechtigkeit bemisst sich allein am Gottesverhältnis des Glaubens oder Unglaubens. Infolgedessen bestreitet der Reformator nicht nur, dass in der voluntas des auf sich selbst gestellten bzw. sich auf sich selbst stellenden Menschen ein liberum arbitrium angelegt sei, mit welchem menschliches Heil vor Gott zu bereiten sei; er bekämpft auch und nicht minder entschieden die Annahme, der Mensch sei durch ein ihm unmittelbar eigenes rationales Vermögen und eine substantielle Fähigkeit zu vernünftiger Selbstbestimmung in der Lage, vor Gott zu bestehen. Dies ist kein Indiz für einen wie auch immer gearteten anthropologischen Pessimismus, sondern ein theologisches Urteil, das als solches freilich auch von anthropologischer Bedeutung ist. Die bewusst vollzogene Disjunktion des Gegensatzes geistlich – fleischlich von der Polarität des Sinnlichen und Geistigen stellt nach Luther nämlich die Voraussetzung dafür dar, mit der geschöpflichen Bestimmung des Menschen insgesamt auch die kreatürliche Ursprungsbedeutung von ratio und voluntas neu und recht in den Blick zu bekommen, was gerade dann nicht möglich, sondern verstellt wird, wenn Vernunft und vernünftiger Wille tendenziell der endlichen, weil gottunterschiedenen Geschöpflichkeit des irdischen Menschen entnommen werden (vgl. im Einzelnen Lohse). Sünde ist nach Luther glaubenswidrige Verkehrung Gottes Gebot und die des Gottesverhältnisses des Menschen durch selbstSünde des Menschen süchtige Begierde und durch eine Selbstliebe, wel-
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che das eigene Ich zum Prinzip aller Dinge erhebt, um es im Widerspruch zur Ordnung der Schöpfung und der mit ihr gegebenen Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf an die Stelle Gottes zu setzen. Concupiscentia und amor sui stellen für den Reformator wie für Paulus (vgl. Rö, 7,7) und Augustin nicht bloße Erscheinungsformen der Sünde dar, sondern identifizieren die abgründige Verkehrtheit, in der und aus der heraus sie ihr Unwesen treibt. Das von Ichsucht beherrschte Streben bezeichnet die eigentliche causa deficiens der ihrem eigenen Abgrund verfallenen Sünde. Was dies für das Gottes-, das Selbst- und das Weltverhältnis des Menschen bedeutet, macht man sich am besten anhand der Dekalogauslegung in Luthers Katechismen klar und zwar dadurch, dass man sie im Modus des Widerspruchs liest. Was die Zehn Gebote und das Doppelgebot der Liebe als Zusammenfassung des Dekalogs gebieten, lässt sich auf einen einfachen Nenner bringen: Sei ein gottunterschiedener Mensch unter Menschen in einer gemeinsam gegebenen Welt! Diese Maxime statuiert kein positivistisches Gesetz, sondern bringt als lex naturalis und „paradigmatische Fassung des allen Menschen ins Herz geschriebenen Gottesgebotes“ (Peters, Katechismen, 74; vgl. Wenz) zum Ausdruck, wozu das Menschengeschöpf durch seinen Schöpfer bestimmt ist. Die Sünde versagt sich diesem Schöpfungsgebot; dies macht ihr Unwesen und ihre Schuld aus. Luthers Gliederung des Dekalogs, die seiner Katechismenauslegung zugrundeliegt, folgt der traditionellen Unterscheidung der Gebote der ersten und der zweiten Tafel. Bei den ersten drei Geboten handelt es sich um solche, „die da gegen Gott gerichtet sind“ (BSLK 586, 36), bei den folgenden um diejenigen, welche „gegen unserm Nähisten gestellet“ (BSLK 585, 47 f.) sind, wobei zu bemerken ist, dass die Beziehung zum Nächsten nicht nur das Verhältnis zum Mitmenschen, sondern auch das Selbstverhältnis betrifft, sofern in bestimmter Hinsicht der Mensch für sich selbst Bezugspunkt gebotener Verpflichtung, also ein Nächster ist. Der Ordnung des Dekalogs entspricht sonach ein komplexes Relationengefüge (vgl. Herms, 8). Dessen Differenziertheit löst die ursprüngliche Einheit nicht auf, sondern bestätigt sie, da die rechte Gottesbeziehung als Grund und Möglichkeitsbedingung eines richtigen Verhältnisses zu Selbst, Mitmensch und Welt zu gelten hat. Die Gebote der zweiten Tafel stehen demzufolge zu denen der ersten in einem Explikationsverhältnis, wobei hinwiederum, was die Gebote der ersten Tafel betrifft, das zweite und dritte Gebot das erste explizieren. Das erste Gebot liegt allen folgenden als Basis zugrunde, weil die dort ausgesprochene Regel alle weiteren einschließt. Das bestätigt Luther ausdrücklich, wenn er sagt, dass „das erste Gepot das Häupt und Quellborn ist, so durch die andern alle gehet, und wiederümb alle sich zurückziehen und hangen in diesem, daß End und Anfang alles ineinander geknüpft und gebunden ist“ (BSLK 644, 17–22). Als einem Zentrum seiner Theologie widmet der Reformator dem ersten Gebot in seinem Großen Katechismus eine vergleichsweise umfängliche Erklärung, „weil daran“, wie er betont, „allermeist die Macht liegt, darümb, daß . . . wo das Herz wohl mit Gott dran ist und dies Gepot gehalten wird, so gehen die andern alle
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hernach“ (BSLK 572, 10–14). Im Kleinen Katechismus hat Luther die hervorgehobene und einheitsstiftende Funktion des ersten Dekaloggebotes dadurch ausgedrückt, dass er die bündige Antwort auf die Frage nach dem Sinn dieses Gebotes (BSLK 507, 43 f.: „Wir sollen Gott über alle Ding fürchten, lieben und vertrauen.“) in Bezug auf alle weiteren je neu aufgreift, wenn deren Auslegung stets mit „Wir sollen Gott fürchten und lieben“ eingeleitet wird (vgl. BSLK 508, 5 ff.). Wir sollen Gott fürchten und lieben; das heißt im Sinne Luthers: wir sollen Gott als Gott erkennen und anerkennen, um uns in gläubigem Vertrauen ganz auf ihn zu verlassen. Kurz gesagt: Glauben und Glauben allein ist das der Gottheit Gottes entsprechende Verhalten des Menschen zu Gott. Der Glaube hinwiederum ist, was er ist, indem er der – allen weiteren theologisch gebotenen Differenzierungen grundgelegten – Differenz von Gott und Mensch samt Menschenwelt innewird, um ihr an sich selbst zu entsprechen. Das gebotene Werk des Glaubens läuft sonach auf eine stetige Selbstunterscheidung des Menschen samt seiner Welt von Gott hinaus. Nicht Gott zu sein und die Welt nicht mit Gott zu verwechseln, ist die Grundbestimmung des Menschen, wie sie mit seiner Geschöpflichkeit gegeben ist. Die Sünde in ihrer selbstsüchtigen Begehrlichkeit verkehrt diese Bestimmung des Menschengeschöpfs. Woran man zu denken hat, sucht Luther an „gemeinen Exempeln des Widerspiels“ (BSLK 561, 8 f.) anfänglich zu verdeutlichen, etwa am Beispiel derer, die ihr Herz an den Mammon bzw. an andere irdische Güter hängen, statt auf Gott und auf Gott allein zu vertrauen. Ersatz des Schöpfers durch ein Geschaffenes, Verkehrung des Unbedingten zu einem Bedingten bzw. eines Bedingten zum Unbedingten ist es, was sich die Sünde durch Übertretung des ersten Gebots zuschulden kommen lässt. Es macht das Unwesen der Sünde aus, „daß ihr Verkehrtes Trauen falsch und unrecht ist; denn es ist nicht auf Gottesverhältnis den einigen Gott gestellet, außer welchem wahrhaftig kein Gott ist im Himmel noch auf Erden“ (BSLK 564, 12–15). Als Kriterium des theologischen Urteils, verkehrt und recht zu scheiden, gilt entsprechend die konsequente Unterscheidung zwischen Gott und Welt, die überall dort missachtet wird, wo man „Hülfe und Trost suchet bei den Kreaturn, Heiligen oder Teufeln“ (BSLK 564, 23 f.) und sein Heil nicht Gott allein anvertraut. Um die Sünde zu meiden, hat sich daher der einfältige Christ vor allem in die rechte Unterscheidung zwischen Gott und Welt einzuüben, um auf diese Weise sich zum Gehorsam gegenüber dem ersten Gebot zu bereiten: „Frage und forsche Dein eigen Herz wohl, so wirst du wohl finden, ob es allein an Gott hange oder nicht. Hast Du ein solch Herz, das sich eitel Guts zu ihm versehen kann, sonderlich in Nöten und Mangel, dazu alles gehen und fahren lassen, was nicht Gott ist, so hast du den einigen rechten Gott. Wiederümb hanget es auf etwas anders, dazu sich’s mehr Guts und Hülfe vertröstet denn zu Gott, und nicht zu ihm läuft, sondern fur ihm fleugt, wenn es ihm ubel gehet, so hast Du ein andern Abegott.“ (BSLK 566, 47–567, 8) Dass die Rolle des „Abegotts“ nicht nur durch ein weltliches Gut, sondern auch
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und gerade durch das eigene Ich besetzt sein kann, wird im Katechismus zwar eher nebenbei, aber nichtsdestoweniger deutlich angesprochen. Grundverkehrt und ursündig ist es, sich auf sich selbst wie auf einen Gott zu verlassen. Die Katechismuskritik an der Annahme einer Rechtfertigung durch Werke zielt genau hierauf. Aus diesem Grund hat man zutreffend die Zusammengehörigkeit von Rechtfertigungsgedanken und Auslegung des ersten Gebots betont. Sieht Luther doch eine elementare Missachtung des ersten Gebots gerade dort gegeben, wo das Gewissen „Hülfe, Trost und Seligkeit suchet in eigenen Werken“, Gott den Himmel abzuzwingen sich vermisst und darauf pocht, „als wolle es nichts von ihm geschenkt nehmen, sondern selbs erwerben oder überflüssig verdienen, gerade als mußte er uns zu Dienst stehen und unser Schuldner, wir aber seine Lehenherren sein. Was ist das anders, denn aus Gott einen Götzen, ja einen Apfelgott gemachet und sich selbs fur Gott gehalten und aufgeworfen? Aber“, fügt Luther hinzu, „das ist ein wenig zu scharf, gehöret nicht für die jungen Schüler.“ (BSLK 565, 2–16) Trotz katechetisch gebotener Zurückhaltung ist klar, dass Luther in der menschlichen Selbstvergottung die abgründigste Verkehrtheit der Sünde erblickt. Sein zu wollen wie Gott: das ist die Sünde, welche, wie es in den Schmalkaldischen Artikeln heißt, „von Adam, dem einigen Menschen, herkommen (ist), durch welchs Ungehorsam alle Menschen sind Sunder worden und dem Tod und dem Teufel unterworfen. Dies heißt die Erbsunde oder Häuptsunde.“ (BSLK 433, 13–16) „Solche Erbsunde“, fügt Luther hinzu, „ist so gar ein tief bose Verderbung der Natur, daß sie kein Vernunft nicht kennet, sondern muß aus der Schrift Offenbarung gegläubt werden.“ (BSLK 434, 8–10 unter Verweis auf Ps 50, Röm 5, Ex 33 und Gen 3) Letzteres ist deshalb der Fall, weil die sündige Selbstvergottung des Menschen eine Verkennung Gottes impliziert, die alles Vernunftvermögen des Sünders in den Bann schlägt. Daran bestätigt sich, dass nach Luther die sündige Begierde nicht nur den äußeren Menschen betrifft, sondern ihn im Innersten und Ureigensten verkehrt. Das konkupiszente Unwesen der Sünde erschöpft sich nicht in körperlich-sinnlicher Wollust und lässt sich nicht in der Weise veräußerlichen, wie das nach Luthers Urteil die „Philosophi“ (BSLK 434, 16) und die „Schultheologen“ (BSLK 434, 12) tun, wenn sie dem der Sünde verfallenen Menschen unterschiedlich bemessene Restbestände an soteriologischem Eigenvermögen zuerkennen, statt ihn als zum Heil ganz und gar unfähig, ja als heilsunwillig zu qualifizieren. Durch letzteren Aspekt ist angedeutet, dass die in sündiger Selbstvergottung des Menschen wirksame ignorantia Dei nicht lediglich Unkenntnis, sondern eine bewusste Verkennung Gottes, nicht nur theoretischen, sondern praktischen Atheismus darstellt. Das peccatum originale ist kein bloßer Defekt am Menschen, sondern die Verkehrung seiner Grundverfassung, welche nicht nur einzelne Taten, sondern die innerste Natur des Täters verdirbt, weil sie „verkehrte Grundbefindlichkeit des Menschen in Bezug auf Gott“ (Kinder, 40), „verkehrtes Gottesverhältnis des Menschen“ (ebd.) ist. Die Verkehrung der Gottesrelation hinwiederum, durch welche Relation der Mensch stets und in jedem Fall – sei es des Glaubens oder der Sünde
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– wesentlich bestimmt ist, stellt nicht allein ein Defizit dar, sondern ist wirksam als aktiver Widerstand gegen Gott. Dieses aktive Moment in der Sünde will Luther besonders unterstrichen haben, wenn er sie im Anschluss an Augustin vorzugsweise als Konkupiszenz bezeichnet. Die Entzweiung des Menschen von Gott, welche Verkehrtes Selbst- und die Gottwidrigkeit sündiger Selbstvergottung des Weltverhältnis Menschen bewirkt, hat Zwietracht bezüglich des menschlichen Selbstverhältnisses und des Verhältnisses zu Mitmensch und Welt zur unmittelbaren und zwangsläufigen Folge. Was Letzteres betrifft, so gilt, dass dem Sünder mit Gott auch Mitmensch und Welt zuwider werden: Statt das irreduzible und unaufhebbare Anderssein Anderer nach Maßgabe des Gottesgebots der Nächstenliebe zu achten, verachtet er den Mitmenschen durch widerwillige Verkennung. Statt als Mensch wird dieser entweder als Gott oder als Untermensch betrachtet. Und selbst wenn das sündig verkehrte Ich im anderen seinesgleichen entdeckt, dann nicht, um den anderen als anderen zu ehren, sondern um ihn als bloßen Modus des Eigenen zu nutzen. Mit der Verkennung des Mitmenschen ist der Widerwille gegen ihn zwieträchtig vereint, wobei auch hier gilt, dass solcher Widerwille sich zwar auf sehr verschiedene Weise äußern kann, aber in der Tendenz immer auf einen menschen- und weltverachtenden Nihilismus hinausläuft, dem es am liebsten wäre, die Schöpfung ungeschehen zu machen. Die Folgen solchen Nihilismus sind tödlich. Wie das Verhältnis zu Mitmensch und Welt, so bleibt auch das Selbstverhältnis des Menschen durch die sündige Verkehrung des Gottesverhältnisses nicht unbetroffen. Indem das Ich auf gottwidrige Weise sich vergottet, wird es sich selbst zuwider. Das Verhältnis, in das sich das sündige Ich durch den gesetzten Widerspruch zu Gott zu sich selbst setzt, ist ein in sich widriges. Der in der Selbstvergottung wirksamen Verkennung Gottes korrespondiert die Selbstverkennung des sündig verkehrten Ich, dem Widerwillen gegen Gott der Widerwille gegen sich selbst, der diabolischen Verteufelung Gottes bewusste und willentliche Selbstzerstörung samt all den unmenschlichen Folgen, welche die sündige Selbstverkehrung des Menschen zeitigt. Indem die menschliche Sünde den Unterschied von Gott und Mensch negiert, muss ihr die Nichtgöttlichkeit des Menschen und namentlich des eigenen Ich als Menschenwidriges erscheinen. Sie verkennt damit, dass der Mensch dazu bestimmt ist, Mensch zu sein und dass die Endlichkeit des Menschen im Sinne seiner Gottunterschiedenheit kein anthropologisches Defizit, sondern eine Vollendungskategorie bezeichnet. Aus der Verkennung der Endlichkeitsbestimmung des Menschen resultiert menschlicher Widerwille gegen sich selbst zwangsläufig. Die Verkehrtheit des Ich zeugt sonach Widerwillen gegen sich selbst. Solcher Widerwille kann sich auf verschiedene und scheinbar gegenläufige Weise äußern, doch stets ist ihm ein fataler Hang zur Selbstzerstörung eigen. Der sündige Mensch verhält sich zu sich selbst inhuman. Was es mit dem inhumanen Verhalten des Sünders gegen sich selbst näherhin auf sich hat, lässt sich aus seinem Widerspruch gegen das vierte Gebot beispielhaft
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illustrieren. Luther hat das Gebot der Elternehrung das „erste und hohiste“ (BSLK 586,48 f.) der Gebote der zweiten Tafel genannt und ihm eine Leitfunktion für die fünf folgenden zuerkannt. Der Grund für diese erklärungsbedürftige Qualifizierung kann darin gefunden werden, dass mit dem Gebot der Elternehrung elementar auf das Grunddatum des Auf-die-Welt-Gekommenseins bzw. In-der-WeltSeins des Menschen Bezug genommen wird. Während das zweite und dritte Gebot das innere Verhaltensmuster gottgegründeten Menschseins seelsorgerlich zu gestalten suchen, ist das vierte Gebot in ursprünglicher Weise auf das leibhafte Dasein des Menschen in seiner schieren Tatsächlichkeit ausgerichtet, für welche die Herkunft von Eltern steht. Was das vierte Gebot gebietet, ist recht eigentlich nichts anderes als die rechte Wahrnehmung und Gestaltung der Grundgegebenheit äußeren Daseins menschlichen Lebens, welche darin besteht, dass jeder Mensch in einer singulären Weise, deren Einzigartigkeit auch durch das Faktum möglicher Geschwister nicht relativiert wird, Kind von Eltern, genauer gesagt: eines ganz bestimmten Mannes und einer ganz bestimmten Frau ist, ohne welche er nicht auf der Welt wäre und kein leibhaftes Dasein hätte. Dass es dabei um mehr und um anderes als um einen vom eigenen Leben distanzierbaren biologischen Sachverhalt geht, unterstreicht Luthers Auslegung dadurch, dass er im gegebenen Zusammenhang immer stärkeres Gewicht auf das Personalpronomen „Dein“ legt: „(I)m vorläufigen Text des GK fehlt es noch wie in den meisten mittelalterlichen Texten, im GK steht es nur beim Vater, im KK lautet das Gebot: ‚Du sollst Deinen Vater und Dein Mutter ehren‘. Im Anschluß an den Bibeltext Ex 20,12 akzentuiert der Reformator die gottgesetzte Zuordnung der Kinder zu ihren Eltern.“ (Peters, Katechismen, 180) Das mit der gottgesetzten Zuordnung der Kinder zu ihren je eigenen Eltern aufgegebene Grundgebot der zweiten Gesetzestafel bezieht sich, so lässt sich im Sinne Luthers folgern, auf das für alle äußeren Handlungsmuster gottgegründeter Subjektivität elementarste Datum, nämlich auf das jedem Handlungsvollzug des äußeren Menschen bereits kontingent zugrundeliegende Faktum seines leibhaften Daseins als solchen. Was das vierte Gebot als sittliche Grundaufgabe und Basishandlung für alles weitere verlangt, ist recht eigentlich dies, sich durch Ehrung elterlicher Herkunftsbeziehung ins rechte Verhältnis zum kontingenten Datum eigenen leibhaften Seins in der Welt zu setzen. Solche Elternehrung ist der Mensch gewissermaßen sich selbst schuldig, will er zur Leibhaftigkeit seines Daseins stehen und sich in dieser von den Eltern empfangenen Leibhaftigkeit als Geschöpf Gottes annehmen, welche Selbstannahme die Voraussetzung für die gebotene liebende Hinwendung zum Nächsten und zu allem Kreatürlichen darstellt. Im Widerspruch gegen das vierte Gebot, wie er sich aus dem Widerspruch gegen die Gebote der ersten Tafel zwangsläufig ergibt, tritt der Sünder in einen Gegensatz zur Faktizität seines leibhaften Daseins in der Welt. Er beklagt nicht nur diesen oder jenen äußeren Umstand, der mit seinem Auf-die-Welt-Kommen und In-der-Welt-Sein verbunden ist, sondern bleibt die Affirmation seines Weltdaseins grundsätzlich schuldig, weil es ihm im Innersten seiner selbst zuwider ist.
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Aus der Sucht der Selbstvergottung heraus tritt der Sünder in einen identitätsdestruierenden Widerspruch zu sich selbst, was in der Weise exaltierten Hochmuts oder sinnzerstörender Verzweiflung geschehen kann. In jedem Fall steht der Sünder in einem feindseligen Verhältnis zu sich selbst und seiner geschöpflichen Bestimmung. Durch das vierte Gebot als dem ersten der zweiten Dekalogtafel wird der Mensch dazu angehalten, in Gestalt seiner Eltern die Faktizität seines leibhaften Daseins in der Welt zu affirmieren. Die Sünde bleibt diese Affirmation schuldig und verweigert sich ihr unter dem Schein des Rechts. Dieser Schein wird durch die vermeintlich plausible, in Wahrheit irrige Annahme erzeugt, es gebe keinerlei Grund und Anlass, Verantwortung für etwas zu übernehmen, was in keiner Weise durch den eigenen Willen und die ihm folgende Tat hervorgebracht wurde, im gegebenen Fall also für das Faktum eigenen leibhaften Daseins in der Welt. Irrig, ja irre ist diese Annahme, weil sie einem evidenten Grundsachverhalt kreatürlichen Menschenlebens entgegensteht. Ist bereits durch den humanen Grundsachverhalt De servo arbitrio von Gegebenheiten, die um des Menschen willen zu affirmieren und zu verantworten sind, obwohl sie nicht selbsttätig verursacht wurden, die Kategorie indifferenter Wahlfreiheit problematisiert, so erweist sie sich nach Luthers Urteil hinsichtlich der alle Selbstverhältnisse des Menschen begründenden Gottesbeziehung als gänzlich ungeeignet, eine argumentative Basisfunktion einzunehmen. Luthers Argumentation in „De servo arbitrio“, der einzigen Schrift, der er neben seinen Katechismen beständige Geltung zuerkannte, bietet dafür klassische Belege, die auch in hamartiologischer Hinsicht von fundamentaler Bedeutung sind. Eine vis humanae voluntatis hatte Erasmus das liberum arbitrium genannt, „qua se possit homo applicare ad ea, quae perducunt ad aeternam salutem, aut ab iisdem avertere“ (Erasmus von Rotterdam, 36). Liberum arbitrium soll nach dieser Bestimmung offenbar jene Willenskraft heißen, welche der zur Entscheidung stehenden Wahl vorhergeht, um sie als solche, nämlich als eine vom Willen des Wählenden bestimmte und sonach gewollte zu ermöglichen. Als ein willentliches Entscheidungsvermögen steht das liberum arbitrium gewissermaßen jenseits des zu Wählenden bzw. jenseits der Alternative, zwischen welcher der Wahlentscheid zu treffen ist. Sein Status ist derjenige reiner Entscheidungspotentialität bzw. aktuell-faktischer Unentschiedenheit, in welcher die Differenz des zur Wahl Gestellten neutralisiert bzw. noch gar nicht erst hervorgetreten ist. Man kann die Freiheit des liberum arbitrium eine Indifferenzfreiheit nennen, welche unmittelbar durch sich selbst bestimmt, mithin die Freiheit puren Willens ist, welche ursprünglich nichts will als sich selbst und als Vermögen spontanen Beginnens von keinem anderen herzukommen, sondern rein mit sich selbst anzufangen beansprucht. Genau an dieser Stelle setzt Luthers Kritik an, wenn es heißt: „Sed hoc forte somniat Diatribe inter haec duo, posse velle bonum, non posse velle bonum, dari medium quod sit, absolutum Velle, nec boni nec mali habito res-
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pectu, ut sic argutia quadam Dialectica scopulos evadamus et dicamus, In voluntate hominis esse quoddam velle, quod in bonum quidem sine gratia non potest, nec tamen sine gratia statim non nisi malum velit, sed sit purum et merum velle, per gratiam sursum ad bonum, per peccatum deorsum ad malum vertibile.“ (WA 18,669, 20–26) Der Reformator lässt keinen Zweifel daran, dass er die Annahme eines solchen reinen, indifferenten und unentschiedenen Wollens nicht nur für unhaltbar, sondern für grundverkehrt hält. Denn nie sei der Wille ein bloßes Wollen, sondern stets ein Bestreben, das auf irgendetwas und nicht auf nichts gewendet ist. Gut und Böse sind für Luther immer schon bestimmend für den Willen, dessen neutrale Mittelstellung und Indifferenz ihrer Alternative gegenüber zu behaupten, nach seinem Urteil bereits eine Entscheidung für das Böse ist. Der berühmte Vergleich des Willens mit einem Reittier hat hier seinen argumentativen Ort. Danach werden wir in all unserem Tun und Lassen entweder von Gott oder dem Teufel geritten. Tertium non datur: „si insederit Deus, vult et vadit, quo vult Deus . . . Si insederit Satan, vult et vadit, quo vult Satan, nec est in eius arbitrio ad utrum sessorem currere aut eum quaerere, sed ipsi sessores certant ob ipsum obtinendum et possidendum.“ (WA 18,635, 18–22). Wo aber der Mensch meint, sich unter Berufung auf seinen freien Willen in ein indifferent-neutrales Verhältnis zu dem Gegensatz von Gott und Teufel setzen zu können, da hat er sich bereits für das Böse entschieden und sich zum vermeintlichen Herrn Gottes erklärt, welche Selbstvergottung nicht weniger als das peccatum originale ausmacht. Luthers Schrift „De servo arbitrio“ war von Anfang an zahlreichen Missverständnissen ausgesetzt, und dabei ist es bis heute geblieben. Der Hinweis mag daher nützlich sein, dass der Reformator dem Menschen ein liberum arbitrium in Bezug auf endliche Wahlgegenstände ausdrücklich zuerkannt hat. Er lehrt sogar, dass der Mensch vermöge seines Willens auch unter postlapsarischen Bedingungen den Anforderungen der zivilen Gerechtigkeit zu entsprechen und äußerlich ehrbar zu leben vermöge. Von einer vernünftigen Differenzierungsfähigkeit des Menschen im Zusammenhang seines Selbst- und Weltverhältnisses und von einer Wahlfreiheit in dieser Hinsicht kann nicht nur, sondern muss die Rede sein, wenn die irrtümliche Vorstellung eines Determinismus im Sinne eines naturhaften Kausalmechanismus vermieden werden soll, der menschliche Spontaneität ausschließt und nur willenlose Zwangsläufigkeiten zulässt. Unbeschadet dessen lehnt es Luther dezidiert ab, die Annahme arbiträrer Indifferenzfreiheit zu einer Leitkategorie theologischer Lehre vom Menschen und seiner Sünde zu erheben. Wo solches geschieht, sieht er das Thema vorweg und immer schon gründlich verfehlt. Der theologischen Unterscheidung zwischen einer äußeren Sphäre, in der menschliche Willensfreiheit zu konzedieren ist, und der über die innere Verfasstheit der Person entscheidenden Gottesbeziehung, hinsichtlich derer ein liberum arbitrium des Menschen gänzlich bestritten werden muss, korrespondiert im Kontext der Gesetzeslehre Luthers die Unterscheidung einer der Welt in reiner Weltlichkeit zugehörenden iustitia civilis und jener Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.
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Die Möglichkeit, seiner zivilen Rolle äußerlich gerecht zu werden, spricht Luther dem natürlichen Menschen auch unter der Voraussetzung innerer Verkehrtheit nicht ab. Allerdings muss man sehen, daß die Unterscheidung zwischen innen und außen selbst schon theologisch präjudiziert ist. Denn das unmittelbar seiner Selbstbestimmung überlassene liberum arbitrium tendiert zwanghaft dazu, die Grenzen seiner Äußerlichkeit zu sprengen, sich selbst zu totalisieren und den Schein eines die Differenz von innen und außen umgreifenden Ganzen zu erzeugen. Damit aber wird das Wesen der iustitia civilis, deren theologische Würde gerade in der strikten Selbstbegrenzung auf die äußere, weltliche Sphäre der Freiheit begründet liegt, in ihr gerades Gegenteil verkehrt. Abwegigen und freiheitszersetzenden Totalisierungstendenzen ist durch den Nachweis zu begegnen, dass die in der bürgerlichen Gerechtigkeit sich erfüllende lex civilis, in welcher der natürliche, an sich selbst gesetzes- bzw. gewissensförmige Vernunftwille des Menschen wirksam ist, nicht im Sinne isolierter Eigengesetzlichkeit zu gebrauchen ist, sondern nur im Zusammenhang mit dem usus elenchticus legis als dem eigentlich theologischen Brauch des Gesetzes. Allerdings handelt es sich dabei um einen differenzierten Zusammenhang, der den Unterschied zwischen usus primus und usus secundus legis nicht aufhebt, sondern recht eigentlich erst begründet, wobei allerdings das Begründungsgefälle eindeutig auf den usus elenchticus ausgerichtet bzw. an ihm orientiert ist. Auf das Problem der Wahlfreiheit angewendet heißt das, dass von einem liberum arbitrium theologisch überhaupt nur dann angemessen die Rede sein kann, wenn dieses als aufgehobenes Moment der Gottesbeziehung des Menschen auf dessen Selbst- und Weltbezug beschränkt und nicht zum Bestimmungsgrund der Gottesbeziehung erklärt wird. Wo solche Beschränkung statthat, ist das liberum arbitrium zugleich als das erkannt, was es ist: Indifferenzfreiheit, also eine Größe, die an sich selbst als unbestimmt und zweideutig zu qualifizieren ist und nur von Fall zu Fall der getroffenen Wahl bewertet werden kann gemäß der Einsicht: „Wollen heißt immer etwas Bestimmtes wollen.“ (Løgstrup, 517) Das liberum arbitrium als vernünftiges Willensvermögen, das den Menschen kreatürlich auszeichnet und von den übrigen Kreaturen unterscheidet, ist keine theologisch unzweideutige Größe, vielmehr theologisch eindeutig wahrgenommen nur, wenn es in seiner Zweideutigkeit erfasst und auf endliche Handlungsziele beschränkt wird, um nach der tatsächlich getroffenen Wahl beurteilt zu werden. Luthers Willenslehre wird recht verstanden nur, Usus elenchticus legis wenn man den Beziehungszusammenhang zwischen dem menschlichen Gottes-, Selbst- und Weltverhältnis und das Missverhältnis ins Auge fasst, zu dem die Sünde des Menschen diesen Beziehungszusammenhang verkehrt. Entsprechendes gilt in Bezug auf die Lehre vom Gesetz, deren innere Differenziertheit und deren Bezug auf das Evangelium recht zu bestimmen auch unter sündentheologischem Gesichtspunkt das Hauptproblem darstellt. Hamartiologisch entscheidend ist der usus elenchticus legis, obwohl er vom usus civilis legis ebensowenig separiert werden kann wie
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das peccatum originale von den peccata actualia und obwohl nur unter Bezug auf das Evangelium ein heilsamer Gebrauch von ihm zu machen ist. Der usus elenchticus legis identifiziert den Sünder bei und mit seiner Sündenschuld und überführt ihn derselben. Dabei handelt es sich bei dem gesetzlichen Urteil über die Sünde wie bei dieser selbst um eine Totalitätsbestimmung, welche nicht etwa nur die sog. niederen Triebe betrifft, sondern auch und gerade die ausgezeichneten Eigentümlichkeiten des Menschen, welche seine Sonderstellung im Kosmos ausmachen, nämlich sowohl den Willen als auch die Erkenntnis, kurzum: das Ich als den Inbegriff des Menschen in seiner Ganzheit. Eben dieses Ich wird durch das Gesetz im wahrsten Sinne des Wortes zugrunde gerichtet, indem ihm aufgewiesen wird, dass es in sich selbst grund- und bodenlos ist und von sich aus keine Stetigkeit hat, vielmehr sich selbst überlassen jenem nichtigen Nichts, jenem nihil pure negativum anheimfallen müsste, aus dem es Gott mitsamt seiner Welt ins Dasein gerufen hat, um es darin beständig zu erhalten. Das göttliche Gesetz richtet das menschliche Ich in der Weise zugrunde, dass es das Verhältnis von Gott und Mensch auf seinen Ursprung zurückführt, auf das Uranfängliche göttlicher creatio ex nihilo. In Bezug auf jenes Uranfängliche wird das Verhältnis Gottes und des Menschen mitsamt seiner Welt als ein absolutes wahrgenommen, indem der schöpferischen Allmacht Gottes ursprünglich schlechterdings nichts korrespondiert und alles weitere ausschließlich dem allmächtigen Schöpfergott zu verdanken ist. Das Verhältnis Gottes und des Menschen kann also prinzipiell nicht als ein relatives namhaft gemacht werden, wie das immer dann der Fall ist, wenn Gott und Mensch nach Weise zweier gegebener Relate in Beziehung gesetzt werden. Verkehrt ist diese Vorstellung u. a. deshalb, weil sie den Menschen als gewissermaßen selbstverständliches Datum voraussetzt und damit die Einsicht gegebener Kreatürlichkeit im Sinne der Gottgegebenheit menschlichen Daseins verstellt. Eben diese Einsicht wird durch das Gesetz im Sinne einer Schöpfungsanamnese restauriert, wobei – und darauf liegt der eigentliche Akzent der Ausführungen Luthers – jene Schöpfungsanamnese untrennbar mit dem Innewerden faktischer Unhintergehbarkeit des Falls der Sünde verbunden ist, durch welchen sich das Geschöpf gründlich verkehrte. In diesem Sinne bewirkt das Gesetz nicht nur, wie man bislang hätte vermuten können, Erkenntnis des allmächtigen Schöpfergottes und der Kreatürlichkeit gegebenen Daseins, sondern zugleich die Einsicht in die grundstürzende Verkehrung schöpfungsgemäßer Existenz durch gottlose Selbstvergottung des seiner kreatürlichen Endlichkeit uneingedenken und widerstrebenden Menschen. In solcher Einsicht wird das Nichts, aus dem Gott die Welt schuf, als höllischer Abgrund vorstellig. Dass Luthers Gesetzeslehre konsequent bedacht auf ein eschatologisch Äußerstes bezogen ist, beweist in hinreichender Deutlichkeit ihren transmoralischen Charakter. Sie denkt in extremis. Dies wird durch die Tatsache belegt, dass Luther den Gesetzesbegriff unbeschadet seiner konkreten materialen Ausformungen stets auf die Forderung der Gottesfurcht und Gottesliebe hin konzentriert bzw. radikalisiert hat. Was durch das Gesetz aufgedeckt wird, ist zunächst der faktische
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Unglaube des Menschen und erst infolgedessen der Mangel bzw. das Fehlen tätiger Werke der Liebe. In diesem Sinne geht es in der Gesetzesfrage nicht nur um den Realisierungszusammenhang, sondern auch und vor allem um die elementare theologische Konstitutionsbedingung des Menschlichen, nämlich um Gott selbst. Dabei bringt das streng theologisch gefasste Gesetz den Begründungszusammenhang des Humanen als reines Sollen und die Differenz zwischen Sollen und Sein als eine absolute zur Geltung. Dies geschieht dergestalt, dass dem reinen Sollen, wie es sich im Gesetz als einem göttlich gesetzten ausspricht, auf Seiten des Menschen nicht nur nichts an positivem Vermögen, sondern einzig und allein jene gänzliche Unmöglichkeit entspricht, oder besser: widerspricht, zu welcher sich der Mensch faktisch bestimmt hat, um der Sünde und damit jenem Abgrund zu verfallen, der die Hölle selbst ist. Im Vergleich zu ihr wäre auch noch dem Nichts, aus dem der Mensch erschaffen ist, der – wenn man so sagen darf – Sinnvorzug zu geben. Luther wusste, dass es Schlimmeres gibt als den Tod, und die Erfahrung des gesetzlich manifesten Zornes Gottes ließ ihn mehrfach den Wunsch äußern, nicht geboren worden zu sein. In solcher Erfahrung ich-zersetzender Verzweiflung, in welcher der sündige Mensch und seine vom Übel gezeichnete Welt unterzugehen drohen, hat Luthers Gesetzeslehre ihren existentiellen Ort, ohne dass man deshalb sagen könnte und dürfte, sie beruhe auf bloß subjektiven Anlässen. Denn mögen auch Anlässe individueller Art den Entdeckungszusammenhang von Luthers Gesetzesverständnis mitbestimmen, so beansprucht dieses doch mit Recht, streng und ausschließlich theologisch begründet zu sein. Als solches will es ernstgenommen werden. Einen reformatorischen, ja überhaupt einen christEvangelium und Gesetz lichen Sinn erhält Luthers Gesetzeslehre allerdings erst im Zusammenhang mit einem geklärten Verständnis des Evangeliums, welchem das Gesetz zwar in bestimmter Weise vorhergeht, ohne doch deshalb seine Basis zu sein (vgl. Beißer/Peters). Denn zu gelten hat, dass von dem im Evangelium vorausgesetzten Gesetz nur unter Bezug auf das Evangelium als dem – in der Glaubensgewissheit sich zum Vorschein bringenden – Finalgrund des Gesetzes christlich sinnvoll die Rede sein kann. Würde doch das Gesetz ohne das Evangelium nur Verzweiflung anrichten. Bringt sonach das Evangelium den eigentlichen Sinn des Gesetzes allererst zur Geltung, nämlich durch Negation verkehrter Freiheit der wahren den Weg zu bereiten, so bleibt zu fragen, worin denn die Wirklichkeit wahrer Freiheit recht eigentlich besteht. Darauf ist mit Luther bündig zu antworten: In der vom Evangelium getragenen Gewissheit, dass Gott dem endlichen Menschen und seiner Welt auch unter den faktischen Bedingungen sündiger Selbstverkehrung, wie das Gesetz sie verklagt, einen bleibenden Bestand und ein ewiges Recht in ihm selbst aus reiner Gnade gewähren will, um den Sünder so von der schöpfungswidrigen Vergessenheit seines kreatürlichen Gottgegebenseins abzubringen und zu einer Selbstakzeptanz eigener Endlichkeit zu führen. Solche Selbstakzeptanz eigener Endlichkeit, welche der natürliche Mensch aus eigenem Willensvermögen nicht zu leisten vermag, ist die Vorausset-
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zung aller sinnvollen menschlichen Selbstvollzüge und Grundbedingung jedweder Moral, insofern diese von der im Herzen realisierten Einsicht lebt, nichts anderes als ein vom Zwang zu totalitärer Selbstüberhebung befreiter endlicher Mensch neben anderen, in ihrer unaufhebbaren Andersheit anzuerkennenden endlichen Menschen in einer gemeinsam gegebenen Welt sein zu wollen. Solcher Wille wird sich nicht mehr als liberum arbitrium, sondern als arbitrium liberatum verstehen. Dass auch das vom arbitrium liberatum bestimmte Handeln im Weisungszusammenhang göttlichen Gebots verbleibt und nicht in eine antinomische Sphäre entrückt, hat Luther mehrfach hervorgehoben, etwa wenn er von den neutestamentlichen exhortationes spricht, „quae iam iustificatos et misericordiam consecutos excitent, ut strenui sint in fructibus donatae iustitiae et spiritus charitatemque exerceant bonis operibus fortiterque ferant crucem et omnes alias tribulationes mundi“ (WA 18,693,2–4). Die betonte Transmoralität von Luthers Gesetzesverständnis darf also nicht mit Amoral verwechselt werden. Denn auch unter der Voraussetzung des Rechtfertigungsevangeliums, welches dem Glauben bedingungslos zugesagt ist, bleibt der Mensch den Geboten verpflichtet, wie sie durch den Schöpfungswillen Gottes materialiter festgelegt sind. Indes haben diese Gebote unter rechtfertigungstheologischen Bedingungen den usus elenchticus legis bereits grundsätzlich hinter sich und nehmen daher die Gestalt der Paränese an, welche die Aufgabe hat, die aus dem Glauben hervorgehenden Werke der Liebe zwanglos zu fördern. Durch die paränetische Weisung, wie sie nach Luther dem Evangelium konsequent folgt, ist das Missverständnis abgewiesen, als sei der Glaube zu Werken der barmherzigen Menschenliebe nicht von seinem göttlichen Grund her verpflichtet. Indes wird damit keineswegs revoziert, „daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28; vgl. WA 18,767 ff.). Vielmehr besteht die eigentliche Pointe reformatorischer Lehre für die Ethik gerade in der Einsicht, dass der Mensch gute Werke fürsorglicher Liebe überhaupt nur unter der Voraussetzung erbringen kann, dass ihm im gläubigen Vertrauen auf die unbedingte Gnade Gottes die Angst genommen ist, sich selbsttätig sein ewiges Heil verschaffen zu müssen. Kurzum: Nach Luther können Christen nur – aber nun auch gerade deshalb – recht für das Reich Gottes arbeiten, weil sie der Sorge um dessen Kommen enthoben sind. Am 12. Mai 1531 schrieb Philipp Melanchthon dem Schwäbisch Haller Reformator Johannes Brenz einen Brief, in dem er ihm, man höre, vorhielt, in der Rechtfertigungslehre noch zu stark von Augustin abhängig zu sein. Dieser habe die vom Heiligen Geist bewirkte Gesetzeserfüllung als Grund der Rechtfertigung angesehen, wohingegen der Rechtfertigungsgrund in Wahrheit allein der Glaube an die Verheißung Christi sei, dem die Liebe allerdings notwendig zu folgen habe. Der Fehler Augustins, von dem Brenz sich losmachen solle, bestehe im Wesentlichen darin, zwar den Anfang des Rechtfertigungsgeschehens durch Gottes unbedingte Gnade vorbehaltlos bestimmt sein zu lassen, sodann aber die im Gerechtfertigten statthabende Vereinigung von Gnade und Eigenvermögen zum Bezugs-
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punkt des göttlichen Rechtfertigungsurteils zu erklären, womit dieses in eschatologischer Hinsicht analytischen Charakter annehme. Dem sei entgegenzuhalten: „non dilectio, quae est impletio legis, iustificat, sed sola fides, non quia est perfectio quaedam in nobis, sed tantum, quia apprehendit Christum, iusti sumus, non propter dilectionem, non propter legis impletionem, non propter novitatem nostram, etsi sint dona Spiritus Sancti, sed propter Christum, et hunc tantum fide apprehendimus.“ (CR [= Corpus Reformatorum] 2, 501 f.; vgl. WA Br 6, 98 ff. [1818]) Ohne sich in Bezug auf Augustin festzulegen, hat Glaubensgerechtigkeit Luther Melanchthons sachliche Sicht der Dinge ausdrücklich geteilt und dem Schreiben des Praeceptor Germaniae an Brenz folgendes Postskript angefügt: „Et ego soleo, mi Brenti, ut hanc rem melius capiam, sic imaginari, quasi nulla sit in corde meo qualitas, quae fides vel charitas vocetur, sed in loco ipsorum pono ipsum Christum et dico: haec est iustitia mea; ipse est qualitas et formalis, ut vocant, iustitia mea, ut sic me liberem ab intuitu legis et operum; imo et ab intuitu obiecti istius, Christi, qui vel doctor vel donator intelligitur; sed volo ipsum mihi esse donum et doctrinam per se, ut omnia in ipso habeam. Sic dicit: ego sum via, veritas et vita. Non dicit: ego do tibi viam, veritatem et vitam, quasi extra me positus operetur in me. Talia in me debet esse, manere, et vivere, loqui, non per me, an eis eme. 2 Cor. 5: ut essemus iustitia in illo, non: in dilectione aut donis sequentibus.“ (CR 2, 502 f.) Der Zusatz zu Melanchthons Brenzbrief belegt nicht nur die grundsätzliche rechtfertigungstheologische Einigkeit der beiden Wittenberger Reformatoren, er zeigt zugleich an, worin die jeweiligen Unterschiede der Akzentsetzungen begründet liegen. Während für Melanchthon die Vorstellung göttlicher Zurechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit oder besser gesagt: der imputatio der Gerechtigkeit Christi zugunsten des Glaubenden im Vordergrund steht, fungiert bei Luther der Gedanke exzentrischer Christusgemeinschaft des Glaubens als Grundlage der Rechtfertigungslehre. Folgt man dem gemeinsamen Briefzeugnis Luthers und Melanchthons, dann ist davon auszugehen, dass der Gedanke der in der „unio cum Christo“ gegebenen Glaubensgerechtigkeit mit der Vorstellung forensischer Imputation nicht nur kompatibel, sondern derart vereinbar ist, dass eine wechselseitige Explikation beider rechtfertigungstheologischer Grundannahmen möglich ist. Dabei ist die Imputationsvorstellung rechtfertigungstheologisch auf den Gedanken gläubigen Seins in Christo notwendigerweise angewiesen, weil ihr ohne diesen Gedanken die Externität des Glaubensgrundes zu einer Äußerlichkeit verkommen müsste mit der Folge, dass der Glaube der in Christus aus göttlicher Gnade gegebenen Gerechtigkeit gerade nicht inne würde und die forensisch begründete Rechtfertigung auf eine Ergänzung durch die Annahme zu erfolgender Erneuerung des Menschen zwangsläufig angewiesen wäre. Zugleich aber kann sich der rechtfertigungstheologische Grundgedanke der durch gläubige Christusgemeinschaft gegebenen Gerechtigkeit vor Gott nicht ausschließend verhalten gegen die Vorstellung
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forensischer „reputatio“, will er nicht in die Gefahr geraten, seiner exzentrischen Struktur verlustig zu gehen. Denn dies ist und bleibt ja bis auf weiteres die entscheidende Frage, wie sich die in der Teilhabe an Christus gegebene reale Gerechtigkeit des Glaubens zur empirischen Realität des glaubenden Menschen in sich selber verhält. In sich selbst ist und bleibt der Gerechtfertigte Sünder, der bestenfalls anfänglich und approximativ das Rechte zu wirken vermag. Die ihn rechtfertigende Gerechtigkeit ist ihm daher nicht unmittelbar eigen, sondern mittels des Glaubens zugeeignet, der das Seine nicht bei sich sucht, sondern sich ganz auf Jesus Christus verlässt. Mit dem Gedanken gläubiger ChristusgemeinPostbaptismale schaft ist nicht nur der theologische Ort markiert, Konkupiszenz an dem die Im- bzw. Reputationsvorstellung ihre rechtfertigungstheologische Funktion zu erfüllen hat, es ist zugleich angezeigt, worauf die „simul iustus et peccator“-Formel (vgl. im Einzelnen Schneider/Wenz [Hg.]) Luthers und seine Annahme zielen, die im Getauften verbleibende Konkupiszenz sei Sünde im eigentlichen Sinne. Was letzteren Aspekt betrifft, so ist an zwei Sätze zu erinnern, welche in der Bulle „Exsurge Domine“ vom Juni 1520 als Errores Martini Lutheri verurteilt wurden: „In puero post baptismum negare remanens peccatum, est Paulum et Christum simul conculcare.“ (DH 1452) „Fomes peccati, etiamsi nullum adsit actuale peccatum, moratur exeuntem a corpore animam ab ingressu caeli.“ (DH 1453) Nachdem die Konfutatoren diese beiden Sätze erneut gegen Luther ins Feld geführt hatten, verteidigte Melanchthon den Reformator in seiner Apologia Confessionis Augustanae mit dem Hinweis, dieser habe stets gelehrt, „quod baptismus tollat reatum peccati originalis, etiamsi materiale, ut isti (sc. scholastici) vocant, peccati maneat, videlicet concupiscentia“ (Apol II,35). Zugleich habe er in bezug auf das „materiale“ der Sünde hinzugefügt, dass der durch die Taufe gegebene Geist im Menschen die Konkupiszenz zu töten beginne und neue Regungen schaffe (vgl. Apol II,36). Damit befinde er sich in Übereinstimmung mit Augustin, welcher lehre: „Peccatum in baptismo remittitur non ut non sit, sed ut non imputetur.“ (Apol II,36; vgl. BSLK 154, Anm. 4 sowie 5 und 6) Bestehe sonach zwischen der Auffassung Luthers und der herkömmlichen kein inhaltlicher Widerspruch, so bewege sich der Reformator auch in terminologischer Hinsicht in traditionellen Bahnen, wenn er die Konkupiszenz nicht als Strafe (poena), wie die Gegner, sondern als Sünde (peccatum) bezeichne. Denn dies sei nicht nur der augustinische, sondern bereits der paulinische (Röm 7,7; Röm 7,13) Sprachgebrauch, dessen sachliches Recht nach einhelligem Urteil der Väter darin bestehe, deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass die nach der Taufe verbleibende Konkupiszenz, obgleich sie denen, die in Christus sind, nicht als Sündenschuld angerechnet werde, doch an sich selbst und abgesehen von dem in der Taufe erschlossenen Christusbezug eine todeswürdige Sünde und keineswegs ein bloßes Adiaphoron sei. Was den Verweis auf Augustin angeht, so trifft zu, dass nach seiner Lehre die sarkische Konkupiszenz in der Taufe zwar nachgelassen wird, nicht aber so, dass
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sie nicht mehr sei, sondern dass sie nicht mehr zugerechnet werde. Erlassen wird der reatus concupiscentiae, die Konkupiszenz selbst hingegen verbleibt als Sünde auch im Getauften und zwar nicht nur im uneigentlichen, sondern – wie Augustin zumeist betont – im eigentlichen Sinn. Konnte Melanchthons Apologie daher mit Recht prinzipielle Übereinstimmung zwischen Luther und Augustin in der Frage der postbaptismalen Konkupiszenz konstatieren, so reicht diese Feststellung dennoch nicht hin, den eigentümlichen Sinn des rechtfertigungstheologischen Kürzels „simul iustus et peccator“ zu erschließen. Was unter dieser Wendung präzise zu verstehen ist, lässt sich Luthers früher Scholie zu Röm 7,25b entnehmen, wenn es heißt: „Vide, ut unus et idem homo simul servit legi Dei et legi peccati, simul Iustus est et peccat! Non enim ait: Mens mea servit legi Dei, Nec: Caro mea legi peccati, Sed: ego, inquit, totus homo, persona eadem, servio utranque servitutem. Ideo et gratias agit, Quod servit legi Dei, et misericordiam querit, quod servit legi peccati. Quis hoc de Carnali asserat homine, quod serviat legi Dei? Vide nunc, quod supra dixi, Quod simul Sancti, dum sunt Iusti, sunt peccatores; Iusti, quia credunt in Christum, cuius Iustitia eos tegit et eis imputatur, peccatores autem, quia non implent legem, non sunt sine concupiscentia, Sed sicut egrotantes sub cura medici, qui sunt re vera egroti, Sed inchoative et in spe sani seu potius sanificati i. e. sani fientes, quibus nocentissima est sanitatis presumptio, quia peius recidivant.“ (WA 56, 347, 2–14) Ein und derselbe Mensch ist gerecht und Sünder Simul iustus et peccator zugleich und zwar jeweils als ganzer. Gerecht ist er im Glauben an Christus, dessen Gerechtigkeit ihm zugerechnet wird, ungerecht aber in Bezug auf seinen empirischen, der Selbsterfahrung zugänglichen Zustand, der lediglich im Begriff steht, anfangsweise sich zu bessern. Oder mit der Scholie zu Röm 4,7 zu reden, wo Luther auf die rhetorische Frage, ob der von Christus nach Art des barmherzigen Samariters versorgte Mensch bereits vollkommen gesund bzw. gerecht sei, antwortet: „Non, Sed simul peccator et Iustus; peccator re vera, Sed Iustus ex reputatione et promissione Dei certa, quod liberet ab illo, donec perfecte sanet. Ac per hoc sanus perfecte est in spe, In re autem peccator, Sed Initium habens Iustitie, ut amplius querat semper, semper iniustum se sciens.“ (WA 56, 272, 17–21) Um des Trostes der angefochtenen Gewissen der Gläubigen willen ist alle rechtfertigungstheologische Aufmerksamkeit – und zwar auch und gerade unter der Voraussetzung der Taufe – vorbehaltlos auf die Externität des in Jesus Christus gegebenen Rechtfertigungsgrundes zu richten, auf welchen stetig und ausschließlich zu bauen die Bedingung der Glaubensgewissheit ist, welche durch Introspektion nicht nur nicht erreicht, sondern verstellt und unmöglich gemacht wird. Der Glaube wird seines Heils nicht anders und auf dauerhafte Weise inne, als dass er sich auf seinen externen, in Jesus Christus gelegten Grund verlässt, welcher ihn nicht nur konstituiert, sondern welcher allein ihm auch Beständigkeit zu verleihen vermag. Die Gerechtigkeit des Glaubens hat sonach weder ihren Ursprung noch ihren zeitlichen Bestand im Sein des Glaubenden in sich, sondern in jener
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Externität, auf welche sich zu verlassen das Wesen des Glaubens und die Eigentümlichkeit des Glaubensichs ausmacht. Es ist von Selbstbewusstsein als einer reflexiven Form der Selbstvergewisserung zwar nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden, weil es zu sich kommt nur, sofern es außer sich oder besser: vom Geist des Evangeliums dergestalt begeistert ist, dass es – statt in sich verkehrt – „exzentrisch“ zu sein und zu leben vermag. Hält man sich an diesen Gedankenzusammenhang, dann verflüchtigt sich der falsche Schein, als sei Luthers imputative Rechtfertigungsvorstellung von derart forensisch-formaler Äußerlichkeit, dass sie auf Ergänzung durch die Zusatzannahme realer Erneuerung und Heiligung zwangsläufig angewiesen bleibt, um nicht ihrer eigenen Insuffizienz zu erliegen. Zugleich ergibt sich die Aufgabe, Totalitätsbestimmungen hinsichtlich des Seins des Glaubenden (simul totus iustus et totus peccator) und quantifizierende Aussagen (partim iustus et partim peccator), welche die Vorstellung eines notwendigen Wachstums in der Gerechtigkeit nicht nur zulassen, sondern erfordern, im Sinne eines theologischen Relationszusammenhangs zu begreifen, der als ursprünglich eins und nicht nach Weise von Additionen zu denken ist. Sinnvolle Lösungen dieser Aufgabe ergeben sich aus dem Grundsatz, dass Teilfortschritte weg von der Sünde und hin zum Guten überhaupt nur, aber auch gerade dadurch möglich sind, dass der Mensch von der Sorge ums eigene Seelenheil und um den Sinn des universalen Ganzen im Glauben von Grund auf befreit ist. Die Glaubensgewissheit des Glaubenden, Gott in Christus kraft des Heiligen Geistes ganz, unbedingt, voraussetzungslos und ohne jede Rücksicht auf Werke recht zu sein, ist die Voraussetzung dafür, auf dem Weg der tätigen Besserung Schritt für Schritt voranzuschreiten. Das „totus-totus“ schließt also das „partim-partim“ keineswegs aus, bildet im Gegenteil die Bedingung dafür, dass Gerechtigkeit im Sünder mehr und mehr wachse und Gestalt annehme.
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4. Tridentinische und thomanische Hamartiologie
Lit.: K. Bernath, Anima forma corporis. Eine Untersuchung über die ontologischen Grundlagen der Anthropologie des Thomas von Aquin, Bonn 1969. – M.-D. Chenu, Das Werk des hl. Thomas von Aquin, Heidelberg/Graz 1960. – E. Gilson, Der Geist der mittelalterlichen Philosophie, Wien 1950. – R. Heinzmann, Thomas von Aquin. Eine Einführung in sein Denken, Stuttgart 1994. – H. Köster, Urstand, Fall und Erbsünde. Von der Reformation bis zur Gegenwart (Handbuch der Dogmengeschichte. Bd. II/3c), Freiburg/Basel/Wien 1982. – U. Kühn, Via caritatis. Theologie des Gesetzes bei Thomas von Aquin, Göttingen 1965. – R. Leonhardt, Glück als Vollendung des Menschseins. Die beatitudo-Lehre des Thomas von Aquin im Horizont des Eudämonismus-Problems, Berlin 1998. – W. Metz, Die Architektonik der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. Zur Gesamtansicht des thomasischen Gedankens, Hamburg 1998. – O. H. Pesch, Kommentar zu Thomas von Aquin. Die Sünde (DThA Bd. 12), Wien 2004, 655–1122 (sh. Thomas). – Ders., Art. Thomas von Aquino (1224–1274)/Thomismus/Neuthomismus, in: TRE 33, 433–474. – Ders./A. Peters, Einführung in die Lehre von Gnade und Rechtfertigung, Darmstadt 31994. – St. H. Pfürtner, Triebleben und sittliche Vollendung nach Thomas von Aquin, Fribourg/Schweiz 1958. – E. Schockenhoff, Bonum hominis. Die anthropologischen Grundlagen der Tugendethik des Thomas von Aquin, Mainz 1987. – P. Schoonenberg, Theologie der Sünde. Ein theologischer Versuch, Einsiedeln/Zürich/Köln 1966. – M. Seckler, Instinkt und Glaubenswille nach Thomas von Aquin, Mainz 1961. – M. Sievernich, Schuld und Sünde in der Theologie der Gegenwart, Frankfurt/M. 21982. – Thomas von Aquin, Die Sünde. Kommentiert von O. H. Pesch. I-II, 71–89 (Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa Theologiae Bd. 12), Wien 2004 (= DThA 12).
Die Augustinische Sünden- und Gnadenlehre gab bis ins 6. Jahrhundert hinein Anlass zu theologischen Auseinandersetzungen, die die Kirche zum Teil heftig erschütterten. Den kirchenoffiziellen Sieg des Augustinismus erbrachte 529 die Synode im südgallischen Aurasio (vgl. DH 370–397) unter dem bestimmenden Einfluss des Bischofs Caesarius von Arles. Von Papst Bonifatius II. wurden die Oranger Synodalbeschlüsse eigens bestätigt (vgl. DH 398–400). Nachdem sie lange in Vergessenheit geraten waren, hat man sich ihrer im 16. Jahrhundert erinnert und zwar sowohl auf reformatorischer als auch auf der Seite der sog. Altgläubigen, wie insbesondere das tridentinische Erbsündendekret belegt. Nach mehr als einem Jahrtausend sucht es erkenntlich Anschluss an die Oranger Kanones, deren antipelagianische bzw. antisemipelagianische Tendenz sie trotz gegenreformatorischer Bestrebungen im Grundsatz teilt. Hier wie dort wird die Auffassung verworfen, der Mensch sei durch den Fall Adams nicht ganz, nämlich dem Leib und der Seele nach, sondern nur leiblich dem Verderben verfallen, wohingegen die seelische FreiOranger Synodalbeschlüsse und tridentinisches Ursündendekret
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Tridentinische und thomanische Hamartiologie
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heit unversehrt fortbestanden habe. Hier wie dort wird gelehrt, dass Gottes Gnade und sie allein im Menschen Wollen und Vollbringen bewirke, um ihn von Ungläubigkeit zum Glauben und von Gottwidrigkeit zur Frömmigkeit zu lenken: Niemand könne kraft eigenen Willens ohne Hilfe des Hl. Geistes irgendetwas Gutes leisten oder gar das Heil ewigen Lebens erlangen; auch sei die Natur aller Adamskinder von sich aus unfähig, das Heilsgeheimnis Gottes unter Absehung von göttlicher Offenbarung zu erfassen. Texte treffen Aussagen und sind primär deshalb von Interesse. Doch interessant ist mitunter auch, was in ihnen nicht explizit zur Sprache gebracht wird, sondern unausgesprochen bleibt. Gerade bei Verfügungen, die mit autoritativem Anspruch versehen sind, ist das keiner definitiven Entscheidung Zugeführte nicht minder beachtenswert als das verbindlich Vorgeschriebene. Das Erbsündendekret des Konzils von Trient vom 17. Juni 1546 lässt wie ein gutes Jahrtausend zuvor die 2. Synode von Orange viele Fragen unbeantwortet, die in den vorangegangenen Diskussionen zum Teil kontrovers diskutiert wurden (vgl. Köster 55 f.). Es verzichtet nicht nur auf eine nähere Bestimmung des urständischen Verhältnisses von Natur und Gnade, sondern auch auf eine förmliche Definition des (Un-)Wesens der Erbsünde und des genauen Ausmaßes des Verderbnisses, welches sie der menschlichen Natur zufügt. Offen bleibt ferner, ob und in welchem Grade die Erbsünde als freiwillig zu denken (Köster, 55) und inwieweit Willensfreiheit unter postlapsarischen Bedingungen erhalten sei. Manche Antworten wurden im späteren Rechtfertigungsdekret nachgereicht, doch der Entscheid traditioneller Schulstreitigkeiten wird auch in ihm geflissentlich vermieden. Die tridentinische Lehre von Erbsünde und Rechtfertigung setzt der Schultheologie Rahmenbedingungen, ohne sich selbst scholastisch zu explizieren. Im Dekret über die Ursünde der 5. Sitzung des Konzils von Trient (vgl. DH 1510–1516) wird in der Absicht gelehrt, den katholischen Glauben von Irrtümern gereinigt in seiner unversehrten und unverletzten Reinheit zur Darstellung zu bringen, dass Adam, der erste Mensch, nachdem er das Gebot Gottes (mandatum Dei) im Paradiese übertreten hatte, sogleich (statim) die Heiligkeit und Gerechtigkeit, in die er eingesetzt worden war, verloren und sich durch den Verstoß dieser Übertretung (per offensam praevaricationis huiusmodi) den Zorn und die Ungnade Gottes und deshalb den Tod und mit ihm die Knechtschaft unter der Herrschaft des Teufels zugezogen habe. Der ganze Adam sei durch die Übertretung des Gottesgebots dem Leib und der Seele nach (secundum corpus et animam) zum Schlechteren (in deterius) gewandelt worden. Gegenteilige Behauptungen werden anathematisiert (vgl. DH 1511). Anathematisiert wird ferner die Behauptung (vgl. DH 1512), die Übertretung Adams habe nur ihm und nicht seiner Nachkommenschaft (eius propagini) geschadet. Richtig sei vielmehr, dass Adams Verlust der von Gott empfangenen Heiligkeit und Gerechtigkeit einen Verlust nicht nur für ihn selbst, sondern auch für uns bedeute und zwar dem Leib und der Seele nach. Durch den gefallenen Adam sei nicht nur der leibliche Straftod, sondern auch der Tod seelischer Sündenschuld auf das ganze Menschenge-
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schlecht übertragen worden (in omne genus humanum transfudisse). Als Beleg wird die Vulgataversion von Röm 5,12 angeführt. In Röm 5,12 sagt der Apostel nach tridentinischer Propagatione, non Auslegung, dass die Sünde durch einen Menschen imitatione in die Welt gekommen sei (per unum hominem peccatum intravit in hunc mundum). Die Sünde Adams ist entsprechend, wie es in DH 1513 heißt, ihrem Ursprung nach eine (origine unum). Ihre Übertragung bzw. Transfusion erfolgt durch Fortpflanzung, nicht durch Nachahmung (propagatione, non imitatione). Allen wohnt sie inne (omnibus inest) und zwar einem jedem in eigener Weise (unicuique proprium). Hinweggenommen werden kann sie weder durch die Kräfte der menschlichen Natur (per humanae naturae vires) noch durch ein anderes Heilmittel (per alius remedium) als durch das Verdienst des einen Mittlers, unseres Herrn Jesus Christus, der uns in seinem Blut mit Gott versöhnt hat (per meritum unius mediatores Domini nostri Iesu Christi, qui nos Deo reconciliavit in sanguine suo). Angereichert wird der Bezug auf Röm 5,9 durch den Verweis auf 1. Kor 1,30, wonach Jesus Christus uns zur Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung geworden sei. Vermerkt wird ferner mit Verweis auf Apg 4,12, Joh 1,29 und Gal 3,27, dass das Verdienst Jesu Christi selbst durch das in der Form der Kirche rechtmäßig (rite) gespendete Sakrament der Taufe sowohl Erwachsenen als auch kleinen Kindern (tam adultis quam parvulis) appliziert werde. Kleine Kinder sind zu taufen und zwar gleich vom Mutterleibe weg (recentes ab uteris). Dies gilt auch von Kindern, die von getauften Eltern stammen. Gegenteilige Lehre wird mit dem Anathem belegt (vgl. DH 1514). Verurteilt wird des Weiteren die Auffassung, die Taufe von Kleinkindern sei nicht wahrhaft Taufe zur Vergebung der Sünden, weil diese nichts von einer Ursünde aus Adam auf sich gezogen hätten, was zum Zwecke der Erlangung ewigen Lebens durch das Bad der Wiedergeburt gesühnt werden müsste. Richtig und der apostolischen Überlieferung entsprechend sei, dass die Taufe von Kindern um dessen willen, was sie sich generativ zugezogen hätten, wahrhaft Taufe zu regenerativer Sündenvergebung sei, auch wenn die Täuflinge bis dahin in sich selbst noch keine Sünde begehen konnten (qui nihil peccatorum in semetipsis adhuc committere potuerunt). Zur Begründung wird erneut auf Röm 5,12 verwiesen, wonach in Adam alle gesündigt haben (in quo omnes peccaverunt). Weil alle Adamskinder durch generatio an der adamitischen Ursünde teilhaben und erbsündig sind, noch bevor sie sich aktueller Sünden schuldig gemacht haben, bedürfen sie der regeneratio der Taufe. Ohne Wiedergeburt kann kein natürlich Geborener ins Reich Gottes eingehen. Erst durch die in der Taufe übertragene Gnade Jesu Christi wird die Strafwürdigkeit der Ursünde (reatus originalis) vergeben. In diesem Zusammenhang (vgl. DH 1515) wird die Behauptung verworfen, es werde durch die Taufe nicht ganz (totum) weggenommen, was den wahren und eigentlichen Charakter von Sünde besitzt (quod veram et propriam peccati rationem habet), sondern nur abgekratzt oder nicht angerechnet (tantum radi aut non
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imputari). In den Wiedergeborenen (in renatis) hasst Gott nichts, und vom Eintritt in das Himmelreich hält sie überhaupt nichts zurück, wofür neutestamentliche Zeugnisse wie Röm 6,4 und 8,1.17 sowie Eph 4,22–24 und Kol 3,9 f. angeführt werden. Nicht dass das Konzil den Verbleib der Konkupiszenz bzw. des Zündstoffs (fomes) der Sünde in den Getauften leugnen würde. Für den Kampf zurückgelassen (ad agones relicta) kann die Begehrlichkeit aber jenen nicht schaden, die ihr nicht zustimmen und mit Hilfe der Gnade Jesu Christi mannhaft widerstehen. Als wahrhafte und eigentliche Sünde hat die postlapsarische Konkupiszenz in den Wiedergeborenen trotz des in Röm 6,12–15 und 7,7.14–20 begegnenden Sprachgebrauchs des Apostels nach tridentinischem Urteil nicht zu gelten: Sie ist aus der Sünde (ex peccato) und macht zur Sünde geneigt (ad peccatum inclinat), aber sie ist nicht „vere et proprie“ (DH 1515) Sünde. Das tridentinische Dekret „De peccato originali“ schließt mit der Erklärung, es sei nicht beabsichtigt, dasjenige in seinen Zusammenhang einzubegreifen, was über die selige und unbefleckte Jungfrau und Gottesgebärerin Maria zu sagen sei. Eine förmliche Definition zu Art und Weise ihrer Empfängnis wird nicht gegeben, obwohl deren späterer (ekklesiologische Abzweckungen nicht ausschließender) Primärzweck bereits unschwer erkennbar ist. Christologisch dient die Lehre von der immaculata conceptio Mariens dazu, die Sündlosigkeit Jesu Christi als eine singuläre Auszeichnung seiner menschlichen Natur durch Erbsündenfreiheit seiner Mutter zusätzlich abzusichern. Der erste Adam, geschaffen, und nicht geboren, sündigte; der von der unbefleckt empfangenen Jungfrau gemäß seiner menschlichen Natur seinerseits unbefleckt empfangene und geborene zweite Adam lebte als Inkarnationsgestalt des ungeschaffenen Logos Gottes nicht nur sündlos, sondern sühnte durch sein schuldloses Leiden und Sterben die Ursünde Adams und die Erbschuld des Menschengeschlechts, um Versöhnung zu schaffen zwischen Gott und den Sündern. Das peccatum originale ist universal und betrifft alle Nachkommen Adams. Es stellt den Abgrund dar, dem alle Aktualsünden verfallen sind. Der Art und Zahl nach eine und in ihrer Einzigkeit menschheitlich wirksam, trägt die der Menschheit vererbte Ursünde Adams aufgrund der widrigen Zwietracht, die ihr eignet, eine Unzahl von Verfehlungen in sich, deren Realität jedes Maß sprengt. Die von ihr bewirkte Schuld ist indefinit. Behoben werden kann sie nur von jenem einen, der in seiner Einzigkeit Adam einerseits gleicht, andererseits von ihm in unvergleichlicher Singularität unterschieden ist: von Jesus Christus, dem göttlichen Menschensohn und menschlichen Gottessohn, der den gottgeschaffenen, aber seine geschöpfliche Bestimmung verfehlenden und damit verlorenen Sohn, welcher der Vater des ganzen Menschengeschlechts ist, mit diesem zusammen zu retten berufen ist. Bei vorurteilsfreier Bewertung des tridentinischen Erbsündendekrets wird sich auch reformato- Natur und Gnade rischerseits ein redliches Bemühen um Nähe zu Augustin und zum Augustinismus nicht in Abrede stellen lassen. Der offenkun-
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dige Anschluss an die Synodalbeschlüsse von Orange belegt dies ebenso wie die unausgesprochene Korrektur an Positionen, die in der mittelalterlichen Scholastik und von römisch-katholischen Kontroverstheologen im vortridentinischen 16. Jahrhundert vertreten wurden. Einige von ihnen hatten ausdrücklich gelehrt, dass durch den adamitischen Sündenfall die Menschennatur „in sich nicht angetastet, die Vernunft nicht ausgelöscht, die Freiheit des Willens nicht genommen wurde. Nur geschwächt wurde all dies durch die nun fehlende Urgerechtigkeit.“ (Köster, 29) Das Tridentinum verwirft solche Auffassung nicht, setzt aber erkenntlich andere Akzente. Die Sünde hat eine derartige Verwundung menschlichen Wesens zur tatsächlichen Folge, dass die Natur des Sünders als natura subversa, depravata, debilita etc. zu bezeichnen ist, um zeitgenössische theologische Begrifflichkeiten zu verwenden. Um die sündige Verderbnis des Menschen näher zu bestimmen, hatte die Kontroverstheologie der Zeit vorzugsweise mit dem gängigen Axiom operiert: „im Übernatürlichen beraubt, im Natürlichen verwundet“ (Köster 29). Seine genaue Stellung zu diesem Grundsatz lässt das Tridentinum offen, auch wenn es ihn im Prinzip zweifellos anerkennt. Luther urteilte dezidiert anders; nirgends unterscheidet er „zwischen der Natur des Menschen und einer außer- und übernatürlichen Gabe (Gnade), die ihre Anlagen übersteigt. Im Gegenteil! Er lehnt diese Sicht mit seiner gewohnten Gereiztheit gegen die Scholastiker ausdrücklich ab.“ (Köster, 6) Die Urstandsgerechtigkeit war der Wesensnatur des Menschen gemäß. Ihr Verlust durch den Fall der Sünde betrifft entsprechend die menschliche Bestimmung. Die lutherische These von der totalen Verderbnis der menschlichen Natur durch die Sünde Adams gehört in diesen Zusammenhang. Luther und die Wittenberger Bekenntnistradition beurteilen die Erbsünde als Totalverkehrung menschlicher Wesensnatur und können sie als peccatum essentiale vel substantiale bezeichnen; die These des Flacius Illyricus von der Substantialität des peccatum originale, von der noch zu reden sein wird, ist also nicht einfachhin abwegig. Allerdings darf nach Maßgabe der Konkordienformel der Verlust der iustitia originalis seu concreata nicht als „Transsubstantiation“ der menschlichen Natur bzw. so verstanden werden, als sei die Erbsünde an die Stelle der Schöpfungsnatur des Menschen getreten und zu dessen postlapsarischem Wesen geworden. Wesensnatur und Erbsünde sind zu differenzieren und nicht identisch. Zur Begründung wird auf die ursprüngliche Güte der Schöpfung, auf die Sündlosigkeit des Menschseins Jesu Christi, auf die mögliche Befreiung des sündigen Menschen von der Sünde und die Verheißung seiner künftigen Verherrlichung nach Leib und Seele verwiesen. Es wird zu bedenken sein, wie sich diese Differenzierungen zu der in scholastischer Schöpfungstheologie begegnenden Unterscheidung von Natur und Gnade und zu dem tridentinischen Bestreben verhalten, die gänzliche leibseelische Verderbnis des Menschen durch den Sündenfall und seine völlige Gnadenangewiesenheit sowie den Verbleib eines freien Willens zur Mitwirkung am Heil zugleich zu behaupten. Im Blick auf das Tridentinum kann das mit Aussicht auf Erfolg nur dann geleistet werden, wenn im Verein mit seinem Dekret über die Erb-
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sünde auch dasjenige über die Rechtfertigung samt seiner Kanones in Betracht gezogen wird, weil beide sachlich zusammengehören und sich nicht trennen lassen. Alle Menschen haben „in praevaricatione Adae“ Das Rechtfertigungsdekret (DH 1521), in und durch Adams Fall ihre des Konzils von Trient Unschuld verloren: Sie sind Kinder des Zorns (Eph 2,3), Sklaven der Sünde (Röm 6,20) und der Macht des Todes und des Teufels unterworfen. Zur Rechtfertigung der gefallenen Sünder vor Gott war nicht nur die verbleibende Kraft der Menschennatur nicht in der Lage, sondern nicht einmal das den Juden durch Mose als buchstäbliche Weisung zum Guten gegebene Gesetz. Um Rechtfertigung des Sünders vor Gott zu wirken, bedurfte es der Sendung Jesu Christi und seines Versöhnungswerkes für Juden und Heiden, ohne dessen Zuwendung und gläubigen Empfang niemand selig zu werden vermag. So lehrt es das Trienter Dekret über die Rechtfertigung vom 13. Januar 1547 (vgl. DH 1520–1583) unter Berufung auf des Herrn ureigene Doktrin, wie sie durch die Apostel überliefert und von der katholischen Kirche durch die Eingebung des Hl. Geistes fortwährend bewahrt worden sei (vgl. DH 1520). Unbeschadet der Annahme eines Unvermögens der Natur und des Gesetzes zur Rechtfertigung des sündigen Menschen rechnet das Trienter Rechtfertigungsdekret mit keinem gänzlichen Verlust und keiner Auslöschung des freien Willens in ihm, sondern lediglich mit der Schwächung und Beugung seiner Kräfte (vgl. DH 1521). Die von Luther vertretene These, der freie Wille des Menschen sei nach dem Fall nur eine Bezeichnung ohne Inhalt, eine res de solo titulo, wird ausdrücklich verworfen (vgl. DH 1555). Zwar wird mit Nachdruck betont, dass der Rechtfertigungsvollzug beim Erwachsenen seinen Anfang ganz und gar von Gottes zuvorkommender Gnade (gratia praeveniens) durch Jesus Christus her nehmen müsse; doch hätten sich die Sünder in der Folge des Rufes der Gnade, der sie ohne ein von ihrer Seite vorliegendes Verdienst gratis ereile, unter Voraussetzung göttlichen Zuvorkommens durch freie Zustimmung und Mitwirkung zu ihrer Rechtfertigung dergestalt zu bekehren, dass sie zu ihrer eigenen werde. Gelten soll beides in einem: Ohne die Gnade Gottes kann sich der sündige Mensch kraft seines verbleibenden Willens nicht auf die Gerechtigkeit coram Deo hinbewegen; eines solchen Vermögens entbehrt er unter postlapsarischen Bedingungen durchaus gänzlich. Gleichwohl bleibt er am Rechtfertigungsvollzug, dem er sich gegebenenfalls auch verweigern kann, von Anbeginn nicht unbeteiligt. Zu sagen, der sündige Mensch vermöge zum Vollzug seiner Rechtfertigung vor Gott ohne dessen Gnade nichts beizutragen, heiße daher nicht, er sei am Beginnen des Justifikationsgeschehens unbeteiligt und könne selbst überhaupt nichts (DH 1525: nihil omnino) zu seinem gnadengewirkten Verlauf tun. Die Beschreibung des modus praeparationis der iustificatio impiorum im 6. Kapitel des Dekrets ist durch diese Vorgabe bestimmt. Die Vorbereitung zur Rechtfertigung wie ihr gesamter Verlaufsprozess ist gnadenbegründet und durch Gnade bewirkt, aber nicht ohne Mitwirkung des Menschen zu denken, der sich Gott aus freien Stücken zuzuwenden hat, wenn ihm die Gnade zum Heil gereichen soll.
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Der Rechtfertigungsvorgang selbst, der seiner zurüstenden Vorbereitung folgt, schafft nach Urteil des Trienter Konzils nicht nur Vergebung der Sünden, sondern auch Heiligung und Erneuerung des inneren Menschen durch willentliche Annahme der Gnade und der Gabe, aufgrund derer der Mensch aus einem Ungerechten ein Gerechter und aus einem Feind ein Gottesfreund wird. Als causa finalis iustificationis werden Gottes und Christi Ehre sowie ewiges Leben benannt, als causa efficiens fungiert der gratuito erbarmende Gott, als causa meritoria Jesus Christus, der durch sein Kreuzesleiden dem Vater für uns Genugtuung geleistet hat (pro nobis Deo Patris satisfecit), als causa instrumentalis die Taufe als das Sakrament des Glaubens. Die einige Formalursache des Rechtfertigungsgeschehens schließlich ist die iustitia Dei, nicht jene, durch die er selbst gerecht ist, sondern die, durch welche er uns gerecht macht. Vermöge der Gabe der iustitia Dei, „qua nos iustos facit“ (DH 1529), werden wir in unserem Innersten erneuert, um nicht nur als gerecht erachtet und befunden zu werden, sondern wahrhaft gerecht zu sein, indem wir die geschenkte Gottesgerechtigkeit – und zwar jeder die seine – in uns aufnehmen nach dem Maß, das der Hl. Geist nach seinem Willen dem einzelnen zuteilt, und gemäß der eigenen Vorbereitung und Mitwirkung eines jeden. Mit der Sündenvergebung wirkt die göttliche Rechtfertigungsgnade effektive Gerechtigkeit im Gerechtfertigten und einen Glauben, der in heiligmäßiger Liebe hoffnungsfroh tätig ist. Ohne Werke tätiger Liebe ist der Glaube tot und der Glaubende kein wirkliches Glied am Leibe Jesu Christi und am gegliederten Organismus der Kirche. Ohne Hoffnung und Liebe kann der Glaube ewiges Leben nicht erlangen. Wenn aber der Apostel sagt, dass der Gottlose durch den Glauben und umsonst gerechtfertigt werde, dann bringt er damit nach Urteil des tridentinischen Konzils zum Ausdruck, dass der Glaube die Grundlage und Wurzel jeder Rechtfertigung insofern ist, als er glaubt, dass nichts, was der Rechtfertigung vorhergeht, die Gnade der Rechtfertigung selbst verdient. Dass der Glaube der Liebe entbehren könne, werde indes in keiner Weise gesagt, sondern vom apostolischen Zeugnis dezidiert in Abrede gestellt. Initiiert wurde das Trienter Justifikationsdekret Dokument der nach eigenem Urteil (vgl. DH 1533 f.) durch eine Gegenreformation häretische Lehre von der Rechtfertigung, die sich praktisch in der vertrauensseligen Gewissheit erfolgter Sündenvergebung erschöpfe und in der falschen Sicherheit, in welcher sie auf das Gegebensein des eigenen Heils baue, die Sorge um reuige Buße und tätige Besserung gering schätze mit der Folge, dass das Gebot, in der empfangenen Rechtfertigung zu wachsen, sträflich vernachlässigt werde. Dass entsprechende Vorhaltungen auf die reformatorische Rechtfertigungslehre zielen, steht außer Frage, so fragwürdig es ist, ob diese dadurch getroffen wird. Wie auch immer: Nach Maßgabe des Trienter Dekrets steht fest, dass der Glaube allein zum Heil und zur Heilsgewissheit für den Fall nicht hinreicht, dass er die Werke der tätigen Liebe schuldig bleibt. In ihrer Übung beständig zu wachsen, sei notwendig, um die im Glauben empfangene Rechtfertigung zu bewahren und wirksam zu erhalten.
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Dass der Glaube zur Übung von Hoffnung und Liebe des erneuten und dauerhaften Gnadenbeistands Gottes bedarf, wird nicht nur nicht geleugnet, sondern nachdrücklich betont. Doch sei ein den bloßen Rechtfertigungsglauben übersteigernder Zuwachs an Gerechtigkeit, wie er durch fortschreitende Heiligung zustande gebracht werde, unabdingbar, um des verheißenen und wirksam zugesagten Gnadenheils wirklich teilhaftig zu werden. Auf diesen Skopus hin sind alle Aussagen ausgerichtet, die sich an das Kapitel „De acceptae iustificationis incremento“ (DH 1535) anschließen. Ob die Notwendigkeit und Möglichkeit der Beachtung der Gebote eingeschärft (DH 1536–1539), vor leichtfertigen Prädestinationsvermutungen gewarnt (Dh 1540) oder von der Beharrlichkeitsgabe (DH 1541), von den Gefallenen und ihrer Wiederaufrichtung (DH 1542 f.), vom Verlust der Gnade durch Todsünden (DH 1544) und vom Verdienst der guten Werke und seiner Eigenart (DH 1545–1550) gehandelt wird: die Argumentationsfolge ist in allen ihren Momenten auf den Schluss ausgerichtet, dass der Rechtfertigungsvorgang des Sünders ohne entsprechende Heiligungsfolgen nicht zielführend und nicht dasjenige ist, was er seiner Bestimmung nach zu sein hat und ist: Weg zum ewigen Heil, das Gott zwar aus reiner Gnade, aber nicht ohne tätige Mitwirkung derer zu gewährleisten gewillt ist, denen er seine in Jesus Christus kraft des Hl. Geistes offenbare Gnade durch die kirchlichen Mittel des Heils zu schenken beabsichtigt und tatsächlich schenkt. Das Tridentinum ist ein Dokument der Gegenreformation und hat einen wesentlichen Teil zur Konfessionalisierung der westlichen Christenheit beigetragen. Dies gilt unbeschadet des differenzierten Konsenses, der mittlerweile diesbezüglich erklärt wurde, auch für seine Rechtfertigungs- und Sündenlehre. Von der einschlägigen kontroverstheologischen Debatte wird in der Perspektive der Wittenberger Bekenntnistradition und der Dogmatik der altlutherischen Orthodoxie im Folgeabschnitt zu handeln sein. Zuvor ist unter Beschränkung auf hamartiologische Aspekte die tridentinische Doktrin auf die Theologie jenes Schultheologen rückzubeziehen, der kurz nach Abschluss des Konzils durch Papst Pius V. zum offiziellen Kirchenlehrer erhoben wurde, nachdem er im 14. Jahrhundert bereits heiliggesprochen und im 15. mit dem Ehrentitel „doctor angelicus“ ausgezeichnet worden war. „Inter scholasticos Doctores omnium princeps et magister longe eminet Thomas Aquinas“ (DH 3139): In ihm, so heißt es in der Enzyklika „Aeterni Patris“ Leos XIII. von 1888 unter Bezug auf Cajetan, seien die Erkenntnisse aller heiligen Lehrer der Kirche in wunderbarer Ordnung zusammengefasst und zu überlegener Einsicht erhoben. Unbestreitbare Tatsache ist, dass im Werk des Aquinaten und insbesondere in seiner großen Summe der überlieferte Augustinismus mit dem zu seiner Zeit neu entdeckten und für die künftige Theologiegeschichte überaus wirkmächtigen Aristotelismus zu einer philosophisch-theologischen Synthese vereint wurde, die ihresgleichen sucht (vgl. Chenu, Gilson, Heinzmann u. a.). Auch und gerade für das Verständnis von „Schuld und Sünde in der Theologie der Gegenwart“ (Sievernich) ist sie, wie sich am Beispiel K. Rahners, P. Schoonenbergs u. a. zeigen ließe (vgl. ebd.), trotz aller vorgenommenen Modifikationen von
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bleibender Relevanz. Von erheblicher Bedeutung ist sie fernerhin für den ökumenischen Dialog und zwar umso mehr, als katholischerseits die These vertreten wurde und wird, die thomanische Hamartiologie stehe der reformatorischen näher als die tridentinische. Die Prima Pars der Summa Theologiae des ThoVon Trient zu Thomas mas von Aquin ist grundgelegt durch die Lehre von Gottes Dasein und Wesen, seinem Leben, Erkennen und Wollen sowie von seiner Dreifaltigkeit. Auf dieser theologischen Lehrgrundlage wird das Werk der Schöpfung dargestellt, zunächst die Erschaffung der Engelwelt, sodann das Sechstagewerk und das Werk der Erschaffung des Menschen, dessen Wesen, Grundausstattung und Urzustand eingehend thematisiert werden. Der erste Teil der Summe schließt mit Ausführungen zur göttlichen Erhaltung und Regierung der Welt. Thema der Secunda Pars ist die Rückkehr des zum Ebenbild Gottes geschaffenen Menschen zu seinem Schöpfer auf dem Wege eines durch Einsicht geleiteten Handelns. Wie diese Rückkehr zu bewerkstelligen sei, wird im ersten Teil des zweiten Bandes der Summe generell, im zweiten Teil im Einzelnen bedacht. Dieser förmlichen Einteilung (vgl. im Einzelnen Metz) folgt auch die thomanische Lehre von der Sünde als demjenigen menschlichen Tun, das dem heilsamen reditus des Menschengeschöpfs zu Gott widerstrebt und sich aktiv der Einsicht widersetzt, die durch das Werk der Schöpfung erschlossen ist. Die spezielle Sündenlehre wird im zweiten Teil der Secunda Pars jeweils im Anschluss an die Lehre von den Tugenden, die hier interessierende generelle Hamartiologie in STh I-II,71–89 behandelt, worauf die nachfolgenden Verweise ohne Zusatzangaben bezogen sind; die Zitationsgrundlage bildet der lateinische Text für Bd. 12 der deutschen Thomas-Ausgabe (vgl. Thomas). Thema der Lehre von der Sünde im Allgemeinen sind ihr Wesen, der Unterschied der Sünden und ihr Verhältnis zueinander sowie subiectum, causa und effectus peccati. Ihrem Begriff nach bezeichnet Sünde gemäß Thomas eine lasterhafte Tat, die der tugendhaften entgegengesetzt ist. Tugend ist wesensmäßig die Verfasstheit eines vernunftbegabten Seins, das sich verlässlich seiner Vernunftbestimmung gemäß verhält. Solchem Verhalten eignet bonitas, Gutheit. Die tugendhafte Tat ist gut, weil sie dem Wesen des Menschen als eines animal rationale entspricht (vgl. im Einzelnen Schockenhoff, Leonhardt). Im Gegensatz dazu widerspricht die sündige Tat als eine Ausgeburt von Lasterhaftigkeit und Bosheit der menschlichen Bestimmung und ist als actus inordinatus (vgl. 71,1) sowohl der Vernunft als auch dem göttlichen Gesetz zuwider. „(P)eccatum fit“ (75,1): Sünde geschieht und ist Faktum. Alles Faktische aber hat eine Ursache. Demnach ist auch die Sünde in ihrer Faktizität verursacht. Als fehlgeleitete Tat ist ihre Verfehlung kein bloßes Fehlen von Wirklichkeit, sondern ursächlich gewirkt: „(P)eccatum non solum significat ipsam privationem boni, quae est inordinatio. Sed significat actum sub tali privatione, quae habet rationem mali.“ (75,1 ad 1) Verursacht ist die Sünde als fehlgeleitet-lasterhafte Tat nicht auf
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naturhafte, deterministische, zwangsläufige Weise, sondern willentlich. Der menschliche Wille ist die Hauptursache der Sünde. Er bewirkt sie, wenn er ohne Beachtung bzw. in Missachtung der Regeln der Vernunft und des göttlichen Gesetzes tätig wird. An sich selbst ist der Wille des Menschen ein Gut und eine zum rechten Gebrauch bestimmte Gabe Gottes. Missbraucht ist die Willensbegabung des Menschen stets dann, wenn sie vernunftwidrig und gegen Gottes Gebot in Anwendung gebracht wird. Böses entsteht aus dem Missbrauch des Guten. Unmittelbar ist dieser Missbrauch dem verkehrten Willen zuzurechnen, der die sündige Tat ins Werk setzt, mittelbar der Sinnlichkeit, die ihn motiviert, die Sünde zu tun. Als animal rationale hat der Mensch eine doppelte Natur, die vernünftige und die sinnliche (vgl. im Einzelnen Bernath). Beide Momente der menschlichen Doppelnatur sind gut, solange zwischen ihnen die rechte Ordnung waltet, der gemäß die natura rationalis als die bestimmende, die natura sensitiva als die zu bestimmende und bestimmte zu gelten hat. Doch besteht beim Menschen die Neigung, der sinnlichen Natur entgegen den Maßgaben der Vernunft zu folgen. Thomas bringt dies mit der Leibhaftigkeit der Menschenseele und mit seiner aristotelischen Grundannahme in Verbindung, dass der Mensch nur durch die Tätigkeiten der Sinne zu Vernunfttätigkeit gelangen könne (vgl. 71,2 ad 3). Doch ist die leibhafte Bindung des Menschen an die sinnliche Welt nach seinem Urteil keineswegs schlecht in sich selbst, sondern im Gegenteil ein Schöpfungsgut. Auch kann die sinnliche Neigung nicht bereits als solche für verkehrt erklärt werden. Erst wenn ihr der vernunftbegabte Wille auf vernunftlose und vernunftwidrige Weise folgt, bewirkt sie Böses. Dies geschieht auf mittelbare, nicht auf unmittelbare Weise. Die Primärschuld an der bösen Tat trägt der Wille, nur sekundär und indirekt die Sinnlichkeit, die zwar zur Sünde motiviert, um als ihr Beweggrund, aber nicht als eigentliche Sündenursache zu fungieren. Ursache der Sünde ist der Wille, welcher sich durch Sinnlichkeit zum Widerspruch gegen die Vernunft und das göttliche Gesetz verleiten lässt, statt nach Maßgabe beider die Sinne zu lenken und zu leiten. Die Macht der Sinne ist stark. Zu zwingen vermögen sie gleichwohl nicht. Denn der menschliche Schuld des Willens Wille ist nach Thomas grundsätzlich frei, sich den sinnlichen Reizen und Trieben hinzugeben, um ihnen zu erliegen, oder sie zu bändigen und Herr zu sein über sie (vgl. im Einzelnen Seckler). Zwar rechnet Thomas faktisch mit vielfältigen Willenseinschränkungen und Vernunfttrübungen durch sinnliche Einflüsse. Aber schuld an dem sündigen Tun des Bösen bleibt auch unter diesen Bedingungen der vernunftbegabte Wille, der es nicht hätte zulassen müssen und dürfen, von der Sinnlichkeit dominiert zu werden. Sinnlichkeit, wie gesagt, kann zum Motiv der Sünde werden, nie aber zur eigentlichen Ursache fehlgeleiteter Tat. Wohl ist der Wille gelegentlich heftigen Anstürmen des Sinnlichen ausgesetzt, doch nie in wehrloser Weise. Wenn die Sinnlichkeit ihm ihr Begehren vorbringt und versucht, ihm das begehrte sinnliche Gut als das einzig Erstrebenswerte
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aufzudrängen oder auf subtile Weise schmackhaft zu machen, hat der Wille vernünftigen Widerstand zu leisten. Nicht als ob er alle sinnlichen Wünsche abstrakt zu negieren hätte; davon kann nicht die Rede sein. Zu widersetzen hat er sich aber dort, wo die Sinnlichkeit in ihrer Unvernunft seiner Herr zu werden strebt, um ihn zu widervernünftigen Handlungen zu verleiten. Bleibt solcher Widerstand aus und gibt sich der Wille distanzlos dem sinnlichen Anliegen hin, dann verkehrt er seine vernünftige Bestimmung ins Gegenteil und verursacht die Untat des Bösen und sündiges Handeln. Die Erst- und Letztverantwortung für den Fall der Sünde liegt beim Willen: „causa sufficienter complens peccatum est sola voluntas.“ (75,3) Der die sündige Tat wirkende Wille kann seine Schuld nicht auf Anderes schieben. Er ist selbst schuld an der Sünde und im Grunde ihre alleinige Ursache. Als Ursprungsgrund willentlicher Taten (74,1: principium actuum voluntariorum) ist der Wille Prinzip sowohl guter als auch schlechter Handlungen. Beide geschehen freiwillig. Die Freiheit des Willens scheint also darin zu bestehen, arbiträr zwischen gut und böse entscheiden zu können. Dies aber wäre nach Thomas Willkür und nicht dasjenige, was unter Willensfreiheit zu verstehen ist, sondern das gerade Gegenteil davon. Denn wahrhaft frei ist der Wille nur in seiner Bindung an die Vernunft als die Natur und Wesensbestimmung des Menschen sowie an das göttliche Gesetz. Wo diese Bindung gelöst wird, pervertiert der Wille und wird verkehrt in sich. Dies ist stets dort der Fall, wo er sich der Macht der Sinnlichkeit unterwirft und sich von ihr beherrschen lässt. Diese vernunftwidrige Dominanz ist dem Willen nicht extern, sondern macht seine innere Verkehrtheit aus, die sich in sündigen Handlungen äußert. Zwar ist für Thomas Sünde immer actus und tathaft verfasst. Aber er rechnet nicht nur mit willensexternen, sondern auch mit willensinternen Tätigkeiten und Taten und kann daher sagen, dass der Wille in sich selbst sündig sei. Hingegen wird die Sinnlichkeit sündig nur insofern genannt, als ihr Streben durch den Willen ergriffen und willentlich auf vernunftwidrige Weise verfolgt wird. An sich selbst ist das sinnliche Streben und Begehren nur „fomes peccati“, nicht aber Sünde im eigentlichen Sinn. Die auf Augustin zurückgehende Rede vom „Zunder der Sünde“ bezeichnet die in der sinnlichen Struktur des Menschen angelegte Neigung zu Begehrlichkeit und Eigensucht. Das Bildwort war zur Zeit des Thomas „bereits zum theologischen Fachbegriff und Synonym für ‚Konkupiszenz‘ geworden“ (Pesch, DThA 12,789). Als „fomes peccati“ ist Konkupiszenz nach dem Urteil des Aquinaten Neigung zur Sünde, nicht aber sündig in sich. Selbst eine fehlgeleitete Regung der Sinnlichkeit ist nicht eigentlich Sünde, sondern erst unter der Voraussetzung ihrer willentlichen Affirmation und Aneignung. Es ist und bleibt also der Wille, der stricte dictu sündigt. Kann Sünde auch in der Vernunft sein? (Vgl. 74,5) Thomas bejaht diese Frage, sofern unter Vernunft ein dem Willen verbundenes rationales Vermögen zu verstehen ist, von dem der Mensch tätigen Gebrauch zu machen hat, was auf rechte, aber auch auf verkehrte Weise geschehen kann. Verkehrt ist der menschliche Gebrauch des Vernunftvermögens, wenn er der unbesonnenen und rücksichtslosen Durchsetzung sinnlicher Eigenin-
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teressen dient. Dieser Gebrauch läuft faktisch nicht nur auf Vernunftverzicht, sondern auf eine Ignoranz hinaus, die schlimmer ist als Unwissenheit, weil sie die menschliche Vernunft in einen Widerspruch zu sich selbst bringt. Sünde ist actus inordinatus, fehlgeleitete Tat. Verursacht ist sie unmittelbar durch verkehrten Actus inordinatus Willen und bestimmungswidrigen Gebrauch der Vernunft, mittelbar durch sinnliches Begehren, das zur Sünde bewegt, sie aber nicht direkt herbeiführt. Als Sündenmotiv wirkt das sinnliche Begehren wesentlich dadurch, dass es den Schein eines Gutes erzeugt, das auch wider die Regeln der Vernunft und Ordnung des göttlichen Gesetzes als erstrebenswert erscheint. Sitzt der Wille dem falschen Schein auf und erliegt dem sinnlichen Streben, indem er sich zu unvernünftigen und vernunftwidrigen Handlungen hinreißen lässt, dann sündigt er. Was Thomas über die inneren Ursachen der Sünden im Besondern (vgl. 76 ff.) ausführt, bestätigt diesen Sachverhalt. Bemerkenswert ist, dass er die Sünde, die den Seelengrund als die Basis aller Seelenvermögen an der Wurzel ergreift, im Anschluss an Augustin mit der Selbstverkehrtheit der amor sui gleichsetzt und verkehrte Selbstliebe zur Radikalursache aller Sünde erklärt. Sünde ist fehlgeleitetes Handeln, da der in ihr tätige Wille ein zeitliches, vergängliches Gut anstelle des ewigen begehrt. Dieses fehlgeleitete Begehren geht nach Thomas im Grunde stets aus einer fehlgeleiteten Selbstliebe hervor (vgl. 77,4), die zur Verachtung Gottes, von Mitmensch und Welt, ja letztlich zur Selbstzersetzung des Ureigenen führt. Neben bzw. zusammen mit seiner hamartiologischen Konzentration auf den amor sui verdient bemerkt zu werden, dass Thomas die Frage ausdrücklich bejaht, ob mit aus Fleiß, will heißen: aus bewusster Entscheidung heraus getätigter Sünde zu rechnen ist (vgl. 78,1). Damit wird erneut affirmiert, dass die Sünde Vernunft und Wille nicht nur in Form äußerer Sinnlichkeit, sondern im Innersten ihrer selbst betrifft, was eine theologische Neutralisierung ihrer Stellung eigentlich unmöglich macht. Das Wesen des Willens lässt sich zwar unterscheiden, nicht aber trennen von dem, was er will und worauf er aus ist. Ist er auf Gott, Gottes Gesetz und die Vernunftbestimmung ausgerichtet, die ihm gemäß der Ordnung der Schöpfung wesentlich ist, dann ist der Wille gut. Kehrt er sich hingegen von Gott als dem Grund und Ziel alles Seins ab, um sich unmittelbar auf sich selbst zu stellen, dann ist er böse. Bleibt hinzuzufügen, dass Gott, obwohl kein Tun ohne ihn wirksam sein kann, doch keinesfalls Ursache der Sünde genannt werden darf, weil er in seiner absoluten Güte niemals Böses will und Böses als Böses wirkt. Auch der Teufel ist nach Thomas nicht Ursache der Sünde zu nennen, weil er zu ihrer Tat zwar verführt, ihre Ausführung aber dem Menschen überlässt, um gerade so seine diabolische Unart unter Beweis zu stellen. Sünde ist willentliche Setzung des Menschen, der schuld an der Verfehlung ist, die er durch die Untaten des Bösen verursacht und bewirkt. Nun ist freilich jeder Wille, der ursächlich sündige Handlungen wirkt, eingebunden in eine Wirklichkeit, die auf ihn einwirkt und immer schon auf ihn eingewirkt hat, bevor er kon-
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krete Entschlüsse zeitigte und aktuell tätig wurde. Der Gedanke liegt daher nahe, dass, wie Sünde auf Sünde folgt, jeder sündigen Tat immer schon eine frühere Untat vorhergegangen ist, in deren Wirkzusammenhang sie steht. Daraus könnte gefolgert werden, „quod . . . omnis causa peccati est peccatum“ (75,4 ad 3). Thomas gelangt nicht zu diesem Schluss. Ursache von Sünde ist nach seinem Urteil nicht in jedem Fall eine Sünde; der hamartiologische Regress verläuft nicht in infinitum; vielmehr ist eine erste Sünde in Anschlag zu bringen, deren Ursache nicht eine andere Sünde ist. Das „primum peccatum, cuius causa non est aliud peccatum“ (75,4 ad 3), ist jene Sünde, welche die Ursünde des Stammvaters Adam ist, die als Ursprungssünde das ganze natürlich gezeugte Menschengeschlecht betrifft. Die Sünde Adams als die erste menschliche Sünde, Sünde Adams der keine andere voranging, deren Folgen aber das ganze adamitische Menschengeschlecht betreffen, besteht nach Thomas materialiter in einem Akt begehrlicher Selbstliebe und Abkehr von Gott, formaliter im Wegfall der Urstandsgerechtigkeit. Wie die Ursünde Adams eine war, so ist auch die von ihr herrührende Verderbnis in allen eine und gleichmäßig in allen. Von vielen Ursprungssünden in ein und demselben Menschen kann nicht die Rede sein. In jedem ist das peccatum originale zahlenmäßig eins und in allen Menschen seinem Bezug nach eine, nämlich „in respectu scilicet ad primum principium“ (82,2). Durch einen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen; die Ursprungssünde ist daher in allen Adamskindern eine. Auf die Nachkommen Adams übertragen wird das peccatum originale originaliter (vgl. 81,1), will heißen: durch Abstammung. Dies, so Thomas, sei seit alters Lehre der Kirche und werde durch die kirchliche Praxis der Säuglingstaufe bestätigt. Wie die abstammungsmäßige Übertragung des peccatum originale zu denken sei, wird, wie Thomas konstatiert, unterschiedlich beantwortet, wobei die einen den Traduktionsmodus eher seelisch, die anderen eher leiblich bestimmten. Beide Bestimmungen seien unzureichend. Alle Menschen, die von Adam abstammen, müssten in ihm als eins und als Partizipanten einer, durch den Fall der Ursünde verderbten Natur angesehen werden. In diesem Sinne nennt Thomas die Ursprungssünde Natursünde. Die Ursprungssünde bezeichnet nach ihm eine Fehlausrichtung der Menschennatur, die von Adams Sünde herrührt und zwar nicht durch den Eigenwillen seiner Nachkommen bedingt, wohl aber durch deren sündiges Handeln aktuiert wurde, um von einem naturhaften Fehler zu einer willentlichen Verfehlung zu werden. Obwohl kein Adamsnachkomme die erste Sünde des Stammvaters selbst begangen und willentlich verursacht habe, sei jeder von ihr betroffen, da er von der vom ersten Fall der Sünde ausgehenden, sich gattungsmäßig fortzeugenden Bewegung erfasst sei, die seine Natur nicht nur fehlbar mache, sondern sie von Grund auf fehlerhaft ausrichte, so dass die tatsächlichen Verfehlungen den Schein der Zwangsläufigkeit erzeugten, obwohl sie in Wahrheit willentlich seien. Um zu plausibilisieren, was er meint, vergleicht Thomas das Verhältnis zwischen der Ursünde des Stammvaters und der auf seine Nachkommen übertragenen
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Ursprungsschuld mit dem Verhältnis, das zwischen dem verkehrten Willen der vernunftbegabten Seele und den Gliedern des Leibes besteht, die willentlich zum sündigen Handeln bewegt werden. Begreift man den Leib des Menschen als Medium all seiner sinnlichen Weltbezüge, dann kann man das thomanische Verständnis des peccatum originale mit dem Schoonenberg’schen Stichwort des „Situiert-Seins“ umschreiben und mit der allen aktuellen Taten zuvorkommenden Tatsache in Verbindung bringen, dass jeder menschliche Selbstvollzug immer schon in Zusammenhänge verstrickt ist, die ihn in verkehrter Weise mitbedingen. Dazu gehören schlechte Vorbilder und Beispiele oder die Verdunkelung von Normen und Werten, von welcher die personale Identität in ihrer Genese nicht unberührt bleibt. Folgt man Schoonenberg, dann besteht der harte Kern ursündigen Situiert-Seins des Menschen im intransigenten Faktum einer gnadenlosen Welt, in welcher er sich immer schon vorfindet (vgl. Schoonenberg, 137 ff.). Alle Menschen haben durch Abstammung an der adamitischen Ursprungssünde teil, die ihre Natur verderbt und infolge der Naturverderbnis zu willentlichen Tatsünden führt, die als persönliche Schuld zuzurechnen sind. Eine Ausnahme hiervon stellt Jesus Christus dar, dessen Menschsein als uranfänglich logospersoniert zu gelten hat. Empfangen durch den Heiligen Geist und von der Jungfrau Maria geboren ist er sündlos auch gemäß seiner menschlichen Natur, die, weil nicht von Adam gezeugt, keinen Anteil hat an der durch seine Ursünde bewirkten Verderbnis. Interessant ist die Frage, ob sich die Nachkommen der Stammeltern des Menschengeschlechts die Ursprungssünde auch dann zugezogen hätten, wenn nur Eva, nicht aber Adam in Sünde gefallen wäre. Thomas verneint diese Frage mit dem nach seinem Urteil philosophisch evidenten Argument, dass der aktive Ursprungsgrund in generatione aufseiten des Vaters liege, wohingegen die Mutter lediglich die Stoffgrundlage bereitstelle. Zu behaupten sei daher, „quod in patre praeexistit filius sicut in principio activo, sed in matre sicut in principo materiali et passivo“ (81,5 ad 1). Insofern erübrige sich die Frage, was der Fall gewesen wäre, wenn Adam, nicht aber Eva gesündigt hätte. Auf die mariologischen Implikationen des Themas sei nur am Rande verwiesen. Das peccatum originale ist nach Thomas ein habitus, was seine Übersetzer ins Deutsche in der Sündiges Gehabe Regel mit „Gehabe“ wiedergeben. Dem ursprungssündigen Gehabe eignet jene fehlgerichtete Verfassung, die aus der Auflösung jener originären Schöpfungsharmonie hervorging, in der das Wesen der ursprünglichen Gerechtigkeit bestand (82,1: quaedam inordinata dispositio proveniens ex dissolutione illius harmoniae in qua consistebat ratio originalis iustitiae). Zwar schließt der von Adams Fall überkommene Sündenhabitus einzelne gute Taten und die Möglichkeit nicht aus, sich im konventionellen Rahmen des Ziemlichen zu halten. Aber eine innere Fehlausrichtung zum Bösen hin bringt er naturgemäß mit sich, wobei als primärer Träger der Ursprungssünde, als „subiectum originalis peccati“ (83,1), nicht der Leib, sondern die Seele und diese zunächst nach ihrem Wesen und dann gemäß ihrem Vermögen fungiert, unter denen der Wille entscheidend ist.
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Wie die Ursprungsgerechtigkeit primär eine Willensangelegenheit ist, so betrifft auch die ihr entgegengesetzte Ursprungssünde in erster Linie den Willen. Ihm und der Menschenseele, deren tatbestimmendes Vermögen er ist, hängt die Erbschuld vor allem an, wohingegen den Leib das peccatum originale erst indirekt, nicht als culpa, sondern als poena, gewissermaßen straffolgeweise angeht. Gerecht ist die leibliche Straffolge der Seelenschuld nach Thomas deshalb, weil der Leib mit der Seele als seiner Form (vgl. Bernath) unveräußerlich verbunden ist und als Ausführungsorgan ihrer Willensentschlüsse deren Konsequenzen zu tragen hat. Dabei sind es drei leibnahe Vermögen, die nach Thomas als Übertragungsmedien des seelischen Ursprungssündenfalls vor allem in Betracht kommen, nämlich das Zeugungsvermögen, die Begehrungskraft und der Tastsinn. Insbesondere durch sie befalle der ursprungssündliche Seeleninfekt den menschlichen Gesamtorganismus. Thomas unterscheidet zwei Gesichtpunkte, unter denen er das peccatum originale in Betracht zieht, den Aspekt, dass sie zu Tatsünden geneigt macht, und denjenigen ihrer Übertragung auf die Nachkommen Adams. Unter dem ersten Aspekt gehört die Ursprungssünde vorzugsweise zum Willen. Der von der Ursprungssünde infizierte Wille neigt dazu, in unvernünftiger und vernunftwidriger Weise sündige Handlungen zu tätigen und Sünde faktisch werden zu lassen. Erst damit ist, wenn man so will, der Begriff der Sünde realisiert. Denn Sünde ist Thomas zufolge ihrem Wesen nach Tatsünde, actus inordinatus. Auch kann von Schuld im eigentlichen Sinne erst in Bezug auf Tatsünden die Rede sein. Doch tritt die Sünde abgesehen vom Fall Adams nicht fallartig-abrupt in Aktion, sondern im Zusammenhang jenes Vorkommens, das die natürlichen Nachkommen Adams zu Erben seiner Ursünde werden lässt. Unter dem Gesichtspunkt ihrer Übertragung auf die adamitische Nachkommenschaft betrifft das peccatum originale unmittelbar die potentia generativa samt Begehrungskraft und Tastsinn, den Willen hingegen nur entfernt (83,4 ad 1: remote). Wie beide Gesichtspunkte sich zueinander verhalten und eine gemeinsame Perspektive finden sollen, ist das entscheidende Problem aller traditionellen Lehren vom peccatum originale, die stets zwei Bestimmungsmomente enthalten, einen willentlichen und einen gleichsam naturhaften, ohne dass ohne weiteres ersichtlich wäre, wie beide zusammenzudenken und zu vereinen sind. Doch mag gerade in solcher Uneindeutigkeit und Ambivalenz, die sich auch bei Thomas findet, ein charakteristisches Kennzeichen jeder Lehre vom peccatum originale zu erkennen sein, die ihrem Thema entspricht und ein Verständnis für seine Aporetik entwickelt. Sünde ist kein fatales Verhängnis und kein natürliches Übel, sondern als Schuld zurechenbar und zuzurechnen. Schuld an der Sünde trägt nach Thomas der menschliche Wille und im Grunde der Wille allein, sofern er die potentielle Neigung zu sündigen, die ihm gewissermaßen von Haus aus infolge adamitischer Herkunft eignet, in die Tat umzusetzen nicht gezwungen ist. Es liegt nach Thomas auch unter postlapsarischen Bedingungen durchaus in der förmlichen Freiheit des Willens, zu sündigen oder nicht zu sündigen, auch wenn letzteres bei keinem der
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Adamskinder faktisch und materialiter der Fall ist, weil alle Täter der Sünde sind. Trotzdem bleibt ihre Sünde Schuld, und das augustinische non posse non peccare darf jedenfalls nicht fatalisiert und zur Entschuldigung angeführt werden, was nach Thomas neue Sünde wäre. Sünde ist Tat und als Tat auf willentliche und schuldhafte Weise verursacht. Gleichwohl befindet Konkupiszente Lust sich der Täter der Sünde bereits vor all seinem sündigen Tun in einem Unheilsvorgang begriffen, der ihn gattungsmäßig betrifft. Er ist gemäß seiner adamitischen Menschennatur eingebunden in einen generativen Zusammenhang, der ihn Erbe der Ursünde des Stammvaters werden lässt. Präsent ist dieses Erbe nach Thomas in Form konkupiszenter Lust, wie sie im vollendeten Moment intimster Berührung, nämlich im Geschlechtsakt statthat, um sich mittels dessen fortzuzeugen durch alle Generationen des Menschengeschlechts. Nicht als ob Thomas das Zeugungsvermögen, die Kraft des Begehrens und den taktilen Sinn unmittelbaren Fühlens per se für schlecht erklären wollte. Ohne potentia generativa und ohne die Möglichkeit von Lustempfinden kann es weder leibhaftes Menschenleben noch einen Erhalt der Menschheitsgattung geben, was beides nicht wünschenswert wäre. Dennoch ist nach thomanischem Urteil der Akt der Zeugung, in dem das generative Vermögen in begehrlicher Lust betätigt wird, just jener Grundvollzug, in dem die postlapsarische Adamnatur virulent und der Ursprungssündenbefall gleich einer Ansteckung in Fleisch und Blut übergeht. Jedes Lebewesen ist der Differenz von innen und außen inne. Mit diesem Innesein ist das Vermögen, Lust und Unlust zu empfinden, unmittelbar verbunden. Menschen machen diesbezüglich keine Ausnahme, sofern auch sie fühlende Wesen sind. Ihr Unterschied zu den Tieren bestimmt sich durch ihre Vernunftbegabung. Als animal rationale hört der Mensch nicht auf, ein fühlendes, für die Differenz von leiblicher Lust und Unlust empfängliches Lebewesen zu sein. Aber er ist wesensmäßig dazu veranlasst, sich differenziert zu dieser Differenz zu verhalten und sein Lust- und Unlustempfinden nach Maßgabe vernünftiger Willensvollzüge in sein Lebensganzes zu integrieren. Das triebhafte Aussein auf Lust und der Trieb der Unlust- und Schmerzvermeidung sind zu überführen in vernunftgeleitete Willensvollzüge, die das Lust- und Unlustgefühl zwar nicht abstrakt zu negieren haben, was gegen die Leiblichkeit des Menschenwesens gerichtet und daher auch nach thomanischem Urteil falsch wäre; was der vernünftige Wille aber zu leisten hat, ist die Beherrschung des sinnlichen Empfindens. Diese Beherrschung droht im Falle des Begattungsbegehrens verloren zu gehen, ja es liegt, wenn man so will, in der Natur der Sache, dass sie tatsächlich verloren geht. Deshalb ist nach Thomas die sexuelle Lust, näherhin der Höhepunkt wollüstiger Erregung beim vollendeten Geschlechtsakt, der exemplarische Kandidat für triebhafte Willensobsession und das umso mehr, als er beispielhaft ist für das gesamte Gattungsverhalten der Menschheit. Nach Thomas erinnert der momentane Willensverlust im Akt der Begattung gerade in seiner Besinnungslosigkeit an ein uranfängliches Vergehen, an dem nun
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freilich nicht eigentlich der Trieb, sondern der bewusste Wille schuld sein soll, durch welchen der Protoplast seinen Fall verursacht hat. Dass der willentliche Akt der adamitischen Ursünde sinnlich motiviert war, trifft zwar zu; doch wäre es unzutreffend, die Sinnlichkeit zum eigentlichen Grund der Ursünde zu erklären. Es ist das willentlich gesetzte Missverhältnis zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, das die eigentliche Schuld an der Ursünde trägt. Prinzipiell ändert sich daran auch in der Situation der Nachkommen Adams nichts, abgesehen davon, dass diese ein Erbe anzutreten haben, das durch eine immer schon vollzogene Ermächtigung der Sinnlichkeit gezeichnet ist, wie sie unter paradiesischen Umständen offenbar nicht gegeben und im ursprünglichen Plan der Schöpfung nicht vorgesehen war (vgl. im Einzelnen Pfürtner). Einmal getätigt, hat die Sünde Folgen nicht nur für ihren Täter, sondern Konsequenzen, die weit über seine individuelle Person hinausreichen und im Falle Adams die ganze Menschheit, ja das All der Welt betreffen. Die Sünde Adams diminuiert nach Thomas die Menschennatur und das natürliche Wesen aller Dinge. Sie hebt aber beide nicht völlig auf. Die Schöpfung ist durch den Fall der Sünde verwundet, aber nicht erledigt und endgültig dahin. Zwar sind die urständliche Gerechtigkeit und die ihr korrespondierende kosmische Harmonie durch die Sünde des Stammvaters weggenommen, wodurch alle Entitäten und namentlich die mit Vernunft, Wille und Strebevermögen ausgestatteten Menschenwesen ihrer genuinen Bestimmung entfremdet und dergestalt fehlausgerichtet wurden, dass zum Makel der Seele leiblich-welthafte Mängel der verschiedensten Art hinzutraten. So ist nach Thomas auch der Tod samt aller Krankheitsgebrechen eine Folge der Sünde, die ihn zwar nicht per se, wohl aber per accidens (vgl. 85,5) verursacht habe. Weit davon entfernt, dem Menschen natürlich zu sein, ist der leibliche Tod eine indirekte Straffolge der Sünde. Auch die Menschenseele ist durch die Adamssünde erheblich verletzt, wenngleich nicht auf tödliche Weise. Zu Seelentod und Höllenverdammnis gerät das peccatum originale nur dann, wenn die Seele beharrlich einen jener Willensakte tätigt, der nach Thomas zur Todsünde führt. Thomas rechnet mit einer Artverschiedenheit von Artverschiedene Sünden Sünden und zwar secundum objecta, aufgrund ihres Gegenstandsbezugs (vgl. 72,1). Wogegen sich der sündenaktive Wille richtet, entscheidet über die Art und Schwere der getätigten Sünde. Zwar ist die Wirkursache aller Sünden insofern eine, als der sündigende Wille im Grunde allein schuld an ihnen ist. Doch ist dessen Wirkung darin verschieden, dass er durch unterschiedliche Zielursachen bestimmt und auf unterschiedliche Gegenstände ausgerichtet ist. Dadurch wird die Artverschiedenheit der Sünden und das Urteil über ihre Schwere begründet. Jeder Mensch steht in einem Verhältnis zu Gott, zu sich selbst und zu Mitmensch und Welt. Entsprechend ist zwischen zwei Grundarten von Sünde zu unterscheiden, je nachdem ob diese gegen Gott, gegen den Menschen selbst oder gegen seinen Nächsten gerichtet sind. Zu vergleichen sind die drei Sündenarten den Arten der Tugenden, wenngleich in widriger Weise. Durch die theologischen Tugenden von Glaube, Liebe
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und Hoffnung wird der Mensch in der rechten Weise auf Gott, durch Maßhaltung und Tapferkeit auf sich selbst und durch die Gerechtigkeit auf den Nächsten ausgerichtet. Dem steht die Sünde in ihrer Fehlausrichtung entgegen. „Duplex . . . est inordinatio“ (72,5); es gibt, wie Thomas sagt, eine zweifache Fehlausrichtung der Sünde: „una per substractionem principii ordinis; alia qua, salvato principio ordinis, fit inordinatio circa ea quae sunt post principium.“ (Ebd.) Die eine geschieht in Bezug auf den Grund der Ausrichtung, den sie entzieht, die andere ist unter Wahrung besagten Grundes gegen dasjenige gerichtet, was aus ihm folgt und nach ihm kommt. Die eine Fehlausrichtung ist gegen ein absolutes Gut gerichtet, die zweite gegen ein relatives. Aus ersterer ergibt sich, was Thomas Todsünde, aus letzterer, was er lässliche Sünde nennt, wobei er hinzufügt, dass sich peccatum mortale und peccatum veniale wesentlich und unendlich unterscheiden „ex parte aversionis, non autem ex parte conversionis, per quam respicit obiectum, unde peccatum speciem habet“ (72,5 ad 1). Der Wesensunterschied zwischen Todsünden und lässlichen Sünden ist also zu unterscheiden von der Differenz der drei genannten Sündenarten, wenngleich Todsünden allemal solche sind, die sich einer grundstürzenden Abkehr von Gott als dem Schöpfer aller Dinge schuldig gemacht haben. Gottaversion ist der innere Abgrund alles Bösen. Dieser Grundsatz wird durch den Hinweis des Thomas nicht in Abrede gestellt, wonach sich eine prinzipielle Einheit der Sünden und ihrer Arten nicht namhaft machen lässt. Während wahre Einheit nur die Gottesliebe stiftet, ist die Sünde zwieträchtig in sich selbst und darauf aus, allgemeine Konfusion und Diffusion zu bewirken. Die Einheit sündiger Taten besteht in nichts anderem als in dem zwieträchtigen Bestreben der Einheitszersetzung. Je weiter sie in diesem Zersetzungswerk fortschreiten, desto schlimmer sind sie. Die Sündenschwere bemisst sich nach Thomas an der Konsequenz der Abkehr vom einheitsstiftenden Wirk- und Zielgrund alles Seienden, die in ihrer Vernunftwidrigkeit allem folgerichtigen Begreifen entgegengesetzt ist. Die schwerste und schlimmste aller Sünden ist die Sünde der Gottaversion, des „odium Dei“ (73,4 ad 3), in der sich das sündige Wesen auf perverse Weise vollendet und zugleich zugrunderichtet. Aufgrund ihrer Schuld hängt der Sünde ihre Strafe nicht lediglich äußerlich an, sondern empfängt durch sie selbst ihr Maß. In der Quästion „De reatu poenae“ (vgl. 87,1–8) hat Thomas dies im Einzelnen dargelegt, um in den beiden darauffolgenden zum Abschluss seiner allgemeinen Sündenlehre die nach Schuldhaftigkeit und Strafwürdigkeit getroffene Unterscheidung von Todsünden und lässlichen Sünden noch einmal eigens zu begründen (vgl. 88 f.). Lässliche Sünden sind solche, deren Strafen zeitlich sind und deren Schuld mithin erlassen werden kann. Todsünden hingegen ziehen aufgrund der Schwere ihrer Schuld ewige Strafen nach sich. Lässliche Sünden ändern den Status des Menschen nicht grundsätzlich, bei Todsünden ist das prinzipiell der Fall. Die Sünde Adams, die ihn aus dem status integritatis in den status corruptionis fallen ließ, ist nach Thomas wie der Engelsturz als Todsünde zu beurteilen. Ent-
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sprechendes gilt für alle Folgesünden, die sich die Ursünde durch willentliche Tat zueigen machen, wohingegen die Erbsündenschuld als solche noch nicht eigentlich, geschweige denn im ewigen Sinne strafbar zu nennen ist. Sie verbleibt wie der limbus infantium in einer Grauzone zwischen Straflosigkeit und einer Strafe, die erst eintritt, wenn das überkommende peccatum originale aktuiert wird, sei es in Gestalt einer lässlichen oder einer Todsünde. Nur letzterer, der Todsünde, kommt, wie Thomas unter Berufung auf Augustin sagt, die „perfecta ratio peccati“ (88,1 ad 1) zu, wohingegen die lässliche Sünde „peccatum secundum rationem inperfectam“ (ebd.) zu nennen ist. Lässliche Sünde kann nicht an sich selbst zur Todsünde, wohl aber zum Anlass derselben werden, die ihrerseits nie zur lässlichen Sünde zu werden vermag. Getätigt ist ein todsündiger Akt nach Thomas dann, wenn durch das ursächlich wirksame Vorhaben eines bewusstseins- und willensbegabten Geschöpfs das Verhältnis zum Schöpfer Himmels und der Erden und die gottgesetzte Grundordnung der Schöpfung bewusst und willentlich verkehrt sowie Glaube in Unglaube, Liebe in Hass und Hoffnung in stolze Verzweiflung oder verzweifelten Stolz pervertiert werden. Aus dem höllischen Abgrund, in welchen die Todsünde stürzt, vermag sich kein Sünder aus eigenen Kräften zu befreien. Zu retten vermag aus heilloser Todsündenverdammnis nur der Heiland, der am Kreuz sein Leben für die Sünder dahingab, um sie nicht nur aus dem Grab, sondern aus der Hölle zu ewigem Leben bei Gott heraufzuführen. Es wäre einer eigenen Untersuchung wert, die thoVerlust der manische Sündenlehre, wie sie in STh I-II,71–89 Ursprungsgnade grundgelegt ist, im Detail mit der tridentinischen zu vergleichen. Statt in einen solchen Detailvergleich einzutreten, sei abschließend nur mehr ein zentrales hamartiologisches Problem, nämlich dasjenige des peccatum originale, und die Frage ins Auge gefasst, welche Folgen der Verlust der Ursprungsgnade bei Thomas und im Tridentinum in Bezug auf die Natur des Menschen zeitigt. Nach Maßgabe der hamartiologischen Tradition, auf welche sich beide beziehen, wird die Ursprungssünde Adams durch Abstammung auf alle adamitischen Nachkommen übertragen, die wegen ihrer universalen Sündenverfallenheit und Erbschuld allesamt der Erlösung bedürftig sind. Die Näherbestimmung des Übertragungsmodus hing entscheidend davon ab, ob man dem sog. Traduzianismus, also der Lehre anhing, der zufolge die Seele des Kindes beim Zeugungsvorgang aus der Seele der Eltern hervorgeht, oder ob man den sog. Kreatianismus bevorzugte, gemäß welchem Gott die einzelne Menschenseele jeweils unmittelbar schafft. Die Annahme, dass alle von Adam abstammenden Menschen Sünder und zwar ganz Sünder seien, ließ sich mit beiden Vorstellungsweisen begründen, wenngleich der Kreatianismus diesbezüglich zu komplizierteren Erwägungen zwang als der Traduzianismus. Wichtiger als die Differenz zwischen Traduzianismus und Kreatianismus wurde für die Beurteilung der Folgen der Ursprungssünde die Frage, ob diese lediglich den Verlust der für die menschliche Geschöpfnatur nicht konstitutiven Gnadengabe nach sich zog oder das kreatürliche Wesen des Menschen selbst tangierte. Mit
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dieser Frage ist das gesamte Problem schöpfungstheologischer Verhältnisbestimmung von Natur und Gnade sowie die natura pura-Debatte und alles verbunden, was in ihrem Zusammenhang strittig war. Hierher gehört der scholastische Streit, ob die Erbsündenschuld das ontologische Wesen des Menschen betrifft oder als eher äußerlich Anhängendes und durch bloßes Dekret Zugerechnetes zu beurteilen ist. Wie auch immer: Auf einen bloßen Schuld- und Straftitel restringieren lassen sich die Folgen des peccatum originale weder nach Thomas noch nach Maßgabe des Trienter Konzils. Das peccatum originale bewirkt reale Schuld, deren Wirklichkeit zur Strafe verpflichtet. Man hat vermerkt, dass sich das Tridentinum auf die Formulierung festgelegt habe, wonach die Übertragung der Ursprungssünde durch Fortpflanzung (progatione) erfolge, während eine solche eindeutige Festlegung bei Thomas noch nicht gegeben sei. Wichtiger ist der damit zusammenhängende Hinweis auf einen Unterschied, welcher die traditionell strittige schöpfungstheologische und hamartiologische Zuordnung von Natur und Gnade betrifft. Folgt man O. H. Pesch, dann versteht Thomas unter Gnade wesentlich „das schöpferische Ankommen der ewigen Liebe Gottes in der Ich-Mitte des Menschen. Der Mensch wird dadurch aus der Begrenzung auf seine Natur heraus- und emporgerissen zur Lebensgemeinschaft mit Gott . . .“ (Pesch/Peters, 89) Bei Thomas interpretierten sich Augustin und Aristoteles wechselseitig: „Augustinus ‚stört‘ den aristotelischen Naturoptimismus durch den konkreten Primat der Gnade als Heilung, aber der (im Licht des Schöpfungsglaubens gelesene!) Aristoteles verhilft dazu, über dem konkreten Elend des Menschen Gottes umfassenden Schöpfungsplan nicht zu vergessen, den zu durchkreuzen auch die Sünde des Menschen nicht in der Lage ist.“ (Pesch/ Peters, 82) Deutlicher als im Tridentinum und deutlicher vor allem als in Teilen der spätmittelalterlichen und nachtridentinischen Theologie wurde bei Thomas Pesch zufolge geltend gemacht, dass der Verlust der Schöpfungsgnade die Natur des Menschen nicht unberührt lasse, weil Gnade „schöpfungsursprünglich die Quelle intakten Naturseins selbst“ (Pesch, DThA 12,944) sei. Daraus ergebe sich, „dass Thomas in der Beurteilung der Menschheit unter der Ursprungssünde näher bei bestimmten Ansätzen reformatorischer Theologie steht, als man lange gesehen hat“ (Pesch, DThA 12,945; vgl. etwa auch Kühn). Diese Einschätzung gewinnt an Plausibilität, wenn man quaestio LXXVII, die von bewusster Bosheit als Ursache der Sünde handelt, zum „Höhe- und Mittelpunkt des ganzen Traktates“ (Pesch, DThA 12,867) erklärt und alle hamartiologischen Einzelaussagen der allgemeinen Sündenlehre des Thomas von dort her interpretiert. Dann, so Pesch, bezeichne, was der Aquinate stricte dictu Sünde nenne, „das kontradiktorische Gegenteil des durch Gnade und theologische Tugenden ganz mit Gott als seinem Ziel verbundenen Menschen“ (ebd.). Definitiver als im Tridentinum stehe damit die Unmöglichkeit fest, anders als sola gratia aus sündiger Verkehrtheit befreit und erlöst zu werden. Wie dem auch sei: die unter neuthomistischen Bedingungen selbstverständliche Annahme völliger „Deckungsgleichheit zwischen Trient und Thomas“
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ist „heute eine von Fall zu Fall offene historische und systematische Frage. Sie lenkt unmittelbar hinüber zum ökumenischen Gespräch.“ (Pesch, Art. Thomas von Aquino/Thomismus/Neuthomismus, 440) Es kann nicht schaden, wenn dabei evangelischerseits das theologische Erbe der mittelalterlichen Scholastik nicht pauschal verabschiedet, sondern mit konstitutiver Kritik bedacht und in der Absicht studiert wird, neue Horizonte der Traditionsaneignung jenseits fixierter Konfessionsgrenzen zu erschließen.
