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German Pages 372 [375] Year 2015
Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer, Hannes Kuch (Hg.) Verletzende Worte
Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer, Hannes Kuch (Hg.)
Verletzende Worte Die Grammatik sprachlicher Missachtung
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Inhalt
Steffen Kitty Herrmann und Hannes Kuch Verletzende Worte. Eine Einleitung
7
Sybille Krämer Sprache als Gewalt oder: Warum verletzen Worte?
31
Harold Garfinkel Bedingungen für den Erfolg von Degradierungszeremonien
49
Penelope Brown und Stephen C. Levinson Gesichtsbedrohende Akte
59
Pierre Bourdieu Die Dialektik von Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung
89
Rae Langton Sprechakte und unsprechbare Akte
107
Carl Friedrich Graumann und Margret Wintermantel Diskriminierende Sprechakte. Ein funktionaler Ansatz
147
Hannes Kuch und Steffen Kitty Herrmann Symbolische Verletzbarkeit und sprachliche Gewalt
179
Petra Gehring Über die Körperkraft von Sprache
211
Pascal Delhom Die geraubte Stimme
229
Burkhard Liebsch Nach dem angeblichen Ende der ›Sprachvergessenheit‹: Vorläufige Fragen zur Unvermeidlichkeit der Verletzung Anderer in und mit Worten
249
Stefan Deines Verletzende Anerkennung. Über das Verhältnis von Anerkennung, Subjektkonstitution und ›sozialer Gewalt‹
275
Thomas Markert Zur Praxis verbaler Gewalt unter Schülerinnen und Schülern
295
Sonja Kleinke Sprachliche Strategien verbaler Ablehnung in öffentlichen Diskussionsforen im Internet
311
Mechthild Hetzel und Andreas Hetzel Zur Sprache der Sprachlosen. Ebenen der Gewalt in der diskursiven Produktion von Behinderung
337
Daniel Loick Words like violence. Konstellationen des Unvernehmens
353
Die Autorinnen und Autoren
365
Nachweise
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STEFFEN KITTY HERRMANN UND HANNES KUCH
Verletzende Worte. Eine Einleitung
Mit Sprache können wir Gewalt nicht nur beschreiben, ankündigen oder androhen, sondern auch selbst Gewalt zufügen. Worte können nicht nur etwas tun, sie können auch etwas antun. Sprache selbst kann Medium der Gewaltausübung sein: Von der leisen Ironie bis hin zum sarkastischen Spott, von der indiskreten Taktlosigkeit bis zum nackten Schimpfwort, von der herablassenden Demütigung bis hin zu diskriminierender hate speech kann Sprache als Gewalt wirken. »Worte sind Schall und Rauch«, sagt dagegen ein Sprichwort, und meint damit, dass Worte vergehen, dass sie keine Substanz haben und dass sie nichts Bleibendes schaffen. Flüchtig wie Schall und ungreifbar wie Rauch scheinen Wörter der Welt äußerlich zu sein: bloße Zeichen, deren Kraft nicht dafür ausreicht, in unsere materielle Welt einzugreifen. Das Gewaltpotenzial der Rede scheint unter diesem Blickwinkel marginal. Worte lassen den Körper nicht bluten, sie können ihm keine Glieder ausreißen oder ihm Wunden zufügen – niemand, der sich je an einem Zeichen den Kopf eingerannt oder das Bein blutig gestoßen hätte. Und doch: Reden wir nicht davon, dass uns Worte ›verletzen‹, dass sie uns ›treffen‹, dass sie uns ›etwas antun‹? Warum scheinen Worte diese Fähigkeit zu haben, wenn es doch ›nur‹ Worte sind? Alltägliche Interaktionen sind ein zentraler Austragungsort von gesellschaftlichen Asymmetrien.1 Während physische Gewalt oft laut und unübersehbar in un1 Darauf haben unter anderem aufmerksam gemacht: Graumann, Carl F., »Verbal Discrimination: A Neglected Chapter in the Social Psychology of Aggression«, in: Journal for the Theory of Social Behaviour, Bd. 28, 1998, S. 41-61, vor allem S. 53 f., sowie Neckel, Sighard / Ferdinand Sutterlüty, »Negative Klassifikationen. Konflikte um die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit«, in: Wilhelm Heitmeyer u. a. (Hg.), Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft, Wiesbaden 2005, S. 409428, vor allem S. 412 f.
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sere sozialen Beziehungen einbricht, ist sprachliche Gewalt eher deren ständiger Begleiter – und dennoch viel schwieriger lokalisierbar. Denn anders als bei physischer macht sich bei sprachlicher Gewalt weder jemand die Finger schmutzig noch werden sichtbare Wunden hinterlassen. Sprachliche Gewalt ist in einem gewissen Sinne immer ›unsichtbar‹ – was ihren Einsatz taktisch sinnvoll machen kann. Denn während physische Gewalt oft problemlos juridisch sanktionierbar ist, bleibt sprachliche Gewalt dem gesetzlichen Zugriff meist entzogen. Soziale Konflikte und Machtgefälle werden daher umso leichter mit Hilfe der untergründigen Kraft sprachlicher Gewalt ausgetragen oder ausgespielt. Man muss nicht unbedingt einen Menschen mit hochrotem Kopf und drohender Gebärde vor Augen haben, wenn man an sprachliche Gewalt denkt. Ein solches Bild verstellt sogar den Blick auf kreative Formen verletzender Rede, wie etwa Ironie, Witz oder Anspielung. Ein Beispiel: Eine deutsche Hausfrau sagt über ihre Putzkraft: »Sie ist sauber und ordentlich, obwohl sie Türkin ist.«2 Auf den ersten Blick stellt die Äußerung ein Lob dar, zugleich ruft die Bemerkung jedoch unübersehbar ein Stereotyp auf, wonach Menschen aus der Türkei generell weniger ordentlich oder sauber seien. Handelt es sich bei dieser Äußerung nun um ein Lob oder um eine Beleidigung? Die Antwort ist unklar, denn die Äußerung tritt gleichsam – wie Austin sagen würde – kostümiert auf. Die Missachtung wird nicht ausdrücklich, sondern vielmehr zwischen den Zeilen ausgesagt. Für die Sprecherin entsteht so der Vorteil, dass sie sich darauf zurückziehen kann, lediglich ein Lob ausgesprochen zu haben – in der Folge sind ihr die verletzenden Effekte nur schwer zurechenbar. Während die Wirkung physischer Gewalt anderen zurechenbar sind, werden die Wirkungen sprachlicher Gewalt leicht der Empfindlichkeit des adressierten Subjekts zugeschrieben. Weil Gewalt im Medium der Sprache immer eine Verstehensleistung der Angesprochenen3 mit einschließt, liegt es in Alltagskonflikten nahe, den schmerzhaften Effekt ganz der Deutung des Opfers zur Last zu legen – was sich in Entgegnungen wie etwa »Warum bis du denn gleich beleidigt?« oder »Verstehst du keinen Spaß?« zeigen kann. Dieser Umstand wiegt umso schwerer, weil er oft zum Anlass dafür genommen wird, zu bestreiten, dass es sich bei diesen Handlungen überhaupt um Gewalt handelt. Es wird sogar behauptet, dass Sprechakte nie Gewaltvollzüge sein können, weil diese nur aufgrund der »besonderen Empfindlichkeit« der Hörenden als verletzend wahrgenommen werden.4
2 Zu diesem Beispiel: Graumann, »Verbal Discrimination«, a.a.O., hier S. 54. 3 Wir verwenden in unseren Beiträgen in diesem Buch weitestgehend das generische Femininum. 4 Nunner-Winkler, Gertrud, »Mobbing und Gewalt in der Schule. Sprechakttheoretische Überlegungen«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, Heft 1, 2004, S. 91-100, hier S. 94.
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Sprache im Zeichen der Vernunft Sprachliche Gewalt wird nicht nur im Alltag oft übergangen oder sogar verleugnet, sie wird auch in der Philosophie und in den Sozialwissenschaften weitgehend vernachlässigt. Obwohl die Philosophie zunehmend Sprache zu ihrem grundlegenden Gegenstand gemacht hat, blieb die Gewalt des Sprechens bisher eine systematische Leerstelle im philosophischen Nachdenken über die Sprache. Einer Unmenge an klassischen Texten über die Entstehung der Sprache, ihre Semantik und ihre Pragmatik steht eine leicht abzählbare Anzahl von Texten gegenüber, die das Verhältnis von Sprache und Gewalt thematisiert hat. Dass es sich bei diesem Mangel nicht um einen Zufall handelt, lässt sich an verschiedenen sprachphilosophischen Positionen deutlich machen. Mit dem linguistic turn, den die sprachanalytische Philosophie am Ende des 19. Jahrhunderts eingeleitet hat, ist die Sprache zum zentralen Untersuchungsgegenstand der Philosophie geworden. Doch für die analytische Philosophie der Sprache ist nur die Fähigkeit der Sprache von Belang, Aussagen zu machen, die einen wahrheitsfähigen semantischen Gehalt haben. Sprache bleibt auf ihre konstatierende Dimension beschränkt. Nicht der Gebrauch der Sprache als Geste der Ansprache, sondern allein die Wahrheitsbedingungen der Aussage rücken so in den Mittelpunkt. So ist es letztlich nicht überraschend, wenn Harry Frankfurt in seiner Analyse des Begriffs ›Bullshit‹ seinen Gebrauch als Schimpfwortes einfach übergeht, um sich voll und ganz auf die notwendigen und hinreichenden logischen Bedingungen zu konzentrieren, unter denen der Begriff seine richtige Verwendung findet.5 Es ist daher nur wenig verwunderlich, dass mit der Vernachlässigung der Handlungsdimension des Sprechens auch dessen Gewaltcharakter völlig aus dem Blick gerät. Das Erstarken der sprachanalytischen Philosophie steht unter paradoxen Vorzeichen: In dem Moment, in dem die Philosophie eine radikale Wende zur Sprache hin vollzieht, scheint sie doch zugleich auf grundlegende Weise die performative, handlungsmächtige Dimension der Sprechens zu übergehen. Der blinde Fleck der sprachlichen Gewalt bleibt auch in einem verständigungsorientierten Bild der Sprache bestehen, wie es etwa in der Universalpragmatik von Jürgen Habermas zu finden ist.6 Auch für Habermas ist der Sprachgebrauch eng mit der Vernunft verschwistert – mehr noch: sie bringt diese Vernunft selbst hervor. Dieses Potenzial der Sprache liegt für Habermas darin, dass jede Rede von einer propositional-performativen Doppelstruktur getragen ist, d. h. dass sie sowohl eine Sach- als auch eine Beziehungsebene enthält. Aufgrund dieser Dualität der Sprache ist es möglich, von der einen Ebene zur anderen zu wechseln. Mit diesem Ebenenwechsel lassen sich das Machtgefälle und die öko5 Vgl. Frankfurt, Harry, Bullshit, Frankfurt / Main 2006, sowie die Diskussion dieses Aufsatzes in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 3, Bd. 54, 2006. 6 Vgl. Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt / Main 1995.
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nomischen oder physischen Zwänge, die unser alltägliches kommunikatives Handeln prägen, außer Kraft setzen, um nur noch den zwanglosen Zwang des besseren Arguments gelten zu lassen. Kommunikation ist folglich die Keimzelle von Vernunft, da deren Kernprinzip die Einflussnahme nicht durch Macht, sondern durch Gründe ist. Auch wenn Habermas anerkennt, dass viele Weisen des Sprechens strategisch oder asymmetrisch angelegt sind, schreibt er der Sprache ein Telos der Vernünftigkeit zu. Sprache kann empirisch gewaltsam eingesetzt werden, aber ihrem Sinn nach wird sie als sich der Gewalt entziehend gedacht. Sprache ist folglich etwas, was der Gewalt genau entgegengesetzt ist, insofern sie einen Konsens stiften kann, der nur auf Argumenten beruht. Auch die ›Philosophie der normalen Sprache‹, die so nachdrücklich den Fokus von der Aussagedimension der Äußerung auf ihren Handlungsaspekt verschoben hat, ist nie über das Tun zu einem An-Tun im Sprechen hinausgegangen. Das kann daran liegen, dass Beleidigungen nicht als explizit performative Äußerungen vollzogen werden können, und damit nicht zu den von Austin bevorzugten ›ursprünglichen Performativa‹, wie Heiraten, Versprechen oder Taufen, zu rechnen sind. »Ich beleidige sie«, »Ich verspotte sie« oder »Ich mache mich über sie lustig« sind Sprechakte, die in dieser Form nicht vollzogen werden können. Amüsiert führt Austin daher auch ein obskures Ritual unter deutschen Burschenschaftlern an, die sich mit den Worten »Hiermit beleidige ich Sie« gegenseitig zum Duell herausforderten.7 Dass die Sprechakttheorie zur Gewaltsamkeit der Sprache zumeist geschwiegen hat, kann aber auch daran liegen, dass sich Theorien des Performativen gewöhnlich an der produktiven und generativen Dimension des Tuns orientieren. So geht etwa Searle davon aus, dass performative Akte dem adressierten Subjekt einen neuen Status verleihen können, der sich in der Verleihung einer »positiven Macht«, wie beispielsweise einem Ehrentitel, zeigt.8 Das Performative scheint in einem solchen Blickwinkel mit dem Hervorbringen und Erzeugen verknüpft, Gewalt dagegen allein Beschädigung und Zerstörung. Das hat zur Folge, dass Performativität und Gewalt auch in der Sprechakttheorie eher als Entgegensetzung denn als Vorder- und Rückseite ein und desselben Akts verstanden worden sind. Es scheint kein Zufall zu sein, dass die angeführten sprachphilosophischen Perspektiven kaum etwas über sprachliche Gewalt zu sagen vermögen. In Anlehnung an Wittgenstein könnte man sagen, dass die dargestellten Ansätze in einem ›Bild‹ gefangen sind, einem Bild der Sprache, in dem diese immer schon als vernünftig privilegiert wird. Das Versäumnis, sprachliche Gewalt nie zum Gegen-
7 Austin, John L., Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), 2. Aufl., Stuttgart 1979 (engl. Original 1962), S. 51. 8 Searle, John R., Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 107. Er erwähnt nur kurz, dass dieses Hervorbringen auch mit der Verleihung einer »negativen Macht« verbunden sein kann.
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stand gemacht zu haben, ist folglich kein Versehen oder Zufall, sondern ist der prägenden Kraft eines ganzes bestimmten Bildes der Sprache geschuldet. Die Entgegensetzung von Sprache und Gewalt lässt sich in umgekehrter Perspektive auch in unterschiedlichen Theorien der Gewalt finden. Heinrich Popitz etwa schreibt in einer knappen und einflussreichen Definition von Gewalt: »Gewalt meint eine Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt.«9 In diesem theoretischen Horizont wird mehr oder weniger ausdrücklich vorausgesetzt, dass sowohl das Medium wie auch der Effekt der Gewalt körperlich ist. Mit ›Gewalt‹ verbindet die Gewaltforschung meist eine physische Einwirkung auf einen anderen Körper, und diese unmittelbare Einwirkung wird als zwingend (wenn jemand an etwas gehindert oder zu etwas genötigt wird), meist jedoch als verletzend verstanden (wenn physische Schmerzen zugefügt werden). Im Mittelpunkt stehen daher schlagende, würgende, greifende, tretende und getroffene, blutende, gekrümmte, verstümmelte oder geschundene menschliche Körper. Gewalt wird in solchen Szenarios auf ihre schiere physische Materialität reduziert: Im Mittelpunkt steht ausschließlich die Physis der Adressatin. Da sprachliche Gewalt ohne die körperliche Verletzung ihrer Adressatin auskommt, wird sie in dieser Perspektive oftmals nicht als solche anerkannt und als zu starke Ausweitung des Gewaltbegriffs kritisiert.10 Sprache erscheint in dieser Sicht letztlich als gewaltfreier Raum: Wo gesprochen wird, da ›schweigen die Waffen‹, und umgekehrt beginnen die Waffen scheinbar erst dort zu sprechen, wo nicht mehr miteinander gesprochen wird.
Die Performanz sprachlicher Gewalt Den hier versammelten Überlegungen liegt eine Sicht auf die Sprache zugrunde, die John L. Austin in seinen 1955 gehaltenen Vorlesungen How to do things with words eröffnet hat: Sagen und Tun sind kein Gegensatz, das Sagen kann selbst eine Form des Tuns sein. Als performative Äußerungen bezeichnet Austin bekanntlich jene Äußerungen, die eine Handlung nicht einfach nur beschreiben, sondern genau das in der Welt vollziehen, was in ihnen beschrieben wird – und zwar durch den Akt der Äußerung selbst. Der Handlungscharakter vieler einschlägiger Beispiele von Austin besteht gerade darin, dass sie sich an eine Person richten, um mit dieser etwas zu tun: Die Angeklagte wird zur Verurteilten, die nahestehende Person zum Erben und zwei Menschen zu einem Ehepaar. In all diesen Fällen werden durch sprachliche Handlungen nicht nur handfeste, materielle Effekte erzielt, sondern wird auch die soziale Stellung der adressierten Per9 Popitz, Heinrich, Phänomene der Macht, 2., stark erw. Aufl., Tübingen, 1992, S. 48. 10 Vgl. etwa Nunner-Winkler, Gertrud, »Überlegungen zum Gewaltbegriff«, in: Wilhelm Heitmeyer / Hans-Georg Soeffner, Gewalt. Entwicklung, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt / Main 2004, S. 21-62, hier S. 27 ff.
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son verändert: Die Verurteilte muss ins Gefängnis, die Erbin wird reich und den Ehepartnern kommen fortan neuartige Rechte und Pflichten zu. Symbolische Handlungen wie das performative Sprechen können also in die Welt eingreifen und etwas mit einer Person tun. In diesem Sinne schreibt auch Pierre Bourdieu, dass solche Akte die »eingesetzte Person real verwandeln. Zum einen verändern sie die Vorstellung, die die anderen Akteure von ihr haben und vor allem ihr Verhalten dieser Person gegenüber und zum anderen verändert sie zugleich auch die Vorstellung, die die eingesetzte Person von sich selbst hat.«11 Die Einsetzungsakte, von denen Bourdieu hier spricht, müssen eine Person jedoch nicht immer unbedingt positiv verwandeln, vielmehr kann es sich auch um eine negative Verwandlung handeln, die nicht mit Ermächtigung und Gewinn, sondern im Gegenteil mit Entmächtigung und Verlust einhergeht – wir haben es also, kurz gesprochen, mit Akten der Herabsetzung, der Demütigung oder der Beleidigung zu tun. Mit diesem performativen Blick wird eine Perspektive auf Gewalt eröffnet, in der diese nicht auf physische Gewalt reduziert bleibt. Zwar macht es einen elementaren Unterschied, ob Gewalt brutal-blutig oder verbal-demütigend ist, doch sprachliche Gewalt ist alles andere als harmlos: Der Intensität des peinigenden physischen Schmerzes etwa steht die zehrende Qual durch eine erlittene Demütigung gegenüber, dem Totschlag der physischen Gewalt der verzweifelte Selbstmord und den klaffenden Wunden die langfristige Stigmatisierung. Der Umstand, dass sprachliche Gewalt im Gegensatz zu physischer Gewalt durch den Einsatz von Signifikanten vollzogen wird, lässt nicht den Schluss zu, dass die eine Form der Gewalt mit verletzender Kraft, die andere mit harmlosen Bedeutungen operieren würde. Sprachliche Gewalt entfaltet sich nicht einfach durch ihre Semantik, sondern ebenso durch die Kraft, die mit ihr kommuniziert wird. Es ist beispielsweise entscheidend, ob ich jemanden als Individuum missachte oder im Namen einer gesellschaftlich legitimierten Instanz. Insofern sich das Sprechen also in machtvolle Diskurse einzuschreiben vermag, ist es nicht allein Träger von Bedeutung, sondern vielmehr in der Lage, die ganze hierarchische Kraft einer Gesellschaft und ihrer Geschichte aufzurufen und gegen seine Adressatin zu wenden. Diese performative Sicht auf Sprache und Gewalt eröffnet einen weiten Horizont, innerhalb dessen ein ganzes Bündel an Fragenstellungen möglich werden: Was genau können missachtende Worte überhaupt verletzen? Wir reden davon, dass uns Worte Gewalt antun, doch wogegen ist diese Gewalt letztlich gerichtet? Gegen unsere Ehre? Unsere Identität? Unseren Körper? Wie schlagkräftig ist eine sprachliche Verletzung? Kann sie der adressierten Person nur äußerlich etwas anhaben oder wohnt ihr eine existenzielle, vielleicht sogar tödliche Gefahr inne? Wir formulieren das Erleiden einer Verletzung zumeist in einem körperli11 Bourdieu, Pierre, Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches, 2., erw. und überarb. Aufl., Wien, 2005, S. 86.
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chen Vokabular und sprechen davon, dass Worte uns ›getroffen‹ haben oder uns ›verletzen‹. Handelt es sich dabei um Metaphern oder müssen wir diese Rede buchstäblich nehmen? Mit Hilfe welcher Rhetoriken artikuliert sich die Missachtung? Natürlich ist uns allen eine Reihe von Schimpfworten geläufig, aber erschöpft sich das Repertoire der Missachtung in den Schimpfnamen? Wie sehen andere Rhetoriken der Missachtung aus? Unter welchen Bedingungen ist eine Missachtung überhaupt erfolgreich? Wir wissen, dass nicht jede Beleidigung gelingen muss, denn wer einfach mit einem Schimpfwort herausplatzt, kann sich selbst oft lächerlicher machen als die adressierte Person. Wie also kann das Gelingen einer Missachtung gesichert werden? Ausgehend von einer performativen Perspektive liegen unserer Zusammenstellung dieser Edition zwei unterschiedliche Schwerpunkte zugrunde: (i) Symbolische Verletzbarkeit: Leitend ist in dieser Perspektive die Frage danach, warum Menschen durch Worte verwundbar sind. In welcher Hinsicht sind wir Wesen, die durch Worte verletzt werden können? Vor welchem theoretischen Hintergrund kann die Fähigkeit der Sprache zu verletzen ausreichend erklärt werden? Welches Bild des Menschen, der Sprache und der Kommunikation machen wir uns dabei? Wir gehen davon aus, dass Sprache nicht nur ein Medium der Verständigung zwischen ›Ich‹ und ›Du‹ ist, sondern auch und vor allem eine Instanz, welche die Einzelnen durch ihre Ansprache ins Leben ruft. Sie begründet die Sozialität des Menschen, das soziale Band, welches diese allererst symbolisch verletzbar macht. (ii) Die ›Grammatik‹ sprachlicher Gewalt: Hier steht die Frage im Mittelpunkt, wie Gewalt durch Sprache ausgeübt wird. Welche Rhetoriken kommen im gewaltförmigen Sprechen zum Einsatz? Welche unterschiedlichen Muster des gewaltsamen Sprechens lassen sich unterscheiden? Unter welchen Bedingungen gelingt oder scheitert eine Beleidigung? Wir gehen von der Annahme aus, dass sprachliche Verletzungen nicht der subjektiven Empfindlichkeit der Adressaten geschuldet sind, sondern Effekte einer sozialen Praxis und von gesellschaftlichen Asymmetrien. Der Szene der Äußerung liegt eine ›soziale Grammatik‹ zu Grunde, durch welche die verletzende Kraft sprachlicher Gewalt zu Stande kommt.
Sprache als Gewalt: Ansätze und Perspektiven Überlegungen aus ganz unterschiedlichen Disziplinen haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Dichotomie von Sprache und Gewalt zu überwinden. Bei der Vielzahl der Verbindungslinien, die diese Ansätze eröffnet haben, ist jedoch nicht immer klar, in welchem Verhältnis Sprache zur Gewalt steht. Wir möchten im Folgenden drei Ansätze unterscheiden, um damit den Zugang zum Problem der sprachlichen Gewalt zu erleichtern. (1) Gewalt und Sprache: In dieser Sicht werden physische Gewalt und Sprache nicht als einander entgegengesetzt behandelt,
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der Fokus liegt vielmehr auf ihrem Verhältnis. Die Sprache bleibt jedoch letztlich auf die Rolle beschränkt, eine ihr äußerliche physische Gewalt zu beschreiben, von dieser zu erzählen oder diese zu kommentieren. (2) Gewalt der Sprache: Die Frage zielt hier auf die Gewaltsamkeit der Sprache als solcher. Es geht nicht um konkrete verletzende Äußerungen, sondern um eine Gewalt, die der Sprache unvermeidlich und immer schon innewohnt. (3) Gewalt durch Sprache: In diesen Perspektiven wird Gewalt allererst durch den Akt des Sprechens vollzogen. Sie verletzt, weil jemand auf gewaltsame Weise mit der Sprache handelt.
Gewalt und Sprache Die Überlegungen, die Gewalt und Sprache nicht als polare Gegensätze betrachten, sondern nach ihrem Verhältnis fragen, lassen sich in einer temporalen Hinsicht gliedern. In einem ersten Strang lassen sich all jene Denkansätze bündeln, die von einer Nachträglichkeit der Sprache im Verhältnis zur Gewalt ausgehen. In vielen kulturwissenschaftlichen Betrachtung nimmt diese Nachträglichkeit eine tragische Form an: Hier geht es um die Sprachlosigkeit des Gewaltopfers nach dem Widerfahrnis von Gewalt. Es war vor allem Elaine Scarry, die mit ihrem Buch Der Körper im Schmerz verdeutlicht hat, dass der Schmerz der Verletzung eine solche Intensität annehmen kann, dass er nicht mehr kommunizierbar ist.12 Auch viele literaturwissenschaftliche Zugänge konstruieren die Verbindung von Sprache und Gewalt im Verhältnis der Nachträglichkeit. Es wird danach gefragt, wie die textuellen oder sprachlichen Darstellungen von Gewalt eigentlich aussehen – etwa im Bezug auf unterschiedliche literarische Gattungen und Epochen.13 Ein zweiter Strang an Überlegungen beschäftigt sich mit der Vorgängigkeit der Sprache im Verhältnis zur Gewalt. Hier wird argumentiert, dass das, was wir als Gewalt erfahren, immer auch diskursiv konstruiert ist. Selbst das Widerfahrnis der Gewalt in ihrer sinnlichen Unmittelbarkeit und Materialität ist in gewisser Weise durch sprachliche Praktiken vorstrukturiert. Ein Beispiel hierfür findet sich besonders in der Vergewaltigung in der Ehe. Die Benennung dieses Gewaltphänomens und damit einhergehend die Möglichkeit der Artikulation sowie der 12 Vgl. Scarry, Elaine, Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt / Main 1992. Vgl. auch Sofsky, Wolfgang, Traktat über die Gewalt, Frankfurt / Main 1996, S. 79. 13 In dieser kulturwissenschaftlichen Perspektive gibt es eine größere Anzahl von Arbeiten: vgl. etwa Armstrong, Nancy (Hg.), The Rhetoric of Violence, Sonderheft Semiotica, Heft 1 u. 2, Bd. 54, 1985; Heider, Christine, »›Von einem, der auszog, das Fürchten zu lehren‹. Oder: Wie Gewalt durch sprachliches Handeln von Journalisten in der Berichterstattung zum Castor-Transport in den Vordergrund gerückt wird«, in: Franz Januschek / Klaus Gloy (Hg.), Sprache und / oder Gewalt, Sonderheft OBST. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, Bd. 57, 1998, S. 31-50. Daneben einige Aufsätze im Sammelband: Corbineau-Hoffmann, Angelika (Hg.), Gewalt der Sprache – Sprache der Gewalt: Beispiele aus philologischer Sicht, Hildesheim u. a. 2000.
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juridischen Sanktionierung sind recht jungen Datums und musste erst in kulturellen Definitionskonflikten erkämpft werden.14 Ein anderes Thema innerhalb dieser Perspektive ist die Vorgängigkeit des Sprechakts der Drohung im Bezug zur angedrohten Gewalt. Die Frage lautet hier, in welcher Hinsicht die gewaltsame Handlung, von der die Drohung spricht, schon die Inszenierung des Sprechaktes der Drohung affizieren muss, um wirksam zu sein.15 In einem wiederum anders zentrierten Fokus wird schließlich argumentiert, dass Sprache der Gewalt vorgängig ist, wenn sich im hasserfüllten Sprechen eine kommende Gewalt bedrohlich ankündigt. Bei der Analyse von hate crimes – Verbrechen gegen ethnische oder sexuelle Minderheiten – hat sich gezeigt, wie eng solche Gewalt mit den in der Sprache aufgespeicherten Ressentiments – in rassistischen oder sexistischen Diskriminierungen – zusammenhängt.16 Mit diesen wenigen Stichworten wird an dieser Stelle schon deutlich: Auch wenn nach ihrem Verhältnis gefragt wird, bleiben Sprache und Gewalt in vielen Überlegungen einander letztlich äußerlich. Auf der einen Seite steht die Sprache, auf der anderen Seite die unmittelbare, physische Gewalt. Mit der Reduktion von Gewalt auf physische Gewalt wird eine mögliche Verbindungslinie ausgeblendet: dass Sprache selbst gewaltsam und verletzend sein könnte.
Gewalt der Sprache Mit dem Ansatz ›Gewalt der Sprache‹ wird argumentiert, dass Gewalt nicht etwas ist, was wir mit Worten tun, sondern etwas, das in der Struktur der Sprache, in den Worten selbst liegt. Diese Perspektive lässt sich mit Namen wie Adorno, Derrida oder Foucault verbinden. Adorno schreibt zu Beginn der Negativen Dialektik: »Der Schein von Identität wohnt jedoch dem Denken selber seiner puren Form nach inne. Denken heißt identifizieren. Befriedigt schiebt be14 Vgl. Liell, Christoph, »Der Doppelcharakter von Gewalt: Diskursive Konstruktion und soziale Praxis«, in: Sighard Neckel / Michael Schwab-Trapp (Hg.), Ordnungen der Gewalt. Beiträge zu einer politischen Soziologie der Gewalt und des Krieges, Opladen 1999, S. 33-54, hier S. 35. Vgl. auch Waldenfels, Bernhard, »Aporien der Gewalt«, in: Mihran Dabag / Antje Kapust / Bernhard Waldenfels (Hg.), Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsentationen, München 2000, S. 9-24, hier S. 11 f. Theresa de Lauretis schreibt in dieser Perspektive von einer sprachlichen Ordnung, »which speaks violence – names certain behaviors and events violent, but not others, and constructs objects and subjects of violence, and hence violence as a social fact […].« (Lauretis, Teresa de, »The Violence of Rhetoric: Considerations on Representation and Gender«, in: dies., Technologies of Gender. Essays on Theory, Film, and Fiction, 4. Aufl., Bloomington u. a., 1992, S. 31-50, hier S. 32) 15 Vgl. etwa Butlers Überlegungen zur Drohung: Butler, Judith, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998 (engl. Original 1997), S. 20 ff. 16 Vgl. zum Zusammenhang von hate speech und hate crimes: McDevitt, Jack / Jennifer Williamson, »Hate Crimes: Gewalt gegen Schwule, Lesben, bisexuelle und transsexuelle Opfer«, in: Wilhelm Heitmeyer / John Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 1000-1019. Oder auch: Fattah, Ezzat A., »Gewalt gegen ›gesellschaftlich Überflüssige‹«, in: ebd., S. 958-980.
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griffliche Ordnung sich vor das, was Denken begreifen will.« Und einige Seiten weiter: »Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.«17 Weil Sprache darauf beruht, vom Einzelnen zu abstrahieren, um damit das Ungleiche auf einen Nenner zu bringen, es gegen seine Verschiedenheit als Gleiches zu identifizieren, ist Sprache von Beginn an gewaltsam. Wenn das Wesen der Sprache also darin besteht, etwas ›unter einen Begriff zu bringen‹, dann ist sie immer schon ungerecht, tut sie immer schon Gewalt an. Da für Adorno jedes Philosophieren darauf abzielen müsste zu sagen, was sich nicht sagen lässt, besteht seine Aufgabe darin, der Gewalt der Sprache zu entkommen: mit dem Begriff über den Begriff hinauszugehen. Philosophie scheint so von Anbeginn an ein Kampf gegen die Gewalt der Sprache zu sein. Auch Derrida hebt diese ursprüngliche und transzendentale Gewalt der Sprache hervor: Noch vor jeder Demagogie oder Rhetorik kommt der Sprache als Logos schon eine eigene Gewaltsamkeit zu. Durch ihre begriffliche und prädikative Struktur subsumiert Sprache den Anderen unter ihre Begriffe und verkennt damit seine Andersheit. Durch die Begrifflichkeit der Sprache beginnt die Zirkulation des Selben und die Kontrolle des Seins.18 In anderer Form findet sich eine solche Sprachkritik auch im Denken Michel Foucaults wieder. Die Gewalt der Sprache wird dabei nicht mehr im identifizierenden Potenzial der Sprache gesehen, sondern in dem, was gesellschaftlich überhaupt zur Sprache kommen kann. Die Grundfrage, von der Die Ordnung des Diskurses getragen ist, lautet daher: Was kann überhaupt in die Sprache eintreten? Foucault will in diesem als Antrittsvorlesung am Collège de France gehaltenen Text gerade jene Operationen ausfindig machen, die den Bereich des Sagbaren überhaupt erst hervortreten lassen, denn das Sagbare, so Foucault, ist reguliert durch »Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung des Diskurses.«19 Unser Sprechen ist immer schon von Grenzen, Ausschlüssen und Verknappungen durchzogen, von einer vorgängigen Gewalt, welche die Sprache affiziert hat, längst bevor wir sie in den Mund nehmen. Mit anderen Worten: Sprache ist immer schon gewaltsam. Die Gewalt der Sprache ist in dieser Perspektive jedoch nicht mehr wie bei Adorno in der Funktionsweise der Begriffe selbst verwurzelt, sondern in der Zurichtung jenes Bereichs, der begrifflich überhaupt gesagt werden kann. So sehr sich diese Ansätze auch unterscheiden, gemeinsam ist ihnen doch, dass sie die Sprache von einer Gewalt durchzogen sehen, noch bevor überhaupt ein Wort gefallen ist. Es gibt dieser Sicht zufolge keine Sprache oder kein Sprechen, das nicht gewaltsam wäre. Dadurch bleibt jedoch der Blick auf konkrete Formen des missachtenden Sprechens verstellt. Denn wenn Sprache immer schon Gewalt ist, bleibt die Frage offen, weshalb bestimmte Äußerungen gewaltsamer sind als 17 Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, Frankfurt / Main 1996, S.17 und 21. 18 Derrida, Jacques, »Gewalt und Metaphysik«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt / Main 1972, S. 121-236. 19 Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt / Main 1991, S. 17.
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andere, weshalb ein liebevolles Wort zu erfreuen, ein hasserfülltes dagegen zu verletzen vermag.
Gewalt durch Sprache All jene Perspektiven, die man unter dem Ansatz ›Gewalt durch Sprache‹ bündeln kann, sehen die Gewalt nicht mehr intrinsisch mit der Sprache verwoben, sondern als eine Form des Handelns mit der Sprache: Gewalt wird in der Sprache dadurch vollzogen, dass wir mit Worten etwas tun. Eine Reihe von einschlägigen Perspektiven lassen sich hier anführen. Schimpfen und Fluchen: In dieser Perspektive stehen die expliziten Missachtungsformeln unseres Sprachschatzes im Mittelpunkt. Vor allem linguistische Untersuchungen haben sich diesem ostentativen Gebrauch von ›schmutzigen Wörtern‹ eingehender gewidmet. So trägt etwa Herbert Pfeiffer in seinen einschlägigen Untersuchungen über 10.000 Schimpfworte und ihre Verwendungsweisen zusammen und Franz Kiener hat in seiner umfangreichen Materialstudie die verschiedensten lokalen Ausdrucksformen und Situationen gesammelt, in denen geschimpft und geflucht wird.20 Gabriele Scheffler hat ihre Untersuchung auf die Frage konzentriert, welche Schimpfwörter für welche Personengruppen bevorzugt verwendet werden. Sie zeigt damit z. B., welches die bevorzugten Themenfelder und Ausdrücke sind, mit denen Männer oder Frauen beschimpft werden.21 Dieser Ansatz wurde in historischer Perspektive vertieft. David Garrioch etwa zeigt, dass die Beschimpfung, die häufig als Beispiel par excellence für gewaltförmige Sprache gilt, immer in einem historisch spezifischen Kontext bestimmt werden muss.22 Mobbing: Unter dem Begriff Mobbing werden negative kommunikative Handlungen gefasst, die sich über einen längeren Zeitraum hinweg an eine Person richten – vor allem die systematische Abwertung durch mehrere Personen. Während Leymann vor allem die Verhältnisse am Arbeitsplatz in den Mittelpunt rückt, setzt sich Olweus mit der verbalen Schikanierung zwischen Schülern und Jugendlichen auseinander.23 Mit der Betonung der zeitlichen Kontinuität stellen beide die zermürbende Kraft kontinuierlicher herabwertender Ansprache in den Mittelpunkt. Durch das Auslösen von Stress, Angst oder Nervosität kann Mobbing ihr Opfer nicht nur in seinem sozialen Ansehen, sondern auch körperlich und gesundheitlich schädigen. 20 Kiener, Franz, Das Wort als Waffe. Zur Psychologie der verbalen Aggression, Göttingen 1983. 21 Scheffler, Gabriele, Schimpfwörter im Themenvorrat einer Gesellschaft, Marburg 2000. 22 Garrioch, David, »Verbal Insults in eighteenth-century Paris«, in: Peter Burke / Roy Porter (Hg.), The Social History of Language, Cambridge u. a. 1987, S. 104-120. 23 Leymann, Heinz, Mobbing. Psychoterror am Arbeitsplatz und wie man sich dagegen wehren kann, Reinbek bei Hamburg 1993, Olweus, Dan, Bullying at School. What We Know and What We Can Do, Oxford, Cambridge 1993.
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Feministische Perspektiven: Die feministische Auseinandersetzung um Sprache ist in Deutschland auf zwei Ebenen geführt worden. In der Debatte um »Frauensprache« geht es in erster Linie um die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern durch unsere Alltagsprache. Luise Pusch etwa argumentiert, dass das generische Maskulinum Frauen in der Sprache unsichtbar macht.24 Dagegen setzt sie die Schreibweise mit großen I (LeserInnen) und die Forderung nach eigenständigen Berufsbezeichnungen für Frauen (Amtsmann / Amtsfrau). Ein zweiter Strang stellt die sexistische Struktur von face-to-face Gesprächen zwischen Männern und Frauen in den Mittelpunkt. Senta Trömmel-Plötz hat hier einschlägig gezeigt, dass Frauen zwar die Hauptarbeit in Gesprächen übernehmen, von Männern jedoch durch Techniken wie Trivialisieren, Unterbrechen oder Belehren immer wieder in eine unterlegene Gesprächsposition gebracht werden.25 Gewalt der Rhetorik: Eine Vielzahl von Untersuchungen aus dem Bereich der Gesprächsforschung widmet sich der Analyse von Medienrhetorik und TV-Debatten. Luginbühl etwa stellt vor allem die publikumswirksamen Rhetoriken unter den Bedingungen einer medienvermittelten Kommunikation in den Vordergrund der Untersuchungen.26 Dazu gehört die Fähigkeit, Themen zu kontrollieren und zu definieren bzw. durch Unterbrechung zu restrukturieren und wirkmächtig aufzubereiten.27 Die Durchsetzung eigener Interessen mit Hilfe der Rhetorik ist dabei eine sanfte Form der Machtausübung. Sie zwingt die Subjekte nicht in einem martialischen Sinne in die Knie, sondern sie zieht diese geschickt auf die eigene Seite. Die Gewalt der Kommunikation wird daher von den adressierten Subjekten gar nicht unbedingt als eine solche erfahren, ja vielmehr erscheint die Redefertigkeit mehr als Charisma denn als Machtausübung. Auch Gloy und Januschek fragen in der einschlägigen Edition Sprache und / oder Gewalt danach, wie Sprache kraft ihrer Rhetorizität das Widerstreben der Adressatin überwinden oder brechen kann.28 Es ist also vor allem die Sprachgewalt, d. h. die Kunst andere zu überreden, zu lenken oder zu manipulieren, die hier im Mittelpunkt steht. Linguistische Höflichkeitsforschung: Unter dem Stichwort der »Face Threatening Acts« geht eine einflussreiche Theorietradition innerhalb der Linguistik den impliziten und subtilen Strategien sprachlicher Gewalt nach. Brown und Le24 Pusch, Luise F., Das Deutsche als Männersprache, Frankfurt / Main 1984. 25 Trömel-Plötz, Senta (Hg.), Gewalt durch Sprache. Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen, Frankfurt / Main 1997. 26 Luginbühl, Martin, Gewalt im Gespräch: verbale Gewalt in politischen Fernsehdiskussionen am Beispiel der ›Arena‹, Bern 1999. 27 Vgl. Keim, Inken, »Herstellen von Dominanz im Gespräch durch Dominantsetzen von Perspektiven«, in: Jürgen Fohrmann u. a. (Hg.), Autorität und Sprache. Vorträge des Bonner Germanistentages 1997, Bielefeld 1999, S. 241-260. 28 Januschek, Franz / Klaus Gloy (Hg.), Sprache und / oder Gewalt, Sonderheft OBST. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, Bd. 57, 1998; Kopperschmidt, Josef, »Zwischen ›Zauber des Wortes‹ und ›Wort als Waffe‹. Versuch über die ›Macht des Wortes‹ zu reden«, in: ebd., S. 13-31.
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vinson haben gezeigt, dass sprachliche Gewalt nicht immer als direkter Angriff vollzogen werden muss, sondern auch dadurch ausgeführt werden kann, dass ein intersubjektiver Anspruch, der normalerweise gestellt ist, nicht erfüllt wird.29 Hintergrund dieser Perspektive sind Erving Goffmans Arbeiten zum ›face‹. Für Goffman besteht ein Großteil der Aktivitäten bei Gesprächen darin, dass die Beteiligten versuchen, das Gesicht ihres Gegenübers zu schützen.30 Allein durch den Bruch von Höflichkeitskonventionen, wie zum Beispiel das Erwähnen von Tabu-Themen, kann in dieser Perspektive sprachliche Gewalt ausgeübt werden. Ethnolingustik: Die praktische Dimension sprachlicher Gewalt fokussieren viele ethnolinguistische Studien, die sich mit Verfahren des ›verbalen Duellierens‹ auseinandersetzen. Es sind die expliziten und formelhaften Beleidigungen im Kommunikationsrepertoire von Jugendlichen, denen sich die einschlägigen Studien von Abrahams und Labov zugewendet haben.31 Sie zeigen, dass solche Beleidigungsduelle von den Sprechern ein hohes Maß an sprachlicher Kreativität erfordern und je nach Subkultur verschiedenen Regeln gehorchen. Durch die Beherrschung von komplexen und kreativen Rede-Antwort-Codes können die Adressierten sowohl ihre Zugehörigkeit zu einer community beweisen als auch ihr Maß an sozialer Ehre vermehren. Körper- bzw. leibphilosophische Ansätze: Anstatt von einer Ähnlichkeit von sprachlichem und körperlichem Handeln zu sprechen, gehen körper- / leibphilosophische Ansätze soweit, den verletzenden Sprechakt nicht mehr als sprachliche Handlung, sondern als buchstäblichen Schlag zu verstehen. Lecercle macht in Anknüpfung an Canetti32 den physischen Kern sprachlicher Gewalt deutlich: Befehl und Verhör sind für ihn Beispiele für Sprechsituationen, in denen das Sprechen materiale Effekte auf den Körper des Adressaten haben kann. In ähnlicher Weise versucht Gehring im Anschluss an Merleau-Ponty33 zu verdeutlichen, inwiefern Sprache nicht wie eine, sondern als eine physische Einwirkung zu funktionieren vermag: etwa in der schieren Körperlichkeit eines hass- oder zornerfüllten Sprechens, bei dem die Bedeutung des Gesagten oder auch die Macht des Sprechers nicht mehr relevant sind, sondern die Sprache zum Ding wird.
29 Siehe Brown, Penelope / Stephen Levinson, »Gesichtsbedrohende Akte«, in diesem Band. Dieser Aufsatz ist die Übersetzung eines Auszug aus dies., Politeness. Some Universals in Language Usage, Cambridge 1987. Aktuell siehe: Watts, Richard J., Politeness, Cambridge 2003. 30 Goffman, Erving, »Techniken der Imagepflege«, in: ders., Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt / Main 1986, S. 10-53, hier S. 48. 31 Vgl. Abrahams, Roger D., »Playing the Dozens«, in: Journal of American Folklore, Bd. 75, 1962, S. 209-220; Labov, William, »Regeln für rituelle Beschimpfungen«, in: ders., Sprache im sozialen Kontext, Königstein 1978, S. 2-57. 32 Lecercle, Jean-Jacques, The Violence of Language, London, New York 1990; Canetti, Elias, Masse und Macht, 29. Aufl., Frankfurt / Main, 2003. 33 Gehring, Petra, »Über die Körperkraft von Sprache«, in diesem Band, S. 211-228; Merleau-Ponty, Maurice, Das Sichtbare und das Unsichtbare, 3. Aufl., München, 2004.
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Ethische Perspektiven: Neuere philosophische Ansätze zu sprachlicher Gewalt beziehen sich auf Emmanuel Levinas’ Überlegungen zu einer Ethik der Alterität.34 In diesem Horizont ist das Subjekt dem Anderen gegenüber konstitutiv ausgeliefert, es ist vom Anderen betroffen, bevor es ›Ich‹ sagen kann. In dieser Ausgesetztheit gegenüber dem Anderen wird das Subjekt allererst hervorgebracht. Wir stehen zum Anderen immer schon in einem Antwort-Verhältnis, das für Levinas zugleich immer auch ein Ver-Antwort-ungs-Verhältnis ist. Wir müssen auf den Anspruch des Anderen reagieren, wir können ihn nicht ignorieren, kurz: Wir sind zu einer Antwort verurteilt, denn selbst keine Antwort ist auch eine Antwort. Der Anspruch des Anderen trifft das Subjekt wie ein Appell, der dazu nötigt zu antworten. In diesem Appell wird das Subjekt Gegenstand einer Anklage, die es nicht verstehen kann, und es gehorcht einem Befehl, noch bevor es verstehen kann, was der Befehl besagt. In dieser immer schon asymmetrischen Beziehung zum Anderen sind wir der Beleidigung und Verletzung schutzlos ausgeliefert. Widerfahrnis von Gewalt: Elaine Scarry hat darauf hingewiesen, dass wir zwar ein breites Spektrum an Begriffen besitzen, die eine Verletzung zu benennen vermögen, dass diese Ausdrücke jedoch zumeist in der »Sprache der Agentenschaft« formuliert sind, d. h. dass sie oft nur die Mittel und Akte betreffen, mit denen eine Verletzung vollzogen wurde. Liebsch oder Delhom versuchen daher eine Phänomenologie der sprachlichen Gewalt zu entwerfen, welche die sprachliche Verletzung aus der Perspektive des Erleidens zu verstehen versucht.35 Delhom weist darauf hin, dass aus dieser Perspektive das Erleiden von Gewalt nicht verstehbar ist als kausale Wirkung der Gewalt. Das Erleiden der Gewalt ist ein Widerfahrnis, das als solches, losgelöst von Ursache-Wirkungs-Relationen, verstanden werden muss. Hate Speech-Debatte: Eine einschlägige Diskussion über Sprache und Gewalt findet sich in der US-amerikanischen hate-speech-Debatte. Im Mittelpunkt steht vor allem die Regulierung verletzenden Sprechens, die vor dem USA-spezifischen Hintergrund des ersten Verfassungszusatzes, der das Recht auf freie Rede garantiert, entstanden ist.36 Im Rahmen der Frage, wann eine Äußerung eine schützenswerte Meinungsäußerung und wann sie eine zu sanktionierende Redeweise sei, wurden gesellschaftliche Praktiken der sprachlichen Verletzung erstmals sprachphilosophisch reflektiert. Autorinnen wie Catherine MacKinnon, Rae 34 Erzgräber, Ursula / Alfred Hirsch (Hg.), Sprache und Gewalt, Berlin 2001; Levinas, Emmanuel, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg, München 1998. 35 Delhom, Pascal, »Die geraubte Stimme«, in diesem Band, S. 229-248, Liebsch, Burkhard, »Nach dem Ende der ›Sprachvergessenheit‹: Vorläufige Fragen zur Verletzung Anderer in und mit Worten«, in diesem Band, S. 249-274. 36 Matsuda, Mari J. u. a. (Hg.) (1993), Words That Wound. Critical Race Theory, Assaulitve Speech, and the First Amendment, Colorado, Oxford 1993; aktuell: Delgado, Richard, Understandig Words that Wound, Boulder 2004; zur Geschichte der Auseinandersetzung siehe: Walker, Samuel, Hate Speech. The History of an American Controversy, Lincoln, London 1994.
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Langton und Judith Butler haben hate speech daher im Licht der Theorie des Performativen nach ihrer Verletzungskraft befragt.37 Performative Perspektiven: Im Rückgriff auf Austins Begriff der performativen Äußerung wird argumentiert, dass verletzendes Sprechen seine Kraft allererst durch seine Konventionalität gewinnt. In der Zitathaftigkeit der Verletzung sieht Butler eine der rituellen Dimensionen sprachlicher Gewalt.38 Sollen Beleidigungen performative Kraft haben, müssen sie vergangene Äußerungen wiederholen. Die rituelle Wiederholung der Äußerung ist für Butler jedoch nicht nur die Bedingung dafür, dass die Äußerung Kraft entfalten kann, sondern zugleich auch Möglichkeit, die Kraft der Äußerung umzuwenden. Auch Bourdieu und Garfinkel gehen in diesem Zusammenhang den rituellen Aspekten performativer Akte und gesellschaftlicher Macht nach.39 Für Bourdieu speist sich die verletzende Kraft von Worten aus der gesellschaftlichen Autorität, die ein Sprecher innehat, bzw. aus der gesellschaftlichen Legitimität, die den Kategorien zukommt, die eine Beleidigung verwendet. Garfinkel zeigt am Beispiel der Degradierung die Ähnlichkeit von Degradierungs-Zeremonien mit Ernennungs- und Verleihungszeremonien auf.40 Sozialphilosophische Ansätze: Ein sozialphilosophisch orientierter Diskussionsstrang rückt das Subjekt in seiner gesellschaftlichen Existenz in den Mittelpunkt und fragt vor diesem Hintergrund nach den Möglichkeitsbedingungen der Verletzbarkeit von Subjekten. Der Grundgedanke von so unterschiedlichen Autoren wie Axel Honneth, Avishai Margalit oder Charles Taylor41 lautet, dass die soziale Hervorbringung des Subjekts die Basis für seine Fähigkeit bildet, verletzungsoffen für unterschiedliche Formen der Missachtung zu sein. Eine Scharnierfunktion erfüllt hier meist der Begriff der Anerkennung, den viele dieser unterschiedlichen Ansätze im Rekurs auf Hegel in Anschlag bringen. In diesem Kontext stellt sich die Frage nach verschiedenen Formen des sprachlichen Entzugs von Anerkennung: Schick, Quinton oder Silver u. a.42 fragen nach unter-
37 Siehe dazu vor allem: MacKinnon, Catharine A., Nur Worte, Frankfurt / Main 1994; Langton, Rae, »Sprechakte und unsprechbare Akte«, in diesem Band, S. 107-146, und Butler, Hass spricht, a.a.O. 38 Ebd. 39 Bourdieu, Was heißt sprechen?, a.a.O. 40 Garfinkel, Harold, »Bedingungen für den Erfolg von Degradierungszeremion«, in diesem Band, S. 49-57. 41 Honneth, Axel, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt / Main 1994; Margalit, Avishai, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Frankfurt / Main 1999; Taylor, Charles, »Die Politik der Anerkennung«, in: ders., Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 2. Aufl., Frankfurt / Main, 1993. 42 Schick, Frederic, »On Humiliation«, in: Social Research, Heft 1, Bd. 64, 1997, S. 131-146; Quinton, Anthony, »Humiliation«, in: ebd., S. 77-89; Silver, Maury u. a., »Humiliation: Feeling, Social Control and the Construction of Identity«, in: Journal for the Theory of Social Behavior, Heft 3, Bd. 16, 1986, S. 269-283.
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schiedlichen Mustern der Missachtung, wie etwa der Beleidigung, der Demütigung, der Kränkung oder der Erniedrigung. Anrufungs-Perspektiven: Judith Butler erklärt die Verletzungsmacht von Worten damit, dass Subjekte erst durch Sprache zur Existenz gelangen: Unser soziales Sein beruht auf einem Angesprochenwerden.43 Im Anschluss an Althusser44 versteht Butler Sprechen als Anrufung: Durch wiederholte Akte der Anrufung gelangen wir zu einer sozialen Existenz, das heißt, wir nehmen einen sozialen Platz in einer sozialen Zeit ein. Erst die Zugehörigkeit zum Bereich des Sozialen ermöglicht es uns, einen Subjektstatus zu erhalten und eine Subjektivität auszubilden. Während die Anrufung mit dem Eigennamen Identität stiftet, droht in der beleidigenden Benennung mit Schimpfnamen der traumatische Verlust von Identität.
Zu den einzelnen Beiträgen In ihrem Auftaktbeitrag argumentiert Sybille Krämer, dass die Verletzungsmacht der Sprache in der Doppelkörperlichkeit von Personen gründet. Denn genauso wie unser physisch-leiblicher Körper eine Stelle im Raum einnimmt, hat auch unser sozial-symbolischer Körper einen Ort. Letzterem ist es eigen, dass er nicht nur durch Sprache zugewiesen wird, sondern durch Sprache auch entzogen werden kann. Die Verleihung des Eigennamens und die Anrede mit einem Schimpfnamen stehen paradigmatisch für diese beiden Seiten der Gewalt der Sprache. Die Verletzung durch Worte ist daher keine Entgleisung einer ursprünglich friedfertigen Sprache, sondern grundlegend in die Doppelkörperlichkeit von Personen eingeschrieben. Im Mittelpunkt des Beitrags von Harold Garfinkel stehen Akte der Degradierung. Als ›Urszene‹ gilt ihm dabei das Gerichtszeremoniell zwischen Ankläger, Angeklagtem und Geschworenen. Dadurch wird insbesondere die Frage nach den Bedingungen wesentlich, unter denen die Geschworenen durch den Ankläger von der Minderwertigkeit des Angeklagten überzeugt werden. Garfinkel formuliert hier acht Bedingungen für eine erfolgreiche Degradierungszeremonie. Gelingt diese, bekommt die Person eine gänzlich neue, minderwertige Identität zugewiesen. Der viel zu wenig rezipierte Aufsatz ist in den USA zuerst 1956 publiziert worden. Wir haben ihn mit in die Edition aufgenommen, weil er in Form seinen dichten Thesen ein grundlegendes Paradigma auf sprachliche Gewalt eröffnet. Unter dem Stichwort der »Gesichtsbedrohenden Akte« (GBA) untersuchen Penelope Brown und Stephen Levinson die Praktiken, durch die Menschen aufgrund von Sprache ›ihr Gesicht verlieren‹ können. Das Gesicht von Menschen 43 Butler, Hass spricht, a.a.O. 44 Althusser, Louis, »Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung)«, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg, Berlin 1977, S. 108-153.