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5. Das in sich Verkehrte in der Wittenberger Bekenntnistradition und in der Dogmatik altlutherischer Orthodoxie
Lit.: M. Arneth, Durch Adams Fall ist ganz verderbt. Studien zur Entstehung der alttestamentlichen Urgeschichte, Göttingen 2007. – S. Heym/W. Sauerländer, Herkules besiegt die Lernäische Hydra. Der Herkules-Teppich im Vortragssaal der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 2006. – Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 61967 (= BSLK). – F. Hübner, Über den freien Willen. Artikel II: „De libero arbitrio“ der Formula Concordiae aus seinen historischen Grundlagen heraus interpretiert, in: W. Lohff/ L. W. Spitz (Hg.), Widerspruch, Dialog und Einigung. Studien zur Konkordienformel der Lutherischen Reformation, Stuttgart 1977, 137 – 170. – E. Kinder, Die evangelisch-lutherische Lehre von der Erbsünde, in: ders., Die Erbsünde, Stuttgart 1959, 35 –83. – Ders., Art. Sünde und Schuld. V. Dogmengeschichtlich, in: RGG3 VI, Sp. 489–494. – J. F. König, Theologia positiva acroamatica (Rostock 1664). Hg. u. übers. v. A. Stegmann, Tübingen 2006. – K. Lehmann/W. Pannenberg (Hg.), Lehrverurteilungen – kirchentrennend? I. Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute, Freiburg i. Br./Göttingen 1986. – H. G. Pöhlmann, Das Konkupiszenzverständnis der CA, der Confutatio, der Apologie und des Konzils von Trient, in: E. Iserloh (Hg.), Confessio Augustana und Confutatio. Der Augsburger Reichstag und die Einheit der Kirche, Münster 21980, 389 – 395. – W. Preger, Matthias Flacius Illyricus und seine Zeit. Bd. I und II, Erlangen 1859/61; reprographischer Nachdruck Hildesheim 1964. – L. Scheffczyk, Das Konzil von Trient und die Reformation. Zum Versuch eines Brückenschlags, München 1992. – E. Schlink, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, München 21946. – H. Schmid, Die Dogmatik der evangelischlutherischen Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt. Neu hg. und durchgesehen von H. G. Pöhlmann, Gütersloh 91979. – W. Sparn, Hercules Christianus. Mythographie und Theologie in der Frühen Neuzeit, in: ders., Frömmigkeit, Bildung, Kultur. Theologische Aufsätze I: Lutherische Orthodoxie und christliche Aufklärung in der Frühen Neuzeit, Leipzig 2012, 135–165. – Ders., Begründung und Verwirklichung. Zur anthropologischen Thematik der lutherischen Bekenntnisse, in: ders., a. a. O., 29–59. – G. Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch. 2 Bd., Berlin/New York 1996/98.
Die Stirnseite des Vortragssaales der Bayerischen Herkules und die Akademie der Wissenschaften in einem Flügel der Lernäische Hydra Münchener Residenz ist mit einem eindrucksvollen Wandteppich versehen. Er zeigt den siegreichen Kampf des Herkules und seines Neffen Jolaus gegen die Lernäische Hydra. Herkules alias Herakles, Sohn des Zeus und der Alkmene, versinnbildlicht seit archaischen Zeiten nicht nur naturhafte Kraft, sondern auch überlegene Tugend, deren Sittlichkeit allem sinnlichen Laster feind ist. In dieser Funktion konnte der Heros auch im Christentum zum
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Exempel und Inbegriff gerechter Herrschaft werden, die dem Guten aufhilft und das Böse niederwirft (vgl. Sparn, Hercules Christianus). In der zweiten der insgesamt zwölf Aufgaben, die der antike Urheld und Urherrscher zu bewältigen hat, begegnet ihm das Schlechte in der Gestalt der Lernäischen Hydra, einem vielköpfigen Untier, das in den Sümpfen von Lerna hauste, einem Ort in der griechischen Landschaft Argolis, auf der östlichsten Halbinsel der Peleponnes gelegen. Die Hydra hatte die charakteristische Eigenschaft, dass ihr für jeden abgeschlagenen Kopf zwei neue nachwuchsen. Zu überwältigen war sie somit nicht auf einen Schlag, sondern nur dadurch, dass man sie durch Ausbrennen ihrer kopflosen Hälse gewissermaßen mit Stumpf und Stiel ausrottete. Das nötige Vernichtungsgeschäft verrichtete der mit den üblichen Attributen von Löwenfell, Löwenhaupt und Keule ausgestattete Held nicht allein, sondern zusammen mit seinem Helfer, der ihm im Kampf zur Seite stand und seinem Sieg Dauer verlieh. Die Münchener Tapisserie vom herkuleischen Kampf mit dem Ungetüm von Lerna gehörte ursprünglich einer Folge von über einem Dutzend Herkulesteppichen an, die Herzog Albrecht V. von Bayern um 1565 in Antwerpen zum Zwecke der Ausstattung des Dachauer Schlossfestsaales in Auftrag gab und die später zum großen Teil im sog. Herkulessaal der Münchener Residenz präsentiert wurden. Wie alle bildlichen Darstellungen der Bezwingung der Lernäischen Hydra durch Herkules muss auch die Münchener „in ihrem spezifischen politischen und konfessionellen Kontext gelesen werden“ (Heym/Sauerländer, 46). Dann ergibt sich folgende Einsicht: „Der Kampf des Herkules, des mythischen Ahnherrn der Wittelsbacher, gegen die das Land um Argos mit ihrem Gifthauch verwüstende Hydra gleicht dem Kampf des altgläubigen Herzogs gegen die Ketzer in seinem Territorium. Just in den Jahren, als der Auftrag für die Teppiche mit dem ‚forze Herculis‘ für den großen Saal in dem wieder aufgebauten ‚vetustissimum castrum‘ zu Dachau vergeben wurde, verschärfte Albrecht V. nach dem Ende des Tridentiner Konzils im Jahre 1563 den Kampf gegen die Lutheraner. Der furiose Teppich, welcher zeigt, wie die vielköpfige Hydra von dem mit dem Löwenhaupt behelmten Herkules und seinem Gefährten Jolaus mit Feuer und Schwert enthauptet und ausgeräuchert wird, ist ein Palladium der katholischen Ketzerbekämpfung im Herzogtum Bayern und damit ein Paradebeispiel der politischen Ikonographie.“ (Heym/Sauerländer, 82) Albrecht von Bayern bekämpft herkuleisch die häretische Hydra der Reformation, die gleich einem vielköpfigen Ungeheuer in seine Lande einzudringen und von ihnen Besitz zu nehmen droht. Die geistliche Rüstung für den heroischen Herzog besorgte das Tridentinum als in theoretischer und praktischer Hinsicht wichtigstes Dokument und Wirkmittel der Gegenreformation, das die Konfessionalisierung der westlichen Christenheit wenn nicht allererst begründete, so doch bekräftigte und beschleunigte. Es ist, um ein ehemaliges Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Leo Kardinal Scheffczyk zu zitieren, „seit seinem Beginn fast vier Jahrhunderte lang vornehmlich Streitpunkt und Kampfplatz der Konfessionen gewesen“ (Scheffczyk,
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3). Erst neuerdings gilt es „nicht mehr als unübersteigbares Hindernis für das ökumenische Zusammenstreben“ (Scheffczyk, 30), jedenfalls wenn man den Ergebnissen der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und des päpstlichen Rates für die Einheit der Christen aus dem Jahr 1999 oder des Studiendokuments zur Lehre von Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute traut, das 1986 vom Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen unter dem Titel „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ vorgelegt wurde. Von keinem der beiden Texte ist an dieser Stelle zu handeln. Letztgenannter soll lediglich zum Anlass genommen werden, die entscheidenden kontroverstheologischen Streitfragen im Umfeld des tridentinischen Erbsünden- und Rechtfertigungsdekrets zu benennen und nach Themenkreisen zu ordnen (vgl. Lehmann/Pannenberg [Hg.], 35 ff.), um auf diesem Hintergrund die hamartiologische Lehrentwicklung der Wittenberger Reformation nachzuzeichnen. 1. Während die Reformatoren die völlige VerLehrverurteilungen – derbnis der Natur des postlapsarischen Menschen kirchentrennend? lehren und ihm jede Freiheit und alles Vermögen absprechen, Gott gläubig zu vertrauen und seine Gebote nicht nur äußerlich, sondern von Herzen zu erfüllen, um sich so zum ewigen Heil zu bereiten, schließt das Trienter Konzil denjenigen aus, welcher sagt, der freie Wille des Menschen sei nach der Sünde Adams verloren und ausgelöscht worden, oder er sei, wie es weiter heißt, eine bloße Bezeichnung ohne Inhalt, ja eine Erdichtung, welcher der Satan selbst in die Kirche eingeführt habe (vgl. DH 1555). 2. Die Reformatoren verurteilen Begehrlichkeit (concupiscentia) als Sünde im eigentlichen Sinne, die nicht in Aktualverfehlungen aufgeht, sondern das Unwesen des peccatum originale ausmacht, das auch nach der Taufe den Menschen bestimmt, sofern er auf sich selbst bezogen und nicht in Beziehung auf Jesus Christus in Betracht kommt. Demgegenüber lehrt das Trienter Konzil, dass die Konkupiszenz zwar fomes peccati, also Zunder und Anreiz zur Sünde, nicht aber wirkliche Sünde sei, die realiter im Getauften verbleibe. Gegenteilige Lehre wird bereits im Trienter Dekret über die Erbsünde anathematisiert (vgl. DH 1515), was die Rechtfertigungskanones sachlich bestätigen. 3. Nach reformatorischer Lehre wird die durch Gottes Gnade gewirkte Rechtfertigung des Sünders von diesem mere passive, völlig passiv, nämlich dergestalt empfangen, dass er selbst nichts zu seiner Rechtfertigung beiträgt. Diese geschehe vielmehr sola gratia, um sola fide und ohne alle Werke wahr- und in Empfang genommen zu werden. Dagegen verwirft die tridentinische Lehre ausdrücklich die Behauptung, der von Gott bewegte und erweckte freie Wille wirke durch seine Zustimmung zu der Erweckung und dem Ruf Gottes nichts dazu mit, sich auf den Empfang der Rechtfertigungsgnade zuzurüsten und vorzubereiten, und er könne nicht widersprechen, wenn er wollte, sondern tue wie etwas Lebloses überhaupt nichts und verhalte sich rein passiv (vgl. DH 1554). 4. Nach Maßgabe reformatorischer Theologie ist unter der rechtfertigenden
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Gnade allein Gottes Gunst und die Wirklichkeit seiner Barmherzigkeit, nicht aber eine Qualität zu verstehen, die dem Gerechtfertigten und Begnadeten an sich selbst zukommt. Dagegen verwirft das Tridentinum die Behauptung, die Menschen würden gerechtfertigt werden entweder durch bloße Anrechnung der Gerechtigkeit Christi (sola imputatione iustitiae Christi) oder durch bloßen Nachlass der Sünden (sola peccatum remissione), unter Ausschluss der Gnade und Liebe, die in ihren Herzen durch den Heiligen Geist ausgegossen wurde und innerlich anhafte; oder auch: die Gnade, durch die wir gerechtfertigt werden, sei lediglich die Gunst Gottes (vgl. DH 1561). 5. In Bekräftigung ihres sola gratia-Verständnisses betonen die Reformatoren, dass das Gnadengeschenk der Rechtfertigung des Sünders vor Gott allein durch den Glauben empfangen werde, der ganz und ausschließlich auf die göttliche Barmherzigkeit vertraue, von allen eigenen Werken und Wirkvermögen absehe und nur die Wirklichkeit Jesu Christi und des in seiner Person und seinem Werk im Heiligen Geist gnädig zugewandten Gottes im Blick habe. Die tridentinische Lehre hingegen insistiert darauf, dass der Rechtfertigungsglaube nur im Verein mit Hoffnung und Liebe sowie entsprechender Mitwirkungsaktivität des Menschen rechtfertigender Glaube sei. Verworfen wird infolgedessen die Annahme, der Gottlose werde allein durch den Glauben (sola fide) gerechtfertigt (vgl. DH 1559) und der rechtfertigende Glaube sei nichts anderes als das Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit, welche die Sünden um Christi willen nachlasse; oder: es sei dieses Vertrauen allein, wodurch wir gerechtfertigt würden (vgl. DH 1562). 6. Glaube ist Heilsgewissheit. Er ist dies nach reformatorischer Lehre, weil und insofern er sich seinem Begriff entsprechend ganz und gar auf Gottes Gnade verlässt und allein auf Jesus Christus vertraut, wozu der Hl. Geist ihn bestimmt. Demgegenüber hält es das Tridentinum für verwerflich zu sagen, niemand sei wahrhaft gerechtfertigt, es sei denn, er glaube, er sei gerechtfertigt, und allein durch diesen Glauben würden Lossprechung und Rechtfertigung vollendet (vgl. DH 1564). 7. Gute Werke sind nach reformatorischer Lehre Frucht des Glaubens, die aus diesem notwendig hervorzugehen haben, ohne dass durch sie etwas zur nachträglichen Begründung der allein aus Gnade erfolgten und erfolgenden Rechtfertigung beigetragen würde. Zwar wird der Lohn der Werke des Glaubens nicht ausbleiben. Aber die Gewissheit, dass dem so ist, gründet wie diejenige des Glaubens, ohne den sie keinen Bestand haben kann, allein in der wirksamen Gnadenwirklichkeit Gottes. Der Glaube wird sich daher seine Werke nicht als Eigenverdienst zurechnen, sondern sie aus reiner Dankbarkeit für das Empfangene erbringen. Dem steht die Trienter Verwerfung der Behauptung entgegen, die guten Werke des gerechtfertigten Menschen seien in der Weise Geschenke Gottes, dass sie nicht auch die guten Verdienste des Gerechtfertigten selbst seien; oder: der Gerechtfertigte verdiene nicht wahrhaft durch die guten Werke (die er kraft der Gnade Gottes und des Verdienstes Jesu Christi, dessen lebendiges Glied er ist, tut) die Mehrung der Gnade, das ewige Leben, und, wenn er in Gnaden dahingeschie-
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den sei, die Erlangung des ewigen Lebens sowie ein augmentum gloriae (vgl. DH 1582). Um in reformatorischer Perspektive zunächst nur die hamartiologischen Kontroversen im enge- Radikalverderbnis ren Sinne ins Auge zu fassen, so lehrt die Wittenberger Bekenntnistradition über die ursündliche Grundverkehrtheit des Menschen, was im Eingangsvers des Liedes des Nürnberger Ratsherrn und Lutherfreundes Lazarus Spengler aus dem Jahr 1524 bündig so zum Ausdruck gebracht ist: „Durch Adams Fall ist ganz verderbt menschlich Natur und Wesen“ (vgl. BSLK 844,3 f. sowie Arneth). Zwar weist der erste Artikel der Konkordienformel von 1577 die Lehre entschieden zurück, derzufolge die Erbsünde postlapsarisch zur Substanz des Menschen und dieser zu einer imago Satanae geworden sei. Ebenso dezidiert abgelehnt wird aber auch die Annahme, das peccatum originale bezeichne eine „corruptio tantum accidentium aut qualitatum“ (BSLK 851,4 f.). Obgleich die Substantialität der Erbsünde zu leugnen sei, bewirke diese doch keineswegs einen nur akzidentellen Schaden, sondern korrumpiere die menschliche Wesensnatur selbst. Mit einem Restvermögen des gefallenen Menschen, sich selbst zu seinem Heil zu bestimmen, sei in keiner Weise zu rechnen; er habe vielmehr als restlos und ganz verderbt zu gelten. Als Zeugen werden Luther und Melanchthon aufgerufen. Dieser habe die Erbsünde als „Wurzel und Brunnquell . . . aller wirklichen Sünde“ ausdrücklich eine „Natur- oder Personsünde“ genannt (BSLK 846,41–44), jener in seiner Apologie des zweiten Artikels der Confessio Augustana klipp und klar gelehrt, die Erbsünde „sei anstatt des verlornen Bildes Gottes in dem Menschen eine tiefe, böse, greuliche, grundlose, unerforschliche und unaussprechliche Vorderbung der ganzen Natur und aller Kräften, sonderlich der höchsten, fürnehmbsten Kräften der Seelen im Vorstande, Herzen und Willen“ (BSLK 848,27 -33). Die Folge, so die Apologie, sei nicht nur Gottlosigkeit, sondern „Feindschaft wider Gott“ (BSLK 849,3) und ewiges Seelenverderben (BSLK 849,18 ff.). Zwar höre auch der gefallene Mensch nicht auf, Gottes Geschöpf zu sein, aber zum Heil gereiche ihm diese Bestimmung unter postlapsarischen Bedingungen nicht. Die Lage, in die sich der Mensch durch den Sündenfall aus eigener Schuld gebracht hat, ist ganz und gar heillos. Aus der hamartiologischen Einsicht ergaben sich Revisionen traditioneller Begriffsbestimmungen. „Um die Verharmlosung der Sünde als Akzidens zu vermeiden, war lutherischerseits ein Begriff der ‚konkreten Substanz‘ bzw. des ens concrectum zu bilden, in dem die habituelle Bestimmtheit der real existierenden Substanz ‚Mensch‘ nicht von ihrer metaphysischen Wesenbestimmung verdrängt wird.“ (Sparn, Begründung, 59) Es wurde bereits vermerkt, dass die Lehre von der Schöpfung in der Wittenberger Bekenntnistradition zwar stets vorausgesetzt und festgehalten wird, ohne aus dem Hintergrund in den Vordergrund der Argumentation zu treten (vgl. etwa Schlink, 68 ff.). Tatsächlich findet sich in den lutherischen Bekenntnisschriften abgesehen von den beiden Katechismen kein eigener Artikel zur Schöpfungslehre.
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So gehen etwa die CA und ihre Apologie nach Behandlung der Trinitätslehre in Artikel I sogleich zur Sündenlehre über, wie sie im II. Artikel erörtert wird. Statt solche schöpfungstheologische Zurückhaltung vorschnell als einen Mangel zu beklagen, ist sorgsam die hintergründige Ursache zu erheben, welche die Zurückhaltung veranlasst hat. Lässt sich unter postlapsarischen Bedingungen keine Seite des Menschen benennen, „die bei einer Subtraktion der Verderbtheit von der Geschöpflichkeit als positiver Rest . . . übrig bleiben könnte“ (Schlink, 77), dann bedeutet dies, dass von der geschöpflichen Bestimmung des Menschen in theologisch heilsamer Weise nur unter soteriologischen Voraussetzungen die Rede sein kann, wohingegen der Schöpfungsverweis ansonsten uneindeutig bzw. zweideutig bleibt, ja die Form eines zugrunderichtenden Vorwurfs annimmt. Dass die protologischen Bezüge in der lutherischen Bekenntnistradition mit dem Schein der Uneindeutigkeit versehen sind, hat einen bedachten Grund, der darauf zielt, diese Uneindeutigkeit eindeutig zu identifizieren, um eine schöpfungstheologische Zweideutigkeit zu verhindern, die soteriologisch kontraproduktiv wirken und die Verkehrtheit der Sünde theoretisch reproduzieren müsste. Der Mensch ist Gottes Geschöpf, und er bleibt es auch unter postlapsarischen Bedingungen bis dahin, dass er sein Leben äußerlich halbwegs in Ordnung zu halten vermag. Aber diese Ordnung ist für sich genommen nicht heilsam, sondern heillos in sich, sofern sie darauf aus ist, sich nicht auf ihre Äußerlichkeit zu beschränken, sondern totalisierend zu entschränken, wie das im Falle der Sünde und ihrer inneren Verkehrtheit zwangsläufig der Fall ist. Unter den Bedingungen von Selbst und Welt, wie Sündenartikel der sie durch den Fall der Sünde faktisch geworden Augustana und ihrer sind, kann von der Schöpfung und der GeschöpfApologie lichkeit des Menschen nach lutherischer Lehre in einem theologisch heilsamen Sinne nur auf soteriologisch vermittelte Weise und im Zusammenhang jenes Vollzugs angemessen die Rede sein, der auf die Rechtfertigung des Sünders zielt, von dessen Sündersein nicht abzusehen, sondern auszugehen ist, wie das der argumentativen Vorgehensweise bereits der Confessio Augustana entspricht. Der scheinbare Mangel reformatorischer Schöpfungslehre erweist sich als hamartiologisch-soteriologische Notwendigkeit. So wird in CA II gelehrt, dass nach Adams Fall („post lapsum Adae“) alle Menschen, die natürlich geboren werden („omnes homines, secundum naturam propagati“) – also mit Ausnahme des von der Jungfrau Maria geborenen Jesus Christus –, in Sünden empfangen werden („nascantur cum peccato“). Analog und mit ausdrücklicher Betonung der Verderbensmächte Tod und Teufel heißt es im Sündenabschnitt der Schmalkaldischen Artikel unter Berufung auf Röm 5,12, „daß die Sunde sei von Adam, dem einigen Menschen, herkommen, durch welchs Ungehorsam alle Menschen sind Sunder worden und dem Tod und dem Teufel unterworfen“ (ASm III,1). Sachlich Entsprechendes ist bereits in den Vorformen der CA zu lesen, etwa wenn in einer Version von Ende Mai 1530 (vgl. im Einzelnen Wenz I, 455 ff.) gesagt wird, „daß nach Adams Fall alle Menschen nach der Natur werden in Sunden geborn“ (BSLK 53,21 ff.).
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Näherbestimmt wird dieses Generalurteil in CA II mit dem Hinweis, dass „alle von Mutterleib an voll boser Lust und Neigung seind und kein wahre Gottesfurcht, keinen wahren Glauben an Gott von Natur haben können“ (BSLK 53,5 – 9); der lateinische Text spricht von „sine metu Dei, sine fiducia erga Deum et cum concupiscentia“ (CA II,1). Hinzugefügt wird, dass die angeborene „Seuch und Erbsunde“ („morbus seu vitium originis“) wahrhaft Sünde sei und – „nunc quoque“ (vgl. Kinder, Erbsünde, 61 ff.) – alle unter ewigen Gotteszorn verdamme, die nicht durch die Taufe und den Hl. Geist wiedergeboren werden (CA II,2: „damnans et afferens nunc quoque aeternam mortem his, qui non renascuntur per baptismum et spiritum sanctum“). Letzteres hatte bereits Luthers Bekenntnis von 1528 eingeschärft, wenn es alte und neue Pelagianer verwarf, „so die erbsunde nicht wollen lassen sünde sein / sondern solle ein geprechen odder feyl sein“ (WA 26, 503, 7 f.). Im 4. Schwabacher Artikel wird dies unterstrichen und gesagt, „(d) aß die Erbsunde ein rechte wahrhaftige Sunde sei und nicht allein ein Fehl oder Gebrechen, sonder ein soliche Sunde, die alle Menschen, so von Adam kommen, verdambt und ewiglich von Gott scheidet, wo nicht Jesus Christus uns vertreten und soliche Sunde sampt allen Sunden, so daraus folgen, gnug darfur getan, und sie also gantz aufgehoben und vortilget in sich selbs . . .“ (BSLK 53,23 ff.). Belegt wird dies mit Röm 5,12 ff. und Ps 51,7, auf welche Stellen bereits Luther hingewiesen hatte, wobei er den Psalmvers mit Hinweis auf das hebräische Original folgendermaßen wiedergab: „das ich ynn mutter leibe aus sundlichem samen bin gewachsen . . .“ (WA 26, 503, 15 f.) Melanchthon formuliert demgegenüber vergleichsweise zurückhaltend, ohne in der Sache abzuweichen. In seiner Apologie der CA bemüht sich Melanchthon u. a. um eine Näherbestimmung des auch für Luthers Sündenlehre zentralen Konkupiszenzbegriffs. Die Konfutatoren, welche die Augustana aus „altgläubiger“ Perspektive zu widerlegen suchten, hatten die Konkupiszenz lediglich als fomes peccati, nicht aber als Sünde im eigentlichen Sinne bestimmt. Dem hält Melanchthon entgegen, dass Konkupiszenz nicht lediglich Anreiz zum Sündigen, sondern willentliche Sünde im Sinne von ungläubiger ignorantia Dei sowie von aktivem Widerstand gegen Gott und den göttlichen Willen sei. Sie erschöpfe sich nicht in körperlich-sinnlicher Begierde und lasse sich nicht zu jener „qualitas corporis“ veräußerlichen, als welche die Scholastiker in Verkennung der traditionellen Definition der Erbsünde den „fomes“ (vgl. BSLK 148, Anm. 1) bestimmten (vgl. Apol II,7). Das peccatum originale ist keine vom inneren Wesenskern des Menschen auf die eine oder andere Weise distanzierbare Äußerlichkeit, sondern eine Grundverkehrung des Menschen, der in seiner Gesamtheit als der selbstgesetzte Widerspruch zu Gott zu gelten hat. Dies und damit die Abgründigkeit der Erbsünde verkennen die „scholastici“, wenn sie der menschlichen Natur auch nach dem Fall der Sünde integre Kräfte beimessen „ad diligendum Deum super omnia, ad facienda praecepta Dei, quoad substantiam actuum“ (Apol II, 8). Auf einen Selbstwiderspruch läuft dies nach Melanchthons Urteil insofern hinaus, als die Fähigkeit, kraft eigenen Vermögens Gott über alles zu lieben und seine Gebote zu halten, nichts anderes und
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nicht weniger darstellt als die Urstandsgerechtigkeit selbst, welche doch auch nach scholastischer Auffassung als durch den Sündenfall verderbt zu gelten hat, wenn anders der soteriologische Bezug auf die Gnade Christi und den Hl. Geist einen Sinn ergeben soll. Wie immer man über die Stichhaltigkeit dieses Urteils befindet, seine Intention besteht darin, jede Form von Erbsündenlehre zu verhindern, die dem Menschen auch unter postlapsarischen Bedingungen ein Eigenvermögen lässt, sein Heil vor Gott selbst zu besorgen. Wie gering das verbliebene Restquantum von Urstandsgerechtigkeit dann im einzelnen auch veranschlagt werden mag, die innere Abgründigkeit der Erbsünde und die durch sie bewirkte gänzliche Heillosigkeit sind verkannt. Erkannt werden können sie nur, „ex verbo Dei, quod scholastici in suis disputationibus non saepe tractant“ (Apol II,13). Statt dem Worte Gottes, wie es in der Schrift beurkundet ist, zu folgen, hätten die Scholastiker der christlichen Lehre eine Philosophie „de perfectione naturae“ (Apol II,12) beigemischt, dem freien Willen und Wirken des Menschen über Gebühr theologische Bedeutung beigemessen und schließlich gelehrt, dass die Gerechtigkeit vor Gott durch iustitia philosophica bzw. civilis (vgl. ebd.) erreicht werden könne. Damit aber sei die vom Worte Gottes eröffnete Einsicht in die innere Verkehrung des postlapsarischen Menschen gründlich verstellt (Apol II,12: „non potuerunt videre interiorem immunditiam naturae hominum“) und die Bedeutung der überkommenen Lehre, der zufolge die Erbsünde eine „carentia iustitiae originalis“ (vgl. Apol II,15) sei, völlig verkannt worden. Belegt wird dies primär mit dem Hinweis, dass nach dem Zeugnis der Schrift und der Väter wie der theologische Begriff der Gerechtigkeit überhaupt, so selbstverständlich auch der der „iustitia originalis“ nicht nur die Gebote der zweiten, sondern auch die der ersten Tafel des Dekalogs umfasst. „Itaque iustitia originalis habitura erat non solum aequale temperamentum qualitatum corporis, sed etiam haec dona: notitiam Dei certiorem, timorem Dei, fiduciam Dei, aut certe rectitudinem et vim ista efficiendi.“ (Apol II,17) Ebendies sei gemeint, wenn vom Menschen gesagt werde (vgl. Gen 1,26), er sei „ad imaginem et similitudinem (sc. Dei)“ geschaffen, wie neben Paulus (vgl. Eph 5,9; Kol 3,10) und in Übereinstimmung mit Augustin (vgl. BSLK 151, Anm. 3), Irenäus (vgl. BSLK 150, Anm. 4), Ambrosius (vgl. BSLK 151, Anm. 1) und der Lombarde (vgl. BSLK 151, Anm. 2) bestätigten. Steht sonach fest, dass die Urstandsgerechtigkeit die Integrität nicht nur des Weltbezugs, sondern auch und primär des Gottesbezugs des Menschen bezeichnet, so ergibt sich für die überkommene Definition („vetus definitio“) der Erbsünde daraus folgendes: „cum inquit peccatum esse carentiam iustitiae, detrahit non solum obedientiam inferiorum virium hominis, sed etiam detrahit notitiam Dei, fiduciam erga Deum, timorem et amorem Dei, aut certe vim ista efficiendi detrahit.“ (Apol II,23) Damit sei erwiesen, dass die überkommene Bestimmung des peccatum originale mit der in CA II gegebenen differenzlos übereinstimme. Belegt wird dies mit Zitaten aus Thomas (vgl. BSLK 152, Anm. 2), Bonaventura (vgl. BSLK 152, Anm. 3) und Hugo von St. Viktor (BSLK 153,4), mit dem Hinweis
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auf 1. Kor 2,14 und Röm 7,5 sowie am Beispiel Augustins, der an die Stelle der verlorenen Ursprungsgerechtigkeit einen sündhaften, neben den niederen auch die sog. höheren Kräfte depravierenden „habitus“ treten und sonach „carentia iustitiae originalis“ und „concupiscentia“ koinzidieren lasse (vgl. Apol II,24 f.). Was hinwiederum die postbaptismale Konkupiszenz und den Vorwurf der Konfutatoren betrifft, Sünde und Taufe CA II behaupte ein Verbleiben der Erbsünde nach der Taufe, so wird in Apol II, wie im obigen Abschnitt 3 bereits erwähnt, mit Nachdruck geltend gemacht, Luther habe in Übereinstimmung mit Augustin stets gelehrt, dass die Taufe die Erbsündenschuld beseitige, wenngleich, scholastisch zu reden, das materiale der Sünde, nämlich die Konkupiszenz, bleibe (vgl. Apol II,35). Dass der durch die Taufe gegebene Hl. Geist dabei im Begriffe stehe, die Begierde zu töten und neue Regungen im Menschen zu schaffen, sei niemals bestritten worden (vgl. ebd.). Dies ändere indes nichts daran, dass die Konkupiszenz auch unter postbaptismalen Bedingungen Sünde im eigentlichen Sinne zu nennen sei. Dies entspreche nicht nur augustinischem, sondern auch paulinischem Sprachgebrauch. Wohl werde die sündige Begierde durch die Taufe in Form ihrer Nichtanrechnung vergeben; an sich selbst betrachtet hingegen bleibe sie realiter Sünde, wie denn auch der Getaufte für sich genommen als wirklicher Sünder anzusprechen sei, obwohl er hinsichtlich des durch die Taufe wirksam erschlossenen Bezugs zu Christus und zu dem in ihm offenbaren gnädigen Gott als ganz und gar gerechtfertigt zu gelten habe. In Christus ein neuer Mensch bleibe der getaufte Christ doch selbstbezüglich betrachtet und gewissermaßen für sich genommen im Umkreis des alten Adam und somit beständig auf Gottes Gnade verwiesen, welche ihm in der Taufe wirksam zugesprochen worden sei und zwar durchaus ein für allemal. Christlicher Fortschritt habe sich infolgedessen an dauerhafter Rückkehr zur Taufe bzw. Einkehr in sie zu bemessen. Melanchthons Lehre vom peccatum originale, wie sie in der Apologia Confessionis Augustanae entfaltet ist, affirmiert den für die Anselm’sche Tradition der Erbsündenlehre charakteristischen Begriff der „carentia debitae iustitiae“, verbindet ihn aber zugleich in der Absicht seiner Vertiefung mit dem für Augustins und Luthers Hamartiologie kennzeichnenden Konkupiszenzbegriff. Die Erbsünde ist nicht nur ein privatives Defizit, sondern Mangel im Sinne gänzlichen Unvermögens zum Heil, ja aktiver Widerstand gegen Gott. Als „verkehrtes Gottesverhältnis des Menschen“ (Kinder, Erbsünde, 40) ist Sünde „nicht nur ein Ohne-Gott-Sein, sondern ein Gegen-Gott-Sein“ (Pöhlmann, 390). Bleibt hinzuzufügen, dass die Verkehrung des Gottesverhältnisses, wie sie das Unwesen der Sünde ausmacht, nicht nur den ganzen Menschen, sondern (mit Ausnahme Jesu Christi) alle Menschen im Kern ihrer Person betrifft. Nicht zuletzt darauf wird verwiesen, wenn das peccatum originale, principale, capitale etc. peccatum haereditarium genannt und ein hamartiologischer Bezug zur Allgemeinheit des menschlichen Gattungszusammenhangs hergestellt wird. Nicht dass durch den speziellen Begriff der Erbsünde gesagt werden sollte, dass „wir die Sünde kausal durch unsere väterliche Zeugung
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und mütterliche Empfängnis überkommen“ (Kinder, Erbsünde, 46). Er verweist vielmehr darauf, dass Sündersein ein Totalitätsurteil über den Menschen sowohl im Sinne eines Ganzheits- als auch eines Generalurteils ist. Nicht nur dass uns die Sünde ganz und gar und als eine Faktizität betrifft, die für uns ebenso unhintergehbar und faktisch ist wie das Faktum unserer Zeugung resp. Empfängnis; die Sünde betrifft zugleich alle menschlichen Gattungswesen. Rein anthropologisch betrachtet, will heißen: lediglich vom faktischen Menschen aus und im Hinblick auf ihn gesehen muss daher die Differenz zwischen menschlicher Natur und Erbsünde zwangsläufig verschwimmen. Ja, es gehört zum widerlichen und in sich widrigen Unwesen der Sünde, das Differenzverhältnis zwischen ihr und der geschöpflichen Menschennatur nicht nur einzuziehen, sondern in ein Gegenteil zu verkehren, das Indifferenz zu nennen eine Verharmlosung wäre. Was aber die Identität menschlicher Natur im Prozess ihrer heilsamen Veränderung und Erneuerung betrifft, so lässt sie sich nicht unmittelbar aus dieser Natur begründen, sondern verdankt sich dem Vollzug der Liebe Gottes, der dem Menschen – trotz dessen sündiger und gegen dessen sündige Selbstverfassung – eine bleibende Selbstidentität zu geben gewillt ist. Die Differenzierungen, die dieser Grundsatz im Laufe der Lehrentwicklung der Wittenberger Bekenntnistradition erfahren hat, dienen seiner Bestätigung, nicht seiner Aufhebung. Die Konkordienformel unterscheidet, wie eingangs Formula Concordiae vermerkt, in Abwehr unbedachter Aussagen, die I und II namentlich Matthias Flacius Illyricus (vgl. Preger) getätigt hatte, zwischen peccatum originale und geschöpflicher Wesensnatur des Menschen, um die Vorstellung einer erbsündlichen „Transsubstantiation“ des Menschen bzw. einer durch die Erbsünde bewirkten Annihilation seines kreatürlichen Wesens als unstatthaft abzuweisen. Doch besteht der Sinn dieser Unterscheidung nicht in einer auch noch so geringen Minimierung des anthropologischen Erbsündenschadens, sondern im Gegenteil darin, die Veräußerlichung der Erbsünde zu verhindern und ihre Zurechenbarkeit als Schuld zu gewährleisten. Die Schuld des peccatum originale ist von einer Abgründigkeit, die jedes menschliche Vermögen destruiert, sich vor Gott zu rechtfertigen. Kein Mensch kann infolgedessen den Unterschied zwischen seiner kreatürlichen Wesensnatur und dem Unwesen der Erbsünde gewährleisten. Dies vermag nur Gott, in dessen Gnade allein die Rechtfertigung des Sünders gründet. Nur in Bezug auf den Rechtfertigungsglauben und von ihm her gewinnt die Unterscheidung von kreatürlicher Bestimmung und sündiger Verkehrtheit des Menschen einen anthropologisch fassbaren Sinn, der die betonte Abgründigkeit des peccatum originale nicht etwa revoziert, sondern die gewissenhafte Einsicht in seine selbstverfallene Bodenlosigkeit recht eigentlich erst erschließt. Weiß doch, wie FC I unter Bezug auf Luther ausdrücklich konstatiert (BSLK 847,37–41), keine Vernunft, sondern nur der Offenbarungsglaube in Wahrheit, was die Erbsünde in ihrem grundverkehrten Unwesen sei. Es ergibt sich folgendes hamartiologisches Fazit: Das abgründige Unwesen der Sünde wird verkannt, sowohl wenn es als ein die Identität des Sünders nicht
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berührendes Äußerliches aufgefasst wird, als auch dann, wenn es mit dessen menschlicher Wesensnatur differenzlos ineins gesetzt wird. Konkret erkannt und dem Bekenntnis der Schuld überantwortet ist die Sünde nur, wenn sie als widriger Widerspruch des Sünders zu seiner eigenen Geschöpflichkeit erfasst wird. Dies wiederum ist dem mit seiner Sünde alleingelassenen Sünder eine Unmöglichkeit: Die Differenz zwischen ihm selbst und seiner Sünde, welche die hamartiologische Unterscheidung von Substanz und Akzidens zu begreifen sucht, entzieht sich daher seinem Vermögen und zwar sowohl der Erkenntnis als auch der Tat nach; ihr Erkenntnis- und Realgrund ist allein der in Jesus Christus in der Kraft seines Hl. Geistes zum Heil des Sünders offenbare Gott. Bedarf es dafür einer weiteren Bestätigung, so liefert sie der zweite Artikel der Konkordienformel, dessen Überschrift „Vom freien Willen“ nicht übersehen lassen darf, dass er in den unmittelbaren Kontext der Lehre von der Erbsünde und der mit ihr gegebenen menschlichen Willensverkehrung gehört (vgl. Hübner). In Bekräftigung der Aussagen in Luthers Schrift „De servo arbitrio“ wird in FC II gelehrt, dass „in geistlichen und göttlichen Sachen des unwiedergebornen Menschen Verstand, Herz und Wille aus eignen, natürlichen Kräften ganz und gar nichts verstehen, gläuben, annehmen, gedenken, wöllen, anfangen, vorrichten, tun, wirken oder mitwirken könnte“ (BSLK 873,16–874,1). Vielmehr sei er ganz und gar dem Glauben erstorben und seiner Natur nach völlig unfähig, sich aus sich und durch sich zur Gnade Gottes zu bereiten oder dieselbe anzunehmen etc.; aus eigenen Kräften vermöge er zu seiner Bekehrung keinen auch noch so geringen Teil, sondern schlechterdings nichts beizutragen. Der sich selbst überlassene natürliche freie Wille sei seiner verkehrten Art und Natur nach allein zu demjenigen kräftig und tätig, „das Gott mißfällig und zuwider ist“ (BSLK 874,21 f.). Der nicht wiedergeborene Wille des gefallenen Menschen vermag demnach nicht nur nichts zu seinem Heil, er bewirkt vielmehr durch seine unmittelbare Selbsttätigkeit aktiv und in vermeintlicher Verständigkeit die Verkehrtheit gott- und menschenwidrigen Unheils. Obzwar seine Vernunft bzw. sein natürlicher Verstand (humana ratio seu naturalis intellectus hominis) über „ein tunkel Fünklein der Erkenntnus, daß ein Gott sei“ (BSLK 874,36 f.), sowie über ein obskures Partikularbewusstsein göttlichen Gesetzes verfüge, habe der gefallene Mensch doch an sich selbst als derart unwissend, blind und verkehrt zu gelten („ignorans, caeca et perversa est ratio illa“), dass nachgerade der Allergelehrteste kraft eigener Gelehrsamkeit nicht nur nichts vom Evangelium Jesu Christi und der Verheißung ewiger Seligkeit erfasse, sondern je mehr er aus eigener Vernunft zu begreifen trachte, um so weniger verstehe, um zuletzt im gänzlichen Missverstand zu enden. Gesteigerter Selbstanstrengung des gefallenen Menschen korrespondiert in diesem Sinne oder zutreffender gesagt: nach bezeichneter Weise sinnwidriger Verkehrtheit das Unheil desto abgründigeren Missverstehens. Eine Vielzahl von Schriftstellen, namentlich aus paulinischem Kontext, werden zum Beleg aufgeführt, dass es sich hiermit so verhalte (vgl. BSLK 875,6 ff.). Fest steht: In geistlicher Hinsicht gleicht der sich selbst überlassene und
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auf sich gestellte Sünder einem Leichnam (vgl. BSLK 875,43 ff.). Doch ist sein Tod kein bloß leiblicher, sondern der Seelentod der Sünde, der schlimmer ist als die Nichtigkeit des Nichts, weil sein alles Tun und Lassen verschlingender Abgrund in die Bodenlosigkeit der Hölle hinabreicht, wie denn auch der Fall der Sünde recht eigentlich kein Vergangen-Gewesenes, sondern ein alles Denken und Wollen in seinen Bann ziehendes ungehaltenes Fallen ist. Um deutlich zu machen, dass der unwiedergeborene Mensch seiner Natur nach von Gott nicht nur abgewandt, sondern allem Gottwidrigen zugetan, dem Guten nicht nur erstorben, sondern dem Bösen bewusst und willentlich frönend vorzustellen ist, vergleicht die Hl. Schrift, in welcher gemäß der Konkordienformel das Wort Gottes buchstäblich beurkundet ist (vgl. auch BSLK 878,15 ff.), sein Herz mit „einem harten Stein, so dem, der ihn anrühret, nicht weichet, sondern widerstehet, und einem ungehobelten Block und wildem unbändigem Tier“ (BSLK 879,21 -25; vgl. Hes 36,26 und Jer 5,3; Hos 6,5; Ps 73,27 sowie Dan 5,21). Das tertium comparationis ist dabei am besten mit den im Kontext begegnenden Vokabeln wie „widerspenstig und feind“ (vgl. BSLK 878,12; 879,4) zu umschreiben. Hingegen will der biblische und von Luther aufgegriffene (vgl. BSLK 879,33 – 880,12; zu diesem Textpassus vgl. BSLK 879, Anm. 4) Vergleich des in Sünde verkehrten Menschenherzens mit einem nicht nur harten, sondern in seiner Härte gewissermaßen aktiv resistenten lapis bzw. mit einem truncus, einer Statue oder einem wilden Tier keineswegs die menschliche Unterschiedenheit der extrahumanen Kreatur gegenüber leugnen. Die Annahme, dass der Mensch „nach dem Fall nicht mehr ein vornünftige Kreatur sei“ (BSLK 879,26 f.), wird nirgends vertreten, sondern ausdrücklich zurückgewiesen. Würde doch eine gegenteilige Behauptung mit dem Menschsein des postlapsarischen Menschen zugleich die Schuldhaftigkeit seiner sündigen Verkehrtheit in Abrede stellen und zwangsläufig auf eine Fatalisierung, will heißen: Verharmlosung der Sünde im Sinne eines animalischen Triebes hinauslaufen. Ein Tier mag zur Bestie werden – die gottlose und inhumane Widerlichkeit menschlicher Sünde wäre gründlich verkannt, wo der Mensch zu einem Tier oder zu einem Stein erklärt würde. Nur wo der Mensch bei seiner menschlichen Bestimmung, die ihm als Geschöpf Gottes eigen ist, behaftet wird, kann die Sünde in ihrer schuldhaften Verkehrtheit erfasst werden. Sowenig die Sünde substantialisiert werden darf, so wenig darf sie animalisiert oder anderweitig indifferenziert werden. Nicht Laxheit, sondern hamartiologische Konsequenz zwingt zu dieser Einsicht und zu dem bereits zitierten Vorbehalt, aus dessen Kontext heraus auch die sich mit ihm verbindenden Folgerungen zu verstehen sind: „nicht, daß der Mensch nach dem Fall nicht mehr ein vornünftige Kreatur sei oder ohne Gehör und Betrachtung des göttlichen Worts zu Gott bekehret werde oder in äußerlichen, weltlichen Sachen nichts Guts oder Böses vorstehen oder freiwillig tun oder lassen könne.“ (BSLK 879,25 -31) Von einem Determinismus zwangsläufiger Naturkausalität kann im Blick auf die Anthropologie und Hamartiologie der Konkordienformel und mit ihr der gesamten Wittenberger Bekenntnistradition nur unter der Voraussetzung groben Missverstandes die Rede
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sein. Auch und gerade der sündige Mensch ist als Mensch und nicht als eine Funktionsgröße animalischer Triebhaftigkeit anzusprechen, damit zusammen mit der Gottlosigkeit der Sünde auch ihre schöpfungswidrige Inhumanität offenbar werde. Wo man dies verkennt, macht man sich eines ebenso großen Irrtums schuldig wie dort, wo man den auch unter postlapsarischen Bedingungen verbliebenen Unterschied zwischen Mensch und extrahumaner Kreatur soteriologisch zu einem – wie groß oder gering auch immer zu veranschlagenden – Restvermögen des Menschen aufbläht, sich sein Heil vor Gott selbst zu besorgen. Steht es nicht in den natürlichen Kräften postDie Zusatzartikel CA XVIII lapsarischer Willensfreiheit des Menschen (BSLK und XIX 882,36 -38: „weder zum ganzen, noch zum halben, noch zu einigem, dem wenigsten oder geringsten Teil“), die Bekehrung, den Glauben an Christus, die Wiedergeburt und Erneuerung wirksam anzufangen und zu vollziehen, so ist dies „in solidum, das ist, ganz und gar, allein der göttlichen Wirkung und dem Heiligen Geist“ (BSLK 882,38 -40) zuzuschreiben. Dass eben dies und nichts anderes die Lehre der Bibel und diejenige der Wittenberger Reformation sei, wird unter Verweis auf Apol XVIII (vgl. BSLK 882,42 ff.; BSLK 882, Anm. 5), eine Vielzahl von Schriftstellen (vgl. BSLK 883,3 f.; BSLK 883, Anm. 1) und unter Heranziehung Augustins (vgl. BSLK 883,39 ff.; BSLK 883, Anm. 2) mit Nachdruck betont. Die Sünden- und Willenslehre der Autoren der Konkordienformel liegt nicht nur gemäß ihrem Selbstverständnis, sondern der Sache nach in der Konsequenz dessen, was bereits die Augustana und ihre Apologie lehren. Schon CA II hatte die Pelagianer und andere verdammt, „qui vitium originis negant esse peccatum et, ut extenuent gloriam meriti et beneficiorum Christi, disputant hominem propriis viribus rationis coram Deo iustificari posse“ (CA II,3). CA XVIII und der entsprechende Apologieartikel gestehen dem Willen des postlapsarischen Menschen zwar „aliquam libertatem ad efficiendam civilem iustitiam et deligendas res rationis subiectas“ (CA XVIII,1), keineswegs aber das Vermögen zu, nicht zu sündigen und Gerechtigkeit vor Gott zu erlangen. Dieser Vorbehalt ist entscheidend für den Status, der dem „liberum arbitrium“ des Menschen unter den Bedingungen des Falles der Sünde zuerkannt wird. Er bleibt uneindeutig, ja zweideutig und ambivalent, solange seine Äußerlichkeit nicht eindeutig fixiert ist. Darauf verweisen Wendungen wie „etlichermaßen, aliquando modo“ etc., mit denen die Willensfreiheit des postlapsarischen Menschen charakterisiert wird. Sein verbleibendes liberum arbitrium ist wie das die Richtung des Willens bestimmende und in dessen Intentionalität mitgesetzte allgemeine Wissen vom Guten als dem Inbegriff des Erstrebenswerten wegen seiner Unbestimmtheit nicht nur nicht unzweideutig, es wird vielmehr ambivalent und infolge dieser Ambivalenz eindeutig verkehrt, wo es sich selbst überlassen bleibt und nicht zu jener Offenbarungsgewissheit gelangt, in welcher das vage Wissen vom Guten, welches die unerlässliche anthropologische Voraussetzung einer hamartiologischen Ansprechbarkeit bzw. Verantwortlichkeit des Menschen ist, die klare Bestimmtheit des Rechtfertigungsglaubens annimmt.
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Johannes Eck war nicht der einzige altgläubige Theologe, der der reformatorischen Lehre deterministische Konsequenzen und in der Folge dessen die Annahme unterstellte, Gott selbst bringe die Sünde ursächlich hervor. Gegen diese Ungeheuerlichkeit verwahrte sich Melanchthon energisch. Wiewohl Gott alles geschaffen habe und erhalte, so wirke doch nicht er, sondern der verkehrte Wille die Sünde in allen Bösen und Verächtern Gottes: „causa peccati est voluntas malorum, ut diaboli et impiorum, quae, non adiuvante Deo, avertit se a Deo“ (CA XIX,4 ff.). Das gedankliche Problem, das sich mit dieser Formulierung verbindet, liegt in der Aporie der Sünde selbst begründet, sofern ihr Grund recht eigentlich ein Abgrund, ihre causa efficiens eine causa deficiens ist, die sich eodem actu verursacht und verwirkt. Es liegt im Unwesen der Sünde begründet, dass sich für ihre Faktizität kein anderer Grund angeben lässt, als die Verkehrtheit des von Gott abgewendeten Willens, der ihren abgründigen Fall ausmacht, für den einen einsehbaren, gar theologischen Grund anzugeben auf eine Entschuldigung hinausliefe, welche selbst Sünde wäre. Die Sünde ist unentschuldbare Schuld und als solche schuldig an sich selbst. Für ihre vernünftigerweise unleugbare, wenngleich von den in ihrem Banne Stehenden notorisch geleugnete Tatsächlichkeit gibt es keinen anderen Grund als das Faktum jener sinnlosen und sinnwidrigen Untat, welche die Sünde selbst ist. Kann sonach der Grund der Sünde nicht auf ein Sündenexternes geschoben werden, so gilt zugleich: Die Sünde ist selbst schuld und trägt entsprechend die Ursache ihres Verderbens in sich; in sich verkehrt verfällt sie dem Abgrund, der sie selbst ist. In alledem aber erweist sie sich als Quasisubjekt ihres Täters, den sie gebannt in ihren Sog zieht, um ihn radikal zugrunde zu richten. Darauf deutet die explizite Erwähnung des Teufels in CA XIX hin: Nicht dass damit auf einen zweiten Gott, den Gott des Bösen verwiesen würde, der als solcher außermenschliche Ursache der Sünde sei. Dies wird nicht nur nicht gesagt, sondern ebenso ausgeschlossen (BSLK 313,11 f.: „unus ac solus Deus“) wie jedwede andere Art der Fatalisierung der Sünde. Der Fall der Sünde ist nicht bloße Tragik, sondern willentliche und daher zurechenbare Schuld des Menschen. Indes hat die menschliche Willensverkehrung als solche diabolischen Charakter, was sich u. a. daran zeigt, dass der Mensch als Täter der Sünde ipso facto zu deren Objekt und Besitzgegenstand wird. Von Gott abgewendet und willentlich in sich verkehrt ist der Mensch des Teufels, dessen Unperson nicht für einen äußeren, distanziert fassbaren Grund, sondern für die unfassbare Sinnlosigkeit steht, welche der Sünde und der Pervertiertheit ihrer Selbstbegründung innewohnt, von deren bodenloser Abgründigkeit man sich keinen vernünftigen Begriff machen kann, weil sie der Inbegriff des Unvernünftigen selbst ist. „Voller Schuld- und unentrinnbarer Zwangscharakter des S(ünde)rseins werden zugleich behauptet; es wird kein gedanklicher Ausgleich zwischen beiden gesucht.“ (Kinder, Sünde und Schuld, 491) Die Unvernünftigkeit oder besser: Widervernünftigkeit der Sünde erweist sich nachgerade darin, dass sich in ihrem Fall jedes vernünftige Distanzierungsvermögen des Menschen zersetzt. Im Falle der Sünde hat der Sünder jede Möglichkeit
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der Sünde gegenüber restlos verloren. Davon geht die Hamartiologie der CA dezidiert aus: Entsprechend wird in CA XVIII – wie CA XIX ein durch Ecks Invektiven veranlasster Zusatz zu den Stammartikeln der Augustana – gelehrt, dass der natürliche Mensch – und das ist nach Lage der Dinge der gefallene Mensch – „ohn Gnad, Hilfe und Wirkung des heiligen Geists“ nicht vermag, „Gott gefällig zu werden, Gott herzlich zu furchten, oder zu glauben, oder die angeborene böse Lüste aus dem Herzen zu werfen. Sondern solchs geschieht durch den heiligen Geist, welcher durch Gotts Wort geben wird.“ (BSLK 73,6 -13) Steht es sonach nicht in der Willensfreiheit des postlapsarischen Menschen, gerecht zu werden vor Gott und sein durch schuldhaften Eigenwillen verkehrtes Gottesverhältnis willentlich zurechtzubringen, so stellt sich erneut die Frage, was es mit dem liberum arbitrium auf sich hat, dessen Gegebenheit und Verbleib im Menschen CA XVIII ausdrücklich attestiert. Im Vordergrund steht zweifellos Melanchthons Interesse an der Klarstellung, dass die lutherische Lehre „De servo arbitrio“ nicht nach Weise eines kausalmechanischen Determinismus zu deuten sei, der menschliche Spontaneität ausschließe und nur willenlose Zwangsläufigkeiten zulasse. Die reformatorische Hamartiologie leugnet den Unterschied zwischen Mensch und extrahumaner Kreatur nicht nur nicht, sondern steht unter der Voraussetzung seiner Annahme. Doch ist mit diesem Hinweis der hintergründige Sinn und die theologische Pointe der Argumentation noch nicht erfasst. Wird doch das Vermögen des liberum arbitrium, das dem Menschen im Unterschied zum Tier und der sonstigen Kreatur auch unter postlapsarischen Bedingungen eignet, in theologischer Hinsicht, also in Bezug auf die menschliche Gottesbeziehung nicht nur völlig depotenziert, sondern an sich selbst in einem Maße problematisiert, das keine Steigerung zulässt. Nicht nur, dass das „liberum arbitrium“ in bezug auf Gott schlechterdings nichts vermag, es verkehrt vielmehr in der Beanspruchung und faktischen Realisierung eines solchen Vermögens die Gottesbeziehung des Menschen, um zur „causa peccati“ zu werden, von der CA XIX spricht. Für sich genommen oder besser: unmittelbar auf sich bezogen ist das „liberum arbitrium“ nach theologischem Urteil nicht nur nichts, sondern in sich verkehrt und Sünde. Bleibt zu fragen, ob von dieser sündigen Verkehrtheit des auf sich bezogenen und in solch unmittelbarem Selbstbezug von Gott abgewendeten „liberum arbitrium“ nicht auch dessen Weltbezug betroffen ist. Darauf gibt CA XVIII keine eindeutige Antwort bzw. eine Antwort, die allenfalls in ihrer Zweideutigkeit eindeutig ist. Bestimmt erheben lässt sich, wie erwähnt, nur die Unbestimmtheit der Argumentation, womit der Schlüssel zu ihrem Verständnis gegeben ist. Das „liberum arbitrium“ als vernünftiges Willensvermögen, das den Menschen kreatürlich auszeichnet und von der übrigen Kreatur unterscheidet, ist keine theologisch unzweideutige Größe, vielmehr theologisch eindeutig wahrgenommen nur, wenn es in seiner Zweideutigkeit erfasst ist. Offenbar ist die Grundannahme von CA XVIII, dass das „liberum arbitrium“ eine relative Größe ist, die nur im komplexen Zusammenhang differenzierter Bezüglichkeiten erfasst werden kann. Grundver-
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kehrt – peccatum originale sowohl als auch causa peccati – ist das liberum arbitrium dann, wenn es die Gottesbeziehung zu beherrschen und die Subjektstellung Gottes zu okkupieren sucht. Wo solche Verkehrtheit statthat, bleibt auch der Weltbezug des liberum arbitrium nicht unbetroffen, und zwar nachgerade deshalb nicht, weil ein den Gottesbezug zu dominieren trachtendes „liberum arbitrium“ in zwanghaftem Trieb zur Selbsttotalisierung unfähig ist, sich auf die Sphäre der äußeren Freiheit im Sinne der „iustitia civilis“ zu beschränken, was seine geschöpfliche Bestimmung wäre. Man wird zu erkennen haben, daß die Unterscheidung zwischen Gottes und Weltbezug des liberum arbitrium selbst eine theologisch vermittelte ist, dass daher der Weltbezug des liberum arbitrium nicht im Sinne theologischer Neutralität zu verstehen ist. Die sozusagen neutrale Fassung des liberum arbitrium gehört zwar als anfängliches Moment zum Gedankengang von CA XVIII unveräußerlich hinzu; sie geht aber in diesen Gedankengang dergestalt ein, dass sie in dessen Verlauf eine elementare Umbestimmung erfährt. Nicht dass das liberum arbitrium als natürliches Vermögen in Konsequenz dieser Umbestimmung einfach aufzugeben wäre: erkennbar ist vielmehr, dass Vernunft und Wille des Menschen von Gott her dazu bestimmt sind, als Schöpfungsgaben erhalten zu bleiben, was selbst im Falle der Sünde und unter sündigen Bedingungen gültig bleibt. Doch ist es keineswegs so, dass die sündige Verkehrung des Menschen dessen Weltbezug unberührt lässt. Denn bestenfalls ist der Weltbezug des natürlichen Menschen als zweideutig zu qualifizieren, wohingegen er unzweideutig schlecht immer dann ist, wenn er in seiner Zweideutigkeit nicht eindeutig erkannt ist. Eine nicht unwesentliche Leistung von CA XVIII bestünde sonach darin, einen bestimmten theologischen Begriff von der Unbestimmtheit des natürlichen liberum arbitrium entwickelt zu haben. Dass es sich so verhält, wird durch den einschlägigen Apologieartikel und seine Auslegungsgeschichte in der Wittenberger Bekenntnistradition und in der Dogmatik altlutherischer Orthodoxie bestätigt. Die in der Dogmatik altlutherischer Orthodoxie Zur Sündenlehre vertretene Beurteilung des menschlichen liberum altlutherischer Dogmatik arbitrium unter postlapsarischen Bedingungen setzt voraus, was im Lehrstück „De statu integritatis“ über die Freiheit des Willens gesagt ist (vgl. Schmid). Als imago Dei ist der Mensch im Unterschied zu allen anderen Kreaturen mit Vernunft und vernünftigem Willensvermögen begabt und dazu bestimmt, seiner Gottebenbildlichkeit in rechtschaffener Güte und Gerechtigkeit zu entsprechen. Frei und vernünftig ist der prälapsarische Wille des Menschen zu nennen, weil er in Übereinstimmung mit seinem Schöpfer, der geschöpflichen Bestimmung des Menschen und der kreatürlichen Ordnung des Kosmos steht. Wie der menschliche Wille Jesu Christi dem Willen des göttlichen Logos vollkommen entspricht und gerade darin die Erfüllung seiner selbst als eines eigenen, vom göttlichen unterschiedenen Menschenwillen findet, so liegt die prälapsarische Freiheit des Willens des Menschen nicht in arbiträrer Willkür bzw. einer vermeintlich neutralen Entscheidungsfreiheit, sondern in der willigen Bejahung
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der eigenen Geschöpflichkeit begründet. Einzig diese Affirmation ist frei und vernünftig zu nennen, wohingegen Zweifel an ihrem Sinn den Fall der Sünde und den Verlust der iustitia originalis zwangsläufig nach sich ziehen. Unter der Bedingung sündiger Willensverkehrung ist die Freiheit des Willens dahin und das liberum arbitrium zu einer ambivalenten Größe herabgesetzt, die allenfalls den Bestand des äußeren Daseins einigermaßen zu wahren vermag, obwohl sie auch in diesem Geschäft rein auf sich gestellt vielfach versagt. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen und die Realität seiner Ursprungsgerechtigkeit gelten den Dogmatikern der altlutherischen Orthodoxie als Vorzüge seiner kreatürlichen Wesensnatur und nicht als Gaben, die den Menschenwesen auf übernatürliche Weise extern zukommen; die imago Dei des Menschen ist einschließlich seiner iustitia originalis eine perfectio naturalis und kein donum supernaturale externum ac accessorium. Der Mensch ist als Mensch von seinem Schöpfer zur Gottebenbildlichkeit und dazu bestimmt, seiner gottebenbildlichen Bestimmung als Mensch zu entsprechen. Die Implikationen und Folgen der Verfehlung dieser Bestimmung und des sündigen Widerspruchs gegen sie können daher nicht auf den Verlust einer übernatürlichen Zugabe zur geschöpflichen Willensnatur des Menschen begrenzt werden; sie betreffen nach Urteil der altlutherischen Dogmatiker diese selbst und zwar nicht nur im Sinne einer Schwächung, sondern einer inneren Verkehrung. Die Wesensnatur des sündigen Menschen ist verkehrt in sich. Zwar hört der Sünder nicht auf, ein Geschöpf Gottes zu sein; aber er ist ein in sich verkehrtes Gottesgeschöpf, das seine Bestimmung in heilloser Abgründigkeit verfehlt hat und ständig verfehlt. Was die Freiheit seines Willens anbelangt, so verbleibt ihm in statu corruptionis nur noch das beschränkte Vermögen, äußerliche Dinge äußerlich zu regeln, wohingegen ihm ansonsten allein ein liberum arbitrium in malis zukommt (vgl. im Einzelnen: Schmid, 158 ff.). Die Fähigkeit, seine Bekehrung und andere geistliche Handlungen hervorzubringen, geht dem postlapsarischen Menschen hingegen gänzlich ab. So ist es etwa in dem Abschnitt „De viribus naturalibus post lapsum in homine residuis“ (König II,182–248) von Johann Friedrich Königs „Theologia positiva acroamatica“ (Rostock 1664) im Einzelnen dargelegt, an deren Beispiel die Lehre „De peccato“ der Dogmatik der altlutherischen Orthodoxie abschließend skizziert werden soll (vgl. König II, 39 ff.). Nach König ist die Sünde an ihrem Fall selbst Johann Friedrich König schuld. Gott ist in gar keiner Weise Ursache der „De peccato“ Sünde, unter welchem Aspekt auch immer von ihm die Rede ist. Deshalb kann das Faktum des Sündenfalls auch aus seiner Schöpfung, die ursprünglich ganz gut war, theologisch nicht deduziert werden. Die causa peccati liegt ausschließlich im grundlosen Vollzug der Sünde begründet, wie er aus reinem Belieben verkehrter Freiheit und schierer Gottaversion hervorgeht. Statt einer causa efficiens kommt der Sünde daher nur eine causa deficiens zu, ein abgründiger Grund, der seiner eigenen Bodenlosigkeit verfallen und dazu bestimmt ist, sich selbst zu verwirken. Subjekt der Sünde bzw. materia peccati in
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qua sind zum einen die gefallenen Engel und zum anderen die gefallenen Menschen. Was die angeli lapsi betrifft, so hat ihr Fall keine andere Wirkursache außer dem willkürlichen Willen, aus einem im Grunde nicht aufklärbaren Belieben heraus von Gott abzufallen. Sünde ist reine Willkür. Dass sich dieser Willkür zuerst körperlose Geister schuldig machen, enthält einen Hinweis darauf, dass die Sünde ihr Unwesen primär nicht in Form sinnlicher Verfehlungen, sondern geistig-geistlicher Verkehrung betreibt. Die Perversion des Geistes ist der innere Abgrund des Bösen, der den Sündenfall zum Höllensturz werden lässt. Das Motiv des Sündenfalls muss zuletzt unerfindlich bleiben. Wenn überhaupt, dann kommt als identifizierbarer Beweggrund der Sünde nur der anmaßende Wille in Frage, Gott gleich zu sein. Es ist teuflisch, als rein geistiges Engelwesen sein zu wollen wie Gott. Die Folgen solch grundverkehrten Wollens und abfälligen Verhaltens an sich vollkommener Wesen Gott gegenüber sind Höllensturz und Bosheit von beharrlicher Unverbesserlichkeit. Kennzeichnend für sie ist ein das Innerste ergreifender Hass gegen Gott, der mit äußerster Aversion gegen alles Kreatürliche einhergeht und es von Gott abzukehren und in Besitz zu nehmen trachtet. Weist der Sturz der Engel und ihres Anführers, des Satans, darauf hin, dass der Fall der Sünde aus der Sphäre des Geistigen hervorgeht, so ist auch im Menschen das Erstaufnehmende, das proton dektikon (vgl. König II, 47) der Sünde die Seele mit ihrem Vermögen und ihren Fähigkeiten, so sehr die sündige Verfehlung den ganzen Menschen einschließlich seines Leibes erfasst. Dies gilt sowohl für das peccatum primum des Menschen als auch für die Sünde, die aus der ersten menschlichen Sünde hervorgeht und als peccatum a primo ortum traditionell Erbsünde genannt wird. Die äußere Ursache der ersten Menschheitssünde rührt zuerst und hauptsächlich von teuflischer Verführung her, die in pervertierter Engelsgeduld ständig zu verkehrtem Verhalten verleiten will, ohne dies gewaltsam erzwingen oder aus dem Innersten des Menschen heraus von sich aus erwirken zu können. Die innere und gewissermaßen direkt bewirkende Ursache menschlicher Ursünde liegt insofern nicht im Teufel begründet, der den Menschen als ursprüngliches Gottesgeschöpf nur zu versuchen vermag. Innerliche Schuld an der Ursünde des ersten Menschen tragen dessen Seelenvermögen, Verstand und Wille, die nicht wegen eines ihnen innewohnenden Mangels, den es in statu integritatis nicht gab, sondern aus einem Grund, der ebenso verstandeswidrig wie willkürlich war, sich vom Teufel und dem teuflischen Streben zu Unglauben gegen Gott und dazu verführen ließen, sich selbst an Gottes Stelle zu setzen. Von den Ureltern des Menschengeschlechts hat sich die Ursünde, die mit dem gänzlichen Verlust genuiner menschlicher Gottebenbildlichkeit einhergeht und allenfalls einige Überbleibsel und Spuren derselben hinterlässt, auf die Nachkommen fortgezeugt, um ausnahmslos „omnes ordinaria naturae via ex Adamo descendentes homines“ (König II, 80) zu betreffen. Das mit der von den Ureltern ererbten Sünde nicht unmittelbar, sondern vermittels eigener Tätigkeit gleichzusetzende peccatum originale der Adamskinder ist im Handelnden intern durch den verkehrten Willen verursacht, der seine causa
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deficiens interna ausmacht. Als innerer Antrieb verkehrten Willens fungiert die „concupiscentia irritans“ (König II,98), als äußerer jedwede Form der Verführung zum Tun des Bösen. Materiale, formale sowie ihre Wirkung und Eigenschaften betreffende Bestimmungen der peccata actualia und der Versuch ihrer Gliederung schließen an. Hinsichtlich der im Handeln wirkenden inneren Ursachen werden beabsichtigte und unbeabsichtigte Tatsünden unterschieden (vgl. König II,115 f.), hinsichtlich des sündigen Subjekts lässliche und solche Sünden, die in dem Moment, in dem sie begangen werden, den geistlichen Tod mit sich bringen und – sofern nicht ernsthafte Buße erfolgt – in die Verdammnis führen (vgl. König II, 147 ff.), hinsichtlich der Materie, gegen die sich die Tatsünden richten, eine Sünde gegen den Menschensohn, die vergebbar, und eine solche gegen den Hl. Geist, die unvergebbar ist. Der Abschnitt endet mit Ausführungen zur Verstockung. Die nach dem Fall im Menschen zurückgebliebenen Kräfte sind dürftig und werden von König im Wesentlichen nur darum aufgeführt, die Unentschuldbarkeit des sündigen Zustands des postlapsarischen Menschen festzuhalten. Ein liberum arbitrium im Sinne des Vermögens, seine Bekehrung und entsprechende geistliche Handlungen zu bewirken, wird ihm abgesprochen. Nur der Wille als solcher im Sinne der Freiheit von Zwang und äußerer Notwendigkeit sowie passive Aufnahmefähigkeit im logischen Sinne eines bloß möglichen Nichtwiderstehens wird ihm zugesprochen. Hingegen wird eine Freiheit zur Entscheidung zwischen geistlich Gutem und Bösem ausdrücklich nicht zuerkannt, weil der postlapsarisch verkehrte Wille des Menschen auf das geistlich Böse festgelegt ist. Wahlmöglichkeit besteht für ihn nur bedingt und lediglich in Bezug auf das natürlich Gegebene im Allgemeinen und im Besonderen. In geistlichen Dingen ist das liberum arbitrium des gefallenen Menschen hingegen kraftlos, ja tot.
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6. Hamartiologische Konstellationen im Umkreis Kants
Lit.: K. Aner, Die Theologie der Lessingzeit, Hildesheim 1964. – Chr. Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher, Tübingen 1996. – H. u. G. Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 1983. – K. Gräder, Die Versöhnungslehre Kählers in ihrem Verhältnis zu Hofmann und Ritschl, Gütersloh 1922. – E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Fünf Bände, Gütersloh 1949 ff. – H. Hoping, Freiheit im Widerspruch. Eine Untersuchung zur Erbsündenlehre im Ausgang von Immanuel Kant, Innsbruck 1990. – K. Huizing, Das Ding an sich. Eine unerhörte Begebenheit aus dem Leben Immanuel Kants, München 1998. – I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hg. v. K. Vorländer, Hamburg 61956. – P. MüllerGoldkuhle, Die Theologie der Sünde in der katholischen Dogmatik des 19. Jahrhunderts, Essen 1978. – Chr. K. R. Olearius, Die Umbildung der altprotestantischen Urstandslehre durch die Aufklärungstheologie, München 1968. – H. Renz, Geschichtsgedanke und Christusfrage. Zur Christusanschauung Kants und deren Fortbildung durch Hegel im Hinblick auf die allgemeine Funktion neuzeitlicher Theologie, Göttingen 1977. – J. Richmond, Albrecht Ritschl. Eine Neubewertung, Göttingen 1982. – J. Ringleben, Hegels Theorie der Sünde. Die subjektivitäts-logische Konstruktion eines theologischen Begriffs, Berlin/New York 1977. – A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Dritter Band: Die positive Entwickelung der Lehre, Bonn 31888. – R. Schäfer, Ritschl. Grundlinien eines fast verschollenen dogmatischen Systems, Tübingen 1968. – C. Chr. E. Schmid, Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften nebst einer Abhandlung, Jena4 1798. – W. Schmidt-Biggemann, Geschichte der Erbsünde in der Aufklärung. Philosophiegeschichtliche Mutmaßungen, in: ders., Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt a. M. 1988, 88–116. – A. Schubert, Das Ende der Sünde. Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung, Göttingen 2002. – A Schweitzer, Die Religionsphilosophie Kants von der Kritik der reinen Vernunft bis zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Freiburg i.Br./Leipzig/Tübingen 1899. – F. Sozzini, Praelectiones theologicae, in: Bibliotheca Fratrum Polonorum, Irenopoli (Amsterdam) 1656, 535–600. – G. S. Steinbart, System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christenthums für die Bedürfnisse seiner aufgeklärten Landesleute und anderer die nach Weisheit fragen eingerichtet, Züllichau (1778) 21780. – J. G. Töllner, Von den Überresten des göttlichen Ebenbildes, in: ders., Theologische Untersuchungen II/1, Riga 1774, 202–213. – W. Vossenkuhl, Die Paradoxie in Kants Religionsschrift und die Ansprüche des moralischen Glaubens, in: F. Ricken/F. Marty (Hg.), Kant über die Religion, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, 168–180. – G. Wenz, Vom Unwesen der Sünde. Subjektivitätstheoretische Grundprobleme neuzeitlicher Hamartiologie dargestellt unter besonderer Berücksichtigung der Sündenlehre von Julius Müller, in: KuD 30 (1984), 298–330. – Ders., Hegels Freund und Schillers Beistand. Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848), Göttingen 2008. – Ders., Der Glaubensphilosoph. Eine Erinnerung an Friedrich Heinrich Jacobi und seinen Streit mit Schelling 1811/12, in:
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KuD 57 (2011), 112–139. – K. Wenzel, Die Erbsündenlehre nach Kant, in: G. Essen/M. Striet (Hg.), Kant und die Theologie, Darmstadt 2005, 224–250.
„Der Fluch des Christentums“ lautete der Titel eines Essays, das Herbert Schnädelbach zum Kehraus der Milleniumsfeiern am 11. Mai 2000 im Feuilleton der ZEIT (Nr. 20) veröffentlichte. Darin listete der Philosoph, wie es im Untertitel hieß, Geburtsfehler einer alt gewordenen Weltreligion auf, um eine kulturelle Bilanz nach zweitausend Jahren Christentum zu ziehen. Als der erste von sieben Geburtsfehlern, die das Christentum nach Schnädelbachs Urteil gar nicht beheben kann, weil dies bedeuten würde, sich selbst aufzuheben, wird die Erbsündenlehre mitsamt ihrem Gegenstück, der Lehre von der Gerechtigkeit aus Glauben, identifiziert. Schuld an der christlichen Missgeburt sei insbesondere der Apostel Paulus. „Die Idee der Humanitas“, so Schnädelbach, „stammt aus der Stoa, und die Figur des aufrechten Ganges des Menschen vor Gott ist ein jüdisches Erbe, das das paulinische Christentum korrumpiert und verschleudert hat.“ Die Inhumanität des von Paulus inaugurierten Christentums sei bereits durch die Annahme einer Versündigung des ganzen Menschengeschlechts in Adam erwiesen, welche Augustin und Konsorten dann zu einer förmlichen Erbsündenlehre ausgebaut hätten. Schnädelbachs Kritik an der Lehre von der ErbWider das afrikanische sünde ist nicht neu und kein Sondergut kritischer System Philosophie. Der moderate Aufklärungstheologe Johann Gottlieb Töllner hatte sie schon im 18. Jahrhundert auf den schlichten Nenner gebracht: „Wir haben in Adam nichts verloren.“ (Töllner, 213) In diesem bündigen Merksatz spricht sich eine Grundüberzeugung der gesamten sog. Neologie aus, also jener Richtung in der deutschen evangelischen Theologie, die seit 1740 für ein halbes Jahrhundert einflussreich und in weiten Teilen der Kirche bestimmend wurde. Die drei vom rationalistischen Tischgedeck, Teller, Gabler und Löffler, ließen sich dafür ebenso als Beispiel anführen wie der Töllnerschüler Gotthilf Samuel Steinbart (vgl. Bd. 2, 63 f.), der es sich in seinem „für die Bedürfnisse seiner aufgeklärten Landesleute und anderer, die nach Weisheit fragen“, eingerichteten „System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christenthums“ von 1778 angelegen sein ließ, „den ganzen afrikanischen Brast der willkührlichen Lehrbestimmungen gänzlich aus der Philosophie des Christenthums oder dem dogmatischen System herauszuwerfen“ (Steinbart, 110). Gemeint war, wie nicht anders zu erwarten, der Bischof von Hippo. Die Lehren von der Sünde aller in Adam, von der postlapsarischen Verderbtheit der menschlichen Natur und vom völligen Unvermögen des Menschen, zu seiner Besserung tätig und wirksam beizutragen, rangieren unter den strikt abzulehnenden „Augustinischen privat Meinungen“ (Steinbart, 142) an erster Stelle. Wenn sie etwas bewiesen, dann nur, „wie wenig Augustin die geringste Authorität in der Kirche zu haben verdienet“ (Steinbart, 95). Die Grundsätze des „afrikanischen Systems“ (Steinbart, 114) seien wider alle Vernunft und unsittlich in sich. Verantwortlich nämlich sei der Mensch
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allein für das, was er selbst getan habe oder zu tun vermöge; Schuld bestehe nur im Bezug auf eigene Untat. Hingegen sei es ungerecht und unmoralisch, ein Vergehen einem anderen als demjenigen zuzurechnen, der es begangen habe. Die Fundamentalkritik am Stellvertretungsgedanken, die Töllner noch auf die vikarische Bedeutung der oboedientia activa Jesu Christi meinte beschränken zu können, liegt in der Konsequenz dieser Prämissen. Gegen die Annahme aktiver und passiver Stellvertretung Jesu Christi und einer Versündigung aller in Adam hatte sich schon im 16. Jahrhundert die Kritik der Sozinianer gerichtet, die als Antitrinitarier in die Ketzergeschichte eingegangen sind. Theologisch, christologisch und anthropologisch ist bei ihnen alles auf sittliche Selbsttätigkeit des Menschen abgestellt, die zu fördern das vornehmste und im Grunde einzige Ziel der Religion darstelle. Das Wesen des Menschen sehen sie durch grundsätzliche Güte ausgezeichnet, ohne dass ihnen deshalb die menschliche Natur als naturhafte Gegebenheit gelten würde. Recht despektierlich nennen sie den vermeintlichen Urvater Adam in jeder Hinsicht ein Kind, einen stümperhaften Anfänger, kurzum: einen Naturburschen, dessen unterentwickelte Fähigkeiten ebenso wie diejenigen Evas (einer, wenn man so will, jeder Erfahrung entbehrenden Unschuld vom Lande) noch der Erziehung durch die Kulturgeschichte des nachfolgenden Menschengeschlechts harrten. Von einer Urstandsgerechtigkeit wollen die Sozinianer daher nichts wissen, wobei sich ihre Kritik keineswegs in der Ablehnung unangemessener mythologischer Vorstellungsweisen erschöpft, sondern viel grundsätzlicher gefasst ist: „Justitia . . . non est perfectio hominis naturalis, sed voluntaria.“ (Sozzini, 540) Wesentliche Güte ist keine unmittelbare Gegebenheit, sondern willentlich und durch den tätigen Selbstvollzug menschlicher Freiheit vermittelt, durch welche der Mensch allererst seine gottebenbildliche Bestimmung realisiert. So steht es im dritten Kapitel der „Praelectiones theologicae“ von Fausto Sozzini programmatisch zu lesen. Der Gedanke werdender Gottebenbildlichkeit ist in der sozinianischen Lehre ebenso präfiguriert wie ein evolutionäres, auf fortschreitende Entwicklung ausgerichtetes Schöpfungsverständnis. Beides fand in der Neologie und im protestantischen Aufklärungschristentum großen Anklang, um mehr und mehr die theologische Denkungsart zu bestimmen. In den fünf Bänden von Emanuel Hirschs „Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens“ (vgl. Hirsch) oder in Karl Aners Werk über „Die Theologie der Lessingzeit“ (vgl. Aner) lassen sich dafür zahlreiche Belege finden. Den größten Anreiz zur Kritik bot für die Aufklärungstheologie die Erbsündenlehre (vgl. Schmidt-Biggemann), weil diese ihrem Urteil zufolge nicht nur auf einer unhaltbaren Vorstellung von Urstand und nachfolgendem Sündenfall beruhe, sondern das menschliche Vermögen freier Selbsttätigkeit und damit die Grundvoraussetzung von Sittlichkeit destruiere. Mit der Annahme einer bildungs- und entwicklungsfähigen Menschennatur schien die Lehre einer ursprünglichen und fortwährenden Radikalverderbnis offenbar am allerwenigsten verträglich. Die Gegnerschaft zur Lehre vom peccatum originale und von der Erb-
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sünde konnte sich so als das gemeinsame Band darstellen, welches das theologische Aufklärungsdenken bei allen Unterschieden vereinte und von der orthodoxen Dogmatik des Altprotestantismus schied. Die Aufklärungstheologie hat die altprotestantische Lehre von Urstand, Fall und Erbsünde nicht kontinuierlich fortentwickelt, sondern einer grundlegenden Kritik und Revision unterzogen. Fundamentale Bruchstellen sind unübersehbar. Allerdings differenziert sich das Bild, wenn man die geschichtlichen Wandlungen berücksichtigt, die in der Zeit von 1580–1740 innerhalb des sogenannten Altprotestantismus selbst stattfanden. Die lutherische und reformierte Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung ist ebenso wenig wie die tridentinische Barockscholastik jener erratische Block, als welcher sie gelegentlich betrachtet wird, und die Grenzen zwischen Orthodoxie und Aufklärung lassen sich weniger scharf ziehen, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Dies wird umso deutlicher je präziser man die orthodoxieinternen Transformationsprozesse, die sog. Übergangstheologien und die mannigfachen Verbindungen ins Auge fasst, wie sie etwa zwischen Pietismus und Aufklärungsbewegung bestanden. Auch „die Kritik an der Erbsündenlehre ist weder eine Erfindung der Aufklärungsphilosophie noch der Aufklärungstheologie des 18. Jahrhunderts, sondern hat eine lange und komplizierte Vorgeschichte in den theologischen Debatten des 17. Jahrhunderts“ (Schubert, 231). Man vergleiche hierzu neben A. Schuberts zitierter Monographie über „Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung“ etwa die Untersuchung von Chr. K. R. Olearius zur „Umformung der altprotestantischen Urstandslehre durch die Aufklärungstheologie im deutschsprachigen Bereich“ (Olearius, 2 f.) oder die Hinweise, die P. Müller-Goldkuhle zur Abkehr von der tridentinischen Barockscholastik in der römisch-katholischen Hamartiologie gibt (vgl. Müller-Goldkuhle, 8 ff.). Ihren durchschlagenden und breitenwirksamen Erfolg hat die aufgeklärte Kritik an der traditionel- Kein Ende der Sünde len Sündenlehre im Laufe des 18. Jahrhunderts errungen. „Das Ende der Sünde“ (vgl. Schubert), jedenfalls der Ur- und Erbsünde, schien nun definitiv und endgültig geworden zu sein. „Die aus dem Altprotestantismus überlieferte Lehre, dass die Sünde des Stammvaters der Menschheit allen seinen Nachkommen von Gott unmittelbar zugerechnet werde, als sei sie ihre eigene, musste als besonders unverständlich und anstößig empfunden werden und wird denn auch im Bereich der Aufklärungstheologie nur noch selten vertreten.“ (Olearius, 120) Als umso erstaunlicher musste es den Zeitgenossen erscheinen, dass der von vielen als Vollender der Aufklärung gepriesene Immanuel Kant dem peccatum originale unter dem Siegel des radikalen Bösen erneute Aufmerksamkeit widmete. Harsche Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Nicht nur in Weimar nahm man Anstoß an Kants Hamartiologie und schmähte sie als eine philosophische „Diaboliade“ (Herder; vgl. Wenzel, 224; Hoping, 52 f.). Doch war es nicht das erste Mal, dass dem „Aufklärer der Aufklärer“ vorgeworfen wurde, seine Lehre in einen Widerspruch mit sich selbst zu bringen. Zu denken ist an das ominöse
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„Ding an sich“, dessen theoretischer Status als vergleichbar anrüchig empfunden wurde wie die Stellung des radikalen Bösen im praktischen Kontext der Religionsphilosophie. Der Ding-an-sich-Problematik hat sich nicht erst Klaas Huizing in seinem amüsanten Roman „Eine unerhörte Begebenheit aus dem Leben Immanuel Kants“ angenommen; auf sie hatte bekanntlich schon Friedrich Heinrich Jacobi verwiesen mit seinem vielzitierten und -variierten Wort, demzufolge man ohne das „Ding an sich“ nicht in die Kant’sche Erkenntnislehre hineingelange, mit demselben aber nicht in ihr verbleiben könne (vgl. Wenz, Der Glaubensphilosoph, 118 ff.). Systemintern „erscheint“ das „Ding an sich“ als „ein Unding“ (Böhme, 293). Nach Urteil von Hartmut und Gernot Böhme steht es paradigmatisch für „das Andere der Vernunft“, das Kant weder als theoretischer noch als praktischer Philosoph loszuwerden vermochte, sondern das sein Denken wie ein Schatten verfolgte: „Das Andere der Vernunft, das ist inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle – oder besser: all dieses, insoweit es sich die Vernunft nicht hat aneignen können.“ (Böhme, 13) Zwar habe Kant in der Konsequenz seiner Konstruktion des aufgeklärten Subjekts das Vernunftandere fortschreitend zu verdrängen gesucht; aber hintergründig habe es sich erneute Geltung verschafft, um „die Genesis des Vernunft-Ich“ (Böhme, 16) und seiner emanzipativen Selbstermächtigung an den Tag zu bringen und damit über den mit dem Gewinn der Aufklärung verbundenen Verlust aufzuklären. Kants Philosophie markiert „Höhepunkt und Vollendung der deutschen Aufklärung“ (Böhme, 24) und gibt nach Auffassung der Gebrüder Böhme zugleich ein Beispiel für deren eigentümliche Dialektik, die dem Anderen der Vernunft gerade durch den Versuch seiner Verdrängung hinter- und untergründige Geltung verschafft. Statt das Vernunftandere in seiner Andersheit sein zu lassen, solle seine Fremdheit getilgt werden mit der Folge jener Entfremdung, die bei Kant zwischen Natur und Geist, Leib und Vernunftseele statthabe. Diese Argumentation scheint an Hegels Kant-Kritik zu erinnern; doch verfalle dessen absolutes Vernunftsystem weit mehr noch als das Denken Kants einer negativen Aufklärungsdialektik, sofern bei Hegel selbst die Verdrängung des Vernunftanderen noch verdrängt und „schließlich das Wirkliche mit dem Vernünftigen“ (Böhme, 14; vgl. 161 ff.) überhaupt identifiziert werde. Die Kritik der beiden Böhmes an der tatsächlichen oder vermeintlichen Verdrängung des Anderen der Vernunft bei Kant und seinen idealistischen Rezipienten ist nach eigener Auskunft nicht von Hegel, sondern von Arthur Schopenhauer und von jener postidealistischen Fortbildung her entwickelt, die der Kantianismus in der Programmschrift „Die Welt als Wille und Vorstellung“ gefunden hat. In ihr wird das „Ding an sich“ mit einem unterbewussten Trieb identifiziert, der alles bewusste Wollen und Handeln auf hintergründige Weise bestimmt. Mit dem originären Kant hat dies nur noch bedingt etwas zu tun; ja, man wird sagen müssen, dass Schopenhauers Lehre der Kant’schen diametral entgegengesetzt ist, sofern sie den Bestimmungsgrund von Denken und Handeln in keinem sittlichen Willen, sondern in einer Triebkraft ansetzt, die sich ver-
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nünftiger Bestimmung entzieht und unter Vernunftvoraussetzungen als schlechterdings irrational zu beurteilen ist. Verbleibt man im Umkreis von Kants eigenem Denken, dann wird man das Andere der Vernunft Das Andere der Vernunft primär nicht in der Sphäre triebhafter Sinnlichkeit bzw. in jenem Widerstand zu suchen haben, den die leibhafte Sinnenwelt in der formlosen Form dessen, was „Ding an sich“ heißt, verständiger und vernünftiger Bestimmung entgegensetzt. Auch wenn, wie Kant selbst sagt, das urdatumhaft vorgegebene Sein des sinnlich Seienden theoretisch nicht abschließend auf den Begriff gebracht werden kann, so bedingt es doch nach seinem Urteil keinen eigentlichen Gegensatz zur Vernunft, sondern ist ihrem praktischen Vollzug als Materiale der Pflicht aufgegeben. Mit einem im strikten Sinne „anders“ zu nennenden Anderen wird die Vernunft nicht im Sinnlichen als solchem, sondern in ihrem eigenen Umkreis konfrontiert, nämlich dort, wo die Sinnlichkeit willentlich zum Bestimmungsgrund bewussten Handelns erhoben wird. Erst durch diesen in sich verkehrten Willensakt und nicht etwa schon durch ihre bloße Beziehung zu einem ihr äußerlichen Sinnlichen gerät die Vernunft in Konfrontation mit einem irrationalen Anderen, das sie in einen Widerspruch mit sich selbst zu bringen und innerlich zugrunde zu richten droht. Diese die Vernunft nicht etwa nur von Außen, sondern von Innen her betreffende Widrigkeit ist gemeint, wenn Kants Religionsschrift vom radikalen Bösen spricht. Kants Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ erschien 1793 in erster Auflage, im Folgejahr in Zweitauflage. Ihr im Titel angezeigtes Ziel besteht darin, den traditionellen, historisch vermittelten Grundbestand der Religion, im gegebene Fall der christlichen, im Rahmen der Vernunft und unter Voraussetzung ihrer Gesetze kritisch zu rekonstruieren. Zentrales Thema ist das Verhältnis von Vernunftreligion bzw. reinem Religionsglauben und kirchlichem Offenbarungsglauben, um es in Kants eigener Diktion zu sagen. Im ersten Stück wird „von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten: oder über das radikale Böse in der menschlichen Natur“ gehandelt, im zweiten „von dem Kampf des guten Prinzips mit dem Bösen um die Herrschaft über den Menschen“; Thema des dritten Stücks ist „der Sieg des guten Prinzips über das Böse und die Gründung des Reiches Gottes auf Erden“; das vierte und letzte trägt die Überschrift „Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips oder von Religion und Pfaffentum“. Näheres zu ihren Stücken sowie zur Stellung der Religionsschrift im Gesamtœuvre Kants wurde in früheren Bänden dieser Reihe ausgeführt (vgl. Bd. 1, 131 ff., bes. 160 ff.; Bd. 2, 66 f.) und ist hier nicht zu wiederholen. In Erinnerung gerufen sei im hamartiologischen Zusammenhang nur mehr der zentrale Inhalt des ersten Hauptstücks sowie das Urteil eines Kompetenten über den Stellenwert und die Bedeutung der Kant’schen Religionsschrift. Nach Albert Schweitzer stellt sie „die höchste Vollendung der kantischen Religionsphilosophie dar“ (Schweitzer, 200); nur schierer Missverstand könne dazu verleiten, Kants „tiefstes religionsphilosophisches Werk für einen unbegreiflichen Abfall von der Kritik der praktischen Vernunft
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zu halten und es in der Behandlung der kantischen Religionsphilosophie bei Seite zu setzen“ (ebd.). Man muss Schweitzers Urteil in Bezug auf die Gesamtanlage der Religionsschrift von 1793/94 nicht teilen, sollte es aber gerade im Hinblick auf die vielfach gering geschätzte Lehre vom radikalen Bösen ernst nehmen: mit ihr führt Kant sein Denken an eine äußerste Grenze und gibt Anlass, das Verhältnis von Vernunft und Offenbarungsreligion grundsätzlich zu bedenken. Obwohl darin nicht ausdrücklich von ihr die Rede Hang zum Bösen ist, bezieht sich das erste Stück von Kants Religionsschrift (vgl. Kant, 17 ff.) unzweifelhaft auf die traditionelle Lehre von der Ur- und Erbsünde. Mit dem radikalen Bösen wird thematisch, was die dogmatische Überlieferung peccatum originale nennt und zur causa deficiens aller Aktualsünden erklärt. Die Situation, in der sich der realexistierende Mensch nach Kant vorfindet, ist durch einen seiner freien Willkürsetzung zuzurechnenden Hang charakterisiert, trotz klaren Bewusstseins der sittlichen Maxime von dieser abzuweichen und sinnliche Motive zum Bestimmungsgrund des Handelns zu erheben. Entscheidend ist, dass besagter Hang zum Bösen keinen bloßen Naturtrieb bezeichnet, sondern im Willen des Subjekts seinen Grund hat, das durch eine arbiträre Setzung den vernünftigen Gebrauch seiner Freiheit in irrationaler und vernunftwidriger Weise verkehrt. Der Mensch ist an der Sünde selbst schuld und kann seine Verschuldung nicht auf eine ihm externe Natur und auf ein Sinnliches schieben, das ihm äußerlich ist. Der Grund bzw. Abgrund des Bösen liegt im Menschen selbst und ist seinem Willen zuzurechnen, der von seiner Freiheit missbräuchlichen und vernunftwidrigen Gebrauch macht. Indem sie sinnliche Beweggründe zur obersten Handlungsmaxime verklärt, ist menschliche Freiheit auf Sinnliches bezogen, ohne dass deshalb in der Sinnlichkeit die eigentliche Ursache des Bösen zu suchen wäre. Ist diese doch einzig und allein dazu bestimmt, durch freien Vernunftgebrauch bestimmt zu werden. Bestimmt die Sinnlichkeit die Freiheit des Menschen, um sie ihrer Herrschaft zu unterwerfen, dann ist dies nicht ihr, sondern der menschlichen Freiheit zuzurechnen, die sich von ihr bestimmen lässt und das ihr Äußere willig zum inneren Beweggrund der Selbstbestimmung erhebt, um so einen in sich verkehrten Gebrauch von sich zu machen, welcher der vernünftigen Bestimmung des Menschen nicht nur fremd, sondern zuwider ist. Im Unterschied zum äußeren Übel als einem sinnlichen Gefühl der Unlust steht das Böse in einem inneren Bezug zum Willen, dessen Verkehrtheit das Unwesen der Sünde ausmacht. Die Radikalität des Bösen liegt im vernunftwidrigen Freiheitsgebrauch begründet, der seine Wirkbzw. Verwirkursache darstellt. Warum es zu jenem verkehrten Gebrauch der Freiheit kommt, ist, wie Kant ausdrücklich sagt, unerforschlich, weil es für die Willensverkehrtheit des radikalen Bösen keinen vernünftigen Grund gibt. Die Untat des Bösen ist an sich selbst unbegreiflich, in ihrer Faktizität gleichwohl nicht zu leugnen. Nach Kant ist diese Faktizität nicht nur radikal, sondern auch gattungsuniversal insofern, als sie zwar der Wesensbestimmung des Menschen zutiefst widerstrebt, aber gleichwohl eine Ausgeburt seiner Natur darstellt.
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Der erste Grund zur Annahme vernunftwidriger und böser Maximen ist ebenso unerforschlich wie allgemein dergestalt, dass er faktisch als eine Anlage zu gelten hat, in der sich der Charakter menschlicher Gattungsnatur ausdrückt. Zwar ist nichts böse zu nennen, was nicht ureigene Tat ist; dennoch wurzelt die Untat des Bösen nach Kant zugleich in einem Gattungszusammenhang der Menschheit und ihrer natürlichen und sozialen Verfasstheit, der alles Individuelle umfasst. Seinem Urteil zufolge herrscht nicht nur im Einzelnen, sondern in der ganzen Menschheitsgattung ein Hang, trotz Bewusstseins des sittlich Gesollten von diesem abzuweichen und sich gegen es zu verfehlen. In diesem Sinne kann Kant die Neigung zum Bösen angeboren und den Hang, ihr zu erliegen, ja, die Tatsache, ihr immer schon erlegen zu sein, menschheitsallgemein nennen, ohne dies mit einer wie auch immer gearteten Entschuldigungsstrategie für den Einzelnen zu verbinden, die er sich vielmehr strikt verboten sein lässt. Was den allgemeinmenschlichen Hang zum Bösen näherhin betrifft, so unterscheidet Kant drei Stufen seiner dem Abgrund zugeneigten konkupiszenten Entwicklung, nämlich die Gebrechlichkeit der Menschennatur als einer inneren Schwäche in der Befolgung vernünftiger Maximen, die Unlauterkeit als das verstohlene Bestreben, moralische und unmoralische Motive zu vermischen und schließlich die Bösartigkeit als die willentlich realisierte Neigung zur Annahme böser Bestimmungsgründe des Handelns. In der menschlichen Bösartigkeit ist die Radikalität des Bösen manifest und die Verderbtheit des Menschen abgründig offenbar. Denn in ihr und durch sie kommt es zu jener wurzelhaften Verkehrung der menschlichen Bestimmung zum Guten, wie sie in der dezidierten Abkehr von der Maxime des Sittengesetzes und ihrem moralwidrigen Ersatz durch sinnliche Handlungsmotive statthat. In den Ausführungen zur Bösartigkeit der Menschennatur, die ihr Sinnen und Trachten nicht nur Bösartigkeit und Bosheit äußerlich, sondern von innen heraus bestimmt, erreicht Kants Lehre vom radikalen Bösen ihre an die Wurzel reichende Radikalität, die sie einerseits erkenntlich von üblichen aufklärungsphilosophischen und -theologischen Hamartiologien unterscheidet und sie andererseits in eine bemerkenswerte Nähe zur traditionellen Doktrin vom peccatum originale, ja zu kirchlichen Erbsündendogma führt. Doch wahrt Kant auch und gerade in dem nach Urteil vieler aufgeklärter Zeitgenossen grenzwertigen Aussagen seiner Lehre vom Bösen eine Grenze, die er nicht nur nirgendwo überschreitet, sondern die zu überschreiten er sich aus praktischen Vernunftgründen prinzipiell verboten sein lässt. Schon in Carl Christian Erhard Schmids „Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften“, dem frühesten Kantlexikon überhaupt, wird Wert auf eine klare terminologische Unterscheidung zwischen Bösartigkeit und Bosheit im strikten Sinne gelegt. Erstere bestehe in dem „Hang zur Annehmung böser d. i. solcher Maximen, worinn die Triebfeder aus dem moralischen Gesetze andern, nicht moralischen Treibfeder nachgesetzt wird“ (Schmid, 132), letztere in der „Gesinnung . . . , das Böse, als Böses, zur Triebfeder in seine Maxime aufzunehmen“ (ebd.), was teuflisch sei und selbst beim schlechtesten Menschen nicht vor-
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komme. Diese Definitionen entsprechen nahezu wörtlich dem Sprachgebrauch Kants. Menschliche Bösartigkeit sei von Bosheit, die Böses als Böses zum Bestimmungsgrund des Handelns erklärt, wie relatives von absolutem Bösen zu unterscheiden. Das teuflische Böse sei böse um des Bösen willen, das menschliche dadurch, dass es zwei grundsätzlich gut zu nennende Güter, nämlich Sinnlichkeit und Freiheit, in ein verkehrtes Verhältnis setzt und ersteres Gut, statt es der Vernunftordnung gemäß durch letzteres zu bestimmen, willentlich zum Bestimmungsgrund bewussten Handelns werden lässt, wodurch Freiheit durch eigene Schuld in eine widrige und selbstdestruktive Beziehung zu sich selbst trete. Die Radikalität von Kants Lehre vom radikalen Bösen hat Grenzen. Sie sind durch die praktische Vernunft, in deren Rahmen sie wie alle anderen Themen der Religionsschrift entwickelt wird, und durch die sittliche Absicht gesetzt, die auch in hamartiologischer Hinsicht leitend ist. Ein eigentlich transmoralisches Verständnis von Sünde wie in weiten Teilen der dogmatischen, namentlich augustinisch-reformatorischen Tradition findet sich bei Kant nicht. In seiner Lehre vom radikalen Bösen realisiert er „die denkbar stärksten Einwände gegen Freiheit, um deren Realität umso sicherer zu gewinnen“ (Renz, 45 Anm. 21). Die grundsätzliche Richtigkeit dieses Resümees wird durch den Verlauf und Ausgang des Kampfes des guten Prinzips mit dem Bösen bestätigt, der im christologisch-soteriologischen und eschatologischen Kontext der beiden Folgebände näher zu bedenken ist. Weil bei Kant und namentlich in seiner Religionsschrift nicht Religion Moral begründet, sondern Moral als Basis des Religiösen und seines Verständnisses fungiert, bleibt auch das Sündenverständnis im Rahmen der Moral, ohne ihn auf religiöstransmoralische Weise zu sprengen. Zwar setzt Moral nicht erst in eschatologischer, das vorausliegende Ziel ihrer Selbstrealisierung betreffender Hinsicht, sondern schon in Bezug auf die zurückliegenden Anfänge ihrer Wirksamkeit Religion voraus. Diese hat nicht nur Hoffnungsgründe zu pflegen, um die Verwirklichung der Sittlichkeit unter sinnlichen Bedingungen zu befördern, sondern zugleich an urtümliche, durch naturhafte Herkunft des Menschen bedingte Verstrickungen zu erinnern, aus der sich moralische Tätigkeit herauszuarbeiten hat, um nicht zu verkommen. Dass diese nicht nur äußerer, sondern innerer und damit schuldhafter Natur sind, hat Kant deutlich – viel deutlicher als in der Aufklärungstheologie seinerzeit üblich – gesehen und durch die hervorgehobene Notwendigkeit einer Strafgerechtigkeit eigens unterstrichen, der das ganze Menschengeschlecht und jeder einzelne Gattungsrepräsentant unterliege. Doch zeigen seine Ausführungen zur Strafbehebung im zweiten Stück der Religionsschrift ebenso wie die zur Hamartiologie im ersten, dass der durch praktische Vernunft fundierte reine Religionsglaube und seine moralische Selbstgewissheit als Kriterium und Bemessungsgrundlage der christlichen Religion und ihres Offenbarungsglaubens fungieren. Nach Kant ist der Grund sowohl des Guten als Gesetzeswidriger Wille auch des Bösen im Willen und damit in der Subjektivität des Menschen fundiert. Gut ist der menschliche Wille zu nennen, der durch das Vernunftgesetz, schlecht derjenige,
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der durch den Widerspruch zu diesem bestimmt ist. Dabei wird vorausgesetzt, dass der vernünftige Bestimmungsgrund des Willens, der seine Güte ausmacht, mit dem Begriff des Willens und seinem intelligiblen Wesen koinzidiert. Gut ist der Wille nicht durch das gewollte Gut, sondern vermöge seiner Intelligibilität, kraft derer er verbindliches Gesetz für sich selbst ist. Nur so kann dem Willen Autonomie attestiert und gesagt werden, er sei durch freie Selbstbestimmung mit dem allgemeinen Sittengesetz eins und pflichtgemäß an sich selbst. Als selbstbestimmender Wille ist der freie Wille nach Kant zugleich bestimmter Wille, indem er in seiner Eigenheit ganz durch die Allgemeinheit des Vernunftgesetzes bestimmt ist. Lässt er sich nicht durch das Vernunftgesetz, sondern anderweitig bestimmen, oder bestimmt er sich selbst gar im Gegensatz und Widerspruch zum Gesetz der Vernunft, dann ist es böse. Gut ist der Wille, wenn er vernünftigerweise Gutes will, böse, wenn er vernunftlose, unvernünftige oder widervernünftige Motive zum Bestimmungsgrund seines Willens wählt. Doch inwiefern verfügt der Wille überhaupt über die Möglichkeit solcher Wahl, wenn er denn seinem Begriff und seiner intelligiblen Bestimmung nach gut ist an sich selbst? Mit dieser Frage meldet sich eine Differenz, die in Kants Philosophie in vielerlei Konstellationen begegnet wie etwa in derjenigen von Intelligibilität und Sensibilität, Vernunft und Neigung, Sittlichkeit und Sinnlichkeit, ohne systematisch bewältigt zu werden. Die an Kant anschließenden Systemkonzeptionen der Philosophie des Deutschen Idealismus sind auf diese Schwierigkeit und ihre mögliche Lösung ebenso bezogen wie die diversen Formen theologischer Kantrezeption, die sich etwa im Umkreis des Tübinger Dogmatikers G. Chr. Storr oder unter Männern wie F. J. Niethammer ausgebildet haben. In meinem Niethammerbuch „Hegels Freund und Schillers Beistand“ (vgl. Wenz, Niethammer) sind diese Zusammenhänge im Einzelnen dargestellt worden. Im Übrigen sei auf die einschlägigen Ausführungen im ersten und zweiten Band dieser Reihe verwiesen (Bd. 1, 166 f.; Bd. 2, 63 ff.). Während die Aufklärungstheologie den Ursprung des Bösen in der Regel in die menschliche Sinnlichkeit verlegt, führt Kant die Bosheit auf einen der praktischen Vernunft widerstreitenden Willensentschluss zurück, um so seine moralische Zurechenbarkeit zu sichern. Theoretisch ungeklärt bleibt, worin die Möglichkeit der Annahme einer gesetzeslosen bzw. gesetzeswidrigen Maxime besteht. Ist sie durch eine mit der Endlichkeit des Menschen notwendig gegebene Schranke seiner bestimmungsmäßig auf Unendliches angelegten Vernunft bedingt? Bejaht man diese Frage, dann droht das Böse zu einem unvermeidbaren Geschick erklärt zu werden und der Gedanke seiner Schuldhaftigkeit verloren zu gehen. Verhindert werden kann dies offenbar nur, wenn der Grund des Bösen im menschlichen Selbstvollzug aufgesucht wird, etwa durch Identifikation einer in diesem Selbstvollzug wirksamen Tendenz zu unmittelbarer Selbstinsistenz, die zwar etwas zu tun hat mit der sinnlichen und endlichen Verfassung des Menschenwesens, ohne durch diese erzwungen zu sein. Fichte hat in diese Richtung argumentiert, wenn er den Ursprung des Bösen mit der menschlichen Trägheit in Verbindung brachte,
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und er hat zugleich den Übergang zu einer spekulativen Hamartiologie vollzogen, wie sie namentlich von Hegel durchgeführt worden ist. Wie Kants Hamartiologie ist auch diejenige Hegels Hegels Sündentheorie subjektivitätstheoretisch begründet (vgl. Ringleben, 14) und an der Verfasstheit des Willens orientiert mit dem Unterschied freilich, dass dieser von vorneherein dialektisch als differenzierte Einheit von Wollen und Gewolltem bestimmt wird. Der gute Wille ist darauf aus, sich im anderen seiner selbst zu explizieren, der böse hingegen insistiert unmittelbar auf sich, um sich als arbiträre Willkür fehlzubestimmen. Sünde besteht Hegel zufolge in der Selbstfixierung des Subjekts auf ein aufzuhebendes Durchgangsmoment seiner freien Entwicklung. Um zu realer Freiheit und zur Verwirklichung seiner Subjektivität zu gelangen, muss der Mensch den Status indifferenter Unmittelbarkeit, in dem der Unterschied von Gut und Böse noch nicht zutage getreten ist, verlassen und in die differente Welt der Reflexion eintreten. In der mythischen Urgeschichte von Urstand und Fall Gen 3 (vgl. Ringleben 22 ff.) wird dieser Vorgang nach Hegel vorstellungshaft zum Ausdruck gebracht. Die Dialektik der Subjektivität treibt aus dem Zustand unwissender Unschuld heraus, damit Freiheit nicht nur an sich, sondern für sich sei. Erst durch Überwindung seiner Unmittelbarkeit und durch reflexive Entzweiung von Indifferenz kommt das Subjekt zu sich und zur Realisierung seiner Freiheit. Insofern sind Fall und Vertreibung aus dem Paradies, das Hegel mit einem Tiergarten vergleicht, für die Freiheitsgeschichte von Subjektivität notwendig. Ob damit der genuine Sinn der Genesisgeschichte getroffen ist, kann dahingestellt bleiben; Hegel geht es ohnehin nicht um historische Vorstellung, sondern um die spekulativ zu erfassende Geschichte menschlichen Geistes. Um zu sich zu kommen, für sich zu sein und frei als es selbst muss das Subjekt aus dem natürlichen Urzustand heraustreten, reflexiv werden und sich durch entzweiende Besonderung vereinzeln. Dieser Prozess ist um der Realisierung seiner Freiheit willen notwendig. Nicht notwendig hingegen, sondern in sich widrig und verkehrt ist die Sistierung des Geistesprozesses im Stadium der Besonderung und das unmittelbare Insistieren des Subjekts auf seinem vereinzelten Fürsichsein. Im beständigen Bestehen auf sich selbst, im Festhalten der abstrakten Freiheit seiner Negationsfähigkeit überhaupt bestimmt sich das Subjekt in der Weise unmittelbarer Selbstbestimmung als böse und realisiert, was nach Hegel Sünde heißt. Sie ist der subjektivitätslogischen Konstruktion ihres Begriffs zufolge vermittlungslosunmittelbare Selbstaffirmation des Subjekts in seiner vereinzelten Besonderung, darin verkehrte Freiheit und als „in sich seiende Negativität“ (Ringleben, 77) „positiv böse“ (ebd.). Alle Einzelsünden und bösen Taten gründen abgründig in dieser Grundverkehrung, in der Freiheit in einer sich selbst verwirkenden Weise am Werke ist und sich selbst schuldhaft zum Verhängnis wird. Mangelnde Radikalität wird man Hegels Sündenbegriff schwerlich vorhalten können. Böse ist das Subjekt primär nicht durch einzelne Gedanken, Willensbestrebungen und Taten, sondern durch die Untat seiner vernunftwidrigen Willens-
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verkehrung, wie sie in der unmittelbaren Insistenz subjektiver Freiheit auf sich statthat. Indem es sich in seiner Besonderheit absolut setzt, bestimmt sich das Subjekt als sündig in sich. Es ist böse, weil es von seiner Freiheit naturhaft, nämlich unmittelbaren Gebrauch macht. Dies vorstellungshaft zu umschreiben, ist nach Hegel die unaufgebbare Funktion der traditionellen Erbsündenlehre (vgl. Ringleben, 90 ff.), wohingegen die Annahme, die Sündhaftigkeit jedes Menschen habe in der Tat eines ersten Menschen ihren Grund, dessen Schuld durch natürliche Fortzeugung vererbt werde, als geistlos, ja als geistwidrig abzuweisen sei. Der Mensch ist nach Hegel von Natur aus weder gut noch böse; gut und böse wird er erst im Vollzug seiner Freiheit, deren Sünde darin besteht, von sich selbst einen naturhaften Gebrauch zu machen. Hegels Theorie der Sünde rechnet mit der Möglichkeit, das Böse in seiner Bosheit zu begreifen, ja Schellings Einspruch seine Hamartiologie findet ihre eigentümliche Pointe in der subjektivitätstheoretischen Konstruktion des Sündenbegriffs. Gegen diesen wurde eingewandt, dass die Sünde in ihrem abgründigen Unwesen nicht begreifbar und immer dann gründlich verkannt sei, wenn von ihr behauptet werde, sie sei erkannt und auf den Begriff gebracht worden. Nicht erst Kierkegaard (vgl. Ringleben, 106 ff.; 245 ff.), bereits der späte Schelling hat entsprechend gegen Hegel votiert. Schon für ihn bot die Hamartiologie den Sprengsatz für den Versuch, das System spekulativer Totalvermittlung aus den Angeln zu heben und der sog. negativen die sog. positive Philosophie kritisch zur Seite zu stellen. Charakteristisch für diese ist die Annahme, dass sich die Sünde in ihrer schieren Faktizität jedem vernünftigen Begriff widersetze, ja ihn selbst um alle Vernunft zu bringen drohe, wenn er nicht durch das Faktum offenbarer Versöhnung zu sich selbst befreit werde, das in seiner absoluten Positivität nur religiös zu ergreifen sei. Man muss Schellings hamartiologische Kritik sog. negativer Philosophie nicht teilen, um ihr zuzuerkennen, dass ihre Einwände tiefer reichen als der übliche Pantheismusverdacht, der gegen das Hegel’sche System schon zu seiner Zeit stereotyp vorgebracht (vgl. Ringleben, 154 ff.; 261 ff.) und mit der ständig wiederholten These einer angeblich behaupteten Vernunftnotwendigkeit des Bösen und der Sünde verbunden wurde. Dieser pauschalen These ist mit Recht entgegengehalten worden, dass Hegel um der Realisierung von Subjektivität und Freiheit willen zwar den Übergang aus dem natürlichen Urstand indifferenter Unmittelbarkeit in den Besonderungsstatus reflexiven Fürsichseins für vernunftnotwendig erachtet, keineswegs aber den Fall der Sünde, wie er durch Sistierung des Geistprozesses und beharrliches Insistieren des vereinzelten Subjekts auf sich und der abstrakten Formalität seiner Freiheit bewirkt wird. Als existierender Widerspruch gegen den Fortgang vernünftigen Geistes ist die Sünde das gerade Gegenteil von Vernunftnotwendigkeit, nämlich schiere Willkür und als willkürliche Tat schuldhafte Zufallssetzung. Ihre abgründige Schuld besteht nach Hegel nachgerade darin, dass sie sich der Entwicklung des Geistes und seiner vernünftigen Vereinigung mit sich selbst widersetzt, um ihn zum Erliegen zu bringen. Bleibt zu fragen, ob die fakti-
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sche Widersetzlichkeit der Sünde so auf den Begriff zu bringen ist, dass sich ihre Behebung und Versöhnung aus dem Fortgang einer sich teleologisch selbst genetisierenden Vernunft ergibt. Hegel bejahte diese Frage, der späte Schelling verneinte sie. Mit seiner Freiheitsschrift von 1809 und der daran anschließenden sog. positiven Philosophie wurde Schelling zum Initiator einer Denktradition, die auch und gerade in hamartiologischer Hinsicht in hohem Maße prägend und einflussreich wurde. Bevor dies am Beispiel namentlich Kierkegaards und Tillichs, aber auch in Bezug auf Schelling selbst zu erörtern ist, soll eine weitere signifikante sündentheologische Spätwirkung Kants ins Auge gefasst werden und zwar im Hinblick auf denjenigen evangelischen Theologen, der im 19. Jahrhundert neben Schleiermacher als einziger schulbildend wurde. Kant teilte Religionsphilosophen und Theologen, je nach ihre Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung, in Naturalisten, Supranaturalisten und Rationalisten ein (vgl. Bd. 2, 108 ff.). Er selbst hat an seinen eigenen Maßstäben bemessen als Rationalist zu gelten, der zwar anders als der Naturalist die Möglichkeit von Offenbarung nicht leugnet, ohne ihre vernunftkonstitutive Notwendigkeit bzw. transmoralische Erschließungspotenz zu behaupten, wie der Supranaturalist es tut. Unter den von Kant geprägten Supranaturalisten ragt in hamartiologischer Hinsicht der erweckte Theologe Julius Müller hervor, dessen 1839/44 erschienene christliche Lehre von der Sünde bis heute zu den eindrucksvollsten Werken zum Thema gehört (vgl. Axt-Piscalar, 26–140). Es wurde zusammen mit F. A. G. Tholucks „Lehre von der Sünde und vom Versöhner“ (1823) an anderer Stelle bereits ausführlich erörtert (vgl. Bd. 2, 67 ff.; ferner Wenz, Sünde). Ebenfalls schon angesprochen, aber im Vergleich zum Sündenmüller noch nicht hinreichend bedacht wurde dagegen der Hamartiologe Albrecht Ritschl (vgl. Bd. 2, 120 ff.). Nach Kant’schen Maßstäben ist auch er als Supranaturalist zu bezeichnen. Im dritten Band seines erstmals in den Jahren 1870–74, in ausgereifter Form 1888 erschienenen dreibändigen Hauptwerks „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“ bildete er die Sündenlehre seines mittlerweile fast verschollenen Systems (vgl. Schäfer; Richmond) als negative Voraussetzung der Soteriologie auf eine Weise aus, die an Kant anschließt, aber religiös über ihn hinausweist. Nach Ritschl ist Kants Lehre vom radikalen Bösen Ritschls supranaturalistiinkonsistent, weil sie dem Sünder ein bleibendes scher Kantianismus soteriologisches Eigenvermögen zugesteht, das er nach hamartiologischem Urteil faktisch nicht habe. Sage doch Kant selbst, dass es unerfindlich sei, wie ein von Natur aus böser Mensch sich aus sich selbst heraus zum Guten zu wenden vermöge. Dennoch nehme Kant ein solches Vermögen aus moralischen Gründen und ohne Wahrnehmung eigentlich religiöser Bezüge in Anspruch. Ritschls Argumentation zielt auf eine „Paradoxie in Kants Religionsphilosophie“: „Es stehen sich . . . zwei unvereinbare Überzeugungen gegenüber, die wir in zwei Versionen vorstellen können: 1. Der Befreiung von Schuld muß ein gutes moralisches Leben vorhergehen. 2. Dem guten moralischen Leben muß die
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Befreiung von Schuld vorhergehen. In der zweiten Version stellt sich der Widerspruch zwischen diesen Überzeugungen als Widerspruch zwischen zwei Arten des Glaubens dar: 1. Der moralische Glaube muß dem Offenbarungsglauben vorhergehen. 2. Der Offenbarungsglaube muß dem moralischen Glauben vorhergehen.“ (Vossenkuhl, 175 f.) Weil Unvereinbares nicht zugleich bestehen kann, bleibt nur ein Entweder-Oder. Ritschl optiert für die jeweils zweite Version, wohingegen er bei Kant eindeutig die jeweils erste dominieren und die Religion tendenziell zu einer Art von Anhang der Moral herabgesetzt sieht. Zwar habe Kant den menschlichen Hang zum Bösen radikal zu denken versucht; aber dass die einmal aus unergründlicher Willkür schuldhaft gewirkte Sünde eine Mächtigkeit entwickelt, die ihren Täter unterwirft und ihn um all sein sittliches Handlungsvermögen bringt, habe er aus Mangel an religiösem Sinn nicht hinreichend zur Geltung gebracht. Die eigentliche Aporie des Bösen bleibe ihm daher verborgen. Erschlossen werden kann sie nach Ritschl nur von der christlichen Offenbarung her, ohne welche heilsame Erkenntnis der Sünde in ihrer Abgründigkeit nicht möglich sei. Die offenbarungsvermittelte Erkenntnis abgründiger Sündenaporie lässt nach Ritschl einsehen, dass der Mensch zwar ursprünglich zum Tun des Guten bestimmt ist und dies auch weiß, dass er aber faktisch das Gute aufgrund von Bedingungen nicht zu tun vermag, die durch ihn selbst bewusst und willentlich wenn nicht bedingt, so doch mitbedingt sind. Jeder Repräsentant der natürlichgeschichtlichen Menschheitsgattung findet sich in einem Sündenzusammenhang verstrickt vor, den er zwar nicht unmittelbar selbst verursacht hat, der ihm aber als Schuld insofern zurechenbar ist, als er willentlichen und tätigen Anteil an ihm nimmt. Ihre Macht über den Menschen hat die Sünde durch keinen anderen als durch den Menschen selbst, wenngleich nicht in der Weise vermittlungsloser, sondern vermittelter Unmittelbarkeit, wofür Adam in seiner Doppelstellung als Individuum und Mensch im Allgemeinen stehe. Um zur Erkenntnis der Sünde und ihrer Aporie zu gelangen, die zu ihrem Unwesen gehöre und einen Schein der Undurchsichtigkeit erzeuge, bedarf es nach Ritschl der Offenbarung des gnadenhaften Zuvorkommens Gottes im Versöhnungsgeschehen Jesu Christi. „Die negative Voraussetzung der Versöhnung ist die Sünde. Oder, um es genauer auszusprechen, indem die Versöhnung in der christlichen Religion als Attribut der durch sie zu vereinigenden Menschheit anerkannt wird, besteht die Voraussetzung, daß alle Menschen Sünder sind.“ (Ritschl, 310) Es handelt sich dabei nach Ritschl nicht um eine Voraussetzung, die sich unmittelbar von selbst versteht (vgl. Schäfer, 95 ff.). Zwar könne die Tatsache der Sünde auch außerhalb des Christentums zumindest als ahnungsweise bekannt vorausgesetzt werden. „Aber die Bestimmung ihrer Art und die Beurtheilung ihres Umfanges und ihres Unwerthes ist im Christenthum eigenthümlich ausgeprägt, weil hier andere Vorstellungen von Gott, vom höchsten Gut, von der sittlichen Bestimmung der Menschen, von der Erlösung gelten, als in irgend einer andern Religion.“ (Ritschl, 311)
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Indem Ritschl selbst die Tatsache der Sünde dezidiert und ausschließlich „vom Standpunkte der Versöhnungsgemeinde aufzufassen“ (Ritschl, 310) gewillt ist, zeigt er bereits an, dass für ihn im Unterschied zur erweckungstheologischen Tradition nicht die vermeintlich negative Evidenz allgemeiner Sündenverfallenheit Ausgangspunkt und Basis der lebensgeschichtlichen wie auch der dogmatischen Entwicklung darstellen kann. Erst der Zuspruch der Botschaft von der Versöhnung decke das widersprüchliche Unwesen der Sünde auf; der wahre Erkenntnisgrund unserer Sündhaftigkeit sei mithin das Evangelium von der Sündenvergebung. Damit verbietet sich Ritschl vorweg jedwede Metaphysik des Bösen, welche nach seiner Auffassung stets das Zugeständnis eines gleichsam negativen Eigenrechts der Sünde bedeuten müsste. Die Sünde kommt für ihn nur in Betracht angesichts des Zweckes, auf den das Wort von der Versöhnung aus ist, nämlich den des Reiches Gottes, durch welches die Sünde zum Verschwinden bestimmt ist. Diese teleologische Perspektive ist auch der Grund, warum Ritschl es ablehnt, die Allgemeinheit der Sünde nach Weise der überkommenen Erbsündenlehre auszusagen. Denn die Erbsündenlehre sei orientiert an einem zeitinvarianten Urstand des Guten, relativ zu dem die Rede von einem Sündenfall und einer von diesem herrührenden allgemeinen Sündenverfallenheit allererst einen Sinn ergebe. Die Teleologie Ritschls aber verbietet es vorweg, das Gute als ursprüngliche Gegebenheit normativer Urzeit aufzufassen. Dann nämlich würde das Gute als naturbestimmt und als wesentlich indifferent gegen die willentliche Selbstbestimmung menschlicher Geschichte gedacht, womit die Sphäre christlicher Sittlichkeit immer schon zugunsten antiken Schicksalsglaubens verlassen wäre. Häufig hat Ritschl auf eine Strukturanalogie zwischen vorchristlicher Mythologie und Wesensphilosophie hingewiesen, gegen die vor allem seine Metaphysikschelte ursprünglich gerichtet war. Auch wenn der philosophische Essentialismus an die Stelle des Urzeitlichen das Immerseiende, die ousia, die Seiendheit, das zeitinvariante Wesen setze, sei beiden doch die Sicherung gegen die Geschichte gemein; beiden gelte die wahrhafte Wirklichkeit als naturhaft-geschichtslos, wohingegen sie im Geschichtlichen nur einen defizienten Modus von Wirklichkeit zu sehen vermöchten. Eine Theologie, welche sich diese Sicht zu eigen mache, indem sie „den sittlichen Zustand, der erst im Christenthum für die Menschen möglich ist, schon an den Anfang der Menschengeschichte verlegt und für den naturgemäßen Bestand des menschlichen Wesens erklärt, zieht den Uebelstand nach sich, daß die Person Christi als eine unregelmäßige Erscheinung in der Menschengeschichte aufgefaßt werden muß. . . . So dient die Anlage der orthodoxen Dogmatik dazu, die geschichtliche Erscheinung Christi unverständlich zu machen.“ (Ritschl, 313) Nach Ritschls Auffassung versteht sich das Gute allererst vom Zweck des Reiches Gottes her, wie es in Christus offenbar ist und in dem von der Liebe motivierten Zusammensein aller erreicht werden soll. Entsprechend wird „von dem Begriff Sünde als negative Voraussetzung der Versöhnung
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des Reiches Gottes der Maßstab zur vollen Bestimmung der Sünde als dem Gegentheil entlehnt“ (Ritschl, 317). So sehr die Sünde das Gegenteil des Guten darstellt, so ist sie nach Ritschl doch nicht die Verneinung des Guten überhaupt (ebd.), sondern das Zweckwidrige, dem christlichen Lebensideal Widerständige. Damit scheint die Macht der Sünde vorweg relativiert und die mangelnde Einsicht Ritschls in die abgründige Tiefe der Sünde bereits erwiesen zu sein. Man darf allerdings nicht übersehen, dass Ritschls Sündenverständnis keinerlei Erklärungsabsicht verfolgt. Die These von einer Relativität, ja Nichtigkeit des Bösen angesichts des Guten ist nicht als theoretische, sondern als praktisch-funktionale Aussage aufzufassen: nicht die ontologische Statuierung einer Seinsdefizienz, die auf eine Verharmlosung der Sünde und eine Verkennung ihres Charakters als willentlicher Selbstverschuldung hinausläuft, darf aus Ritschls Ausführungen herausgelesen werden; sein Interesse richtet sich überhaupt nicht auf die Sünde als solche, sondern einzig auf den Zweck ihrer Überwindung. Die nach Ritschl einzig sinnvolle Aussage über die Sünde lässt sich nicht angemessen in Form eines Aussagesatzes zusammenfassen: denn das einzige „Sein“, das der Sünde zukommt, ist ihr „ZumVerschwinden-Gebrachtwerden“. Da das Reich Gottes als höchster Zweck und höchstes Gut sich im Zusammensein aller reali- Reich der Sünde siert, kann auch „die Sünde vollständig weder in dem Rahmen des Einzellebens noch in dem der Menschheit als Naturgattung vorgestellt werden“ (ebd.). „Subject der Sünde ist vielmehr die Menschheit als die Summe aller Einzelnen, sofern das selbstsüchtige Handeln eines Jeden, das ihn in die unmessbare Wechselwirkung mit allen Anderen versetzt, in irgend einer Abstufung auf das Gegentheil des Guten gerichtet ist und zu Verbindungen der Einzelnen in gemeinsamem Bösen führt.“ (Ritschl, 317 f.; bei R. teilweise gesperrt). Was die klassische Kirchenlehre nicht stimmig zusammenzudenken vermochte, nämlich die Allgemeinheit der Sünde und ihre individuelle Selbstverschuldung (vgl. bes. Ritschl, 319 f.), leistet nach Ritschl die Vorstellung eines Reiches der Sünde, welche auf ihre Weise bereits Kant und Schleiermacher vertreten hätten. Im Reich der Sünde seien „alle Menschen durch die unmeßbare Wechselwirkung des sündigen Handelns miteinander zusammengefaßt“ (Ritschl, 363). Die Unmessbarkeit jener Wechselwirkung verbiete es zugleich, die Sünde auf ein Prinzip zu restringieren; weder sei in der Freiheitsanlage des individuellen Menschen ein nötigender Grund zur Sünde aufzufinden, noch dürfe die Sünde auf die Allgemeinheit eines naturhaften Schicksals oder gar auf eine göttliche Weltordnung zurückgeführt werden. Die Sünde treibe ihr Unwesen in ihrem Reich vielmehr in unauflöslichem Ineinander von Individuellem und Allgemeinem. Für mitschuldig können wir uns an demselben „nur achten, indem wir uns nicht nur die eigenen sündigen Handlungen als solche zurechnen, sondern dabei veranschlagen, daß dieselben die Sünde auch in Anderen hervorrufen, obgleich wir keine vollständige und deutliche Vorstellung von der Ausdehnung dieser Wirkungen haben. Andererseits erfahren wir auch die Rückwirkung dieser Macht der gemeinsamen Sünde nicht nur durch
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das Beispiel oder die Hervorrufung sündiger Gegenwirkung gegen Sünden Anderer, sondern namentlich durch die Abstumpfung unserer sittlichen Aufmerksamkeit und unseres sittlichen Urtheils.“ (Ritschl, 320) So differenziert von Ritschl das Zusammenwirken der Menschen im Reich der Sünde beschrieben wird, eine wie auch immer geartete Erklärung der Sünde ist nicht angestrebt, weder was ihre Allgemeinheit, noch was ihre Entstehung im Individuum betrifft. Die Verteidiger der klassischen Erbsündenlehre haben deshalb Ritschl gerne die Frage entgegengehalten: „. . .wie kommt es überhaupt zur Sünde im einzelnen, wenn sie sich nicht zurückführen läßt auf die verkehrende Selbstbestimmung des ersten Menschen, und wie kommt es zur Allgemeinheit der Sünde, wenn diese mit der menschlichen Natur an sich nichts zu tun hat und sich nicht mit ihr vererbt?“ (Gräder, 12) Man wird sich diesbezüglich zunächst an den Hinweis Ritschls halten müssen, dass sich die Theologie mit der alle Erfahrung summierenden Feststellung der Faktizität allgemeiner menschlicher Sündhaftigkeit begnügen könne (vgl. Ritschl, 358). Dass es sich dabei nicht um eine bloße Verlegenheitsauskunft, sondern um eine notwendige Konsequenz seines Ansatzes handelt, steht außer Zweifel. Denn jede Zurückführung der Sünde auf einen letzten – metaphysischen – Grund würde dem praktischen Zweck entgegenstehen, um dessentwillen sie allein Thema auch wissenschaftlich-theologischer Erörterung wird, nämlich dem Zweck ihrer Überwindung. Wenngleich bei Ritschl durchaus psychologische Erwägungen über lebensgeschichtliche Bedingungen menschlicher Sündhaftigkeit zu finden sind, ein eigentlich theologisches Thema ist die Frage nach der Genese der Sünde erklärtermaßen nicht. Sie darf es nach seinem Urteil nicht sein, weil jede mögliche Antwort praktisch dem Zweck des Reiches Gottes widersprechen würde, dem zu dienen auch der wissenschaftlichen Theologie einziger Sinn ist. Man wird mithin die Konsistenz des Ritschlschen Systementwurfs nicht deshalb bestreiten dürfen, weil er die Antwort auf eine Frage schuldig geblieben ist, die zu stellen er sich selbst theologisch verboten hat. Damit die Sünde nicht das letzte Wort behalte, musste dies das letzte Wort der Sündenlehre Ritschls bleiben: „Die Sünde ist kein Zweck an sich, kein Gut, da sie der Widerspruch gegen das allgemein Gute ist; sie ist kein ursprüngliches Gesetz des menschlichen Willens, da sie das widergöttliche Streben, Begehren und Handeln ist; sie wird im einzelnen Menschen zum Grundsatz der Willensrichtung, indem sie als Resultat einzelner Begehrungen und Neigungen sich fixirt. Denn als persönlicher Hang im Leben jedes Einzelnen entsteht sie, so weit unsere Beobachtung reicht, aus dem sündigen Begehren und Handeln, welches als solches seinen zureichenden Grund in der Selbstbestimmung des einzelnen Willens findet. Allein so wie die Sünde in jedem Einzelnen und in Allen da ist, findet sie durch die gesetzlichen Bedingungen des geistigen Lebens in den Einzelnen wie in ihrem gegenseitigen Zusammenhange den Stoff zu einem gesetzlichen Wirken, welches ihr an und für sich nicht zukommt.“ (Ritschl, 331)
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Die Metapher „Reich der Sünde“ zeigt an, dass Ritschl die Sünde primar als ein Phänomen der Sünde und Übel geschichtlich-gesellschaftlichen, durch menschliche Selbsttätigkeit bestimmten Sphäre der Welt betrachtet, insofern sie durch den sinn- und zweckwidrigen Ungeist verkehrten Willens bestimmt ist. So wenig die Sünde ein allgemeines Naturverhängnis darstellt, so wenig steht ihr Begriff nach seinem Urteil in einem direkten Verhältnis zum Begriff des Übels. Denn „das Uebel ist immer Naturereigniß“ (Ritschl, 333). Allerdings rechnet Ritschl unter die Übel nicht nur die naturhaften, aus mechanischen Ursachen hervorgehenden Hemmungen unserer Freiheit, sondern auch jene, die aus dem Willen, sei es dem eigenen oder einem anderen entspringen. Er gelangt zu folgender zusammenfassender Bestimmung: „Uebel . . . ist im Allgemeinen ein Naturereigniß, welches uns im Gebrauche unserer Freiheit, in der Setzung und Erfüllung unserer Zwecke hemmt. Es hat seinen Ursprung entweder blos in Naturursachen, und ist deshalb bei dem Mangel eines Zweckes zufällig, oder es hat seinen Grund in dem Willen. In dieser Art des Uebels ist entweder der eigene oder fremder Wille entweder mit Absicht oder mit Fahrlässigkeit wirksam.“ (Ritschl, 333 f.) Von der Sünde unterscheidet sich das Übel wesentlich dadurch, dass es als Hemmung menschlicher Freiheit „immer nur von unserem Urtheile abhängig ist“ (Ritschl, 334), was von der Sünde so offenbar nicht gilt. Die „subjective Bedingtheit des Begriffs vom Uebel“ erweise sich bereits daran, dass „materiell identische Ereignisse . . . dem Einen als Uebel gelten (können), dem Andern nicht“ (ebd.). Die menschliche Freiheit erfahre im Übel mithin eine Hemmung zwar, stoße darin aber auf keine unüberwindliche Schranke. Im Erscheinungsbereich des Übels bleibt die Möglichkeit einer Bewahrung menschlicher Freiheit und entsprechender Bewährung sittlicher Selbsttätigkeit gegeben. Dies gilt nach Ritschl auch angesichts der Unausweichlichkeit allgemeinen Todesgeschicks. Als bloß naturhaftes Übel sei der Tod keineswegs „das reine Gegentheil des zweckvollen Lebens“ (Ritschl, 340), er könne vielmehr in dessen Sinn durchaus integriert werden. Denn der natürliche Tod betreffe als solcher die sittliche Freiheit des Menschen nur mittelbar. Deshalb sei es ein theologischer Fehler, der dadurch nicht besser werde, dass der Apostel Paulus ihn begangen habe (vgl. Ritschl, 341), den natürlichen Tod in eine direkte Verbindung mit der allgemeinen Sündenverfallenheit des Menschengeschlechts zu bringen. Zwar könne der Tod als „der Sünde Sold“ (Röm 6,23)empfunden werden, er müsse das aber nicht; ein notwendiger Zusammenhang zwischen Tod und Sünde bestehe jedenfalls nicht. Das Übel als der ganze Umfang möglicher Hemmungen menschlicher Zwecktätigkeit ist demnach von Ritschl als das Überwindbare und zu Überwindende bestimmt. Den Anspruch, dem Übel selbsttätig zu begegnen, muss sich die menschliche Freiheit nicht nur gefallen lassen, sondern um ihrer selbst willen zumuten. Der Begriff des Übels hat nach Ritschl „an und für sich keine religiöse Beziehung“ (Ritschl 333), sondern fällt in den Zuständigkeitsbereich autonomer Sitt-
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lichkeit, wie sie sich als kultivierter Umgang mit den Widrigkeiten des Daseins realisiert. Der Begriff der Sünde hingegen sei ein eminent „religiöser Gedanke“ (Ritschl, 335; vgl. auch 27 ff.). Er ist es offensichtlich deshalb, weil durch die Sünde die freie Selbsttätigkeit nicht nur eine Hemmung erfährt, sondern an eine Schranke ihrer selbst stößt, die sie aus sich heraus nicht zu überwinden vermag. Während das Übel die Möglichkeit menschlicher Freiheit nach Ritschl niemals grundsätzlich in Frage zu stellen vermag und deshalb immer nur relativ zu deren Voraussetzung in Betracht kommt, wird durch die Sünde das vorausgesetzte Freiheitsvermögen selbst fraglich. Insofern kann der sinnvolle Umgang mit der Sünde auch nicht in der Weise sittlichen Anspruchs, sondern nur in der religiösen Zuspruchs befördert werden. An Ritschls transmoralischem Begriff sowohl der Sünde als auch von Rechtfertigung und Versöhnung bestätigt sich, was bereits gesagt wurde (vgl. Bd. 2, 121 ff.): Sein Neokantianismus ist theologiegeschichtlich geurteilt nicht von rationalistischer, sondern von eindeutig supranaturalistischer Art und in vielen seiner Aspekte auf den offenbarungstheologischen Ansatz hingeordnet, der in der Dialektischen Theologie im 20. Jahrhundert in Konkurrenz namentlich zu Schleiermacher Schule machen sollte.
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7. Schleiermachers neuprotestantische Sündenlehre Lit.: Chr. Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher, Tübingen 1996. – M. Blum, „Ich wäre ein Judenfeind?“ Zum Antijudaismus in Friedrich Schleiermachers Theologie und Pädagogik, Wien 2010. – K. Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkungen, Göttingen 2001. – F. D. E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Hg. v. G. Meckenstock, Berlin/New Work 1999 (KGA I/2 = R1). – Ders., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22). Hg. v. H. Peiter, Berlin/New York 1984 (KGA I/7, 1 u. 2 = GL1). – Ders., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31). Hg. v. R. Schäfer, Berlin/New York 2003 (KGA I/13, 1 u. 2 = GL2). – M. Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996. – G. Wenz, Sinn und Geschmack fürs Unendliche. F. D. E. Schleiermachers Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern von 1799, München 1999. – Ders., Die Lehre vom Übel in Schleiermachers Dogmatik von 1830/31. Ein Beitrag zum Problem versöhnten Lebens angesichts natürlicher Leiden des Menschen in der Welt, in: F. Schönemann/Th. Maaßen (Hg.), Prüft alles, und das Gute behaltet! Zum Wechselspiel von Kirchen, Religionen und säkularer Welt, Frankfurt a. M. 2004, 493–524.
In der fünften seiner Reden über die Religion von Fünfte Rede über die 1799 (vgl. Wenz, 27 ff.) hat Schleiermacher die Religion Zentralanschauung des Judentums, die dessen religiöse Einzelmomente verbindet und zu einem Ganzen integriert, als das göttliche Gesetz „einer allgemeinen unmittelbaren Vergeltung“ (R1 315, 11) bestimmt. Diese Bestimmung hat zu mancherlei Bedenken Anlass gegeben (vgl. Blum, bes. 16 ff.). Sie sind nicht unbegründet. Bedenklich ist vor allem der soziale Kontext, in dem die Lehre von der geschichtlichen Positivität jüdischer Religion entwickelt wird (vgl. Nowak, 74 ff.). Doch darf, was ihren Sachgehalt angeht, nicht übersehen werden, dass Schleiermacher unter göttlicher Vergeltung keinen Rachevollzug einer blindwütigen Allmacht, sondern einen Grundakt des Rechts und seiner Ordnung sieht, in welchem der Gott Israels sein gerechtes Wesen erweist. Jahwe ist einer und in seiner Einheit universaler Grund aller Gerechtigkeit, weil er die Grundunterscheidung von Recht und Unrecht trifft und die Differenz von Gut und Böse niemals der Gleichgültigkeit preisgibt. Wenn Schleiermacher später schreiben wird, dass sich das Judentum analog zum Christentum religiös dadurch auszeichne, dass es in Bezug auf seine Frömmigkeit das Natürliche dem Sittlichen unterordne, dann liegt dies durchaus auf einer Linie mit den Reden. Denn das dort angesprochene Gesetz der Vergeltung, das in der Gestalt der Gottesoffenba-
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rung in der Tora und den ihr zugeordneten Überlieferungen die religiöse Zentralanschauung des Judentums darstellen soll, ist kein Naturgesetz, sondern ein Gesetz des Rechts und der Sitte, weil das Kriterium von Lohn und Strafe nicht naturhafte Vorliebe, sondern die rechte Unterscheidung von gut und böse ist. Religion tritt nach Schleiermacher stets positiv, will heißen: in konkreter geschichtlicher Bestimmtheit in Erscheinung. Zwar lässt sich ein allgemeines Wesen von Religion identifizieren; aber realiter begegnet sie nie in genereller Weise und in Form einer religio naturalis, die lediglich ein Abstraktionsprodukt darstellt, sondern stets als besondere, eben als positive Gestalt. Zu erfassen ist die Besonderheit positiv-religiöser Individualitäten anhand dessen, was Schleiermacher Grundbzw. Zentralanschauung nennt. Von der sog. Fundamentalanschauung, die das Glaubensleben des einzelnen Frommen prägt, unterscheidet sie sich dadurch, dass sie gemeindebildend wirkt und das Glaubensleben einer Gemeinschaft kennzeichnet. Indes darf dieser Unterschied nach Schleiermacher nicht überschätzt werden, da einerseits individuelle Religion wesentlich auf Geselligkeit angelegt ist und andererseits die Gemeinschaft einer positiven Religion gemäß dem Wesensgesetz der Religion prinzipiell offen ist für den religiösen Einzelnen einschließlich seiner Fundamentalanschauung. Statt die eigentümliche Ausbildung und Pflege individueller Religion unmöglich zu machen, zeichnen sich dauerhafte positive Religionsgemeinschaften gerade dadurch aus, im Rahmen ihrer religiösen Zentralanschauung Raum für Individualanschauungen auch fundamentaler Art zu bieten. Der Ursprung positiver Religionen liegt in einer Positivität begründet, in der sich das Universum konkret zur Anschauung bringt, um das Unendliche in einem Endlichen zu erschließen, was als unbegreifliches Faktum vernünftig weder zu deduzieren, noch zu generieren, sondern in seiner Faktizität anzuerkennen ist. Die Anerkennung des kontingenten Faktizitätsmoments, das jeder Religion von ihrem Ursprung her innewohnt, für bedenklich zu erachten, gliche nach Schleiermachers Urteil dem sagenhaften Widerstreben einer pränatalen Seele, leibhaft in die Welt zu kommen, „weil sie eben nicht Dieser und Jener sein möchte, sondern ein Mensch überhaupt“ (R1 311,20 f.). Wie die Menschheit nur in einzelnen Menschen real ist, deren individuelles Dasein ohne Kontingenzmomente nicht denkbar ist, so verhält es sich auch im Falle von Religion und Religionen. Umgekehrt gilt in analoger Weise, dass der Bestimmung jedes Menschen, in sich Humanität auszubilden, die gemeinsame Hinordnung aller positiven Religionen auf das Religiöse überhaupt entspricht. Die Besonderheit einer positiven Religion bestimmt sich durch die Eigentümlichkeit ihrer Zentralanschauung. In seinen Reden über die Religion von 1799 beschränkt sich Schleiermacher im Wesentlichen darauf, die charakteristische Positivität jüdischer und christlicher Religion zu erfassen, wobei er die jüdische Zentralanschauung in der Tora bzw. dem Vergeltungsgesetz distributiver göttlicher Gerechtigkeit und die christliche in Erscheinungsgestalt Jesu Christi gegeben sieht (vgl. Schröder). Bezüge zur traditionellen Lehre von Gesetz und Evangelium sind offenkundig. Jeder Antinomismus liegt Schleiermacher dabei fern. Unter Abstrak-
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tion von religiöser Wahrnehmung göttlichen Rechts und göttlicher Gerechtigkeit, wie sie die jüdische Frömmigkeit kennzeichnet, lässt sich nach seinem Urteil die Zentralanschauung christlicher Religion grundsätzlich nicht erfassen, wenn anders das Christentum als eine Religion gelten soll, die wie das Judentum im Glaubensbezug das Sittliche menschlicher Zustände dem Natürlichen in ihnen überordnet. Christliches Hauptanliegen ist nicht die Befreiung von natürlichen Übeln, sondern von der Bosheit der Sünde. Dies bestätigt Schleiermacher, wenn er zum Schluss der fünften Rede die ursprüngliche Anschauung des Christentums als diejenige des allgemeinen Entgegenstrebens alles Endlichen gegen die Einheit des Ganzen und gemäß der Art und Weise bestimmt, wie die Gottheit dieses Entgegenstreben behandelt und die Feindschaft gegen sich vermittelt (vgl. R1 316,29 ff.). Zwar hat das allgemeine Widerstreben des Endlichen gegen das Unendliche etwas mit Natur, natürlichem Drang und entsprechenden Übeln zu tun; doch zur manifesten Feindschaft wird es erst durch die Selbstsucht des Menschen, dessen verkehrter Wille sich aus dem Zusammenhang mit dem Ganzen loszureißen trachtet, um abgelöst und separat etwas zu sein. Gegen dieses irreligiöse Prinzip mit seinen verheerenden sittlichen Implikationen und Folgen ist der, wie Schleiermacher sagt, durch und durch polemische Charakter des Christentums gerichtet, der nach außen, aber auch und intensiver noch nach innen und innerhalb der christlichen Gemeinschaft wirkt. Mit seiner auf Vermittlung und Versöhnung angelegten Zentralanschauung ist für das Christen- Endliches Widerstreben tum die Notwendigkeit gegeben, gegen das irreligiöse Prinzip widriger Abkehr des Endlichen vom Unendlichen nicht nur in der Menschheitsgeschichte und in der Geschichte der Religionen, in der es das Universum „am meisten und liebsten“ (R1 317,34) anschaut, sondern insbesondere in Bezug auf sich selbst zu polemisieren: „nichts soll geschont werden auch das Liebste und Theuerste nicht“ (R1 319,4 f.). Selbst die kleinste Unterbrechung religiöser Empfindung rechnet das christlich-fromme Selbstbewusstsein sich selbst und einem inneren Widerstreben gegen die Gottheit zu. Die Polemik des Christentums ist nicht von äußerer Art, sondern in erster Linie darauf gerichtet, ihr kritisches Werk in den eigenen Reihen und im Inneren jedes Christenmenschen zu vollbringen. Heilige Wehmut, sagt Schleiermacher, bestimmt sein Herz, die mit heiliger Wonne und frommer Lust nur deshalb zusammen bestehen und von ihr umgriffen werden kann, weil in Jesus Christus das Universum sich als feindesliebend zur Anschauung bringt, will heißen: als das widerstrebende Endliche in unendlicher Güte und Gnade umfassend. Jesus Christus hat die Idee, die sich in seiner Seele ausbildete und die, wenn man so will, die religiöse Fundamentalanschauung seines persönlichen Glaubens darstellte, dass nämlich alles Endliche und nachgerade das dem Unendlichen widerstrebende Endliche unendlicher Vermittlung bedarf, um mit der Gottheit bleibend verbunden zu sein, nicht nur lehrhaft, sondern durch sein persönliches Leben, Leiden und Sterben vermittelt, so dass er in Person als der Mittler und als
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das Urbild zu gelten hat, in welchem sich das Universum so zur Anschauung und zur Darstellung gebracht hat, wie es der christliche Glaube fühlt und empfindet. „Der Glaub sieht Jesus Christus an, er hat für uns genug getan, er ist der Mittler worden.“ (Evangelisches Gesangbuch 342,1) Der Schluss der ersten Strophe des Lieds von Paulus Speratus „Es ist das Heil uns kommen her von Gnad und lauter Güte“ ist ganz im Sinne Schleiermachers und der Bestimmung, die er der Zentralanschauung des Christentums gegeben hat. Als versöhnender Mittler ist Jesus Christus als Gottmensch tätig und in seiner Tätigkeit mit der des Universums auf differenzierte Weise eins: Es fällt nicht schwer, die Schleiermacher’sche Argumentation mit der christologischen und trinitätstheologischen Lehrtradition in Verbindung zu bringen, so kritisch er sich gelegentlich über diese geäußert hat: „Wenn alles Endliche der Vermittlung eines Höheren bedarf um sich nicht immer weiter vom Universum zu entfernen und ins Leere und Nichtige hinausgestreut zu werden, um seine Verbindung mit dem Universum zu unterhalten und zum Bewußtsein derselben zu kommen: so kann ja das Vermittelnde, das doch selbst nicht wiederum der Vermittlung benöthigt sein darf, unmöglich bloß Endlich sein; es muß Beiden angehören, es muß der göttlichen Natur theilhaftig sein, eben so und in eben diesem Sinne, in welchem es der Endlichen theilhaftig ist.“ (R1 321,26–33) Als der Versöhner, der das in Not und Tod endende und schuldhaft in sich verkehrte Endliche mit dem Unendlichen vermittelt, ist Jesus Christus der Gottmensch und derjenige zu nennen, der mit dem Universum eins ist wie der Sohn mit dem Vater, dessen Herrschaft er im Geiste alles einschließlich seiner selbst zu übergeben gewillt ist. Schleiermachers Relativierung der endlichen Erscheinungsgestalt Jesu Christi gehört hierher. Nie habe der Mittler beansprucht, der einzige zu sein, ja, Jesus Christus konnte nach Auffassung des Redners über die Religion seine Mittlerrolle dahingestellt sein lassen, wenn nur dem Geist seiner Sendung nicht gelästert wurde. Er habe damit das Feld freigegeben für andere, die nach ihm kommen, und gerade so seiner Mittlerschaft entsprochen. Nur derjenige ist nach Schleiermacher der wahre Mittler zwischen Unendlichem und Endlichem, der seine eigene Endlichkeit nicht absolut setzt, sondern sie ans Unendliche dergestalt entäußert, dass er kraft dieser Entäußerung anderes Endliche als anderes anerkennt und in die Freiheit des ihm je Eigenen zu versetzen vermag. Hieran findet jede Mittlerschaft ihr Kriterium, an dem sich alle Mittler auszurichten haben, wenn sie ihrem Begriff und ihrer Bestimmung entsprechen sollen. Ist dies der Fall, dann können sie als Nachfolger Jesu Christi gelten und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen der Eigenständigkeit ihrer Mittlerschaft, welche der eine Mittler Jesus Christus nicht nur nicht einschränkt, sondern hervorruft und befördert. Jesus Christus ist, was er ist, indem er die Endlichkeit seiner irdischen Erscheinung radikal von der Unendlichkeit unterscheidet, die sich in seiner Gestalt zur Anschauung bringt. Jeder Christ und damit die ganze Christenheit haben ihrem Meister darin zu folgen, dass auch sie nicht an der Beschränktheit ihres historischen Daseins haften, sondern sie dahinzugeben bereit sind, damit zuletzt „der Vater Alles in Allem“ (R1 324,18) sei.
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Das Christentum ist wie das Judentum und der Monotheistische ReligioIslam eine monotheistische Religion. Monotheisti- nen der teleologischen sche Religionen sind nach Schleiermacher in ihrer Richtung Frömmigkeit dessen inne, dass alles in Einem gründet. Sie führen die Fülle des Endlichen auf ein Unendliches und auf ein Höchstes zurück, das alles Bedingte in unbedingter Weise transzendiert. Darin sind sie polytheistischen Religionsformen überlegen, die seinem Urteil zufolge lediglich Vorstufen der monotheistischen sind. Untereinander sind die monotheistischen danach zu unterscheiden, ob sie in ihrer religiösen Frömmigkeit das Natürliche in den menschlichen Zuständen dem Sittlichen oder umgekehrt das Sittliche dem Natürlichen unterordnen (vgl. GL1 § 16; GL2 § 9). Ersteres ist bei Judentum und Christentum der Fall: Beide sind monotheistische Religionen teleologischer Frömmigkeitsrichtung, also dadurch charakterisiert, natürliche Belange der Sittlichkeit und ihren Aufgaben nach- und unterzuordnen: „Ist nun die in der frommen Erregung vorgebildete Handlung ein werkthätiger Beitrag zur Förderung des Reiches Gottes: so ist der Gemüthszustand ein erhebender, sei nun das veranlassende Gefühl angenehm oder unangenehm. Ist sie aber ein Zurükkgehen in sich selbst oder ein Suchen nach Hülfe, um eine merklich gewordene Hemmung des höheren Lebens aufzuheben: so ist der Gemüthszustand ein demüthigender, sei nun das veranlassende Gefühl unangenehm oder angenehm gewesen.“ (GL2 § 9,1; vgl. GL1 § 16) Damit sind die beiden religionstheologischen Grundsätze formuliert, die monotheistische Frömmigkeitsweisen teleologischer Prägung wie Judentum und Christentum bestimmen. Beider Unterschied liegt nicht in ihrer religiösen Ausrichtung auf das Reich Gottes als einer sittlichen Herrschaft über alles Natürliche begründet, die ihnen gemeinsam ist, sondern wesentlich darin, dass im Christentum anders als im Judentum alles auf die durch Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung und das Bewusstsein derselben bezogen ist. Mit dem abschließenden Verweis auf den berühmten elften Paragraphen der Zweitauflage der Schleiermacher’schen Glaubenslehre (vgl. Schröder) sind die religionstheologischen Rahmenbedingungen benannt, innerhalb derer Schleiermacher seine Hamartiologie entfaltet. Bevor diese anhand der Dogmatik von 1830/31 in Grundzügen skizziert werden soll, sei noch einmal die Kontinuität unterstrichen, in welcher die Sündentheorie der Glaubenslehre, deren beide Auflagen in hamartiologischer Hinsicht deckungsgleich sind, zum Ansatz in der fünften Rede über die Religion von 1799 steht. Sünde ist im Judentum und im Christentum ihrem religiösen Begriff nach verkehrtes Verhältnis zu Gottes Gerechtigkeit und seinem sittlichen Gesetz. Ohne Beachtung des göttlichen Gesetzes, welches sie missachtet, kann es Erkenntnis der Sünde nicht geben. Sündenbewusstsein setzt ein Bewusstsein des Gottgebotenen voraus. Heilsam sind die Erkenntnis der Sünde und das Bewusstsein ihrer Schuld nach christlichem Bekenntnis indes nur, wenn auch sie wie die ganze Religion des Christentums hingeordnet und bezogen sind auf die in Jesus Christus vollbrachte Versöhnung und Erlösung. Schleiermachers materiale Glaubenslehre besteht aus zwei Teilen: der erste Teil
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entwickelt die Tatsachen des frommen Selbstbewusstseins christlichen Glaubens unter Absehung vom Gegensatz von Sünde und Gnade, der zweite unter Beachtung dieses Gegensatzes. Des Gegensatzes erste Seite betrifft die Entwicklung des Bewusstseins der Sünde und damit die Hamartiologie. Sie wird entsprechend im ersten Abschnitt des zweiten Teils der Glaubenslehre thematisiert, kann aber nicht ohne Blick auf die Gesamtkonzeption verstanden werden. Das fromme Gefühl, wie es im ersten Teil der Glaubenslehre beschrieben ist, kommt nach Schleiermacher „als wirkliche Erfüllung eines Momentes nur vor unter der allgemeinen Form des Selbstbewußtseins, nemlich dem Gegensaz von Lust und Unlust“ (GL2 § 62, Leitsatz). Unlust empfindet das fromme Selbstbewusstsein im Falle der Hemmung seines Gottesbewusstseins, Lust im Falle der Förderung desselben. Damit ist der Grundgegensatz benannt, der alle Tatsachen des frommen Selbstbewusstseins bestimmt, wie sie im zweiten Teil von Schleiermachers Glaubenslehre entwickelt werden. Wahrgenommen wird dieser Grundgegensatz innerhalb der christlichen Frömmigkeit dergestalt, „daß wir uns dessen, was in unsern Zuständen Abwendung von Gott ist, als unserer ursprünglichen That bewußt sind, welche wir Sünde nennen, dessen aber was darin Gemeinschaft mit Gott ist, als auf einer Mittheilung des Erlösers beruhend, welche wir Gnade nennen“ (GL2 § 63, Leitsatz; bei S. teilweise gesperrt.). In diesem Sinne ist der im zweiten Teil der Glaubenslehre bedachte Grundgegensatz derjenige von Sünde und Gnade. Was die Präsenz dieses Gegensatzes im gegebenen Sünden- und christlichen Selbstbewusstsein betrifft, so ist das Gnadenbewusstsein Missverständnis fernzuhalten, als ließen sich in ihm das Bewusstsein der Sünde und dasjenige der Gnade trennungsscharf sondern. „Vielmehr da die Energie des Gottesbewußtseins nie eine schlechthin größte ist, und ebensowenig die Hineinbildung desselben in die Erregungen des sinnlichen Selbstbewußtseins eine schlechthin stetige: so ist eine begrenzende Unkräftigkeit desselben mitgesezt, welche gewiß sündlich ist. Eben so wenig kann aber auch in einem wirklich christlichen Bewußtsein der Zusammenhang mit der Erlösung völlig Null sein, weil es sonst, bis er wiederhergestellt wird, ein unchristliches wäre gegen die Voraussezung.“ (GL2 § 63,3) Kurzum: im christlichen Selbstbewusstsein ist das Bewusstsein der Sünde realiter niemals ohne das Bewusstsein der Gnade gegeben und umgekehrt, „weil es nämlich nirgend absolute Seligkeit giebt oder absolute Nullität des Gottesbewußtseins“ (GL2 § 62,1). Indes ist der unscheidbare Zusammenhang religiöser Lust und Unlust keine indifferente Gemengelage, insofern christlicher Frömmigkeit ein eindeutiger Richtungssinn innewohnt: „Nämlich die als Zielpunkt aufgestellte absolute Leichtigkeit der Entwiklung des Gottesbewußtseins von jeder gegebenen Erregung aus und in jedem Zustande ist die stetige Gemeinschaft mit Gott, jede Bewegung rükwärts aber ist eine Abwendung von Gott.“ (GL2 § 62,2) Obwohl in keiner Gestalt christlichen Selbstbewusstseins Sünde und Gnade in separierter Form auftreten, weil beide stets „ineinander und miteinander“ (GL2 § 64,1) präsent sind, so erfordert nach Schleiermacher der zwangsläufig diskursive
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Charakter der dogmatischen Darstellung eine separate Erörterung, „so daß wir zuerst von der Sünde, und hernach von der Gnade handeln, beides nach allen drei Formen dogmatischer Säze“ (GL2 § 64, Leitsatz). Die Reihenfolge der Abhandlung, nämlich das Bewusstsein der Sünde vor dem der Gnade zu entwickeln, wird durch besagten Richtungssinn christlicher Frömmigkeit festgelegt. Das weitere Vorgehen ist demnach folgendes: „so beschreiben wir abgesondert zuerst dasjenige Element des christlichen Selbstbewußtseins, welches vermittelst des andern immer mehr verschwinden soll, welches also seinen Grund habend in dem Gesammtzustande vor Eintritt der Erlösung diesen zugleich repräsentirt, und dann abgesondert dasjenige Element, welches immer weniger durch jenes erste soll begrenzt werden, und welches in der Erlösung seinen Grund habend zugleich die Gesammtkraft von dieser repräsentirt.“ (GL2 § 64,2) Was aber die Anwendung der drei Formen dogmatischer Sätze (nämlich die unmittelbar auf das fromme Selbstbewusstsein, die auf die Welt und die auf Gott bezogene Form) auf den Gegensatz von Sünde und Gnade betrifft, so lässt sich eine zweifache Anordnung des dogmatischen Materials denken: „Wir können die drei Formen dogmatischer Sätze zur Haupteintheilung machen, und in jeder zuerst, was sich auf die Sünde, und dann, was sich auf die Gnade bezieht, abhandeln. Wir können auch diese beiden Elemente unseres Selbstbewußtseins als Hauptglieder aufstellen, und zuerst nach allen drei Formen von der Sünde handeln, dann aber ebenso von der Gnade. Die lezte scheint um deswillen vorzüglich zu sein, weil dann die Haupteintheilung durch das gebildet wird, was in dem unmittelbaren christlichen Selbstbewußtsein getheilt ist. Sonach zerfällt dieser Theil in zwei Seiten, indem zuerst das Bewußtsein der Sünde nach allen drei dogmatischen Formen, und dann eben so das der Gnade entwikkelt wird.“ (GL2 § 64,3) Die nach den drei Formen dogmatischer Sätze zu bewerkstelligende Entwicklung des Bewusstseins der Sünde ist der Zwischenstellung der Hamartiologie im Gesamtsystem gemäß in einem Doppelbezug zu vollziehen: „Alle hier aufzustellenden Säze müssen mit denen gleicher Form des ersten Theils zusammenstimmen und sich auf sie beziehen, eben so aber müssen sie auf die Säze der zweiten Seite, welche das Bewußtsein der Gnade entwikkeln, hinsehen, und diese dabei vorbehalten bleiben.“ (GL2 § 65, Leitsatz) In ersterer, gewissermaßen die Protologie betreffender Hinsicht ergeben sich hamartiologisch „eine Menge von Schwierigkeiten“ (GL2 § 65,2): „Denn neigt man zu sehr dahin, die Sünde aus dem Umkreis der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott auszuschließen, so streift man unvermeidlich an das manichäische; und will man sie mit der ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen vertragen, so ist das pelagianische kaum zu vermeiden. Ja man kann sagen, daß in der Entwiklung der kirchlichen Lehre das Schwanken zwischen diesen entgegengesezten Punkten niemals ganz zur Ruhe gekommen ist.“ (Ebd.) Erst die eschatologisch ausgerichtete Hinordnung der Hamartiologie auf die ihr folgende Gnadenlehre vermittelt nach Schleiermacher eine Orientierung, die geeignet ist, die in protologischer Hinsicht keiner befriedigenden Lösung zuzuführenden Probleme zu beheben: „Denn sollen wir in den
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Aussagen über die Sünde immer die künftigen über die Gnade im Auge haben, so können wir die Sünde nur betrachten einerseits als dasjenige, was nicht sein würde, wenn nicht auch die Erlösung hätte sein sollen, und dann verschwindet jede scheinbare Nothwendigkeit uns dem manichäischen zu nähern; andrerseits auch als das, was wie es verschwinden soll, nur durch die Erlösung verschwinden kann, und gehen wir von hier aus, so könnten wir fast nur mutwillig an das pelagianische gerathen.“ (Ebd.) Die durch Manichäismus und Pelagianismus bezeichneten Grenzmarken der Sündenlehre Schleiermachers begegnen in dessen Gnadenlehre wieder, insofern deren erster Grundsatz lautet: „Je bestimmter wir uns bewußt sind, daß die mit dem natürlichen Zustand verbundene Unseligkeit weder durch die Anerkennung, die Sünde sei unvermeidlich, noch durch die Voraussetzung, sie sei von selbst im Abnehmen, beseitigt werden kann, um desto höher steigt der Wert der Erlösung.“ (GL2 § 86, Leitsatz) Die Annahme der Unvermeidbarkeit der Sünde hat zwar insofern ihre Richtigkeit, „als es nicht von uns abhängt im Augenblikk unsündlich zu sein“ (GL2 § 86,2). Aber diese Anerkennung entschuldigt weder noch vermittelt sie gar das Bewusstsein der Gnade. Ersteres ist durch den teleologischen Charakter der christlichen Glaubensweise prinzipiell ausgeschlossen, „welche die Unwirksamkeit des Gottesbewußtseins selbst als That sezt“ (GL2 § 86,1) und im Gegensatz zur ästhetischen Glaubensweise alle Hemmungen desselben – und seien sie faktisch unvermeidbar – unter der unhintergehbaren Prämisse menschlicher Selbsttätigkeit als Schuld zurechnet. Aber auch die gegenläufige Annahme, die Sünde sei im Vollzug unmittelbarer Selbsttätigkeit des Menschen gleichsam von selbst im Verschwinden begriffen, entspricht nicht, widerspricht vielmehr dem Bewusstsein der Gnade, welches den Grund der Erlösung in einem auf der Wirksamkeit des Erlösers basierenden Gesamtleben findet, ohne welches alle gegen die Sünde gerichteten Eigenanstrengungen des Menschen heillos wären. Die konkrete Entwicklung des Bewusstseins der Sünde als Zustand des Sünde als der ersten durch den Gegensatz beMenschen stimmten Tatsache des frommen Selbstbewusstseins geschieht der Grundform dogmatischer Aussagen entsprechend zunächst als Bestimmung der Sünde als Zustand des Menschen. Der fundamentale Leitsatz lautet: „Wir haben das Bewußtsein der Sünde, so oft das in einem Gemüthszustand mitgesezte oder irgendwie hinzutretende Gottesbewußtsein unser Selbstbewußtsein als Unlust bestimmt; und begreifen deshalb die Sünde als einen positiven Widerstreit des Fleisches gegen den Geist.“ (GL2 § 66, Leitsatz) Vorausgesetzt ist in diesem Satz, dass die Sünde im Leben des Christen nicht vorkommen kann ohne Sündenbewusstsein. „Denn diese Bewußtlosigkeit wäre nur eine neue Sünde, welche doch später auch als solche müßte zum Bewußtsein kommen.“ (GL2 § 66,1) Zum Bewusstsein hinwiederum kommt die Sünde in der Weise, dass das im frommen Gefühl manifeste bzw. sich manifestierende Gottesbewusstsein unser Selbstbewusstsein einer Unlust erzeugenden Differenzerfahrung aussetzt und mit einem Vorwurf konfrontiert, dessen Wahrnehmung für das religiöse Wesen unver-
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meidbar ist. Die Unlust menschlichen Selbstbewusstseins ist dabei nicht eigentlich sinnlicher Natur, sondern dem höheren Selbstbewusstsein zugehörig, welches sich durch Sünde in der freien Entwicklung seines Gottesbewusstseins gehemmt fühlt. Als Sünde gilt Schleiermacher sonach alles, was die freie Entwicklung des Gottesbewusstseins als der bestimmenden Kraft des Geistes durch Verselbstständigung der sinnlichen Funktion hemmt. Die Sünde ist in diesem Sinne als ein faktischer Widerstreit des Fleisches als der „Gesammtheit der sogenannten niedern Seelenkräfte“ (GL2 § 66,2) gegen den Geist als Faktor göttlicher Präsenz im Menschen zu begreifen. Näherbestimmt wird das Sündenbewusstsein von Schleiermacher durch den Hinweis, dass wir uns in ihm der Sünde bewusst sind „als der Kraft und des Werkes einer Zeit in welcher die Richtung auf das Gottesbewußtsein noch nicht in uns hervorgetreten war“ (GL2 § 67, Leitsatz). Zu denken ist bei dieser Zeit des noch unentwickelten Gottesbewusstseins etwa an die infantilen – tierisch-verworrenen – Anfänge sowohl des einzelnen Menschen als auch der Menschheit. Indes kann die in diesem Zustand statthabende „Fürsichthätigkeit des Fleisches“ (GL2 § 67,1), die Schleiermacher auch Konkupiszenz nennen kann, „nicht eigentlich als Sünde wol aber als Keim der Sünde betrachtet werden“ (ebd.). Unbeschadet dessen wird im Beginnen des Geistes der Anfang der Sünde als ein bereits gegebener bewusst. Darauf nimmt Schleiermacher Bezug, wenn er sagt, der zitierte Leitsatz gehe „auf die allgemeine Erfahrung zurükk, daß in Jedem das Fleisch sich schon als eine Größe zeigte eher der Geist noch eine war; und daher folgt, daß sobald der Geist in das Gebiet des Bewußtseins eintritt – und es gehört zur ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen, daß die Fürsichthätigkeit des Fleisches doch das Hervortreten des Geistes nicht an und für sich verhindern kann – auch der Widerstand gesezt ist, das heißt, daß wir uns so, wie das Gottesbewußtsein in Einem erwacht ist, auch der Sünde bewußt werden.“ (GL2 § 67,2) Eine weitere Näherbestimmung des Sündenbewusstseins hat zum Inhalt, dass wir uns in ihm der Sünde als einer „Störung der Natur“ (GL2 § 68, Leitsatz), wenn auch nicht als einer Aufhebung der ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen bewusst sind. Würde letzteres gelten, könnte von Sündenbewusstsein überhaupt nicht die Rede sein: ist dieses doch „immer durch gutes bedingt, welches vorangegangen sein muß, und welches nur ein Resultat jener ursprünglichen Vollkommenheit ist. Denn wir haben nur ein böses Gewissen, theils in sofern wir die Möglichkeit eines besseren einsehen und dieses also auf eine andere Art in uns eingebildet ist, theils insofern wir überhaupt ein Gewissen haben, d. h. die Forderung einer Zusammenstimmung mit dem Gottesbewußtsein in uns aufgestellt ist. Daher erscheint uns auch, wenn einem Einzelnen in einem Lebensalter, wo das Gottesbewußtsein entwikkelt sein könnte, oder einem Volk in einem frühen Zeitalter das Bessere auch auf jene Art noch nicht eingebildet ist, das unvollkommne und die Gewalt des Fleisches nicht als Sünde, sondern als Rohheit und Unbildung. So daß die Sünde sich nur an schon gewordenem Guten und vermöge desselben offenbart, und nur das künftige hemmt.“ (GL2 § 68,2) Dass die Sünde sich nur
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an schon gewordenem Guten offenbart, wird von Schleiermacher durch den Hinweis bestätigt, dass das volle Bewusstsein der Sünde an der vollendeten Realisierung des Guten hängt. Daraus ergeben sich bemerkenswerte hamartiologische Konsequenzen für das Verhältnis von Gesetz und Evangelium: „Das Bewußtsein der Sünde . . . kommt freilich aus dem Gesez; aber wie dieses selbst in der Mannigfaltigkeit einzelner Vorschriften nur eine unvollkommne Darstellung des Guten ist, und auch in der Einheit einer allumfaßenden Formel die Möglichkeit seiner Befolgung nicht mit darlegt, so bleibt auch die hieraus entstehende Erkenntniß der Sünde theils unvollständig theils zweifelhaft, und nur in der völligen Unsündlichkeit und der absoluten Geisteskräftigkeit des Erlösers, wird uns die vollkommne Erkenntniß der Sünde.“ (GL2 § 68,3) Eine weitere, zu den beiden vorgenommenen hinzutretende Näherbestimmung des Sündenbewusstseins hat Schleiermacher in dem Leitsatz formuliert, der nach seinem Urteil in der Verfassung des Menschen als eines individuellen Gattungswesens, in welchem Empfangen und Tun einen differenzierten Zusammenhang bilden, begründet liegt: „Wir sind uns der Sünde bewußt theils als in uns selbst gegründet, teils als ihren Grund jenseits unseres eignen Daseins habend.“ (GL2 § 69, Leitsatz) Mit diesem Leitsatz ist zugleich die von Schleiermacher übernommene Grobeinteilung der traditionellen Hamartiologie umschrieben, deren erstes Lehrstück von der Erbsünde und deren zweites von der wirklichen Sünde, also von den peccata actualia im Unterschied zum peccatum originale handelt. „In dem ersten nämlich wird der Zustand betrachtet als ein empfangenes und vor aller Tat mitgebrachtes, worin aber doch zugleich auch die eigene Schuld schon verborgen liegt; in dem andern wird er dargestellt als erscheinend in den eignen sündhaften Taten, die in einem jeden selbst begründet sind, in denen aber jenes empfangene und mitgebrachte sich offenbart.“ (GL2 § 69, Zusatz) Was die Erbsündenlehre anbelangt, so drückt die Formel „Erb“, wie Schleiermacher sagt, „den Zusammenhang der späteren Generationen mit den früheren und mit der Erhaltungsweise der ganzen Gattung richtig aus“ (GL2 § 69 Zusaz). Eine Aussage über erste Menschen und eine durch deren Sünde bewirkte Verderbnis der Natur des Menschengeschlechts ist dadurch nach seinem Urteil entgegen der überlieferten Meinung der Kirchenlehre nicht getroffen. Zwar ist im Bewusstsein der Sünde das Bewusstsein eines dem eigenen Dasein jenseitigen Grundes derselben mitgesetzt. Doch können wir es zu „keiner anschaulichen Vorstellung davon bringen, wie die Sündhaftigkeit von den ersten Menschen auf ihre Nachkommen übergegangen sei und noch fort übergehe. Wie denn auf diese auch unsere symbolischen Bücher nicht besondern Werth legen, welche wenn sie auch den Verlust der Unsündlichkeit für alle Nachgebohrene von dem Entstehen der Sünde in den ersten Menschen ableiten, sich doch in weitere Erläuterungen über die Art und Weise dieses Einflusses theils gar nicht einlassen, theils die Frage danach gradezu abweisen.“ (GL2 § 72,1) Diese Zurückhaltung ist nach Schleiermacher mehr als ratsam: Lässt sich doch der Anfang der Sünde in den ersten Menschen ohne schon vorhandene Sündhaftigkeit gar nicht denken. Muss aber, um die erste Sünde den-
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ken zu können, Sündliches schon vorausgesetzt werden, so können die ersten Menschen allenfalls „die Erstlinge der Sündigkeit“ (GL2 § 72,4), nicht aber deren Urheber sein. Auch ist die Vorstellung, dass in Adam das ganze Menschengeschlecht gesündigt haben soll, ebenso unhaltbar wie diejenige „von einer durch die erste Sünde der ersten Menschen entstandenen Veränderung der menschlichen Natur“ (GL2 § 72,3). Dies zwingt zu dem Schluss, dass die Überlieferung vom Fall Adams als ein prototypisches, für alle Menschen analog geltendes Paradigma und die hamartiologische Rede von der Erblichkeit im Sinne „der jedem Einzelnen schon mitgegebenen Sündhaftigkeit“ (GL2 § 70,1) zu verstehen sei. Waren die bisherigen Bemerkungen „lediglich Gänzliche Unfähigkeit zum abwehrend“ (GL2 § 72,1), so wird die jedem Guten und allgemeine Einzelnen schon mitgegebene Sündhaftigkeit von Erlösungsbedürftigkeit Schleiermacher thetisch wie folgt bestimmt: „Die vor jeder That eines Einzelnen in ihm vorhandene und jenseits seines eignen Daseins begründete Sündhaftigkeit ist in Jedem eine nur durch den Einfluß der Erlösung wieder aufzuhebende vollkommne Unfähigkeit zum Guten.“ (GL2 § 70, Leitsatz) Die vollkommene Unfähigkeit zum Guten sei allerdings nur insofern zu behaupten, als „unter dem Guten nur das durch das Gottesbewußtsein bestimmte verstanden wird“ (GL2 § 70,2). Hingegen darf man die mitgebrachte Sündhaftigkeit nicht „so weit ausdehnen, daß sogar die Fähigkeit die Erlösung in sich aufzunehmen dem Menschen müßte abgesprochen werden . . . Denn die Fähigkeit, die dargebotene Gnade in sich aufzunehmen, ist die unnachläßliche Bedingung aller Wirksamkeit derselben, so daß ohne sie entweder auch keine Verbesserung des Menschen möglich ist, oder es wird, damit sie möglich werde, noch etwas anderes vorausgesezt, nämlich eine solche bei gänzlicher Passivität des Menschen vorgehende Umschaffung des Menschen, wodurch nur erst jene Fähigkeit in ihm hervorgebracht wird. Aber diese könnte ja dann gleich auf das Ganze gerichtet, und auf dieselbe Weise die vollkommne Heiligung des Menschen bewirkt werden, wodurch denn die Erlösung überflüssig würde.“ (GL2 § 70,2) Im Übrigen führe auch die schärfste Hervorhebung menschlicher Unfähigkeit zum Guten an dem Zugeständnis nicht vorbei, „daß es einen Gegensaz des löblichen und tadelnswürdigen giebt, welcher gar nicht von dem Verhältniß des Menschen zur Erlösung abhängt“ (GL2 § 70,3). Indes ist die iustitia civilis nach Schleiermachers Urteil, sofern sie sich vom Erlösungszusammenhang emanzipiert, eine durchaus ambivalente Größe, was u. a. aus der Bemerkung hervorgeht: „Daher auch das beste auf diesem Gebiet, sofern es unabhängig von der Kraft des Gottesbewußtseins besteht, nur zur fleischlichen Gesinnung, Weisheit und Gerechtigkeit gerechnet werden kann.“ (Ebd.) Bezieht sich der erste Leitsatz der Schleiermacherschen Lehre vom peccatum originale auf die gänzliche Unfähigkeit des Menschen zum Guten, so der zweite auf die Allgemeinheit der Erlösungbedürftigkeit. Er lautet: „Die Erbsünde ist aber zugleich so sehr die eigene Schuld eines Jeden, der daran Theil hat, daß sie am besten als die Gesammtthat und Gesammtschuld des menschlichen Geschlechtes vor-
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gestellt wird, und daß ihre Anerkennung zugleich die der allgemeinen Erlösungsbedürftigkeit ist.“ (GL2 § 71, Leitsatz) Diesem Satz liegt die „richtige und eigentlich wol allgemein anerkannte Regel“ (GL2 § 71,1) zugrunde, dass die Erbsünde aus ihrem Zusammenhang mit der wirklichen Sünde nicht herausgerissen werden darf. Allerdings will Schleiermacher diese Regel nicht in dem Sinne verstanden wissen, „als wäre die Erbsünde nicht eher Schuld, als bis sie in wirkliche Sünden ausbricht, indem ja der Umstand, daß es noch an Gelegenheit und an äußerer Anreizung zur Sünde gefehlt hat, den geistigen Werth des Menschen nicht erhöhen kann; sondern so, daß sie der hinreichende Grund aller wirklichen Sünden in dem Einzelnen ist; so daß eben nur noch etwas außer ihm und nicht etwas neues in ihm hinzuzukommen braucht, damit die wirklichen Sünden sich entwikkeln. Ein rein empfangenes ist die Erbsünde nur in dem Maaß, als die Selbstthätigkeit des Einzelnen noch nicht ist; sie hört auf, es zu sein in dem Maaß als diese sich entwikkelt.“ (GL2 § 71,1) Aus der entwickelten Einheit der aus Selbsttätigkeit hervorgegangenen und der gewissermaßen angeborenen Sündhaftigkeit des Menschen folgt des weiteren, „daß so gut die hinzugekommene in ihm aus seinen freien an die ursprüngliche anknüpfenden Lebensacten entstanden ist, auch die ursprüngliche, welche ohnedies gegen jene immer mehr zurüktritt, und an welche er immer angeknüpft hat, nicht ohne seinen Willen in ihm fortwährt und also auch durch ihn würde entstanden sein. Mithin ist sie mit Recht eines Jeden Schuld zu nennen.“ (Ebd.) Doch hat es die Erbsündenlehre nicht primär mit der Schuld des Einzelnen, welche vielmehr Behandlungsgegenstand der Lehre von den peccata actualia ist, sondern mit dem allgemeinen Bewusstsein einer Gesamtschuld des Menschengeschlechts zu tun, dessen Repräsentant jeder Einzelne ist. Hinzuzufügen ist, dass die Anerkennung des peccatum originale als Tatschuld aller und damit als Gesamtschuld des Menschengeschlechts mit der Anerkennung allgemeiner Erlösungsbedürftigkeit identisch ist. „Wenn das Selbstbewußtsein, dessen Ausdrukk der bisher entwikkelte Begriff der ursprünglichen Sündhaftigkeit ist, kein Gemeingefühl wäre, sondern ein persönliches in jedem Einzelnen: so wäre damit wol nicht nothwendig ein Bewußtsein allgemeiner Erlösungsbedürftigkeit verbunden, indem ein Jeder sich zur Verstärkung der geistigen Kraft zunächst an die Gesammtheit, der er angehört, würde gewiesen glauben. Daher auch dieses beides miteinander zu gehen pflegt, daß die Erbsünde als Gemeinsames geläugnet, und daß der Werth der Erlösung durch Christum geringer angeschlagen wird.“ (GL2 § 71,3) Die anerkannte Regel, dass peccatum originale Peccatum originale und und peccata actualia zwar unterschieden, nicht peccata actualia aber getrennt werden können, wird zu Beginn des Lehrstücks von der wirklichen Sünde nicht nur unterstrichen, sondern zum Leitsatz erhoben: „Aus der Erbsünde geht in allen Menschen immer die wirkliche Sünde hervor.“ (GL2 § 73, Leitsatz) In der von ihm behaupteten Allgemeinheit aktualer Sündhaftigkeit ist dieser Satz nach Schleiermacher evidenter Ausdruck christlichen Selbstbewusstseins: „Denn Jeder weiß es von sich, um so gewisser je
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lebendiger er sich den Erlöser vergegenwärtigt, daß er selbst in keinem Augenblikk frei ist von Sünde. Aber jeder weiß es nicht aus seiner persönlichen Eigenthümlichkeit her, sondern auf allgemeine Weise, sofern er ein Bestandtheil der Gesammtheit ist, das heißt, mit seinem zum Gattungsbewußtsein erweiterten Selbstbewußtsein, mithin von jedem Andern eben so gut als von sich selbst. Und dies Bewußtsein geht auf das der allgemeinen Sündhaftigkeit zurükk, ja es ist dieses selbst nur von einer andern Seite aus gesehn. Denn die Richtung auf die Sünde, die wir in dem einen rein innerlich und zeitlos auffasssen, wäre doch nicht wirkliches, wenn sie nicht zugleich auch immer erschiene, und wiederum wäre das erscheinende nur etwas uns von außen anklebendes, also keine Sünde, wenn es nicht ein Theil des Erscheinens und Zeitlichwerdens der Ursünde wäre. Und so wie alles, was in dieser angelegt ist, irgendwo erscheinen muß, nach Maaßgabe wie sie selbst verschieden unter die Menschen vertheilt ist: ebenso muß sie auch an jeder Bewegung jedes Menschen, in welchem sie ist, einen Antheil haben und etwas darin zur erscheinenden Sünde machen. So daß es in dem ganzen Gebiet der sündigen Menschheit keine einzige ganz vollkommen gute, d. h. rein die Kraft des Gottesbewußtseins darstellende Handlung, und keinen ganz reinen Moment giebt, in welchem nicht doch noch irgend etwas in einem geheimen Widerspruch mit dem Gottesbewußtsein stände.“ (GL2 § 73,1) Lässt sich zwar in bezug auf die Äußerungsformen der Sünde differenzieren und zwischen einem Mehr oder Weniger unterscheiden, so bleibt es – wenn man das Herz ansieht – bei der behaupteten allgemeinen Sündhaftigkeit; und „so ist auch die Begierde wenngleich nur innerlich sich regend schon die wirkliche Sünde aus demselben Grunde“ (GL2 § 73,2). Ein zweiter Leitsatz zieht die Konsequenz aus der im christlichen Selbstbewusstsein angelegten Einsicht in die Allgemeinheit der Sündenwirklichkeit: „Es besteht in Bezug auf die Sünde kein Werthunterschied unter den Menschen, abgesehen davon, daß sie nicht in Allen in demselben Verhältniß zur Erlösung steht.“ (GL2 § 74, Leitsatz) Schleiermacher gibt dazu folgende Erläuterung: „Alle wirklichen Sünden müssen dem bisherigen zufolge für gleich angesehen werden sowol ihrem Wesen und Charakter nach als ihrer Entstehung nach; denn jede ist eine Erscheinung der allgemeinen Sündhaftigkeit, und jede ist ein wenngleich nur momentaner oder partieller Sieg des Fleisches über den Geist.“ (GL2 § 74,1) Differenzierungsmöglichkeiten werden lediglich durch das Verhältnis erschlossen, in welchem das Sündenbewusstsein zum Bewusstsein der Erlösung steht. „Sonach giebt es allerdings größere und kleinere Sünden, aber für uns nur mit Bezug auf die Wirksamkeit der Erlösung; und aus diesem Gebiet verbannt also die kirchliche Lehre mit Recht den Saz von der Gleichheit aller Sünden. An und für sich aber dürfte er sich wol verteidigen lassen. Wie denn auch die meisten gewöhnlichen Eintheilungen der Sünde, welche auf jenes Verhältniß keine Beziehung nehmen, zwar eine Verschiedenheit derselben ihrer Gestalt und Erscheinung nach ausdrükken, aber nicht eine Ungleichheit in ihrem eigentlichen Sündenwert feststellen.“ (Ebd.) Die Erörterung diverser Versuche, die Verschiedenheit der wirklichen Sünde gruppierend zu sondern (vgl. GL2 § 74,2: Äußerung der Begierde – Verunreini-
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gung des Gottesbewusstseins; äußere – innere; vorsätzlich – unvorsätzlich; Todsünden – lässliche Sünden) sowie die Untersuchung verschiedener Abstufungen der menschlichen Zustände in bezug auf die Sünde (vgl. GL2 § 74,3) bestätigen Schleiermacher die Richtigkeit der Annahme, dass sich ein wesentlicher Unterschied wirklicher Sünden nur vermittels ihres verschiedenen Verhältnisses zur Erlösung behaupten lässt. Dieser durch das Verhältnis zur Erlösung vermittelte Unterschied lasse sich am bestimmtesten so fassen, „daß die wirkliche Sünde derjenigen, welche in einen stetigen Zusammenhang mit der Kraft der Erlösung gestellt sind, nicht mehr verursachend ist weder in ihnen, noch auch durch ihre Schuld außer ihnen. Denn sie ist durch die ihnen persönlich und selbstthätig eingepflanzte Kraft des Gottesbewußtseins gebrochen, so daß sie auch, wo sie ans Licht tritt, nur als im Verschwinden erscheint und keine ansteckende Kraft mehr ausübt. Alle Sünden der Wiedergebohrenen sind daher solche, welche das geistige Leben nicht hindern, weder in ihnen selbst noch in der Gesammtheit. Wogegen die Sünden der Nichtwiedergebohrenen immer verursachend sind in ihnen selbst sowol, weil nämlich jede etwas hinzufügt zur Macht der Gewohnheit und ebenso zur Verunreinigung des Gottesbewußtseins, als auch außer ihnen, weil Gleiches immer wieder das Gleiche aufregt, und auch das verunreinigte Gottesbewußtsein sich durch Mittheilung verbreitet und befestigt.“ (GL2 § 74,4) Nach Schleiermacher ist das Übel eine Funktion Die üble Verfassung der der Sünde und nicht etwa die Sünde eine Folge Welt übler Verfassung der Welt. Zusammengefasst ist diese Auffassung in dem Satz, „daß ohne die Sünde in dieser Welt nichts sein würde, was mit Recht für ein Uebel gehalten werden könnte, sondern was unmittelbar mit der Vergänglichkeit des menschlichen Einzellebens zusammenhängt, würde höchstens als eine unvermeidliche Unvollkommenheit aufgefaßt werden; und die den menschlichen Bestrebungen entgegentretenden Aeußerungen natürlicher Kräfte nur als Reizmittel, um diese in noch höherem Grade der Herrschaft des Menschen zu unterwerfen.“ (GL2 § 75,3) Belegt wird die Richtigkeit dieses Satzes u. a. mit einem Rückverweis auf seine Lehre von der ursprünglichen Vollkommenheit der Welt. „Nämlich in dem Begriff der ursprünglichen Vollkommenheit der Welt, wenn wir ihn auf die ursprüngliche Vollkommenheit des Menschen beziehen, ist dies nicht mitenthalten, daß die Welt der Ort des Uebels ist. Denn immer muß es freilich einen relativen hier stärker dort schwächer hervortretenden Gegensaz des uns gegebenen Seins zu dem leiblichen Sein der menschlichen Einzelwesen gegeben haben, weil diese sonst nicht hätten sterblich sein können; allein so lange jeder Augenblikk menschlicher Selbsthätigkeit nur ein Product (der) ursprüngliche(n) Vollkommenheit des Menschen gewesen wäre, mithin jeder durch das Gottesbewußtsein bestimmt und alles sinnliche und leibliche nur hierauf bezogen, so lange konnte jener Gegensaz nicht als Lebenshemmung in das Gesammtbewußtsein aufgenommen werden, weil durch denselben die Thätigkeit des Gottesbewußtseins auf keine Weise gehemmt, sondern nur die Resultate derselben anders gestaltet werden konnten. Dies gilt selbst von dem natürlichen Tode
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und den ihm als Krankheit und Schwäche vorangehenden leiblichen Lebenshemmungen, indem, was dem leitenden und bestimmenden höheren Bewußtsein nicht mehr dienen kann, auch nicht gewollt wird. Wie wir ja auch nach der Schrift nicht des Todes wegen Knechte sind sondern aus Furcht des Todes.“ (GL2 § 75,1) Schleiermacher behauptet also nicht, dass Sterblichkeit und Tod des Menschen durch die Tat der Sünde allererst verursacht worden seien. Indes seien sie ohne Sünde nicht eigentlich Übel zu nennen, zu denen sie nach Urteil der Frömmigkeit erst im sündigen Zusammenhang würden. Dies entspricht der Grundthese, welche der Leitsatz formuliert: „Ist die Sünde in dem Menschen gesezt: so findet er auch in der Welt als seinem Ort beharrlich wirkende Ursachen von Lebenshemmungen, d. h. Uebel.“ (GL2 § 75 Leitsatz) Das eigentlich Üble am Übel ist durch die Sünde gewirkt. Natürliche Unvollkommenheiten und sinnliche Lebenshemmungen erzeugen zwar physische Unlust und werden insofern als leibliche Übel empfunden, die auch psychische Folgen nach sich ziehen. Aber zum wirklichen Schaden der Seele können sie erst unter sündigen Bedingungen gereichen. Nicht physische Übel bilden den Abgrund des Bösen; dieser tut sich vielmehr erst durch die Schuld der Sünde auf, die das zum Ertragen bestimmte sinnliche Leid als unerträglich und lebenssinnzersetzend erscheinen lässt. Erst die Ohnmacht des Gottesbewusstseins, wie sie die Sünde kennzeichnet, gibt dem äußeren Leid die Macht, das Innere des Menschen zu beherrschen. Es ist die Sünde, welche das Übel zum Bösen wendet. Sie und nicht das bloße Übel als solches ist der Ursprung von Sinnwidrigkeit. Anderes zu behaupten hieße nach Schleiermacher, die teleologische Religion des Christentums in eine ästhetische umzuformen und damit um die Gestalt und den Gehalt zu bringen, die ihm eigentümlich sind. Es gilt der Grundsatz, „daß in dem zugestandenen Zusammenhang zwischen Sünde und Uebel die Sünde zunächst überall das erste und ursprüngliche ist, das Uebel aber das Abgeleitete und Zweite“ (ebd.). In diesem Sinne hat das Übel als Strafe der Sünde zu gelten. Zwar wird damit nicht ein natürlicher Verursachungszusammenhang behauptet. Doch trifft es zu, dass das Übel kein böser Schaden wäre ohne die Sünde, der mithin Erscheinung und Sein des Übels als Übel zuzurechnen ist. Von daher hat er seine Richtigkeit zu sagen, die Sünde sei am Übel schuld bzw. „(a)lles Uebel (sei) als Strafe der Sünde anzusehen“ (GL2 § 76 Leitsatz). Dass alles Übel als Strafe der Sünde anzusehen ist, gilt nach Schleiermacher grundsätzlich für das Das Üble am Übel ganze Leben, „unmittelbar jedoch nur (für) das gesellige, (für) das natürliche hingegen nur mittelbar“ (GL2 § 76, Leitsatz). Zur Definition der Terminologie ist folgendes zu bemerken: „Alles nun, woraus uns gehemmte Lebenszustände entstehen, nennen wir, sofern es von menschlicher Thätigkeit unabhängig ist, natürliches Uebel; was aber aus menschlicher Thätigkeit hervorgegangen uns Grund zu Lebenshemmungen wird, das nennen wir geselliges Uebel.“ (GL2 § 75,2; bei S. teilweise gesperrt.) Dass der Zusammenhang der natürlichen Übel mit der Sünde lediglich ein mittelbarer ist, ergibt sich für
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Schleiermacher aus dem Grund, „weil wir Tod und Schmerz oder wenigstens analoge natürliche Mißverhältnisse des individuellen Lebens zu seiner umgebenden Welt auch da finden, wo keine Sünde ist. Die natürlichen Uebel – objectiv betrachtet – entstehen also nicht aus der Sünde; aber da, was nur seine sinnlichen Verrichtungen hemmt, der Mensch ohne die Sünde nicht als Uebel empfinden würde, so ist doch, daß er es nun als Uebel empfindet, in der Sünde gegründet, und also das Uebel – subjectiv betrachtet – eine Strafe derselben.“ (GL2 § 76,2) Was hinwiederum den Zusammenhang der geselligen Übel mit der Sünde anbelangt, so ist er zwar ein unmittelbarer, weil durch menschliche Tätigkeit bedingter. Er kann aber erfahrungsgemäß nur nachgewiesen werden, „wenn man ein gemeinsames Leben in seiner Vollständigkeit ins Auge faßt; keinesweges aber darf man des Einzelnen Uebel auf seine Sünde als auf ihre Ursache beziehn.“ (GL2 § 77, Leitsatz) Betrachtet man das Menschengeschlecht insgesamt und im gattungsmäßigen Zusammenhang, dann ist die Abhängigkeit des Übels von der Sünde eine direkte und es gilt die Regel, „daß in welchem Maaß in der Gesamtheit des menschlichen Geschlechts die Sünde zunimmt, auch das Uebel zunehmen muß – nur daß, da die Wirkung natürlich nur allmählig eintritt, oft die Kinder und Enkel erst büßen für die Sünde der Väter – ebenso aber auch, wie die Sünde abnimmt, auch das Übel abnehmen werde“ (GL2 § 77,1). Aus dieser Regel lässt sich indes, wie in Parenthese bereits angedeutet, nicht folgern, „daß für Jeden das Maaß seiner Sünde auch das seines Uebels sei“ (GL2 § 77,2). Ein solcher Schluss wird von Schleiermacher ausdrücklich als verkehrt bezeichnet: „Wie könnte auch“, heißt es zur Begründung, „eine solche Annahme zusammenbestehen mit der durch das ganze Neue Testament hindurchgehenden und wenn nur richtig verstanden dem Christenthum wesentlichen Vorstellung, daß in einem gemeinsamen Gebiet der Sünde der eine leiden kann für die Andern, so daß alles Uebel, was in der Sünde Vieler begründet ist, oft über Einem zusammenschlägt, und daß die Strafübel sogar am meisten den treffen können, der selbst von der gemeinsamen Schuld am freiesten ist und der Sünde am kräftigsten entgegenarbeitet.“ (GL2 § 77,2) Zu ergänzen ist, was Schleiermacher als „Grenzsaz gegen die christliche Sittenlehre“ (GL2 § 78,1) dem Lehrstück vom Übel hinzufügt: „Das Bewußtsein dieses Zusammenhanges fordert weder ein leidentliches Erdulden des Uebels um der Sünde willen; noch folgt aber daraus auch weder ein Bestreben, Uebel um der Sünde willen hervorzurufen, noch das entgegengesetzte, das Uebel an und für sich aufzuheben.“ (GL2 § 78 Leitsatz) Dieser Zusatz wird wie das ganze Lehrstück nur dann recht erfasst, wenn man seine Stellung im systematischen Gesamtzusammenhang der Glaubenslehre beachtet. Dass in ihr von der Welt „überhaupt nicht anders die Rede sein kann, als sofern sie sich auf den Menschen bezieht“ (GL2 § 75,1), versteht sich nach Schleiermacher von selbst. Als sittlich bestimmt, wie das unter den Bedingungen des Christentums als einer „der teleologischen Richtung der Frömmigkeit angehörige(n) monotheistische(n) Glaubensweise“ (GL2 § 11 Leitsatz) der Fall zu sein
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hat, stellt sich der menschliche Weltbezug dann dar, wenn leidentliche Zustände der Unlust, die als Übel empfunden werden, nicht lediglich als Schickungen erscheinen, die passiv hinzunehmen sind, sondern der Prämisse der Freiheit unterstellt werden, um ihnen tätig zu begegnen (vgl. GL2 § 63,1). Es ist sittliche Pflicht des Menschen, auf das Leid der Welt einzuwirken und sowohl das eigene als auch fremdes Übel handelnd zu bekämpfen, soweit dies möglich ist. Das religiöse Verhältnis des christlichen Glaubens zu den weltlichen Übeln nimmt am Sittlichen Anteil, um es nach Kräften zu unterstützen, aber es geht nicht in ihm auf, da es im Verein mit allen Weltbezügen auch den Bezug zu den leidentlichen Zuständen der Weltwahrnehmung in Beziehung zur Frömmigkeit setzt. Unter der Voraussetzung des christlich frommen Selbstbewusstseins, von der nach Schleiermacher alle eigentlichen Glaubenssätze auszugehen haben (vgl. GL2 § 64,1), kommt unlustbereitendes Übel nicht nur als Gegenstand sittlichen Handelns, sondern auch als ein auf das Gottesverhältnis des Glaubens zu beziehender Zustand in Betracht. Hemmt erlittenes Übel das Gottesbewusstsein, was nach Schleiermacher keineswegs zwingend ist, so muss dies der Verkehrtheit der Sünde zugerechnet werden. Zwar ist nicht alles Leid in der Welt durch Sünde verursacht. Aber es ist nach Auffassung christlichen Glaubens ihre Schuld, wenn weltlichen Übeln die Macht eingeräumt wird, den Sinn des Ganzen infrage zu stellen und bis zur Verzweiflung hin, die sich auch in hochmütigem Trotz äußern kann, in Zweifel zu ziehen. Die Welt erscheint nicht nur, sie ist für den Menschen eine andere (vgl. GL2 § 64,2), je nachdem sie aus der Verkehrtheit der Sünde heraus oder im frommen Bewusstsein der Begnadung angeschaut wird. Der Fromme übersieht keineswegs die Übel der Welt und hört nicht auf, unter ihnen zu leiden. Aber er erkennt ihnen keine sinndestruktive Macht zu, welche sie erst durch Schuld der Sünde und für das sündige Bewusstsein gewinnen (vgl. im Einzelnen Wenz, Übel). Im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit als Auf das Bewusstsein der dem Wesen der Religion ist das Bewusstsein Sünde bezogene schlechthinniger Ursächlichkeit Gottes stets mitgeEigenschaften Gottes setzt. Dabei wird das Gefühl als reines Innesein sich gegebener Endlichkeit, wie es in den Sätzen der Schöpfungs- und Erhaltungslehre seinen ursprünglichen Ausdruck findet, Gottes als allwissender Allmacht und ewiger Allgegenwart gewahr. Lässt sich im Sinne dieser Eigenschaften die Welt als solche auf die schlechthinnige göttliche Ursächlichkeit zurückführen, so stellt sich die Frage, ob sich diese Ursächlichkeit auch im Hinblick auf den Gegensatz von Sünde und Gnade behaupten lässt, auf welchen das fromme Gefühl durch seinen Zusammenhang mit dem sinnlichen Selbstbewusstsein bezogen ist. Im Unterschied zur Sünde ergibt sich hinsichtlich der Gnade bzw. des Bewusstseins der Erlösung die Antwort auf diese Frage nach Schleiermacher relativ problemlos: „Daß wir nun das Aufgehobenwerden der Sünde durch die Erlösung solchergestalt auf die göttliche Ursächlichkeit zurükkführen, können wir als jedem in seinem christlichen Selbstbewußtsein gegeben anticipieren. Allein göttliche Eigenschaften,
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welche hiebei als thätig gedacht würden, wären doch zunächst thätig in der Erlösung, und bezögen sich nur vermittelst dieser auf die Sünde. Soll es nun andere als diese aufhebenden göttlichen Thätigkeiten geben in Bezug auf die Sünde: so muß irgendwie die Sünde durch göttliche Ursächlichkeit bestehen, und diese in Bezug auf dies Bestehen der Sünde besonders bestimmt sein.“ (GL2 § 79,1) Dass dies der Fall ist, davon geht Schleiermacher aus, wie der Leitsatz des zitierten Paragraphen beweist: „Göttliche Eigenschaften, welche sich auf das Bewußtsein der Sünde, wenn auch nur so wie durch dieselbe die Erlösung bedingt ist, beziehen, können nur aufgestellt werden, sofern Gott zugleich als Urheber der Sünde betrachtet wird.“ (GL2 § 79, Leitsatz) Um den Satz, dass Gott in bestimmter Weise als Urheber der Sünde zu betrachten sei, nicht misszuverstehen, ist folgende Regel zu beachten: „Sofern Sünde und Gnade in unserm Selbstbewußtsein entgegengesezt sind, kann Gott nicht auf dieselbe Weise als Urheber der Sünde gedacht werden, wie er Urheber der Erlösung ist. Sofern wir aber nie ein Bewußtsein der Gnade haben ohne Bewußtsein der Sünde, müssen wir auch behaupten, daß uns das Sein der Sünde mit und neben der Gnade von Gott geordnet ist.“ (GL2 § 80, Leitsatz) Erster Satz beinhaltet, dass zwar auch die Sünde ohne eine allgemeine, vom Gegensatz von Sünde und Gnade abstrahierte göttliche Mitwirkung, wie sie in der Schöpfungs- und Erhaltungslehre thematisiert ist, nicht getan werden könnte, dass aber nichtsdestoweniger der „Wirklichkeit der Sünde als solcher“ (GL2 § 80,1) nach Maßgabe des religiösen Gefühls keine erkennbare göttliche Tätigkeit zugrunde liegt. Begründet wird dies mit dem Hinweis, dass der Zusammenhang von Sünde und Gnade nach frommem Urteil ein unauflöslicher ist. „Könnte die Rede sein von einer Sünde ohne allen Zusammenhang mit der Erlösung: so würde eine göttliche Thätigkeit auf das Bestehen einer solchen gerichtet nicht anzunehmen sein. Aber, wenn es richtig ist, daß der Zustand der Verstokkung im strengen Sinne kein menschlicher Zustand ist: so giebt es dergleichen gar nicht . . .“ (GL2 § 80,2) Kann von Sünde recht eigentlich nur im Zusammenhang der Gnade religiös die Rede sein, so ergibt sich bezüglich der gottgesetzten Ordnung der Sünde, dieselbe bestehe „als verschwindend neben der Gnade“ (GL2 § 80,2). Die durch die schlechthinnige göttliche Ursächlichkeit bestimmte Ordnung der Sünde ist also als eine in beständigem Zusammenhang mit der Ordnung der Gnade gesetzte zu fassen mit der Folge, dass die Sünde theologisch ausschließlich als das zum Verschwinden Bestimmte und im Verschwinden Begriffene zu begreifen ist. Sünde und Gnade sind nur im Widerspruch eins und können nur als im unaufhebbaren Widerspruch stehend auf die durch schlechthinnige göttliche Ursächlichkeit bestimmte Ordnung zurückgeführt werden. Gott hat das Verhältnis von Sünde und Gnade als Zusammenhang eines nicht synthetisierbaren Gegensatzes geordnet, und nur unter der Voraussetzung dieses Widerspruchs, wie ihn die Frömmigkeit nachgerade des Christentums wahrnimmt, kann Gott als Ordnungsgrund der Sünde gelten, wobei hinzuzufügen ist, dass dasselbe, was von der göttlichen Ursächlichkeit in Bezug auf die Sünde zu sagen ist, auch in bezug auf das Übel
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vermöge seines Zusammenhangs mit der Sünde gilt (vgl. GL2 § 82, Leitsatz). Zu ergänzen ist ferner, was Schleiermacher zur traditionellen Gestalt der Lehre zu bedenken gibt: „Wenn die kirchliche Lehre diesen Widerspruch auszugleichen sucht durch den Saz, daß Gott nicht Urheber der Sünde, sondern diese in der Freiheit des Menschen gegründet ist: so bedarf dieser doch der Ergänzung, Gott habe geordnet, daß die jedesmal noch nicht gewordene Herrschaft des Geistes uns Sünde werde.“ (GL2 § 81, Leitsatz) Ist die „Sünde nur um der Erlösung willen Gottes Heiligkeit und geordnet“ (GL2 § 81,4) und daher ihrem Unwesen Gerechtigkeit gemäß von Gott her nur zum Verschwinden bestimmt, so können auch die „als Modalitäten der göttlichen Ursächlichkeit“ (GL2 § 82, Zusatz) aufzustellenden Eigenschaften Gottes in Bezug auf die Sünde nur solche sein, die den Grund derselben als einen aufzuhebenden zu erkennen geben. Zwei solcher Eigenschaften benennt Schleiermacher dem traditionellen Sprachgebrauch folgend (vgl. GL2 § 82, Zusatz): Gottes Heiligkeit und Gottes Gerechtigkeit. Unter der Heiligkeit Gottes versteht er „diejenige göttliche Ursächlichkeit, kraft deren in jedem menschlichen Gesammtleben mit dem Zustande der Erlösungsbedürftigkeit zugleich das Gewissen gesezt ist“ (GL2 § 83, Leitsatz). Bevor Schleiermacher diesen Leitsatz näher erläutert, definiert er zunächst den vorausgesetzten Gewissensbegriff: „Unter dem Ausdruck Gewissen verstehen wir eben dieses, daß alle aus dem Gottesbewußtsein hervorgehenden und durch dasselbe anregbaren Handlungsweisen auch als Forderungen nicht etwa theoretisch aufgestellt werden, sondern sich im Selbstbewußtsein geltend machen, so daß jede Abweichung der Lebensäußerungen davon als Lebenshemmung, mithin als Sünde aufgefaßt wird.“ (GL2 § 83,1) So verstanden kann das Gewissen als Stimme Gottes im Menschen gewertet werden. „Dennoch ist das Gewissen nicht dasselbe mit der Erscheinung des Gottesbewußtseins im Menschen überhaupt, wie sie die ursprüngliche Vollkommenheit seiner Natur constituirt; denn ohne die Ungleichmäßigkeit, in dem Erscheinen desselben als Verstand und dem Hervortreten desselben als Willen, und zwar ohne diese Ungleichmäßigkeit verbunden mit der Richtung auf die Gleichmäßigkeit, würde es kein Gewissen geben; eben so wie ohne Gewissen alle Thatsachen, die aus dieser Ungleichmäßigkeit hervorgehn, uns nicht würden Sünde sein. Die göttliche Ursächlichkeit, durch welche das Gewissen gesetzt ist, gehört also ganz in das Gebiet des Gegensatzes, in welchem wir uns jezt befinden, und ist eben so gewiß die göttliche Ursächlichkeit, durch welche die Sünde gesezt ist, weil uns nur durch das Gewissen ein gegebener Zustand und zwar nur als unsere eigne That zur Sünde wird.“ (Ebd.) Das Gewissen ist eine ebenso einheitliche wie allgemeinverbindliche Manifestationsgestalt göttlicher Heiligkeit und daher nichts anderes als das zum Bewusstsein seiner selbst gekommene Gesetz, „das sittliche zunächst, von welchem aber das bürgerliche jedesmal ein Ausfluß ist“ (GL2 § 83,2). Erläuterungsbedürftig ist, was Schleiermacher zur Näherbestimmung der Wendung anführt, derzufolge die Heiligkeit Gottes in seinem „Wohlgefallen am Guten und Mißfallen am Bösen“ (GL2
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§ 83,3) bestehe. Recht verstanden werde diese Wendung nur, wenn ein Doppeltes gelte: einmal, „daß abgesondert von der Bewirkung des Guten die Aeußerung des göttlichen Mißfallens nichts anders sei als die göttliche Bewirkung dieses Mißfallens in den Handelnden vermittelst des Gewissens und des Gesezes“ (ebd.); zum andern, „daß das Böse, sofern es als Gegenstand des Mißfallens dem Guten entgegengesezt ist, auch nicht vorhanden sein kann, mithin daß es auch nicht als ein Gedanke Gottes zu sezen ist, d. h. daß es kein Wesen und keine Idee des Bösen giebt. Dieses können wir unbedenklich feststellen und zwar mit der nothwendigen Folgerung, daß in demselben Sinn auch das endliche Sein nicht kann das Böse aus sich selbst hervorbringen, d. h. daß das Böse als realer Gegensaz gegen das Gute überhaupt kein Dasein hat, und daß mithin streng genommen auch das durch göttliche Ursächlichkeit in uns bewirkte Mißfallen am Bösen nur ist das Mißfallen an dem Zurükkbleiben der wirksamen Kraft des Gottesbewußtseins hinter der Klarheit der Auffassung.“ (Ebd.) Was schließlich die zweite auf die Sünde bezogene göttliche Eigenschaft angelangt, so ist die Gerechtigkeit Gottes „diejenige göttliche Ursächlichkeit, kraft deren in dem Zustand der gemeinsamen Sündhaftigkeit ein Zusammenhang des Uebels mit der wirklichen Sünde geordnet ist“ (GL2 § 84, Leitsatz). Göttliche Gerechtigkeit ist insofern Strafgerechtigkeit; ist doch der Zusammenhang von Sünde und Übel eben das, „was wir Strafe nennen“ (GL2 § 84,1). Die Vorstellung einer Lohngerechtigkeit ist hingegen von der auf die Sünde bezogenen Eigenschaft göttlicher Gerechtigkeit fernzuhalten. Schleiermacher bestätigt dies, wenn er sagt: „Somit können wir aus unserm eignen frommen Selbstbewußtsein nur die strafende Gerechtigkeit kennen, und müssen die belohnende in Bezug auf uns dahingestellt sein lassen.“ (Ebd.) Unter den Bedingungen eines unsündlichen Gesamtlebens hätten wir dementsprechend keinerlei Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes; denn wir kommen zu dieser „nur durch das Bewußtsein der Sünde“ (GL2 § 84,2). Erkenntnis der Sünde und Bewusstsein ihrer Bewusstsein der Sünde Schuld lassen sich vom Gnadenbewusstsein zwar als Schuld unterscheiden, nicht aber trennen. Ob die These zutrifft, Schleiermacher habe die Hamartiologie nicht aus prinzipiellen, sondern „aus ordnungstheoretischen Gesichtspunkten vor der Gnadenlehre abgehandelt“ (Axt-Piscalar, 229), hängt davon ab, was man unter Ordnungstheorie versteht. Unzweifelhaft richtig ist, dass der gnadentheologische Vermittlungszusammenhang nicht außer Acht gelassen werden darf, wenn Schleiermachers Sündenlehre angemessen gewürdigt werden soll. „Das Sündenbewußtsein ist, indem es im christlich-frommen Selbstbewußtsein nur aufgrund des (sc. christologisch bestimmten) Gottesbewußtseins gesetzt ist, in der Einheit mit dem Gnadenbewußtsein gehalten, durch dieses als Widerstreit gegen das Gute bestimmt und zugleich auf die Erlösung hin bezogen.“ (Axt-Piscalar, 234) Zwar fällt das Bewusstsein der Sünde mit demjenigen der Gnade nicht in eins, sondern geht ihm aus Gründen einer Ordnung nicht lediglich methodisch-formaler, sondern inhaltlicher
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Schleiermachers neuprotestantische Sündenlehre
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Art voraus. Insofern ist es missverständlich zu sagen, durch das Gnadenbewusstsein sei „das Sündenbewußtsein als Sündenbewußtsein allererst gesetzt und als versöhnt gesetzt“ (ebd.); Schleiermacher ist kein „antizipativer Barthianer“ (Axt-Piscalar, 246). Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass ein Bewusstsein der Sünde, das ihre Radikalität erkennt, ohne in ihrem heillosen Abgrund zu versinken, nur unter Bezug auf die Gnade Gottes möglich ist. Ohne christologisch vermitteltes Gnadenbewusstsein bliebe das Bewusstsein der Schuld stets sündiger Verkehrtheit verhaftet, ja alle Erkenntnis der Sünde würde zuletzt nur dazu dienen, sie zu verkennen und immer tiefer ihrem Abgrund zu verfallen. Christlich zu nennende und heilsame Sündenerkenntnis ist ohne gläubiges Bewusstsein der Versöhnungsgnade Gottes in Jesus Christus nicht zu erlangen. Ist die Sünde doch nur dann erkannt, wenn sie als Radikalverkehrung begriffen wird, welche das Ich des Sünders nicht lediglich von außen, sondern von innen her ergreift und zwar durch dessen eigene Schuld, nämlich durch grundverkehrten Gebrauch endlicher Freiheit im gott- und schöpfungswidrigen Sinne unmittelbarer Selbstbestimmung und Selbstdurchsetzung. „Die Sünde besteht in der strukturellen Verkehrung endlicher Subjektivität in ihrem Vollzug, insofern diese von sich selber angefangen hat und immerfort anfängt und darin den Charakter ihres theonomen Gesetztseins widersprochen hat.“ (Axt-Piscalar, 4 f.; vgl. 294 ff.) Durch unmittelbare Setzung seiner selbst, in der es sich selbstverständlich nimmt, widersetzt sich das Ich seiner kreatürlichen Bestimmung und seinem Sichgegebensein durch Gott. Damit ist das peccatum originale gesetzt und die menschliche Freiheit verkehrt, was nach Schleiermacher durch keinen Hinweis auf ihre weltbezogene Endlichkeit zu entschuldigen ist. Der Sünder ist an seiner Sünde selbst schuld. Die Frage, ob ihre Wirklichkeit auch Gott selbst betrifft, liegt außerhalb der Reichweite des am gläubigen Selbstbewusstsein orientierten Ansatzes der Schleiermacher’schen Glaubenslehre. Erklärt man es für einen Mangel, dass sie die Realität der Sünde „nicht als wirklich für Gott auszusagen vermag“ (Axt-Piscalar, 293), dann wird man dieses tatsächliche oder vermeintliche Defizit auf ihren konzeptionellen Grundansatz zurückzuführen und nach anderen Theoriekonzeptionen Ausschau zu halten haben wie etwa nach derjenigen, die Schelling in seiner Freiheitsschrift entworfen hat. Im Unterschied zu Schleiermachers „Absage an die Lehre von der immanenten Trinität zugunsten der in sich differenzlosen Einheit des absoluten Grundes“ (ebd.), die in der Konsequenz des Schleiermacher’schen Ansatzes jedenfalls dann liegt, wenn man diesen theoretisch fasst, versucht Schelling vom Gedanken des in sich dreieinigen und so weltzugewandten Gottes aus „zu begründen, daß und wie Gott die relative Selbständigkeit des Geschöpfs und die damit verbundene Möglichkeit der Sünde als eines realen Gegensatzes gegen Gott zuläßt und weshalb er in seinem Verhältnis zur Welt dieser gerade nicht ‚unberührt‘ gegenübersteht“ (ebd.). Schleiermacher war an einer solchen Begründung nicht gelegen; er musste sie von seiner Konzeption her als spekulativ ablehnen.
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8. Möglichkeit und Wirklichkeit der Sünde nach Schellings Freiheitsschrift Lit.: Th. Buchheim, Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie, Hamburg 1992. – Th. Buchheim/F. Hermanni, „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunklen Grunde“. Schellings Philosophie der Personalität, Berlin 2004. – C. Daub, Judas Ischarioth oder das Böse in Verhältniß zum Guten, Heidelberg 1816/18. – M. Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), Frankfurt a. M. 1988 (Gesamtausgabe II. Abteilung: Vorlesungen 1919–1944. Bd. 42). – J. Hennigfeld, Friedrich Wilhelm Joseph Schellings „Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände“, Darmstadt 2001. – F. Hermanni u. a. (Hg.), „Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!“ Schellings Philosophie in der Sicht neuerer Forschung, Tübingen 2012. – H. Holz, Spekulation und Faktizität. Zum Freiheitsbegriff des mittleren und späteren Schelling, Bonn 1970. – Chr. Iber, Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip. Grundzüge der philosophischen Entwicklung Schellings mit einem Ausblick auf die nachidealistischen Philosophiekonzeptionen Heideggers und Adornos, Berlin/New York 1994. – W. Kasper, Das theologische Problem des Bösen, in: ders./K. Lehmann (Hg.), Teufel – Dämonen – Besessenheit. Zur Wirklichkeit des Bösen, Mainz 1978, 41–69. – F. O. Kile, Die theologischen Grundlagen von Schellings Philosophie der Freiheit, Leiden 1965. – P. Müller-Goldkuhle, Die Theologie der Sünde in der katholischen Dogmatik des 19. Jahrhunderts, Essen 1978. – R. Schanne, Sündenfall und Erbsünde in der Spekulativen Theologie. Die Weiterbildung der protestantischen Erbsündenlehre unter dem Einfluss der idealistischen Lehre vom Bösen, Frankfurt a. M. 1976. – F. W. J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Hg. v. Th. Buchheim, Hamburg 1997. – U. Schott, Daub, Karl (1765–1836), in: TRE 8,376–378. – W. Schulz, Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Pfullingen 1975. – R. Spaemann, Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne, Stuttgart 2007. – P. Tillich, Main Works/Hauptwerke. Vol./Bd. 1: Philosophical Writings. Philosophische Schriften. Ed. by/Hg. v. G. Wenz, Berlin/New York 1989. – G. Wenz, Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs, München 1979. – Ders. (Hg.), Das Böse und sein Grund. Zur Rezeptionsgeschichte von Schellings Freiheitsschrift 1809, München 2010. – Ders., Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung. Zum Streit Jacobis mit Schelling 1811/12, München 2011.
Der „Glaubensphilosoph“ Friedrich Heinrich Jacobi hatte die Schrift wahrscheinlich noch gar nicht gelesen, als er 1811/12 mit Schelling in einen heftigen Streit über die göttlichen Dinge und ihre Offenbarung geriet (vgl. Wenz, Von den göttlichen Dingen); wäre sie ihm bekannt gewesen, hätte er sein harsches Urteil über den angeblichen Atheismus und die vermeintlichen pantheistischen Heterodoxien seines Widersachers möglicherweise gemäßigt. Die Rede ist von den „Untersuchungen über das Wesen der menschliSchelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes
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Möglichkeit und Wirklichkeit der Sünde nach Schellings Freiheitsschrift
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chen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände“, die 1809 im Verbund mit früheren Werken als fünfte Abhandlung eines ersten Bandes von Philosophischen Schriften Schellings zum ersten Mal im Druck erschienen (vgl. Wenz [Hg.], 7 Anm. 1; ferner: Hennigfeld). Martin Heidegger hat die sog. Freiheitsschrift „Schellings größte Leistung“ (Heidegger, 3) und „eines der tiefsten Werke der deutschen und damit der abendländischen Philosophie“ (ebd.) genannt. Indem sie in sein Zentrum führe, treibe sie „den deutschen Idealismus von innen her über seine eigene Grundstellung hinaus“ (Heidegger, 6), um ihn zu einer „Selbstbescheidung“ (vgl. Buchheim) zu veranlassen, ohne die er reale Einsicht eher verschließe als erschließe. Schelling stehe so zugleich für Vollendung und Ende des Deutschen Idealismus (vgl. Schulz). Theologischerseits wurden entsprechende epochale Wertungen geltend gemacht, etwa von Paul Tillich in seinem Festvortrag „Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes“ aus Anlass einer Gedächtnisfeier zum 100. Todestag des Philosophen (vgl. Tillich, 391–402). „Unter Existentialismus“, so Tillich, „verstehe ich eine Philosophie, die auf die Existenz der Dinge, sofern sie im Widerstreit zu ihrem Wesen stehen, platonisch und christlich gesprochen, auf die Dinge in ihrem Abfall von sich selbst gerichtet sind.“ (Tillich, 393). Es sei insbesondere die Lehre vom Bösen und der Sünde gewesen, die Schelling von der sog. Essentialphilosophie habe Abstand nehmen lassen, wie sie in Hegels System ihren vollkommensten Ausdruck gefunden habe. In seiner theologischen Lizenziatendissertation „Mystik und Schuldbewusstsein in Schellings philosophischer Entwicklung“ von 1911/12 (vgl. Tillich, 21–112) hatte Tillich diese Einschätzung im Anschluss an seine philosophische Doktorarbeit über „Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien“ (1910) bereits im Einzelnen begründet und zugleich ein Zeugnis für die überragende Bedeutung gegeben, die Schellings Denken für sein eigenes gewinnen sollte (vgl. Wenz, Subjekt und Sein, 58 ff.). Vergleichbares ließe sich namentlich in hamartiologischer Hinsicht in Bezug auf Sören Kierkegaard (vgl. Wenz [Hg.], 91 ff.), den erweckungsbewegten Sündenmüller (vgl. Wenz [Hg.], 75 ff.) oder auch auf Karl Barth geltend machen. Auch die Sündentheologie in der katholischen Dogmatik des 19. Jahrhunderts (vgl. im Einzelnen Müller-Goldkuhle) wurde nachhaltig durch Schelling beeinflusst; seine hamartiologische Grundthese, wonach das Geschöpf sich im Tun des Bösen anmaßt, „die Möglichkeit, die Gott durch die Wirklichkeit der Schöpfung ausgeschlossen hat, zu entbinden, die Ordnung des Kosmos wieder aufzulösen und das Chaos zu entfesseln“ (Kasper, 54), begegnet beispielsweise bei F. A. Staudenmaier sowie anderen Vertretern der sog. Tübinger Schule und ist bis heute wirksam, wie etwa W. Kaspers Beiträge zum theologischen Problem des Bösen belegen. Selbst wo man über die „Christlichkeit“ des Deutschen Idealismus und der an ihn anschließenden spekulativen Theologie katholischerseits zurückhaltend bis ablehnend urteilte, wurde Schelling und seiner „Metaphysik des Bösen“ ein Sonderstatus zuerkannt (vgl. etwa Schanne, 98 ff.).
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Unter den neuzeitlichen Werken zur Sündenlehre nehmen Schellings „Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände“, die im Folgenden ohne weitere Angaben nach der von Th. Buchheim besorgten Neuedition zitiert werden, die Stellung eines Klassikers ein. Sie entwickeln Argumentationsfiguren von mustergültiger Bedeutung, auf die spätere Beiträge zum Thema wiederholt zurückgreifen. Den eigentlichen Untersuchungen (29,20–87,29), deren Gang nach des Autors eigenem Bekunden „gesprächsweise“ erfolgt, obwohl „die äußere Form des Gesprächs fehlt“ (81,34 f.), geht eine Einleitung (9,1–29,19) voran, in der es um allgemeine Begriffserklärungen und insbesondere um die Berichtigung des üblichen Pantheismusbegriffs sowie um eine vorläufige Bestimmung des in Anschlag gebrachten Begriffs der Freiheit zu tun ist. Die Abhandlung selbst setzt mit einer Deduktion der sie fundierenden Grundunterscheidung ein (29,20–34,27), die das Andere der Vernunft in einen Prinzipienstatus einrückt (vgl. Iber), um auf diese Weise Spekulation und Faktizität (Holz) verbinden zu können. Es handelt sich um die Unterscheidung „zwischen dem Wesen, sofern es existiert, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist“ (29,36–30,1). Auf der Basis dieser Prinzipiendifferenz, die in Gott zwar ewig behoben, unter den Bedingungen kreatürlicher Gottunterschiedenheit aber problemhaltig ist, werden in einem ersten Argumentationsgang Begriff und Möglichkeit des Bösen entwickelt (34,28–45,7). Da die Möglichkeit des Bösen dessen Wirklichkeit keineswegs notwendig einschließt, ist in einem weiteren Argumentationsgang nach dem Grund der Faktizität des Verkehrten in der Schöpfung zu fragen (45,8–66,4). Dabei geht es Schelling sowohl darum, wie das Böse im einzelnen Menschen wirklich wurde, als auch um die universale Wirksamkeit des Bösen als eines unverkennbar allgemeinen Prinzips der gegebenen Wirklichkeit. Obgleich das Böse in der in Erfahrung zu bringenden Wirklichkeit nach Schelling unverkennbar allgemein und auf universale Weise wirksam ist, bleibt es doch unbeschadet dessen stets in die ureigene Wahl des Menschen gestellt. Sein verkehrter Wille ist der tiefste Grund bzw. Abgrund der Faktizität des Unwesens, welches das Böse treibt. Um dies zu erfassen, bedarf es einer genauen Analyse der menschlichen Freiheit hinsichtlich ihres formellen und realen Wesens (vgl. 54,5 ff.). Nachdem unter besonderer Berücksichtigung des Wesens der menschlichen Freiheit die „Entstehung des Gegensatzes von Gut und Böse“ (66,5) und die Frage verhandelt wurde, „wie beides in der Schöpfung durcheinander wirkt“ (66,5 f.), wendet sich Schelling abschließend dem Problem der Freiheit Gottes (66,5–75,10) und des Zieles göttlicher Selbstoffenbarung zu (75,11–87,29). Erfolgt das Handeln Gottes mit blinder und bewusstloser Notwendigkeit oder in Form freier und bewusster Tat? Und wenn Letzteres der Fall ist, wie verhält sich die anzunehmende Sittlichkeit Gottes zur Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen in seiner Schöpfung? Mit dieser Frage verbindet sich unmittelbar das Problem, wie sich göttliche und menschliche Freiheit zueinander verhalten, ohne dessen Lösung das Ziel der Selbstoffenbarung Gottes in der Manifestation der Alleinheit reiner Liebe verborgen bleiben müsste, durch welche das Böse ein freiheitsgemäßes Ende findet.
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Von fundamentaler Relevanz für die Gesamtargumentation von Schellings Freiheitsschrift ist die Natur in Gott naturphilosophisch eingeführte Unterscheidung zwischen Existierendem und demjenigen, was Grund von Existenz ist, die Schelling sogleich in dezidiert theologischer Absicht geltend macht (vgl. Kile). Der Grund seiner Existenz liegt zwar in keiner Weise außer, sondern ganz in Gott und ist von seiner Gottheit vollkommen umgriffen. Gleichwohl sei, wenn Gott personal gedacht werden solle (vgl. Buchheim/Hermanni), der göttliche Existenzgrund vom existierenden Gott nicht nur begrifflich, sondern real zu unterscheiden und zwar als Natur in Gott, die gerade in ihrer Indifferenz vom göttlichen Wesen differiert, ohne deshalb einen Gegensatz in Gott zu begründen. Jenseits des absoluten Seins der absoluten Identität Gottes gelegen, geht die Natur in Gott als ein von ihm zu Unterscheidendes, wenngleich nicht zu Trennendes seiner Existenz voraus, ohne dass es sich dabei um ein Vorgehen gemäß der Zeit oder um eine ontologische Priorität handeln würde (vgl. 31,2 f.). „In dem Zirkel, daraus alles wird, ist es“, wie Schelling konstatiert, „kein Widerspruch, daß das, wodurch das Eine erzeugt wird, selbst wieder von ihm gezeugt werde. Es ist hier kein Erstes und kein Letztes, weil alles sich gegenseitig voraussetzt, keins das andere und doch nicht ohne das andere ist. Gott hat in sich einen innern Grund seiner Existenz, der insofern ihm als Existierenden vorangeht: aber ebenso ist Gott wieder das Prius des Grundes, indem der Grund, auch als solcher, nicht sein könnte, wenn Gott nicht actu existierte.“ (31,3–11) Im Unterschied zu Gott, der als die absolute Einheit von Existierendem und Grund seines Existierens vollendet ist in sich selbst und daher weder Anfang noch Ende hat, ist die Kreatur im Werden begriffen und nur als eine im Werden begriffene zu begreifen. Obwohl der Grund ihres Werdens nicht außerhalb Gottes liegen kann, können die Kreaturen naturgemäß „nicht werden in Gott, absolut betrachtet, indem sie toto genere, oder richtiger zu reden, unendlich von ihm verschieden sind“ (31,17–19). Es liegt, wenn man so will, in der Natur der Sache, dass das Sein der im Werden begriffenen Dinge der Natur sowohl in Gott als auch in einem von ihm unterschiedenen Grund begründet sein müssen. „Um von Gott geschieden zu sein, müssen sie in einem von ihm verschiedenen Grunde werden. Da aber doch nichts außer Gott sein kann, so ist dieser Widerspruch nur dadurch aufzulösen, daß die Dinge ihren Grund in dem haben, was in Gott selbst nicht Er Selbst ist, d. h. in dem, was Grund seiner Existenz ist.“ (31,19–24). Während Gott als von Ewigkeit Existierender die Voraussetzung des Grundes ist, in dem er gründet, und als die untrennbare Einheit von Grund und Begründetem absolut ist in und durch sich selbst, ist der göttliche Grund der gottunterschiedenen Kreatur in ihr als ein vom existierenden Gott verschiedener wirksam mit der Folge, dass das Sein der Kreatur äußerlich im Werden ist. Mit der Kreatur ist Zeit und Zeitlichkeit als Wesen der Kreatur gesetzt dergestalt, dass das kreatürliche Gründen im Ewigen den Charakter eines Anfänglichen annimmt, dessen Bestimmung es ist, nicht unmittelbar vollkommen in sich, sondern mittelbar auf
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künftige Vollkommenheit hingeordnet zu sein, ohne dass die Zukünftigkeit künftiger Vollkommenheit notwendig als ein bloß Ausständiges gedacht werden müsste, wodurch die Annahme vollendeter Schöpfungsgüte protologischen Schaden nehmen würde. Die Gestalt eines bloß Ausständigen, so wird man unterstellen dürfen, nimmt die Zukunft, zu der die Kreatur bestimmt ist, erst unter der Bedingung ihrer faktischen Verkehrung an, deren Vollzug die kreatürliche Bestimmung fortschreitend dahingehend deformiert, dass Werden im Vergehen und Vergehen in schuldhaftem Untergang zu enden droht. Die theologischen, kosmologischen und anthropologischen Implikationen seiner Lehre von der in Gottes Gottheit ewig und vollkommen aufgehobenen, in der kreatürlichen Welt und im gottunterschiedenen Menschen aber zeitlich virulenten Realdifferenz von Existierendem und Grund seines Existierens illustriert Schelling am Beispiel der Sehnsucht, die, in Gott immer schon und stetig erfüllt, in der Menschenwelt erst allmählich und in der zu durchschreitenden Sequenz von triebhaftem Drang, ahnendem Suchen und bewusstem Wollen etc. ihrem Erfüllungsziel entgegenzugehen bestimmt ist. Darauf ist hier nicht weiter Bezug zu nehmen (vgl. Wenz [Hg.], 11 ff.). Zu reflektieren ist vielmehr sogleich auf die Versuchung zum Bösen und zur Sünde, wie sie im anfänglich unerfüllten Sehnsuchtsstreben der gottunterschiedenen Kreaturen und des Menschengeschöpfs zumindest der Möglichkeit nach angelegt ist. Während die seinem Existenzgrund zuzurechnende Sehnsuchtsnatur Gottes, die den Urantrieb all seines innergöttlichen und außergöttlichen Schaffens repräsentiert, in seiner existierenden Gottheit von vollkommen ausgebildeter Geistigkeit umfasst wird, ermöglicht das sehnsüchtige Streben der ursprünglich im Grund der Existenz Gottes gründenden Schöpfung ein Abweichen von ihrer göttlichen Bestimmung, ohne die Tatsächlichkeit dieses Abweichens zu erzwingen. Von einer kreatürlichen Notwendigkeit des Bösen und von einem Zwang zu sündigen kann nach Schelling nicht die Rede sein. Die menschliche Sünde ist unerzwungener Entschluss zur Selbstverkehrung von Freiheit – durch die geschöpfliche Verfassung des Menschen als Möglichkeit zwar nicht ausgeschlossen, in ihrer faktischen Tatsächlichkeit aber keineswegs vorgesehen, sondern als ganz und gar abwegig zu beurteilen. Gottes Gottheit gründet in unergründlicher Weise in sich. Auf die Unergründlichkeit des Grundes, in dem Gottes Gottheit gründet, ist Schellings Rede vom göttlichen „Ungrund“ (78,6) bezogen, welche die „absolute Indifferenz“ (78,9 f.) jenes allem Begreifen zuvorkommenden Seins benennt, das den Unterschied von Existenzgrund und Existieren dem identifizierenden Begreifen theologisch entzieht, damit Gott in seiner den besagten Unterschied in sich fassenden Gottheit als jene geistige Vollkommenheit und absolute Freiheit wahrgenommen werden kann, als welche er sich in unvordenklicher Weise in seiner und für seine Schöpfung zu offenbaren gewillt ist und tatsächlich offenbart – und zwar so, dass dabei das Menschengeschöpf in seiner eigenen Freiheit geachtet wird, zu deren Realisierung es im Weltenlauf bestimmt ist. Auf diesen komplexen Zusammenhang ist die schöpfungstheologische Grundannahme Schellings ausgerichtet, derzufolge die
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Kreatur zwar in Gott, aber in demjenigen in Gott ihren Grund findet, was in ihm selbst nicht unmittelbar „Er Selbst“ (31,23) ist, nämlich sein von seinem Existieren zu unterscheidender, wenngleich nicht zu trennender Existenzgrund. In Gottes Gottheit sind Existenzgrund und Möglichkeit und Existieren in göttlicher Vollkommenheit eins und Wirklichkeit des Bösen unzertrennlich. Im Menschen als dem vollentwickelten Geschöpf, auf das Gottes Schöpfungsplan gemäß die Naturgeschichte angelegt ist, sind hingegen beide aus Gründen menschlicher Gottunterschiedenheit sowie um der Freiheit des Verhältnisses Gottes und des Menschen willen zertrennlich. Mit dieser Zertrennlichkeit von Existenzgrund und Existieren im Menschen ist nach Schelling die Möglichkeit des Bösen gesetzt (vgl. 36,21 ff.). Als Geistgeschöpf ist der Mensch dazu bestimmt, ein gottunterschiedenes Wesen von eigentümlicher, auch eigenwilliger Selbstheit, kurzum: eine selbsttätig wirkende Persönlichkeit zu werden und zu sein, welche die der extrahumanen Kreatur gesetzten Schranken einschließlich der Grenzen ihrer bloßen Körperlichkeit zu transzendieren vermag, um in exzentrischer Weltoffenheit ihr Leben zu führen und sich in die überkreatürliche Sphäre des Geistes zu erheben. Persönliche Selbstwerdung im bezeichneten pneumatisch-geistigen Sinne ist Realisierung der geschöpflichen Bestimmung des Menschen und keineswegs eo ipso deren Verfehlung, die generell nur als Möglichkeit, nicht aber in ihrer Tatsächlichkeit, deren Faktizität stets als Selbstverfehlung zu beurteilen ist, in der kreatürlichen Verfassung des Menschen angelegt ist. Wirklichkeit wird die kreatürliche Möglichkeit des Bösen erst, wenn der Mensch seine persönliche Selbstheit solipsistisch und in Form eines eigensinnigen Partikularwillens zu verwirklichen bestrebt ist, der sich vom göttlichen Schöpfergeist trennt und vom pneumatischen, die Schöpfung durchwaltenden Universalwillen absondert, um eine privatistische Separatexistenz für sich zu reklamieren, die Selbstbestimmung in Form unmittelbarer Selbstdurchsetzung erstrebt. Zu solch in sich verkehrter Selbstverwirklichung ist der Mensch weder durch seine eigene Geschöpflichkeit noch durch sonstige kreatürliche Umstände gezwungen. Sie stellt nach Schelling keine Notwendigkeit dar, wenngleich sie aufgrund der Zertrennlichkeit der die Schöpfung bestimmenden Prinzipien menschenmöglich ist. Das Menschengeschöpf muss und soll nicht, aber es kann böse sein und zwar auf eine abgründig boshafte Weise, die alles Übel, was in der extrahumanen Kreatur vorkommt, vermöge der geistigen Möglichkeiten des Menschen bodenlos unterbietet. Das „Vermögen“ zu grundverkehrter und grundstürzender Bosheit eignet unter allen Geschöpfen nur dem Menschen. Zwar kommt die Möglichkeit des Bösen schon in der extrahumanen Kreatur zum Vorschein. Aber ihr vitalistisches Streben nach Eigenheit und Erhaltung des Eigenen ist mechanisch, triebhaft oder ähnlich gesteuert und damit auch und gerade in seiner destruktiven Potenz gleichsam wie von selbst eingebunden in ein universales Ganzes. Nicht dass Schelling das Phänomen kreatürlicher Übel leugnen würde: Aber der durch es erzeugte Schatten gilt
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ihm lediglich als ein Indiz noch nicht behobener, aber tendenziell zu behebender Dunkelheit, welche die Schöpfung anfänglich umgibt, bis die Umnachtung durch das Licht des Geistes erleuchtet wird. Wo dieses erstrahlt, hört das kreatürliche Übel zwar nicht einfachhin auf zu sein; aber es verliert seine sinndestruktive Drohwirkung. Es ist die geschöpfliche Aufgabe des Menschen, kreatürliche Übel zu beheben, soweit ihm dies möglich ist, und sich im Falle gegebener Unbehebbarkeit in jener Gelassenheit zu üben, die sein lässt, was prinzipiell nicht zu ändern ist, statt sich durch das äußere Differenzfaktum unbehebbarer Kontingenz und die dadurch bedingten Zu- und Unfälle grundsätzlich beirren oder betrüben zu lassen. Einen wirklichen Grund für die Bosheit des Menschen, der deren Faktizität entschuldigen könnte, bieten die kreatürlichen Übel nach Schelling nicht. In der Kreatürlichkeit des Menschengeschöpfs ist nur die Möglichkeit, nicht aber die faktische Notwendigkeit des Bösen angelegt. Die Wirklichkeit des Bösen ist menschliche Schuld, verschuldet durch den prinzipiell über alles bloß Natürliche erhabenen Eigenwillen des Menschen, der in der Kraft seines geistigen Vermögens sich dazu bestimmt, nicht nur geistloser, sondern geistwidriger Böswillen zu sein. Böswillen nennt Schelling jenen geistbegabten Willen, der in seiner Besonderheit das Allgemeine vermittlungslos für sich reklamiert und alles, was er nicht unmittelbar selbst ist, zu negieren trachtet, sei es durch hybride Zerstörungswut (Selbstdestruktion inklusive), sei es durch sinnwidrige Lähmung aller geistigen Aktivitäten. Beides wird im Falle willentlicher Bosheit unter Aufbietung aller selbstverkehrten geistigen Kräfte zum höchstmöglichen Schaden aller erstrebt. Dem Zeitalter des manifesten Bösen, sagt Schelling (vgl. 50,18), geht eine Zeit träumender Unschuld voran, die in Bezug auf das Böse noch weithin bewusstlos ist. Gleichwohl lassen sich bereits un- bzw. unterbewusste Regungen erkennen, die auf das kommende Unheil des Bösen vorausdeuten und ihren Teil zu seiner Verwirklichung beitragen, ohne seine Faktizität recht eigentlich zu verschulden. Solche natürlichen Regungen triebhafter Art machen zwar nicht den Fall der Sünde verständlich, lassen aber doch einen Hang des Menschen erkennen, wider besseres Wissen willentlich das Böse zu tun. Ein entscheidendes Motiv hierzu ist nach Schelling die „Angst des Lebens“ (53,25), aus deren Nichtigkeitsgefühl heraus der Sprung ins Böse erfolgen kann. Der Mensch ist kreatürlich dazu bestimmt, ein vollentwickeltes personiertes Selbst zu sein und seinen Eigenwillen verständig mit dem Allgemeinen zu vermitteln, statt ihn unmittelbar mit diesem gleichzusetzen und so seine Geistbegabung in grundverkehrter Weise zu missbrauchen. Im Vollzug seiner kreatürlichen Bestimmung wird der Mensch danach streben, den Naturgrund seines Existierens in eine Existenzweise aufzuheben, die den solipsistischen Trieb, der allem Natürlichen innewohnt, zu einer personalen Selbstheit transformiert, in der sich Besonderheit und Allgemeinheit, Eigenwille und Universalwille auf differenzierte Weise vereinen, wie es dem Wesen des Geistes entspricht. Geistwidrig hingegen und gegen seine kreatürliche Bestimmung gerichtet ist es, wenn der Mensch als das freie Selbst, das zu sein er bestimmt ist, sich in sich verkehrt und danach strebt, das Verhältnis der Prinzipien von natürlichem Existenz-
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grund und vernünftigem Existieren umzukehren mit dem Ziel, den Urgrund triebhaften Sehnens zur Vernunft zu verklären und die Vernunft in den ausschließlichen Dienst der Eigennatur zu stellen, welche den Status vernünftiger Allgemeinheit unmittelbar für ihre Partikularität reklamiert. Mit der Verkehrung des Verhältnisses der Fundamentalprinzipien von Existenzgrund und Existieren ist das Böse im und durch den Menschen gesetzt mit der üblen Konsequenz absonderlicher Deformationsprozesse menschlichen Lebens, deren Verlauf sich nach Schelling am treffendsten mit Krankheiten vergleichen lässt, die zum Tode führen. Insofern sein Unwesen in der aktualen Umkehrung der metaphysischen Basisprinzipien besteht, ist das Böse keineswegs nur eine Mangelerscheinung und ein defizitäres Phänomen, in der sich lediglich die Unvollkommenheit der Kreatur zum Ausdruck bringt. Es beruht vielmehr auf positiver Verkehrtheit. Weit davon entfernt, etwas bloß Passives, in Privation und Limitation Aufgehendes zu sein, treibt das Böse sein Unwesen vielmehr positiv und unter Einsatz aller sinnlichen und geistigen Kräfte. Nach Schelling zeigt „schon die einfache Überlegung, daß es der Mensch, die vollkommenste aller sichtbaren Kreaturen ist, der des Bösen allein fähig ist, . . . daß der Grund desselben keineswegs in Mangel oder Beraubung liegen könne. Der Teufel nach der christlichen Ansicht war nicht die limitierteste Kreatur, sondern vielmehr die illimitierteste. Unvollkommenheit im allgemeinen metaphysischen Sinn ist nicht der gewöhnliche Charakter des Bösen, da es sich oft mit einer Vortrefflichkeit der einzelnen Kräfte vereinigt zeigt, die viel seltener das Gute begleitet. Der Grund des Bösen muß also nicht nur in etwas Positivem überhaupt, sondern eher in dem höchsten Positiven liegen, das die Natur enthält, wie es nach unserer Ansicht allerdings der Fall ist, da er in dem offenbar gewordenen Centrum oder Urwillen des ersten Grundes liegt.“ (40,27–41,8) Die Bosheit des Bösen gründet in abgründiger Sinnwidrige SelbstverfalWeise in der positiven Verkehrtheit selbstverfallelenheit ner Freiheit, die ihre geistige Bestimmung durch unmittelbare Setzung ihrer selbst eodem actu wirkt und verwirkt. Auf einen Mangel lässt sich die in sich widrige Positivität des Bösen nicht reduzieren; denn die Affirmation und bejahende Setzung des Verkehrten, die sein Unwesen ausmacht, lässt sich auf der Grundlage eines bloß verneinenden Begriffs kreatürlicher Unvollkommenheit nicht erfassen. Der Begriff der Unvollkommenheit mag als Bezeichnung der endlichen Verfassung der Kreatur hingehen, auch wenn zu fragen bleibt, wie er sich präzise zur Annahme vollkommener Schöpfungsgüte verhält. In jedem Fall aber ist nach Schellings Urteil in Abrede zu stellen, „daß die Endlichkeit für sich selbst das Böse sei“ (42,16). Sie ist mit der Gottunterschiedenheit der Schöpfung gegeben und kann durchaus als Vollendungsdatum gedacht werden. Grund des Bösen jedenfalls ist sie nicht. Denn dieses „kommt nicht aus der Endlichkeit an sich, sondern aus der zum Selbstsein erhobenen Endlichkeit“ (42,35 f.; Anm. 20), aus dem homo incurvatus in seipsum. Als seiner Freiheit zurechenbar ist das Böse samt aller Untaten, die es begleiten,
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alleinige Schuld des Menschen und durch nichts zu entschuldigen. Es darf daher auch keinen sinnvollen Begriff für die Wirklichkeit des Bösen geben. Seine Faktizität ist von unbegreiflicher Sinnwidrigkeit. Dennoch kann nach den Beweggründen gefragt werden, durch die sich der Mensch zur Verwirklichung des Bösen, also dazu motivieren lässt, von seinem geistigen Vermögen, welches die bloße Möglichkeit zum Bösen enthält, einen derart verkehrten Gebrauch zu machen, dass er die Faktizität des Bösen seiner Bestimmung zuwider, wider besseres Wissen, ja im Bewusstsein nicht nur allgemein destruktiver, sondern selbstdestruktiver Folgen wissent- und willentlich setzt und zur schuldhaften Tatsache macht. Die Motivation zur Verwirklichung des Bösen ergibt sich nach Schelling aus einem komplexen Durcheinander diverser Beweggründe, deren Einheit nur dann erfasst werden kann, wenn man sie auf den Naturgrund menschlichen Existierens zurückführt, der in der gottunterschiedenen Existenz des Endlichen als potentielle Verlockung wirksam ist, die zum Bösen anstachelt. Zwar ist die vom Naturgrund menschlichen Existierens ausgehende Verlockung zum Bösen nicht in der Lage, dessen Verwirklichung faktisch zu erzwingen. Der Mensch ist im Gegenteil seinem geistigen Wesen nach dazu bestimmt, der in ihm wirksamen Triebnatur zu widerstreiten, wozu er nach Schelling auch das grundsätzliche Vermögen hat. Mehr als die menschliche Möglichkeit zum Bösen kann daher auch der Verweis auf jenen universellen Trieb nicht begründen, wie er in Gestalt etwa des Dranges zur physischen Selbsterhaltung in der gesamten Kreatur einschließlich der Menschheit wirksam ist. Eine förmliche Deduktion der Faktizität des Bösen, die allein auf selbsttätige Freiheit des Menschen zurückzuführen ist, kann und soll er nach Schelling nicht leisten. Doch markiert der Hinweis den Umkreis des Bösen und den Motivationszusammenhang, durch welchen sich der Mensch dazu verleiten lässt, das Verkehrte zu wählen und in einer Tat grundverkehrter Freiheit ins Werk zu setzen. Schellings hamartiologische Sollizitationstheorie gehört in diesen Kontext. Das aus dem Lateinischen entlehnte Wort SolliziSollizitationstheorie tation bedeutet Beunruhigung, dann Aufwühlung, Aufreizung, Aufwiegelung, Aufhetzung, auch Lockung und Verführung. Gemäß diesen Bestimmungen ist der Naturgrund des Existierens, der in Gottes Existenz ewig aufgehoben ist, in der gottunterschiedenen Kreatur wirksam. Während die Sollizitation zum Bösen in der extrahumanen Kreatur eingebunden bleibt in allgemeine kosmische Regeln etwa physikalischer Gesetze, chemischer Reaktionsverläufe oder organischer Triebprozesse, ist ihr höchster, nicht mehr steigerungsfähige, alle Grenzen der Messbarkeit übersteigende und darin unvergleichliche Grad im Menschen als dem vollpersonierten Selbst erreicht. Im Menschen nimmt der Reiz zum Bösen gewissermaßen durchgeistigte Form und damit die Gestalt einer diabolischen Verführung an. Aber auch die teuflisch zugesteigerte Sollizitation zum Bösen, wie sie im Menschen wirksam ist, führt als solche nicht notwendig über die – freilich höchst realistische – Möglichkeit zum Bösen hinaus.