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besteht für die beiden im Wesentlichen aus dem Bedürfnis, in der Handlungsfreiheit durch Andere nicht beeinträchtigt (›negatives Gesicht‹) und im Selbstbild von Anderen anerkannt zu werden (›positives Gesicht‹). Das negative Gesicht etwa kann allein durch eine aufdringliche Bitte bedroht werden, da dieser Sprechakt einen Eingriff in die persönliche Handlungsfreiheit eines Subjekts darstellt, und auch das positive Gesicht kann schon dadurch in Frage gestellt werden, dass ein Subjekt mit einer Status-inadäquaten Adressierung, etwa einem »Du« statt einem »Sie«, angesprochen wird. Trotz der zum Teil berechtigten Kritik – etwa was die von ihnen postulierte Universalisierbarkeit ihres Modells oder ihren Rationalitätsbegriff betrifft – entwickelt der Beitrag, die Erstübersetzung ins Deutsche, grundlegende Überlegungen, die eine eigene Forschungsperspektive zu schaffen vermochten. Anhand des Wechselspiels von Rede und Gegenrede geht Pierre Bourdieu in seinem Beitrag der kommunikativen Dimension sprachlicher Gewalt nach. Auf der Grundlage seiner ethnografischen Untersuchungen in der Kabylei argumentiert er, dass jede Beleidigung in eine Logik von Herausforderung und Erwiderung eingebettet ist. Bourdieus Beitrag ist ein Ausschnitt aus seinen inzwischen vergriffenen Elementen einer Theorie der Praxis. Er verdeutlicht, in welchem Ausmaß sprachliche Gewalt kommunikativ ausgehandelt werden kann. Eine Beleidigung muss nicht zwangsläufig eine Entehrung des Gegenübers vollziehen, gibt sie doch immer die Möglichkeit einer Erwiderung, mit der der Angesprochene die Entehrung abwehren kann. Eine Beleidigung ist daher zunächst einmal immer unabgeschlossen, sie bleibt »virtuell«, wie Bourdieu sagt, bis sich ihr Gegenüber zu einer Reaktion entschlossen hat. Drei Möglichkeiten stehen dem Beleidigten prinzipiell für eine Reaktion offen: Er kann die Beleidigung unerwidert lassen und damit seine Entehrung in Kauf nehmen, er kann sich aber auch weigern, die Herausforderung zu erwidern und dem Beleidiger damit seine Verachtung für ihn zur Schau stellen. Schließlich jedoch kann er die Herausforderung auch erwidern und seine Ehre beweisen. Durch seine Herausforderung setzt sich der Beleidiger also immer auch einer Antwort aus, welche die Beleidigung umwenden und die Entehrung auf ihn zurückfallen lassen kann. Rae Langton fragt in ihrer Untersuchung, wie wir mit der Sprache der Sprache beraubt werden können. In Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie zeigt Langton in ihrem Beitrag – der für die US-amerikanische Debatte um Pornografie sehr einflussreich war –, dass sprachliche Gewalt ihr Gegenüber auf unterschiedliche Arten zum Schweigen bringen kann. Dieses Schweigen kann erstens im Verlust von Handlungsmöglichkeiten bestehen. Wem das Recht zu sprechen genommen wurde, hat von vornherein keine Möglichkeit, das Wort zu ergreifen. Der Verstummen kann aber auch darin bestehen, dass sprachliche Handlungen keine Wirkung mehr zeitigen, da ihnen die nötige Kraft zur Verwirklichung ihrer Intention fehlt. In einem solchen Fall ist es den Unterworfenen zwar möglich, eine Äußerung zu tun, doch diese läuft ins Leere: Sie hat kein Gewicht, sie zählt nicht mehr. Der Verlust an Handlungsmacht kann sich schließlich auch darin
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zeigen, dass Handlungen überhaupt nicht mehr in ihrer intendierten Bedeutung zur Kenntnis genommen werden. In diesem Fall wird die Äußerung jeglicher eigener Semantik beraubt. Das Sprechen wird enteignet: Es spricht durch uns und spricht doch nicht von uns. Carl Graumann und Margret Wintermantel beleuchten in ihrem Beitrag die unterschiedlichen Funktionsweisen diskriminierender Sprechakte. Dafür unterscheiden sie fünf grundlegende Operationen, mit deren Hilfe soziale Diskriminierungen vollzogen werden. Durch Operationen des Trennens kann erstens eine Grenze zwischen Menschen gezogen und eine Unterscheidung zwischen »Uns« und »Denen« geschaffen werden. Das kann im zweiten Schritt zur Folge haben, dass durch Distanzierungsoperationen ein sozialer Abstand zwischen Sprechern und Angesprochenen entsteht. Durch Hervorhebung bestimmter Merkmale oder Eigenschaften wird dieser Abstand im dritten Schritt verfestigt und naturalisiert. Im nächsten Schritt wird die verfestigte Unterscheidung so gewertet, dass die Sprecher als höherwertig und die Angesprochenen als minderwertig erscheinen. Im letzten Schritt kann eine Person durch Stereotypisierung als Teil der minderwertigen Gruppe diskriminiert und auf diese festgeschrieben werden. Diese Operationen können mit Hilfe der Sprache auf vielfältige Weise ausgeführt werden: durch direkte Adressierung, durch indirektes Über-jemanden-Sprechen oder implizite Anspielungen. In unserem eigenen Beitrag möchten wir zum einen zeigen, warum Menschen durch Sprache verletzbar sind, und zum anderen verdeutlichen, auf welche unterschiedlichen Weisen Sprache verletzen kann. Unser Grundgedanke lautet dabei, dass die Sprache die Gesellschaftlichkeit des Menschen begründet. Durch die Ansprache von Anderen werden wir zu einem sozialem Wesen, zu einem SoJemanden, der einen bestimmten Platz im sozialen Gefüge einnimmt. In dieser sozialen Existenz sind Menschen in einem grundlegenden Sinn symbolisch verletzbar, denn durch die Macht sprachlicher Gewalt können sie auf einer prekären sozialen Position situiert werden. Mit Hilfe der Grammatik sprachlicher Gewalt gehen wir im zweiten Teil unseres Beitrags der Logik der Ortsverschiebung nach, auf deren Basis die Adressaten verletzender Worte im Sozialen positioniert werden können. Ihren dramatischen Fluchtpunkt haben diese Ortsverschiebungen in der Ansprache, die ihre Adressatinnen in den sozialen Tod stößt. Sprachliche Gewalt, so machen wir damit deutlich, ist eine soziale Praxis, deren Gelingen auf das gesellschaftliches Szenario der Äußerung verweist. Entscheidend für dieses Szenario ist, inwiefern es sprachlicher Gewalt gelingt, sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu nutze zu machen. Petra Gehring arbeitet in ihrem Beitrag die Körperkraft des Sprechens heraus. Im Moment der äußersten Gewaltausübung, so ihre These, kann Sprache als schlagendes Ding fungieren. Der verletzende Sprechakt ist dann keine Sprachhandlung mehr, sondern er nähert sich einer stummen Handlung, einem Hieb an. Das Gesprochene bedarf in solchen Momenten keiner Übersetzung in Bedeutung mehr, da es gleichsam unmittelbar wie eine Waffe trifft. In der Ding-Sprache
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wird die Sprache also selbst körperlich, und zwar nicht dadurch, dass wir eine semantische Schwäche der Worte wahrnehmen, sondern dadurch, dass wir den Druck, der ihre Bedeutung überbietet, erfahren. Im verletzenden Wort zeigt sich daher etwas Grundsätzliches: Der Körper bildet nicht einfach die Grenze oder die Rückseite der Sprache, sondern ist selbst in die Sprache hineingewoben. Pascal Delhom argumentiert in seinem Beitrag, dass das Erleiden sprachlicher Gewalt nicht als das bloße Korrelat des Ausübens zu verstehen ist. Der Vollzug der Tat und die Widerfahrnis der Verletzung kommen nicht zur Deckungsgleichheit. Gewalt wird selbst dann als Gewalt erlitten, wenn es nur eine imaginierte Instanz des Gewaltvollzugs gibt. Nicht eine ›objektive‹ Ursache, sondern die Zuschreibung eines gewaltsamen Aktes ist die Voraussetzung dafür, dass eine Verletzung als Gewalt erlitten wird. Die Erfahrung der Gewalt entsteht folglich im Bewusstsein des Verletzt-worden-Seins-durch-jemanden. Sprachliche Formen der Verletzung findet Delhom in der Verletzung des Eigennamens, des Leibes, der moralischen Verbundenheit mit Anderen und der sozialen Identität. All diese unterschiedlichen Arten, in der Sprache verletzt zu werden, weisen eine Gemeinsamkeit auf, so verdeutlicht Delhom in seinen Überlegungen abschließend: Sie bringen den Adressaten zum Schweigen, indem sie ihm die Stimme rauben. Im Mittelpunkt des Beitrags von Burkhard Liebsch steht der Gedanke, dass Gewalt nicht nur mit Worten, sondern auch in Worten ausgeübt wird. Ähnlich wie Delhom betont auch Liebsch, dass sich diese Gewaltsamkeit der Gewalt allererst aus der Perspektive des Erleidens zeigt. Den Einbruch der Gewalt in das Sprechen arbeitet Liebsch anhand der Struktur der Kommunikation heraus: ›Jemand spricht zu jemanden über etwas in einem Kontext‹. Seine Grundgedanke ist dabei, dass wir aufgrund dieser Struktur im vorhinein nie wissen können, ob im Gebrauch der Sprache eine Gewaltsamkeit liegen wird. Die Möglichkeit der Gewalt ist vielmehr in diese kommunikative Grundstruktur unserer Sprache unumgänglich eingelagert. So wenig wie die Sprache ein bloßes Instrument unseres Gebrauchs ist, so wenig können wir die gewaltsamen Effekte kontrollieren, die mit dem Sprechen einhergehen können. Wer Andere anspricht, riskiert stets, sich einer nicht kalkulierbaren Gewaltsamkeit schuldig zu machen. Diese Einsicht, so argumentiert Liebsch im letzten Teil seines Beitrags, kann jedoch nicht in eine generelle Sprachverachtung münden, sondern muss zu einer Auslotung von Spielräumen der Gegen-Macht führen. Nach der Möglichkeit, durch Akte der Anerkennung verletzt zu werden, fragt Stefan Deines in seinem Beitrag. Zur Beantwortung dieser Frage stellt Deines das Anerkennungsmodell von Axel Honneth demjenigen von Judith Butler gegenüber. Obwohl sich beide einig sind, so Deines, dass Subjekte erst durch Akte der Anerkennung hervorgebracht werden, unterscheiden sich ihre Konzeptionen jedoch wesentlich im Hinblick darauf, wie sie die Verletzbarkeit dieser Subjekte denken. Gegenüber Honneth, der verschiedene Formen der Missachtung lediglich als Entzug von Anerkennung denkt, weist Butler darauf hin, dass sich Missachtungen gerade auch durch Akte der Anerkennung vollziehen können. Deines
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spricht hier von Akten der AnVerkennung. Diese negative Form der Anerkennung spricht ihr Gegenüber zwar als ein Minderwertiges an, erkennt es im selben Zug aber zumindest als ein anerkennbares Subjekt an. Deines zeigt also, dass Honneths Überlegungen ein positiver Begriff der Anerkennung zugrundeliegt, wohingegen Butler mit einem normativ neutralen Begriff arbeitet. Sie eröffnet damit den Blick auf ein Feld verletzender Anerkennungsakte, die nicht gedacht werden könnten, wenn Anerkennung begrifflich immer als positiv und bejahend verstanden würde. Dem schulischen Alltag sprachlicher Gewalt geht Thomas Markert in seinem Beitrag nach. Ausgehend von der Frage, wann sprachliche Gewalt von den Beteiligten überhaupt als solche gesehen und erlebt wird, untersucht Markert verletzendes Sprechen als soziale Praxis. Er geht von der These aus, dass sprachliche Gewalt in Ausgrenzungsprozesse eingebettet ist und Strukturen von Zugehörigkeit und Ausgrenzung verstärken kann. Verbale Gewalt dient nicht nur dazu, Unterlegenheit zu schaffen, zu betonen und darzustellen, sondern wirkt auch vergemeinschaftend, indem sie Gruppen voneinander trennt. Weil sprachliche Gewalt auf diese Weise im Horizont von sozialen Prozessen situiert wird, stehen in den qualitativ angelegten empirischen Untersuchungen die Interaktionsmuster der Schulklasse im Mittelpunkt. Die Interviews mit den Betroffenen machen deutlich, dass die ausgrenzende Zuschreibung von abweichendem Verhalten den Rahmen für sprachliche Gewalt bildet. Auch der Beitrag von Sonja Kleinke beruht auf empirischen Studien. Ihr Material gewinnt Kleinke aus der Untersuchung der Kommunikationsabläufe in verschiedenen Internet-Foren. Die Grundfrage ihres Beitrags lautet, ob schon Praktiken verbaler Ablehnung sprachliche Gewalt darstellen. Sprachliche Ablehnungen werden von ihr als Sprechakte verstanden, die das Adressatenimage bedrohen, und im Allgemeinen darin bestehen, dass eine Person ihr Nichteinverstandensein mit der vorangegangenen Äußerung einer anderen Person artikuliert. Verbale Ablehnung untersucht Kleinke am Beispiel jener Gesprächssorte, in dem sich Ablehnungen besonders häufen: dem ›Streitgespräch‹. Aus der Perspektive der Höflichkeitsforschung klassifiziert Kleinke unterschiedliche Strategien, mit denen sprachliche Gewalt in Form von verbaler Ablehnung vollzogen wird. Dazu zählt sie unter anderem schon die negative Bewertung des propositionalen Gehalts, die ohne gesichtswahrende Maßnahmen vollzogen wird, oder auch die explizit negative Bewertung einer Person, indem dieser etwa unzureichende Kenntnisse unterstellt werden. Mechthild Hetzel und Andreas Hetzel fragen in ihrem Beitrag nach der diskursiven Konstruktion des Begriffs Behinderung. Sie zeigen in einem ersten Schritt, dass überall dort, wo Menschen als »Spast« oder »Mongo« angerufen werden, ›Behinderung‹ als Zeichen von Minderwertigkeit (re-)produziert wird. Im zweiten Schritt machen sie deutlich, dass sich Gewalt nicht nur in diesen herabsetzenden Spottnamen manifestiert, sondern auch schon im Begriff der Behinderung selbst. Der Begriff errichtet Schwellen, durch welche den Betroffenen eine
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gleichberechtigte Partizipation verwehrt wird. Zur Aufrichtung dieser Schwellen tragen auch jene Institutionen bei, die sich dem Ideal der Integration verschrieben haben. Resultat einer solchen Konstruktion der Behinderung ist es, dass Menschen ihre Sprachkompetenz abgesprochen und ihnen der Raum zum Sprechen genommen wird. Im letzten Schritt gehen die AutorInnen mit Hilfe von Judith Butlers Konzept der katachrestischen Resignifikation, Jacques Rancières Überlegungen zur Wortergreifung und Giorgio Agambens These des In-der-SpracheSeins der Möglichkeit einer ›Sprache der Sprachlosen‹ nach, in der Widerstand gegen jene Diskurse laut werden könnte, die Menschen zum Schweigen bringen. Im letzten Beitrag dieser Edition stellt Daniel Loick die Dichotomie von Verständigung und Gewalt auf die Probe. Loick geht von der Diagnose aus, dass sowohl in einer optimistischen Sicht auf die Sprache, wie der von Jürgen Habermas, als auch in einer pessimistischen Sicht, wie der von Theodor W. Adorno, Verständigung und Gewalt immer als einander ausschließend gedacht werden. Demgegenüber argumentiert Loick dafür, dass Gewalt und Verständigung als gegenseitige Möglichkeitsbedingungen verstanden werden müssen. Leitend dafür ist ihm Jacques Rancières Begriff des Unvernehmens, der weder synonym für ein Verkennen noch für das Missverständnis steht. Das Unvernehmen nennt vielmehr die Situation der Verständigung und gleichzeitigen Nicht-Verständigung, die jedem Sprechakt eingeschrieben ist. Das, was der oder die Andere sagen will, wird immer in einer bestimmten Weise verfehlt. Verständigung als Verständigung beinhaltet immer schon Gewalt, zugleich aber bietet selbst sprachliche Gewalt noch – wie basal auch immer – Ansatzpunkte für Verständigung.
Literatur Abrahams, Roger D., »Playing the Dozens«, in: Journal of American Folklore, Bd. 75, 1962, S. 209-220. Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, Frankfurt / Main 1996. Althusser, Louis, »Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung)«, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg, Westberlin 1977, S. 108-153. Armstrong, Nancy (Hg.), The Rhetoric of Violence, Sonderheft Semiotica, Heft 1 u. 2, Bd. 54, 1985. Austin, John L., Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), 2. Aufl., Stuttgart, 1979 (engl. Original 1962). Bourdieu, Pierre, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, 2., erw. und überarb. Aufl., Wien, 2005. Butler, Judith, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998 (engl. Original 1997). Canetti, Elias, Masse und Macht, 29. Aufl., Frankfurt / Main 2003.
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SYBILLE KRÄMER
Sprache als Gewalt oder: Warum verletzen Worte?
Vorkommnisse Cato der Ältere beendete jede seiner öffentlichen Reden mit den Worten: »Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.«1 Trägt Cato eine Schuld an der Vernichtung Karthagos im dritten punischen Krieg? Ein Angestellter betritt das Zimmer seines Vorgesetzten und lässt dabei die Türe offen. »Haben Sie daheim Säcke vor den Türen?«, bemerkt der Vorgesetzte. Ist diese Äußerung diskriminierend oder zeugt sie eher von metaphorischer Kreativität? Einem hochrangigen Mannesmann-Manager wird die Äußerung zugesprochen: »Menschen sind Kosten auf zwei Beinen«. Provoziert diese Äußerung? Und wenn ja, warum? Weil es sich um einen falschen Satz handelt oder gibt es dafür andere Gründe? »Wenn ich ihre Frau wäre, würde ich ihnen Gift in den Kaffee schütten!«, ruft Lady Astor im Parlament aus. »Wenn ich ihr Mann wäre, würde ich den Kaffee auch trinken«, antwortet Winston Churchill seiner politischen Gegnerin. Ist die Äußerung Churchills witzig oder ist sie beleidigend? Der Fußballspieler Zinedine Zidane (Frankreich) griff Marco Materazzi (Italien) im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 2006 tätlich an, nachdem dieser ihn beleidigt hatte. Trash-talk ist üblich auf dem Fußballfeld. Materazzis Äußerung war – wie beide zu Protokoll gaben – nicht rassistisch. Die FIFA-Disziplinarkommission verhängte gegen beide Strafen, die sich im Umfang nur graduell unterschieden. Ist diese strafrechtliche Annäherung von körperlicher Tat und verbaler Äußerung gerechtfertigt? 1 »Im Übrigen meine ich, dass Karthago zerstört werden muss.«
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Diese Fragen führen uns mitten hinein in das Thema des Zusammenhanges von Sprache und Gewalt. Sie signalisieren, dass die Antworten darauf komplex und vielschichtig ausfallen werden: Einzusehen, dass und wie eine verbale Äußerung zugleich gewalttätig sein kann, ist das eine; dabei die Unterschiede zwischen Worten und Taten nicht einfach aufzulösen, also an der Unterscheidbarkeit von physischer und symbolischer Gewalt festzuhalten, ist das andere. Diese Gratwanderung zwischen dem Zusammenfallen, aber auch der Differenz von Sprache und Gewalt zu bestehen, ist die Herausforderung, der sich eine philosophische Reflexion sprachlicher Gewalt zu stellen hat.
Sprache und Gewalt als Antipoden? Kaum eine philosophische Einsicht hat so nachhaltig die intellektuelle Landschaft der Geistes- und Kulturwissenschaften verändert, wie John Langshaw Austins Entdeckung, dass Worte immer auch Taten sind: indem wir sprechen, handeln wir.2 John Searles Sprechakttheorie3 und Jürgen Habermas’ Kommunikationstheorie4 haben uns – im Anschluss an Austin – aufgeklärt darüber, dass das, was das Sprechen handelnd hervorbringt, ›soziale Fakten‹ sind, Gegebenheiten also, deren Sein auf ihrem Anerkanntsein beruht. Wir reden nicht nur über die Welt, sondern konstituieren unsere Welt als eine soziale Welt auch durch unser Reden: zu sprechen heißt, eine Beziehung zu den Angesprochenen aufzunehmen und einzugehen. Alles dies ist hinreichend bekannt und nahezu rundherum beleuchtet. Doch es ist merkwürdig, dass in einer sprachphilosophischen Tradition, die sich so kreativ und gedankenscharf dem Handeln durch Worte zugewendet hat, immer nur das Versprechen, nie aber die Beleidigung zum Prototyp sprachlicher Handlungsmacht avancierte.5 Wie geht es an, dass das Kommunizieren meist nur als Konstruktion und Hervorbringung des Sozialen, kaum aber als seine Destruktion thematisch wird? Eine Antwort darauf kann uns der blinde Fleck einer zeitgenössischen sprachphilosophischen Studie geben. Harry G. Frankfurt fragt in seinem
2 Austin, John Langshaw, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1979. 3 Searle, John R., Speech Acts, Cambridge 1969. 4 Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt / Main 1981. 5 Ausnahmen in der deutschen Philosophie: Hirsch, Alfred, »Sprache und Gewalt. Vorbemerkungen zu einer unmöglichen und notwendigen Differenz«, in: Ursula Erzgräber / Alfred Hirsch (Hg.), Sprache und Gewalt, Berlin 2001, S. 11-42; Delhom, Pascal, »Auf die Gewalt antworten. Über Emmanuel Levinas«, in: ebd., S. 141-158; und Liebsch, Burkhard, »Verletzung in und mit Worten«, in: Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken, Bd. 34, 2004, S. 243-264. In der angelsächsischen Philosophie: Butler, Judith, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998; Langton, Rae, »Sprechakte und unsprechbare Akte«, in diesem Band, S. 107-146 (engl. Orginal 1993); MacKinnon, Catharine A., Nur Worte, Frankfurt / Main 1994.
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Essay ›Bullshit‹6 allein nach den Bedingungen des richtigen Gebrauches dieses Prädikats, das für ihn einen leer laufenden, gegenüber Wahrheitsansprüchen indifferenten und bevorzugt in Politik und Werbung praktizierten Sprachgebrauch charakterisiert. Dass jedoch ›bullshit‹ unter gewissen Bedingungen ein äußerst kränkendes Wort sein kann, welches nicht bloß eine Rede zutreffend oder unzutreffend beschreibt, vielmehr deren Urheber persönlich treffen und also beleidigen oder diskreditieren will – eine solche Möglichkeit, mit der Äußerung ›bullshit‹ tatsächlich etwas anzutun, kommt erst gar nicht in Betracht.7 Warum also diese augenfällige Auslassung, wenn nicht gar Tabuisierung gewaltförmiger Rede? Es war Aristoteles, der für das abendländische Nachdenken über die Sprache die philosophischen Weichen stellte, indem er die Sprache als Werkzeug der Argumentation und als ein Organon vernünftiger Rede auszeichnete. Die Besonderheit verbaler Kommunikation, darauf hat Jürgen Habermas nachdrücklich hingewiesen, besteht dann gerade darin, den Raum einer Interaktion zu eröffnen, der es erlaubt, Streitigkeiten kraft des zwanglosen Zwangs des Arguments friedfertig und konsensuell beizulegen. So scheint die Sprache durchdrungen vom Telos einer gewaltfreien Handlungskoordination,8 in deren Perspektive sich Sprache und Gewalt zueinander verhalten wie Zivilisation und Barbarei, wie Kultur und ihr Verlust. Sprache und Gewalt gelten als Antipoden. Gerade jene Philosophie also, die uns zur Einsicht gebracht hat, in welchem Ausmaß Sprachlichkeit konstitutiv für die Entwicklung von Vernunft und Rationalität ist, zehrt zugleich von der Entgegensetzung von Sprache und Gewalt. Es mag gute Gründe geben, die Entgegensetzung von Sprache und Gewalt als eine Idealisierung zur Geltung zu bringen, welche zwar die Möglichkeit der Sprache und ihr Potenzial verstehbar macht, somit als eine Maxime unseres Redens ethisch von Bedeutung ist; jedoch für ein Verständnis der Wirklichkeit unseres Sprechens geht diese Idealisierung fehl. Und dies schon aus dem einfachen Grund, dass es die ›reine‹ Sprache sowenig gibt wie die ›reine‹ Gewalt. Denn keine Gewalthandlung ist gänzlich frei von symbolischen Besetzungen und sprachlichen Dimensionen.9 Und dies gilt umgekehrt auch für die Sprache: jede gesprochene Sprache birgt immer auch das Potenzial verletzender Worte. Können wir uns eine (natürliche) Sprache vorstellen, die Schimpfnamen nicht zu ihrem Wortschatz zählt und der Verben zur Beschreibung sprachlicher Verletzungen wie ›verleumden‹, ›diskriminieren‹, ›verspotten‹, ›verfluchen‹ einfach fehlen?
6 Frankfurt, Harry G., Bullshit, Frankfurt / Main 2006. 7 Krämer, Sybille, »Der Philosoph als Sprachpolizist«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 3, Bd. 54, 2006, S. 478-480. 8 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, a.a.O., Bd. I, S. 387. 9 Hirsch, »Sprache und Gewalt. Vorbemerkungen zu einer unmöglichen und notwendigen Differenz« , a.a.O., S. 11 ff.
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Wir möchten in unseren Überlegungen dem Grundsatz folgen, dass das Sprechen gleichursprünglich Gewaltverhinderung und Gewaltausübung sein kann. Worte sind immer noch die meistverbreitete Waffe und die ›Zunge‹ eines der schärfsten Schwerter. Dieses Phänomen, das zugleich ein Desiderat philosophischer Reflexion markiert, wird uns nun beschäftigen und zwar am Leitfaden der folgenden Fragen: (1) Was bedeutet ›sprachliche Gewalt‹? (2) Warum sind Menschen durch Worte verletzbar? (3) Mit welchen Mitteln kann Sprache verletzen? (4) Inwiefern ist sprachliche Gewalt ein Kulturgut?
Was bedeutet ›sprachliche Gewalt‹? Mit ›Gewalt‹ ist ein ambivalentes Bedeutungsfeld verbunden, changierend zwischen konstruktiven und negativen Konnotationen. Als eine ausgeübte Gewalt kann Gewalt sich auf die Amts- und Verfügungsgewalt beziehen, auch auf die Verwaltung, die Gewaltenteilung, die Staatsgewalt und steht wortgeschichtlich im Zusammenhang mit der ›potestas‹, dem Verfügen-können und dem Vermögen zu handeln: dasjenige eben, was ›waltet‹. Als verübte Gewalt allerdings ist Gewalt eine zerstörerische Kraft, eine Gewalttat, welche sich gegen etwas richtet und dabei schädigt und verletzt.10 Wortgeschichtlich steht diese Gewalt in Verbindung mit der ›violentia‹. Diese angreifende Gewalt tut weh und sie hinterlässt Opfer. Sie muss also nicht nur verübt, sondern sie muss auch erlitten werden. Verletzende Gewalt ist eine asymmetrische Interaktion, konstituiert durch die Bipolarität einer Täter- und einer Opferrolle. Jemand tut einem anderen etwas an. In diesem Sinne ist Gewalt immer ›persönlich‹; sie geht aus von Personen11 und sie richtet sich gegen Personen: Eine Verletzung wird durch den Geschädigten nur dann als Gewalt erlebt, wenn sie als etwas erfahren wird, das tatsächlich von einer Person ausgeht.12 Während die ›Gewalt-als-potestas‹ rationalisierbar ist und sich eingliedern lässt in die Funktionsmuster von Macht und Herrschaft, unterminiert und durchkreuzt die ›Gewalt-als-violentia‹ immer auch funktionelle Ordnungen. Und das umso mehr, je mehr wir anerkennen müssen, dass Gewalt – im Unterschied übrigens zu Macht und Herrschaft – am Phänomen des Bösen partizipiert und immer auch um ihrer selbst willen, frei von Teleologie und Funktionalität, mithin als ›irrational‹ begriffen werden muss.13 Nicht selten ist verübte Gewalt mehr mit der Ohnmacht denn mit der Macht im Bunde; nicht selten auch birgt sie etwas nicht10 Waldenfels, Bernhard, »Aporien der Gewalt«, in: Mihran Dabag / Antje Kapust / Bernhard Waldenfels (Hg.), Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsentationen, München 2000, S. 10. 11 Ist unsere landläufige Rede von der ›Naturgewalt‹ Echo und Spur unserer ursprünglichen Personifizierung der Natur? 12 Delhom, Pascal, »Die geraubte Stimme«, in diesem Band, S. 229-248. 13 Anders jedoch Hannah Arendts instrumentalistisch orientiertes Gewaltkonzept: Arendt, Hannah, Macht und Gewalt, München 1970, S. 52, 63.
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domestizierbar Böses, das – losgelöst von der Rationalisierbarkeit der Gewalt als Mittel für etwas – um seiner selbst willen verübt werden kann. Im Rahmen unserer Akzentuierung von Gewalt als ›verletzende Gewalt‹ wollen wir nun erörtern, was ›sprachliche Gewalt‹ ist. Das impliziert zweierlei: (i) Wenn der Adressat von Gewalt immer eine Person ist, dann verweist die Frage, warum Worte verletzen können, zurück auf Zusammenhänge zwischen Personalität und Sprachlichkeit. Genau hier muss der Schlüssel liegen für die Verletzungsmacht der Rede. (ii) Und wenn Gewalt nicht nur als Aktion, vielmehr als ein Widerfahrnis, als erlittene Gewalt zu rekonstruieren ist, dann kann die Frage nach dem gewalttätigen Wort nicht alleine sprecherinnenzentriert beantwortet werden, sondern muss den Hörer als den Adressaten der Gewalt unabdingbar mit einbeziehen. Versuchen wir uns nun darüber klar zu werden, was es heißt, nicht einfach von ›Gewalt‹, vielmehr von ›sprachlicher Gewalt‹ zu sprechen. Wir können mit Worten Gewalt beschreiben, sie mimetisch und rituell darstellen und zu Gewalt auch auffordern – doch diese Formen des Sprachgebrauches sind hier nicht gemeint. Vielmehr geht es in einem engeren – einem performativen – Sinne um ein Sprechen, das in seinem Vollzug zugleich eine Form der Gewaltausübung ist. Das 1935 vor einem deutschen Restaurant hängende Schild ›Juden nicht erwünscht‹, ist nicht die schlichte Kundgabe einer Überzeugung, sondern ein Akt der Diskriminierung durch ›Rassentrennung‹. In den Termini der Sprechakttheorie ausgedrückt: Das Gewalttätige liegt in der illokutionären Rolle, die eine Äußerung erfüllt. Unsere Sprache hält eine Fülle von Verben bereit, mit denen diese illokutionäre Rolle verbaler Aggression beschrieben werden kann: wir kränken, verleumden, diskriminieren, beschimpfen, hänseln, verspotten, demütigen, missachten, diskreditieren, tadeln, stellen bloß, verfluchen, hetzen auf, beleidigen … und diese Reihe wäre lange fortschreibbar. Wir kommen dem – performativen – Witz verletzender Äußerungen auf die Spur, wenn wir erkennen, dass die hier angeführten Verben lediglich verbalisieren, was wir im Sprechen und indem wir sprechen tatsächlich tun: ich kann nicht jemanden beleidigen (verleumden, diskriminieren …), indem ich sage: ›hiermit beleidige (verleumde, diskriminiere …) ich dich‹. ›Beleidigen‹ ist also ein Wort, das ausschließlich metasprachlich beschreibt, was wir in und mit Sprache – also ohne Gebrauch eben dieses Wortes – machen. Von Schimpfnamen, Verwünschungsformeln und gewissen idiomatischen Ausdrücken einmal abgesehen, gibt es also kein ›Lexikon‹ verletzender Rede. Und dies bedeutet: Einer einzelnen Äußerung ist (zumeist) ihre verletzende Kraft gar nicht abzulesen; ihre Semantik bleibt opak gegenüber dem ihr eigenen Kränkungsgehalt. Erst die Pragmatik einer Äußerung, wer also zu wem unter welchen Umständen was und vor allem: wie gesagt hat, kann die Verletzungsdimension einer Rede enthüllen. Verletzende Worte sind nicht einfach Bestandteil der Sprache als System, sondern sie sind ein Phänomen des kulturell eingebetteten Sprachgebrauches.
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Die Formen verletzender Rede weisen ein denkbar weites Spektrum auf: Das gilt zuerst einmal für die unterschiedliche Intensität der in Worten verkörperten Gewalt, die von der Ungeschicklichkeit einer taktlosen Äußerung bis zur aggressiven Feindseligkeit der demütigenden Rede reicht. Überdies gibt es nicht nur die mit Worten intentional angreifende Gewalt, sondern auch die durch Missachtung oder unterlassene Anrede ausgeübte, die ›schweigende‹ Gewalt, sowie das kränkende Wort, das gar nicht als Aggression gemeint ist. Schließlich trägt auch das Lachen einen Dolch im Gewand und wir kennen den ganze ethnische Gruppen (Juden, Schwarze) oder Klassen von Menschen (Frauen, Blondinen) diskriminierenden Witz. Und da ist auch noch der Schrei, der sowohl Antwort sein kann auf erlittene Gewalt, wie auch selbst eine Form gewalttätiger Aktion. Im Schreien ›verstummt‹ die Sprache. Und so, wie die aggressive Kränkung den Gekränkten oftmals seiner Sprache beraubt, kann auch das – um es paradox zu sagen – ›aktiv‹ ausgeübte Schweigen eine subtile Form verletzender Handlung sein.14
Über die Doppelkörperlichkeit von Personen Was aber berechtigt uns, alle diese Formen des Sprechens als ›Verletzung‹ zu verstehen? Ist das nicht eine allenfalls metaphorisch aufzufassende Ausdrucksweise? Ungeachtet der subtilen Probleme, die mit der Unterscheidung zwischen buchstäblicher und metaphorischer Bedeutung verbunden sind, möchten wir auf einem buchstäblichen Verständnis verbaler Attacken als Formen angreifender Gewalt bestehen. Das aber ist nur möglich, wenn wir der Gewalt selbst eine physische und eine symbolische Dimension zugestehen. Eine Gewalttat ist immer beides: physisch wie symbolisch – das allerdings in je unterschiedlichen Mischungsverhältnissen. Diese zweifache Dimensionierung der Gewalt findet ihren Grund in der Eigenart unseres Personseins. Denn Personen ›verfügen‹ über einen zweifachen Körper: Sie sind zugleich physisch-leiblicher wie auch sozial-symbolisch konstituierter Körper. Dass wir – und zwar schon vom Zeitpunkt unserer Geburt und ihrer sozialen Registratur – über einen ›sozialen Körper‹ verfügen, zeigt sich nirgends deutlicher als in unserem Eigennamen. Dieser wird uns – übrigens in einer Situation vollständiger Passivität – gegeben und er prägt unsere Identität auf eine unverwechselbare Weise noch vor aller biologischen und psychologischen Besonderungen unserer Individualität. Der Eigenname stiftet unsere Unverwechselbarkeit; er verleiht eine soziale Identität, indem mit ihm ein bestimmter Ort im öffentlichen Raum der Gemeinschaft verbunden ist. So dass wir also sagen können: Nicht nur der physische Körper nimmt im Hier und Jetzt seines Gegebenseins eine Stelle im physischen Raum ein, sondern auch der symbolische Körper 14 Zur ›Rhetorik‹ des Schweigens, zu der dann auch die Verletzung gehört: Glenn, Cheryl, Unspoken. A Rhetoric of Silence, Carbondale 2004.
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hat einen durch den Namen markierten Ort im Netzwerk des sozialen Raums. Die Doppelnatur dieses Ortsprinzips macht Personen in ihrer Stellung zweifach angreifbar: Sie können sowohl leiblich wie auch symbolisch verdrängt, verrückt und vertrieben werden. In diesem ›Verdrängt-werden-Können‹ liegt übrigens der Grund für unser Insistieren auf einem dezidiert körperlichen Kern und Verständnis der symbolisch-sozialen Dimension: Denn die Minimalbestimmung alles Körperlichen ist es, eine wohl bestimmte Stelle in Raum und Zeit einzunehmen. Wenn aber Körperlichkeit in letzter Instanz als das ›an einer Stelle sein‹ begriffen wird, dann zielt jede verletzende Gewalt auf die Verdrängung von eben dieser Stelle. Und diese Verdrängung kann durch physische Verletzung ebenso erfolgen wie durch eine symbolische.
Wieso Sprache verletzen kann: Sprachphilosophie jenseits der Sprechakttheorie Wir finden die Antwort, warum wir als Personen durch Sprache verletzbar sind, in unserer ›Doppelkörperlichkeit‹. Doch nun wollen wir uns fragen, was genau es heißt, ›durch Sprache‹ angreifbar zu sein. Kaum eine Unterscheidung ist uns so vertraut, wie diejenige zwischen Wort und Sache: Dass Worte ›Schall und Rauch‹ sind, ist nicht nur eine Allerweltsweisheit, sondern erinnert an den antimagischen Impuls eines aufgeklärten Denkens, welches zwischen dem Symbol und demjenigen, was jeweils symbolisiert wird, wohl zu unterscheiden weiß: Mit einem Stein, nicht aber mit dem Wort ›Stein‹, kann ich Scheiben einschlagen. Nun ist es kein Zufall, dass John R. Searle die performative Kraft von Äußerungen als ›quasi magical power‹ kennzeichnete:15 Dass wir mit Äußerungen die Welt nicht nur begreifen, sondern auch in sie eingreifen, ist eine grundständige Einsicht, welche die kategorische Demarkationslinie zwischen Wort und Sache durchlässig gemacht hat. Und im Horizont dieser performativen bzw. illokutiven Kraft von Äußerungen haben wir gelernt anzuerkennen, dass Äußerungen nicht nur einen propositionalen Gehalt haben, sondern zugleich eine realweltliche Beziehung zwischen Sprecher und Hörer stiften und zwar – wie die universalpragmatische Kommunikationstheorie annimmt – kraft der mit Äußerungen erhobenen Geltungsansprüche. Auf dieser Folie ist es nicht (mehr) erstaunlich, dass wir mit Äußerungen in sozialer Hinsicht vieles tun können: so, wie wir warnen, befehlen, beurteilen, versprechen und verführen können, so können wir eben auch demütigen, kränken und beleidigen. Aber ist mit dieser sprechakttheoretischen Eingemeindung verletzender Äußerungen tatsächlich alles gesagt? Zweifelsohne: nein. Und der Grund dieses Ungenügens liegt darin, dass die Sprechakttheorie zwar erklären kann, warum wir 15 Searle, John, »How Performatives Work«, in: Linguistics and Philosophy, Bd. 12, 1989, S. 535-558, hier S. 549.
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mit ›bloßen‹ Äußerungen soziale Tatsachen schaffen können; doch wieso ein Sprechen tatsächlich als eine Art von körperlicher Verwundung aufzufassen haben, bleibt durchaus offen. Wir werden dieser ›Körperkraft‹16 kränkender Rede überhaupt erst auf die Spur kommen, wenn wir die sprechakttheoretischen Prämissen nicht länger zu teilen bereit sind: die Annahme etwa, dass unser Sprechen allererst dem koordinierten Handeln von Akteuren diene und verwurzelt sei in unserem Vermögen, Geltungsansprüche zu erheben und zurückzuweisen. Die Gewaltförmigkeit eines Sprechens zu verstehen, heißt einzusehen, dass eine Rede dasjenige, was sprechakttheoretisch an ihr ›einholbar‹ und rekonstruierbar ist, immer auch überschreitet bzw. unterminiert. Wir wenden uns nun drei Ansätzen zu, in deren Horizont die Verletzungsmacht der Sprache ein Profil jenseits der terminologischen, aber auch der philosophischen Grenzen der Sprechakttheorie gewinnen kann. Es geht um Emmanuel Levinas’ Gleichursprünglichkeit von Sprache und Gewalt, um Judith Butlers Konstitution des Menschen durch Sprache und um Petra Gehrings Körperkraft der Sprache. Die sprechakttheoretischen und universalpragmatischen Kommunikationstheorien gehen davon aus, dass dadurch, dass wir miteinander sprechen, der Erfahrungsraum einer sozialen Gleichgerichtetheit und Reziprozität geschaffen wird, deren Ausdruck das wechselseitige Verstehen und deren Fluchtpunkt die Konsensbildung ist. Eben diese Voraussetzung kann infrage gestellt werden. Ist es nicht so, dass die Wechselrede im Nahraum leiblicher Anwesenheit gerade auch die Springquelle einer grundständigen Differenzerfahrung ist, in der wir der Unzugänglichkeit, Uneinholbarkeit und Nichtverstehbarkeit einer fremden Subjektivität begegnen, die sich weder durch Empathie, noch durch Argumentation oder Analyse tatsächlich erschließen oder gar zu formalrationaler Gleichgerichtetheit nivellieren lässt? So jedenfalls sieht es Emmanuel Levinas.17 Im Gespräch ist der andere da und uns nah – und er entzieht sich uns doch. Denn mit der Existenz eines Ich, welches das Zentrum seiner eigenen Welt bildet, ist das andere Ich aus eben dieser individuellen Welt ausgeschlossen. Im Gespräch sind wir dem Entferntsein des Anderen, seiner Zentriertheit und uns begegnenden Fremdheit in höchstmöglicher Nähe ausgesetzt, ihm stimmlich und leiblich exponiert. Wir sind – sozusagen – im Gespräch ›entblößt und nackt‹, also denjenigen, mit denen wir sprechen, immer auch ausgeliefert und durch sie verwundbar. Besteht nicht unsere Subjektivität geradezu in dieser unserer Verwundbarkeit? So ist – jedenfalls im Horizont des Denkens von Levinas – in die immer ungleichartige kommunikative Begegnung die Gewaltsamkeit einer Verdrängung des ande-
16 Ein Ausdruck von Petra Gehring in diesem Band. 17 Levinas, Emmanuel, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg, München 1987; ders., Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg, München 1998.
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ren subtil mit eingewoben.18 Im Miteinanderreden ist der Umschlag von Sprechen in Gewalt als eine strukturelle Dimension angelegt.19 Zwar ist dies noch keine Antwort darauf, wieso Sprache nicht nur in Gewalt umschlagen, sondern wieso das Sprechen selbst eine Art von Gewaltausübung sein kann. Doch eine wichtige Einsicht in dieser Richtung ist gewonnen: Die Verletzung durch Worte bildet keine Entgleisung, Abart oder gar Perversion der Kommunikation, sondern ist in deren existenzialer Asymmetrie strukturell angelegt. Im Horizont des Denkens von Levinas kann die Gewalttätigkeit einer Rede sich dann Bahn brechen, wenn sie die Andersartigkeit und das Entzogensein des Anderen gerade nicht zu respektieren vermag: sei es – sublim –, indem wir die Fremdheit des Anderen durch Subsumption unter unsere egologische Perspektive zu ›verstehen‹ und zu kolonialisieren versuchen; sei es – brutal –, indem wir uns selbst durch die nichteliminierbare Andersartigkeit des Anderen so bedroht sehen, dass wir diesen durch offensive Verletzung zu beschädigen suchen. Die Gewalt des Bösen – sei es sprachlicher oder außersprachlicher Art – findet da ihren Spielraum und Nährboden, wo die Unverfügbarkeit, Unzugänglichkeit und Fremdheit der anderen nicht respektiert wird. Auch wenn Levinas die verletzende Rede selbst nicht zum Thema macht, so zeichnet sich doch ab, in welcher Richtung wir mit ihm den sprechakttheoretischen Rahmen zu überschreiten haben: Es ist ja die Körperlichkeit selbst, durch die jene unverwechselbare Stelle eingenommen wird, auf deren Folie dann in Antlitz, Blick und Stimme ein je ›singuläres Ich‹ sich zeigt, das in einer unaufhebbaren Differenz zum körperlichen anderen Ich befangen und verstrickt ist; denn Anlitz, Blick und Stimme gelten Levinas als die leibliche Spur einer grundständigen Entzogenheit und Unverfügbarkeit des Anderen. Unsere Gemeinschaftlichkeit und auch Moralität entspringen also nicht, wie es Sprechakttheorie und Diskursethik nahe legen, dem Umstand, dass die Sprache die gewaltfreien diskursiven Mittel bereitstellt, um Differenz in Konsens zu überführen und strittig gewordene Geltungsansprüche so friedfertig-rational zu klären. Vielmehr ist es gerade die unaufhebbare, durch keine Geltungsansprüche einholbare und nivellierbare Andersartigkeit des Anderen im Gespräch, die uns (s)eine Unverfügbarkeit aufnötigt, welche wir entweder akzeptieren oder – gewaltsam – negieren können. Das also, was die Erfahrung des miteinander Spre18 Zur Auseinandersetzung mit dem Gewaltaspekt bei Levinas: Delhom, »Auf die Gewalt antworten«, a.a.O.; Gürtler, Sabine, »Habermas und Levinas: alteritäts- und diskursethische Bestimmungen zum Verhältnis von Sprache und Gewalt«, in: Erzgräber / Hirsch (Hg.), Sprache und Gewalt, a.a.O., S. 201-229. 19 Wir können mit Mario Ruggenini auch sagen: Das Gespräch als die unmittelbare Begegnung einander unzugänglicher und fremdbleibender Individualitäten, erscheint dann »als der ursprüngliche Ort, an dem Gewalt als moralische Gewalt entsteht.« (Ruggenini, Mario »›Seit ein Gespräch wir sind …‹ Das Gespräch und die Gewalt«, in: Erzgräber / Hirsch (Hg.), Sprache und Gewalt, a.a.O., S. 251-264, hier S. 253)
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chens für Levinas zur Keimzelle einer Ethik der Alterität macht, ist nicht, dass wir argumentativ Recht haben (und geben) können, sondern dass wir wechselseitig verletzlich sind und verletzen können: In dieser durch Verletzlichkeit konstituierten Körperlichkeit gründet der Ursprung der Moralität aus dem Faktum unserer Sprachlichkeit. Doch nicht um die Begründung einer Ethik ist es uns zu tun; wir haben vielmehr einen nächsten Schritt in der Reflexion sprachliche Verletzung zu vollziehen. Die Versehrbarkeit, so können wir mit Levinas sagen, findet ihren ursprünglichen Ort im Gespräch, hier ist der Umschlag von Sprechen in Gewalt strukturell angelegt, aber wir können mit Levinas dann nicht mehr beantworten, worin genau das Zusammenfallen von Sprechen und Verletzungshandlung besteht. Fündiger werden wir da bei Judith Butler:20 Wir sind als menschliche Subjekte durch Sprache konstituiert, sind auf Sprache angewiesen, um überhaupt existieren zu können. Deshalb ist es so signifikant, dass wir nicht nur benennen, sondern selbst einen Namen ›tragen‹. Doch die Genese unserer personalen Identität aus dem Verfahren der Namensgebung ist nicht einfach gegeben, vielmehr ›aufgegeben‹: Sie bedarf einer fortlaufenden Bestätigung durch die Anrede. Die Sprache bringt uns als menschliche Subjekte hervor, weil wir der Anrede und Ansprache durch die anderen bedürfen: Daher geht dem Reden das Anreden, geht dem Sprechakt der Hörakt des Angeredetwerdens voraus.21 Wir sind in unserer Existenz von Sprache abhängig, weil und insofern wir darauf angewiesen sind, angeredet, angesprochen, angerufen zu werden. Zum Menschen werden wir nicht dadurch, dass wir Sprache haben oder gebrauchen, vielmehr ist die Sprache der ›Stoff‹ aus dem der Mensch als ein soziales Wesen ›gemacht‹ ist.22 Damit allerdings sind wir der Sprache immer auch subordiniert: als sub-jectum sind wir zugleich sprachmächtiges und sprachabhängiges Subjekt. Nicht einfach im Horizont der Akteurs- und Handlungsperspektive – wie es die analytische Sprechakttheorie annimmt – zeigt sich uns die Kraft der Sprache, sondern gerade in der Widerfahrnisperspektive. Und das in einem zweifachen Sinne: Einerseits werden wir verletzbar durch das Sprechen der anderen, insofern uns dieses Sprechen missachtet und erniedrigt. Andererseits ist das Missachtungspotenzial von Worten nicht einfach zurückrechenbar auf die persönlichen Intentionen von Sprechern, sondern verdankt sich der geschichtlichen Sedimentierung von aggressiven Sprachpraktiken, die sich in schimpflichen Äußerungen rituell verdichten können und in konkreten Beleidigungen dann jeweils aktualisiert werden. 20 Butler, Hass spricht, a.a.O.; dies., Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt / Main 2001. 21 Dies entwickelt Butler im Rückgriff auf Althussers Theorie der Anrufung: dies., Hass spricht, a.a.O., S. 41 ff. 22 Kuch, Hannes, Missachtungsperformanz. Austin, Butler und die Gewalt des Performativen, Magisterarbeit Institut für Philosophie an der FU Berlin 2006, S. 36.
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Doch wenn demütigende Äußerungen ihre Verletzungsmacht (auch) der machtvollen Auskristallisierung vergangener Sprachgebräuche verdanken – dann kann diese Verletzungsmacht durch veränderten Sprachgebrauch immer auch gebannt und ›umgewendet‹ werden.23 Während bei Levinas also das Gewaltpotenzial des Gesprächs darin liegt, dass es zum Raum der asymmetrischen Begegnung einander fremd bleibender Subjekte wird, deren Beziehung dann in Gewalt umschlagen kann, wenn das Entzogensein der fremden Subjektivität nicht anerkannt wird, geht Butler noch einen Schritt weiter, insofern sie zeigt, dass das Subjektsein des Einzelnen überhaupt erst durch die Sprache hervorgebracht wird und folgerichtig durch sie auch beschädigt, negiert und zerstört werden kann. Doch auch hier bleibt ein ungeklärter Rest. Butlers Rekonstruktion der Verletzungsmacht der Hassrede geht ganz selbstverständlich davon aus, dass die Sprache schädigt als Sprache, mithin kraft der ihr eigenen semantischen Struktur und Bezeichnungskraft. Aber können wir hier nicht noch einen Schritt weiter gehen, indem wir annehmen, dass das verletzende Wort gar nicht mehr als Wort, sondern tatsächlich als schlagkräftiges Ding, als Keule und Hieb zum Einsatz kommt, mithin als eine Waffe, deren Schärfe genau darauf beruht, in und mit Sprache das Sprachliche selbst zu unterlaufen und außer Kraft zu setzen? Das jedenfalls ist die Petra Gehring leitende Frage nach der ›Körperkraft‹ der Sprache. In der zornerfüllten verbalen Verletzung bleibt das Sprechen – genau besehen – gar kein Sprechhandeln mehr, sondern wird zu einem physisch zu verstehenden Vollzug: »Im Moment der sprachlichen Verletzung wirkt nicht die Sprache verletzend, sondern in einem solchen Moment fungiert die Sprache als Ding.«24 Wer kennt sie nicht, die Situationen, in denen der Sinn der im Sprechen sich zeigenden kalten Wut und übelwollenden Boshaftigkeit nur noch darin besteht, dem Anderen weh zu tun, ihn zu treffen – und das am besten an seiner allerempfindlichsten Stelle? In diesen Eskalationen des Diskurses wird die Rede semantisch blind und transformiert sich zu einem »physischen Sein«. Gehring bezieht sich in dieser Metamorphose der Sprache auf Merleau-Pontys Idee einer »Ding-Sprache«; das aber ist eine Weise des Sprechens, die einer Übersetzung in Sinn und Bedeutung gar nicht mehr bedarf und immer dann sich ereignet, wenn mit Sprache verletzt oder auch verführt wird. Diese Idee, das die Sprache ihrer eigenen Semantizität gegenüber vorgängig sein kann, ihr also eine somatische Wucht eigen ist, die ihrer Symbolizität vorausgeht und deren schwaches Echo wir allenfalls in der illokutionären Rolle des Sprechens vernehmen können, lässt sich zurückverfolgen bis zu Friedrich Nietzsche und Walter Benjamin. Ehe Nietzsche seine Kategorien des Apollinischen und des Dionysischen als kunsttheoretische und kunstgeschichtliche Begriffe
23 Butler, Judith, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, a.a.O., S. 181 ff. 24 Gehring, Petra, »Über die Körperkraft von Sprache«, in diesem Band, S. 211-228, hier S. 213.
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einsetzte, hat er im Sprechen selbst eben diese Bipolarität der Perspektiven entdeckt:25 Die Tonalität und implizite Musikalität der Lautsprache, die immer auch unabhängig von der kontrollierenden Instanz des Bewusstseins sich äußert, entfaltet ein dionysisches, mithin ein gemeinschaftsstiftendes oder -entzweiendes, den Anderen berührendes oder abstoßendes Potenzial; die Artikuliertheit wiederum, mit der die Sprache zum Bild von Gedanken wird, birgt ein apollinisches, reflexives und erkenntnisförderliches Potenzial. Buchstäblicher noch spricht Walter Benjamin im Zusammenhang seiner »Sprache der Dinge« von einer Wirkmacht des Sprachlichen, bei der die Sprache nicht als Zeichen, also auch nicht als Instrument der Benennung und Prädikation fungiert.26 Diese magische Gegenständlichkeit des Sprachlichen sieht Benjamin ursprünglich am Werk, wenn Gott durch Namensgebung die Dinge unmittelbar erschafft; und sie bleibt als Reflex dieser Erschaffung durch Benennung auch in den Dingen selbst noch erhalten, indem diesen – und also nicht nur den Menschen – eine Mitteilbarkeit in Form einer nicht diskursiv aufzufassenden DingSprache eigen ist. Während wir von der Doppelkörperlichkeit der Person ausgegangen sind und daher die Verletzung sowohl physisch wie symbolisch aufgefasst haben, zeigt sich mit Petra Gehring, dass es einen Konvergenzpunkt gibt – oder sollten wir besser sagen: einen Grenzfall? –, an und in dem beide Aspekte dann tatsächlich ineinander fallen. Sicherlich gilt diese ›schwergewichtige Somatizität‹ der zum bloßen Ding gewordenen Sprache vor allem für die eskalierenden Augenblicke einer blinden Wut der Rede. Aber demonstrieren nicht die körperlichen Reaktionen auch auf mildere Formen sprachlicher Verletzung, sei es beim Erröten infolge taktloser Rede, sei es in der körperlichen Schwächung des Gegners mittels trash-talk im Wettkampfsport, dass Körperlichkeit den ›harten Kern‹ sprachlicher Verletzungen bildet? Auf die Frage, wieso wir durch Sprache angreifbar sind, haben wir drei Antworten gefunden, die wir in ein komplementäres Verhältnis zueinander bringen können: Mit Levinas ist deutlich geworden, dass das Gespräch die strukturelle Urform einer asymmetrischen Beziehung bildet, in welchem eine Gewalt latent angelegt ist, die genau dann manifest zu werden droht, wenn Andersheit nicht respektiert, also eine Ethik der Alterität nicht wirksam wird. Allerdings blieb der Sprachcharakter der Gewalt dabei unberücksichtigt. Genau auf die Sprachförmigkeit von Verletzungshandlungen macht wiederum Butler aufmerksam, wenn sie zeigt, dass die durch die Namensgebung eröffnete Anrede unsere Identität und 25 Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin, München 1980, Bd. 1, S. 572 ff., Bd. 7, S. 362 ff. Dazu genauer: Krämer, Sybille, »Negative Semiologie der Stimme«, in: Cornelia Epping-Jäger / Erika Linz (Hg.), Medien / Stimmen, Köln 2003, S. 75-77. 26 Benjamin, Walter, »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« (1916), in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. II, Frankfurt / Main, 1977, S. 140 ff.
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Subjektivität in einer Weise herausbildet, die dann in der Hassrede gestört oder zerstört werden kann. Butler beschränkt sich allerdings auf die Domäne des Symbolisch-Sprachlichen, sie verlässt nicht den Funktionsraum von Texten, so dass das Somatische als dasjenige, was Textualität überschreitet, in ihrem Konzept sprachlicher Verletzung nicht zum Zuge kommt. Genau hier setzt Gehring ein, wenn sie zeigt, wie das Symbolische in das Somatische umkippen kann, sobald die wutentbrannte Rede einem Wurfgeschoss gleich fungiert. Wir verstehen nun also, dass es sprachliche Verletzungen gibt. Doch unbeantwortet ist noch die Frage, wie diese funktionierten. Welches sind die rhetorischen Mechanismen, durch die Äußerungen sich in Waffen verwandeln (können)? Dieser Frage wollen wir uns jetzt zuwenden.
Grammatik und Rhetorik sprachlicher Verletzung Wir stellten bereits fest, dass die Eigenart verbaler Verletzung – jedenfalls der Tendenz nach – darin besteht, mit Hilfe der Sprache die Sprechfähigkeit des Anderen zu beschädigen. Das Reden ist Diskurs (›discursus‹: Hin- und Herlaufen), gerade weil es sich gewöhnlich in der Form einer Wechselrede vollzieht, also nach Anschließbarkeit strebt. Nicht das Behaupten und auch nicht das Fragen, vielmehr das Antworten bildet das Elementarphänomen unseres Sprechens. Die aggressive verbale Verletzung jedoch beraubt die Beleidigten oftmals ihrer Stimme. Diskriminierung und Demütigung machen die Betroffenen nicht selten stumm. Die Sprache als Waffe einzusetzen, heißt immer auch mit der eigenen Sprache die Sprache des Anderen zu zerstören. Wie aber ist das möglich? Gibt es eine ›Rhetorik sprachlicher Verletzung‹, lassen sich Schemata in den Formen angreifender Rede unterscheiden? Carl Friedrich Graumann und Margret Wintermantel27 haben die Mechanismen diskriminierender Rede untersucht28 und entdecken drei Funktionsklassen:29 (i) Unterscheidendes Trennen: Gerade weil die Fähigkeit, eine Sprache sprechen und verstehen zu können, Menschen als Mitglieder einer Sprachgemeinschaft kenntlich macht, liegt der Anfang diskriminierender Rede zumeist in einem Akt der Trennung, bei dem zwischen dem ›Wir‹ und dem ›Sie‹, zwischen denen, die zu einer Gruppe und denen, die nicht dazu gehören, geschieden wird. 27 Graumann, Carl F. / Margret Wintermantel, »Diskriminierende Sprechakte. Ein funktionaler Ansatz«, in diesem Band, S. 147-178 (engl. Original 1989). 28 Graumann, Carl F., »Verbal Discrimination: A Neglected Chapter in the Social Psychology of Aggression«, in: Journal for the Theory of Social Behavior, Heft 1, Bd. 28, 1998, S. 49 f. 29 Auch Steffen Kitty Herrmann hat eine ›Grammatik der Missachtung‹ entfaltet, in der er die Beleidigung, die Herabsetzung, die Entwertung und schließlich die Demütigung voneinander unterscheidet: Herrmann, Steffen Kitty, Verletzende Worte. Mechanismen sprachlicher Missachtung, Magisterarbeit Institut für Philosophie der FU Berlin 2006, S. 24 ff.
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(ii) Kategorisierung und Stereotypisierung: Die durch Trennung gewonnene Distanz wird stilisiert durch die Feststellung von Differenzen, die sich zu Stereotypen, wenn nicht gar zu Ontologien und Weltbildern verdichten. Weiße und Schwarze, Juden, Türken, Blondinen, Schwule, Ostfriesen: alles dies sind Kategorisierungen, welche die Vielgestaltigkeit eines Individuums einebnen zugunsten einer grobmaschigen Typisierung, als deren Inkarnation der Einzelne nur noch zählt. (iii) Abwertung und Herabsetzung: Die zur Anwendung kommenden Stereotype sind gewöhnlich mit negativen Konnotationen und abfälligen Bewertungen verbunden so, wenn aus Deutschen ›Krauts‹ oder ›Boches‹, aus Türken ›Kanaken‹, aus Schwarzen ›Nigger‹ werden. Die Rhetorik der Diskriminierung ist somit im Dreischritt von ›Trennung‹, ›Stereotypisierung‹ und ›Abwertung‹ rekonstruierbar. Wir sehen also: die ›Grammatik‹ der verletzenden Rede macht – in der einen oder anderen Form – Gebrauch vom Verfahren der Prädikation, mit dem Einzelnes als ein Allgemeines charakterisiert wird. Adorno hat schon in dem begrifflichen Verfahren, Singuläres unter ein universelles Prädikat zu subsumieren, eine strukturelle Gewalt in der Sprache am Werk gesehen30 und Derrida ist ihm in dieser Sprachkritik ein Stück weit gefolgt.31 Doch jene Art von sprachlicher Gewalt, um deren Reflexion es uns zu tun ist, unterscheidet sich gerade von diesem ›strukturalen‹ Ansatz, da es uns um die Performanz sprachlicher Gewalt geht, um Sprechereignisse also, die Personen – im Vollzug der Rede mehr oder weniger intendiert – verletzen. In dieser Perspektive besteht die Grammatik der Prädikation nicht per se darin, irgendein Einzelnes als Allgemeines zu fassen, sondern bestimmte Personen einem begrifflichen Stereotyp zu unterwerfen. Und dieser Stereotyp wird gebildet durch Begriffe, die sich in den Traditionen sprachlicher Praktiken zu Chiffren der Diskriminierung verdichtet und somit ein Stück weit in die Sprache eingeschrieben haben. In der Idiomatik der Diskriminierung ist die Rolle des Räumlichen augenfällig: es werden Grenzen gezogen, Trennungen und Entfernungen geschaffen, Innen und Außen festgelegt, Prädikate des Erniedrigens, Herabsetzens, Degradierens etc. gebraucht. Die Rhetorik verletzender Rede zielt auf eine »soziale Ortsverschiebung«.32 Je näher der so Angegriffene an der Peripherie einer Gesellschaft steht, umso bedrohlicher sind Diskriminierungen: Sie drohen ihn über den ›Rand‹ des sozialen Raums hinauszukatapultieren. Wir haben bisher nur die expliziten Verletzungen betrachtet. Wenn ich sage: »Die Studentin ist blond, aber sie hat ein gutes Referat gehalten« oder festgestellt wird: »Es gibt in der Philosophie viele Habilitationen, sogar von Müttern«, so liegt das Diskriminierungspotenzial solcher Äußerungen nicht in negativen Kate30 Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, a.a.O., S. 17 ff. 31 Derrida, Jacques, »Gewalt und Metaphysik«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt / Main 1972, S. 121 ff. 32 Kuch, Missachtungsperformanz, a.a.O., S. 20; Herrmann, Verletzende Worte, a.a.O., 25 ff.
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gorisierungen, sondern in der Verwendung der Partikel ›aber‹ und ›sogar‹. Der kränkende Sinn ist indirekt und ist erschließbar nur im Horizont kulturell geteilter Stereotype, in denen blonde Frauen intellektuell beschränkt sind und die Verbindung von akademischer Philosophie und Mutterschaft den eher unwahrscheinlichen Fall markiert. Vor allem aber adressieren diese Äußerungen ihre Opfer nicht direkt, sondern wenden sich an ›Dritte‹. Die Verletzung besteht nicht darin zu jemandem, sondern über jemanden zu sprechen. Dass der Adressat hier nicht der Beleidigte, vielmehr ein Publikum, mithin die Instanz des ›Dritten‹ ist, teilen indirekte Kränkungen mit dem Lächerlichmachen und dem bissigen Humor. Tatsächlich birgt ein Gutteil unseres Lachens eine aggressive Komponente und bewirkt eine ›Anästhesie des Herzens‹33. Schadenfreude arbeitet dem Triumpfgefühl der eigenen Stärke zu; Komik entmachtet ihren Gegenstand und Lächerlichkeit verkleinert. Die Witzforschung bietet somit ein reichhaltiges Reservoir zur Aufdeckung der Mechanismen des Verletzens: ein Reservoir, dem wir uns hier nicht weiter zuwenden wollen, das uns aber an eines erinnern kann: Sprachliche Gewalt ist nie frei von kreativen, auch bedeutungsschöpferischen Zügen und metaphorischem Vermögen. Ist das der Grund dafür, dass wir in den Termini formaler Sprachen nicht verletzend reden können? Festhalten können wir: Sprachliche Gewalt zu reflektieren heißt auch, sie als ein Kulturgut anzuerkennen.
Sprachliche Gewalt – ein Kulturgut? Ein etwas polemischer Ausklang Wir leben in einer Tradition, in welcher sprachliche Aggressionen immer schon ein probates Mittel sind, um in ideologischen Auseinandersetzungen den Gegner bloß zu stellen. Es sind gerade die Konfessionskämpfe im frühneuzeitlichen Christentum, die uns mit äußerst drastischen Beispielen des Polemischen versorgen.34 Tatsächlich ist das gewaltsame Wort – darüber belehrt der Blick in die Bibel – dem göttlichen Wort immer beigegeben. Und umgekehrt ist die Gotteslästerung tief in der christlichen Kultur verankert. Doch nicht nur Kirche und Religion sind Kultstätten der Wortgewalt. Erst recht sind die säkularen Bereiche der Gesellschaft – denken wir nur an das Militär, die Schule und an das Parlament – so etwas wie Brutstätten oder Trainingslager, zumindest aber probate Bühnen für Verbalinjurien. Und die Literatur, von Homer über Goethe und Kleist bis zum Gegenwartsdrama, versorgt uns aufs Drastischste mit allen Spielarten der Hetzrede und der Hassrede. Und schließlich ist die Kultur abendländischer Kritik ohne Polemik, Spott und Sarkasmus überhaupt nicht denkbar. 33 Ein Ausdruck Henri Bergsons; zitiert nach Kiener, Franz, Das Wort als Waffe. Zur Psychologie der verbalen Aggression, Göttingen 1983, S. 84. 34 Schwerhoff, Gerd, Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften, Konstanz 2005.
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Wenn es uns bisher darum gegangen ist, das gewaltsame Wort als mehr oder weniger sublimen Waffengang kenntlich zu machen, so ist dabei nicht zu vergessen, dass die konzeptuelle Basis für die Erklärung verbaler Verletzung gerade die Unterscheidbarkeit zwischen physischer und symbolischer Gewalt bildet, die in der ›Doppelkörperlichkeit‹ von Personen verwurzelt ist. Die Körperkraft der Sprache kann aus einer Rede zwar einen Gewaltakt machen; aber sie verwandelt keineswegs die symbolische in eine physische Gewalt. Den Beispielen, in denen verbale Verletzungen blutige Gewalt nach sich ziehen – und für das gerade die innerchristlichen Religionskriege das historische Anschauungsmaterial liefern – stehen die Beispiele gegenüber, in denen der Artikulationsraum verbaler Attacken ein Umkippen von Gegnerschaften in brutale Aggression gerade verhindert: Denken wir nur an Beleidigungsrituale,35 die auch heute noch die Rivalitäten zwischen Jugendgangs unblutig austragen lassen. Jede symbolisch-sprachliche Gewalt muss nolens volens den Angegriffenen als eine Person voraussetzen, die verstehen kann und muss, um überhaupt beleidigt werden zu können. Und diesem Restbestand an Verstehen und Interpretation seitens des Opfers entspricht auf der Täterseite – und wir übergehen hier alle Komplikationen in der Opfer-Täter-Zuschreibung – eine sprachliche Kreativität, so rudimentär auch immer diese beschaffen ist. Gelangen wir hier nicht an einen Punkt, an dem die universalpragmatische Verschwisterung von Sprache und Vernunft, die wir bisher im Horizont einer Gleichursprünglichkeit von Sprache und Gewalt zurückgewiesen haben und auch zurückweisen mussten, doch noch einen akzeptablen Sinn bekommt? Das Zeitalter der Aufklärung hat die magische Identifizierung von Wort und Sache aufgelöst und mit der kategorialen Unterscheidung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichnetem, mit der Anerkennung der symbolischen Differenz also, zugleich die Freiheit der Meinungsbildung, der Wissenschaft und der Kunst sowie das Recht auf freie Rede zum Kulturgut werden lassen. Dieser Aufklärungsgrundsatz verkörpert einen heute erst recht wieder zu verteidigenden Wert. Indem wir beleidigen, respektieren wir zugleich die Differenz zwischen physischer und symbolischer Gewalt; und eben dies verleiht auch noch so wutentbranntem, bösem Sprechen eine durch die Aufklärung gestützte – oder müssen wir auch sagen: ›geschützte‹? – Rationalität.36 Eine Rationalität, die aufgrund der vorauseilenden Praktiken der Unterbindung von Blasphemie oder durch die Einschränkung der Kunstfreiheit37 heute im Begriff ist, verspielt zu werden. 35 Labov, William, »Regeln für rituelle Beschimpfungen«, in: ders., Sprache im sozialen Kontext, Königstein 1978, S. 2-57. 36 Es ist interessant, dass der Generalsekretär des Zentralrats der Juden eine Gefahr darin sieht, dass durch zu strenge Gesetze gegen Volksverhetzung der wachsende Antisemitismus in Deutschland »unter den Teppich gekehrt werde« und so gerade die aktive Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus verhindert werde: »Um die Menschen gegen etwas immun zu machen, muss man sie damit konfrontieren.« Zit. nach Tagesspiegel, 9. November 2006. 37 Es ist nicht lange her, dass die Idomeneo-Oper in Berlin abgesetzt wurde.
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Es bleibt uns die Einsicht, dass unser Sprechen einen ›Ort‹ konstituiert, an dem die Ambivalenz des Menschen im Spannungsfeld seiner Vernünftigkeit und seiner Gewalttätigkeit zutage tritt. Setzen sich also Vernunft und Gewalt wechselseitig voraus und ist es die Sprache, die eben dieses Scharnier bildet?
Literatur Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, Frankfurt / Main 1966. Arendt, Hannah, Macht und Gewalt, München 1970. Austin, John Langshaw, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1979. Benjamin, Walter, »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« (1916), in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppeshäuser, Bd. II, Frankfurt / Main, 1977, S. 140-157. Butler, Judith, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998. — Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt / Main 2001. Delhom, Pascal, »Die geraubte Stimme«, in diesem Band, S. 229-248. Delhom, Pascal, »Auf die Gewalt antworten. Über Emmanuel Levinas«, in: Ursula Erzgräber / Alfred Hirsch (Hg.), Sprache und Gewalt, Berlin 2001, S. 141-158. Derrida, Jacques, »Gewalt und Metaphysik«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt / Main 1972, S. 121-236. Erzgräber, Ursula / Alfred Hirsch (Hg.), Sprache und Gewalt, Berlin 2001. Frankfurt, Harry G., Bullshit, Frankfurt / Main 2006. Gehring, Petra, »Über die Körperkraft von Sprache«, in diesem Band, S. 211228. Glenn, Cheryl, Unspoken. A Rhetoric of Silence, Carbondale 2004. Graumann, Carl F. / Margret Wintermantel, »Diskriminierende Sprechakte. Ein funktionaler Ansatz«, in diesem Band, S. 147-178. Graumann, Carl F., »Verbal Discrimination: A Neglected Chapter in the Social Psychology of Aggression«, in: Journal for the Theory of Social Behavior, Heft 1, Bd. 28, 1998, S. 41-61. Gürtler, Sabine, »Habermas und Levinas: alteritäts- und diskursethische Bestimmungen zum Verhältnis von Sprache und Gewalt«, in: Ursula Erzgräber / Alfred Hirsch (Hg.), Sprache und Gewalt, Berlin 2001, S. 201-229. Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt / Main 1981. Herrmann, Steffen Kitty, Verletzende Worte. Mechanismen sprachlicher Missachtung, Magisterarbeit Institut für Philosophie der FU Berlin 2006. Hirsch, Alfred, »Sprache und Gewalt. Vorbemerkungen zu einer unmöglichen und notwendigen Differenz«, in: Ursula Erzgräber / Alfred Hirsch (Hg.), Sprache und Gewalt, Berlin 2001, S. 11-42.
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Kiener, Franz, Das Wort als Waffe. Zur Psychologie der verbalen Aggression, Göttingen 1983. Krämer, Sybille, »Negative Semiologie der Stimme«, in: Cornelia Epping-Jäger / Erika Linz (Hg.): Medien / Stimmen, Köln 2003, S. 65-84. — »Der Philosoph als Sprachpolizist«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 3, Bd. 54, 2006, S. 478-480. Kuch, Hannes, Missachtungsperformanz. Austin, Butler und die Gewalt des Performativen, Magisterarbeit Institut für Philosophie an der FU Berlin 2006. Labov, William, »Regeln für rituelle Beschimpfungen«, in: ders., Sprache im sozialen Kontext, Königstein 1987, S. 2-57. Langton, Rae, »Sprechakte und unsprechbare Akte«, in diesem Band, S. 107146. Levinas, Emmanuel, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg, München 1987. — Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg, München 1998. Liebsch, Burkhard, »Verletzung in und mit Worten«, in: Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken, Bd. 34, 2004, S. 243-264. MacKinnon, Catharine A., Nur Worte, Frankfurt / Main 1994. Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin, München 1980. Ruggenini, Mario »›Seit ein Gespräch wir sind …‹. Das Gespräch und die Gewalt«, in: Ursula Erzgräber / Alfred Hirsch (Hg.), Sprache und Gewalt, Berlin 2001, S. 251-264. Searle, John R., Speech Acts, Cambridge 1969. — »How Performatives Work«, in: Linguistics and Philosophy, Bd. 12, 1989, S. 535-558. Schwerhoff, Gerd, Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften, Konstanz 2005. Waldenfels, Bernhard, »Aporien der Gewalt«, in: Mihran Dabag / Antje Kapust / Bernhard Waldenfels (Hg.), Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsentationen, München 2000, S. 9-24.
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Bedingungen für den Erfolg von Degradierungszeremonien 1
Jede kommunikative Tätigkeit von Menschen, durch die die öffentliche Identität eines »Mitspielers« auf einen niedrigeren Rangplatz innerhalb des lokal gebräuchlichen Schemas sozialer Typen verschoben wird, wird als »Statusdegradierungs-Zeremonie« bezeichnet. Einige Einschränkungen dieser Definition können ihre Brauchbarkeit steigern. Die Identitäten, auf die Bezug genommen wird, müssen »totale« Identitäten sein. Das heißt, sie müssen sich eher auf den »Motivations-« als auf den »Verhaltenstyp« von Personen beziehen,2 nicht auf die Verhaltensweisen, die man von einer Person erwarten mag (im Sinne von Parsons’ »Performances«3), sondern auf die Annahmen der Gruppe über letzte »Ursachen« und »Gründe« dieser Verhaltensweisen.4 Handlungsteilnehmer gehen nicht zweckrational mit den Grundlagen um, auf denen sie ein ihnen adäquates Verständnis davon erwerben, warum sie oder andere so und nicht anders gehandelt haben. Die Korrektheit einer Beschuldigung wird vom Handlungsteilnehmer vielmehr an der Übereinstimmung mit sozial und institutionell gültigen und empfohlenen Wertmaßstäben beurteilt. Unter Bezugnahme auf diese Maßstäbe trifft er die wesentlichen Unterscheidungen zwischen 1 Dank schulde ich Erving Goffman, National Institute of Mental Health, Bethesda, Maryland, und Sheldon Messinger, Social Science Research Council, University of California, Los Angeles, für Kritik und editorische Anregungen. 2 Schütz, Alfred, »Common Sense and Scientific Interpretation of Human Action«, in: Philosophy and Phenomenological Research, Heft 1, Bd. 14, 1953, S. 1-37. 3 Parsons, Talcott / Edward Shils, »Values, Motives, and Systems of Action«, in: dies. (Hg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge / MA 1951, S. 47-243. 4 Burke, Kenneth, A Grammar of Motives, New York 1945, sowie: ders., Permanence and Change, Los Altos / CA 1954.
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Schein und Wirklichkeit, Irrtum und Wahrheit, Trivialität und Bedeutung, Nebensächlichem und Wesentlichem, zufälligem Zusammentreffen und Ursächlichkeit. Zusammengenommen bilden die Gründe wie auch das Verhalten, das durch eben diese Gründe als sinnvolles Handeln verständlich wird, die Identität einer Person. Sie konstituieren gemeinsam den anderen als soziales Objekt. Personen, die mit Hilfe letzter »Ursachen« für ihr sozial kategorisiertes und verstandenes Verhalten identifiziert werden, werden als »total« identifiziert bezeichnet. Die hier diskutierten Degradierungs-Zeremonien sind solche, welche die Umwandlung totaler Identitäten betreffen. Es wird angenommen, dass ein Beobachter nur in vollständig demoralisierten Gesellschaften keine derartigen Rituale wird vorfinden können, da es nur in totaler Anomie an den Bedingungen für Degradierungs-Zeremonien mangelt. Max Scheler hat argumentiert,5 dass es keine Gesellschaft gibt, die nicht schon durch die Eigenschaft ihrer Geordnetheit die hinreichenden Voraussetzungen schafft, um Schmach herbeiführen zu können. Es wird hier das Axiom aufgestellt, dass es keine Gesellschaft gibt, deren Sozialstruktur nicht routinemäßig für Identitätsdegradierung vorsorgt. Wie die strukturellen Bedingungen von Schmach allen Gesellschaften gemeinsam sind, einfach aufgrund der Tatsache, dass sie organisiert sind, so sind ihnen auch die strukturellen Bedingungen für eine Statusdegradierung gemeinsam. In diesem Rahmen ist die entscheidende Frage nicht die, ob Statusdegradierung innerhalb einer gegebenen Gesellschaft auftritt oder auftreten kann. Die Frage ist statt dessen: Welches Programm an Kommunikationstechniken leistet – ausgehend vom jeweiligen gesellschaftlichen Organisationszustand – die Statusdegradierung? Zuallererst müssen zwei Fragen zumindest versuchsweise entschieden werden: Auf welche Verhaltensqualitäten beziehen wir uns, wenn wir das Produkt einer erfolgreichen Degradierungstätigkeit in einer veränderten totalen Identität sehen? Und was meinen wir, wenn wir sagen, das Bemühen um Statusdegradierung sei erfolgreich abgeschlossen oder habe in dem seinen Erfolgsbedingungen entsprechenden Maße sich durchgesetzt?
I Degradierungs-Zeremonien fallen in den Bereich einer Soziologie der moralischen Entrüstung. Moralische Entrüstung ist ein sozialer Affekt. Grob gesprochen ist sie ein Beispiel für eine Klasse von Gefühlen, wie sie sich im mehr oder minder organisierten menschlichen Zusammenleben entwickeln. Scham, Schuld und Langeweile sind weitere wichtige Beispiele solcher Affekte.
5 Williams, Richard Hays, »Scheler’s Contributions to the Sociology of Affective Action, with Special Attention to the Problem of Shame«, in: Philosophy and Phenomenological Research, Heft 3, Bd. 2, 1942, S. 348-358.
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Jeder Affekt hat sein Verhaltensparadigma. Das der Scham findet sich im Zurückziehen und Verbergen jener Körperteile, die das öffentliche Erscheinen einer Person bestimmen – in unserer Gesellschaft vor allem der Augen und des Gesichtes. Das Paradigma der Scham wird in den Redewendungen deutlich, die den Rückzug des Selbst aus dem Licht der Öffentlichkeit ausdrücken, d. h. den Rückzug aus der Aufmerksamkeit der als öffentlich identifizierten anderen: »Ich hätte im Boden versinken können; ich wollte fortlaufen und mich verstecken; ich wollte, die Erde hätte sich geöffnet und mich verschlungen.« Das Gefühl der Schuld findet sein Paradigma im Verhalten der Selbstverleugnung und -verachtung, in der Ablehnung und Verweigerung weiteren Kontakts mit dem Fremdkörper, in seiner körperlichen und symbolischen Entfernung, wie etwa durch Husten, Keuchen, Würgen, Erbrechen, Spucken. Das Paradigma moralischer Entrüstung ist die öffentliche Anklage. Wir sprechen öffentlich den Bann aus: »Ich rufe alle Menschen auf zu bezeugen, dass dieser nicht der ist, für den er sich ausgibt, sondern seinem tiefsten Wesen6 nach von niedererer Art ist.« Die sozialen Affekte erfüllen verschiedenste Funktionen sowohl für die Person selbst als auch für die Gemeinschaft. Die hervorstechende Funktion von Scham für das Individuum ist es, sich vor weiteren Angriffen durch völligen Rückzug von Außenkontakten zu bewahren. Für die Gemeinschaft bedeutet Scham eine »Individualisierung«. Man erfährt Scham im privaten Bewusstsein. Moralische Entrüstung dient dazu, die rituelle Zerstörung der beschuldigten Person zu erreichen. Anders als die Scham, die Personen nicht aneinander bindet, kann moralische Entrüstung Gruppensolidarität stärken. Am Markt der Politik müssen Degradierungs-Zeremonien als säkularisierte Form mystischer Vereinigung eingeschätzt werden. Ein Degradierungs-Zeremoniell hat strukturell große Ähnlichkeit mit Ernennungs- und Verleihungszeremonien. Wie solche Zeremonien Individuen mit der Gemeinschaft verbinden, werden wir sehen, wenn wir die Bedingungen erfolgreicher Beschuldigungen weiter behandeln. Unsere unmittelbare Frage gilt der Bedeutung ritueller Zerstörung. In der Feststellung, dass moralische Entrüstung die rituelle Vernichtung der beklagten Person mit sich bringt, ist diese Vernichtung wörtlich gemeint. Die Umformung von Identitäten ist die Zerstörung eines sozialen Objekts und die Konstituierung eines neuen. Die Umformung bedeutet nicht die Substitution einer Identität durch die andere – wobei Teile der alten Identität als übriggebliebene Bruchstücke um eine neue Zusammensetzung herumliegen –, ebenso wenig wie die Frau im Kaufhausfenster, die sich bei näherem Hinsehen als Puppe erweist, die Möglichkeiten einer Frau in sich trägt. Es ist nicht so, dass das alte Ob-
6 Der Mensch, durch dessen Hände ein Nachbar getötet worden ist, wird zum »Mörder«. Die Person, die dem Feind Informationen übermittelt, ist wirklich, d. h. »in ihrem Wesen«, »in erster Linie«, »ganz und gar«, »letzten Endes«, »eigentlich« ein Verräter.
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jekt überholt wird, es wird vielmehr durch ein anderes ersetzt. Man verkündet: »Jetzt zeigt es sich, dass es von Anfang an ganz anders war.« Der Prozess der Beschuldigung bewirkt die Umgestaltung des objektiven Charakters des wahrgenommenen anderen: Der andere wird in den Augen seiner Beschuldiger buchstäblich eine von ihm verschiedene und neue Person. Es ist nicht so, dass neue Attribute dem alten »Kern« hinzugefügt würden. Die Person wird nicht verändert, sie wird neu gebildet. Die frühere Identität erhält bestenfalls den Stellenwert des Scheins. In der sozialen Einschätzung dessen, was Wirklichkeit darstellt, erscheint die frühere Identität als Zufall; die neue Identität ist die »Basiswirklichkeit«. Was jemand jetzt ist, »nach allem, was geschehen ist«, ist er immer schon gewesen.7 Die öffentliche Beschuldigung erreicht eine solche Umformung des Wesens, indem sie ein anderes sozial anerkanntes Motivschema an die Stelle des zuvor zur Verhaltenskennzeichnung des Angeklagten benutzten Schemas setzt. In Hinsicht auf dieses ihm unterlegte sozial anerkannte Motivschema als seine Wesensgrundlagen und -prinzipien muss nun – allen Beweisen nach zwingenderweise – sein Verhalten, seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verstanden werden.8 Durch einen Interpretationsprozess, der diesen Regeln folgt, wird die Person in den Augen des Publikums zu einer anderen.
7 Zwei Themen ragen allgemein aus der Rhetorik der Beschuldigung heraus: 1. Der Zwiespalt zwischen dem, was der Angeklagte zu sein schien und dem, wie seine Wirklichkeit nun gesehen wird, nachdem man das neue Motivschema als Maß nimmt, und 2. eine Überprüfung und Redefinition der Vergangenheit des Angeklagten. Zur soziologischen Relevanz der Beziehung zwischen dem Interesse am Wesen und dem Interesse am Gewordensein vergleiche besonders Burke, A Grammar of Motives, a.a.O. 8 Während Konstruktionen wie »im tiefsten Wesen« oder »im Innersten« aus dem Bereich wissenschaftlicher Auseinandersetzung verbannt sind, haben solche Konstruktionen in den Theorien über Motive, Personen und Verhalten, wie sie im Umgang mit den Affären des täglichen Lebens gebraucht werden, einen hervorragenden und ehrenvollen Platz. Es gibt Gründe, welche die Hypothese rechtfertigen, dass das Motivvokabular einer Gruppe von solchen Konstruktionen nur befreit ist, wenn die Relevanz sozial anerkannter Theorien für die Praxis aufgehoben ist. Dies tritt ein, wenn zwischenmenschliche Beziehungen trivial sind (wie während des Spiels) oder, interessanter, bei starker Demoralisierung im Handlungssystem. In einem solchen Organisationszustand ist die Häufigkeit von Statusdegradierungen gering.
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II Wie macht man eine gute Anklage?9 Um Erfolge zu haben, muss die Anklage die Situation der Zeugen beim Anklageprozess umdefinieren. Der Ankläger, die beschuldigte Partei (nennen wir sie den »Täter«) und die Sache, die dem Täter vorgeworfen wird (nennen wir sie den »Vorfall«), müssen folgendermaßen umgeformt werden:10 1. Beide, Vorfall und Täter, müssen aus dem Schutz ihres Alltagscharakters gehoben werden und als »außergewöhnlich« dastehen. 2. Beide, Vorfall und Täter, müssen in ein Wertschema gebracht werden, das folgende Eigenschaften zeigt: (a) Es darf nicht Vorfall A Vorfall B, sondern es muss ein Vorfall vom Typ A einem Vorfall vom Typ B vorgezogen werden. Dieselbe Typisierung muss auch für den Täter vorgenommen werden. Vorfall und Täter müssen als Beispiel einer Einheit definiert werden und über den gesamten Anklageprozess hinweg als eine Einheit behandelt werden. Der einmalige, unwiederholbare Charakter des Vorfalls oder Täters soll verlorengehen. Ähnlich darf jeder Gedanke an Unfall, zufälliges Zusammentreffen, Unvorhersehbarkeit, Zufall oder Augenblicksgeschehen nicht bloß zurückgedrängt werden. Solche Maßstäbe sollten idealerweise undenkbar sein; zumindest sollten sie als falsch verworfen werden. (b) Das Publikum muss die Charakteristika der typisierten Person und des typisierten Ereignisses im Vergleich zu einem dialektischen Gegenteil bewerten. Im Idealfall sollten die Zeugen nicht imstande sein, über den Charakter der angeklagten Person ohne Bezugnahme auf ein Gegenstück nachzudenken, eben so wie ihnen z. B. das Profane eines Vorkommnisses, eines Wunsches oder eines Charakterzuges nur durch die vorhandene Beziehung zum Gegenteil, zum Heiligen, klarwerden kann. Die Züge des wild gewordenen Mörders sind die Kehrseite der Züge des friedvollen Bürgers. Die Bekenntnisse des Anarchisten können 9 Da dieser Text kurz ist, läuft man notwendigerweise Gefahr, dass der behandelte Gegenstand als Folge ausgelassener Überlegungen übertrieben erscheinen mag. So wäre es z. B. wünschenswert, die Vielzahl an Schutzzäunen zu berücksichtigen, die man gegen falsche Anklagen findet: das Recht anzuklagen; die unterschiedliche Verteilung dieser Rechte sowohl als auch den Weg, auf dem ein einmal gesetzter Anspruch zu einem lang gehegten Interesse wird und in den Streit um wirtschaftliche und politische Vorteile verwickelt. Ferner gibt es Fragen, die sich um den geeigneten Ort für eine Beschuldigung drehen. In unserer Gesellschaft ist z. B. der Familienrat zweitrangig geworden. Unter Laien hat die Anklage der Anzeige bei Behörden Platz gemacht. 10 Das sind die Ziele, auf die die Kommunikationstechniken des Anklägers ausgerichtet sein müssen. Anders gesagt, sofern die Taktiken des Anklägers die Neuordnung der Situationsdefinition für die Zeugen des Anklageprozesses erreichen, wird er mit der Umwandlung der öffentlichen Identität seines Opfers Erfolg haben. Die Liste der Bedingungen für diesen Degradierungs-Effekt sind die Determinanten dieses Effekts. Im Schema einer rational ausgeführten Absicht sind sie die geeigneten Mittel. Jemand muss seine Taktik nach ihrer Wirksamkeit wählen, diese Ziele zu verwirklichen.
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gelesen werden, um die Bedeutung des Patriotismus zu lehren. Es stehen viele Kontraste zur Verfügung und jede Ansammlung von Zeugen auf einer Seite eines Krieges aller gegen alle hat eine Überfülle von solchen Schemata zur Verfügung, um eine »vertraute«, »natürliche« und »richtige« Ordnung von Motiven, Eigenschaften und Geschehnissen herzustellen. Aus solchen Kontrasten ist folgendes zu lernen. Soll die Anklage Wirksamkeit zeigen, darf das Schema keines sein, in dem es dem Zeugen gestattet ist, nach Belieben zu wählen. Die Alternativen müssen vielmehr so sein, dass die bevorzugte Alternative die moralisch geforderte ist. Die Umstände müssen so eingerichtet sein, dass die Wahl ihren Wert und ihre Berechtigung aus der Tatsache erhält, dass man sie trifft.11 Das Alternativenschema muss das Urteil der Zeugen auf eine »rechte Entscheidung« unter eingeschränkten Bedingungen reduzieren. Die Anklage wird auch keinen Erfolg haben, wenn der Zeuge die Tatsache, dass die richtige Auswahl nach Evidenz erfolgte, frei durchschauen kann, beispielsweise durch die Überprüfung der empirischen Konsequenzen der Wahl. Die Alternativen müssen so gestellt sein, dass man es bei einem bestimmten Wahlakt als selbstverständlich und außer Zweifel ansieht, dass nicht zu wählen nur eine Entscheidung für die Gegenseite bedeuten kann. 3. Der Ankläger muss sich selber gegenüber dem Publikum so darstellen, dass es ihn im Laufe der Anklage nicht als private, sondern als öffentlich bekannte Person betrachtet. Er darf sich nicht als jemand darstellen, der nach seiner persönlichen und einzigartigen Erfahrung handelt. Er muss eher für jemand gehalten werden, der in seiner Eigenschaft als politischer Mensch handelt, der an gemeinschaftlich gehegten und gepflegten Erfahrungen teilhat. Er muss als bona-fideZugehöriger zu jenen Sippenbeziehungen handeln, welche die Zeugen anerkennen. Was er sagt, darf nicht nur als wahr für seine Person gelten, nicht einmal nur in dem Sinn, dass Ankläger und Zeugen es als Sachverhalte betrachten, über die sie einer Meinung sind. Keinesfalls, außer höchst ironisch, kann an eine Konvention, »einsichtig für jeden vernünftigen Menschen«, appelliert werden. Was der Ankläger sagt, muss von der Zeugenschaft als Wahrheit auf der Grundlage sozial angewandter Metaphysik anerkannt werden, wobei sich Zeugen und Ankläger als im Wesen ähnlich empfinden.12 4. Der Ankläger muss die Würde der überpersönlichen Werte der Sippe hervortreten lassen und den Blicken zugänglich machen, und seine Anklage muss unter Berufung auf diese Werte vorgebracht werden. 5. Der Ankläger muss es so einrichten, dass er mit dem Recht ausgestattet wird, im Namen dieser letzten Werte aufzutreten. Der Erfolg der Anklage wird untergraben, wenn er sich für seine Autorität als Ankläger auf persönliche Interessen beruft, die er infolge des ihm oder anderen geschehenen Übels erworben 11 Bateson, Gregory / Jurgen Ruesch, Communication: The Social Matrix of Psychiatry, New York 1951. 12 Für bona-fide-Mitglieder ist dies keine Basis, auf der man Übereinstimmung gefunden hat, sondern auf der man verwandt, wesenhaft gleich, von Anfang an einig ist.
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hat. Er muss vielmehr dieses als Sippenmitglied erlittene Übel dazu benutzen, sich die Autorität zu verschaffen, im Namen letzter Werte sprechen zu können. 6. Der Ankläger muss es erreichen, vom Publikum als Verteidiger dieser Werte eingestuft zu werden. 7. Der Ankläger muss nicht nur an seiner Distanz zum Angeklagten festhalten, er muss auch dafür sorgen, dass das Publikum Distanz zu diesem spürt. 8. Schließlich muss die beschuldigte Person rituell von ihrem Platz in der legitimen Ordnung entfernt werden, d. h., sie muss so definiert werden, als stünde sie auf der Gegenseite. Sie muss nach »außen« gestellt werden, sie muss »fremd« gemacht werden. Das sind die Bedingungen, welche für eine erfolgreiche Beschuldigung erfüllt sein müssen. Fehlen sie, schlägt die Anklage fehl. Unabhängig von der Situation, von welcher der Ankläger ausgeht, gilt, dass, will er mit der Degradierung des anderen Erfolg haben, es für ihn unerlässlich ist, diese Situationsmerkmale zu schaffen.13 Nicht alle Degradierungs-Zeremonien laufen in Übereinstimmung mit öffentlich vorgeschriebenen und gültigen Maßstäben ab. Streit, der die Demütigung des Gegners durch persönliche Beschimpfung sucht, kann Degradierung von begrenztem Ausmaß erreichen. Vergleichsweise wenige Personen treten zu irgend13 Keines der Probleme möglicher kommunikativer oder organisatorischer Bedingungen für die Wirksamkeit dieser Situationsmerkmale ist hier in systematischer Form behandelt worden. Das Problem der Kommunikationstechniken in Degradierungszeremonien ist jedoch ins Licht systematisch aufeinander bezogener Konzepte gestellt worden. Diese Konzeptionen können mit folgenden Feststellungen aufgezählt werden: 1. Die Definition der Situation für die Zeugen (zur Erleichterung des Ausdrucks verwenden wir das Zeichen S) trägt immer zeitliche Eigenschaften. 2. S zum Zeitpunkt t2 ist eine Funktion von S zum Zeitpunkt t1. Diese Funktion wird als Operation beschrieben, die S zum Zeitpunkt t1 umformt. 3. Die Operation wird als kommunikative Tätigkeit aufgefasst. 4. Für die erfolgreiche Anklage ist es erforderlich, dass S zum Zeitpunkt t2 bestimmte Eigenschaften aufweist. Diese sind oben spezifiziert worden. 5. Die Aufgabe des Anklägers ist es, die Situationsdefinitionen (SS) der Zeugen so zu verändern, dass SS die erwünschten Eigenschaften zeigt. 6. Die »Rationalität« der Taktiken des Anklägers, d. h. ihre Eignung als Mittel, den Satz notwendiger Umformungen zu erreichen, welche die Identitätsumwandlung erzielen, entscheiden gewöhnlich die organisatorischen und funktionalen Eigenschaften des Kommunikationsnetzes (das soziale System), welche die Größe der Diskrepanz zwischen beabsichtigtem und aktuellem Effekt eines Kommunikationsprozesses determinieren. Anders gesagt, die Frage stellt sich nicht nach dem zeitlichen Ursprung der Situation, sondern immer und ausschließlich nach den Situationsveränderungen in der Zeit. Es wird die Auffassung vertreten, dass die Situationsdefinition zum Zeitpunkt t2 eine Funktion der Definition zum Zeitpunkt t1 ist, wobei diese Funktion in einem Kommunikationsprozess aus einer Reihe von Einzeloperationen besteht, und die zum Zeitpunkt t1 veränderte Situation die Situation zum Zeitpunkt t2 ist. In strategische Begriffe gefasst, setzt sich die Funktion aus dem Handlungsprogramm zusammen, denen der Angeklagte folgen müsste, um die Veränderung von Stl zu St2 zu erzielen. In diesem Text wird Stl als unbestimmter Zustand behandelt.
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einer Zeit in diese Kommunikation ein. Wenige ziehen daraus Gewinn, und die Tatsache des Dabeiseins vermittelt dem Zeugen keine Definition des anderen, die über eine einzelne Gruppe oder Szenerie hinaus standardisierest. Die Mittel, Degradierung zu erzielen, wechseln in Merkmalen und Effektivität mit der Organisation und Funktion des Handlungssystems, in dem sie bestehen. In unserer Gesellschaft ist die Arena der Degradierung – deren Produkt, die umdefinierte Person, sich weitestgehender Übertragbarkeit zwischen Gruppen erfreut – rationalisiert worden, zumindest was die institutionalisierten Durchführungsmaßnahmen anbelangt. Das Gericht und seine Beamten haben so etwas wie ein direktes Monopol über solche Zeremonien, und dort sind sie zur beruflichen Routine geworden. Dies muss einer Degradierung gegenübergestellt werden, die als unmittelbare Verwandtschafts- und Sippenpflicht durch jene ausgeführt wird, die ungleich den professionellen Urteilssprechern in unseren Gerichtshöfen zugleich Recht und Pflicht des Engagements erwerben, indem sie selbst verletzte Partei oder der verletzten Partei verwandt sind. Faktoren, welche die Effektivität von Degradierungs-Taktiken bestimmen, sind in der Organisation und Funktion des Handlungssystems vorgegeben, innerhalb dessen die Degradierung geschieht. Bei der Taktik, mit der jemand am besten beraten ist, kommt es z. B. sehr auf die Zeitregeln [timing rules] an, die es etwa für reihenweise oder wechselweise »Konversation« gibt. Die für einen Angeklagten, der auf eine Beschuldigung sofort antworten kann, empfehlenswerten Taktiken sind solchen gegenüberzustellen, die für jemanden ratsam sind, der die Anklage abzuwarten hat, bevor er erwidern kann. Unmittelbare Kontakte stellen eine andere Situation dar als jene, in der Anklage oder Verteidigung über Rundfunk oder Presse ausgetragen werden. Ob für die Ausführung der Anklage nur eine einzige Gelegenheit besteht oder ob sie über eine Folge von »Versuchen« wiederholt werden muss, Faktoren wie die räumliche Anordnung und Bewegung der Personen am Ort des Anklagegeschehens, die Anzahl von Personen, die als Angeklagte einbezogen sind, die Urteilenden, die Zeugenschaft, Statusansprüche der Parteien, Prestige- und Machtverteilung unter den Teilnehmern, all das dürfte das Ergebnis beeinflussen. Kurz gesagt, auf die Faktoren, die den Erfolg von Degradierungsprozessen bedingen, weisen wir hin, wenn wir die Handlungen einer Anzahl von Personen als gruppengeleitet auffassen. Es wurden nur einige der auffälligeren strukturellen Variablen erwähnt, von denen erwartet werden konnte, dass sie eine Vorschau auf die Charakteristika von Kommunikationstechniken zur Beschuldigung bieten würden. Sie zeigen uns nicht nur, wie man eine wirkungsvolle Anklage aufbaut, sondern auch, wie man eine Anklage scheitern lässt.
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Literatur Bateson, Gregory / Jurgen Ruesch, Communication: The Social Matrix of Psychiatry, New York 1951. Burke, Kenneth, A Grammar of Motives, New York 1945. — Permanence and Change, Los Altos / CA 1954. Parsons, Talcott / Edward Shils, »Values, Motives, and Systems of Action«, in: dies. (Hg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge / MA 1951, S. 47-243. Schütz, Alfred, »Common Sense and Scientific Interpretation of Human Action«, in: Philosophy and Phenomenological Research, Heft 1, Bd. 14, 1953, S. 1-37. Williams, Richard Hays, »Scheler’s Contributions to the Sociology of Affective Action, with Special Attention to the Problem of Shame«, in: Philosophy and Phenomenological Research, Heft 3, Bd. 2, 1942, S. 348-358.
PENELOPE BROWN UND STEPHEN C. LEVINSON
Gesichtsbedrohende Akte
1. Annahmen: Eigenschaften der Interagierenden Wir treffen folgende Annahmen: Alle kompetenten erwachsenen Mitglieder einer Gesellschaft1 haben (und wissen voneinander, dass sie haben): (i) ›Gesicht‹: das öffentliche Selbstbild, das jedes Mitglied für sich in Anspruch nehmen will. Dieses besteht aus zwei zusammenhängenden Aspekten: (a) Negatives Gesicht:2 Der elementare Anspruch auf Territorien, auf persönliche ›Reservate‹ und auf das Recht, nicht beeinträchtigt zu werden – d. h. auf Handlungsfreiheit und Freiheit von Eingriffen [imposition]. (b) Positives Gesicht: Das positive, konsistente Selbstbild bzw. die positive, konsistente ›Persönlichkeit‹, auf die von den Interagierenden Anspruch erhoben wird (das schließt entscheidend das Begehren nach Wertschätzung und Anerkennung dieses Selbstbildes ein). (ii) bestimmte rationale Fähigkeiten, darunter insbesondere logisch stimmige Verfahren, um von Zwecken auf diejenigen Mittel zu schließen, mit denen die Zwecke erfüllt werden können.
1 Jugendliche, Unzurechnungsfähige oder Personen mit Behinderung teilweise ausgenommen. 2 Die Begriffe und Bezeichnungen für positives und negatives Gesicht sind letztlich von Durkheims ›positiven und negativen Riten‹ (in: Durkheim, Emile, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, übers. v. Ludwig Schmidts, Frankfurt / Main 1981) abgeleitet, teilweise vermittelt über Goffman.
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1.1 GESICHT. Unser Begriff des ›Gesichts‹ leitet sich von Goffman3 und von dem englischen Alltagsausdruck [face] her, der Gesicht mit der Vorstellung verknüpft, beschämbar oder demütigbar zu sein oder ›das Gesicht verlieren‹ zu können [losing face]. Das Gesicht ist folglich etwas, in das emotional investiert wird, das verloren, erhalten oder vergrößert werden kann und auf das in Interaktionen stets geachtet werden muss. Im Allgemeinen kooperieren Menschen, um in der Interaktion das Gesicht zu wahren (und gehen von gegenseitiger Kooperation aus). Diese Zusammenarbeit hat ihren Grund in der gegenseitigen Verletzbarkeit des Gesichts. Das heißt, für gewöhnlich hängt das Gesicht eines Menschen davon ab, dass das Gesicht von allen anderen Menschen gewahrt wird. Da man davon ausgehen kann, dass Menschen ihr Gesicht verteidigen, wenn es bedroht ist, und sie das Gesicht von anderen bedrohen, wenn sie ihr eigenes Gesicht verteidigen, liegt es normalerweise im Interesse eines jeden, das Gesicht der anderen zu wahren. Das bedeutet, auf eine Weise zu handeln, die den anderen Beteiligten klar macht, dass der Akteur auf die gesichtsbezogenen Annahmen achtet, wie sie oben unter Punkt (i) dargestellt wurden (worin diese Achtung genau besteht, ist der Gegenstand dieses Aufsatzes). Außerdem nehmen wir an, dass – obwohl sich der Inhalt des Gesichts in verschiedenen Kulturen unterscheiden wird (in Bezug auf den genauen Verlauf der Grenzen von persönlichen Territorien und in Bezug auf die Beschaffenheit der öffentlichkeitsbezogenen Inhalte der Persönlichkeit) – sowohl das gegenseitige Wissen um das öffentliche Selbstbild bzw. Gesicht der Einzelnen als auch die gesellschaftliche Notwendigkeit, sich in der Interaktion an diesem Bild auszurichten, universell sind. 1.2 GESICHT ALS BEDÜRFNIS. Es wäre möglich gewesen (so wie es vermutlich die meisten Ethnologen tun würden), die Achtung für das Gesicht als Norm bzw. als Wert aufzufassen, den die Mitglieder einer Gesellschaft gutheißen. Stattdessen werden wir die Aspekte von Gesicht als grundlegende Bedürfnisse behandeln, von denen jedes Mitglied weiß, dass jedes andere Mitglied sie hat und bei denen es für gewöhnlich im Interesse aller ist, sie teilweise zu befriedigen. Mit anderen Worten, wir werden in Weberscher Terminologie das (stärker rational orientierte) zweckrationale Modell individueller Handlungen verwenden, da das wertrationale Modell (in dem die Achtung des Gesichts als unhinterfragbarer Wert bzw. unhinterfragbare Norm behandelt würde) die Tatsache nicht erklären kann, dass die Achtung des Gesichts [face respect] kein eindeutiges Anrecht ist. Denn hierin funktioniert eine bloße Verneigung vor dem Gesicht wie eine diplomatische Erklärung guter Absichten; es ist im Allgemeinen nicht erforderlich, dass ein Akteur die Bedürfnisse des Gesichts eines anderen vollkommen befriedigt. Ein zweiter Punkt ist, dass das Gesicht ignoriert werden kann und routine3 Goffman, Erving, Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt / Main 1986 (engl. Original 1967).
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mäßig auch wird und das nicht nur in Fällen sozialen Scheiterns (Beleidigungen), sondern ebenso in Fällen dringender Kooperation oder im Interesse der Effizienz.4 Wir können also eine neue Bestimmung der Bestandteile des Gesichts, wie sie in Abschnitt 1 gegeben wurden, vornehmen. Wir definieren: Negatives Gesicht: Das Bedürfnis jedes ›kompetenten erwachsenen Mitglieds‹, dass seine Handlungen von anderen nicht beeinträchtigt werden. Positives Gesicht: Das Bedürfnis jedes Mitglieds, dass seine Bedürfnisse zumindest für einige andere begehrenswert sind. Das negative Gesicht, mit seiner abgeleiteten Höflichkeit der Zurückhaltung, kennt man als jene formelle Höflichkeit, die der Begriff ›Höflichkeit‹ sofort heraufbeschwört. Aber das positive Gesicht und seine abgeleiteten Formen der positiven Höflichkeit sind weniger offensichtlich. Die Reduktion des öffentlichen Selbstbildes bzw. der Persönlichkeit einer Person auf das Bedürfnis, dass die eigenen Wünsche zumindest einigen der anderen begehrenswert erscheinen, kann folgendermaßen gerechtfertigt werden. Der hervorstechendste Aspekt der Persönlichkeit einer Person in einer Interaktion besteht darin, was diese Persönlichkeit von den anderen Interagierenden benötigt – das schließt insbesondere das Begehren ein, angenommen, verstanden, bestätigt, gemocht oder bewundert zu werden. Dieses Begehren muss im nächsten Schritt als das Bedürfnis dargestellt werden, dass die eigenen Ziele als begehrenswert angesehen werden. Ausgehend von diesem speziellen Sinn von ›Bedürfnis‹, wie wir ihn gebrauchen, können wir dann zum positiven Gesicht kommen, wie es hier definiert worden ist. Um das intuitiv ein wenig greifbarer zu machen, wollen wir ein Beispiel betrachten. Frau B ist eine leidenschaftliche Gärtnerin. Sie verwendet einen Großteil ihrer Zeit und Mühe auf ihre Rosen. Sie ist stolz auf ihre Rosen und hat es gerne, wenn diese von anderen bewundert werden. Sie ist hoch erfreut, wenn Besucher sagen »Oh, was für hübsche Rosen! Ich wünschte, unsere würden so aussehen! Wie machen Sie das nur?« und damit implizieren, dass sie genau das wollen, was Frau B gewollt und erreicht hat. Unsere Definition von positivem Gesicht ist nur dann angemessen, wenn man dabei bestimmte Interpretationen im Hinterkopf behält. Zunächst kann es vorkommen, dass die Bedürfnisse, von denen ein Mitglied will, dass andere sie begehren, bereits befriedigt sind, das heißt, sie können mittlerweile vergangene Bedürfnisse sein, die von gegenwärtigen Errungenschaften oder Besitztümern re4 Auf ein drittes Argument zugunsten eines Modells, das eher auf Bedürfnissen, denn auf Normen basiert, hat uns Gilian Sankoff hingewiesen: Es erlaubt nämlich, eine Dynamik in die Analyse einzuführen. Denn bestimmte Ebenen der Gesichtskompensation charakterisieren (wie wir argumentieren werden) bestimmte soziale Beziehungen und solche Beziehungen haben eine Geschichte – sind zusammengesetzt, aufgebaut, verhandelt. Eine normenbasierte Analyse, die ein statisches Niveau von Gesichtskompensation benötigt, könnte diese Tatsache nicht erklären.
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präsentiert werden. Des Weiteren können sich die Bedürfnisse sowohl auf Immaterielles als auch auf Materielles beziehen: auf Werte (Liebe, Freiheit, Frömmigkeit) oder auf Handlungen (wie etwa in die Oper oder zu einem Rennen zu gehen oder Tennis zu spielen). Zweitens muss bei der Auffassung, dass der Gegenstand eines Bedürfnisses aus Propositionen wie »Ich habe schöne Rosen« besteht, beachtet werden, dass Ausdrücke eines Bedürfnisses in der normalen Sprache oft ohne spezifisches Subjekt oder Prädikat vorkommen, wie z. B. in »Ich will eine Eistüte!« Dieser Satz ist gemäß unserer Formel für das Gesichtsbedürfnis eines Akteurs A ebenfalls mehrdeutig: A begehrt von B, dass B die Bedürfnisse von A begehrt, doch heißt das, B soll das Bedürfnis »B hat eine Eistüte« oder »A hat eine Eistüte« oder »Jeder isst gerne Eistüten« begehren? Die Antwort scheint zu lauten, dass unter verschiedenen Bedingungen jede der unterschiedlichen Interpretationen vernünftig sein kann. Wenn zum Beispiel ein Mann die Kleidung einer Frau bewundert, würde eine alltägliche Interpretation lauten, dass er die Kleidung eher für sie als für sich selbst will.5 Ein dritter Punkt ist, dass Personen gewöhnlich begehren, dass ihre Ziele, Besitztümer und Leistungen nicht nur irgend jemand beliebigem, sondern bestimmten anderen, die für die gegebenen Ziele usw. besonders wichtig sind, begehrenswert erscheinen (beispielsweise hoffe ich, dass mein literarischer Stil von Schriftstellern bewundert wird, meine Rosen von Gärtnern, meine Kleidung von Freunden und mein Haar von einer Geliebten (bzw. einem Geliebten). Diese Anderen konstituieren eine Menge von Mengen (extensional oder intentional definierbar), die jeweils auf eine zugehörige Menge von Zielen verweisen). Wir müssen also unsere Formel in dem Licht dieses (grob vereinfachten) Beispiels folgendermaßen interpretieren: H begehrt von einigen Personen (nämlich a1, a2, a3 …), dass sie die entsprechende Menge von Hs Bedürfnissen (w1, w2, w3 …) begehren. Sei a1 = die Menge aller Klassen von Personen in Hs sozialer Welt. a2 = die Menge aller Personen in Hs sozialer Schicht. a3 = Hs Gattin bzw. Gatte. Sei w1 = H hat einen hübschen Vorgarten, ist verantwortlich und gesetzestreu. w2 = H hat ein leistungsstarkes Motorrad und eine Lederjacke. w3 = H ist glücklich, gesund, reich und weise. Diese einzelnen Gegebenheiten sind offensichtlich in hohem Maße kultur- und gruppenspezifisch und letztlich idiosynkratisch. Nichtsdestotrotz gibt es in einer Gesellschaft (für gewöhnlich) wohldefinierte Schnittmengen von Gemeinsamkeiten zwischen zwei beliebigen Personen. Wenn sie einander fremd sind, mag sich 5 Wir wollen an dieser Stelle keine direkte semantische Analyse der englischen Oberflächen-Worte want (wollen), desire (wünschen / begehren), intend (beabsichtigen) oder ought (sollen) vorschlagen.
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das auf die Unterstellung eines gemeinsamen Interesses an gutem Wetter oder auf andere ähnlich harmlose Punkte beschränken; handelt es sich um enge Freunde, kann es sich bis zu einer weitgehenden Übereinstimmung von Interessen und Wünschen ausweiten. Und dennoch, wie wohldefiniert diese Mengen auch immer sind: die Unterstellung, dass (beispielsweise) ich zur Menge der Personen gehöre, die dich dadurch erfreut, dass sie dir Komplimente für deine Kleidung macht, ist eine extrem heikle Unterstellung – die kränkend wirken kann. Das ist der Hauptgrund dafür, dass Aufmerksamkeit für das positive Gesicht in Gesellschaften häufig stark reguliert ist. 1.3 RATIONALITÄT. Wir definieren ›Rationalität‹ hier als die Anwendung einer bestimmten Art logischen Denkens – die Aristoteles ›praktische Vernünftigkeit‹ nannte6 –, die die Korrektheit der Schlussfolgerungen von Zielen oder Zwecken auf die Mittel garantiert, welche diese Zwecke erfüllen werden. Genau wie Standardlogiken eine Folgerungsrelation aufweisen, die wahrheitserhaltend von einer Proposition zu einer anderen führt, muss es ein System der praktischen Vernünftigkeit ermöglichen, von den Zwecken auf die Mittel und weitere Mittel zu schließen und dabei den zuträglichen Charakter der Mittel zu erhalten.7 Zu den Formen von Inferenz, mit denen ein System der praktischen Vernünftigkeit umgehen können sollte, zählen etwa: Wählen Sie! (Wählen Sie Wilson!) oder (Wählen Sie Heath!)
Das heißt: Wenn ich wählen will oder soll oder wenn es mir befohlen wurde, dann kann ich diesem Wunsch oder Befehl dadurch Genüge tun, dass ich Wilson oder Heath oder letztlich irgendjemanden wähle. Oder betrachten wir wiederum Aristoteles’ ›praktischen Syllogismus‹, dem in der Standardlogik der Trugschluss der ›Bejahung des Konsequenz‹ entsprechen würde: Dieser Mann muss gewärmt werden. Wenn ich ihn abreibe, wird er gewärmt. Also, lassen Sie mich ihn abreiben.
Diese Sätze haben eine merkwürdige Beziehung zu standardlogischen Schlussfolgerungen, denn: John hat gewählt John hat Wilson gewählt 6 Aristoteles, Ethica Nicomachea. Die nikomachische Ethik, übers. v. Olof Gigon, neu hg. von Rainer Nickel, Düsseldorf 2001. 7 Kenny, Anthony, »Practical inference«, in: Analysis, Bd. 26, 1966, S. 65-75.
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ist sicherlich nicht notwendig wahr, aber der umgekehrte Fall: John hat Wilson gewählt John hat gewählt
ist zwingend wahr. Kenny hat deswegen vorgeschlagen, dass ein Mittel zu einem Zweck nur dann als zuträglich zu betrachten ist, wenn gilt, dass aus der Wahrheit der Proposition, die das Mittel beschreibt, die Wahrheit der Proposition, die den Zweck beschreibt, folgt. Es stellt sich heraus, dass auf der Grundlage dieser Interpretation der praktisch-vernünftigen Folgerungen ein entscheidbares formales System mit einer semantischen Interpretation gebildet und Aristoteles’ Intuitionen in eine strenge Form, die wir ›Kenny-Logik‹ taufen, gegossen werden kann (für weitere Details vergleiche […] Atlas, Jay / Stephen Levinson, »The importance of practical reasoning in language usage: an explanation of conversationnal implicature«, unveröff. Ms., Dept. of Linguistics, University of Cambridge 1973). Ein weiterer Aspekt rationalen Verhaltens scheint die Fähigkeit zu sein, verschiedene Mittel für einen gemeinsamen Zweck abzuwägen und dasjenige zu wählen, welches den angestrebten Zweck am besten erfüllt. Dies kann mit einer ›fuzzy‹-Variante der Kenny-Logik, die einen zusätzlichen Präferenzoperator enthält, erreicht werden […]. In dieser werden alle Präferenzen als rational behandelt und extrinsisch abgewägte Wünsche oder Kantische Imperative ausgeschlossen – für unsere Zwecke ein vollkommen vertretbarer Schachzug. Während unser formales System einen Großteil des Gehalts der intuitiven Vorstellung von Rationalität erklären kann, scheint diese zusätzlich den Gedanken von Optimierung bzw. von Kostenminimierung bei der Wahl der Mittel zu einem Zweck zu beinhalten. Wenn ich zum Beispiel ein Glas Wasser trinken möchte und dazu den Wasserhahn in diesem Zimmer oder den im Badezimmer oder den im Garten benutzen könnte, dann wäre es sicher ›irrational‹, wenn ich unnötigerweise in den Garten traben würde (vorausgesetzt, ich habe keinen geheimen Wunsch, im Garten zu sein usw.). Wenn das stimmt, können wir es dadurch abdecken, dass wir einen dauerhaften Wunsch der Modellpersonen definieren, sich im Normalfall nicht unnötig anzustrengen.
2. Intrinsische gesichtsbedrohende Akte Unter diesen Annahmen der Universalität von Gesicht und Rationalität gilt intuitiv, dass bestimmte Arten von Akten an sich gesichtsbedrohend8 sind, nämlich jene, die aufgrund ihrer Natur den Gesichtsbedürfnissen des Adressaten und / oder des Sprechers zuwider laufen. Unter ›Akt‹ verstehen wir das, was durch 8 Gesichtsbedrohende Akte [face threatening acts] werden im Folgenden als GBA [FTA] bezeichnet [Anm. der Hg.].
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eine verbale oder nonverbale Kommunikation zu tun beabsichtigt wird, so wie auch einer Äußerung ein oder mehrere ›Sprechakte‹ zugeschrieben werden können.9 2.1 ERSTE UNTERSCHEIDUNG: TYPEN BEDROHTER GESICHTER. Wir können eine erste Unterscheidung treffen zwischen Akten, die das negative Gesicht, und Akten, die das positive Gesicht bedrohen. Zu den Akten, die hauptsächlich die Bedürfnisse des negativen Gesichts des Adressaten (H) bedrohen, indem sie (potenziell) signalisieren [indicate], dass der Sprecher (S) es nicht zu vermeiden beabsichtigt, Hs Handlungsfreiheit zu beeinträchtigen, zählen: (i) Jene Akte, die eine Aussage über eine zukünftige Handlung A von H beinhalten, und die, indem sie das tun, Druck auf H ausüben, A zu tun (oder zu unterlassen): (a) Befehle und Bitten (S signalisiert, dass er von H möchte, dass H den Akt A ausführt oder unterlässt) (b) Vorschläge und Ratschläge (S signalisiert, dass er denkt, H sollte (vielleicht) den Akt A tun) (c) Mahnungen (S signalisiert, dass H sich daran erinnern sollte, A zu tun) (d) Drohungen, Warnungen, Herausforderungen (S signalisiert, dass er – oder jemand oder etwas – Sanktionen gegen H veranlassen wird, sollte dieser nicht die Handlung A ausführen) (ii) Jene Akte, die eine Aussage über eine positive zukünftige Handlung von S gegenüber H beinhalten, und dadurch Druck auf H ausüben, diese zu akzeptieren oder zurückzuweisen und sich dadurch möglicherweise eine Schuld zuzuziehen: (a) Angebote (S signalisiert, dass er möchte, dass H sich dazu bekennt – ob er will oder nicht will –, dass S eine Handlung für H ausübt, wobei H sich damit möglicherweise eine Schuld zuzieht) (b) Versprechen (S verpflichtet sich zu einer zukünftigen Handlung zu Hs Gunsten) (iii) Jene Akte, die eine Aussage über einen Wunsch von S bezüglich H oder der Güter von H beinhalten, und H damit Grund zu der Annahme geben, er könnte gezwungen werden, Maßnahmen zum Schutz des von S begehrten Objektes zu treffen oder es S zu überlassen: 9 Wir folgen hier Grice, Hubert Paul, »Intendieren, Meinen, Bedeuten«, in: Georg Meggle (Hg.), Handlung, Kommunikation, Bedeutung, Frankfurt / Main 1979, S. 215. Ein kommunikativer Akt ist ein großer Teil eines Verhaltens B, das von S mit einer bestimmten Absicht betrieben wird, von der S beabsichtigt, dass sie von H erkannt wird, und bei dem dieses Erkennen der kommunikative Zweck ist, dessentwegen S B ausübt.
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(a) Komplimente, Ausdrücke des Neids oder der Bewunderung (S signalisiert, dass er etwas von Hs Sachen schätzt oder gerne haben würde) (b) Ausdrücke starker (negativer) Emotionen gegenüber H – z. B. Hass, Wut oder Lust (S zeigt ein mögliches Motiv an, H oder Hs Eigentum gefährlich zu werden) Zu den Akten, die das Bedürfnis nach positivem Gesicht bedrohen, indem sie potenziell signalisieren, dass der Sprecher sich nicht um die Gefühle und Bedürfnisse usw. des Adressaten kümmert – dass er in einer bestimmten und wichtigen Weise nicht Hs Bedürfnisse begehrt –, zählen: (i) Jene, die zeigen, dass S einige Aspekte von Hs positivem Gesicht negativ beurteilt: (a) Ausdrücke der Missbilligung, der Kritik, der Geringschätzung oder des Spotts, Beschwerden und Tadel, Anschuldigungen und Beleidigungen (S signalisiert, dass er ein oder mehrere von Hs Wünschen, Handlungen, Personenmerkmalen, Gütern, Glaubensüberzeugungen oder Werten nicht mag / nicht will) (b) Widersprüche, Meinungsverschiedenheiten oder Herausforderungen (S signalisiert, dass er denkt, Hs Ansichten über eine Sache wären falsch oder fehlgeleitet oder unvernünftig, wobei dieses Fehlgeleitetsein mit einer Missbilligung durch S verknüpft ist) (ii) Jene, die zeigen, dass S sich nicht um Hs positives Gesicht kümmert (bzw. es ihm gleichgültig ist): (a) Ausdrücke heftiger (außer Kontrolle geratener) Emotionen (S gibt H einen möglichen Grund, ihn zu fürchten oder von ihm in Verlegenheit gebracht zu werden) (b) Respektlosigkeit, Erwähnung tabuisierter Themen einschließlich solcher, die in dem Kontext unangebracht sind (S signalisiert, dass er Hs Werte nicht achtet und Hs Ängste nicht fürchtet) (c) Verbreiten schlechter Neuigkeiten über H oder guter Neuigkeiten (Prahlerei) über S (S signalisiert, dass er gewillt ist, Sorgen bei H auszulösen, und / oder sich nicht um Hs Gefühle kümmert) (d) Ansprechen gefährlich emotionaler oder polarisierender Themen, z. B. Politik, race, Religion oder die Gleichstellung der Frau (S erhöht die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit, dass ein gesichtsbedrohender Akt (wie die oben beschriebenen) geschieht, d. h., S schafft eine gesichtsbedrohende Atmosphäre) (e) unverhohlene Nicht-Kooperation bei einer Aktivität, z. B. störende Unterbrechung von Hs Rede, absurde, zusammenhangslose Bemerkungen oder das Zurschaustellen von Nicht-Aufmerksamkeit (S signalisiert, dass er sich nicht um die Bedürfnisse von Hs positivem oder negativem Gesicht kümmert)
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(f) der Gebrauch von adressatenspezifischen Ausdrücken und anderer statusgeprägter Identifikationen bei ersten Begegnungen (S kann H absichtlich oder zufällig in einer beleidigenden oder beschämenden Weise falsch identifizieren) Man beachte, dass es eine Überschneidung in dieser Klassifikation von GBAs gibt, da einige GBAs an sich sowohl das negative als auch das positive Gesicht bedrohen (z. B. Beschwerden, Unterbrechungen, Bedrohungen, heftige Ausdrücke von Emotionen, Bitten um persönliche Informationen). 2.2 ZWEITE UNTERSCHEIDUNG: BEDROHUNGEN VON HS GESICHT VERSUS BEDROHUNGEN VON S’ GESICHT. Wir können zweitens unterscheiden zwischen Akten, die hauptsächlich Hs Gesicht bedrohen (wie in der obigen Aufzählung), und solchen, die hauptsächlich das Gesicht von S bedrohen. In dem Maße, wie H und S zusammenarbeiten, um ihr Gesicht zu wahren, stellen letztere GBAs auch Bedrohungen für Hs Gesicht dar. Zu den GBAs, die für S bedrohlich sind, zählen:10 (i) Jene, die das negative Gesicht von S verletzen: (a) Ausdrücke von Dankbarkeit (S akzeptiert eine Schuld, setzt sein eigenes Gesicht herab) (b) Annahme von Hs Dank oder Hs Entschuldigung (S kann sich dadurch verpflichtet fühlen, Hs Schulden oder Übertretung zu minimieren, so wie in »Das war doch gar nichts, das ist gar nicht der Rede wert«) (c) Rechtfertigungen (S signalisiert, dass er denkt, er hatte guten Grund einen Akt zu tun oder zu unterlassen, den H gerade kritisiert hat; dies kann im Gegenzug eine Kritik von H hervorrufen oder zumindest zu einer Konfrontation von Hs und S’ jeweiliger Sicht der Dinge führen) (d) Annahme von Angeboten (S ist gezwungen, eine Schuld anzunehmen und Hs negatives Gesicht in Anspruch zu nehmen) (e) Antworten auf Hs faux pas (wenn S sichtbar einen vorherigen faux pas bemerkt, kann er Verlegenheit bei H auslösen; wenn er so tut, als hätte er ihn nicht bemerkt, kann es sein, dass er sich selbst unbehaglich fühlt) (f) Unfreiwillige Versprechen und Angebote (S verpflichtet sich zu einer zukünftigen Handlung, obwohl er das nicht will; daher kann er, falls sich seine Unfreiwilligkeit zeigt, auch Hs positives Gesicht verletzen)
10 Die Leser werden vielleicht bemerken, dass viele davon Antworten auf frühere GBAs darstellen, die von H ausgingen. Der Grund dafür ist folgender: Wenn H einen früheren GBA ausgeführt hat, der das gegenwärtige Gesicht von S bedroht, dann wird das Tun von S (zu welchem auch immer S sich entschließt) wahrscheinlich mit seinem eigenen (S’) Gesicht zu tun haben. (S könnte natürlich auch beschließen, den Verlust seines eigenen Gesichtes dadurch zu kompensieren, dass er Hs Gesicht angreift, anstatt sein eigenes zu verteidigen.)
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(ii) Jene, die das positive Gesicht von S direkt beschädigen:11 (a) Entschuldigungen (S signalisiert, dass er bedauert, einen früheren GBA begangen zu haben und beschädigt damit in gewissem Maße sein eigenes Gesicht – insbesondere, wenn die Entschuldigung gleichzeitig ein Geständnis darstellt, durch das H von der Übertretung erfährt und der GBA daher schlechte Neuigkeiten übermittelt) (b) die Annahme von Komplimenten (S kann sich gezwungen fühlen, den Gegenstand von Hs vorhergehendem Kompliment herabzusetzen und damit sein eigenes Gesicht zu beschädigen; oder er kann sich gezwungen fühlen, im Gegenzug H ein Kompliment zu machen) (c) der Zusammenbruch der physischen Kontrolle über den Körper, mangelnde Kontrolle über Körperflüssigkeiten, Stolpern, Hinfallen usw. (d) Selbst-Demütigung, Wankelmütigkeit oder Duckmäusertum, sich dumm benehmen, sich selbst widersprechen (e) Beichten, Eingeständnisse von Schuld oder Verantwortung – z. B. dafür, eine Handlung getan bzw. nicht getan zu haben, oder für Unkenntnis von etwas, von dem erwartet wird, dass S es weiß (f) Gefühlsausbruch, keine Kontrolle über Lachen oder Weinen Diese zwei Arten der Klassifikation von GBAs (anhand der Frage, ob hauptsächlich S’ oder Hs Gesicht bedroht wird oder anhand der Frage, ob es hauptsächlich das positive oder negative Gesicht ist, das auf dem Spiel steht) führen zu einem Vier-Wege-Schema, das die Möglichkeit liefert, zumindest einige der oben genannten GBAs zu kreuzklassifizieren. Allerdings steht eine solche Kreuzklassifikation in einem komplexen Verhältnis zu den Weisen, in denen GBAs gehandhabt werden.12 11 Diese Akte beschädigen das Gesicht von S aufgrund der elementaren Bedürfnisse seines positiven Gesichts nach Selbstkontrolle und Selbstachtung. Durch das offenkundige Scheitern, diesen Bedürfnissen gerecht zu werden, wird es unwahrscheinlich, dass H S respektiert und zugleich wird Hs Gesicht potenziell durch Scham für S bedroht. 12 Zum Beispiel: bedroht S bedroht H
negatives Gesicht
positives Gesicht
Versprechen Warnungen
Entschuldigungen Kritik
Man würde erwarten, dass sich kompensierende Tätigkeiten im Zusammenhang mit einem GBA immer an genau jenen Aspekt des Gesichts richten, der durch diesen [den GBA] bedroht ist. Das ist gelegentlich auch der Fall: Ein Versprechen kann mit einem Heckenausdruck [hedge] kompensiert werden (»Natürlich kann ich X tun, wenn Sie das wünschen«), eine Entschuldigung mit Unterstützung für S’ positives Gesicht (»Ich bin kein schlechter Kerl, aber es tut mir leid, dass ich das getan habe«), eine Warnung mit der Versicherung, dass der Sprecher nicht beabsichtigt, Hs Handlungen zu beeinträchtigen (»Es geht mich ja nichts an, aber Herr Jones sagt, wenn er Ihren Sohn noch einmal in seinem Erdbeerbeet entdeckt, wird er es
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3. Strategien für das Ausführen von GBAs Angesichts der gegenseitigen Verletzbarkeit des Gesichts wird jeder rationale Akteur versuchen, gesichtsbedrohende Akte zu vermeiden bzw. bestimmte Strategien verwenden, um die Bedrohung zu minimieren. Mit anderen Worten, er wird die relative Wichtigkeit von (mindestens) drei Wünschen in Betracht ziehen: (a) den Wunsch, den Inhalt des GBA x zu kommunizieren, (b) den Wunsch, effizient oder schnell zu sein13, und (c) den Wunsch, Hs Gesicht in vollem Maß zu wahren. Sofern nicht (b) schwerer wiegt als (c), wird S danach streben, die Bedrohung durch seinen GBA zu minimieren.