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Zur faktischen Wirklichkeit wird das Böse erst mittels eines nicht deduzierbaren Entschlusses freier Tat. Diese Tat kann zwanghaft genannt werden, und sie ist es auch – aber nicht in der Weise einer necessitas coactionis, sondern in der Weise jener Fatalität, die im selbstverkehrten Freiheitsakt des Bösen selbst begründet liegt. Das Böse ist an sich selbst schuld und daher trotz, ja gerade in seiner Fatalität unentschuldbar. In seinem sündigen Entschluss zum Bösen nimmt sich der Mensch die Freiheit, diese auf sinn- und bestimmungswidrige Weise in sich zu verkehren. Die förmliche Möglichkeit zu dieser Verkehrung wird dem Menschen von seinem Schöpfergott zugebilligt, weil der schöpferische Wille Gottes auf ein selbständiges und seine Selbständigkeit realisierendes Anderes zielt. Doch heißt dies nicht, dass Gott die Sünde des Menschen billigend in Kauf nimmt, affirmiert oder hintergründig gar selbst verursacht. Zwar schließt Gott die Möglichkeit der Sünde nicht aus; aber ihre faktische Tatsächlichkeit ist ihm gründlich zuwider und zwar nicht zuletzt deshalb, weil durch den förmlichen Entschluss zum Bösen die schöpfungsgemäße Realisierung menschlicher Freiheit unmöglich gemacht wird. Freiheit ist nach Schelling das höchste Prinzip der Philosophie und die Grundlage aller Erkenntnis (vgl. F. Hermanni u. a. [Hg.]); sie ist konkret nur in einer Weise zu erfassen, die nicht allein über den Gegensatz von Indeterminismus und Determinismus, sondern auch über denjenigen von Idealismus und Realismus hinausführt. Frei im eigentlichen Sinne nennt Schelling, „was nur den Gesetzen seines eigenen Wesens gemäß handelt und von nichts anderem weder in noch außer ihm bestimmt wird“ (56,23–25). Der Begriff der Freiheit als tätiger Selbstbestimmung des eigenen Wesens wird scharf vom „gewöhnliche(n) Begriff“ (54,9) abgegrenzt, nach welchem die Freiheit „in ein völlig unbestimmtes Vermögen gesetzt wird, von zwei kontradiktorisch Entgegengesetzten, ohne bestimmende Gründe, das eine oder das andere zu wollen, schlechthin bloß, weil es gewollt wird“ (54,10–13). Indem er sie mit Unentschiedenheit gleichsetze und ihrem Wählen einen arbiträren Willen zugrundelege, dessen Wesen in nichts als in Willkür und Beliebigkeit bestehe, bestimme der Begriff der Indifferenzfreiheit die Freiheit nach einem bloßen Zufallsprinzip. Freie Handlungen könnten danach am ehesten mit kontingenten Abweichungen der Atome verglichen werden, die man seit alters in der Absicht ersann, dem Fatum eines Determinismus zu entgehen, der nach Schelling nichts anderes ist als das zwangsläufige, in seiner Folgerichtigkeit überlegene Gegenstück des Indeterminismus. Dem nach Maßgabe des Indeterminismus bestimmten Begriff der Freiheit als Indifferenz korrespondiert mit einer Zwangsläufigkeit, die in ihm selbst begründet liegt, seine deterministische Bestreitung. Erst durch die Überwindung der Alternative von Indeterminismus und Determinismus, wie der Idealismus sie vollzogen habe, sei die Lehre von der Freiheit „in dasjenige Gebiet erhoben (worden), wo sie allein verständlich ist“ (55,24). Danach habe Freiheit als „eine innere, aus dem Wesen des Handelnden selbst quellende Notwendigkeit“ (55,17 f.) zu gelten, die von Zufall und Bestimmtwerden durch äußeren Zwang gleich weit entfernt sei.
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Freiheit im idealistischen Sinn ist nach Schelling ein ursprünglicher Vollzug spontanen Beginnens, der aus nichts anderem als aus sich selbst hergeleitet werden kann und unmittelbar aus jenem intelligiblen Wesen folgt, das als absolute Einheit dem Begriff nach allen Einzelhandlungen und Verursachungszusammenhängen vorhergeht. Die freie Tat hat ihre Ursache in nichts Äußerem, Verkehrung der Freiheit sondern gründet ursprünglich in sich und in der durch unmittelbare Notwendigkeit des eigenen Wesens. Indes gehört Selbstbestimmung es nach Schelling zum Wesen der intelligiblen Tat der Freiheit, unbeschadet ihrer absoluten Unbestimmtheit durch externe Faktoren eine bestimmte Handlung zu sein. Formelle Freiheit ist notwendig reale Freiheit und damit Freiheit der Entscheidung von gut und böse. Wo dies verkannt werde, nehme der idealistische Freiheitsbegriff eine abstrakt ideelle, unrealistische Form an, und die Differenz von formeller und realer Freiheit und mit ihr die Abstraktheit des jeweiligen Begriffs werde sistiert. Eine realidealistische Theorie müsse Freiheit deshalb als eine Selbstbestimmung bestimmen, die sich, indem sie sich selbst bestimme, einem grundsätzlichen Entweder-Oder aussetze, sofern sie sich entweder als wesentlich böse, nämlich in Form unmittelbarer Selbstdurchsetzung, oder als auf universale Vermittlung ausgerichtet und damit als gut setze. Dass sich die Freiheit im Vollzug ursprünglicher Tathandlung der Grunddifferenz von gut und böse aussetzt, liegt nach Schelling in ihrem Wesensgesetz begründet und muss damit als eine ihrer tätigen Selbstsetzung nicht äußerliche, sondern unveräußerlich zugehörige interne Voraussetzung gelten. Mit der Ursprungssetzung ist, wenn man so will, eine grundsätzliche Wesensdifferenz gleichursprünglich mitgesetzt, da selbsttätige Freiheit unbeschadet ihres spontanen Beginnens notwendig eine durch den Unterschied von gut und böse innerlich bestimmte Tathandlung ist. Als sich selbst bestimmend ist die ursprüngliche Tathandlung immer schon eine bestimmte. In diesem Zusammenhang kausale Abhängigkeiten einzuführen und in genetischer Absicht Ursache-Wirkungs-Verhältnisse zu konstruieren, muss nach Schelling in die Irre führen. Wie aus der absoluten Indifferenz des göttlichen Ur- bzw. Ungrunds die Zweiheit von Naturgrund und Existieren in Gott in unvordenklicher und gleichursprünglicher Weise hervorgeht, so ist der intelligible Freiheitsvollzug immer schon durch das Entweder-Oder von Gut und Böse bestimmt und entweder ungezwungener Entscheid für das in sich Verkehrte oder rechte Selbstbestimmung. Auf einen Irrtum muss Schelling zufolge der Versuch hinauslaufen, besagten Freiheitsentscheid dezisionistisch zu fassen, um auf diese Weise eine Genetisierung der Differenz idealer und realer Freiheit bzw. des Übergangs vom absolut Unbestimmten zum Bestimmten in ihr zustande zu bringen. Einen solchen Übergang gibt es nach Schelling nicht. Vielmehr führt die Annahme, „(d)aß etwa das intelligible Wesen aus purer lauterer Unbestimmtheit heraus ohne allen Grund sich selbst bestimmen sollte“ (56,4–6), nach seinem Urteil schnurstracks in das bereits abgewiesene System der Indifferenzfreiheit zurück, welche das Wesen der Freiheit als gleichgültige
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Willkür reiner Beliebigkeit fasst und damit von innen heraus destruiert, was durch die deterministische Gegenthese nur noch äußerlich bestätigt werde. Hält man fest, dass die Freiheit den Gegensatz von Indeterminismus und Determinismus transzendiert und eine aus dem intelligiblen Wesen des Ich hervorgehende Notwendigkeit ist, dann kann auch der Entscheid bezüglich der Alternative von Gut und Böse nicht durch Rekurs auf arbiträre Willkür, sondern nur mit Verweis auf freie Wesensnotwendigkeit erklärt werden. Es liegt im Wesen der Freiheit, ihre eigene Bestimmung zu sein. „Das intelligible Wesen kann daher, so gewiß es schlechthin frei und absolut handelt, so gewiß nur seiner eignen innern Natur gemäß handeln, oder die Handlung kann aus seinem Innern nur nach dem Gesetz der Identität und mit absoluter Notwendigkeit folgen, welche allein auch die absolute Freiheit ist: denn frei ist“, um den entscheidenden Grundsatz zu wiederholen, „was nur den Gesetzen seines eigenen Wesens gemäß handelt und von nichts anderem weder in noch außer ihm bestimmt ist.“ (56,17–25) Freiheit ist ihrem Wesen nach mit innerer Notwendigkeit untrennbar vereint. „Notwendigkeit und Freiheit stehen in einander, als Ein Wesen, das nur von verschiedenen Seiten betrachtet als das eine oder andere erscheint; an sich Freiheit, formell Notwendigkeit ist. Das Ich, sagt Fichte, ist seine eigne Tat; Bewußtsein ist Selbstsetzen – aber das Ich ist nichts von diesem verschiedenes, sondern eben das Selbstsetzen selber. Dieses Bewußtsein aber, inwiefern es bloß als Selbst-Erfassen oder Erkennen des Ich gedacht wird, ist nicht einmal das erste, und setzt wie alles bloße Erkennen das eigentliche Sein schon voraus. Dieses vor dem Erkennen vermutete Sein ist aber kein Sein, wenn es gleich kein Erkennen ist; es ist reales Selbstsetzen, es ist ein Urund Grundwollen, das sich selbst zu Etwas macht und der Grund und die Basis aller Wesenheit ist.“ (57,5–17) In konkretem Bezug auf den Menschen heißt dies, dass sein Wesen wesentlich seine eigene Tat ist, die allerdings nicht bloß formell als ein ideelles, sondern gleichermaßen als reales Selbstsetzen zu fassen ist. Durch eine ihrer Natur nach transempirische Vom Wesen ursprünglicher Ursprungshandlung der Freiheit setzt sich der Tathandlung Mensch nach Schelling als derjenige, der er seinem Wesen nach und damit notwendigerweise ist. Diese ursprüngliche Tathandlung fällt nicht in die empirische Lebenszeit des Menschen, geht ihr aber auch nicht temporal voran, sondern wirkt unergriffen von der Zeit durch sie hindurch. Wie die mythische Prähistorie gründender Urzeit alle Geschichte durchwaltet, so durchwirkt die freie Ursprungstat in ihrer Wesensnotwendigkeit, welche die idealreale Ichheit seines Ich ausmacht, das ganze Leben des Menschen. „Durch sie reicht das Leben des Menschen bis an den Anfang der Schöpfung; daher er durch sie auch außer dem Erschaffenen, frei und selbst ewiger Anfang ist. So unfaßlich diese Idee der gemeinen Denkweise vorkommen mag, so ist doch in jedem Menschen ein mit derselben übereinstimmendes Gefühl, als sei er, was er ist, von aller Ewigkeit schon gewesen und keineswegs in der Zeit erst geworden.“ (57,32–58,2) Weil Freiheit das menschliche Wesen und mit diesem notwendig eins ist, gehen Güte und Bosheit eines Menschen ebenso wenig in empirisch in Erfahrung zu
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bringenden Einzelhandlungen oder in ihrer Summe auf wie sie sich auf willkürliche Entschlüsse zurückführen lassen. Sie verweisen vielmehr auf eine intelligible und gleichwohl höchst reale ursprüngliche Tat der Selbstentschiedenheit, die aller Erfahrung vorausliegt, ohne einfachhin unbewusst zu sein. Denn ein einfacher Satz vermag sie anamnetisch in Erinnerung zu bringen: Ich bin wie ich bin. Dieser Satz enthält einen Hinweis auf das ureigene Wesen, das dem Ich mit Notwendigkeit angehört und all sein Tun und Lassen bestimmt, ohne doch als Entschuldigung durch Auflösung von Freiheit in Zwangsläufigkeit dienen zu können; denn, was das Ich an sich selbst ist, gründet wesentlich in seiner Freiheit. Schelling geht soweit zu sagen, dass durch die ursprüngliche Tat der Freiheit des Menschen, die sein Wesen ausmacht, mit dem er notwendigerweise zu identifizieren ist, „sogar die Art und Beschaffenheit seiner Korporisation bestimmt ist“ (59,12 f.). Im Hintergrund dieser These steht nicht die Vorstellung einer aus einer Präexistenz heraus erfolgten Inkarnation, sondern die Annahme, dass auch die Leiblichkeit des Menschen wesentlich kein vorgegebenes Körperdatum, sondern ein Indiz seiner intelligiblen Verfassung ist. Wo keine Gestalt noch Schöne zu sein scheint, vermag durchaus Herrliches erblickt zu werden. Umgekehrt lässt sich äußerer Glanz gegebenenfalls als falscher Schein innerer Verkehrtheit durchschauen. Was der Mensch ist, ist durch sein Wesen als einer transempirischen Freiheitstat notwendigerweise und zugleich zurechenbar vorherbestimmt. Auf die Wirklichkeit des Bösen bezogen heißt dies, dass dessen Faktizität in einer ursprünglichen Tathandlung gründet, die als peccatum originale allen empirisch fassbaren Aktualverfehlungen vorangeht, sofern sie diese in Form einer Wesensverkehrung des Menschen prädestiniert und schuldhaft gestaltet. Als Ursprungsverfehlung ist die Ursünde, die das Unwesen des Bösen und der Bosheit im Grunde ausmacht, ein Schicksal, das der Mensch über sich selbst verhängt hat. Es betrifft seine Natur, ohne doch ein natürliches und darin schuldloses Datum zu sein. Das peccatum originale ist vielmehr Schuld und Verhängnis, genauer: schuldhaftes Verhängnis. Ist die allgemeine Möglichkeit zum Bösen mit der Zertrennlichkeit der Prinzipien von Existenzgrund und Existieren in der Kreatur gegeben, so wird das kreatürlich mögliche Böse wirklich durch einen nicht aus der Sinnenwelt und der menschlichen Sinnlichkeit ableitbaren Urakt intelligibler Freiheit, der das Wesen des Menschen bestimmt und notwendigerweise fortwirkt in allen seinen aktuellen Taten. Obwohl dem Menschen als Gattungswesen ein allgemeiner Hang zum Bösen eigen ist, vollzieht sich der Fall der Sünde nicht auf naturhafte Weise, sondern durch je und je eigene Tat in sich verkehrter Freiheit, so dass das peccatum originale trotz seiner universalen Verbreitung jedem Einzelnen als seine eigene Tat zuzurechnen ist, durch die er sich schuldhaft in die allgemeine Bosheit verstricken lässt. Durch den grundlos abgründigen Entschluss zur Sünde macht der Mensch das Böse zu seiner Natur, um diese zugleich um ihr bestimmungsgemäßes Wesen zu bringen. Erfüllt sich die Sehnsucht des wahren Gottes in der Erschaffung eines
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mit ihm vereinten menschlichen Ebenbildes, so gleicht das Böse einem, wie Schelling sagt, umgekehrten Gott (vgl. 61,33), dessen teuflische Macht auf nichts anderem beruht denn auf gottwidriger und inhumaner Zwietracht. Die Sünde stellt nicht nur eine zwielichtige Erscheinung, sondern ein Phänomen dar, dessen Wesen in nichts als Schein besteht, der sich wesentlich gibt und damit jene Verblendung erzeugt, welche Finsternis gebiert und unter dem Vorwand, es zu erhellen, alles ins Dunkel stürzt. Der böse Sinn ist ausschließlich darauf gerichtet, Sinnlosigkeit zu stiften und zur Sinnwidrigkeit zu verführen. In ihrem widerlichen Unwesen ist sich die Bosheit zuletzt selbst zuwider: „Es ist im Bösen der sich selbst aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch, daß es kreatürlich zu werden strebt, eben indem es das Band der Kreatürlichkeit vernichtet, und aus Übermut, Alles zu sein, ins Nichtsein fällt.“ (62,26–30) Der aus eigener Schuld sich selbst verfallenen Nichtsubstituierbarkeit von Bosheit der Sünde, die als peccatum originale alle Religion peccata actualia wirkt, ist nach Schelling weder auf theoretische noch auf praktische Weise, sondern nur religös beizukommen. Der Philosoph bekundet das u. a. dadurch, dass er die Behebung der Zwietracht der Grundprinzipien, in welcher das Unwesen des Bösen besteht, durch (Ein-)Bindung des dunklen Prinzips der Selbstheit in das Lichtprinzip der Vernunft mit der Ursprungsbedeutung von Religiosität in Verbindung bringt, um damit das Wesen des Guten zu umschreiben. Religiosität ist gemäß genuiner Wortbedeutung Bindung, Gewissensbindung mit der Konsequenz einer Gewissenhaftigkeit, derzufolge man handelt, „wie man weiß, und nicht dem Licht der Erkenntnis in seinem Tun widerspreche“ (64,16–18). Gewissenhaft im eigentlichen Sinne des Wortes ist nicht derjenige, welchem erst das Pflichtgebot vorgehalten werden muss, damit er sich aus Achtung vor diesem für das Rechttun entscheide, sondern der für das Rechte immer schon Entschiedene. „Schon der Wortbedeutung nach läßt Religiosität keine Wahl zwischen Entgegengesetztem zu, kein aequilibrium arbitrii (die Pest aller Moral); sondern nur die höchste Entschiedenheit für das Rechte, ohne alle Wahl.“ (64,24–27) Diese höchste Entschiedenheit ist ihrem Wesen nach notwendig, aber zugleich der Inbegriff vollendeter Güte und des ganz zu eigen gewordenen Guten, wie es durch Gottes Offenbarung in Jesus Christus dem Glauben in der Kraft des Geistes eschatologisch erschlossen wird. Was damit näherhin gemeint ist, hat Schelling in seiner „Philosophie der Offenbarung“ ausgeführt, deren Grundlinien in der Einleitung dieses Bandes bereits skizziert wurden. Bleibt zum Schluss zu fragen, wie Schelling dies gegen Ende seiner Freiheitsschrift selbst getan hat, warum nämlich die vollkommene Erfüllung dessen, worauf die Schöpfung genuin angelegt ist, sich nicht bereits in ihrem Ursprung, von Anfang an und auf einen Schlage ereignete. Die kürzeste Antwort ist mit Verweis auf 1. Joh 4,8 und 16 und das Geheimnis der göttlichen Liebe gegeben. Eine ausführlichere, in welcher die der Freiheitsschrift eigene Prinzipientheorie des Absoluten noch einmal bündig umschrieben ist, lautet wie folgt: „Das Wesen des Grundes, wie das des Existierenden, kann nur das vor allem Grunde
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Vorhergehende sein, also das schlechthin betrachtete Absolute, der Ungrund. Er kann es aber . . . nicht anders sein, als indem er in zwei gleich ewige Anfänge auseinander geht, nicht daß er beide zugleich, sondern daß er in jedem gleicherweise, also in jedem das Ganze, oder ein eignes Wesen ist. Der Ungrund teilt sich aber in die zwei gleich ewigen Anfänge, nur damit die zwei, die in ihm, als Ungrund, nicht zugleich oder Eines sein konnten, durch Liebe Eins werden, d. h. er teilt sich nur, damit Leben und Liebe sei und persönliche Existenz. Denn Liebe ist weder in der Indifferenz, noch wo Entgegengesetzte verbunden sind, die der Verbindung zum Sein bedürfen, sondern . . . dies ist das Geheimnis der Liebe, daß sie solche verbindet, deren jedes für sich sein könnte und doch nicht ist, und nicht sein kann ohne das andere. Darum sowie im Ungrund die Dualität wird, wird auch die Liebe, welche das Existierende (Ideale) mit dem Grund zur Existenz verbindet. Aber der Grund bleibt frei und unabhängig von dem Wort bis zur endlichen gänzlichen Scheidung. Dann löst er sich auf, wie im Menschen, wenn er zur Klarheit übergeht und als bleibendes Wesen sich gründet, die anfängliche Sehnsucht sich löst, indem alles Wahre und Gute in ihr ins lichte Bewusstsein erhoben wird, alles andere aber, das Falsche nämlich und Unreine, auf ewig in die Finsternis beschlossen, um als ewig dunkler Grund der Selbstheit, als Caput mortuum seines Lebensprozesses und als Potenz zurückzubleiben, die nie zum Aktus hervorgehen kann. Dann wird alles dem Geist unterworfen: in dem Geist ist das Existierende mit dem Grunde zur Existenz Eins; in ihm sind wirklich beide zugleich, oder er ist die absolute Identität beider. Aber über dem Geist ist der anfängliche Ungrund, der nicht mehr Indifferenz (Gleichgültigkeit) ist, und doch nicht Identität beider Prinzipien, sondern die allgemeine, gegen alles gleiche und doch von nichts ergriffene Einheit, das von allem freie und doch alles durchwirkende Wohltun, mit Einem Wort, die Liebe, die Alles in Allem ist.“ (79,19–80,20) Es mag u. a. an der Kompliziertheit seiner Diktion Daubs Judas Ischarioth gelegen haben, dass Schellings philosophischer Neuansatz bis auf weiteres „ohne Nachfolger“ (Spaemann, 87) blieb. Hegels Marginalisierung der Freiheitsschrift ist bekannt. Immerhin ihre hamartiologischen Gehalte wurden von einigen Zeitgenossen rezipiert. Für Carl Daub etwa hat Schellings Text von 1809 den Anlass dazu gegeben, eine eigene Ursprungstheorie des Bösen zu entwickeln. Zwar nimmt das Fragment „Judas Ischarioth oder das Böse in Verhältniß zum Guten“ von 1816/18 „an keiner Stelle ausdrücklich auf Schellings Freiheitsschrift Bezug“ (Wenz [Hg.]). Aber ihr Einfluss ist unverkennbar. Das Böse in seiner gottfeindlich-antichristlichen Widerlichkeit gründet auch nach Daub in jenem Naturursprung des Existierens, der im Absoluten ewig aufgehoben, in der gottunterschiedenen Kreatur, wie sie im Menschengeschöpf voll entwickelt ist, hingegen die Möglichkeit einer eigensinnigen Verselbstständigung in sich enthält, deren Aktuierung den Fall der Sünde ausmacht. Wie bei Schelling so ist bei Daub die Sünde als eine geschöpfliche Möglichkeit zu beurteilen, ohne in ihrer Tatsächlichkeit faktisch erzwungen zu sein. Zur Tat
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wird sie erst durch die gewollte Loslösung des natürlichen Existenzgrundes von der geistigen Existenzbestimmung. In der Gestalt Satans, der sich nach Daub im Vollbewusstsein der Gottheit Gottes willentlich von ihr abkehrte und mithin „nicht Gottes-Leugner, sondern Gottes-Feind, nicht ein Atheist, sondern der Antichrist“ (Daub, 131) zu nennen ist, wird der vom Absoluten abgelöste und in sich verkehrte Grund des Existierens vorstellig, der sich selbst überlassen ein Abgrund ist, der zur Hölle führt. Daubs, wenn man so will, Satanologie ist nicht dualistisch angelegt. Der Daub’sche Satan darf aber auch nicht als Teufel in Gott gelten. Teuflisch und höllisch wird der Naturgrund des Existierens nach seinem und nach Schellings Urteil nur unter der Bedingung seiner selbstverkehrten Abkehr vom Absoluten. Die Finsternis des Bösen ist nicht Gott zuzurechnen, wie die missverständliche Rede von einem dunklen Grund in ihm nahelegt, sondern ausschließlich vom falschen Schein des Diabolischen hervorgerufen, dessen Unwesen auf Nichts denn auf der grundlosen Selbstverabsolutierung eines Endlichen, näherhin auf der vermittlungslos-unmittelbaren und absoluten Selbstbehauptung und Selbstdurchsetzung gottunterschiedener Subjektivität gründet. Auf Daubs „Judas Ischarioth“ wird zurückzukommen sein, obwohl die Wirkung des Werkes wie diejenige der Freiheitsschrift zunächst sehr gering blieb. Sein Autor wollte bald selbst nichts mehr von ihm wissen, nachdem er sich Anfang der 20er Jahre von Schelling ab- und definitiv Hegel zugewandt hatte. Der Text über das Böse von 1816/18 markiert „Höhepunkt und zugleich Ende“ (Schott, 377) der Schelling’schen Periode Daubs. Nicht nur in seinem Fall wurde Schellings Neuansatz vom fortschreitenden Erfolg jenes Denkens eingeholt, das er zu überbieten und zu überwinden trachtete. Denn Daub war keineswegs der Einzige, der seinen Weg von Schelling zu Hegel nahm; es ist vielmehr so, dass die Sequenz Kant, Fichte, Schelling und Hegel zum üblichen Muster der historiographischen Darstellung der Geschichte des Deutschen Idealismus wurde. Dass es auch Gründe für eine gegenläufige Lesart und dafür geben kann, Schelling vor Hegel gerade in hamartiologischer Hinsicht den Vorzug zu geben, mögen die folgenden Fallstudien erweisen.
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9. Kierkegaards idealismuskritische Hamartiologie
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Die Güte des Guten ist im Unterschied zur Bosheit des Bösen nicht in konstitutiver Weise auf Gegensätze aus. Indem es das Böse negiert, macht sich das Gute nicht etwa vom Bösen abhängig, um so in einen inneren WiderVom Widerstreit des Guten und des Bösen
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Kierkegaards idealismuskritische Hamartiologie
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spruch mit sich selbst zu gelangen. Es erweist seine Güte vielmehr dadurch, dass es das Böse hinter sich lässt, ohne sich von ihm in eine dauerhafte Alternative zwingen zu lassen. In der Überwindung des Bösen behebt das Gute zugleich die Alternative, in der es zu ihm stand. Mit Augustin zu reden: „Pugnant ergo inter se mali et mali; item pugnant inter se mali et boni; boni vero et boni, si perfecti sunt, inter se pugnare non possunt.“ (De Civ. Dei XV,5) „Böse und Böse liegen im Kampf, ebenso die Bösen und die Guten, nur die Guten, sofern sie vollendet sind, kennen keinen Streit.“ (Vgl. Koselleck, 86) Indem sie den guten Kampf gekämpft haben, haben sie ihn zugleich dergestalt hinter sich gelassen, dass sie nicht länger im Streit liegen, weder untereinander noch, wie man hinzufügen darf, mit dem überwundenen Bösen. Im Status der Vollendung hat es sich definitiv ausgestritten. In ihm ist daher in bestimmter Weise auch der Widerstreit von Gut und Böse vergangen, unter Voraussetzung von dessen andauerndem Bestand die himmlische Bleibe nicht dasjenige wäre, was sie ist, nämlich ein Hort ewigen Friedens. Das Böse und mit ihm der Gegensatz von Gut und Böse samt allem Widerstreit, der mit ihm verbunden ist, kam nach Maßgabe christlicher Tradition durch den Fall der Sünde in die Welt, der alle Adamskinder betrifft. Menschliche Vollendung kann nunmehr nur noch eschatologisch erwartet und nicht länger als gegeben in Anschlag gebracht werden. Unter den Zeitbedingungen des jetzigen Äons gilt für das adamitische Menschengeschlecht der hamartiologische Grundsatz: „niemand kann gut werden, der nicht zuvor böse war“ (Koselleck, 85), oder besser: gut vermag der gefallene Mensch nicht unmittelbar von sich aus zu werden, was zu wollen die Bosheit des Bösen nur befestigen würde. Um gut zu werden, bedarf er vielmehr der Güte Gottes, deren Gabe ihm nicht anders als durch reines Empfangen zu eigen wird. Nur durch die göttliche Gabe, in der und durch die er sich selbst gegeben ist, wird der Mensch gut, wohingegen er im unmittelbaren Bezug auf sich selbst im Widerstreit begriffen und durch einen Gegensatz bestimmt bleibt, der ihm nicht äußerlich ist, sondern sein Innerstes ausmacht. Solange Streit herrscht, steht Vollendung noch aus und die versöhnte Einheit der Verschiedenen ist noch nicht realisiert. Denn der Streit selbst widerspricht dem gemäß der Devise: „Wenn zwei sich streiten, tun sie dasselbe: sie streiten sich.“ (Marquard, 177) In Gott ist jeder Widerstreit von Ewigkeit zu Ewigkeit behoben, da seine Gottheit die Differenz von Existenzgrund und Existieren in absoluter Einheit umfasst, die durch keinen ihr äußerlichen Gegensatz bedingt ist. In der Zeit der gefallenen Schöpfung hingegen herrscht Streit, der nur im Verlauf eines heilsgeschichtlichen Prozesses überwunden werden kann. Schuld daran hat die Sünde als in sich verkehrter Vollzug von Freiheit. So lehrte es Schelling in seiner Freiheitsschrift und in seiner späteren Philosophie der Mythologie und Offenbarung, wobei nach seinem Urteil weder die Faktizität des Falls der Sünde noch die Tatsächlichkeit ihrer geschichtlichen Behebung in der Schöpfung auf rein begriffsapriorische Weise zu erfassen ist. Die sog. negative muss daher mit der sog. positiven Philosophie in Verbindung gebracht werden.
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In der Sünde hat „bewusstes Zuwiderhandeln gegen den Sinn des eigenen Daseins“ (Pieper, 47) statt. „Wie ist eine vorsätzliche Abwendung des Willens vom Inbegriff alles Guten, worauf er doch seiner Natur nach zielt, überhaupt denkbar? Wie ist es möglich, daß der Wollende seine Freiheit dazu mißbraucht, sich gegen das Gute zu entscheiden?“ (Pieper, 102) Folgt man der hamartiologischen Tradition, dann ist der Mensch als Gottes Geschöpf nicht gezwungen zu sündigen; seine gottunterschiedene Endlichkeit und die raumzeitliche Begrenztheit, die ihm als leibhaften Seelenwesen eignen, führen nicht notwendig zur Sünde. Gleichwohl haben Adam und die adamitische Menschheit ihr kreatürliches Vermögen, nicht sündigen zu können, auf eine abgründige Weise vertan, die den Grund ihres agierenden Personseins selbst betrifft. Was ist der Ursprung sündiger Faktizität und der Tatsächlichkeit des peccatum originale? Der Begriff der Ursünde verweist auf eine Grundverkehrung, die alle Einzelverfehlungen hintergründig durchwirkt und als die Sünde von den Sünden zwar nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden ist. Lässt sich eine Ursache jener Grundverkehrung, eine causa peccati originis ausmachen, wenn sie doch nicht in der guten Schöpfung Gottes selbst und im Wesen endlicher Freiheit des Menschengeschöpfs als solchem begründet liegt? Ist zumindest ein Motiv namhaft zu machen, das menschliche Freiheit dazu bewegt, sich gegen ihre geschöpfliche Bestimmung zu wenden? In der hamartiologischen Tradition wird im Zusammenhang dieser und ähnlicher Fragen in der Regel auf die natürlichen Daseinsbedingungen des Menschen in seiner leibhaften Welt verwiesen, die zur Wesensnatur seiner Freiheit zwar in keinem intransingenten Gegensatz, aber doch in einem Spannungsverhältnis stünden. Diese Spannung übertrage sich mittels seiner sinnlichen Verfassung auf die Freiheit des Menschen und mache sie geneigt, sich wider ihre Bestimmung in Form unmittelbarer Autonomie und natürlicher Selbstdurchsetzung zu begründen und zu behaupten. Ob diese Neigung bzw. der Hang zur Sünde bereits an sich selbst Sünde oder nur Disposition zu ihr zu nennen sei, wurde in der Tradition unterschiedlich beurteilt. Während in reformatorischer Überlieferung zumeist die erstere Annahme favorisiert wurde, bevorzugte die katholische die letztere. Auch Sören Kierkegaards Sündenlehre hat auf ihre Weise an der traditionellen Kontroverse Anteil, obwohl sie ernsthaft zu vermeiden sucht, sich darin zu verstricken. Zwei Werke vor allem sind für Kierkegaards Der Begriff Angst Hamartiologie grundlegend: „Der Begriff Angst“ von 1844 und „Die Krankheit zum Tode“ von 1849, welche zur fünf Jahre älteren Schrift in engster Beziehung steht (vgl. im Einzelnen Ringleben, Krankheit). Der Zusammenhang von Sünde und Lebensangst hat bereits in Schellings Freiheitsschrift eine hamartiologische Schlüsselfunktion, sofern ohne Berücksichtigung der Naturbedingungen des menschlichen Daseins die Bedeutung missverstanden werden müsste, die dem Urakt der Freiheit für die menschliche Selbstbestimmung zur Sünde zuerkannt wird: „In der Schellingschen Hang zur Sünde und sündige Neigung
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‚Angst des Lebens‘ sind . . . die uns erst a posteriori konkret betreffenden Situationen der Natürlichkeit (Ausgesetztsein dem Tod und der Vernichtung) und der Anfälligkeit für das Böse in einer generalisierten Form rückgespiegelt in die apriorische Verfassung des endlichen Freiheitswesens Mensch und können auf diese Weise dem transzendentalen Selbstbestimmungsakt sehr wohl vorgeordnet sein.“ (Buchheim, 200 Anm. 18) Die intelligible Tat, durch die sich der Mensch durch verkehrten Gebrauch seiner Freiheit zum Bösen prädestiniert, transzendiert zwar alle Erfahrung, bleibt aber auf sie bezogen, ohne ihr als ein transzendentes Datum vorherzugehen. Dass es sich so verhält, bestätigt auf ihre Weise auch Kierkegaards „schlichte psychologisch-hinweisende Überlegung in Richtung auf das Problem der Erbsünde“, die, wie es im Untertitel heißt, sein „Schlüsselwerk“ (Grøn, 8) von 1844 zu geben beansprucht. Anders als etwa Luther, bei dem Angst und Furcht „gewissermaßen noch in eins“ (Th. Dietz, 6) fallen (vgl. Lehmann), unterscheidet Kierkegaard beide Begriffe. Mit der Daseinsbefindlichkeit der Angst hat es seine besondere Bewandtnis. Wer sich fürchtet, hat in der Regel einen äußeren Grund dazu, der sich aufklären und benennen lässt. Man hat Furcht vor etwas Bestimmtem. Dagegen lässt sich nach Kräften angehen. Was im Innersten des Herzens ängstigt, ist hingegen häufig nicht mit vergleichbarer Deutlichkeit zu sagen. Es ist im Gegenteil so, dass sich das „Phänomen Angst“ (vgl. Huxel) nicht selten in einen Nebel des Undurchschaubaren und Unfassbaren hüllt. Ist die alltägliche Lebenswelt ein Hort der Gewohnheit, stellt sich mit der Angst mehr oder minder plötzlich das Gefühl des Unheimlichen ein. Der Geängstigte tappt im Dunkeln und sein Dasein verdüstert sich, ohne dass er etwas dagegen tun könnte. Denn er weiß nicht zu sagen, wovor er sich eigentlich ängstigt. Es ist nicht etwas, sondern nichts, das unbestimmte Nichts, was ihn ängstigt. Das macht mutlos. Angst hat die Tendenz, zur Verzweiflung zu treiben. Während sich mit dem Zweifel an diesem oder jenem gut leben lässt, gerät in der Verzweiflung der Grund des Seins ins Wanken; alles droht, ins Bodenlose zu versinken. Angst ist abgründig und steht in Gefahr, sich selbst zu verfallen. Verbindet sich mit Skepsis nicht selten das Gefühl souveräner Überlegenheit insbesondere dort, wo sie akademisch gepflegt wird, vergeht im Falle verzweifelter Angst jede Form von Souveränität, und mit dem Sinn der Bejahung schwindet zugleich derjenige zweifelnder Verneinung dahin. Ob ja oder nein, ob Affirmation oder Negation: in der Angst und in der Verzweiflung kollabieren alle denkbaren Alternativen, um im Sog nihilistischer Sinnlosigkeit unterzugehen. Angst ist das zur Verzweiflung treibende Innewerden möglichen Nichtseins. Die Anlässe, des drohenden Nichts gewahr zu werden, können vielfältig sein. Angst kann sich unvermittelt oder auf eine durch erkennbare innere oder äußere Krisen vermittelte Weise einstellen: doch ist sie stets ein Krisenphänomen der eigenen Art, das sich von Furchtanwandlungen charakteristisch unterscheidet. Zwar lassen sich Angst und Furcht lebensweltlich nur in Grenzfällen separieren, weil Furcht realiter häufig in Angst übergeht und Angst nicht selten Furchtmomente beinhal-
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tet. Dennoch ist es phänomenentsprechend, zwischen beiden begrifflich zu differenzieren: Furcht ist auf einen bestimmten äußeren Gegenstand bezogen, Angst hingegen ist von selbstbezüglicher Art und kann sich subjektiv auch ohne einen objektiven Grund zur Furcht einstellen. Angst ist, wenn man so will, grundlos; gerade darin besteht ihre Abgründigkeit. Angstlose Furcht ist kaum denkbar; Angst ohne Grund zur Furcht hingegen ist ein unleugbares Daseinsphänomen. Unter den Analysen furchtunterschiedener Angst, die zum Verzweifeln treibt, nimmt Kierkegaards Schrift von 1844 eine herausragende Stellung ein. Dabei darf der Titel nicht missverstanden werden: Der Begriff Angst benennt ein Daseinsphänomen, dessen existentiales Wesen durch verallgemeinerndes Denken nicht wirklich zu erfassen ist. Die Allgemeinheit des Begriffs stößt am Phänomen der Angst auf eine Grenze, die seine Verallgemeinerungsfähigkeit nicht nur äußerlich, sondern von innen her beschränkt, da in der Angst dem Denken das Unbegreifliche in der Gestalt der Unbegreiflichkeit seiner selbst begegnet. Denken und Begreifen sind auf Allgemeinheit ausgerichtet. Die Besonderheit der Angst aber ist von inkommensurabler Singularität, sofern sie am Einzelnen haftet, dessen Individualität sich dem Begriff gerade dort entzieht, wo der Einzelne sich ängstigt. Das Phänomen der Angst zwingt dazu, die Kategorie des Einzelnen streng zu fassen. Die Einzelheit des Einzelnen lässt sich nicht zum Moment eines Allgemeinbegriffs herabsetzen; der Einzelne ist, was er ist, in der unvergleichlichen Weise eines singulare tantum. Die Angst beweist dies: sie ist nicht allgemeiner Natur dergestalt, dass sie sich begrifflich unter Absehung ihrer unverwechselbaren Bindung an denjenigen erfassen lässt, der von ihr ergriffen ist. Was Angst ist, weiß nur und vermag nur zu wissen, wer sich ängstigt, wobei hinzuzufügen ist, dass das Wissen um die Angst diese nicht zu bewältigen vermag, weil sich deren Grund dem Begreifen auf abgründige Weise entzieht. In der Angst tut sich auch und gerade für das Begreifen ein Abgrund auf, dem das Denken selbst zu verfallen droht. Wenn Kierkegaard daher vom Begriff der Angst spricht, ist das zunächst nichts anderes als eine terminologische Formalität, die nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass das materiale Wesen der Angst durchaus unbegreiflich ist. Angst ist das Gewahrwerden drohenden Vergehens Dieser Einzelne des Grundes von Selbst und Welt im Nichts. Als spezifische Weise des Inneseins entzieht sich die Besonderheit des Angstphänomens der Generalität allgemeinen Begreifens. Es ist ein Phänomen von singulärer Einzelheit. Durch Denken allein ist dem Geängstigten nicht zu helfen. Denn seine ureigene Angst entzieht sich begrifflicher Vermittlung ebenso wie möglicher Bewältigung durch moralische Willensappelle. Unbeschadet der Tatsache, dass Angst von menschheitsgeschichtlicher Bedeutung ist, weiß sich der Einzelne in ihr ganz auf sich selbst gestellt – jedoch so, dass ihm der beständige Grund seiner selbst nicht nur zweifelhaft, sondern als ins Bodenlose dahinsinkend, als schlechterdings nichtig erscheint. Die Analyse von Phänomenen wie Angst und Verzweiflung wurde für Kierkegaard daher zu einem wesentlichen
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Motiv, sich von den philosophischen Systemen gedanklicher Totalvermittlung abzusetzen und zu einem Initiator dessen zu werden, was man Existenzphilosophie genannt hat. Die Auseinandersetzung mit Hegel, welche das Werk über den „Begriff der Angst“ von Anfang an durchzieht, ist dafür in hohem Maße signifikant. Dem Angstphänomen ist systematisch nicht wirklich beizukommen. Es kann daher nicht überraschen, dass Kierkegaards „Begriff der Angst“ nach keiner strengen Begriffssystematik geordnet ist. Systematisch klar ist zunächst nur der Gesamtzweck, auf den das Werk angelegt ist, nämlich psychologische Hinweise zum Problem der Erbsünde zu geben, ohne damit den Anspruch seiner Auflösung zu verbinden. Auf dieses Ziel hin ist, wie sich unschwer sehen lässt, die Gliederung des Gesamtwerkes in fünf Kapitel angelegt. Kierkegaard hat den Text knapp dreißigjährig unter dem Pseudonym Vigilius Haufniensis erscheinen lassen. Offenbar wollte er seiner Heimatstadt mit der Angstschrift einen geheimen Wächterdienst leisten. Durch den wenig älteren Hans Larsen Martensen war Kierkegaard sowohl mit Schleiermacher, an dem namentlich seine Sündenlehre erkennbar geschult ist (vgl. Hirsch, 109 Anm. 3), als auch mit den Systemen des Deutschen Idealismus bekannt, wobei ihn insbesondere Hegel interessierte. Von Schelling, den er Anfang der 40er Jahre in Berlin hörte, war er zunächst wenig begeistert. Der Philosoph fasele grenzenlos, lautete das vernichtende Urteil. Gleichwohl ändert die persönliche Enttäuschung nichts an den konzeptionellen Parallelen und Gemeinsamkeiten, die sachlich bestehen. Sie betreffen nicht nur die Kritik an Hegels sog. negativer Philosophie und an jedweder Hypostasierung des rein Logischen und Notwendigen (vgl. Hühn, 89 ff.; 141 ff.,), sondern zeigen sich auch darin, dass beide, Kierkegaard und Schelling, die Positivität der sog. positiven Philosophie von dem theoretisch und praktisch unaufhebbaren Gegensatz zwischen unvordenklicher Sündentat der Freiheitsverkehrung und dem Offenbarungsfaktum der in Jesus Christus beschlossenen gottmenschlichen Versöhnung her bestimmen. Beide haben je auf ihre Weise das sündentheologische Erbe des neuzeitlichen Autonomiegedankens angetreten (vgl. Hühn, 227): „Es ist die Grundüberzeugung, die über alle Differenzen und Akzentverschiebungen hinweg der Däne mit dem Idealisten teilt, nach der die Sündentheologie regelrecht den Schlüssel zum Innersten sich selbst entfremdeter Grundkonstellationen menschlichen Selbstseins liefere und auch die Hermeneutik an die Hand gebe, mit der man diese Konstellationen gleichermaßen analysieren wie kritisieren könne.“ (Hühn, 242) Insbesondere auf den Autonomiegedanken als Zentrum modernitätsspezifischen Freiheitsverständnisses sind Schellings und Kierkegaards Sündenlehren kritisch bezogen. Sie thematisieren das mit der Frage der Ichkonstitution notorisch verbundene Problem und reproblematisieren alle Versuche, es durch Vollzüge unmittelbarer Selbstsetzung und Selbstbestimmung zu lösen. „So anthropologisch neutralisierend und entzeitlicht die mit Erbsündenmetaphern durchzogene symbolische Redeweise Kierkegaards zumal die des Trotzes (superbia) und die der
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Verzweiflung (desperatio) sich bisweilen auch anhört, hinter dieser Rede steht der modernitätskritische Befund, wonach das neuzeitliche Autonomieverständnis in der Option voraussetzungslosen Aus-und-durch-sich-selbst-Seins unentwegt das ausschließt, worin es in seinem freigegebenen Ermöglichtsein durch einen in Gott hinterlegten Grund charakterisiert und definiert ist.“ (Hühn, 242 f.) Befunde dieser Art haben die Vorliebe für Kierkegaard in der sog. Theologie der Krise begründet, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs kirchlich und universitär bestimmend werden sollte. Paul Tillich gibt dafür ein Beispiel. Es bestätigt die sachliche Verbindung zwischen Schelling und Kierkegaard, zeigt aber zugleich, dass Kierkegaards Verhältnis zur Schule Schleiermachers so alternativ nicht war wie Barth und die Seinen gerne unterstellten (vgl. im Einzelnen N.-J. Cappelørn u. a. [Hg.] und Kriechbaum), die den Dänen gerne ausschließlich für sich reklamierten (vgl. Brinkschmidt). Wie auch immer: „Die gesamte dialektische Theologie war Kierkegaard-Nachfolge; in Karl Barth auch die seiner Unbeirrbarkeit.“ (Adorno, 299) Zurück zu dem Zustand, der nach Kierkegaard für Sündenprädisposition die Sünde „prädisponiert“ (Hirsch, 110 Anm. 4): Angst ist kein äußerliches, sondern ein innerliches Phänomen, das nur bei Entitäten auftritt, die ihrer selbst in bewusster Weise inne zu werden vermögen. Bewusstloses Sein kennt keine Angst. In ihrer entwickelten Form tritt Angst erst bei Wesenheiten auf, die ihrer selbst bewusst sind, ohne reiner Geist zu sein. Menschen ängstigen sich. Da sie weder bloße Tiere noch körperlose Engel sind, stehen Menschen vor der Aufgabe, sich selbst als die geistige Synthese ihres sinnlichen Leibes und ihrer die Schranken des Raumes und der Zeit transzendierenden Seele zu vollziehen und unter endlichen Bedingungen ihre unendliche Bestimmung zu realisieren. Dies macht ihnen Angst. Kierkegaard vergleicht die Angst mit dem Schwindel, der überhand nimmt, wenn das Auge abgründiger Tiefen gewahr wird, die jeden Halt entziehen. Angst, so könnte man meinen, macht unfrei. Gleichwohl ist sie nach Kierkegaard ein Phänomen, das sich nur bei Wesen einstellt, die zur Freiheit bestimmt sind. Freiheit ist ihrem formalen Begriff zufolge die Möglichkeit zu allem Möglichen. Nichts Endliches vermag den Drang der Freiheit zu befriedigen. Daraus entwickelt sich ein Sog, alle Möglichkeiten der Freiheit im grundlosen Nichts zu erschöpfen. In der Angst ist dieser Drang manifest. Er treibt die menschliche Freiheit förmlich dazu, sich unmittelbar in sich selbst zu befestigen. Genau damit aber verstrickt sich die menschliche Freiheit in ihre eigene Fänge und verkehrt sich, um, wie Kierkegaard sagt, selbstisch zu werden. Selbstische Freiheit aber ist Sünde. Sünde ist, wie in Übereinstimmung mit der Tradition gesagt wird, nicht nur eine einzelne Tat, die der Wahl des Willens folgt, sondern ein Tatbestand, der das liberum arbitrium, also die Freiheit wählenden Willens selbst betrifft. In ihrem abgründigen Unwesen als peccatum originale ist die Sünde in sich verkehrte Freiheit. Dies zu begreifen, dazu soll die Analyse der Angst einen Anhalt geben. Um die Funktion, die Kierkegaard seiner Angstanalyse zudenkt, genau zu erfassen, bedarf es einiger Erinnerungen bezüglich der traditionellen Lehre vom pecca-
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tum originale. Erbsünde wird die Ursünde nicht selten genannt. Diese Terminologie legt es nahe, die Sünde im Wesentlichen als fatales Gattungsgeschick zu begreifen. Doch ist dies eine Fehldeutung, durch welche der Schuldcharakter der Sünde in Abrede gestellt und die Verfehlung des Menschen naturhaft missverstanden wird. Auf ein Missverständnis läuft aber auch die aktualistische Annahme hinaus, welche die Sünde auf einen arbiträren Willensentscheid des Einzelnen zurückführt und infolgedessen nur mit Tatsünden rechnet. Denn durch diese Annahme wird verkannt, dass das Unwesen der Sünde die Freiheit des Menschen an sich selbst betrifft dergestalt, dass bereits die Stellung der Wahl, welche der Wille in Bezug auf Gut und Böse einzunehmen sich die Freiheit nimmt, als verkehrt und sündig zu bezeichnen ist. Um die Aporie zu vermeiden, auf welche die Alternative zwischen einem tendenziell fatalistischen und einem aktualistischen Sündenverständnis angelegt ist, führt Kierkegaard den Begriff der Angst als Zwischenbestimmung ein, um die Lehre vom peccatum originale zwar nicht begrifflich zu deduzieren, wohl aber psychologisch verständlich zu machen. Angst treibt, ohne selbst bereits manifeste Sünde zu sein, in diese hinein, wenn ihr nicht jene Hilfe zuteil wird, die allein der Glaube zu ergreifen und zur Gewissheit zu bringen vermag. Der Primärzweck von Kierkegaards Schrift „Der Begriff Angst“ besteht ihrem bereits mehr erwähnten Untertitel gemäß darin, eine „schlichte psychologisch-hinweisende Überlegung in Richtung auf das Problem der Erbsünde“ zu geben. Die zurückhaltende Formulierung deutet darauf hin, dass an eine gedankliche Erklärung des peccatum originale nicht gedacht ist. Der Versuch einer theoretischen Genetisierung der Ursünde wird vielmehr ausdrücklich abgewiesen. Der Fall der Sünde ist sinnvoll nicht zu begreifen, er ereignet sich in vermittlungsloser Unmittelbarkeit. Deshalb ist der Ort ernsthafter hamartiologischer Rede nicht die Metaphysik, welche die Sünde zu einem theoretisch aufhebbaren bzw. aufzuhebenden Begriffsmoment herabsetzt, ohne ihres begriffswidrigen Unwesens wirklich gewahr zu werden. Auch Ethik und Moral sind dem Sündenthema nur bedingt gewachsen, sofern sie zwar Reue zu erzeugen vermögen, die Faktizität der Sünde aber weder erklären noch ihre Schuld beseitigen können. Reue ist für sich genommen keineswegs heilsam; sie endet vielmehr in heilloser Verzweiflung, wenn ihr nicht eine Hilfe von anderwärts zukommt, welche für theoretische und praktische Vernunft nicht erschwinglich und nur religiös zu erfassen ist. Dies zu bedenken ist das Geschäft der Dogmatik als derjenigen Wissenschaft, die nach Kierkegaard im Unterschied zur Philosophie keine bloße Ideal-, sondern Realwissenschaft ist, welche die Aufgabe hat zu erkennen, was wirklich der Fall ist. Wirklich der Fall ist die schiere Faktizität der Sünde, für die es keinerlei ideellen Sinngrund gibt, die vielmehr – grundlos in sich gründend – lediglich eine causa deficiens, eine Verwirkursache hat. Der Sünde einen sinnvollen Grund zuzudenken, heißt sie zu entschuldigen, was selbst eine Sünde ist. Die Sünde kann daher nur als das in sich Widrige gelten, das – dem Abgrund seiner eigenen Verkehrtheit verfallen – sich zugleich be- und verwirkt. Das Unwesen der Sünde ist vernünftig nicht zu fassen. Was aber die Dogmatik betrifft, so erklärt sie das peccatum origi-
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nale, indem sie es als unverständlicher- und sinnwidrigerweise gegeben voraussetzt – und sonach gerade nicht erklärt! Die Sünde setzt sich in grundlos-abgründiger Weise selbst voraus. Dies ist der Grundsatz dogmatischer Hamartiologie. Alles weitere ist der Verkündigung anheimzugeben. „Eigentlich gehört“, sagt Kierkegaard, „die Sünde überhaupt nicht in irgendeine Wissenschaft. Sie ist ein Gegenstand der Predigt, wo der Einzelne als der Einzelne zum Einzelnen spricht.“ (Kierkegaard, Angst, 12) Die traditionelle Dogmatik führt das peccatum originale auf den Fall Adams zurück, dessen Ursünde der Menschheitsgattung durch die Generationen hinweg vererbt wurde. Kierkegaard folgt dieser Argumentationslinie nur unter dem Vorbehalt, dass Adam zugleich als Einzelner und als Menschengeschlecht vorgestellt wird: „Er ist er selbst und das Geschlecht.“ (Kierkegaard, Angst, 28) Was für Adam gilt, trifft so für jedes menschliche Wesen zu. Er ist Individuum und Repräsentant der Menschheitsgattung in einem. Die Schuld der Ursünde kann also nicht dem Protoplasten allein zugeschoben werden. Alle Sünder sind am Fall der Sünde gleichermaßen schuldig mit dem einzigen Unterschied, dass sich das Sündenquantum im Laufe der Geschichte steigert. Warum sündigte Adam und mit ihm alle AdamsSinnlose Setzung kinder? Diese Frage wird nicht beantwortet, sondern mit dem Hinweis beschieden: „Durch die erste Sünde kam die Sünde in die Welt. Ganz und gar in demselben Sinne gilt es von der ersten Sünde jedes späteren Menschen, daß durch sie die Sünde in die Welt kommt. Daß sie vor Adams erster Sünde nicht da war, ist eine im Verhältnis zur Sünde selbst vollständig zufällige und nicht zur Sache gehörende Reflexion, die durchaus keine Bedeutung und kein Recht hat, Adams Sünde größer oder die erste Sünde irgendeines anderen Menschen kleiner zu machen.“ (Kierkegaard, Angst, 29 f.) Damit ist erneut klargestellt, dass der Sünde kein sinnvoller Grund zugedacht werden kann und darf. Sie ist in ihrer Faktizität nicht zu leugnen, aber gleichwohl aus Gottes guter Schöpfung nicht deduzierbar. Die Sünde kam durch die Sünde in die Welt. Sie ist grund- und sinnlose Setzung und tritt, wie Kierkegaard sagt, in der Weise eines qualitativen Sprunges ein, der in seiner Unbegreiflichkeit vernünftig nicht zu fassen ist. Daher erübrigt sich die spekulative Frage, wie aus Unschuld Schuld hervorgehen konnte. Sie ist nach Kierkegaard aus der Perspektive des Zuschauers gestellt und führt den, der sie stellt und zu beantworten sucht, zwangsläufig in die Irre. „Der Unschuldige“, heißt es, „würde niemals darauf kommen, so zu fragen; der Schuldige aber sündigt, wenn er so fragt; denn er möchte in seiner ästhetischen Neugier ignorieren, daß er selbst die Verschuldung in die Welt gebracht hat, selber die Unschuld durch Schuld verloren hat.“ (Kierkegaard, Angst, 36) Genau davon aber ist auszugehen: „jeder Mensch verliert die Unschuld wesentlich auf dieselbe Weise, wie Adam es tat.“ (Kierkegaard, Angst, 35) Qualitativ ist mithin die Sünde jedes Menschen der Sünde Adams gleich. Unterschiede gibt es lediglich in quantitativer Hinsicht, insofern die Geschichte des Menschengeschlechts die Sünde vermehrt.
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Die Sünde, durch welche die Unschuld verloren geht, ist qualitativer Sprung und in ihrer Faktizität schiere Untat, die sich sinnvoll nicht begreifen lässt. Rechte Erkenntnis der Sünde vollzieht sich allein im Sündenbekenntnis. Allenfalls eine psychologische Ahnung vom Zustandekommen der Sünde, die den „Sprungcharakter“ ihres Falls keineswegs beseitigt, lässt sich nach Kierkegaard erlangen. Diese Ahnung vermittelt die Angst. Ihr analytischer Begriff ergibt nach Kierkegaard eine Zwischenbestimmung zwischen Unschuld und Sünde, deren Pointe nachgerade in ihrer unbestimmten Ambivalenz liegt. Wo diese Pointe verfehlt und der qualitative Sprung der Sünde angstanalytisch genetisiert und so um seinen Sprungcharakter gebracht wird, ist alles verfehlt. Wer vom Begriff der Angst mehr erwartet als einen andeutenden Hinweis des Erahnens, wird weniger als nichts, nämlich Verkehrtes und eine Sündenlehre erhalten, die selbst die Sünde befördert, indem sie ihr Eintreten entschuldigt. Noch einmal: die Angst macht die Sünde nicht verständlich, aber sie lässt erahnen, wie es unverständlicherweise zu ihr kommen konnte. Im Naturstadium seiner Entwicklung ist der Mensch nach Kierkegaard unschuldig in dem Träumende Unschuld Sinne, dass er um die Differenz von Gut und Böse nicht weiß. Seine Unschuld ist indifferente Unwissenheit. Solange er in ihr verharrt, befindet sich der Mensch in unmittelbarer Einheit mit seiner Natürlichkeit, und der Geist ist lediglich träumend in ihm. Als träumende Unschuld ist der natürliche Mensch einerseits in einem paradiesischen Zustand, andererseits noch nicht zu sich und zu seinem Menschsein gelangt. Diese Auffassung stimmt nach Kierkegaard ganz mit derjenigen der Bibel überein, die Adam und Eva im Stande der Unschuld die Kenntnis des Unterschieds von Gut und Böse abspricht und sie zugleich mit einem Streben nach bewusstem Wissen und selbstbewusstem Sichwissen versieht. Im paradiesischen Zustand „ist Friede und Ruhe; aber es ist zu gleicher Zeit etwas anderes da, das nicht Unfriede und Streit ist; denn es ist ja nichts da, womit sich streiten ließe. Was ist es denn? Nichts. Welche Wirkung aber hat Nichts? Es gebiert Angst. Das ist das tiefe Geheimnis der Unschuld, daß sie zu gleicher Zeit Angst ist. Träumend projektiert der Geist seine eigene Wirklichkeit, diese Wirklichkeit aber ist Nichts, dieses Nichts aber sieht die Unschuld ständig außerhalb ihrer.“ (Kierkegaard, Angst, 41 f.) Indem der Mensch aus der träumenden Unschuld unwissender Natur erwacht und zu sich kommt, stellt sich eine Differenz ein, die es geistig zu bewältigen gilt. Diese Differenz ist mit der Unterscheidung von Selbst und Welt prinzipiell gegeben, die dem Menschen nicht äußerlich, sondern innerlich ist, sofern sein Ich aus Leib und Seele besteht. Der Mensch ist eine leibhafte Seele. Die Synthese von Leiblichem und Seelischem zu leisten, ist dem Geist aufgetragen, und just in der Bewältigung dieser Aufgabe stellt sich Angst ein. Warum? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich, wenn in Erinnerung gerufen wird, dass Angst ein Phänomen von Wesen ist, die zu selbstbewusster Freiheit und freiem Selbstbewusstsein bestimmt sind. Im anorganischen und pflanzlichen Bereich, aber auch bei Tieren, deren Verhal-
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ten durch bloße Reiz-Reaktions-Mechanismen bestimmt ist, tritt Angst im eigentlichen Sinne nicht auf. Angst ist ein geistiges Phänomen. Es gilt die Devise: „je weniger Geist, desto weniger Angst.“ (Kierkegaard, Angst, 42) Angst kommt auf, wenn die Menschenseele der Aufgabe gewahr wird, ihre geistige Bestimmung unter den sinnlichen Bedingungen leibhaften Lebens zu realisieren. Mit dem Erwachen aus der Indifferenz träumender Unschuld und Unwissenheit, die das Naturstadium seiner Existenz ausmacht, geht dem Menschen auf, dass er ein vom Unendlichen herkommendes und auf Unendlichkeit hingeordnetes und zugleich ein endliches Wesen ist. Nicht dass Endlichkeit an sich selbst ein defizienter Modus des Seins wäre! Der Mensch ist als Geschöpf wesensmäßig dazu bestimmt, gottunterschieden und insofern endlich zu sein. Würde er im gewissen Bewusstsein gottgegründeter Unterschiedenheit von Gott leben und auf diese Weise seiner kreatürlichen Bestimmung entsprechen, wäre seine Endlichkeit kein Defizit, sondern ein Vollendungsdatum. Analoges ist in Bezug auf die sinnliche Verfassung des Menschen und sein raumzeitliches Dasein in der Welt zu sagen. Sinnlichkeit und Zeitlichkeit sind, wie Kierkegaard ausdrücklich betont, keineswegs in sich verkehrt, sondern gute Schöpfungsgaben Gottes. Es ist gut, dass wir nicht reine, sondern leibhafte Seelen sind, so wie es gut ist, dass die sinnliche Welt raumzeitlich verfasst und durch Unterschiede gekennzeichnet ist, deren Differenziertheit den Reichtum des Lebens ausmacht, an dem sich der Geist erfreuen kann. Als geistlos, ja als geistwidrig treten Raum und Zeit und die leibhafte Endlichkeitsgestalt unseres sinnlichen Daseins in der Welt erst unter den Bedingungen der Sünde in Erscheinung, welche das Verhältnis von Seele und Körper, welche zu synthetisieren der Mensch bestimmt ist, ebenso verkehrt wie das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit. Indem die Sünde das Endliche an die Stelle des Unendlichen setzt, pervertiert sie die Ordnung der Dinge und verkehrt die Bestimmung des Menschen ins widrige Gegenteil. Doch woher rührt die Sünde und warum tritt sie ein? Kierkegaard wird nicht müde zu betonen, dass die Nicht deduzierbarer Sünde durch die Sünde in der Weise eines qualitaSprung tiven, nicht deduzierbaren Sprunges in die Welt kam. Ihr Auftreten ist, weil sinnwidrig, unverständlich und nicht sinnvoll zu erklären. Ebensowenig kann es einen verständigen Allgemeinbegriff von Sünde geben. Was Sünde ihrem Unwesen nach ist, weiß und versteht „jeder Mensch einzig und allein aus sich selbst; will er es von einem anderen lernen, so will er es eo ipso . . . mißverstehen. Die einzige Wissenschaft, die ein bißchen tun kann (sic!), ist die Psychologie; die aber selber einräumt, daß sie keine Erklärung gibt und hierüber hinaus nichts erklären kann noch will.“ (Kierkegaard, Angst, 52) Die psychologische Analyse der Angst leistet keine Erklärung der Sünde, sondern allenfalls eine Approximation, die annäherungsweise an das keiner Erklärung Zugängliche heranreicht. Der Begriff der Angst ist nicht mehr als eine schöpfungstheologischhamartiologische Zwischenbestimmung zweideutigen Charakters. Ist der qualitative Sprung der Sünde eindeutig verkehrt, so befindet sich die Angst noch in der
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Sphäre der Zweideutigkeit. Ambivalenz ist, wenn man so will, die Grundsignatur ihres Wesens: „wer durch die Angst hindurch schuldig wird, der ist ja unschuldig; denn nicht er selbst, sondern die Angst, eine fremde Macht, ergriff ihn, eine Macht, die er nicht liebte, sondern vor der er sich ängstigte; – und dennoch ist er ja schuldig; denn er versank in der Angst, die er dennoch liebte, indem er sie fürchtete. Es gibt in der Welt nichts Zweideutigeres als das; und deshalb ist diese Erklärung die einzige psychologische, wobei sie aber – um es noch einmal zu wiederholen – niemals auf den Gedanken kommt, die Erklärung sein zu wollen, die den qualitativen Sprung erklärt.“ (Kierkegaard, Angst, 43) Wie ihr eigenes Wesen, so ist auch das Verhältnis der Angst zur Sünde ambivalent. Sie ist noch nicht manifeste Sünde, aber sie prädisponiert für sie. Angst ist ein transitorisches Phänomen, dessen Wesen im Übergang begriffen und nur als im Übergang begriffen zu begreifen ist. Würde der Mensch aus der Unwissenheit träumender Unschuld, die ihn mit der extrahumanen Kreatur verbindet, zu rechtem Glaubensbewusstsein kommen und zu der Gewissheit gelangen, dass seine gottunterschiedene Endlichkeit in Gottes Unendlichkeit gründet, so wäre seine Angst bloß momentan und augenblicklich aufgehoben in dem Urvertrauen, dass menschliches Sein in der Zeit in Gott verewigt zu werden bestimmt ist. Der Geist, der ganz in Gott und in ihm allein gründet, vollzieht die kreatürliche Aufgabe der Synthese von Leib und Seele in der Gewissheit, in seiner Gottunterschiedenheit unveräußerlich Gott zuzugehören. Angst kennt dieser Geist nur als aufgehobenes Moment. Entbehrt er hingegen der Gewissheit seines göttlichen Grundes, ergreift ihn sogleich schwindelerregendes Grauen vor der Nichtigkeit all seiner Möglichkeiten, die ihm als letztlich grund- und bodenlos erscheinen. Die Angst nimmt die Gestalt drohenden Nichts an, in dessen Abgrund der Geist sich hinabgezogen fühlt. Der Sprung in die Sünde liegt nahe. Ist er vollzogen, geht die Angst in die Sünde ein, um als der Wille fortzuwirken, sich aus dem Gefühl eines gottlosen Nihilismus heraus ganz und allein im Eigenen zu befestigen. Das Selbstische ist Kierkegaards Name für das Unwesen der Sünde. Selbstisch ist das in sich ver- Das Selbstische kehrte Ich, welches im Durchgang durch die Angst um sich den göttlichen Grund seiner selbst preisgibt, um sich – da ihm Weltliches keinen dauerhaften Halt zu geben verspricht – in verzweifeltem Hochmut und hochmütiger Verzweiflung ganz und allein in sich selbst zu gründen und fernerhin alle Selbsttätigkeit auf den rücksichtslosen Erhalt und die Durchsetzung seiner sinnlichen Existenz abzustellen. Nur so meint das selbstische Ich dem drohenden Nichts, vor dem es sich ängstigt, entgehen zu können. In Wahrheit indes geht das in seiner Sünde verkehrte Ich in seiner Angst unter und richtet sich schuldhaft selbst zugrunde, ohne dabei Mitmensch und Welt zu schonen, deren Nichts vielmehr im Innersten herbeigesehnt wird. Erst durch die Sünde nimmt die Angst grauenhafte Gestalt an und bildet sich um in die Furie des Zerstörens. Der qualitative Sprung in die Sünde – aus Angst heraus vollzogen – verleiht dieser eine neue destruktive Qualität, um des Weiteren ihre Erscheinungen quantita-
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tiv zu vervielfältigen. Die durch die Sünde bewirkte Disqualifizierung der Angst und ihre quantitative Vermehrung zum Schlechten hin findet an der sündigen Verkehrung der Sinnlichkeit ihre Parallele. Sinnlichkeit ist, wie gesagt, nach dem Urteil Kierkegaards keineswegs als solche sündhaft. Sie wird erregt, wenn der Mensch aus der natürlichen Indifferenz träumender Unwissenheit und Unschuld heraustritt und der Geschlechterdifferenz bewusst wird, die seine Gattung bestimmt. Das Gattungswesen Mensch erkennt sich als Mann oder Frau. Diese Erkenntnis ist mit Scham als einer Art von ängstlicher Scheu verbunden. Aber die Scham ist wie die Angst ein Übergangsphänomen. Als transitorisches Element der Sexualität wird sie entweder in Liebe aufgehoben oder sie nimmt die Gestalt scheinbar tierischen, in Wahrheit inhumanen Triebs an, wie das unter den Bedingungen der Sünde der Fall ist. Der Trieb ist von dem verkehrten Willen selbstischer Aneignung beherrscht. Er strebt nach „Vergewaltigung“. Das Objekt seiner Begierde ist für ihn reines Gattungsexemplar ohne anerkannte Individualität, die vielmehr zu einem Modus des bloß Eigenen herabgesetzt wird. Im rücksichtslosen Begattungstrieb nimmt die anfängliche Scham durch den verkehrten Versuch ihrer eigenmächtigen Behebung schamlose Gestalt und eine Form an, die Liebe unmöglich macht, statt sie zu ermöglichen. Sinnlichkeit, noch einmal, ist an sich selbst ebenso wenig sündhaft wie sexuelle Erregung einen Grund beschämender Schande darstellt. Schandbar wird Sexualität erst im sündigen Falle ihrer Verkehrung zum bloßen Trieb. Auch die raumzeitliche Verfassung des Daseins, um einen weiteren für Kierkegaard wichtigen Gesichtspunkt hinzuzufügen, bleibt durch den qualitativen Fall der Sünde, zu welchem die Angst disponiert, ohne ihn zur zwangsläufigen Folge haben zu müssen, nicht unbetroffen. Dass in der Welt das Eine vom Andern räumlich unterschieden ist, darf als gute Schöpfungsordnung Gottes gelten. Es ist gut, dass im All der Welt das eine vom andern different ist und dass ein Nebeneinander als Differenzprinzip des Weltraumes waltet. In der Zeit nimmt die äußere Form des Raumes innere Gestalt an. Die räumliche Außendifferenz von Einem und Anderem wird zur internen Differenz, insofern das Eine als Eines anders zu werden vermag. Veränderung hat statt. Der Lauf der Zeit hebt an. Zu Bewusstsein kommt das Sein der Zeit im Menschen. Er ist seiner Zeitlichkeit inne. Deshalb gehört die besondere Aufmerksamkeit der Zeittheorie Kierkegaards der Zeitlichkeit des Menschen in seinem Dasein. Das Innewerden der eigenen Zeitlichkeit erzeugt Innewerden zeitlicher Angst. Das gegenwärtige Bewusstsein ist um seine Befristung Zukunft besorgt, und es ängstigt sich vor dem Vergehen. Weiß der Mensch seine Zeit in den Händen des ewigen Gottes geborgen, dann lösen sich Angst und Sorge zwar nicht einfachhin auf, aber ihr destruktiver Stachel ist gebrochen, sofern das Ende der eigenen Endlichkeit aufgehoben ist im unendlichen Gott, der dem Endlichen unendlichen Bestand in ihm selbst zu geben gewillt ist. Unter Voraussetzung dieses Glaubens sind Angst und Sorge lediglich Momente im Kindschaftsverhältnis der Menschen zu ihrem göttlichen
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Vater, der im Wissen um ihre Ängstlichkeit reichlich für sie sorgt. Anders, ja völlig gegenläufig stellt sich die Angelegenheit unter der Bedingung sündiger Verkehrung des menschlichen Gottesverhältnisses dar, mit welcher zugleich das Verhältnis des Menschen zu sich sowie zu Mitmensch und Welt gründlich verkehrt wird. Nun wird die Zeitlichkeit des Daseins zu einer Last und Bedrückung, die zum Tode drängt, da das Nichts als die letzte und eigentliche Wahrheit des zeitlichen Daseins und des Seins in der Zeit erscheint. Statt synthetisiert zu werden, wie es dem Geist aufgegeben ist, treten Zeit und Ewigkeit in einen antithetischen Gegensatz, wobei die Ewigkeit nichts anderes darstellt als das Nichts des Zeitlichen. „Aus der Bestimmung der Zeitlichkeit als Sündhaftigkeit“, schreibt Kierkegaard, „ergibt sich weiter der Tod als Strafe.“ (Kierkegaard, Angst, 100, Anm. 1) Ist die zeitliche Befristung des Daseins des Menschen als einer leibhaften Seele an sich nichts Schlechtes, wenngleich sie Anlass zu Angst und Sorge gibt, so muss sie bei fehlendem Gottvertrauen und gegebenem Unglauben, wie sie den amor sui des Selbstischen kennzeichnet, entweder als fatales Geschick oder als Strafverhängnis empfunden werden. Ersteres Empfinden begegnet im antiken Heidentum, letzteres ist Konsequenz der jüdischen Tradition, durch welche der heidnische Schicksalsglaube sittlich transformiert wurde, womit der tiefere Sinn dessen, was Sünde, Schuld und Strafe heißt, überhaupt erst wirklich zutage trat. Der eigentliche Abgrund des Bösen tut sich von nun an nicht mehr dadurch auf, dass der Mensch „durch sich selbst für sich selbst durch das Schicksal zusammensinkt“, sondern dass er „durch sich selbst für sich selbst in der Tiefe des Sündenbewusstseins versinkt“ (Kierkegaard, Angst, 120). In diesen Zusammenhang gehört, was Kierkegaard über den Unterschied von antikem Orakel und jüdischem Opferkult oder über die diversen Bestimmungen des Dämonischen in Geschichte und Gegenwart sagt. Darauf ist nicht weiter einzugehen. Hingewiesen werden soll lediglich darauf, dass nach Kierkegaards Urteil der Einzelne erst im Kontext der jüdisch-christlichen Überlieferung, die über den naturreligiösen Schicksalsglauben der Antike hinausführt, zum entwickelten Bewusstsein seiner selbst als eines Einzelnen gelangt. Erst damit ist jene Konkretheit erreicht, an der vorbeizudenken Kierkegaard sowohl der griechischen Philosophie als auch der herrschenden Philosophie seiner Zeit zum Vorwurf macht. Der konkrete Inhalt, so heißt es, „ist das Bewußtsein von sich selbst, vom Individuum selbst, nicht das reine Selbst-Bewußtsein, sondern das Selbst-Bewußtsein, das so konkret ist, daß kein Schriftsteller, nicht der wortreichste und nicht der darstellungsgewaltigste, es jemals vermocht hat, ein einziges solches Selbstbewußtsein zu beschreiben, während jeder einzelne Mensch ein solches ist.“ (Kierkegaard, Angst, 157) Nicht zum geringsten in der Angst zeigt sich evidentermaßen, dass dem so ist. Im Erzittern der Angst ist die Spannung potentieller Unendlichkeit und abgründiger Ohnmacht des Menschengeistes manifest, ohne sich bereits zu entladen. Blitzartig jedoch droht aus einer zum Zerreißen gespannten Endlichkeit der verheerende Fall der Sünde hervorzugehen. Indes muss dies nicht mit Zwangsnot-
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wendigkeit erfolgen, da Angst auch bewältigt und zu einem Mut transformiert zu werden vermag, der als innerste Kraft menschliches Leben durchwirkt. Dieser Mut lässt sich durch Willensanstrengung und tätiges Streben nicht besorgen: er ist ein Gottesgeschenk des Glaubens. Glaube ist der Mut zum Sein angesichts des Nichtigen. Wie ereignet er sich? Nach Kierkegaard nicht an der Angst vorbei, sondern durch sie hindurch: erst wer Angst durchgemacht hat, ist „dazu herangebildet, sich nicht zu ängstigen“ (Kierkegaard, Angst, 173). Über das Vermögen sich nicht zu ängstigen, verfügt der Menschengeist nicht von sich aus; es ist eine vom Geist Gottes erschlossene Möglichkeit. Aber diese Möglichkeit wird, so Kierkegaard, nicht ohne Angst, sondern im Durchgang durch sie erschlossen. Sich selbst überlassen, zieht Angst in den Abgrund der Verzweiflung hinab. Das Dasein droht dem Nichts zu verfallen, wobei die abgründigste Form der Verfallenheit ans Nichts die Sünde ist. Mit Hilfe des Glaubens indes, so Kierkegaard, erzieht die Angst den Einzelnen dazu, seinen Grund nicht länger in der Welt und in sich selbst, sondern allein in Gott zu suchen. In diesem Sinne kann die Angst durchaus ein Wirkmittel des göttlichen Geistes sein, der uns dazu führen will, unser Grundvertrauen nicht auf uns selbst und die Dinge dieser Welt, sondern einzig auf Gott und auf Gott allein zu setzen. Der ermutigende Trost, den der Glaube spendet, Die Kunst, sich zu enthält die Verzweiflung an Selbst und Welt und ängstigen damit auch den Abgrund der Angst als aufgehobenes Moment in sich. Der Glaube weiß, was es heißt, sich zu ängstigen, und er kennt die Verzweiflung. Andernfalls könnte er keinen Trost spenden, der Bestand hat und dauerhaft ermutigt. In der Angst zu versinken, ist die eine Gefahr, die dem Menschengeist droht; die andere und nicht geringere besteht darin, es niemals mit der Angst zu tun zu bekommen. Wenn einem nie angst gewesen und nie angst wird, ist das ein höchst bedenkliches und gefährliches Anzeichen menschlicher Existenz. Man sollte daher Angst auch nicht zu ignorieren und zu unterdrücken suchen, sondern sich in dem üben, was Kierkegaard die Kunst des sich Ängstigens nennt. Dazu verhilft der Glaube. Indem er uns lehrt, uns in rechter Weise zu ängstigen, führt er uns an das Höchste heran, und wir lernen, worauf es zuletzt und unbedingt ankommt: nicht auf Weltvertrauen, auch nicht auf Selbstvertrauen, sondern auf Gottvertrauen. Die Erfahrung, welche die Angst an sich selbst macht, dass nämlich Ich und Welt ohne Gott grund- und sinnlos sind, prägt auch das Innerste des Glaubens, der auf diese Weise der Angst mit Sym-Pathie, wenn man so will, verbunden bleibt. Reifer Glaube weiß sich den Geängstigten in besonderer Weise zugetan. Ist es doch in der Erinnerung des Glaubens gerade die Angst, die ihn reif gemacht hat für Gott. Im Glauben ist daher der Angst ein bleibendes Gedächtnis gestiftet. Ja, man muss mit Kierkegaard noch mehr und anderes sagen: Gott selbst, dem Grund des Glaubens, ist Angst nicht fremd. Wenn es denn wahr ist, dass Gottes Gottheit in der Kraft seines Hl. Geistes in Jesus Christus offenbar geworden ist, dann darf (trinitäts-)theologisch von einem das Innerste Gottes berührenden und bewegen-
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den Mitgefühl für menschliche Angst nicht geschwiegen werden. In Jesus Christus hat Gott sich selbst um Menschheit und Welt geängstet, um im Äußersten des Kreuzes die Schuld der Sünde auf sich zu nehmen, die, mit Kierkegaard zu reden, aus der Nichtigkeitsangst des Menschen heraussprang. Wer Angst hat, der fliehe daher schleunigst in die ausgebreiteten Arme des auferstandenen Gekreuzigten, welcher spricht: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Joh 16,33) Zwischenfazit: Angst ermöglicht die Sünde und wirkt, wo diese sich einstellt, als Motivationskraft und Mittel ihrer Potenzierung. Gleichwohl geht Sünde nicht zwangsläufig aus Angst hervor und lässt sich begrifflich nicht aus ihr deduzieren. Der bodenlose Fall der Sünde hat keinen anderen Grund als die Sünde selbst. Sie ist nichts als abgründige Dezision in sich verkehrter Freiheit, schieres Faktum, das sich jedem Begriff widersetzt und als unvordenkliche Tat schuldig ist an sich selbst. Angst ist ein potentieller Beweggrund, aber kein Grund der Entschuldigung für die Sünde in ihrer aktuellen Wirklichkeit, die allen Sinn zu zersetzen und alles wahrhaft Wirkliche zu verwirken trachtet. Ihre Ursache ist causa deficiens, ihre Wirkung nicht nur defizitär, sondern das positiv gesetzte Böse. Als böse in sich ist die Sünde schlimmer als alles Übel. Von einem Übel, wie es Lazarus traf, kann der johanneische Jesus sagen, es sei nicht die Krankheit zum Tode (vgl. Joh 11,4); im Falle der Sünde trifft das Gegenteil zu. Sünde ist, mit Joh 11,4 zu reden, „Krankheit zum Tode“. Denn sie führt nicht nur den äußeren Die Krankheit zum Tode Menschen und seine leibhafte Welt, sondern das Innere seiner Seele ins Verderben und in jene Hölle, welche die Sünde mit Lust und Fleiß und unter Einsatz allen Bewusstseins- und Willensvermögens sich und anderen bereitet. Sünde ist nicht lediglich ein Negativum, keine bloße Negation, sondern die selbstverkehrte Position einer Negativität, durch die das Entsetzliche gesetzt und das Grund- und Bodenlose verursacht und gewirkt wird. Um dies zu erkennen, bedarf es einer Entgegensetzung und einer Opposition, ohne deren unvordenkliche Faktizität nicht begriffen werden kann, was es mit der ebenso unbegreiflichen wie tatsächlichen Wirklichkeit des Bösen auf sich hat. Eine Gottesoffenbarung ist nötig, um die widrige Verkehrtheit der Sünde zu erschließen, und nur der Offenbarungsglaube hat die Möglichkeit, Einsicht zu nehmen in ihre Abgründigkeit. Alle Versuche, das Unwesen des Bösen eigenmächtig zu begreifen, scheitern zwangsläufig und führen nur umso tiefer in die Verstrickungen und Fänge des Bösen hinein. „Zuerst geht das Christentum hin und legt die Sünde als Position so fest, daß der menschliche Verstand es nie begreift; und dann verspricht dieselbe christliche Lehre, diese Position in einer Weise zu beseitigen, wie der menschliche Verstand es nie begreift.“ (Kierkegaard, Krankheit, 102) So steht es geschrieben in der in den Monaten März und April des Revolutionsjahres 1848 erarbeiteten, in Kopenhagen erschienenen Schrift „Die Krankheit zum Tode. Eine christliche psychologische Erörterung zur Erbauung und Erweckung von Anti-Climacus. Herausgegeben von S. Kierkegaard“. Sie nimmt ihren Aus-
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gang wie die dem Angstbegriff gewidmete „von der Seinsdualität des Menschen als eines in der Welt vorkommenden Seienden und als Freiheit des reinen Vollzugs“ (Theunissen, 506). Der menschliche Geist ist hineingespannt in einen Kontrast zwischen freier Selbstbestimmung, die ihm ein virtuell unendliches Möglichkeitsfeld verheißt, und einem seiner Gattungsnatur nach leibhaft verfassten und entsprechend beschränkten Weltdasein. Aus dieser Spannung geht nach Kierkegaard die Angst hervor, die zur Verzweiflung treibt. Wie sich die Angst, deren Begriff die Schrift von 1844 thematisiert, zu der Verzweiflung verhält, die knapp ein halbes Jahrzehnt später in der „Krankheit zum Tode“ erörtert wurde, ist eine vieldiskutierte Frage, die mit dem Sachproblem zusammenhängt, ob Angst bereits an sich selbst Sünde oder lediglich eine Prädisposition zu ihr sei (vgl. Bongardt, bes. 182 ff.). Gegen die Auffassung der Angst als einer indifferenten Zwischenbestimmung wurde geltend gemacht, dass sie im Grunde bereits sei, „was im Sinne Kierkegaards ‚Verzweiflung‘ ist“ (Koch, 181), also Sünde und kein „praelapsarisches Phänomen“ (W. Dietz, 286). Differenziert man hingegen zwischen Angst und Sünde im eigentlichen Sinn, dann ergibt sich hieraus ein entsprechender Unterschied zwischen einem noch nicht schuldhaften SichÄngstigen und der Schuld, in mutwilliger Verzweiflung man selbst oder nicht man selbst zu sein. Angst wäre unter diesen Interpretationsbedingungen peccatum originale im Latenzstadium, Verzweiflung manifeste Ursünde und schuldhaft ausgebrochene Krankheit zum Tode. Mag der sich Ängstigende erst im Begriffe stehen, dem peccatum originale zu verfallen, so ist der Fall, sobald sich Verzweiflung einstellt, faktisch vollzogen und längst schon getan. Der Mensch findet sich ausweglos in Sünde verstrickt vor. Mit schlichten psychologisch-hinweisenden Überlegungen ist ihm von nun an nicht mehr zu helfen; er bedarf der seelsorgerlichen Erbauung. Der Begriff des Erbaulichen bezeichnet bei KierkeSeelsorgerliche Erbauung gaard „die spezifische Qualität des menschlichen Gottesverhältnisses. Und er bezeichnet diese Qualität zugleich als eine spezifisch menschliche, insofern als auch die Funktion dieses Verhältnisses für das darin lebende Subjekt gerade gemeint ist. Wobei ausdrücklich mitgedacht wird, daß das religiöse Gottesverhältnis von dieser seiner Funktion bzw. subjektiven Bedeutung nicht ablösbar ist, vielmehr darin sich erst erfüllt.“ (Ringleben, Aneignung, 13) Das Erbauliche ist zugleich, wenngleich auf unterschiedliche Weise, Bestimmung des Gottesverhältnisses (vgl. Ringleben, Aneignung, 46 ff.) und Bestimmung der menschlichen Subjektivität (vgl. Ringleben, Aneignung, 27 ff.). Denn im Selbstverhältnis des Menschen ist das Gottesverhältnis angelegt, und im Gottesverhältnis das menschliche Selbstverhältnis mitgesetzt. Wer sich zu Gott verhält, verhält sich immer auch zu sich selbst, und niemand kann sich auf sich selbst beziehen, ohne auf den Grund bezogen zu sein, der weder mit Selbst noch mit Welt unmittelbar gleichgesetzt werden kann, weil er beide fundiert. Kierkegaards Glaubensverständnis sowie sein Verständnis des widrigen Gegenteils des Glaubens, der Sünde, ergibt sich hieraus. „Glaube ist: daß das Selbst, indem es es selbst ist und indem es es selbst sein will, durchsichtig in Gott grün-
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det.“ (Kierkegaard, Krankheit, 83) Im Glauben als der Gottesbeziehung des Menschen, die seiner kreatürlichen Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit entspricht, gründet das sich zu sich selbst und zu seiner Welt verhaltende Selbst „durchsichtig in der Macht, von der es gesetzt worden ist“ (Kierkegaard, Krankheit, 137). Die Sünde hingegen ist als Verkehrung des Gottesverhältnisses an und in sich selbst verkehrte Selbst- und Weltbeziehung des Ich. Indem es sich unmittelbar selbst zu setzen und zu bestimmen sucht, statt sich im Glauben als von Gott gesetzt zu empfangen, verfehlt das Ich sich selbst und seine Bestimmung in der Welt. Der Mensch verhält sich nicht nur zu dem, was er nicht selbst ist, sondern zu sich selbst. Als Geist ist er das sich zu sich selbst verhaltende Verhältnis. Mit Kierkegaards bekanntem Diktum zu reden: „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist dasjenige am Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.“ (Kierkegaard, Krankheit, 9) Als ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, muss das Selbst entweder sich selbst gesetzt haben oder durch etwas anderes gesetzt sein. Das Selbst des Menschen ist nach Kierkegaard kein unmittelbar in sich gründendes und durch sich selbst gesetztes Selbstverhältnis, sondern ein abgeleitetes, von anderwärts gesetztes Verhältnis, das, indem es sich zu sich selbst verhält, zugleich im Verhältnis zu demjenigen steht, „wovon das ganze Verhältnis gesetzt worden ist“ (Kierkegaard, Krankheit, 9). Ist der Glaube das durchsichtige und vertrauensvolle Gründen des sich zu sich selbst verhaltenden Selbst in demjenigen, was es fundiert, so hat das sündige Selbst das Vertrauen in seinen Grund verloren, und verhält sich, indem es sich ungläubig zu ihm verhält, zu sich selbst auf eine verkehrte Weise, welche nur die zwieträchtige Alternative zulässt, entweder verzweifelt nicht man selbst oder verzweifelt man selbst sein zu wollen. Während im Glauben „schlechterdings keine Verzweiflung ist“ (Kierkegaard, Krankheit, 137), ist die Sünde als das von seinem Grund abgekehrte und gegen sich gekehrte Selbstverhältnis des Menschen nichts als schiere Verzweiflung und als solche die Krankheit zum Tode. „Das Mißverhältnis der Verzweiflung ist kein einfaches Mißverhältnis, sondern ein Mißverhältnis in einem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, und von etwas anderem gesetzt ist, so daß sich das Mißverhältnis in jenem für sich seienden Verhältnis zu der Macht, von der es gesetzt wurde, zugleich unendlich reflektiert.“ (Kierkegaard, Krankheit, 10) Es macht das abgründige Unwesen der menschlichen Sünde aus, als Unglaube bzw. in sich verkehrter Glaube Sünde vor Gott zu sein. „Verzweiflung und Sünde sind identisch“ (Fischer, 105), wobei zwischen uneigentlicher und eigentlicher Sündenverzweiflung zu unterscheiden sei. Die erste besteht nach Kierkegaard darin, sich verzweifelt nicht bewusst zu sein, ein Selbst zu sein; die zweite in der zwieträchtigen Form, entweder verzweifelt nicht man selbst oder verzweifelt man selbst sein zu wollen. Beide Formen der eigentlichen Verzweiflung sind in ihrer Zwieträchtigkeit in dem selbstdestruktiven Zwange eins, sich von der Macht loszureißen, von der das Selbst gesetzt wurde. Als gegen seinen Grund gerichtet richtet sich das Selbst zugrunde gleich ob durch abstrakte
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Selbstaffirmation oder durch abstrakte Selbstnegation. Trotziger Stolz ist in seinem hybriden Hochmut ebenso eine Verzweiflungsgestalt wie das niedergeschlagene und aussichtslose Bestreben, sich selbst loszuwerden. Sünde ist nach Kierkegaard ein dezidiert religiösVerzweifelt man selbst theologischer Begriff, dessen transmoralische oder nicht man selbst sein Dimensionen in rein anthropologischer Perspekwollen tive nicht erkannt, sondern verkannt werden. Es bedarf des Offenbarungsglaubens, um zu tiefergehender hamartiologischer Einsicht zu gelangen. Der innere Abgrund der Sünde besteht darin, verzweifelte Selbstverfallenheit vor Gott zu sein. „Die Verzweiflung potenziert sich im Verhältnis zum Bewußtsein vom Selbst; das Selbst aber potenziert sich im Verhältnis zum Maßstab für das Selbst, und es potenziert sich unendlich, wenn Gott der Maßstab ist.“ (Kierkegaard, Krankheit, 81) Der Sünde des endlichen Selbst inhäriert Unendlichkeit, wenngleich auf höllisch verkehrte Weise. „Sünde ist: vor Gott verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen, oder vor Gott verzweifelt man selbst sein zu wollen.“ (Ebd.) Als Krankheit zum Tode betrifft sie nicht nur und auch nicht in erster Linie die sinnliche Natur, sondern das Geistwesen des Menschen, der sich in geistloser und geistwidriger Weise unmittelbar in sich selbst zu gründen sucht, um mutwillig in bodenloser Verzweiflung zu versinken, statt sich im Glauben auf Gott zu verlassen. Sünde ist Unglaube. Als Unglaube ist die Sünde nicht nur ein Mangel, sondern ein aktives Widerstreben, keine bloße Negation, sondern eine Position, durch deren Setzung sich das Selbst dem Grund entgegensetzt, in dem es gründet. Dass es für diese Setzung keinen vernünftigen Grund gibt, weil sie unvernünftig, ja vernunftwidrig ist, ändert nichts an ihrer Positivität als widersetzliche Setzung, aus deren freiheitszersetzendem Nihilismus nur der Glaube zu befreien vermag. Reue allein und für sich genommen ist nicht in der Lage, die Sünde aus ihrer verzweifelten Situation zu erretten. Reue kann im Gegenteil nach Kierkegaard selbst zur Sünde ausarten, nämlich zu der Sünde, über seine Sünden zu verzweifeln. „Die Verzweiflung über die Sünde ist ein Versuch sich zu halten, indem man noch tiefer sinkt“ (Kierkegaard, Krankheit, 113); sie ist der verzweifelte Einschluss der Verzweiflung in sich selbst und ihr Bestehen darauf, dass ihr nicht zu helfen sei. Als Krankheit zum Tode, die sie ist, bezweifelt die Sünde nicht nur die Möglichkeit der Sündenvergebung, sondern stellt ihre in Jesus Christus offenbare Wirklichkeit verzweifelt in Abrede. Damit ist das Äußerste der Sünde, nämlich die Sünde des Antichrist identifiziert, über die hinaus eine größere nicht gedacht werden kann. Der Unterschied von Schöpfer und Geschöpf wird durch sie zum antagonistischen Gegensatz: „Als Sünder ist der Mensch von Gott durch den bodenlosesten Abgrund der Qualität getrennt.“ (Kierkegaard, Krankheit, 127) Diese Trennung zu beheben steht allein im Vermögen Gottes, der nachgerade in der im auferstandenen Gekreuzigten offenbaren Möglichkeit und Wirklichkeit ihrer Behebung in seiner Unvergleichlichkeit manifest ist: „in einem Punkt wird der Mensch Gott in Ewigkeit nicht gleichen, im Vergeben von Sünden.“ (Ebd.)
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10. Sünde als existentielle Entfremdung bei Tillich
Lit.: G. Dorrien, The Making of American Liberal Theology: Idealism, Realism and Modernity. 1900–1950, Louisville/London 2003. – M. Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), Frankfurt a. M. 1988 (Gesamtausgabe II. Abteilung: Vorlesungen 1919–1944. Bd. 42). – S. Kierkegaard, Gesammelte Werke. 1. Abteilung: Entweder-Oder, Düsseldorf 1956. – R. Kroner, Kierkegaards Hegelverständnis, in: M. Theunissen/W. Greve (Hg.), Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt a. M. 1979, 425–436. – M. Laube, Die Unbegreiflichkeit der Sünde, in: NZSTh 49 (2007), 1–23. – O. Marquard, Über positive und negative Philosophien, Analytiken und Dialektiken, Beamte und Ironiker und einige damit zusammenhängende Gegenstände, in: H. Weinrich (Hg.), Positionen der Negativität, München 1975 (Poetik und Hermeneutik VI), 177–199. – St. Portmann, Das Böse – Die Ohnmacht der Vernunft. Das Böse und die Erlösung als Grundprobleme in Schellings philosophischer Entwicklung, Meisenheim 1966. – H. Rosenau, Die Differenz im christologischen Denken Schellings, Frankfurt a. M./Bern/New York 1985. – P. Schüz, Der Begriff Angst im Kontext der Kulturtheologie Paul Tillichs, in: Chr. Danz/W. Schüßler, Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin/Boston 2011, 327–345. – W. Schulz, Die Dialektik von Geist und Leib bei Kierkegaard. Bemerkungen zum Begriff Angst, in: M. Theunissen/W. Greve (Hg.), a. a. O., 347–366. – P. Tillich, Main Works/Hauptwerke I: Philosophical Writings/Philosophische Schriften, ed. by/hg. v. G. Wenz, Berlin/New York 1989 (= MV I). – Ders., Gesammelte Werke, Stuttgart 1959 ff. (= GW). – Ders., Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken, Stuttgart 1971 ff. (= EW). – Ders., Systematische Theologie. 3 Bd., Stuttgart 1956 ff. (= STh). – G. Wenz, Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs, München 1979. – Ders., Tillich im Kontext. Theologiegeschichtliche Perspektiven, Münster/Hamburg/London 2000.