Einschränkung des Risikos eines Gesichtsverlusts
kleiner
ohne Kompensationsbemühungen, unverhohlen (1) offenkundig
positive Höflichkeit (2) mit Kompensationsbemühungen
Führe den GBA aus
nicht offenkundig (4)
negative Höflichkeit (3)
Führe den GBA nicht aus (5)
größer Fig. 1: Mögliche Strategien zur Ausführung von GBAs
Der mögliche Satz an Strategien kann wie in Figur 1 in einem vollständigen Schema dargestellt werden. Bei diesem Schema kommen folgende Definitionen zur Anwendung. Bei der Ausführung eines Aktes A geht der Akteur dann offenkundig [on record] vor, wenn den Beteiligten klar ist, welche kommunikative Absicht den dem Pfarrer sagen«), und eine Kritik mit Ehrerbietung oder der Versicherung, man habe grundsätzlich eine hohe Meinung von H (»Es tut mir leid, dass ich so kleinlich bin, aber Sie haben die Hälfte der Wörter in diesem ansonsten hervorragenden Aufsatz falsch geschrieben«). Aber tatsächlich sind die Dinge viel komplizierter als in dieser einfachen Kreuzklassifikation und viele GBAs passen in mehr als eine Kategorie, so dass kompensierende Tätigkeiten sich an jeden potenziellen Aspekt einer Gesichtsbedrohung richten können und nicht notwendigerweise ausschließlich an den oder die relevantesten. 13 Dieses Bedürfnis hat mehrere Ursprünge: (a) Es kann als Bestandteil von Rationalität betrachtet werden – im Sinne von Aufwandsminimierung, (b) es kann sich um ein abgeleitetes Bedürfnis handeln, etwas zu wollen, das nur durch Effizienz oder Dringlichkeit erreicht werden kann […].
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Akteur dazu gebracht hat, A zu tun (das heißt, es gibt nur eine unstrittig zuschreibbare Absicht, der Zeugen zustimmen würden). Wenn ich z. B. sage »Ich verspreche hiermit, morgen zu kommen!« und wenn die Beteiligten darin übereinstimmen würden, dass ich durch diese Aussage unmissverständlich meine Absicht kundgetan habe, mich zu dem genannten zukünftigen Akt zu verpflichten, dann bin ich in unserer Terminologie mit meinem Versprechen, so zu handeln, ›offenkundig‹ vorgegangen. Demgegenüber gibt es, wenn ein Akteur in der Ausführung von A nicht offenkundig [off record] vorgeht, mehr als eine unstrittig zuschreibbare Intention, so dass der Akteur nicht darauf festgelegt werden kann, dass er eine bestimmte Absicht verfolgt. Wenn ich zum Beispiel sage, »Verdammt, ich hab’ kein Geld mehr, ich hab’ vergessen, heute zur Bank zu gehen«, mag ich damit die Absicht verfolgen, dich dazu zu bringen, mir Geld zu leihen, aber ich kann nicht auf diese Absicht festgelegt werden (wie du erfahren würdest, wenn du mich mit einem Satz wie »Das ist das siebzehnte Mal, dass du mich um Geld gebeten hast« konfrontieren würdest). Sprachliche Verwirklichungen von Nicht-Offenkundigkeit umfassen Metaphern und Ironie, rhetorische Fragen, Untertreibungen, Tautologien und alle Arten von Hinweisen auf das, was der Sprecher will oder zu kommunizieren meint, ohne dies aber direkt zu tun, so dass die tatsächliche Bedeutung verhandelbar bleibt. Einen Akt unverhohlen und ohne Kompensation [baldly, without redress] auszuführen, beinhaltet, ihn auf die direkteste, klarste, unmissverständlichste und präziseste Weise auszuführen, die möglich ist (im Falle einer Bitte würde man etwa sagen »Tun Sie X / Tue X!«). Wir folgen hier in etwa den Erläuterungen von Grices Maximen der Kooperation.14 Normalerweise wird ein GBA nur dann in dieser Weise ausgeführt, wenn der Sprecher keine Vergeltung durch den Adressaten befürchtet, beispielsweise in Umständen, in denen (a) S und H aus taktischen Gründen übereinstimmen, dass die Relevanz von Gesichtsansprüchen im Interesse von Dringlichkeit oder Effizienz suspendiert werden kann, in denen (b) die Gefahr für Hs Gesicht sehr gering ist, wie bei Angeboten, Bitten oder Vorschlägen, die deutlich in Hs Interesse liegen und keine großen Opfer von S verlangen (z. B. »Kommen Sie herein!« oder »Setzen Sie sich!«), und in denen (c) S deutlich mehr Macht als H besitzt oder wenn er die Unterstützung des Publikums gewinnen kann, so dass er Hs Gesicht zerstören kann, ohne sein eigenes zu verlieren. Unter einer kompensierenden Handlung [redressive action] verstehen wir eine Handlung, die dem Adressaten Gesicht zugesteht, die also versucht, der potenziellen Gesichtsbeschädigung durch den GBA entgegenzuwirken, indem dieser auf solche Weisen oder mit solchen Modifikationen und Zusätzen ausgeführt
14 Grice, Hubert Paul, »Logik und Konversation«, in: Meggle (Hg.), Handlung, Kommunikation, Bedeutung, a.a.O., S. 243-265; ders., »Intendieren, Meinen, Bedeuten«, a.a.O.
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wird, die deutlich signalisieren, dass keine Gesichtsbedrohung beabsichtigt oder gewünscht ist und dass S die Bedürfnisse von Hs Gesicht grundsätzlich anerkennt und selbst wünscht, dass sie erfüllt werden. Eine derartige Kompensationshandlung nimmt eine von zwei Formen an, je nachdem, welcher Aspekt des Gesichts (negativ oder positiv) beansprucht wird. Positive Höflichkeit ist auf das positive Gesicht von H gerichtet, auf das positive Selbstbild, das er für sich selbst beansprucht. Positive Höflichkeit basiert auf Kontaktaufnahme; sie ist Balsam für das Gesicht des Adressaten, indem sie signalisiert, dass S in bestimmter Hinsicht Hs Bedürfnis begehrt (z. B., indem man ihn als Mitglied einer Ingroup behandelt, als Freund, als Person, dessen Wünsche und persönliche Züge bekannt sind und gemocht werden). Die potenzielle Gesichtsbedrohung durch einen Akt wird in diesem Fall durch die Versicherung minimiert, dass S grundsätzlich zumindest einige von Hs Bedürfnissen begehrt; zum Beispiel, dass S H in wichtigen Hinsichten als ›gleich‹ betrachtet, mit Ingroup-Rechten und -Pflichten sowie Erwartung von Gegenseitigkeit, oder durch die Implikation, dass S H mag, so dass der GBA keine grundsätzlich negative Beurteilung von Hs Gesicht bedeutet. Negative Höflichkeit zielt demgegenüber vor allem darauf, Hs negativem Gesicht (durch Kompensation) partiell Genüge zu tun, seinem grundlegenden Bedürfnis danach, seine Territoriums- und Selbstbestimmungansprüche zu wahren. Negative Höflichkeit ist also grundlegend vermeidungsbasiert. Verwirklichungen von Strategien negativer Höflichkeit bestehen in Versicherungen, dass der Sprecher das negative Gesicht des Adressaten anerkennt und respektiert und die Handlungsfreiheit des Adressaten nicht (oder höchstens minimal) beinträchtigen wird. Negative Höflichkeit lässt sich also charakterisieren durch Selbst-Zurücknahme, Förmlichkeit und Zurückhaltung, unter Rücksichtnahme auf einige eingegrenzte Aspekte von Hs Selbstbild und ausgerichtet auf Hs Wunsch nach Freiheit von Eingriffen. Gesichtsbedrohende Akte werden durch Entschuldigungen für Eingriffe oder Übertretungen kompensiert, mit sprachlichen und nicht-sprachlichen Respektbekundungen, mit Heckenausdrücken [hedges] bezüglich der illokutionären Kraft des Aktes und mit anderen abmildernden Mechanismen, die dem Adressaten einen ›Ausweg‹ lassen, einen gesichtsschützenden Fluchtweg, und ihm so das Gefühl geben, dass seine Antwort nicht erzwungen wird. Allerdings weist negative Höflichkeit eine natürliche Spannung auf zwischen (a) dem Wunsch, ›offenkundig‹ vorzugehen, als einer notwendigen Voraussetzung dafür, dem Gesicht Tribut zu zollen, und (b) dem Wunsch, ›nicht offenkundig‹ vorzugehen, um Eingriffe zu vermeiden. Ein Kompromiss wird durch konventionale Indirektheit erreicht, denn was auch immer der indirekte Mechanismus ist, der benutzt wird, um einen GBA auszuführen, sobald er als ein Weg, diesen GBA auszuführen, vollständig konventional ist, findet er nicht länger ›nicht offenkundig‹ statt. So sind beispielsweise viele indirekte Bitten vollständig konventional und finden deshalb ›offenkundig‹ statt (z. B. würde der Satz »Kannst Du mir das Salz reichen?« von allen Beteiligten als Bitte verstanden; es
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gibt, außer unter sehr speziellen Umständen, keine legitime alternative Interpretation dieser Äußerung mehr). Und zwischen je zwei (oder mehr) beliebigen Individuen kann jede Äußerung konventional werden und daher ›offenkundig‹ geschehen, so wie es bei Passwörtern und Codes der Fall ist. Eine rein konventionale ›Hintertür‹ funktioniert bei negativer Höflichkeit als kompensierende Handlung, weil sie den negativen Gesichtsbedürfnissen des Adressaten symbolisch Tribut zollt. Die Tatsache, dass der Sprecher sich die Mühe macht, seinen GBA in einer konventional indirekten Weise zu formulieren, zeigt also, dass er sich Hs negativer Gesichtsbedürfnisse bewusst ist und sie achtet.
4. Faktoren, die die Wahl der Strategie beeinflussen Wir haben oben in Abschnitt 3 die fünf möglichen strategischen Optionen, mit GBAs umzugehen, zusammengefasst. In diesem Abschnitt behaupten wir, dass jeder rationale Akteur dazu neigen wird, unter denselben Bedingungen dieselbe Art von Strategie zu wählen – das heißt, die gleichen Züge zu machen, wie jeder andere unter den gleichen Umständen. Das liegt an der Tatsache, dass die jeweiligen Strategien intrinsisch bestimmte Erträge [payoffs] bzw. Vorteile mit sich bringen. Mit relevanten Umständen sind solche gemeint, unter denen einer dieser Erträge von größerem Vorteil wäre als die anderen. Wir betrachten zuerst die intrinsischen Erträge und anschließend die relevanten Umstände und setzen sie dann zueinander in Beziehung. 4.1 DIE ERTRÄGE: A PRIORI ÜBERLEGUNGEN. Wir stellen hier eine weitgehend vollständige Liste derjenigen Erträge vor, die mit den einzelnen Strategien verknüpft sind, und die aus a priori gegebenen Gründen abgeleitet werden. Indem er offenkundig vorgeht, kann ein Sprecher potenziell jeden der folgenden Vorteile erzielen: er kann öffentlichen Druck gegen den Adressaten oder zu seiner eigenen Unterstützung mobilisieren; er kann Anerkennung für Ehrlichkeit bekommen, also dafür, dass er Vertrauen in den Adressaten signalisiert; er kann Anerkennung für Offenheit bekommen und die Gefahr vermeiden, manipulativ zu wirken; er kann das Risiko umgehen, missverstanden zu werden; und er kann die Gelegenheit erhalten, das an Gesicht zurückzuzahlen, was er potenziell durch den GBA entzogen hat. Indem er nicht offenkundig vorgeht, kann ein Sprecher andererseits auf die folgenden Weisen profitieren: er kann Anerkennung dafür bekommen, dass er taktvoll ist und keinen Zwang ausübt; er verringert das Risiko, dass seine Handlung in die ›Gerüchte-Biographie‹ eingeht, die andere über ihn führen; und er kann es vermeiden, für eine potenziell gesichtsschädigende Interpretation Verantwortung zu übernehmen. Außerdem kann S dem Adressaten (verdeckt) die Möglichkeit geben, sichtbar zu machen, dass dieser (H) ihm (S) zugetan ist (und auf diese
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Weise testen, welche Gefühle H ihm gegenüber hat). In letzterem Fall kann H, falls er sich dafür entscheidet, die potenziell bedrohliche Interpretation der Handlung aufzugreifen, dem anfänglichen Sprecher ein ›Geschenk‹ machen. Wenn ich also sage, »Es ist heiß hier drinnen« und du sagst »Oh, dann mache ich das Fenster auf«, kannst du Anerkennung für Großzügigkeit und Kooperationsbereitschaft bekommen und ich vermeide die potenzielle Gefahr, dich herumzukommandieren. Durch das offenkundige Vorgehen mit positiver Höflichkeit kann ein Sprecher die gesichtsbedrohenden Aspekte einer Handlung minimieren, indem er dem Adressaten versichert, dass S sich ihm zugehörig fühlt, dass er ihn mag und will, was er will. Eine Kritik, die von einer Bekräftigung gegenseitiger Freundschaft begleitet ist, verliert einiges an Schärfe – sie gerät unter der Annahme eines freundschaftlichen Kontextes oft zu einem Spiel und möglicherweise sogar zu einem Kompliment (wie zwischen Teenagern des jeweils anderen Geschlechts).15 Ein anderer möglicher Ertrag ist, dass S eine Schuld vermeiden oder verringern kann, die sich aus GBAs wie Bitten oder Angeboten ergibt – entweder dadurch, dass er (indirekt) auf die Gegenseitigkeit und die fortlaufende Beziehung zwischen dem Adressaten und ihm selbst verweist (wie in dem Hinweis auf eine pseudo-vorgängige Abmachung durch das dann also in »Wie wäre es dann also mit einem Keks?«) oder indem er den Adressaten und sich selbst als gleichberechtigte Teilnehmer oder Nutznießer einer Bitte oder eines Angebots einschließt (zum Beispiel durch ein inklusives ›wir‹, wie etwa, wenn der Ehemann, der vor dem Fernseher klebt, sagt, »Lass uns Essen machen!«). Durch das offenkundige Vorgehen mit negativer Höflichkeit kann ein Sprecher auf die folgenden Weisen profitieren: er kann dem Adressaten Respekt und Achtung im Ausgleich für den GBA zollen und dadurch vermeiden, sich eine zukünftige Schuld zuzuziehen (oder er kann sie zumindest verringern); er kann soziale Distanz wahren und so die Gefahr (oder den potenziellen Gesichtsverlust) einer zunehmenden Vertrautheit mit dem Adressaten vermeiden; er kann dem Adressaten eine wirkliche ›Hintertür‹ lassen (bei einer Bitte oder einem Angebot zum Beispiel, indem er deutlich macht, dass er von H nicht wirklich ein ›Ja‹ erwartet, es sei denn, H will es; damit wird der beiderseitige Gesichtsverlust minimiert, der entsteht, wenn H ›nein‹ sagen muss); und er kann dem Adressaten konventionale Hintertüren im Gegensatz zu wirklichen Hintertüren lassen, was bedeutet, er kann vorgeben, dem Adressaten einen Fluchtweg zu eröffnen, ohne es tatsächlich zu tun, und so zeigen, dass er an das Gesicht des anderen denkt. Der Ertrag der fünften strategischen Wahl, ›Unterlasse den GBA‹, besteht schließlich darin, dass S überhaupt vermeidet, H mit diesem bestimmten GBA zu kränken. Natürlich misslingt S damit auch die erwünschte Kommunikation, und
15 Vgl. Labov, William, »Regeln für rituelle Beschimpfungen«, in: ders., Sprache im sozialen Kontext. Eine Auswahl von Aufsätzen, Königstein / Ts. 1978, S. 251-286.
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da diese letztmögliche Strategie naturgemäß keine interessanten linguistischen Reflexionen erlaubt, werden wir sie in unserer Diskussion von nun an ignorieren. Für unsere Zwecke können diese Erträge folgendermaßen zusammengefasst werden: Erträge der Strategie ›offenkundig‹: (a) Klarheit, Verständlichkeit (b) nachweislich nicht-manipulativ Erträge der Strategie ›unverhohlen-offenkundig (ohne Kompensation)‹: Effizienz (S kann behaupten, dass andere Dinge wichtiger sind als das Gesicht, oder er kann behaupten, dass der Akt gar kein GBA ist) Erträge der Strategie ›mit Kompensation‹: S hat die Möglichkeit, Gesicht zuzugestehen (a) positive Höflichkeit – in gewisser Hinsicht Hs positives Gesicht zu befriedigen (b) negative Höflichkeit – zu einem gewissen Grad Hs negatives Gesicht zu befriedigen Erträge der Strategie ›nicht-offenkundig‹: (a) S kann das negative Gesicht in höherem Maße befriedigen als es von der Strategie negativer Höflichkeit ermöglicht wird (b) S kann der unvermeidlichen Rechenschaft und Verantwortung für seine Handlungen entgehen, die aus Strategien der Offenkundigkeit folgt Wenn wir die Erträge in dieser Reihenfolge betrachten, können wir bereits jetzt erkennen, dass aus a priori Gründen ein Schema existieren muss, das angibt, unter welchen Umständen ein Ertrag am vorteilhaftesten wäre. Dieses sähe ungefähr folgendermaßen aus: Je gefährlicher ein gegebener GBA x in S’ Einschätzung ist, desto wahrscheinlicher wird S sich für eine höherzahlige Strategie entscheiden. Wenn wir die einzelnen Erträge durchgehen, werden wir verstehen, warum das so ist. Der Gebrauch der ersten Strategie (offenkundig, ohne Kompensation) lässt S als Verantwortlichen und ohne jedes Mittel zurück, den GBA x zu minimieren. Der Gebrauch einer Handlung mit Kompensation gibt S die Möglichkeit, H zu besänftigen, indem S einige von Hs dauerhaften Bedürfnissen teilweise befriedigt. Der Gebrauch der zweiten Strategie (positive kompensierende Handlung) erlaubt S, eine ganze Reihe von Hs dauerhaften Bedürfnissen (die nicht notwendigerweise in direkter Verbindung zu x stehen müssen) zu befriedigen. Der Gebrauch der dritten Strategie (negative kompensierende Handlung) erlaubt S hingegen, Hs Bedürfnis, nicht beeinträchtigt zu werden, bis zu einem gewissen Grad
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zu befriedigen (dieses Bedürfnis wird direkt von x verletzt). Indem S signalisiert, dass es ihm widerstrebt, H zu beinträchtigen, gibt er zu verstehen, dass, wenn die Angelegenheit nicht so dringend gewesen wäre, er H niemals gestört hätte (und dass er es bei zukünftigen Angelegenheiten, die nicht so dringend sind, unterlassen wird). Schließlich gibt die vierte Strategie S die Möglichkeit, sich gänzlich der Verantwortung zu entziehen (indem er im Falle einer Konfrontation behauptet, dass die Interpretation von x als GBA falsch ist) und sie erlaubt ihm gleichzeitig zu vermeiden, H den GBA x tatsächlich aufzubürden, da es H selbst ist, der sich dazu entschließen muss, x als GBA zu deuten und nicht als eine eher belanglose Bemerkung. Man beachte, dass positive Höflichkeit in dem Kontinuum von GBA-Gefahren der negativen Höflichkeit aus folgenden Gründen vorausgeht: Positive Höflichkeit kompensiert dadurch, dass Hs Bedürfnis erfüllt wird, dass einige andere bestimmte seiner Bedürfnisse begehren. Um diese Strategie zu verfolgen, muss S die Annahme treffen, dass er zur Menge dieser anderen gehört. Die Effektivität seiner Kompensation ist vollkommen abhängig von Hs Zustimmung zu dieser Annahme. Negative Höflichkeit richtet sich andererseits an ein verallgemeinertes Bedürfnis nach Handlungsfreiheit. Indem er H in dieser Währung bezahlt, trifft S keine verletzlichen Annahmen und übt keine kompensierende Handlung aus, die nicht unmittelbar relevant für den Eingriff ist, den x vornimmt (und immunisiert ihn deshalb gegen Vorwürfe, er betriebe irrelevante Schmeichelei usw.).16 Warum also wählen Akteure – die Gefahr, die mit GBAs verbunden wird, vorausgesetzt – nicht die Taktik maximaler Absicherung und entscheiden sich immer für die Strategie der Nicht-Offenkundigkeit? Es muss Faktoren in den Umständen oder Erträgen geben, die einen Zug in die entgegengesetzte Richtung der Sogwirkung hervorrufen, den die GBA-Gefahr zur Folge hat. Einer davon besteht ausschließlich in praktischer, funktionaler Notwendigkeit: Die Strategie der Nicht-Offenkundigkeit führt zu Mehrdeutigkeiten und Unklarheiten und kompensierende Handlungen benötigen Zeit, Voraussicht und Anstrengung. Aber ein weiterer Faktor scheint die inhärente Spannung zwischen den negativen und positiven Gesichtsbedürfnissen eines Akteurs zu sein, da letztere sowohl erstere wie auch (typischerweise) dazu konträre Bedürfnisse enthalten. Ich kann demnach zur gleichen Zeit in Ruhe gelassen werden wollen als auch wünschen, Zeichen von Bewunderung, Sorge oder Beachtung usw. präsentiert zu bekommen – gegensätzliche Bedürfnisse, die ich dadurch versöhne, dass ich, sagen wir, zwar im Allgemeinen nicht eingeschränkt werden möchte, aber unter bestimmten Umständen dennoch begehre, dass einige bestimmte Personen mir gegenüber Achtung, Sorge usw. ausdrücken. Aus Gründen, die wir weiter oben besprochen haben, ist es sicherer, davon auszugehen, dass H seine Ruhe und Selbstbestim16 Es gibt außerdem eine natürliche Verbindung (das bedeutet, es gibt eine weitere Zweck-Mittel-Relation) zwischen der Suche nach ›Gemeinsamkeiten‹ (positiver Höflichkeit) und dem Wunsch, eine Beziehung zu entwickeln – was für H anmaßend oder sogar bedrohlich sein kann.
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mung deinen Ausdrücken von Achtung vorzieht (solange du nicht vom Gegenteil überzeugt bist). Aber am wichtigsten ist: Da es unter den Beteiligten ein gegenseitiges Wissen über die verfügbaren Strategien sowie die Beschaffenheit des Gesichts und der praktischer Vernünftigkeit gibt, werden sie für spezifische GBAs unter spezifischen Umständen bestimmte Erwartungen hinsichtlich der Einschätzungen des Risikos für das Gesicht ausbilden. Wenn ein Akteur eine Strategie, die einem hohen Risiko angemessen ist, für einen GBA mit einem niedrigeren Risiko verwendet, dann werden die anderen vermuten, dass der GBA größer gewesen sein muss, als er es tatsächlich war – obwohl es gerade die Absicht von S ist, die Bedrohung für Hs Gesicht nicht zu überdramatisieren, sondern zu minimieren. Daher wird für gewöhnlich kein Akteur eine Strategie für einen GBA verwenden, die größeren Spielraum für die Minimierung des Gesichtsrisikos erlaubt, als tatsächlich benötigt wird, um die Kooperation von H zu gewährleisten. Wir können folglich die Menge der diskreten Erträge einem Kontinuum entgegengesetzter Kräfte gegenüberstellen, das die Umstände beschreibt, unter denen eine jeweilige Strategie am vorteilhaftesten wäre. Wir möchten diesen Abschnitt in einem Diagramm (Figur 2) zusammenfassen. 4.2 DIE UMSTÄNDE: SOZIOLOGISCHE VARIABLEN. In diesem Abschnitt behaupten wir, dass die Einschätzung der Schwere eines GBA (das heißt, die Berechnungen, die jedes Mitglied tatsächlich anzustellen scheint) in vielen, wenn nicht in allen Kulturen die folgenden Faktoren beinhaltet: (i) die ›soziale Distanz‹ (D) zwischen S und H (eine symmetrische Relation) (ii) die relative ›Macht‹ (M) von S und H (eine asymmetrische Relation) (iii) die absolute Rangfolge (R) von Eingriffen in einer bestimmten Kultur Hier ist eine sofortige Klarstellung angebracht. Wir sind an D, M und R nur in dem Maße interessiert, in dem die Akteure denken, dass es gegenseitiges Wissen zwischen ihnen ist, dass diese Variablen einen bestimmten Wert haben. Daher verstehen wir sie nicht als soziologische Einschätzungen tatsächlicher Macht, Distanz usw., sondern nur als Vermutungen eines Akteurs über solche Einschätzungen, von denen geglaubt wird, dass sie gegenseitig vermutet werden (zumindest innerhalb bestimmter Grenzen). Unsere Argumentation hat eine empirische Grundlage und wir werden das Argument in der stärksten Form vorbringen, die unsere ethnographischen Daten zulassen.17
17 Wir finden die Bedeutsamkeit der drei Faktoren M, D und R durch Grimshaws unabhängige Bestimmung ganz ähnlicher Größen bestätigt (Grimshaw, Allen D., »Social interactional and sociolinguistic rules«, in: Social Forces, Heft 3, Bd. 58, 1980, S. 789-810).
minimal
maximal
Befriedigung von Hs positivem Gesicht
maximal
minimal
Befriedigung von Hs negativem Gesicht
Fig. 2: A priori Faktoren, die die Wahl der Strategie beeinflussen
minimal
maximal
Aufwandslosigkeit und Verständlichkeit
maximal
minimal
Gefahr für das Gesicht
nicht offenkundig: S nicht verantwortlich, S gibt H die Möglichkeit, einen größeren Anteil von Hs negativem Gesicht zu befriedigen als bei negativer Höflichkeit möglich wäre (Strategie 4)
negative Höflichkeit: S kann Hs negativem Gesicht etwas Tribut zollen (Strategie 3)
positive Höflichkeit: S kann Hs positivem Gesicht Tribut zollen (Strategie 2)
mit Kompensation (Erträge wie folgend):
ohne Kompensation: S ignoriert den GBA-Aspekt von x (Strategie 1)
offenkundig: Verständlichkeit, keine Manipulationen, Verantwortung
Erträge (vgl. Fig. 1)
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4.2.1 DIE SCHWERE EINES GBA BERECHNEN. Für alle GBAs gilt, dass sich die Schwere oder Gewichtigkeit eines bestimmten GBA sowohl aus dem Risiko für S’ als auch aus dem Risiko für Hs Gesicht zusammensetzt, wobei der jeweilige Anteil von der Beschaffenheit des GBA abhängt. Folglich stellen Entschuldigungen und Geständnisse grundsätzlich Bedrohungen für S’ Gesicht dar (wie wir gesehen haben) und Ratschläge und Befehle überwiegend Bedrohungen für Hs Gesicht, während Bitten und Angebote vermutlich die Gesichter beider Beteiligter bedrohen. In jedem Fall scheint das Verfahren, mit dem die Schwere eines GBA berechnet wird, neutral hinsichtlich der Frage zu sein, ob es S’ oder Hs Gesicht ist oder in welchem Maße es bedroht wird. Wir behaupten daher, dass die Schwere eines GBA sich folgendermaßen berechnet: Wx = D(S,H) + M(H,S) + Rx, wobei Wx der numerische Wert ist, der die Schwere des GBA x misst, D(S,H) der Wert, der die soziale Distanz zwischen S und H misst, M(H,S) ein Maß für die Macht, die H über S hat, und Rx schließlich ein Wert, der den Grad misst, in dem ein GBA x in einer gegebenen Kultur als Eingriff aufgefasst wird. Wir nehmen an, dass jeder dieser Werte auf einer Skala von 1 bis n gemessen werden kann, wobei n eine eher kleine Zahl darstellt.18 Unsere Formel setzt voraus, dass die Funktion, die Wx auf der Basis der drei sozialen Parameter ihren Wert zuweist, dies auf einer einfachen additiven Grundlage tut. Solch eine Voraussetzung scheint erstaunlich gut zu funktionieren, aber wir gestehen zu, dass in Wirklichkeit eine komplexere Zusammensetzung von Werten eine Rolle spielen könnte. In jedem Fall muss die Funktion den Sachverhalt erfassen, dass jede der drei Größen M, D und R zur Schwere eines GBA beitragen und somit zu der Festlegung des Grades an Höflichkeit, mit dem, sofern alles andere gleich bleibt, ein GBA kommuniziert wird. Zunächst müssen wir unsere Absicht klar stellen. Mit D und M meinen wir sehr allgemeine, transkulturelle soziale Größen, die nichtsdestotrotz vermutlich
18 Die numerischen Werte sind hier nur als Modelle relativer Messungen der Anteile von M, D und R gemeint und natürlich keinesfalls als irgendwie absolute Werte. Einige Autoren glauben, dass es in diesen Größen nur eine sehr kleine Menge von Unterscheidungen gibt, innerhalb des Umfangs von Millers ›magischer Zahl 7±2‹. Ward Goodenough schreibt daher (»Rethinking ›status‹ and ›role‹: toward a general model of the cultural organization of social relationships.«, in: S. A. Tyler (Hg.), Cognitive Anthropology, New York 1969, S. 311-330, hier S. 325): »[D]iese Gründe lassen mich zuversichtlich voraussagen, dass die Anzahl der Status-Größen in jedem beliebigen System sozialer Beziehungen sich als sehr stark begrenzt herausstellen wird und dass die Anzahl der Status, die kulturell unterschieden werden, sich bei jeder Größe als ungefähr in der Nachbarschaft von 7 oder weniger liegend herausstellen wird.« Wenn dies der Fall ist, dann sollten unsere Bereiche nur von 1 bis etwa 7 gehen.
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›emische‹ Korrelate aufweisen.19 Wir sind hier nicht daran interessiert, welche Faktoren miteinander verbunden werden, um diese komplexen Parameter zu schätzen, wobei diese Faktoren sicher kulturspezifisch sind. M(H,S) kann z. B. als groß geschätzt werden, weil H wortgewandt oder einflussreich ist, oder ein Prinz, eine Hexe, ein Schläger oder ein Priester, und D(S,H) als groß, weil H einen anderen Dialekt oder eine andere Sprache spricht oder im nächsten Tal lebt oder kein Verwandter ist. Diese Faktoren können folgendermaßen präzisiert werden: D ist eine symmetrische soziale Größe der Ähnlichkeit / Differenz, innerhalb derer S und H sich für den Zweck dieses Aktes befinden. In vielen (aber nicht allen) Fällen gründet sie auf einer Schätzung der Häufigkeit von Interaktion und auf der Art der materiellen oder immateriellen Güter (einschließlich Gesicht), die zwischen S und H ausgetauscht werden (oder zwischen Parteien, die S und H repräsentieren oder für die S und H Repräsentanten sind). Ein wichtiger Bestandteil der Einschätzungen von D wird gewöhnlich in Messungen der sozialen Distanz bestehen, die auf stabilen sozialen Zuschreibungen basieren. Soziale Nähe spiegelt sich für gewöhnlich im gegenseitigen Geben und Nehmen von positivem Gesicht. M ist eine asymmetrische soziale Größe der relativen Macht, mehr oder weniger im Weberschen Sinne verstanden. Das bedeutet, M(H,S) ist der Grad, in dem H seine eigenen Pläne und seine eigene Selbsteinschätzung (Gesicht) auf Kosten der Pläne und Selbsteinschätzung von S durchsetzen kann. Für gewöhnlich hat M zwei Quellen, die jeweils autorisiert oder nicht autorisiert sein können: materielle Kontrolle (über ökonomische Verteilung und physische Kraft) und metaphysische Kontrolle (über die Handlungen der anderen, aufgrund von metaphysischen Kräften, an die auch die anderen glauben). In den meisten Fällen stützt sich die Kraft eines Individuums auf beide Quellen oder kann als sie überlappend gedacht werden. Der archetypische Reflex eines großen M-Differentials ist vielleicht Achtung, wie unten besprochen. R ist eine kulturell und situativ definierte Rangfolge von Eingriffen nach dem Grad, in dem sie als Störung des Bedürfnisses eines Akteurs nach Selbstbestimmung oder Anerkennung aufgefasst werden (also der negativen und positiven Gesichtsbedürfnisse). Für gewöhnlich wird es vermutlich zwei solcher Skalen oder Rangfolgen geben, die emisch für solche GBAs bestimmbar sind, die sich 19 Die Bedeutung dieser Größen im Sprachgebrauch wurde zuerst von Brown und Gilman (»Die Pronomen der Macht und Solidarität«, in: Ursula Wenzel / Matthias Hartig (Hg.), Sprache-Persönlichkeit-Sozialstruktur, Hamburg 1977, S. 245-270) in ihrer Arbeit über die T/V-Distinktion in Pronomen entdeckt. Die Existenz emischer Korrelate kann darin gesehen werden, dass Informanten tatsächlich in Begriffen sozialer Distanz sprechen, sowohl vertikal als horizontal. Daher spricht man in Tamilisch auf der horizontalen sozialen Ebene von tuuram contam (wörtlich »entfernte gleiche-Art«, das heißt, entfernter Verwandter), und auf der vertikalen sozialen Ebene von uyira jaati (wörtlich »hohe Art« oder »hohe Kaste«) und von kiiRe jaati (»niedrige Art« oder »niedrige Kaste«).
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an das negative Gesicht richten: eine Rangfolge der Eingriffe im Verhältnis zu dem Aufwand (a) von Diensten (einschließlich der Bereitstellung von Zeit) und (b) von Gütern (einschließlich nicht materieller Güter wie Informationen, sowie Ausdrücken von Achtung und anderer Zuwendungen an das Gesicht). Diese intra-kulturell definierten Berechnungen der Kosten von Eingriffen in das Revier eines Individuums sind, was ihren Ranglistenplatz betrifft, im Allgemeinen nur von einer Situation zur nächsten konstant. Aber sogar der Ranglistenplatz unterliegt einer Menge von Operationen, die Eingriffe danach sortieren, ob Akteure spezifische Rechte oder Verpflichtungen haben, den Akt auszuführen, und ob sie spezifische Gründe (rituelle oder physische) dafür haben, sie nicht auszuführen, und ob Akteure dafür bekannt sind, es sogar zu genießen, auf bestimmte Weise beeinträchtigt zu werden.20 Eine Skizze der Rangfolgen von Eingriffen in das negative Gesicht für ein bestimmtes Gebiet von GBAs in einer bestimmten Kultur beinhaltet also eine komplexe Beschreibung wie die folgende: (i) (a) Rangfolge der Eingriffe, die auf Dienstleistungen abzielen (b) Rangfolge der Eingriffe, die auf Güter abzielen (ii) Funktionen von (i) (a) die Abmilderung bestimmter Eingriffe gegenüber einem gegebenen Akteur durch die Verpflichtung (gesetzlich, moralisch, aufgrund eines Arbeitsverhältnisses usw.), den Akt A auszuführen; ebenfalls durch die Freude, die der Akteur durch die Ausführung des geforderten Aktes empfindet. (b) die Verschlimmerung bestimmter Eingriffe durch Gründe, warum der Akteur Handlungen nicht ausführen sollte, und durch Gründe, warum der Akteur sie nicht (mit Leichtigkeit) ausführen könnte. Für GBAs, die sich gegen das positive Gesicht richten, beinhaltet die Rangfolge eine Abschätzung der ›Schmerz‹-Menge, die Hs Gesicht zugefügt wird, basierend auf der Diskrepanz zwischen Hs eigenem begehrten Selbstbild und jenem, das (unverhohlen oder taktisch) durch den GBA repräsentiert wird. Es wird kulturelle Rangfolgen von Aspekten des positiven Gesichts geben (z. B. ›Erfolg‹, ›Nettigkeit‹, ›Schönheit‹, ›Großzügigkeit‹), die unter bestimmten Umständen umgruppiert werden können, genau wie bei den Rangfolgen für das negative Gesicht. Schließlich gibt es persönliche (idiosynkratische) Umwertungen dieser Rangfolgen: einige Leute missbilligen bestimmte Arten von GBAs mehr als an20 Gillian Sankoff hat darauf hingewiesen (persönliche Mitteilung), dass Einschätzungen wie diese (ob ein Akteur dafür bekannt ist, es zu genießen, wenn man ihn beeinträchtigt) ein sehr komplexes Problem aufwerfen, das darin besteht, den Status ›gegenseitigen Wissens‹ in einer gegebenen Interaktion zu bestimmen. Wie können wir wissen, was gegenseitig gewusst wird, und wie wissen wir, dass wir es wissen? Obwohl wir zugeben, dass wir Schwierigkeiten mit diesem Begriff haben, glauben wir dennoch, dass eine Theorie der Interaktion ihn in den Griff bekommen muss.
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dere. Von einer Person, die geschickt ist im Einschätzen solcher Rangfolgen und der Umstände, unter denen sie sich verändern, wird man sagen, sie sei auf begnadete Weise ›taktvoll‹, ›charmant‹ oder ›graziös‹. In dem untenstehenden Argument werden wir jede der Variablen D, M und R mit einem Wert von 1 bis n verbinden, der von einem Akteur unter gegebenen Umständen zugeschrieben wird. Wir beabsichtigen keine besonders weitreichende Behauptung, die Bewertung repräsentiert einfach die Art und Weise, wie sich (z. B.) bei steigender Macht von S über H die Gewichtigkeit des GBA verringert.21 Ein interessanter Nebeneffekt dieser numerischen Darstellungsweise ist, dass sie folgende Intuition beschreiben kann: Der Risiko-Grenzwert, der die Wahl einer alternativen Strategie steuert, ist eine Konstante, unabhängig davon, wie der Wert zusammengesetzt und berechnet wird. Daher wird man dort nicht offenkundig vorgehen, wo der Eingriff zwar gering, aber die relative S-H Distanz und Hs Macht groß sind und ebenfalls dort, wo H S nahe steht und gleichgestellt ist, aber der Eingriff sehr groß ist. 4.2.2 KONTEXTABHÄNGIGKEIT VON M, D UND R. Unsere sozialen Größen M, D und R können auf verschiedene Weise betrachtet werden. Nehmen wir die Größe M, welche die Macht misst, die ein Individuum relativ zu allen anderen besitzt, als ein ausführliches Beispiel: Wir könnten argumentieren, dass ein Individuum einen absoluten Wert in dieser Dimension zugeschrieben bekommt. So könnte man einen Bankmanager hoch und einen einfachen Arbeiter niedrig einstufen. Doch wenn der Arbeiter eine Waffe zückt oder Mitglied einer Jury ist, die über den Manager zu Gericht sitzt, oder wenn er seine Gewerkschaft vertritt, kann sich das Machtverhältnis umkehren. Um die Betrachtungsweise aufrecht zu erhalten, dass es absolute (kontextfreie) Zuschreibungen von M gibt, müssten wir also kontextuelle Reklassifikationen berücksichtigen, die die Zuschreibungen an die jeweiligen Umstände anpassten.
21 Vielleicht gibt es aber eine implizite Behauptung, die lautet, dass eine Variable wie ›soziale Distanz‹ auf mindestens einer psychologischen Ebene keine binäre Wahl zwischen, sagen wir, ›Ingroup‹ und ›Outgroup‹ darstellt, obwohl das auf einer anderen Ebene begrifflich so gefasst werden mag. In dieser Auffassung werden wir durch psychologische (Rosch, Eleanor, »Human categorization«, in: Neil Warren (Hg.), Cross-Cultural Studies in Psychology, Band 1, London 1977) und linguistische Anhaltspunkte (Lakoff, George, »Hedges: a study in meaning criteria and the logic of fuzzy concepts«, in: Papers from the Eighth Regional Meeting of the Chicago Linguistic Society, Chicago 1972, S. 183-228) unterstützt. Diese legen nahe, dass Kategorisierung einen sekundären Prozess darstelle, der einer komplexen Einschätzung der Grade der Zugehörigkeit eines Objekts zu einer Menge folgt. Wir messen dieser Behauptung an dieser Stelle keine große Bedeutung zu, aber es ist wichtig zu beachten, dass unser R-Faktor eine ähnliche binäre Kategorisierung in ›freie Güter‹ und ›nicht-freie Güter‹ aufweist (zumindest in der westlichen Welt, vgl. Goffman, Erving, Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt / Main 1974, und ders., Interaktionsrituale, a.a.O.).
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Eine plausiblere Auffassung wäre, dass M einen Wert darstellt, der grundsätzlich nicht Individuen, sondern Rollen oder Rollensets beigemessen wird. Folglich wäre in dem Rollenset Manager / Angestellter oder Elternteil / Kind bereits eine asymmetrische Machtverteilung eingebaut. Wir müssten also berücksichtigen, dass es Rollen-Sets wie Verbrecher / Opfer gibt, um der Tatsache gerecht zu werden, dass Individuen feststellen können, dass die relativen M-Werte, die sie normalerweise erwarten, sich unter bestimmten Umständen umkehren. Aber erscheinen sämtliche Arten nackter Macht in Rollen-Sets gekleidet? Falls dem so ist, muss der Begriff einer sozialen Rolle abgeschwächt werden. Es gibt darüber hinaus noch ein zweites Problem mit dieser Betrachtungsweise. Individuen eignen sich verschiedene Rollen an und hohe M-Werte in einer Rolle übertragen sich in die Ausführung einer anderen. Wenn ein neuer Präsident gewählt wird, mögen seine alten Freunde noch immer seine Freunde sein, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie ihre alte Ebenbürtigkeit behalten. Eine dritte Betrachtungsweise würde so aussehen, dass die stabilen sozialen Bewertungen, sei es von Individuen oder von Rollen, nur ein Element darstellen, das in die Berechnung von M eingeht. Andere situationelle Quellen von Macht können diese stabilen sozialen Einschätzungen verfestigen, sie korrigieren oder sie sogar vollständig überschreiben. Kurzzeitige Schwächen im Aushandeln von Macht, Charakterstärke oder Allianzen können alle einen Anteil an der Berechnung von M haben. Es ist diese letzte Betrachtungsweise, die uns am adäquatesten erscheint, auch wenn es der am wenigsten definitive Vorschlag ist. Wir werden voraussetzen, dass situationsabhängige Faktoren in die Werte von M, D und R eingehen, so dass die berechneten Werte für S und H nur in einem bestimmten Kontext und für einen bestimmten GBA gelten. Wir möchten kurz die verschiedenen Arten und Weisen illustrieren, in denen jede unserer sozialen Größen in diesem Sinne kontextabhängig ist. Schauen wir uns zunächst die Distanzvariable an. Wir müssen beachten, dass zwei amerikanische Fremde, die sich bei einer zufälligen Begegnung in den Straßen von New York City mit großer Umsicht und Formalität behandelten, sich ohne weiteres mit exzessiver positiver Höflichkeit umarmen könnten, falls sie sich am Hindukusch träfen. Eine mögliche Erklärung dieses bekannten Phänomens lautet, dass allen Mitgliedern des lokalen sozialen Universums, unabhängig von ihrem Aufenthaltsort, Plätze auf der ganzen Skala sozialer Distanz zugeschrieben werden müssen. Deshalb werden den Fremden in New York hohe DWerte zugewiesen, aber am Hindukusch sorgen die noch viel fremderen Einheimischen für eine Annäherung der amerikanischen Besucher bezüglich der Größe der sozialen Distanz. Die Kontextabhängigkeit der relativen Macht M kann anhand des folgenden Falles demonstriert werden. Ein Mann einer niedrigen Kaste in Südindien, der sich einem Brahmanen nähert, weil er rituelle Dienste benötigt, wird diesem mit großer Achtung begegnen. Wenn der Brahmane den Angehörigen der niedrigen
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Kaste aber in dessen Eigenschaft als Regierungsbeamter aufsucht, wird es der Brahmane sein, der eine respektvolle oder sogar unterwürfige Haltung einnimmt.22 Betrachten wir auch die Umkehrung von Achtung in Europa, wenn ein Sprecher von seinem Spezialgebiet zu dem eines anderen wechselt. In diesen Fällen scheinen die M-Werte zu wechseln, wenn sich die Rollen von Fragesteller / Spezialist und Laie / Experte vertauschen. Wir haben einige der besonderen Arten und Weisen erwähnt, in denen sich die Rangfolge der Eingriffe kontextgebunden umkehren kann. Aber sogar wenn der Ranglistenplatz gleich bleibt, können die Werte der Eingriffe situationsabhängig noch immer variieren: Um einen Euro zu bitten bedeutet für gewöhnlich, nach mehr als nach 10 Cents zu fragen, während direkt neben einer Telefonzelle nach 10 Cents zu fragen weniger ist, als mitten auf der Straße ohne erkennbaren Grund nach 10 Cents zu fragen. Folglich geht die empfundene situative Angemessenheit einer Bitte in die Einschätzung ihres R-Werts ein. 4.2.3 M, D UND R ALS UNABHÄNGIGE VARIABLEN. Vielleicht wäre der Nachweis angebracht, dass unsere Faktoren M, D und R alle wichtig und unabhängig sind, und dass sie die einzig relevanten sind, die von Akteuren benutzt werden, um die Gefahr eines GBA einzuschätzen. Doch unsere Behauptung ist nicht, dass es sich bei ihnen um die einzigen relevanten Faktoren handelt, sondern nur, dass sie alle anderen Faktoren subsumieren (Status, Autorität, Beruf, ethnische Identität, Freundschaft, situationsabhängige Faktoren usw.), die eine grundsätzliche Wirkung auf solche Einschätzungen haben. Wir können ihre Unabhängigkeit und Relevanz allerdings – unter Bezugnahme auf unsere Formel und auf die Behauptung, dass Wx den Sprecher mit dem Hauptgrund ausstattet, zwischen den fünf Sets von Höflichkeitsstrategien zu wählen – durch die folgenden Beispiele demonstrieren. Wenn wir zunächst die Variable D betrachten, können wir zwei Fälle herausgreifen, in denen M und R konstant sind und gemäß der Einschätzung von S kleine Werte annehmen – mit anderen Worten, Fälle, in denen die relative Macht von S und H mehr oder weniger gleich und der Eingriff nicht groß ist. Solche kleinen Eingriffe findet man z. B. in Bitten um ›freie Güter‹, jene Dinge und Dienstleistungen (wie Streichhölzer, die Uhrzeit sagen oder den Weg beschreiben), die man in einer Gesellschaft vernünftigerweise voneinander erwarten kann. Wenn M und R konstant und klein gehalten werden, variiert in den folgenden zwei Sätzen nur der Ausdruck von D: (1) Entschuldigen Sie, könnten Sie mir vielleicht sagen, wie spät es ist? (2) Weißte, wie spät es ist?
Unsere Intuition sagt uns, dass (1) dort gebraucht würde, wo (in S’ Wahrnehmung) S und H sich nicht nahe stehen (beispielsweise Fremde aus verschiedenen 22 Beck, Brenda, Peasant Society in Konku, Vancouver 1972, S. 159, Anm. 34 und 35.
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Gegenden sind), und (2) dort, wo S und H einander nahe stehen (entweder sie kennen sich oder nehmen sich als sozial ›ähnlich‹ wahr). D ist also die einzige Variable in unserer Formel, die sich von (1) zu (2) verändert und dadurch Wx verringert, welches wiederum das Motiv für die spezifische sprachliche Kodierung des GBA bereitstellt. Wenden wir uns der Variable M zu und setzen voraus, dass D und R konstant sind und kleine Werte annehmen (z. B. wenn S und H einander vom Sehen her kennen und der Eingriff eine Bitte um ein freies Gut darstellt): (3) Verzeihen Sie, würde es Sie stören, wenn ich rauche? (4) Was dagegen, wenn ich rauche?
Unsere Intuition sagt uns, dass (3) von einem Angestellten zu seinem Chef gesagt werden könnte, während (4) in derselben Situation vom Chef zum Angestellten gesagt werden könnte. Hier ist also M (genauer gesagt, die Macht von H über S) die einzige Variable, die sich von (3) zu (4) verändert und dies verringert erneut Wx, das seinerseits S mit den Gründen ausstattet, für seine sprachliche Kodierung zwischen (3) und (4) zu wählen. Wir können auf ähnliche Weise zeigen, dass R eine unabhängige Variable ist. Nehmen wir an, dass M klein und D groß ist (z. B., wenn S und H einander fremd sind) und M und D konstant sind. Vergleichen wir dann: (5) Schauen Sie, es tut mir schrecklich leid, Sie damit zu belästigen, aber könnten Sie sich vorstellen, mir so viel Geld zu leihen, dass ich mir eine Fahrkarte nach Hause kaufen kann? Ich muss mein Portemonnaie verloren haben und ich weiß einfach nicht, was ich jetzt tun soll. (6) Hey, könnten Sie mir vielleicht einen Euro wechseln?
Beides könnte auf einem Bahnhof von einem frustrierten Reisenden zu einem Fremden gesagt werden, aber unsere Intuition sagt uns, dass S, wenn er (5) sagt, den GBA weitaus ernster nimmt als er es bei (6) tut. Die einzige Variable ist R und es muss an der Tatsache liegen, dass Rx in (6) niedriger ist, dass dort die für einen niedrigen Wx angemessene Sprache verwendet wird. Wir schließen daraus, dass in einer Rangfolge von Eingriffen in der angloamerikanischen Kultur die Bitte um einen größeren Geldbetrag ohne Zurückerstattung viel eher einen Eingriff darstellt, als die Bitte, in den Taschen nach ein wenig Wechselgeld zu suchen. In jedem der obigen Fälle ist die erste Möglichkeit (Beispiele 1, 3 und 5) eine sprachliche Verwirklichung der Strategie negativer Höflichkeit und die zweite Möglichkeit (2, 4 und 6) eine sprachliche Verwirklichung der Strategie positiver Höflichkeit.
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4.2.4 MEHRDEUTIGKEIT UND VERDEUTLICHUNG ALS INDIZIEN FÜR M, D UND R. Ein zentrales Argument, das wir verwenden, um zu zeigen, dass unsere Formel zumindest teilweise eine akkurate Repräsentation des kognitiven Prozesses ist, sieht wie folgt aus. Parameter wie M, D und R müssen ein gewisses Maß an kognitiver Gültigkeit aufweisen, da sie die Grundlage für eine Reihe von ›Nutzanwendungen‹ darstellen […]. Betrachten wir folgenden Sachverhalt: Unsere Formel ist ein Mittel, um die Faktoren, die einen GBA gefährlich machen, zu einem einzigen Risiko-Index Wx zusammenzusetzen. Wx gibt dann ein Motiv für die Wahl einer der fünf Strategien aus Figur 1 ab (und nicht einer der vier anderen). Daher wird die Wahl der Strategie im Allgemeinen die geschätzte Gefahr des GBA ›kodieren‹. Das ist der Grund, warum man Satzglieder wie die folgenden mit merklicher Besorgnis aufnehmen wird: (7) Es tut mir fürchterlich leid, Sie damit zu belästigen und ich würde es eigentlich auch nicht tun, aber ich sitze echt in der Patsche und deshalb habe ich mich gefragt, ob Sie nicht vielleicht …
Aber falls unsere Darstellung der Faktoren, die der Einschätzung von Wx zugrunde liegen, richtig ist, dann zeigen solche Satzglieder nicht, welche Variable (D, relative M oder R) hauptsächlich für die Schwere von x verantwortlich ist. Mit anderen Worten: Indem die Formel die Variablen in einem einzigen Index zusammenführt, verdunkelt sie die Quellen der daraus resultierenden Einschätzung. Das ist ein grundlegender Sachverhalt, mit dem sich sowohl die Nutzanwendungen […] als auch das Zurschaustellen von Achtung […] auseinandersetzen. Wenn wir Ehrerbietung als Selbst-Erniedrigung oder ›Erhöhung‹ des anderen begreifen – das heißt, als Aussagen über den Wert von M(H,S) –, können wir erkennen, dass sie die Rolle einer Verdeutlichung des Faktors ausübt, der bei der Einschätzung von Wx am einflussreichsten gewesen ist. Nehmen wir an, die Wahl einer Strategie negativer Höflichkeit (Strategie 3) bzw. einer Strategie der Nichtoffenkundigkeit (Strategie 4) ›kodiert‹ einen schweren Wx: dann signalisiert S mit der Versicherung, dass H relativ gesehen viel mächtiger ist als er selbst, dass Wx entscheidend aufgrund der M-Werte berechnet wurde – und Rx demzufolge vermutlich klein ist (denn ein größerer Wert würde S auf Strategie 5 verweisen: »Führen Sie den GBA überhaupt nicht aus!«). Deshalb sollte man mit Zeichen der Ehrerbietung die Besorgnis des Adressaten verringern können, wenn dieser einen Satz wie Beispiel 7 (siehe oben) hört. Was unsere erste Beobachtung betrifft, dass Wx aus dem Risiko x für Hs Gesicht und dem Risiko x für S’ Gesicht zusammengesetzt ist, gilt: Wenn S signalisiert, dass Hs relative Macht größer als seine eigene ist, dann behauptet er, dass Wx hauptsächlich ein Risiko für ihn selbst und weniger für H darstellt. Man beachte also, dass Sätze wie (7) weiter oben vermutlich nur dann Vorreden für größere Eingriffe darstellen, wenn D und relatives M von beiden wechselseitig
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als ziemlich klein betrachtet werden und deshalb nur Rx als verantwortlicher Faktor für den hohen Wert von Wx übrig bleibt. Die niedrigen Werte von D und M können vorausgesetzt, oder im Falle von D auch durch umgangssprachliche Ausdrücke beansprucht werden, wie z. B. (8) Schau mal / Hey / Mein Gott, Harry, es tut mir schrecklich leid, dich zu belästigen … (9) Schau mal, Harry, du bist ein Freund, daher …
Hohe M- und niedrige R-Werte können hingegen durch folgende Wendungen beansprucht werden: (10) Entschuldigen Sie, mein Herr / Herr Polizist / Eure Exzellenz, es tut mir leid, Sie zu belästigen, aber ich frage mich, ob Sie mir vielleicht einen kleinen Gefallen …
Diese Beispiele zeigen, dass Faktoren wie M, D und R bei der Berechnung von Wx beteiligt sind und, da sie durch die Berechnung zusammengefügt werden und die gewählte Strategie sie nicht direkt widerspiegelt, dass es eine Motivation dafür gibt, ihre Werte direkt zu beanspruchen. Vor dem Hintergrund unserer Behauptung, dass Wx sich aus den Risiken für Hs und den Risiken für S’ Gesicht zusammensetzt, können wir auch Vorschläge oder Warnungen wie (11), (12) oder (13) weiter unten betrachten. (11) Es ist mir nicht wichtig, aber ich denke, Sie sollten sich einmal anschauen, was Ihr Sohn in den Stachelbeersträuchern so treibt. (12) Mir soll’s egal sein, aber ich denke, Sie sollten das nächste Mal vielleicht etwas vorsichtiger sein, wenn Sie Ihr Auto neben meinem parken.
Da die eröffnenden Satzglieder jegliches Risiko für das Gesicht des Sprechenden verneinen und die gewählte Strategie nicht offenkundig ist, liegt einer hoher WxWert vor, der dies aber nur aufgrund eines Risikos für H sein kann. Daher könnte diese Art von GBAs dafür geeignet sein, große Besorgnis bei dem Adressaten auszulösen. Und eine Drohung wie (13) wiederum bezieht sich auf die Faktoren D, M und R, wobei sie mit ihrer eröffnenden Anrede einen niedrigen Wert von D und mit Wörtern wie kleinen und einfach einen niedrigen Wert von R behauptet, sodass nur ein sehr hoher relativer M-Wert von S über H – und nicht umgekehrt – übrig bleibt, um die Wahl einer Strategie der Nichtoffenkundigkeit zu erklären: (13) Schau mal, Junge, es ist nicht ratsam, einfach mit Deinen kleinen Fingern in dieser kleinen Torte herumzutatschen.
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4.3 DIE INTEGRATION DER ABSCHÄTZUNG DER ERTRÄGE UND DER GEWICHTUNG DES RISIKOS IN DER WAHL DER STRATEGIE. Wir erklären an dieser Stelle, warum ein rationaler Akteur bei ansteigendem Wx dazu neigen würde, eine höherzahlige Strategie zu wählen. Figur 2 fasst die Umstände zusammen, unter denen eine jede der Strategien – ausgehend von a priori Gründen – am angebrachtesten wäre. Wenn die Gefahr eines GBA ansteigt, sind die höherzahligen Strategien am geeignetsten dafür, das Gesichtsrisiko zu minimieren. Da es sich bei Wx um eine Abschätzung des Risikos handelt, erkennen wir unmittelbar, warum der beobachtete Faktor Wx mit der Wahl der Strategien korreliert. Wir können jetzt das a priori mit den soziologischen Fakten verbinden. Jede Modellperson mit den Eigenschaften, die wir ihr zugeschrieben haben (der Fähigkeit, mit praktischer Vernünftigkeit von den Wünschen auf die Mittel zu schließen, die diese Wünsche befriedigen und die Beibehaltung der spezifischen Bedürfnisse namens ›Gesicht‹), würde die Strategien anwenden, die unter den gegebenen Umständen die passendsten Erträge bringen (das heißt, welche die Bedürfnisse seines Gesichts am stärksten befriedigen) – genau wie in Figur 2 dargestellt. Wenn es empirisch der Fall ist, dass die Gefahr eines GBA durch Schätzung der Werte von M, D und R kalkuliert wird, dann würde unsere Modellperson, wenn sie ernsthafte Eingriffe vornähme (hohe Rx-Werte), das kleinstmögliche Risiko im Umgang mit ›Fremden‹ (hohe D-Werte) und ›dominanten Mitgliedern‹ (hohe M(H,S)-Werte) wählen. Unsere Modellperson würde nicht alle GBAs mit der Strategie des minimalen Risikos ausführen, weil damit ein größerer Aufwand und ein Verlust an Klarheit verbunden ist; weil sie die anderen dauerhaften Bedürfnisse von H – nach einem positivem Gesicht – befriedigen will; vor allem aber, weil die Wahl einer Strategie des minimalen Risikos H signalisieren würde, dass der GBA bedrohlicher ist, als er tatsächlich ist, da diese Strategie eine übermäßig hohe Bewertung von M oder D oder R oder eine Kombination davon implizieren würde. Kurz gesagt, unsere anfänglichen Annahmen, die unsere Modellperson als einen ›rationalen Akteur mit Gesicht‹ definieren, sagen voraus, dass rationale gesichtstragende Akteure sich dafür entscheiden werden, gesichtsbedrohende Akte so auszuführen, dass die Bedrohungen minimiert werden, und so bei steigender Bedrohung eine höherzahlige Strategie wählen. Dies passt gut zu der ethnographischen Beobachtung, dass sich bei steigendem Risiko, das anhand sozialer Variablen berechnet wird, eine ähnliche Wahl von Strategien beobachten lässt. Da manche dieser schwachen universalen soziologischen Generalisierungen offenbar brauchbar sind (dass die Gefahr eines GBA anhand von Faktoren wie M, D und R berechnet wird) und da unsere Modellperson eine vernünftige Näherung an universale Voraussetzungen darstellt, können wir die folgende Tatsache erklären: Ein Beobachter in einer fremden Kultur, der einen Sprecher und einen Adressaten interagieren sieht, spürt allein dadurch, dass er auf die Sprache von S’ GBA achtet, dass S (beispielsweise) kein naher Freund von H ist (oder denkt,
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dass H mächtiger ist als S oder denkt, dass x ein großer Eingriff ist). Diese Beobachtung kann man in Chiapas, in Tamilnad oder in Kalifornien machen. Aus dem Englischen übersetzt von Anne Enderwitz und Jan Wöpking
Literatur Aristoteles, Ethica Nicomachea. Die nikomachische Ethik, übers. v. Olof Gigon, neu hg. von Rainer Nickel, Düsseldorf 2001. Beck, Brenda, Peasant Society in Konku, Vancouver 1972. Brown, Roger / Albert Gilman, »Die Pronomen der Macht und Solidarität«, in: Ursula Wenzel / Matthias Hartig (Hg.), Sprache-Persönlichkeit-Sozialstruktur, Hamburg 1977, S. 245-270. Durkheim, Emile, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, übers. v. Ludwig Schmidts, Frankfurt / Main 1981. Goffman, Erving, Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt / Main 1974. — Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt / Main 1986 (engl. Original 1967). Goodenough, Ward, »Rethinking ›status‹ and ›role‹: toward a general model of the cultural organization of social relationships.«, in: S. A. Tyler (Hg.), Cognitive Anthropology, New York 1969, S. 311-330. Grice, Hubert Paul, »Intendieren, Meinen, Bedeuten«, in: Georg Meggle (Hg.), Handlung, Kommunikation, Bedeutung, Frankfurt / Main 1979, S. 2-15. — »Logik und Konversation«, in: Georg Meggle (Hg.), Handlung, Kommunikation, Bedeutung, Frankfurt / Main 1979, S. 243-265. Grimshaw, Allen D., »Social interactional and sociolinguistic rules«, in: Social Forces, Heft 3, Bd. 58, 1980, S. 789-810. Kenny, Anthony, »Practical inference«, in: Analysis, Bd. 26, 1966, S. 65-75. Labov, William, »Regeln für rituelle Beschimpfungen«, in: ders., Sprache im sozialen Kontext. Eine Auswahl von Aufsätzen, Königstein / Ts. 1978, S. 251286. Lakoff, George, »Hedges: a study in meaning criteria and the logic of fuzzy concepts«, in: Papers from the Eighth Regional Meeting of the Chicago Linguistic Society, Chicago 1972, S. 183-228. Rosch, Eleanor, »Human categorization«, in: Neil Warren (Hg.), Cross-Cultural Studies in Psychology, Band 1, London 1977.
PIERRE BOURDIEU
Die Dialektik von Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung
[…] Damit es zu einer Herausforderung kommt, muss der, der sie ausspricht, seinen Gegner für würdig erachten, sich herausfordern zu lassen, d. h. fähig zu sein, die Herausforderung anzunehmen – kurz, er muss ihn als einen an Ehre ebenbürtigen Partner anerkennen. Jemanden herausfordern heißt, ihm seine Eigenschaft als Mann zuerkennen, und darin besteht die Vorbedingung eines jeden Austauschs und der Ehrenherausforderung, insofern sie das erste Moment eines Austauschs darstellt; das heißt weiterhin, ihm die Würde des Ehrenmannes zuerkennen, da ja die Herausforderung ihrer Natur nach eine Erwiderung fordert und sich also an einen Mann wendet, der das Spiel der Ehre zu spielen und gut zu spielen weiß; das setzt zunächst einmal voraus, dass er die Spielregeln kennt, und des Weiteren, dass er die nötigen Tugenden besitzt, um sie respektieren zu können. Das Gefühl der Ebenbürtigkeit in der Ehre, das durchaus mit faktischen Ungleichheiten koexistieren kann, liegt einer großen Anzahl von Verhaltensweisen und Bräuchen zugrunde und manifestiert sich besonders darin, dass man jeglichem Angebertum großen Widerstand entgegensetzt: »Ich habe schließlich auch einen Schnurrbart«, pflegt man zu sagen.1 Der Angeber wird auf der Stelle zur Ordnung gerufen. »Nur der Müllhaufen«, sagt man, »bläht sich auf«. »Sein Kopf reicht auch nur bis zur Chechia (Kopfbedeckung).« »Der Schwarze ist schwarz: man hat ihn obendrein noch tätowiert!« »Er will wie ein Rebhuhn gehen – dabei 1 Der Schnurrbart, als deskriptiver Ausdruck verwandt, um das Alter eines Mannes anzugeben (»sein Bart sprießt, sein Schnurrbart sprießt«), ist ein Symbol der Männlichkeit und eine grundlegende Komponente des nif [vgl. Anm. 3, d. Hg.], ebenso wie der Bart, besonders in früheren Zeiten. Um eine schwere Kränkung auszudrücken, sagte man: »Er hat mir den Bart (oder den Schnurrbart) abrasiert.«
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hat er den Gang des Huhns vergessen!« Im Dorfe Tizi Hibel, in Großkabylien, hatte eine reiche Familie für die Ihren eine Grabstätte im europäischen Stil – mit Gitter, Grabstein und Inschrift – bauen lassen, damit aber die Regel missachtet, die für alle Gräber Namenlosigkeit und Gleichförmigkeit vorschreibt. Am nächsten Tag waren Gitter und Grabsteine verschwunden. Aus dem Prinzip, dass jeder den anderen als ihm an Ehre ebenbürtig anerkennt, folgt als erstes Korollar: die Herausforderung gereicht dem Herausgeforderten zur Ehre. »Der Mann, der keine Feinde hat, ist ein Esel«, sagen die Kabylen, wobei der Akzent nicht auf die Dummheit, sondern auf die Passivität des Esels gelegt wird. Das Schlimmste ist, unbemerkt zu bleiben: jemanden nicht grüßen heißt ihn wie ein Ding, ein Tier oder eine Frau behandeln. Die Herausforderung dagegen ist »ein Höhepunkt im Leben dessen, an den sie sich richtet« (El Kalaa). Sie gibt einem Gelegenheit, seine Existenz als Mann voll zu erleben, seine Eigenschaft als Mann (thirugza) den anderen und sich selbst zu beweisen. »Der vollkommene Mann« (argaz alkamel) muss immer in höchster Alarmbereitschaft stehen, bereit, die geringste Herausforderung anzunehmen. Er ist der Hüter der Ehre (amhajar), derjenige, der über seine eigene Ehre und über die Ehre seiner Gruppe wacht. Ein zweites Korollar des Hauptprinzips ist: wer einen Mann herausfordert, der unfähig ist, die Herausforderung anzunehmen, d. h. den begonnenen Austausch fortzusetzen, der entehrt sich selbst. So droht elbahadla, die einem anderen öffentlich, vor den anderen zugefügte äußerste Erniedrigung, immer auf den zurückzufallen, der sie verursacht hat, d. h. auf den amahbul, der die Spielregeln der Ehre nicht zu respektieren weiß: selbst der, der elbahadla verdient, hat eine Ehre (nif und hurma); darum fällt elbahadla von einem gewissen Grad an auf den zurück, der sie dem anderen zufügt. Deshalb hütet man sich im Allgemeinen, elbahadla auf jemanden zu werfen, und zieht es vor, dass er sich selbst durch sein Verhalten mit Schande bedeckt. Und in diesem Fall ist die Entehrung unwiderruflich. Man sagt: ibahdal imanis oder itsbahdil simanis (Aghbala). Daraus folgt, dass derjenige, der sich in günstiger Stellung befindet, seinen Vorteil nicht zu weit treiben darf und eine gewisse Mäßigung in seinen Anschuldigungen üben muss: »Es ist besser, er entblößt sich selbst, als dass ich ihn entkleide«, sagt das Sprichwort (Djemâa-Saharidj). Sein Gegner kann seinerseits immer versuchen, die Situation umzukehren, indem er ihn dazu treibt, die erlaubten Grenzen zu überschreiten, selbst aber öffentlich Abbitte tut, und zwar […] um die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen, die dann nicht anders kann, als die Maßlosigkeit des Anklägers zu missbilligen. Das dritte Korollar steht in Reziprozität zum vorhergehenden: Eine Herausforderung (oder eine Beleidigung) verdient nur dann angenommen zu werden, wenn sie von einem an Ehre ebenbürtigen Mann ausgesprochen wird – anders gesagt: damit es zu einer Herausforderung kommt, muss der, gegen den sie sich richtet, seinen Gegner für würdig erachten, ihn herauszufordern. Kommt die Herausforderung von einem Mann, der weniger Ehre besitzt, so fällt sie auf den Anmaßenden zurück. »Der kluge und kundige Mann,
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amahdhuq, gibt sich nicht mit amahbul ab.« Die kabylische Weisheit lehrt: »Nimm dem amahdhuq und gib dem amahbul« (Azerou n-chmini). Elbahadla würde auch auf den weisen Mann zurückfallen, wenn er sich darauf einließe, die unsinnige Herausforderung eines amahbul anzunehmen; indem er dagegen auf keinerlei Weise reagiert, lässt er amahbul das ganze Gewicht seiner Willkürtaten allein tragen. Ebenso würde die Unehre auch auf den zurückfallen, der sich in einer unwürdigen Rache die Hände schmutzig macht; so kann man es erklären, dass die Kabylen manchmal für eine Rachetat Mörder dingten (amekri, Plural imekryen, wörtlich: der, dessen Dienste man mietet). Die Natur der Erwiderung also ist es, die der Herausforderung (oder Beleidigung) ihren Sinn und sogar ihre Eigenschaft als Herausforderung oder Beleidigung, im Gegensatz zur bloßen Aggression, gibt. Die Kabylen verhielten sich den Schwarzen gegenüber in einer Weise, die unsere Ausführungen sehr gut illustriert. Wer auf die Beschimpfungen eines Schwarzen geantwortet oder sich mit ihm geschlagen hätte, hätte sich selbst entehrt, da der Schwarze ein Mann niedrigeren Standes und ohne Ehre war.2 Nach einer volkstümlichen Überlieferung aus dem Djurdjura geschah es einmal im Verlauf eines Stammeskrieges, dass einer der Stämme seinen Gegnern schwarze Kämpfer entgegenschickte, worauf die gegnerische Partei natürlich die Waffen streckte. Aber die Besiegten bewahrten ihre Ehre, während die Sieger sich durch ihren Sieg selbst entehrten. Man sagt manchmal auch, dass es früher genügte, sich mit einer Familie von Schwarzen zu verbinden, um der Blutrache (thamgart, Pl. thimagrat) zu entgehen. Aber dieses Verhalten war derart ehrenrührig, dass niemand einen so hohen Preis bezahlen wollte, um sein Leben zu retten. Gleichwohl erzählt eine lokale Überlieferung, dass die Fleischer aus Ighil oder Mechedal, die schwarze Familie Ath Chabane, einen Kabylen zum Vorfahren hatten, der Fleischer geworden sei, um der Blutrache zu entgehen, und dessen Nachkommen dann nur noch Schwarze hätten heiraten können (Ait Hichem). Die Spielregeln der Ehre galten auch für die Kämpfe. Jede Person war aus Solidarität dazu verpflichtet, den Verwandten gegen den Nichtverwandten, den Verbündeten gegen den Mann aus einer anderen »Partei« (suff), den Dorfbewohner, selbst wenn er einer gegnerischen Partei angehörte, gegen den Fremden, das Mitglied des Stammes gegen das Mitglied eines anderen Stammes zu schützen. Aber ein Kampf von mehreren gegen einen wurde von der Ehre untersagt und 2 Von einem Mann, der wenig auf seine Ehre bedacht ist, sagt man: »Er ist ein Neger.« Die Schwarzen haben keine Ehre und brauchen auch keine zu haben. Sie waren von allen öffentlichen Geschäften ausgeschlossen, und wenn sie auch an gewissen kollektiven Arbeiten teilnehmen konnten, so durften sie in der Versammlung doch nie das Wort ergreifen; an manchen Orten durften sie noch nicht einmal an der Versammlung teilnehmen. Man hätte sich ja mit Schande bedeckt – in den Augen der anderen Stämme –, wenn man die Ansichten eines »Negers« angehört hätte. Von der Dorfgemeinschaft abgesondert oder als Klienten der großen Familien, übten sie als »gemein« bezeichnete Berufe wie Fleischer, Fellhändler oder Wandermusikant aus (Ait Hichem).
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mit dem Verlust der Ehre bestraft; so dachte man sich tausend Vorwände und künstliche Argumente aus, um den Streit wieder aufzufrischen und ihn zu der eigenen Sache machen zu können. Die geringsten Streitigkeiten drohten daher immer, sich auszuweiten. Die Kriege zwischen den »Parteien«, jenen politischen und kriegerischen Ligen, die in Aktion traten, sowie die Ehre aller in der Ehre eines einzigen angegriffen wurde, nahmen die Form eines geordneten Wettkampfs an, der, weit davon entfernt, die gesellschaftliche Ordnung zu bedrohen, im Gegenteil zu ihrer Aufrechterhaltung beitrug, indem er dem Wettkampfgeist, dem Ehrgefühl, dem nif 3 Gelegenheit gab, sich zu manifestieren, allerdings in vorgeschriebenen und institutionalisierten Formen. Das gleiche galt für Kriege zwischen verschiedenen Stämmen. Der Kampf nahm bisweilen die Form eines regelrechten Rituals an: Man beschimpfte sich, schlug sich, und dann kamen die Vermittler, die den Kampf beendeten. Während des Kampfes feuerten die Frauen ihre Männer mit Schreien und Gesängen an, die die Ehre und die Macht der Familie priesen. Man suchte den Gegner nicht zu töten oder völlig niederzuwerfen, es ging darum, öffentlich zu zeigen, dass man die Oberhand hatte, und meistens zeigte man das durch einen symbolischen Akt: In Großkabylien war der Kampf zu Ende, heißt es, wenn eins der beiden Lager den Hauptbalken (thigejdith) und eine Steinplatte aus der thajma’th des Gegners in seinen Besitz gebracht hatte. Manchmal ging die Sache schlecht aus: sei es, dass ein unglücklich geführter Schlag den Tod eines Kämpfers herbeiführte, sei es, dass die stärkere »Partei« der anderen androhte, in ihre Häuser einzudringen, d. h. in die letzte Zufluchtsstätte der Ehre. Dann erst ergriffen die Belagerten ihr Gewehr, was übrigens meist ausreichte, um den Kampf zu beenden. Die Vermittler, Marabut und Weisen des Stammes forderten die Angreifer auf, sich zurückzuziehen, und diese zogen unter dem Schutz des gegebenen Wortes, der la’naya4, ab. Niemand hätte daran gedacht, ihnen Schaden zuzufügen; das hätte bedeutet, la’naya zu brechen, was ein äußerst ehrenrühriges Vergehen gewesen wäre (Djemâa-Saharidi). Ein Greis von den Ath Mangellat (Großkabylien) berichtet, dass große Schlachten in den Stammeskämpfen selten waren und nur stattfinden konnten, nachdem die Alten sich beratschlagt und den Tag der Aktion sowie das Angriffsziel für jedes Dorf festgelegt hatten. Jeder kämpfte für sich, aber man rief sich Ratschläge und Ermutigungen zu. Von den umliegenden Dörfern aus schaute man zu und kommentierte den Wagemut und das Geschick der Kämpfer. Wenn die stärkere Partei 3 Der nif ist seinem Wortsinn nach »die Nase« und bedeutet dann »das Ehrgefühl«, »die Selbstachtung«; in der gleichen Bedeutung sagt man auch thinzarin (oder in manchen Gegenden anzaren), Plural von thinzerth, das Nasenloch, die Nase [...]. 4 Man sieht hier die gesellschaftliche Funktion der Marabut. Sie sorgen für einen Ausgang, eine »Tür« (thabburth), wie die Kabylen sagen, und erlauben es, den Kampf zu beenden, ohne dass sich die eine oder andere Partei mit Schande und Unehre bedeckt. Durch eine Art Unredlichkeit, die zweifellos für die Aufrechterhaltung ihrer Existenz nötig ist, liefert die Gesellschaft zugleich die Imperative der Ehre und die krummen Wege, auf denen man sie umgehen kann, ohne sie, zumindest dem Schein nach, zu übertreten.
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Stellungen besetzt hatte, von denen aus sie den Gegner vernichtend schlagen konnte, oder sich eines handgreiflichen Siegessymbols bemächtigt hatte, hörte der Kampf auf, und beide Stämme gingen nach Hause. Manchmal machte man auch Gefangene; da diese unter dem Schutz (la’naya) dessen standen, der sie gefangen genommen hatte, wurden sie im Allgemeinen gut behandelt. Am Ende des Konflikts schickte man sie mit einer neuen gandura (Gewand) bekleidet nach Hause, wodurch man zeigen wollte, dass ein Toter mit seinem Leichenhemd nach Hause zurückkam. Der Kriegszustand (elfetna) konnte mehrere Jahre dauern; die Feindseligkeit war, zumindest latent, immer spürbar; der besiegte Stamm wartete nur auf seine Revanche und ergriff die erstbeste Gelegenheit, um die Herden und Hirten des Feindes zu rauben; bei jedem kleinsten Zwischenfall, am allwöchentlichen Markttag z. B., entfachte sich der Kampf aufs Neue.5 In einer solchen Atmosphäre war es also äußerst schwierig, zwischen Kriegs- und Friedenszustand zu unterscheiden. Von der Ehre besiegelt und verbürgt, beendete eine Waffenruhe zwischen Dörfern und Stämmen, ein Schutzpakt zwischen Familien jedoch jedesmal nur provisorisch den Krieg, jenes ernsteste Spiel, das die Ehre je erfand. Konnte das ökonomische Interesse eine Gelegenheit zum Krieg bieten und von ihm profitieren, so glich der Kampf eher einem institutionalisierten und wohlgeregelten Wettkampf als einem wirklichen Krieg, in dem man alle verfügbaren Mittel einsetzt, um einen völligen Sieg davonzutragen. Als Beispiel dafür sei dieser von einem alten Kabylen wiedergegebene Dialog angeführt: »Eines Tages sagt einer zu Mohand Ouqasi: ›Kommst du mit in den Krieg?‹ – ›Was macht man denn dort?‹ – ›Nun, wenn man einen Rumi (muslimische Bezeichnung für den Christen und, allgemeiner, für den Europäer) sieht, schickt man ihm eine Kugel rüber.‹ – ›Einfach so?‹ – ›Ja, wie denn sonst?‹ – ›Ich dachte, man müsste zuerst diskutieren und dann sich beschimpfen und erst dann sich schlagen!« – ›Nichts von alledem! Er schießt auf uns, und wir schießen auf ihn. Das ist alles … Na, wie ist es, kommst du mit?‹ – ›Nein … Ich kann doch nicht auf andere Leute schießen, wenn ich gar nicht zornig auf sie bin!‹«6 Aber das Ehrgefühl fand durchaus noch andere Möglichkeiten, um sich zu manifestieren: Es entfachte z. B. die Rivalität zwischen verschiedenen Dörfern, die um die höchste und schönste Moschee, um die am schönsten angelegten und am besten vor Blicken geschützten Brunnen, um die prächtigsten Feste, die saubersten Straßen usw. wetteiferten. Alle möglichen rituellen und institutionalisierten Wettkämpfe waren auch Anlass für Ehrenspiele, wie das Scheibenschießen, das bei allen freudigen Ereignissen (Geburt eines Knaben, Beschneidung, Hochzeit) stattfand. Bei einer Hochzeit gehörte es dazu, dass der aus Männern und Frauen bestehende Zug, der die Braut aus dem Nachbardorf oder -stamm abholen
5 Ein Greis aus dem Dorf Ain Aghbel, in der Gegend von Collo, gab uns gelegentlich (im Sommer 1959) eine völlig damit übereinstimmende Beschreibung.
6 »Souvenirs d’un vieux Kabyle« – »Lorsqu’on se battait en Kabylie«, in: Bulletin de l’Enseignement des Indigènes de l’Académie d’Alger, Jan.-Dez. 1934, S. 12-13.
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sollte, zunächst einmal auf die Probe gestellt wurde: zuerst die Frauen, zwei bis sechs »Botschafterinnen«, die für ihr Talent bekannt waren, dann die Männer, acht bis zwanzig gute Schützen. Die »Botschafterinnen« hatten mit den Frauen der Familie oder des Dorfes einen poetischen Wettstreit auszutragen, in dem sie natürlich das letzte Wort behalten mussten; die Familie der Braut durfte die Art und die Umstände der Prüfung wählen: z. B. Rätsel oder Dichtwettbewerbe. Die Männer maßen ihr Geschick beim Wettschießen: An dem Morgen, an dem der Zug wieder nach Hause zurückkehrte, und während die Frauen die Braut zurechtmachten und der Brautvater allgemein beglückwünscht wurde, mussten die Männer frische Eier (manchmal auch flache Steine) zerschießen, die in ziemlich großer Entfernung in eine Böschung oder einen Baumstamm gesteckt waren; wurden sie besiegt, so zog die Ehrengarde des Bräutigams mit Schande bedeckt davon, nachdem sie zu ihrer Erniedrigung unter dem Packsattel eines Esels hatte durchkriechen und ein Bußgeld zahlen müssen. Diese Spiele hatten auch eine rituelle Funktion, wovon der strenge Formalismus ihres Ablaufs sowie die bei dieser Gelegenheit vollzogenen magischen Handlungen zeugen.7 Stellt jede Beleidigung eine Herausforderung dar, so muss, wie wir noch sehen werden, eine Herausforderung nicht unbedingt Beleidigung oder Affront sein. In der Tat kann der Ehrenwettkampf eine Logik aufweisen, die der des Spiels oder der Wette, d. h. einer ritualisierten und institutionalisierten Logik, eng verwandt ist. Auf das Spiel gesetzt wird dabei das Ehrgefühl, der nif, der Wille, den anderen in einem Kampf von Mann zu Mann zu übertreffen. Die Theorie dieser Spiele definiert den guten Spieler als den, der immer voraussetzt, dass sein Gegner die beste Strategie entdecken wird, und der sich in seinem Spiel danach richtet; ebenso ist es im Spiel der Ehre, wo sowohl die Herausforderung als auch deren Erwiderung implizit voraussetzen, dass jeder Antagonist die gleiche Bereitschaft hat, das Spiel zu spielen und seine Regeln zu befolgen, und von seinem Gegner das gleiche erwartet. Die Herausforderung im eigentlichen Sinne und ebenso die Beleidigung haben die gleiche Voraussetzung wie das Schenken, nämlich die gewählte Entscheidung, ein bestimmtes Spiel nach gewissen Regeln zu spielen. Das Geschenk ist eine Herausforderung, die demjenigen, an den es gerichtet ist, Ehre macht, sein Ehrgefühl (nif) dabei aber auf die Probe stellt; daraus folgt, dass derjenige, der ein zu großes Geschenk macht und dadurch die Möglichkeit eines Gegengeschenks ausschließt, sich ebenso entehrt wie der, der einen Mann beleidigt, der 7 Die alten Zauberinnen hatten verschiedene Methoden, um die Eier zu verzaubern, damit sie »jungfräulich« blieben. Um den Zauber zu brechen, stach man eine Nadel in das Ei (vgl. Rahmani, Slimane, »Le tir à la cible et le nif en Kabylie«, in: Revue Africaine, Bd. XCIII, 1. und 2. Trimester, 1949, S. 126-132). In der Logik des rituellen Systems gehören das Gewehr, der Gewehrschuss (auch die Nadel) zur männlichen Sexualität. Alles deutet darauf hin, dass – wie in zahlreichen anderen Gesellschaften (vgl. z. B. Bateson, Gregory, Naven, Stanford 1936, S. 163) – die Nase (nif), Symbol der Virilität, auch ein Phallus-Symbol ist.
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unfähig ist, die Herausforderung zu erwidern. Will man die Spielregel einhalten, so muss man in beiden Fällen dem anderen die Gelegenheit zur Erwiderung lassen, d. h. die Herausforderung muss vernünftig sein. Gleichzeitig aber stellen Geschenk oder Herausforderung eine Provokation dar und provozieren eine Erwiderung: »Es hat ihn beschämt«, sagen, wie Marcy berichtet, die marokkanischen Berber von dem Geschenk in Form einer Herausforderung (tawsa), das große Anlässe unterstreichen sollte. Derjenige, der das Geschenk erhalten oder die Beleidigung erlitten Tat, wird dadurch in den Mechanismus des Austauschs hineingezogen, und was immer er macht, sein Verhalten stellt stets eine Erwiderung (und sei es auch eine fehlende Erwiderung) auf die Provokation dar, die in dem ursprünglichen Akt des Schenkens oder des Herausforderns liegt.8 Er hat die Wahl, den Austausch weiterzuführen oder abzubrechen (vgl. Abbildung 1). Gehorcht er seinem Ehrgefühl und wählt den Austausch, so ist seine Entscheidung identisch mit der ursprünglichen Entscheidung seines Gegners; er ist bereit, das Spiel mitzuspielen, das nun bis ins Unendliche weitergehen kann9: die Reaktion 8 Marcy, G., »Les vestiges de la parenté maternelle en droit coutumier berbère et le régime des successions touarègues«, in: Revue Africaine, Nr. 85, 1941, S. 187-211. – Eins der Paradoxa der Kommunikation liegt darin, dass man sie auch dann noch braucht, wenn man die Verweigerung jeglicher Kommunikation mitteilen will, und jede Zivilisation verfügt über eine Symbolik der Nicht-Kommunikation. Bei den Kabylen besteht diese im Wesentlichen in der Tatsache, jemandem den Rücken zu kehren – im Gegensatz dazu, jemandem Auge in Auge gegenüberzutreten (qabel), wie es der Haltung eines Ehrenmannes entspricht – oder sich zu weigern, mit dem anderen zu sprechen (»Sie sprechen nicht miteinander: sie sind wie Hund und Katze«). Um eine symbolische Aggression oder eine Provokation auszudrücken, sagt man: »Ich pisse auf dich« (a k bachegh); »ich pisse dir auf den Weg«. Von dem, der sich nicht um die Ehre seiner Familie kümmert, sagt man: »Er macht sich auf den Hemdzipfel.« Mit noch stärkerer Bedeutung sagt man auch edfi, beschmutzen (im eigentlichen Sinne: Kuhmist auf die Knospen der Pflanzen streichen, um sie vor den Tieren zu schützen). Unter Frauen wird die Herausforderung oder Beschimpfung dadurch ausgedrückt, dass man »seinen Rock hochhebt« (chemmer). 9 In Djemâa-Saharidj bewahrt man die Erinnerung an eine thamgart (Blutrache) in dem Stamm der Ath Khellili (Ath Zellal), die von ca. 1931 bis 1945 dauerte. »Und zwar begann die Sache so: Zwei Brüder hatten zwei Brüder einer anderen Familie getötet. Um vorzutäuschen, dass sie angegriffen worden seien, hatte einer der beiden Brüder den anderen verletzt. Einer wurde zu acht Jahren Gefängnis, der andere zu etwas weniger verurteilt. Als der zweite aus dem Gefängnis kam (er war der einflussreichste der Familie), drehte er sich bei jedem Schritt um, spähte unaufhörlich nach allen Seiten, war immer auf der Hut. Er wurde von einem gedungenen Mörder niedergeschossen. Ein dritter Bruder, der Soldat war, zerschmetterte einem Mitglied der anderen Familie mit einem Stein den Kopf. Beide Familien drohten sich gegenseitig auszurotten. Schon waren acht Opfer zu verzeichnen (vier davon wurden erwähnt). Die Marabut wurden beauftragt, alles zu versuchen, um den Konflikt zu schlichten. Sie hatten alles erschöpft, was sie an Beschwichtigungen hervorzubringen hatten, und der dritte Bruder, der Soldat, bestand darauf, den Kampf fortzusetzen. Man bat einen Würdenträger aus einem Nachbarstamm, der Kaid gewesen war und allgemein geachtet wurde, um seine Vermittlung. Dieser suchte den Trotzigen auf und redete ihm ins Gewissen: ›Dein Kopf steckt schon im delu (Trichter, durch den das Korn auf
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auf die Herausforderung ist ja an sich schon eine neue Herausforderung. So erzählt man, dass früher die ganze Familie, kaum dass die Rache vollzogen war, durch Freudenfeste das Ende der Unehre, thuqdha an-tsasa, begrüßte, zugleich aus Erleichterung darüber, dass einem die Beleidigung nicht mehr wie eine Krankheit »auf der Leber lag«, und aus Befriedigung darüber, den Wunsch nach Rache gestillt zu haben. Die Männer gaben Gewehrschüsse ab, die Frauen stießen ihr charakteristisches »Ju-Ju«-Geschrei aus, wodurch verkündet wurde, dass die Rache vollzogen sei; so konnte alle Welt sehen, wie eine ehrenhafte Familie ihr Ansehen unverzüglich wieder herzustellen weiß, und die feindliche Familie wurde über den Grund ihres Unglücks nicht im Zweifel gelassen. Was nützt die Rache, wenn sie anonym bleibt (Djemâa-Saharidj)? den Mühlstein fällt); bei der nächsten Gelegenheit wird dein Kopf auf den Mühlstein rutschen.‹ Da hat der junge Mann so etwas wie eine Krise erlebt; er war bereit, mit seinem Kopf zu bezahlen. Er musste feierlich erklären, dass er damit einverstanden war, der gegenseitigen Vernichtung ein Ende zu setzen. Die fatiha wurde gebetet. In Gegenwart des ganzen Dorfes wurde ein Ochse geopfert. Der junge Soldat überreichte den Marabut Geld. Und gemeinsam aßen alle den Couscous.« (Bericht eines der Protagonisten.) Wie man sieht, wird das Eingreifen der Gruppe notwendig, wenn die Untergruppen sich zu vernichten drohen. Da die Logik von Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung die unendliche Weiterführung des Konflikts nach sich ziehen würde, ist es wichtig, auf alle Fälle einen ehrenvollen Ausweg zu finden, der keine der beiden Parteien entehrt und der, ohne die Forderungen der Ehre in Frage zu stellen, sie der Umstände halber außer Kraft zu setzen erlaubt. Die Aufgabe, beide Parteien zu versöhnen, fiel immer der größeren, die antagonistischen Gruppen einschließenden Gruppe oder aber »neutralen« Gruppen zu, d. h. Fremden oder Marabutfamilien. Solange also die Auseinandersetzung im Rahmen der großen Familie bleibt, bestimmen die Weisen die jeweilige Verhaltensweise und schlichten den Konflikt. Manchmal erlegen sie dem, der ihrem Rat trotzt, eine Geldstrafe auf. Wenn der Konflikt zwischen zwei großen Familien entsteht, versuchen die anderen Familien desselben adhrum […], ihn zu schlichten. Kurz, die Logik der Versöhnung ist identisch mit der Logik des Konflikts zwischen verschiedenen Teilgruppen der Sippe, deren erstes Prinzip in dem Sprichwort enthalten ist: »Ich hasse meinen Bruder, aber ich hasse den, der ihn hasst.« Wenn eins der beiden Lager aus einer Marabutfamilie stammte, kamen fremde Marabut, um Frieden zu stiften. Die Kriege zwischen den beiden »Parteien« unterlagen der gleichen Logik wie die Rache. Das erklärt sich aus der Tatsache, dass diese ja niemals nur Sache eines Individuums ist, sondern dass der, der die Rache ausübt, immer von der Untergruppe, der er angehört, beauftragt ist. Der Konflikt konnte sich manchmal über mehrere Jahrzehnte hinziehen. »Meine Großmutter erzählte mir«, so berichtet ein Informant aus Djemâa-Saharidj, etwa 60 Jahre alt, »dass die suff ufella (die obere Partei) zweiundzwanzig Jahre außerhalb ihres Dorfes, im Tal von Hamrawa, verbracht hat. In der Tat kam es vor, dass die besiegte suff (Partei) mit Frauen und Kindern das Weite suchen musste. Im Allgemeinen war die Opposition zwischen den ›Parteien‹ so starr und streng, dass Heiraten zwischen ihnen unmöglich waren. Manchmal jedoch, um den Frieden zwischen zwei Familien oder zwei ›Parteien‹ zu besiegeln, bekräftigte man das Ende des Kampfes durch eine Heirat zwischen zwei einflussreichen Familien. In diesem Falle war das nicht entehrend. Um nach einem Konflikt den Frieden zu besiegeln, versammelten sich beide ›Parteien‹. Die Oberhäupter der beiden Lager brachten ein wenig Pulver mit; man schüttete es in Schilfrohre, die man austauschte. Dann war aman, Frieden.«
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Feststellung und Kontrolle durch die Gruppe
Von der Gruppe ausgeübter Druck
Symbolische Sanktion
keine Erwiderung Entehrung Herausforderung
Verletzung der Selbstachtung virtuelle Entehrung (passives Moment)
Erwiderung als Herausforderung (aktives Moment)
usw.
Weigerung, die Herausforderung zu erwidern Verachtung
Geschenk
Infragestellung der Selbstachtung virtuelle Entehrung (passives Moment)
kein Geschenk Entehrung Gegengeschenk
usw.
Verweigerung des Gegengeschenks Verachtung
Abb. 1: Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung.
Entscheidet man sich für die andere Seite der Alternative, so kann diese Entscheidung verschiedene und sogar gegensätzliche Bedeutungen annehmen. Der Beleidiger kann durch seine physische Kraft, durch sein Prestige oder durch das Gewicht und die Autorität der Gruppe, der er angehört, dem Beleidigten überlegen, ebenbürtig oder unterlegen sein. Die Logik der Ehre setzt zwar die Anerkennung einer idealen Gleichheit an Ehre voraus, das volkstümliche Bewusstsein jedoch kennt die faktischen Ungleichheiten sehr wohl: Dem, der ausruft: »Ich habe auch einen Schnurrbart!«, antwortet das Sprichwort: »Die Barthaare des Hasen sind nicht so lang wie die des Löwen …« Es entwickelt sich also eine unendlich subtile spontane Kasuistik, die es jetzt zu analysieren gilt. Nehmen wir zuerst den Fall an, wo der Beleidigte zumindest theoretisch die Mittel zur Erwiderung der Hausforderung hat. Erweist er sich unfähig, die Herausforderung anzunehmen (bei der es sich um ein Geschenk oder eine Beleidigung handeln kann), weicht er aus Furchtsamkeit oder Schwäche der Herausforderung aus und verzichtet auf die Möglichkeit einer Erwiderung, so entscheidet er damit gewissermaßen, sich selbst zu entehren, und diese Entehrung ist dann unwiderruflich (ibahdal imanis oder simanis). Er gibt sich geschlagen in einem Spiel, das er trotz allem hätte spielen müssen. Das Ausbleiben einer Antwort kann jedoch auch die Verweigerung einer Antwort ausdrücken: Derjenige, an den die Beleidigung gerichtet ist, weigert sich, sie als solche anzuerkennen, und lässt sie durch seine Verachtung (die er dadurch manifestieren kann, dass er die Rache gedungenen Mördern überlässt) auf ihren Urheber zurückfallen, der dadurch entehrt
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wird.10 Das gleiche gilt für das Schenken: derjenige, an den sich das Geschenk richtet, kann deutlich machen, dass er den weiteren Austausch ablehnt, entweder indem er das Geschenk zurückweist, oder indem er auf der Stelle oder nach einer bestimmten Frist ein dem Geschenk völlig identisches Gegengeschenk macht. Auch in diesem Fall ist der Austausch damit zu Ende. In dieser Logik kann allein das Überbieten des anderen, die Herausforderung als Antwort auf die Herausforderung, ausdrücken, dass man bereit ist, das Spiel nach der Regel »Herausforderung als Erwiderung der Herausforderung«, die beide immer wieder erneuert werden, zu spielen. Nehmen wir jetzt den Fall an, wo der Beleidiger indiskutabel stärker ist als der Beleidigte. Der Ehrenkodex und die öffentliche Meinung, die darüber wacht, dass er respektiert wird, fordern von dem Beleidigten nur, dass er das Spiel mitspielt: Allein der, der sich der Herausforderung nicht stellt, ist zu verurteilen. Im Übrigen braucht der Beleidigte nicht über seinen Beleidiger zu triumphieren, um in den Augen der Öffentlichkeit rehabilitiert zu werden; der Besiegte, der seine Pflicht getan hat, verdient keinen Tadel, denn mag er dem Gesetz des Kampfes nach besiegt worden sein – nach dem Gesetz der Ehre ist er der Sieger. Mehr noch, elbahadla fällt auf den Beleidiger zurück, der obendrein noch als Sieger aus der Konfrontation hervorgegangen ist, also seine Überlegenheit doppelt missbraucht hat. Der Beleidigte kann elbahadla auch auf seinen Beleidiger zurückfallen lassen, ohne die Herausforderung zu erwidern. Er braucht nur eine sehr demütige Haltung einzunehmen, die, indem sie seine Schwäche betont, die Beleidigung als willkürlichen, maßlosen, zu weit gehenden Akt erscheinen lässt. Er erinnert damit, mehr unbewusst als bewusst, an das zweite Korollar des Prinzips der Ebenbürtigkeit in der Ehre: Wer einen Mann herausfordert, der unfähig ist, die Herausforderung anzunehmen, der entehrt sich selbst. […] Diese Strategie ist natürlich nur unter der Bedingung zulässig, dass in den Augen der Gruppe kein Zweifel an der Disparität zwischen den beiden Antagonisten besteht; sie wird normalerweise von den Personen angewendet, die von der Gesellschaft als schwach anerkannt werden, von den Klienten (yadh itsumuthen, diejenigen, die sich auf jemanden stützen) oder den Mitgliedern einer kleinen Familie (ita’fanen, die Mageren, Schwachen) (Aghbala). Nehmen wir schließlich den Fall an, wo der Beleidiger dem Beleidigten unterlegen ist. Dieser kann natürlich die Herausforderung erwidern und damit das dritte Korollar des Prinzips der Ebenbürtigkeit in der Ehre außer acht lassen; missbraucht er aber seinen Vorteil, so setzt er sich der Gefahr aus, selbst die Unehre zu ernten, die sonst auf den leichtsinnigen und unbedachten Beleidiger, 10 […] »Eine Familie ist verloren«, sagt man, »wenn sie nicht mindestens einen Strolch zu den Ihren zählt.« Da der Ehrenmann sich unmöglich dazu herablassen kann, einem unwürdigen Menschen seine Beschimpfungen zurückzugeben, da er andererseits aber auch nicht vor seinen Beleidigungen sicher ist, vor allem in der Stadt, braucht er schon einen »Strolch«, damit die Sache »unter Strolchen« abgemacht wird.
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diese verachtete (amahqur) und anmaßende Person, zurückgefallen wäre. Daher ist es ratsamer für ihn, in keiner Weise auf die Herausforderung zu reagieren und zu tun, was man auf französisch »le coup du mépris« (den Verächtlichen spielen) nennen würde.11 Er soll, sagt man, den anderen »bellen lassen, bis er müde wird« und »sich weigern, mit ihm zu rivalisieren«. Da das Ausbleiben einer Erwiderung nicht seiner Feigheit oder Schwäche zugeschrieben werden kann, fällt die Unehre auf den anmaßenden Beleidiger zurück. Man könnte jeden dieser Fälle, die hier untersucht wurden, durch eine ganze Reihe von Beobachtungen oder Berichten illustrieren; das hindert aber nicht daran, dass sich für gewöhnlich die Unterschiede nie so klar voneinander abheben, so dass jeder vor der als Richter und Komplize zugleich fungierenden öffentlichen Meinung die Ambiguitat seines Verhaltens spielen lassen kann: Ob eine Herausforderung aus Furcht oder zum Zeichen der Verachtung unbeantwortet bleibt – der Abstand zwischen den beiden Motiven ist oft nur gering und Furchtsamkeit kann sich immer hinter der Maske der Verachtung verstecken. Aber jeder Kabyle ist ein Meister der Kasuistik, und das Tribunal der öffentlichen Meinung ist da, um im Einzelfall zu entscheiden. Die treibende Kraft der Ehrendialektik ist also der nif, der für die Wahl der Reaktion auf die Herausforderung ausschlaggebend ist. Tatsächlich aber – abgesehen davon, dass die kulturelle Tradition dem Einzelnen keinerlei Möglichkeit lässt, den Ehrenkodex zu umgehen – wirkt sich gerade im Moment dieser Wahl der Druck der Gruppe am stärksten aus: zuerst der Druck der Familienmitglieder, die bereit sind, seine Stelle einzunehmen, falls er versagen sollte, denn wie der Landbesitz ist die Ehre ungeteilt, und die Schande des einen fällt auch auf alle anderen; dann der Druck der Clan- oder Dorfgemeinschaft, die ohne Zögern Feigheit oder Nachsicht verurteilt. Wenn ein Mann gezwungen ist, eine Beleidigung zu rächen, vermeiden es alle um ihn herum sorgfältig, ihn daran zu erinnern. Aber jeder beobachtet ihn und versucht, seine Absichten zu erraten. Eine unbehagliche Stimmung lastet auf seiner Familie bis zu dem Tag, an dem er vor dem Familienrat, der von ihm oder von dem Ältesten einberufen wurde, seine Absichten darlegt. Meist bietet man ihm Hilfe an, entweder in Form von Geld, um einen »Mörder zu dingen«, oder indem man ihn begleiten will, wenn er sich unbedingt mit eigener Hand rächen will. Es ist üblich, dass er diese Hilfe zurückweist und nur darum bittet, dass ein anderer, falls er daran scheitert, an seiner Stelle die Rache fortsetzt. Denn die Ehre fordert, dass alle Mitglieder der Familie, wenn es sein muss, wie die Finger einer Hand, nacheinander, je nach dem 11 Auch wenn alle in diesem Aufsatz unternommenen Analysen den abendländischen Leser immer wieder auf seine eigene kulturelle Tradition verweisen, dürfen die Unterschiede doch nicht bagatellisiert werden. Darum haben wir uns zur Regel gemacht, es nach Möglichkeit zu vermeiden – außer in Fällen, wo es sich, wie hier, geradezu anbietet –, irgendwelche Vergleiche zu suggerieren, um den Leser nicht zu ethnozentrischen, auf oberflächlichen Analogien beruhenden Identifizierungen zu verleiten.
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Verwandtschaftsgrad, die Erfüllung der Rache übernehmen. Wenn der Beleidigte weniger Entschlossenheit zeigt und, ohne öffentlich auf die Rache zu verzichten, deren Ausführung immer wieder hinausschiebt, werden die Familienmitglieder schließlich ungeduldig; die weisesten unter ihnen beraten sich, und einer von ihnen muss den Säumigen an seine Pflicht erinnern, ihn förmlich auffordern und mahnen, sich nun zu rächen. Wo dieser »Ordnungsruf« wirkungslos bleibt, geht man zur Drohung über: Ein anderer werde die Rache an seiner Stelle ausüben, und er verliere dann in den Augen der Leute seine Ehre, werde aber von der feindlichen Familie darum nicht weniger für verantwortlich gehalten, also seinerseits auch von der thamgart (Blutrache) bedroht. Der Betreffende versteht dann, dass er sich den Konsequenzen sowohl seiner Feigheit als auch der Rache aussetzt, und muss sich wohl oder übel (»à reculons«, d. h. rückwärtsgehend) fügen oder aber das Exil wählen12 (Ait Hichem). Das Gefühl der Ehre wird vor den anderen gelebt. Der nif ist vor allem das, was einen dazu treibt, um jeden Preis ein gewisses Bild von sich selbst, das für die anderen bestimmt ist, zu verteidigen. Der ehrbewusste Mann (argaz el’ali) muss unablässig auf der Hut sein; er muss aufpassen, was er sagt, denn »das Wort ist wie eine Gewehrkugel: es kehrt nicht zurück«, und seine Verantwortung ist um so größer, als ja jede seiner Taten und jedes seiner Worte für seine ganze Gruppe verbindlich sind. »Die Tiere bindet man an den Pfoten, die Männer binden sich durch ihre Zunge.« Der ehrvergessene Mann dagegen ist der, von dem man sagt: »ithatsu«, »er pflegt zu vergessen«. Er vergisst sein Wort (awal), d. h. seine Verbindlichkeiten, seine Ehrenschulden, seine Pflichten. »Ein Mann von den Ilmayen sagte eines Tages, er wünschte, dass sein Hals so lang wäre wie der eines Kamels: Dann hätten seine Worte einen so langen Weg vom Herzen bis zur Zunge, dass er genügend Zeit hätte, sie sich gründlich zu überlegen.« Damit wird die Bedeutung ausgesprochen, die man dem gegebenen Wort und dem Treueschwur beimisst. »Der Mann, der vergisst«, sagt das Sprichwort, »ist kein Mann.« Er vergisst und vergisst sich selbst (ithatsu imanis); man sagt auch: »Er isst seinen Schnurrbart auf«; er vergisst seine Vorfahren, die Achtung, die er 12 Der Vetter eines allzu nachsichtigen Ehemanns (radhi, der Zustimmende, oder multa’lem, der, der weiß) sagte eines Tages zu einem anderen: »Was willst du machen, wenn du einen Bruder ohne nif hast, du kannst ihm doch keinen nif aus Ton ankleben!« Und er fuhr fort: »Wenn mein Vetter ein Krüppel wäre, würde ich ihn selbstverständlich rächen; wenn er kein Geld hätte, würde ich zahlen, um seine Ehre zu rächen. Aber er scheffelt das Geld und pfeift auf seine Ehre. Ich werde doch nicht nach Cayenne (franz. Strafkolonie) gehen oder mich für ihn ruinieren!« (El Kalaa) Die Furcht vor der französischen Justiz, die Schwächung des familiären Solidaritätsgefühls und die Berührung mit einem anderen Wertsystem haben dazu beigetragen, dass die Kabylen oft auf ihren traditionellen Ehrenkodex verzichten. In der traditionellen Gesellschaft war die Ehre ungeteilt wie der Grund und Boden. Parallel zu der Tendenz, die Ungeteiltheit des Familienbesitzes zu brechen, wie sie sich seit etwa zwanzig Jahren in immer stärkerem Maße durchsetzt, hat sich auch das Gefühl entwickelt, das die Verteidigung der Ehre als eine rein persönliche Angelegenheit ansieht.
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ihnen schuldet, und die Achtung, die er sich selber schuldet, um ihrer würdig zu sein (Les Issers). Der Mann ohne Selbstachtung (mabla el’ardh, mabla lahya, mabla erya, mabla elhachma) ist der, der sein innerstes Ich mit all seinen Affekten und Schwächen nach außen durchscheinen lässt. Der weise Mann dagegen ist der, der ein Geheimnis zu wahren versteht, der in jedem Augenblick Vorsicht und Verschwiegenheit walten lässt (amesrur, amaharuz nessar, der, der eifersüchtig das Geheimnis wahrt). Eine ständige Selbstkontrolle ist nötig, um jenes fundamentale Gebot der gesellschaftlichen Moral zu befolgen, das darin besteht, jedes Auffallen zu vermeiden, die innerste Persönlichkeit in ihrer Einmaligkeit und Besonderheit so weit wie irgend möglich unter dem Schleier des Schamgefühls und der Zurückhaltung verschwinden zu lassen. »Nur der Teufel (Chitan) sagt ›ich‹«; »nur der Teufel beginnt mit sich selbst«; »die Versammlung (thajma’th) ist die Versammlung; nur der Jude ist allein«. In all diesen Sprichwörtern kommt der gleiche Imperativ zum Ausdruck, nämlich der, der die Negierung des inneren Ich verlangt und der sowohl in der Selbstverleugnung als Voraussetzung für Solidarität und gegenseitige Hilfe als auch in Zurückhaltung und Schamgefühl, wie sie der Anstand fordert, seine Verwirklichung findet. Im Gegensatz zu dem, der seiner selbst nicht gewachsen ist und Ungeduld oder Zorn offen zeigt, ohne Sinn und Verstand daherredet oder unüberlegt lacht, in Überstürzung oder maßlose Aufregung verfällt, sich beeilt, ohne nachzudenken, tobt, schreit, brüllt (elhamaq) – kurz, im Gegensatz zu dem, der sich zu jeder Gemütsbewegung hinreißen lässt, sich selber nicht treu bleibt, es an Würde, Vornehmheit und Schamgefühl fehlen lässt, die alle drei in dem einen Wort elhachma enthalten sind, definiert sich der Ehrenmann hauptsächlich dadurch, dass er sich selber treu ist und darauf Wert legt, einem gewissen Idealbild von sich selbst würdig zu sein. Ausgeglichen, vorsichtig, zurückhaltend in seiner Sprache, wägt er stets das Für und Wider einer Sache ab (amiyaz im Gegensatz zu aferfer, der leichte Mann, oder zu achettah, der, der tanzt); er steht klar und offen für sein Wort ein und weicht seiner Verantwortung nicht mit einem »vielleicht« oder »wer weiß?« aus, denn diese Antwort ziemt den Frauen, und nur den Frauen. Er ist der, der sein Wort hält und sich selber Wort hält, von dem man sagt: »ein Mann, ein Wort« (argaz, d’wawal) (El Kalaa). Das Ehrgefühl ist das Fundament einer Moral, in der der Einzelne sich immer unter dem Blick der anderen begreift, wo der Einzelne die anderen braucht, um zu existieren, weil das Bild, das er sich von sich selbst macht, ununterscheidbar ist von dem Bild von sich, das ihm von den anderen zurückgeworfen wird. »Der Mensch [ist Mensch] durch die Menschen; [nur] Gott [ist Gott] durch sich selbst«, sagt das Sprichwort (Argaz sirgazen, Rabbi imanis). Der Ehrenmann (a ardhi) ist zugleich der tugendhafte Mann und der Mann von gutem Ruf. Die Achtbarkeit als Gegenstück zur Schande ist hauptsächlich durch ihre gesellschaftliche Dimension definiert, muss also vor aller Augen erobert und verteidigt werden; Kühnheit und Großzügigkeit (elhanna) sind die höchsten Werte, das Übel dagegen, das ist Furchtsamkeit, Schwäche, die Tatsache, eine Beleidigung hinzunehmen, ohne Genugtuung dafür zu fordern.
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Es ist also hauptsächlich der Druck der öffentlichen Meinung, der der Dynamik des Ehrenaustauschs zugrunde liegt. Wer auf die Rache verzichtet, hört für die anderen auf zu existieren. Darum hat auch der am wenigsten beherzte (ul, »das Herz«) Mann immer noch genug hachma (Scham, Schamgefühl), um sich zu rächen. Bezeichnend ist die Art, wie die Unehre formuliert wird: »Wie soll ich nur den Leuten gegenübertreten (qabel)?«, »Ich kann nicht mehr den Mund vor den Leuten aufmachen«, »Die Erde will mich nicht verschlingen«, »Meine Kleider sind mir vom Leibe geglitten«. Die Furcht vor dem Tadel der Gruppe und vor der Schande (el’ar, lahya, el’ib ula yer medden), d. h. dem negativen Gegenstück zum Ehrgefühl, ist so stark, dass sie auch den an Ehrgefühl ärmsten Mann dazu bringt, sich notgedrungen den Forderungen der Ehre zu unterwerfen.13 In einer Gruppe, wo jeder über jeden Bescheid weiß, wie das im kabylischen Dorf der Fall ist, übt die öffentliche Meinung ihre Kontrolle in jedem Augenblick aus: »Wer sagt, dass die Felder leer (verlassen) sind, der ist selber leer an Verstand.« Eingeschlossen in diesen Mikrokosmos, wo jeder jeden kennt, unwiderruflich dazu verurteilt, mit den anderen, unter dem Blick der anderen zu leben, empfindet der Einzelne eine tiefe Angst vor dem »Wort der Leute« (wal medden), das »schwer, grausam und unerbittlich« ist (Les Issers). Die allmächtige öffentliche Meinung ist es, die über Realität und Schweregrad einer Beleidigung befindet; sie ist es, die als souveräne Instanz Genugtuung verlangt: Der Dieb, der in ein bewohntes Haus eindringt, setzt sich im Gegensatz zu dem, der draußen Getreide oder Tiere stiehlt, der Blutrache aus, und zwar deshalb, weil die Leute sofort unterstellen könnten, die Ehre der Frauen sei nicht geachtet worden. Dadurch also, dass man alles, was das Verhalten der anderen betrifft, mit faszinierter Aufmerksamkeit verfolgt, gleichzeitig aber von der Angst vor ihrem Urteil verfolgt wird, wird jeder Versuch, sich von den Forderungen der Ehre zu befreien, undenkbar und verachtungswürdig. Da jeder Austausch eine mehr oder weniger verschleierte Herausforderung in sich trägt, ist die Logik von Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung nur die äußerste Grenze, zu der jede Kommunikationshandlung, ganz besonders der Austausch von Geschenken, hintendiert.14 Aber die Versuchung, den anderen herauszufordern und das letzte Wort haben zu wollen, findet ihr Gegen13 Von einem, der säumt, seine Pflicht zu erfüllen, sagt man in Béarn: »Irgendwann wird er es schon tun müssen, der Schande wegen, wenn nicht der Ehre wegen«; anders gesagt: die Furcht vor Schande wird ihn schon dazu treiben, wenn sein Sinn für Ehre es nicht vermag. 14 Wollte man Phänomene wie die Dialektik von Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung und, allgemeiner, den Austausch von Geschenken, Worten oder Frauen auf ihre Kommunikationsfunktion reduzieren – und sei es nur durch die Übertragung von Konzepten und Schemata, die aus der Linguistik oder der Kommunikationstheorie stammen –, so würde man damit die strukturelle Ambivalenz ignorieren, die sie dazu geeignet macht, eine politische Herrschaftsfunktion zu erfüllen, und zwar, indem sie und dadurch dass sie ihre Kommunikationsfunktion erfüllen.
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gewicht in der Notwendigkeit, mit den anderen zu kommunizieren. Den anderen gar zu sehr auf die Probe zu stellen bringt das Risiko mit sich, den Austausch dadurch zu unterbrechen. Die Kommunikation vollzieht sich also in dem Kompromiss zwischen Vertrag und Konflikt. Der großzügige Austausch hat immer die Tendenz, in ein gegenseitiges Überbieten an Großzügigkeit auszuarten; das großzügigste Geschenk ist zugleich auch das, das seinen Empfänger am sichersten in Unehre stürzt, indem es jede Möglichkeit eines Gegengeschenks ausschließt. So gibt die tawsa, das Geschenk, das die Gäste bei großen Familienfesten überreichen und über das öffentlich gesprochen wird, häufig Anlass dazu, einander an Ehre übertreffen zu wollen, und es kommt vor, dass eine Familie sich ruiniert, um die anderen an Großzügigkeit überbieten zu können. Um das zu verhindern, einigt man sich manchmal auf einen maximalen Wert der Geschenke. Bei einer Hochzeit oder einer Beschneidung legen die Familien ebenfalls ihre Ehre darein, das Fest so prächtig wie möglich zu gestalten, selbst wenn sie sich dabei ruinieren, und zwar ganz besonders in dem Fall, wo man seine Tochter außerhalb des Dorfes verheiratet. Dieser Wetteifer ist sogar unter den Gliedern ein und derselben Familie spürbar, z. B. zwischen den Frauen (Schwägerinnen, Mutter) bei der Hochzeit eines Mädchens. Mir wurde berichtet, dass 1938 ein Mann aus dem Stamm der Ath-Waglis bei der ersten Niederkunft seiner Tochter mehr als 3000 Francs an Geschenken ausgegeben hat: 1400 Eier, 15 Hühner, für 300 Francs Hammelfleisch, 20 kg Pökelfleisch, 20 kg Fett, Öl, Kaffee, Grieß, 25 Kleidungsstücke usw. Ein anderer Mann aus demselben Stamm hat, um seiner Tochter ebenfalls bei ihrer ersten Niederkunft Ehre zu machen, das einzige Feld verkauft, das ihm noch verblieben war. Trotzdem ist man sich im Allgemeinen darin einig, das »Ehrgefühl des Teufels«, nif nechitan, oder das unvernünftige Ehrgefühl, thihuzzith, zu verurteilen, das dazu führt, sich bei jeder Kleinigkeit gekränkt oder angegriffen zu fühlen, seine Ehre für Lappalien aufs Spiel zu setzen und ohne Sinn für Maß und Grenzen den anderen überbieten zu wollen. »Niemand setzt sich der Schande aus«, sagt man, »wenn er dabei verlieren soll«, d. h. wenn er sich weigert, sich allein der Eitelkeit wegen zu ruinieren (urits-sathhi had galmadharas). Aber wenn auch der Austausch, weil er das Ehrgefühl aufs Spiel setzt, immer die Virtualität eines Konflikts in sich trägt, so bewahrt doch der Ehrenkonflikt immer noch seinen Charakter des Austauschs, was dadurch bezeugt wird, dass man sehr klar zwischen dem Fremden und dem Feind unterscheidet. Dadurch, dass das Ehrgefühl dem Willen, den anderen zu beherrschen, gern den Vortritt lässt vor dem Willen, mit ihm in Kommunikation zu bleiben, schließt es immer das Risiko eines Abbruchs der Beziehungen in sich; gleichzeitig aber treibt das Ehrgefühl auch wieder dazu, den Austausch fortzusetzen, denn es gilt ja, das letzte Wort zu behalten. Wenn die Beleidigung nicht unbedingt Entehrung bedeutet, so deshalb, weil sie die Möglichkeit einer Erwiderung offenlässt, die durch die Tat der Beleidigung selbst anerkannt und dem anderen zugesprochen wird. Aber die Unehre, die im Stadium des Virtuellen bleibt, solange die Möglichkeit zu einer Erwiderung
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besteht, wird mehr und mehr zur Realität, je länger die Rache auf sich warten lässt. Daher fordert die Ehre, den Abstand zwischen Beleidigung und Vergeltung so kurz wie möglich zu halten. Eine große Familie hat in der Tat Arme genug, und auch genügend Mut, um sich nicht mit einer langen Wartezeit abzufinden; bekannt für ihren nif, für ihre Empfindlichkeit in Ehrensachen und ihre Entschlossenheit, ist sie sogar vor Beleidigungen geschützt, denn durch die Drohung, die sie unaufhörlich auf ihren eventuellen Angreifern lasten lässt, erscheint sie den anderen fähig, auf eine Beleidigung zu reagieren, ohne auch nur eine Sekunde zu verlieren. Um die Achtung auszudrücken, die man vor einer guten Familie empfindet, sagt man, dass sie »bei offener Tür schlafen kann« oder dass »ihre Frauen allein, mit einer goldenen Krone auf dem Kopf spazieren gehen können, ohne dass jemand daran dächte, sie anzugreifen«. Der Ehrenmann, der, von dem man sagt, dass er seine »Rolle als Mann« (thirugza) erfüllt, ist immer auf der Hut; dadurch ist er auch vor dem unerwartetsten Angriff sicher, und »selbst wenn er nicht zu Hause ist, ist jemand in seinem Haus« (El Kalaa). Aber ganz so einfach liegen die Dinge wiederum nicht. So wird berichtet, dass Djeha, eine legendäre Gestalt, auf die Frage, wann er seinen Vater gerächt habe, zur Antwort gab: »nach hundert Jahren«. Und man erzählt auch die Geschichte vom Löwen, der immer gemessenen Schritts einhergeht: »Ich weiß nicht, wo meine Beute ist«, sagt er. »Ist sie vor mir, so werde ich sie eines Tages schon fangen; ist sie hinter mir, so wird sie mich schon einholen.« Obwohl jede Ehrenangelegenheit, wenn sie von außen und als fait accompli, d. h. vom Standpunkt des fremden Beobachters aus betrachtet wird, wie eine geregelte und absolut notwendige Folge von unerlässlichen Handlungen erscheint und darum wie ein Ritual beschrieben werden kann, bleibt doch die Tatsache, dass jedes ihrer Momente, deren Notwendigkeit sich post festum enthüllt, in objektivem Sinne Resultat einer Wahl und Ausdruck einer Strategie ist. Was man das Ehrgefühl nennt, ist nichts anderes als die kultivierte Disposition, der Habitus, der jedes Individuum in die Lage versetzt, von einer kleinen Anzahl implizit vorhandener Prinzipien aus alle die Verhaltensformen, und nur diese, zu erzeugen, die den Regeln der Logik von Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung entsprechen, und zwar dank eines solchen Erfindungsreichtums, wie ihn der stereotype Ablauf eines Rituals keineswegs erfordern würde. Mit anderen Worten: Wenn man auch für jede Wahl zumindest retrospektiv eine Erklärung geben kann, so bedeutet das jedoch nicht, dass jede Verhaltensform voll und ganz voraussehbar wäre, so wie bei einem Ritus die einzelnen Handlungen sich in die völlig stereotypen Sequenzen einfügen müssen. Dies gilt ebenso für den Beobachter wie für die Individuen selbst, die in der relativen Unvorhersehbarkeit der möglichen Erwiderungen Gelegenheit finden, ihre Strategien ins Werk zu setzen. Aber sogar in den am stärksten ritualisierten Austauschbeziehungen, wo alle Handlungsmomente und deren Ablauf völlig im Voraus festgelegt sind, kann eine Konfrontation zwischen verschiedenen Strategien durchaus zulässig sein, und zwar in dem Maße, wie die Individuen über das Intervall zwischen den obligaten Momenten selbst verfügen,
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also auf den Gegner einwirken können, indem sie gegebenenfalls das Tempo des Austauschs zu ihren Gunsten modulieren. Es wurde schon gezeigt, dass die Tatsache, ein Geschenk auf der Stelle zu erwidern, d. h. das Intervall zwischen Geschenk und Gegengeschenk abzuschaffen, darauf hinausläuft, den Austausch abzubrechen. Ebenso muss man die Lehre ernstnehmen, die in der Parabel vom Löwen und der von Djeha enthalten ist: die perfekte Beherrschung der Modelle dafür, wie man die Modelle befolgt, die die gesellschaftliche Vorbildlichkeit ausmacht, manifestiert sich in dem Spiel mit der Zeit, das den ritualisierten Austausch in eine Konfrontation zwischen verschiedenen Strategien verwandelt. Bei einer Heirat z. B. muss das Familienoberhaupt, bei dem man um die Hand des Mädchens anhält, dann auf der Stelle antworten, wenn er die Heirat ablehnt; beabsichtigt er, den Antrag anzunehmen, so zögert er seine Antwort fast immer hinaus; dadurch versetzt er sich in die Lage, so lange wie möglich den konjunkturellen Vorteil zu perpetuieren (den ihm seine Stellung als »umworbene Partei« verschafft), der oft gleichzeitig mit einer strukturellen Unterlegenheit auftritt (da die umworbene Familie oft von niedrigerem Rang ist als die werbende) und der sich konkret in dem anfänglichen, aber progressiv auf die andere Seite umschlagenden Missverhältnis in den zwischen beiden Familien ausgetauschten Geschenken äußert. Ebenso kann der gewiefte Stratege ein Kapital von ihm zugefügten Provokationen oder vorläufig eingestellten Konflikten und den Möglichkeiten zur Rache, zur Erwiderung oder zu neuen Konflikten, die dieses Kapital enthält, in ein Machtmittel verwandeln, indem er sich die Initiative vorbehält, die Feindseligkeiten wieder aufzunehmen oder sogar zu beenden.