Er ist die inkarnierte Idee sinnlicher Genialität, die nicht in Worten, sondern einzig und allein in Genius der Sinnlichkeit Musik zum Ausdruck gebracht werden kann, „die Begeistung des Fleisches aus des Fleisches eignem Geist“, wie es im Ersten Teil von Sören Kierkegaards „Entweder/Oder“ in Emanuel Hirschs Übersetzung heißt (Kierkegaard, 94). Seine Vitalität ist potentiell unendlich und treibt über jede Manifestationsform mit innerer Konsequenz hinaus. Die Richterskala der Eroberungen, über die Leporello Buch führt, muss daher als prinzipiell unabgeschlossen und nach oben hin offen gelten. Es ist nun einmal nicht die Art der Gattungsidee, in ein Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten: der Genius der Sinnlichkeit kann sich nicht mit Individuellem begnügen, um ihm den Status singulärer Einzigkeit zuzuerkennen. Seine Verführungskunst ist auf beständige Wiederholung angelegt. Don Giovanni ist treulos aus Prinzip, weil geniale Sinnlichkeit sich im Augenblick bzw. in einer Summe von Augenblicken erfüllt, die in dem Moment, welcher
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Ewigkeit in sich zu bergen verheißt, vollendet und beendet ist. Sehen und lieben ist eines: „dies ist im Augenblick so, und im gleichen Augenblick ist alles vorüber, und das Gleiche wiederholt sich ins Unendliche.“ (Kierkegaard, 101) Der Stoff, aus dem Mozarts am 28.10.1787 abgeschlossene und tags darauf in Prag uraufgeführte Meisteroper gestaltet ist, erhielt seine erste Prägung im amourösen Drama von Tirso de Molina, der das Volkssagenmotiv vom steinernen Gast mit den Liebesromanzen eines gewissen Don Juan Tenorio verband. Ein halbes Jahrhundert später hat ihm Moliere die Gestalt eines klassischen Dramas gegeben. Für die nachfolgenden Jahrhunderte sind zahllose literarische Adaptionen des Don Juan-Stoffes belegt. Musikalisch ist er nach Vorversuchen Christoph Willibald Glucks von Mozart zu früher Vollendung gebracht. Der Versuch, so Kierkegaard, „nach Mozart einen Don Juan zu liefern, wird stets heißen, eine Ilias nach Homer schreiben“ (Kierkegaard, 112). Der klassische Wert der Mozart’schen Oper bestehe im evidenten Erweis, „daß Don Juan schlechthin musikalisch ist. Er begehrt sinnlich, er verführt mit der dämonischen Gewalt der Sinnlichkeit, er verführt alle. Das Wort, die Erwiderung kommt ihm nicht zu; damit wird er sofort ein reflektierendes Individuum. Er hat überhaupt nicht so sehr Bestand, sondern er hastet hin in einem ewigen Entschwinden, gerade ebenso wie die Musik.“ (Kierkegaard, 109) Don Giovannis Leben „ist als Augenblick die Summe von Augenblicken, als Summe von Augenblicken der Augenblick“ (Kierkegaard, 103), unendlich allein im Moment flüchtiger Endlichkeit, die sich nicht auf Dauer stellen, sondern nur momentan zu verewigen in der Lage sieht. Mozarts Musik bringt dies nach Kierkegaard in unerhörter Weise zu Gehör. Sie lässt wahrnehmen, was in keinem Begriff und in keiner Vorstellung zu fassen ist: Die vollendete Fülle des Augenblicks und seine Flüchtigkeit, die ihn momentan zugrunde gehen und Halt allein im Vorübereilen finden lässt. Don Giovanni hastet wild von Begierde zu Genuss und von Genuss zu Begierde, um in einem ewigen Entschwinden begriffen zu sein wie die Musik. Nur sie ist die Form, die seiner Gestalt und dem eigentümlichen Gehalt seiner Mission gemäß ist. Wie ihr Held eilt Mozarts Oper über den Abgrund dahin: „Gleich wie ein Stein, den man so wirft, dass er die Wasserfläche flüchtig schneidet, eine Weile in leichten Sprüngen darüber hinhüpfen kann, wohingegen er in dem Augenblick, da er aufhört zu springen, alsogleich im Abgrund versinkt, ebenso tanzt Don Juan über den Abgrund hin, jauchzend in der ihm zugemessenen kurzen Frist.“ (Kierkegaard, 140) Mozarts Don Giovanni ist nach Kierkegaard eine ästhetische Gestalt, welche „überhaupt nicht unter ethische Bestimmungen fällt“ (Kierkegaard, 105) und sich daher moralischer Beurteilung von Grund auf entzieht. Auch als Sünder im religiösen Sinne hat er nicht zu gelten. Wohl ist er der Erstgeborene des Reiches der Sinnlichkeit, in welchem ewiger Taumel herrscht, der sich an sich selbst berauscht. Doch dass dieses Reich dasjenige der Sünde sei, „ist damit noch nicht gesagt; denn es muss festgehalten werden bei dem Augenblick, da es in ästhetischer Indifferenz sich zeigt. Erst indem die Reflexion hinzutritt, erweist es sich als das Reich der
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Sünde; alsdann aber ist Don Juan erschlagen, ist die Musik verstummt, und man wird nichts gewahr als den verzweifelten Trotz, der ohnmächtig sich aufbäumt, jedoch keinerlei Halt zu finden vermag, auch nicht in Tönen.“ (Kierkegaard, 96) Als Sünder kann Don Giovanni erst unter individuellen Reflexionsbedingungen in Betracht kommen, wie sie außerhalb der Oper in Geltung stehen und innerhalb ihrer allenfalls in Form eines „nichtssagenden Nachspiels“ (vgl. Kierkegaard, 145). Innerhalb der Oper befindet sich der Held, wenn man so will, noch jenseits von Gut und Böse Johannespassion und im Stadium einer Indifferenz, die nicht mehr unschuldig, aber auch noch nicht schuldig zu nennen ist. Kierkegaard versucht dies an der Ouvertüre von Mozarts Don Giovanni exemplarisch zu verdeutlichen. Die Lebenslust des Helden ist uranfänglich mit Todesangst verschwistert. „Es ist eine Angst in ihm, doch diese Angst ist seine Kraft. Es ist keine Angst, die subjektiv in ihm reflektiert wäre, es ist eine substantielle Angst. Keineswegs hat man in der Ouvertüre – wie man für gewöhnlich behauptet hat ohne zu wissen, was man sagt – Verzweiflung; Don Juans Leben ist nicht Verzweiflung; sondern es ist der Sinnlichkeit ganze Gewalt, geboren in Angst, und Don Juan selbst ist diese Angst, doch diese Angst ist eben die dämonische Lebenslust.“ (Kierkegaard, 139 f.) Ob dämonische Lebenslust oder Verzweiflung: Es ist die Angst, aus der beide geboren sind. Der Mozart’sche Opernheld fürchtet nichts in der Welt, aber er hat Angst um und vor sich selbst, vor der Realdialektik von Geist und Leib, vermöge derer der Geist durch ein ihm Entgegenwirkendes in der Sphäre des Eigenen bedrängt wird. Der Mensch ist Geist und nimmt sich als weltüberlegen-ungebunden war. Zugleich bindet ihn sein Leib in die Welt ein und zwar nicht nur äußerlich, sondern so, dass ihn seine welthafte Leiblichkeit ständig bedrängt. Dieses Bedrängtwerden des Geistes durch den Leibgegensatz erzeugt Angst. Kierkegaard fasst das Verhältnis von Geist und Leib anders auf als Schopenhauer und Nietzsche, welche den Leib „zum Ding an sich erhoben und den Geist entwertet“ (Schulz, 364) haben. Er bleibt Geistphilosoph, aber in jener zwiespältigen Weise, die seinem Verhältnis zu Hegel (vgl. Kroner) entspricht, indem er den Geist als konkret gebundenen und leibhaft verfassten denkt: „und das heißt für ihn eben wesentlich, daß der Geist der Geist eines Menschen ist, der sexuell bestimmt ist.“ (Schulz, 356 f.) Die Passion des unheiligen Johannes ergibt sich in Lust und Leid aus der Spannung, als Geistsubjekt immer schon und unhintergehbar dem Gattungsgeschick und seinem triebhaften Treiben ausgesetzt zu sein. Paul Tillich war vom Daimon Don Juans nicht nur in praxi fasziniert, sondern auch von der angst- Don Juans Daimon theoretischen Interpretation angetan, die Kierkegaard der verzweifelten Lebenslust und lebenslustigen Verzweiflung des Opernhelden hatte zuteil werden lassen. Geistesgeschichtlich vermittelt ist die Tillich’sche Affinität zu Kierkegaard eindeutiger noch als in vergleichbaren Fällen durch Schelling (vgl. im Einzelnen Wenz). Mit seinem Namen hat er die Anfänge des existen-
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tialistischen Protests gegen die Systemkonzeptionen des Deutschen Idealismus verbunden, wie er sie im begriffsabsolutistischen Essentialismus Hegels zur Vollendung und zu ihrem Ende gelangt sah. Zugleich repräsentiert Schelling für Tillich den Beginn einer postidealistischen Bewegung, die der religiösen Symbolik des Mythos und namentlich der christlichen Offenbarung nicht nur eine die theoretische und praktische Vernunft illustrierende Funktion zuerkannt, sondern sich um den Aufweis ihrer unersetzbaren konstitutiven Funktion für das Denken bemüht habe. Während, um nur das Wichtigste anzusprechen, Jesus Christus bei Kant lediglich ein für die Begründung praktischer Vernunft und die Geltung des kategorischen Imperativs letztlich entbehrliches Sinnbild der Gott wohlgefälligen Menschheit, bei Fichte die zu unmittelbarem Selbstbewusstsein gewordene absolute Vernunft und bei Hegel die Geschichte der göttlichen Idee im Modus der Vorstellung bezeichne, spreche Schelling im Laufe seiner Entwicklung der Erscheinung des Gottmenschen eine philosophische Fundamentalbedeutung zu und wende sich – darin Schleiermacher vergleichbar – folgerichtig gegen eine moralische bzw. metaphysische Funktionalisierung und philosophische Aufhebung von Religion und Theologie (vgl. Rosenau, 27 ff.). Zwar gelangte Tillich – wie sich vor allem an seiner philosophischen Dissertation über „Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien“ (vgl. ferner: Mystik und Schuldbewusstsein in Schellings philosophischer Entwicklung; MW I, 21 ff.) belegen ließe – zu der Auffassung, dass die Lehre von der empirischen Menschwerdung der zweiten Potenz systemimmanent unhaltbar sei, weil auch noch der späte Schelling zu sehr der idealistischen Position seiner Anfänge verhaftet geblieben sei, dergemäß die äußere Geschichte nur die Bedeutung haben könne, der inneren die Anschauung zu geben. Nichtsdestoweniger erachtete Tillich Schellings fortschreitende Abkehr von einer rationalistisch-idealistischen Geringschätzung des Geschichtlichen im Christentum als inadäquater Einkleidung ewiger Vernunftwahrheiten als ebenso vorbildlich wie dessen sich steigernde Kritik einer abstrakt apriorischen Wesensphilosophie, welche den Entfremdungserfahrungen des menschlichen Daseins in einer gefallenen Welt nicht gerecht zu werden vermöge. Entsprechend blieben für Tillich „Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes“ untrennbar verbunden, wofür seine gleichnamige Rede anlässlich einer Gedächtnisfeier zum 100. Todestag von Schelling am 26. September 1954 einen eindrucksvollen Beleg gibt (vgl. MW I, 391–402). Die Elemente, die zur existentialistischen Wendung führten, sieht Tillich in Schellings Philosophie von Anbeginn gegeben. Ihren Durchbruch durch den essentialen Rahmen, in dem sie anfangs gehalten waren, datiert er auf die Freiheitsschrift von 1809. Motiviert war dieser Durchbruch nach Tillichs Urteil nicht durch fremde Einflüsse, sondern durch eine innere Notwendigkeit in Schellings Gedankenbewegung. Sie verbiete es, seiner Lehre die dritte Stufe in der Reihe zuzuweisen, „die von Kant als ihrem Anfang zu Hegel als ihrem Ziel führt“ (Tillich, 393). Die Reihung habe nicht Kant, Fichte, Schelling, Hegel, sondern Kant,
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Fichte, Hegel, Schelling zu lauten. Denn es ist nach Tillich Schelling, der die nachkantische Philosophie des Deutschen Idealismus vollendet und auf ein Denken verwiesen habe, das in Kierkegaard oder Heidegger charakteristische Form annehmen sollte (vgl. Bd. 2, 89 ff.). Heidegger selbst hat Tillichs Einschätzung ausdrücklich bestätigt. Nach seinem bereits erwähnten Grenze des Idealismus Urteil ist die Freiheitsschrift, der er 1936 und 1941 eigene Lehrveranstaltungen widmete, „Schellings größte Leistung . . . und zugleich eines der tiefsten Werke der deutschen und damit der abendländischen Philosophie“ (Heidegger, 3). Indem sie in sein Zentrum führe, treibe sie „den deutschen Idealismus von innen her über seine eigene Grundstellung hinaus“ (Heidegger, 6; vgl. ferner Schulz). Dass Schelling in dem 45jährigen Zeitraum seit Erscheinen der Freiheitsabhandlung bis zu seinem Tode 1854 abgesehen von der Streitschrift gegen Jacobi von 1812 und einigen Gelegenheitsschriften nichts mehr publiziert habe, bedeute „weder ein Ausruhen auf dem bisher Erreichten noch gar ein Erlöschen der denkerischen Kraft. Wenn es nicht zur Gestaltung des eigentlichen Werkes kam, dann liegt das an der Art der Fragestellung, in die Schelling seit der Freiheitsabhandlung hineinwuchs.“ (Heidegger, 4) Als Frage nach der Freiheit zum Guten und (nicht nur oder) zum Bösen führe die Freiheitsfrage die Fraglichkeit des Systemganzen insofern herbei, als mit dem zwieträchtigen Unfug in sich widriger Verkehrtheit das Seinsgefüge insgesamt aus den Fugen zu geraten drohe. Tillich hat Schellings Freiheitsschrift im Unterschied zu Heidegger weder als Metaphysik des Bösen bezeichnet, noch mit ihr das beginnende Ende der Metaphysik überhaupt verbunden. Der Anfang, den sie markiert, steht für ein werdendes Bewusstsein von der Ohnmacht der Vernunft (vgl. Portmann) angesichts der Faktizität böser Untat, die nur durch das unvordenkliche Offenbarungsfaktum gottmenschlicher Versöhnung behoben werden könne. Ein fortgeschrittenes Stadium dieses Bewusstseinsprozesses sah Tillich bei Kierkegaard gegeben, der recht eigentlich erst im beginnenden 20. Jahrhundert zu breiter Wirkung gelangte und zwar vor allem in den Reihen der Vertreter der sog. Dialektischen Theologie. Ihren Anfängen ist neben Karl Barth auch Tillich zuzurechnen, der in seinen im Frühjahr 1963 in Chicago gehaltenen Vorlesungen über „History of the Protestant Theology in the 19th and 20th Century“ ausführlich von seinen ersten Lektüreerfahrungen mit Kierkegaardtexten in den Jahren zwischen 1905 und 1907 berichtet. „Wir konnten damals vieles, was uns angeboten wurde, nicht akzeptieren: weder die Orthodoxie der Repristinationstheologie noch besonders die positive, d. h. konservative Haltung der Theologen, die die historisch-kritische Schule ablehnten. Wir erkannten die ehrlichen wissenschaftlichen Forschungen dieser Schule an, die vor allem die geschichtlichen Grundlagen des Neuen Testaments aufzudecken suchte. Andererseits litten wir unter dem Moralismus und der Leere der liberalen Theologie, wie sie durch die Ritschl-Schule vertreten war. Wir vermißten in ihr die Wärme der mystischen Gegenwart des Göttlichen. Den Moralismus konnten wir nicht annehmen, weil ihm die Tiefe des Schuldbewußtseins fehlte, die in
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der klassischen Theologie immer vorhanden gewesen war. So waren wir glücklich, als wir Kierkegaard begegneten, in dem sich tiefe Frömmigkeit mit philosophischer Größe verband – einer Größe, die er seiner kritischen Auseinandersetzung mit Hegel verdankte.“ (EW II,134) Neben der Schrift „Die Krankheit zum Tode“ beeindruckte Tillich insbesondere die Abhandlung zum Angstbegriff, an die seine eigene Ontologie der Angst anschloss. Angst, heißt es in dem Tillichtext „The Courage to Be“ „ist der Zustand, in dem ein Seiendes der Möglichkeit seines Nichtseins gewahr wird, oder kürzer gesagt: Angst ist das existentielle Gewahrwerden des Nichtseins.“ (GW XI, 35) Indem das Endliche seiner Endlichkeit als solcher gewahr wird, ängstigt es sich und wird vom nihilistischen Schauder drohenden Nichtseins erfasst. In drei typischen, geschichtlich geprägten Formen tritt die Nichtigkeitsangst nach Tillich auf (vgl. Bd. 2, 265 f.): in der Form der Angst vor dem ontischen, vor dem moralischen und vor dem geistigen Nichts. Die ontische Selbstbejahung des Menschen wird durch Schicksal und Tod, die moralische durch Schuld und Verdammnis, die geistliche durch Leere und Sinnlosigkeit bedroht. Alle drei Formen der Angst, deren Eigenart Tillich in Antike, Mittelalter und Neuzeit jeweils spezifisch ausgeprägt findet, haben es mit dem Problem der Sünde insofern zu tun, als sie zu deren Anlass werden können. Wo die Angst nicht in den Mut zum Sein integriert und durch ihn behoben wird, pathologisiert sie sich und führt eine Verkehrtheit herbei, die gleichermaßen Verhängnis und zurechenbare Schuld und damit genau jenes ist, was die Tradition als peccatum originale bezeichnet hat. Tillichs Ontologie der Angst setzt wie seine theoloOntologie der Angst gische Gesamtkonzeption subjektivitätstheoretisch, also bei der Selbstwahrnehmung eines bewusstseinsbegabten Menschenwesens an, das der Welt zwar zugehört, aber gleichwohl von ihr unterschieden ist. Der modernitätsspezifisch-anthropologische Ansatz bestimmt nicht nur die an der Subjektivitätsproblematik des transzendentalen Idealismus orientierten Anfänge, sondern auch noch die seinsmetaphysische Konzeption der Spätzeit. Die Prävalenz des Ontologischen in den späteren Jahren bedeutet keineswegs die Verabschiedung der Subjektivitätsproblematik; vielmehr zielt die pneumatologische Gesamttendenz der Gedankenfolgen eindeutig auf das Zusichkommen des Seins im Subjekt. Die Seinsmetaphysik der Tillich’schen Spätzeit bleibt also darin neuzeitlich, dass sie menschliche Selbstfindung zu ihrem zentralen Thema macht. Der Mensch als das vollzentrierte personale Selbst steht nach Tillich zugleich in der Welt und ihr gegenüber. Der in Selbsterkenntnis begriffene Mensch findet sich einerseits vor als Teil der gegebenen Welt, als ein empirisches Einzelding, als eine Entität unter vielen, und er nimmt sich andererseits und simultan wahr als einheitsstiftendes Subjekt, auf dessen Selbstbewusstsein die Welt in ihrer Totalität durchweg bezogen ist. Als ein selbstbewusstes Ich gehört der Mensch der Welt mithin nicht nur an, sondern ist immer auch von ihr unterschieden. Tillich ist nachdrücklich darum bemüht, beide Aspekte, Weltimmanenz und Welttranszen-
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denz des Menschen, gleichermaßen zur Geltung zu bringen. Gegenüber der idealistischen Annahme, der Mensch könne sich nach Weise eines absoluten Subjekts unmittelbar sein Weltdasein setzen, wird auf die alternativlose und elementare Weltgebundenheit aller menschlichen Selbstvollzüge verwiesen. Die nachidealistische Wende des Denkens im Zusammenhang etwa der Erkenntnis biologisch-evolutionärer Bedingtheit des Menschen sowie der Entdeckung der Bedeutung des Unbewussten für die menschliche Psyche erscheint Tillich als schlechterdings unhintergehbar. Gleichwohl wird das Wesen des Menschen nach seinem Urteil verkannt, wenn dieser in naturalistisch-materialistischer Externperspektive als bloß welthaftes Objekt beschrieben wird, weil einer solchen Außenbetrachtung die für das menschliche Sein charakteristische Selbstbeziehung zwangsläufig entgehen muss. Tillich zieht daraus den Schluss, dass Selbstbeziehung und Weltbeziehung wechselseitig vermittelt sind, der polare Zusammenhang von Selbst und Welt von keiner Seite her aufgelöst werden darf. Dabei fügt er hinzu, dass die polare Einheit von Selbst und Welt nur im Menschen vollgültig realisiert ist. Zwar partizipiert jedes Seiende an jener Seinsstruktur, jedoch allein der Mensch ist diese Struktur selbst. Eben weil er das voll entwickelte Selbst ist, hat er auch Welt im Vollsinne, nämlich als ein strukturiertes Ganzes. Der Mensch hat Welt, d. h. er ist in der Lage, endlos die partikularen Wirklichkeiten gegebener Umwelten zu überschreiten. Die Weltoffenheit des Menschen als einer vollzentrierten Person wertet Tillich als einen Hinweis auf den extramundanen Grund menschlicher Personalität überhaupt. Die Selbst-Welt-Analyse bietet sonach den wichtigsten Anknüpfungspunkt für die die göttliche Offenbarungswahrheit bedenkende Theologie. Indes ist dieser Anknüpfungspunkt nicht dergestalt verfasst, dass er der bloßen theologischen Bestätigung bedürfte. Tillich geht vielmehr davon aus, dass unter den Bedingungen der Existenz infolge eines transhistorisch verstandenen Sündenfalls die Polarität von Selbst und Welt faktisch depolarisiert und die menschliche Personalität desintegriert ist. Die eindringlichen Analysen der dadurch bedingten Entfremdungsphänomene gehören zum Eindrucksvollsten, was Tillich geschrieben hat. Zugleich verweisen sie darauf, dass der sich selbst und seiner Lebenswelt entfremdete Mensch, um zu sich und seiner Bestimmung zu finden, der Begegnung mit jenem Neuen Sein bedarf, wie es im dreieinigen Gott gründet und in Jesus als dem Christus zum Heil von Menschheit und Welt in der Kraft des Hl. Geistes vollendet erschienen ist. Die Verkehrtheit der Sünde wirkt auf in sich widrige Weise Entfremdung in Bezug auf Selbst, Entfremdung Welt und den Grund, in dem beide fundiert sind. Als „der tiefsinnigste und reichste Ausdruck für das Bewußtsein des Menschen um seine existentielle Entfremdung“ (STh II, 37 f.) gilt Tillich die biblische Geschichte vom Sündenfall, die er allerdings nicht literalistisch im Sinne einer Historie am chronologischen Anfang der Zeiten, sondern symbolisch verstehen will. Der Fall der Sünde ist ein transhistorisches Faktum, ein „Symbol für die uni-
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versale menschliche Situation“ (STh II, 35). Symbol bedeutet nach Tillich mehr als ein bloßes Zeichen. Als Veranschaulichung dessen, was die Sphäre jeder Anschauung transzendiert, bringt das Symbolische in Formen des Bedingten das Unbedingte zur Sprache. Charakteristisch für die Symbolsprache der Religion sind Selbstmächtigkeit und Uneigentlichkeit. Das religiöse Symbol ist kein bloßes Zeichen, welchem das Bezeichnete äußerlich ist; die Behauptung einer Realpräsenz der res significata im signum hat im Gegenteil ihre Richtigkeit, ja Notwendigkeit. Symbole und Sakramente sind in dieser Hinsicht durchaus vergleichbar. Das hebt nach Tillich die Tatsache nicht auf, sondern bestätigt sie, dass nämlich unmittelbar sinnidentische Prädikationen in Bezug auf das Unbedingt-Transzendente wesensmäßig unmöglich sind. Darauf verweist das Symbolcharakteristikum der Uneigentlichkeit. Symbolische Rede hebt sonach Äquivokation und Univokation gleichermaßen in sich auf, indem sie beide zu Momenten eines Übergreifenden, sie transzendierenden Zusammenhangs herabsetzt. So will es Tillich in seligem Angedenken der klassischen Lehre von der Analogie, wenn man so sagen darf. Es ist hier nicht zu prüfen, ob die für Tillichs Symboltheorie konstitutive Annahme der Simultaneität von Uneigentlichkeit und Selbstmächtigkeit aufrechtzuerhalten ist oder ob sie nicht mit der klassischen Analogielehre den Hang zur Univokation teilt. Genommen seien Symbol und Mythos, der nach Tillich nichts anderes ist als ein zu einer Einheit gruppierter Symbolkomplex, zunächst einfach als dasjenige, was beide zu sein beanspruchen: als etwas Schwebendes, dem weder durch rationalisierende Entmythologisierung noch durch Remythologisierung der ratio im Sinne einer Fixierung des Geistes auf den bloßen Buchstaben beizukommen ist. Was gefordert ist, um zu einem rechten Verständnis des Symbols im Allgemeinen und desjenigen vom Fall der Sünde, wie der Genesismythos es enthält, im Besonderen zu gelangen, ist – mit Tillich zu reden – eine „halbe Entmythologisierung“ (STh II, 36) vonnöten, welche das Legendäre im Sinne von geistloser Buchstäblichkeit ausscheidet, ohne einer Spiritualisierung zu frönen, welche die religiöse Vorstellung im spekulativen Begriff absoluter Gnosis überhaupt zum Verschwinden bringt. „Völlige Entmythologisierung“, sagt Tillich, „ist unmöglich, wenn etwas über den Übergang von der Essenz zur Existenz ausgesagt werden soll.“ (Ebd.) „Übergang von der Essenz zur Existenz“ – das zeitVon der Essenz zur liche Element, das in der besagten Wendung, welExistenz che den Sinn des Symbols vom Fall der Sünde umschreibt, enthalten ist, erinnert daran, dass die Verbindung von Mythos und Logos nicht einseitig auflösbar ist. Nicht von ungefähr fungiert die biblische Sündenfallgeschichte in der Darstellung Tillichs als das, wie es heißt, bleibende narrative Schema, in dem der Übergang von der Essenz zur Existenz behandelt wird. Dies geschieht unter vier Aspekten, nämlich erstens hinsichtlich der Voraussetzungen für diesen Übergang (STh II, 38 f.), zweitens im Hinblick auf seine Motive (STh II, 39–43), drittens hinsichtlich seiner Faktizität (STh II, 43–52) und vier-
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tens hinsichtlich seiner Folgen (STh II, 52–68). Die Folgen sündiger Verkehrung und die Merkmale menschlicher Entfremdung beschreibt Tillich im Anschluss an die Tradition als Unglaube, Hybris und Konkupiszenz. Eigene Akzente, die stark an Kierkegaard orientiert sind, setzt er in Bezug auf Voraussetzungen, Motive und Faktizität des Falles der Sünde. Zum ersten: Der Mensch ist frei. Das unterscheidet ihn von allen anderen irdischen Lebewesen, die allenfalls über isolierte Momente von Freiheit, nicht aber über diese selbst verfügen. Der Mensch ist frei, indem er sich, nicht zuletzt mittels des Begriffsvermögens der Sprache, die ihn zur Vernunft bringt, jeder festgelegten Situations- bzw. Reiz-Reaktions-Fixierung entledigen kann, um in exzentrischer Selbsttranszendenz eine humane Weltoffenheit zu realisieren, welche die Schranken der extrahumanen Kreatur bis ins Transmundane hinein zu übersteigen vermag. Gleichwohl ist die Freiheit des Menschen nicht absolut, sondern vom Schicksal begrenzt. „Schicksal“ – damit soll kein Fatum bezeichnet sein, welches den Menschen äußerlich betrifft, sondern das Geschick, welches ihm im Innersten dadurch eignet, dass er als gottunterschiedenes Selbst leibhaft zur Welt gekommen ist, um nicht als ein und alles, sondern als einer unter anderen im Kontext des Differenzierten zu sein, besser: da zu sein. Kurzum: „Die Freiheit des Menschen ist endliche Freiheit. Alle Potentialitäten, die seine Freiheit konstituieren, sind durch den Gegenpol, sein Schicksal, begrenzt. Nur Gott ist sein eigenes Schicksal; er transzendiert die Polarität von Freiheit und Schicksal. Im Menschen schränken sich Freiheit und Schicksal gegenseitig ein.“ (STh II, 38 f.) Die schicksalhaft geprägte Struktur der endlichen Freiheit des Menschen ist es, aus der Tillich die Möglichkeit des Falles der Sünde folgert. Er scheut sich nicht zu sagen, „daß die Möglichkeit der Abwendung von Gott eine Qualität der Struktur der Freiheit als solcher ist. Die Möglichkeit des Falls beruht auf allen Eigenschaften der menschlichen Freiheit in ihrer Einheit. Symbolisch gesprochen: Es ist das Ebenbild Gottes im Menschen, das die Möglichkeit des Falles schafft.“ (STh II, 39) Die Möglichkeit der Sünde ist nach Tillich in der kreatürlichen Freiheitsstruktur des Menschen begründet. Zwar soll es nicht das Faktum des Sündenfalles, sondern nur die Möglichkeit hierzu sein, welche der endlichen Freiheit des gottgeschaffenen Menschen kreatürlich innewohnt; ausdrücklich verwahrt sich Tillich dagegen, die Sünde „als zur Schöpfung gehörig, als notwendige Konsequenz der menschlichen Natur“ (STh II, 36) anzusehen. Die Sünde, so wird gesagt, „gehört nicht zur Schöpfung; der Übergang von der Essenz zur Existenz ist ein Faktum, aber nicht eine ableitbare dialektische Notwendigkeit.“ (Ebd.) Die Möglichkeit zu sündigen indes ist mit der Endlichkeit menschlicher Freiheit gesetzt. Zum zweiten: Träumende Unschuld nennt Tillich das essentielle Sein des Menschen, das – mit keinem Stadium menschlicher Entwicklung identisch, vielmehr in allen Entwicklungsstadien des Menschen gegenwärtig – als reine Potentialität aller existentiellen Aktualität zugrunde liegt. Welchen Erfahrungskontexten diese schon bei Schelling begegnende Metapher entnommen ist und welche Assoziationen sie hervorzurufen geeignet ist, ist hier nicht zu erörtern, so aufschlussreich dies
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im einzelnen wäre. Festgehalten werden soll nur, was Tillich so sagt: „Der Zustand der träumenden Unschuld treibt über sich hinaus. Die Möglichkeit des Übergangs zur Existenz wird als Versuchung erfahren. Versuchung ist unvermeidlich, denn der Zustand der träumenden Unschuld ist der Zustand der Unentschiedenheit.“ (STh II, 41) „Nur die bewußte Einheit von Existenz und Essenz“, heißt es, „ist Vollkommenheit. Gott ist vollkommen, weil er jenseits von Essenz und Existenz steht.“ (Ebd.) Wird damit Vollkommenheit als schöpfungstheologische Kategorie überhaupt aufgegeben und ausschließlich einem transzendenten Schöpfergott vorbehalten, der seiner Kreatur prinzipiell jenseitig ist? Tillich verneint diese Frage, aber er stellt ihre Verneinung unter den Vorbehalt, dass kreatürliche Vollkommenheit im Unterschied zur göttlichen durch die Differenz von Potenz und Akt bestimmt ist. Im protologischen Status träumender Unschuld ist das essentielle Sein des Menschen reine Potentialität, die sich zur Aktualisierung getrieben fühlt. Der Mensch kann es nicht beim bloßen Vermögen der Freiheit belassen, er muss und will sie realisieren. Im Augenblick der Wahrnehmung, dass potentielle Freiheit willentlich und notwendig auf Realisierung ausgerichtet ist, stellt sich nach Tillich Angst ein. Endliche Freiheit ist „sich ängstigende Freiheit“ Sich ängstigende Freiheit (ebd.). Nimmt man die Wendung „endliche Freiheit“ nicht nur als äußerliche Beschreibung, sondern als den Begriff, der mit dem Sein des Menschen untrennbar verbunden ist, so dass der Mensch an sich selbst als der realisierte Begriff endlicher Freiheit zu gelten hat, dann, so Tillich, ergibt sich die Gleichung von Endlichkeit und Angst von selbst. Denn in der Wahrnehmung seiner selbst als endlicher Freiheit ängstigt sich der Mensch und zwar dergestalt, dass die Alternative, sich nicht zu ängstigen, entfällt. Denn die Angst vor dem stetig drohenden absoluten Nichtsein ist mit dem sich wissenden endlichen Sein des Menschen, welches Tillich als „Mischung aus Sein und Nichtsein“ (ebd.) beschreibt, untrennbar verbunden. In diesem Sinne ist Angst ein Existential, das nicht zur Disposition menschlicher Wahlmöglichkeit steht, sondern dieser schon zugrunde liegt. Der Begriff endlicher Freiheit des Menschen im Sinne manifesten Bewusstseins derselben ist mit demjenigen der Angst identisch und kann von diesem unterschieden werden nur, wenn man ihn rein potentiell nimmt, was möglich, aber eben nur im irrealen Sinne einer nicht wirklichen Möglichkeit möglich ist. Die die endliche Freiheit des Menschen unaufhaltsam beschleichende Angst hinwiederum zieht, um beim Schlangenbild der Genesisgeschichte zu bleiben, die Versuchung zwangsläufig nach sich. Die sich ängstigende Freiheit wird zur erregten Freiheit, wobei die Enge der Angst als treibende Kraft der Erregung zu gelten hat. Ein Zwiespalt tut sich auf bzw. hat sich immer schon aufgetan: „Dieser Zwiespalt ist der wichtigste Punkt in der Interpretation des Falls, denn er setzt eine Sünde voraus, die noch nicht Sünde ist, aber auch keine Unschuld mehr ist.“ (STh II, 42) Indem die endliche Freiheit ihrer selbst bewusst wird und ängstlich danach verlangt, die Enge bloßer Potentialität zu verlassen, um aktuell zu werden, kommt
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es zum Konflikt zwischen dem kindlichen Selbsterhaltungswunsch träumender Unschuld, welche Tillich eigentümlicher- bzw. bemerkenswerterweise mit dem väterlichen Verbot Gottes, vom Baum der Erkenntnis zu essen, in Verbindung bringt, und dem erwachsenen Willen, das Paradies reiner Potentialität zu verlassen und seine Freiheit unter Verlust der Unschuld zu realisieren. Mit dem Entscheid für aktuelle Realisierung endlicher Freiheit, der als unvermeidbar und selbst im Falle versuchter Sistierung träumender Unschuld oder entsprechender Regressionsversuche als unhintergehbar vollzogen zu gelten hat, ist der Fall der Sünde Faktum geworden. Zum dritten: „Der Übergang von der Essenz zur Existenz ist das ursprüngliche Faktum. Es ist nicht das erste Faktum in einem zeitlichen Sinn oder ein Faktum neben anderen; es ist das, was jedem Faktum Realität verleiht. Es ist wirklich in jeder Wirklichkeit. Das bedeutet, dass der Übergang von der Essenz zur Existenz eine universale Qualität des endlichen Seins ist. Der Übergang ist kein Ereignis in der Vergangenheit, denn er geht allem, was sich in Zeit und Raum ereignet, ontologisch voraus. Er konstituiert die Bedingungen zeitlicher und räumlicher Existenz, und er ist manifest in der Art, in der in jedem Individuum der Übergang von träumender Unschuld zu schuldhafter Verwirklichung sich vollzieht.“ (STh II, 43) Der Fall der Sünde als symbolischer Ausdruck für eine universale Verfasstheit endlichen Seins, die aller raumzeitlichen Aktualität als Urfaktum vorausgeht: auch wenn Tillich die Rede von einer Erbsünde als unangemessen ablehnt (vgl. STh II, 45), die traditionelle dogmatische Annahme eines die Verkehrtheit aller Aktualsünden abgründig bedingenden peccatum originale findet sich zweifellos auch bei ihm. Der Fall der Sünde betrifft die Menschheitsgattung zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen ihren Gliedern. Die Alten hatten in diesem Zusammenhang allerdings stets mit einer unvergleichlich singulären Ausnahme gerechnet und auf die Sündlosigkeit Jesu Christi als eine analogielose Eigenart seiner menschlichen Natur verwiesen. Zumindest im gegebenen Argumentationszusammenhang kennt Tillich eine solche „Ausnahme“ nicht. Das Symbol des Sündenfalls steht uneingeschränkt für den „tragisch-universale(n) Charakter der Existenz“ (ebd.) überhaupt. Wird damit der Fall der Sünde nicht fatalisiert und als metaphysische Zwangsläufigkeit entschuldigt? Tillich will diese Konsequenz dezidiert vermeiden. Sünde, so heißt es, ist immer zugleich universales Schicksal und Akt individueller Entscheidung. Weder als bloßes Fatum noch lediglich als kosmologisches Übel soll die Sünde angesehen werden. Zu gelten hat vielmehr: die Sünde ist am Faktum ihres Falls schuld, selbst schuld. Es gehört in diesen Zusammenhang, dass Tillich in negativer Entsprechung zu seiner Bestimmung des Selbst-Welt-Zusammenhangs den Übergang von der Essenz zur Existenz allein durch den Menschen Ereignis werden lässt (vgl. STh II, 47). Wenngleich der Fall der Sünde auch als kosmisches Ereignis zu sehen ist, so muss die Lehre vom Fall „immer behandelt werden als eine Lehre vom Fall des Menschen“ (STh II, 39). Wie die Tendenz seiner Theologie insgesamt, so ist auch die seiner Hamartiologie eher auf eine Anthropologisierung der Kosmologie denn auf eine Kosmologisierung der Anthropolo-
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gie ausgerichtet. Dennoch bleibt es schwierig, genau zu sagen, wie man sich das Verhältnis von kosmos und anthropos hamartiologisch zu denken hat. Diese Schwierigkeit hängt u. a. damit zusammen, dass man über das Verhältnis von Leib und Seele des Menschen, das anthropologieintern für die Selbst-WeltRelation steht, im Kontext der Tillich’schen Sündenlehre nicht viel mehr erfährt als den Hinweis, die vertretene Lehre vom Menschen sei betont monistisch und gegen jede dualistische Auffassung der menschlichen Natur gerichtet, so dass die gegebene hamartiologische Analyse auch nichts zu tun habe mit dem Konflikt zwischen Geist und Körper des Menschen. Wie immer man über die Richtigkeit dieses Hinweises urteilen mag, Tatsache ist, dass Tillichs Verhältnisbestimmung des, wie er zumeist sagt, tragischen und moralischen Elements im Übergang vom essentiellen zum existentiellen Sein von seinen Interpreten nicht selten als unbefriedigend empfunden und entsprechend beurteilt wurde. Dabei registrierte man trotz der nachdrücklichen Betonung, die Tillich dem Gedanken persönlicher Verantwortung und Sündenschuld des Menschen zuteil werden lässt, in der Regel eine einseitige Präponderanz des Elements kosmischer Tragik und attestierte dem Tillichschen Denken einen Zug zur Fatalisierung der Sünde, in deren Folge das Böse zu einer Naturnotwendigkeit zu werden drohe. „Jede Deduktion der Sünde hebt den Begriff der Fünfte Disputationsthese Sünde auf.“ (MW I,25) So lautet die fünfte Disputationsthese Paul Tillichs im Zusammenhang seiner Inauguraldissertation „Mystik und Schuldbewusstsein in Schellings philosophischer Entwicklung“ von 1912. Entsprechen seine schöpfungstheologischhamartiologischen Erwägungen zum Übergang von der Essenz zur Existenz des Menschen diesem Grundsatz? Um auf diese Frage eine angemessene Antwort zu finden, bedarf es erneuter Bezugnahmen auf die ontologische Grundstruktur der Selbst-Welt-Polarität, von welcher der Gedankengang seinen Ausgang nahm. Die Polarität von Selbst und Welt enthält Momente, die ihrer Struktur konstitutiv angehören: Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal. „In diesen drei Polaritäten drückt das erste Element die Selbstbezogenheit des Seienden aus, seine Macht, etwas für sich zu sein, während das zweite Element die gegenseitige Abhängigkeit des Seienden, seinen Charakter, Teil eines Universums des Seienden zu sein, ausdrückt.“ (STh I, 195) Während die Polarität von Individualisation und Partizipation ihre vollentwickelte Form in dem Zusammenhang von Einzelperson und Persongemeinschaft findet („Die Person als das vollentwickelte individuelle Selbst ist unmöglich ohne andere vollentwickelte Selbste.“ [STh I, 208]), verweist diejenige von Dynamik und Form auf die untrennbare Verbindung von Sein und Werden, Selbstidentität bzw. Selbsterhaltung und Selbsttranszendenz. In der dritten ontologischen Polarität als derjenigen von Freiheit und Schicksal erreicht nach Tillich „die Beschreibung der ontologischen Grundstruktur und ihrer Elemente ihre Erfüllung und ihren Wendepunkt . . . Freiheit in Polarität mit Schicksal ist das Strukturelement, das Existenz ermöglicht, da es die essentielle
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Notwendigkeit des Seins transzendiert, ohne es zu zerstören.“ (STh I, 214) Das ontologische Strukturelement der Freiheit-Schicksals-Polarität bestimmt das Seiende und namentlich das Sein des Menschen, in welchem die Selbst-Welt-Struktur zum Bewusstsein ihrer selbst kommt und damit als selbstbewusster Begriff manifest ist, als endliche Freiheit. Dabei zeigt der Begriff der endlichen Freiheit, dass das Schicksal der Freiheit nicht lediglich äußerlich ist wie der Determinismus dem Indeterminismus. Als Schicksalsfaktoren fungieren nicht nur die anthropologieexterne Welt und Natur bzw. der Sozialzusammenhang der Geschichte. Vielmehr ist die Freiheit des Menschen als endliche an sich selbst schicksalshaft bestimmt oder anders: der Mensch ist sein eigenes Schicksal und als solches endliche Freiheit; und er ist das eine, weil er das andere ist. Der Mensch ist endliche Freiheit als sich selbst offenbare Einheit von Schicksal und Freiheit. Als sich selbst offenbare Einheit von Schicksal und Freiheit nimmt sich der Mensch mitsamt dem Selbst-Welt-Verhältnis, indem er sich vorfindet, als zutiefst fraglich wahr. Noch bevor er eine bestimmte Frage stellt, ist der Mensch sich selbst fraglich. Fraglichkeit ist die Grundsignatur seines existentiellen Daseins. „Die ursprüngliche Bedeutung von ‚existieren‘ – im Lateinischen existere – ist ‚herausstehend‘. Man fragt sofort: woraus herausstehen? Die generelle Antwort auf diese Frage, woraus wir herausstehen, lautet: Wir stehen aus dem Nichtsein heraus.“ (STh II, 26) Der existierende Mensch „partizipiert nicht nur am Sein, sondern auch am Nichtsein“ (STh I, 219) und zwar speziell so, dass er als dasjenige Seiende, das um sich selbst weiß und daher überhaupt die ontologische Frage zu stellen vermag, sich seiner simultanen Teilhabe an Sein und Nichtsein auf ureigenste, keine Distanzierung zulassende Weise bewusst ist. Das Bewusstsein, als Seiendes zugleich an Sein und Nichtsein teilzuhaben, ja an sich selbst ein manifest Endliches in der Einheit von Sein und, wie Tillich sagt, dialektischem, meontischem, will heißen: seinsrelativem Nichtsein zu sein, ist identisch mit Angst. Angst ist daher für das bewusste Leben des endlichen Menschen unvermeidbar. Angst ist die Signatur menschlichen Daseins als solchen. Oder anders und wörtlich mit Tillich gesagt: „Endlichkeit, wenn sie ihrer selbst gewahr wird, ist Angst. Wie die Endlichkeit ist Angst eine ontologische Qualität. . . . Als eine ontologische Qualität ist Angst allgegenwärtig wie Endlichkeit.“ (STh I, 224) Im Unterschied zur Furcht, die auf einen Gegenstand bezogen ist, ängstigt sich die Angst, Kategorien der Endlichkeit wie es im Anschluss an Kierkegaard heißt, im wahrsten Sinne des Wortes vor Nichts. Eben damit ist Angst ein Existential, das mit der Existenz des Menschen als sich wissender Endlichkeit untrennbar, weil auf ontologische Weise verbunden ist, wenn anders Endlichkeit als durch Nichtsein begrenztes Sein (vgl. STh I, 222) zu gelten hat. Hinzuzufügen ist, dass der Angst als der, wenn man so will, Innenseite menschlichen Endlichkeitsbewusstsein äußerlich die Schranken von Zeit, Raum, Kausalität und Substanz korrespondieren, womit die vier Tillichschen Hauptkategorien der Endlichkeit benannt sind (vgl. STh I, 225 ff.). Dabei lassen sich Innen- und Außenseite zwar unterscheiden,
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nicht aber trennen; sie stehen in einem Verhältnis, das dem von Selbst und Welt analog ist. Zeit ist in diesem Sinne, um ein Beispiel zu geben, nicht lediglich eine chronologische Kategorie der äußeren Welt; sie betrifft in der Gestalt der Zeitlichkeit vielmehr das Innerste des Menschen, was namentlich in der Angst des Sterbenmüssens manifest ist, welche mehr oder minder latent die gesamte Lebenszeit des Menschen begleitet. Vergleichbares gilt für die Endlichkeitskategorien des Raumes, der Substanz sowie der Kausalität als der Ursprungskategorie endlichen Seins. Folgt man Tillich, dann ist die Frage nach einer externen Ursache eines Seienden ein Primärindiz für dessen Unfähigkeit zur Selbstbegründung. Kausalität verweist sonach auf Kontingenz im Sinne von Nicht-Notwendigkeit. Oder anders: „Kausalität drückt machtvoll den Abgrund des Nichtseins in jedem Ding aus.“ (STh I, 229) Kausalität „drückt sowohl Sein wie Nichtsein aus“ (ebd.). Um Missverständnisse zu vermeiden, muss klargestellt werden, dass Kausalität nicht gleichgesetzt werden darf mit einem durch den Gegensatz zum Indeterminismus bestimmten Determinismus. Kausalität übergreift vielmehr die – ohnehin nur relative – Differenz zwischen Determinismus und Indeterminismus und hat als eine Verfasstheit der Welt insgesamt zu gelten. In diesem Sinne wertet Tillich Kausalität als die theologische Kategorie der Schöpfung schlechthin, wobei anzumerken ist, dass Schöpfung von ihm nicht lediglich und auch nicht in erster Linie kosmologisch verstanden wird und verstanden werden kann, wenn anders die für alle kosmischen Sachverhalte grundlegende, weil Welt allererst evozierende SelbstWelt-Struktur unter Absehung vom Menschen, für welchen sie manifest ist, nicht zu erfassen ist. Der Grundsatz Tillich’scher Schöpfungslehre lautet daher: „Der Mensch ist Geschöpf.“ (STh I, 230) Was das heißt, wird in den nächsten Sätzen sogleich angefügt: „Sein (sc. des Menschen) Sein ist kontingent, es hat keine Notwendigkeit durch sich selbst, und deshalb erkennt der Mensch, daß er die Beute des Nichtseins ist. Die gleiche Kontingenz, die den Menschen in die Existenz geworfen hat, kann ihn aus ihr hinausstoßen. In dieser Hinsicht sind Kausalität und kontingentes Sein das Gleiche.“ (Ebd.) Die Signatur der Geschöpflichkeit des Menschen und seiner Welt ist bestimmt durch kontingente und kausalitätsförmige Endlichkeit im Sinne einer zweideutigen Einheit von Sein und Nichts, derer die Angst innewird. Die Signatur der Geschöpflichkeit kann man daher durchaus ein Stigma nennen. Tillich tut dies auch ausdrücklich, wenn es heißt: „Das Stigma des aus dem Nichts Hervorgegangenseins ist jedem Geschöpf aufgedrückt.“ (STh I, 221) Weil dem so ist, ist die Lehre von der Geschöpflichkeit von Mensch und Welt ohne den Begriff des dialektischen Nichtsein nicht zu fassen. Entsprechend hat dann aber auch zu gelten: Angst ist ein Schöpfungsdatum, das mit der Tatsache geschöpflicher Endlichkeit des Menschen als solcher gegeben ist. Angst ist eine ontologische Größe. Als solche trägt sie die Möglichkeit des Falls der Sünde in sich, auch wenn dessen urfaktische Tatsächlichkeit keine kreatürliche Notwendigkeit darstellt. Eine gleichsam transzendentale Bedingung ihrer Möglichkeit ist der Sünde in Gestalt der ontologischen Angst immerhin zugedacht.
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Indem seine Ontologie der endlichen Freiheit das kreatürliche Sein des Menschen protologisch als Mischung von Sein und Nichtsein bestimmt und das menschliche Dasein in ebenso ursprünglicher wie dauerhafter Weise vom Stigma des aus dem Nichts Hervorgegangenseins gezeichnet sein lässt, scheint Tillich zu einer differenzlosen Gleichung endlicher und sich ängstigender Freiheit zu tendieren mit der Konsequenz, Angst in Form eines Existentials zu einem wegen gegebener Unvermeidbarkeit nicht gänzlich unverständlichen und unentschuldbaren Motivationsgrund des Bösen zu erklären. Demgegenüber hat die traditionelle Dogmatik stets darauf insistiert, dass die genuine Schöpfung Gottes als uneingeschränkt gut zu gelten hat und in ihrer Vollkommenheit keinerlei Anlass für den Fall der Sünde bietet. Die Nicht-Notwendigkeit kontingenten Daseins der menschlichen Kreatur bezeichnet ihr zufolge keine Gemengelage aus Sein und Nichtsein, sondern verweist auf das Gottgegebensein alles Kreatürlichen. Die sich ängstigende Sorge um kreatürlichen Selbsterhalt ist daher in einem schöpfungstheologisch prinzipiellen Sinn unbegründet; sie stellt sich erst ein, wenn der – traditionell zu reden – status integritatis bereits verlassen ist. Erst in statu corruptionis erscheint denn auch Endlich-Seiendes als Mischung von Sein und Nichtsein, wohingegen es unter prälapsarischen Bedingungen unveräußerlich dem Sein selbst zugehört, welches es ins Dasein gerufen hat und beständig in demselben zu erhalten verspricht. Tillich meint behaupten zu müssen, „daß es Koinzidenz von Schöpfung trotz der logischen Unterschiedenheit einen Punkt und Fall gibt, an dem Schöpfung und Fall koinzidieren“ (STh II, 51). Nach seinem Urteil sind verwirklichte Schöpfung und entfremdete Existenz „materialiter identisch“ (STh II, 52). Hat er damit die Sünde für ontologisch notwendig erklärt, fatalisiert und um ihre Zurechenbarkeit als persönliche Schuld gebracht? Es ist schwierig, eine abschließende Antwort auf diese Auslegungsfrage zu finden. Manches spricht für die Annahme, dass Tillich, mit seinen eigenen Begriffen zu reden, das tragische Moment des Sündenfalls gegenüber dem moralischen übergewichtet hat. Doch lassen sich auch gegenläufige Tendenzen registrieren. Ein Endliches, das seiner Endlichkeit inne wird, nimmt wahr, weder den Konstitutions- noch den Erhaltungsgrund seiner selbst unmittelbar in sich zu tragen. Das muss auch nach Urteil Tillichs nicht zwangsläufig ein Anlass zu sündhafter Sorge sein, sofern sich das endliche Geschöpf in seiner Gottunterschiedenheit ganz an den göttlichen Schöpfer hält, um sich in ihm geborgen und gut aufgehoben zu wissen, wie das nach traditioneller Lehre im protologischen Urstand unter der Voraussetzung der Fall war, dass der Mensch seiner kreatürlichen Bestimmung entsprach. Sündhafte Sorgen und Ängste bereitet dem Menschen seine Endlichkeit recht eigentlich erst im Status der Entfremdung von Gott. Der Prozess der Entfremdung von Gott ist nach Tillich nicht schon dadurch initiiert und gegeben, dass der Mensch aus dem paradiesischen Zustand träumender Unschuld erwacht und zu sich und zum Bewusstsein seiner selbst kommt, um sich als selbständiges Ich zu wissen. Die Selbstwahrnehmung des Menschen als Ich
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und auch die menschliche Selbstbestimmung, die damit einhergeht, sind nicht schon per se Sünde. Lediglich die Möglichkeit zur Sünde enthalten sie in sich. Virulent wird diese Möglichkeit in Form erregter Freiheit, die Schwindel erzeugt und insofern mit Angst einhergeht. Wie die schwindelerregende Freiheit, in Form derer sich ein vom Unendlichen her ins Dasein gebrachtes Endliches wahrnimmt, ist auch die Angst nach Tillich noch nicht eigentlich Sünde, jedenfalls nicht manifeste, sondern allenfalls Sünde im Stadium der Latenz. Manifeste Tatsache wird die Sünde erst durch einen Sprung, der die Angst entschränkt, sie schrankenlos werden lässt und so das Urfaktum des Bösen in seiner vernunftdestruierenden Sinnwidrigkeit setzt. Beschränkte Angst im Rahmen des Endlichen ist nach Tillich noch nicht Sünde, sondern ein in seiner Art notwendiges Implikat der Verfassung eines seiner Endlichkeit innegewordenen und bewussten Endlichen. Erst durch Entschränkung, die sie weder von sich aus bewirkt noch gar erzwingt, wenngleich als Möglichkeit nicht aus-, sondern einschließt, geht aus in Schranken gehaltener Angst durch sprunghafte Willensdezision Sünde hervor, welche das Ich in einer Weise auf das Eigene fixiert, wie dies im Modus „unschuldigen“ Sich-Ängstigens noch nicht der Fall war. Die Angst nimmt bei Tillich wie bei Kierkegaard eine Art von Zwischenstellung zwischen Schöpfungslehre und Hamartiologie ein, freilich nicht so, dass sie beide vermitteln und die Faktizität des Bösen aus der ursprünglichen guten Schöpfung deduzieren sollte. Ein solches Verfahren lehnt Tillich ausdrücklich ab. Die Sünde ist ein in sich widriger Akt kontingenter Setzung verkehrten Willens und schöpfungstheologisch nicht zu genetisieren. Doch steht die Untat der Ursprungssünde in ihrem in sich widersprüchlichen Widerspruch zur Schöpfung dieser nicht in vermittlungsloser Unmittelbarkeit, sondern dergestalt entgegen, dass sie den differenzierten Zusammenhang von Schöpfer und Menschengeschöpf zwar einerseits in sich reflektiert, aber andererseits und eo ipso fehlbestimmt, insofern in ihm das gottunterschiedene Geschöpf die Stelle des Schöpfers usurpieren und die eigene Endlichkeit bewusst verabsolutieren will, um zu sein wie Gott. Das Selbstseinkönnen eines Endlichen ist ebensowenig wie die Angst, die nach Tillich mit der Möglichkeit, ein eigenes Selbst sein zu können, notwendig verbunden ist, Sünde im eigentlichen Sinn. Beide, Angst und Selbstseinkönnen, verfallen der Sünde erst durch einen kontingenten Akt von Selbstverfallenheit, der mit ihnen zu tun hat, in seiner Faktizität aber nicht notwendig aus ihnen hervorgeht. Hält man sich an Aussagen wie diese, dann wird man Tillich eine Fatalisierung der Sünde nicht mehr problemlos nachsagen können, obwohl sich ein problematisches Gefälle in dieser Richtung nicht übersehen lässt. Die Angelegenheit ist ambivalent und in ihrer Ambivalenz vielleicht am ehesten zu folgendem Schluss zu bringen: Skopus der Tillich’schen Angstanalyse ist der Glaube als Mut zum Sein. Weil auch der Glaube kein angstloser, sondern ein heilsgewisser Mut ist, der Angst durch Integration zu bewältigen vermag, kann diese nicht per se mit Unglaube und Sünde gleichgesetzt werden. Doch lässt sich der Unterschied zwischen Angst
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und Sünde nur vom Glauben her und auf diesen hin erfassen, wohingegen er ansonsten zwangsläufig kollabiert. Ohne Glaubensbezug hat er keinen Bestand und schwindet in dem Augenblick dahin, in dem er erfasst ist, so dass zu sagen und zu bekennen ist, dass der Sprung aus der Angst in die Sünde faktisch immer schon vollzogen ist, auch wenn dazu keinerlei schöpfungstheologische Notwendigkeit besteht. Dass ein seiner Endlichkeit inne gewordenes Endliches keine Angst kennt, ist undenkbar. Nicht undenkbar hingegen ist, dass ein seiner Endlichkeit gewahres Endliches im Bewusstsein seines gottunterschiedenen Gründens in Gott seine Angst zu integrieren und auf diese Weise integer zu bleiben vermag, ohne zu sündigen, auch wenn eine Versuchung hierzu spürbar wird. Die vom angstintegrierenden Mut zum Seins her erschlossene Denkbarkeit unschuldig-sündloser Angst wäre in diesem Sinne die Bedingung der Möglichkeit dafür, den Schuldcharakter der Sünde festzuhalten, ohne ihre faktische Tragik und Geschickhaftigkeit in Abrede zu stellen. „Angst“ gehört in der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts zu den Leitthemen der Zeit und zwar Signatur der Zeit diesseits und jenseits des Atlantiks. Unter den religiösen Dichtern englischer Sprache, die sich im vergangenen Jahrhundert sehr intensiv mit der Angstthematik beschäftigten, ragt neben T. S. Eliot der 1907 in York geborene, zumeist in den USA lebende, seit 1935 mit Erika Mann verheiratete Wystan Hugh Auden hervor. Zu seinen bekannteren Werken zählt die Versdichtung „Age of Anxiety“, die 1948 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. In deutscher Übersetzung erschien sie mit einer Einleitung von G. Benn versehen unter dem Titel: „Das Zeitalter der Angst. Ein barockes Hirtengedicht.“ Audens Poem inspirierte „eine ganze Generation von Künstlern und Schriftstellern dazu . . . , den Begriff Angst zu einer Art Überschrift ihrer kulturellen Gegenwart und zum Inbegriff ihrer modernen Selbstwahrnehmung zu erheben“ (Schüz, 329). Zu ihnen zählt auch Tillich. Einen interessanten Einzelbeleg für die Zentralität der Angstthematik in seinem Denken bietet sein Beitrag auf dem – dem Thema „Anxiety“ gewidmeten – Jahrestreffen der „American Psychopathological Association“ 1949 mit dem Titel „Anxiety-Reducing Agencies in Our Culture“. Im Detail ausgearbeitet und spezifiziert hat Tillich sein Verständnis von Angst und des angstbewältigenden Mutes zum Sein in seiner berühmten Schrift „The Courage to Be“, mit der er in der Neuen Welt eine außerordentliche Breitenwirkung erzielte. „The Courage to Be gave Tillich his first taste of celebrity outside the realms of acedeme and church.“ (Dorrien, 499) Über die nachhaltige Wirkung des Werkes über den Mut zum Sein, der die Nichtigkeitsangst überwindet, gibt u. a. der zweite Band von Gary L. Dorriens dreibändiger Geschichte der „American Liberal Theology“ näheren Aufschluss. Lag der Schwerpunkt der Wirkungsgeschichte der Tillich’schen Thematisierung von Nichtigkeitsangst und Mut zum Sein zunächst in den Vereinigten Staaten und dabei vor allem im Kontext der liberalen Theologie Nordamerikas, so ist ihre Genese auf europäische Wurzeln und insbesondere auf Kierkegaard und den spä-
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ten Schelling zurückzuführen. Beide haben Tillich nicht nur zu sensibler Wahrnehmung der zeitgenössischen Angstthematik motiviert, sondern zugleich dazu veranlasst, sie mit einer Hamartiologie zu verbinden, die Sünde nicht lediglich als Privation, sondern als Position begreift. Nach Tillich reicht es nicht hin, Bosheit und Sünde als bloßen Mangel zu erfassen. Das Grundverkehrte dessen, was die Tradition peccatum originale nennt, ist kein Negatives ohne eigene Positivität; es ist vielmehr positiv gesetzte Negativität. Sünde ist nicht lediglich Privation, sondern PosiPositionen der Negativität tion. In seinem im Poetik und Hermeneutik-Band „Positionen der Negativität“ veröffentlichten Essay „Über positive und negative Philosophien, Analytiken und Dialektiken, Beamte und Ironiker und einige damit zusammenhängende Gegenstände“ hat Odo Marquard Sören Kierkegaard als einen Negativitätspositivisten par excellence bezeichnet, „der leidenschaftlich die Sünde als Positives, unableitbar Faktisches begriff, um leidenschaftlich die Erlösung als Positives, unableitbar Faktisches begreifen zu können“ (Marquard, 191). Die unableitbare Positivität des Negativen sei die negative Voraussetzung der Positivität des Positiven, deren unvordenkliche Faktizität das Böse beheben soll: „die antisokratische und antihegelianische Bestimmung der Sünde als Positivität allererst erlaubt die Bestimmung des göttlichen Erlösungshandels (sic!) als Positivität.“ (Marquard, 191 Anm. 35) Genau dieses Argumentationsmuster findet Marquard auch, „späterhin, in der dialektischen Theologie“ (Marquard, 191), die sich, anders als ihr Name es nahelegt, einer Dialektik des Begreifens an entscheidender Stelle dezidiert entzogen habe. Die Positivität des Negativen als negative Voraussetzung der Positivität des Positiven: Für das Denken Tillichs, der sich der Dialektischen Theologie nach eigenem Bekunden eng und durchaus lebenslang verbunden wusste (vgl. Wenz, Kontext, bes. 45 ff.; 107 ff.), mag diese Strukturformel ihre Richtigkeit haben. Wie bei anderen Repräsentanten der „Theologie der Krise“ fungiert auch bei ihm die Hamartiologie als korrelativer Gegenpol von Christologie und Soteriologie (vgl. im Einzelnen Wenz, Kontext, 250 f.). Karl Barth hingegen lehnt es dezidiert ab, das Heil in Christus von einem vorgängigen Bewusstsein der Sünde her zu qualifizieren, und gedenkt auch diesen nur noch negativ verfassten „Anknüpfungspunkt“ zu tilgen, weil er selbst durch seine Einführung auf subtile Weise die Faktizität der Sünde wie die Faktizität der Offenbarung hintergangen sieht. Ob durch den Barth’schen Ansatz der Tillich’sche definitiv überholt wird, bleibt zu fragen, wobei nicht von vorneherein auszuschließen ist, dass die Dogmatik durch die Hamartiologie zu einer gleichsam „doppelten Buchführung“ (Laube, 21) gezwungen wird, die zugleich erfahrungstheologisch und offenbarungstheologisch ansetzt, ohne einen synthetischen Ausgleich abschließender Gesamtintegration leisten zu können.
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11. Hamartiologie aus dem Geist sündenvergebender Gnade bei Barth und Dalferth
Lit.: K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik. Dritter Band: Die Lehre von der Schöpfung, Zürich 1945 ff. (= KD III). – Ders., Die Kirchliche Dogmatik. Vierter Band. Die Lehre von der Versöhnung, Zürich 1953 ff. (= KD IV). – A. Dahm, Der Gerichtsgedanke in der Versöhnungslehre Karl Barths, Paderborn 1983. – I. U. Dalferth, Gott und Sünde, in: NZSTh 33 (1991), 1–22. – Ders., Das Böse. Essay über die Denkform des Unbegreiflichen, Tübingen 2006 (= Dalferth I). – Ders., Leiden und Böses. Vom schwierigen Umgang mit Widersinnigem, Leipzig 2006 (= Dalferth II). – Ders., Malum. Theologische Hermeneutik des Bösen, Tübingen 2008 (= Dalferth III). – Ders., Umsonst. Vom Schenken, Geben und Bekommen, Tübingen 2005. – Chr. Dietrich/Chr. Link, Die dunklen Seiten Gottes. Bd. I: Willkür und Gewalt, Neukirchen 21997. Bd. II: Allmacht und Ohnmacht, Neukirchen 2000. – A. Dietz, Erkenntnis der Sünde aus dem Gesetz oder aus dem Evangelium, in: Luther 83 (2012), 37–55. – G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens. Bd. II: Der Glaube an Gott den Versöhner der Welt, Tübingen 1979. – Chr. Gestrich, Neuzeitliches Denken und die Spaltung der Dialektischen Theologie. Zur Frage der natürlichen Theologie, Tübingen 1977. – Ders., Sündenvergebung als Problem und als Wirklichkeit der Kirche, in: ZThK 80 (1983), 305–331. – Ders., Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt. Die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung, Tübingen 1989. – Ders., Was bedeutet es, von der Sündenvergebung her die Sünde wahrzunehmen?, in: S. Brandt u. a. (Hg.), Sünde. Ein unverständlich gewordenes Thema, Neukirchen-Vluyn 1997, 57–68. – E. Jüngel, Art. Barth, Karl (1886–1968), in: TRE 5,251–268. – Chr. Kress, Gottes Allmacht angesichts von Leiden. Zur Interpretation der Gotteslehre in den systematisch-theologischen Entwürfen von Paul Althaus, Paul Tillich und Karl Barth, Neukirchen 1999. – W. Krötke, Sünde und Nichtiges bei Karl Barth, Neukirchen-Vluyn 21983. – R. Smend, Zwischen Mose und Karl Barth. Akademische Vorträge, Tübingen 2009. – G. Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch. Bd. 2, Berlin/New York 1998.
Der Göttinger Alttestamentler Rudolf Smend hat einer Sammlung seiner akademischen Reden den Zwischen Mose und Barth anspruchsvollen Titel „Zwischen Mose und Karl Barth“ (vgl. Smend) gegeben. Eine Anspielung auf die traditionelle Debatte um Gesetz und Evangelium sowie das Verhältnis beider zueinander lag, wie es scheint, nicht in der Absicht des Autors und dies aus guten historischen Gründen; zu evident ist die Gefahr typisierender Abstraktion. Sie ist auch dann noch nicht gebannt, wenn man die wenn auch nicht nahegelegte, so doch naheliegende Titelassoziation auf die in christlicher Hamartiologie häufig begegnende Frage fokussiert, ob die Erkenntnis der Sünde durch das Gesetz oder durch das Evangelium gewirkt sei; denn jede seriöse Antwort auf sie setzt eine Problematisierung der in
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Hamartiologie aus dem Geist sündenvergebender Gnade bei Barth und Dalferth
Anschlag gebrachten Alternative voraus, die auch dann noch abstrakt bleibt, wenn man sie nicht auf das Verhältnis von Judentum und Christentum, mosaischer und christlicher Religion bezieht. Trotz dieser und anderer Vorbehalte wird man der Frage von Gesetz und Evangelium heuristische Bedeutung nicht absprechen können, da sie für den historischen Diskurs reformatorischer Lehre von der Sünde und ihrer Erkenntnis seit dem 16. Jahrhundert leitend war. „Was auf den ersten Blick aussieht wie eine theologische Spezialfrage, die lediglich von theologiegeschichtlichem Interesse ist, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als schillernde Problemformulierung, die sich zu verschiedenen Zeiten als anknüpfungsfähig zur Bearbeitung sehr unterschiedlicher Fragen erwies, welche in den jeweiligen Zeiten von entscheidender theologischer Bedeutung waren. Nicht nur die Fragestellungen hinter der Frage nach der Erkenntnis der Sünde aus dem Gesetz oder aus dem Evangelium änderten sich, sondern auch die theologischen Anliegen und die Verwendungsweisen grundlegender Begriffe, bis dahin, dass Kontrahenten identische Anliegen mit scheinbar einander widersprechenden Begriffen und einander widersprechende Anliegen mit identischen, aber unterschiedlich gefüllten Begriffen vertraten. Aber immer ging es allen Diskutanten letztlich um den Kern reformatorischer Theologie und kirchlicher Praxis.“ (Dietz, 37) Die ursprüngliche Einsicht der Reformation und der Kern ihrer Theologie lässt sich bündig mit dem articulus stantis et cadentis ecclesiae von der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade um Christi willen aus Glauben umschreiben. Setzt der evangelische Rechtfertigungsglaube die Erkenntnis der Sünde voraus, oder wirkt er sie allererst? Die in reformatorischer Tradition gegebenen Antworten auf diese Frage fielen unterschiedlich, wenngleich in aller Regel nicht so gegensätzlich aus, wie das häufig vermutet und unterstellt wird. Nicht erst in der gegenwärtigen evangelischen Theologie herrscht weitgehende Übereinstimmung darin, „dass eine vollständige Erkenntnis der Sünde“, was immer das näherhin heißen mag, „nur aus dem Evangelium bzw. vom Glauben oder der Vergebung her möglich ist. Alles andere wird von einzelnen Theologen wahlweise als uneigentliche, unvollkommene, vorläufige, unthematische oder unbestimmte Sündenerkenntnis . . . bezeichnet.“ (Dietz, 49) Worin die Schuld Adams eigentlich bestehe, werde erst „vom zweiten Adam her vollständig aufgedeckt (vgl. Röm 5,12 ff.)“ (Gestrich, Sündenvergebung, 322), durch den österlichen Jesus Christus als der „personifizierten Sündenvergebung“ (ebd.). Es sei „kein Zufall, dass seine Erscheinung das Verständnis der Sünde als Grundsünde und Personsünde erst ausgelöst hat, weil vom Glauben her der Unglaube als die Ursünde des Menschen erfasst wird“ (Ebeling, 527). Nur im Glauben könne daher die Sünde von Grund auf und radikal überwunden werden. „Jesus Christus bringt nach kirchlicher Überzeugung den verlorenen Glanz in die Schöpfung zurück“ (Gestrich, Wiederkehr, 27): erst im Lichte dieses wiedergekehrten Glanzes komme vollends zum Vorschein, was es mit dem Unwesen des Bösen im tiefsten Grunde auf sich habe, das „nicht der Preis der Freiheit, sondern ihr Verlust“ (Gestrich, Wiederkehr, 169) sei. Zwar bestehe die Mög-
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lichkeit, das, was Sünde heißt, „nicht nur Gläubigen begreiflich zu machen“ (Gestrich, Wiederkehr, 196), sondern jedermann zu vorläufiger Einsicht zu bringen. Doch zu ebenso radikaler wie heilsamer Erkenntnis seiner Selbstverkehrtheit gelangt der Sünder erst durch Zuspruch der Sündenvergebung (vgl. Gestrich, Wiederkehr, 299 ff. sowie ders., Was bedeutet es, 58 Anm. 2). Die Annahme, dass eine heilsame Sündenerkenntnis nur in Bezug auf die Christusoffenbarung möglich ist, ohne welche sie wenn nicht heillos, so doch nicht zum Heil führend bliebe, darf als Allgemeingut evangelischer Theologie gelten. Schon Luther hatte hamartiologisch nicht anders geurteilt, so sehr er an dem Zusammenhang von Sündenerkenntnis und Gesetz sowie an einer – freilich nur vom Evangelium her recht zu bestimmenden – Vorordnung des Gesetzes vor dem Evangelium festhielt. Damit sollte einer Prinzipialisierung der Gnade und einer Fixierung des Evangeliums zum Grundsatz, der auch ohne Bezug auf den Glauben feststeht, ebenso gewehrt werden wie einer Ablösung evangelischer Glaubensgewissheit von Problemkonstellationen und Aporien, für deren humane Allgemeinheit in traditionell lutherischer Theologie das Gesetz in seinen unterschiedlichen Gebrauchsweisen steht (vgl. Wenz, 623 ff.). Wird dieses Anliegen gewahrt, wenn die traditionelle Reihenfolge von Gesetz und Evangelium vertauscht und das Evangelium auch in hamartiologischer Hinsicht dem Gesetz dezidiert vorgeordnet und Erkenntnis der Sünde zu einer Folge ihrer Vergebung erklärt wird? Nach Karl Barth gelangt der Mensch zu wahrer Evangelische SündenerErkenntnis seiner Sünde weder durch das Gesetz kenntnis noch durch sein Gewissen, in welchem sich die lex naturalis in seinem Innersten meldet. Wahre Sündenerkenntnis wird allein durch das Evangelium der Gottesoffenbarung in Jesus Christus erschlossen: „Daß der Mensch der Mensch der Sünde ist, was seine Sünde ist und was sie für ihn bedeutet, das wird erkannt, indem Jesus Christus erkannt wird, nur so, so wirklich.“ (KD IV/ 1, 430) Ohne Christuserkenntnis, wie der Geist Gottes sie erschließt, verfehlt der Sünder wahre Sündenerkenntnis und zwar „gerade deshalb, weil er Sünder ist“ (KD IV/1, 398). Als Sünder weiß der Sünder nicht nur nicht, dass er ein Sünder ist, sondern will es auch nicht wissen; stattdessen setzt er alles daran, sein Sündersein vor sich und anderen zu verbergen. Entborgen wird das Verborgene allein durch die Offenbarung Jesu Christi und die in ihr statthabende Erschließung der göttlichen Gnade, welche der Glaube empfängt. Allein im Glauben gelangt der Mensch zu wahrer Sündenerkenntnis und gewinnt Einsicht, „auch in Sachen der Erkenntnis seiner Verkehrtheit“ (KD IV/1, 399) verkehrt zu sein. Indem er seine Sünde erkennt, erkennt er zugleich, dass er sie von sich aus nicht nur nicht erkennt, sondern verkennt. Erst mit der Erkenntnis, dass die Sünde ihr Unwesen gerade darin treibt, Einsicht in sich selbst zu verstellen, ist wahre Sündenerkenntnis gegeben, was nur aus und durch Gnade möglich ist. Der Erkenntnisgrund der Sünde liegt nach Barth nicht im Sünder, sondern allein in der Gnadenoffenbarung Gottes in Jesus Christus begründet, welche der Geist dem Glauben erschließt. Nur der Glaube vermag Sünde zu erkennen und
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zum Bewusstsein dessen zu gelangen, was den Abgrund ihrer inneren Verkehrtheit ausmacht: Unglaube, fehlendes Gottvertrauen, ja, Hass gegen Gott. Sünde ist, wie gegen Schleiermacher geltend gemacht wird, nicht etwa nur Minderung und Beschränkung des Gottesbewusstseins, sondern bewusste und willentliche Verkehrung des Verhältnisses zu Gott mit der Folge einer Verkehrtheit, die alle Welt- und Selbstverhältnisse des Sünders einschließlich seiner Selbsterkenntnis betrifft. Zur Erkenntnis der Sünde gehört mithin die Einsicht, sie als Sünder notorisch schuldig zu bleiben. Nur wer von Gott erkannt und trotz seiner Sünde aus reiner Gnade anerkannt ist, kann seine Sünde erkennen und entsprechend bekennen. Der Grundsatz Barth’scher Hamartiologie lässt sich demnach mit der Formel beschreiben, dass das Gesetz der Erkenntnis der Sünde dem Glaubensevangelium ihrer gnädigen Vergebung folgt. Die offenbare Gnade geht dem Bewusstsein der Sünde vorher, um es zu ermöglichen und mit dem Gnadenbewusstsein zu verbinden, das an sich selbst nicht der Grund der Gnade, sondern seine Folge ist. Geht doch das Sein der Gnade, wie es in Jesus Christus als absolutes Gottesfaktum gesetzt ist, allem Erkennen in unvordenklicher Weise voraus, sowohl demjenigen der Sünde als auch demjenigen der Gnade. Förmlich ausgearbeitet liegt Karl Barths HamartioBarths Versöhnungslehre logie im Zusammenhang seiner Versöhnungslehre im vierten Band der „Kirchlichen Dogmatik“ (KD IV, 1–3) vor. Die Lehre von der Versöhnung bildet das innerste Zentrum des monumentalen Werkes, und diese Mitte ist ihrerseits konzentriert im Namen Immanuel: Gott mit uns (vgl. KD IV/1, 1 ff.). Nur von ihrer Christozentrik her erschließt sich die Gesamtanlage von KD IV,1–3, deren eindrucksvolle Architektonik durchweg christologisch bestimmt und auf die Erkenntis Jesu Christi ausgerichtet ist, „der (1) der wahre, nämlich der sich selbst erniedrigende und so der versöhnende Gott, aber (2) auch der wahre, nämlich der von Gott erhöhte und so versöhnte Mensch, und der in der Einheit beider (3) der Bürge und Zeuge unserer Versöhnung ist“ (KD IV/1, 83). Als erstes hat die Lehre von der Versöhnung den „Weg des Sohnes Gottes in die Fremde“ (vgl. KD IV/1, 171 ff.) bis in die letzte Konsequenz zu verfolgen und ihn als souveränen Akt der freien Gnade Gottes (vgl. KD IV/1, 83 ff.) zu bekunden. Da aber die hingebende Sendung des Sohnes Gottes den Menschen nicht vernichten, vielmehr erretten und zu jener Vernunftkreatur neu erschaffen will, die dieser in sündiger Selbstverkehrung zu sein versagte, muss dem göttlichen Exitus die „Heimkehr des Menschensohnes“ (KD IV/ 2, 20 ff.) korrespondieren. Die Versöhnungslehre verfolgt diesen Reditus, indem sie das Sein des Menschen in Jesus Christus als Glaube, Liebe und Hoffnung bedenkt (vgl. KD IV/1, 98 ff.). Dass es sich bei dem besagten Korrespondenzverhältnis von göttlichem Exitus und menschlichem Reditus um einen Zusammenhang handelt, nimmt die Versöhnungslehre am Mittlersein Jesu Christi wahr (KD IV/1, 133 ff., vgl. KD IV/3), wodurch sich das gesamte Versöhnungsgeschehen als Selbstzeugnis des wahrhaftigen Zeugen erweist. Dem in der differenzierten Einheit von exitus und reditus offenbaren und darin
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der Dreieinigkeit Gottes ökonomisch entsprechenden Christusgeschehen hat die Versöhnungslehre in allen ihren Teilen nachzudenken. Sie tut dies, indem sie zunächst im Anschluss an die traditionelle Lehre vom status exinanitionis und status exaltationis unter der Kapitelüberschrift „Jesus Christus, der Herr als Knecht“ den „Weg des Sohnes Gottes in die Fremde“, unter der Kapitelüberschrift „Jesus Christus, der Knecht als Herr“ die gegenläufige „Heimkehr des Menschensohnes“ bedenkt, um die Einheit beider status bzw. der ihnen gemäßen Bewegung als Selbsterweis Jesu Christi auszusagen; in dieses Schema werden sodann die Person und Amt Jesu Christi betreffenden Lehrstücke eingezeichnet. Während das „vere deus“ und das „munus sacerdotale“ der Selbsterniedrigung Jesu Christi koordiniert werden, sind das „vere homo“ und das „munus regale“ mit seiner Erhöhung verbunden. Dass es sich gleichwohl um einen einigen Geschehensvollzug handelt, bekundet der dritte Aspekt der Versöhnungslehre, dem die Einheit von wahrem Gott- und wahrem Menschsein Jesu Christi zugeordnet ist, wie sie im „munus propheticum“ bezeugt ist. Damit sind alle herkömmlichen christologischen Lehrstücke (Zwei-Stände-Lehre, Zwei-Naturen-Lehre, Lehre vom dreifachen Amt) in einer in sich differenzierten Einheit zusammengefasst, welche als solche den Inbegriff der Versöhnung darstellt, wie er im Immanuelnamen personal beschlossen ist. Die die Versöhnungslehre fundierende Christologie verweist in ihrer ökonomischen Entsprechung zum innertrinitarischen Leben Gottes zurück auf die Lehre von der Erwählung, als deren explikative Realisierung sie zu gelten hat. Ob bzw. inwiefern die versöhnungschristologische Explikation der Erwählungstheologie nicht nur „eine große Rekapitulation“, sondern auch eine „Revision der ganzen Theologie Barths“ (Jüngel, 264) darstellt, ist hier nicht zu prüfen. Eine solche Prüfung hätte mit dem konzeptionellen Verhältnis von Erwählungs- und Versöhnungslehre zugleich über die systematische Anlage und Durchführung der Kirchlichen Dogmatik insgesamt zu befinden. Im gegebenen Zusammenhang muss die Feststellung genügen, dass sich nach Barth im Versöhnungsgeschehen, dessen offenbarer Inbegriff der auferstandene Gekreuzigte ist, verwirklicht, was durch die Realität der ewigen Erwählung Jesu Christi durch Gott ermöglicht ist. In der ewigen Erwählung Jesu Christi hat sich Gott in seiner trinitarischen Gottheit selbst zu jener Gnade bestimmt, die Verwerfung und Gericht über alles Widergöttliche auf sich nimmt, um es in sich aufzuheben. Im Versöhnungsgeschehen wird dies manifest. Der auferstandene Gekreuzigte ist als derjenige offenbar, in dem Verwerfung und Gericht vollzogen und die Gnade Gottes über die um ihrer Gottwidrigkeit willen zu Verwerfenden und zu Richtenden erschienen ist. Von diesem in Gottes Ewigkeit gründenden Faktum ist nach Barth in jeder Hinsicht auszugehen, da es sich um eine unhintergehbare Offenbarungstatsache handelt, die sich selbst beglaubigt und als sich selbst beglaubigende die bedingungslos anzuerkennende Grundlage christlichen Glaubens darstellt. Die Organisation der Versöhnungslehre liegt in der formalen Konsequenz dieses alle dogmatischen Inhalt bestimmenden Grundsatzes. Von der Hamartiologie über die Soteriologie und Pneumatologie bis
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hin zur Versöhnungsethik werden alle Lehrstücke von KD IV der Christologie nachgeordnet, wobei das christologische Organisationsschema durchgehend beibehalten wird. So wird die Sündenlehre in gleichsam negativer, in sich widriger Entsprechung zur Versöhnungschristologie thematisiert. Der Erniedrigung des Gottessohnes widerspricht der Hochmut des Menschen, der Erhöhung des Menschensohnes die menschliche Trägheit, dem wahrhaften Zeugnis des Gottmenschen die Lüge und Verlogenheit des in sich verkehrten Sünders. Dabei zeigt die Nachordnung der Hamartiologie, die hinter der Christologie zu stehen kommt, formaliter an, dass von der Sünde theologisch nur als von dem immer schon zu spät gekommenen, gründlich vergangenen und so zum Verschwinden bestimmten, weil in sich widrigen, Widerspruch die Rede sein kann. Weil der Sünder in Jesus Christus durch die offenIm Verschwinden bare Gnade des ewigen Gottes bedingungslos begriffen gerechtfertigt ist, hat die Sünde als unbedingt gerichtet und prinzipiell überwunden zu gelten und als nichts sonst. Diese Tatsache darf indes nicht zu einer Verharmlosung des Unwesens der Sünde in seiner bodenlosen Abgründigkeit führen. Denn Tatsache ist, dass die Sünde zwar nicht Gottes ewigen Gnadenwillen, wohl aber das in der Entsprechung zu diesem Gnadenwillen sich verwirklichende Heil des Menschen, in welchem dieser seine geschöpfliche Bestimmung findet, völlig in Frage stellt. Von daher will der Satz verstanden sein, die Sünde treibe ihr Unwesen in „negative(r) Relation zur göttlichen Gnade“ (Dahm, 108). Den Sünder aus dieser Verkehrung zu bekehren und folglich Versöhnung zwischen Gott und dem Menschen zu schaffen, ist Sinn und Zweck der zeitlichen Sendung des Sohnes als des ewig Erwählten Gottes. Sie findet ihre äußere Realisationsgestalt im Geschehen der Inkarnation, die im Ereignis des Kreuzes sich vollendet, um in dieser Vollendung österlich manifest zu werden. Inkarnation und Kreuz verhalten sich nach Barth gewissermaßen wie äußerer und innerer Grund der Versöhnung. Das gilt auch und gerade unter dem Gerichtsaspekt: das Gericht, dessen Übernahme sich in der Herabkunft der Menschwerdung und in der Niedrigkeit der Erdentage Jesu ankündigt, ist am Kreuz als Strafgericht am Unschuldigen vollzogen. Das Kreuz steht demnach im Schnittpunkt der Versöhnungslehre. „Im Kreuz ereignet sich das Werk der Versöhnung schlechthin.“ (Dahm, 136) Wie der theologische Begriff der Sünde ist bei Barth auch derjenige des Gerichts strikt christologisch bestimmt. Das ist deshalb der Fall, weil es am Kreuz zum vollendeten Ereignis einer vierfachen Stellvertretung kommt: In der leidensgehorsamen Erniedrigung des Sohnes Gottes zu unserem Stand ist das göttliche Gericht zum ersten als Anklage und Verurteilung über jeden Menschen insofern beschlossen, als in ihm alles selbstgerechte bzw. selbstrechtfertigende Richten als Unrecht erwiesen und definitiv gerichtet ist. Das pro nobis der Versöhnung beinhaltet mithin das contra nos des Gerichts durch den göttlichen Richter, der durch Verwerfung erwählt, durch mortificatio zum Leben bringt und in seinem Zorn das fremde Werk der Liebe übt, um den Menschen von seiner Verkehrtheit zu bekeh-
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ren. Der Sohn Gottes aber vollstreckt zum zweiten als Richter das gerechte Gericht über die Menschen dadurch, „daß er selbst als Mensch an unsere Stelle trat und an unserer Stelle das Gericht, dem wir verfallen waren, über sich selbst ergehen ließ“ (KD IV/1, 244). Der Richter richtet somit, indem er sich selbst richten lässt. Der Sohn Gottes ist Richter und Gerichteter in einem. Barth kann in diesem Zusammenhang sogar sagen, dass Jesus Christus „für uns zum Sünder gemacht ist“ (KD IV/1, 261). Dies bedeutet indes nach seiner Auffassung keinen Widerspruch zur Sündlosigkeit Jesu Christi, vielmehr im Gegenteil ihre Realgestalt an sich selbst. Denn „das ist gerade . . .die Sündlosigkeit, der Gehorsam dieses einen Menschen, daß er sich als Gottes Sohn dessen nicht weigerte, für uns Alle dahingegeben zu werden und also an unsere, der Sünder Stelle zu treten“ (KD IV/1, 261). Die Sündlosigkeit Jesu Christi besteht darin, dass er sich stellvertretend als Sünder richten lässt. Dies führt zum dritten Aspekt des Versöhnungsgeschehens, in dem der Tod Jesu Christi nun an sich selbst thematisch wird. Dabei wird mit Nachdruck betont, dass es sich in der Passion Jesu Christi „um eine Aktion, eine Tat“ und zwar eine göttliche Tat handelt (KD IV/1, 269). Darin kommt zum Ausdruck, dass sich der Sohn Gottes in seinem Tod resp. Gott selbst im Tod seines Sohnes als souveränes Subjekt identisch durchhält. Als solche souveräne Tat Gottes ist die einmalige Passion Jesu Christi zugleich als einzigartig und ein für allemal gültig bestimmt, als ein Ereignis, dem der Mensch nichts hinzufügen kann: „Indem es für uns geschehen ist, ist es ohne uns geschehen: ohne unser Mitwirken und Hinzutun.“ (KD IV/1, 275) Das pro nobis steht schlechthin als extra nos in Geltung. Wohl impliziert das extra nos nach Barth das in nobis; dabei ist aber die Inklusivität des Kreuzesgeschehens streng von seiner Exklusivität her auszulegen, nicht etwa die Exklusivität zum Prädikat der Inklusivität zu erklären. Gemäß diesen Bestimmungen ist das Entscheidende in Jesu Leiden und Tod Folgendes: „er hat eben damit, daß er – der an unsere, der Sünder Stelle trat – in den Tod gegangen ist, mit uns als Sündern und damit mit der Sünde selbst in seiner Person Schluß gemacht.“ (KD IV/1, 279) Diese Negation ist nun aber – wie Barth abschließend zum vierten Aspekt des Stellvertretungsereignisses am Kreuz ausführt, der zur Auferstehungsthematik überleitet – zugleich „die große Position Gottes“ (KD IV/1, 282), in der Gott und Mensch versöhnt sich entsprechen, wie es in der Gerechtigkeit Jesu Christi, des rechttuenden Richters manifest ist. Damit erweist sich das Kreuz als die Wiederherstellung der göttlichen Bundesordnung, in welcher Gott sein Recht am Ort des Menschen zur endgültigen Durchsetzung bringt, so dass sich zusammenfassend sagen lässt: „Im Leiden und Sterben Jesu Christi kommt es zum menschlichen Werk der Entsprechung gegenüber Gottes auch angesichts der Sünde aufrecht erhaltenem Gnadenangebot. Jesus Christus hat als einziger Mensch und stellvertretend für alle übrigen am Kreuz Gott den schuldigen Gehorsam geleistet. Damit hat er das Rechte und so Gottes Rechtsanspruch Genüge getan. Indem in Jesus Christus der Mensch Gottes Gnadenangebot annimmt, indem in ihm der Mensch Gott so zugekehrt ist, wie Gott sich von Ewigkeit her dem Menschen zugewendet
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hat, ist der Bund geschlossen und befestigt. Gottes Bundeswille trifft nun nicht mehr ins Leere, sondern findet auf seiten des Menschen Bestätigung und dankbare Anerkennung.“ (Dahm, 174) Damit ist nach Barth der Gehalt des in der VersöhGerichtete Sünde nung am Kreuz offenbaren Stellvertretungssinnes expliziert. Der gekreuzigte Jesus Christus ist erstens: der an unserer Stelle richtende Richter (KD IV /1, 254–258), zweitens: der an unserer Stelle gerichtete Richter (KD IV /1, 259–269), drittens: der an unserer Stelle getötete Richter (KD IV /1, 269–282), viertens: der an unserer Stelle rechttuende Richter (KD IV /1, 282–300). In diesem vierfach differenzierten Zusammenhang werden alle klassischen Begriffe der Versöhnungslehre entsprechend reformuliert (Richter; Stellvertretung; Genugtuung; Gerechtigkeit etc.) und die Dimensionen des pro nobis als pro se, contra nos, extra nos und in nobis abgrenzend entwickelt. Dass die Struktur des juridisch geprägten Argumentationszusammenhanges übersetzbar ist und in anderen Vorstellungsgehalten variiert werden kann, zeigt Barth KD IV/1, 301 ff., wo er neben der finanziellen (Lösegeld etc.) und militärischen (Sieg über Tod und Teufel etc.) vor allem die Bedeutung der kultischen Begifflichkeit (Opfer etc.) für die neutestamentliche Interpretation des Kreuzestodes verhandelt. Wenn der juristischen Begrifflichkeit gleichwohl aufs Ganze gesehen der Vorzug gegeben wird, so hat das seinen wesentlichen Grund in dem „geschichtliche(n) Vorgang des gegen Jesus vor einem irdischen Gericht geführten Prozesses“ (Dahm, 187), wobei zu gelten hat: „Gott hat sich . . . des irdischen Gerichts bedient, um sein göttliches Gericht zu vollziehen und sein göttliches Urteil auszusprechen.“ (Ebd.) Sub contrario richtet er recht. In Jesus Christus ist die Sünde gerichtet und zwar von Gottes Ewigkeit her, wie dies in der Auferweckung des Gekreuzigten in der Kraft des göttlichen Geistes offenbar ist. Die vollzogene Überwindung der Sünde durch die in Jesus Christus manifeste Gnade Gottes, welche durch Verwerfung hindurch erwählt und das Gericht versöhnend behebt, ist nach Barth der unhintergehbare Grundsatz, von dem jede Hamartiologie ihren Ausgang zu nehmen hat, die als christlich und human, will heißen: als der von Gott gefügten Bestimmung des Menschen gemäß gelten will. In der traditionellen Dogmatik hatte die Hamartiologie ihren Ort zwischen Schöpfungslehre und Christologie bzw. Soteriologie. Nicht selten wurde ihr eine überführende Vermittlungsfunktion insofern zugedacht, als das Sündenbewusstsein einen Bezugspunkt darstellte, an welchen das Geschehen von Versöhnung und Erlösung anknüpfen sollte. Auch in den Reihen der sog. Dialektischen Theologie begegnet dieses Verfahren. „Nach Bultmann ist der Widerspruch des Menschen gegen Gott – also die Sünde – der Anknüpfungspunkt. An die Sünde knüpft, ihr widersprechend, das Wort von der Gnade an . . .“ (Gestrich, Dialektische Theologie, 361) Barth selbst indes „lehnte es ab, die Wirklichkeit vom Phänomen der Sünde her theologisch zu definieren“ (Gestrich, Dialektische Theologie, 210) und will im Unterschied zu Bultmann (oder Tillich) auch diesen letzten, nur noch negativ verfassten „Anknüpfungspunkt“ beseitigen. Damit entzieht er
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der Theologie die Möglichkeit, das Böse durch Analyse menschlichen Selbstbewusstseins systematisch zu erweisen. Erkannt und durchschaut ist die Sünde erst, wo sie durch Gottes Tat gestellt ist. Ein formaler Beleg für diese inhaltliche These ist die Stellung, die Barth der Sündenlehre im Gesamtzusammenhang seiner Dogmatik zuweist. Die Organisationsstruktur von KD IV folgt der sachlich begründeten Einsicht, „daß es in der Dogmatik einen selbständigen, im leeren Raum zwischen Schöpfungs- und Versöhnungslehre zu konstruierenden Locus De peccato nicht geben kann“ (KD IV/1, 155). Was die Durchführung der Sündenlehre im Einzelnen betrifft, so wird die durch das Unwesen des Bösen im Menschen unangefochtene Vorrangstellung Gottes und seiner geistgewirkten Selbstoffenbarung im Versöhner Jesus Christus in doppelter Hinsicht entfaltet, sowohl in Bezug auf den Status des Sünders als auch in Bezug auf seine Sündenerkenntnis. 1. Der sündige Mensch hätte ob seiner Sünde nicht länger kreatürlichen Bestand, wenn nicht auch seine verwirkte Wirklichkeit noch von Gottes Gnade umgriffen wäre. 2. Der sündige Mensch erkennt seine Sünde nicht nur nicht, er verkennt sie vielmehr radikal, wenn er nicht zuvor die göttliche Gnade als seinen wahren Seinsgrund erkennt. Diese Doppelperspektive, die es in ihrer inneren Einheit zu begreifen gilt, bestimmt die drei Hin- Hochmut, Trägheit, Lüge sichten, in denen Barth seine Hamartiologie analog zur Dreiteilung der Versöhnungslehre insgesamt im Modus des Widerspruchs zur Christologie entfaltet. Dem zum Knecht erniedrigten Herrn entspricht oder besser: widerspricht des Menschen Hochmut (vgl. KD IV/1, § 60), dem zum Herrn erhobenen Gottesknecht widerspricht des Menschen Trägheit (vgl. KD IV/ 2, § 65), dem wahrhaftigen Zeugen widerspricht des Menschen Lüge (vgl. KD VI/3, § 70). Ihre in sich verkehrte, mithin zwieträchtige Einheit hat die Sünde des Menschen, in der die bodenlose Abgründigkeit des Nichtigen manifest wird, im Unglauben des Menschen. Während Jesus Christus sich als Glaube in Person darstellt, da seine „anhypostatische“ menschliche Natur beständig vom göttlichen Logos (Enhypostasie) durchwaltet wird, ist das Sein des Sünders in negativer Korrespondenz ein gleichsam antithetisch anhypostatisches Sein, mithin nichtig. Die Nichtigkeit der sündigen Existenz zeitigt sich in Fall, Elend und Verdammnis des Menschen. Entscheidend ist die Frage, wie Barth die Sünde des Menschen als Schuld begreifen und damit von einem fatalen Geschick unterscheiden kann. Ausdrücklich abgelehnt wird die Auffassung, die Schuldigkeit des Menschen gründe in einem Freiheitsvermögen, zwischen Sünde und Nichtsünde zu wählen. Der Begriff der Wahlfreiheit verfehlt nach Barth den einzig angemessenen Begriff der Freiheit vorweg. Des Menschen Freiheit kann nämlich „nie die Freiheit (sein), sich seiner Verantwortung vor Gott zu entschlagen. Sie ist nicht die Freiheit zu sündigen.“ (KD III/2,235) Menschliche Freiheit kann es nur geben in Entsprechung zu Gott, wohingegen der Widerspruch der Sünde zugleich das Ende der Freiheit, nämlich ihre Verkehrung zur Unfreiheit darstellt. Die Sünde ist insofern niemals eine Mög-
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lichkeit freien Menschseins, sondern dessen Unmöglichkeit. Als solche wird sie durch Gottes Offenbarung qualifiziert. Insofern ist auch die Erkenntnis der Sünde als Sünde und mithin das Bewusstsein der Schuld durch Offenbarung konstituiert. Eine offenbarungsunabhängige Selbsterkenntnis des Sünders schließt Barth theologisch ebenso aus wie die Möglichkeit, die Universalität der menschlichen Sünde durch eine separate Lehre von Urstand und Fall sowie eine daran anschließende Erbsündenlehre zu erheben. Sündenerkenntnis ist mithin in all ihren Aspekten ein Modus von Offenbarungserkenntnis, in der Gott durch Jesus Christus kraft des Hl. Geistes sich selbst zu erkennen gibt. Wie das Schuldbewusstsein einzig und allein von Gott gewirkt ist, so müsste dem mit sich alleingelassenen Sünder jedes Bewusstsein seiner Schuld fehlen. Als ein von Gott gewirktes ist das Schuldbewusstsein, in welcher die mortificatio menschlicher Selbstbehauptung sich vollzieht, dann immer schon ein transitorisches Moment der vivificatio, indem der sündig in sich verkehrte Mensch durch die Erkenntnis seiner Sünde zu reuiger Sinnesänderung bewogen und zum neuen Sein für Gott bekehrt wird. In diesem Sinne mündet die Hamartiologie, wie sie in der Barthschen Versöhnungslehre entwickelt wird, konsequent in die Soteriologie ein. Was es mit der Sünde auf sich hat, ist nach Barth zu erfassen und zur Erkenntnis zu bringen nur von ihrer in Jesus Christus kraft des Hl. Geistes offenbaren göttlichen Überwindung her. Sünde ist nichts als nichtig und in ihrer Nichtigkeit zu nichts als zum Verschwinden bestimmt. Begriffen werden kann sie nur als ein im Verschwinden Begriffenes und von Gott grundsätzlich und von Ewigkeit her Gerichtetes. Die Sünde ist nur, indem Gott sie richtet und in der offenbaren Gestalt des für den Sünder gerichteten Richters überwindet. Einen Schein von Sein erhält ihre Nichtigkeit allein dadurch, dass Gott sich gegen sie wendet und seine Gnade über den Sünder walten lässt, um ihn durch Sündenvergebung mit sich zu versöhnen. Kurzum: Die Sünde ist allein dasjenige, von dem Gott nicht will, dass es sei. Man kann freilich fragen, ob sie damit nicht doch und zwar gerade in ihrer Nichtigkeit ein notwendiges Korrelat Gottes und ein Bestimmungsgrund seines gegen sie gerichteten Wirkens sei. Verteidiger Barths haben ihn gegen den in dieser Anfrage impliziten Vorwurf nach Kräften in Schutz zu nehmen versucht. Interpretationsgrundsatz der Barthverteidigung bildet etwa folgende Maxime: „Jeder Versuch, Gott und das Böse miteinander auszugleichen, muss früher oder später diese inkommensurablen Größen in einen ontologischen Zusammenhang bringen und damit Gott kompromittieren. Schon die Vorstellung, er habe das Böse ‚zugelassen‘, tritt seiner Gottheit zu nahe und muß dazu führen, seine Güte und Allmacht gegeneinander auszuspielen.“ (Dietrich/Link II, 123; vgl. auch Kress, 217 ff.) Wenn Barth die Sünde das von Gott Verurteilte, Verworfene und Verneinte nenne, dann nicht, um ihrer Nichtigkeit eine Negativität von theologischer Notwendigkeit zuzudenken. Ihm gehe es nicht darum, dem Nichtigen ex negativo Sein zuzuerkennen, um es in seiner faktischen Realität theologisch zu erklären oder gar zu verklären. Aussagen von der Art, dass das Nichtige sei, weil
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und indem Gott sich gegen es wende, seien vielmehr hermeneutisch als Hinweis „auf den angemessenen theologischen Umgang mit seiner Wirklichkeit“ (Dalferth III, 506, Anm. 84) zu verstehen. Das Nichtige habe „keine eigenständige ontologische Valenz und schon gar nicht den Charakter eines ontologischen Gegenprinzips zur Gnade Gottes“ (Dalferth III, 507, Anm. 84). Es sei „nur als Verneintes und zu Verneinendes zu verstehen“ (Krötke, 110). Gott wendet sich gegen das Böse, dessen Gegebensein nicht zu leugnen, aber in seiner Absurdität auch nicht zu erklären sei, am allerwenigsten dadurch, dass Gott sich dagegen wendet. „Was Glaube und Theologie leisten, wird missverstanden, wenn es als religiöse Erklärung dessen ausgegeben wird, was wissenschaftlich, medizinisch, politisch, rechtlich, moralisch usf. nicht erklärt werden kann, statt es als Abweisung von oder Verzicht auf Erklärung zu verstehen und als Anleitung und Hilfestellung dazu, mit Unerklärbarem, Widersinnigem, Sinnlosem, Dunklem, Unergründlichem menschenwürdig leben und sterben zu können.“ (Dalferth III, 507) Mit den zitierten Interpretationsanweisungen ist im Grundsatz bereits das hermeneutische Pro- Dalferths Trilogie gramm der Trilogie umschrieben, die Ingolf U. Dalferth im konstruktiven und kritischen Anschluss an Barth jüngst dem Problem des Bösen und der Denkform des Unbegreiflichen (vgl. Dalferth I) gewidmet hat. Jedenfalls in Teilen der Barth’schen Lehre vom Nichtigen und von der Sünde sieht Dalferth das Missverständnis angelegt, „die Kontingenz des Bösen zur notwendigen Begleiterscheinung und Rückseite des göttlichen Handelns zu machen, damit aber seine Wirklichkeit, die auch nicht sein könnte, zu einer durch Gottes Handeln bedingten Notwendigkeit zu erklären, die nicht nicht sein kann, auch wenn sie, für sich betrachtet, nicht sein müsste. Was nicht sein müsste und sollte, wird damit aber unter der Hand theologisch zu etwas, was nicht nicht sein kann, weil Gott sich dagegen wendet.“ (Dalferth III, 506) Diesem fatalen Missverständnis gelte es dadurch zu wehren, dass auf jede spekulative Erklärung des Bösen verzichtet und die Lehre von ihm konsequent auf die Hermeneutik einer religiös-christlichen Lebensorientierung ausgerichtet werde, malum-Erfahrung in Bezug auf Gott und Gott in Bezug auf malum-Erfahrungen zu verstehen. „Lebenswiderfahrnisse, die als malum erfahren werden, kennt jedes menschliche Leben. Jedes kennt damit auch die Aporie, in die solche Erfahrungen führen: dass man nicht verstehen kann, was sich nicht verstehen lässt, und doch nicht umhin kann, sich um ein Verständnis auch des Nichtverstehbaren zu bemühen.“ (Dalferth III, 27) Dalferths Hermeneutik des Bösen ist thematisch breit angelegt und prinzipiell auf alles bezogen, was malum heißen kann. Durch die Weite des Wahrnehmungshorizonts soll u. a. verhindert werden, die Hamartiologie vorschnell auf die Täterperspektive festzulegen und das Opfer der Sünde aus den Augen zu verlieren, ohne dessen Berücksichtigung das sündige Unwesen in seinem Widersinn vorweg verkannt werde. Wer das unbegreifliche Leid übersehe, welches die Sünde bewirke, könne keinen Begriff von ihrer Sinnwidrigkeit gewinnen. Die Denkform der Unbegreiflichkeit sei nachgerade dem Opfer geschuldet. Werde die Opferperspek-
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tive eingenommen, lasse sich das malum in Form von Übel und insbesondere von Bösem weder direkt noch indirekt mit Sinn verbinden. Die existentielle Erfahrung von Sinnlosigkeit, ja Sinnwidrigkeit dränge sich dem Opfer unwillkürlich auf. Diese Erfahrung lässt sich nach Dalferth auf theoretische Weise allenfalls bedingt transformieren und zum Guten wenden. Theorie neigt in der ihr eigenen Distanziertheit dazu, die Sinnlosigkeit und Sinnwidrigkeit zu verkennen, die Lebenswiderfahrnissen eignet, die böse zu nennen sind. Die emotionale Betroffenheit, die keine Antwort weiß, lässt sich von malum-Erfahrungen nicht trennen. Deshalb sind diese, wo sie ernst genommen werden, für neutrale Betrachtung schwer zugänglich. Darin liegt Dalferth zufolge beispielsweise die Schranke traditioneller Theodizeediskussionen und der metaphysischen, logischen und empirischen Argumente begründet, die in ihr erwogen werden. Nachgerade christliche Theologie habe wahrzunehmen, dass malumErfahrungen eines religiösen Umgangs bedürfen, der weder theoretisch noch praktisch substituierbar sei. Im religiösen Verhältnis wird der Anstoß des Bösen nicht beseitigt und die Sinnlosigkeit, ja Sinnwidrigkeit nicht geleugnet, deren Erfahrung sich mit dem Widerfahrnis des Bösen untrennbar verbindet. Religion, jedenfalls die christliche, hat einen Begriff von der Unbegreiflichkeit nicht nur des Guten, sondern auch des Bösen, das ihm widerstreitet. Sie weiß um die Fassungslosigkeit, welche das böse Widerfahrnis für den oder die Betroffenen mit sich bringt. Ohne Verständnis für Situationen, in denen nichts mehr verstanden wird und tatsächlich nichts zu verstehen ist, lässt sich der Kern der malum-Problematik weder ernsthaft erfassen noch gar einer befreienden Antwort zuführen. Das Böse zu denken kann also zunächst nur heißen, sich von der Unbegreiflichkeit und denkwidrigen Unsinnigkeit einen Begriff zu machen, mit der es sein Unwesen treibt und seinen Opfern widerfährt. Vielfältig sind die Versuche, dem Bösen denkend zu begegnen. In der europäischen Geschichte des Christentums und seiner Theologie lassen sich nach Dalferth insbesondere drei Denktraditionen konstatieren, die nicht nur etwas als böse beschreiben, sondern das Böse als Etwas zu bestimmen suchen: die Bestimmung des Bösen als privatio boni, als peccatum und als Unglaube. „Jeder dieser Versuche liegt in verschiedenen Ausprägungen vor, und jeder überschneidet sich in mannigfachen Weisen mit Aspekten anderer Versuche. Dennoch lassen sich diese drei Denktypen mit hinreichender Deutlichkeit unterscheiden, weil sie das Böse am Leitfaden verschiedener Fragestellungen in unterschiedlichen Horizonten zu bestimmen suchen: am Leitfaden schöpfungstheologischer Fragen in ontologisch-kosmologischem Horizont als privatio boni; am Leitfaden sündentheologischer Fragen in anthropologischem Horizont als peccatum; am Leitfaden rechtfertigungstheologischer Fragen in theologischem Horizont als Unglaube.“ (Dalferth III, 121) Die am Leitfaden schöpfungstheologischer Fragen Mangel an Gutem in ontologisch-kosmologischem Horizont erfolgende Bestimmung des Bösen als privatio boni ist
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dem Christentum insbesondere durch den Neuplatonismus vermittelt worden, um sich vor allem bei Augustin und in der augustinischen Tradition als wirksam zu erweisen. Danach ist Böses kein Etwas, das wahrhaft ist, „sondern immer nur Mangel an Gutem, das Fehlen von etwas, das sein könnte und sollte, die Abwesenheit einer positiven, nicht die Anwesenheit einer negativen Wirklichkeit“ (Dalferth III, 123). Nicht als ob die privatio boni-Lehre die Erfahrungswirklichkeit des Bösen bestreiten wollte: sie setzt ihre Faktizität im Gegenteil voraus, wenn sie die Realität des Bösen in ihrer Unfasslichkeit verständlich zu machen sucht. Doch ist ihrem Verständnis zufolge die Wirklichkeit des Bösen keine reale, sondern eine, wenn man so will, irreale Realität, die allein im Mangel an realer Realität besteht. Die privatio boni-Lehre denkt das Böse als ein nichtiges Etwas, das zwar nicht Nichts, aber auch keine Größe ist, der im eigentlichen Sinne Sein zukommt. Das Böse scheint nur zu sein; in Wahrheit aber ist es nichts als Mangel an Sein und ohne Bezug zum Sein, dessen es ermangelt, grundlos und schlechterdings nichtig. Als entscheidende Gründe, warum sich das christliche Denken trotz des Gewichts der augustinischen Tradition nie wirklich mit dem privatio boni-Gedanken arrangiert hat, gibt Dalferth „die Differenz der zugrunde liegenden Konzeptionen der Welt- und Lebensorientierung sowie das anders akzentuierte Leitinteresse christlicher Denkversuche“ (Dalferth III, 214) an. Während die antike Kosmologie samt ihrer Nachfolgekonzeptionen die Tatsache, dass es Übel in der Welt gibt, aufgrund und in Folge der ontologischen Unvollkommenheit alles Gottunterschiedenen für notwendig erklärt, stellt sich die Faktizität weltlichen Übels jüdisch-christlicher Schöpfungstheologie als zwar unleugbare, aber als kontingente, nicht-notwendige Tatsache dar: „Die privatio boni-Konzeption macht verständlich, warum es Übel geben muss, wenn es Übel gibt, aber nicht, warum es Übel gibt, die es nicht geben müsste. Deshalb war sie für sich genommen für christliches Denken stets unzureichend.“ (Dalferth III, 216) Hinzukommt, dass im Vordergrund christlicher Versuche, das Böse denkend zu bestimmen, stets dessen Unwesen als malefactum stand. Böses wird getan und als Angetanes erlitten. Zwar ist nicht alles, was malum zu nennen ist, malefactum im Sinne eines von Menschen handelnd Zugefügten. Aber der Abgrund des Bösen tut sich in seiner Bodenlosigkeit gerade dort auf, wo dieses als Übeltat getan und erlitten wird. Alles malum ist ein Übel und wird von demjenigen, der es erleidet, als Übel empfunden. Aber es macht einen erheblichen Unterschied, ob malum als „bloßes“, gleichsam naturhaftes Übel oder als ein getanes Böses erlitten wird. Die Bosheit des tathaften Bösen ist der, wenn man so will, innere Abgrund des Bösen, jedenfalls dann, wenn die Übeltat absichtlich erfolgt. Auf das Faktum willentlicher Übeltat hat die christliche Lehre vom Bösen ihre Aufmerksamkeit stets und mit besonderer Intensität ausgerichtet. Sie fasst das Böse infolgedessen nicht nur und auch nicht in erster Linie als ontologische privatio, sondern als anthropologische perversio, als widrige Untat des Menschen, die in der menschlichen Willensverkehrtheit ihre abgründige Wirk-, besser gesagt: Verwirkursache hat. Kurzum: Die Hamartiologie ist christliche Lehre vom Bösen im eigentlichen Sinn. Nicht alles
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Übel ist auf die menschliche Sünde zurückzuführen. Aber die Sünde des Menschen ist das übelste aller Übel, und ihre Bosheit lässt das malum recht eigentlich zum Bösen werden. Die christliche Lehre vom malum als malefactum Malum als malefactum führt den inneren Abgrund des Bösen auf die sündige Tat des Menschen und diese auf die Verkehrtheit des menschlichen Willens zurück. Als grundverkehrt und abgründig böse in sich hingegen wird die Annahme verworfen, Gott selbst sei die causa peccati. Die Schuld der Sünde liegt ausschließlich beim Menschen. Selbst Verweise auf den Teufel und satanische Versuchungen können als Entschuldigungsgründe für die Sünde des Menschen nicht in Betracht kommen. Weder ist der Teufel gemäß christlicher Hamartiologie eine außergöttliche Größe, deren Gott nicht mächtig ist, noch sind seine Aktionen geeignet, das sündige Handeln des Menschen zu entschuldigen. Es ist das menschliche male velle und bene nolle, welches die Sünde schuldhaft bewirkt. Nicht der Grund, wohl aber die Folgen der Sünde sind fatal. Denn der Sünder wird zum Opfer seiner eigenen Tat, die ihn beherrscht und seine Freiheit nicht nur knechtet, sondern ins schiere Gegenteil ihrer selbst verkehrt. Wer für den Moment meinte, sich alles leisten zu können, und sich als souveränes Handlungssubjekt seiner Willkür gerierte, wird augenblicklich zum Besessenen, der in Bezug auf seine Untat nichts mehr machen kann. Einsichten wie diese finden sich nicht erst bei Augustin, dessen Hamartiologie mehr und anderes war als privatio boniLehre; sie bestimmten christliche Sündenlehre von der Alten Kirche über das Mittelalter bis in die Reformationszeit und darüber hinaus. Daran zeigt sich, dass der christliche Begriff der Sünde unbeschadet des hamartiologischen Interesses an ihrer Zurechenbarkeit als Schuld von transmoralischer Art ist. Die Moralisierung der Sünde droht deren abgründiges Unwesen zu verkennen. Entsprechendes gilt allerdings ebenso für den Fall ihrer Fatalisierung. Wie beides, nämlich Moralisierung und Fatalisierung der Sünde, verhindert werden kann und zwar in einem, ist das entscheidende und zugleich schwierigste Problem christlicher Hamartiologie. Dalferth will es einer Lösung zuführen durch Transzendierung nicht nur des ontologisch-kosmologischen, der die privatio boni-Lehre bestimmt, sondern auch des anthropologischen Horizonts der traditionellen christlichen peccatum-Lehre, welche die Sünde handlungsorientiert als aktive Abwendung von Gott versteht, um auf diese Weise ihren Schuldcharakter und die Verantwortung des Sünders für sie festzuhalten. Böses, so Dalferth, lässt sich nicht nur auf böses Wollen und übles Tun beschränken. Denn malum kann zum einen auch ohne menschliches Zutun geschehen und erlitten werden und zum anderen Wirkung nicht nur böser, sondern auch gutwilliger Taten sein. „So oder so verändert sich der Blickpunkt. Denn nicht an dem, was ich will oder wie ich es will, entscheidet sich jetzt, ob böse ist oder als Übel wirkt, was ich tue, sondern daran, wie es andere (einschließlich meiner selbst) betrifft. Der maßgebliche Ort der Manifestation des Bösen ist nicht das wollende, planende und handelnde Subjekt, son-
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dern der vom malum Betroffene – sei er Mensch oder ein anderes Lebewesen.“ (Dalferth III, 299) Durch den angezeigten Perspektivenwechsel ändert sich nach Dalferth die Argumentationslage elementar. „Damit wird dem Subjekt die Entscheidungskompetenz über das Böse oder Gute seines Handelns entzogen: Nicht bei mir, sondern am Ort des Betroffenen – und das heißt in der Regel: am Ort des anderen – entscheidet sich diese Frage. Das ist keine Flucht aus der Verantwortung für das Böse, die zu wahren Kant so große Denkanstrengungen unternahm. Es ist vielmehr Ausdruck der Einsicht, dass auch die größte Bemühung, unserer Verantwortungspflicht gerecht zu werden, nicht verhindern kann, dass wir anderen Böses antun. Wir sind nicht Herren unserer Taten, weil selbst unsere gut gewollten und gut gemeinten Taten Wirkungen haben (können), die das Gegenteil von gut sind. Das wusste Kant, und deshalb verlagerte er die Entscheidung über das Gutsein einer Handlung auf die leitende Absicht und den dieses Wollen bestimmenden Willen.“ (Ebd.) Dalferth folgt dem nicht. Er plädiert vielmehr dafür, die Hamartiologie konsequent am Leitfaden rechtfertigungstheologischer Fragen zu entwickeln und Sünde in theologischem Horizont als Unglaube zu bestimmen, wie dies in reformatorischer Theologie grundsätzlich der Fall gewesen sei. Luther und die Theologen der Reformation haben nach Dalferth durch einen paradigmati- Sünde als Unglaube schen Perspektivenwechsel gegenüber der Tradition eine Revolution hamartiologischer Denkungsart bewirkt. „Sagte die Tradition, Sünde sei aktive Abwendung von Gott (um den Schuldcharakter der Sünde und die Verantwortlichkeit der Sünder zu betonen), heben die Reformatoren eher darauf ab, Sünde sei die Unfähigkeit und Unwilligkeit der Hinwendung zu Gott (um den Macht- und Verhängnischarakter der Sünde sowie das soteriologische Angewiesensein der Menschen auf Gott zu betonen). Beide Paradigmen des Sündenverständnisses konnten nur so lange für kompatible Varianten einer Sichtweise gehalten werden, als man die Abwendung von Gott und die Nichthinwendung zu Gott als aktives Tun im Rahmen einer Handlungsanthropologie verstand, die den Menschen ausschließlich über seine actiones und die diesen korrespondierenden passiones definierte. Wie der Mensch als creatura Resultat des Wirkens Gottes ist, so ist er als peccator Resultat seines eigenen Handelns. Und wie Gott ausschließlich für das Geschöpfsein, aber nicht das Sündersein des Menschen verantwortlich ist, so ist der Mensch ausschließlich für sein Sündersein, aber nicht für sein Geschöpfsein verantwortlich. Er ist Geschöpf, weil Gott ihn dazu macht, und er ist Sünder, weil er sich selbst dazu macht.“ (Dalferth III, 303) Nach Dalferth kann der handlungsanthropologische Denkansatz im Umgang mit dem unbegreiflichen Widersinn des Bösen nicht wirklich hilfreich sein, weil er dessen Abgründigkeit verkennt. Er plädiert daher für einen hamartiologischen Paradigmenwechsel und dafür, das Böse und die Sünde dezidiert theologisch, genauer: rechtfertigungstheologisch zu bestimmen, wie durch die reformatorische Theorie vorgezeichnet. Der Abgrund der Bosheit erhellt erst von ihrer Vergebung
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her. „Sünde ist nicht vom menschlichen Tun her und damit moralanalog zu verstehen, sondern vom Glauben her und damit als das, was im Glauben von Gott selbst überwunden ist. Nicht das Sündigen, sondern die Sündenvergebung wird zur Leitperspektive des Sündenverständnisses: Sünde ist das, was im Glauben vergeben wird.“ (Dalferth III, 305) Was Böses und was Sünde ist, lässt sich nach Dalferth nicht durch Phänomenanalysen menschlichen Daseins, auch nicht durch protologischen Regress und Bezugnahme auf sündlose Urstände oder dergleichen und ebenso wenig unter Verweis auf eine genuine Schöpfungsordnung und die in ihr manifeste, in der lex naturalis zum Ausdruck gebrachte Bestimmung des Menschen, sondern nur dann erheben, „wenn man darauf achtet, was vergeben wird und was Vergebung ist: Die Vergebung der Sünde erschließt, was Sünde ist, und die Überwindung des Bösen erschließt, was Böses ist. Die Vergebung der Sünde aber zeigt, dass es die Grundorientierung des menschlichen Lebens ist, die zurechtgebracht wird, indem Gott die Menschen auf seine Gegenwart hin ausrichtet, Sünde also die Fehlorientierung menschlichen Lebens insgesamt und nicht irgendein partielles moralisches oder gar sexuelles Fehlverhalten ist. Und entsprechend zeigt die Überwindung des Bösen, dass Böses nichts anderes ist als das, was den Menschen von der Wahrnehmung von Gottes Gegenwart abhält, ihm die Sicht auf Gott und das Leben mit Gott verstellt, also das, was sich im Unglauben der Menschen manifestiert.“ (Dalferth II, 202) Nicht als ob die Vergebung der Sünde Dalferth zufolge die Sünde konstituieren würde. Die Sündenvergebung konstituiert nicht die Sünde, sondern konstatiert und identifiziert ihre Faktizität. „Menschen sind Sünder, was immer sie von sich selbst oder andere von ihnen halten mögen, und die Wahrheit dieses Urteils entscheidet sich nicht an dem, wie sie sich selbst und wie andere Menschen sie beurteilen, sondern wie sie im Verhältnis zu Gott tatsächlich leben. Im Blick auf die konkrete Lebenspraxis gibt es keinen, der nicht Sünder wäre, der also nicht darauf angewiesen wäre, dass Gott sich um ihn kümmert, weil er zu seinem eigenen Schaden so lebt, als ob er sich nicht um Gott zu kümmern brauchte, sondern auch ohne Gott leben könnte. Man ist Sünder, weil man so lebt, nicht weil man das weiß. Diese gelebte Wirklichkeit der Sünde ist das, worauf sich die Vergebung bezieht, und das gilt entsprechend für die Wirklichkeit des Bösen insgesamt.“ (Dalferth II, 203) Kurzum und summa summarum: Die Sünde ist RechtfertigungstheologiDalferth zufolge in christlicher Perspektive ausscher Horizont schließlich unter dem Aspekt ihrer Vergebung ins Auge zu fassen und allein vom Evangelium her zur Sprache zu bringen. Thema der Theologie kann sie entsprechend nur als das in Jesus Christus Aufgedeckte und Überwundene – und zwar von Anfang an und in Ewigkeit Überwundene – sein. In dem an unserer Statt gerichteten Gerechten ist das Böse zugrunde gerichtet, von Grund auf behoben und keine Wirklichkeit mehr, welche die Macht hätte, von Gott zu trennen. Dies und nichts anderes hat der christliche Glaube zu
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bekennen und die christliche Hamartiologie nach Maßgabe des Evangeliums zu bezeugen. Was aber bleibt, wenn die Bosheit der Sünde überwunden ist, ist nach Dalferth nicht mehr als böse im eigentlichen Sinne einzustufen: „Leiden, Schmerz und Tod sind auch post Christum Lebenswirklichkeiten, aber sie sind nicht böse, weil sie nicht von Gottes Leben und Liebe trennen können. Es gibt weiterhin Leiden, Schmerz und Tod, aber sie haben ihren Stachel des Bösen verloren.“ (Dalferth II, 202 Anm. 195) Bleibt hinzuzufügen, was mehr und anderes ist als eine abschließende Anmerkung, weil es auf den „abgründigen“ theologischen Grund des skizzierten hamartiologischen Ansatzes rückverweist. Nach Dalferth ist der Widerstreit der Sünde und des Bösen gegen Gott der Gottheit Gottes nicht äußerlich; er betrifft sie vielmehr im Innersten, und reißt einen Abgrund in Gott auf, für den das Kreuz steht. „Gott liegt mit sich selbst im Streit, und demgegenüber ist jeder Streit des Menschen gegen Gott von kaum zu überbietender Harmlosigkeit. Selbst der aggressivste Atheismus und Antitheismus sind Unendlichkeiten von Lichtjahren von der Schärfe des Widerspruchs entfernt, in dem Gott sich gegen sich selbst wendet. Dieser Widerspruch lässt sich durch keinen Theismus widerlegen, sondern kann nur im Streit von Gott gegen Gott selbst ausgefochten werden. In diesem Streit steht alles auf dem Spiel, nicht nur alles Wirkliche, sondern auch alles Mögliche.“ (Dalferth II, 214) Das Wirkzeichen des zwischen Gott und Gott um Gottes Göttlichkeit ausgetragenen Streits stellt nach Dalferth das Kreuz Jesu Christi dar, in dem sich ein Abgrund in Gott geltend macht, um sich auf ewig auszuwirken und einzugehen in den göttlichen Grund, welcher nichts als jene reine Liebe ist, von der das Wort vom Kreuz kündet. Dieses beurkundet den österlichen Ausgang des Streits zwischen Gott und Gott, aus dem in der Kraft des pfingstlichen Geistes der christliche Glaube entsteht. Dass dies, was der logos tou staurou bezeugt, das Resultat des Streits um Gottes Göttlichkeit ist, kann nach Dalferth „nur als absolute Kontingenz konstatiert werden. Zum einen hat es keinen anderen Grund als den, dass eben dies das Resultat des Streites zwischen Gott und Gott ist. Hinter Gottes Selbstfestlegung auf Nächstenliebe und gegen Selbst- und Fremdvernichtung führt kein gangbarer Weg zurück. Zum anderen gibt eben diese unhintergehbare Kontingenz Gottes Göttlichkeit ihre unverwechselbare Kontur. Denn es ist ja eine alles andere als beliebige Kontingenz, die sich im Kreuz basal und unhintergehbar manifestiert: Gott ist der, der sich aus Liebe zu dem Anderen seiner selbst dem Abgrund einer unendlichen Zweideutigkeit oder absoluten Selbstvernichtung verweigert und zu dem aus Freiheit Liebenden wird, von dem der christliche Glaube im Wort vom Kreuz spricht.“ (Dalferth II, 215 f.) Was dieses Wort besagt, lässt sich bündig in zwei Silben fassen: gratis, nicht vergebens, sondern umsonst, weiter nichts (vgl. Dalferth, Umsonst). Die Selbstoffenbarung Gottes im gekreuzigten Jesus von Nazareth, in welcher er sich als der in Gott und Sünde Freiheit Liebende und als derjenige erweist, der aus
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reiner Gnade Sünde vergibt, erfolgt in absoluter Kontingenz. Was darunter zu verstehen ist, hat Dalferth in einer aufschlussreichen Studie zum Thema „Gott und Sünde“ präzise dargelegt. Ihren Ausgang nehmen die Überlegungen bei der scheinbar trivialen Rede von der impeccabilitas Dei und der Frage, wie sich die Annahme prinzipieller Sündlosigkeit Gottes mit der göttlichen Allmacht einerseits und der unleugbaren Faktizität des Bösen andererseits vertrage. Die dogmatische Tradition kennt nach Dalferth vier gewichtige Argumente, die Prämisse einer grundsätzlichen impeccabilitas Dei zu begründen: „(1) Gott kann nicht sündigen, weil er nicht fähig ist zu sündigen. (2) Gott kann nicht sündigen, weil dies seinem Wesen widerspräche. (3) Gott kann nicht sündigen, weil dies seinem Willen widerspräche. (4) Gott kann nicht sündigen, weil er nicht sündigt.“ (Dalferth, Gott und Sünde, 6) Um das erste Argument nicht in Widerspruch mit der Prämisse göttlicher Allmacht zu bringen, werde geltend gemacht, dass Sündigenkönnen keine Potenz sei, sondern im Gegenteil auf Impotenz beruhe. Gottes Sündlosigkeit im grundsätzlichen Sinne seines Nichtsündigenkönnens widerspreche daher seiner Omnipotenz nicht nur nicht, sondern entspreche ihr, sofern die vermeintliche Fähigkeit zu sündigen in Wahrheit eine Unfähigkeit darstelle. „Folglich kann Gott nicht sündigen, weil (nicht obwohl) er allmächtig ist.“ (Dalferth, Gott und Sünde, 4) Dalferth hält diese Argumentation, als deren klassische Vertreter Anselm und Thomas angeführt werden, für „unzureichend“ (ebd.) und mit dem Begriff göttlicher Allmacht entgegen ihrem Anspruch nicht kompatibel. Könne Gott nämlich nicht alles Mögliche einschließlich der Sünde wirken, dann sei er nicht wirklich allmächtig, weil der Begriff der Allmacht als Allvermögen definitionsgemäß ausschließe, etwas Mögliches nicht wirken zu können. Auch das Zusatzargument, Gott könne nicht sündigen, weil dies seinem Wesen widerspräche, hält Dalferth nicht für durchschlagend, da das Wesen Gottes seinen Willen nicht determiniere bzw. dergestalt binde, dass seine absolute Freiheit durch eine ewige Ordnung eingeschränkt werde. Konsequenterweise affirmiert er die nominalistische Wende im Gottesverständnis und rühmt sie als „Entdeckung der theologischen Relevanz und Würde des Kontingenten“ (Dalferth, Gott und Sünde, 13), das er von bloßem Zufall allerdings ebenso unterschieden wissen will wie die potentia absoluta des göttlichen Willens von Willkür und reinem Belieben. Gottes Wille sei „nicht Willkür, sondern die Bedingung der Möglichkeit sowohl von Ordnung wie auch von Neuem. Entsprechend ist seine Freiheit keine Gesetzlosigkeit, sondern Autonomie: Gott setzt nicht nur Ordnungen, er kann sich auch selbst diesen Ordnungen unterwerfen und hat es in der Heilsordnung auch getan. Obwohl er seiner potestas absoluta frei und erhaben über alle Ordnung ist, hat er sich in seiner potestas ordinata darauf festgelegt, nicht im Widerspruch zu seiner in Christus offenbarten Liebe handeln zu wollen.“ (Dalferth, Gott und Sünde, 10) Damit ist der Ansatz benannt, von dem her Dalferth unter Berufung auf Luther und im Anschluss an Barth seine theologische Gesamtkonzeption entwickelt: „Am Kreuz entscheidet sich nicht nur, was Gott will, sondern wer oder was Gott ist:
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Gott legt sich dort nicht bloß auf ein bestimmtes Wollen und Handeln in unserer Welt fest, obwohl ihm auch anderes möglich gewesen wäre. Vielmehr bestimmt er sich dort so, daß er in keiner möglichen Welt anders sein, wollen und handeln kann und könnte, ohne aufzuhören, Gott zu sein.“ (Dalferth, Gott und Sünde, 12) Nachgerade die These der impeccabilitas Dei verstehe sich von dort und nur von dort her. Gottes Sündlosigkeit gründe weder „darin, daß er aufgrund seines Wesens gar nicht sündigen könnte, selbst wenn er es wollte, noch darin, daß er aufgrund seines Willens nicht sündigen will, obgleich er es könnte, sondern allein darin, daß er tatsächlich nicht gesündigt hat: Gott kann nicht sündigen, weil er nicht sündigt. Die Kontingenz des Offenbarungsgeschehens in Jesus Christus definiert Gottes Charakter, Wesen, Willen, Macht und Freiheit als seine freie Selbstbestimmung zur Liebe, so daß wir zwar auch weiterhin mit einer immer noch größeren, aber nicht und niemals mit einer anderen Macht und Freiheit Gottes rechnen müssen und können: Wer und was Gott ist, worin seine Gottheit besteht und welchen Charakter seine Macht und Freiheit haben, das hat sich in Jesus Christus ein für allemal entschieden.“ (Dalferth, Gott und Sünde, 13) Was für die These der Sündlosigkeit Gottes entscheidend ist, gilt nach Dalferth entsprechend auch in Bezug auf die Sündhaftigkeit des Menschen: „In beiden Fällen ist theologisch ausschließlich das kontingente Faktum des Sündigens bzw. Nichtsündigens maßgeblich, keine allgemeine Konzeption menschlicher Fähigkeit bzw. göttlicher Unfähigkeit zum Sündigen: – Der Mensch kann sündigen, weil er handeln kann, zu sündigen nicht unmöglich ist und er tatsächlich sündigt; er will sündigen, sonst würde er nicht sündigen; und weil er sündigt, kann er nicht aufhören zu sündigen. – Gott dagegen kann und will nicht sündigen, weil er nicht sündigt, obwohl zu sündigen möglich ist: er hat sich auf die Förderung unserer Freiheit unter Wahrung unserer Andersheit festgelegt, und d. h.: er hat sich frei zur Liebe bestimmt.“ (Dalferth, Gott und Sünde, 14). Im auferstandenen Gekreuzigten ist Gottes freie Selbstbestimmung zur Liebe offenbar, um im Geist als sündenvergebende Gnade für uns erschlossen zu werden. Von diesem Erschließungsgeschehen hat die christliche Lehre vom Bösen und von der Sünde ihren Ausgang zu nehmen.
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12. Kreatürliche Selbstzentrizität und die Verkehrtheit des Menschen bei Pannenberg
Lit.: P. Althaus, „Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“ Zur Auseinandersetzung mit der exklusiv-christologischen Dogmatik, in: ders., Um die Wahrheit des Evangeliums. Aufsätze und Vorträge, Stuttgart 1962, 168–180. – Chr. Axt-Piscalar, Art. Sünde VII. Reformation und Neuzeit, in: TRE 32, 400–436. – J. Baur, Schuld und Sünde, in: NZSTh 24 (1982), 311– 319. – W. Breuning, Christus macht dem Menschen den Menschen kund. Zur Verwurzelung des „Erbsünden“-Themas in der Soteriologie, in: B. J. Claret (Hg.), Theodizee, Darmstadt 22008, 117–151. – Chr. Gestrich, Neuzeitliches Denken und die Spaltung der dialektischen Theologie. Zur Frage der natürlichen Theologie, Tübingen 1977. – W. Härle, Sein und Gnade. Die Ontologie in Karl Barths kirchlicher Dogmatik, Berlin/New York 1975. – W. Krötke, Sünde und Nichtiges bei Karl Barth, Neukirchen 21983. – J. M. Millas, Die Sünde in der Theologie Rudolf Bultmanns, Frankfurt a. M. 1987. – W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983 (= Anthr.). – Ders., Systematische Theologie. 3 Bd., Göttingen 1988 ff. (= STh). – Ders., Sünde, Freiheit, Identität. Eine Antwort an Thomas Pröpper, in: ThQ 179 (1990), 289–298. – G. Pfleiderer, „Die eigentliche Sünde ist allen Menschen unbekannt.“ Überlegungen zum Verhältnis von Sünde und Sündenerkenntnis, in: NZSTh 43 (2001), 330–349. – Th. Pröpper, Das Faktum der Sünde und die Konstitution menschlicher Identität. Ein Beitrag zur kritischen Aneignung der Anthropologie Wolfhart Pannenbergs, in: ThQ 170 (1990), 267– 289. – Ders., Theologische Anthropologie. 2 Bd., Freiburg/Basel/Wien 2011. – G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003.