Literatur Bateson, Gregory, Naven, Stanford 1936. Marcy, G., »Les vestiges de la parenté maternelle en droit coutumier berbère et le régime des successions touarègues«, in: Revue Africaine, Nr. 85, 1941, S. 187-211. Rahmani, Slimane, »Le tir à la cible et le nif en Kabylie«, in: Revue Africaine, Bd. XCIII, 1. und 2. Trimester, 1949, S. 126-132. »Souvenirs d’un vieux Kabyle« – »Lorsqu’on se battait en Kabylie«, in: Bulletin de l’Enseignement des Indigènes de l’Académie d’Alger, Jan.-Dez. 1934, S. 12-13
RAE LANGTON
Sprechakte und unsprechbare Akte
Pornografie ist Sprechen. So erklärten die Gerichte, die sie unter den Schutz des Ersten Verfassungszusatzes, also des Rechts auf Meinungsfreiheit, stellten. Pornografie ist ein Akt. So erklärte Catharine MacKinnon in ihrem Plädoyer für ein gesetzliches Verbot der Pornografie.1 Nimmt man beides zusammen, so ergibt sich: Pornografie ist eine Form des Sprechakts. Im Folgenden werde ich dieser These nachgehen. Wenn Pornografie Sprechen ist, was sagt sie? Wenn Pornografie eine Form des Handelns ist, was tut sie? Richter Frank Easterbrook akzeptierte in seiner Antwort auf diese Frage die Prämissen eines gesetzlichen Verbots der Pornografie: Pornografie ist ein Sprechen, das Subordination darstellt. Oder, in den Wor-
Mein besonderer Dank für Anmerkungen zu Entwürfen und früheren Fassungen dieses Artikels gilt Susan Brison, Mark Hannam, Sally Haslanger, Richard Holton, Jennifer Hornsby, Lloyd Humberstone, Philip Pettit, Sarah Richmond, Frederick Schauer, Michael Smith, Natalie Stoljar und den Herausgebern von Philosophy & Public Affairs. 1 Z. B. in MacKinnon, Catharine, »Linda’s Life and Andrea’s Work«, in: dies., Feminism Unmodified, Cambridge / MA, 1987, S. 130. Nach der Definition von MacKinnon, an die ich mich in diesem Artikel halte, ist Pornografie nicht mit Obszönität gleichzusetzen. Siehe MacKinnon, »Not a moral issue«, ebd.; und Michelman, Frank, »Conceptions of Democracy in American Constitutional Argument: The Case of Pornography Regulation«, in: Tennessee Law Review, Bd. 56, 1989, S. 294, Anm. 8. MacKinnon verfasste einen Gesetzentwurf, der in Indianapolis eingereicht, jedoch angefochten und abgelehnt wurde. Siehe unter Aktenzeichen American Booksellers, Inc. v. Hudnut, 598 F. Supp. 1327 (S. D. Ind. 1984). Der Entwurf sah vor, den Handel mit Pornografie nicht nur zu verbieten, sondern auch unter Strafe zu stellen. An dieser Stelle werde ich mich allerdings mit diesem zugegebenermaßen wichtigen Punkt des Entwurfs nicht befassen.
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ten des feministischen Gesetzentwurfs, der in Indianapolis eingereicht wurde: Sie zeigt Frauen »als Sexualobjekte, Gegenstände oder Ware und damit als entmenschlicht; als Schmerz, Demütigung oder Vergewaltigung genießend; aufgehängt, aufgeschnitten, verstümmelt, geschlagen oder verwundet; in einer Haltung sexueller Erniedrigung, Unterwürfigkeit oder Zurschaustellung; reduziert auf Körperteile, von Gegenständen oder Tieren penetriert oder in Szenarien der Erniedrigung, Demütigung, Folter; als schmutzig oder minderwertig; blutend, mit blauen Flecken oder verletzt, und zwar in einem Kontext, der diese Zustände sexualisiert.«2
Pornografie ist eine Handlung, die bestimmte Wirkungen hat. Darstellungen von Subordination, so Easterbrock, »perpetuieren tendenziell Subordination. Die untergeordnete Stellung der Frau wiederum führt zu Kränkungen und niedrigerer Entlohnung bei der Arbeit, Beleidigungen und Verletzungen zu Hause, Körperverletzungen und Vergewaltigungen auf der Straße«. Doch folgerte er, dass der Gesetzentwurf nicht verfassungsgemäß sei, denn »dies zeigt nur die Macht der Pornografie als Sprechen.«3 Nach dieser Auffassung zeigt Pornografie Subordination und ruft sie hervor. Bei näherem Hinsehen offenbart uns der Gesetzentwurf aber, dass MacKinnon noch weiter geht. Vor der Beschreibung dessen, was Pornografie zeigt, heißt es: »Wir definieren Pornografie als die ausdrücklich sexuelle Darstellung der Subordination von Frauen in Bildern und Worten.« Außer dass sie, wie auch Easterbrook zugibt, Subordination darstellt, ist Pornografie an und für sich eine Form der Subordination.4 Dieser Aspekt des Gesetzentwurfes rief den Zorn von Richtern und Philosophen hervor. Mit der Behauptung, Pornografie selbst sei Subordination, begingen die Autorinnen des Entwurfs einen Betrug und griffen zu »einem Taschenspielertrick«, meinte Richter Baker in dem Verfahren vor dem Distriktgericht.5 Sie 2 MacKinnon, Catharine, »Francis Biddle’s Sister«, in: dies., Feminism Unmodified, a.a.O., S. 176. 3 American Booksellers, Inc. v. Hudnut, 771 F. 2d 329 (7th Cir. 1985). 4 Zu Easterbrooks Versäumnis siehe Vadas, Melinda, »A First Look at the Pornography / Civil Rights Ordinance: Could Pornography Be the Subordination of Women?«, in: Journal of Philosophy, Bd. 84, 1987, S. 487-511. Ähnlich wie ich ist auch Vadas daran interessiert, die Behauptung, Pornografie sei Subordination, gegen den Vorwurf der Begriffsverwirrung zu verteidigen, wobei sie eine interessante Analyse vorlegt, die sich von der hier dargestellten unterscheidet. Ihrer Ansicht nach lassen sich bestimmte Prädikate auf Darstellungen anwenden, weil sie auf das Dargestellte zutreffen. »Subordiniert« ist nach ihrer Auffassung ein solches Prädikat, deshalb können Darstellungen von Subordination selbst Subordination sein. Ich glaube nicht, dass es sich so einfach verhält: Dass eine Äußerung Subordination zum Ausdruck bringt, ist weder ein notwendiger noch ein hinreichender Grund dafür, dass sie selbst subordinierend wirkt. Die Gründe hierfür werden bald klar werden. 5 Hudnut, 598 F. Supp. 1316 (1984).
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machten sich der Begriffsverwirrung schuldig, und ihre Behauptung sei »philosophisch unhaltbar«, erklärte William Parent im Journal of Philosophy.6 Es mag schön und gut sein, darüber zu reden, was Pornografie zeigt; und es mag schön und gut sein, über die Auswirkungen der Pornografie auf das Leben von Frauen zu reden. Es mag schön und gut sein, mit Easterbrook zu sagen, dass Pornografie Subordination darstellt und verursacht. Solche Behauptungen sind vielleicht entmutigend, und sie mögen empirisch falsch sein, aber sie sind zumindest nicht unsinnig. MacKinnon aber geht darüber hinaus: Sie wendet sich nicht nur den Inhalten des pornografischen Sprechens zu, auch nicht nur dessen Wirkungen, sondern den Handlungen, die durch Pornografie konstituiert werden. Solche Behauptungen lassen vielleicht bei jenen eine Saite anklingen, die sich noch an eine ältere, weniger hitzige Debatte in der Sprachphilosophie und an einen Philosophen erinnern, dessen Überlegungen davon ausgingen, dass »etwas sagen etwas tun heißt«. In Zur Theorie der Sprechakte moniert J. L. Austin die beständige Tendenz in der Philosophie, etwas zu übersehen, das von großer Wichtigkeit sei – über eine Tendenz, den Inhalt einer sprachlichen Äußerung und seine Wirkung auf die Hörer zu betrachten, jedoch die Handlung, die dadurch konstituiert wird, außer Acht zu lassen.7 Austin forderte die Philosophen auf, den Blick auf »eine Äußerung in einer Sprechsituation« zu richten statt auf isoliert betrachtete Äußerungen, auf Sätze, die einen Sachverhalt – ob wahr oder falsch – beschreiben.8 Wörter, so Austin, werden verwendet, um alle möglichen Handlungen zu vollziehen – Warnen, Versprechen, Heiraten und ähnliches –, die die Philosophie bislang unbekümmert übersehen habe. Etwas sagen bedeutet in der Regel, eine Reihe verschiedener Dinge zu tun. Ein Beispiel von Austin:9 Zwei Männer stehen neben einer Frau. Der erste wendet sich an den zweiten und sagt: »Schieß sie nieder!« Der zweite Mann sieht entsetzt auf, hebt eine Pistole und erschießt die Frau. Sie beobachten die Szene und beschreiben sie später so: Der erste Mann sagte zu dem zweiten: »Schieß sie nieder!«, wobei er mit »schießen« das Schießen mit einer Pistole meinte und mit »sie« die Frau neben den beiden Männern. Diese Beschreibung erfasst grob den Inhalt dessen, was gesagt wurde, nämlich das, was Austin den lokutionären Akt nannte. Einen lokutionären Akt vollziehen heißt einen Satz äußern, der, nach tra6 Parent, Wiliam A., »A Second Look at Pornography and the Subordination of Women«, in: Journal of Philosophy, Bd. 87, 1990, S. 205-211. Parents Artikel ist eine Antwort auf Vadas. Durch folgenden bemerkenswerten Fehlschluss kommt er zu einem anderen Ergebnis, nämlich dass Pornografie moralisch verwerflich sei (S. 211): »Böse « bedeutet »verdorben«. »Verderben« bedeutet »erniedrigen«. »Erniedrigen« bedeutet »verächtlich machen«. Pornografie macht Frauen verächtlich, ergo ist Pornografie schlecht. Was tatsächlich aus Parents lexikographischen Prämissen folgt, ist natürlich, dass Frauen böse sind. Frauen werden (durch Pornografie) verächtlich gemacht, also erniedrigt, also verdorben, also böse. 7 Austin, John Langshaw, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972. 8 Ebd., S. 158. 9 Ebd., S. 119. (Meine Version ist ein wenig erweitert.)
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ditioneller Auffassung, eine bestimmte »Bedeutung« hat.10 Doch das war nicht alles, deshalb beschreiben Sie die Szene erneut: Dadurch, dass der erste Mann sagte »Schieß sie nieder!«, löste er bei dem zweiten Entsetzen aus. Diese Schilderung erfasst etwas von der Wirkung dessen, was gesagt wurde, von dem, was Austin den perlokutionären Akt nannte. Aber auch damit haben Sie noch nicht alles erfasst. Sie haben außer Acht gelassen, was der erste Mann tat, als er diesen Satz aussprach. Also fahren Sie fort: Indem er sagte: »Schieß sie nieder!«, drängte der erste Mann den zweiten, die Frau zu erschießen. Diese Beschreibung erfasst die Handlung, die durch die Äußerung selbst konstituiert wird, das, was Austin den illokutionären Akt nannte. Die weiter oben aufgeführten Handlungen – Warnen, Versprechen, Heiraten – sind illokutionäre Akte. Austin kritisierte, dass dieser letztere Typ des Sprechens häufig ignoriert wurde: »Die Philosophie hat ständig dazu geneigt, [Illokutionen] zugunsten eines der beiden anderen oder zugunsten beider zu übergehen.«11 Pornografie wird nicht immer mit Worten vollzogen. Aber auch Easterbrooks Beschreibung ist ein Beispiel für die Tendenz, die Austin beklagte. Pornografie stellt Subordination dar und ruft sie hervor. Damit sind – in der Austinschen Begrifflichkeit – ihre lokutionären und perlokutionären Dimensionen benannt. Es fehlt jedoch eine Beschreibung der Handlungen, die durch pornografische Äußerungen konstituiert werden, der, wiederum in der Terminologie Austins, illokutionären Kraft der Pornografie. Diese Beschreibung nun liefert MacKinnon, wenn sie sagt, dass Pornografie ein Akt der Subordination ist. Wie Austin versucht MacKinnon die Dichotomie zwischen Wort und Handlung aufzuheben. »Was ist es, wenn man zu einem scharfen Wachhund sagt: ›Fass!‹ – ein Wort oder eine Handlung?«, fragt sie an einer Stelle, die Austins Beispiel anklingen lässt.12 Daher wurde MacKinnon so verstanden, dass sie behaupte, Pornografie sei kein Sprechen, das unter dem Schutz des Gesetzes (der Meinungsfreiheit) stehe, sondern ein Verhalten, für das dieses nicht gelte,13 und man könnte meinen, Austins Theorie stütze diesen Gedanken. Wenn Pornografie eine Form des Handelns ist und Handeln ein Verhalten, dann steht, so könnte man behaupten, Pornografie nicht unter dem Schutz der Meinungsfreiheit. Doch diese Interpretation von MacKinnon ist falsch. »Um es deutlich zu sagen«, heißt es bei ihr, »ich behaupte nicht, dass Pornografie ein ›Verhalten‹ im dogmatischen Sinne des ersten Verfassungszusatzes ist.«14 Aber auch unabhängig davon würde dies nicht durch Austin gestützt, weil seine Theorie uns keine Handhabe gibt, Verhalten und Sprechen voneinander zu scheiden. Im Gesetz mag es eine Trennungslinie zwischen Sprechen und Verhalten geben, in der Philosophie Austins hingegen nicht. Aus seiner Sicht sind alle Sprechakte Handlungen. Wenn man 10 11 12 13 14
Ebd., S. 118. Ebd., S. 120. MacKinnon, »Not a Moral Issue«, a.a.O., S. 156. Zum Beispiel von Barker, 598 F. Supp. 1316, 1330 (1984). MacKinnon, »Francis Biddle’s Sister«, a.a.O., S. 300, Anm. 155.
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sagt, dass Pornografie ein Akt ist, heißt das nicht, dass Pornografie Verhalten ist – daran ist nicht zu rütteln. Der entscheidende Punkt ist, dass Handlungen, egal ob Sprechen oder Verhalten, unter dem Schutz des Gesetzes stehen können oder auch nicht.15 Ob sie gesetzlich geschützt werden, hängt in der Regel davon ab, welche Wirkungen sie haben und welche Art von Handlungen sie sind. Nach Ansicht von MacKinnon ist Pornografie Sprechen und kein Verhalten, aber ein Sprechen, das aus denselben Gründen nicht unter dem Schutz des Gesetzes stehen sollte wie manche andere Handlungen: wegen der Art und der Wirkung dieser Handlungen. Austin und MacKinnon sind sich erstaunlich nahe, und ich greife in diesem Aufsatz auf ersteren zurück, um letztere zu erläutern und zu verteidigen. Dabei beschäftige ich mich mit zwei zentralen Behauptungen. Da ist zunächst die bereits angesprochene These, dass Pornografie Frauen subordiniert. Wenn Austin Recht hat, ist der Vorwurf des Betrugs und der Begriffsverwirrung gegen diese Behauptung ungerechtfertigt. Zweitens befasse ich mich mit der Behauptung, dass Pornografie Frauen mundtot macht16 – ein Gedanke, der gelegentlich gegen das traditionelle Argument ins Feld geführt wird, Pornografie falle unter die »Meinungsfreiheit«. »Die Meinungsfreiheit der Männer lässt die Meinungsfreiheit der Frauen verstummen. Es geht um dasselbe gesellschaftliche Ziel, nur dass es andere Personen betrifft«, so MacKinnon. Ihrer Meinung nach werden die feministischen Gesetzesentwürfe gegen die Pornografie von denselben Werten getragen wie der erste Verfassungszusatz.17 Auch diese Behauptung wurde als problematisch angesehen: Ihre Kritiker bezeichnen sie als »gefährliche Verwirrungsstiftung«, und selbst diejenigen, die mit diesem Gedanken sympathisieren, äußern Vorbehalte und räumen ein, dass das Verstummen, von dem hier die Rede sei, nur »symbolisch«, »metaphorisch« sei.18 Im Anschluss an Austin können wir 15 Expressives Verhalten ist geschützt, verschiedene Formen des Sprechens – Verleumdung beispielsweise – sind es nicht. Siehe Tribe, Laurence, American Constitutional Law, 2. Aufl., Mineola / NY 1988, Kap. 12. Tribe meint außerdem: »Das Problem bei der Unterscheidung zwischen Sprechen und Verhalten ist, dass sie einen weniger bestimmten Gehalt hat, als manchmal angenommen wird […] Es […] überrascht nicht, dass der Oberste Gerichtshof nie eine Grundlage für diese Unterscheidung geliefert hat; er könnte es auch nicht, so dass eine bestimmte Verhaltensweise fast zufällig an den Haken ›Sprechen‹ oder an den Haken ›Verhalten‹ gehängt wird, wie man es gerade für passend hält«. (S. 827) Die Sprechakttheorie liefert einige Gründe für die Unsicherheit dieser Unterscheidung, aber darum geht es mir hier nicht. 16 Dieser Gedanke wird von MacKinnon und anderen an vielen Stellen dargelegt, siehe z. B. MacKinnon, »Sexual Politics of the First Amendment«, in: dies., Feminism Unmodified, a.a.O., S. 209. 17 MacKinnon, »Not a Moral Issue«, a.a.O., S. 156 (Ich glaube nicht, dass es eine große Rolle spielt, wenn MacKinnon hier die Meinungsfreiheit als gesellschaftliches Ziel und nicht als Recht sieht.). 18 Die Zensur im Namen der Freiheit zu rechtfertigen, ist »eine gefährliche Verwirrungsstiftung«; der Gedanke, dass Pornografie stumm macht, ist »Verwirrungsstiftung«; siehe Dworkin, Ronald, »Two Concepts of Liberty«, in: Isaiah Berlin: A Ce-
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jedoch zeigen, dass das Verstummen nicht metaphorisch, sondern wörtlich zu verstehen ist und sich diese zweite feministische Behauptung genauso rechtfertigen lässt wie die erste. Die Behauptung, dass Pornografie Frauen subordiniert, bedeutet, wie auch immer man sie interpretieren mag, dass die Pornografie zum niedrigen gesellschaftlichen Status der Frau beiträgt. So gesehen macht der Gesetzentwurf einen offensichtlichen Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit geltend: zwischen der Freiheit der Männer, Pornografie zu produzieren und zu konsumieren, und den Rechten der Frauen auf einen gleichberechtigten gesellschaftlichen Status. So sahen auch die Gerichte den Fall. Er stellte für sie einen Konflikt zwischen dem Recht auf Meinungsfreiheit, wie sie im Ersten Verfassungszusatz garantiert wird, und dem Recht auf Gleichheit, garantiert im 14. Verfassungszusatz, dar. Die Behauptung, Pornografie bringe Frauen zum Schweigen, fördert einen anderen Konflikt zu Tage, nämlich einen innerhalb der Freiheitsgarantie selbst. So gesehen macht der Gesetzentwurf einen offensichtlichen Konflikt zwischen der Freiheit der Männer, Pornografie zu produzieren und zu konsumieren, und der Freiheit der Frauen, zu sprechen, geltend. Zumindest ein wichtiger liberaler Theoretiker vertritt die Ansicht, nur eine Argumentation auf der Grundlage dieser zweiten These habe Aussicht auf Erfolg. Allein die Ausarbeitung der These, dass Pornografie Frauen verstummen lasse, biete Anlass zu der »Hoffnung, innerhalb der Verfassungslogik, die der Redefreiheit einen herausragenden Platz einräumt, eine Zensur rechtfertigen zu können«, schreibt Ronald Dworkin in einem kürzlich erschienen Aufsatz.19 Er kommt allerdings zu dem Schluss, dass das Argument des Verstummenlassens nicht zum Erfolg führt. Auch liegt Dworkin mit seiner Vorraussetzung falsch, da es andere Möglichkeiten gibt, Zensur zu rechtfertigen. Ja, Dworkins eigene Theorie liefert eine hervorragende Unterstützung solcher Argumente, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe.20 Ich glaube aber, dass auch seine Schlussfolgerung falsch ist, und lebration, hg. v. Edna und Avishai Margalit, London 1991, S. 103 und 108. Dass die Behauptung, Pornografie mache stumm, »irgendwie symbolisch« und »metaphorisch« sei, meint Michelman, »Conceptions of Democracy«, a.a.O., S. 294, Anm. 8 (Dennoch ist aus seiner Sicht diese Bildlichkeit kein Hindernis für das Argument, Pornografie mache stumm). Dworkins Argumentation wird ausführlicher kritisiert von Hornsby, Jennifer, »Disempowered Speech«, in: Philosophical Topics, Bd. 23, 1995, S. 127-147, und von mir selbst in »Pornography: a Liberal’s Unfinished Business«, in: Canadian Journal of Law and Jurisprudence, Special Issue on Legal Theory, 1999, S. 109-133. 19 Dworkin, »Two Concepts«, a.a.O., S. 108. 20 »Whose Right? Ronald Dworkin, Women, and Pornographers«, in: Philosophy & Public Affairs, Heft 4 (Herbst), Bd. 19, 1990, S. 311-359. Dort entwickle ich aus der theoretischen Perspektive Dworkins zwei voneinander unabhängige Argumentationslinien für die Behauptung, dass Pornografie der Zensur unterworfen werden sollte. Mein erstes Argument ist ein prinzipielles: Die Tatsache, dass die Vorlieben der Pornografen nach Dworkins Auffassung Vorlieben für das Verhalten anderer (externe Vorlieben) sind, zeigt, dass Frauen das Recht hätten, gegen eine Duldungs-
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obwohl sich dieser Aufsatz nicht unmittelbar mit seinen Thesen auseinandersetzt, werde ich im Schlussabschnitt einige Hinweise darauf geben. Mein Artikel besteht aus zwei Teilen, die sich jeweils einem der beiden Gedanken widmen. Wenn wir pornografische Bilder und Texte als Sprechakte betrachten, sind wir in der Lage, auf sie die Austinschen Unterscheidungen zwischen lokutionären, illokutionären und perlokutionären Akten anzuwenden. Einige zentrale feministische Thesen erscheinen im Licht der illokutionären Aspekte des pornografischen Sprechens als durchaus plausibel. Im ersten Teil meines Aufsatzes werde ich die Behauptung, Pornografie sei Subordination, entwickeln und rechtfertigen, im zweiten Teil, wiederum auf Austin gestützt, die Behauptung, Pornografie mache Frauen stumm. Die Beziehung zwischen Sprechen und Macht ist ein großes Thema, das einigen Wagemut erfordert, aber auch ohne gleich allzu tief auf theoretisches Gelände vorzustoßen, können wir mit der folgenden einfachen Feststellung beginnen. Die Möglichkeit, bestimmte Sprechakte zu vollziehen, kann ein Kennzeichen politischer Macht sein. Drastisch ausgedrückt: Menschen, die Macht besitzen, können im Allgemeinen mehr tun und mehr sagen als Menschen ohne Macht, und was sie sagen, hat mehr Gewicht. Wer Macht besitzt, kann mit seinen Worten mehr tun. Dies ist für das Problem des Mundtotmachens von großer Bedeutung. Wer Macht besitzt, kann manchmal auch das Sprechen der Machtlosen zum Verstummen bringen. Zum Beispiel, indem er die Machtlosen daran hindert, überhaupt zu sprechen, indem er sie knebelt, bedroht, sie zu Einzelhaft verurteilt. Aber es gibt auch noch eine andere, weniger dramatische, dennoch gleichermaßen wirksame Methode: Man lässt sie sprechen. Man lässt sie sagen, was sie sagen wollen, und zu wem sie wollen, verhindert jedoch, dass dieses Sprechen als Handlung gilt – genauer gesagt, als die Handlung, die beabsichtigt war. Diese Form des Verstummenlassens werde ich untersuchen, und mit ihr hat sich auch Austin beschäftigt, ohne auf ihre politische Bedeutung einzugehen. Manche Sprechakte sind unter bestimmten Umständen für Frauen unsprechbar: Selbst wenn die richtigen Worte geäußert werden, gelten diese Äußerungen nicht als die Handlungen, die beabsichtigt waren. Wenn sich zeigen lässt, dass Pornografie zu dieser Form des Verstummens beiträgt, können wir auch die zweite feministische These besser verstehen. Meine Aufgabe ist daher teils diagnostischer, teils polemischer Art. Einiges von dem, was ich darlegen möchte, ist genauso tastend und sondierend gesagt wie Austins Thesen. Einiges aber auch nicht. Darüber hinaus mag der / die LeserIn eklatante Leerstellen finden. Und abgesehen von der Pornografie mögen auch andere Sprechakte Frauen subordinieren und mundtot machen, was wichtige Fragen aufwirft, deren Beantwortung jedoch über dieses Projekt hinausgeht.
politik vorzugehen. Mein zweites Argument ist ein politisches: Eine Verbotspolitik könnte auf gesellschaftliche Gleichheit zielen, wogegen Pornografen keinen Rechtsanspruch geltend machen könnten.
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Aber ich werde eine Analyse der Thesen über Subordination und Verstummenlassen vornehmen, die, falls sie richtig ist, ein Argument bestätigt, das als philosophisch inkohärent abgetan wurde. Aus welchen Gründen auch immer man MacKinnons Schlussfolgerungen in Zweifel ziehen mag, philosophische Unhaltbarkeit kann es nicht sein. Die Erklärung, warum pornografische Äußerungen Sprechakte sind, wird zur Bestätigung der These beitragen, dass Frauen durch Pornografie subordiniert werden. Wenn diese erste These plausibel gemacht werden kann, heißt das, dass Pornografie zu einem Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit führt. Wenn die zweite These plausibel gemacht werden kann, heißt das, dass Pornografie zu einem Konflikt zwischen der Freiheit der einen und der Freiheit der anderen führt, insbesondere zwischen der Meinungsfreiheit der Männer und der der Frauen. Wenn Pornografie diese Konflikte aufwirft, wie sollte sie dann vom Gesetz behandelt werden? Nach Ansicht MacKinnons ist ein Sprechen, das Frauen subordiniert und stumm macht, ein Sprechen, das nicht unter dem Schutz des Gesetzes stehen sollte. Wer MacKinnons Ansicht teilt, kann in meinen Ausführungen ein offenes Plädoyer für Zensur sehen. Andere werden jedoch eine Diskrepanz sehen zwischen der Schlussfolgerung, diese feministischen Thesen seien haltbar, und der Schlussfolgerung, es bedürfe der Zensur. Solch eine Diskrepanz ist durchaus möglich, und wenn sie vorhanden ist, werde ich sie an dieser Stelle nicht mit eigenen Argumenten zu überbrücken versuchen. Der / die LeserIn muss sich mit weniger bescheiden: Die beiden miteinander verknüpften feministischen Behauptungen sind zweifellos schlüssig und, ein paar nicht ganz unplausible empirische Annahmen vorausgesetzt, wohl auch richtig.
I. »Pornografie subordiniert« Sprechakte Bevor wir untersuchen, ob pornografische Sprechakte subordinieren können, wollen wir uns zunächst Sprechakte genauer ansehen und fragen, ob sie überhaupt subordinieren können. Austins Augenmerk galt vor allem den illokutionären Sprechakten, und ein Großteil seines Buches Zur Theorie der Sprechakte ist der Frage gewidmet, was das Besondere an ihnen ist. Ein illokutionärer Akt ist eine Handlung, die einfach vollzogen wird, indem man etwas sagt. Ein perlokutionärer Akt ist die Handlung, die dadurch vollzogen wird, dass man etwas sagt – eine Äußerung, die unter dem Aspekt ihrer Wirkungen betrachtet wird, zum Beispiel die Wirkung auf die HörerInnen. Austin verwandte große Mühe darauf, Illokutionen von Perlokutionen zu unterscheiden und fand in den beiden Wendungen »indem man etwas sagt« und »dadurch, dass man etwas sagt« typische – wenn auch keinesfalls unfehlbare – Unterscheidungsmerkmale. »Indem ich sagte ›Ja, ich will‹, habe ich geheiratet; dadurch, dass ich sagte ›Ja, ich will‹, habe ich meine Mutter sehr ent-
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täuscht.« »Ja, ich will« im richtigen Kontext zu sagen, bedeutet – anders gesagt: konstituiert – Heiraten; das ist der vollzogene illukutionäre Akt. Er bedeutet nicht, die Mutter unglücklich zu machen, selbst wenn er diese Wirkung hat; das ist vielmehr der vollzogene perlokutionäre Akt. Der illokutionäre Akt steht mit den anderen in bestimmten Beziehungen. Er kann als Verwendung der Lokution mit dem Ziel betrachtet werden, eine Handlung zu vollziehen. In dem weiter oben genannten Beispiel verwendete der erste Mann die Lokution »Schieß sie nieder!«, um den zweiten zum Schießen zu drängen, obwohl er dieselbe Lokution auch hätte verwenden können, um eine andere Handlung zu vollziehen: Um dem zweiten den Befehl zum Schießen zu erteilen oder vielleicht, um ihm dazu zu raten. Ein illokutionärer Akt kann als Ziel eine bestimmte perlokutionäre Wirkung haben. Als der erste Mann den zweiten drängte zu schießen, wollte er ihn vielleicht nur dazu überreden. Austins Auffassung, dass illokutionäre Akte etwas Besonderes sind, scheint zutreffend zu sein. Es handelt sich um Äußerungen, deren Kraft sich nicht in dem semantischen Inhalt des geäußerten Satzes – der Lokution – erschöpft, aber auch nicht in den Wirkungen, die durch die Äußerung erzielt werden – der Perlokution. Was macht diese wichtige dritte Dimension aus? Austins Antwort lautet, dass eine Äußerung eine bestimmte illokutionäre Kraft hat, wenn sie bestimmte Gelingensbedingungen erfüllt. Diese werden in der Regel von geschriebenen oder ungeschriebenen Konventionen bestimmt und setzen meist voraus, dass der / die SprecherIn etwas mit seinen / ihren Worten beabsichtigt. Sprechakte sind eine Unterart von Handlungen im Allgemeinen, daher gibt es immer eine Beschreibung des Sprechakts als intentionalem Tun, das nicht bloß aus Lautäußerungen und Lippenbewegungen besteht.21 Häufig spielt die Absicht, eine bestimmte Illokution zu vollziehen, eine wichtige Rolle bei der Entscheidung, welche Illokution tatsächlich geäußert wird. Ob der / die SprecherIn mit der Aussage »Ja, ich will« heiratet, hängt von den Gelingensbedingungen des Heiratens ab, die voraussetzen, dass der / die SprecherIn die Absicht hat zu heiraten, und dass die Äußerung im Verlauf eines bestimmten konventionellen Vorgangs mit den geeigneten TeilnehmerInnen stattfindet (einem erwachsenen heterosexuellen Paar, das nicht verheiratet ist, und mit einem Priester oder Standesbeamten). Außerdem muss der / die SprecherIn das Verständnis sicherstellen: das heißt, der / die HörerIn muss erkennen, dass eine bestimmte Illokution geäußert wird. So jedenfalls sieht es in der Regel aus. 21 Siehe Hornsby, Jennifer, »Philosophers and Feminists on Language Use«, in: Cogito, Bd. 2, 1988, S. 13-15. Zu einer ähnlichen Herangehensweise an Fragen, die in diesem Artikel behandelt werden, siehe Hornsbys hervorragenden Aufsatz »Illocution and Its Significance«, in: Savas L. Tsohatzidis (Hg.), Foundations of Speech Act Theory: Philosophical and Linguistic Perspectives, London, New York 1994. Hornsby entwickelt eine intelligente, aber etwas andere Sicht von Illokutionen, mit der sie erklärt, wie Frauen mundtot gemacht werden können. Sie setzt sich mit denselben Beispielen der Ablehnung und Zeugenschaft auseinander, wie sie hier später untersucht werden.
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Aber Sprechakte besitzen dasselbe Fehlerpotential wie jede andere Handlung.22 Was wir tun und was wir damit beabsichtigen, ist nicht immer dasselbe. Sprechakte können auch verunglücken. Manchmal vollzieht man eine Illokution, die man nicht beabsichtigt hat. Der erste Mann aus dem früheren Beispiel hat vielleicht dem zweiten befohlen, die Frau zu erschießen, obwohl er dies nicht beabsichtigt hatte, sondern ihm, sagen wir, nur dazu raten wollte. »Von ihm habe ich das als Befehl aufgefasst«, hätte der zweite Mann sagen können.23 Das liegt daran, dass die Absicht, eine bestimmte Illokution zu äußern, nicht immer eine notwendige Gelingensbedingung für diese Illokution ist. Hier sichert der Kontext das Verständnis, das wiederum die geäußerte Illokution bestimmt. Außerdem gelingt es einem manchmal nicht, die beabsichtigte Illokution durchzuführen. So könnte die Heirats-Illokution zum Beispiel misslingen, wenn die Heiratszeremonie nicht vollständig durchgeführt würde, der Zelebrant ein Schauspieler in der Verkleidung eines Priesters oder (so Austins Beispiel) der angehende Ehemann ein Esel wäre.24 Dies liegt daran, dass die Absicht, eine bestimmte Illokution zu äußern, nicht die einzige Gelingensbedingung für diese Illokution ist. Diese Art von Unglücksfällen wird uns im letzten Abschnitt beschäftigen.
Subordinierende Sprechakte Wenden wir uns nun der zweiten vorbereitenden Aufgabe zu: der Frage, ob Sprechakte im Prinzip subordinieren können. Austin siedelte seine Theorie vom Sprechen und Handeln im Reich des sozialen Handelns an, und dieses hat wiederum eine politische Dimension. Menschen vermögen mit Worten alle möglichen Dinge zu tun. Sie können einander nicht nur Ratschläge erteilen, warnen und heiraten, sondern einander auch verletzen und unterdrücken. Auch wenn es in einem Kinderlied heißt »Stock und Stein bricht mein Bein, doch Worte tun nicht weh« – Beschimpfungen können wehtun. Gerade deshalb singen die Kinder ja diesen Vers. Und deshalb betrachtet das Gesetz manches Sprechen auch als Beleidigung. Worte können tatsächlich Knochen brechen. Die Worte »Schieß sie nieder!«, zumindest als perlokutionärer Akt, können dies. (»Dadurch, dass er ›Schieß sie nieder‹ sagte, wurde ihr der Schädel zersplittert.«) Sprechen vermag aber noch mehr, als Knochen zu zertrümmern. Es kann den gesellschaftlichen Status eines Menschen bestimmen, wie auch Easterbrook zugab, als er diesen
22 Austin, Zur Theorie der Sprechakte, a.a.O., S. 40 ff. 23 Ebd., S.96. (In diesem Abschnitt wird »befehlen« im Gegensatz zu »fordern«, und nicht zu »raten« wie in meinem Beispiel, diskutiert.) Diese Interpretation steht im Widerspruch zu einigen Auffassungen der Sprechakttheorie, nicht jedoch zu der Austins, wie ich glaube. Siehe zum Beispiel ebd., S. 132 ff., wo das Beispiel »befehlen« im Gegensatz zu »überreden« lautet. Die Gemeinsamkeit dieses Beispiels mit denen, die Austin als Unglücksfälle bezeichnet, besteht in der Kluft zwischen der intendierten und der tatsächlichen Illokution. 24 Ebd., S. 45.
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Gedanken unter perlokutionären Gesichtspunkten interpretierte: Dadurch, dass Pornografen Subordination darstellen, perpetuieren sie diese. Wenn MacKinnon sagt, dass Sprechen subordinieren kann, will sie damit aber mehr sagen, nämlich dass Pornografie die illokutionäre Kraft der Subordination besitzen kann und nicht nur einfach Subordination als deren lokutionären Inhalt oder deren perlokutionäre Wirkung: Indem Pornografen Subordination darstellen, subordinieren sie Frauen. Genau hier soll der »Taschenspielertrick« liegen.25 Diesen Vorwurf müssen wir näher untersuchen. Kann ein Sprechakt ein illokutionärer Akt der Subordination sein? Ich denke, diese Frage ist zu bejahen. Man nehme nur einmal folgende Äußerung: »Schwarze dürfen nicht wählen.« Stellen Sie sich weiter vor, dieser Satz werde vom Gesetzgeber in Pretoria im Zusammenhang eines Gesetzgebungsverfahrens zur Festigung der Apartheid geäußert. Es handelt sich um einen lokutionären Akt: mit »Schwarze« sind die Schwarzen gemeint. Es ist ein perlokutionärer Akt: Er wird, unter anderem, zur Folge haben, dass die Schwarzen den Wahlurnen fernbleiben. Doch vor allem ist es ein illokutionärer Akt: Er macht es zur Tatsache, dass es Schwarzen nicht erlaubt ist, zu wählen. Er – das liegt auf der Hand – subordiniert die Schwarzen. Dasselbe gilt für die Äußerung »Nur für Weiße.«26 Auch dies ist ein lokutionärer Akt: Mit »Weiße« sind die Weißen gemeint. Die Äußerung hat wichtige perlokutionäre Folgen: Schwarze werden von weißen Gebieten ferngehalten, dort werden nur Weiße anzutreffen sein, und Rassismus wird perpetuiert. Es ist – so könnte man sagen – ein perlokutionärer Akt der Subordination. Aber es ist auch ein illokutionärer Akt: Er verbietet Schwarzen den Zutritt, heißt Weiße willkommen und erlaubt Weißen, sich diskriminierend gegenüber Schwarzen zu verhalten. Er subordiniert Schwarze.27 Wenn dies zutrifft, dann ist es kein Taschenspielertrick, keine philosophisch unhaltbare Behauptung, dass ein bestimmtes Sprechen ein illokutionärer Akt der Subordination sein kann. Aufgrund von was subordinieren die Sprechakte der Apartheid die Schwarzen? Wodurch werden sie zu illokutionären Akten der Subordination? Zumindest kraft der folgenden drei Elemente, denke ich. Sie klassifizieren Schwarze als minderwertige Menschen. Sie legitimieren die Diskriminierung durch Weiße. Und schließlich berauben sie Schwarze wichtiger Möglichkeiten, zum Beispiel der, bestimmte Bereiche zu betreten oder zu wählen. Hier stimme ich weitgehend mit 25 So der Vorwurf des Richters Barker, siehe 598 F. Supp. 1316 (1984). 26 MacKinnon benutzt dieses Beispiel, um zu betonen, dass Worte »fester Bestandteil einer Gesellschaft der Rassentrennung und Gewalt« sein können. Siehe MacKinnon, »On Collaboration«, in: dies., Feminism Unmodified, a.a.O., S. 202. 27 Hier weiche ich von Vadas (»A First Look«) ab, denn das Schild »Nur für Weiße« subordiniert nicht kraft der Darstellung von Subordination. Diese Äußerung zeigt nicht Subordination, genausowenig wie »Ja, ich will« eine Heirat zeigt. Daher kann etwas subordinieren, ohne Subordination darzustellen. Auch das Gegenteil kann der Fall sein. Etwas kann Subordination darstellen, ohne dass es selbst ein Akt der Subordination ist (zum Beispiel eine Dokumentation). Weiter unten werde ich kurz einige Beispiele dazu erläutern.
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MacKinnons Auffassung überein, dass jemanden zu subordinieren bedeutet, ihm eine unterlegene Position zuzuweisen und ihn seiner Macht zu berauben, ihn zu erniedrigen oder zu verunglimpfen.28 Bevor ich fortfahre, will ich noch kurz auf zwei Einwände eingehen. Der erste betrifft die Legitimierung. Es gilt, zwischen dem illokutionären Akt, etwas zu legitimieren, und dem perlokutionären Akt, Menschen glauben zu machen, etwas sei legitim, zu unterscheiden. Zweifellos ist ein Effekt dessen, dass etwas legitimiert wird, die Tatsache, dass Menschen glauben, es sei legitim. Aber sie glauben dies, weil es legitimiert wurde, nicht umgekehrt. Menschen glauben, dass diskriminierendes Verhalten legitim ist, weil es in diesem bestimmten Bereich des Handelns legitimiert wurde (auch wenn es eine Außensicht geben kann, nach der diskriminierendes Verhalten niemals wirklich legitim ist).29 Zweitens will ich nicht sagen, dass jedes Klassifizieren, Legitimieren oder Entmächtigen ein Akt der Subordination ist. Jemand kann eine Sportlerin als die schnellste klassifizieren, den Bierkonsum auf dem Gelände des Gymnasiums legitimieren oder einer Autofahrerin ihren Führerschein wegnehmen. All dies sind vielleicht illokutionäre Akte, die Menschen klassifizieren, etwas legitimieren oder Menschen bestimmter Möglichkeiten berauben, und dennoch handelt es sich nicht um Akte der Subordination. Doch im Gegensatz dazu sind die Sprechakte der Apartheid Akte der Subordination: Sie klassifizieren Schwarze ungerechtfertigt als minderwertig; sie legitimieren die Diskriminierung durch Weiße; und sie berauben Schwarze ungerechtfertigt bestimmter wichtiger Möglichkeiten. Solche Sprechakte gehören zu einer wichtigen Klasse von Illokutionen, die Austin am Ende seines Werks behandelt. Einige Illokutionen sind mit Bestimmtheit geäußerte Feststellungen über Tatsachen oder Werte. Klassifizieren, Werten und Positionieren sind Illokutionen dieser Art, die Austin als verdiktive Illokutionen bezeichnet. Ein Beispiel: Bei einem Tennismatch ruft eine Schiedsrichterin: »Fehler«. Damit bringt sie ihre Meinung zum Ausdruck, beschreibt die Welt, wie sie sie sieht. Aber sie tut damit noch viel mehr: Sie spricht ein Urteil. Ein Zuschauer sagt: »Fehler«. Er bringt seine Meinung zum Ausdruck. Er beschreibt die Welt, wie er sie sieht. Seine Aussage hat denselben Inhalt wie die der 28 MacKinnon, »Francis Biddle’s Sister«, a.a.O., S. 176. 29 Man betrachte ein Beispiel, das ich von David Lewis entlehne. Ein Herr sagt zu einem Sklaven: »Jetzt ist es erlaubt, die weiße Linie zu überschreiten.« Indem er das sagt, unternimmt der Herr einen bestimmten Schritt, vollzieht einen bestimmten illokutionären Akt: Er bewirkt, dass es für den Sklaven legitim ist, die weiße Linie zu überschreiten. Die Grenzen zwischen dem, was legitim und nicht legitim ist, verschieben sich sofort. Auch die Auffassungen des Sklaven davon, was legitim ist, verändern sich – das heißt, wir sprechen von den Wirkungen der Handlung, von ihrer perlokutionären Dimension. Auch hier mag es einen Standpunkt geben, von dem aus man sagen könnte, das es nie wirklich illegitim für den Sklaven war, die Grenze zu überschreiten, aber das hieße, sich außerhalb der Grenzen des fraglichen Sprachspiels zu begeben. Siehe Lewis, David, »Scorekeeping in a Language Game«, in: Philosophical Papers, Bd. 1, Oxford 1983, S. 233-249.
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Schiedsrichterin: Sie vollziehen denselben lokutionären Akt. Aber die Äußerung des Zuschauers verändert den Spielstand nicht, die der Schiedsrichterin sehr wohl. Das staatliche Klassifizieren von Angehörigen einer bestimmten ethnischen Gruppe als minderwertig ist eher mit dem Sprechen der Schiedsrichterin als dem des Zuschauers zu vergleichen. Die autoritative Rolle der Sprecherin stattet die Äußerung mit einer Kraft aus, die nicht vorhanden wäre, wenn dieselbe Äußerung von jemandem gemacht worden wäre, der diese Rolle nicht besetzt. Eng verwandt mit verdiktiven Illokutionen sind Illokutionen, die Menschen Macht und Rechte verleihen oder Menschen Macht und Rechte absprechen. Befehlen, Erlauben, Verbieten, Autorisieren, Gesetze erlassen und einen Angestellten kündigen sind solche Illokutionen, die Austin als exerzitive bezeichnet.30 Die Sprechakte der Apartheid, die diskriminierendes Verhalten legitimieren und Schwarzen unrechtmäßig bestimmte Rechte absprechen, haben eine exerzitive Kraft, die nicht vorhanden wäre, wenn sie von SprecherInnen geäußert würden, die nicht die entsprechende Autorität besitzen. Kraft dieser besonderen verdiktiven und exerzitiven Dimensionen also subordinieren die Sprechakte der Apartheid. Damit ist bereits etwas Wichtiges gesagt über jede Behauptung, dass gewisse Arten des Sprechens subordinieren. Denn das wesentliche Merkmal verdiktiver und exerzitiver Illokutionen ist ihre Abhängigkeit von der Autorität des Sprechers / der Sprecherin, weshalb wir sie auch unter dem Sammelbegriff autoritative Illokutionen zusammenfassen können: Handlungen, zu deren Gelingensbedingungen gehört, dass der / die SprecherIn in einem wichtigen Bereich Autorität besitzt. Manchmal ist diese Autorität eine offiziell anerkannte. Dies gilt beispielsweise für die Äußerungen des Gesetzgebers, der die Apartheidsgesetze erlässt, oder für die Schiedsrichterin, die einen Fehler feststellt. Aber das Prinzip, dass die illokutionäre Kraft je nach der Autorität des Sprechers / der Sprecherin variiert, hat einen allgemeineren Charakter. Wenn ein Sklave zu seinem Herrn sagt: »Gibt es etwas zu essen?«, hat diese Äußerung vielleicht die Kraft eines Flehens. Wenn der Herr aber zu dem Sklaven sagt: »Gibt es etwas zu essen?«, hat diese Äußerung womöglich die exerzitive Kraft eines Befehls. Und der Bereich der Autorität kann in Größe und Umfang variieren. Der Bereich der Autorität eines Gesetzgebers ist sehr groß – er umfasst die gesamte Bevölkerung eines Landes, die gegenwärtige wie die zukünftige. Aber es gibt auch kleinere Autoritätsbereiche. Eine Mutter, die ihrem Kind verbietet, barfuß durch den Schnee zu laufen, besitzt Autorität im begrenzten Bereich der Familie. Ein Patient, der einem Arzt verbietet, ihm lebenserhaltende Medikamente zu geben, besitzt Autorität im sehr begrenzten Bereich seines eigenen Lebens, seines eigenen Körpers. In all diesen Fällen hängt die vollzogene 30 Austins Auseinandersetzung mit verdiktiven und exerzitiven Illokutionen findet sich in der zwölften Vorlesung, insbesondere in den Abschnitten 1 und 2, S. 170176. Meine Beschreibung von exerzitiven Illokutionen gilt bei ihm nur für eine Untermenge dieser Klasse (S. 170-171).
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Handlung von der Autorität des Sprechers / der Sprecherin im relevanten Bereich ab. Subordinierende Sprechakte sind autoritative Sprechakte, und wenn wir eine Klasse von Sprechakten als subordinierendes Sprechen bezeichnen, müssen die SprecherInnen Autorität besitzen. Dies gilt es bei dem nun Folgenden im Hinterkopf zu behalten.
Pornografie MacKinnon vertritt die Ansicht, dass insbesondere die Pornografie ein Akt der Subordination sei – eine Behauptung, die manche Gerichte als Beschreibung des Inhalts der Pornografie auffassen. »Worte und Bilder, die Frauen in sexuell untergeordneter Rolle darstellen, sollen nach dem Entwurf verboten werden«, sagte Richter Barker vom Bezirksgericht von Indianapolis und begründete damit die Verfassungswidrigkeit dieses Entwurfs.31 Doch Barker irrt: Nach dem Entwurf soll bestimmtes Material nicht einfach aufgrund seines Inhalts verboten werden, denn auf dieser lokutionären Ebene stellt die Pornografie keine Besonderheit dar. Nicht alle sexuell expliziten Darstellungen von Subordination sind Pornografie, wie MacKinnon selbst betont.32 Äußerungen, deren Lokutionen Subordination darstellen, sind nicht immer selbst ein Akt der Subordination. Lokutionen, die Subordination darstellen, könnten im Prinzip verwendet werden, um Sprechakte zu vollziehen, die ganz und gar nichts mit Pornografie zu tun haben: Dokumentationen zum Beispiel oder Polizeiberichte, staatliche Forschungsprojekte oder Bücher, die sich gegen sexuelle Gewalt richten, ja sogar Rechtsdefinitionen von Pornografie. Alles hängt, wie Austin gesagt hätte, von der Verwendung der Lokution ab. Wenn wir herausfinden wollen, was Pornografie auszeichnet, müssen wir woanders suchen. Der perlokutionäre Aspekt pornografischer Äußerungen hat zu Recht viel Aufmerksamkeit erregt. Wie wir gesehen haben, hat Easterbrook MacKinnons These unter diesem Aspekt interpretiert, als er sagte, dass Pornografie Subordination »perpetuiert«. Auf der perlokutionären Ebene kann man das pornografische Sprechen auf verschiedene Art und Weise beschreiben. Manche Hörer werden durch pornografisches Sprechen unterhalten und sexuell erregt. Auf dieser Ebene zeigt sich ein Unterschied zwischen Pornografie und Dokumentationen, die Subordination darstellen. Obwohl in beiden Fällen dieselben Lokutionen verwendet werden können, werden bei den Hörern unterschiedliche Wirkungen erzielt: sexuelle Erregung im einen, Empörung (vielleicht) im anderen Fall. Pornografie erregt aber nicht nur. Für manche Hörer ist Pornografie eine Qual, wie bei den Anhörungen in Minneapolis im Jahre 1983 deutlich wurde. Bei anderen ändert sich offenbar die Einstellung und das Verhalten in einer Weise, dass Frauen darunter leiden: Die Wahrscheinlichkeit, dass sie Frauen als minderwertig betrachten, steigt, sie neigen eher dazu, Vergewaltigungsmythen zu akzeptieren (zum 31 598 F. Supp. 1316 (1984); Hervorhebung von mir. 32 MacKinnon, »Francis Biddle’s Sister«, a.a.O., S. 176.
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Beispiel, dass Frauen Gefallen an einer Vergewaltigung finden), glauben eher, dass die Opfer einer Vergewaltigung diese auch verdienen, und geben häufiger an, dass sie selbst vergewaltigen würden, wenn sie unbeschadet davonkämen.33 Dies wiederum hat das Leid mancher Frauen zur Folge. Mit den Worten Easterbrooks: Pornografie perpetuiert den Kreislauf von »Beleidigung und Verletzung in der Ehe, Körperverletzung und Vergewaltigung auf der Straße«. Die These, dass Pornografie Frauen Schaden zufügt, ist jedoch nicht identisch mit der vom Gericht eingeräumten perlokutionären These, dass Pornografie die Subordination der Frauen perpetuiert. Vielen Menschen wird durch Zigaretten Schaden zugefügt, aber sie werden dadurch nicht subordiniert. Doch dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Zufügung von Schaden und Subordination, zeigt sich dann, wenn wir den Blick auf das asymmetrische Muster sexueller Gewalt richten und es unvoreingenommen betrachten, nicht einfach als die Zufügung von Schaden oder ein Verbrechen, sondern als einen Aspekt des untergeordneten Status von Frauen.34 Es anders zu sehen, hieße, seinen durchgehend diskriminierenden Charakter sowie die Tatsache zu verschleiern, dass die Täter fast immer Mitglieder einer einzigen Gruppe von Bürgern und die Opfer fast immer Mitglieder einer anderen Gruppe von Bürgern sind. Dieser Perspektivwechsel ist ein wichtiges Merkmal feministischer politischer Analyse und berührt die Frage, wie wir Pornografie unter perlokutionären (und, wie wir bald sehen werden, illokutionären) Aspekten charakterisieren. Wenn die Wirkung von Pornografie sexuelle Gewalt und sexuelle Gewalt ein Aspekt der Subordination von Frauen ist, dann ist Pornografie ein perlokutionärer Akt der Subordination. Auf diese Weise kommen wir zu der Behauptung, der auch Easterbrook zustimmt: Pornografie perpetuiert die Subordination der Frauen. Doch die Behauptung, dass Pornografie Frauen subordiniert, ist eine illukotionäre Behauptung, die über diese lokutionäre und perlokutionäre Dimension hinausgeht, und steht im Zusammenhang mit anderen illokutionären Behauptungen von Feministinnen zum Thema Pornografie. Pornografie, so heißt es, klassifiziert Frauen als Sexualobjekte, »als solche definiert auf der Grundlage [ihres] Aussehens, […] [ihrer] Verfügbarkeit für sexuellen Genuss«.35 Pornografie stellt de33 So interpretiere ich das zur Verfügung stehende Material. Siehe Donnerstein, Edward / Daniel Linz / Steven Penrod, The Question of Pornography: Research Findings and Policy Implications, New York, London 1987. Auch Material, das sexuell erregt und Gewalt darstellt, aber nicht eindeutig sexuell ist, hat diese Wirkung. Siehe auch Public Hearings on Ordinances to Add Pornography as Discrimination Against Women, Committee on Government Operations, City Council, Minneapolis, Minn. (12.-13. Dezempber 1983); Transkription der Anhörungen, veröffentlicht unter dem Titel Pornography and Sexual Violence: Evidence of the Links, London 1988; und Report of the Attorney General’s Commission on Pornography, Washington, D.C., 1986. 34 MacKinnon plädiert für diesen Perspektivwechsel in »Francis Biddle’s Sister«, a.a.O., und an anderer Stelle. 35 MacKinnon, »Francis Biddle’s Sister«, a.a.O., S. 173.
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gradierendes und missbräuchliches sexuelles Verhalten dar, und zwar »so, dass die Degradierung bestätigt wird.«36 MacKinnon weist eine verblüffende Liste illokutionärer Verben vor: »Pornografie sexualisiert Vergewaltigung, Körperverletzung, sexuelle Belästigung […] und Missbrauch von Kindern; sie […] feiert, fördert, autorisiert und legitimiert diese.«37 Diese Beschreibungen beziehen sich auf die Behauptung, dass Pornografie subordiniert. Erinnern wir uns daran, dass wir drei Merkmale ausfindig gemacht haben, aufgrund derer die Sprechakte der Apartheid zu Recht als illokutionäre Akte der Subordination bezeichnet werden. Sie klassifzieren bestimmte Menschen als minderwertig; sie legitimieren deren Diskriminierung; und sie rauben ihnen Möglichkeiten und Rechte. Die feministischen Behauptungen, die wir soeben betrachtet haben, schreiben der Pornografie die ersten beiden dieser drei Merkmale zu. Pornografie ist erstens verdiktives Sprechen, das Frauen als Sexuelobjekte klassifiziert, und zweitens exerzitives Sprechen, das sexuelle Gewalt legitimiert. Da sexuelle Gewalt nicht einfach nur die Zufügung von Schaden, nicht nur ein Verbrechen ist, sondern diskriminierendes Verhalten, subordiniert Pornografie, denn sie legitimert dieses Verhalten. (Jetzt wird deutlich, dass der feministische Wechsel der Blickrichtung hin zur Gewalt unsere Charakterisierung auch auf der illokutionären Ebene betrifft.) Aus diesen beiden Gründen ist Pornografie ein illokutionärer Akt der Subordination. So jedenfalls die Behauptung. Es gibt jedoch – milde ausgedrückt – Meinungsverschiedenheiten darüber, welches die korrekte Beschreibung der illokutionären Kraft der Pornografie ist. Das wirft einige Fragen auf. Wie finden wir, ganz allgemein gesagt, heraus, welche illokutionäre Kraft eine Äußerung besitzt? Und was machen wir im Fall von unterschiedlichen Auffassungen darüber? Dass es sich hier um schwierige Fragen handelt, erkannte auch Austin, und er bemühte sich, sie – wenn auch mit begrenztem Erfolg – zu lösen. Meinungsverschiedenheiten über Art und Weise der illokutionären Kraft sind manchmal schwer zu beseitigen, da die in Frage stehenden Äußerungen »einer richterlichen ›Deutung‹ ihres Charakters« bedürfen.38 Bei Meinungsverschiedenheiten entspricht die in Frage stehende Illokution in der Regel nicht dem paradigmatischen Fall für diese Illokution. Im paradigmatischen Fall weiß man einfach, welches die Gelingensbedingungen für die gegebene Illokution sind, und man weiß, dass sie allesamt erfüllt sind. Sie sagte »Ja, 36 Longino, Helen E., »Pornography, Oppression and Freedom: A Closer Look«, in: Laura Lederer (Hg.), Take Back the Night: Women on Pornography, New York 1980, S. 29. (Bei Longino ist der ganze Satz durch Kursivierung hervorgehoben.) 37 MacKinnon, »Francis Biddle’s Sister«, a.a.O., S. 171, Hervorhebung von mir. Ich schreibe »sexualisieren« nicht kursiv, weil ich es eher für ein perlokutionäres und nicht für ein illokutionäres Verb halte, das in etwa die Bedeutung »bewirken, dass Betrachter den Gedanken an Vergewaltigung etc. sexuell erregend finden« hat. Aber vielleicht ist es ein illokutionäres Verb, das in etwa die Bedeutung hat: »legitimiert Vergewaltigung etc., indem es sie beschreibt, als handelte es sich um normalen Sex«. 38 Austin, Zur Theorie der Sprechakte, a.a.O., S. 132, Anm. 39.
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ich will« in Gegenwart von Priester und Bräutigam, die Zeremonie wurde nicht unterbrochen, sie hatte die Absicht zu heiraten etc., deshalb muss sie durch ihr »Ja, ich will« geheiratet haben. Darüber hinaus weiß man im paradigmatischen Fall, dass das richtige Verständnis gesichert ist: Alle Anwesenden haben die beiden Parteien so verstanden, dass sie geheiratet haben. Und man kennt die perlokutionären Folgen: Andere glauben später, dass die beiden Parteien geheiratet haben, die Mutter ist enttäuscht, die Großmutter freut sich und so weiter. Doch wenn ein Sprechakt nicht dem Paradigma entspricht, auch wenn nur in einem kleinen Detail, kann es zu Streitigkeiten kommen, welcher illokutionäre Akt vollzogen wurde. Nehmen wir einmal an, die Heiratszeremonie wird ganz am Ende durch einen plötzlichen Herzinfarkt des Priesters unterbrochen. Damit sind nicht alle Gelingensbedingungen für die Eheschließung erfüllt, und das Ereignis ist nach unserem normalen Verständnis misslungen, aber vielleicht ist es doch so weit geglückt, dass es trotzdem als Eheschließung zählt. Oder nehmen wir an, man weiß nicht sicher, dass der Priester die erforderlichen Voraussetzungen mitbringt, da es sich um einen Flüchtling handelt, dessen Papiere verloren gegangen sind. Damit weiß man nicht, ob alle Gelingensbedingungen für die Eheschließung erfüllt sind, aber immerhin beinahe, so dass der Akt vielleicht doch als Eheschließung gilt. Im ersten Fall handelt es sich um das Problem der vagen Grenzen: Wir wissen, dass nicht alle Bedingungen erfüllt sind, aber vielleicht reichen diejenigen, die erfüllt sind. Im zweiten Fall handelt es sich um das Problem des Nichtwissens: Wir wissen nicht, ob alle Bedingungen erfüllt sind, aber auch hier gilt, vielleicht reichen diejenigen, die erfüllt werden. In beiden Fällen haben wir etwas, das einem Paradigma gleicht, aber keines ist, und wir müssen uns die Frage stellen, wie nah wir dran sein müssen, damit es ausreicht. Hier gibt es ein weites Feld für Auseinandersetzungen. Man kann verschieden argumentieren. Erstens könnte man sagen, dass ungeachtet von Vagheit oder Unwissen einige Gelingensbedingungen – wichtige – erfüllt sind und diese ausreichen. »Schieß sie nieder!« kann als Befehl gelten, auch wenn es nicht genau dem Paradigma entspricht – zum Beispiel, wenn es lediglich als Ratschlag gemeint war, jedoch von jemandem, der Autorität besitzt, in einem entsprechenden Kontext geäußert wurde. Zweitens könnte man sagen, dass das richtige Verständnis der behaupteten Illokution gesichert war. »Von ihm habe ich das als Befehl aufgefasst«, wie der Hörer vielleicht gesagt hat. Dass es für einen Befehl gehalten wurde, kann ein Grund dafür sein, zu meinen, es habe sich tatsächlich um einen Befehl gehandelt. Drittens könnte man argumentieren, die Wirkungen eines Sprechakts seien am besten damit zu erklären, dass er eine bestimmte illokutionäre Kraft besitzt. Eine Erklärung dafür, dass ich zu Ihrer Party gekommen bin, ist unter anderem die, dass Sie einen bestimmten illokutionären Akt vollzogen haben: Sie haben mich eingeladen. Eine Erklärung dafür, dass ich das Glas genommen habe, ist unter anderem, dass Sie einen weiteren illokutionären Akt vollzogen haben: Sie haben es mir angeboten. Eine Erklärung für das diskriminierende Verhalten der Weißen ist unter anderem, dass dieses Verhalten
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durch das Gesetz legitimiert wurde. Eine Erklärung dafür, dass sich die Schwarzen von bestimmten Gebieten fernhalten, ist unter anderem, dass ihnen dies befohlen wurde. In Fällen wie diesen erklären die illokutionären Akte die perlokutionären Wirkungen. Alle drei Argumentationsweisen haben ihre Schwächen, und zwar in aufsteigender Ordnung. Die erste, wonach auf jeden Fall einige wichtige Gelingensbedingungen erfüllt sind, ist annehmbar. Zweifellos handelt es sich hier um eine Art, wie wir Illokutionen im Alltagsleben beschreiben, wo wir uns durch die Probleme der Vagheit und Unwissenheit nicht aufhalten lassen, weil es hier, wie Austin sagt, »nicht so genau darauf ankommt«39. Die zweite Argumentationsweise ist anfälliger: Die Garantie des richtigen Verständnisses ist vielleicht nicht ausreichend für die in Frage stehende Illokution. Auch die dritte Argumentationsweise ist mangelhaft, da es vielleicht andere Erklärungen für die bekannten Wirkungen gibt: Möglicherweise bin ich uneingeladen zu Ihrer Party gekommen. Dennoch kann jedes der drei Argumente oder Kombinationen davon je nach Situation nützlich sein. Jetzt sind wir in der Lage, die strittige Frage zu untersuchen: Ist Pornografie Subordination? Da es darüber unterschiedliche Meinungen gibt, kann es sein, dass Pornografie nicht genau dem illokutionären Paradigma entspricht. Ich habe nicht genau benannt, was das Paradigma für Subordination ist, aber nahe gelegt, dass die Sprechakte der Apartheid ein eindrückliches Beispiel dafür geben. Sie haben verdiktive und exerzitive Kraft, sie klassifizieren Menschen, legitimieren deren Diskriminierung und berauben sie bestimmter Möglichkeiten und Rechte. Zu den Gelingensbedingungen dieser Sprechakte gehört, dass die SprecherInnen Autorität besitzen. Es handelt sich um Sprechakte, die ein bestimmtes Verständnis erzielen: Sie gelten als verdiktive und exerzitive Akte (auch wenn nicht alle Hörer sie als subordinierende Akte auffassen werden). Es sind Illokutionen, die bestimmte perlokutionäre Wirkungen auf das Denken und Verhalten der Bevölkerung haben: Weiße halten Schwarze für minderwertig und deren Diskriminierung für legitim und glauben, dass die Schwarzen weniger Rechte besitzen; Weiße diskriminieren Schwarze, und Schwarze bleiben den Wahlurnen fern. Solche Sprechakte sind zweifellos Akte der Subordination. Pornografie stimmt mit diesem schlimmen Beispiel in einigen wichtigen Punkten nicht überein, trotzdem kann sie Subordination sein. Für alle drei oben dargelegten Argumentationsweisen gibt es Spielraum. Ich beginne mit der dritten. Wir können die perlokutionären Wirkungen der Pornografie durch ihre illokutionäre Kraft erklären. Wenn die oben gemachten Behauptungen zutreffen, hat die Pornografie bestimmte perlokutionäre Wirkungen. Sie kann Einstellungen und Verhalten verändern und dazu führen, dass die Hörer Frauen mit größerer Wahrscheinlichkeit als minderwertig betrachten, dazu, dass sie eher dazu neigen, Ver39 Ebd., S. 55. Austin spricht hier insbesondere über das Versagen, die prozeduralen Gelingensbedingungen für eine Illokution zu erfüllen.
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gewaltigungsmythen zu akzeptieren, eher glauben, dass die Opfer einer Vergewaltigung diese auch verdienen, und mit größerer Wahrscheinlichkeit sagen, dass sie selbst vergewaltigen würden, wenn sie unbeschadet davonkämen. Eine Erklärung für dieses Muster kann unter anderem sein, dass Pornografie eine bestimmte illokutionäre Kraft besitzt: Sie klassifiziert Frauen als Sexualobjekte und legitimiert dieses Verhalten. Wenn Pornografie die von MacKinnon behaupteten perlokutionären Wirkungen hat, dann gibt es einigen Grund für die Annahme, dass sie die illokutionäre Kraft besitzt, die MacKinnon und andere feministische Autorinnen ihr zugeschrieben haben. Zu dieser Schlussfolgerung gelangt man durch Herleitung aus der bestmöglichen Erklärung, und sie kann trotzdem falsch sein. Die Hypothese, dass Sie mich zur Party eingeladen haben, ist vielleicht die beste Erklärung für mein Kommen, aber es gibt auch andere Erklärungen. In gleicher Weise ist auch die Hypothese, dass Pornografie Frauen klassifiziert und bestimmte Einstellungen und ein bestimmtes Verhalten legitimiert, eine gute Erklärung für diese Haltungen und dieses Verhalten, aber es gibt auch andere Erklärungsmöglichkeiten. Die feministische These würde daher gestärkt, wenn es noch andere Argumentationswege für die Schlussfolgerung gäbe, dass Pornografie subordiniert. Wenden wir uns nun der zweiten Argumentationslinie zu. Wie wird Pornografie von den Hörern aufgenommen? Als welche Handlung fassen die HörerInnen sie auf? Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht. Für manche Hörer ist Pornografie Unterhaltung, Flucht aus dem Alltag. Andere HörerInnen betrachten sie als Subordination. Für sie ist Pornografie etwas, das sie klassifiziert, beurteilt, verunglimpft und verletzende Verhaltensweisen gegenüber Frauen legitimiert. Es gibt also heftige Kontroversen unter den ZuhörerInnen, um welchen Sprechakt es sich handelt. Nach Austin bedarf es in solchen Fällen einer »richterlichen ›Deutung‹«, aber wer wäre hier in der Position des Richters? Nun könnte man sagen, jene Frauen, die Pornografie als Subordination ansehen, besäßen ein größeres Urteilsvermögen, sie könnten besser als andere HörerInnen erkennen, was sie klassifiziert, entwürdigt, verunglimpft, was Gewalt zu legitimieren scheint. Aber wenn wir nicht derart eine Hörerinnengruppe bevorzugen wollen, ist diese Argumentation nicht überzeugend, auch wenn sie die These, dass Pornographie zu Subordination führt, durchaus stützen kann. Wenden wir uns nun der ersten Argumentationslinie zu. Die Aufgabe, zu überprüfen, ob wichtige Gelingensbedingungen erfüllt sind, scheint aussichtsreicher, denn schließlich kennen wir eine Gelingensbedingung für Subordination und könnten im Prinzip feststellen, ob Pornografie sie erfüllt. Da sowohl verdiktive als auch exerzitive Äußerungen autoritative Illokutionen sind, muss der / die SprecherIn Autorität besitzen, um sie zu vollziehen. Die Schiedsrichterin, nicht der Zuschauer, stellt den Fehler fest. Der Staat, nicht der / die einzelne BürgerIn, kann Gesetze erlassen, die klassifizieren und legitimieren. Die Autorität, um die es hier geht, muss nicht immer so formal geregelt sein wie in diesen Fällen, aber sie muss gegeben sein. Das heißt, bevor man die Frage »Bedeutet Pornografie
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Subordination?« beantwortet, muss zuerst eine andere Frage geklärt sein: »Haben ihre Sprecher Autorität?« Ist dies der Fall, ist eine entscheidende Gelingensbedingung erfüllt: Die Sprechakte der Pornografie wären illokutionäre Akte, die Frauen klassifizieren, Gewalt rechtfertigen und folglich Subordination bedeuten. Dies ist die entscheidende Frage der Kontroverse. Wer glaubt, dass pornografische Äußerungen von einer machtlosen Minderheit stammen, einer Randgruppe, die leicht zum Opfer moralistischer Angriffe wird, der beantwortet die Frage mit Nein. Nicht so, wer mit MacKinnon glaubt, dass die Stimme der Pornografie die Stimme der herrschenden Macht ist. Die liberalen Ansichten über Pornografie neigen seit jeher zur ersteren Ansicht, und teilweise besteht MacKinnons Anliegen darin, uns zu zeigen, dass dies falsch ist. Genau wie die Äußerungen der Schiedsrichterin in einem bestimmten Bereich – etwa einem Tennisspiel – autoritativen Charakter haben, genauso ist das pornografische Sprechen in einem anderen Bereich autoritativ – beim Liebesspiel. Die Autoren pornografischen Sprechens sind keine bloßen Zuschauer des Spiels; sie sind Sprecher, deren Urteil zählt. Pornografie sagt ihren Hörern, was Frauen wert sind: Sie klassifiziert Frauen als Dinge, als Objekte, als Beute. Pornografie sagt ihren Hörern, welche Spielzüge angemessen und erlaubt sind: Wenn sie ihnen sagt, dass gewisse Spielzüge angemessen sind, weil Frauen eben gerne vergewaltigt werden, legitimiert sie Gewalt. Wenn Pornografie mit Autorität ausgestattetes Sprechen ist, kann sie subordinieren. Verfügt pornografisches Sprechen über genügend Autorität, um MacKinnons Behauptung gerechtfertigt erscheinen zu lasssen? Ist diese notwendige Gelingensbedingung erfüllt? Diese Fragen lassen sich nicht aus dem philosophischen Lehnstuhl heraus beantworten. Man muss dazu etwas über die Rolle wissen, die Pornografen als autoritative Sprecher über die Fakten, beziehungsweise die angeblichen Fakten, des Sex für sich beanspruchen. Dabei ist es nicht wichtig, ob das Sprechen der Pornografen allgemein in hohem Ansehen steht – das tut es sicher nicht; daher auch die gängige Annahme liberal denkender Menschen, bei der Verteidigung von Pornografen würde es sich um die Verteidigung von Unterprivilegierten handeln. Wichtig ist, ob die Pornografie autoritativ in dem für sie relevanten Bereich – dem Bereich des Sprechens über Sex – und für die entscheidenden Hörer ist: Bei den Leuten, bei Männern und Jungen, die nicht bloß »Unterhaltung« suchen, sondern auch lernen wollen, wie man es richtig macht, wissen wollen, welche Spielzüge beim Sex legitim sind. Bedeutsam ist, ob die Pornografie autoritativ für jene Hörer ist, die – auf die eine oder andere Weise – zu lernen scheinen, dass Gewalt sexy und Zwang legitim ist: Die 50 Prozent junger Männer, die »es völlig in Ordnung finden, wenn ein Mann eine Frau vergewaltigt, die ihn sexuell erregt«, die 15 Prozent männlicher Studenten, die zugeben, schon einmal bei einer Verabredung eine Frau vergewaltigt zu haben, die 86 Prozent, die sagen, am Sex reize sie gerade die Eroberung, die 30 Prozent, die es sexuell mehr erregt, wenn das Gesicht einer Frau Schmerz und Angst statt Lust
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ausdrückt.40 In diesem Bereich, und für diese Zuhörer, kann die Pornografie sogar die Autorität eines Monopols haben.41 Ich habe versucht zu zeigen, dass Pornografie subordinieren kann, selbst wenn sie das illokutionäre Paradigma nicht erfüllt. Wir haben oben zwei Arten unterschieden, wie Handlungen scheitern können. Es gibt unscharfe Grenzbereiche in Fällen, bei denen wir zwar wissen, dass nicht alle Bedingungen erfüllt sind, wir uns aber fragen können, ob das, was vorliegt, der Sache trotzdem nahe genug kommt. Es kann auch sein, dass wir nicht wissen, ob alle Bedingungen erfüllt sind. Möglich, dass Pornografie in beiderlei Hinsicht scheitert. Wir stehen vor einem Problem des Nichtwissens: Wir sind uns nicht sicher, ob Pornografie autoritativ ist, daher auch nicht sicher, ob sie eine entscheidende Gelingensbedingung für Subordination erfüllt. Aber selbst wenn das Problem des Nichtwissens behoben wäre und wir wüssten, dass Pornografie diese Bedingung erfüllt, wäre das Problem der unscharfen Grenzen nicht unbedingt behoben. Wir würden dann vielleicht wissen, dass Pornografie vielen, aber nicht, ob sie allen üblichen Bedingungen für Subordination genügt. Ein typisches Merkmal von Handlungen der Klassifizierung und Legitimierung ist beispielsweise, dass die Sprecher die Absicht haben, zu klassifizieren und zu legitimieren. Ich habe nicht gesagt, dass Pornografie diese Bedingung erfüllt. Aber wenn Pornografie dem Paradigma in anderen Hinsichten genügt, subordiniert sie vielleicht trotzdem. Die Behauptung, dass Pornografie subordiniert, lässt sich philosophisch gut begründen: Sie ist kein intellektueller Taschenspielertrick, und gewiss ist sie nicht »philosophisch unhaltbar«. Außerdem liefern Überlegungen zur Erklärung, Auffassung und den Gelingensbedingungen von Subordination Gründe – wenn auch noch keine ausreichenden – für die Annahme, dass die Behauptung wahr sein könnte. Die Wirkungen der Pornografie lassen sich möglicherweise am besten durch die Annahme erklären, dass sie die illokutionäre Kraft der Subordination besitzt. Eine wichtige HörerInnengruppe der Pornografie – wenn auch nicht jene, die ihr Zielpublikum ist – begreift sie als Subordination. Und wenn die empirische Prämisse über die Autorität der Pornografie sich als wahr herausstellt, dann genügt die Pornografie einer notwendigen Gelingensbedingung für Subordination. Bisher haben wir allerdings noch nicht erwogen, ob subordinierendes Sprechen durch das Gesetz eingeschränkt werden soll. Wie wir eingangs erwähnten, folgt 40 Die erste Statistik stammt aus einer Studie der University of California, Los Angeles (UCLA): Goodchild, Jacqueline u. a., zitiert in Warshaw, Robin, I Never Called It Rape, New York 1988, S. 120; die zweite und dritte Studie stammt von Heilbrun, Alfred B., Emory University, und Loftus, Maura P., Auburn University, zitiert in Wolf, Naomi, Der Mythos der Schönheit, Reinbek 1993, S. 233; die vierte aus einer Forschungsarbeit von Virginia Greenlinger, Williams College und Donna Byrne, SUNY-Albany, zitiert in Warshaw, I Never Called It Rape, a.a.O., S. 93. 41 Eine aufschlussreiche Darstellung der Auswirkungen dieses Monopols auf die Fantasiewelt dieser Zuhörer wie auch der Frauen findet sich bei Wolf, Der Mythos der Schönheit, a.a.O., bes. S. 231-234.
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aus der Feststellung, dass Pornografie Frauen subordiniert, nicht automatisch, dass Zensur die beste Antwort darauf wäre. Es folgt zunächst bloß, dass es einen Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit gibt, wie es auch die Gerichte sahen. Eine mögliche Antwort auf diesen Konflikt könnte sein, die Gleichheit in einer Weise zu stärken, die zugleich die Freiheit der Pornografen respektierte. Was ich bisher gesagt habe, lässt diese Möglichkeit offen. Wenn Pornografie Frauen subordiniert, dann nicht kraft ihres Inhalts, sondern kraft ihrer Autorität. Es sind Umstände vorstellbar, unter denen Material, wie es die Pornografie darstellt, keine Autorität besäße, und unter solchen Umständen würde solcherlei Sprechen auch nicht Subordination bedeuten. MacKinnons Behauptung ist, dass diese Umstände nicht die unseren sind, wiewohl man hoffen kann, dass sie es eines Tages sein werden. Fasst man die Behauptung der Subordination so auf, dann ergeben sich daraus Folgerungen für die Politik. Es könnte Mittel geben, die Autorität der Pornografen zu untergraben, ohne gleich zur Zensur zu greifen, Mittel, die am Ende die Pornografen in den Rang bloßer Zuschauer am Spielfeldrand versetzen würden, deren Sprechen nicht zählt. Vielleicht ließe sich pornografisches Sprechen mit weiterem Sprechen bekämpfen: mit dem Sprechen der Bildung, das sich den Lügen der Pornografie entgegenstemmte, und durch das Frauen der Welt sagten, was Frauen wirklich sind42, oder durch das Sprechen des Wettbewerbs, welches das Monopol der Pornografen bekämpfte und in dem Frauen selbst erregende, freizügige Erotika hervorbrächten, die nicht Subordination bedeuteten.43 All dies wäre möglich, wenn Frauen tatsächlich Sprechen mit weiterem Sprechen bekämpfen könnten. Aber wenn Pornografie Frauen nicht nur subordiniert, sondern mundtot macht, ist ein solcher Kampf kaum noch vorstellbar. An diesem Punkt rückt die zweite feministische Behauptung in unser Blickfeld. Ob Frauen Sprechen durch mehr Sprechen bekämpfen können, hängt davon ab, ob und bis zu welchem Grad Frauen überhaupt sprechen können.
II. »Pornografie macht mundtot« Zum Verstummen gebrachte Sprechakte Wenn Sprechen Handeln ist, dann ist Schweigen das Ausbleiben einer Handlung. Wenn Pornografie Frauen mundtot macht, dann hindert sie Frauen daran, mit ihren Worten etwas zu tun. Bevor ich nun Überlegungen darüber anstelle, ob 42 Im Schlusskapitel seines Buches The Question of Pornography spricht sich Edward Donnerstein dafür aus, den negativen Auswirkungen der Pornografie mit verstärkten Bildungsbemühungen entgegenzutreten. 43 Dies vertritt die Bewegung Women Against Censorship, die gegen das von MacKinnon entwickelte Anti-Pornografie-Gesetz auftrat; siehe auch Carol, Vance (Hg.), Pleasure and Anger: Exploring Female Sexuality, London 1984; sowie die Aufsatzsammlung Lynne, Segal / Mary Macintosh (Hg.), Sex Exposed: Sexuality and the Pornography Debate, New Brunswick / NJ 1993.
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Pornografie Frauen mundtot macht, will ich untersuchen, wie Sprechakte allgemein zum Verstummen gebracht werden, und dann der Frage nachgehen, ob Sprechakte an und für sich überhaupt zum Schweigen bringen können. Die Möglichkeit, Sprechakte zu vollziehen, kann ein Maßstab für politische Macht sein. Wer die Äußerung »Schwarze haben kein Wahlrecht« mit der illokutionären Kraft des Verbots auszusprechen vermag, besitzt, das haben wir gesehen, Autorität. Umgekehrt ist es ein Zeichen von Machtlosigkeit, Sprechakte nicht ausführen zu können, die man unter anderen Umständen gerne ausführen würde. Entsprechend Austins dreigliedriger Unterscheidung können wir drei Arten des Schweigens ausmachen, denn es gibt drei Arten von Akten, deren Ausführung scheitern kann. Alle drei haben ihre eigene politische Bedeutung, aber mein Hauptinteresse gilt der dritten. Im ersten und einfachsten Fall schweigen Mitglieder einer machtlosen Gruppe einfach deshalb, weil sie eingeschüchtert werden, oder weil sie glauben, dass ihnen sowieso niemand zuhören wird. Sie protestieren überhaupt nicht, weil sie denken, dass Protest sinnlos sei. Sie gehen gar nicht erst wählen, weil sie die Gewehre fürchten. In solchen Fällen werden überhaupt keine Worte geäußert. In der Terminologie von Austin scheitert hier bereits der lokutionäre Akt. Manchmal sprechen die Leute aber doch, nur bewirkt das, was sie sagen, nicht, was sie damit bezwecken: Diese SprecherInnen scheitern am intendierten perlokutionären Akt. Diese Art des Verstummenlassens, die wir perlokutionäre Frustration nennen können, kommt im Alltagsleben häufig vor: Man trägt Argumente vor, ohne jemanden zu überzeugen; man lädt Leute ein, doch niemand erscheint zur Party; man geht zur Wahl und erhofft sich einen Regierungswechsel, wird aber überstimmt. Derlei Frustration hat dann eine politische Dimension, wenn die erreichten Wirkungen davon abhängen, zu welcher gesellschaftlichen Gruppe der / die SprecherIn gehört. Aber es gibt noch eine dritte Art des Verstummenlassens, die dann eintritt, wenn man spricht, also Worte äußert, aber es einem nicht nur nicht gelingt, die damit intendierten Ziele zu erreichen, sondern man auch die intendierte Handlung selbst gar nicht zustande bringt. Hier scheitert das Sprechen vollständig, und die Handlung verunglückt so, wie Austin es beschreibt: Obwohl die passenden Worte mit der zugehörigen Intention geäußert wurden, gelingt es dem / der SprecherIn nicht, den intendierten illokutionären Akt zu vollziehen. Mit dem Stummmachen dieser dritten Art, das man als illokutionäre Entmachtung bezeichnen könnte, wollen wir uns nun beschäftigen.44 44 Auch Habermas interessiert sich für die Verbindung zwischen der sozialen Macht von SprecherInnen und ihren Möglichkeiten, Sprechakte zu wählen und auszuführen. Aber die Beschränkungen der Sprechakte, denen er sein Augenmerk widmet (z. B. ökonomische, psychologische), unterscheiden sich von den strukturellen Beschränkungen, die mich hier beschäftigen. Insoweit Habermas illokutionäre Akte mit kommunikativen Sprechakten gleichsetzt, wie sie in der utopischen »idealen Sprechsituation« vorkommen, würde seine Version der Sprechakttheorie die Analy-
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Im vorigen Abschnitt haben wir festgestellt, dass zu den Gelingensbedingungen mancher Illokutionen die Autorität des Sprechers / der Sprecherin im relevanten Bereich gehört. Autorität kann demnach eine/n SprecherIn befähigen, illokutionäre Akte auszuführen, zu denen sie / er sonst nicht in der Lage wäre. Illokutionäre Entmachtung zeigt uns die Kehrseite dieses Phänomens: Im relevanten Bereich nicht über die nötige Autorität zu verfügen, kann eine/n SprecherIn daran hindern, illokutionäre Akte auszuführen. Daher kann die Befähigung zu illokutionären Akten als Maßstab für Autorität, als Maßstab für politische Macht genommen werden. Betrachten wir noch einmal das Beispiel von Herr und Sklave. Der Herr kann dem Sklaven Befehle und Anweisungen erteilen. Der Herr kann dem Sklaven erlauben, bestimmte Dinge zu tun, andere verbieten. Der Sklave kann dem Herrn nichts erlauben oder verbieten. Er kann dem Herrn nichts befehlen, ihn allenfalls um etwas bitten. Die Asymmetrie der Machtverhältnisse spiegelt sich in der Asymmetrie, gewisse illokutionäre Akte auszuführen. Versuche des Sklaven, zu befehlen oder zu verbieten, werden stets in Austins Sinn verunglücken. Solche Handlungen sind für den Sklaven unsprechbar. Etwas hat sein Sprechen verstummen lassen, nicht in dem Sinne, dass seine gesprochenen Worte unhörbar oder seine geschriebenen Zeichen unlesbar geworden wären, sondern in dem Sinn, dass diese Worte und Zeichen ihrer illokutionären Kraft beraubt sind: Es verhindert, dass diese Äußerungen als die Handlungen zählen, die intendiert sind. Beispiel 1: Warnung. Dieses Beispiel stammt von Donald Davidson. »Malen wir uns folgende Situation aus: Der Schauspieler mimt eine Szene, in der ein Feuer ausbrechen soll […] Seine Rolle verlangt, dass er möglichst überzeugend jemanden darstellt, der andere vor einem Feuer zu warnen versucht. ›Feuer!‹ ruft er, und vielleicht fügt er auf Anweisung des Autors hinzu: ›Ich meine es ernst! Seht doch, der Qualm!‹ usw. Und nun bricht ein wirkliches Feuer aus, und der Schauspieler versucht vergebens, das wirkliche Publikum zu warnen. ›Feuer!‹, ruft er, ›ich meine es ernst! Seht doch, der Qualm!‹ etc.«45
se, die ich hier gebe, unmöglich machen. Siehe Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt / Main 1981, bes. S. 403 ff. Ich interessiere mich speziell für jene Illokutionen, die er außer Acht lässt, jene, die vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Ungleichheit gemacht werden und manchmal dazu beitragen, diese Ungleichheit hervorzubringen. 45 Davidson, Donald »Kommunikation und Konvention«, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt / Main 1986, S. 378. Davidson will mit diesem Beispiel allerdings im Unterschied zu mir natürlich nicht die Macht der Konvention illustrieren. Im Gegenteil, er leitet aus diesem Beispiel ab, dass die Konvention viel weniger leistet, als man gemeinhin annimmt; insbesondere, dass es durch bloße Konvention nie gelingen könne, eine Äußerung zur Behauptung zu machen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm darin völlig zustimmen würde, aber mich interessiert hier auch eine ganz andere Frage: Ob andere als die üblichen Konventionen, hier des
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Die Worte, die der Schauspieler verwendet, entsprechen der Handlung, die er ausführen will. Er vollzieht den richtigen lokutionären Akt. Seine Absicht ist es, zu warnen; insofern die richtige Absicht zu den Gelingensbedingungen gehört, erfüllt er diese Bedingung. Trotzdem gelingt es ihm nicht, zu warnen. Es ist nicht gesichert, dass seine Äußerung richtig verstanden wird. Etwas an der Rolle, die er spielt, verhindert, dass seine Äußerung als Warnung zählt. Etwas, das möglicherweise mit den Theaterkonventionen zusammenhängt, schränkt die Sprechakte ein, die er ausführen kann. Würde jemand aus dem Publikum dieselben Worte mit derselben Intention äußern, würde es als Warnung zählen. Der Schauspieler ist mundtot gemacht worden. Die Handlung der Warnung ist für ihn nicht mehr sprechbar. Beispiel 2: Heirat. Wer unter den passenden Umständen sagt: »Ja, ich will«, der hat geheiratet, vorausgesetzt, dass die Gelingensbedingungen erfüllt sind. Nehmen wir an, dass beide Heiratswillige männlichen Geschlechts sind. Der Sprecher verwendet die richtige Lokution. Der Priester ist nicht bloß ein Schauspieler. Die Zeremonie entspricht den geltenden Regeln. Der Sprecher erfüllt alle Gelingensbedingungen bis auf eine. Etwas an seiner Person und an der Person seines Partners führt dazu, dass eine notwendige Gelingensbedingung nicht erfüllt ist. Der Akt des Heiratens schlägt fehl. Die Gelingensbedingungen des Heiratens sind derart, dass zwei männliche Personen sie nicht erfüllen können. Der Akt der Heirat ist für homosexuelle Paare nicht sprechbar. Die Fähigkeit zu heiraten, eine bedeutende Fähigkeit, über die andere BürgerInnen verfügen, steht ihnen nicht zu Gebote. Beispiel 3: Wählen. Ein weißer Südafrikaner macht in einer Wahlkabine Kreuzchen auf ein Stück Papier. Ein schwarzer Südafrikaner macht unter denselben Bedingungen Kreuzchen, die ganz genauso aussehen. Ihre Intention, so können wir vermuten, ist jeweils genau dieselbe. Aber ersterem ist etwas Bedeutsames gelungen. Er hat gewählt. Letzterem nicht. Etwas an seiner Person verhindert, dass er eine notwendige Gelingensbedingung erfüllt. Die Gesetze Südafrikas verhindern, dass seine Äußerung als Wahlakt zählt: Wählen ist für ihn nicht sprechbar. Auch ihm fehlt eine wichtige politische Befähigung, über die andere BürgerInnen verfügen. Beispiel 4: Scheidung. Die Äußerung der Worte »mutallaqa, mutallaqa, mutallaqa« (wörtlich übersetzt: »geschieden, geschieden, geschieden«) vollzieht unter gewissen Gelingensbedingungen den illokutionären Akt der Scheidung in Ländern, die islamischem Recht unterliegen. Von einem Ehemann gegenüber seiner Frau geäußert, gelten sie als Akt der Scheidung. Nicht jedoch, wenn sie eine EheTheaters, unter Umständen ausreichen, um die intendierte illokutionäre Kraft einer Äußerung zu blockieren.
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frau zu ihrem Mann sagt. Wie sehr eine Frau sich auch bemüht, sie kann sich nicht von ihrem Mann scheiden, indem sie diese oder eine vergleichbare Äußerung macht. Scheidung dieser Art ist ein Akt, der für Frauen nicht sprechbar ist.46
Sprechakte, die zum Verstummen bringen Wir haben eben kurz einige Möglichkeiten besprochen, in denen Sprechen zum Verstummen gebracht werden kann: einfaches Schweigen, das heißt, wenn gar nichts gesagt wird; perlokutionäre Frustration, in der der / die SprecherIn Worte äußert, die intendierte Lokution erfolgreich vollzieht, aber nicht die intendierte Wirkung erreicht; und das besondere Verstummen durch die illokutionäre Entmächtigung, wie sie in den obigen Beispielen exemplarisch dargestellt wurde. Als nächstes stellt sich die Aufgabe, der Frage nachzugehen, ob und wie Sprechen selbst zum Verstummen bringen kann. Diese Frage wurde bereits von zahlreichen AutorInnen behandelt, und es gibt viele subtile Arten, durch Sprechen mundtot zu machen, auf die ich hier nicht näher eingehen will. Wie wir aber sehen werden, können die drei Arten des Verstummens, auf die ich die Aufmerksamkeit im letzten Teil gerichtet habe, durch Sprechen ausgelöst werden. Dies bedeutet, dass wir sinnvoll drei Arten von Stummheit auslösendem Sprechen unterscheiden können, die im Einklang mit Austins Kategorien stehen. Mein Hauptinteresse gilt der Frage, ob Sprechen die dritte Art des Verstummenlassens, das der illokutionären Entmächtigung, hervorbringen kann; und meine Herangehensweise an diese Frage wird es sein, die beiden unterschiedlichen Arten des stumm machenden Sprechens einander gegenüberzustellen. Gewisse Arten des Sprechens lassen verstummen, weil sie Befehle oder Drohungen darstellen. Nehmen wir eine Richterin, die angesichts einer aufgebrachten Zuhörerschaft ruft: »Ruhe im Saal!« Ihre Illokution ist ein Befehl, und sie zielt darauf ab, eine bestimmte Wirkung zu erreichen, nämlich Schweigen im Gerichtssaal herzustellen. Das ist nach Austin das perlokutionäre Ziel der Äußerung der Richterin. Das darauf folgende Schweigen der unruhigen Zuhörer ist ebenso real wie schlicht: Niemand macht mehr einen Mucks, jeder lokutionäre Akt ist erstorben. So lässt es sich auch vom Schweigen sagen, das einer Drohung folgt. Manches Sprechen bringt allerdings nicht dadurch zum Schweigen, dass es den / die SprecherIn an der Äußerung von Worten hindert, sondern indem es die intendierte Wirkung durchkreuzt. Das perlokutionäre Ziel des Mannes, der »Schieß sie nieder!« sagte, hätte vielleicht dadurch vereitelt werden können, dass die Frau
46 In der islamischen Scheidung, der Talaq, kann »die Frau sich nicht scheiden lassen«; siehe Bahadur, Moulvi Yusoof Khan, Mahomedan Law, Bd. 3, Kalkutta 1898, S. 47. Es gibt jedoch einige Einschränkungen. Der Mann kann das Recht der Talaq auf seine Frau übertragen; s. Hodkinson, Keith, Muslim Family Law, London 1984, S. 222. Neben Talaq, der gängigsten Form der Scheidung, gibt es noch andere Möglichkeiten, eine Scheidung zu erlangen, von denen einige unter besonderen Umständen auch Frauen zu Gebote stehen (ebd., S. 219-306).
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»Tu es nicht!« gerufen und der andere Mann auf sie gehört und dem ersten nicht gehorcht hätte. Ihre Aktion hätte möglicherweise den ersten Mann zum Schweigen bringen können, indem sie die Wirkung zunichte gemacht hätte, die er intendierte. Dies alles hat mit dem Schweigen der illokutionären Entmächtigung nichts zu tun. Die Frau würde die Illokution des ersten Mannes nicht unsprechbar machen. Er hat bereits gesprochen. Sie hindert ihn nicht, einen Befehl zu erteilen, sie verhindert nur, dass er befolgt wird. Ebenso macht die Richterin die beabsichtigte Illokution der Störer nicht unsprechbar, indem sie »Ruhe!« ruft. Wer genügend Mut oder Verwegenheit besitzt, kann trotzdem das Wort ergreifen. Er würde damit der Richterin den Gehorsam verweigern und eine Strafe riskieren, aber er hätte dennoch erfolgreich seine intendierte Handlung durchgeführt. Vergleichen Sie dies mit den vorhergehenden Beispielen. Ein Schwarzer, der ein Kreuzchen auf einem Wahlzettel macht, wählt nicht entgegen einem Verbot; er wählt überhaupt nicht. Ein Homosexueller, der »Ja, ich will« sagt, heiratet nicht entgegen einem Verbot; er heiratet überhaupt nicht. Diese Handlungen sind im Unterschied zum Befehl oder Tumult wirklich unsprechbar gemacht worden. Ist es möglich, dass Sprechen in der letztgenannten Art zum Verstummen bringt? Ist es möglich, jemanden nicht dadurch zum Schweigen zu bringen, dass man es ihm befiehlt oder ihn bedroht, nicht, indem man seine perlokutionären Absichten vereitelt, sondern indem man seine Sprechakte unsprechbar macht? Es geht um die Frage, welche Rolle Sprechen dabei spielen kann, SprecherInnen zu entmächtigen, es ihnen unmöglich zu machen, die Gelingensbedingungen für gewisse Illokutionen, die sie gerne ausführen würden, zu erfüllen. Bis jetzt haben wir das Phänomen der illokutionären Entmächtigung bloß konstatiert, uns aber noch nicht gefragt, wie es zustande kommt. Austin bietet hier wenig explizite Hilfe, aber immerhin eine implizite Antwort. Gelingensbedingungen, sagt er, werden durch Konvention festgelegt. In den Beispielen 2-4 handelt es sich um förmliche Gesetze, welche die Bedingungen für Heirat, Wahl und Scheidung festlegen. Gelingensbedingungen sind nicht immer (nicht einmal im Regelfall) in Gesetze gegossen, und für Versprechen, Warnen, Anspornen, Protestieren und dergleichen sind weder immer die Konventionen klar, noch, ob es überhaupt welche gibt. Nehmen wir einmal an, wir halten es mit Austin und verwenden »Konvention« als lockere Bezeichnung für alles, was Gelingensbedingungen festsetzt. Wie entstehen diese aber? Wenn wir uns einige von Austins Beispielen ansehen, stellen wir fest, dass Gelingensbedingungen auch durch andere Sprechakte gesetzt werden können. Es sind dies »Worte, die Bedingungen festlegen«, wie MacKinnon sagt.47 In den Beispielen 2-4 werden Gesetze in die Tat umgesetzt, die Gelingensbedingungen für Eheschließung,
47 MacKinnon, Feminism Unmodified, a.a.O., S. 228, Kursivierung von mir. Sie bezieht sich hier auf juristische Verfügungen, hat dabei aber nicht direkt – besser, nicht nur – Gelingensbedingungen im Sinn.
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Wahlen und Scheidung festlegen. Illokutionäre Akte bestimmen hier die Auswirkungen und den Anwendungsbereich anderer illokutionärer Akte. Einige Sprechakte bilden sozusagen den Rahmen für andere Sprechakte und ermöglichen es bestimmten Personen, zu heiraten, zu wählen oder sich scheiden zu lassen. Im Gegensatz dazu setzen wiederum Sprechakte diesem Rahmen Grenzen und machen es für andere Personen unmöglich, zu heiraten, zu wählen oder sich scheiden zu lassen. Es gibt also Sprechen, das anderes Sprechen bestimmt. Dies zeigt, dass es tatsächlich möglich ist, andere nicht nur durch Befehl oder Drohung mundtot zu machen, nicht nur, indem man ihre perlokutionären Ziele vereitelt, sondern indem man ihre Sprechakte unsprechbar macht. Es ist möglich, durch Sprechen andere SprecherInnen zu entmächtigen und sie daran zu hindern, die Gelingensbedingungen für bestimmte Illokutionen zu erfüllen, die sie ausführen wollen. Gelingensbedingungen für Illokutionen werden im Allgemeinen selten in Form von Gesetzeserlassen fixiert. Was ist dann aber mit den Konventionen, die die Bedingungen für andere Illokutionen wie Warnung, Protest, Drängen und so fort festlegen? Ist es schon schwer, die Bedingungen überhaupt zu benennen, wird es umso schwerer sein, zu sagen, wie sie festgelegt werden. Doch auch hier könnte, in Analogie zu den gesetzlichen Fällen, die Antwort sein, dass sie durch das festgelegt werden, was gesagt wird, nur diesmal durch informelle Praktiken des Sprechens und der Kommunikation, die nach und nach Präzedenzfälle und informelle Regeln schaffen, was, beispielsweise, als Warnung zählt. Wie in den gesetzlichen Fällen können die Gelingensbedingungen durch Worte festgelegt werden. Der Raum für potenzielle Sprechakte kann von SprecherInnenn bestimmt werden, ebenso die Begrenzungen dieses Raums, samt den Beschränkungen, die für das Verstummen durch illokutionäre Entmächtigung verantwortlich sind. Dies soll zumindest unsere Arbeitshypothese sein.
Pornografie Wir haben gesehen, wie Sprechen zum Verstummen gebracht werden kann, und wir haben gesehen, wie Sprechen mundtot machen kann. MacKinnon sagt nun, dass pornografisches Sprechen insbesondere das Sprechen von Frauen stumm macht. Es ist an der Zeit, uns dieser Behauptung zuzuwenden. Aber ich nähere mich ihr indirekt, über weitere Beispiele. Beispiel 5: Ablehnung. Betrachten wir die Äußerung »Nein«. Wir alle wissen, was man mit diesem Wort machen kann. Wir benutzen es in der Regel, um unser Nichteinverständnis zu erklären, um etwas abzulehnen oder zu verhindern. In sexuellen Zusammenhängen benutzt eine Frau es manchmal, um Sex oder weitere Annäherungsversuche abzulehnen. Doch geschieht hier etwas Seltsames. Es kommt vor, dass eine Frau die Lokution »Nein« anwendet, um Sex abzulehnen, dieses Nein aber nicht funktioniert. Sie zeigte keine Wirkung bei den 20 Prozent der Studentinnen, die angaben, sie wären schon einmal bei einem Rendezvous
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vergewaltigt worden (»date rape«). Sie zeigte keine Wirkung bei den 25 Prozent Schulabgängerinnen, die angeben, sie seien schon einmal sexuell genötigt worden.48 »Nein« sagen funktioniert nicht immer, aber es kann auf zwei Arten fehlschlagen. Es kann sein, dass derjenige, der das Nein der Frau hört, durchaus die Handlung erkennt, die sie ausführt: d. h., er erkennt ihre Ablehnung an. Das Verständnis ist garantiert. Indem sie »Nein« sagt, lehnt sie tatsächlich ab. Indem sie »Nein« sagt, möchte sie erreichen, dass der Hörer von weiteren Annäherungsversuchen Abstand nimmt. Doch der Zuhörer macht einfach weiter und zwingt die Frau zum Sex. Sie verbietet es ihm, doch er weigert sich, zu gehorchen. Sie scheitert damit, das Ziel ihrer Ablehnung zu erreichen. Ihre Ablehnung wird vereitelt. »Perlokutionäre Vereitelung« ist ein viel zu schwacher und akademischer Ausdruck für etwas, das einfach eine Vergewaltigung ist. Manchmal zeigt sich aber auch ein anderes Phänomen der illokutionären Entmächtigung. Manchmal zählt ein »Nein«, wenn es von einer Frau geäußert wird, gar nicht als ein Akt der Ablehnung. Der Zuhörer nimmt die Äußerung gar nicht als Ablehnung wahr; das Verständnis ist nicht gesichert. Die Frau intendiert mit ihrem »Nein« eine Ablehnung. Indem sie »Nein« sagt, möchte sie Sex verhindern, aber es gelingt ihr nicht im Geringsten zu tun, was sie beabsichtigt. Da die illokutionäre Kraft teilweise davon abhängt, ob das Verständnis gesichert ist, gelingt der Frau die Ablehnung nicht. Sie befindet sich in derselben Lage wie der Schauspieler in Davidsons Geschichte – zweifellos stumm gemacht wie er. Er ruft »Feuer!« Er führt den richtigen lokutionären Akt aus. Er meint, was er sagt. Er beabsichtigt, zu warnen. Er versucht, zu warnen. Aber was er sagt, misslingt. Etwas an seiner Person, etwas an der Rolle, die er spielt, hindert ihn daran, das Publikum zu warnen. Die Frau sagt »Nein«. Sie führt den richtigen lokutionären Akt aus. Sie meint, was sie sagt, sie versucht, abzulehnen. Aber was sie sagt, misslingt. Etwas an ihrer Person, etwas an ihrer Rolle verhindert, dass sie ihre Ablehnung äußern kann. Ablehnung ist – in diesem Zusammenhang – für sie nicht mehr sprechbar. In diesem Fall ist die Ablehnung nicht nur behindert, sie ist unmöglich gemacht. Beispiel 6: Protest. Der folgende Text ist der Rubrik »Erotische Literatur« eines Versandkatalogs entnommen, flankiert von den Titeln Nr. 426: Forbidden Sexual Fantasies und Nr. 428: Orgy: an Erotic Experience.
48 Die erste Statistik stammt aus einer Studie über Studentinnen der University of South Dakota. Andere Universitäten liefern vergleichbare und noch schlimmere Zahlen: St. Cloud State University (29 Prozent der Studentinnen geben an, vergewaltigt worden zu sein), Auburn University (25 Prozent geben an, mindestens einmal vergewaltigt worden zu sein), und Brown University (16 Prozent wissen von einem »date rape« zu berichten), zitiert in Wolf, Der Mythos der Schönheit, a.a.O., S. 233-234. Die zweite Statistik stammt aus Caputi, Jane, The Age of Sex Crime, London 1987, S. 119.
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»Nr. 427 ICH PACKE AUS: Die Autobiografie von Linda Lovelace. Mit M. McGrady. Der Star von Deep Throat erzählt die schockierende Geschichte seiner Sklavendienste in der Unterwelt der Pornografie, ein wahrhaftes Martyrium voll hemmungsloser Gewalt und unaussprechlicher Perversionen, in dem sich sensationslüsterne Prominente und sadistische Kriminelle tummeln. Verkauf nur an Erwachsene über 21 Jahren.«
Ich packe aus ist ein vielzitiertes Werk der feministischen Antipornografiebewegung.49 Linda Lovelace, oder Linda Marchiano, wie ihr richtiger Name lautet, sagte 1983 in Minneapolis bei den Anhörungen zur Pornografie als Zeugin aus.50 In ihrem Buch schildert Marchiano die Verstrickungen, in die sie bei den Dreharbeiten zu Deep Throat geriet, sie schildert, wie sie geschlagen, hypnotisiert und gefoltert wurde, um das zu tun, was ihre Hauptrolle verlangte. Austin bemerkt an einer Stelle, dass man den illokutionären Akt des Protestes auf verschiedene Weise vollziehen kann: Man kann ihn in Worten formulieren oder eine Tomate werfen.51 Man kann auch aus Protest ein Buch schreiben. Ich packe aus ist ein Akt des Protestes, eine eindrückliche Anprangerung jener Industrie, die Marchiano zwang, nach ihren Regeln zu funktionieren. Man versteht durchaus, warum es in Anhörungen gegen die Pornografie verwendet wurde. Als lokutionärer Akt schildert Ich packe aus die Subordination von Frauen, es zeigt sie »in Szenarien der Erniedrigung, der Demütigung und der Folter.« Aber das Buch bedient keine Fantasien und ist auch nicht sexuell stimulierend. Es ist einfach nur abstoßend. Es »billigt die Entwürdigung nicht«; es »preist, unterstützt, autorisiert und legitimiert« sexuelle Gewalt nicht. Es hat nicht die illokutionäre Kraft der Pornografie. Warum wird Ich packe aus dann in einem Versandkatalog für erotische Literatur angeboten? Die Antwort ist einfach. Es findet sich dort, weil es sich letztlich doch um Pornografie handelt: Hier, in diesem Zusammenhang, für jene Hörer, für die der Katalog gedacht ist, ist garantiert, dass es als Pornografie verstanden wird. Marchiano äußert die Worte, die sich für einen Protest eignen. Sie verwendet die richtigen Lokutionen, Worte, die anschaulich ihre eigene Subordination beschreiben. Sie beabsichtigt, zu protestieren. Aber ihr Sprechen schlägt fehl. Etwas an ihr, etwas an der Rolle, die sie innehat, verhindert, dass sie die Gelingensbedingungen des Protests erfüllt, zumindest hier. Zwar gibt es keine Drohungen und Knebel mehr, aber ein Stummwerden anderer Art. Auch sie ist in der misslichen Lage von Davidsons Schauspieler. Warnen war für ihn unsprechbar geworden. Für sie ist der Protest unsprechbar.52 Was er zu sagen versucht, wirkt 49 50 51 52
Lovelace, Linda / Mike McGrady, Ich packe aus, München 1980. S. Anhörungen. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, a.a.O., S. 135. Ich packe aus ist nicht völlig gescheitert; in vielen Kontexten hat es als illokutionärer Akt des Protestes Erfolg gehabt. Eine vergleichbar explizite Schilderung von Unterwerfung, die gegen Pornografie protestiert, ist Andrea Dworkins Erbarmen, Hamburg 1992, das möglicherweise ähnlich paradox rezipiert wird. Harriet Gilbert sieht Parallelen zwischen Dworkins Erbarmen und de Sades Justine und argumen-
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»nur gespielt«. Was sie zu sagen versucht, wirkt als Pornografie. Ihr Protest ist entmächtigt worden. MacKinnon behauptet, dass Pornografie das Sprechen von Frauen zum Verstummen bringt. Aber wie? Wir haben gesehen, dass eine Möglichkeit, in der Sprechen stumm machen kann, der Befehl oder die Drohung ist, die bei der Hörerin einfaches Schweigen zur Folge hat. Das ist die erste Art, mundtot zu machen. MacKinnon führt Fälle an, in denen Pornografie direkt als Bedrohung genutzt wurde: Zur Pornografie gezwungenen Kindern wurde anschließend von den Pornografen das Schweigen abgepresst, indem sie ihnen drohten, die Pornos ihren Eltern und LehrerInnen zu zeigen. Pornografische Darstellungen ihrer Subordination wurden benutzt, um sie zu bedrohen und damit eben jene Subordination zu perpetuieren.53 Daraus resultiert simples Schweigen: Die Kinder sagen nichts, weil sie Angst haben. Pornografie kann aber auch auf die zweite Art zum Schweigen bringen, nicht, indem sie verhindert, dass Frauen sprechen, sondern indem sie verhindert, dass sie damit die gewünschten Wirkungen erzielen. Wenn, wie oben gesagt wurde, Pornografie sexuelle Gewalt legitimiert, dann folgt daraus, dass einer der Wirkungen von Pornografie die sein kann, dass die Ablehnung von Sex durch Frauen nicht mehr die intendierte Wirkung erreicht. Wenn Pornografie Vergewaltigung legitimiert, dann kann sie Ablehnung von Sex stumm machen, indem sie deren perlokutionäres Ziel vereitelt. Für viele Vergewaltigungsfälle, und wahrscheinlich sogar für alle, die vor Gericht kommen, gilt, was in Beispiel 5 beschrieben wurde: Der Hörer hat erkannt, dass die Frau ablehnte, und sich trotzdem oder gerade deswegen nicht von seinem Tun abbringen lassen; der Hörer hat das Verbot der Frau wahrgenommen, aber nicht beachtet. Wenn Pornografie diese Art von Vergewaltigung legitimiert, dann dadurch, dass sie den Einsatz von Gewalt als Antwort auf eine Ablehnung, die als solche erkannt wurde, sexuell auflädt. Solche Pornografie erotisiert gerade die Ablehnung und stellt die Überwältigung des Willens einer Frau als erregend dar. Jemand, der die Spielregeln der Sexualität von dieser Art von Pornografie lernt, würde die Ablehnung einer Frau zwar erkennen, aber nicht beachten. Dies wäre eine Art, in der Pornografie die Ziele weiblichen Sprechens vereitelte. Aber wir haben gesehen, dass es noch eine andere Möglichkeit des Stummwerdens gibt: Das Verstummen, das nicht bloß aus Vereitelung, sondern aus illokutionärer Entmächtigung entsteht, und das sich in den Handlungen der Beispiele 1-4 zeigt, die als Warnung, Eheschließung, Wahl und Scheidung intendiert sind. tiert, dass ersteres nach der Definition der Gesetzentwürfe durchaus als Pornografie zählen könnte, was in ihren Augen zeigt, wie sinnlos Versuche einer gesetzlichen Definition sind. (»So Long as It’s Not Sex and Violence«, in: Lynne Segal / Mary MacIntosh (Hg.), Sex Exposed, Virago, London, 1992) 53 MacKinnon, »Francis Biddle’s Sister«, a.a.O., S. 180, eine Zeugenaussage der Anhörungen von Minneapolis zitierend.
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Und diese Art des Zum-Schweigen-Bringens ist in den Beispielen 5 und 6 manifestiert: die illokutionäre Entmächtigung des zweiten Vergewaltigungsopfers, dessen versuchte Ablehnung nicht einmal als Ablehnung anerkannt wird; die Entmächtigung einer Autorin, deren beabsichtigter Protest nicht einmal als solcher wahrgenommen wird. Diese Fälle des Misslingens offenbaren strukturelle Beschränkungen des Sprechens von Frauen. Wenn Austin Recht hat, dann ist die Erklärung für das Misslingen hier, dass die Gelingensbedingungen für Ablehnung und Protest nicht erfüllt sind. Etwas raubt dem Sprechen die intendierte Kraft. Welche Konventionen auch immer sexuelle Interaktionen leiten mögen, sie können bedeuten, dass die Absicht der Ablehnung oder des Protests allein nicht ausreicht. Die Regeln, welche die möglichen Züge im Sprachspiel des Sex bestimmen, sind derart, dass »Nein« zu sagen als Ausdruck der Ablehnung scheitern kann, und dass es nicht in jedem Fall als Ausdruck des Protestes verstanden wird, wenn eine Frau von ihrer eigenen Subordination berichtet. Es sind dies Illokutionen, deren Gelingensbedingungen von Frauen anscheinend nicht erfüllt werden können, zumindest nicht in den geschilderten Zusammenhängen. Was, wenn überhaupt, hat Pornografie mit dieser dritten Art des Stummseins zu tun, dieser Entmächtigung des Sprechens von Frauen, das es so schwierig macht, eine Vergewaltigung zu verhindern und gegen sie zu protestieren? Wenn die Gelingensbedingungen für solche Illokutionen Frauen in diesen Zusammenhängen einschränken, müssen wir uns fragen, wie diese Bedingungen entstanden sind, wie wir dies bereits in Bezug auf die Illokutionen des Heiratens, der Scheidung und so weiter getan haben. Dort war die Antwort gewesen, dass die Bedingungen für die Entkräftung dieser Sprechakte durch das Sprechen des Gesetzgebers bestimmt werden. Wie werden dann diese anderen Gelingensbedingungen festgelegt? Wie wir wissen, können Gelingensbedingungen für Illokutionen im Allgemeinen durch andere Sprechakte festgelegt werden. MacKinnons Behauptung, dass Pornografie Frauen stumm macht, kann genau auf diese Weise interpretiert werden. Die Gelingensbedingungen für die Sprechakte von Frauen werden durch die Sprechakte der Pornografie festgelegt. Die Worte des Pornografen, ganz wie die Worte des Gesetzgebers, sind »Worte, die Bedingungen setzen.« Es sind Worte, die beschränken, die gewisse Handlungen – Ablehnung, Protest – für Frauen in gewissen Zusammenhängen unsprechbar machen. Es handelt sich um ein Sprechen, das bestimmt, welche Art von Sprechen möglich ist. Schauen wir, wie sich dies auf die zweite Ablehnung in Beispiel 5 anwenden lässt. Pornografie kann Vergewaltigung legitimieren, und damit Ablehnung verstummen lassen, indem sie noch etwas anderes tut, als die Ablehnung selbst zu erotisieren. Sie kann in ihrer Darstellung von Sex einfach keinen Raum für die Handlung der Ablehnung lassen. In Pornografie dieser Art gäbe es alle möglichen Lokutionen, die die dargestellten Frauen verwenden könnten, um Zustimmung auszudrücken. »Ja« ist eine solche Lokution. »Nein« eine andere. Der Spielzug der Ablehnung selbst wird hier, anders als bei der Pornografie, die wir zuvor betrachtet haben, nicht erotisiert: Es gibt ihn einfach gar nicht. Zustim-
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mung ist das einzige, was eine Frau in diesem Spiel mit ihren Worten signalisieren kann. Jemand, der die Regeln des Spiels von dieser Art von Pornografie lernt, erkennt möglicherweise nicht einmal den Versuch einer Ablehnung. »Von ihr habe ich das als Zustimmung verstanden«, sagt er vielleicht.54 Ablehnung wäre für eine Frau in diesem Zusammenhang unsprechbar geworden. Wie stark verbreitet sind das Verstummenlassen dieser Art und die Vergewaltigung, die es begleitet? Das ist schwer zu sagen, weil nur wenige Vergewaltigungen überhaupt und gerade diese Art am allerseltensten zur Anzeige gebracht werden. Aber dieselbe Studie, bei der sich herausstellte, dass eines von vier Mädchen am Ende seiner Schulzeit sexuelle Gewalt erfahren hat, ergab auch, dass einer von sieben Jungen des gleichen Alters zugab, schon einmal ein Nein ignoriert zu haben. Eine Möglichkeit, dies zu interpretieren, ist, dass die fraglichen Jungen die Ablehnung durchaus als solche verstanden, aber sich davon nicht abhalten ließen. Naomi Wolf geht da etwas weiter, wenn sie feststellt, dass wir in einer Situation leben, in der »die Jungen vergewaltigen und die Mädchen vergewaltigt werden und beide das als etwas Normales sehen. Den Jungen ist vermutlich gar nicht bewußt, dass das, was sie tun, nicht richtig ist. Die gewalttätige sexuelle Bilderwelt hat eine Generation junger Männer geprägt, die Frauen vergewaltigen, ohne zu wissen, was sie tun.«55
Wenn junge Männer vergewaltigen können, ohne überhaupt zu wissen, was sie tun, gelingt es Frauen nicht in jedem Fall, zu erreichen, dass ihre versuchte Ablehnung auch als solche aufgefasst wird. Dies ist nicht bloß das Verstummen des Scheiterns, sondern das der Entmächtigung. Ablehnung ist hier eine Art von Verbot, in Austins Worten eine exerzitive Illokution. Um deren Gelingensbedingungen zu erfüllen, muss der / die SprecherIn in einem relevanten Bereich über Autorität verfügen. Ein Staat, der verbietet, besitzt in weiten Bereichen Autorität; ein Elternteil, das ein Verbot ausspricht, hat Autorität im kleinen Kreis der Familie; eine Patientin, die eine Behandlung ablehnt, besitzt Autorität im eng umgrenzten Bereich ihres eigenen Lebens, ihres 54 Hiermit paraphrasiere ich Austins Beispiel in Zur Theorie der Sprechakte, S. 96. Die unterschiedlichen Motivationen für Vergewaltigung wurden deutlich von einem anonymen jungen Vergewaltiger beschrieben, der in »Without Consent«, einer 1992 von der Australian Broadcasting Commission produzierten Dokumentarsendung sagte, der Grund von Vergewaltigungen sei die Erregung, den Willen einer Frau zu überwältigen; die Gruppenvergewaltigungen, zu denen ihn männliche Kameraderie (»mateship«) veranlasste, waren in seinen Augen gar keine Vergewaltigungen, obwohl die Frauen nicht einwilligten. Seiner Vorstellung nach scheint es sich nur dann um Vergewaltigung zu handeln, wenn das Fehlen der Zustimmung der Frau ein wesentlicher Bestandteil der Erfahrung des Vergewaltigers ist. 55 Wolf, Der Mythos Schönheit, a.a.O., S. 234-235. »Sich weigern, ein Nein zu akzeptieren« changiert vielleicht zwischen der Nichtanerkennung der Ablehnung einer Frau und ihrer Nichtbeachtung. Die Studie über Schüler und Schülerinnen von Toronto diskutiert Caputi, The Age of Sex Crime, a.a.O.
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eigenen Körpers. Eine Frau, die sexuelle Annäherungsversuche ablehnt, besitzt ebenfalls Autorität im begrenzten Bereich ihres eigenen Lebens, ihres eigenen Körpers. Wenn sie entmächtigt worden ist, ihre Ablehnung zum Ausdruck zu bringen, dann ist dies ein Zeichen dafür, dass ihr Körper in einem gewissen Sinn nicht ihr gehört. Wenn Pornografie sie daran hindert, sich zu verweigern, dann zerstört Pornografie ihre Autorität, indem sie ihre Worte verdreht. Die Sorge, ob Pornografie Frauen zum Verstummen bringt, leitet sich zum Teil daraus ab, dass Pornografie Frauen daran hindern kann, Sprechen mit Sprechen zu begegnen. Bei der Prüfung des feministischen Gesetzentwurfs hatten die Gerichte der Frage nachzugehen, ob sich das Sprechen der Pornografie »abschottet, indem es seine natürlichen Feinde – seine Opfer – daran hindert, ihm mit ihrem eigenen Sprechen wirksam zu begegnen.«56 »Wirksam« ist ein zweideutiger Begriff. Sprechen kann einerseits dadurch wirksam sein, dass man genau die illokutionären Handlungen vollziehen kann, die man vollziehen möchte: Wenn man warnen, heiraten, ablehnen will und wirklich warnt, heiratet oder ablehnt. Die andere Art, wirksam zu sein, ist, wenn man genau die perlokutionäre Handlung bewirkt, die man vollziehen möchte: Man warnt in der Absicht, die Hörer in Alarm zu versetzen; man lehnt ab, um ungewollten Sex zu verhindern; und man erfüllt seine Ziele. Beide Arten wirksamen Sprechens sind wichtig, und beide Arten werden benötigt, um dem Sprechen der Pornografie zu begegnen. Was mit Ich packe aus in Beispiel 5 geschah, ist ein Einzelfall, aber es illustriert die Art und Weise, in der Pornografie sich selbst abzuschotten weiß. Marchiano versucht zu protestieren, aber sie erzeugt damit nur weitere Pornografie. Die Pornografen verstehen es, Marchianos Worte in Handlung umzusetzen: Geschichten über »hemmungslose Gewalt« und »Sklavendienste in der Unterwelt der Pornografie« sind für Leser, für die gewaltsamer Sex legitimiert wurde, einfach nur Pornografie. Und es liegt ironische Wahrheit in dem, was die Pornografen sagen: Die Gewalt ist für Marchiano in der Tat »unaussprechlich« geworden, dafür haben sie gesorgt. Wenn man eine Frau ist und eine sexuell eindeutige Sprache benutzt, um bis in die Einzelheiten zu beschreiben, welche brutale Gewalt man erfahren hat, und besonders wenn man schon ein berühmter Pornostar ist, dann ist alles, was man sagt, einfach immer Pornografie. Das ist eine effektive Methode, jemanden stumm zu machen, die nicht nur Sprache ihrer intendierten illokutionären Kraft beraubt, sondern diese durch etwas ersetzt, das sie in ihr genaues Gegenteil verkehrt. In meinen Augen handelt es sich nicht um einen isolierten Einzelfall. Wenn MacKinnon Recht hat, weist er Gemeinsamkeiten mit einem weit verbreiteten und schädlichen Phänomen auf, das mehr Aufmerksamkeit erfordert, als ich ihm hier widmen kann: Der entsprechenden Entmächtigung, die Frauen begegnet, wenn sie vor Gericht Zeugnis über Vergewaltigung und sexuelle Belästigung ablegen, und ihre Erfahrungen so aufgenommen werden, als handelte es sich um 56 Siehe Michelman, »Conceptions of Democracy«, a.a.O., S. 299.