Das radikal in sich verkehrte und dadurch gegen Gott, Mitmensch und Welt, ja auch gegen sich selbst gekehrte Ich hat kein Bewusstsein seiner Sünde. Es ist im Gegenteil in all seinem sündigen Denken und Wollen darauf aus, sich die Einsicht in seine Verkehrtheit durch bewusste Uneinsichtigkeit trotzig zu verstellen. In solchem Trotz, der sowohl die Zeichen des Hochmuts als auch der Verzweiflung an sich trägt, erkennt der Sünder seine Sünde nicht nur nicht, sondern verkennt sie, worin sich die Radikalität sündiger Selbstverfasstheit erweist. Der Sünder wird seiner durch bestimmungswidrige Selbstbestimmung gesetzten Sünde nicht mehr Herr, sondern stellt sich selbst mit all seinem Vermögen ganz in ihren Dienst. Freiheit von der Sünde kann ihm nur durch einen Akt der Befreiung zuteil werden, den er selbst aus eigener Schuld nicht zu tätigen vermag. Daraus lässt sich folgern, dass die Hamartiologie der Soteriologie bedarf, um heilsam zu sein und nicht im Heillosen zu enden (vgl. Breuning). Barths Versöhnungslehre versteht sich dezidiert offenbarungstheologisch und Offenbarungserkenntnis und humane Selbstwahrnehmung
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Kreatürliche Selbstzentrizität und die Verkehrtheit des Menschen bei Pannenberg
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weiß sich in der von Gott selbst gesetzten Voraussetzung gegründet, dass in Jesus Christus der Akt der Befreiung des Menschen von der Radikalität seiner schuldhaften Sündenverfallenheit Faktum ist. Das Evangelium ratifiziert dieses Faktum in seiner Faktizität, indem es Sündenvergebung aus reiner Gnade zuspricht. Erst dieser Zuspruch gnädiger Vergebung der Sünde wirkt nach Barth Sündenerkenntnis, die ohne glaubensgehorsame Anerkennung vollzogener Befreiung von ihr nicht zu haben ist. Gegen den Vorwurf, er prinzipialisiere die Gnade und erkläre sie zur axiomatischen Grundlage einer theologischen Deduktion, die sich auch auf die Sünde als das durch Gottes Nein negierte Nichtige erstrecke (Härle, 240: „Das zu Beseitigende muß sein, um beseitigt werden zu können.“), wird Barth von den Seinen in der Regel mit dem Hinweis verteidigt, er verstehe Gottes Gnade in Jesus Christus nicht als Prinzip, sondern „als Ereignis“ (Krötke, 107). Barths hamartiologisches Thema sei „die konkrete Erscheinung des Nichtigen in der Geschichte Jesu Christi, von der der Mensch im Glauben betroffen wird. Die in dieser Geschichte vollzogene grundlegende Negation des Bösen, das aufgrund dieser Negation ‚Nichtiges‘ heißt, wird von Barth bis in die Erwählungslehre hinein ausgelegt.“ (Krötke, 109) Diese abstrahiere nicht vom geschichtlichen Ereignis der Gnade Gottes in Jesus Christus, sondern ergebe sich aus der Reflexion auf die Faktizität seines Geschehens. Bleibt zu fragen, inwiefern das „in sich selbst verstrickte Ich sich in Christus von seiner sündhaften Selbstsetzung und deren Folgen zu sich selbst befreit wissen kann und darf“ (Pfleiderer, 347). Barth beantwortet diese Frage pneumatologisch: Zum Bewusstsein seiner Begnadung und dem dadurch ermöglichten Sündenbewusstsein gelangt der Mensch nicht durch sich selbst und kraft seines Selbstbewusstseins, sondern in der Kraft des göttlichen Geistes. Doch wie ist es zu denken, dass der Geist Gottes den Menschen das in Jesus Christus gewirkte Heil der Sündenvergebung und Sündenerkenntnis als das seine erkennen und ergreifen lässt. Erschließt der Geist das in Jesus Christus offenbare Heil Gottes so, dass er seine von Gott gesetzte Faktizität am Ort des Menschen dergestalt zur Geltung bringt, dass es in das Bewusstsein eingeht, welches der Mensch von sich selbst hat? Rechtes menschliches Selbstverständnis samt allem, was ihm an Weltbezügen zugehört, wird nach Barth nicht anders als im Geiste der Offenbarung Gottes in Jesus Christus erschlossen. Doch wie kann unter den Bedingungen menschlichen Selbstbewusstseins und an ihrem Ort zur Einsicht gebracht werden, dass der Geist rechtes menschliches Selbstverständnis erschließt bzw. erschlossen hat? Die Beantwortung dieser und vergleichbarer Fragen, die strukturanalog in allen Feldern der Dogmatik begegnen, fielen bereits innerhalb der sog. Dialektischen Theologie verschieden aus (vgl. Gestrich), wie sich etwa an Rudolf Bultmanns existentialontologischer Lehre vom Menschen und seiner Sünde exemplarisch belegen ließe (vgl. Millas). Es zeigte sich das wiederholte Bestreben, den offenbarungstheologischen Ansatz anthropologisch zu vermitteln und demjenigen fundamentaltheologische Bedeutung zuzuweisen, was die Tradition Gesetz nennt. Soll die durch das Evangelium kraft Sündenvergebung erschlossene Erkenntnis
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der Sünde wirkliche Erkenntnis des zum Bewusstsein seiner Sündenschuld gelangten Sünders sein, dann bedarf es einer Rückvermittlung bezüglich jener Identität, die in besagter Identifikation und Verurteilung stets vorausgesetzt oder mitgesetzt ist. Soll hinwiederum diese verurteilende Identifikation nicht lediglich äußerlich, sondern von innen heraus und damit so vorgenommen werden, dass sie mit der Selbstidentifikation des Sünders übereinkommt, dann nimmt sie ein Wissen des Sünders um seine kreatürliche, in der Sünde verfehlte Wesensbestimmung notwendig in Anspruch. Bringt man dieses Wissen des Menschengeschöpfs um seine genuine Bestimmung mit demjenigen in Verbindung, was das Gesetz in Form der lex naturalis zu Bewusstsein bringt, dann muss mit einer gesetzlichen Form der Sündenerkenntnis gerechnet werden. Mag die durch das Gesetz bzw. durch die humane Selbstwahrnehmung des Menschen vermittelte Sündenerkenntnis noch so unbestimmt und verworren sein, sie bildet nach Auffassung der Barthkritiker innerhalb und außerhalb der Dialektischen Theologie einen unverzichtbaren Bezugspunkt des in Jesus Christus offenbaren Faktums göttlicher Sündenvergebung, wenn anders diese am Ort des Sünders als die ihm geltende wahrgenommen werden soll. Ohne vorläufige Erkenntnis der Sünde und ohne irgendein Bewusstsein der Schuld, wie getrübt dieses auch sein mag, kann das Evangelium der Sündenvergebung am Ort des Sünders überhaupt nicht als solches vernommen werden. Weit gefehlt wäre es also, „die Aufgabe der Theologie im Kontext der Schuldproblematik als Belehrung von Ignoranten, als Information über einen nur durch Offenbarung erschlossenen fundamentalen Sachverhalt der conditio humana“ (Baur, 315 f.) zu deuten. Festzuhalten sei vielmehr, „daß auch die Gnade und das Heil nicht ohne schon vorangehendes Erkennen der Sünde verstanden und ergriffen werden kann, so gewiß dann wiederum die Erkenntnis des Heils die Sündenerkenntnis in ihre Tiefe führt, vollendet“ (Althaus, 179). Wolfhart Pannenbergs Hamartiologie ist dem offenbarungstheologischen Ansatz Barths konzeptionell enger verbunden als dies bei oberflächlicher Betrachtung erscheinen mag. „Dass die Verkehrtheit desjenigen Verhaltens, das die christliche Tradition als Sünde gekennzeichnet hat, darin gründet, daß es Abwendung von Gott und also Sünde gegen Gott ist, das kann allerdings nur im Lichte eines Wissens von Gott gesehen werden und also in voller Klarheit erst von Gottes Selbstoffenbarung her, da ein anderes als aus Gottes eigener Initiative begründetes Wissen von Gott den Begriff Gottes selber aufheben würde.“ (Anthr., 89) Dies gelte umso mehr, als „die Verderbtheit des Menschen, – wenn sie wirklich so radikal ist, wie die christliche Sündenlehre behauptet, – selber die Einsicht in diesen seinen Zustand blockieren muss“ (ebd.). Dennoch grenzt sich Pannenberg von der „Behauptung einer rein offenbarungstheologischen Vermittlung der Sündenerkenntnis“ (Axt-Piscalar, 425) ab. Erkenntnis der Sündhaftigkeit sei nicht lediglich Sache des Offenbarungsglaubens und der menschlichen Selbsterfahrung gänzlich verschlossen. Anthropologisch zu verifizierende Sündenerkenntnis müsse der durch die Christusoffenbarung erschlossenen vielmehr so vorausgesetzt werden
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wie das als lex naturalis die kreatürliche Bestimmung des Menschen in der Schöpfung explizierende Gesetz dem Evangelium. Methodisch folge darauf, „dass der Sachverhalt, auf den sich die theologische Qualifizierung der Sünde bezieht, als solcher auch ausgewiesen werden müsse. Das dafür maßgebliche Verständigungsparadigma ist unter den Bedingungen der Moderne die Frage nach der Subjektivität des Menschen.“ (Ebd.) Der Mensch ist ein exzentrisches und zugleich Exzentritzität und selbstzentriertes Wesen. Dass er beides in einem Selbstzentriertheit ist, entspricht seiner kreatürlichen Bestimmung und widerspricht ihr keineswegs per se, begründet aber eine Spannung, die zum Anlass einer Verkehrung der menschlichen Identität durch Ichsucht und selbstische Konkupiszenz werden kann. Um genauer zu verstehen, was damit gemeint ist, bedarf es der Klärung einiger Grundbegriffe der anthropologischen Konzeption, die Pannenberg in theologischer Perspektive entwirft. Die Sonderstellung des Menschen gründet ihr zufolge wesentlich auf seiner gottebenbildlichen Bestimmung zur Gemeinschaft mit seinem Schöpfer. Für das Personsein des Menschen in seiner differenzierten Einheit von Leib und Seele, die nicht zwei trennbare Teilsubstanzen darstellen, sondern untrennbar zusammengehören, ist konstitutiv, was Pannenberg Geistbezug nennt. Unter Geist ist dabei keine Seelenkraft im Sinne etwa der aristotelisch-thomanischen anima intellectiva, sondern das das leibseelische Leben des Menschen und seine Personidentität begründende und erhaltende schöpferische pneuma Gottes zu verstehen. Durch den Gottesgeist wird der Mensch zu jener Selbsttranszendenz bewegt, auf die sein Wesen angelegt und ohne die seine Bestimmung nicht zu realisieren ist. Dies gilt auch und gerade für die menschliche Vernunft, die daher mit dem Geist nicht gleichzusetzen ist, weil sie von einer Begeisterung lebt, die nicht unmittelbar in ihrem Vermögen steht. Die Vernünftigkeit seiner Vernunft und die Humanität des Menschen sind, was sie sind, im Übersichhinaus, im exzentrischen Gründen im Geist. Der Geist ist es zugleich, der jenes Ineinander von Ekstatik und Innerlichkeit wirkt, welches alles Seiende durchwaltet, um im sich wissenden Ich die höchste Wissensform auszubilden, ohne mit menschlichem Selbstbewusstsein unmittelbar identisch zu sein. Sind doch das Selbstbewusstsein des Menschen und das Ich, als das er sich selbst weiß, an sich selbst endlich und des Unendlichen nur teilhaftig, sofern sie von diesem ergriffen und über die Schranken ihrer Endlichkeit hinausgeführt und zu jener exzentrischen Selbsttranszendenz befähigt werden, zu der der Mensch in seinem gottebenbildlichen Personsein bestimmt ist. Boethius hatte im dritten Kapitel seines gegen Eutyches und Nestorius gerichteten „Liber de persona et duabus naturis“ Person als „naturae rationalis individua substantia“ (MPL 64,1343) definiert. Auch Pannenberg bestimmt den Personbegriff aus seinem trinitätstheologisch-christologischen Ursprungskontext heraus, jedoch im Sinne einer konstitutiven Relation. Personsein ist Sein in Beziehung und grundgelegt im Bezug zu Gott und zum göttlichen Geist, der das menschliche Verhältnis zu Selbst und Welt personhaft bestimmt. „Ohne das Wirken des göttli-
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chen Geistes im Menschen wäre ihm keine Personalität im tieferen Sinne des Wortes zuzuerkennen. Denn Personalität hat es zu tun mit dem Inerscheinungtreten der Wahrheit und Ganzheit des individuellen Lebens im Augenblick seines Daseins. Der Mensch ist nicht dadurch schon Person, daß er Selbstbewußtsein besitzt und das eigene Ich von allem anderen zu unterscheiden und festzuhalten vermag. Er hört auch nicht auf, Person zu sein, wo solche Identität im Selbstbewußtsein nicht mehr besteht, noch ist er ohne Personalität, wo sie noch nicht vorhanden ist. Personalität ist begründet in der Bestimmung des Menschen, die seine empirische Realität immer übersteigt.“ (STh II, 227 f.) Der Mensch ist ein exzentrisches und selbstzentriertes Personwesen. Wo jene Begeisterung statthat, die mit dem für sein Personsein konstitutiven Gottesbezug verbunden ist, bilden Exzentrizität und Selbstzentriertheit des Menschen eine zwar spannungsvolle, aber stimmige Einheit, sofern das grundlegend auf Gott bezogene menschliche Ich in selbsttranszendenter Weise und damit so bei sich ist, wie es seinem kreatürlichen Selbst- und Weltverhältnis entspricht. Geistlos nicht nur, sondern geistwidrig gestaltet sich das menschliche Selbstverhältnis hingegen dann, wenn der Mensch den Gottesbezug durch ein solipsistisches Verhältnis unmittelbarer Selbstbestimmung zu ersetzen gedenkt. Dann nimmt der anthropologische Zusammenhang von Exzentrizität und Zentriertheit die Form manifester Verkehrung an. Pannenberg charakterisiert sie mit den Begriffen Elend und Entfremdung, um von dorther das nötige terminologische Bedeutungsprofil für den Sündenbegriff zurückzugewinnen, das dieser in der Alltagssprache weithin verloren hat. Das Elend der Sünde besteht nach Pannenberg in Elend und Entfremdung Sonderheit darin, dass sie den Menschen mit der Gottesgemeinschaft, zu der er als gottebenbildliches Geschöpf bestimmt ist, seiner eigenen Würde beraubt. Während die in seiner Gottebenbildlichkeit begründete Würde des Menschen durch kein äußeres Übel und Unrecht aufgelöst werden kann, lässt die Sünde den Sünder würdelos und elend werden. „Elend ist . . . der Mensch, der der Gemeinschaft mit Gott beraubt ist, zu der das menschliche Leben bestimmt ist. Diese Bestimmung wird durch die Entfremdung des Menschen von ihr nicht aufgehoben. Gerade ihr Fortbestehen begründet das Elend der Menschen; denn in der Gottesferne sind sie auch ihrer eigenen Identität beraubt.“ (STh II, 206 f.) Es liegt in der zwangsläufigen Konsequenz der Sünde, den Sünder verelenden zu lassen. Das deutsche Wort „Elend“ legt etymologisch die Assoziation der heimatlosunheimlichen Ferne nahe, die auch durch den Entfremdungsbegriff angezeigt ist, der nach Pannenberg den hamartiologischen Vorzug hat, die „Zweiseitigkeit eines aktiven und eines zuständlichen Zuges“ (STh II, 207) zum Ausdruck zu bringen. „Man kann sich von jemandem entfremden, aber man findet sich auch im Zustand der Entfremdung vor.“ (Ebd.) Pannenberg zeigt, dass der Begriff der Entfremdung anders als von Paul Tillich vermutet, der ihn innerhalb der modernen Theologie in besonderem Maße zur Interpretation des Sündenbegriffs aufgenom-
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men hat (vgl. Anthr., 273 ff.), nicht erst von Hegel und im Anschluss an ihn von Marx in die Debatte eingeführt wurde, sondern ursprüngliches christliches Erbe darstellt. In seiner hamartiologischen Verwendung müsse er „in Korrespondenz zu dem der Identität gebraucht“ (Anthr., 271) und mit dem Begriff der Selbstentfremdung verbunden werden. Denn die menschliche Entfremdung von Gott bringe stehts „die Getrenntheit von der eigenen, an die Gemeinschaft mit Gott gebundene Bestimmung des Menschen“ (Anthr., 263) mit sich. Der Gott entfremdete Mensch ist immer auch sich selbst und seiner Welt entfremdet. Wenn nämlich „der Mensch seiner eigentlichen Bestimmung nach auf Gott bezogen ist, dann ist die infolge seiner Eigenliebe eingetretene Entfremdung von Gott der Ursprung aller Entfremdung des Menschen von sich selbst“ (Anthr., 271). Dem Problem des abgründigen Ursprungs sündiger Entfremdung des Menschen von Gott, die ihn ins Elend führt, nähert sich Pannenberg durch eine Analyse der Naturbedingungen menschlichen Daseins und der leibseelischen Verfasstheit humaner Weltexistenz. Die Vorstellung eines historischen bzw. prähistorischen Übergangs von einem protologischen status integritatis in den status corruptionis und damit die Vorstellung eines in der menschlichen Erfahrungswelt als besonderes Ereignis identifizierbaren Ursprungsfalls der Sünde wird abgewiesen. Abgewiesen wird ferner ihre Rückführung auf einen ursprünglichen Akt wahlfreien Willens. Denn die Annahme einer Indifferenzfreiheit sei weder für die Zurechenbarkeit der Sünde als Schuld notwendig, weil sich diese aus der zuzumutenden und zumutbaren Verantwortlichkeit des Menschen für sein faktisches Leben ergebe, noch schöpfungstheologisch haltbar, da ein dem Guten gegenüber auch nur momentan indifferenter Wille kein guter Wille sei, sondern sich bereits im Widerspruch zur protologisch vorausgesetzten Güte der Schöpfung befinde. Ein Geschöpf, das sein Verhältnis zum Guten als Wahlverhältnis bestimmt, ist nach Pannenberg bereits dem status corruptionis verfallen, weil ein indifferenter Stand dem Guten gegenüber nicht etwa als ein neutraler, sondern als ein faktisch sündiger Status zu gelten habe. Entsprechendes wird übrigens auch in Bezug auf die Angst namhaft gemacht, die in expliziter Kritik Kierkegaards und Tillichs als Indiz einer Form menschlicher Selbstsorge qualifiziert wird, die nicht erst auf dem Sprung in die Sünde, sondern bereits in sich sündig sei. Nach Pannenberg kommen weder das Existential der Angst noch ein liberum arbitrium indiffe- Faktizität der Sünde renter Wahlfreiheit als Genetisierungskandidaten des Falls der Sünde in Frage, weil beide selbst bereits Indizien seines faktischen Eintritts seien. Die Faktizität der Sünde sei generell nicht durch Hinweis auf wie auch immer geartete Zwischengrößen zu erklären, die vermeintlich urständliche Güte und Sündenfall vermitteln, weil sie in nichts anderem als im sündigen Faktum selbst begründet liege, welches eine Sinnwidrigkeit darstelle, die zwar nicht mit Sinn zu versehen, wohl aber in jenem Sinnhorizont aufklärbar sei, der sich von der kreatürlichen Bestimmung des Menschen her erschließe. Pannenberg zufolge macht sich die menschliche Sünde einer geist- und sinnwidrigen Bestim-
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mung des Verhältnisses schuldig, zu welcher der Mensch als Gottes Geschöpf bestimmt ist, nämlich eine gottbezogene und gottunterschiedene leibseelische Person im Verein mit anderen Personen in einer gemeinsam gegebenen Welt zu sein. Das Urfaktum menschlicher Sünde besteht in der Verkehrung des exzentrischen Personverhältnisses, in dem das Ich sich selbst ganz in Gott gegründet weiß, in eine ängstlich um Selbsterhalt besorgte Egozentrizität, aus der das Streben nach unmittelbarer Selbstdurchsetzung mit all seinem sündigen Denken, Wollen und Handeln gleichsam zwangsläufig hervorgehe, ohne äußerlich erzwungen zu sein. Statt sich in der differenzierten Einheit von Leib und Seele geistlich in Gott zu gründen, sucht der Mensch den Konstitutions- und Erhaltungsgrund seiner selbst unmittelbar in sich, um einem selbstischen Streben zu verfallen, bei dem in Verkehrung kreatürlicher Ordnung die Seele sich vom Leib beherrschen und seine Triebe Herr werden lässt über ihr Sinnen und Trachten. Nicht als ob die sinnlichkörperliche Verfasstheit des Menschen als solche ungut wäre: Schuld an der Sünde sind nicht seine natürlichen Daseinsbedingungen als solche, schuld ist die innere Verkehrung ihrer Ordnung, die, wenn man so will, primär der Seele und erst sekundär dem Leib zuzurechnen ist. Sie hat durch Verkehrung ihres Geistbezugs das verkehrte Verhältnis des Ichs zu Gott, Selbst und Welt in erster Linie zu verantworten. In der seelischen Selbstverkehrung des Ich wurzelt der Widerspruch des Menschen gegen seine gottgewiesene exzentrische Bestimmung. Seine Analyse verkehrter Ichverfasstheit des Menschen, in der die Radikalität der Sünde gründet, sieht Pannenberg in weiten Teilen durch Augustins klassische Lehre von der Konkupiszenz vorweggenommen. Diese habe bis heute nichts von ihrer erhellenden Kraft verloren und sei durch zumindest zwei Vorzüge anderen Formen christlicher Hamartiologie nach wie vor überlegen. „Der erste dieser Vorzüge besteht in der empirischen Einstellung von Augustins psychologischer Beschreibung. Der andere ist ebenfalls durch diese psychologische Einstellung ermöglicht worden und betrifft die Relevanz der Sünde für das Verhältnis des Menschen zu sich selber.“ (Anthr., 88) Der erste Vorzug verhindere, dass der Bezug auf die Selbsterfahrung des Menschen in seiner Gebrochenheit für hamartiologisch belanglos und die Sündenerkenntnis zu einer reinen Glaubensangelegenheit werde. Zwar sei die volle Wahrnehmung der Radikalität der Sünde erst im Lichte der Gnade möglich. Doch erweise sich das Phänomen der Konkupiszenz, mittels welcher die Sünde ihr Unwesen treibe, durchaus als eine Erscheinung auch von empirisch-psychologischer Evidenz. Die empirische Ausrichtung augustinischer Hamartiologie ermögliche es fernerhin, die sündige Verkehrung in der Konstitution des menschlichen Ich nicht zu einer lediglich moralischen Verkehrtheit zu erklären, sondern auf den allgemeineren Sachverhalt einer Verkehrung menschlichen Weltverhältnisses zurückzuführen. Die Konkupiszenz, als deren Kern sich Ichsucht und Hochmut, amor sui und superbia erweisen, die ihrerseits Abwendung von Gott implizieren, tritt in der Erfahrungssituation des Menschen zuerst zutage in der Verkehrung von Mittel und Ziel im Weltverhältnis. Die Relevanz der Sünde für das Verhältnis des Menschen zu sich selber, deren psychologisch evi-
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denter Aufweis als der zweite Vorzug augustinischer Hamartiologie zu gelten hat, steht damit in einem erkennbaren Bezug zum Sachverhalt der Verkehrung des menschlichen Verhältnisses zur Welt. In der „Systematischen Theologie“ wird die „klassische Bedeutung Augustins für die christliche Augustinische Einsicht Lehre von der Sünde“ (STh II, 277) erneut und in der Absicht hervorgehoben, die Gründe dieser Bedeutung „noch deutlicher“ (ebd. Anm. 224) herauszuheben als in der der „Anthropologie in theologischer Perspektive“. Geht es im alttestamentlichen Reden von Sünde in allen seinen Spielarten um den Sachverhalt der Übertretung von Handlungsnormen, so wird die Sünde bei Paulus erstmals „als ein allen Geboten vorausgehender Sachverhalt“ (STh II, 275) erfasst. „Obwohl diese Auffassung durch die alttestamentliche Vorstellung von der Verkehrtheit des Herzens als Wurzel der Übertretungen vorbereitet war, vollzog die Ablösung des Begriffs der Sünde von dem des Gesetzes doch im Prinzip den Schritt zu einer neuartigen Auffassung der Sünde, nämlich als anthropologischer Befindlichkeit.“ (Ebd.) Hier setze die Hamartiologie Augustins an: Die überragende Bedeutung des Bischofs von Hippo für die christliche Sündenlehre besteht nach Pannenberg im Wesentlichen darin, „daß er den von Paulus angedeuteten Zusammenhang von Sünde und Begierde tiefer erfaßt und analysiert hat als es die christliche Theologie bis dahin vermocht hatte. Man darf sich den Blick für diese außerordentliche Leistung Augustins nicht durch die vielen kritikbedürftigen Aspekte seiner Sündenlehre verstellen lassen, – von der Vorstellung einer Vererbung der Sünde Adams in der Generationenfolge und der dadurch mitbedingten Neigung Augustins, die Sündhaftigkeit der Begierde einseitig durch die Geschlechtslust zu exemplifizieren, bis hin zu einer allzu undifferenzierten Begründung der für den Sündenbegriff unentbehrlichen Vorstellung der Verantwortlichkeit für die Willensentscheidung, die ihn gelegentlich um den Preis der Konsistenz seines Sprachgebrauchs davor zurückweichen ließ, die Begierde und nicht erst die aus ihr hervorgehenden Handlungen als Sünde zu bezeichnen. Die Theologie muß hinter den mit Recht der Kritik verfallenen Aspekten der augustinischen Sündenlehre ihren bleibend bedeutsamen Grundgedanken erfassen und in seiner Selbständigkeit gegenüber jenen andern Aspekten zur Geltung bringen.“ (STh II, 277) „Du sollst nicht begehren“, lautet nach Röm 7,7 der Satz, in dem alle Verbote des Gesetzes zusammengefasst sind. Das Unwesen der Sünde ist damit als falsche Begierde aufgedeckt. Dabei ist im paulinischen Sinn epithymia (cupiditas oder concupiscentia) nicht bloße Straffolge der Sünde, sondern bereits ihre Äußerung und manifeste Gestalt der Sünde. Zwar gebe der Begriff der Konkupiszenz „noch nicht für sich allein eine vollständige Bestimmung des Begriffs der Sünde her“ (ebd.). Als Erscheinungsform der Sünde aber sei „die Konkupiszenz wirklich Sünde, obwohl der Kern und die Wurzel ihres Unwesens darin noch verborgen sind“ (ebd.). In Übereinstimmung mit dem paulinischen Sprachgebrauch tendiert Augustin nach Pannenberg dazu, Konkupiszenz und Sünde zu identifizieren und
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Begierde als strukturelle Willensdeformation zur Grundform menschlicher Sünde zu erklären. Die Verkehrtheit des sündigen Begehrens gründet in einer Willensverkehrung, die das Oberste zu unterst et vice versa kehrt, die Rang- und Stufenordnung des Seins durcheinander bringt, Weltliches Göttlichem vorzieht, ja, Gott selbst dazu herabsetzt, als bloßes Mittel zur Erreichung irdischer Daseinszwecke zu fungieren. Wegen ihres von Grund auf verkehrten Willens verliert die Sünde der Konkupiszenz jedes Maß und entartet zu einer Gier, die in ihrer Selbstsucht alles andere nur mehr als Modus des Eigenen in Betracht zieht, um es ins selbstische Ich zu überführen. Nur um des eigenen Ichs willen begehrt der Sünder, was er erstrebt. Er ist in seinem Sinnen und Trachten, Sehnen und Wollen recht eigentlich nicht mehr auf etwas anderes, sondern nur noch auf sich selbst aus. Seine Exzentrizität ist ausschließlich selbstbezogen, in sich verkehrt eben; der Weltbezug steht im alleinigen Dienst egozentrischer Selbstbeziehung, in welche zuletzt auch das Gottesverhältnis überführt werden soll. Das Ich gilt sich selbst als höchstes Gut. Seiner Selbstvergottung entspricht in widriger Weise der Hass Gottes als Implikat jenes sündigen Hochmuts, den als nur scheinbarer Widerpart schiere Verzweiflung umgibt. Durch seine Rückführung des sündigen Gegensatzes des Menschen zu Gott auf die allgemeine Wesensstruktur menschlicher Begierde hat Augustin nach Pannenberg im Anschluss an den paulinischen Gedankenzusammenhang von Röm 7,7 ff. und über diesen hinaus der Hamartiologie eine fundamentalanthropologische Basis verschafft, die auch unter neuzeitlichen Bedingungen Bestand beanspruchen könne. Zwar sei die Verkehrtheit des Menschen von Augustin wie unter vielfacher Bezugnahme auf ihn auch von der mittelalterlichen Scholastik zuerst in einer Verkehrung der kosmischen Ordnung erblickt worden. Aber indem er die Verkehrung des Weltverhältnisses auf ein verkehrtes Selbstverhältnis zurückbezogen habe, habe Augustin die Sünde nicht lediglich kosmologisch, sondern anthropologisch, nämlich als eine Verkehrung der inneren Wesensnatur des Menschen zu bestimmen versucht, wie dies unter modernitätsspezifischen Bedingungen üblich werden sollte. Im Einzelnen exemplifiziert wird dies unter Bezug auf Kants Lehre vom radikalen Bösen, Hegels Sündenverständnis und Kierkegaards hamartiologische Analysen. Trotz der hohen Bedeutung, die Pannenberg der Kierkegaard’schen Hamartiologie beimisst, lehnt er es, wie bereits erwähnt, entschieden ab, dem Phänomen der Angst den Status einer die Funktion der Indifferenzfreiheit ersetzenden Zwischenbestimmung zwischen Unschuld und Sünde zuzuerkennen. Denn die Angst und die ängstliche Sorge um sich selber seien keine an sich indifferenten Grundstrukturen des menschlichen Daseins in der Welt, sondern bereits selber Ausdruck der Sünde. Zwar sei Sorge um sich selbst und um die eigene Selbsterhaltung keineswegs als solche verkehrt, sondern durchaus gottgeboten und schöpfungsgemäß. Doch könne sie angemessen nur „im Vertrauen auf den für das eigene Dasein und Selbstsein konstitutiven, es übersteigenden Ursprung geschehen“ (Anthr., 100) und nicht in der Weise der Angst und des ängstlichen Besorgtseins, das von dem
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falschen Streben nach Sicherung und Verfügung über die Bedingungen menschlichen Lebens bestimmt sei. Solches verkehrte Streben kennzeichne immer schon eine selbstverkehrte Fixierung auf das eigene Ich, welche sowohl „der Sucht nach Bestätigung durch andere“ (STh II, 287) als auch den diversen Formen der Aggression (vgl. im Einzelnen Anthr., 139–150) zugrunde liege und den Extremen der Selbstvergötzung und des verzweifelten Selbsthasses gleichermaßen ausgeliefert und verfallen sei. Die menschliche Ichfixierung lässt sich nach Pannenberg „nicht auf die Angst zurückführen, Ungläubige Ichfixierung weil sie schon in der Angst enthalten ist“ (STh II, 288) und durch sie beständig reproduziert wird. Was der Angst ebenso wie der ihr nur vermeintlich entgegengesetzten selbstherrlichen Form hochmütig-hybrider Ichfixierung fehlt, ist das nötige Gottvertrauen. Unglaube sei daher von reformatorischer Theologie mit Recht „als Wurzel der Sünde bezeichnet“ (ebd.) worden. Durch Unglaube und fehlendes Gottvertrauen wird die Spannung zwischen Zentralität und Exzentrizität, die zu den Naturbedingungen des menschlichen Daseins gehört, in einer schöpfungswidrigen und der kreatürlichen Bestimmung des Menschen entgegengesetzten Weise, nämlich so aufgelöst, dass das Ich sich in sich selbst verkehrt und egozentrisch bestimmt. Just dadurch wird die in der menschlichen Wesensnatur begründete Anlage verfehlt, die Naturbedingungen des eigenen Daseins zu transzendieren. Indem sich der Mensch darauf fixiert, was er von Natur aus ist, statt die natürlichen Bedingungen seines weltlichen Seins auf Gott hin zu transzendieren, widersetzt er sich derjenigen Natur, die sein Wesen ausmacht. In dieser Widersetzlichkeit wurzelt die Sünde, deren Schuld nachgerade darin besteht, sich dem kreatürlichen Gesetz menschlichen Daseins in widriger Verkehrtheit entgegenzusetzen. Erhebliche Schwierigkeiten hat der christlichen Hamartiologie seit alters das Problem der Zurechenbarkeit der Sünde als Schuld bereitet. Pannenberg nähert sich einer Lösung vom Begriff der Verantwortung her, der auf die geschuldete Übereinstimmung des Verhaltens des Menschen mit seiner Bestimmung ausgerichtet und entsprechend nicht am Gedanken formaler Indifferenzfreiheit, sondern an einem materialen Freiheitsgedanken orientiert ist. Obwohl der Verantwortungsbegriff häufig mit demjenigen der „Wahlfreiheit als einer jenseits der Alternativen, zwischen denen gewählt wird, stehenden Entscheidungsinstanz“ (Anthr., 107) assoziiert werde, sei der Gedanke arbiträrer Freiheit denkbar ungeeignet, menschliche Verantwortung und die Zurechenbarkeit der Sünde als Schuld angemessen zu begründen. „Wenn ich verantwortlich bin nur für das, was ich kraft freier Wahl dem ebenso möglichen Gegenteil vorgezogen habe, dann allerdings könnte nicht Sünde sein, was zu den Naturbedingungen gehört, in denen ich mich immer schon vorfinde.“ (Ebd.) Anders stelle sich die Angelegenheit dar, wenn für den Verantwortungsbegriff der Gedanke materialer, auf die gottebenbildliche Bestimmung des Menschen bezogener Freiheit leitend sei. Dieser Freiheitsgedanke ist „nicht im Sinne einer den Wahlmöglichkeiten gegenüber neutralen
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Indifferenz zu verstehen“ (Anthr., 112), hat es vielmehr zu tun „mit der Ganzheit des eigenen Daseins, die in den einzelnen Akten und Entscheidungen in Erscheinung tritt. Das geschieht daraufhin, daß von der Bestimmung des Menschen her die gegenwärtige Lebenssituation in Anspruch genommen wird als eigene. Darum weiß sich der Mensch entsprechend seinem Bewußtsein von seiner Bestimmung auch verantwortlich für seinen eigenen Zustand und für sein Handeln, für die Überführung seiner eigenen Lebenssituation von ihren natürlichen und sozialen Gegebenheiten in die Verwirklichung seiner Bestimmung. Da die Bestimmung des einzelnen als Mensch ihn jedoch mit andern verbindet im Lebenszusammenhang einer Gemeinschaft, übernimmt der einzelne Verantwortung nicht nur für sein eigenes Handeln und Dasein, sondern auch für darüber hinausgehende Verantwortungsbereiche, die Lebenssituation und Verhalten anderer Menschen miteinschließen.“ (Anthr., 113) Vergleichbares gilt auch für die natürlichen Bedingungen des menschlichen Daseins mitsamt dem eigenen Körper als deren Inbegriff, den zwar kein Mensch je gewählt, für den aber jeder Mensch eine eigentümliche und unveräußerliche Verantwortung hat. Ist es sonach die materiale Freiheit, welche VerantFormale und materiale wortung und Zurechnungsfähigkeit begründet, so Freiheit ist schließlich allein sie es, die über den Status der an sich selbst indifferenten und ambivalenten, in ihrer Uneindeutigkeit zur Zweideutigkeit und Ambivalenz neigenden formalen Freiheit entscheidet. Einen relativen Sinn gewinnt die formale Wahlfreiheit nur unter der Bedingung der Annahme eigener Bestimmung im Vollzug materialer Freiheit. Auf sich allein gestellt bzw. auf sich selbst insistierend hingegen ist sie nicht nur ambivalent, sondern manifest verkehrt: Der Begriff einer Freiheit der Wahl gegenüber Gott und dem Guten zersetzt sich selbst. Er ist für sich und in seiner formalen Indifferenz genommen ein Indiz der Entfremdung von dem, was für Selbst und Welt wahrhaft gut ist. Das lässt sich nach Pannenberg sowohl an Luthers These über die Gefangenschaft des Menschen in einem servum arbitrium lernen als auch an deren subjektivitätstheoretischer Erneuerung in Kierkegaards Beschreibung der angesichts der Konstitution des Selbst von Gott her verzweifelten Lage des unendlichen Bemühens um Selbstrealisierung der eigenen Identität: „Obwohl durchaus im Besitz der formalen Fähigkeit zur Wahl, vermag der Mensch dennoch nicht, auf dem Boden seiner endlichen Subjektivität und durch sein eigenes Handeln seiner Situation vor Gott gerecht zu werden oder, mit Kierkegaard gesprochen, seine eigne Identität von sich aus zu realisieren.“ (STh II, 285) Daran lässt sich, wie Pannenberg gegenüber J. Müllers Lehre von der formalen Freiheit konstatiert, klarmachen, „daß ein Wille, der der Norm des Guten gegenüber auch anders kann, faktisch schon kein guter Wille mehr ist. Er ist auch nicht nur schwach, weil noch ungefestigt im Guten. Insofern er der ihm gegebenen Norm des Guten gegenüber auch anders kann, ist er immer schon sündhaft, weil von der Bindung an das Gute emanzipiert.“ (STh II, 296) Wahrgenommen wird die Entfremdung, für welche der Begriff der formalen,
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ihrer materialen Bestimmung ledigen Freiheit steht, zunächst nicht in Form eines entwickelten Schuldbewusstseins, sondern in der unbestimmten Weise des Gefühls. Im Gefühl der Selbstentfremdung, für welches Unbestimmtheit kennzeichnend ist, tritt das Empfinden eigener Nichtidentität ursprünglich zutage, um mit wachsender Klarheit der Identität deutlicher zu werden und schließlich die Gestalt eines explizit thematischen Schuldbewusstseins anzunehmen. Im Unterschied zum bloßen Gefühl der Selbstentfremdung ist das entwickelte Bewusstsein der Schuld im Normalfall stets „auf einen ganz bestimmten Sachverhalt, auf eine bestimmte Normverletzung bezogen. Das impliziert ein zumindest in dieser Hinsicht deutliches Wissen sowohl von der eigenen Identität und den mit ihr verbundenen Forderungen an das eigene Verhalten als auch vom eigenen Versagen und der darin begründeten Nichtidentität. Die Beziehung auf das Ganze der eigenen Identität und Nichtidentität kennzeichnet dabei die Besonderheit des das konkrete Schuldbewußtsein begleitenden Schuldgefühls, das mit Recht als die normale Gestalt des Schuldgefühls bei psychisch gesunden Menschen gilt.“ (Anthr., 278 f.) Nach Pannenberg sind das Schuldbewusstsein und namentlich das im konkreten Schuldbewusstsein stets mitgesetzte und es begleitende Schuldgefühl „zur Geburtsstätte des Selbstbewußtseins in Gestalt des Gewissens“ (Anthr., 286) geworden. In eindringlichen terminologiegeschichtlichen Analysen wird gezeigt, inwiefern das Auftreten des Gewissensbegriffs, der für das Phänomen selber von bezeichnender Bedeutung ist, mit dem Ursprung ausdrücklichen Selbstbewusstseins innig verbunden ist. In der Weise des Gewissens steht das Subjekt im Begriff, sich selbst zu begreifen und zum Bewusstsein seiner selbst zu gelangen. „Das griechische Verb synoida bezeichnet zunächst die Mitwisserschaft.“ (Anthr., 287) Der Mensch ist sein eigener Mitwisser. Das tritt zuallererst in Bezug auf Unrecht und Schuld zutage. Weil und insofern der Mensch in sich selbst ein Mitwisser seines Verhaltens ist, entwickelt er ein internes Unrechtsbewusstsein und Bewusstsein der Schuld. Es liegt in der verständlichen und sachgemäßen Konsequenz dieser Entwicklung, „daß der Begriff des Gewissens trotz seines Ausgangs von der Schulderfahrung doch nicht auf diese eingeschränkt wurde, sondern die allgemeine Bedeutung von Bewußtsein als Bewußtsein des eigenen Verhaltens und Seins behielt und so auch zum vorbewußten Gewissen und damit zur maßgeblichen Instanz der Lebensführung werden konnte“ (Anthr., 288). Theologisch ergibt sich die Notwendigkeit, den Gewissensbegriff nicht moralistisch unterzubestimmen, sondern ihn der Ursprungsbedeutung von syneidesis und conscientia gemäß aufs Engste mit der Thematik von Identität und Selbstbewusstsein des Menschen zu verbinden. Entgegen der „Verselbständigung des moralischen Phänomens des Gewissens gegenüber der allgemeinen, auch theoretischen Problematik des Selbstbewußtseins“ (Anthr., 292) gelte es, die ursprüngliche Weite des mit dem Gewissensbegriffs verbundenen Horizonts wiederzugewinnen. Das Gewissen stellt keine auf das moralische Normbewusstsein und seine Repräsentanz zu isolierende opake Seelengröße dar; es geht in ihm vielmehr um die identitätsstiftende und -erhaltende Wahrnehmung der auf das Ganze des persönli-
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chen Lebens und ebenso auf das Ganze der Welt gerichteten Bestimmung des Menschen. Dabei nimmt das Gewissen in der Gruppe der Selbstgefühle deshalb „eine Sonderstellung ein, weil in ihm nicht nur das Ganze des Lebens in positiver oder gedrückter Stimmung vage gegenwärtig ist, sondern das eigene Ich zugleich Gegenstand des Bewußtseins ist, nämlich als Subjekt der Taten oder Unterlassungen, derer das Urteil des Gewissens es als schuldig erkennt. In diesem negativen Urteil liegt zugleich ein Hinweis auf die positive Identität, die durch die Tat verwirkt ist, und auf die Ordnung der Gemeinschaft, die durch sie verletzt wurde. Mit der Negativität seines Inhalts bildet das Gewissen daher den Übergang vom Selbstgefühl zum Selbstbewußtsein im engeren Sinne expliziter Selbsterfassung und Selbsterkenntnis. Zugleich aber ist es als Gefühl der stets unvollendet bleibenden Einholung der das Gewissensurteil fundierenden Sinnzusammenhänge durch vernünftige Reflexion voraus. Denn für das Gefühl ist das Ganze nicht unabgeschlossen, sondern als ganzes präsent. Das macht die Unmittelbarkeit des Gefühls aus und begründet seine eigentümliche Gewißheit. Dennoch darf das Gewissen nicht der Vernunft (und dem theoretischen Selbstbewußtsein) entgegengesetzt werden, weil damit der Weltzusammenhang, der als Sinnzusammenhang seine Struktur fundiert, abgeschnitten würde, zumindest undurchsichtig würde und das Gewissen entweder in irrationalistischen Subjektivismus oder in Heteronomie zurückfiele.“ (Anthr., 299 f.) Erst durch reflektierten Weltbezug und durch verstehende Aneignung seiner Sinngrundlagen, wie sie im religiösen Verhältnis und namentlich im Gottesbezug offenbar werden, wird das Gewissen eine der Alternative von Subjektivismus und Fremdbestimmung überlegene selbstständige Größe. Um die Radikalität und Universalität der Sünde zu Transmoralischer Sündenverdeutlichen, konnte sich die christliche Hamarbegriff tiologie nicht auf eine Lehre von den Aktualsünden beschränken, sondern musste eine Lehre vom peccatum originale als der Erbund Ursünde ausbilden. Diese besagt, dass Menschen nicht erst durch ihre Taten zu Sündern werden. Sie sind es vielmehr schon vor allem eigenen Tun und zwar in radikaler Weise deshalb, weil die Wurzel der Sünde tiefer sitzt als jede einzelne sündige Tat. An dieser Auffassung will Pannenberg auch unter den Bedingungen vollzogener Auflösung der traditionellen Vorstellung von der Erbsünde dezidiert festhalten. Eine „Reduktion des Begriffs der Sünde auf Tatsünden“ (STh II, 269) kommt für ihn hamartiologisch nicht infrage. Denn eine solche Reduktion werde weder der Radikalität der Sünde, deren Begriff weit mehr umfasse als die Erscheinungsformen des manifest Bösen, noch der Allgemeinheit der Sünde gerecht. „Die Allgemeinheit der Sünde verbietet den Moralismus, der jede menschliche Solidarität mit jenen aufkündigt, die zu Werkzeugen der zerstörerischen Gewalt des Bösen wurden. Angesichts der Allgemeinheit der Sünde wird solches moralistische Verhalten als Heuchelei bloßgestellt. Gerade die christliche Lehre von der Allgemeinheit der Sünde hat die Funktion, bei aller Notwendigkeit einer Eindämmung des manifest Bösen und seiner Folgen doch zur Wahrung der Solidarität mit den Tätern beizutragen, in deren Verhalten das in allen latent wirksame Böse offen in
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Erscheinung trat. Diese antimoralistische Funktion der Lehre von der Allgemeinheit der Sünde ist oft unterschätzt worden. In der Moderne fiel sie der Auflösung der Erbsündenlehre zum Opfer, wenn nicht an deren Stelle eine andere Auffassung von der Allgemeinheit der Sünde vor allem individuellen Handeln rückte. Wurden solche Auffassungen ihrerseits auf den Gedanken der Tatsünde begründet, dann konnte der Moralismus nur teilweise und um den Preis übersteigerter Selbstbeschuldigungen hintan gehalten werden. Das Verblassen der Überzeugung von einer allem individuellen Handeln vorhergehenden Allgemeinheit der Sünde hat die Bahn freigegeben für den Moralismus, der entweder das Böse nur bei den andern sucht oder, durch nach innen gewendete Aggression, selbstzerstörerische Schuldgefühle produziert.“ (STh II, 273 f.) Nachdem die Vorstellung einer ursprünglichen und radikalen Versündigung aller Menschen in Adam die Funktion, um deretwillen sie ausgebildet wurde, nicht mehr erfüllen konnte, weil sowohl der Monogenismus als auch die Annahme einer physischen Vererbung der Sünde Adams an seine Nachkommen sowie die Imputationstheorie jegliche Plausibilität eingebüßt hatten, versuchte die Theologie das Anliegen der Lehre vom peccatum originale durch den Gedanken eines Reiches der Sünde zu erfüllen, welcher die Grundsünde in ihrer menschlichen Universalität nicht nur aus dem Zusammenhang des natürlichen Abstammungsverhältnisses, sondern aus der sozialen Verflechtung und Verbindung der Individuen und Generationen zu klären versuchte. „An die Stelle der naturhaften Übertragung der Sünde durch die Generationenfolge tritt dabei die Vorstellung ihrer Vermittlung durch die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Individuen.“ (STh II, 293) Pannenberg illustriert dies am Beispiel Kants, Schleiermachers und Ritschls bis hin zu Piet Schoonenberg und Karl Rahner. Indes sieht er durch die These einer in der sozialen Situiertheit des Menschen begründeten Ursündigkeit die allem Handeln zu Grunde liegende Radikalverkehrung, die das traditionelle Erbsündendogma zum Inhalt hatte, nicht hinreichend gewahrt. Denn „(d)en sozialen Lebenszusammenhang, in den er hineinwächst, kann der einzelne sehr wohl als eine fremde und ihn seinem eigentlichen Selbst entfremdende Welt von sich unterscheiden und distanzieren, auch wenn er ihm darum nicht schon zu entrinnen vermag. Nur wenn die Sündhaftigkeit als Verkehrung der Subjektivität, die allem Handeln zugrunde liegt, schon von Anfang an mit dem werdenden Ich verbunden ist, gibt es kein Recht mehr zu solcher Distanzierung. Wenn man darin eine ‚naturhafte biologische Gegebenheit‘ zu erblicken hat, so gehört eine solche Gegebenheit eben wesentlich zum Begriff der Erbsünde.“ (Anthr., 125) Dagegen werde der biblische Sinn des Redens von der Sünde verfehlt, wenn diese nicht als ein jedem Einzelnen innewohnender Drang zum Bösen, sondern lediglich als struktureller Sachverhalt außerhalb des Individuums in Betracht komme. Zwar könne der Einzelne den Sachverhalt gesellschaftlicher Situiertheit und damit sozialer Sündenverstrickung nicht aufheben und zwar weder für andere noch für sich selbst. „Doch auch dann, wenn der einzelne sich dem Einfluß der Gesellschaft nicht zu entziehen vermag, kann er sie noch als eine fremde Macht betrachten,
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von der er sich innerlich distanziert. Er weiß sich dann als nicht in sich selber böse.“ (STh II, 293) Kann sonach die Tatsache der Situiertheit des EinNaturale Verfasstheit zelnen im sozialen Lebenszusammenhang keinen verkehrten Lebens hinreichenden Ersatz erschließen für die Belange der traditionellen Erbsündenlehre, so lässt sich deren wesentliches Anliegen und dasjenige der augustinischen Hamartiologie in ihrem Gegensatz zum Pelagianismus „nur festhalten, wenn in der Sünde ein Grundbestand naturaler Verfaßtheit verkehrten Lebens beim Individuum anerkannt wird. Erst dadurch wird das Individuum zur Identifizierung mit der Sünde als zu ihm selber gehörig genötigt, weil das eigene leibliche Dasein die Grundform des Selbst ist, als das der einzelne identifiziert wird, die Grundform, auf die alle anderen Aspekte des Selbstseins aufbauen.“ (STh II, 295) Im Verhalten des Ich zu seinem leibhaften Dasein als der Grundform seiner selbst entscheidet sich, ob der Mensch seiner selbsttranszendenten Bestimmung entspricht oder ihr durch egozentrische Selbstbestimmung widerspricht. Seiner Bestimmung gemäß und verantwortlich verhält sich der Mensch, wenn er die differenzierte Einheit von Selbstzentriertheit und Exzentrizität, die er als beseelter Leib ist, auf Gott und auf den Bezug zum göttlichen Geist gründet. Unverantwortlich und bestimmungswidrig ist sein Verhalten, wenn er sein Gottesverhältnis und sein Verhältnis zu Mitmensch und Welt zu einer bloßen Funktion seines Selbstverhältnisses herabsetzt, um unmittelbar auf seinem natürlichen Dasein zu insistieren, statt es zu transzendieren, wie es seiner Wesensnatur gemäß ist. Schuld an diesem verkehrten Verhalten ist der Mensch selbst. Durch den Hinweis auf die natürlichen Bedingungen seines Daseins lässt sich sein Fehlverhalten nicht entschuldigen, da diese den Menschen nicht dazu zwingen, von seiner Freiheit einen bestimmungswidrigen Gebrauch zu machen. Das Faktum der Sünde fällt in die Verantwortung des Menschen, was dieser nach Pannenberg nicht erst durch Glaubenserkenntnis zu erkennen vermag. „Wer die Tatsache der Sünde zu einer reinen Glaubenserkenntnis erklärt, die des Anhalts an der menschlichen Wirklichkeit, wie sie allgemeiner Erfahrung zugänglich ist, nicht bedarf, der verkennt, daß der Christusglaube die Tatsache der Sünde nicht erst schafft, sondern voraussetzt, wenngleich ihre Tiefe erst im Lichte der durch Jesus Christus vermittelten Gotteserkenntnis zu Bewußtsein kommen mag. Auch der nicht zum Glauben an Jesus Christus gelangende Mensch ist nicht etwa deswegen auch schon befreit von der Haftung für jene Verkehrung in der Struktur seines Verhaltens, auf die das Wort Sünde hinweist. Bestünde dieser Sachverhalt nicht unabhängig von der Glaubenserkenntnis, so sehr sein Wesen als Unglaube und Mißachtung Gottes erst in der Perspektive der Glaubenserkenntnis ans Licht kommt, dann würde das christliche Reden von der Sünde sich in der Tat von Nietzsche und seinen Nachfolgern die Anklage gefallen lassen müssen, daß damit das Leben verleumdet werde. Die christliche Rede vom Menschen als Sünder ist nur dann realitätsgerecht, wenn sie sich auf einen Sachverhalt bezieht, der das ganze Erscheinungsbild
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des menschlichen Lebens unabweisbar kennzeichnet und der als solcher auch ohne Voraussetzung der Offenbarung Gottes erkennbar ist, obwohl seine eigentliche Bedeutung erst durch sie aufgedeckt werden mag.“ (STh II, 271) Trifft dies zu, dann dürfen weder die Frage nach der Möglichkeit der Sünde noch der Versuch einer Antwort auf sie prinzipiell gescheut werden. Auch in dieser Hinsicht schließt Pannenberg an Augustin an, der zwar hervorgehoben habe, „daß der Mensch von Gott nicht zur Sünde gezwungen wird: Es wäre ja dann nicht mehr des Menschen eigene Sünde, und der Begriff der Sünde selbst würde damit aufgehoben. Aber Augustins Meinung war doch offenbar, daß Gott schon bei der Schöpfung die vorausgesehene Sünde des Menschen in Kauf nahm im Vorblick auf seine künftige Erlösung und Vollendung. In ähnliche Richtung hat im 19. Jahrhundert Schleiermacher zu denken gewagt. Sieht man an dieser Stelle von der Gefahr deterministischer Mißdeutung solcher Gedanken samt den daraus folgernden Absurditäten ab, so wird man in ihnen einen würdigeren Ausdruck des Glaubens an einen allmächtigen Schöpfergott erkennen als in einer Auffassung, die das Auftreten der Sünde und des Bösen in der Schöpfung als ein den Schöpfer überraschendes, daher auch aus dem Glauben an Gott nicht zu verstehendes, von Gott her als unmöglich qualifiziertes Ereignis betrachtet, dessen erklärte Nichtigkeit sich der Erfahrung der Geschöpfe dennoch als eine sehr reale Gegenmacht zu der des Schöpfers erweist. Statt einem solchen Dualismus zu huldigen, sollte christliche Theologie in der Zulassung der Sünde den Preis für die Selbständigkeit der Geschöpfe erkennen, auf die das Schöpfungshandeln Gottes abzielt. Der Mensch als das zu voller Selbständigkeit gelangte Geschöpf muß das, was es ist und sein soll, durch sich selber werden und ausbilden. Dabei liegt es nur allzu nahe, daß das in der Form einer Verselbständigung geschieht, in der der Mensch sich selber an die Stelle Gottes und seiner Herrschaft über die Schöpfung setzt. Aber ohne geschöpfliche Selbständigkeit kann auch das Verhältnis des Sohnes zum Vater nicht im Medium geschöpflichen Daseins zur Erscheinung kommen.“ (STh II, 302 f.) Das Schöpfungshandeln Gottes zielt auf die Selbständigkeit der Geschöpfe, um deren Realisie- Sünde und Tod rung willen Gott den Fall der Sünde zwar nicht billigend, aber als eine nicht auszuschließende Möglichkeit in Kauf genommen hat. Bleibt zu fragen, wie auszuschließen ist, dass die faktische Realisierung der in Gottes Schöpfung wegen der gottgewollten Selbständigkeit des Menschengeschöpfs nicht ausgeschlossene Möglichkeit der Sünde sich dadurch mit einem fatalen und entschuldigenden Schein umgibt, dass auf die Unvermeidbarkeit des physischen Todes verwiesen wird, der offenbar in den Naturbedingungen geschöpflichen Lebens zwangsläufig mitgesetzt ist. Es kommt nicht von ungefähr, sondern geschieht aus Gründen, die für die Gesamtkonzeption wesentlich sind, dass Pannenberg die Frage nach dem Zusammenhang von Sünde und Tod mit besonderer Eindringlichkeit verhandelt. Die innere Logik dieses von Paulus und im Anschluss an ihn in weiten Teilen der dogmatischen Tradition behaupteten Konnexes
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erschließe sich „von der Voraussetzung her, daß alles Leben von Gott kommt: Da die Sünde Abwendung von Gott ist, trennt sich der Sünder nicht nur von dem gebietenden Willen Gottes, sondern damit zugleich von der Quelle seines eignen Lebens. Der Tod ist also keine dem Sünder durch eine fremde Autorität äußerlich zudiktierte Strafe. Er liegt vielmehr in der Natur der Sünde selbst als Konsequenz ihres Wesens. Dabei dachte Paulus zweifellos an den leiblichen Tod des Menschen. Zwar ist der als Folge der Sünde eintretende Tod nicht nur ein Naturvorgang, sondern hat seine Schärfe in der Trennung von Gott. Das entspricht der Auffassung schon des Alten Testaments, daß der Tod von Gott scheidet (Ps 88,6; vgl. 6,6; 115,17; auch Jes 38,18). Die Deutung des Todes als Folge der Sünde gibt nur den Grund dafür an. Aber sie bezieht sich nicht auf ein anderes Ereignis als den leiblichen Tod. Sie besagt in keiner Weise, daß die ‚natürliche‘ Sterblichkeit des Menschen etwa noch nichts mit dem Tode in diesem besonderen Sinne zu tun hätte. Vielmehr handelt es sich bei der Trennung von Gott im Tode um das tiefere Wesen gerade des physischen Todes, das allerdings schon im Wesen der Sünde als Trennung von Gott angelegt ist. Nur unter dieser Voraussetzung konnte Paulus Röm 5,12 die Allgemeinheit des Todesgeschicks als Beweis für die allgemeine Verbreitung der Sünde unter den Menschen anführen.“ (STh II, 304 f.) Dass der leibliche Tod des Menschen Folge der Sünde ist, wurde von der christlichen Theologie in Antike und Mittelalter trotz aller Differenzierungen zwischen physischem und geistlichem Tod durchweg festgehalten. Mit dem 18. Jahrhundert kam dann allerdings innerhalb der protestantischen Theologie die Meinung auf, der Tod als solcher gehöre zur Natur des Menschen als eines endlichen Lebewesens. Nur dem Sünder müsse der Tod als verschuldet erscheinen, wohingegen er ansonsten der kreatürlichen Bestimmung des Menschengeschöpfs durchaus gemäß sei. Die bei Althaus, Brunner, Barth, Jüngel und anderen begegnende Unterscheidung zwischen natürlichem Tod und Gerichtstod entspricht dieser Auffassung. Sie wird von Pannenberg heftig kritisiert, weil sie verkenne und verkennen lasse, dass es für den Menschen im Verhältnis zu Gott um Tod und Leben im wahrsten Sinne des Wortes und nicht nur um Formen subjektiven Erlebens des Todes gehe. Der Verkehrung des Gottesverhältnisses, wie sie in der Sünde statthat, ist nach Pannenberg der Tod implizit. Er sei nicht lediglich äußere Sanktion der Sünde, sondern die ihr innerlich zugehörige Folge, die auf gleichsam naturgesetzliche Weise und „ohne ein spezielles Eingreifen Gottes“ (STh II, 309) eintrete. Doch sind, um erneut auf die entscheidende Frage zurückzukommen, Sterben und Tod nicht in der Endlichkeit alles kreatürlichen Lebens und auch in derjenigen des Menschengeschöpfs naturgemäß mitgesetzt, wenn anders dieses als leibhaft verfasst gedacht werden soll, wie dies die christliche Schöpfungslehre verbindlich vorsieht? Diesem Einwand begegnet Pannenberg mit einem für sein Gesamtkonzept charakteristischen Argument: „Die christliche Zukunftshoffnung erwartet ein Leben ohne Tod (1.Kor 15,52 ff.). Dieses Leben in Gemeinschaft mit Gott wird kein gänzliches Aufgehen kreatürlichen Daseins in Gott bedeuten, sondern seine Erneuerung und definitive Befestigung. Die zum geschöpflichen Leben gehörige Endlichkeit wird
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durch die Teilhabe am ewigen Leben Gottes nicht beseitigt werden. Daraus folgt aber, daß Endlichkeit nicht immer Sterblichkeit einschließen kann. Die eschatologische Hoffnung der Christen kennt eine Endlichkeit geschöpflichen Daseins ohne Tod. Darum kann der Tod nicht notwendig zur Endlichkeit geschöpflichen Daseins gehören. Nur für das Dasein in der Zeit bleibt bestehen, daß Endlichkeit und Sterblichkeit des Lebens zusammengehören.“ (STh II, 310 f.) Die faktische Koinzidenz von Endlichkeit und Sterblichkeit des Lebens bezüglich des Daseins in der Zeit ist nach Pannenberg dadurch bedingt, dass die ihre Endlichkeit vollendende Daseinsganzheit den dem Prozess der Zeit unterworfenen Geschöpfen nicht erreichbar ist. Als temporalen und durch Unterscheidung der präsenten Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft zum Bewusstsein ihrer Temporalität gelangten Geschöpfen ist es uns verwehrt, „der Ganzheit unseres endlichen Daseins definitiv inne zu sein. Wir können diese Ganzheit zwar antizipieren, – und nur so sind uns Dauer und Identität unseres Daseins im Prozeß der Zeit überhaupt erreichbar. Aber wir bleiben mit unseren Antizipationen an den Standpunkt einer jeweiligen Gegenwart gebunden, die im Prozeß der Zeit auf eine offene Zukunft hin immer wieder von neuen Augenblicken überholt wird.“ (STh II, 311) Geschöpfliches Dasein des Menschen ist Sein in der Zeit, die Realisierung seiner gottgewollten Selbständigkeit mithin nur als Resultat eines zeitlichen Werdens denkbar, welches die Möglichkeit einer Zielverfehlung in sich birgt, wie sie in der Sünde samt ihren todbringenden Folgen Faktum geworden ist. Würde der Mensch in weltoffener Selbsttranszendenz ganz von jener eschatologischen Zukunft her leben, zu der er von seinem Schöpfer her bestimmt ist, wären weder die Sünde noch auch der Tod für ihn real. Beide gewinnen Macht über ihn erst, wenn er von der Zukunft, die sein Schöpfer, von dem er herkommt, ihm bereiten will, absieht, statt sein Sein in der Zeit als ein Werden zu begreifen, das dazu bestimmt ist, in der Gänze seiner zeitlichen Erstreckung zur Vollendung in Gott zu gelangen und eben dies in vollendeter Selbständigkeit. Erst unter den Bedingungen sündiger Abkehr von seiner durch den Schöpfergott erschlossenen Bestimmung missrät das zeitliche Werden dem Geschöpf zu einem Vergehen, und der Tod stellt sich als eine vermeintlich natürlich, in Wahrheit gegen die Wesensnatur der Schöpfung gerichtete Folge der wesenswidrigen Sünde des Menschen ein, der sich gegen seine ebenso gottgegebene wie ureigene Bestimmung verfehlt. Als Sündenfolge bleibt der Tod dem sündigen Nichtannahme eigener Menschen nicht äußerlich, sondern nimmt sein Endlichkeit Innerstes in Beschlag. „Das ausstehende Ende wirft seinen Schatten voraus und bestimmt den ganzen Weg unseres Lebens als ein Sein zum Tode in der Weise, daß sein Ende gerade nicht in das Dasein integriert ist, sondern jeden Gegenwartsmoment lebendiger Selbstbejahung mit Nichtigkeit bedroht. Daher führen wir unser zeitliches Leben im Schatten des Todes (Lk 1,79; vgl. Mt 4,16). Umgekehrt ist die Selbstaffirmation des Lebens in jedem Moment seiner Gegenwart durch den Gegensatz gegen sein Ende im Tode gekennzeichnet. Der Tod ist der letzte Feind alles Lebendigen (1.Kor 15,26). Die Todesfurcht
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dringt tief in das Leben ein und motiviert den Menschen einerseits zu grenzenloser Selbstbehauptung und Mißachtung der eigenen Endlichkeit, beraubt ihn andererseits der Kraft, das Leben überhaupt anzunehmen. In beidem zeigt sich der Zusammenhang von Sünde und Tod. Dieser Zusammenhang ist insofern in der Sünde verwurzelt, als erst das Nichtannehmen der eigenen Endlichkeit das unentrinnbare, wenn auch ausständige Ende des endlichen Daseins zur Manifestation der dieses Dasein mit Nichtigkeit bedrohenden Todesmacht werden läßt. Umgekehrt treibt allerdings die Todesfurcht tiefer in die Sünde hinein. Daß aber das Annehmen der eigenen Endlichkeit so schwer ist für ein Wesen, das sich als lebendiges weiß und bejaht, ist verknüpft mit der Struktur der Zeitlichkeit, in der ihm sein Ende (und damit auch seine Ganzheit) ein noch ausstehendes Datum ist. Diese Ausständigkeit von Ende und Ganzheit des endlichen Daseins in der Zeit kennzeichnet die Situation, in der es faktisch zur Sünde kommt, also zu jener schrankenlosen Selbstaffirmation des Menschen, die mit der Abwendung von Gott auch den Tod als Ende seines Daseins impliziert.“ (STh II, 312) Das Ganze des zeitlich erstreckten menschlichen Daseins ist ausständig. Als Indiz seiner Bestimmung, sein Sein als gottunterschiedenes Geschöpf in gottverbundenem Vertrauen selbständig zu realisieren, ist die Ausständigkeit des vollendeten Daseinsganzen des Menschen nicht per se problematisch. Zum Problem und, wenn man so will, unausstehlich wird sie erst, wo das Bevorstehende nicht von der Hoffnung auf die eschatologische Zukunft Gottes umgriffen ist, wie der Geist sie bewirkt, der vom Schöpfergott herkommt. Zwar kann Pannenberg im Anschluss an Paulus sagen, dass die Unterwerfung des Geschöpfs unter die Macht der Vergänglichkeit auf den schöpferischen Gott selbst zurückgeht (vgl. STh II, 118); gleichwohl bleibt er bei der These, dass der Tod im Unterschied zur Endlichkeit und zur temporalen Struktur geschöpflichen Daseins nur in Verbindung mit der Sünde Bestandteil der Schöpfung Gottes ist. Vorauszusetzen ist dabei stets die für den dogmatischen Gesamtansatz grundlegende Einsicht, dass die Antizipation ihrer eschatologischen Vollendung konstitutiv für den Begriff der Schöpfung ist, wie ihn der Mensch unter den im Werden begriffenen Bedingungen seines vorläufigen Weltdaseins zu erfassen vermag. Ohne endzeitliche Hoffnung haben Schöpfungsglaube und Glaube an göttliche Ursprungsgüte keinen Bestand. Nur unter der Voraussetzung eines proleptischen Hoffnungsvorgriffs auf das eschatologische Vollendungsziel der Schöpfung, auf welches die fortgesetzte schöpferische, aus Bösem immer wieder Gutes wirkende Tätigkeit Gottes im Zusammenhang seiner Weltregierung ausgerichtet sei, lässt sich nach Pannenberg schließlich auch der Gesichtspunkt schöpfungstheologisch integrieren, dass der Zusammenhang von Sünde und Tod eine Vorgeschichte in der vormenschlichen Evolution des Lebens hat. „Schon hier scheint sich die dämonische Dynamik aufgebaut zu haben, die in der Sünde des Menschen und in der Herrschaft von Sünde und Tod über die Menschheit kulminiert.“ (STh II, 313) Man kann diesen Hinweis als eine Problemiteration deuten, die in genau jener Aporie endet, die sie zu beheben sucht. Systemintern ist er stimmig, nämlich Folge konsequenter Eschato-
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logisierung christlicher Schöpfungstheologie, wie sie für Pannenbergs Ansatz nicht zuletzt in hamartiologischer Hinsicht charakteristisch ist. Über die grundsätzliche Verzichtbarkeit protologischer Perspektiven, wie sie die traditionelle Lehre von Schöpfung und Sünde kennzeichnen, ist damit nicht abschließend befunden. Der Mensch ist seiner Natur nach gut geschaffen und dennoch und unbeschadet dessen von Natur aus sündig. Pannenberg erläutert diese für seine theologische Anthropologie zentrale These mit dem Hinweis auf zwei verschiedene Bedeutungen des Wortes Natur (vgl. Anthr., 105). Als exzentrisches Wesen sei das Menschengeschöpf dazu bestimmt, die Naturbedingungen seines Daseins zu transzendieren. Bezüglich dieser Wesensbestimmung, auf die er kreatürlich angelegt sei, nenne die theologische Tradition die Natur des Menschen gut. Zur Güte geschöpflicher Wesensnatur indes gehöre konstitutiv die Bestimmung, die natürlichen Bedingungen, in denen sich der Mensch von Anfang seines Daseins an vorfinde, aufzuheben statt sich auf sie zu fixieren, was ipso facto sündhaft sei. Über die Stimmigkeit der Annahme, der Mensch sei seiner geschöpflichen Wesensnatur nach gut und Sünder von Natur aus, kam es im Jahr 1990 zu einem Disput zwischen Wolfhart Pannenberg und Thomas Pröpper. Nach Pröpper, der mittlerweile eine umfangreiche eigene „Theologische Anthropologie“ (vgl. Disput mit Pröpper Pröpper, Anthropologie) vorgelegt hat, kann Sünde nur dann von einem fatalen Geschick unterschieden und als Schuld zugerechnet werden, wenn sie auf einen Freiheitsvollzug bezogen ist, der ihren Ursprung bildet. Da Pannenberg mehr oder minder „umstandslos“ (Pröpper, Faktum, 275) darauf verzichte, den „Ursprung der Sünde mit der menschlichen Freiheit zu verbinden“ (ebd.), führe seine Hamartiologie zwangsläufig in eine Aporie, die weder durch den Verweis auf den Doppelsinn der Rede von der Natur des Menschen noch durch Pannenbergs Verantwortungsbegriff behoben werde. Denn dieser könne „nicht verdecken, daß ein Mensch am Zustandekommen des Zustands, in dem er sich findet, nicht schon deshalb schuldig sein kann, weil er ihn verantwortlich übernimmt. Aber schuldig im Sinne der Urheberschaft soll er ja auch nicht sein. Es ist die naturhaft bestimmte Ausgangslage des Menschen, aus der nach Pannenberg das Böse hervorgeht und die, obwohl selbst noch nicht ‚moralisch‘ oder ‚intentional‘ böse, doch wegen ihrer faktischen, wenn auch ihr selber verborgenen Verschlossenheit gegenüber Gott und der menschlichen Bestimmung ‚Sünde‘ genannt wird . . . Sie ist der terminus a quo, von dem die menschliche Bildungsgeschichte anhebt, die letztlich Gott zum Leiter und Urheber hat. Aber warum denn eigentlich, möchte man fragen, einen solchen (‚jeder persönlichen Stellungnahme vorausgehenden‘) Anfang schon als Sünde bezeichnen?“ (Pröpper, Faktum, 275 f.) Pröppers kritische Anfrage und Pannenbergs Replik (vgl. Pannenberg, Sünde) bieten exemplarischen Anlass zur systematischen Erörterung hamartiologischer Grundlegungsprobleme. Der sündentheologische Streit beider soll deshalb im anschließenden Kapitel weiterverfolgt und auf seine Prämissen hin durchsichtig gemacht werden.
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13. De peccato: Hamartiologische Grundlegung jenseits von Pelagianismus und Manichäismus
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Das Problem menschlicher Schuld stellt sich in mannigfacher Weise und wird unter unterschiedli- Hamartiologietypen chen Gesichtspunkten erörtert. Es ist Thema von Recht und Moral, um von Jurisprudenz und Ethik, aber etwa auch von der psychologischen und anderen Wissenschaften behandelt zu werden. Auch die theologiespezifischen Zugänge sind verschieden. Zwar gibt der Begriff, der sie bestimmt, der Hamartiologie eine charakteristische Prägung. Gleichwohl ist, was Sünde genau heißt, nicht von vorneherein klar, sondern ergibt sich erst aus dem Kontext der jeweiligen hamartiologischen Entwürfe. Einen Versuch, ihre aktuelle Vielfalt typisierend zu erfassen, hat Julia Knop in ihrem materialreichen Überblick über die christliche Sündenlehre im theologischen Diskurs der Gegenwart unternommen (vgl. ferner Baumann; Haas). Sie unterscheidet zwischen einem offenbarungstheologischen, einem fundamentalanthropologischen, einem transzendentalphilosophischen und einem symboltheoretischen Hamartiologietyp; letzterer sei indes mit Ausnahme vielleicht des Entwurfs von Paul Ricoeur (und von Paul Tillich) noch nicht wirklich systematisch durchgearbeitet und expliziert worden. Der offenbarungstheologische Hamartiologietyp versteht nach Knop die Erkenntnis der Sünde ganz von der Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus her. Ohne geistgewirkten Glauben könne der Abgrund nicht ermessen werden, in welchen der Mensch durch seine Sünde gefallen sei. Rettung aus ihm werde nur durch das Evangelium der Sündenvergebung ermöglicht, welches die Bedingung heilsamer Sündenerkenntnis und damit Grundlage christlicher Hamartiologie sei. Als exemplarisch für diese Auffassung der Sündenlehre gilt das Konzept von Christof Gestrich (vgl. Knop, 141 ff.), dem vergleichbare Ansätze aus dem Umfeld der Dialektischen Theologie und darüber hinaus zugeordnet werden (vgl. Knop, 265 ff.). Im Unterschied zum offenbarungstheologischen sieht Knop den fundamentalanthropologischen Hamartiologietyp durch die Annahme gekennzeichnet, „dass der konstitutive Einbezug außertheologischer Optionen (sc. namentlich humanwissenschaftlicher Provenienz) um der theologischen Entfaltung der Hamartiologie willen geboten ist“ (Knop, 61). Als exemplarisch gilt in dieser Hinsicht das dreibändige Werk E. Drewermanns „Strukturen des Bösen“ (vgl. Knop, 75 ff.).
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Im ersten Band der Drewermanntrilogie wird exegetisch erhoben, was der Fall der Sünde aus der ursprünglichen Ordnung der Schöpfung nach Urteil der jahwistischen Urgeschichte bedeute und welche Folgen er für den Menschen zeitige. Ziel der Untersuchung ist es, möglichst textnah „den Verformungen des menschlichen Daseins im Feld der Gottesferne“ (Drewermann I, 335) nachzuspüren. Eine psychoanalytische Lektüre schließt sich an. Ihre Ergebnisse werden im zweiten Band dargeboten. Ein dritter erörtert sodann die jahwistische Urgeschichte in philosophischer Sicht unter besonderer Berücksichtigung der Rezeption, die sie bei Kant, Hegel, Sartre und Kierkegaard erfahren hat. Letzterer hat nach Urteil von Drewermann den Skopus der Sündenfallsgeschichte am treffendsten erfasst, wenn er Sünde als Verzweiflung vor Gott bestimmte. „Der Kierkegaardsche Begriff der Verzweiflung als Gegenbegriff zum Glauben darf . . . von der j Urgeschichte her als der adäquate Ausdruck dessen verstanden werden, was Gen 3,1–11,9 (J) als Sünde des Menschen beschreibt.“ (Drewermann III, 574) Über die Richtigkeit dieses Befundes muss nicht geurteilt werden. Zu fragen ist indes, ob nicht allein durch die Nennung des Namens Kierkegaard Knops typisierend in Anschlag gebrachte Unterscheidung einer offenbarungstheologischen und einer fundamentalanthropologischen Hamartiologie relativiert wird. Diese Frage stellt sich ähnlich in Bezug auf Wolfhart Pannenberg, der wie Drewermann ebenfalls dem fundamentalanthropologischen Typ zugerechnet wird (vgl. Knop, 249 ff.). Während die fundamentalanthropologischen Hamartiologien nach Knop die Überzeugung teilen, „dass Sünde und Erlösung eine empirisch verifizierbare Dimension eignet, die schlichtweg unverzichtbar ist“ (Knop, 258), bemühen sich die Vertreter des transzendentalphilosophischen Ansatzes ihr zufolge zwar ebenfalls um anthropologische Verifikation, doch weniger auf empirieorientierte Weise als vielmehr so, dass nach den Bedingungen der Möglichkeit humanen Menschseins und insbesondere nach dem Bestimmungsgrund menschlicher Freiheit sowie den transempirischen Ursachen ihrer Verfehlung und Verkehrung gefragt werde. Als paradigmatischer Prototyp dieser Denkungsart gilt Karl Rahner (vgl. Knop, 197 ff.), dessen Option für eine transzendentale Reformulierung der Geschichte von Urstand und Fall schulbildend wurde und zwar unbeschadet aller kritischen Modifikationen, wie sie sie beispielsweise durch Thomas Pröpper einerseits oder Helmut Hoping andererseits erfahren hat (vgl. Knop, 282 ff.). Was Hoping betrifft, so nehmen seine ÜberlegunTranszendentale Sündengen zu einer freiheits- und subjektivitätstheoretilehre: Helmut Hoping schen Hermeneutik der Theorie vom peccatum originale ihren Ausgang bei Kants Lehre vom radikalen Bösen als einer aller Erfahrung vorausliegenden intelligiblen Tat, durch welche der Willenshang zu naturhafter Selbstbestimmung als Freiheitsverhängnis gesetzt wird. Das Böse gründet in dem verkehrten Gebrauch, den der Mensch von seiner durch nichts in der Welt bedingten Freiheit unter Weltbedingungen macht. Diese Verkehrung der Freiheit reicht in Abgründe, die jeden bewussten Freiheitsakt unterbieten, weil sie das Ich selbst angehen, das sich – die bewusstlose Natur zum Vorbild nehmend – auf seine
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Selbstbezogenheit versteift statt sie zu transzendieren, um sich exzentrisch in Gott als dem Grund seiner Freiheit zu gründen. Nach Hoping basiert das peccatum originale in der Verkehrtheit eines präreflexiven Selbstsetzungsgeschehens, welches Freiheitsvollzug ist, ohne die Gestalt eines selbstbewussten Willensaktes zu haben. Das Urgeschehen verkehrten Freiheitsvollzugs reicht ins Unterbewusste hinab, ohne doch dem Bewusstsein einfachhin entzogen und der Sphäre der Bewusstlosigkeit anheimgestellt zu sein. Hoping lehnt nicht nur die Voraussetzung eines präexistenten Sündenfalles ab, er weist auch das Ansinnen zurück, den Fall der Sünde in eine menschheitsgeschichtliche Prähistorie oder in die infantile Vorgeschichte des einzelnen Menschenwesens zu verlagern. Zwar stehe, was die Tradition peccatum originale nenne, in einem Bezug zu unbzw. unterbewussten Anfängen sowohl der Geschichte des Menschengeschlechts als auch des geschichtlichen Lebens des Einzelnen. Doch sei die ursündige Freiheitsverkehrung nicht eigentlich zeitlich, sondern nur transzendental zu erfassen. Das peccatum originale geschieht „als ursprüngliche Verweigerung transzendentaler Freiheit“ (Kaufner-Marx, 385), die weder auf die Naturbedingungen menschlichen Daseins noch auf die Tat eines identischen Subjekts zurückzuführen ist, dessen Konstitution sie vielmehr betrifft und verkehrt. Knapp dargestellt hat Hoping sein Ursündenverständnis in dem Beitrag „Bewusstes Leben, Egozentrizität und die Macht des Bösen“ (vgl. Hoping/Schulz [Hg.], 180–191), ausführlich expliziert in seiner Untersuchung zur Erbsündenlehre im Ausgang von Kant „Freiheit im Widerspruch“. Um das Unwesen der Sünde in seiner Abgründigkeit und zugleich die hamartiologischen Intentionen zu erfassen, die der Kirchenvater Augustin verfolgt habe, sei ein Rückstieg in das ursprüngliche Wesen der Freiheit nötig. Als Leitstern fungiert Kants „anthropologia transcendentalis“ (vgl. Hoping, 52 ff.), die zu einer „Logik transzendentaler Freiheit“ (vgl. Hoping, 234 ff.) fortgebildet wird. Eine argumentative Schlüsselstellung kommt dabei der Interpretationsthese zu, wonach die im Begriff der freien Willkür reflektierte transzendentale Freiheit der Wahl nach Kant „die für die menschliche Freiheit notwendige Wahl der Freiheit selbst“ (Hoping, 163) ist, welche in dem Vermögen bestehe, der Gesetzgebung der Vernunft zu entsprechen. Versteift sich die Freiheit auf ihre formale Willkür, dann verfehlt sie ihre Realität und macht sich faktisch selbst unmöglich. Genau dies hat nach Hoping im Vollzug des peccatum originale statt. Ursünde ist in sich verkehrter Freiheitsvollzug, das radikale Böse „Antinomie der Freiheit“ (Hoping, 197). Obwohl kein Vorgang in der Zeit im Sinne eines historischen Geschehens ist der Fall der Sünde doch nicht zeitlos, weil er in Beziehung zu allem steht, was in der Zeit der Fall ist. Er transzendiert die Zeit und mit ihr die Welt in einer der Transzendentalität der Freiheit im Modus des Widerspruchs verbundenen Weise, um gerade so alle Weltund Selbstverhältnisse des Sünders zu betreffen. Das Ursündige an der Sünde ist nach Hoping ihre aus der Willkürlichkeit formaler Freiheit heraus erfolgte Verweigerung realer Freiheit. Sündenfall und peccatum originale seien „als geschichtliches Wesen transzendentaler Weigerung zu verstehen“ (Hoping, 261), welche vor-
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stellungshaftes Denken mit einem urgeschichtlichen Fall assoziiere, so wie der Gedanke transzendentaler Freiheitsrealisierung die Vorstellung eines integren Urstands nahelege. Der Ursprung der Sünde fällt nach Hoping weder Transzendentale Sündenin die Zeit noch in eine zeitlose Transzendenz jenlehre: Thomas Pröpper seits aller Zeit. Vielmehr zeitigt sich das peccatum originale dergestalt als ursündig, dass es die ganze Geschichte der in Sünde gefallenen Menschheit und jede einzelne menschliche Lebensgeschichte auf verderbliche und verderbensbringende Weise durchwirkt. Denke man das peccatum originale transzendental-geschichtlich, dann ließen sich die Anliegen der augustinischen Erbsündenlehre wahren und ihre Aporien vermeiden. Ungleich skeptischer urteilt in dieser Hinsicht Thomas Pröpper, dessen Sündenlehre als zweites Beispiel transzendentalphilosophisch orientierter Hamartiologie vorgestellt und mit der Pannenberg’schen Alternative konfrontiert werden soll. Pröpper bekennt freimütig, dass er weder das Erbsündendekret des Tridentinum noch gar die reformatorische Rezeptionsgestalt der augustinischen Lehre für aktuell verteidigungsfähig und -würdig halte. Selbst Reformulierungsversuche, die seinen Ansatz prinzipiell teilen, aber, wie Hoping, die transzendentale Freiheitstheorie mit der These einer transzendentalen Verweigerung des Guten im Ursprung der Geschichte verbinden, beurteilt er als inkonsequent und ungeeignet, dem Grundanliegen des überkommenen Dogmas Rechnung zu tragen. Pröpper zufolge ist nicht einzusehen, „wie es noch Aufgabe der Theologie sein könnte, diese Lehre zu rechtfertigen und weiter zu vertreten – es sei denn, die Theologie wollte sich in Gestalt eines bloßen Lehramtspositivismus von ihren spezifischen Aufgaben dispensieren“ (Pröpper, Anthropologie II, 1089). Die Möglichkeit, Sünde als Sünde zu bezeichnen und als zurechenbare Schuld von fatalem Geschick unterscheiden zu können, ist nach Pröpper an die Bedingung menschlicher Freiheit gebunden. „Sünde ist – so schwer ihre naturhaften Konditionen auch wiegen und so bedrückend sich ihre eigenen Objektivationen und Folgen auswirken – doch wesentlich Freiheitsgeschehen und ihre Geschichte koextensiv mit der Geschichte der Freiheit, des einzelnen wie aller Menschen.“ (Pröpper, Faktum, 277) Die Möglichkeitsbedingungen eines hamartiologisch haltbaren Begriffs der Sünde sei die Anerkennung menschlicher Freiheit und des in ihr enthaltenen Unbedingtheitsmoments bedingungslosen Wollens. Keine noch so bestechende Kritik neutraler Indifferenzfreiheit dürfe dazu verleiten, „das eigentlich humane und – wie man wohl hinzufügen darf – von Gott selber anerkannte unbedingte Moment menschlicher Freiheit zu übergehen und zu vergessen: ihre ursprüngliche Fähigkeit nämlich, sich zu allem, auch zu Gott, zum eigenen Dasein und der eigenen Bestimmung, verhalten zu können.“ (Pröpper, Faktum, 276) Pröpper nennt die an keine Bedingung gebundene Ursprungsfähigkeit des Menschen, sich zu schlechterdings allem frei verhalten zu können, transzendentale Freiheit. Den philosophischen Hintergrund bildet auch bei ihm Kants transzendentale Freiheitslehre (vgl. H. Meyer), näherhin sein Verständnis der Antinomie der Frei-
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heit, aus der sich nicht zuletzt seine Lehre vom radikalen Bösen ergebe, sofern der Hang zum Bösen, obwohl eine naturhafte Prädisposition, auf transzendentale Freiheit rückzubeziehen sei, wenn der Schuldcharakter der Sünde gegeben sein und erhalten bleiben soll. Die Konzeption des Bösen in der Religionsschrift verdankt sich dieser Deutung zufolge der Einsicht, „daß die Freiheit des Menschen, wenn auch nicht Ursache, so doch Bedingung des Bösen ist. Es ist die Freiheit eines endlichen Vernunftwesens, die selbst ambivalente Züge trägt.“ (Konhardt, 400) Endliche Freiheit enthält die „Freiheit zur Unterbestimmung“ (Konhardt, 411; vgl. Pröpper, Faktum, 278 f. Anm. 22); ihr konkreter Gebrauch durch den Menschen ist durch seine vernünftige Wesensbestimmung, sich als sittliches Subjekt zu realisieren, nicht eindeutig festgelegt, sondern der Versuchung ausgesetzt, sich dieser Bestimmung zu verweigern und sie durch solches Versagen zum faktisch Bösen zu verkehren. Breit entfaltet und realisiert hat Pröpper seine Theologische Option für ein transzendentales Freiheitsdenken in Anthropologie seiner 2011 erschienenen theologischen Anthropologie, deren erster Teil die Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott und deren zweiter Teil die Existenz des Menschen in Sünde und Gnade thematisiert. Um die geschöpfliche Bezogenheit des Menschen auf Gott und seine Hinordnung auf partnerschaftliche Gemeinschaft mit ihm, auf welche seine Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit verweise, angemessen denken zu können, sei ein an entscheidender Stelle von Pannenberg abweichendes Konzept menschlicher Identitätskonstitution nötig (vgl. Pröpper, Anthropologie I, 414 ff.). Statt lediglich „die faktische Genese und die externen Konstitutionsbedingungen realer menschlicher Identität“ (Pröpper, Anthropologie I, 431) zu erhellen, was Pannenberg in überzeugender Weise leiste, müsse es zugleich um „eine Aufhellung der internen Struktur des Subjekts und vor allem (um) ein angemessenes Verständnis menschlicher Freiheit (zu tun sein), die in der Unbedingtheit ihres Sichverhaltens und Sichentschließens Pannenbergs (einseitig) genetischer Untersuchung nicht einmal in den Blick kommt“ (Pröpper, Anthropologie I, 431 f.). Die Einsicht in sie werde im Gegenteil durch „weitgehende Abblendung der Ursprünglichkeit menschlicher Freiheit“ (Pröpper, Anthropologie I, 433) konzeptionell verstellt. Nach Pröpper gilt es, die Faktizität menschlicher Freiheit, obwohl weder aus der Welt noch auch aus dem vorfindlichen Ich des Menschen selbst erklärbar, auf ursprüngliche und das heißt nach Pröpper „transzendentale“ Weise zur Geltung zu bringen. Eben darauf ist seine freiheitstheoretische Erschließung der Bestimmung des Menschen im Schlusskapitel des ersten Bandes seiner theologischen Anthropologie angelegt. Die anthropologische Denkform, welche das freie Ich als Prinzip in Anschlag bringt, wird gerechtfertigt, eine transzendentale Subjektivitätstheorie zur Basis der theologischen Lehre von Sünde und Gnade erklärt (vgl. Pröpper, Anthropologie I, 494 ff.). Die ursprüngliche, transzendental zu nennende Freiheit des Menschen sei wesentliches Konstitutiv und implizite Prämisse jedes Aktes menschlicher Freiheit, dem sie unbedingt vorausliege, um von ihm bedingungsweise realisiert zu werden.
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Mit einem „verstiegenen metaphysischen Idealismus“ (Pröpper, Anthropologie I, 512), wie Pröpper sagt, will seine Transzendentalanthropologie nichts gemein haben: „Von einer einfachhin oder gar schlechthin unbedingten Freiheit des Menschen, die als solche für sich existierte oder dieses doch könnte, habe ich (auch früher) niemals gesprochen – existiert doch stets nur der freie Mensch, die formal unbedingte Freiheit jedoch nur als konstitutive, ebenso irreduzible wie real unablösbare Komponente dieses Menschen. Sie ist bereits im Ursprung so wesentlich Eröffnetsein für Gehalt und Erfüllung durch ihn, dass es sie unverbunden mit ihm gar nicht gibt. Und wenn die Analyse der Selbstbestimmung auch zeigt, dass in ihr die Freiheit 1. selbst das durch sich Bestimmbare, 2. das vermittels der Affirmation von Gehalt selbst sich Bestimmende und 3. in ihrer formalen Unbedingtheit . . . auch der Maßstab der wirklichen Selbstbestimmung ist, so geschieht die letztere doch nicht anders, als daß die Freiheit die Bestimmtheit, in der sie sich stets bereits findet, von sich aus weiter bestimmt. Gleichwohl heben ihre materiale Bedingtheit und reale Bestimmtheit die formale Unbedingtheit in der Freiheit nicht auf: ‚bedingt sein‘ heißt nicht ‚verursacht sein‘. Denn auch zu ihrer Bedingtheit und sogar wirksamen Bestimmtheit kann sich Freiheit zumindest in dem Maße, wie sie bewusst sind und aufgeklärt werden, ja noch verhalten.“ (Ebd.) Die fundamentalkritischen Grundsätze der im zweiten Teilband der theologischen Anthropologie Pröppers explizierten Hamartiologie und Gnadentheologie sind damit formuliert. Die protologische Ursprünglichkeit transzendentaler Freiheit des Menschengeschöpfs ist nach Pröpper die Bedingung der Möglichkeit dafür, Sünde als Schuld zuzurechnen, ohne welche Zurechenbarkeit der Begriff der Sünde verfehlt und fatalisiert werde. Sich einer solchen Fatalisierung und Verfehlung des Sündenbegriffs tendenziell schuldig gemacht zu haben, ist der zentrale Vorwurf, der gegen Pannenbergs Hamartiologie erhoben wird; der katholischerseits häufig gegen Hamartiologien evangelischer Provenienz vorgebrachte Manichäismusverdacht steht im Raum. Sünde könne nur unter der Bedingung ihrer Zurechenbarkeit als Schuld Sünde sein. Als Schuld zurechenbar ist Sünde hinwiederum nur unter der Bedingung einer ursprünglich vorauszusetzenden menschlichen Freiheit, die auch dann noch förmlich Freiheit zu nennen sei, wenn sich der Mensch, wie in der Sünde der Fall, durch sein reales Verhalten in einen Widerspruch zu seiner Bestimmung bringe, die zugleich die Bestimmung seiner Freiheit sei. Auch ein in sich verkehrter Vollzug der Freiheit müsse frei genannt werden, wenngleich sich in ihm die Freiheit durch Selbstverkehrtheit um sich selbst bringe und Formen der Besessenheit generiere. Dies verkannt oder doch nicht hinreichend erkannt zu haben, sei der Grundfehler der Pannenberg’schen Hamartiologie, aus dem eine tendenzielle Naturalisierung und Fatalisierung der Sünde folge. Zwar sei die Sünde Verhängnis, aber selbstverhängtes und die Schuld verkehrten Freiheitsgebrauchs, der den Täter gemäß der Verkehrtheit des Bösen, die das böse Unwesen ausmacht, selbst zum Opfer seiner Untat werden lässt. Habe bereits Luther im Gefolge Augustins (vgl. Pröpper, Anthropologie II, 981 ff.) „die
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Ursprünglichkeit der (formal unbedingten) menschlichen Freiheit, ohne die weder menschliche Schuld noch Glaube als actus humanus gedacht werden kann“ (Pröpper, Anthropologie II, 1066), nicht angemessen thematisiert, so sei dieser Mangel auch von Pannenberg nicht beseitigt worden. Seine Hamartiologie tendiere dazu, das peccatum originale in Form eines durch die Naturbedingungen menschlichen Daseins induzierten universalen Verhängnisses zu fatalisieren; ihre Zurechenbarkeit als Schuld könne er nicht begründen, weil er die Sünde nicht als Freiheitsbestimmung zu denken vermöge. Dem Verdikt eines mehr oder minder latenten Sündenfatalismus nach manichäischer Art begeg- Fatalisierungsverdikt nete Pannenberg mit dem Hinweis auf Pröppers faktische und ja auch offen zugestandene Preisgabe der traditionellen Lehre vom peccatum originale, die mit pelagianisch-semipelagianischen Tendenzen offenkundig verbunden sei. Es sei nicht einzusehen, wie der Kernbestand des Erbsündendogmas, wonach der Mensch von Geburt an, also vor allen eigenen Taten Sünder sei, „in den Aussagen Pröppers gewahrt sein soll. Peccatum originale ist eben nicht nur Disposition zur Sünde, sondern schon Faktum der Sünde, und zwar als Zustand vor allem individuellen Handeln. Dieser Zustand ist auch nicht schon angemessen beschrieben als Situiertsein jedes neuen Individuums in einem durch sündhaftes Handeln anderer qualifizierten Lebenszusammenhang: Der einzelne könnte sich von allen äußerlichen Zwängen seiner Mitwelt zumindest innerlich dispensieren. Entscheidend ist, daß jeder einzelne von Geburt an selber schon Sünder ist. Ohne Anerkennung eines Grundbestandes naturaler Verfaßtheit verkehrten Lebens in jedem Individuum wird der Kern des Erbsündendogmas nicht festgehalten werden können.“ (Pannenberg, Sünde, 292) Gehört ein Grundbestand naturaler Verfasstheit verkehrten Lebens zum Kern des Erbsündendogmas, dann stellt sich erneut das freiheitstheoretische Problem der Schuldzurechenbarkeit des peccatum originale, sofern dieses die Sünde aller Adamskinder sein soll. Pröpper versucht es durch eine, wie er sagt, qualitative Differenzierung „zwischen Disposition zur Sünde und Faktum der Sünde“ (Pröpper, Faktum, 278) zu lösen. Der Disposition zur Sünde rechnet er „die Naturbedingungen des menschlichen Daseins und sein evolutionsgeschichtliches Erbe . . . , aber auch die ambivalente Verfassung der endlichen Freiheit selber und nicht zuletzt die Schuldbestimmtheit der historischen Situation (zu), die jede Freiheit in der realen Möglichkeit zur Selbstbestimmung negativ konditioniert, sie bis ins Innere affiziert, durch ihre Einstimmung ihrerseits befestigt und fortgesetzt wird und so alle, als Opfer und Täter, in die Schuldgefangenschaft verstrickt“ (ebd.). Trotz dieser massiven Disponierung und Konditionierung des Menschen zur Sünde habe deren Faktum ihren Ursprung in einem Entschluss freien menschlichen Sichverhaltens. Solle die Hamartiologie nicht in Fatalismus und Naturalismus enden, müsse man stehen lassen, „(d)aß die Sünde ihre Macht über mich doch von mir hat“ (ebd.). Die Annahme transzendentaler Freiheit des Menschen sei die Bedingung der Möglichkeit dafür, das peccatum originale als persönliche
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Schuld zu begreifen, wenngleich zugestanden werden müsse, dass jedes sich annähernde Verstehen an der Unableitbarkeit freier Faktizität der Sünde seine Grenze finde. Trotz Pröppers Zugeständnis einer freiheitstheorePannenbergs Replik tischen Nichtgenetisierbarkeit der Sündenfaktizität widerspricht nach Pannenbergs Urteil die Annahme eines in welch hintergründiger Form auch immer in Anschlag gebrachten Ursprungsvermögens neutraler Indifferenzfreiheit dem Gedanken der Erbsünde. Durch ihn sei nicht nur die vermeintliche Neutralität der Freiheit der Alternative von Gut und Böse gegenüber bestritten, sondern zugleich die Indifferenzfreiheit als in sich verkehrt bestimmt. Sei doch Unentschiedenheit gegenüber dem Guten bereits sündhaft in sich. Pröpper stellt dies nicht einfachhin in Abrede: besteht doch auch nach ihm der primäre Entschluss zur Sünde in der Verweigerung des unbedingten Entschlusses zum Guten (vgl. Pröpper, Faktum, 278). Nicht darin liegt die eigentliche Differenz zu Pannenbergs Argumentation, sondern in Pröppers Behauptung, dass ein unbedingter Entschluss zum Guten für den Menschen in seinem tatsächlichen Sichverhalten faktisch möglich sei. Dagegen macht Pannenberg geltend, dass sich der Mensch immer schon und vor jedem Entschluss in der Sünde befinde. Diese gewinne ihre Macht daher nicht erst von ihm, freilich auch nicht ohne ihn und ohne seine tätige Zustimmung (vgl. Pannenberg, Sünde, 292). Diese tätige Zustimmung sei nicht auf einen Freiheitsakt zurückzuführen, welcher die virtuelle Möglichkeit zum Guten bleibend in sich enthalte; sie sei auch nicht lediglich als negative Verweigerung des Entschlusses zum Guten, sondern als ein Erliegen durch Einlassen zu bestimmen. Folgt man Pannenberg, dann setzt der Sünder die Sünde, indem er dem Schein des Guten aufsitzt, den das Böse für ihn und so auch in ihm erzeugt. Sünde ist Blendwerk, der Sünder Geblendeter und Blender in einem. Seine Schuld besteht darin, der Verführung zu folgen, indem er das Böse als ein Gut erstrebt, das ihm vermeintlich förderlich ist. Sünde geschieht aus Unwahrhaftigkeit und aus einer Verblendung heraus, die durch ihren blendenden Schein blind macht gegenüber dem wahrhaft Guten und das Dunkel des Bösen förmlich heraufbeschwört. Sünde geschieht durch Affirmation eines falschen Scheins, durch den das Gute zum Bösen gekehrt wird. Abwegig und irrig hingegen ist es nach Pannenberg, die Sünde auf ein ursprüngliches Freiheitsgeschehen zurückzuführen, um auf diese Weise die Schuld des Sünders zu begründen. Zwar sei das Menschengeschöpf von seinem Schöpfer zur Freiheit und dazu bestimmt, sich in freier Selbständigkeit zu realisieren. Aber der freie Selbstand des Menschen sei ebensowenig ein Ursprungsdatum wie seine Verwirklichung eine Aufgabe, die der Mensch aus eigenem Vermögen und von sich aus bewerkstelligen könnte. „Der geschöpflichen Bestimmung entspricht also zwar ein Angelegtsein im Dasein des Menschen, aber nicht notwendig die Fähigkeit, diese Anlage von sich aus zu verwirklichen.“ (Pannenberg, Sünde, 291 Anm. 2) Man wird im Sinne Pannenbergs sagen müssen, dass die Beanspruchung des
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Vermögens, seine geschöpfliche Bestimmung von sich aus realisieren zu können, bereits Indiz des Falles der Sünde ist. Der Mensch ist dazu bestimmt, als er selbst, nicht aber von sich aus zu sein, was er ist. Will er von sich aus sein, was er ist, verfehlt er mit dem Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf zugleich sich selbst, sein individuelles Personsein und seine humane Bestimmung als Menschenwesen. Der Mensch ist Geschöpf der Freiheit. Aber er kann wirklich freies Geschöpf nur als Geschöpf, also von seinem Schöpfer her und auf seinen Schöpfer hin sein. Die Geschöpflichkeit menschlicher Freiheit verbietet es per se, sie als indifferentes Vermögen oder als eine transzendentale Größe jenseits von Gut und Böse zu bestimmen. Nur in seinem exzentrischen Aussein auf das Gute, von dem er herkommt, gewinnt die Freiheit des Menschen Realität, wohingegen das förmliche Insistieren auf einem formalen Wahlvermögen dem Schöpfer und seiner Schöpfung gegenüber bereits der der kreatürlichen Anlage des Menschen kontravenierenden Verführung zu einer verkehrten Selbstzentrizität erlegen ist, welche von den natürlichen und sozialen Daseinsbedingungen, in denen sich der Mensch vorfindet, zwar ausgeht, ohne stricte dictu zwingend zu sein. Die Frontlinien in der Kontroverse zwischen Pröpper und Pannenberg treten an ihrer gegensätzlichen Interpretation der Angst exemplarisch zutage (KaufnerMarx, 21: „Während Pröpper davon ausgeht, dass endliche Freiheit von Angst begleitet ist und der Mensch deswegen sündigt, betrachtet Pannenberg die Angst bereits als Ausdruck der Sünde.“) und verlaufen in Bahnen, die von hamartiologischen Streitigkeiten der Vergangenheit her ebenso bekannt sind wie die Grundmuster der jeweiligen Argumentation. In ihrer konträrer Ausrichtung reflektiert sich eine Spannung, die der christlichen Lehre vom peccatum originale von Anbeginn innewohnt und sie ständig begleitet. Offenbar gehört es zur „Dialektik der Erbsünde“ (Ruhe), zwei widerstrebende Bestimmungsmomente in sich zu enthalten, ein gleichsam naturhaftes und ein auf Realisierung von Freiheit bezogenes, wobei Gattungsaspekt und individuelle Perspektive zu einem Horizont verschmolzen werden sollen. Das entscheidende Problem besteht darin, „wie der wirkliche Schuldcharakter der Erbsünde mit dem Charakter ihrer vorpersonalen universalen Vorgegebenheit gegenüber der sittlichen Entscheidung des einzelnen zusammenzudenken ist“ (Ruhe, 265). An diesem Problem arbeitet sich die christliche Hamartiologie seit alters ab in dem Bestreben, manichäische Irrwege ebenso zu vermeiden wie pelagianische bzw. den Gegensatz von Manichäismus und Pelagianismus sündentheologisch zu beheben. Bevor man im Streit zwischen Pröpper und PanSchleiermachers nenberg Partei ergreift, mag es nützlich sein, sich Häresiologie der Rahmenbedingungen zu vergewissern, innerhalb derer er sinnvoll und unter Vermeidung offenkundig irriger Lehren zu führen ist. Die Häresiologie Schleiermachers eröffnet hierfür hilfreiche Perspektiven. Nach seiner Sicht ist der Rahmen kirchlicher Lehre, deren wesentlicher Gehalt durch den für das Christentum zentralen Gegensatz von Sünde und Gnade bestimmt sei, durch zwei Grenzen markiert, die zu überschreiten zwangsläufig in
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Häresie führen müsse. Die eine Grenzmarke wird in typisierender Absicht mit den geschichtlichen Irrlehren von Manichäismus und Doketismus in Verbindung gebracht, die andere mit den historischen Ketzereien des Pelagianismus und des Ebionitismus. Der Manichäismus verabsolutiere die Sünde dergestalt, dass die Erlösung des Menschen von ihr als nicht mehr bzw. nur in Form einer gänzlichen Neuerschaffung seines Wesens möglich erscheine. Von einer Ursprungsgüte der Schöpfung einschließlich des Menschengeschöpfs könne unter diesen Bedingungen nicht länger die Rede sein. Auch die Zurechenbarkeit menschlicher Sünde als Schuld falle dahin, weil die Ursache des Bösen der humanen Sphäre entnommen, auf einen Naturabgrund zurückgeführt oder einer transzendenten Größe zugeschrieben werde, um diese zu einem zweiten, teuflischen Gott zu hypostasieren. Die Sünde werde so, sei es durch naturkausale oder transzendente Determination, fatalisiert, in jedem Fall aber zum verhängten Geschick erklärt und damit entmoralisiert und entschuldigt. Soteriologisch hat die manichäische Häresie zur Folge, dass die Gnadenempfänglichkeit bzw. Erlösungsfähigkeit des von der Macht des Bösen besessenen Sünders geleugnet wird. Heil für den Menschen kann es nur unter der Voraussetzung eines gänzlichen Neubeginns geben, der jeden Bezug auf sein vormaliges Wesen und das seiner Welt hinter sich lässt und mithin einer creatio ex nihilo gleichkommt. Das Verständnis des Heilands bleibt nach Schleiermacher von den manichäischen Irrwegen nicht unbetroffen. Obwohl historisch unterschiedlicher Herkunft bilden nach seinem Urteil Manichäismus und Doketismus ein häretisches Dioskurenpaar, das sachlich verbunden ist. Denn die doketische Leugnung der leiblichen Realität Jesu Christi laufe letztlich darauf hinaus, seine menschliche Natur generell für Schein zu erklären und damit sein wesentliche Gleichheit mit uns in Abrede zu stellen. Die doketische Negation der wahren Menschheit des Erlösers erweise sich so als implizite Voraussetzung bzw. sachliche Konsequenz des Manichäismus. Die der manichäisch-doketischen Häresie entgegengesetzte Irrlehre, welche die zweite Grenze rechtgläubiger kirchlicher Lehre markiere, kennzeichnet Schleiermacher als die pelagianisch-ebionitische. Während der Manichäismus jede Möglichkeit der in Sünde gefallenen menschlichen Natur negiere, Gnadenwirkungen zu empfangen und aufzunehmen, rechnet der Pelagianismus auch unter postlapsarischen Bedingungen mit einem mehr oder minder starken Vermögen des Menschen, sich selbsttätig zu seinem Heil zu bestimmen. Ob nun das dem Sünder verbleibende soteriologische Eigenvermögen höher oder geringer veranschlagt wird: in jedem Fall werde die sündige Verderbnis des Menschen nicht so radikal und umfassend gedacht, dass von seiner gänzlichen Heillosigkeit und einer Grundverkehrtheit des adamitischen Menschengeschlechts auszugehen wäre. Restbestände geschöpflicher Ursprungs- und Wesensnatur verblieben und gewährleisteten in welchem Maße auch immer eine tätige Mitwirkung des Menschen an seinem Heil. Mit der Zurechenbarkeit der Sünde als Schuld haben die diversen Spielarten
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des Pelagianismus ebensowenig Grundsatzprobleme wie mit der Möglichkeit menschlicher Sündenerkenntnis, da beide durch die vom Fall der Sünde in ihrem Wesen nicht prinzipiell tangierte Schöpfungsnatur des Menschen garantiert würden. Der pelagianische Sündenbegriff ist im Gegensatz zum manichäischen von dezidiert moralischer Art. Die der Soteriologie in unterschiedlichen Graden zuerkannte transmoralische Bedeutung ändert daran nach Schleiermacher grundsätzlich nichts. Denn sie sei zuletzt auf den durch die Sünde zwar gehemmten, aber nicht wirklich unterbrochenen Prozess der Selbstvervollkommnung der geschöpflichen Wesensnatur des Menschen ausgerichtet, wie immer dieser Prozess im Einzelnen gedacht werde. Christologisch entspreche der vom Pelagianismus und seinen Abkömmlingen mehr oder minder betont herausgestellten Erlösungsfähigkeit des sündigen Menschen ein tendenziell ebionitisches bzw. nazoräisches Verständnis des Erlösers. Ist tätige Mitwirkung am Werk der Erlösung auch unter den Bedingungen der Sünde jedem einzelnen Menschen und dem ganzen Menschengeschlecht in der einen oder anderen Weise zugestanden, jedenfalls nicht grundsätzlich bestritten, dann könnten das Heilsamt und das Erlösungsgeschäft unbeschadet aller Wechselverhältnisse zwischen Individualität und Sozialität etc. nicht mehr in singulärer Weise einem und einem einzigen allein zuerkannt werden. Unter ebionitischen Bedingungen erscheint Jesus Christus nach Schleiermacher als ein bloßer Mensch unter Menschen: gegebenenfalls als der allerbeste unter ihnen, über dessen Menschheit hinaus eine höhere und bessere nicht gedacht werden kann, weil sie in ihrer Güte nicht steigerbar und jedenfalls insofern unvergleichlich und einmalig sei; doch höre er auch unter dieser Voraussetzung auf, jenes singulare tantum zu sein, als das ihn das christologische Dogma bekenne, nämlich der inkarnierte Logos, in dessen Person Gottheit und Menschheit eins seien. Was von der Person Jesu Christi bleibe, sei zuletzt nur ein Mensch, dessen Beschaffenheit und Dasein trotz aller humanen Prärogativen, die ihm zuerkannt würden, mit der allgemeinen Wesensnatur des Menschengeschöpfs nicht nur zu vergleichen, sondern dergestalt gleichgesetzt werden könne, dass die Annahme seiner Gottheit sich erübrige. Der ebionitisch-nazoräische Jesus Christus mag eine außerordentliche Gestalt sein, die ihresgleichen sucht; doch ist er zumindest darin ein gemeiner Mensch, dass er die Gemeinschaft des Menschengeschlechts, deren Teil er ist, nicht nach Wesen und Weise Gottes transzendiert. Manichäismus und Doketismus auf der einen und Pelagianismus und Ebionitismus bzw. Nazorä- Schwankende Lehre ismus auf der anderen Seite sind nach Schleiermacher die, wie er sagt, natürlichen Ketzereien des Christentums. Im § 25 der Erstauflage und im § 22 der Zweitauflage seiner Dogmatik „Der christliche Glaube“ hat er seinen häresiologischen Grundsatz im Einzelnen expliziert, um an späterer Stelle, nämlich zu Beginn der hamartiologischen Ausführungen anzumerken, „daß in der Entwiklung der kirchlichen Lehre das Schwanken zwischen diesen entgegengesezten Punkten niemals ganz zur Ruhe gekommen ist“ (GL2 § 65,2). Bisher sei keine Formel aufzufinden gewesen, „welche nicht Einigen scheinen sollte mehr
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nach dieser, und Andern mehr nach jener Seite zu liegen“ (ebd.). Auch Schleiermacher selbst stellt eine solche Formel nicht in Aussicht, sondern bescheidet sich mit dem Rat, ein Ausgleich sei angesichts der „Menge von Schwierigkeiten“ (ebd.) am ehesten dadurch zu leisten, dass man den Beziehungszusammenhang von Sünde und Gnade auch in Bezug auf ihren Gegensatz im Auge behalte, um durch Hinordnung der Hamartiologie auf die Soteriologie manichäisch-doketische und durch umgekehrte Rücksichtnahme pelagianisch-ebionitische Irrlehren zu vermeiden. Durch Hinordnung der Hamartiologie auf die Soteriologie sei zu gewährleisten, dass die Erlösung des Menschengeschöpfs auch unter den Bedingungen des Falls der Sünde nicht als unmöglich erscheine, durch die gegenläufige Rücksichtnahme zu garantieren, dass besagte Erlösung nicht durch den Sünder selbst, sondern allein aus Gnade zu bewerkstelligen sei. Schleiermacher ist sich der Probleme wohl bewusst, mit der eine Durchführung dieses Programms zu kämpfen hat. Namentlich die Notwendigkeit, sich auf die in der Kirche geltenden Lehrbestände zu dem in Frage stehenden Gegenstand zu beziehen, erneuere „immer wieder die Gefahr auf die eine oder andere Seite hinüber zu gleiten“ (GL1 § 85,2), will heißen: entweder in der manichäisch-doketischen oder in der pelagianisch-ebionitischen Häresie zu enden. Um dieser Gefahr zu begegnen, müsse man das Recht in Anspruch nehmen, die geltenden Ausdrücke der Kirchenlehre so zu interpretieren, dass die häretische Alternative am sichersten vermieden werde, „oder wenn sie sich dazu nicht hergeben, dann sie gegen andere zu vertauschen“ (GL2 § 65,2). Wie immer man die Durchführung der Schleiermacher’schen Hamartiologie und Soteriologie und seine Annahme eines im frommen Gefühl und unmittelbaren Selbstbewusstsein des Glaubens enthaltenen Zusammenhangs des Gegensatzes von Sünde und Gnade zu beurteilen hat: Dass der Theologie die Aufgabe zukommt, die kirchliche Lehrtradition in Konstruktion und eventueller Kritik so zu gestalten, dass häretische Extreme im dogmatischen Ausdruck vermieden werden, wird niemand bestreiten. Ebenso unbestreitbar ist, dass die Schwierigkeiten der Bewerkstelligung dieser Aufgabe nach wie vor gegeben sind, so dass es nicht wundert, wenn der Topos von Sünde und Gnade bis heute derjenige Ort ist, „auf welchem die meisten theologischen Streitigkeiten entstehen“ (GL1 § 85,2). Die Kontroverse zwischen Pröpper und Pannenberg bietet dafür nur einen aktuellen, aber insofern paradigmatischen Beleg, als an ihr die seit alters bestehenden Problemkonstellationen und Streitpunkte exemplarisch studiert werden können und zwar nicht zuletzt in konfessionsspezifischer Hinsicht. Die traditionellen Differenzen im konfessionellen Verständnis der Ur- und Erbsünde lassen sich grob folgendermaßen umreißen: „Tut der Mensch . . . gemäß der evangelischen Auffassung Sünde, weil er Sünder ist, so ist in der katholischen Theologie die Denkrichtung schwerpunktmäßig gerade umgekehrt: der Mensch ist ein Sünder, weil er Sünde tut.“ (Böttigheimer, 73) Sucht die katholische Hamartiologie bei aller betonten Schwere der Sünde die Freiheit der menschlichen Schöpfungsnatur um der sittlichen Zurechenbarkeit des peccatum originale und
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der peccata actualia willen zu wahren, insistiert die evangelische Sündenlehre in der Regel auf der radikalen und totalen Verderbnis des sündigen Menschen und der Knechtschaft seines verkehrten Willens, aus der er allein durch Gnade zur Freiheit befreit werden kann. Ist erstere an den einzelnen Vollzugsmomenten menschlicher Entfremdung von Gott orientiert, geht es letzterer vorzugsweise darum, die Stellung des Menschen vor Gott hamartiologisch „im ganzen in den Blick zu bekommen“ (ebd.), statt von seinem „in eine Vielzahl von Einzelakten aufgegliederten“ (Böttigheimer, 74) Sündenleben zu handeln. Die Reihe der Kontrastierungen ließe sich unschwer fortsetzen. Wichtiger als dies ist die Frage, ob sich die traditionellen kontroverstheologischen Alternativen beheben lassen. Man hat in der Forschung lange und kontrovers diskutiert, „ob Luthers theologische Erkenntnisse in seiner Frühzeit zwangsläufig zu einem Bruch mit Rom hätten führen müssen“ (Loewenich, 10) oder ob solche Zwangsläufigkeit sich erst aus der Folgeentwicklung der reformatorischen bzw. antireformatorischen Bewegung ergeben habe. Im Kontext der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ von 1999 sind diese Diskussionen in pro und contra neu entflammt (vgl. Wenz, 55 ff.). Sieht man vom Detail ab, dann betraf und betrifft der zentrale Vorbehalt römisch-katholischer Hamartiologie gegenüber reformatorischer Sündenlehre deren Annahme einer totalen und radikalen Verderbtheit der menschlichen Natur nach dem Sündenfall. Diese Annahme, so liest man, widerspreche nicht nur der tridentinischen Doktrin, sondern sei zugleich für jene säkularistischen Transformationen und Metamorphosen verantwortlich, die zuletzt auf eine völlige Zersetzung christlichen Glaubensguts hinausliefen: So gehe die „reformatorische Leugnung der Willensfreiheit des Menschen im postlapsarischen Zustand . . . historisch unmittelbar über in den naturalistischen Determinismus“ (Spaemann, 61). Ebenso wie dieser liege der Spiritualismus des neuzeitlichen Bewusstseins als Kehrseite des Naturalismus sowie der moderne Individualismus in der direkten geschichtlichen Konsequenz der Reformation und ihres gegen die Natur des Menschen gerichteten Sündenverständnisses. Stimmen aus der ostkirchlichen Orthodoxie, die ähnlich votieren, ließen sich anfügen. Verständigungsförderliche Klärungen dürften sich am ehesten durch Differenzierung des jeweils vorausgesetzten Naturbegriffs erreichen lassen. Das deutsche Wort „Natur“ ist ebenso vielschichtig wie das lateinische „natura“, dem es nachgebildet wurde. Entsprechendes gilt für das griechische physis, das schon in vorsokratischer Zeit neben dem „naturhaft“ Gegebenen die „Wesensnatur“ eines Seienden bezeichnet (vgl. Evers, 330 f.). Interessant ist, wie das „Konzept von Natur als Wesen natürlicher Gattungen“ (Evers, 331) in Philosophie und Theologie der Folgezeit ausdifferenziert und spezifisch gestaltet wurde. Die Differenzierungen, die im Kontext von Gen 1,27 in Bezug auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen und die Reichweite diesbezüglicher Verluste infolge des Sündenfalls bereits in Väterzeiten vorgenommen wurden, haben an diesem Gestaltungsprozess ebenso Anteil wie diverse Unterscheidungen von Natur und Übernatur im Zusammenhang scholastischer Theologie. Innerhalb der reformatorischen Sündenlehre bietet
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u. a. der erste Artikel der Konkordienformel von 1577 (vgl. BSLK 843,6 ff.) ein prominentes Beispiel für die Relevanz, welche der Differenzierung des Naturbegriffs für hamartiologische Verständigungsversuche zukommt. Was die überkommene Kontroverse zwischen Differenzierter Konsens reformatorischer und römisch-katholischer Sündenlehre betrifft, so ist für ihr Verständnis und für ihre mögliche Behebung vor allem der Zusammenhang relevant, der traditionellerweise zwischen der Gattungsnatur des Menschen und menschlicher Wesensbestimmung einerseits sowie andererseits zwischen natürlichem Wesen und demjenigen hergestellt wurde, was man als Übernatur oder ähnlich bezeichnet hat. Letzterer Gesichtspunkt, der sich von ersterem zwar unterscheiden, nicht aber trennen lässt, ist in der mittelalterlichen Scholastik und darüber hinaus selbst dort, wo man grundsätzlich an ihm festhielt, keineswegs einheitlich wahrgenommen worden mit entsprechend divergenten Folgen nicht zuletzt für die jeweilige Hamartiologie. Hält man sich an die thomanische Tradition bzw. ihre Rezeption in der neuthomistischen Schule, dann ist, was peccatum originale heißt, „eigentlich kein Verderben der Natur, sondern ein Heraustreten aus dem heiligen Leben der Übernatur“ (Siewerth, 17; Kursivierungen werden nicht wiedergegeben). Die Ursünde bewirkt nicht menschliche Naturverderbnis, sondern Verlust der urständigen Gnade (vgl. Siewerth, 25 ff.). Nicht dass von der „Aufhebung der ursprünglichen gnadenhaften Vereinigung“ (ebd.) des Menschen mit Gott die menschliche Natur unberührt bliebe: Die Gnade, so wird gesagt, gehört „in dem Sinne zum Menschen, als sie diesen zu seiner wesenhaften Vollkommenheit erkräftigt“ (Siewerth, 30). Ihr Verlust bleibt daher für die menschliche Wesensnatur nicht folgenlos. Doch sind diese Folgen nicht derart, dass von einer radikalen und totalen Verderbnis der postlapsarischen Natur des Menschen die Rede sein könnte und dürfte. Sind wir, so wird rhetorisch gefragt, infolge des Falls der Sünde „böse, verdorben, verworfen geworden“ (Siewerth, 17)? Nein, lautet die Antwort, „wir sind aus Gottes Kindern Menschenkinder geworden“ (ebd.), „nicht eigentlich der Sünde verfallen, sondern der Gnadengemeinschaft mit Gott entfallen“ (ebd.) und willentlich in einer Weise auf uns selbst gestellt, die zwar nicht bereits als verkehrt, aber als der Verkehrtheit zugeneigt zu beurteilen ist. Der erbsündentheologische Begriff der Konkupiszenz bezeichnet in diesem Sinne etwas, was zwar vor Gott nicht sein soll, ohne deshalb bereits stricte dictu Sünde zu sein. Dass die Differenzierung zwischen einer Sünde im eigentlichen und uneigentlichen, nicht eigentlich sündig zu nennenden Sinn mit der urstandstheologisch vorausgesetzten Unterscheidung von Natur und übernatürlicher Gnade zusammenhängt, ist leicht zu sehen. Unschwer zu erkennen ist auch, dass Luthers abweichende Fassung des Konkupiszenzbegriffs eine Folge seiner differenten Bestimmung der Natur-Gnade-Thematik darstellt. Um nicht zu abstrakten und pauschalen Urteilen zu gelangen, wird man also den Gesamtduktus der jeweiligen Argumentation zu beachten haben. Dass die Lehre von der totalen und radikalen Verderbtheit der postlapsarischen Natur des Menschen einen naturalistischen
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Determinismus oder vergleichbare Aberrationen mehr oder minder zwangsläufig nach sich ziehe, kann nur behaupten, wer den lutherischen Begriff menschlichen Wesens in ein Natur-Übernatur-Schema zwängt, welchem er sich nicht fügt, und zugleich die Differenzierungen unterschlägt, welche diesem Begriff im reformatorischen Kontext sowohl in schöpfungstheologischer als auch in hamartiologischer Hinsicht zuteil wurden. Nicht weniger wichtig als die Natur-Übernatur-Lehre und ihre jeweilige Beurteilung ist für das Verständnis hamartiologischer Kontroversen der konfessionellen Traditionen das Problem der Beziehung, die zwischen Menschheitsgattung bzw. menschlicher Gattungsnatur und dem Wesen hergestellt wird, welches die Bestimmung des Menschen als Menschen ausmacht. Dieses Problem betrifft die überlieferte Sündenlehre mehr oder minder in allen ihren Aspekten und führt zugleich die Frage mit sich, ob diese in ihrer übernommenen Gestalt mit Gründen weiterhin vertretbar sei. In der Neuzeit wurde dies vielfach bestritten, angefangen bei der neologischen Kritik und Zersetzung der klassischen Erbsündenlehre. Diese enthält wesentlich drei lehrhafte Bestimmungsmomente, die für sie konstitutiv sind: Die Lehre von einem status integritatis, in dem sich die Stammeltern des Menschengeschlechts vor ihrem Sündenfall befanden; die Lehre vom Fall der Sünde, der ihre Vertreibung aus dem Urstand, der ihrer kreatürlichen Wesensnatur entsprach, auf schuldhafte Weise bewirkte; die Lehre von den Konsequenzen der Ursünde für das auf Adam und Eva folgende und aus ihnen hervorgehende Menschengeschlecht, wie sie der Erbsündenbegriff einschließlich der üblen Folgen zusammenfassend umschreibt, die mit dem Fall der Sünde des weiteren verbunden sind (vgl. Schönborn, 67 ff., bes. 69). Die bloße Aufzählung der genannten Themenkreise genügt, um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie voraussetzungshaltig und implikationenreich die traditionelle Erbsündentheorie ist. Dass man sich von der modernen Problematisierung ihrer Voraussetzungen und Implikationen nicht nur evangelischerseits tangieren ließ, kann ein exemplarischer Blick auf die Lehre von Urstand, Fall und Erbsünde in der katholischen Theologie des 20. Jahrhunderts belegen (vgl. Köster). In der neueren römisch-katholischen Theologie Tendenzen neuerer hat die Lehre vom peccatum originale vielfältige katholischer Theologie Wandlungen erfahren. Auch wo die lehramtlichen Vorgaben des Trienter Konzils und der von diesem bekräftigten Synodalbeschlüsse von Karthago 418 und Orange 529 (vgl. DH 231; 398 ff.; 1511 f., 1514) formal unangetastet blieben, erfolgte ihre Rezeption in einem Kontext und unter Prämissen, die zu erheblichen inhaltlichen Transformationen führte. Dies betrifft in exegetischer Hinsicht etwa die Funktion, die Röm 5,12 traditionell für die Begründung der Erbsündenlehre zugedacht wurde, und unter systematischen Gesichtspunkten letztlich den protologischen Gesamtzusammenhang überhaupt, der in vielen seiner ehemals als elementar geltenden Voraussetzungen fraglich geworden ist. Zu denken ist in erster Linie an die Urstandsvorstellung als Prämisse der Annahme eines originären Sündenfalls und einer Erbsünde. Nicht wenige
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römisch-katholische Theologen der Gegenwart stellen in Abrede, dass mit einem dem Fall der Sünde zeitlich vorausliegenden, realhistorischen Urstand zu rechnen sei, in dem paradiesische Verhältnisse geherrscht und Adam und Eva in Übereinstimmung mit ihrer ursprünglichen Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit gelebt hätten. Der prälapsarische Status, so wird beispielsweise gesagt, sei niemals eine situative Gegebenheit innerhalb der empirisch zugänglichen Welt gewesen. In seiner historisch-prähistorischen Festsetzung und in den Annahmen, die sich mit ihr verbänden, reflektiere sich vorstellungshaft eine Ursprungserfahrung menschlicher Selbstwahrnehmung, die ihren Ort nicht in der Außen-, sondern in der Innenwelt habe und mit dem Bewusstsein einer eingetretenen Entfremdung zwischen Mensch und Gott, Mensch und Mitmensch sowie Mensch und Welt untrennbar verbunden sei. Die Vorzüge, die mit dem durch den Fall der Sünde verlorenen status integritatis traditionell assoziiert würden, erklärten sich aus diesem Integritätsund Kontrastempfinden, wobei zu diskutieren sei, um welche Prärogativen es sich handle, wie sie im Einzelnen zu bestimmen seien und ob ihre Gegebenheit wesenhaft geschöpflicher oder supra-, trans- oder extranaturaler Art sei. Die diesbezüglichen Kontroversen beziehen sich etwa auf das Problem adamitischer Immortalität (vgl. DH 222, 231, 372, 1511), auf den Zusammenhang von Tod und Sünde sowie auf das Verständnis der Konkupiszenz. So unterschiedlich die Beurteilungen dieser Fragenkomplexe häufig ausfallen: einig ist man sich unter den an deutschen Universitäten oder im euroamerikanischen Hochschulbereich lehrenden römisch-katholischen Theologen des 20. und des 21. Jahrhunderts mehrheitlich darin, dass der Vorstellung eines empirisch fassbaren und realiter zur Kenntnis zu bringenden Urstandes der Abschied zu geben sei. Ein vergleichbares Schicksal teilt in der Regel die überkommene Monogenismusidee und die These, alle Menschen stammten von Adam und Eva ab, die am Anfang der Menschheitsgeschichte als Urelternpaar in empirisch fassbarer Weise existiert hätten. Dagegen werden nicht nur wissenschaftlich-weltanschauliche Gründe namentlich evolutionsbiologischer Art, sondern auch exegetische geltend gemacht: Die jahwistische Schöpfungsgeschichte setze einen adamitischen Urstand nicht voraus; die Vorstellung eines status integritatis, wie die traditionelle Dogmatik sie pflege, sei jenseits ihres Horizonts gelegen. Mit dem biblischen „Adam“, Eigenname und Mensch im Allgemeinen, sei „einfach der Anfang der Menschheit in ihrer Einheit gemeint“ (Vorgrimler, 120; bei V. teilweise kursiv). Hat die Vorstellung eines in der Erfahrungswelt gegebenen Urstands des Menschengeschlechts als erledigt zu gelten, so erübrigt sich auch die Annahme eines adamitischen Falls der Sünde. Das heißt nicht, dass mit dem Faktum dessen, was die Überlieferung peccatum originale nennt, nicht zu rechnen sei. Kein römischkatholisch zu nennender Theologe wird auf diesen Schluss verfallen. Doch wird von den meisten das Faktum der Ursünde nicht historisch und mit einem Fall identifiziert, der sich einmal in einer bestimmten Zeit ereignet hat. Die kritischen Folgerungen, die sich hieraus bezüglich der Erbsündenlehre ergeben, liegen auf
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der Hand. Ist ein erster Mensch historisch nicht namhaft zu machen und der Fall der Ursünde keiner chronologisch fassbaren Zeit zuzuweisen, dann kann von einem in geschichtlichen Generationenfolgen sich fortpflanzenden Sündenerbe nicht länger die Rede sein und zwar ganz abgesehen von den Problemen, die mit dem Terminus Erbsünde ansonsten verbunden sind. Ohne Monogenismustheorie ist die traditionelle Lehre vom Sündenfall des Protoplasten ebenso wenig zu halten wie die überkommene Erbsündenlehre. Daraus muss keineswegs zwangsläufig die theologische Preisgabe der Rede vom peccatum originale folgen. Aber die Faktizität der Ursünde und ihrer universalen Folgen lassen sich nicht mehr historisch und mittels einer historischen Generationenfolge begründen. Die Ansätze zu einer alternativen Begründung der traditionellen Lehre vom peccatum originale bzw. der Erbsündenlehre können vielfältig sein: zumeist sind sie darauf ausgerichtet, mit der Adamsvorstellung und der Vorstellung eines adamitischen Falls zugleich Individualitäts- und Sozialitätsgedanken zu assoziieren, um den Urmenschen sowohl individuell als auch in gattungsallgemeiner Weise zu kennzeichnen sowie die Ursünde als ein Faktum zu charakterisieren, das den einzelnen Menschen und die gesamte Menschheit wenn auch nicht gleichermaßen, so doch zugleich betrifft. Ursprungssünde ist persönliche Schuld und individuell zurechenbar, aber nicht minder eine soziale Tatsache von gattungsgeschichtlichen Dimensionen, deren Wirkung bis in die Sphäre des Extrahumanen hinabreicht. Als Ursünde ist das peccatum originale nicht Sünde eines historisch-zeitlich fixierbaren Anfangs, sondern dasjenige, was in allem sündigen Beginnen abgründig wirksam ist und das Verhängnis der Schuld ausmacht. Man lese die einschlägigen Beiträge Karl Rahners und anderer namhafter römisch-katholischer Theologen (vgl. Köster, 180 ff.; ferner bes. 120 ff.), um sich davon zu überzeugen, dass die Erbsündenlehre und mit ihr die traditionelle Lehre von Urstand und Sündenfall nicht nur unter sog. neuprotestantischen Bedingungen grundlegend problematisiert wurden. Die Schwierigkeiten, die der Rezeption klassiAbschied von der scher Vorstellungsweisen christlicher TheologietraErbsünde? dition und namentlich der Erbsündenvorstellung in der Moderne entgegenstehen, lassen sich weder durch ignorantes Beharren noch durch apologetische Anpassungsstrategien, sondern nur durch Besinnung auf die Anliegen beheben, welche für die Lehre vom peccatum originale bzw. originis jenseits ihrer obsolet gewordenen Vorstellungsformen gedanklich kennzeichnend und bestimmend sind. Eine solche Besinnung wird am ehesten dazu beitragen, über kontroverstheologische Gegensätze der Vergangenheit aktuell hinauszugelangen. Die traditionelle Lehre von der Ur- bzw. Ursprungssünde vereint in differenzierter Weise zwei Gesichtspunkte in sich, die theologisch auch unter der Voraussetzung zu wahren sind, dass ihre vorstellungshafte Verbindung im Sinne einer empirisch aufweisbaren und chronologisch bemessbaren historischen Zeitabfolge nicht haltbar ist. Unter einem ersten Gesichtspunkt werden traditionell Adam und Eva ins Auge gefasst, die aber ihrerseits bereits in doppelter Perspektive in Betracht kom-
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men, nämlich einerseits als Einzelmenschen, andererseits in ihrer Rolle als Stammelternpaar, die sie zu genuinen Repräsentanten des ganzen Menschengeschlechts macht. Dieser Doppelaspekt hält sich im Blick auf den Sündenfall durch; er ist zum einen ihr ureigener Fall, zum anderen aber mit Implikationen versehen, die in der Folge die ganze Menschheit betreffen. Der Begriff der Erbsünde bezieht sich auf diese Folgen, indem er die Konsequenzen des peccatum originis benennt. Doch iteriert auch unter dem erbsündentheologischen Gesichtspunkt der traditionellen Lehre vom peccatum originale die bezeichnete Doppelung. Zwar scheint der Erbsündenbegriff einseitig den Gattungsaspekt zu akzentuieren, wenn er von einem Sündenerbe spricht. Doch verbindet sich mit ihm in der Tradition stets auch eine gegenläufige Betrachtungsweise, die den Aspekt persönlicher Verschuldung akzentuiert, um eine Naturalisierung und Fatalisierung des Sündengedankens zu verhindern. In gewisser Weise revoziert der Erbsündenbegriff immer zugleich, was er besagt. Dieses begriffliche Dilemma ist im Übrigen nicht auf ihn beschränkt, sondern lässt sich genau besehen in der traditionellen peccatum originale-Lehre insgesamt erkennen und hängt mit der grundlegenden Schwierigkeit zusammen, die beiden erwähnten hamartiologischen Blickrichtungen ins rechte Verhältnis zu setzen. Einmal wird der Sünder als Einzelner, dann wieder unter Gattungsgesichtspunkten und umgekehrt ins Auge gefasst. Das eine Mal liegt der Akzent auf individuell-subjektiver Freiheit, das andere Mal auf gattungsmäßig-kollektiver Abhängigkeit. Man könnte so fortfahren, würde aber immer nur Variationsformen jener Problemkonstellation antreffen. In der überkommenen Lehrtradition scheint das bezeichnete Problem dadurch gelöst zu sein, dass man beide Aspekte zunächst jeweils getrennt vorstellig werden lässt, um sie jeweils erst im Nachhinein zu verbinden, wie das der Grundvorstellung der Paradiesbewohner und Ursprungssünder Adam und Eva einerseits und der aus ihnen hervorgehenden, den Konsequenzen der Ursünde unterworfenen Nachfolgegenerationen des Menschengeschlechts entspricht. Doch bedarf es keines großen Interpretationsvermögens, um zu zeigen, dass die Traditionsvorstellung das hamartiologische Grunddilemma weniger löst als beständig reproduziert. Man muss im Grunde gar nicht äußere Einwände bemühen, wie sie etwa von den modernen Naturwissenschaften vorgebracht wurden, um der Problematik der traditionellen peccatum originale-Lehre ansichtig zu werden. Diese lässt sich gewissermaßen von innen her namhaft machen, was dann freilich neue Fragen hervorruft, die theologisch tiefer reichen als diejenigen, welche die berechtigte Kritik des vorneuzeitlichen Vorstellungskomplexes provozierte. Denn nicht auszuschließen ist, dass sich die Schwierigkeiten, welche sich mit diesen verbanden, auch unter Voraussetzung ihrer Preisgabe und unter den Bedingungen gesteigerter Begriffsanstrengung nicht lösen lassen, weil sie im Gegenstand der Hamartiologie selbst begründet liegen. Das Vorstellungsdilemma wäre dann sozusagen nur die Außenseite des Problems, das dem hamartiologischen Begriff als solchen innewohnt, sofern ihm ein Grundverkehrtes und in sich Widriges zu bedenken aufgegeben ist, welches ihn an die Grenzen seiner selbst zu führen und sein Fassungsver-
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mögen zu sprengen droht. Ohne Wahrnehmung ihrer inneren Aporie, so scheint es, kann christliche Hamartiologie die theologische Aufgabe nicht erfüllen, zu der sie bestimmt ist. Man hat gesagt, Angelpunkt einer Neuerschließung der Lehre vom peccatum originale sei „die Überwindung eines Personbegriffs . . . , der die Natur naturalistisch und die Subjektivität spiritualistisch interpretiert und beide radikal einander entgegensetzt“ (Spaemann, 63). Diese Bemerkung ist zutreffend, auch wenn die bezeichnete Aufgabe alles andere als leicht zu bewerkstelligen ist. Sicherlich nicht lösen lässt sie sich mit einer mehr oder minder gewundenen Apologie eines überkommenen Monogenismus, der annimmt, dass alle natürlich gezeugten und empfangenen Menschen von einem zahlenmäßig einzigen Menschenpaar generativ abstammen. Hinweise wie etwa derjenige, wonach „der Monogenismus in allerjüngster Zeit durch die genetische Forschung eine unerwartete Stützung erfahren“ (Spaemann, 49) habe, sind kaum hilfreich. Die Annahme eines gattungsmäßignaturhaften Einheitszusammenhangs des Menschengeschlechts und seiner Generationenfolge ist zweifellos unverzichtbar. Aber sie hängt nicht an der vorauszusetzenden Vorstellung eines realexistierenden Stammelternpaars, so sinnträchtig diese Vorstellung unzweifelhaft ist. Die Menschheit bildet ein einziges Genus und zwar nicht lediglich auf spirituell-ideelle, sondern auf durchaus reale und naturale Weise. Insoweit besteht der Begriff des Monogenismus zu Recht. Doch lässt sich sein Gehalt auch ohne die Prämisse eines biologischen Stammelternpaars wahren. Es ist nicht einzusehen, warum deren Preisgabe als Alternative nur jene Interpretation von Urstand und Fall zuließe, „die Origenes vertrat und die in der esoterischen Tradition immer lebendig geblieben ist, nämlich die Verlegung des Paradieses und des Sündenfalls in einen strikt vorgeschichtlichen Raum und die Interpretation der irdischen Existenz des Menschen von Anfang an als eine Existenzform, die sich bereits einem Abfall verdankt“ (Spaemann, 48). Dem ist entgegenzuhalten, dass von den Vorstellungen vom Urstand des Protoplasten und vom Sündenfall von Adam und Eva zwar weder ein objektiver historischer noch ein entsprechender prähistorischer Gebrauch zu machen ist, dass sie aber unbeschadet dessen eine unverzichtbar konstruktive und regulative Funktion für den theologischen Gesamtzusammenhang einnehmen. Sie haben die Gewissheit genuiner Bestimmung von Selbst und Welt mit dem Bewusstsein ihrer faktischen Verfehlung reflexiv zu verbinden, die als Schuld persönlich und zwar so bekennen ist, dass spirituelle und naturhafte, individuelle und kollektive, aktuale und originale zugleich, wenn auch nicht in gleicher, sondern in differenzierter Weise wahrgenommen werden. Die Sünde des Menschen ist immer beides zugleich: Willens- und Wesensverfehlung, Bosheit von Geist und Natur, bewusster Akt und Folge triebhaften Verlangens. Dabei gehört es zur Widrigkeit, die der Sünde eigen ist und sie charakteristisch kennzeichnet, dass in ihr Wille und Wesen, Geist und Natur, Bewusstsein und sinnlicher Trieb usf. zwar stets und untrennbar zusammenwirken, aber nie auf einträchtig-harmonische, sondern immer auf disharmonisch-zwieträchtige Weise.
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Dies erschwert die Analyse sündiger Verkehrtheit nicht nur, sondern macht sie in gewisser Hinsicht theoretisch und praktisch unmöglich. Doch bestätigt diese Unmöglichkeit nur den religiösen, nämlich transmoralischen und transrationalen Charakter des Sündenbegriffs, der hamartiologisch in Rechnung zu stellen ist, wenn die Sündenlehre theologisch begriffen werden soll. Ohne Gott und seine Offenbarung kann es keinen Begriff der Sünde und keine Erkenntnis geben, die ihrer begriffsdestruktiven und gegen alle Vernunft gerichteten Sinnwidrigkeit gewahr wird. Zwar steht der theologische Sündenbegriff in Beziehung zu allem, was böse zu nennen ist. Doch werden der Abgrund und die Radikalität des Bösen nach theologischem Urteil nicht durch theoretische und praktische Vernunft allein, sondern nur durch offenbare Religion ermessen, die zwar auf Denken und Handeln bezogen ist, beide aber zugleich transzendiert. Was Sünde heißt, verkehrt nicht nur die Welt- und Selbstbeziehung des Menschen, sondern die Beziehung zu Gott als dem Grund von Selbst und Welt. „Darüber besteht unter allen – dieses Namens würdigen – Theologen Einverständnis.“ (Jüngel, Evangelium von der Rechtfertigung, 79) Als abgründige Verkehrung seines GrundverhältTheologisches nisses, der Beziehung zu Gott, verkehrt die Sünde Einverständnis den Menschen von Grund auf und in einer Weise, die seiner Bestimmung zuwider ist. Davon ist nicht zuletzt die menschliche Freiheit betroffen. Zwar enthält der Vollzug der Sünde als implizite Prämisse die Freiheitsbestimmung des Menschen, die nicht lediglich formaliter, sondern materialiter zu denken ist, nämlich als wirkliche Konformität mit dem göttlichen Grund der Freiheit im Modus kreatürlicher Differenz; der sündige Vollzug verkehrt diese Freiheitsbestimmung aber eo ipso und ipso facto. Im Sündigen wendet sich die Freiheit von ihrem Grund ab, kehrt sich gegen sich selbst und bringt sich um sich, so dass sie „in eine Unfreiheit stürzt, aus der sie nur durch die Gnade Gottes befreit wird“ (Rahner, 1179). Allein die Gnade Gottes ist es auch, durch welche der sündige Mensch zu heilsamer Erkenntnis seiner Sünde und zu einem Bewusstsein seiner Schuld im Sinne wahrhafter Reue gelangt. Zwar weiß der sündige Mensch vermöge seiner geschöpflichen Wesensbestimmung, die ihm das göttliche Gebot in Erinnerung bringt, auch von sich aus in einer mehr oder minder entwickelten Weise um seine Verfehlung. Aber dieses Wissen gereicht ihm solange nicht zum Heil, sondern zum Unheil, bis das Evangelium ihm die Sündenvergebung um Christi willen aus Gnade auf Glauben hin zuspricht. Die Lehre von der Erbsünde, heißt es in Herbert Vorgrimlers Studie zum einschlägigen Dogma in der römisch-katholischen Doktrin, ist „im Grunde eine Lehre über die Gnade Gottes in Jesus Christus. Darum konnte die Erbsünde auch erst ganz und eindeutig erkannt werden, als die Gnade Gottes in Jesus Christus erkannt war, noch nicht also in der Genesis, wohl aber im Römerbrief.“ (Vorgrimler, 127) Zwar setzen Christologie und Soteriologie Erbsünden- und Schöpfungslehre voraus. Aber was es mit dieser Voraussetzung und insbesondere mit der Unterscheidung zwischen dem Menschen als Gottesgeschöpf und als Sünder auf
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sich hat, kann nicht ohne Bezug auf die Heilsoffenbarung in Jesus Christus zu klarer Erkenntnis gebracht werden. Diese lässt eindeutig erkennen, wovon der Mensch zwar faktisch eine Ahnung hat, ohne doch zu entsprechender Gewissheit zu gelangen, nämlich dass er zum einen als Gottes Ebenbild erschaffen und zur Gotteskindschaft bestimmt ist und dass er zum anderen diese Bestimmung von Grund auf verfehlt und sich damit zugleich um die Möglichkeit gebracht hat, zwischen sich selbst als Geschöpf und als Sünder zu differenzieren. Diese Selbstunterscheidungsmöglichkeit ist für den Sünder durch den Fall der Sünde gänzlich verlorengegangen, was in seiner ausweglosen Aporetik zu erkennen der Skopus der Erbsündenlehre im Kontext einer ganz und gar auf das Heil des Menschen ausgerichteten Gesamtdogmatik ist. Der Erbsündenbegriff ist missverständnisträchtig und vom Begriff des peccatum originale her zu interpretieren. Geschieht dies, dann lässt sich ihm eine Beschreibung des faktischen Zustandes des heilsbedürftigen Menschen entnehmen: er findet sich im Vollzug seiner selbst immer schon in einem gottwidrigen Wirklichkeitszusammenhang vor, der ihn nicht nur von außen her, sondern innerlich dergestalt bestimmt, dass er selbst ihn von sich aus setzt und tätigt. „Erbsünde im Sinne von peccatum originale besagt, daß jeder vom Wort der Wahrheit auf sich selbst angesprochene Mensch sich selbst als immer schon unter dem auch von ihm erzeugten Zwang zum Drang in die Verhältnislosigkeit existierend erkennen muß.“ (Jüngel, Lehre vom Bösen, 185 f.) Die Lage des Sünders ist paradox und aporetisch: Er „will sein, was er tut“ (Jüngel, Lehre vom Bösen, 186) und „muß tun, was er ist“ (ebd.). Die Lehre von der Erbsünde bringt hamartiologisch eine paradoxe und aporetische „Doppelheit von Verantwortung und Verhängnis“ (Lange, 290) zum Ausdruck, die weder theoretisch aufzulösen noch praktisch zu beheben ist. Die Sünde fällt in die Verantwortung des Menschen, der schuld an ihr ist, und sie ist zugleich in einer Weise über ihn verhängt, die schicksalhaft anmutet. Darin scheint nicht nur, sondern ist tatsächlich ein Widerspruch begründet, der zum Unwesen der Sünde gehört wie der falsche Schein, den sie beständig erzeugt, um abzulenken von dem, was wahrhaft ist. Die Sünde treibt ihr Unwesen just darin, dass sie Widersprüchliches in sich enthält. Sie behaftet den Sünder bei seiner unabweisbaren Verantwortlichkeit, der er sich auch dadurch nicht entziehen kann, dass er sie leugnet oder verkennt; und sie waltet über ihn wie ein fatales Geschick, gegen das er nicht ankommt, sondern dessen Übermacht er erliegt. Diese Widersprüchlichkeit wird in der Erbsündenlehre namhaft gemacht. Ihre hamartiologische Pointe besteht nicht darin, den Akt der Sünde monogenetisch auf die Urtat eines vermeintlich ersten Menschen oder auf den Geschlechtsakt zurückzuführen, der seit Menschengedenken am Uranfang jedes einzelnen Menschenlebens stand und zumeist auch heute noch steht. Durch eine solche Reduktion würde, was peccatum originale heißt, nicht nur unstatthaft veräußerlicht, sondern förmlich verkannt. Der Skopus der Erbsündenlehre besteht nicht in einem solchen Reduktionismus, sondern darin, den Widerspruch zwischen Verantwortlichkeit und Ver-
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hängnis als zur Verkehrtheit der Sünde gehörig zu identifizieren und zu benennen, dass die in sich verkehrte und widersprüchliche Unart des peccatum originale von einer allgemeinen Reichweite ist, deren Bannkreis sich kein Individuum eigenmächtig entziehen kann. Dem Unwesen der Sünde ist weder durch ursächliHamartiologische Aporie che Erklärung noch dadurch beizukommen, dass man prinzipiell und definitiv feststellt, eine solche sei nicht möglich. Beide Vorgehensweisen verfehlen das hamartiologische Thema. Die Frage nach der causa peccati ist nicht zu unterdrücken; sie ist vielmehr zu stellen, „um das Unvermögen, sie zu beantworten, zu erlernen. Die kausale Unerklärbarkeit des Bösen ist eine Einführung in des Böse.“ (Mostert, 454) Besteht der thematische Gegenstand der Hamartiologie doch in einer Aporie, die weder vernünftigerweise zu leugnen noch durch vernünftige Erklärung aufzuheben ist. Meint man, dem Unwesen der Sünde durch ursächliche Erklärung beikommen zu können, dann liegt eine Verkennung des peccatum originale ebenso vor wie für den Fall, dass man sich bei seiner Unerklärlichkeit beruhigt. Dieser zwiefachen Verkennung ist offenbar nur durch die Erkenntnis zu begegnen, dass sich das Unwesen der Sünde nicht anders als in einer Doppelheit scheinbar gegenläufiger Aussagen benennen lässt. Sie ist Akt der Freiheit und Erleiden von Knechtschaft, zu verantwortende Tat und fatales Geschick, individuelle Verfehlung und allgemeines Versagen. Sie hat keine andere Ursache als sich selbst und ist, indem sie sich gegen die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit wendet, eine unableitbare Setzung mit Unbedingtheitsanspruch, der auf schierer Anmaßung beruht. Diese Anmaßung ist provoziert durch Verhältnisse, die in der conditio humana als solcher begründet zu liegen scheinen und etwas zu tun haben nicht allein mit den sozialen, sondern auch mit den natürlichen Bedingungen des menschlichen Daseins. Doch sind es hinwiederum nicht diese Bedingungen als solche, sondern das verkehrte Verhalten zu ihnen, welches die Sünde ausmacht. Ihr Verhängnis ist insofern nicht äußerer Art, sondern selbstverhängt, ohne deshalb aufzuhören, fatales Geschick zu sein. Im Unterschied zu einer Reihe seiner Kollegen, die für eine Verabschiedung der traditionellen Erbsündenlehre plädieren und dafür pelagianisierende Tendenzen billigend in Kauf nehmen, hat sich der römisch-katholische Theologe S. Wiedenhofer nicht nur für ihre modifizierte Beibehaltung, sondern auch dafür ausgesprochen, ihr eine „metadogmatische“ (Wiedenhofer, „Erbsünde“, 41 ff.) Funktion zuzuerkennen. Als regulatives Prinzip markiere die Lehre von der Erbsünde zum einen die kirchliche Grenze sowohl gegen den Manichäismus als auch gegen den Pelagianismus (vgl. Wiedenhofer, Lehre, 50 f.), um zum anderen die Zusammengehörigkeit zweier vermeintlich kontradiktorischer Glaubenseinsichten konstruktiv zur Geltung zu bringen, nämlich die der Freiheit des Menschengeschöpfs zuzurechnende Schuld der Sünde sowie ihren freiheitsdestruktiven und -pervertierenden Machtcharakter, der nicht durch ein verbleibendes Eigenvermögen des Sünders, sondern nur von Gott und seiner Selbstoffenbarung her gebrochen wer-
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den könne. Der von vielen erhobenen Forderung eines „Abschied(s) von der Erbsünde“ (Wiedenhofer, „Erbsünde“, 37) sei nicht stattzugeben, da die „Grunderfahrungen, die das Erbsündendogma bezeugen und festhalten will, heute eher an Evidenz als an Problematik gewonnen zu haben“ (Wiedenhofer, Stand der Erbsündentheologie, 370) scheinen. Trotz des „desolaten Eindruck(s)“ (ebd.), den sie aktuell erwecke, sei die Theologie der Erbsünde bleibend unverzichtbar. Wenngleich es sich empfehle, mit Karl Barth „das Wort ‚Erbsünde‘ fallen zu lassen und (in Übersetzung von peccatum originale) vielleicht von des Menschen ‚Ursünde‘ zu reden“ (Barth, 558), so dürfe doch die auch dieser Rede innewohnende Problematik nicht übersehen und durch eilfertige Lösungen zum Verschwinden gebracht werden. Könne doch nicht ausgeschlossen werden, dass die Aporie, vor die sich die Hamartiologie nachgerade in begrifflicher Hinsicht gestellt sehe, in ihrem Thema, nämlich im vernunftwidrigen Unwesen der Sünde selbst begründet liege. Jedenfalls werde die Theologie nicht nur, aber gerade in der Hamartiologie mit Problemen zu rechnen haben, die theoretisch nicht lösbar seien, sondern der Erlösung harrten. Sünde ist ein religiöser Begriff. Die Aporien, die mit ihm verbunden sind, lassen sich ohne Bezug auf Religion und religionsbegründende Offenbarung weder eindeutig namhaft machen noch beheben. Dies spricht dafür, den, mit der Nomenklatur von Julia Knops zu reden, offenbarungstheologischen Hamartiologietyp mit dem fundamentalanthropologischen und dem transzendentalphilosophischen in differenzierter Weise zu verbinden. Erst im Lichte der Selbstoffenbarung Gottes erhellt eindeutig und endgültig, was es mit Schöpfung und Sünde auf sich hat. Zwar wirkt nicht erst der Offenbarungsglaube Erkenntnis der Schöpfung und Erkenntnis der Sünde in ihrer Schöpfungswidrigkeit. Aber er und er allein vermag beide jener Zweideutigkeit zu entnehmen, die ohne als solche eindeutig identifiziert zu werden, zum Verkennen sowohl der Schöpfung als auch der Sünde und zu einer Unentschiedenheit hinneigt, die nicht lediglich ambivalent, sondern bereits verkehrt ist in sich. Ohne durch Offenbarung erschlossenen Glauben erfährt sich der Mensch zwar latent auf Gott bezogen, um ein mehr oder minder entwickeltes Bewusstsein von ihm zu gewinnen. Doch erst im und durch Glauben vermag er die Güte des Schöpfers und die Integrität seiner Schöpfung vollkommen zu erfahren und zugleich zu ermessen, was es heißt, ausweglos in Sünde verstrickt und ihr heillos verfallen zu sein.
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Ob man Goethes Mephistopheles einen richtigen Mephisto und andere Teufel nennen kann, mag dahingestellt bleiben. Teufelsgestalten Seine weltmännische Gewandtheit und sein überlegener Witz sprechen eher dafür als dagegen. Ohne sie könnte er die Zerstörung des Guten, von der er seinen Namen hat, nicht so erfolgreich ins Werk setzen, wie er es entgegen allem äußeren Anschein faktisch tut. Der Fall des Bösen ist ein geistiger Fall, der nicht in den Niederungen der sinnlichen Welt, sondern in den höchsten Geisteshöhen seinen Ursprung hat. Andernfalls würde er nicht so abgründig sein wie er tatsächlich ist. Er sei der Geist, der stets verneint, lässt Mephisto Faust wissen, nachdem er in der trügerischen Gestalt eines fahrenden Scholaren hinter dem Ofen des Studierzimmers aus dem Nebel hervorgetreten war, um sich zugleich vorzustellen und zu verstellen. Er nennt sich einen „Teil der Kraft, die stets das Böse will, und stets das Gute schafft“. „Was ist mit diesem Rätselwort gemeint?“ fragt Faust. Die besagte Antwort löst das Rätsel nicht, sondern gibt neue Rätsel auf und erzeugt jene Aura eines undurchschaubaren Geheimnisses, die dem Bösen eignet und einen Großteil seiner Unheimlichkeit ausmacht. Dies gilt umso mehr, als der Geist steter Verneinung sein Vernichtungswerk mit dem Schein des Guten und Rechten versieht. Das Böse schaffe durch Negation in Wirklichkeit Positives, weil es gut und recht sei, dass alles je Entstehende und Entstandene zugrundegehe. Der Wert der Genesis wird prinzipiell negiert: „Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.“ Der Teufel ist ein Nihilist, sein Ein und Alles das Nichts, dem er Macht zu verschaffen sucht über alles, was ist, um dem Seienden je nach seiner Art ein Ende, den Tod oder die Hölle zu bereiten: „So ist denn alles, was ihr Sünde, / Zerstörung, kurz das Böse nennt, / Mein eigentliches Element.“ Damit scheint das Unwesen des Bösen von ihm selbst definiert; doch es scheint nur so: denn es ist nicht Mephisto, der das Böse böse nennt. Was er sagt, ist lediglich, dass es allgemein so genannt werde, ohne es doch, wie man hinzufügen darf, seiner – des Mephistopheles eigener – Einschätzung nach wirklich zu sein. Denn für ihn wird, was er sein eigentliches Element heißt, ja als das höchste und im Grunde einzige Gut affirmiert. Als Kenner der Materie differenziert Mephisto den Begriff des Bösen nach zwei Seiten hin, um zwischen dem malum der Sünde und demjenigen der Zerstörung zu unterscheiden. Das Werk der Zerstörung ist auf die äußere Welt bezogen, deren Annihilierung der Malefikus intendiert. Das innere Unwesen des Bösen hinwiederum wird in demjenigen manifest, was Sünde heißt und offenkundig böser ist als das malum physicum. Es wird daher vorgezogen und an erster Stelle benannt, weil es, wie man unterstellen darf, dem Teufel lieber ist als alle Weltübel zusammen. Mit Sünde und Zerstörung sind von Mephisto die Dimensionen des Bösen anthropologisch und kosmologisch markiert, wobei der kundige Hamartiologe weiß, dass sich im Falle des Menschen weltbezügliches und selbstbezügliches Böses zwar unterscheiden, nicht aber trennen lassen. Doch besteht nicht darin die eigentümliche Pointe der boshaft kurz gefassten malum-Lehre. Ihre teuflische Bosheit
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liegt vielmehr in der Prämisse begründet, unter der sie entwickelt wird. „Denn das ist das Auffälligste an seinen (sc. Mephistos) Worten, daß er gar nicht ‚das‘ Böse als sein ‚eigentliches Element‘ bezeichnet, sondern nur dasjenige, ‚was ihr . . . das Böse nennt‘.“ (Michelsen, 231) Unter dieses Vorzeichen, das darauf angelegt ist, alles Folgende umzuwerten und ins Gegenteil zu verkehren, ist die ganze mephistophelische Hamartiologie in der diabolischen Absicht gestellt, das Böse nicht nur zu entpejorisieren, sondern zu einem prinzipiellen Gut zu erheben gemäß dem Grundsatz: „Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war.“ Am Anfang war das Nichts. Was aus ihm hervorging und aus der Finsternis ans Licht kam, ist im Grunde bloßer Schein, der sich für wesentlich hält, ohne es zu sein. Als nichts denn als leerer und eitler Schein hat nach Mephisto nachgerade dasjenige zu gelten, was zwar gut heiße, in Wirklichkeit aber ein bloßes Derivat des Bösen sei, welches böse zu nennen „nichts als Menschenwerk, Menschenwahn“ (ebd.) bedeute. Das Böse in Form von Sünde und Zerstörung ist nach Urteil des Mephistopheles recht und gut nicht obwohl, sondern weil es durch sein Negations- und Vernichtungswerk alles dahin zu befördern sucht, woher es kam, nämlich ins Nichts. Wahnhaft sei es dagegen, sich an das vermeintlich Gute zu halten und das ihm Widerstrebende für ungut zu erachten und zu verteufeln. Sei doch der Teufel in Wahrheit der Einzige, auf den wirklich Verlass sei, weil er halte, was er verspreche, wohingegen alles andere ein Hirngespinst darstelle, das Lug und Trug nur für eine kurze Weile zu verbreiten vermöge, bis das Nichts den Schein des Seins auflöse und dem ganzen Spuk der Existenz von Mensch und Welt ein Ende bereite. Goethes Mephisto sagt all dies nicht ausdrücklich, aber doch in Form jenes beredten Schweigens, aus dem sich heraushören lässt, worauf der Seelenverführer hinaus will. So wie er sich auf die diabolische Kunst versteht, die Wahrheit zu verbergen, indem er sie ausspricht, so weiß er auch, dass er mit offenen Ohren nachgerade für Ungesagtes rechnen darf, dessen geheime Botschaft, ohne geäußert zu werden, ins Innerste eindringt: „Es klopft? Herein! Wer will mich wieder plagen? / Ich bins. Herein! Du mußt es dreimal sagen. / Herein denn! So gefällst Du mir!“ Im dreimaleinen Herein, mit welchem Faust dem Bösen gefällig ist, ihm nolens volens die Tür öffnet und Einlass gewährt in sein Inneres, um sich mit ihm zusammenzuschließen und zu verbünden, äußert sich eine selbstwidersprüchliche Verkehrtheit, die im Gegensatz steht zur göttlichen Trinität und den sinnwidrigen Inbegriff des Teuflischen darstellt. Der Name des Teufels in Goethes „Faust“ setzt sich zusammen aus den hebräischen Wörtern mephir, was so viel heißt wie Zerstörer, Verderber, und tophel, Lügner. Ähnliches bedeutet Satan, nämlich Schädiger, Widersacher, auch Ankläger in der himmlischen Ratsversammlung (vgl. Sach 3,1 f.; Hiob 1,6 ff.); die Septuaginta übersetzt durchweg mit diabolos, der Aus- und Durcheinanderbringer, der Widersacher und Feind. „Das Widersacher-Sein wirkt sich an allen Stellen dahin aus, daß der diabolos Gott und Menschen auseinanderbringen will.“ (Foerster, 71) Auf das heillose Aus- und Durcheinander, von dem der diabolos seinen Namen hat, verweist die in der christlichen Kunst üblich
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gewordene Teufelsikonographie, indem sie den Satan als monströses Mischwesen erscheinen lässt, das bald die Gestalt eines tierisch entstellten Unmenschen, bald diejenige eines Untiers annimmt, das die zur Fratze verzerrten Züge eines Menschengesichts trägt. Das ab- und tiefgründigste Bild vom Bösen aber ist in Apk 13,11 ff. gezeichnet, wo ein gehörntes Lamm aus der Tiefe emporsteigt, um den falschen Schein des Bildes Christi mit sich zu verbinden und sich gerade so als antichristlicher Drache zu erweisen. Zu vergleichen ist 2.Kor 11,14, wo gesagt wird, der Satan tarne sich als Engel des Lichts, um nicht nur unerkannt zu bleiben, sondern verkannt und für den Inbegriff des Guten selbst gehalten zu werden. Das Äußerste dieser teuflischen Verstellung ist dort erreicht, wo sich der Antichrist mit der Aura Christi versieht, sich als Unschuldslamm geriert, um Gott zu veräffen und den Menschen dahin zu bringen, sich selbst zum Affen zu machen. Diabolos-Satan, Belial/Beliar, in den griechischen Pseudepigraphen des Alten Testaments und Die Zwietracht selbst anderwärts begegnend, Beelzebul, aus den synoptischen Perikopen Mk 3,22–27, Mt 12,22–29, Lk 11,14–22 bekannt, der erst später auftretende Sam(m)ael, um von anderen Dämonen und Teufelsgestalten zu schweigen: hinter der Vielfalt der Bezeichnungen und Namen steckt bzw. versteckt sich „durchweg derselbe“ (Dochhorn, 10), jener eine, der die Zwietracht selbst ist, und dessen Selbigkeit in nichts anderem als in widerlicher und in sich widriger Uneinigkeit sowie einer Bosheit besteht, die ganz und gar verkehrt ist. Als Feind Gottes ist der Teufel auch allem Menschlichen und der ganzen Schöpfung feind, wobei die gegen Mensch und Welt gerichtete Gegnerschaft in der teuflischen Abkehr von Gott ihren Grund, zutreffender: ihren Abgrund hat. Im Neuen Testament, wo die diabolos- und satanas-Belege ungefähr in gleicher Häufigkeit auftreten, ist der Teufel nicht nur eine bei allen Unterschieden seiner Bezeichnung identische, sondern auch eine eindeutig böse Gestalt, ja der Inbegriff des Bösen, der poneros schlechthin. In der Schöpfung seit Urzeiten wirksam und mit der zum Sündenfall verführenden Schlange gleichgesetzt wird die teuflische Bosheit, deren Ursprung und Genese offenbleibt, nach neutestamentlichem Zeugnis erst in der Endzeit zugrundegerichtet und definitiv überwunden werden. Dieser Befund entspricht weithin demjenigen in der frühjüdischen Apokalyptik, wohingegen die Satane der hebräischen Bibel weder untereinander einfachhin gleich noch eindeutig als widergöttlich zu identifizieren sind. Es spricht viel für die Vermutung, dass die alttestamentlichen Satansgestalten (Hi 1–2; Sach 3,1; 1.Chr. 21) „nicht als Feinde, sondern als Diener Gottes zu verstehen sind wie der in Num 22 als ein Satan (satan) auftretende Engel Jahwes“ (Kelly, 124). Man hat die dienende und vergleichsweise geringe Funktion von Satanen und vergleichbaren Missgestalten im Alten Testament mit dem dort vorausgesetzten „monistischen Gottesbild“ (Nielsen, 116) begründet, das eine Hypostasierung des Teuflischen zu einer eigenständigen widergöttlichen Größe nicht zulasse. „Der Schöpfergott Jahwe wird nicht nur als der einzige Gott, sondern auch als die einzige Macht verstanden. Gott macht das Licht und schafft die Finsternis, Gott gibt
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Frieden und schafft Unheil (Jes 45,7).“ (Nielsen, 115 f.) Das Problem dieser Begründung liegt nicht in dem richtigen Hinweis, dass die Einzigkeit Gottes einen Prinzipiendualismus und die Verselbständigung des personifizierten Bösen zu einer Art von Gegengottheit grundsätzlich ausschließt; problematisch ist sie wegen der ambivalenten und gegenüber dem Gegensatz von Gut und Böse tendenziell indifferenten Bestimmung der Allmacht des einen Gottes. Diese mag für Vorstufen des jüdischen Toramonotheismus zutreffen, entspricht aber nicht seiner entwickelten Gestalt, dergemäß der eine Gott seine universale Schöpfermacht allein in den Dienst seiner Gerechtigkeit stellt. Zwar lässt der gerechte Gott in seiner Weisheit die Sonne über Gerechte und Ungerechte aufgehen und scheinen; dadurch egalisiert er indes die Differenz von gerecht und ungerecht weder hinsichtlich seines Bezuges zur Schöpfung, noch gar in Bezug auf sich selbst. Gottes Einheit und universale Allmacht kann ohne seine Gerechtigkeit nicht gedacht werden; in ihm selbst findet sich nichts Ungerechtes und mithin auch kein Grund und keine Ursache des Bösen, das im Gegenteil als grund- und bodenlos sowie in sich verkehrt zu identifizieren ist. „Der Teufel“, dies trifft zu, „spielt im Alten Testament keine zentrale Rolle.“ (Nielsen, 115) Unzutreffend hingegen ist, dass in der hebräischen Bibel das Böse zu einer dienstbaren Funktion, ja zu einem beamteten Medium Gottes erklärt wird, um auf diese Weise nicht nur entmächtigt, sondern auch tendenziell entpejorisiert zu werden. Von einer Entpejorisierung des Bösen kann in Dem eigenen Abgrund Bezug auf das Alte Testament ebenso wenig die verfallen Rede sein wie von einer gegengöttlichen Teufelsapotheose. In welch zweideutigen Verstellungsgestalten das böse Unwesen auch immer erscheinen mag, der gerechte Gott identifiziert es eindeutig als das, was es ist: dem eigenen Abgrund verfallen und darin teuflisch und höllisch sowohl im Sinne einer äußerlichen antigöttlichen Macht, als auch und vor allem als eine rechtswidrige Verkehrung dessen, was Gott seinen Geschöpfen gerechterweise gebietet. Durch Abkehr von Gott und durch Verachtung seiner Gebote verteufelt sich das Böse selbst und aus eigener Schuld. Zwar ist nach Maßgabe biblischer Tradition ein prinzipieller Gott-Teufel-Dualismus theologisch ausgeschlossen, da er dem jüdischen und christlichen Monotheismus widerspricht (vgl. Dochhorn, 3 f.). Doch obwohl an sich kein gottgleicher Gegengott, sondern aus der Sphäre des Geschöpflichen stammend, ist die satanisch-diabolische Bösartigkeit des Teufels dennoch stricte dictu antigöttlich zu nennen. Wenngleich er ohne Gott nicht wäre, was er ist, ist sein ganzes Streben auf Abkehr von Gott und darauf ausgerichtet, Gottes Schöpfung durcheinanderzubringen und zu destruieren. Auf verheerendste Weise wirksam wird die nach Allverkehrung strebende teuflische Abkehr von Gott im Menschen, den Satan mit List und Lust zu verführen und nach erfolgter Verführung vor Gott anzuschwärzen und zu verpfeifen trachtet. Gemäß apokalyptischer Tradition, die unter dem besonderen Eindruck der Macht des Bösen und ihrer schuldhaften und üblen Verkehrung des Menschengeschöpfs und der Kreatur steht, ist das Ende des Teufels nicht vor dem eschatologi-
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schen Tag des Herrn zu erwarten, an welchem Gott sein Reich errichten, das Unrecht strafen und der Gerechtigkeit dergestalt Recht verschaffen wird, dass alle Bosheit mitsamt ihren üblen Folgen definitiv zugrundegehen und verschwinden wird. Die Zukunftserwartung, die im Anschluss an die jüdische Apokalyptik auf ihre Weise auch die christliche Eschatologie teilt, findet in der Vorstellung eines endzeitlichen Falls des Teufels ihren Ausdruck. Im Neuen Testament findet sie sich in Apk 12, Joh 12,31 oder in dem mysteriösen Wort Jesu Lk 10,18, wonach er den Satan wie einen Blitz vom Himmel habe fallen sehen. Zu vergleichen sind 1QM 17,5–8 („Heute ist Seine Zeit, um niederzuzwingen und zu erniedrigen / den Fürsten der Herrschaft des Frevels.“) sowie frühjüdische Belege ähnlichen Inhalts. Man hat jüngst die Überlieferungen vom Sturz einer diabolischen Gestalt in der Endzeit grundsätzlich von protologischen Teufelserzählungen abzuheben versucht, und die These vertreten, „dass der eschatologische Teufelsfall tendenziell älter ist als der protologische“ (Dochhorn, 14). Doch geht die Mehrheit der Exegeten nach wie vor von der entgegengesetzten Annahme aus, wonach die eschatologischen auf protologische Überlieferungsbestände zurückzuführen seien. Wie immer ihr traditionsgeschichtliches Verhältnis zueinander bestimmt sein mag: eine strikte Trennung zwischen protologischen und eschatologischen Teufelsfällen dürfte sich in Anbetracht der literarischen Befunde allenfalls bedingt rechtfertigen lassen, weil sich ur- und endzeitliche Motive inhaltlich vielfach durchdringen und offenkundig miteinander verbunden sind. Was die narrative Ausgestaltung der Vorstellung eines protologischen Absturzes des Teufels angeht, so nimmt sie ihren Ausgang fast immer in der Engelsphäre. Der Teufel ist ein gefallener Engel; „nicht selten wird hervorgehoben, dass er vormals eine besonders hohe Position in der Hierarchie der Engel bekleidete und dass er andere Engel mit sich zog.“ (Dochhorn, 13) Einen Überblick über die einschlägigen jüdischen und christlichen Erzählungen hat Jan Dochhorn in seiner Untersuchung „Der Sturz des Teufels in der Urzeit“ gegeben (vgl. Dochhorn, 18 ff.; 23 ff.) und zwar unter besonderer Berücksichtigung der Luzifergeschichte, „für die sich ein früher Beleg bei Origenes in ‚De Principiis‘ I,2,5 findet“ (Dochhorn, 34) und die speziell in der abendländischen Christenheit „so etwas wie eine Standardversion der Teufelsfalls geworden“ (Dochhorn, 35) ist. Danach „war der Teufel ursprünglich ein Engel, der nach dem in Jesaja 14,12–15 beschriebenen Morgenstern (Vulgata: Lucifer) benannt ist oder ihm gleicht. Er hat sich vor der Erschaffung der Welt aus Hochmut gegen Gott aufgelehnt und wurde aus dem Himmel gestürzt. Als Feind Gottes hat er sich daraufhin entschlossen, dessen Plan mit den Menschen zu vereiteln. Dazu hat der die Gestalt einer Schlange angenommen und Adam und Eva verleitet, von der verbotenen Frucht zu essen. Auf diesen rebellischen Engel sind dieser Auffassung nach auch alle biblischen Aussagen über Satan oder den Teufel zu beziehen.“ (Kelly, 124) An der Vorstellung eines durch Gottesabkehr von Engeln bewirkten urzeitlichen Teufelsfalls verdient in systematisch-theologischer Hinsicht vor allem vermerkt zu werden, dass der Ursprung des Bösen nicht in der sinnlichen, sondern in
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der geistigen Sphäre gesucht wird. Das urtümliche Unwesen des Bösen und damit dasjenige, was seine Bosheit im Innersten ausmacht, ist kein Sinnestrieb, sondern ein Motiv, das aus nichts anderem als der geistig-geistwidrigen Verkehrung der Gottesbeziehung herrührt. Sonach ist die Sünde nach Maßgabe ihres genuinen theologischen Begriffs nicht nur das ureigentlich Böse am Bösen, sondern zugleich und allein schuld an ihm, ohne diese Schuld auf andere schieben zu können, wie sehr sie gerade dies versucht. Auch im Falle des Menschen stellt es sich nach biblischem Zeugnis nicht grundsätzlich anders dar. Zwar ergreift das Böse den Menschen als leibhaftes Geistwesen nicht in vermittlungsloser Unmittelbarkeit, sondern mittels einer teuflischen Verführung. Aber der primäre Ort, in dem sich der altböse Feind diabolisch einschlängelt, um Zugang zu finden zum Menschen, ist dessen Seele und erst mittels derer der Leib, wobei sich im Falle der Sünde von Grund auf alles verkehrt, so dass die psychosomatische Schöpfungsordnung in Auflösung begriffen und alles durcheinander gebracht wird. In Zusammenfassung des biblisch orientierten Piranesis Carceri Teufelexkurses lässt sich mit K. Lüthi ungefähr folgendes sagen: „Im Bereich der Schöpfung und Herrschaft Gottes ereignet sich, ohne letztlich durchschaubare Kausalität, eine bedrohliche und böse Mächtigkeit, die sich zum Widersacher Gottes setzen will und in das Verhältnis zwischen Gott und seinem Geschöpf störend eingreift.“ (Lüthi, 271) Vorstellig wird die Macht des Bösen in Teilen der Hl. Schrift und in der kirchlichen Tradition in der Gestalt des Satan und von teuflischen Dämonen. Doch wird das Böse in seiner widrigen Verkehrtheit nie als ein den Menschen lediglich von außen bedrängendes fatales Geschick, sondern stets auch und im Tiefsten als schuldhaftes Geschehen mit verhängnisvollen Folgen sowohl für das Opfer, als auch und mehr noch für den Täter der Sünde verstanden. Das Böse ist als Sünde an sich selbst schuld, ohne dass der Sündenfall dadurch aufhören würde, ein „kausal undurchschaubares Sich-Ereignen“ (Lüthi, 275) zu sein. Man muss es so sagen: Die Sünde bemächtigt sich des Sünders durch einen Akt verkehrter Selbstbestimmung, den dieser allein verschuldet hat. Namentlich der paulinische hamartia-Begriff umfasst beides. Zwar durchzieht die „Diskussion um die hamartia als ‚Macht‘ oder ‚konkrete Tatsünde‘ . . . die Forschungsgeschichte zu Paulus und insbesondere zum Römerbrief bis zum heutigen Tage“ (Röhser, 109); aber genau dies ist ein Beleg dafür, dass beide Aspekte zusammengehören. Die Sünde versklavt durch verkehrten Gebrauch von Freiheit und führt zwangsläufig in eine strukturelle Ausweglosigkeit, die an die hermetischen Labyrinthe von Piranesis „Carceri“ gemahnt (vgl. Kesting, 369; Vogt-Göknil). Man muss nicht „The Fall of the Angels“ (Auffarth/Stuckenbruck [Ed.]) bemühen, um zu dieser Einsicht zu gelangen: „Das Böse und seine Macht können verstanden werden rein aus der geschaffenen conditio humana, ohne Rückgriff auf übermenschliche Wesen, Engel oder Teufel.“ (Herms 260) Die Sünde als der innere Abgrund des Bösen ist verkehrter Freiheitsvollzug, der als Schuld zuzurechnen ist, und fatales Verhängnis in einem: Sie ist, wenn man so
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will, zwieträchtig in sich selbst. Entsprechend hebt christliche Hamartiologie einerseits die Verbindlichkeit von Recht und Moral nicht auf, sondern affirmiert das auf freie Entscheidung zielende Grundurteil, „dass die Differenz von gut und schlecht gut sein soll und nicht schlecht“ (Luhmann, 99 f.); andererseits ist ihr Sündenbegriff von entschieden transiuridisch-transmoralischer Art. Um beides zur Geltung zu bringen, bedarf der Begriff der Sünde einer internen Unterscheidung, die den verschiedenen Bezügen seiner Verwendung Rechnung trägt, ohne seine Einheit aufzulösen, die freilich kein Einiges benennt, sondern ein in sich Zwieträchtiges, welches der göttlichen Dreieinigkeit zuwider ist. Luther bietet eine solche – für die reformatorische Sündenlehre klassisch gewordene – hamartiologische Unterscheidung an. „Triplex est peccatum“, schreibt er zu Beginn seines Sermons über die dreifache Gerechtigkeit von 1518 (WA 2, [41], 43–47, hier: 43): „primum est criminale“ (ebd.), „(a)lterum . . . essenciale, natale, originale, alienum“ (WA 2, 44), „tertium . . . actuale, quod est fructus originalis“ (WA 2,45). Die Erstverkehrung der widrigen Sündendreifalt ist gegen das rechtlich geordnete Gemeinwesen gerichtet und von der weltlichen Gewalt nach Maßgabe des politischen Gebrauchs des Gesetzes zu strafen, wie etwa Diebstahl, Mord, Brandstiftung oder Sakrileg als ein Kirchenfrevel, soweit es dem ius civile auf zwingende Weise zu ahnden geboten ist. Zweck des bürgerlichen Rechts ist die Wahrung, Förderung und Wiederherstellung der äußeren Ordnung menschlichen Zusammenlebens auf Erden. Dem das menschliche Dasein in seiner Äußerlichkeit ordnenden Recht entspricht jene Gerech- Peccatum criminale tigkeit, die der Sünde als peccatum criminale entgegensteht. Sie hat äußere Vorzüge zur Folge und bewirkt, wenn es rechtens zugeht, dass ein Mensch nicht gerichtlich verklagt und strafrechtlich belangt wird, sondern in den irdischen Genuss einer zivilen Existenz kommt, um als achtbarer Bürger unter Bürgern zu leben. Die der äußeren Rechtsordnung konforme iustitia macht gerecht vor den Menschen, denen der Rechtskonforme von Rechts wegen als recht und gut gilt. Gerechtigkeit vor Gott vermag sie hingegen nicht zu verschaffen. Sie ist daher nicht mit jener iustitia zu verwechseln, die Christen zu Christen macht, sondern stellt ein humanes Allgemeingut dar, dessen Wert sich auf zeitliche Güter beschränkt und gerade aus dieser Beschränkung seine eigentümliche Wertigkeit bezieht. Fehlt diese Limitation und wird die iustitia civilis am Ende gar zum höchsten Gut verklärt, dann verkehrt sie sich in ebenso schädlichen wie schändlichen Hochmut und bewirkt durch Heuchelei das gerade Gegenteil dessen, was ihre Bestimmung ist. Die iustitia civilis hat es mit der äußeren Existenz des Menschen in einem rechtlich geordneten Gemeinwesen zu tun. Der innere Mensch geht das zivile Recht nichts an. Es soll sich auf die Regelung externen Verhaltens beschränken, dessen Rechtskonformität es gegebenenfalls gegen widersetzlichen Willen zu erzwingen hat. Willentliche Entscheidungsfreiheit ist dabei vorauszusetzen, jedoch nur in jener Äußerlichkeit, wie sie dem Zuständigkeitsbereich der iustitia civilis gemäß
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ist. Zum Problem wird diese Voraussetzung, wenn man von ihrer relativen Geltung abstrahiert und ihre Absolutsetzung statthat. Unter anderem gegen sie ist Luthers theologische Kritik menschlicher Willensfreiheit gerichtet. In binnenperspektivischer, nach innen gerichteter Betrachtung stellt sich das liberum arbitrium als problematisch dar: nicht nur, weil faktisch gleichermaßen Gutes und Böses aus ihm hervorgehen können, sondern auch, weil es in seinem arbiträren Wesen an sich selbst ambivalent ist und zwangsläufig einer selbstdestruktiven Dialektik verfällt, sobald es sich zum obersten Bestimmungsgrund des Guten aufwirft. Nur wo solche Zweideutigkeit des liberum arbitrium eindeutig identifiziert wird, können nach Luther die menschliche Willensfreiheit und die bürgerliche Gerechtigkeit, die ihren Ordnungsrahmen bildet, als ein beschränktes, eben als ein zeitlich-irdisches Gut gelten. Totalisieren sich hingegen liberum arbitrium und iustitia civilis, schlagen sie ins Gegenteil um, wirken kontraproduktiv und werden böse. Triplex est peccatum, die Sünde ist eine dreifache: Peccatum essentiale das peccatum criminale gehört, wie die Gerechtigkeit, die ihr opponiert, jener äußeren Sphäre von Recht und Freiheit an, die von der Binnensphäre christlichen Glaubens zwar nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden ist. Im eigentlich christlichen Sinne wahrgenommen ist die Sünde erst als „peccatum essenciale, natale, originale, alienum“ (WA 2,44), also als jene Sünde, die nach Luther das Personsein des Menschen und seine geschöpfliche Bestimmung im Innersten verkehrt. Essentiell ist die Sünde deshalb zu nennen, weil sie gegen das gottgegebene und -gebotene Wesen des Menschen gerichtet ist und dieses in einen selbstzersetzenden Widerspruch zu sich bringt. Es ist das widrige Wesen der Sünde, dass sie das geschöpfliche Verhältnis des Menschen zu Gott, zu sich selbst und zu Mitmensch und Welt von Grund auf verkehrt. Deshalb heißt sie auch peccatum originale und natale. Luther übernimmt diese hamartiologischen Bestimmungen der Tradition und verweist zu ihrer biblischen Begründung auf übliche Belege wie Ps 51,7, Mt 7,18 und Röm 7,19. Man wird indes, wenn er die Ursprungs- und Erbsünde peccatum alienum nennt, mit diesem Begriff keine Vorstellungen verbinden dürfen, deren Äußerlichkeit der inneren Selbstverkehrtheit nicht gemäß ist, welche die Verderbnis der Sünde ausmacht. Fremd ist die Sünde, weil sie den Menschen von seiner kreatürlichen Gottebenbildlichkeit entfremdet und in Widerspruch bringt zu seinem geschöpflichen Ursprung in Gott. Auf die Abgründigkeit dieser Entfremdung ist die Wendung „peccatum originale“ primär bezogen, und wenn die Sünde zugleich „peccatum natale“ genannt wird, dann vor allem, um ihren Gegensatz zur geschöpflichen Herkunft des Menschen von Gott dem Schöpfer zu bezeichnen. Nicht dass Luther geleugnet hätte, dass sich der Mensch das peccatum originale durch Abstammung vom Ursünder Adam und durch seine Empfängnis in Ungerechtigkeit und Sünde zugezogen hat. Aber bei dieser nicht nur nicht geleugneten, sondern ausdrücklich vorausgesetzten Gattungsschuld handelt es sich nach seinem Urteil nicht um ein nach Art eines äußeren Übels distanzierbares Naturdatum, sondern um ein das
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Personzentrum des Menschen pervertierendes Faktum, in welchem Adams Sünde und ureigene Verkehrtheit im Kontext einer sündenverstrickten Menschenwelt koinzidieren. Der prälapsarische Adam steht als erster Mensch und Stammvater des Menschengeschlechts für die geschöpfliche Bestimmung jedes Repräsentanten der menschlichen Gattung. In den Fall seiner Sünde ist jeder durch Verkehrung seiner Grundausrichtung einbegriffen und zwar als Einzelner, wenngleich nicht nur je für sich, sondern als ein Individuum, welches in seiner Singularität in einen intersubjektiven, Menschheit und Welt betreffenden Beziehungszusammenhang eingebunden ist. Im postlapsarischen Adam wird die sündige Verfehlung menschlicher Bestimmung in individueller Radikalität und Totalität und zugleich so vorstellig, dass ihre universale, menschheitsgeschichtliche Dimension vor Augen tritt. Die adamitische Ursünde ist als Ursprungssünde jedermanns Sünde, die das kreatürliche Relationsgefüge seines Daseins in der Menschenwelt von Grund auf verkehrt und zugleich die Verkehrtheit der humanen Verfasstheit aller Adamskinder manifest werden lässt. Das „peccatum essenciale, natale, originale, alienum“ (WA 2,44) – oder wie die Ur- und Grundsünde sonst noch genannt werden mag – ist nach Luther eine Verkehrtheit, in der Zwang und Freiheit willentlich zusammenwirken und zwar dergestalt, dass die Zwanghaftigkeit im Willen selbst begründet liegt, der seine Freiheit missbraucht, indem er sie unmittelbar in sich zu gründen sucht. Solche Verkehrtheit verdirbt nicht nur die Äußerungen, sondern das Innerste der Person, nicht nur ihre Taten, sondern den Täter selbst. Gegen diese Grundverderbnis können das Willensvermögen des Menschen und seine sonstigen Seelenkräfte nichts ausrichten, weil sie an sich selbst von ihr betroffen sind. Als biblische Belege werden Röm 7,19, Gal 5,17 und Ps 38,8 angeführt. Gegen die wesenhaft zu nennende Sünde lässt sich durch menschliche Selbsttätigkeit nichts ausrichten, weil sie die Person des Menschen in sich selbst verkehrt. Wenn Luther diesbezüglich abschließend vermerkt, „non hic cum logicis ago“ (WA 2,44), es gehe ihm hier nicht um Logik, dann will dieser Vermerk als ein Hinweis darauf verstanden sein, dass Begriffswidrigkeit zum theologischen Begriff der Sünde gehört. Ihrer Sinndestruktivität ist kein vernünftiger Sinn beizulegen. Es gehört nach Luther zum widrigen Wesen der Ursünde, welche die Person des Sünders grundstürzend verkehrt, dass sie seine Gerechtigkeit vor Gott gänzlich zugrunde richtet. Jedes Eigenvermögen, sich selbst zum ewigen Heil zu bereiten, ist dahin. Macht über die Personsünde hat allein die iustitia Christi. Luther nennt sie ebenfalls „natalis, essencialis, originalis, aliena“ (WA 2,44), versieht sie also mit gleichlautenden Bezeichnungen wie das peccatum originale. Doch handelt es sich hier um eine Analogie der besonderen, nur im Glauben zu begreifenden Art, insofern sie besagt, dass nur der bedingungslose und unbedingte Zuspruch des Evangeliums den in sich widrigen Widerspruch der Sünde auf entsprechende Weise zu beheben vermag. Wer die Gerechtigkeit Christi, die das Evangelium zusagt, im Glauben ergreift, ist aus Gott neu geboren, aus dem Fall zu Stand und Wesen
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gebracht und dies nicht durch sich selbst, sondern durch eine „fremde“ Gabe, die Gott aus Gnade um Christi willen kraft seines Geistes ganz und gar zu eigen gibt, so dass der Sünder als gerechtfertigt zu gelten hat und tatsächlich gerechtfertigt ist. Durch Christi Geschick wandelt sich das Los des Sünders von Grund auf. In diesem Sinne ist die mit der iustitia civilis nicht zu verwechselnde oder gar gleichzusetztende iustitia Christi nach Luther „sors, capitale fundamentum, Petra nostra et tota substancia nostra“ (WA 2,44 f.) zu nennen. Dass unter Substanz kein apersonales Wesen zu verstehen ist, wird durch die Person Jesu Christi selbst gewährleistet, der durch seine Selbsthingabe für den selbstverlorenen Sünder zum stellvertretenden alter Ego wird, um ihn in der Kraft seines Geistes ein Ich sein zu lassen, das im Glauben seiner Verkehrtheit entnommen in Gott selbst gründet und durch Gnade ewig Bestand hat bei ihm. Es gilt der hamartiologisch-soteriologische Grundsatz: gänzlich ungerecht in mir selbst, gerecht aber in Christus, im Glaubensverhältnis zu welchem mein Gottesverhältnis und vermittels dessen mein Selbst- und Weltverhältnis von Grund auf zurecht gebracht und ganz und gar rechtens ist. Die dritte Sünde ist die Tatsünde als eine sündige Peccatum actuale Wirkung des peccatum originale: „Tertium peccatum est actuale, quod est fructus originalis.“ (WA 2,45) Dem peccatum actuale rechnet Luther grundsätzlich alle Werke zu, die nicht aus Glauben hervorgehen. Zwar bestreitet er den eingangs genannten Werken ziviler Gerechtigkeit nicht jeglichen Wert. Aber dieser Wert ist relativ und verkehrt sich ins Gegenteil, wenn er zum Anlass der Selbstrechtfertigung vor Gott genommen wird. Würdig vor Gott, heißt es, muss die Person sein; gottwürdig ist sie aber nicht kraft eigener Werke, sondern allein im Glauben an Christus, der sie durch seinen Geist von sich zu sich befreit. Auf sich und ihre Taten gestellt ist und bleibt die Person sündig und ohne Verdienste bei Gott, so gut ihre Werke auch sein mögen und von außen betrachtet tatsächlich sind. Was hingegen das Innere angeht, so zählt vor Gott allein der Glaube, der sich zwar in Taten zu äußern hat, ohne sich je auf sie zu gründen. Kann doch der Grund des Glaubens niemals ein anderer sein als der in Jesus Christus gelegte. Nur auf ihn ist ewiger Verlass; nur indem er sich auf ihn verlässt, erlangt der Glaube vertrauensvolle Gewissheit ewigen Heils. Weder die Werke, die dem Glauben vorhergehen, noch auch diejenigen, die ihm folgen, können verlässliches Heil und Glaubensgewissheit begründen. Wo sie es dennoch intendieren, werden sie von Grund auf falsch. „Ideo opera nostra si sola aspicias peccata.“ (WA 2,46) Ohne Glauben sind alle Wirke sinnlos und nicht gut. Sinnvolle Taten der Fürsorge können nur geübt werden, wo der Mensch im Glauben der Sorge ums eigene Seelenheil gründlich entledigt ist. Der Glaube macht Werke weder unnötig noch unmöglich. Er ist im Gegenteil die Bedingung ihrer Möglichkeit und die Voraussetzung ihres rechten Vollzugs, der tatsächliche Not zu wenden vermag. Der rechte Vollzug der Werke, welche dem Glaubenden zu tun aufgegeben sind, hat sich an den Geboten Gottes zu orientieren, wobei man darüber streiten
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kann, ob deren christlicher Gebrauch tertius usus legis zu nennen ist oder nicht. Wichtiger als dieser Streit, wie er im Anschluss an Luther unter einigen Wittenberger Theologen ausgetragen und durch die Konkordienformel (vgl. FC VI) einer bestimmten Lösung zugeführt wurde, ist die Feststellung, dass der Dekalog selbstverständlich auch für Christen in Geltung bleibt und nicht antinomistisch aufgehoben werden darf. An ihm als der Grundordnung der Schöpfung hat sich alles Tun und Lassen des Christenmenschen auszurichten. Der Antinomismus ist ein Irrweg und genauso falsch wie „der negative Dogmatismus einer Rechtfertigungstheorie, der . . . in allem Tun ausschließlich die Sündhaftigkeit des Menschen thematisiert“ (Rendtorff, 90). Denn Befreiung des Christen vom „Gesetz“ bedeutet nicht, „dass es für die Freiheit des Glaubens auch keine Gebote gibt“ (Rendtorff, 89). Diese sind und bleiben verbindlich. Richtig ist allerdings, dass Luther „die Begründung für den verpflichtenden Charakter der Gebote Gottes weg verlegt (hat) in die Einsicht des Christen. Der Schwerpunkt der Begründung wird vom ‚äußeren Gesetz‘ des formulierten und kirchlich autorisierten Gebotes auf dessen ethischen Sinn verlagert. Dem Glaubenden erschließt sich die Intention des göttlichen Gebietens. Nicht das einzelne Gebot bindet, sondern die Einsicht in den vorausliegenden Willen Gottes.“ (Rendtorff, 19) Man könnte meinen, die Konzentration auf den inneren Sinn der Gebote führe zu einer sehr abstrakten Ethik. Dies ist aber nicht der Fall. Luthers Moraltheologie, wenn man sie so nennen will, ist zwar antikasuistisch, aber es mangelt ihr nicht an Konkretion. Sie handelt eingehend von den Aufgaben des Christenmenschen in Stand und Beruf, in den beiden Regimenten, in Liebe, Ehe und Elternschaft, in der Arbeit, in Wirtschaft und Gemeinwesen, um nur einige Beispiele zu geben (vgl. Althaus, 43 ff.). Der Glaube bedarf der alltäglichen Übung inmitten des weltlichen Lebens, und er ist ohne diese Übung im Schwinden begriffen. Doch ändert dies nichts daran, dass das Heil des Glaubens nicht in den gebotenen Werken und ihrer anfänglichen Erfüllung, sondern allein in der Rechtfertigung aus Gnade um Christi willen begründet liegt, die Ursache und Ziel christlicher Heiligung darstellt. Das Handeln des Christen versteht sich als „Ethos auf dem Boden der Rechtfertigung“ (Alt- Rechtfertigungsethos haus, 11 ff.). Die rechtfertigende Gerechtigkeit, die selig macht, ist nicht die Gerechtigkeit der Gesetzeswerke, sondern die Gerechtigkeit der Gnade, auf die sich der Glaube verlässt, um aus dem in Christus gelegten Grund heraus tätig zu werden. Diesen soteriologischen Grundsatz hat Luther in seinem Streit mit dem Löwener Theologen Jacobus Latomus u. a. dadurch zu profilieren versucht, dass er die im glaubenden Christen auch nach seiner Taufe verbleibende Konkupiszenz als Sünde im eigentlichen Sinne wertete. Das Insistieren auf der realen Sündigkeit postbaptismaler Konkupiszenz geschieht aus einem klar erkennbaren Grund: die Aufmerksamkeit des Glaubens des Getauften soll nicht durch Reflex auf die erbrachten guten Leistungen von Jesus Christus abgelenkt werden, dem allein zu vertrauen ist, weil nur er und nicht menschliches Handeln
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ewiges Heil zu schaffen vermag. Nicht als ob Luther die Wirksamkeit der Taufgnade leugnen oder auch nur minimieren wollte. Sein Ziel ist es im Gegenteil, den Glauben ganz und gar auf die Gnade Gottes in Jesus Christus zu konzentrieren, ohne die alles christliche Tun und Lassen heillos, ja heilswidrig sein müsste. Christus eignet sich kraft des göttlichen Geistes in der Taufe wirklich zu, doch nicht, damit der Getaufte von nun an aus sich selbst, sondern damit er im Glauben aus der Wirklichkeit dessen lebe, der sich ganz und gar für ihn gegeben hat. Sucht der Getaufte sein künftiges Heil seinem Getauftsein zuwider in sich statt in Christus, verfällt er abermals jener Verkehrtheit, die das Unwesen der Sünde ausmacht. Von der Sünde geschieden ist der Getaufte in Christus, der sich in der Taufe mit ihm vereint hat, wohingegen er abgelöst von dieser Beziehung kein anderer ist als zuvor. Für sich genommen bleibt der Getaufte ein Sünder, und die Konkupiszenz, die er mit allen Adamskindern teilt, ist zurecht und notwendig Sünde stricte dictu und im eigentlichen Sinne zu nennen. Doch gilt diese Aussage nicht abstrakt, sondern konkret und für den taufwidrigen Fall, dass der Christ in selbstwidersprüchlich zu nennender Weise sich auf sich stellt und seinen Werken vertraut, statt sich auf Christus und die in ihm geschenkte göttliche Gnade zu verlassen. Christus, so Luther, ist es, der den Christen zu dem macht, was er ist, und der Christ wird sich dies von Herzen gefallen lassen. Ist er doch, was er ist, ganz und gar in Christus, in dem allein sein Ich Bestand hat und zwar als es selbst; denn der gerechtfertigte Sünder ist nicht nur von sich selbst, sondern auch zu sich selbst befreit (vgl. Tietz). Luthers sog. Antilatomus, genauer: die „WiderleAntilatomus gung der latonianischen Rechtfertigung für die scholastischen Brandstifter der Universität zu Löwen“ von 1521 (WA 8, [36] 43–128) enthält in Grundzügen alles, was für die Hamartiologie des Reformators bestimmend werden sollte. Wer sündigt, was ausnahmslos alle Adamskinder tun, ist Sklave der Sünde, die ihn durch ihr Gesetz gefangen hält und in den Bann seiner Schuld schlägt. Unter Bezug insbesondere auf Jes 46,6, Koh 7,(20)21 und Röm 7,19.22 wird die Radikalität und Universalität der Sünde eingeschärft, damit der Mensch sich im Glauben ganz auf das Gnadenevangelium Jesu Christi verlasse, in dem allein Heil vor Gott bereitet sei. Sünde ist nach Luther der Inbegriff glaubenswidrigen Verhaltens. Der Glaube gründet exzentrisch in Gott, der Unglaube in selbstverkehrter Weise in sich. Dadurch verfällt er selbstsüchtiger Konkupiszenz. Als ein „das Gottesverhältnis ersetzendes Selbstverhältnis“ (Kleffmann, Erbsündenlehre, 187) korrumpiert die Ursünde den Menschen in jedweder Beziehung. Sie nimmt seine ganze Person einschließlich Vernunft und Wille in Beschlag und bringt ihn in eine Verfassung, „nicht nicht das Böse wollen zu können“ (Axt-Piscalar, 400). Unmittelbar auf sich und seiner Selbstbestimmung insistierend, ist der menschliche Wille nicht frei, sondern unfrei und in vernunftwidriger Weise von Sünde beherrscht. Jede sündige Untat zeugt von der Grundverkehrtheit des peccatum originale. Statt souveräner Urheber seiner Handlungen zu sein, ist der Übeltäter der Sünde
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ipso facto dergestalt verfallen, dass er von ihr beherrscht und um alles Vermögen gebracht wird, seiner Schuld mächtig zu sein oder zu werden. Der Sünder ist seiner selbst nicht mehr Herr, sondern Knecht seiner sündigen Untat, durch welche er allem aktuellen Tun in Einzelhandlungen zuvor begriffs- und sinnwidrig sich durch unmittelbare Selbstbestimmung von Gott ab- und in sich selbst verkehrt hat. Gerade indem er sich unmittelbar in sich zu gründen sucht, verfehlt der Mensch auf abgründige Weise seine Bestimmung und hört durch eigene Schuld auf, bestimmendes Subjekt seiner selbst zu sein: die Sünde nimmt ihn nicht nur nicht mit Haut und Haaren, will heißen: sinnlich, sondern in all seinem Vernunftund Willensvermögen in Beschlag. Die Ursünde des von Gott abgekehrten Unglaubens betrifft nicht nur einzelne Taten des Menschen, sondern sein ganzes Personsein in allem Fühlen, Denken und Trachten. Die Verkehrung des Gottesverhältnisses zieht ein verkehrtes Verhältnis zu Selbst und Welt mit all den üblen Folgen zwangsläufig nach sich, die damit verbunden sind. Es ist das fatale Bestreben des peccatum originale, sich beständig fortzuzeugen und zu immer neuem Sündigen zu motivieren. Luther geht davon aus, dass alle natürlichen Adamskinder diesem Banne verfallen sind und niemand in der Lage ist, aus eigenen Kräften Gerechtigkeit vor Gott zu erlangen. Die Ursünde ist als peccatum radicale zugleich peccatum universale. Jeder Mensch außer dem zweiten Adam befindet sich in Sünde und zwar aus eigener Schuld. Was traditionell Erbsünde heißt, bezeichnet nach Luther kein fatales Geschick, wohl aber die menschheitsgeschichtliche „Kollektivität der Verkehrung“ (Kleffmann, Thesen, 158). Die gänzliche Sündenverfallenheit aller natürlich geborenen Menschen ist dem Missbrauch und verkehrten Vollzug geschöpflicher Freiheit zuzurechnen und daher schuldhaft. Alle Tatsünden sind Folgen einer radikalen Ursprungssünde, deren sich der Mensch als Glied der gefallenen Menschheit schuldig gemacht hat und je neu schuldig macht. Wie dies zu denken ist und welche Implikationen die Lehre von einer gänzlichen Sündenverfallenheit des Menschengeschlechts für den anthropologischen Freiheitsbegriff beinhaltet, stellt vor schwerwiegende theologische Probleme. Denn offenbar nötigt die Hamartiologie dazu, den verkehrten Vollzug der Freiheit als ein Besessenheitsphänomen zu begreifen, im Vergleich zu welchem alle Fremdbestimmtheiten naturhafter Art zweitrangig erscheinen müssen. Die Macht naturhaft generierten Schicksals verblasst, wenn man sie mit der Gewalt des Bösen vergleicht, wie sie in der sündigen Perversion der Freiheit ihr Unwesen treibt. Wird nach der causa peccati gefragt, so kann die Antwort nur lauten, dass die Sünde außer sich kei- De causa peccati nen Grund und Bestand hat. Sie gründet und besteht in nichts als ihrer eigenen Verkehrtheit. Darauf zielt die traditionelle Lehraussage, dass das Böse keine Substanz und keine Wesensnatur habe, die in der Schöpfung vorgesehen gewesen wäre. Zwar weiß der Schöpfer nach überkommener Lehre das Böse mit Bestimmtheit vorher, ohne es deshalb dazu zu bestimmen, sich faktisch zu ereignen. Schuld an ihrem Ereignis trägt ausschließlich die Sünde
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selbst. Notwendigkeit kann ihr nicht nur nicht zugedacht, muss vielmehr ausgeschlossen werden. Gottes Präszienz und Vorsehung des Bösen bedeutet nicht, dass dieses zum göttlichen Schöpfungswerk gehöre oder dessen zwangsläufige Folge sei. Richtig ist das Gegenteil. Zwar schließt Gott die Möglichkeit der Sünde nicht aus, weil er menschliche Freiheit will; aber ihre tatsächliche Wirklichkeit widerspricht seinem offenbaren Wirken und kann daher auch nicht auf ein gottgewolltes kreatürliches Vermögen zurückgeführt werden, das diesen Namen verdient. Sünde ist verkehrte Freiheit und als verkehrte Freiheit eine Freiheit, die sich selbst unmöglich macht und deshalb nicht nur Unfreiheit, sondern Gefangenschaft im Sinne in sich verfangener Selbstverfallenheit zu nennen ist. Das in sich widrige Unwesen der Sünde lässt sich nicht auf Sinnlichkeit reduzieren und nicht mit kreatürlicher Leiblichkeit gleichsetzen, die vielmehr vom Schöpfer gewollt und demnach an sich selbst als gut zu qualifizieren ist. Zwar verkehrt die Sünde in ihrer Selbstverkehrtheit alle Bezüge, in denen sie wirksam ist, so dass sie in jeder Beziehung sündigt. Aber der Abgrund ihrer Verkehrtheit bezieht sich primär nicht auf das Verhältnis, in dem das Selbstverhältnis des Menschen zu seinem Weltverhältnis, sondern auf dasjenige, in dem es zum Gottesverhältnis steht. Sünde ist verkehrte Gottesbeziehung und darin, wenn man so will, ein primär den Geist betreffendes, geistiges Vergehen. Vorstellungshaft hat die Tradition dies im Mythos vom Engelfall zum Ausdruck gebracht. Engel sind wohl geschaffen, aber Geschöpfe rein geistiger Natur. Ihrem Ursprung nach ganz zum Guten bestimmt, verfielen gleichwohl jene von ihnen, die unter die Teufel und Dämonen zu rechnen sind, durch Abkehr vom höchsten Gut und durch Verkehrung ihres Geistes dem Bösen, ohne als leiblose Wesen dazu in irgendeiner Weise sinnlich motiviert worden zu sein. Die abgründigsten Sünder, die ihr höllisches Unwesen treiben, sind ehemalige Engel und die ersten und obersten Geschöpfe gewesen. Entsprechend gehen im Falle des Menschen die Verführung und die Initiative zur Sünde weniger von der Sinnlichkeit, als vom Geiste aus, der sich in sinnwidriger Weise von seinem göttlichen Grund ab- und in sich selbst verkehrt, um in nichts als Freiheitsverkehrung zu bestehen. Gesündigt wird zuallererst nicht aus einem sinnlichen Trieb, sondern aus Motiven heraus, die leiblich-weltlich zu nennen eine Verharmlosung wäre. Der Beweggrund der Sünde ist – horribile dictu – „theologischer“ Art und in dem ebenso gott- wie kreaturwidrigen Willen des Menschengeschöpfs gelegen, sein zu wollen wie Gott. Als Verkehrung des Gottesverhältnisses ist die Sünde des Menschen stets auch Verkehrung seines Selbst- und Weltverhältnisses. Aber sie ist letzteres, weil sie ersteres ist und nicht umgekehrt. Die Ursünde ist durch den grundverkehrten Willen verursacht, nicht Geschöpf, sondern Schöpfer, nicht Mensch, sondern Gott zu sein. Einen Schein des Rechts maßt sich der sündige Wille dadurch an, dass er die Gottheit Gottes mit jenem Streben nach unmittelbarer Selbstbestimmung und Selbstdurchsetzung versieht, das ihn selbst kennzeichnet. Es will ihm scheinen, der Schöpfergott müsse böse sein. Diese Verkennung ist mit dem sündigen Willen von Anbeginn verbunden und für die Sünde ebenso ursächlich wie dieser, wobei
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beider Schuld just darin besteht, mit Fleiß und dem dazugehörigen Bewusstsein – wenngleich unter bewusster Entziehung desselben – vollzogen zu sein. Man ist geneigt zu sagen, dass der Schein des Bösen, den die Sünde unter Verweis auf Schöpfer Aseitätsstreben und Schöpfung in Bezug auf ihre Ursache und zum Zwecke ihrer Entschuldigung geltend macht, angesichts bestehender Verhältnisse so falsch und verkehrt nicht sein kann. Doch ist diese Neigung bei strenger theologischer Betrachtung selbst schon als sündig bzw. als eine Implikation und Folge dessen zu betrachten, was hamartiologisch peccatum originale heißt. Denn sie ist durch eine bewusste Verkennung der Güte des Schöpfers und seiner Schöpfung motiviert, um die mit Glaubensgewissheit zu wissen dem Menschen nicht prinzipiell, sondern erst durch die Faktizität der Sünde unmöglich ist. Sünde vollzieht sich „als menschliches Aseitätsstreben“ (Leonhardt, 188). Richtig ist, dass dieses Streben im Zusammenhang steht mit einem „Unbehagen an der Endlichkeit menschlicher Freiheit“ (Leonhardt, 191) und mit dem Empfinden einer „Aseitätskarenz“ (Leonhardt, 197). Wie ist das Unbehagen des Menschen an seiner Nichtaseität und der Endlichkeit seiner Freiheit zu beurteilen? Wer in ihm lediglich einen in der „ontologische(n) Tatsächlichkeit des Menschen“ (ebd., bei L. kursiv) angelegten Anreiz zur Sünde und keine Sünde im eigentlichen Sinne entdeckt, wird sich damit schwerlich auf Luther berufen können. Denn analog zur Qualifizierung der Konkupiszenz als Sünde stricte dictu ist nach seinem Urteil bereits der menschliche Unmut über fehlende Aseität ein Indiz des peccatum originale. Nichtaseität wird als ein Mangel nur unter den Bedingungen des vollzogenen Falls der Sünde empfunden, wohingegen dem Schöpfungsglauben die Endlichkeit menschlicher Freiheit als ein gottgegründetes Vollendungsgut erscheinen wird, das es entsprechend zu erfüllen gilt. Endlichkeit muss und kann als schöpfungstheologisches Vollendungsdatum gedacht werden in der protologischen Gewissheit, dass in der Güte des unendlichen Gottes alles Endliche, die endliche Freiheit des Menschen zumal in vollendeter Weise begründet und gut aufgehoben ist. Dass eine solche schöpfungstheologische Einsicht ein trinitarisches, den Aseitätsgedanken theologisch grundsätzlich problematisierendes Verständnis des Schöpfergottes voraussetzt, ist freilich ebenso wahr wie die Tatsache, dass eine Erkenntnis der Sünde, die ihres Abgrundes gewahr wird, ohne in Heillosigkeit zu verfallen, nur durch die im Geiste erschlossene Gottesoffenbarung in Jesus Christus zu erlangen ist. Die Tradition hat als Ermöglichungsgrund der Erkenntnis der Sünde in der Regel das göttliche Gebot als den Ausdruck gottgegebener Bestimmung des Menschengeschöpfs in seiner kreatürlichen Welt namhaft gemacht. In Gottes Gebot als dem Grundgesetz seiner Schöpfung wird dem Menschen nicht nur eine äußere Vorschrift im Sinne einer heteronomen Satzung, sondern seine Bestimmung dergestalt zu Bewusstsein gebracht, dass er sie als seine eigene wahrnehmen und wissen kann. Christliche Theologie hat daher Gottes Gebot häufig lex naturalis bzw. lex rationale, also ein Gesetz genannt, in welchem dem Menschen der Grund seiner Vernunft, seines vernünftigen Wissens und Wollens, Denkens und Handelns,
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ja der Vernunftgrund alles Wirklichen vorstellig wird. Das göttliche Gebot lässt den Menschen erkennen, dass seine Sünde gegen Gott zugleich Selbstverfehlung und ureigene Schuld sowie Verschuldung Mitmensch und Welt gegenüber bedeutet. Schuldbewusstsein ist entsprechend die konkrete Form der Sündenerkenntnis, welche Gottes Gebot wirkt. Fraglich ist indes, ob die durch Gottes Gebot gewirkte schuldbewusste Sündenerkenntnis bereits heilsam ist in sich selbst. Zwar ist das göttliche Gebot gut und vollkommen wie die Schöpfung, deren Ordnung sich in ihm reflektiert. Aber unter sündigen Bedingungen begegnet sein Anspruch trotz, ja wegen der vollkommenen Güte, die sich in ihm artikuliert, als schierer Vorwurf, um die Form tötenden Gesetzes anzunehmen, welches zugrunderichtet und jedwedes soteriologische Eigenvermögen entzieht. Das Perfekt der Schöpfung und seiner eigenen Bewusstes Verkennen Geschöpflichkeit ist dem mit dem göttlichen Schöpfungsgebot konfrontierten Sünder nur mehr im Modus des Verfehlten und damit in der Weise eines prinzipiell, durch eigenes Schuldvergehen Vergangenen präsent. Gesetzlich gewirkte Sündenerkenntnis ist so zwar wahre Sündenerkenntnis, aber nicht in Wahrheit heilsam zu nennen. In ihrer Heillosigkeit liegt zugleich das Motiv für den Sünder, sich durch die gesetzlich gewirkte Erkenntnis seiner Schuld von ihrem Bewusstsein zu dispensieren, um sich mit Fleiß und umso tiefer in seine Sünde zu verstricken, sei es durch ihre Verdrängung, sei es durch ihre bewusste Leugnung oder durch welche Verstellungen auch immer, wie sie für die ihrem eigenen Unheil überlassene Sündigkeit kennzeichnend sind. Nach reformatorischem Urteil ist es demgemäß nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern im Gegenteil von zwangsläufiger Folgerichtigkeit, dass die gesetzlich gewirkte Sündenerkenntnis unter Bedingungen der Sünde und am Ort des Sünders kontraproduktiv wirkt. Der Bodenlosigkeit des Abgrundes seiner Sündenverfallenheit gewahr verbleibt dem auf sich gestellten Sünder nur die Möglichkeit, sich die Einsicht in seinen Fall zu verstellen oder ihn durch forcierten Drang zur Sünde zu beschleunigen. Bedenkt man dies recht, dann leuchtet ein, warum es seine Richtigkeit hat zu sagen, dass zwar nicht Sündenerkenntnis überhaupt, wohl aber heilsame Sündenerkenntnis nur möglich ist, wo das Gesetz in Verbindung mit dem Evangelium gebracht wird, was nicht vom Gesetz aus, sondern nur vom Evangelium her möglich ist. Erst das Evangelium bestimmt die gesetzlich gewirkte Sündenerkenntnis als heilsam, ohne sie dadurch aufhören zu lassen Sündenerkenntnis und Schuldbewusstsein zu sein. Wie das Gesetz bleiben Sündenerkenntnis und Schuldbewusstsein implizite Voraussetzungen des Evangeliums und evangelischen Heilsglaubens. Zwar ist heilsame Sündenerkenntnis Folge des Heilsglaubens insofern, als sie ohne ihn nicht zu erlangen ist. Dies hebt aber die Tatsache nicht auf, dass die Erkenntnis der Sünde in ihrer Heillosigkeit dem Heilsglauben in bestimmter Weise vorausgeht und als ständiges Moment bleibend vorausgesetzt bleibt. Anderes zu behaupten, hieße den Heilsglauben in einer Weise zu prinzipialisieren, die seinen Vollzugscharakter verkennt.
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Glaube ist der Selbst- und Weltvollzug des gottbegnadeten und gerechtfertigten Sünders, Unglaube „das in sich verkehrte Sein im Vollzug“ (Axt-Piscalar, 429), welches das Sündersein des Sünders ausmacht. Vom Vollzugscharakter sowohl des Glaubens als auch des Unglaubens darf nicht abstrahiert werden, wenn beider Differenz und zugleich die Beziehung angemessen erfasst werden soll, in welcher sie zueinander stehen. Dass es dabei der Glaube ist, von dem her und auf den hin auch die Hamartiologie zu entwickeln ist, liegt in der Logik christlicher Theologie und ist von dieser vorgegeben. In diesem Sinne steht auch die Sündenlehre im Dienst des Evangeliums, in welchem der Glaube gründet, und ist als Korrelat der Gnadenlehre zu entfalten. „Gnaden- und Sündenlehre sind Korrelativa, und der Sündenlehre kommt zunächst von daher ihr eigentümliches Gewicht in der christlichen Anthropologie zu.“ (Axt-Piscalar, 428) Wird dies nicht erkannt, dann verbindet sich mit der Hamartiologie und nachgerade mit der reformatorischen leicht der irreführende Eindruck eines pessimistischen, um nicht zu sagen: antihumanistischen Menschenbildes. Dieser falsche Anschein verflüchtigt sich, wenn sich die christliche Sündenlehre konsequent auf das Evangelium ausrichtet und am evangelischen Glauben orientiert. Sündenerkenntnis ist primär Erkenntnis aus Glauben und ohne Glaubenserkenntnis nicht in der Form zu erlangen, die zu erlangen christliche Hamartiologie bestrebt sein muss. Zur christlichen Hamartiologie gehört konstitutiv das Wissen, wirkliche Erkenntnis der Sünde Heilsame Erkenntnis nur im Geiste der Gottesoffenbarung in Jesus Christus gewinnen zu können. „Das eigentliche Wesen und Ausmaß der Sünde wird eröffnet in der Anschauung des Erlösers und vollends aufgedeckt in dem Verstehen des Kreuzes Jesu Christi. Mithin wird das eigentliche Wesen der Sünde im Glauben erfaßt. Allerdings ist auch eine in der Selbst- und Welterfahrung des natürlichen Menschen gewonnene, wenngleich vorläufige, unbestimmte, uneigentliche Sündenerkenntnis zuzugeben. Denn das, was im Glauben als Sünde erfaßt wird, bestimmt faktisch immer schon unser Dasein und wird daher in unserem Lebensvollzug auch erfahren.“ (Axt-Piscalar, 430) Diese Erfahrung aus ihrer Selbstverschlossenheit herauszuführen und für sich selbst zu erschließen, um sie zugleich zu öffnen für die Gnadenzusage des Evangeliums, ist die vornehmste Aufgabe, die sich eine evangelische, am differenzierten, aber untrennbaren und eindeutig ausgerichteten Zusammenhang von Gesetz und Evangelium orientierte Hamartiologie angelegen sein lassen muss. Systematische Theologie strebt nach gedanklicher Konsequenz und entsprechender Prinzipialisierung. Doch liegt darin auch eine Gefahr, die es namentlich dort zu bedenken gilt, wo der Begriff an eine Grenze stößt wie im Falle der Sünde und des Bösen. Ohne einen, man muss es so paradox formulieren, Begriff des Begriffswidrigen, das darauf angelegt ist, jeden Sinn und alle Vernunft zu zersetzen, verfehlt christliche Hamartiologie zwangsläufig ihr Thema, und ohne einen Begriff von der Unbegreiflichkeit der göttlichen Heilsoffenbarung in Jesus Christus vermag nicht erfasst zu werden, was es mit dem Evangelium von der Versöhnung und
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Rechtfertigung des Sünders sowie dem evangelischen Glauben auf sich hat. Gerade um folgerichtig zu sein, muss sich die theologische Systematik daher selbst jenen förmlichen Einhalt gebieten, der von ihrem Inhalt verlangt wird. Die eigentümliche Aporie, die in der Erkenntnis der Sünde beschlossen liegt, kann der Hamartiologie nicht äußerlich bleiben. Ist der religiös-theologische Begriff der Sünde als peccatum originale doch „erst dann erfaßt, wenn die Verkehrung, welche die Sünde ist, präzise als diejenige faktische Selbstverkehrung bestimmt ist, die der Sünder sich einerseits selbst zuschreiben muß, die er sich andererseits nur gerade dann zuschreiben kann, wenn er sich von sich selbst als Sünder unterschieden wissen darf“ (Pfleiderer, 333), was unter der Herrschaft der Sünde nicht der Fall, sondern nur von Gott und seiner Heils- und Gnadenoffenbarung her möglich ist. Nach gemeinsamer Auffassung reformatorischer Hamartiologie meint Sünde „die Grundhaltung des Menschen, die darin besteht, daß dieser nicht in, auch nicht ohne Gott, sondern im Aufruhr gegen ihn lebt“ (Bockwoldt, 86); reformatorische Soteriologie hinwiederum teilt die Gewissheit, die grundlegend für den christlichen Glauben insgesamt ist, dass Gott in Jesus Christus in der Kraft seines Hl. Geistes für den Sünder eintritt, um ihm, unbeschadet gerechten Gerichts über die Sünde, in vorbehaltloser Liebe zu begegnen. Gott liebt, die ihm feind sind, um selig zu machen, was verloren ist. Um in Form eines Epilogs noch einmal auf GoeAbschied vom Teufel? thes Mephisto zurückzukommen: Man mag, wie eingangs vermerkt, bezweifeln, ob er tatsächlich derart teuflisch ist, dass er das Böse als Böses zu bewirken erstrebt. Einige verbleibende menschliche Züge lassen sich an ihm entdecken, und auch sein Verhältnis zu Gott scheint nicht von Grund auf zerrüttet zu sein. Dieser Eindruck verliert sich in der postklassischen Literatur, in welcher der Teufel, wenn er denn auftritt, häufig in Gestalt jenes Bösen begegnet, dessen Radikalität noch diejenige übertrifft bzw. unterbietet, die Kant ihm zum Missfallen des Olympiers attestiert hatte. Tendenzen zu einer Ästhetisierung des Bösen widersprechen diesem Befund nicht, sondern bestätigen ihn. Man findet nicht nur Gefallen am Hässlichen, sondern Freude am sinnwidrigen Übel, ja an der Bosheit des Bösen, das mit Lust am Untergang und in der verstohlenen Hoffnung verherrlicht wird, zuletzt möge sich alles zugrunderichten. Zur Apotheose des Teufels kam es schließlich dort, wo das Böse dem Gegensatz zum Guten entnommen und in eine Stellung „jenseits von Gut und Böse“ (vgl. Bolz) eingerückt wurde. Damit war der Weg frei, das Böse als Böses zu affirmieren und jenem Imperativ zu folgen, der die willentliche Realisierung dessen gebietet, was Kant als teuflisch und unter Menschen nicht vorkommend beurteilte. In den seit Goethe und Kant vergangenen Zeiten gab es Fälle ohne Zahl, die dieses humane Urteil auf unmenschlichste Weise falsifizierten. Namentlich aus der Paarung von Nihilismus und vitalistischem Trieb zu unmittelbarer Selbstdurchsetzung ergab sich Ungeheuerliches, das jeder Beschreibung spottet. Ein nihilistischer Wille zur Macht, vor dem selbst Nietzsche gegraut hätte, wählte das Böse als Böses, damit der Übermensch zu jener naturhaft-übernatürli-
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chen Größe emporsteige, die keinen Gott mehr über sich kennt und in Bezug auf die Welt allein auf Unterwerfung und darauf aus ist, untertan zu machen, was in ihr ist. Gefordert war eine radikale Umwertung aller Werte, die das ehemals böse Genannte nicht nur gut sein ließ, sondern zum erstrebenswerten Gut verklärte. Der antihumanistische Übermensch tritt in der Attitüde des absoluten Souveräns auf, der in ungebundener Freiheit sich die Willkür zur Maxime seines Handelns setzt, um tun zu können, was immer ihm beliebt. So willkürlich sich sein Tun gestaltet, so unberechenbar ist es; der selbsterklärte Übermensch kennt und anerkennt keine andere Ordnung als die jeweils von ihm gesetzte, die auf Abruf gilt. Zur Unberechenbarkeit seines Handelns gehört, sich zuweilen ein selbstlos-altruistisches Ansehen zu geben. Dies hindert, das Böse als Böses zu identifizieren, weil es sich jeder Logik entzieht. Ohne wahr, gut und schön zu sein, kann es doch den Schein des Wahren, des Guten und Schönen vor sich selbst und vor anderen erzeugen. So macht sich das Böse tendenziell unfassbar und undurchschaubar. Es gehört zur Entsetzlichkeit des Bösen, dass es nicht offen zutage tritt, sich immer wieder hinter dem Schein des Guten verbirgt, um unentdeckt zu bleiben und aus der Deckung heraus umso rücksichtsloser agieren und zuschlagen zu können. Gerade in seiner unleugbaren Präsenz ist das Böse nicht eindeutig zu fassen. Seine Evidenz ist unfasslich (vgl. Schmidt-Biggemann, 7 ff.). „Abschied vom Teufel?“ Gedanklich mag die Neuzeit ihn vollzogen haben und dies insofern mit Recht, als der Satan Genannte keine Person, sondern eine Un-Person bzw. dasjenige ist, was Personalität von innen heraus zersetzt. Doch ist der gedankliche Abschied vom personalen Teufel nur dann folgerichtig, wenn er mit der Einsicht einhergeht, dass es dem Bösen eigentümlich ist, namenlos und unkenntlich aufzutreten: „Unkenntlichkeit . . . (ist) seine eigentliche Stärke“ (Ratzinger, 233), Anonymität sein „liebstes Element“ (Ratzinger, 234). Das Böse agiert mit Vorliebe im Verborgenen, „mitten unter uns“ (Herms, 260), mitten in uns.
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Leibliche Übel und die Frage der Theodizee
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Christlicher Glaube hat im Anschluss an die jüdiPrivations- und sche Überlieferung nicht nur jede Form von PolyNegationstheorie des theismus, sondern auch jeden Prinzipiendualismalum mus, wie er etwa von den Manichäern vertreten wurde, aus monotheistischen Gründen von Anbeginn und stets mit Entschiedenheit abgelehnt. Er hat sich zugleich dezidiert zur Allmacht und vollkommenen Güte Gottes sowie dazu bekannt, dass das universale Werk der göttlichen Schöpfung als vorbehaltlos gut zu gelten habe. Dieses Bekenntnis bedurfte in Anbetracht der Manifestationen des Bösen und des Übels in der geschöpflichen Welt der Verteidigung, welche christliche Theologie der Alten Kirche und des Mittelalters in konstruktivem und kritischem Anschluss an die antike Ontologie und Metaphysik zu leisten versuchte. Die lange Zeit bestimmende Strategie der Verteidigung bestand wesentlich darin, das Gegebensein von malum zwar nicht zu bestreiten, aber den Status dieses Gegebenseins als privatio boni zu bestimmen (vgl. im Einzelnen Schönberger). Malum ist in sich selbst nichts und nur deshalb nicht schlechterdings nichts, als es an Seiendem als Mangel von dessen Gutsein „existiert“. Schlechtes ist lediglich als privatio boni. Substantialität geht ihm ab. In sich selbst vermag es nicht zu subsistieren. Es ist daher recht eigentlich kein Seiendes, dem Sein eignet, sondern lediglich Mangel an Sein und Privation an Gutsein. Wie das göttliche Sein, das allem Seienden sein Sein gibt und erhält, ist Seiendes, sofern es ist, gut. Von der Güte der Schöpfung ist deshalb auszugehen, und sie ist berechtigterweise und mit vernünftigen Gründen zu behaupten auch in Anbetracht unleugbarer Schlechtigkeit des Schlechten, weil dieses als das Ungute kein selbständig Seiendes, sondern nur unselbständig und in Abhängigkeit von Seiendem überhaupt „etwas“ ist, nämlich privatio boni. Im Seienden west mit dem Sein auch das Gute an. Malum hingegen ist nichts als Abwesen des Seins und der ihm eignenden Güte. Dass die genealogische Frage, warum es zur Abwesenheit des Seins im Seienden überhaupt kommen konnte und kam, durch die privatioboni-Lehre keiner Antwort zugeführt ist, war ihren Vertretern in der Regel durchaus bewusst. Aber sie rechneten dieses Defizit nicht ihrer Theorie, sondern dem Mangel des malum zu, das sie zu bedenken hatten. Die entscheidende Theorieleistung erachteten sie unbeschadet verbleibender offener Probleme für erbracht, nämlich die Güte alles wahrhaft Seienden und die Vollkommenheit des Seins dessen mit vernünftigen Gründen behaupten zu können, der allem Seienden sein Sein gab und gibt. Nicht dass das Schlechte in Abrede gestellt werden sollte; aber seine Problemhaltigkeit wurde theologisch insofern relativiert, als seine Schlechtigkeit zur bloßen Privation herabgesetzt wurde. An sich selbst ist das malum so nichtig wie das schiere Nichts, aus dem Gott in
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seiner allmächtigen Weisheit und Güte die Welt erschuf. Es hat keinen substantiellen und auch keinen semisubstantiellen Charakter, sondern ist ohne jede Substanz, deren Schein nur dadurch entsteht, dass das Böse am Seienden als Mangel erscheint. Nicht dass das gottunterschiedene Sein des geschöpflich Seienden bereits als solches ein Defizit wäre; defizitär wird das Geschaffene erst, wenn es sich aus der ursprünglichen Verbundenheit mit dem Seinsgrund löst. Dann hat jene Privation statt, welche das malum in all seinen scheinhaften Erscheinungsformen kennzeichnet. Die Gleichung von Sein und Gutsein wird durch keine malum-Gestalt grundsätzlich infrage gestellt, weil alles schlecht und böse zu Nennende nicht wirklich, sondern auf lediglich privative Weise ist. In unterschiedlichen Varianten begegnet diese Theorie sowohl bei den griechischen Vätern des Ostens als auch in der westlichen Theologie des lateinischen Mittelalters (vgl. Hermanni, 29 ff.). Auch unter den veränderten Bedingungen der Neuzeit hat sie Vertreter gefunden. Leibniz etwa wurde hierfür als prominentes Beispiel angeführt. Dieser Einordnung wurde entgegengehalten, dass der Programmatiker der Theodizee nicht eigentlich eine Privations-, sondern eine „Negationstheorie des Malum“ (Hermanni, 138) und damit einen eigenen Typ der Lehre vom Bösen vertreten habe, der allenfalls als eine ins Äußerste zugesteigerte Privationstheorie zu qualifizieren sei. Während diese nämlich in ihrer üblichen Form malum als Mangel an kreatürlich Gutem und als Seinsdefizit deute, werde es in Leibnizens Theodizeeprogramm auf die ontologische Verfasstheit der Schöpfung selbst, nämlich auf ihre Gottunterschiedenheit zurückgeführt, die zum Begriff des Geschaffenen gehöre und sein – gutes – Wesen ausmache. Das malum werde so konsequent entpejorisiert, ja im Grunde bonifiziert mit dem Ergebnis, dass das geschaffene Universum optimal und die gegebene Welt unter Einschluss des malum die denkbar beste unter allen möglichen sei. Paul Ricoeur hat in seiner Studie über „Das Böse. Modell der Gattung Eine Herausforderung für Philosophie und Theologie“ Diskursebenen von zunehmender Rationalisierung im Umgang mit der Thematik des malum unterschieden: die Ebene des Mythos, die Stadien der Weisheit bis hin zu ausgearbeiteten Programmen einer rationalen Theodizee. Das „Modell der Gattung“ (Ricoeur, 33) samt ihrem bezeichnenden Begriff habe Leibniz geliefert. Sei in den alten Mythen gründender Urzeit die Frage des Ursprungs und Wesens des malum ambivalent und paradox, also so beantwortet worden, dass sein Rätsel auch in Versuchen einer Lösung erhalten blieb, zeichne sich in den Folgestadien eine fortschreitende Rationalisierung des Mysteriums des Bösen ab. Einen vorläufigen Abschluss dieses Prozesses markiere die malum-Theorie von Leibniz. Ähnlich urteilt Carl-Friedrich Geyer in seiner Monographie über „Leiden und Böses in philosophischer Deutung“, die zunächst mythische Identitätssicherungen in archaischen Gesellschaften, sodann religiöse Reflexionen über Leiden und Böses thematisiert, um schließlich im Detail philosophische Auseinandersetzungen mit sog. dysteleologischen (vgl. Geyer, 9) Erfahrungen zu erörtern, die sich einem rationalen Weltplan nicht fügen oder
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nicht zu fügen scheinen. In Betracht kommt nach antiken und nach Lösungsvorgaben in den, wie es heißt, alteuropäischen Gesellschaften für die Neuzeit allen voran Leibniz; er sei der klassische malum-Theoretiker einer aufgeklärten Moderne, die ihrer vernünftigen Stärke auch unter widrigen Bedingungen gewiss bleibe. Ricoeur und Geyer bezweifeln, dass das Leibniz’sche Theodizeeprogramm zu leisten vermöge, was es verspreche, nämlich eine konsequente Rationalisierung des malum. Ricoeur plädiert im Blick auf Leibniz und Hegel, in dessen System er eine Fortsetzung des Leibniz’schen Ansatzes unter veränderten Denkvoraussetzungen sieht, für eine „gebrochene“ Dialektik, Geyer führt neben Kant, existentialistischen und marxistischen Konzepten insbesondere Schopenhauer und Nietzsche als Repräsentanten einer Antitheodizee an. Als wenig überzeugend hatte, um noch eine einschlägige ältere Untersuchung zu nennen, bereits F. Billicsich Privationsbzw. Negationstheorien des malum kritisiert, dessen zweibändige Monographie das Problem des Übels in der abendländischen Philosophie von Platon bis Thomas von Aquin und von Meister Eckhart bis Hegel behandelt: „Über die Tatsächlichkeit des Übels in der Welt kann ein Zweifel nicht bestehen. Nur Leichtfertigkeit, Oberflächlichkeit und Gefühllosigkeit können darüber hinwegsehen.“ (Billicsich II, 9) Nachgerade im Blick auf das physische Übel, wie es sich in Schmerz und schmerzlichem Leid manifestiere, sei statt einer Privations- bzw. Negations- eine „Realitätstheorie des Malum“ (Hermanni, 146) erforderlich, welche dessen „Positivität“ ernst nehme und nicht wegzurationalisieren versuche, wie das bei Leibniz der Fall sei. Auch in der neueren protestantischen Theologie hat Leibnizens Theodizee kaum Befürworter gefunden; wenn überhaupt, dann nimmt sie im aktuellen theologischen Diskurs „nur einen prekären Platz“ (Sparn, 442) ein. Dies hängt hauptsächlich „damit zusammen, dass sich ein breiter Konsens herausgebildet hat, dass das Theodizeeproblem . . . nicht in der Gestalt einer konsistenten Theorie zu lösen ist“ (ebd.). Ob dieser Konsens zu Recht besteht, bedarf der Prüfung, die nur auf der Basis gegebener Grundkenntnisse des Systems und der in ihm vorgenommenen Differenzierungen des malum-Begriffs möglich ist. Leibniz spricht von malum in dreifacher Weise: von malum metaphysicum, von malum physicum und von malum morale. Von besonderem Interesses ist im gegebenen Zusammenhang das malum physicum, dessen charakteristische Eigenart als leibhaftes Übel in einem ersten Schritt „phänomenologisch“ erhoben werden soll, um in einem zweiten seine Stellung innerhalb der Leibniz’schen Trias zu erörtern. Dazu bedarf es einer Skizze der Gesamtkonzeption der „Théodicée“. Ihr werden dann am Beispiel Schopenhauers und Nietzsches zwei einflussreiche antiidealistisch-leiborientierte Gegenentwürfe kontrastiert, um in Kritik und Konstruktion wenn nicht zu einer abschließenden Urteilsbildung, so doch zumindest zu einem entwickelten Bewusstsein der Probleme zu gelangen, die sich theologisch in Bezug auf physische Übel stellen.
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Was Leib heißt, lässt sich von Körperlichkeit nicht trennen, ohne wie diese objektivierbar zu sein. Dieser Befund wurde nicht erst durch die von Edmund Husserl begründete philosophische Schule der Phänomenologie erhoben, von ihr aber in vielerlei Hinsicht bestätigt und spezifiziert (vgl. im Einzelnen Alloa [Hg.]). Leib ist weder eine bloße res extensa noch äußeres Seelenmedium oder Geistinkarnat, sondern die Verfassung von Lebewesen, die der Differenz von Innen und Außen in fühlender, sinnlich-affektiver, eben leibhafter Weise inne sind. Zwar gehört ein extensionaler Körper unveräußerlich zum leiblichen Dasein; doch im Unterschied zum unlebendigen bzw. toten Körper, der sich mehr oder minder objektiv begreifen lässt, ist der lebendige Leib von seinen rudimentären Anfängen an seelisch durchwaltet und von Außen nicht gänzlich zu fassen. Leib und Leben gehören zusammen in allem, was sich kreatürlich regt. Die Bedeutung dessen kann jeder am eigenen Leibe in Erfahrung bringen, um von dorther einen allgemeinen Eindruck von Leiblichkeit zu gewinnen. Zwar kann mir auch der eigene Leib in bestimmter Hinsicht körperlich und als Objekt unter Objekten vorstellig werden. Gleichwohl bleibt er selbst in Vorstellungen dieser Art auf nicht objektivierbare Weise präsent, um die Erkenntnis hintergründig mitzubestimmen. In unmittelbarer Weise hinwiederum meldet er sich dort, wo Schmerz oder Lust empfunden werden. Schmerz- und Lustempfinden ist von einer nicht falsifizierbaren Evidenz, für die sich zwar kausale Bedingungen benennen lassen, die aber für die Ergründung ihrer Eigentümlichkeit nicht hinreichen. Der Leib ist eine „Ur-Sache“ eigener Art, Leiblichkeit ein mit objektivierbaren Erscheinungen nicht gleichzusetzendes Phänomen. Was Leiblichkeit ist, kann man am eigenen Leibe, und, wie hinzuzufügen ist, nur an ihm erfahren, da alle anderen Leiber außer dem meinen für mich nur als Körper präsent sind. Um der Leiblichkeit ihres körperlichen Daseins inne zu werden, reicht die Außenwahrnehmung nicht aus, bedarf es vielmehr empathischer Einfühlung. Diese aber setzt „einen pathischen Eigenleib voraus“ (Alloa [Hg.], 14). Nur wer fühlt, vermag Mitgefühl zu entwickeln. Wahrnehmung eigener Leiblichkeit ist insofern die Bedingung der Möglichkeit dafür, die Körper anderer Lebewesen als Leiber zu identifizieren. Doch ist umgekehrt das Empfinden des eigenen Leibes an die Voraussetzung anderer Leiber gebunden, ohne deren Berührung eine leibliche Selbstfindung nicht möglich wäre. Zwar vermag der Kontakt mit einem toten Körper rudimentäres Leibempfinden zu evozieren. Doch ein lebendiges Leibgefühl setzt die Begegnung mit fühlenden Wesen, näherhin mit Lebewesen der eigenen Art voraus. Namentlich der Menschenkörper bedarf von Mutterleib an einfühlsamer Pflege, um zu einem humanen Eigenleib heranzureifen. Ehe ich zu mir selbst komme, bedarf ich der Vorgängigkeit anderer, ohne die ich weder auf die Welt gekommen wäre noch leibhaft in ihr dasein könnte. Leiblichkeit ist nicht nur ein biologisches, sondern auch ein soziales Phänomen. Eine ausgearbeitete Theorie der Sinnlichkeit hätte die Leibwerdung des Menschenkörpers im Einzelnen zu entwickeln und dabei ihre Aufmerksamkeit primär Leiblichkeit
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dem Taktilen zuzuwenden, da die Erstorientierung leibhaften Weltdaseins tastend erfolgt. Durch Fühlen wird Lebendiges in einer für sein weiteres sinnliches Leben grundlegenden Weise der Differenz von Innen und Außen und damit seines leibhaften Eigenlebens inne. Der Tastsinn ist die Basis aller Sinnlichkeit. Wie es im Verein mit der Ausbildung von Fühlern zur evolutionären Genese anderer Sinnesorgane kommt, und wie dieser Vorgang so zu begreifen ist, dass er als lebendiger einsichtig wird, kann nur in Zusammenarbeit aller Wissenschaften sinnvoll erörtert werden. Was die Theologie anbelangt, so hat sie ihre somatologischen Traditionsbestände, die ja nicht nur im anthropologischen Zusammenhang, sondern auch in christologischen, ekklesiologischen oder abendmahlstheologischen Kontexten begegnen, so aufzubereiten, dass sie anschlussfähig werden für eine wissenschaftliche Theorie von Leiblichkeit als der Bedingung möglicher Weltwahrnehmung. Die Inkarnationslehre samt der Lehre vom kosmischen Christus können dafür wichtige Impulse geben, so abwegig dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Es ist ein urchristliches Anliegen, jeder Form von Leibvergessenheit – sei sie gnostischer oder sonstiger Provenienz – zu wehren. Denn Leibvergessenheit geht nicht selten mit einer Tendenz zur Herabsetzung von Leibern zu bloßen Körpern einher. Dem ist anthropologisch mit dem Hinweis zu begegnen, dass lebendige Menschen einen Körper haben, aber als Leib existieren. Zu bedenken ist ferner, dass der Mensch leibliches Existieren mit extrahumanen Lebewesen auf die eine oder andere Weise teilt. Um den Begriff eines Lebewesens genauer zu erfassen, ist zu erinnern, dass Leben mit dem Innewerden einer Innen-Außen-Differenz und mit dem ursprünglichen Empfinden eines Wesens anhebt, als das, was es ist, nicht zugleich dasjenige zu sein, was es nicht ist. Differenzbestimmt ist alles Seiende; aber nicht alles, was seiend ist, ist seiner Differenzbestimmtheit inne. Dies ist erst bei Lebewesen der Fall. Wie rudimentär das Innesein der für sein Sein bestimmenden Differenz von Innen und Außen in den Anfangsstadien des Lebens auch sein mag: jedes noch so primitive Wesen, das lebendig zu nennen ist, hat, sobald und solange es lebt, ein ebenso urtümliches wie untrügliches Empfinden der es bestimmenden Differenz von Innen und Außen. Kurzum: Lebewesen sind fühlende Wesen, wie wenig entwickelt ihr Fühlen auch sein mag. Leben heißt fühlendes Innesein der Differenz von Innen und Außen. Nichtfühlende Entitäten sind dieser Differenz nicht inne, sondern nur äußerlich von ihr bestimmt. Man wird sie daher nicht Lebewesen im eigentlichen Sinne nennen können. Denn lebendige Wesen sind stricte dictu stets fühlende Wesen. Im Gefühl, das konstitutiv ist für ihre Lebendigkeit, wird nicht nur die Differenz von Innen und Außen mehr oder minder empfunden, mit dem Empfinden besagter Differenz ist zugleich das Gefühl für den elementaren Unterschied von Vitalität und Lebensbedrohung, oder, wenn man so will, Lust und Unlust gesetzt. Das Innesein der Innen-Außen-Differenz unter tendenziellem Vorherrschen des Innen wird als lustvoll, die gegenläufige Tendenz als leid- und schmerzvoll empfunden.
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Jede Form von Leben ist elementar durch die Differenz von Lust und Leid bestimmt, die unmittelbar und zugleich mit dem Innewerden bzw. Innesein der das Lebewesen bestimmenden Innen-Außen-Differenz gesetzt ist. Während von anorganischen Entitäten zwar Übel bereitet, aber nicht wirklich oder nur sehr bedingt erlitten werden können, ist im organischen Bereich lebendiger Wesen beides der Fall, ja, es ist das Elementarcharakteristikum von Lebewesen überhaupt, als fühlende Wesen lust- und leidbestimmt zu sein. Auch wenn dabei je und je eine der beiden Seiten überwiegt, so bilden doch Lust und Leid einen offenbar untrennbaren Zusammenhang, was durch die Tatsache bestätigt wird, dass der Tod zwar nur, aber stets und, wie es scheint, unvermeidbar dort auftritt, wo Leben ist. Wie Lust und Leid gehören offenbar auch Leben und Tod untrennbar zusammen, so grundsätzlich verschieden sie anmuten und tatsächlich sind. Alle fühlenden Wesen sind schmerzempfindlich und empfinden faktischen Schmerz als ein Übel, das sie passiv erleiden. Zwar werden Übel und Schmerz unter Reflexionsbedingungen, wie sie für das menschliche Bewusstsein und Selbstbewusstsein kennzeichnend sind, anders wahrgenommen als unter Bedingungen einer nicht oder nur ansatzweise gegebenen Leidreflexion. Auch ist nicht zu leugnen, sondern im Gegenteil zu behaupten, dass Leid in Verbindung mit Schuld ungleich abgründigere Dimensionen annimmt als dort, wo eine solche Verbindung nicht vorliegt oder doch vom betroffenen Lebewesen nicht wahrgenommen wird. Dies ändert indes nichts daran, dass zwischen schuldhaftem Bösen und leidvollem Übel zu unterscheiden ist. Ersteres begegnet erst in der Sphäre bewussten und selbstbewussten Lebens, ohne in seiner Wirkung auf dieses beschränkt zu sein. Letzteres trifft bereits im animalischen Bereich auf, dem der Mensch einerseits angehört und den er andererseits transzendiert, um von möglichen anderen Geistwesen zu schweigen, denen die Tradition Schuldfähigkeit zuerkannt hat. Im elften Kapitel des Buches der Weisheit Salomons, dem Werk eines Griechisch sprechenden und hellenistisch gebildeten Diasporajuden aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert, steht zu lesen: „Man wird mit dem bestraft (kolazetai), womit man sündigt (hamartanei).“ (Weish 11,16) In der Vulgata lautet der Sinnspruch: „per quae peccat quis per haec et torquetur.“ Obwohl vergleichsweise jungen Datums kann der Satz nicht als der biblischen Weisheit letzter Schluss gelten. Schon in alttestamentlicher Tradition melden sich erhebliche Zweifel, ob menschliche Sünde und menschliches Leid in einer proportionalen Beziehung zueinander stehen. „Nicht jede Plage ließ sich als selbstverschuldet plausibel machen, wie besonders das Beispiel Hiobs zeigt.“ (Gestrich, 240) Zwar schien der Gedanke eines proportionierten Zusammenhangs von Tun und Ergehen unter Voraussetzung des Glaubens an die Gerechtigkeit und Allmacht Gottes alternativlos zu sein; doch wurde ihm in Anbetracht der Selbst- und Welterfahrung im Judentum beizeiten mit Skepsis begegnet, was zu erheblichen religiösen Erschütterungen führte und theologische Reflexionen von höchster Intensität herausforderte. Auch das Christentum war von Anfang an von der Frage bewegt, wie sich Malum physicum
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als Schuld zurechenbare Sünde zu den vielfältigen Formen von Übeln verhält, die nicht gut zu nennen sind, auch wenn sich kein Verschulden ausmachen lässt, welches sie hervorrief. Leid widerfährt, das ist wahr, als Übel in übelster Form gerade dort, wo es schuldhaft bewirkt wird. Indes sind nicht alle zu erleidenden Übel durch Faktoren bedingt, die als menschliche Schuld zuzurechnen sind. Es gibt unzweifelhaft üble Widerfahrnisse von gleichsam unzurechenbarer Art. Ob man sie böse nennen will oder nicht, ist eine zweitrangige Frage; denn dass sie als Leid erlitten werden, ist offenkundig. Zwar fällt es im Einzelnen nicht leicht, zwischen schuldhaft bewirktem und solchem Leid zu unterscheiden, welches durch Ursachen hervorgerufen wurde, mit denen Schuld zu assoziieren abwegig wäre. Dennoch ist ein solcher Unterschied evidentermaßen gegeben und nicht in Abrede zu stellen. Nicht alles Übel ist begründetermaßen schuldhaft und nicht jede Pein ernsthaft poena im Sinne von Strafe zu nennen. Gilt dies bereits für die Sphäre des Menschen mit Evidenz, so wird es noch offenkundiger, wenn man extrahumane Lebewesen ins Auge fasst, deren Leid nachgerade unter humanen Bedingungen allen Anspruch darauf hat, ein Übel genannt zu werden, ohne doch den Übelleidenden gerechterweise als Schuld zugerechnet werden zu können. Man mag darüber streiten, ob bzw. inwiefern Pflanzen oder gar anorganischen Entitäten Leid zugefügt werden kann oder nicht. Wie alles, was in der Welt im Werden begriffen ist, sind auch die Grenzen des Leids fließend und die Anfänge des Übels und seines Empfindens nicht punktgenau zu terminieren. Ab einem bestimmten Entwicklungsstand der Genese lebendiger Wesen, der mit dem fühlenden Innesein von Innen und Außen gegeben ist, muss hingegen unzweifelhaft mit manifestem Schmerz und Leid gerechnet werden. Verträgt sich dieser Übelstand mit der von der jüdisch-christlichen Tradition entschieden behaupteten Güte der Schöpfung und ihres göttlichen Schöpfers? Schuldhaft gewirkte Übel rufen das Problem der Anthropodizee hervor; durch kreatürliches Leid aber, das keinem Menschen zuzurechnen ist, scheint unweigerlich die Theodizeefrage gestellt zu sein. „Zieht man jene Mängel ab, die auf das Konto willentlicher (Fehl-) Entscheidungen freier Handlungssubjekte gehen, so bleibt immer noch eine unübersehbare Fülle von Mängeln, deren Abwesenheit die Welt nach menschlichem Ermessen zu einer insgesamt wesentlich besseren machen würde.“ (Kreiner, 322) Das Problem der natürlichen Übel, etwa dasjenige des Leids der Tiere (vgl. Kreiner, 380 ff.), stellt in gewisser Weise vor noch schwierigere Fragen als das malum morale, weil nicht alle mala physica in die Verantwortlichkeit menschlichen Willens fallen. Der Begriff der Theodizee, der durch Leibniz Eingang in die neuzeitliche Theologie und Philo- Die Theodizeefrage sophie gefunden hat, ist dem Griechischen entlehnt, aus Wörtern von Röm 3,5 zusammengefügt und auf das Problem bezogen, wie Gottes allmächtige und allgütige Gottheit in Anbetracht des Bösen und des Übels in der Welt rational zu rechtfertigen sei. Das Theodizeeproblem, das
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ungleich älter ist als der Begriff, der es bezeichnet, basiert auf drei Prämissen, die es für den Fall bedingen, dass sie zugleich als wahr zu behaupten sind: 1. Es gibt Schlechtes in der Welt; die Existenz des Bösen und Üblen in ihr ist nicht zu leugnen. 2. Es existiert ein allmächtiger Gott, der kraft seiner Allmacht alles Böse und jedes Übel verhindern kann, wenn er es will. 3. Gott existiert, und seine Gottheit ist nichts als reine und vollkommene Güte, die Schlechtes und Schlimmes jedweder Art konsequent zu verhindert sucht, soweit sie dies kann. Lassen sich die drei Sätze, wonach Gott sowohl allmächtig als auch allgütig und Schlechtes in der Welt existent sei, zugleich als wahr behaupten, oder entzieht nicht die Annahme der Existenz von weltlichem Bösen und Übel die Möglichkeit, die Behauptung der Allmacht und der Allgüte Gottes vernünftig zu kombinieren, so dass nur die theologisch in jeder Hinsicht fragwürdige Alternative bleibt, entweder Gott als allmächtig, aber nicht als allgütig oder als allgütig, aber nicht als allmächtig zu denken? Nach klassisch theismuskritisch-atheistischem Urteil falsifiziert die unleugbare Evidenz der Gegebenheit von Übel und der Faktizität des Bösen in der Welt die Rechtmäßigkeit der theistischen Grundannahme, wonach Gott existiere und zugleich allmächtig und allgütig sei. Bereits Epikur hat die nach seinem Urteil rational unlösbare Aporie formuliert, in welche die Erfahrung des Schlechten in der Welt den Glauben an einen ebenso allmächtigen wie allgütigen Schöpfergott führe: „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er mißgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl mißgünstig als auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er es aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?“ (Epikur, 136) Das sog. Theismustrilemma führt offenbar zwangsläufig in ein theologisches Dilemma, weil es nur die Wahl zwischen zwei gleichermaßen desaströsen Optionen zuzulassen scheint. Leibniz hat dem mit vernünftigen Gründen zu widersprechen und zugleich Gründe zu benennen versucht, warum es trotz der unleugbaren Tatsache von Übeln in der Welt gute Vernunftgründe gebe, an einen allmächtigen und allgütigen Schöpfergott zu glauben. Die „Essais de Théodicée“ dokumentieren, wie Leibnizens Essais Leibniz selbst bekundet, in weiten Teilen Gespräche, die er mit der ihm freundschaftlich verbundenen Preußenkönigin Sophie Charlotte im Garten des Berliner Schlosses Lützenbzw. Lietzenburg, später Charlottenburg geführt hat. Einen Anlass hierzu gaben Pierre Bayles Zweifel an der Vereinbarkeit von Vernunft und Glauben. Erschienen ist das Sammelwerk 1710, fünf Jahre nach dem Tod der königlichen Freundin. Der Plan, eine Theodizee im Kontext der monadologischen Lehre von der prästabilierten Harmonie zu entwerfen, war schon über ein Jahrzehnt vorher gefasst worden, wie ein Brief an Antonio Magliabechi vom 13. September 1697 – dem
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Erscheinungsjahr von Bayles „Dictionnaire“ – bezeugt (Dutens V, 118). Leibniz hatte den Florentiner Bibliothekar Ende der 80er Jahre auf einer Italienreise kennengelernt, die auch nach Süddeutschland und nach München führte, wo man ihm mit bajuwarischen Misstrauen begegnete und aus unerfindlichen Gründen den Zugang zum Handschriftenlesesaal der kurfürstlichen Bibliothek verwehrte. Leibniz hat diese unfreundliche Behandlung als ein Übel der kleineren Art hingenommen, seinen gewohnten Optimismus beibehalten und den Rest der Münchener Woche mit Galeriebesuchen und der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten zugebracht. Die Erstauflage der „Essais“ wurde anonym veröffentlicht. Angeblich sträubte sich Leibniz, „als Autor eines theologischen Buches zu erscheinen“ (Aiton, 429), obwohl er sich doch schon mehrfach über Religion und Wiedervereinigung der christlichen Kirchen (vgl. Aiton, 182 ff.; 263 ff.) oder auch über Spezialfragen der Lehre von der Realpräsenz Jesu Christi im Abendmahl (vgl. Aiton, 413 ff.) geäußert hatte. Der Titel der Abhandlung sorgte gelegentlich für Irritationen. Manche Leser der Erstausgabe sollen „das Wort Theodizee für den Namen des Autors“ (Aiton, 429) gehalten, „andere darin ein Pseudonym von Leibniz“ (ebd.) gesehen haben. Ersteres Missverständnis wurde in der Zweitauflage von 1712 durch Nennung des Autorennamens, letzteres spätestens durch die von Leibniz besorgte deutsche Übersetzung des in französischer Bildungssprache geschriebenen Werkes beseitigt, in welcher Théodicée mit „Gottrecht-Lehre“ wiedergegeben wird. Gesammelt sind in den „Essais de Théodicée“ Texte unterschiedlicher Art und Herkunft, zum Teil Fragmente; Leibniz hat das Konvolut in recht kurzer Zeit zusammengestellt, was Wiederholungen, manche Weitschweifigkeit und den Mangel an innerer Ordnung erklärt. Eine Vorrede erörtert das Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit, eine einleitende Abhandlung die von Bayle in Frage gestellte Übereinstimmung des Glaubens mit der Vernunft. Das Buch selbst besteht aus drei Teilen, die Versuche über die göttliche Gerechtigkeit, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Bösen enthalten. Ein kurzer Abriss schulgerechter Argumente zur Streitfrage, ob sich das Faktum moralischer Verfehlungen und natürlicher Übel mit der Allmacht eines weisen und gütigen Gottes vereinbaren lässt, Betrachtungen zu einem Werk von Thomas Hobbes über Freiheit, Notwendigkeit und Zufall sowie Bemerkungen über eine Schrift des Bischofs von Derry, William King, über den Ursprung des Bösen sind anhangsweise beigegeben. Ausgangsbasis der Leibniz’schen Theodizeeargumentationen bildet die für beweisbar erachtete Existenzannahme eines einzigen Gottes, dessen Substanz in sich selbst und aus sich heraus subsistiert und die Welt als den Zusammenschluss aller zufälligen Dinge begründet und erhält (vgl. bes. Leibniz I, 7; ferner I, 175 ff. etc.). Die Allmacht der Gottheit Gottes, die alle Wirklichkeit bestimmt, ist mit vollkommener Weisheit des Verstandes und mit einem Willen wesensmäßig verbunden, der nichts will als das Gerechte und Gute. Von einem indifferenten oder willkürlichen Willen in Gott, der nach Belieben agiert, kann nach Leibniz unbe-
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schadet der Absolutheit göttlicher Freiheit nicht die Rede sein. Denn Gottes Freiheit ist darin frei, dass sie mit der inneren Notwendigkeit, die sein Wesen ausmacht, allein dasjenige will, was gerecht und gut ist. Auch diese Einsicht hält Leibniz für vernünftig begründbar. Dem allmächtigen Gott stehen alle denkbaren Möglichkeiten zu Gebote. Der Wahlfreiheit seines Willens sind keinerlei äußere Grenzen gesetzt. Dies gilt auch und gerade für den Akt seiner Weltschöpfung, den er aus reiner Freiheit heraus und ohne jeden Zwang tätigt. Doch bestimmten ihn seine Weisheit und Güte mit einer in seinem Wesen begründeten Notwendigkeit dazu, unter der unendlichen Vielzahl möglicher Welten die beste von allen zu wählen und ins Werk zu setzen. Anderes anzunehmen liefe auf einen ebensolchen Widerspruch hinaus wie die These, es gäbe keine beste aller möglichen Welten: denn dann hätte Gott überhaupt keine geschaffen (vgl. Leibniz, I, 8). Die Faktizität einer geschaffenen Welt hat also zur impliziten Voraussetzung sowohl, dass Gott sie als die beste wollte, als auch, dass sie tatsächlich optimal ist. Den Einwand, die geschaffene Welt könne schon deshalb kein Optimum sein, weil es Übel und Böses in ihr gebe, lässt Leibniz nicht gelten. Er bestreitet vielmehr, dass eine das malum prinzipiell ausschließende Welt eine bessere wäre als die gegebene, die unbeschadet der Faktizität von Leid und Sünde, die nicht geleugnet werden könnten und dürften, als Optimaluniversum zu gelten habe. Seine (auf der für vernünftig begründbar erachteDie beste aller möglichen ten Existenzprämisse eines einzigen Gottes von Welten vollkommener Allmacht, Allwissenheit und Allgüte basierende) schöpfungstheologische Fundamentalthese, derzufolge die geschaffene Welt unbeschadet der Faktizität von Üblem und Bösem in ihr die beste aller möglichen sei, versucht Leibniz in einem ersten Schritt erfahrungsmäßig zu plausibilisieren (vgl. Leibniz I, 9 ff.), etwa durch den Hinweis, dass aus Schlechtem Gutes nicht nur folgen könne, sondern tatsächlich häufig folge, oder dass alles Üble in der Welt verglichen mit den Gütern, die sie gewähre, ein eher Geringes sei. Tiefer als solch empirisch angelegter Weltoptimismus reicht die spekulative Begründung, wie Leibniz selbst sie nennt (vgl. Leibniz I, 20 f.). Sie führt den „Idealgrund“ des malum auf das schiere Faktum der Gegebenheit von Welt überhaupt zurück. Mit dem Vollzug der Schöpfung und seinem Ergebnis sei eine Differenz gesetzt, ohne welche von beidem nicht die Rede sein könne, nämlich die Differenz von Schöpfer und Geschaffenem. Die geschaffene Welt ist, was sie ist, als von Gott unterschiedene. Wollte Gott überhaupt eine Welt erschaffen, dann konnte er dies ohne inneren Widerspruch nur durch Erschaffung eines ihm Externen tun. Externe Gottunterschiedenheit gehört insofern konstitutiv zu Begriff und Realität von Welt. Ohne sie lässt sich Welt nach Leibniz vernünftigerweise nicht wirklich als Welt denken. Mit der Gottunterschiedenheit von Welt ist aber zugleich ihre Nichtgöttlichkeit gesetzt, was notwendigerweise beinhalte, dass sie Gott an Vollkommenheit nicht gleichkomme. Diese, wie er sie nennt, einfache Unvollkommenheit („simple imperfec-
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tion“) lässt sich von der Welt nicht lösen, weil sie ihren Weltcharakter ausmacht. Sie stellt kein weltliches Defizit dar, sondern besagt zunächst nur, dass die Welt als Welt nicht Gott und als universales optimum nicht das summum bonum selbst ist. Diese Prämisse muss bedacht werden, damit die Leibniz’sche Wendung vom malum metaphysicum recht verstanden wird. Das malum metaphysicum ist mit der Welt um eines zu vermeidenden Widerspruchs willen unvermeidlich verbunden und kein Übel im eigentlichen Sinn, ja recht eigentlich überhaupt kein Übel, weil es ohne es gar keine Welt gäbe, was, wenn überhaupt denk- und vorstellbar, jedenfalls ein ungleich größeres Übel wäre als das malum metaphysicum. Das metaphysische „Übel“ im Sinne der mit ihrer Gottunterschiedenheit gegebenen Unvollkommenheit gehört zur Verfasstheit der Welt als Welt, sofern diese Schöpfung und als Schöpfung nicht gottgleich ist. Der optimale Status von Welt wird dadurch nach Leibniz ebenso wenig eingeschränkt wie die gütige Weisheit des allmächtigen Gottes. Schwieriger wird die Weltangelegenheit mit dem Eintreten des malum physicum, zum echten Problem durch die Entartung des malum metaphysicum zum malum morale. Aber auch durch den Fall des als Schuld zurechenbaren Bösen, dessen Faktizität Leibniz nicht nur nicht bestreitet, sondern als unleugbar in Anschlag bringt, werden nach seinem Urteil weder die Güte Gottes als des summum bonum noch der Optimalstatus der Welt als der besten aller möglichen falsifiziert. Was das malum physicum als das Übel körperlichen Leids angeht, so ließe es sich nach Leibniz nur verhindern, wenn auf fühlende Lebewesen in der Welt prinzipiell verzichtet worden wäre; dies aber sei nicht wünschenswert. Es sei im Gegenteil höchst sinnvoll und konsequent, dass die mit dem Urakt der Schöpfung gesetzte Grunddifferenz von Gott und Welt sich innerweltlich fortschreitend ausgebildet und über anorganische schließlich zur Bildung organischer Entitäten und lebender Wesen geführt habe, die der Differenz ihrer selbst von allem anderen in der Welt fühlend inne werden können. Dass mit solchem Innesein zugleich der Gegensatz von Lust und Leid gesetzt sei, müsse billigend in Kauf genommen werden und das umso mehr, als die Genese sensibler die Voraussetzung der Entstehung verständiger und vernünftiger Lebewesen sei, auf die Gott seine Schöpfung in weiser Voraussicht und antizipierender Güte von Anfang an angelegt habe. Nicht dass Gott physisches Leiden unbedingt gewollt habe oder direkt bewirke: dies behauptet Leibniz nicht nur nicht, sondern stellt es ausdrücklich in Abrede. Gott lasse das malum physicum lediglich insofern zu, als er es im Verfolg der Realisierung höherer Zwecke als deren indirekte Möglichkeitsbedingung nicht verhindere. Eine prinzipielle Verhinderung jedes möglichen malum physicum nämlich hätte die kosmische Entwicklung und eine zweck- und zielorientierte Ausrichtung weltlicher Genesis grundsätzlich unmöglich gemacht. Leibnizens Konzept prästabilierter Harmonie ist in teleologischer Absicht entworfen. Mit dem Prästabilierte Harmonie Zweck, den Gott mit seiner Weltschöpfung von Anbeginn verfolgt, ist es zum Allerbesten bestellt. Als summum bonum will er das
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kosmisch Optimale, nämlich dasjenige Geschöpf, welches am Ort gottunterschiedener Endlichkeit der Weisheit und Güte des Schöpfers vernünftig und willentlich entspricht. Der endliche Weg dorthin schließt mögliche Hemmnisse nicht aus, weil ihr Ausschluss die Realisierung des Ziels unter Endlichkeitsbedingungen von vorneherein unmöglich gemacht hätte. Zur Verdeutlichung verweist Leibniz auf das Kepler-Descartes’sche Prinzip der natürlichen Trägheit der Körper (vgl. Leibniz I, 30) als ein paradigmatisches Muster für eine im Wesen endlicher Entitäten begründete ursprüngliche Beschränktheit. Natürliche Körper verharren und insistieren, wenn man so will, unmittelbar auf dem Eigenen. Darin liegt die Möglichkeit begründet, dass sie Anstoß geben und Anstoß aneinander nehmen mit zerstörerischen Folgen, welche die betroffenen Entitäten gegebenenfalls destruieren, ohne dass dadurch der Rahmen der naturgesetztlichen Ordnung gesprengt wird. In der biologischen Sphäre gilt entsprechendes mit dem gravierenden Unterschied freilich, dass von Lebewesen die Negation ihres Selbsterhaltungsstrebens, in dem das Trägheitsprinzip, wenn man so will, reflexive Gestalt annimmt, schmerzlich empfunden und als Leid erfahren wird, das sich je nach Grad organischer Gefühlsentwicklung intensiviert. Erneut ist zu betonen, dass Gott nach Leibniz das malum physicum weder unmittelbar intendiert noch auf direkte Weise wirkt. Er lässt es aber zu, weil seine prinzipielle Verhinderung sowohl die interne Differenziertheit des Geschaffenen als auch die Realisierung der auf Transzendierung des bloß Anorganischen und Organischen angelegten Zweckursache der Schöpfung unmöglich machen würde. Dass die anorganischen und organischen Entitäten sich durch ihre Trägheit und ihren unmittelbaren Selbsterhaltungswillen der Zielbestimmung der Schöpfung momentan widersetzen, macht ihre Begrenztheit zwar zu einer Schranke, welche die Negationspotentiale ihrer Endlichkeit faktisch werden lässt bis dorthin, dass sie sich wechselseitig ihr Ende bereiten, vergehen und verenden. Aber als verheerend und sinndestruierend erscheint dies nur in der Sicht eines auf seinen Eigensinn fixierten Daseins bzw. in einer Perspektive, die nicht in der Lage ist, den Selbstzweck auf den Sinn des Ganzen zu beziehen und entsprechend zu relativieren. Auf den Sinn des Ganzen hin und von ihm her, also theologisch-metaphysisch betrachtet, wird die Harmonie der Welt durch das malum physicum nach Leibniz jedenfalls im Prinzip nicht gestört. Indem er die Leidensfähigkeit der extrahumanen Kreatur eher gering veranschlagt, entübelt Leibniz das Übel des malum physicum zusätzlich. Sei das malum metaphysicum an sich selbst recht eigentlich gar kein Übel, sondern die conditio sine qua non von Welt überhaupt, so könne auch im Blick auf die physikalischchemische Sphäre des Kosmos von Übeln nicht wirklich die Rede sein, weil diese erst im biologischen Bereich empfunden und damit zu realen Übeln würden. Im Übrigen halte sich die Realität von Leid und Schmerz selbst bei entwickelten Tieren in Grenzen (vgl. III.250), sofern diese mangels ausgeprägter Reflexivität Übles in der Regel nur momentan empfinden würden. Die lediglich animalische Passion ist nach Leibniz in mehr oder minder raschem Vergehen begriffen und
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endet spätestens im Tod, den Tiere zwar instinktiv scheuen wie Unlust aller Art, von dem sie aber kein vorausschauendes Bewusstsein haben mit der Folge, dass er sie unerwartet trifft, was seine Schmerzlichkeit verringert. Anders stellt sich das Problem des malum physicum im Falle des Menschen dar, der physischen Schmerz und leibliche Übel, wenn er bei klarem Bewusstsein ist und um sich selbst weiß, ungleich intensiver erfährt und stärker erleidet als alle extrahumanen Wesen zusammen. Doch sind ihm zur Bewältigung seiner gesteigerten Sensibilität und Empfindsamkeit, die das malum physicum erst zu einem wirklich üblen Übel werden lassen, von Gott Rationalität und ein Wille gegeben, dessen vernünftiger Gebrauch ihn nach Leibniz faktisches Leid und tatsächlichen Schmerz ertragen und nicht am Sinn des Ganzen zweifeln lässt. Die Gewissheit, dass die Welt die beste aller möglichen sei, könne so für den Menschen auch unter Leidensbedingungen erhalten bleiben (vgl. III.251 ff.). Der Mensch ist als animal rationale die Krönung der Schöpfung. Er ist zu kreatürlicher Frei- Malum morale heit vor Gott bestimmt. Dass in der menschlichen Bestimmung zur Freiheit die Möglichkeit eines Missbrauchs beschlossen liegt, der alles weltliche Übel an Malität übertrifft oder zutreffender: einen Abgrund von Bosheit eröffnet, hebt die grundsätzliche Güte dieser Bestimmung weder anthropologisch noch theologisch auf. Gleichwohl sieht sich Leibniz durch das, was er malum morale nennt, vor ungleich größere Schwierigkeiten gestellt als durch das malum physicum, das recht eigentlich erst, so seine These, in Verbindung mit dem Faktum des als Schuld zurechenbaren Bösen zum Übel im strengen Sinne des Begriffs wird. Der dem malum morale verfallene Mensch erleidet nicht nur physische Übel auf sinnwidrige Weise, sondern fügt sie willentlich zu, um die kreatürliche Ordnung der Schöpfung von Grund auf durcheinander zu bringen. Warum lässt Gott dies zu? Weil die prinzipielle Nichtzulassung des malum morale Freiheit als höchstes Gut der Schöpfung unmöglich machen würde. Im zweiten Teil seiner Untersuchung verteidigt Leibniz seine Antwort Schritt für Schritt gegen Einwände, die von Bayle und von anderer Seite gegen sie vorgebracht wurden. Nicht dass Gott das malum morale billigen würde; ihm gilt sein entschiedener Unwille und er setzt alles daran, es in Schranken zu weisen, zum Guten zu wenden und auf eine Weise zu lenken und zu leiten, die Zweck und Ziel seiner Schöpfung dienlich ist. Die Möglichkeit des malum morale, wie es durch den in Bosheit verkehrten Willen des Menschen ins Werk gesetzt wird, prinzipiell und generell zu unterbinden, wäre gleichwohl in sich widersprüchlich und kontraproduktiv, insofern dadurch die Realisierung kreatürlicher Freiheit und mit ihr die Vollendung des Endlichen unmöglich gemacht würde. Es bleibt somit auch in Bezug auf das malum morale bei der Grundthese der Leibniz’schen Theodizee, dass Gott die beste aller möglichen Welten gewollt und erschaffen habe. Die Gesamtanlage des Universums ist optimal und besser als alle denkbaren anderen. Zu diesem Grundsatz steht weder das malum morale in einem Gegensatz, noch gar das malum physicum, das Leibniz, wie er selbst sagt (vgl. etwa III,241), von
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vorneherein weniger in Verlegenheit setzt, weil es zum wirklich üblen Übel nur im Kontext des schuldhaft Bösen werde. Leibnizens „Essais de Théodicée“ von 1710 bieten in allen ihren Aspekten einen „Anwendungsfall seiner Metaphysik“ (Sparn, Leiden, 19), die sich zusammenfassend am besten anhand einer posthum mit dem Titel „Monadologie“ versehenen Spätschrift studieren lässt (vgl. Busche [Hg.], bes. 129 ff.). Wer die Lehre von der prästabilierten Monadenharmonie nicht teilt, wird auch den Beweis, das gegebene Universum sei besser als jedes denkbare andere und das beste von allen möglichen, nicht für überzeugend erachten. Er wird im Gegenteil fortfahren, zusammen mit den gedanklichen erfahrungsbezogene Einwände vorzubringen, wie Voltaire dies am berühmten Beispiel seines Candides (Candide, ou l’optimisme, 1759) unter dem Eindruck der Lissabonner Erdbebenkatastrophe vom 1. November 1755 getan hat. Auch der sechsjährige Goethe fand sich durch das damalige Weltereignis tief erschüttert und um seine kindliche Gemütsruhe gebracht, wie man im ersten Buch des ersten Teils von „Dichtung und Wahrheit“ nachlesen kann: „Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen. Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Eindrücke herzustellen, welches überhaupt umso weniger möglich war, als die Weisen und Schriftgelehrten selbst sich über die Art, wie man ein solches Phänomen anzusehen habe, nicht vereinigen konnten.“ Unter den späteren Kritikeren der Leibniz(-Wolff ’schen) Metaphysik ragt Immanuel Kant hervor, der über „Das Mißlingen aller Versuche in der Theodizee“ 1791 eine eigene Studie verfasste (vgl. Kant, 103–124). Ihr zufolgte scheitert die Verteidigung Gottes gegen die Anklage zweckwidriger Einrichtung der auf ihn zurückgeführten Welt in ihren diversen Varianten bereits daran, dass die menschliche Vernunft schlechterdings unvermögend sei, Einsicht in das Verhältnis zu nehmen, in welchem die gegebene Erfahrungswelt zur höchsten Weisheit und Güte eines allmächtigen Gottes stehe. Weil sich aus der Welterfahrung heraus kein Gottesbeweis führen lasse, fehle zur Anklage Gottes der vernünftige Anlass und damit der Theodizeefrage ihre Basis. Das in ihr sich artikulierende Problem ist nach Kant theoretisch nicht zu lösen, sondern der praktischen Vernunft und der in ihren Dienst gestellten Religionsphilosophie zu überantworten. Die sinnliche Welt sei im Bewusstsein ihrer Kontingenz zum einen in Lust und Leid gelassen hinzunehmen, zum andern gemäß den Gesetzen sittlicher Freiheit zu gestalten, welche in der Sinnlichkeit einschließlich des malum physicum wohl eine Hemmung, nicht aber eine Grenze ihrer Moralität erfahre. Ganz andere Wege wies ein Kantianer der besonSchopenhauers deren, kantisch geurteilt: abwegigen Art, welcher Antitheodizee dem metaphysischen Optimismus von Leibniz eine Antitheodizee entgegensetzte, derzufolge die gegebene Welt denkbar schlecht und an sich selbst kein Gut, sondern ein Übel sei. Gemäß der philosophischen
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Grundannahme Arthur Schopenhauers, wie er sie in seinem 1819 erstmals, 1844 in umfangreich ergänzter Zweitauflage erschienenen Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ in vier Büchern explizierte, hat als unmittelbarste Manifestation von Wirklichkeit das präreflexive Leibgefühl von Lust und Unlust zu gelten. In ihm werde aposteriorisch der apriorische Wille offenbar, der alle Welt durchwalte und jede Vorstellung von ihr hintergründig bestimme. Was der alles bestimmende Triebwille an sich selbst sei, thematisieren die Bücher II und IV in naturphilosophisch-metaphyischer Hinsicht, wohingegen die Bücher I und II in erkenntnistheoretischer und ästhetischer Perspektive die dem Subjekt erscheinende und von seinen Anschauungs- und Verständnisformen geprägte Vorstellungswelt analysieren. Alle Aspekte des Schopenhauerschen Werkes sind je auf ihre Weise auf Kant bezogen, dessen Denken allerdings signifikant umfunktioniert, um nicht zu sagen: ins Gegenteil gekehrt wird. Am auffälligsten ist die Ersetzung des problematischen Begriffs des Dinges an sich, das allen Sinnlichkeitserfahrungen zugrunde liegen soll, ohne bewusst erfasst werden zu können, durch den in allen Vorstellungen wirksamen Triebwillen. Insofern das weltwahrnehmende Subjekt nicht als rein intelligible, sondern als leibhafte Seele existiert, ist ihm der alles Bedingte bedingende Wille unmittelbar präsent. Der Mensch wird seiner selbst nicht nur und auch nicht zuerst vorstellungshaft gewahr, sondern er ist seiner auf ursprünglichere Weise inne, nämlich ganz unmittelbar durch die leibhaften Regungen in ihm, die ein unauflösliches Streben erzeugen bzw. als präbewusstes Begehren wirksam sind. Schopenhauer führt diese Regungen auf einen nicht etwa vernunftförmigen Willen, sondern auf einen formlos-ungeformten Trieb zurück, der die ganze Welt so durchwirkt, wie er im ursprünglichen Leibgefühl wirksam ist. Der triebhaft, prärational und un- bzw. unterbewusst wirkende Wille ist nach Schopenhauer ontologisch primär, die verständig-vernünftige Erkenntnis hingegen sekundär und eine Funktion des vorhergehenden Triebwillens, in dessen Dienst sie wesentlich steht. Nicht das Ich ist die Wahrheit des Es; vielmehr bestimmt das Es recht eigentlich das Ich, das wie die ihm erscheinende Vorstellungswelt als Epiphänomen eines hinter- und untergründigen Triebwillens zu gelten hat. Der Wille leibhaften Lebens ist stärker als alle Vernunft und zugleich der Urgrund namenlosen Leids, das nur durch konsequenten Verzicht auf jeden Lebenswillen überwunden werden kann. Nur in sich versunken ist der Wille zur Ruhe gekommen und in seinem Sein eins mit dem Nichts. Bewusstseinsphänomene erscheinen auf sinnliche Weise und lassen sich von leibhaften Vorgängen im Menschenkörper nicht trennen. Zwar leugnet Schopenhauer die spezifische Seinsweise der Welt des Bewusstseins ebenso wenig wie die Unterscheidbarkeit seelischer von körperlichen Prozessen. Der Mensch ist beseelter Leib und die leibhafte Objektwelt nicht ohne Subjektivität gegeben, welche sie wahrnimmt. Doch existiert keine Welt außer der sinnlichen, und von einer leiblosen Menschenseele kann nach Schopenhauer nicht die Rede sein. Nach seinem Urteil haben im Gegenteil leibhafte Vollzüge als Basis des Seelenlebens und die
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Erscheinungen der Bewusstseinswelt als Epiphänomene einer Wirklichkeit zu gelten, die auf leibanaloge, nämlich vor- bzw. unterbewusste Weise wirkt. Nur wer sich in sich versenkt und die Bewusstseinswelt untergehen lässt, wird jenes abgründigen Grundes gewahr, der alles, was ist, aus sich hervortreibt und in dem Selbst und Welt ungeschieden eins sind. Der abgründige Grund, in dem alles gründet und Triebhafter Drang dem alles verfällt, ist für Schopenhauer Trieb. Dass er den blinden Lebensdrang, der allem Wissen und Tun, Denken und Handeln zugrunde liegt, Wille nennt, darf nicht zu dem Missverständnis führen, als statte er ihn mit intentionalem Bewusstsein aus. Der Urwille ist nichts als triebhafter Drang und allein darauf aus, sich zu instinktiver Geltung zu bringen. Obwohl an sich selbst gänzlich unbestimmt, ist alles Bestimmte von ihm bestimmt. In seiner Unbestimmtheit ist er die alles bestimmende Wirklichkeit und nimmt daher jene Stelle ein, die in der metaphysischen Tradition durch Gott bzw. das Absolute besetzt wurde. Schopenhauers Willenslehre ist Antimetaphysik und Metaphysik in einem. Ihr antimetaphysischer Affekt ist auf konsequente Naturalisierung des Geistes ausgerichtet, der zu einer Funktion der Physis herabgesetzt wird. Zugleich stattet Schopenhauer die Physis mit Prärogativen aus, die nicht nur metaphysisch anmuten, sondern metaphysisch sind. Wie Spinozas natura naturans alles naturiert, so durchherrscht der Schopenhauersche Wille alles Seiende, um im Lebenstrieb lebendiger Entitäten manifeste Gestalt anzunehmen, ohne deshalb seine Abskondität zu verlieren. Der Wille ist nur als verborgener offenbar. Sein Wesen entzieht sich jeder Aufklärung. Je bewusstere Gestalt das Leben annimmt, desto unbewusster wird ihm sein Grund. Doch scheint es nur so, als würde dies sein Wirken minimieren. In Wahrheit wirkt er aus dem Hinter- und Untergrund nur umso wirkungsvoller, um gerade in der Verstellung seine Macht zu erweisen. Gerade indem das Bewusstsein versucht, den Drang urtümlichen Lebenswillens zu verdrängen, sitzt es ihm auf und erliegt seiner Versuchung. Verdrängung schränkt die Macht des Dranges nicht etwa ein, sondern steigert sie. Je mehr, noch einmal, der Trieb in den Hintergrund gedrängt wird, desto hintergründiger und effektiver wirkt er. Im scheinbar lichten Walten des Bewusstseins ist der Lebenstrieb nur umso dunkler am Werke, um gleichsam aus der Deckung heraus zu agieren und seinen blinden Willen auf blendende Weise zur Durchsetzung zu bringen. Bewusstsein und Selbstbewusstsein, Verstand und Vernunft, zweckorientiertes Handeln und alle Vollzüge menschlicher Selbsttätigkeit sind abgeleitete Modi jenes drängenden Triebes, den Schopenhauers Leitmetapher bezeichnet. Ohne es zu wissen und zu wollen, steht der bewusste Wille im Dienst des unbewussten, dessen Reflex er ist. Selbst die Moral ist nichts weiter als Ausgeburt des Triebes. Wie alle scheinbar intelligiblen Vollzüge erweist sie sich als List der Natur, unter Menschheitsbedingungen das Überleben der Gattung zu sichern. Nicht der Intellekt schreibt der Natur vor, was der Fall ist, vielmehr hat die Natur als fundierende Basis des Intellekts zu gelten. Analoge Beschreibungen ließen sich in Fülle beibringen.
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Leben heißt Leiden. Der rauschhafte Lebensdrang, der dem Schopenhauerschen Urwillen eignet, treibt immer neue Lebensgestalten hervor, die in mehr oder minder antagonistische Verhältnisse zueinander treten und sich aus Lebenswillen heraus wechselseitig Schmerz und Tod bereiten. Zugleich ist jedes einzelne Lebewesen mit sich selbst uneins, insofern der bewusstlos in ihm wirkende Wille Selbstzentriertheit und Exzentrizität in einem bewirkt. Der tiefste Grund der Entzweiung liegt im Willen selbst begründet, sofern der Trieb seinem Wesen nach nie Erfüllung finden kann. Die Gier nach Befriedigung schmachtet, statt sich zufrieden zu geben, im Genuss nach neuer Begierde. In sich zwieträchtig erzeugt der Urwille, der Selbst und Welt zugrunde liegt, durch Leben Leiden und durch Leiden Leben. Erlösung aus diesem Widerstreit und Behebung der negativen Dialektik des Willens, in dem Leben und Tod koinzidieren, ist möglich nur durch Negation seiner Negativität, will heißen: durch willentliche Selbstverneinung des Willens. Willen zur Willenlosigkeit lautet die Maxime, die Schopenhauers Ästhetik und Ethik bestimmt. Malum ist für Schopenhauer keine Privation und nicht lediglich ein Mangel an bonum, geschweige denn ein Nichtiges, welches einen bloßen Schein von Realität erzeugt. Es ist im Gegenteil von einer Positivität, die sich im Unterschied zu demjenigen, was gut zu nennen ist, in evidenter und nicht falsifizierbarer Weise fühlbar macht. Durch den triebhaften Willen zum Leben, der alles durchwaltet, ist das malum in leibhafter Unmittelbarkeit gesetzt. Zu beheben ist es nur durch radikale Verneinung des Lebenswillens. Nur durch Verzicht auf ihn lassen sich Übel und Leid beseitigen. Die Übung dieses Verzichts erklärt Schopenhauer programmatisch zur ethisch-ästhetischen Grundaufgabe; „sie tritt an die Stelle der Theodizee“ (Sparn, Leiden, 95). Auch bei Nietzsche, obwohl „von Kindesbeinen Nietzsche und der an mit der Theodizeefrage beschäftigt“ (Thiede, Löwenjäger 66), sind die theistischen Prämissen, die sie traditionell hervorriefen, nicht mehr gegeben, sondern nihilistisch zersetzt, wenngleich er anders als Schopenhauer nicht für den Verzicht auf den Willen zum Leben, sondern für dessen dezidierte Affirmation plädiert. Übel und Leiden seien keineswegs für Argumente gegen das Dasein zu erachten, sondern zum Motiv zu nehmen, sich um so entschiedener in ihm zu befestigen. Gepflegt werden müsse jener Wille zur Macht, wie er den Übermenschen auszeichne, der das Leben um seiner selbst willen rücksichtslos bejahe (vgl. im Einzelnen Sparn, 111 ff.). „Was bei Luther als zunächst verborgene Wahrheit des in der Erbsünde um sich selbst kreisenden Menschen erscheint, nämlich daß er Gott als wirkliches Gegenüber verneinen muß, daß er sich selbst einen Deus fingiert und in Bezug auf diesen (etwa als Gott der Werkgerechtigkeit) seine Identität selbst schafft, und insgesamt schließlich, daß er sich selbst als Gott einsetzt: das wird von Nietzsche als die Notwendigkeit des Lebens begriffen, die sein Selbstbewußtsein als solche nun entschieden ergreifen muß, um seinen ererbten Selbstwiderspruch zu überwinden.“ (Kleffmann, 202) Statt weitere Worte zu machen, sei nur mehr zitiert, was Zarathustra vom
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höheren Menschen lehrt: Um besser zu werden, muss er böser werden; denn „das Böse ist des Menschen beste Kraft“ (Nietzsche, 747) und das Böseste „nötig zu des Übermenschen Besten“ (Nietzsche, 748). Radikale menschliche Selbstermächtigung bereitet allen Theodizeeproblemen ein Ende, noch bevor sie überhaupt aufkommen. Dass dabei auch der Humanismus auf der Strecke bleibt, ist Programm: „Wohlan! Der Löwe kam . . .“ (Nietzsche, 778). „Zahllos die Zarathustra-Wiedergänger mit ihren hohen Geisthauben um die damalige Jahrhundertwende und bis in den Faschismus hinein.“ (Lewitscharoff, Vom Guten, Wahren und Schönen, 149) Löwen erfreuen sich in Philosophie (vgl. Blumenberg) und Dichtkunst (vgl. Lewitscharoff, Blumenberg) seit geraumer Zeit gesteigerter Beliebtheit, wenngleich in anderer als der von Nietzsche vorgesehenen Weise. Da mag es nicht verkehrt sein, auch jenes „löwenfreundlichen Löwenjäger(s)“ zu gedenken, „der, gefragt, wieviele Löwen er schon erlegt habe, gestehen durfte: keinen, und drauf die tröstende Antwort bekam: bei Löwen ist das schon viel.“ (Marquard, 29) „Just so“ (ebd.) ergeht es laut Odo Marquard der Metaphysik im Allgemeinen und der Theodizee im Besonderen; „von ihren Problemen hat sie gelöst: keines. Jedoch: für Menschen ist das schon viel.“ (Ebd.) Probleme zu haben, zu denen man sich verhalten muss, ohne sie theoretisch oder praktisch lösen zu können, gehört zum Menschsein des Menschen. „Es existieren menschliche Probleme, bei denen es gegenmenschlich, also ein Lebenskunstfehler wäre, sie nicht zu haben, und übermenschlich, also ein Lebenskunstfehler, sie zu lösen.“ (Marquard, 28 f.) Theodizeeprobleme gehören nach Marquard zu dieser Problemsorte. Statt sie durch „Malitätsbonisierung“ (Marquard, 21), derzufolge Übel so übel nicht sind, scheinbar zu beseitigen, habe die Theodizee die ihr aufgetragenen Probleme offen zu halten, um ihre Aporie zu identifizieren und sie in ihrer faktischen Unlösbarkeit in einen Lebenssinn zu integrieren, welcher die grundsätzliche Bejahung des Gegebenen nicht an absolute Sinnerweise binde. Es bedarf keines angestrengten Beweises, dass Nietzsches Nihilismus der Stärke mit christlichem Glauben ebensowenig vereinbar ist wie der passive Nihilismus, den Schopenhauer propagierte. Beider Antimetaphysik steht in Widerspruch und Gegensatz zum Christentum und seiner Theologie. Für Leibnizens Theodizeeprogramm trifft dies nicht zu und zwar trotz und unbeschadet aller Kritik, die es theologischerseits „von Budde bis Schleiermacher“ (vgl. Lorenz) und darüber hinaus (vgl. Sparn, Theodizee) auf sich gezogen hat. Es nimmt sich eines Problems an, das dem christlichen Glauben unumgänglich gestellt ist. Nicht dagegen sind theologische Vorbehalte geltend zu machen, sondern gegen den Anspruch, das bestehende Problem einer rationalen Lösung zugeführt und es dadurch beseitigt zu haben. Diesem Anspruch ist zu widersprechen. Denn das Problem, das sich in der Theodizeefrage Ausdruck verschafft, ist weder durch theoretische noch durch praktische Vernunftanstrengung zu erledigen: eine letzte „Ratlosigkeit der Vernunft angesichts des Übels“ (Sparn, Theodizee, 442) verbleibt und lässt sich vernünftigerweise nicht beseitigen.
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Zwar leuchtet es theologisch ein, dass der allmächtige Gott in seiner Weisheit und Güte die Welt, wenn er sie denn erschaffen wollte, nur als eine von ihm unterschiedene und in ihrer Gottunterschiedenheit nicht selbst göttliche erschaffen konnte. Anderes wäre in sich widersprüchlich und innerlich unmöglich. Auch ist die Annahme nicht unplausibel, dass zum kreatürlichen Menschsein des Menschen ein umgebender Kosmos extrahumaner Entitäten konstitutiv hinzugehört, obwohl eine Schöpfung reiner Geister ja auch in der jüdisch-christlichen Lehre nicht ausgeschlossen, sondern angelologisch durchaus vorgesehen ist. Gleichwohl wird man im eigenen Leib und in der gegebenen leibhaften Welt schon aus dem Grund eine im Prinzip gute Gabe Gottes zu sehen haben, weil ohne sie ein gemeinsames Existieren in Natur und Geschichte kaum vorstellbar wäre. Unbeschadet all dessen und vieler anderer Argumente, die sich für die prinzipielle Güte der Schöpfung einschließlich ihrer Materiebestände beibringen lassen, verbleibt ein erfahrungsmäßig nicht zu beseitigender Eindruck von Ambivalenz. Die Gesetze der Natur gewähren gerade in ihrer verlässlichen Geltung kosmischen Bestand und regelhafte Ordnung, begrenzen aber zugleich die Welt, die sie umhegen, und das Leben in ihr. Zumindest fühlende Wesen bekommen dies mitunter schmerzlich zu spüren. Der Verweis auf den hart empfundenen Stoß eines Gegenstandes genügt als Beleg. Empörend ist der Eindruck des Leids, den fühlende Wesen sich wechselseitig zufügen, irritierend und verstörend der am eigenen Leibe erfahrene Schmerz. Man kann aus all dem den Schluss ziehen, dass die Welt der Natur und die natürlichen Lebensbedingungen des eigenen Daseins die Aufforderung in sich enthalten, sich in Bezug auf ihre sittliche Indifferenz moralisch zu bewähren, um so ihre Ambivalenz zu beheben. Die Natur inklusive der Natur des Eigenen muss gezähmt, bearbeitet, kultiviert und auf diese Weise ihrer Bestimmung zugeführt werden. Obwohl diese Forderung zurecht besteht, lässt sich doch durch keine noch so konsequente Anstrengung von Moralität und Sittlichkeit Leid aus der Welt schaffen und erlittener Schmerz ungeschehen machen. Auch kann man nicht sagen, dass jedes Übel sittlichen Zwecken dient oder zu dienen vermag. Bei tierischen Leiden und Schmerzen trifft dies offensichtlich nur höchst eingeschränkt zu. Zwar wissen wir nicht, wie intensiv Tiere leiden; doch dass sie leiden und Schmerzen empfinden, ist offenkundig. Eher abwegig ist daher die Vermutung, wir hätten vielleicht „die ‚leidenden Tiere‘ erfunden, indem wir, in einem ‚pathetischen Irrtum‘ befangen, in die Tiere ein Selbst hineingedeutet haben, für das es keine wirkliche Evidenz gibt“ (Lewis, 157). Näher liegt es, ein malum auch im extrahumanen Raum und zu Zeiten wirksam zu sehen, „ehe noch der Mensch auf den Plan trat“ (Lewis, 159). Will man diese Wirkung nicht einem Teufel oder bösen Engelwesen ursächlich zuschreiben, wird man in ihr ein Fragmal der rätselhaftesten und bedenklichsten Art zu sehen haben. Warum sind in dem teleologisch auf Vernunft hingeordneten Prozessverlauf vom Anorganischen über das Vegetabilisch-Animalische hin zum Humanen von Anbeginn an immer auch regressive Tendenzen am Werke, die dazu drängen, von einer Stufe auf die vorhergehende
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zurückzufallen bzw. den Schritt von ihr zur folgenden nicht zu vollziehen. Regrediert der Mensch in tierisches Verhalten, kann ihm dies gegebenenfalls als Schuld zugerechnet werden. Aber wie steht es mit der extrahumanen Natur, welche die Fortentwicklung im Sinne von Selbsttranszendenz schuldig bleibt, ganz abgesehen von der Unzahl lebender Wesen, die im Verlauf des evolutiven Prozesses auf der Strecke geblieben sind? Fragen über Fragen, deren Antwort kein Mensch Theologie der Klage kennt und weder theoretische noch praktische Vernunft zu geben vermag. Statt sie durch Theorie und Praxis zum Verstummen zu bringen, ohne sie wirklich zu beantworten, muss die Theodizeefrage, wie es scheint, offen gehalten werden. Wie hat das zu geschehen? „Man kann“, um erneut Odo Marquard zu zitieren, „den Versuch machen, Fragen dadurch zu bewahren, dass man keine Antwort auf sie gibt, sie also völlig offen läßt. Meiner Ansicht nach lehrt die Erfahrung der Philosophiegeschichte, daß die Fragen dann verschwinden. Man kann versuchen, Fragen zu bewahren, indem man eine Antwort auf sie gibt; dann verschwinden sie auch; dann gelten sie als gelöst. Also auch das ist nicht die richtige Strategie. Es bleibt nur noch eins übrig, daß man Fragen dadurch bewahrt, daß man mehrere, viele Antworten auf sie gibt, möglichst widersprechende, und zwar nicht bloß gibt, sondern auch rezipiert.“ (Oelmüller [Hg.], 180) Auch wer sich diesen Rat skeptischer Weisheit nicht gefallen lässt, wird zugestehen müssen, dass sich das Theodizeeproblem weder durch Ontologisierung, Teleologisierung, Funktionalisierung oder gar Ästhetisierung von Leid noch durch seine hypermoralisierende Rückführung auf schuldhaften Missbrauch arbiträrer Entscheidungsfreiheit einer befriedigenden Lösung zuführen lässt (vgl. Oelmüller [Hg.], 78 ff.). Dass sinndestruierendes Leid etwas mit Schuld zu tun hat, ist unter jüdischchristlichen Bedingungen nicht zu leugnen. Doch um den Zusammenhang beider recht zu erfassen, bedarf es eines nicht hypermoralischen, sondern transmoralischen Sündenbegriffs, der den religiösen Charakter von Unheil und Heil deutlich werden und einen Moralismus ausgeschlossen sein lässt, welcher das kreatürliche Anrecht der Leidensklage dem Schöpfer gegenüber verwehrt. „Gottes Vollkommenheit und Güte (schließen) zwar Böses, aber nicht Schmerz in Gott“ (Thiede, 92) aus. Ob und inwiefern es mit diesem Satz seine lehrmäßige Richtigkeit hat, bedarf genauer trinitätstheologischer Prüfung. Zweifellos richtig hingegen ist die Feststellung, dass die christliche Rede von Gott stets „ein Wort des Protestes und der aktiven Hoffnung gegen das Leid“ (Kessler, 119) enthält, dem selbst dann ein Recht nicht zu bestreiten ist, wenn es zu einem Wort anklagender Klage dem Schöpfer gegenüber wird. Weiß der Vater Jesu Christi doch in der Kraft seines göttlichen Geistes, was es heißt, nicht allmächtig, sondern praktisch ohnmächtig, nicht allwissend, sondern theoretisch unwissend zu sein und zwar in Bezug auf Grundbestände des eigenen Daseins. Der christliche Glaube hat „die durch keine Sinnbehauptung und Rechtfertigung beruhigte Erfahrung objektiver Sinnlosigkeit, Negativität und Absurdität des
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Leidens“ (Janßen, 16) ernst zu nehmen. Denn anders kann er in der Verzweiflung keinen Trost spenden, was seine Bestimmung ist. Trösten ist etwas anderes als erklären: „Opfer von Übel sorgen sich normalerweise nicht um die Vereinbarkeit ihrer Erfahrungen mit den religionsphilosophischen Standardansichten über Gott“ (Dalferth, 37), und sie „erfahren wenig Tröstliches, wenn ihnen gesagt wird, dass ihre Leiden mit der Existenz eines maximal guten Gottes vereinbar sind“ (Dalferth, 36). Leiden lässt sich nicht dadurch beheben, dass man es auf den Begriff bringt. „Wenn die Tatsache, daß im Akt des Sprechens und Denkens über Leiden nicht gelitten wird, nicht an diesem Denken und Sprechen zum Austrag kommt, bleibt es leichtsinnig oder wird gar zynisch.“ (Oelmüller [Hg.], 95) Der religiöse Umgang mit Leiden macht den denkerischen nicht überflüssig, aber unterscheidet sich dadurch signifikant von ihm, dass er das Unausdenkliche mitbedenkt und entsprechende Rücksichten walten lässt, ohne deshalb die Hoffnungsgewissheit des Glaubens fahren zu lassen, wonach die Leiden dieser Zeit nicht mit der künftigen Herrlichkeit zu vergleichen sind (Röm 8,18), die in Jesus Christus bereitet ist. Als „kognitive Operation“ (Oelmüller [Hg.], 157) ist die Theodizee nicht nur nicht zielführend, sondern praktisch kontraproduktiv. Gelänge sie, „so wären die Welt und unsere Lage in ihr als erlösungsunbedürftig erwiesen“ (ebd.), was sie faktisch nicht sind. Dennoch bleibt die Theodizeeproblematik gerade in ihrem Scheitern für die Theologie bedeutsam, insofern sie sie daran hindert, sich selbst als die theoretische Lösung aller Welträtsel und Menschheitsfragen auszugeben. Religionsdienlich ist Theologie in allen ihren Aspekten, den hamartiologischen eingeschlossen, nur unter der Voraussetzung, dass sie sich ihre Wahrnehmungsfähigkeit für das Andere des Denkens bewahrt und sich bewusst hält, dass „der Theoriebestand als gewonnener immer auch eine problematische Distanznahme zum Thema dieser Theorie ist“ (Oelmüller [Hg.], 174). Dies gilt nachgerade in Sünden- und Leidensangelegenheiten und in Bezug auf den Zusammenhang, der zwischen beiden waltet. Der Religion ist es aufgetragen, das Rätsel, das nachgerade das malum physicum in sich birgt, um des gebotenen Mitgefühls mit der seufzenden Kreatur offen zu halten, ein nicht zu behebendes Unwissen einzugestehen und zugleich ein Verhältnis zu diesem Nichtwissen zu erschließen, das Sinngewissheit auch unter den Bewusstseinsbedingungen seiner irdischen Unbehebbarkeit erschließt. Eigenes und fremdes Leid ficht den Glauben an und lässt ihn an Theorie- und Praxisangeboten seiner definitiven Erklärung und Lösung berechtigtermaßen zweifeln. Diese Zweifel hat die Theologie zu teilen. Nachgerade die Dogmatik wird die Mahnung zu hören haben, sie beziehe „sich gemeinhin viel zu rasch auf ein gutes Ende und (nehme) die Ausweglosigkeiten des Wegs mit seinen Ungewissheiten nicht ernst“ (Bayer, 297 f.). Mit einer Diätetik der Sinnerwartung, wie Odo Marquards skeptische Weisheit sie verordnet, kann es bei aller Sympathie nicht sein Bewenden haben; gefordert ist vielmehr eine „Theologie der Klage“ (vgl. u. a. Bayer; Beinert [Hg.]; Fuchs [Hg.]) im Anschluss an die biblischen Psalmen und andere einschlägige Zeugnisse Alten und Neuen Testaments, die mehr und Zutreffenderes über
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Leibliche Übel und die Frage der Theodizee
das malum physicum zum Ausdruck bringen als philosophische und theologische Theorien zu sagen vermögen. Die Verheißungsgewissheit, dass die zweifelnde, ja verzweifelte Glaubensklage zu Übel und Leid göttliche Erhörung findet, liegt nach christlichem Bekenntnis im auferstandenen Gekreuzigten begründet, der durch sein Leiden und Sterben sowohl Versöhnung der Sünde als auch Erlösung von allem Übel bereitet hat, wie das an Ostern offenbar und in der Kraft des Geistes vor Gott und Mensch beglaubigt worden ist. Nicht zuletzt um der glaubensgewissen Hoffnung eschatologischer Behebung kreatürlichen Leides willen wird christliche Theologie den theistischen Gottesgedanken nicht abstrakt, sondern trinitarisch aufzufassen und zu entwickeln haben und zwar bereits in schöpfungstheologischer Hinsicht. Als Vater seiner Geschöpfe kann der allmächtige Gott nicht ohne seine Offenbarung in Jesus Christus erkannt werden, wie der Heilige Geist sie erschließt, der, indem er durch Wort und Sakrament die Vergebung der Sünde zusagt, zugleich die Erlösung von allem Übel und damit die eschatologische Erfüllung dessen verheißt, was protologisch grundgelegt ist. Doch trifft selbst noch für die Trinitätstheologie zu, was in Bezug auf die Hamartiologie und die Lehre vom kreatürlichen Leiden vermerkt wurde, dass nämlich ein gewonnener Theoriebestand stets auch eine problematische Distanznahme zum Theoriethema enthält. Die Theologie muss es sich daher verboten sein lassen, die Trinitätslehre theoretisch zu prinzipialisieren und von dem religiösen Entdeckungszusammenhang abzulösen, aus dem heraus sie entstanden ist.
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16. Der Fall Judas: Gottes gerechtes Gericht und die Rechtfertigung des gottwidrigen Sünders
Lit.: K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik. Zweiter Band: Die Lehre von Gott, Zürich 1940 ff. (= KD II). – H. Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt a. M. 1988. – C. Daub, Judas Ischariot oder das Böse im Verhältniß zum Guten. Erstes Heft, Heidelberg 1816. Zweites Heft. Erste und zweite Abteilung, Heidelberg 1818. – H. L. Goldschmidt, Art. Judas II. Eine jüdische Stellungnahme, in: TRE 17, 304–307. – J. W. Goethe. Sämtliche Werke. Bd. 10: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Zürich 1979. – W. Jens, Der Fall Judas, Stuttgart 1975. – S. Kierkegaard, Christliche Reden 1848 (Gesammelte Werke. 20. Abteilung), Düsseldorf/Köln 1959. – H.-J. Klauck, Judas – ein Jünger des Herrn, Freiburg/Basel/Wien 1987. – K. Lüthi, Judas. Das Judasbild vom Neuen Testament bis zur Gegenwart, in: TRE 17, 296–304.
Unter christlichen Hamartiologen hat der Fall Judas seit alters besondere Aufmerksamkeit auf Sünder schlechthin sich gezogen. Die Neuzeit bildet darin keine Ausnahme. Als ein prominentes Beispiel sei erneut das Schellings Sündenlehre fortführende Werk C. Daubs „Judas Ischariot oder das Böse im Verhältniß zum Guten“ in Erinnerung gebracht, das 1816/18 in zwei Heften in Heidelberg erschienen ist. Die Untersuchung nimmt ihren Ausgang bei einer typologischen Gegenüberstellung von Christus und Judas: „Wie Jesus Christus . . . seines Gleichen nicht hat unter den Menschen, so auch nicht er, sein Verräther. Denn obwohl, nach christlicher Vorstellung, der erste Mensch auch der erste Sünder war, so ist und bleibt doch unter seinen Nachkommen Judas der einzige, in welchem von diesen die Sünde auf ihrem höchsten Gipfel, und das, mit ihnen geborne Böse in seinem scheußlichsten Ausbruch erblickt wird.“ (Daub I, 2) Judas Ischariot gilt als Synonym und personaler Inbegriff des Bösen; er ist „der einzige, über welchen das Urtheil der Verdammniß, ohne selber ein verdammliches zu seyn, ausgesprochen werden kann, und sogar muß“ (Daub I, 20). Der Begründung dieses Urteils und der Widerlegung vermeintlicher Entschuldigungsgründe gelten Daubs weitere Ausführungen. Die erste Ausflucht, bei der Judas den jüdischen Hohepriester mit dem Gesetz zu seinem Verteidiger habe, schiebe die Schuld Christus selbst zu (vgl. Daub I, 23–29); ihr tritt Daub mit einer Untersuchung des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium bzw. Kaiphas und Christus entgegen. Die zweite Entschuldigung, bei der Judas den römischen Landpfleger mit der weltlichen Macht zum Fürsprecher habe, führe das Eigenverschulden auf Umstände der Lebensgeschichte (vgl. Daub I, 29–37) zurück; ihr will
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Der Fall Judas
Daub mit einer Prüfung des Verhältnisses von weltlicher Macht und göttlicher Gnade begegnen. Die dritte Ausrede, bei der Judas den Satan selbst zum Stellvertreter habe, wälze alle Schuld auf das Böse außer ihm als Prinzip aller Sünde und Sündhaftigkeit (vgl. Daub I, 37–51). Sie führt Daub ins Zentrum seiner Untersuchung, zur Frage, wie das an sich Gute und an sich Böse oder Christus und Belial sich zueinander verhalten. Gut und Böse lassen sich nach Daub nicht wie zwei Relate in Beziehung setzen, weil die Bosheit des Bösen gerade dadurch charakterisiert sei, ihr Verhältnis zum Guten, in dem sie tatsächlich stehe, ins widersprüchliche Gegenteil zu verkehren. Die Bosheit treibe ihr Unwesen in sinnwidriger Weise und könne aus Sinnzusammenhängen heraus weder verständlich gemacht noch gar abgeleitet werden. Vom Bösen habe zu gelten, dass es „zwar in der Schöpfung, aber nicht aus ihr, sondern aus sich selbst werdend und geworden . . . , die Position seiner selbst, folglich nicht nur die Negation des Guten, sondern zugleich auch in Opposition gegen dasselbe (ist)“ (Daub I, 136). Wie das Böse sich mithin nicht aus dem Zusammenhang mit dem Guten versteht, sondern rein aus sich selbst heraus sein Unwesen treibt, so verbietet sich auch jedwede theologische Genetisierung seiner Faktizität. In Bezug auf das in sich selbst und an und für sich selber Böse als der Position in der Negation des Guten wird demgemäß geurteilt, „daß es, obwohl in dem Guten, dem Werke Gottes, aus sich selbst entsprungen, dennoch von dem Guten durch eine unendliche Kluft geschieden sey, indem es sich selbst von ihm getrennt, und sich zu seiner eignen Wohnung gemacht, der Satan seine Hölle sich selber bereitet habe“ (Daub I, 138). Diese Selbstverkehrung, die ihre eigene Verdammnis impliziere, zeige sich dadurch, dass der Satan „sich, weil er Gottes Feind ist, selber haßt, kurz dadurch, daß er keinen größern Feind hat, als sich selbst“ (Daub I, 137). Das an sich selbst Böse ist somit wie seine eigene grundlose Selbstvoraussetzung (vgl. Daub I, 151), so auch seine eigene Zernichtung. Als dieses Bodenlose und In-sichWidrige ist das Böse in der Welt. Es ist in grundloser Selbstsetzung, als Untat. Gilt diese Charakteristik für das Böse allgemein, so unterscheidet Daub doch eine Selbstschöpfung des Satans als Inbegriff der Sünde an sich und der nachfolgenden und teilnehmenden Selbstschöpfung des Bösen durch sündhafte Menschen: „in und mit der, den Satan voraussetzenden Sünde der Menschen hebt die Selbstschöpfung des Satans nicht an, sondern setzt sie sich blos fort; sein und seiner Rotte Abfall von Gott ging (in aller Zeit) dem (in einer Zeit begonnenen) Sündenfall des Menschengeschlechts vorher.“ (Daub I, 160). Wäre Gott nur Übermacht, hätte er den Fall des Satans und des Menschen gewiss verhindert; aus seiner allmächtigen Liebe aber „hat er die Entstehung des Hasses nicht verhindert; denn seine Liebe ist dermaßen groß, daß er der Freiheit seiner Geschöpfe keine Grenzen setzt, sondern in der Schöpfung der ihr und ihm feindseligen Macht die Entstehung, – und der Creatur, die ihr von ihm anerschaffne Freiheit sogar zu vernichten, gestattet.“ (Daub II/1, 172 f.) Entsprechend gilt: „Die Liebe setzt durch ihre Macht, die für die Zeugungs- und Bildungskräfte das Naturgesetz, für die Erkenntniß- und Willenskräfte das Vernunft- und Sittengesetz ist, der Gewalt des,
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diesen Kräften inwohnenden Hasses Grenzen, aber sie verhindert seine Entstehung nicht, und vertilgt ihn nicht, und eben in diesem Nichtverhindern und Nichtvertilgen zeigt sie sich als Liebe, und zeigt sich ihre Macht als Allmacht.“ (Daub II/1, 172) Daub setzt bei dieser Argumentation voraus, dass „die Freiheit des Geschöpfs . . . nicht Freiheit seyn würde, wenn ihr die Möglichkeit, sich selbst zu vernichten, entweder vorenthalten oder genommen wäre“ (Daub II/1,178 f.). Judas Ischariot habe, indem er Jesus Christus, den inkarnierten Gotteslogos und wahren Menschen, verriet und seinen Mördern überlieferte, von dieser Freiheit in extremis Gebrauch gemacht und sich damit ipso facto selbst zugrunde gerichtete sowie dem Teufel und der Hölle preisgegeben. Nach Daub muss Judas Ischariot unter allen Adamskindern als der verdammte Sünder schlecht- Seligsprechungsverfahren hin angesehen werden. An diesem Urteil hat auch der noch im Jahr 1818 vollzogene Übergang von Schelling zu Hegel nichts geändert, in dessen Folge die Publikation des bereits druckfertigen dritten Heftes des Werkes über das Böse untersagt wurde. Dem Verdammungsurteil Daubs ist zu kontrastieren, was in jüngeren Zeiten über Judas kolportiert wurde. Im Jahr 1960 soll beim lateinischen Patriarchen von Jerusalem beantragt worden sein, den Verräter in einem förmlichen Seligsprechungsverfahren zur Ehre der Altäre zu erheben. Antragsteller war ein Franziskanerpater deutscher Herkunft. Er begründete sein Gesuch mit dem Hinweis, Judas wäre an Gott zum Verräter geworden, hätte er Jesus nicht verraten: „Ohne Judas kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Erfüllung des Heilsplans. Keine Kirche ohne diesen Mann; keine Überlieferung ohne den Überlieferer.“ (Jens, 8) Judas habe getan, was getan werden musste. Er habe gewollt, was Gottes Wille war. „Einer mußte es tun – und dieser eine war Judas.“ (Jens, 9) Dass er sich dem verzweifelten Martyrium seiner Tat nicht entzogen habe, gereichte der Menschheit zu ewigem Heil: dafür gebühre Judas nicht nur tiefempfundener Dank, sondern religiöse Verehrung. Nach anfänglichem Zögern eröffnete der Jerusalemer Patriarch daraufhin das Verfahren. Exegeten und Dogmatiker, Kirchenhistoriker und Archäologen, Kunstsachverständige und Philologen wurden als Gutachter herangezogen. Laut Zwischenbericht ergaben sich drei Hauptgesichtspunkte möglicher Beurteilung. „Erstens die psychologische These: Judas als Verräter aus schnöder Gewinnsucht. Sklave des Geldes. Ehrgeizling, Heuchler, Neider und Hasser. (Diese These wurde in erster Linie von den österreichischen Moraltheologen vertreten.) Zweitens die politische These: Judas als Zelot, der, von Christus enttäuscht, in Gethsemane einen Volksaufstand anzetteln möchte. (Dies war die These, die sich am häufigsten in den Gutachten aus Lateinamerika fand.) Drittens die eschatologische These: Judas als Anwalt des Messianismus, der’s darauf anlegt, Jesus durch einen Scheinverrat dahin zu bringen, sich als Herrn der Welt auszuweisen. (Diese These wurde von einer Minderheit ortsansässiger Theologen, vor allem den Dominikanern, vertreten.)“ (Jens, 24 f.) Keine dieser Deutungsperspektiven indes konnte zu wirklich befriedigenden Ergebnissen führen. Judas war weder ein gewinnsüchtiger Betrüger
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noch ein Theologe der Revolution, noch ein Vertreter konsequenter Eschatologie und radikaler Naherwartung. Man bemühte sich daraufhin um eine Systematisierung von Judas-Theorien unter primär dogmatischen Aspekten und gelangte, wie notiert wurde, zu einer archetypischen Trias, wonach Jesus entweder als Opfer des Judas oder Judas als Opfer Jesu oder beide als gemeinsames Opfer des göttlichen Planes zu gelten hätten. Letztere Version, die der Sache nach dem Antrag des Franziskanerpaters entsprach, wurde als die theologisch überzeugendste empfunden und als Votum für die Seligsprechung des Judas an die vatikanische Ritenkongregation weitergeleitet. Um kurzen Prozess zu machen: Judas wurde in Rom nicht seliggesprochen, was ausnahmsweise nichts mit dem notorischen Traditionalismus der dortigen Kirchenbehörde, sondern ausschließlich damit zu tun hat, dass der vorangestellte Bericht insgesamt auf einer literarischen Fiktion beruht. Sie stammt von Walter Jens und ist in seinem 1975 im Stuttgarter Kreuz-Verlag erschienenen Buch „Der Fall Judas“ entworfen worden mit dem Ziel, „die Strittigkeit eines Falls zu demonstrieren, der, nach einem tausendfachen Schuldspruch, scheinbar längst erledigt ist“ (Jens, 95), in Wahrheit aber „der Revision durch eine neue Instanz“ (ebd.) bedarf. „Die Akten“, so das Schlusswort des Jensschen Traktats, „sind offen.“ (Ebd.) Sie sind es auch heute noch und werden, so will es Historischer und scheinen, bis ans Ende der Tage nicht geschlossen kerymgatischer Judas werden können. Zu zahlreich und zu widersprüchlich sind die Deutungen, die sich mit der biblischen Judasfigur verbunden haben: man typisierte sie zur Inkarnation des Bösen, zur Symbolgestalt der Subversion, zum Exponenten rigiden Selbstbehauptungswillens, zum unschuldigen Werkzeug, zum Produkt der Sagenbildung, zur Projektion des Unbewussten oder zu einer narrativen Fiktion (vgl. Klauck, 17–32). Wer war Judas? Eine historisch-kritische Antwort auf diese Frage zu geben, ist schwierig und, wenn überhaupt, nur in hypothetischer Form möglich. Außerbiblische Quellen fehlen. Berichtet wird über Judas ausschließlich im Neuen Testament, allerdings nur in den Evangelien und in der Apostelgeschichte, nicht hingegen, jedenfalls nicht explizit, in den anderen Schriften einschließlich der Paulinen. Dabei ist vorauszusetzen, dass die neutestamentlichen Zeugnisse keine Judasbiographie, sondern kerygmatische Aussagen über den Fall des Judas bieten wollen, die – wie ja auch die Evangelien vom Leben des irdischen Jesus – in österlicher Perspektive formuliert und in reflexer Weise mit Erfahrungen der urchristlichen Gemeinde verbunden sind. Unter dieser Prämisse verbietet es sich, um ein Beispiel zu geben, von vornherein, die Judasgestalt zu psychologisieren und die Motivfrage bzw. die Frage, aus welchen inneren Gründen seiner Persönlichkeit Judas zum Verräter wurde, ins Zentrum der Erörterungen zu stellen. Will man sich nicht bloßen Phantasieproduktionen überlassen, die gegenwärtige Anliegen unkritisch in die Vergangenheit projezieren, so wird die Rückfrage nach dem historischen Judas bei jenen Traditionsstücken einzusetzen haben, die den synoptischen Evangelien, also Markus, Matthäus und Lukas, und unbeschadet
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aller Eigenständigkeit dem Johannesevangelium gemeinsam sind und von ihnen als Überlieferungsgut bereits vorausgesetzt werden. In diesen Anteilen dürften die ältesten Spuren der neutestamentlichen Judasüberlieferung vorliegen. Ein Konsens der Synoptiker, um sich vorzüglich auf diese zu konzentrieren, ist in bezug auf die Judastradition insbesondere in dreifacher Hinsicht zu konstatieren: Erstens hinsichtlich der Judastat, die grundlegend mit dem griechischen Wort paradidonai beschrieben wird, was weniger „verraten“ als „überliefern“, „übergeben“, „ausliefern“ bedeutet; zweitens hinsichtlich der Zugehörigkeit des Judas zum „Zwölferkreis“ und drittens hinsichtlich seines Namens und Beinamens. Der Name Judas selbst stellt insofern kein Problem dar, als es sich bei ihm eindeutig um die gräzisierte Form eines gängigen jüdischen Eigennamens handelt, der im Bereich biblischer Tradition häufiger begegnet. Erinnert sei lediglich an den Führer der Juden im Freiheitskampf gegen die Syrer, Judas Makkabäus, an den Herrenbruder Judas oder an den ebenfalls zum Kreis der Zwölf gehörigen Judas, den Sohn des Jakobus. Problematischer ist das genaue Verständnis des Beinamens „Iskariot“. Wahrscheinlich benennt es Judas, um ihn von seinem Namensvetter aus dem Zwölferkreis zu unterscheiden, als den „Mann aus Kariot“, einem in Jos 15,25 erwähnten Ort im südlichen Judäa. Diese Deutung, derzufolge es sich bei Judas um den einzigen Nicht-Galiläer unter den Zwölf handelt, ist nicht nur die älteste, sondern auch die am häufigsten vertretene. Weniger wahrscheinlich, aber nicht auszuschließen ist neben einer Assoziation des Aramäischen schequar (täuschen) die Erklärung, die den Judasbeinamen von sikarios ableitet und seinen Träger damit als Angehörigen der Sikarier kennzeichnet. Dabei handelt es sich um jüdische Widerstandskämpfer des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, deren genaues Verhältnis zur Aufstandspartei der Zeloten, welcher der Jesusjünger Simon Kananäus (vgl. Mk 3,18f par Mt 10,4) zugerechnet wird (vgl. 6,15; Apg 1,13), umstritten ist. Von den Unsicherheiten um die Deutung seines Beinamens bleibt die Tatsache unberührt, dass Einer von den Zwölfen Judas einer von den Zwölfen war, also zu den Jüngern gehörte, die der irdische Jesus in Form einer prophetischen Zeichenhandlung als Repräsentanten Israels berufen hatte und mit denen er regelmäßige Tischgemeinschaft hielt. Entsprechend seiner Zugehörigkeit zu den Zwölf wird auch die Teilnahme des Judas am Letzten Mahl Jesu selbstverständlich vorausgesetzt. Immer wieder und beinahe stereotyp hebt das biblische Zeugnis hervor, dass Judas ein Jünger war: „nicht mehr, aber auch nicht weniger als Petrus und Johannes, derselben Berufung, Einsetzung und Aussendung teilhaftig wie diese. Eher mehr als weniger, sofern er als Einziger unter den Anderen mit Jesus zusammen dem Stamme Juda, dem Davidsstamme angehört. Bei keiner der verschiedenen Aufzählungen der Namen der Zwölfe wird vergessen, zuletzt auch seiner ausdrücklich zu gedenken.“ (Barth, KD II/2, 509) Der, von dem gesagt wird, er habe Jesus den Feinden und dem schließlichen Tod ausgeliefert, war nicht irgendein Fernstehender, sondern einer von den Allernächsten. Zur Kennzeichnung der Tat des Judas wird im Neuen Testament nahezu aus-
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schließlich das Verb paradidonai und seine Derivate verwendet. Dabei handelt es sich um ein außerordentlich vielschichtiges Wort, das auch außerhalb der Judastradition vielfach begegnet. So kann der Begriff der paradosis, der auf die Tat des Judas angewendet rein negative Bedeutung hat, andernwärts ganz positiv zu Beschreibung apostolischer Überlieferung verwendet werden, um schließlich und im letzten Sinngrund jenen Vollzug zu bezeichnen, in welchem Gott um unseretwillen Jesus dahingibt und Jesus um unseretwillen ganz dem Willen seines himmlischen Vaters hingegeben ist bis hin zu seiner Auslieferung ans Kreuz. Dieser Zusammenhang darf nicht unbedacht bleiben, wenn die Untat der verräterischen Auslieferung Jesu durch Judas theologisch in Betracht kommen soll. Für sich betrachtet scheint sie freilich nichts als ein schändlicher Akt zu sein, der fortschreitend üble Folgen zeitigt, bis der den Widersachern ausgelieferte Unschuldige endgültig zur Strecke gebracht ist. Nach der Tat des Judas liefert das Synhedrium Jesus Pilatus aus (vgl. Mt 15,1 par), welcher ihn dem Willen des Volkes (vgl. Lk 23,35) bzw. der Hinrichtungstruppe (vgl. Mt 15,15 par) preisgibt. Stellt die Judastat so gesehen das initierende Moment eines Jesus ans Kreuz bringenden Auslieferungsprozesses dar, so ist damit die Frage, welche Rolle der historische Judas bei dem bezeichneten Auslieferungsprozess ursprünglich spielte, eher angedeutet als in fixer Weise umschrieben. Hat Judas Jesus, indem er ihn auslieferte, denunziert und eines spezifischen Vergehens bezichtigt? Hat er, wie bei Johannes, seinen aktuellen Aufenthaltsort verraten? Bedeutet paradidonai im technischen Sinne der Gerichtssprache eine förmliche Auslieferung an das Synhedrium oder ganz allgemein eine Übergabe zum Tode? Übte Judas Verrat, indem er Jesus die Treue brach und sich in die Schar der Gegner einreihte? Hat er die Festnahme seines Meisters aktiv bewirkt, oder war er eher Statist? Stellte sich die Distanz zu Jesus und den übrigen Jüngern, wie sie beim Letzten Mahl in der Nacht des Verrats eklatant zutage tritt, langsam oder plötzlich ein? Was wurde zum Anstoß, was war das Motiv des Skandals? Wir wissen es nicht. „Was wir historisch gesehen über Judas wissen, ist sehr, sehr wenig, aber doch etwas mehr als nichts.“ (Klauck, 137) Der historische Kern der ansonsten legendarischen Judasüberlieferung lässt sich nach Auskunft aktueller exegetischer Forschung knapp und dürftig so bezeichnen: „Judas hat sich von Jesus abgewandt, äußerlich wie innerlich, und bei den Ereignissen um die Verhaftung Jesu in irgend einer Weise eine unrühmliche Rolle gespielt.“ (Klauck, 54) Als wahrscheinlichsten Beweggrund seiner Abkehr wird man „eine tiefe Enttäuschung vorgefaßter messianischer Erwartungen“ (Klauck, 55) in Betracht zu ziehen haben. Schon Goethe hatte bei Gelegenheit eine entsprechende Auffassung geäußert. Judas sei, „so gut als die klügsten der übrigen Anhänger, fest überzeugt gewesen, daß Christus sich als Regent und Volkshaupt erklären werde, und habe das bisher unüberwindliche Zaudern des Herrn mit Gewalt zur Tat nötigen wollen, und deswegen die Priesterschaft zu Tätlichkeiten aufgereizt, welche auch diese bisher nicht gewagt“ (Goethe, 696). Was daran Dichtung, was historische Wahrheit ist, wissen wir nicht; die Motivationslage des Judas ist unbekannt.
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Was wir hingegen sehr genau kennen, ist die Tatsache, dass Judas infolge der Rolle, die er im Auslieferungsprozess Jesu spielte, von der urchristlichen Gemeinde wie später von Daub und vielen anderen als der personale Inbegriff des Verwerflichen, ja als der Verworfene in Person wahrgenommen wurde. Dabei ist allerdings, um zu keinem vorschnellen Fehlurteil zu gelangen, stets mitzubedenken, was im Kontext der Gefangennahme Jesu über die anderen Jünger gesagt wird: „Da verließen ihn alle und flohen.“ (Mk 14,50; vgl. Mt 26,56) Selbst der Bekenner Petrus versagt. Auf seine Beziehung zu Jesus hin angesprochen, „fing er an zu fluchen und schwor: Ich kenne diesen Menschen nicht, von dem ihr redet.“ (Mk 14,71) Dass Judas im Zusammenhang der Passionstradition als der prototypische Initiator der Auslieferung in Erscheinung tritt, steht trotz vollzogener Trennung, ja in Bestätigung von dieser in einer Beziehung zum Gesamtverhalten der Zwölf als der von Jesus erwählten – Israel und in, mit und unter Israel die Menschheit insgesamt repräsentierenden – Jüngerschar. Damit ist Judas in keiner Weise entschuldigt. Aber seine Schuld darf nicht isoliert, historisch distanziert und ihm allein überlassen werden, so als sei er der stellvertretende Sündenbock alles Bösen. Das unbegreifliche Vergehen des Judas lässt sich nicht mit dem Hinweis erledigen, es sei das seine. „Was geht das uns an? Das ist deine Sache.“ (Mt 27,4) Das Neue Testament spricht in Bezug auf Judas eine gänzlich andere Sprache: Tua res agitur! Das älteste Evangelium nach Mk beginnt seine Judasüberlieferung, nachdem es den „Auslieferer“ Tua res agitur (Mk 14,44: ho paradidous) zuvor schon als den Letzten der Zwölf aufgelistet hatte (Mk 3,19 par Mt 10,4; Lk 6,16), mit der umstandslosen Feststellung: „Judas Iskariot, einer der Zwölf, ging zu den Hohepriestern. Er wollte Jesus an sie ausliefern. Als sie das hörten, freuten sie sich und versprachen, ihm Geld dafür zu geben. Von da an suchte er nach einer günstigen Gelegenheit (einem guten Kairos, wie es wörtlich heißt), ihn auszuliefern.“ (Mk 14,10 f.) Das wohl schon bei Mk redaktionelle Motiv des Honorarversprechens wird bei Mt zum Beweggrund des Verrats umgestaltet. Massiver noch tritt das Geldmotiv bei Johannes zutage. Als Maria, die Schwester von Lazarus „ein Pfund echtes, kostbares Nardenöl“ (Joh 12,3) aufwendet, um Jesus – man beachte den Bezug zur Fußwaschungsszene im folgenden Kapitel – die Füße zu salben, da mokiert sich Judas mit der Frage: „Warum hat man dieses Öl nicht für dreihundert Denare verkauft und den Erlös den Armen gegeben?“ (Joh 12,5) Kommentierend hinzugefügt wird, er habe das nicht gesagt, „weil er ein Herz für die Armen gehabt hätte, sondern weil er ein Dieb war; er hatte nämlich die Kasse und veruntreute die Einkünfte.“ (Joh 12,6) Auch bei Mk und Mt (Mk 14,3–9; Mt 26,6–13; vgl. Lk 7,36–50) steht der Verratsbeschluss des Judas in direktem Bezug zur Salbungsperikope. Doch sind es in diesem Falle einige bzw. alle Jünger, die murren und sagen: „Wozu diese Verschwendung?“ (Mk 14,4; Mt 26,8) Der verschwenderischen Liebe zu Jesus, wie Maria sie übt, spottet die dürftige Summe von dreißig Silberlingen Blutgeld Hohn, um derentwillen Judas seinen Herrn preisgibt. Der Wert der Summe entspricht gemäß Ex 21,32 dem Preis einer
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Der Fall Judas
Sklavenkraft. Nach Sach 11,4–17 stellt sie fernerhin den Lohn dar, den ein guter Hirte erhält, der die armen Schafe seiner Herde eine Weile lang hütet, bis sie von den reichen Herren verkauft und zur Schlachtbank geführt werden. Der Judaslohn impliziert diesen Bezug im Modus antitypischer Verkehrung: der Verräter erhält von den Führern des Volkes die schandbare Zahlung dafür, dass er den guten Hirten selbst ans Schlachtmesser liefert. Zugleich verkauft er für den Preis eines Linsengerichts das Erstgeburtsrecht seiner Jüngerschaft, um sich unter dem Schein intimer Nähe an die Spitze der Gegner zu stellen, die Jesus nach dem Leben trachten. Der Widersinn der gesamten Unternehmung ist in der lächerlichen Summe der dreißig Silberlinge bereits vorweggenommen, um am verzweifelten Ende der Aktion endgültig manifest zu werden; in zielloser Fortführung der prophetischen Zeichenhandlung von Sach 11,13 wirft Judas „die Silberstücke in den Tempel: dann ging er weg und erhängte sich.“ (Mt 27,5) Bei Lk steht das ebenso fatale wie selbstverschuldete Ende des Judas von Anfang an fest. Der Verratsentschluss wird eingeleitet mit der lakonischen Bemerkung: „Der Satan aber ergriff Besitz von Judas.“ (Lk 22,3) Dessen betont herausgestellte Geldgier erschöpft sich nicht in der Untugend des Geizes, von der sich ein guter Personkern gegebenenfalls moralisch distanzieren ließe. Die Begierde des Judas ergreift in diabolischer Weise von ihm selbst Besitz. Im Verfolg seines Eigensinns wird Judas seiner selbst enteignet. Der Verräter (Lk 6,16: prodotes) ist verraten, der Verkäufer verkauft, der Auslieferer preisgegeben: Judas ist vom Bösen besessen. Es ist Jesus vorbehalten, dies zu offenbaren und Vom Bösen besessen den Verräter als denjenigen zu identifizieren, der er ist. Während er mit den Zwölfen beim Letzten Abendmahl zu Tische sitzt, spricht der Herr: „Amen, ich sage euch: Einer von euch wird mich verraten und ausliefern, einer von denen, die zusammen mit mir essen.“ (Mk 14,18; vgl. Ps 41,10 sowie Mt 26,21; Lk 22,21) Die Jünger reagieren betroffen und betrübt. Sie fragen, „wer von ihnen das wohl sei, der so etwas tun werde“ (Lk 22,23): „Bin ich es etwa, Herr?“ (Mt 26,22) „Doch nicht etwa ich?“ (Mk 14,19) „Einer nach dem andern“ (Mk 14,19: heis kata heis), nicht nur dieser oder jener, sondern „ein jeder“ (Mt 26,22: heis hekastos) fragt so. Das setzt voraus, dass keiner ausschließen kann, er selbst sei der Verräter – ein Aspekt, der bedacht zu werden verdient. Da spricht Jesus nach Mk 14,20 zu ihnen: „Einer von euch Zwölf, der mit mir aus derselben Schüssel ißt (ho embaptomenos).“ Matthäus steigert diese Antwort zu, indem er präzisiert: „Der, der die Hand mit mir in die Schüssel getaucht hat (ho embapsas), wird mich verraten.“ (Mt 26,23) Geläufiger ist die Szene in der Form, die ihr der Evangelist Johannes gegeben hat. Nachdem er „im Innersten erschüttert“ (Joh 13,21) den ratlosen Jüngern (Joh 13,22: aporoumenoi) den bevorstehenden Verrat angekündigt hatte und vom Allernächsten unter den Zwölf, der an seiner Seite lag (Joh 13,23: „es war der, den Jesus liebte“), gefragt worden war, wer der Verräter sei, da antwortet Jesus: „Der ist es, dem ich den Bissen Brot, den ich eintauche (bapso), geben werde.“ (Joh 13,26) Als Judas den ihm von Jesus gegebenen Bissen genommen hatte, da fuhr, wie es heißt, der
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Satan in ihn. Jesus aber sagte zu ihm: „Was du tun willst, das tu bald (tachion)!“ (Joh 13,27) Hält man sich an die synoptische Tradition, dann folgt auf die Verratsankündigung bzw. auf die Bezeichnung des Verräters das altes Überlieferungsgut repräsentierende Logion, demzufolge der Menschensohn zwar seinen Weg gehen muss, der ihm von Gott nach Maßgabe der Schrift bestimmt ist: „Doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird. Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre.“ (Mt 26,24; Mk 14,21;vgl. Lk 22,22) Ohne den Verräter bereits ausdrücklich beim Namen zu nennen, war es das – ursprünglich möglicherweise zweigeteilte – Logion Mk 14,21, das die neutestamentliche Judastradition theologisch zentral bestimmen sollte, nicht zuletzt weil es in der gegebenen Form einen Zusammenhang herstellt zwischen dem gottgewollten, von der Schrift gewiesenen Weg Jesu am Kreuz und seiner Auslieferung durch Menschen und zwar nicht lediglich durch Menschen im allgemeinen, sondern durch jenen Menschen (Mk 14,21: ho anthropos ekeinos), dessen schieres Nichts und Niegewordensein ein weitaus geringeres Übel für ihn wäre als die Hölle, die seine Untat bereitet hat. „Da fragte Judas, der ihn verriet: Bin ich es etwa, Rabbi (ego emi, rabbi)? Jesus sagte zu ihm: Du sagst es.“ (Mt 26,25) Der Weg des sich selbst exkommunizierenden, die Mahlgemeinschaft verlassenden Judas führt in Macht der Finsternis die Dunkelheit. „Als Judas den Bissen Brot genommen hatte“, heißt es bei Johannes (13,30), „ging er sofort hinaus. Es war aber Nacht.“ Der „Sohn des Verderbens“ (Joh 17,12: hyios tes apoleias) wird zum willfährigen Instrument der Mächte der Finsternis. „Jetzt hat die Finsternis die Macht (exousia tou skotous)“ (Lk 22,53), sagt Jesus in der Nacht des Verrats und seiner Gefangennahme. Als Anführer einer Schar mit Schwertern und Knüppeln bewaffneter Männer nähert sich Judas seinem Meister. Ein Zeichen ist verabredet: „Der, den ich küssen werde (phileso), der ist es. Nehmt ihn fest, führt ihn ab, und lasst ihn nicht entkommen.“ (Mk 14,44; vgl. Mt 26,48; Lk 22,47) Eilends und in blinder Hast wird die ruchlose Tat ins Werk gesetzt. „Und als er kam, ging er sogleich auf Jesus zu und sagte: Rabbi! Und er küsste ihn. Da ergriffen sie ihn und nahmen ihn fest.“ (Mk 14,45f ) In einer aufs Äußerste reduzierten Knappheit ist der schändliche Auftritt des Judas bei Mk in Szene gesetzt. Bei Mt und Lk richtet Jesus ein letztes Wort an den Verräter: „Freund (hetaire), dazu bist du gekommen?“ (Mt 26,50) Man könnte auch übersetzen: „Freund, tue, wozu du hier bist!“ Und Lk lässt Jesus sagen: „Judas, mit einem Kuß verrätst du den Menschensohn?“ (Lk 22,48) „Treu gemeint sind die Schläge eines Freundes, / doch trügerisch die Küsse eines Feindes“, lautet das alttestamentliche Sprichwort (Spr 27,6). Die Erinnerung an 2. Sam 20,9f drängt sich auf: „Joab sagte zu Amasa: Geht es dir gut, mein Bruder? und griff mit der rechten Hand nach dem Bart Amasas, um ihn zu küssen. Amasa aber achtete nicht auf das Schwert, das Joab in der (linken) Hand hatte, und Joab stieß es ihm in den Bauch, so daß seine Eingeweide zu Boden quollen.“ Ähnlich
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und doch unvergleichlich anders ist die Szene der Gefangennahme Jesu angelegt: „Sei gegrüßt, Rabbi! Und er küsste ihn.“ (Mt 26,49) Der Jünger, dessen trügerischer Gruß (vgl. Mt 27,29) und Kuss die Schärfe des Schwertes gegen seinen Meister richtet, wird am Ende mit herausgequollenen Eingeweiden darniederliegen (vgl. Apg 1,18), wohingegen der Verratene und dem Tode Ausgelieferte als Herr des Lebens obsiegt. In proleptischer Antizipation dieses Ausgangs stellt sich das Geschehen der Gefangennahme Jesu bei Johannes dar (vgl. Joh 18,1–11): Jesus befindet sich mit den Jüngern im Garten jenseits des Kidrontales, wo sie oft zusammengekommen waren. Auch Judas kennt den Ort. Er weist den Häschern den Weg. Jesus, „der alles wusste, was mit ihm geschehen sollte (panta ta erchomena)“, tritt ihnen souverän entgegen und fragt: „Wen sucht ihr? Sie antworteten ihm: Jesus von Nazaret. Er sagte zu ihnen: Ich bin es (ego eimi). Auch Judas, der Verräter stand bei ihnen. Als er zu ihnen sagte: Ich bin es!, wichen sie zurück und stürzten zu Boden. Er fragte sie noch einmal: Wen sucht ihr? Sie sagten: Jesus von Nazaret. Jesus antwortete: Ich habe euch gesagt, daß ich es bin. Wenn ihr mich sucht, dann lasst diese gegen! So sollte sich das Wort erfüllen, das er gesagt hatte: Ich habe keinen von denen verloren, die du mir gegeben hast.“ (Joh 18,4–9) Im Bodensturz der Finstermänner, die mit „Fackeln, Laternen und Waffen“ (Joh 18,3) gegen Jesus vorrücken, ist sowohl die österliche Niederlage des Todes und seiner Grabwächter präfiguriert als auch das Ende, welches Judas nach Maßgabe der lukanischen Apostelgeschichte gefunden hat. Während sich der Verräter gemäß Mt 27,3ff nach vergeblicher Reue über das von ihm verschuldete Todesurteil, das einen Unschuldigen traf, wie einst Ahitofel (vgl. 2 Sam 17,23) dem Strang überlässt, kauft „der Anführer derer, die Jesus gefangennahmen“ (Apg 1,16), gemäß Apg 1 – ohne dass von Reue die Rede wäre – mit dem Lohn für seine Untat ein Grundstück: „Dann aber stürzte er vornüber zu Boden, sein Leib barst auseinander, und alle Eingeweide fielen heraus.“ (Apg 1,18) So berichtet es Petrus im Kreise der Brüder aus Anlass der durch den Fall des Judas nötig gewordenen Nachwahl des Matthias. Von einem Grundstückskauf ist trotz aller sonstiDas Ende des Judas gen Unterschiede im Zusammenhang des Todes des Judas auch bei Mt die Rede. Allerdings fungieren als Käufer die Hohenpriester: Das Blutgeld der dreißig Silberlinge, das der über seine Untat verzweifelte, von seinen Auftraggebern sich selbst überlassene Judas auf dem Weg zum Galgen in den Tempel warf, taugt nicht für den Tempelschatz; es wird für den Erwerb des sog. Töpferackers investiert, der – als Begräbnisplatz für Fremde fungierend – Blutacker heißt „bis heute“ (Mt 27,8). Im Hintergrund der Ätiologie steht als Erfüllungszitat die Stelle Sach 11,12 f. Mt nennt den Text allerdings ein Wort des Propheten Jeremia, was einen beziehungsreichen Sinn auch dann ergibt (vgl. Jer 18,2f; 19,1ff; 32,6ff ), wenn ein Versehen vorliegen sollte. Auch nach Lukas ist das ominöse Grundstück als Blutacker bekannt, wenngleich nicht weil es mit Blutgeld gekauft wurde, sondern weil Judas darauf sein
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Blut vergossen hat: die Einwohner von Jerusalem nennen es nach Apg 1,19 „in ihrer Sprache Hakeldamach“. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf das Buch der Psalmen: „Sein Gehöft soll veröden, niemand soll darin wohnen! und sein Amt soll ein anderer erhalten!“ (Apg 1,20; vgl. Ps 69,26; 109,8) „Brüder!“, spricht Petrus zu Beginn der Apostelgeschichte im Rahmen der durch Verrat und Tod des Judas nötig gewordenen Zuwahl zum Kreise der Zwölf: „Er wurde zu uns gezählt und hatte Anteil am gleichen Dienst.“ (Apg 1,17) Gemeint ist der Mann, an dessen Stelle ein anderer zu treten hat, Judas Iskariot, der Jesus auslieferte. Der Verräter, noch einmal, gehörte zum engsten Kreis dessen, den er verriet. Signifikanterweise wurde der Kuss zum Wirkzeichen seiner Untat. Beim Mahl, in dem der Herr im Angesicht des Todes sich selbst für die Seinen dahingab, um eschatologische Gemeinschaft zu begründen, wurde der Sündenfall des Judas offenbar. Es erfüllte sich das Schriftwort: „Einer, der mein Brot aß, hat mich hintergangen.“ (Joh 13,18; vgl. Mk 14,18 sowie Ps 41,10) „Er hat“, wie Jesus bei Johannes wörtlich sagt, „seine Ferse gegen mich erhoben“, in radikaler Gegenwendung gegen den, der ihm zugewendet war, seine Bekehrung ins Gegenteil verkehrt. Vom Licht, das in der Finsternis scheint, abgekehrt, verfällt Judas dem Dunkel der Nacht. Es ist der Fall der Sünde selbst, der im Falle des Judas vorstellig wird. „Judas. Er ist der große Sünder des Neuen Testamentes.“ (KD/2, 511) Als personaler Inbegriff des Verworfenen kann er mit dem Bösen selbst differenzlos in eins gesetzt werden: Einer von euch ist „ein Teufel“, erwidert Jesus Joh 6,69 seinen Jüngern und der Evangelist fügt hinzu: „Er sprach von Judas, dem Sohn des Simon Iskariot: denn dieser sollte ihn verraten: einer der Zwölf.“ (Joh 6,71) Das Ende des Judas – sei es das Verhängnis des Galgens, sei es das Auseinanderbersten seiner Existenz – zeigt die Verkehrtheit seines gesamten Beginnens. Judas ist an sich selbst zugrundegegangen, er hat sich durch eigene Schuld zugrunde gerichtet. „Was geht das uns an?“ (Mt 27,4), sagen die einen und richten sich vom Blutgeld einen Begräbnisplatz für Fremdlinge ein. „Bin ich es etwa, Herr?“ (Mt 26,22), „doch nicht etwa ich?“ (Mt 14,19), fragen die anderen, denen der Fall des Judas zu Herzen geht, weil sie als zum Kreise Jesu gehörig dem Verräter nahestanden. Christen wissen, auf welche Seite sie gehören. Ihr Spruch kann daher sinngemäß nur lauten: „Drum wir dich armen Juda, darzu die Judenschaar / Nicht billig dürfen schelten, die Schuld ist unser gar.“ (WA TR 6, 257, 9 f. [Nr. 6897]) Um eines unumwunden und in der nötigen Deutlichkeit zu sagen: Der Fall des Juden Judas ist früh schon und bis heute Anlass zu christlichem Antisemitismus geworden (vgl. Goldschmidt). Das ist nicht nur nicht recht, sondern billig im schnödesten und niederträchtigsten Sinn, es ist feiler Verrat nicht nur am Christentum, sondern mehr und anderes noch: ein Verrat an Jesus Christus selbst, der dem Verrat des Judas gleichkommt. Der Fall des Judas ist ein Fall des Volkes Israel allenfalls dergestalt, dass er als Fall aller erkannt werde, seien es Juden oder Heiden. Der Fall des Judas ist unser Fall. In einer seiner christlichen „Reden beim Altargang am Freitag“ aus dem Jahre 1848 hat Sören Kierkegaard dies unter Bezug auf 1. Kor 11,23 so zum Ausdruck gebracht: „In der Nacht, da Er verraten ward.
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Welches Verbrechen hat denn wohl mehr Ähnlichkeit mit der Nacht als ein Verrat, o, und welches Verbrechen gleicht weniger der Liebe als ein Verrat, ach, und am wenigsten, wenn es geschieht mit einem Kuß! Indes, freilich ist Judas der Verräter, im Grunde jedoch sind sie alle Verräter . . . Judas verrät Ihn an die Hohenpriester, und die Hohenpriester verraten Ihn an das Volk, und das Volk an Pilatus, und Pilatus verrät Ihn an den Tod aus Furcht vor dem Kaiser, und das Gleiche tun aus Menschenfurcht die Jünger, die in der Nacht fliehen, und Petrus, der Ihn im Vorhof verleugnet. Der war der Letzte, aber o, wenn der letzte Funke verlischt – so ist alles Finsternis. Es gibt im ganzen Geschlecht nicht einen Menschen, nicht einen einzigen, der mit Ihm zu tun haben will – und Er ist die Wahrheit!“ (Kierkegaard, 300) Wie muss uns Judas und der Judas in uns im österJudasgedächtnis lichen Lichte der Wahrheit Jesu Christi erscheinen? Als ein zuletzt Schuldloser, der im Grunde nichts dafür konnte, weil er nur vollstreckte, wozu er fatalerweise durch die Macht des Schicksals bestimmt war? Als ein zwar zeitweise vom Teufel Gerittener, aber ansonsten durchaus brauchbarer und gar nicht so übler Mensch? Als ein Mann Gottes am Ende gar, der möglicherweise eine höhere Erkenntnis des göttlichen Heilsplans besaß und durch seine Tat – felix culpa! – der Menschheit zum Heil verhalf, wie einst die gnostischen Kainiten in ihrem „Evangelium des Judas“ in Umwertung aller Werte meinten sagen zu dürfen? Nichts von alledem: Judas Iskariot ist ein Sünder, dessen gottlose, abgründige, unbegreifliche und von den Mächten der Finsternis umnachtete Untat seine Schuld ist, die durch nichts in der Welt und am allerwenigsten dadurch zu entschuldigen ist, dass sie als die Schuld der adamitischen Ursünde, als das manifeste peccatum originale unser aller Sünde ist. Indes hindert letztere Einsicht, sowenig sie Judas entschuldigt, konsequent daran, die Schuld auf ihn und von uns abzuschieben. Wozu das christliche Gedächtnis des Judas Ursache gibt, ist mitnichten Schuldverdrängung, sondern Reumütigkeit und offenes Bekenntnis der Sünde: „Nun, was du, Herr, erduldest, / ist alles meine Last; / ich hab es selbst verschuldet, / was du getragen hast. / Schau her, hier steh ich Armer, / der Zorn verdienet hat. / Gib mir, o mein Erbarmer, / den Anblick deiner Gnad.“ (Evangelisches Gesangbuch 85,4) Wohl dient das biblische Judasbild auch der paränetischen Mahnung, es anders und besser zu machen als er. Doch ist dies eine Folge abgründiger Sündenerkenntnis, die ihr vorangeht und den wesentlichen Grund christlichen Judasgedächtnisses darstellt. Das Judasgedächtnis soll uns den unvorstellbaren Fall der Sünde vorstellig machen, der unser aller Fall ist, damit offenbar werde, was die Sünde ihrem Unwesen nach ist: des Todes und des Teufels. Als Reflex auf den Tod des Judas und seine pekuniären Umstände – die hohepriesterliche Zurückweisung des Blutgeldes, das nicht für den Opferstock taugt, und dessen schließliche Investition für den sprichwörtlichen Blutacker – lässt Johann Sebastian Bach in seiner Matthäuspassion den Bassisten in einem Arieneinschub (Nr. 51) singen: „Gebt mir meinen Jesum wieder! / Seht, das Geld, den
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Mörderlohn, / Wirft euch der verlorne Sohn / Zu den Füßen nieder!“ Ergreifend ist diese Passage deshalb, weil der Hörer nicht umhin kann, die Distanz zu Judas aufzugeben und sich tendenziell mit ihm zu identifizieren. Intendiert ist, mit Hans Blumenberg (Matthäuspassion: Die Silberlinge) zu reden, „die Teilnahme der Sünderseele an dem niemals gesprochenen, dennoch als notwendig insinuierten Judaswort: ‚Gebt mir meinen Jesum wieder!‘“ (Blumenberg, 188) Muss diese verzweifelte Bitte nicht notwendig unerhört bleiben? Kann denn Geschehenes ungeschehen, der vollzogene Gang der Dinge rückgängig gemacht werden? Gibt es denn eine Rückkehr vom Tode zum Leben, von der Hölle zum Himmel? Hat denn der Täter der Untat die Möglichkeit, seine Sünde zu sühnen und das Opfer, das seine Taten erlitt, zu versöhnen? Er hat sie nicht, und keine Macht der Erde kann sie ihm verleihen, sowenig irdische Mächte Tote zum Leben zu erwecken vermögen. Der Sünder bleibt mit seiner Schuld zwangsläufig allein. „Da sieh Du zu!“ (Mt 27,4) Judas ist einsam, wie ein Mensch einsamer nicht sein kann. Er ist ganz auf sich gestellt. Niemand kann ihm seinen Jesus, den Grund des Lebens, zu dem er berufen und erwählt war, wiedergeben, am allerwenigsten er selbst. Judas, ein hoffnungsloser Fall!? Tatsache ist, dass im Neuen Testament nach seinem verhängnisvollen Tod explizit nicht mehr von ihm die Rede ist. Wie immer es um sein Ende, das in seiner abschreckenden Grässlichkeit legendarisch fortschreitend bis zur Farce hin ausgestaltet wurde, historisch bestellt gewesen sein mag: Für die christliche Gemeinde war Judas Iskariot als der Jünger, der Jesus verriet, für immer gestorben und abgetan. „Er lebt nur noch als Chiffre, als negative Symbolfigur im kollektiven Gedächtnis fort“ (Klauck, 123): Judas – der theologische Antityp schlechthin, der personifizierte Antichrist. Zu Apokatastasisspekulationen, welche mit einer letztendlichen Wiederbringung aller rechnen, gibt seine Gestalt keinen Anlass. Im Gegenteil: Sie markiert – einem absoluten Haltschild gleich – die Gefahr eines Abfalls ins bodenlos Schreckliche, der nicht auszudenken ist. Einhalt zu gebieten ist indes auch der gegenläuMatthias und der figen Spekulation, welche die Judasgestalt in dreizehnte Zeuge unstatthafter Anmaßung des eschatologischen Urteils Gottes definitiv der individuellen Verdammnis preisgibt, um ihrer auf diese Weise eigenmächtig Herr zu werden. Auch dazu gibt das Neue Testament kein Recht. Es enthält vielmehr eine Reihe von Bezügen, die dazu angetan sind, den Fall des Judas nicht für erledigt zu erachten. Um nur einen dieser Bezüge zu benennen: Zu Beginn der Apostelgeschichte wird, wie erwähnt, an die Stelle des Judas Matthias in den Jüngerkreis gewählt. Doch spielt im Folgenden keineswegs er, von dem wir lediglich den Namen kennen, sondern ein Mann namens Paulus die entscheidende Rolle, dessen Apostolat zwar von Anfang an umstritten war, der aber nichtsdestoweniger und vielleicht gerade deshalb zu dem Apostel wurde, der dem Wort vom Kreuz, der Botschaft vom auferstandenen Gekreuzigten weiten Raum verschaffte, damit Juden und Heiden eins seien unter dem Evangelium. Ist
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es vermessen, einen impliziten Bezug zwischen Judas und Paulus, zwischen dem Inbegriff des Sünders und dem Verkünder der Rechtfertigung des Gottlosen aus Gnade um Christi willen durch Glauben zu vermuten? Ich denke, diese Vermutung, die übrigens schon Karl Barth gehegt hat (vgl. KD II/2, 529ff), ist nicht vermessen, sondern angemessen: Zwar ist der Bezug von Judas und Paulus, formal zu reden, gewiss ein Zusammenhang nicht synthetisierbarer Differenz, aber eben doch ein Zusammenhang, der in reflexer Gestalt in dem Verhältnis aufscheint, das zwischen Saulus und Paulus statthat. Wohl führt von Judas, der mit seinem Herrn auch seine Jüngerschaft verriet und Jesus ans Kreuz brachte, kein direkter Weg zu Paulus, der auch als vordamaszenischer Saulus und Christenverfolger vom Verräter Jesu dezidiert zu unterscheiden ist. Und doch waltet bei aller Diskontinuität eine geheime Verbindung, deren Geheimnis offenbar wird, wenn man den Blick auf denjenigen richtet, welchen dem verlorenen und verworfenen Judas niemand wiedergab und wiedergeben konnte, der aber in der Kraft des göttlichen Geistes als die für uns und zum Heil der Sünder dahingegebene Gabe österlich verherrlicht wurde zum ewigen Leben: auf den auferstandenen Gekreuzigten. Wo der Blick auf ihn gerichtet ist – und genau um diese Blickausrichtung ist es dem gesamten biblischen Zeugnis einschließlich der Judasüberlieferung zu tun –, da kann die unbußfertige und heillose Judasreue, die das Gericht Gottes in die eigene Hand nimmt und sich selbst richtet, zur bußfertigen und heilsamen Reue des Petrus umgestaltet, aus einem Saulus ein Paulus und aus einem Gottlosen, ja Gottwidrigen ein gerechtfertigter Sünder werden, der geladen ist zum Mahl der Versöhnung, das der Herr in der Nacht, da er verraten war, gestiftet hat. Judas ist „der große Sünder des Neuen Testaments“ (KD II/2, 511). Sein Fall, der sich in „unheimliche(r) Nähe zu Jesus Christus und seinen Aposteln“ (KD II/ 2, 509) ereignete, gibt wie kein anderer hamartiologisch zu denken, zumal dann wenn man ihn auf den Fall Adams rückbezieht und mit der Sündenverfallenheit des adamitischen Menschengeschlechts in Verbindung bringt. Denn dann muss der Fall Judas in bestimmter Hinsicht als unser aller Fall wahrgenommen werden. Sein Vergehen steht, wie immer man historisch darüber zu urteilen hat, für die definitive Faktizität und Radikalität der Ursünde und die prinzipielle Vergangenheit dessen, was die Tradition Urstand nennt. Das Paradies ist verloren, eine Rückkehr ausgeschlossen, sobald der abgründige Fall der Sünde Faktum ist. Dass es keinen sinnvollen Grund für ihn gibt, wird am Fall des Jesusjüngers, der ein Erwählter seines Herrn war, in abgründigster Weise manifest. Das Unwesen der Sünde ist grund- und bodenlos, sie verfällt dem Abgrund, welcher sie selbst ist. Das selbstverfallene Beginnen der Sünde endet wie es seinen Anfang genommen hat. Judas geht an sich selbst zugrunde. Zwar gelangte er zur Erkenntnis seiner Sünde, ohne ihrer dadurch mächtig und in die Lage versetzt zu werden, ihre Folgen zu bannen, denen er vielmehr ebenso zwangsläufig wie schuldhaft erlag. Die Sündenerkenntnis des Judas ist heillos und bietet keinen Ausweg, sondern verstellt ihn, um in Ausweglosigkeit zu enden. Der Sünder richtet sich selbst, seine Existenz zerbirst.
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Im Falle Judas lässt sich offenkundig nichts mehr machen, weil jedes Tun zur Untat wird und alles Bedenken auf Ungedanken hinausläuft. Der Fall Judas ist ein Einzelfall und doch gerade in seiner Ausweg- und Hoffnungslosigkeit paradig- Bin ich es etwa, Herr? matisch für das in sich widrige Unwesen der Sünde und ihre beispiellose, weil jeder sinnvollen Verallgemeinerung entgegenwirkenden Verkehrtheit. Man erinnere sich: Nicht nur dieser oder jener Jesusjünger, sondern einer nach dem anderen und zuletzt jeder fragte, als der Herr den bevorstehenden Verrat ankündigte, ohne den Verräter beim Namen zu nennen: „Bin ich es etwa, Herr?“ (Mt 26,22) „Doch nicht etwa ich?“ Keiner kann von sich aus ausschließen, ein Judas zu sein, auch nicht einer unter den Jesusjüngern. Sind sie doch alle Kinder Adams und Ursünder wie dieser. Der Fall Judas ruft Fragen hervor, die den Grund des Eigenen fraglich werden lassen und vor einen ebenso unvordenklichen wie unausdenklichen Abgrund stellen, der ins bodenlose Nichts, ja in Höllenrachen führt. Den in der Nacht des Verrats Versammelten entging dies nicht. Sie verspürten etwas von dem Zusammenhang, der zum einen zwischen dem Fall Judas, dem Adamsfall und ihrem eigenen Fall sowie zum anderen zwischen dem Sündenfall und dem bevorstehenden Leiden und Sterben Jesu waltet. Doch bedurfte es des Kreuzestodes und der österlichen Erscheinung des Gekreuzigten, bis aufging, was es mit der Beziehung von Sünde und Kreuz auf sich hat. Keiner hat hier klarer gesehen als jener Spätberufene und Afterapostel, dem erst vor Damaskus reichlich spät die Augen geöffnet wurden, der aber dann aus seiner ursprünglichen Verblendung und Blindheit zu einer Einsicht gelangte, ohne die der christliche Glaube nicht wäre, was er ist: Gewisses Vertrauen auf die Rechtfertigung des Sünders, wie sie das Evangelium zuspricht, dessen Grund und personaler Inbegriff der auferstandene Gekreuzigte ist. „Brüder!“, spricht Petrus zu Beginn der Apostelgeschichte bei einer Versammlung von etwa hundertzwanzig (10 x 12) Glaubensgenossen: „Er wurde zu uns gezählt und hatte Anteil am gleichen Dienst.“ (Apg 1,17) Die Rede ist von Judas. Sein Amt soll nach seinem Ausscheiden aus dem Zwölferkreis „ein anderer erhalten“ (Apg 1,20; vgl. Ps 109,8). Das Los fällt auf einen gewissen Matthias, woraufhin er „den elf Aposteln zugerechnet wird“ (Apg 11,26). Doch das war’s dann auch schon: Im weiteren Verlauf der Apostelgeschichte spielt Matthias keine Rolle mehr, ganz im Gegensatz zu jenem hinzugekommenen Spätosterzeugen Paulus, der zuerst als Christenverfolger Saulus begegnete. Es ist kaum zu verkennen, „daß faktisch eben er in Wahrheit der Andere ist, der an die Stelle des Judas getreten ist und dessen liegen gebliebenes Werk aufgenommen hat“ (KD II/2,530). Folgt man Karl Barth, dann hat Paulus de facto als der Ersatzmann des Judas, als Platzhalter des dem Zwölferkreis gegenüber überzähligen, nicht weiter bedeutsamen Matthias und gerade so als „der Apostel“ (KD II/2,531) zu gelten und zwar, weil er sagt (Röm 5,20), was als der Satz des apostolischen Evangeliums schlechthin zu vernehmen ist, „daß eben da, wo die Sünde ihre Fülle erreichte, die Gnade überströmte, daß eben da, wo das Gesetz den Menschen definitiv verurteilt, das Evan-
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Der Fall Judas
gelium hörbar wird mit seiner Eröffnung hinsichtlich dessen, was Gott mit den von ihm definitiv verurteilen Menschen im Sinn hat“ (KD II/2,558). In den Paulinen wird der Erzsünder und Exapostel mit keinem Wort erwähnt. Offenkundig gibt es ein genuines Evangeliumszeugnis „auch ohne Judas“ (Goldschmidt, 304). Keine Rede davon, dass dieser als „Schatten Christi“ (Lüthi, 303) den Gekreuzigten über den Tod hinaus verfolgt. Der Auferstandene bedarf keiner „Gegenfigur“ (ebd.), um zu sein, was er ist. Paulus bezeugt dies; doch tut er es im Bewusstsein, dass seiner apostolischen Mission eine Verfolgung vorausging, die er selbst betrieb. Durch die damaszenische Erscheinung dessen, den er verfolgte, wird er der eigenen Blindheit gewahr, um erst nach drei Tagen, wie es in der Apostelgeschichte heißt, wieder sehend zu werden, um im Lichte Osterns von nun an sich selbst und alle Welt mit neuen Augen anzuschauen. In der Zwischenzeit war er, wie man hört, Gast im Hause eines Damaszeners namens Judas (Apg 9,11).
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Personenregister erstellt von Laura Feichtmeier (In den Literaturangaben aufgeführte Personennamen werden in der Regel nicht eigens benannt.)
Adam 27, 44, 52, 55, 57 ff., 68, 70, 79 f., 87, 100 ff., 112 ff., 116 ff., 123, 125, 127, 129, 138, 141 f., 153, 169, 198, 204 f., 234, 259, 265, 287 ff., 301, 304 f., 352 f. Adorno, Th.W. 202 Ahitofel 348 Aiton, E.J. 325 Albrecht V. von Bayern 122 Alloa, E. 320 Althaus, P. 254, 268, 307 Amasa 347 Ambrosius 128 Aner, K. 142 Anselm von Canterbury 64, 71 ff., 250 Aristoteles 18, 119 Auden, W.H. 231 Auffarth, Chr. 302 Augustin 30, 41, 47, 54, 63 ff., 79, 80 ff., 85, 88, 95 ff., 103, 110 f., 118 f., 128 f., 133, 197, 245 f., 258 ff., 267, 275, 278 Axt-Piscalar, Chr. 178 f., 254, 308, 313 Bach, J.S. 350 Barth, K. 19, 23 ff., 29, 181, 202, 219, 232, 235 ff., 250, 252 ff., 268, 295, 343, 352 f. Baur, J. 58, 254 Bayer, O. 337 Bayle, P. 324 f., 329 Benn, G. 231 Billicsich, F. 319 Blumenberg, H. 37, 351 Bockwoldt, G. 314 Böhlig, A. 63
Böhme, H. u. G. 30, 144 Boethius 255 Bonaventura 128 Bonifatius II. 71, 100 Böttigheimer, Chr. 284 f. Brenz, J. 95 f. Breuning, W. 71 f. Brunner, E. 268 Buchheim, Th. 182, 199 Bultmann, R. 240, 253 Caesarius von Arles 70 f., 100 Cajetan, Th. 107 Calvin, J. 81 Dahm, A. 238, 240 Dalferth, I. U. 31, 243 ff., 337 Danz, Chr. 30 Daub, Carl 194 f., 339 ff., 345 Dietrich, Chr. 242 Dietz, Th. 199, 212, 234 Dochhorn, J. 299, 301 Doerne, M. 83 Dorrien, G. 231 Drecoll, V. H. 68, 81 f. Drewermann, E. 273 f. Dutens, L. 325 Ebeling, G. 24 ff., 234 Eck, J. 134 f. Edzard, D. O. 34 Eliot, T. S. 231 Engels, F. 30 Epikur 324 Erasmus von Rotterdam 79, 90
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Register
Ernst, St. 72 ff. Eutyches 255 Eva 52, 54, 57 ff., 61, 113, 142, 205, 287 ff., 301 Evers, D. 285 Fichte, J. G. 14, 149, 191, 195, 218 f. Fischer, H. 213 Flacius Illyricus 104, 130 Flasch, K. 64 f. Foerster, W. 298 Freund, G. 21 Gabler, J. P. 141 Gestrich, Chr. 234 f., 240, 273, 322 Geyer, C.-F. 318 f. Gilgamesch 33 f. Gluck, C. W. 216 Goethe, J. W. v. 297 f., 314, 330, 344 Goldschmidt, H. L. 354 Gräder, K. 156 Gron, A. 199 Gross, J. 62, 79 ff. Häring, H. 64, 66 Härle, W. 253 Hegel, G. W. F. 8, 9, 11, 14, 30, 144, 150 ff., 181, 194 f., 201, 217 ff., 257, 260, 274, 319, 341 Hegermann, H. 55 Heidegger, M. 181, 219 Henrich, D. 31 f. Herder 143 Hermanni, F. 318 f. Herms, E. 302, 315 Heym, S. 122 Hirsch, E. 142, 202, 215 Hobbes, Th. 325 Holz, H. 182 Holze, H. 63 Hoping, H. 274 ff. Hugo von St. Viktor 128 Hühn, L. 201 f. Huizing, K. 21, 144 Husserl, E. 320 Irenäus 128
Jacobi, F. H. 144, 180, 219 Janßen, H.-G. 337 Jauss, H. R. 38 Jens, W. 341 f. Joab 347 Joest, W. 84 Johannes 343 Judas, Sohn des Jakobus 343 Judas Ischariot 339 ff. Judas Makkabäus 343 Julian von Eclanum 67 Jüngel, E. 26, 237, 268, 292 f. Kaiphas 339 Kant, I. 9, 14, 30, 75, 143 ff., 152 f., 155, 195, 218 f., 247, 260, 265, 274 ff. 314, 319, 330 f. Karrer, M. 41 Käsemann, E. 43, 50 Kasper, W. 181 Kaufner-Marx, E. 275, 281 Kelly, A. 299, 301 Kessler, H. 336 Kierkegaard, S. 19, 30, 151 f.,, 181, 198 ff., 219, 223, 227, 230 ff., 257, 260, 262, 274, 349, 350 Kinder, E. 23, 87, 129, 130, 134 King, W. 325 Klauck, H.-J. 344, 351 Kleffmann, T. 21, 308 f., 333 Knierim, R. P. 39 Knop, J. 273 f., 295 Koch, T. 55, 212 Konhardt, K. 277 König, J. F. 137, 138 f. Koselleck, R. 197 Köster, H. 101, 104 Kratz, R.G. 36 Kreiner, A. 323 Krings, H. 8 Krötke, W. 243, 253 Krüger, M. D. 11 Lange, D. 42, 293 Lasaulx, E. v. 9 Latomus, J. 307 Laube, M. 232
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Personenregister
Leibniz, G. W. 318 f., 323 ff., 334 Leo XIII. 107 Leonhardt, R. 311 Leporello 215 Levin, Chr. 36, 57 Levinas, E. 30 Lewis, C. S. 335 Lewitscharoff, S. 334 Link, Chr. 242 Loewenich, W. v. 285 Löffler, J. F. C. 141 Logstrup, K. E. 92 Lohse, E. 44, 47, 70 f. Lücke, F. 37 Luhmann, N. 303 Luther, M. 23, 29, 41, 47, 50, 64, 81 ff., 104 f., 125 ff., 129 ff., 199, 235, 247, 250, 262, 278, 285 f., 303 ff., 311, 333 Lüthi, K. 302, 354 Magliabechi, A. 324 Maria, Schwester des Lazarus 345 Marquard, O. 197, 232, 334, 336 f. Martensen, H. L. 201 Marx, K. 257 Matthias 351, 353 Melanchthon, Ph. 95 ff., 125, 127, 129, 134, 135 Michelsen, P. 298 Milton, J. 56 f. Moliere 216 Mostert, W. 294 Mozart, W. A. 216 f. Müller, J. 30, 152, 181, 262 Müller-Goldkuhle, P. 143 Nestorius 255 Nielsen, K. 299 f. Niethammer, F. J. 149 Nietzsche, F. 217, 314, 319, 333 f. Oberdorfer, B. 50 Oelmüller, W. 336 f. Olearius, Chr. K. R. 143 Origenes 64, 291, 301 Pannenberg, W. 254 ff., 274, 277 ff., 284
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Paulus 30, 41, 43 ff., 85, 128, 141, 157, 259, 267 f., 270, 351 ff. Paulus Speratus 162 Pelagius 54, 65, 67, 70 Pesch, O. H. 110, 119 f. Peters, A. 85, 89, 119 Petrus 343, 345, 348 ff., 352 f. Pfleiderer, G. 28, 49, 253, 314 Photios 80 Pieper, J. 198 Pilatus 344, 350 Pius V. 107 Platon 18, 319 Pöhlmann, H. G. 129 Pröpper, Th. 271, 274, 276 ff., 280 f., 284 Prosper von Aquitanien 71 Rahner, K. 61, 107, 265, 274, 289, 292 Ratzinger, J. 315 Rendtorff, T. 307 Renz, H. 148 Ricoeur, P. 52 ff., 273, 318 f. Ringleben, J. 150, 212 Ritschl, A. 23, 152 ff., 265 Röhser, G. 302 Ruhe, B. 281 Sartre, J.-P. 274 Sauerländer, W. 122 Scheffczyk, L. 63, 122 f. Schelling, F. W. J. 8 ff., 30, 151 f., 179 ff., 197 f., 201, 202, 217 ff., 223, 232, 339, 341 Schelling, K. F. A. 8 Schleiermacher, F. 11, 23, 30, 152, 155, 158 ff., 201 f., 218, 236, 265, 281 ff. Schlink, E. 126 Schmid, C. C. E. 147 Schnädelbach, H. 141 Schoonenberg, P. 107, 113, 265 Schopenhauer, A. 144, 217, 319, 331 ff., Schott, U. 195 Schreiner, St. 40 f. Schubert, A. 143 Schüz, P. 231 Schulz, W. 217
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Register
Schweitzer, A. 145 f. Sievernich, M. 107 Siewerth, G. 286 Simon Kananäus 343 Smend, R. 233 Sozzini, F. 142 Spaemann, R. 194, 285, 291 Sparn, W. 27 ff., 125, 319, 330, 333 f. Spengler, L. 125 Spieckermann, H. 36 Spinoza 332 Staudenmaier, F. A. 181 Steinbart, G. S. 141 Storr, G. Chr. 149 Stuckenbruck, T. 302 Stuhlmacher, P. 44 Teilhard de Chardin, P. 60 Teller, W. A. 141 Theodosius II. 70 Theunissen, M. 212
Thiede, W. 333, 336 Tholuck, F. A. G. 152 Thomas von Aquin 30, 107 ff., 128, 250, 319 Tillich, P. 19, 30, 152, 181, 202, 217 ff., 240, 257, 273 Tirso de Molina 216 Töllner, J. G. 141 f. Voltaire 330 Vorgrimler, H. 288, 292 Vossenkuhl, W. 153 Weger K.-H. 61 f. Wenz, G. 194 Wiedenhofer, S. 294, 295 Wilckens, U. 47 Zarathustra 333 Ziegler, J. 65
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Sachregister erstellt von Christine Christian
Abendmahl 321, 325, 346 Abgrund des Bösen 59, 138, 146, 173,209, 245 f., 302 Actus inordinatus 108, 111 ff. Aktsünde 23 Aktualsünde 23, 28, 54, 62,78, 103, 146, 225, 264 Alte Kirche 64, 246, 317 Altes Testament 37, 39, 51, 57, 268, 299 f. Amor sui 22, 28, 66, 85, 111, 209, 258 Antichrist 194 f., 214, 299, 351 Anthropologie 21, 55, 59, 81 f., 132,143, 226 f., 247, 259, 271,276 ff., 313 Angst 95, 186, 198 ff., 217, 220, 224, 227 ff., 257 ff., 281 Apokalyptik 37 f., 299, 301 Atheismus 87, 180, 249 Auferstehung 15 f., 239 Aufklärung 18,73, 141 ff., 147 ff., 332 Barmherzigkeit 71, 124 Begierde 45 Bosheit 20, 28, 32, 35, 39, 47 ff., 59, 108, 119, 138, 147 ff., 151, 161, 185 ff., 191 ff., 196 f., 232, 245 ff.,249, 291, 297, 299, 301 f., 314, 329, 340 Bösartigkeit 147 f., 300 Concupiscentia 22, 45, 66, 68, 71, 85, 97 f., 123, 127, 137, 139, 259 Confessio Augustana 97, 125 ff., 133 ff. Dämonen/Dämonisch 209, 216 f., 270, 299, 302, 310 De casu diaboli 72 ff. Dekalog 38 f., 45, 85 f., 128, 307 – Dekalogtafel 90
Determinismus 91, 132, 135, 189, 191, 227 f., 285, 287 Dialektische Theologie 24, 158, 202, 219, 232, 240, 253 f., 273 Doppelnatur des Menschen 109 Dreifaltigkeit 108, 245 Egozentrizität 258, 275 Elend 54, 119, 241, 256 f., 303 Endlichkeit 58, 73, 88, 93 f., 149, 162, 175, 179, 187, 198, 206 ff., 216, 220, 223 f., 227 ff., 249, 255, 268 ff., 311, 328 Entfremdung 9, 58, 144, 215, 221, 229,256 f., 262 f., 285, 288, 304 Epithymia 22, 45, 259 Erbsündendekret 100 ff., 276 Erbsündendogma 55, 62 f., 79 ff., 147, 265, 279, 295 Erbsündenschuld 80, 118 f., 129 Erlösung 102, 118, 153, 163 ff., 169 ff., 175 ff., 232, 240, 267, 274, 282 ff., 295, 333, 337 f. Evangelium 11, 17, 23 ff., 42 ff., 92 f., 94 ff., 131, 154, 160,168, 233 ff., 248 f., 253 ff., 273, 292, 305 ff., 312 f., 339 ff., 350 ff. Exzentrizität 256, 260 f., 266, 33 Fehlbarkeit des Menschen 53 Gegenreformation 106 f., 122 Gesetz und Evangelium 11, 17, 23 f., 26, 29, 160, 168, 233 f., 235, 313, 339 Glaubenserkenntnis 27 f., 266, 313 Glaubensgerechtigkeit 47, 96 Gnade Gottes 65, 68, 95, 101,105, 124,
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Register
131, 179, 236 f., 240, 243, 253, 292, 308 Gnadenevangelium 43, 308 Gnadenlehre 64 ff., 100, 165 f., 178, 313 Gnostizismus 63 Gottebenbildlichkeit 55, 136 ff., 142, 213, 256, 277, 285, 288, 304 Gottesbewusstsein 164, 166 f., 169, 172 f., 175, 177 f., 236 Göttliches Heil 25, 39 Grund des Bösen 149, 187, 229 Hass 22, 42, 103, 118, 138, 236, 260 f., 340 f. Heiligung 27, 71, 81, 99, 102, 106 f., 169, 307 Heilsgeheimnis 101 Hoffnung 106 f., 117 f., 124, 148, 236, 268 ff., 314, 336 ff., 351 ff. Höllenverdammnis 116 Ichsucht 85, 255, 258 Idealismus 11, 30, 149, 181, 189, 195, 196, 201, 218 ff., 278 Indeterminismus 189, 191, 227 f. Introspektion 89 Judentum 12 ff., 37 ff., 159 ff., 234, 322 siehe auch „Religion, jüdische“ Kantianismus 144, 152, 158 Kirchenlehre 62, 107, 155, 168, 284 Kirchenvater 81, 275 Konfessionalisierung 107, 122 Konkordienformel 83, 104, 125, 130 ff., 286, 307 Konkupiszenz 28, 45, 66 ff., 76, 80 ff., 88, 97 f., 103, 110, 123, 127, 167, 223, 255 ff., 286 f., 307 ff. Kontroverstheologie 104 Kreatianismus 118 Kreuzestod 16, 43, 240, 353 Leiblichkeit 115, 192, 217,310, 320 f. Liebe 15, 26 f., 39, 42, 70 f., 85 f., 88 f., 93 f., 95, 106 f., 111 f., 116 ff., 124 ff.,
130, 154,161, 182, 193 ff., 208, 236, 238, 249 ff., 257, 307,314 f., 340 f., 345, 350 Logos 12,15 f., 38, 60, 103, 113,136, 222, 241, 249, 283, 341 Malum morale 319, 323, 327, 329 Malum physicum 297, 319,322, 327 ff., 337 f. Manichäismus 54, 63, 67, 166, 272 ff. Metaphysik des Bösen 18, 154 181, 219 Monogenismus 59 ff., 265, 288 f., 291 Monotheismus 12 ff., 35 f., 300 Moral 11, 17, 20 f., 28, 45, 48, 62, 64, 93, 95, 142, 147 ff., 152 ff., 193, 200, 203, 214 ff., 226, 229, 243 ff., 258, 263 ff., 271 ff., 282 f., 292, 303, 307, 319, 323 ff., 329 ff., 336, 341, 346 Mut zum Sein 210, 220, 230 f. Mythologie 12 ff., 35, 154, 197 Naturgrund 186, 188, 190, 195 Neues Testament 43, 219, 299, 30337, 342 f., 349, 351 f. Nichtiges 74, 245, 253, 333 Nihilismus 31 f., 88, 207, 214, 314, 334 Offenbarungsglaube 11, 130, 145, 148, 153, 211, 214, 254, 295 Offenbarungsphilosophie 8 ff., 19 Ontologie 220, 229 Ostkirche 79 f. Papst 71, 100, 107, 123 Pantheismus 12, 151, 182 Passion 15 f., 217, 239, 247, 328, 345, 350 f. Peccata actualia 22, 28, 78, 93, 139, 168 ff., 193, 285, 306 Peccatum essentiale 104, 304 Peccatum haereditarium 21 f., 54, 62, 80, 129 Pelagianismus 54, 63, 67, 70, 80, 166, 266, 281 ff. Philosophie 8 ff., 13 f., 16 f., 30, 128, 141, 149, 189, 193, 197, 201 ff., 209, 219, 285, 318, 323, 334
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Sachregister
– Abendländische Philosophie 181, 219, 319 – Antike Philosophie 18, 45 – Aufklärungsphilosophie 143 – Essentialphilosophie 181 – Negative Philosophie 9, 11 f., 151, 232 – Offenbarungsphilosophie 8,10, 19 – Positive Philosophie 9, 11, 14, 30, 151 f., 201, 218 – Religionsphilosophie 144 ff., 152, 330 – Spätphilosophie 8, 11, 17,30 – Wesensphilosophie 154, 218 Pneuma 13, 38, 82 ff., 185, 220, 237, 253, 255 Polygenismus 59 ff. Polytheismus 36, 317 Praktische Vernunft 148, 203, 218, 292, 334, 336 Präadamitenthese 64 Prophet/ Prophetisch 37, 237, 343, 346, 348 Radikalität der Sünde 258, 277, 264 Radikalität des Bösen 146 f., 292 Radikalverderbnis 125, 142 Realismus 54, 189 Rechtfertigung des Sünders 29, 81, 105, 123 f., 126, 130, 234, 314, 353 Rechtfertigungsdekret 101 ff. Rechtfertigungsdekret des Konzils von Trient 105 f. Rechtfertigungsevangelium 95 Rechtfertigungsgrund 95, 98 Reformation 23, 81 f., 106 f., 122 f., 133, 143, 234, 246 f., 285 Reich Gottes 95, 102, 155, 163 Religion, christliche 14, 64, 148, 153, 160 f., 234 Religion, jüdische 35, 41, 50, 52, 159 Religionsgeschichte 35 f., 181, 218 Reue 203, 214, 292, 348, 352 Schicksal 34, 37 f., 41, 63, 154 f.,192, 209, 220, 223, 225 ff., 288, 293, 309, 350
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Schöpfungsbericht 36 f. Schmerz 31, 58, 115, 174, 249, 319 ff., 328 f., 333, 335 f. Schwabacher Artikel 127 Seccundum corpus 70, 101 Seele 70, 113 f., 116, 118, 125, 138, 160 f., 173, 202, 205 ff., 211, 226, 302, 331 – Geistseele 82 ff. – Leib und Seele 32, 82 f., 100 f., 104, 114, 205, 207, 226, 255, 258 – Menschenseele 109, 114, 116, 118, 206, 331 – Seelengröße 263 – Seelengrund 111 – Seelenheil 27, 42, 99, 306 – Seeleninfekt 114 – Seelenkraft, Seelenkräfte 167, 255, 305 – Seelenleben 331 – Seelenmedium 320 – Seelenschuld 114 – Seelentod 116, 132 – Seelenvermögen 83, 111, 138 – Seelenverderben 125 – Seelenverführer 298 – Seelenwesen 198 – Sünderseele 351 – Vernunftseele 144 Selbstbewusstsein 21, 29, 75, 99, 161, 164 ff., 170 f., 175, 179, 205, 218, 220, 241, 253, 255, 263, 284, 322, 332 Selbsterhaltung 83, 188, 225 f., 260, 328 Selbstoffenbarung 182, 241, 249, 254, 294 f. Selbsttranszendenz 223, 226, 255, 269, 336 Selbstverfallenheit 187, 214, 230, 310 Selbstzerstörung 15, 88 Sinnwidrigkeit 49, 173, 188, 193, 230, 243 f., 257, 292 Sintflut 34 f. Sittlichkeit 17, 28, 121,142, 148 f., 154, 163, 182, 335 Soteriologie 60, 64, 66, 75, 152, 232, 237, 240 ff., 252, 283 f., 292, 314 Spiritualisierung 222
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Register
Spiritualismus/ Spiritualistisch 285, 291 Status corruptionis 53, 58, 117, 257 Strafgerechtigkeit 148, 178 Substantialität 104, 125, 317 Sünde Adams 61 ff., 102 ff., 112 ff., 116 ff., 123, 204, 259, 265 Sündenbewusstsein 29, 163 f., 166 ff., 171, 209, 240, 253 Sündenerkenntnis 22 ff., 46 ff., 179, 234 ff., 241 ff., 253 ff., 273, 283, 312 f., 350 ff. Sündenfall 16, 52, 55, 58 f., 62 ff., 79, 104, 114, 125, 128, 137 f., 142, 154,180, 221 ff., 257, 274 f., 285 ff., 299 ff., 340, 349, 353 Sündenschuld 12 f., 29, 39, 48, 80, 93, 97 ff., 226, 254 Sündenverfallenheit 40 f., 118, 154, 157, 253, 309, 312, 352 Sündenvergebung 23, 65, 102, 106, 154, 214, 234 f., 242 ff., 273, 292 Sündlosigkeit 103 f., 225, 239, 250 f. Tatsünde 28, 113 f., 139, 203, 264 f., 302 ff. Taufe 44, 67 f., 81, 97 ff., 102, 103, 112, 123, 127,129, 307 f. Tempel 36, 346, 348 – Tempelkult 38 Teufel 12, 52, 73, 91, 101, 105, 111, 134, 138, 187, 195, 246, 297ff, 310, 314 f., 335, 341, 349 f. siehe auch „Tod und Teufel“ – Teufelsgestalten 297, 299 – Teufelssturz/ Teufelsfall 76, 301 – Verteufelung/ Verteufeln 88, 398, 300 Theodizee 244, 318 f., 323 ff., 330 ff., 336 f. Theologie 17 ff., 27 ff., 64, 71, 81 ff., 107, 142 f., 154, 156, 202, 218, 221, 225, 241, 243, 254, 256, 259, 265, 276, 284 f., 295, 318, 321, 323, 337 – Abendländische Theologie 9 – Altkirchliche Theologie 63 – Aufklärungstheologie 142 f., 148 f. – Christliche Theologie 18, 59, 244,
259, 267, 289, 311, 313, 317, 334, 338 – Dialektische Theologie 24, 158, 202, 219, 232, 240, 253 f., 273 – Erbsündentheologie 61, 295 – Erwählungstheologie 237 – Evangelische Theologie 141 f., 234 – Gnadentheologie 278 – Katholische Theologie 60, 284, 287 – Kontroverstheologie 104 – Liberale Theologie 219, 231 – Moraltheologie 307 – Nachtridentinische Theologie 81, 119 – Paulinische Theologie 48 – Protestantische Theologie 268, 319 – Reformatorische Theologie 11, 27, 59, 119, 123, 234 f., 247 – Repristinationstheologie 219 – Schöpfungstheologie 37, 51, 59 f., 104, 245, 271 – Schultheologie 101 – Spekulative Theologie 181 – Sündentheologie 81, 201 – Systematische Theologie 30, 313 – Theologie der Krise 202, 232 – Trinitätstheologie 13 – Wissenschaftliche Theologie 27, 156 Theologiegeschichte 30, 71, 107, 157 Tod und Teufel 17, 48, 52, 87, 126, 240 Todsünde 107, 116 ff., 172 Toramonotheismus 35 ff., 51, 300 Traditionsgeschichte 35 Träumende Unschuld 186, 205 ff., 223 ff., 229 Trinität 12 f., 71, 126, 162, 179, 210, 255, 298, 336 ff. Übel, das 157 f., 172 ff., 176, 246, 327 f. Unglaube 20, 27, 28, 84, 94, 118, 138, 209, 213 f., 223, 230 ff., 241, 244, 247 f., 261, 266, 308 ff. Unheil 12, 26, 46, 58, 61 f., 69, 131, 16, 292, 300, 312, 336 Urgrund 187, 331 Ursprungsgnade 118 Ursprungsschuld 113
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Sachregister
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Ursprungssündenbefall 115 Usus elenchticus legis 25, 92 ff. Usus legis 25 f., 307
Verzweiflung 27, 48, 69, 90, 94, 118,175, 199 ff., 207, 210, 212 ff., 217, 252, 260, 274, 337
Verdammnis 116, 118, 139, 220, 241, 340, 351 Vergebung der Sünde 102, 106, 248, 253, 338 Verhängnis 22 f., 35, 52, 58, 66, 70, 114, 150, 157, 192, 29, 220, 247, 278 f., 289, 293 f., 302, 349, 351 Verheißung 17, 36, 44, 95, 104, 131, 338 Verkennung 46, 83, 87 f., 127, 155, 294, 310 Vernunftwidrigkeit 117 Versöhnung 13 f.,23, 29, 39,103, 105, 151 ff., 161, 163, 179, 201, 219, 236 ff., 252, 313, 338, 352
Werkgerechtigkeit 333 Wesensnatur 22, 61, 104, 125, 130 f., 137, 198, 260 f., 266, 269 ff., 282 ff., 309 Willensfreiheit 67 f., 72, 91, 101, 110, 133 ff., 285, 304 Willkür 29, 69, 74 ff., 81, 110, 136, 138, 146, 150 f., 153, 189, 191 f., 244, 246, 250, 275, 315, 325 Zerstörung 81, 186, 297 f. Zwangsnotwendigkeit 52, 67, 74 Zweinaturenlehre 15
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