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Beschreibungen von normalem Sex.57 Wenn Pornografie Gewalt als Sex legitimiert, dann kann sie die intendierten Handlungen jener, die gegen Gewalt in den Zeugenstand treten, zum Schweigen bringen. Auch das ist ein Aspekt ihres sich selbst abschottenden Charakters. Wenn Pornografie die Regeln für die sexuellen Sprachspiele festlegt – wenn Pornografie Sprechen ist, das festlegt, welches Sprechen möglich ist –, dann handelt es sich um exerzitives Sprechen im Sinne Austins, weil es zu der Klasse von Sprechen gehört, das Rechte und Möglichkeiten zuspricht oder entzieht. Wie wir gesehen haben, gilt die Behauptung, dass Pornografie Subordination bedeutet, nur unter der Prämisse, dass Pornografie autoritatives Sprechen ist, anders könnte sie nicht klassifizieren und legitimieren. Wie wir nun sehen, gilt für die Behauptung, dass Pornografie stumm macht, dieselbe Prämisse: Das Sprechen der Pornografie muss mit Autorität ausgestattet sein, wenn es das Verstummen durch illokutionäre Entmächtigung erzeugen soll. Die Behauptung, Pornografie mache Frauen stumm, wird wie die Behauptung über die Subordination immer wieder als philosophisch problematisch angesehen. Dies sei bestenfalls »metaphorisch« zu verstehen, schlimmstenfalls eine »bedenkliche Begriffsverwirrung«. Ich habe versucht zu zeigen, dass weder das eine noch das andere zutrifft. Die Behauptung, dass Pornografie zum Verstummen bringt, kann ganz wörtlich genommen werden. Nun könnte man einwenden, das Verstummenlassen, welches ich beschrieben habe, sei nicht wörtlich zu verstehen, weil Pornografie – abgesehen von den seltenen Fällen, in denen sie als Drohmittel eingesetzt wird – Frauen nicht tatsächlich daran hindert, Worte zu verwenden.58 Sie hindert Frauen normalerweise nicht – in Austins Terminologie – lokutionäre Handlungen zu vollziehen. Aber wer so denkt, offenbart genau die Tendenz, die Austin beklagte, sich nämlich vornehmlich mit dem Inhalt des Gesagten zu beschäftigen, aber die damit vollzogene Handlung zu übersehen. Stummsein kann heißen, kein Geräusch von sich zu geben. Stummsein – auch dies ist Schweigen im Wortsinn – kann auch darin bestehen, keinen Sprechakt auszuführen. Nach Austins Ansicht sind Lokutionen isoliert betrachtet gar nichts. Lokutionen sind da, um benutzt zu werden. Worte sind Werkzeuge. Worte dienen dazu, mit ihnen Handlungen auszuführen. Es hat wenig Sinn, jemandem Werkzeuge zu geben, wenn er dann nichts mit ihnen anfangen kann. Und es hat wenig Sinn, uns Frauen die Verwendung von Wörtern zu erlauben, wenn wir dann keine Handlungen damit vollziehen können. Mit Meinungsfreiheit hat das jedenfalls nichts zu tun. Die Behauptung ist keine bloße Metapher, sie ist auch nicht verworren. Zwar hält Dworkin die Aussage für verworren, dass Pornografie Frauen verstummen 57 Schätzungen zufolge werden nur zehn Prozent aller Vergewaltigungen angezeigt und noch viel weniger ziehen ein Gerichtsverfahren nach sich. S. MacKinnon, Feminism Unmodified, a.a.O., S. 110-115. 58 So sagt es Michelman in »Conceptions of Democracy«, a.a.O., S. 269, Anm. 13.
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lasse, weil es verworren sei, »gewisse Ideen als stumm machende Ideen zu charakterisieren.«59 Doch damit missdeutet Dworkin das Argument. Die feministische Behauptung lautet nicht, dass bestimmte Ideen zum Verstummen bringen, sondern dass Handlungen stumm machen können. Dies, das haben wir gesehen, ist keine Konfusion. Menschen tun mit Worten alles Mögliche: Sie erteilen einander Ratschlägen, sprechen Warnungen aus, kränken sich und machen einander auch mundtot. Sie bringen zum Verstummen, indem sie verhindern, dass SprecherInnen mit Worten handeln. Sie können einfaches Stummsein auslösen, indem sie befehlen oder drohen; sie können zum Verstummen bringen, indem sie die perlokutionären Handlungen eines Sprechers / einer Sprecherin vereiteln; sie können zum Verstummen bringen, indem sie die illokutionären Handlungen eines Sprechers / einer Sprecherin ins Leere laufen lassen. Pornografie, so haben wir gesehen, kann auf alle diese drei Weisen zum Verstummen bringen. Die Behauptung des Verstummenlassens bezieht sich eigentlich überhaupt nicht auf Ideen, sondern auf Personen und ihre Handlungen. In Debatten über Meinungsfreiheit kommt es nicht selten vor, dass man Ideen die Heldenrolle zuschreibt. Redefreiheit ist eine gute Sache, weil sie einen freien Markt für Ideen schafft, auf dem sich am Ende das Gute und Wahre durchsetzt.60 Wenn nun ein gewisses Sprechen Verstummen auslöst, so beschreibt dies eine Art Einkaufsproblem: Manche Ideen, die es auf dem Markt geben könnte, sind nicht verfügbar. Die Frage ist, ob Zensur durch stellenweisen Eingriff zum Gesamtwohl beitragen, die Marktverhältnisse verbessern kann. Vielleicht müssen tatsächlich gewisse Ideen zensiert werden, damit andere ihren Platz im Warenangebot finden.61 Hier sehen wir wieder die Tendenz, über die sich Austin beklagte: eine Fokussierung auf den Inhalt bei gleichzeitigem Außerachtlassen des vollzogenen Sprechakts. Die Aussage, Pornografie bringe Frauen zum Verstummen, bezieht sich nicht auf Ideen, sondern auf Menschen. Meinungsfreiheit ist eine gute Sache, weil sie Menschen Handeln ermöglicht, sie befähigt, mit ihren Worten etwas zu tun: zu argumentieren, zu protestieren, zu fragen, zu antworten. Sprechen, das stumm macht, ist schlecht, nicht nur weil es die Ideen beschränkt, die im Angebot sind, sondern weil es die Handlungen der Menschen einschränkt. Es ist eine Tatsache, dass es Frauen schwer fällt, neue Vorstellungen über sich selbst, über Sexualität, über das Leben zu entwickeln und auszudrücken, wenn Pornografie ein Marktmonopol hat. Einige attraktive Ideen fehlen im Angebot. Doch nicht dies ist der springende Punkt, sondern dass die Freiheit der Frau, die Handlungen auszusprechen, die sie aussprechen will, beschnitten worden ist: ihre Freiheit, gegen Pornografie und Vergewaltigung zu protestieren, Sex abzulehnen, wenn 59 Dworkin, »Two Concepts«, a.a.O., S. 108. 60 »Der beste Wahrheitstest ist die Kraft eines Gedankens, sich im Wettbewerb des Marktes durchzusetzen«, meint Justice Holmes in Abrams, zitiert nach Tribe, Constitutional Law, a.a.O., S. 686. 61 Dies ist – ungefähr – Dworkins Version von Frank Michelmanns Argument, »Two Concepts«, a.a.O., S. 108.
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sie ihn ablehnen möchte, vor Gericht gegen Gewalt aufzutreten oder neue Denkweisen über Sexualität zu feiern und zu fördern. Der springende Punkt ist, dass wir Frauen keine Handlungen mit Worten ausführen können, auch wenn wir glauben, dass wir wissen, wie das geht.
III. Schlussbemerkungen Unsere Erkundung hat uns durch ziemlich steiniges Gelände geführt. Im ersten Abschnitt haben wir uns mit der ersten feministischen These auseinandergesetzt, dass Pornografie Subordination bedeutet, wobei wir uns zunächst fragen mussten, auf welche Weise Sprechen eine Handlung sein kann, und dann, ob Sprechen im Prinzip subordinieren kann. Die Antwort war, dass Sprechen dann subordinieren kann, wenn es eine gewisse verdiktive und exerzitive Kraft besitzt: Wenn es ungerechtfertigt eine Gruppe der Gesellschaft als minderwertig klassifiziert, wenn es diskriminierendes Verhalten ihr gegenüber legitimiert, und wenn es sie ungerechtfertigt wichtiger Möglichkeiten beraubt. Die Sprechakte der Pornografie können subordinieren, so wurde argumentiert, weil sie die erste und zweite dieser Funktionen erfüllen: Sie können Frauen als Sexualobjekte klassifizieren und Frauen diskriminierendes Verhalten legitimieren. Ob Pornografie Subordination beinhaltet, hängt davon ab, ob sie mit Autorität ausgestattet ist. Im zweiten Abschnitt haben wir uns der zweiten feministischen Behauptung zugewandt, dass Pornografie zum Verstummen bringt; dazu mussten wir zuerst der Frage nachgehen, wie Sprechakte stumm gemacht werden können und ob Sprechen zum Verstummen bringen kann. Die Antwort war, dass Sprechen tatsächlich zum Verstummen bringen kann, und zwar auf verschiedenen Wegen. Die Sprechakte der Pornografie können zum Verstummen bringen, wenn sie Frauen daran hindern, gewisse Handlungen mit Sprache zu vollziehen, wenn sie ihre intendierten perlokutionären Akte vereiteln und ihre intendierten illokutionären Akte ins Leere laufen lassen. Ich habe dabei besonderes Augenmerk auf die Sprechakte der Ablehnung und des Protests gelegt. Ob Pornografie zum Verstummen bringt, hängt wiederum davon ab, ob sie mit Autorität ausgestattet ist. Wenn Pornografie das Sprechen von Frauen entmächtigt, dann beraubt sie Frauen einer wichtigen Fähigkeit. So schließt sich der Kreis, denn dies ist der dritte Aspekt der Subordination, der in Abschnitt I nicht behandelt wurde. Subordinieren bedeutet klassifizieren, Diskriminierung legitimeren und ungerechtfertigt Möglichkeiten rauben; jemanden zum Verstummen zu bringen bedeutet, ihn seiner Macht zu berauben. Es gibt also eine Verbindung zwischen der Behauptung, Pornografie bedeute Subordination, und der Behauptung, Pornografie lasse verstummen: Eine Möglichkeit, Subordination zu erzeugen, besteht darin, zum Verstummen zu bringen, jemanden gewisser Freiheiten zu berauben, über die andere verfügen – beispielsweise, frei zu sprechen.
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Die Behauptungen, dass Pornografie Frauen subordiniert und zum Verstummen bringt, sind absolut sinnvoll; sie sind weder leichtfertig aufgestellt, noch philosophisch unhaltbar oder konfus. Wenn Pornografie tatsächlich Autorität besitzt, dann könnten diese Behauptungen wahr sein. Die Prämisse über die Autorität der Pornografie ist eine empirische. Wer sie für falsch hält, wird der Schlussfolgerung, dass die Behauptungen zutreffen, nicht folgen, wohl aber, so hoffe ich, der Schlussfolgerung, dass sie kohärent sind. Wenn Pornografie Frauen subordiniert, schafft sie einen Konflikt zwischen dem Freiheitsrecht des Pornografen und dem Gleichheitsrecht der Frauen. Wenn Pornografie Frauen zum Verstummen bringt, schafft sie einen Konflikt innerhalb der Freiheit selbst, zwischen dem Rederecht des Pornografen und dem der Frauen. Wenn Pornografie Frauen zum Verstummen bringt, werden Frauen Schwierigkeiten haben, unterdrückendes Sprechen mit ihrem eigenen Sprechen zu bekämpfen. Gibt uns das Grund zu der Annahme, MacKinnon habe Recht, nicht nur mit den beiden Behauptungen, die wir hier einer Untersuchung unterzogen haben, sondern auch in ihrer Ansicht, dass Pornografie durch Gesetze eingeschränkt werden müsse? Vielleicht. Vielleicht brauchen wir auch ein neutrales Argument, um die Kluft zu überbrücken. Ein solches Argument geht über die hier vorliegende Arbeit hinaus, ist aber möglicherweise nicht schwer zu finden. Denn nach einer weit verbreiteten liberalen Ansicht darf eine Regierung einzelnen Bürgern nicht erlauben, die Rechte anderer BürgerInnen zu verletzen, indem sie sie daran hindert, das zu sagen, was sie wollen. Dieser liberalen Überzeugung ist unter anderem durch Ronald Dworkin in sehr beredter Weise Ausdruck verliehen worden.62 Wenn das stimmt, dann ist es vielleicht falsch, einigen Sprechern zu erlauben, andere zum Schweigen zu bringen, indem sie sie daran hindern, mittels Sprache die Handlungen auszuführen, die sie ausführen wollen. Frauen wollen in der Lage sein, wichtige Handlungen mit Sprache zu vollziehen: Ablehnen, Protestieren, Zeugnis ablegen. Die Sprache der Pornografen hindert sie möglicherweise daran, dies zu tun. Wenn dem so ist, dann kann es falsch sein, wenn der Staat den Pornografen das Sprechen gestattet. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Wollermann und Gabriele Gockel
62 Ebd., S. 108. Dworkins genaue Worte sind »die negative Freiheit verletzen«. Damit will er sagen: Wenn Pornografie zum Verstummen bringt (was er bezweifelt), dann tut sie das, indem sie Frauen eher einer positiven als einer negativen Freiheit beraubt: sie »raubt ihnen das Recht, Herrin über sich selbst zu sein« (S. 106), und hält sie davon ab, an dem Prozess teilzunehmen, in dem Ideen um öffentliche Aufmerksamkeit ringen.
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CARL-FRIEDRICH GRAUMANN UND MARGRET WINTERMANTEL
Diskriminierende Sprechakte. Ein funktionaler Ansatz
Soziale Diskriminierung Das Konzept der sozialen Diskriminierung Was bedeutet es, wenn wir sagen, dass wir andere diskriminieren und dass wir uns dabei häufig sprachlicher Mittel bedienen? Diskriminieren im weitesten Sinn ist eine der grundlegendsten und allgegenwärtigsten menschlichen Handlungen. Als der Prozess, mit dem wir auf unterschiedliche Stimuli unterschiedlich reagieren, ist Diskriminieren praktisch bedeutungsgleich mit Verhalten.1 Aus einer kognitiven Perspektive bedeutet Diskriminieren das Wahrnehmen oder Kennzeichnen der besonderen Eigenschaften einer Person oder eines Gegenstands. Wir befassen uns zwar nicht mit diesen elementaren Unterscheidungen, aber sie sind die Grundvoraussetzung dessen, was wir meinen, wenn wir von sozialer Diskriminierung bzw. von der Diskriminierung anderer sprechen. Hier bedeutet Diskriminieren die Ungleichbehandlung von Personen auf kategorialer Basis, also in der Regel ohne Berücksichtigung individueller Eigenschaften oder Verdienste. Im Kontext der sozialpsychologischen Forschung bedeutet die Praxis der kategorialen Diskriminierung, dass Personen aufgrund ihrer (tatsächlichen oder vermeintlichen) Gruppen- oder Klassenzugehörigkeit unterschiedlich behandelt werden. Eine solche unterschiedliche Be1 Stevens, Stanley S., »Psychology and the Science of Science«, in: Psychological Bulletin, Bd. 36, 1939, S. 221-263.
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handlung kann sich sowohl in der Form von Akzeptanz als auch in der Form von Zurückweisung äußern;2 das Hauptinteresse sozialwissenschaftlicher Diskriminierungsforschung richtet sich jedoch auf die verschiedenen Techniken und Modalitäten der Benachteiligung anderer Personen, denen es verweigert oder verunmöglicht wird, ihre Ziele zu verfolgen und zu erreichen, während dies anderen Personen offen steht. Folglich ist das Konzept sozialer Diskriminierung untrennbar mit den Begriffen der Gerechtigkeit, Gleichheit und Gleichberechtigung verknüpft; die Verweigerung von Gleichbehandlung bedeutet auch die Verweigerung gleicher Rechte. Das lässt sich an den gängigen Mustern sozialer Diskriminierung ablesen: Angehörigen bestimmter Kategorien oder Gruppen wird die Gleichbehandlung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, bei der Entlohnung, in der politischen Repräsentation oder bei der Nutzung öffentlicher Einrichtungen verwehrt. Neben diesen sehr plakativen Beispielen für die Verweigerung von Rechten, die in Staatsverfassungen und internationalen Chartas festgeschrieben sind, gibt es eine beträchtliche Anzahl diskriminierender Verhaltensweisen, mit denen die Mitglieder einer (Mehrheits-)Gruppe den Mitgliedern einer anderen (Minderheiten-)Gruppe Gleichbehandlung oder gleiches Ansehen – d. h. die Behandlung und das Ansehen, das sie »naturgemäß« für sich selber beanspruchen – verweigern. In einem von Allport zitierten UN-Dokument heißt es: »Diskriminierung liegt nur dann vor, wenn Individuen oder Personengruppen eine Gleichbehandlung verweigert wird, die von ihnen selber gewünscht wird.«3 Wir möchten diese Verweigerung durch die Formulierung »auf einer kategorialen Basis« präziser bestimmen. In diesem Sinn lässt sich dann von Diskriminierung sprechen, wenn Mitglieder einer Mehrheitsgruppe beispielsweise versuchen, engen oder persönlichen Kontakt mit den Mitgliedern einer Minderheitengruppe zu vermeiden, wenn sie sich weigern, direkt mit ihnen zu kommunizieren oder – falls direkter Kontakt unvermeidbar ist – wenn sie ihnen gleiches Ansehen und gleichberechtigte Teilhabe an Kommunikation vorenthalten. Vor allem diese Strategie, andere ausschließlich aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit auf sozialen Abstand zu halten oder auf eine niedrigere soziale Position zu verweisen, wird mit einer Reihe diskriminierender Verhaltensweisen umgesetzt, von denen viele auf den Möglichkeiten basieren, die die Sprache bietet. »Strategie« lässt »Absicht« anklingen, was uns zu einem bekannten Problem führt. Und tatsächlich geht es in der juristischen Diskussion über das Recht von Minderheiten auf politische Repräsentation darum, ob Diskriminierung über diskriminierende Effekte oder über die diskriminierende Absicht definiert werden
2 Vgl. Jaspars, Jos M. F., »Discrimination: Social Psychology«, in: Rom Harré / Roger Lamb (Hg.), The Encyclopedic Dictionary of Psychology, Oxford 1983, S. 158. 3 Allport, Gordon W., The Nature of Prejudice, Cambridge / MA 1954, S. 51.
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soll.4 Diese Debatte weist verständlicherweise Ähnlichkeiten mit der Diskussion über das psychologische Konstrukt der Aggression auf. Wenn Diskriminierung absichtlich erfolgt, kann man von Aggression sprechen. Möglicherweise resultieren aber viele oder sogar die meisten diskriminierenden Effekte nicht nur aus aggressiven oder diskriminierenden Absichten, oder sie haben sogar ganz andere Ursachen. Wir verzichten in dem vorliegenden Artikel darauf, diese Fragen ein weiteres Mal aufzuwerfen, da wir wissen, dass uns die Interpretation unbewusster Absichten in eine Sackgasse führen würde. Unser Interesse gilt stattdessen den Funktionen sozialer Diskriminierung und den Sprechweisen, die es ermöglichen, andere zu diskriminieren, d. h. ihnen diejenigen Rechte (in einem nicht-juristischen Sinn) und die Gleichbehandlung zu verweigern, die ihnen zustehen und die sie vermutlich anstreben. Die Frage, ob ein individueller diskriminierender Sprechakt (DSA) mit oder ohne (bewusste) Absicht geäußert wird, soll der empirischen Diskriminierungsforschung überlassen werden. Wir möchten hier innerhalb eines sozialpsychologischen Rahmens das Verhältnis zwischen Sprache und sozialer Diskriminierung und insbesondere das Konzept des diskriminierenden Sprechakts diskutieren. Soziale Diskriminierung wird hier als eine Form sozialer Handlung verstanden. Sie impliziert einen Akteur, den Diskriminierenden, und eine Zielperson bzw. Zielgruppe. Entsprechend ist soziale Diskriminierung ein relativer Begriff. Sie kann wie jede Handlung sowohl durch Tun als auch durch Unterlassen vollzogen werden. Das Gleiche gilt für diskriminierendes Sprechen: Eine Person zu ignorieren, d. i. sie unerwähnt zu lassen, kann ebenso diskriminierend sein wie explizit in kategorialer Weise über sie zu sprechen.
Die Funktionen sozialer Diskriminierung Wenn wir im Folgenden einige Erscheinungsformen sozialer Diskriminierung aufzeigen und diskutieren, behaupten wir weder, dass unsere Liste vollständig ist, noch nehmen wir an, dass die verschiedenen Formen sich gegenseitig ausschließen. Vielmehr sind sie als unterschiedliche Aspekte und Zielsetzungen sozialer Diskriminierung zu verstehen. In Abb. 1 haben wir versucht, die verschiedenen Funktionen schematisch darzustellen. 1. Diskriminieren als Trennen. Wie weiter oben erläutert wurde, ist dies der grundlegende Vorgang, durch den A und Nicht-A voneinander unterschieden oder als unterschiedlich gesetzt und voneinander getrennt werden: das Selbst von dem Anderen, die Ingroup von der Outgroup. Die konzeptuelle bzw. kognitive Bedeutung des Trennens ist das »Ziehen einer Trennlinie« durch Kategorisierung oder Klassifizierung; sein Ergebnis ist strukturelle Ordnung. 4 Vgl. Thernstrom, Abigail M., »The Right of Ethnic Minorities to Political Representation«, in: Charles Fried (Hg.), Minorities: Community and Identity, Berlin 1983, S. 329-339.
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Trennen:
Distanzieren:
Akzentuieren:
Abwerten:
plus
minus
Zuschreiben:
plus
minus
Festschreiben: plus
minus
Abb. 1: Eine schematische Darstellung der unterschiedlichen Funktionen sozialer Diskriminierung. Die linke Hälfte bezeichnet je die Ingroup (die Kategorie des »Eigenen«), die rechte bezeichnet die Outgroup (die Kategorie des »Anderen«).
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2. Diskriminieren als Distanzieren. Das Ziehen einer Trennlinie zwischen A und B ist nicht gleichbedeutend mit dem Schaffen eines (semantischen oder sozialen) Abstands zwischen ihnen. Aber die effektivste Art, Dinge oder Menschen voneinander getrennt zu halten, ist, Distanz zwischen ihnen zu schaffen und damit eine auf den ersten Blick sichtbare Ordnung herzustellen. 3. Diskriminieren als Akzentuieren. Wenn wir nach Kategorien unterscheiden und Abstände zwischen diesen schaffen, betonen wir Unterschiede statt Gemeinsamkeiten. Das führt in der Regel zu einer Akzentuierung der Unterschiede zwischen den betreffenden Kategorien. Lässt man aus einer Heterogenität eine akzentuierte Gestalt hervortreten, besteht der kognitive Effekt darin, dass sie mühelos wahrgenommen und erinnert werden kann. 4. Diskriminieren als Abwerten. Mit sozialer Diskriminierung geht in der Regel die Abwertung der Outgroup einher, so dass der Wert der Ingroup und der eigenen sozialen Identität – zumindest implizit – gesteigert werden kann (Selbstwertsteigerung). 5. Diskriminieren als Festschreiben. Wenn wir eine Person diskriminieren, behandeln wir sie nicht als Individuum mit verschiedenen Seinsweisen und Handlungen, sondern als einen Fall, als ein Beispiel für eine Kategorie oder als ein typisches Mitglied einer Outgroup. Eine Person wird generisch, d. h. als Vertreter ihrer »Gattung« und damit als austauschbar behandelt, wenn ihr entweder (typische) Eigenschaften zugeschrieben werden oder sie einem Typus (Stereotyp) zugeordnet wird. In beiden Fällen wird der Empfänger endgültig gekennzeichnet und festgeschrieben. In der Folge erwartet der Diskriminierende von der diskriminierten Person typisches, d. h. vorhersehbares Verhalten. Die psychologische Ökonomie des Konstanten gegenüber dem Variierenden, des Beständigen gegenüber dem Flüchtigen, erschließt sich unmittelbar: Wenn eine Person (oder ein Gegenstand) typisiert wird, »wissen« wir, mit wem oder womit wir es zu tun haben und wie wir uns in Zukunft verhalten müssen, wenn wir auf ein typisches »Beispiel« der Kategorie treffen: Juden bleiben Juden, Frauen bleiben Frauen, Schwule bleiben Schwule.
Der Wandel im Erscheinungsbild sozialer Diskriminierung Bei der Analyse sozialer Diskriminierung stößt man auf ein Problem, das auf das Zusammentreffen zweier sozialpsychologischer Traditionen zurückzuführen ist, die beide einiges zu wünschen übrig lassen. Die erste dieser beiden Traditionen betrachtet soziale Diskriminierung als eng verknüpft mit Stereotypen und Vorurteilen. Bis heute liegt dieses konzeptuelle Dreieck Lehrbüchern und Forschungsmonographien über soziale Diskriminierung zugrunde. Es gründet auf der Annahme, dass Stereotype die kognitive Basis bzw. der kognitive Anteil von Vorurteilen sind und dass Vorurteile ihrerseits zu Diskriminierung führen. Wir kennen
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das gleiche Problem aus der Beziehung zwischen Einstellungen und Verhaltensweisen: Auch wenn sich vorherrschende Stereotype und Vorurteile vielleicht gleichsetzen lassen, legen Individuen trotz ihrer Vorurteile nicht notwendigerweise beobachtbares diskriminierendes Verhalten an den Tag. Andererseits können Personen andere Personen faktisch auch dann diskriminieren, wenn sie keine feststellbaren Vorurteile gegen sie hegen, z. B. wenn sie sich weigern, ihre Häuser und Wohnungen an Angehörige einer bestimmten ethnischen Gruppe zu verkaufen oder zu vermieten – »ausschließlich aus Angst vor der Reaktion der Nachbarn.«5 Sollte es Vorurteile geben, die nicht zu Diskriminierung führen, und Diskriminierung, die nicht auf Vorurteile gründet – und wir wissen, dass es sie gibt –, was hat die Sozialpsychologie dann zu dem Verständnis über das Verhältnis zwischen ihnen beigetragen? Wie lässt sich die scheinbar enge Verknüpfung von Stereotypen und Vorurteilen mit Diskriminierung begründen? In der »naiven Phase« wurde angenommen: Wenn wir eine Einstellung kennen, können wir das Verhalten voraussagen; wenn wir das (zugrundeliegende) Vorurteil kennen, können wir die (daraus folgende) Diskriminierung besser bekämpfen. Dieses relativ schematische Modell wurde aus verschiedenen theoretischen und methodologischen Gründen verworfen. Stattdessen dominiert in der derzeitigen, primär »kognitiven« Sozialpsychologie das Interesse an den kognitiven Aspekten von Vorurteilen und an der Integration des konzeptuellen Dreiecks in den allgemeineren theoretischen Komplex der »sozialen Kognition«.6 Dieses problematische Dreieckskonzept trifft nun auf die Neigung der Sozialpsychologie, expressives Verhalten [overt behavior] zu dethematisieren. Außer in der relativ folgenlosen behavioristischen Phase hat soziales Verhalten bzw. soziale Interaktion in der Sozialpsychologie unbestreitbar schon immer wesentlich weniger Forschungsinteresse geweckt als Kognition und Motivation, wie beispielsweise Einstellungen und deren Wandlung. In der Literatur über Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung findet sich folglich kaum Forschung über Letzteres und, da Sprache für die Sozialpsychologie kein relevantes Thema ist, fast nichts über verbales Verhalten. In einem kürzlich erschienenen Forschungsüberblick über Studien zu verstecktem Rassismus wird mit drei Kategorien rassistischen Verhaltens operiert:7 helfendes Verhalten, aggressives Verhalten und nichtverbales Verhalten – verbales Verhalten bleibt unerwähnt. In einigen Studien wird gesprochene Sprache zwar 5 Seemann, Melvin, »Intergroup Relations«, in: Morris Rosenberg / Ralph T. Turner (Hg.), Social Psychology. Social Perspectives, New York 1981, S. 378-410, hier S. 380. 6 Hamilton, David L. (Hg.), Cognitive Processes in Stereotyping and Intergroup Behavior, Hillsdale 1981. 7 Crosby, Faye / Stephanie Bromley / Leonard Saxe, »Recent Unobtrusive Studies of Black and White Discrimination and Prejudice: A Literature Review«, in: Psychological Bulletin, Bd. 87, 1980, S. 546-563.
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als eine abhängige Variable beschrieben,8 aber ihr diskriminierender Charakter wird anhand von para- und extralinguistischen Spracheigenschaften erfasst: Stimmlage, Lautstärke, körperlicher Abstand zwischen den Sprechenden und Länge der Äußerungen. Dieser Fokus auf nichtverbale Variablen erklärt sich aus dem Dilemma des voreingenommenen Sprechers – ein primär, wenn auch nicht ausschließlich »amerikanisches Dilemma«:9 Gemeint ist der Konflikt zwischen dem Glauben an die liberalen Gleichheitsideale einer modernen westlichen Demokratie auf der einen Seite und den mit dem Gefühl der eigenen (Gruppen-)Überlegenheit zusammenhängenden Individual- oder Gruppeninteressen, Konkurrenzgefühlen, Ängsten, Impulsen und Vorurteilen auf der anderen Seite. Da das Äußern liberaler Ideale im Gegensatz zur Verbalisierung von Vorurteilen gesellschaftlich erwünscht ist, artikuliert sich Diskriminierung weniger als offener verbaler Gehalt – diesen kann der Sprecher leichter kontrollieren – denn als das, was ein Sprecher unbewusst »von sich gibt« oder was »zwischen den Zeilen« gelesen werden kann. Hier bedarf es entsprechender Forschungsmethoden. Es gibt ein weiteres historisches Argument für diesen Ansatz. Im Vergleich zu den 1940er Jahren, in denen Myrdal seine Hypothese formuliert hat, hat sich das Dilemma anscheinend verschärft. Zumindest Forscher, die US-amerikanischen Rassismus untersuchen, sind sich darüber einig, dass sich der »Diskriminierungsstil« im Zuge der Bürgerrechtsbewegung geändert hat. Etwa seit den 1950er Jahren ist der althergebrachte, offene, »hinterwäldlerische« Rassismus gegenüber »modernen«10, »symbolischen«11, »aversiven«12 und ambivalenten13 Erscheinungsformen von Rassismus in den Hintergrund getreten. Die Ambivalenz dieser »modernen« Formen von Rassismus und Diskriminierung weist eine spezifische Logik auf: Ja, Rassismus war nicht gut und ist mittlerweile überwunden; aber es ist eine Tatsache, dass Schwarze »zu massiv und zu
8 Bishop, George D., The Effects of Perceived Similarity on Interracial Attitudes and Behaviors, Unver. Diss., New Heaven 1976; Hendricks, M. / R. Bootzin, »Race and Sex as Stimuli for Negative Affect and Physical Avoidance«, in: Journal of Social Psychology, Bd. 98, 1976, S. 111-120; Weitz, Shirley, »Attitude, Voice and Behavior: A Repressed Affect Model of Interracial Interaction«, in: Journal of Personality and Social Psychology, Bd. 24, 1972, S. 14-21. 9 Myrdal, Gunnar, An American Dilemma: The Negro Problem and Modern Democracy, New York 1944. 10 McConahay, John B., »Modern Racism and Modern Discrimination: The Effects of Race, Racial Attitudes, and Context on Simulated Hiring Decisions«, in: Personality and Social Psychology Bulletin, Bd. 9, 1983, S. 551-558; ders., »Modern Racism, Ambivalence and the Modern Racism Scale«, in: John F. Dovidio / Samuel L. Gaertner (Hg.), Prejudice, Discrimination, and Racism, Orlando / FL 1986, S. 91125. 11 McConahay, John B. / Joseph C. Hough, »Symbolic Racism«, in: Journal of Social Issues, Bd. 32, 1976, S. 23-45. 12 Gaertner, Samuel L. / John F. Dovidio, »The Aversive Form of Racism«, in: dies. (Hg.), Prejudice, Discrimination, and Racism, Orlando / FL 1986, S. 61-89. 13 Katz, Irwin, Stigma: A Social Psychological Analysis, Hillsdale / NJ 1981.
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schnell in Domänen eindringen, in denen sie nicht erwünscht sind.«14 Der »negative Affekt, den aversive Rassisten gegenüber Schwarzen empfinden, ist dementsprechend nicht einfach als Feindschaft oder Hass zu beschreiben, sondern als eine »Negativität«, die Unwohlsein, Angespanntheit, Abneigung und manchmal Angst beinhaltet: Faktoren, die eher Vermeidungsstrategien nach sich ziehen als intentional destruktives Verhalten.«15 Was hier für Rassismus gezeigt wurde, lässt sich auf Sexismus16 und andere Formen »moderner« Diskriminierung übertragen: Die Tatsache, dass in vielen (in den meisten?) westlichen Ländern offene (»althergebrachte«) ethnische, religiöse und weitere soziale Vorurteile mittlerweile gesellschaftlich unerwünscht, aber immer noch weit verbreitet sind, führt zu indirekten und gesellschaftlich weniger unerwünschten Formen von Diskriminierung. Wagner / Machleit17 kommen in ihrer Studie zu der Diskriminierung von »Gastarbeitern« in Westdeutschland zu einem ähnlichen Schluss: »Die meisten voreingenommenen Menschen üben lieber Arten der Diskriminierung aus, die nicht bestraft werden können. Ein gängiger, weitgehend tolerierter Typ von Diskriminierung besteht darin, Kontakt zu Mitgliedern ethnischer Minderheiten zu vermeiden.«
Wir können von den Studien über »moderne« Diskriminierung für unser eigenes Forschungsinteresse lernen, dass wir uns nicht auf die Suche nach »offen« diskriminierender, aggressiver Sprache beschränken sollten, sondern Sprachproben nach Zeichen und Symbolen defensiver, aversiver, ambivalenter Einstellungen untersuchen sollten, da auch solche Zeichen die wichtigsten Funktionen der Diskriminierung erfüllen: Trennen, Distanzieren, Unterschiede betonen, Abwerten, Festschreiben – Zeichen, die nicht unbedingt von jedem als diskriminierend erkannt werden, die aber denen gegenüber, »die sie angehen«, Signalwirkung besitzen. Wen geht diskriminierendes Verhalten an? Es zielt natürlich auf das Individuum ab, das als Mitglied einer diskriminierten Gruppe betrachtet wird und dem, solchermaßen kategorisiert, Gleichbehandlung verweigert wird. Die Vermeidungshypothese legt es allerdings nahe, dass soziale Diskriminierung in aller Regel eben nicht frontal auf die Adressaten diskriminierenden Sprechens abzielt. Stattdessen sind die Opfer eher diejenigen, über die wir reden, mit denen wir aber 14 McConahay, »Modern Racism, Ambivalence and the Modern Racism Scale«, a.a.O. 15 Gaertner / Dovidio, »The Aversive Form of Racism«, a.a.O. 16 Spence, Janet T. / Kai Deaux / Robert L. Helmreich, »Sex Roles in Contemporary American Society«, in: Lindzey Gardner / Elliot Aronson (Hg.), Handbook of Social Psychology, New York 1985, S. 149-178. 17 Wagner, Ulrich / Uwe Machleit, »›Gastarbeiter‹ in the Federal Republic of Germany: Contact Between Germans and Migrant Populations«, in: Miles Hewstone / Rupert Brown (Hg.), Contact and Conflict in Intergroup Encounters, Oxford 1986, S. 59-78, hier S. 60.
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das direkte Gespräch vermeiden, wie uns die sozialpsychologische Erforschung »moderner« Diskriminierung gezeigt hat. Es bedarf noch einer letzten konzeptuellen Klärung bezüglich der Verwendung des Begriffs »Diskriminierung« in der zeitgenössischen Sozialpsychologie. Studien über intergruppales Verhalten, vor allem in der Tradition Tajfels, operieren oft mit dem Begriff »intergruppale Diskriminierung«, wo »intergruppale Differenzierung« adäquater wäre. Mitglieder der Gruppe A unterscheiden zwar in der Regel zwischen ihrer eigenen Gruppe und allen anderen Gruppen oder einer bestimmten Gruppe B und bevorzugen ihre Ingroup, wie in zahlreichen Experimenten nachgewiesen wurde;18 das heißt allerdings (noch) nicht, dass Mitglieder der Gruppe A anderen Individuen die von diesen angestrebte Gleichbehandlung per se auf einer kategorialen Basis verweigern. »Ingroup-Favorisierung« basiert zunächst auf Unterscheidung und nicht auf Diskriminierung. Aber aus Unterscheidung kann Diskriminierung werden. Folglich hat Tajfel als zumindest eine der Bedingungen, unter denen das Verhalten zwischen Gruppen eine antagonistischere Form annimmt, den »Glauben [beschrieben], dass die relevanten sozialen Grenzen zwischen den Gruppen trennscharf verlaufen und unverrückbar sind, d. h. dass es, warum auch immer, für Individuen unmöglich oder zumindest schwierig ist, von einer Gruppe in eine andere zu wechseln.«19 In diesem Konzept der Trennung zwischen Ingroup und Outgroup spiegeln sich die eingangs skizzierten Funktionen sozialer Diskriminierung. Die alltägliche Diskriminierung von Minderheiten zeigt sich deutlich anhand der scharf gezogenen Trennlinien, entlang derer den Mitgliedern einer Outgroup die Gleichberechtigung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, bei der Entlohnung und beim beruflichen Fortkommen, in der Politik etc. verweigert wird. Diese alltäglichen Formen von Diskriminierung haben aber für die Sozialpsychologie höchstens Beispielcharakter und wecken kein Forschungsinteresse. Die Auseinandersetzung mit ihnen wird von Soziologen und Politikwissenschaftlern geleistet. Aufgrund ihrer bevorzugt experimentellen Ausrichtung muss die Sozialpsychologie diskriminierendes Verhalten auf abhängige Variablen reduzieren: auf die unterschiedliche Zuweisung von »Spielgeld« (»Tokens«) in »minimalistischen« sozialen Settings20 oder auf die unterschiedliche Bewertung von Ingroup und Outgroup21. Ausnahmen dieser realitätsfernen Operationalisierungen sind die in Ferienlagern
18 Tajfel, Henri, Differentiation Between Social Groups, New York 1978. 19 Ebd., S. 51. 20 Vgl. z. B. ebd.; Tajfel, Henri, »Experiment in Intergroup Discrimination«, in: Scientific American, Bd. 223, Heft 5, 1970, S. 96-102; Turner, John C., Rediscovering the Social Group. A Self-Categorization Theory, Oxford 1987. 21 Vgl. z. B. Doise, Willem, »Relations et Représentations Intergroupes«, in: Serge Moscovici (Hg.), Introduction à la Psychologie Sociale, Paris 1972, S. 194-213.
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durchgeführten Feldstudien von Sherif22 und Sherif / Sherif 23 über das aggressive Verhalten der »Bull Dogs« und der »Red Devils«. Die weitgehende Ausklammerung alltäglicher Diskriminierung aus der sozialpsychologischen Forschung lässt sich nur begrenzt methodologisch begründen. Teilweise erklärt sie sich aus ihrer traditionellen Vernachlässigung »sprachlichen Verhaltens«. Wenn, wie von uns vorgeschlagen, die Sozialpsychologie ihre Zurückhaltung gegenüber der Sprache überwindet, könnten der psychologischen Forschung zentrale Aspekte alltäglicher sozialer Diskriminierung und insbesondere die Diskriminierung durch Sprache zugänglich gemacht werden.
Sprache, Handlung und soziale Diskriminierung Die Funktionen sozialer Diskriminierung in der Sprache Sprache ist ein zu universelles, komplexes und allgegenwärtiges Phänomen, als dass sie von einer Disziplin aus erschöpfend analysiert werden könnte. Wir betrachten Sprechen und Verstehen als grundlegende Elemente sozialer Interaktion und insofern als einen zentralen Gegenstand sozialpsychologischer Forschung.24 Dementsprechend meinen wir, dass das Forschungsinteresse eines Sozialwissenschaftlers an der Sprache ein eigenes Profil aufweisen sollte, das sich deutlich von den Vorgehensweisen in anderen Disziplinen unterscheidet. In der Perspektive von Sozialwissenschaftlern und Sozialpsychologen ist Sprache in erster Linie ein Medium, durch das Personen (inter-)agieren. Zwar befasst sich die Sozialpsychologie traditionell mit Kognitionen und mit kognitiv-affektiven Verhaltenskomponenten; diese aber »schweben nicht ziellos durch die soziale Welt, sondern zirkulieren als Äußerungen, Begriffe und Worte, die gesprochen und geschrieben werden.«25 Wenn wir diese Zirkulation von Äußerungen zu einem sozialpsychologischen Forschungsgegenstand machen, so bedeutet das nicht, dass wir Sprache nicht mehr als ein Zeichensystem betrachten,26 sondern wir stimmen mit de Saussure27 darin überein, dass wir das Leben der Zeichen im Kontext des sozialen Lebens betrachten müssen oder dass wir, nach einer neueren Formulie22 Sherif, Muzafer, Group Conflict and Cooperation: Their Social Psychology, London 1967. 23 Sherif, Muzafer / Carolyn W. Sherif, Groups in Harmony and Tension, New York 1953. 24 Graumann, Carl Friedrich, »Sprache als Medium sozialer Interaktion«, in: Wolfgang Maiers / Morus Markard (Hg.), Psychologie als Subjektwissenschaft, Frankfurt 1987, S. 57-65. 25 Thompson, John B., »Language and Ideology: A Framework for Analysis«, in: The Sociological Review, Bd. 35, 1987, S. 516-536, hier S. 517. 26 Vgl. Bühler, Karl, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart 1965. 27 Saussure, Ferdinand de, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1966, S. 16.
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rung Austins, die Dinge untersuchen müssen, die wir gegenüber Anderen mit Worten tun.28 Eines dieser Dinge, die wir Anderen mit bedeutungstragenden Worten »antun«, ist die Erschaffung, die Aufrechterhaltung und die Reproduktion oder Auflösung sozialer (interpersonaler) Beziehungen. Ein Aspekt der Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen, der für die Untersuchung sozialer Diskriminierung von besonderem Interesse ist, ist die Aufrechterhaltung von Machtbeziehungen, beispielsweise zwischen der In- und der Outgroup, der Mehrheits- und der Minderheitengruppe. Wenn soziale Diskriminierung, wie wir sie verstehen, die unterschiedliche, d. h. benachteiligende Behandlung von Individuen z. B. als Mitglieder der Outgroup ist, dann steht sie, ob verbal oder nichtverbal, im Dienst der Aufrechterhaltung von Herrschaft. Wenn Sprache, wie wir sie verstehen, ein zentrales Mittel zur Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen ist, gilt das Hauptinteresse dieses Textes der Frage, wie Sprechakte Andere diskriminieren können, indem sie Machtbeziehungen zwischen der Sprechergruppe und derjenigen Gruppe aufrecht erhalten, der der Adressat oder die Person, über die gesprochen wird, zugeordnet wird. Wir werden nun beispielhaft beschreiben, wie diese Ziele durch Worte und Sprechakte erreicht werden können. Trennen. Eine unscheinbare, aber gravierende Möglichkeit, eine Trennlinie zwischen der In- und der Outgroup zu ziehen, besteht in dem systematischen und wiederholten Gebrauch von »WIR« und »SIE«. Diese beiden Worte sind die pronominalen Äquivalente zu »Ingroup« und »Outgroup«. Mit dem Gebrauch der 1. Person Plural verweisen Sprecher nicht nur auf ihre Ingroup, sondern formulieren gleichzeitig ihre soziale Identität. Die Verwendung des Pronomens der 3. Person Plural weist dagegen auf einen sozialen Unterschied hin: Mit DENEN identifizieren wir uns nicht. Zavalloni29 beschreibt die soziale Semantik von WIR vs. SIE überzeugend, wenn sie zeigt, dass »WIR und SIE als Parameter der gleichen Gruppenzugehörigkeit koexistieren [können]«.30 Französische und amerikanische Befragte aus (schwarzen bzw. jüdischen) Minderheits- oder Mehrheitsgruppen »verwendeten negative Beschreibungen für ihre Gruppen, wenn SIE als Pronomen für die Gruppe verwendet wurde«,31 während die Verwendung von WIR mit positiveren oder zumindest neutralen Beschreibungen einherging. Diese Erkenntnis ist insofern wichtig, als sie zeigt, dass die Unterscheidungskraft dieser Personalpronomen sich nicht auf bereits bestehende Gruppen beschränkt, sondern auch Trenn28 Austin, John, Zur Theorie der Sprechakte (How to Do Things with Words), Stuttgart 1975. 29 Zavalloni, Marisa, »Social Identity. Perspectives and Prospects«, in: Social Science Information, Bd. 12, 1973, S. 65-91. 30 Ebd., S. 83. 31 Ebd., S. 85.
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linien innerhalb einer Gruppe ziehen und so den Grad der Identifizierung des Sprechers mit der Gruppe ausdrücken kann. Distanzieren. Manchmal kann die Bezeichnung SIE den Bezeichneten demonstrativ als »die Person da« beschreiben; van Dijk32 spricht sogar von den »Demonstrativa der Distanz.« »Die da« sind die, auf die wir demonstrativ zeigen. Von einem sozialen Abstand aus auf jemanden zu zeigen, ob verbal oder nichtverbal, gilt in unserer Ingroup als unhöflich. Die Semantik der sozialen Trennung und Distanzierung beschränkt sich nicht auf die Verwendung unterschiedlicher Pronomen. In ihren Studien über »Sprache in der Sprache« sprechen Mehrabian33 und Wiener34 von Formen der »NichtUnmittelbarkeit« [nonimmediacy]: sprachliche Mittel, mit denen sich tendenziell negative Gefühle gegenüber Personen oder Gegenständen ausdrücken lassen, indem man sie in eine räumliche oder zeitliche Distanz verweist, indem man vermeidet, sie überhaupt zu erwähnen, obwohl der Kontext es nahelegt, indem man uneindeutig auf sie verweist.35 Unmittelbarkeit wird häufig dadurch vermieden, dass auf Situationen oder auf einen abstrakten »Stand der Dinge« verwiesen wird statt direkt auf die beteiligten Personen. Ein Sprecher kann beispielsweise einfach sagen, dass in einer angespannten Situation »plötzlich Kugeln flogen«, statt zu erzählen, dass Mitglieder einer Gruppe, mit der er selber sympathisiert, Gewalt gegenüber Mitgliedern einer anderen – ihm weniger nahestehenden – Gruppe verübt haben. Wir erfahren, dass Personen verletzt oder getötet »wurden«, ohne dass jemand erwähnt wird, der geschossen hat. Häufig verschwinden hinter diesem unpersönlichen, abstrakten und bürokratischen Sprachgebrauch die konkreten Menschen, wenn beispielsweise statt von Immigranten von der »Nettozuwachsrate« geredet wird.36 All diese Mittel kommen dann zum Einsatz, wenn Sprecher sich von anderen durch diskriminierende Sprechakte distanzieren oder abgrenzen wollen. Akzentuieren. Akzentuieren oder das Betonen von Unterschieden vollzieht sich üblicherweise über den Gebrauch sich gegenseitig ausschließender [disjunct] Kategorien und weniger über den Gebrauch ineinander übergehender [dimensional] Attribute, d. h. ohne wirklichen Rückbezug auf die fragliche Eigenschaft. Die sehr elaborierte psychologische Theorie der Akzentuierung im Kontext sozialer Kategorisierung und Beurteilung37 nimmt nur am Rande Bezug auf die Sprache 32 Van Dijk, Teun A., Prejudice in Discourse, Amsterdam 1984, S. 137. 33 Mehrabian, Albert, Silent Messages, Bellmont / CA 1971. 34 Wiener, Morton / Albert Mehrabian, Language within Language: Immediacy, a Channel in Verbal Communication, New York 1968. 35 Mehrabian, Silent Messages, a.a.O., S. 92. 36 Sykes, Mary, »Discrimination in Discourse«, in: Teun van Dijk (Hg.), Handbook of Discourse Analysis, Bd. 4, London 1985, S. 83-101, hier S. 98. 37 Eiser, Richard J. / Wolfgang Stroebe, Categorization and Social Judgment, London 1972; Überblick in Lilli, Waldemar, Soziale Akzentuierung, Stuttgart 1975.
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der Akzentuierung;38 wir möchten hier vor allem beispielhaft zeigen, wie intergruppale Differenzen und Unterschiede mit Worten suggeriert und akzentuiert werden, während Ähnlichkeiten ausgeblendet werden. Wir gehen davon aus, dass Menschen ein breites Spektrum ineinander übergehender (und sicherlich nicht klar voneinander abgrenzbarer) Hautfarben aufweisen: vom schwärzesten Schwarzen bis zum blassesten Weißen, von der tiefbronzenen Haut eines nordamerikanischen Indigenen bis zur Hautfarbe eines Asiaten. Wir haben jedoch nie einen »weißen« Mann, eine »schwarze« Frau oder eine »Rothaut« gesehen, mit Ausnahme stark geschminkter Schauspieler. Es wäre zutreffend, zu sagen, dass wir alle farbig sind; stattdessen neigen wir dazu, diesen weitgefächerten [dimensional] Begriff nur für die Bezeichnung von »Nichtweißen« zu verwenden, was sich wiederum rechtfertigen ließe, wenn »Weiße« wirklich weiß wären. Zudem hat sich die Bedeutung von »farbig« in den letzten Jahrzehnten verändert und wird sich wohl auch weiterhin verändern. Ehemals als politisch korrekte Bezeichnung für Schwarze verwendet, wurde es später durch »schwarz« ersetzt, als dies nicht länger ein negativer Begriff war. Auch der Begriff »Rasse« wurde verwendet, um menschliche Diversität zu beschreiben. Über die anthropologische Legitimität des »Rasse«-Konstrukts gab und gibt es widerstreitende Ansichten; unbestritten ist jedoch, dass vor allem die Nationalsozialisten die Kategorie der »Arier« ausschließlich zum Zweck der sozialen Segregation verwendeten. Über die weitverbreitete Behauptung einer »arischen Herkunft« hätte man sich lustig machen oder sie auch einfach ignorieren können,39 wenn in der antisemitischen Ideologie nicht die Figur des »NichtAriers« erfunden und erfolgreich eingeführt worden wäre, die sowohl zur individuellen als auch kollektiven Zielscheibe von rassistischem Hass, Verfolgung und schließlich Vernichtung wurde. Die Akzentuierung, die über diese folgenschwere Dichotomie erreicht wurde, äußerte sich als scharfer Kontrast zwischen der »überlegenen Rasse« (WIR) und dem ausschließlich negativ beschriebenen »rassisch minderwertigen Rest der Welt« (SIE). Hier hat Sprache dazu beigetragen, eine Politik der Segregation und sogar einen Genozid vorzubereiten und durchzuführen. Abwerten. Wer auf Distanz gehalten und als grundlegend anders bezeichnet wird, wird in aller Regel auch durch den Gebrauch abschätziger und verunglimpfender Worte abgewertet. Die negative Qualität solcher diskriminierender Worte kann durch eine sprachliche Negativkonstruktion erreicht werden, wie z. B. in den Formulierungen »nicht-arische Abstammung« oder »unamerikanische Umtriebe«. Andere Worte erwecken den Eindruck eines grundsätzlichen Mangels, so das von den Griechen und Römern verwendete »Barbaren«, das das Fehlen von
38 Eiser, Richard J. / Joop van der Pligt, »Attitudes in a Social Context«, in: Henri Tajfel (Hg.), The Social Dimension, Bd. 2, Cambridge 1984, S. 363-378. 39 Poliakov, Leon, The Aryan Myth, London 1974.
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»Kultur« beschreibt, oder die »Heiden«, denen es nach Ansicht der Christen am wahren Glauben und an der richtigen Religion mangelte. Viele ethnische Gruppen haben das Wort »Mensch« mit ihrem eigenen Gruppennamen gleichgesetzt, womit der »Rest der Welt« als weniger oder als gar nicht menschlich gekennzeichnet ist. Heutzutage gibt es für andere Gruppen sowohl neutrale als auch herabsetzende und entwürdigende Bezeichnungen. Beispiele hierfür sind: Polen Juden Nichtjuden Deutsche Italiener Schwarze Chinesen
oder oder oder oder oder oder oder
Polacken Itzig Goi Krauts / boches Itaker Neger Schlitzaugen, etc.
Allport40, der einige dieser Beispiele aufzählt, merkt zu Recht an, dass im Reden über Ethnien sogar die »neutralen« Substantive der Begriffspaare »emotional gefärbt« sein können; die zweiten Begriffe sind allerdings die »höherwertigen Äquivalente«. Sprecher, die diese Begriffe verwenden, »intendieren, nicht nur die Zugehörigkeit der Person zu beschreiben, sondern auch, sie zu beleidigen und zurückzuweisen.« Festschreiben. Was meinen wir, wenn wir eine andere Person als Juden, Belgier oder Türken bezeichnen? Der explizite Hinweis auf die Nationalität oder das Herkunftsland einer Person ist in den wenigsten Situationen erforderlich oder hilfreich; meistens ist er es nicht. Warum wird er trotzdem geäußert? Wenn wir auf die Gruppenzugehörigkeit einer Person verweisen statt auf ihre persönliche Identität (»Er ist Belgier« / »Sie ist türkisch«), hat diese Information in der Regel die Funktion einer Erklärung. Individuelles Verhalten durch den Hinweis auf (vermeintliche) Gruppeneigenschaften zu erklären, bedeutet jedoch, Individuen zu stereotypisieren, d. h. zu entindividualisieren. Typisieren im Sinne des Anwendens eines Gruppenstereotyps auf ein Individuum ist der Kern sozialer Diskriminierung, wie wir sie definiert haben: die (unterschiedliche) Behandlung von Individuen als Mitglieder einer Gruppe oder als Fallbeispiel einer sozialen Kategorie. Manchmal führen schon Nachnamen, wenn sie vermeintlich Hinweise auf eine ethnische Gruppe liefern (wie das »jüdische« Cohen, das »irische« O’Brien und das »italienische« Valenti), dazu, dass eine eigentlich individuelle Beurteilung
40 Allport, The Nature of Prejudice, a.a.O., S. 181.
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einer Person einem starren ethnischen Gruppenvorurteil und der entsprechenden Auf- oder Abwertung der Person Platz macht.41 Die relative Stabilität und sogar Unveränderlichkeit von Stereotypen, vor allem von nationalen, ethnischen oder »rassischen«, ist oft beschrieben worden. Diese Unwandelbarkeit spielte schon in den ersten Konzeptualisierungen von Stereotypen eine wichtige Rolle, beispielsweise bei Lippmans42 Einführung des Konzepts in die Sozialwissenschaften. Grundsätzlich gibt es zwei Strategien, mit denen andere festgeschrieben, d. h. dauerhaft identifizierbar gemacht werden können, nämlich entweder das Zuschreiben von Eigenschaften oder das Zuschreiben von Typen (die wiederum als Mengen von Eigenschaften beschrieben werden können). Die sprachliche Erscheinungsweise dieser beiden Kategorisierungsstrategien ist die »Etikettierung« [labeling]. Wir schreiben Eigenschaften zu, indem wir uns oder andere mit Adjektiven etikettieren, während Typisierung üblicherweise über die Verwendung von Substantiven erfolgt. Besonders die Typisierung durch Substantivierung schreibt die andere Person als einen typischen Repräsentanten einer sozialen Kategorie fest und beschränkt die Perspektive, aus der die betreffende Person betrachtet werden wird, und legt sie dauerhaft fest. Die Formulierung »Er ist ein Neurotiker« klammert nicht nur aus, dass die fragliche Person verheiratet ist, als Zahnarzt arbeitet, Klavier spielt, politisch liberal ist und so weiter, sondern steckt sie auch »für zukünftige Bezeichnungen« in eine Schublade. Eine als »Kommunistin« oder »Homosexueller« bezeichnete Person kann vieles anderes sein; in der verengten Perspektive des substantivierenden Etiketts ist er oder sie »nichts als« oder zumindest »in erster Linie« das, was wir über »Kommunisten« und »Homosexuelle« wissen und empfinden. Substantive scheinen in Sprachen, in denen sich die Nominalform von der Adjektivform unterscheidet, stärker zu etikettieren als Adjektive: »Er ist Jude« vs. »Er ist jüdisch.« Die perspektivische Enge, die durch Etikettierung entsteht, kann andererseits ohne weiteres verlassen werden, wenn das etikettierende Substantiv ergänzt bzw. zu einem Attribut abgeschwächt wird, wie der Vergleich zwischen »ein Schwarzer« und »ein schwarzer Boxer«, zwischen »ein Homosexueller« und »ein homosexueller Sänger« zeigt. Schon allein die Tatsache, dass die Aufmerksamkeit in den zweiten Beispielen auf zwei Attribute einer Person gelenkt wird, schwächt den Charakter des »nichts als« der Ein-Etikett-Perspektive und lässt sie weniger starr erscheinen.43 Der umfangreichen, hauptsächlich klinischen und kriminologischen Literatur über das Etikettieren zufolge werden diskriminierte Gruppen von »Devianten« hauptsächlich mit affektiv gefärbten Etiketten endgültig als minderwertig abgestempelt.
41 Vgl. die Experimente von Razran, Gregory, »Ethnic Dislikes and Stereotypes: A Laboratory Study«, in: Journal of Abnormal and Social Psychology, Bd. 45, 1950, S. 7-27. 42 Lippman, Walter, Public Opinion, New York 1922. 43 Allport, The Nature of Prejudice, a.a.O., S. 181.
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Soziale Funktion
Kognitivemotionaler Prozess
Sprachliche Manifestierung
Beispiele für explizite sprachliche Diskriminierung
Trennen
Unterscheiden
unterschiedlich benen-
»Wir / Sie«
nen Kategorisieren
semantisch kategorisie-
»Schwarzer Fahrer
ren
verursacht schweren Verkehrsunfall«
Distanzieren
»Wir / Sie«
Dichotomisieren, auf
Nicht-Unmittelbarkeit,
Unterschiede fokus-
z. B. raumzeitliche Dis- »diese Leute«
sieren
tanzierung unpersönliche Passiv-
»Kugeln flogen«
konstruktionen
Akzentuieren
Unterschiede über-
abstrakte Substantive
»die Nettozuwachs-
Verdinglichung
rate« (Sykes 1985)
emphatische Sprache
»das Eindringen von Fremden in die
treiben
Schweiz« Polarisieren
Kontrastieren
die jüdische Weltverschwörung, der »internationale Jude« (Henry Ford) »Neger«
Abwerten /
kategorisierende Ne-
Herabsetzen, abwerten-
Erniedrigen
gativbewertung,
de Sprache
affektive Reaktionen
Spotten
»Itaker«
auf soziale
Unterstellen (Zweifel,
Polenwitze
Kategorien
Ängste)
(»Vorurteil«)
Verleumden
Festschreiben
Stereotypisieren
Etikettieren
Eigenschaften
kategorische Attribu-
generische Kategorisie-
»faul«, »launisch«,
zuschreiben
tierung negativer Ei-
rung durch Adjektive
»verschlagen«,
genschaften Typisieren
als Typen oder typisch generische Kategorisie-
»Schwuchtel«, »Les-
kategorisieren
be«, »Kampflesbe«,
rung mit Substantiven
»rote Socke«, »Frau am Steuer«
Abb. 2: Soziale, mentale und sprachliche Erscheinungsformen sozialer Diskriminierung.
Abbildung 2 ist eine schematische Zusammenfassung des bisherigen Standes unserer funktionalen Konzeption diskriminierenden Sprechens. Wir stellen die Hypothese auf, dass 1. die sozialen Funktionen des Diskriminierens anderer Personen denjenigen kognitiven und emotionalen Prozessen Bedeutung verleihen, die
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in der Sozialpsychologie traditionell als Stereotype und Vorurteile untersucht werden, und 2., dass diese sozial bedeutsamen mentalen Prozesse sprachliche Ausdrucksformen haben (in der vierten Spalte nennen wir jeweils einige Beispiele). Die Validierung des tatsächlichen Verhältnisses zwischen den individuellen sozialen Funktionen sowie die Validierung des Verhältnisses zwischen diesen Funktionen, ihren mentalen Repräsentationen und ihren sprachlichen Erscheinungsformen bedarf weiterer empirischer Untersuchungen.44
Diskriminieren als sprachliches Handeln Die obigen Beispiele sollten die sprachlichen Mittel veranschaulichen, die in diskriminierender Absicht verwendet werden können. Nun stellt sich die Frage: Was sind die Voraussetzungen dafür, dass diskriminierendes Sprechen verstanden wird? Sprachliche Interaktion zwischen Personen kann nur dann funktionieren, wenn die Interaktionspartner sich über verschiedene Aspekte von Sprache einig sind. Einer dieser Aspekte ist die Semantik der verwendeten (Teil-)Äußerungen. Zwei Personen, die die gleiche Sprache sprechen, verstehen sich hinsichtlich der Semantik ihrer Sprache im Normalfall schon allein deswegen, weil sie die Sprache kennen. Sie wissen, welche Möglichkeiten ihnen die Sprache bietet, durch die passende Wortwahl und eine korrekte syntaktische Rahmung Bedeutung herzustellen. Das sprachliche Wissen über verbale Mittel, mit denen auf individuelle und gemeinsame Erfahrungen Bezug genommen werden kann, kann als eine stabile Basis für effektive Kommunikation zwischen den Interaktionspartnern gelten.45 Ein zweiter wichtiger Punkt, über den sich die Partner einig sein müssen, betrifft die Bandbreite an pragmatischen Funktionen dessen, was der Sprecher im Rahmen der kommunikativen Interaktion sagt. In diesem Bereich gibt es spezifische Bedeutungen, die darauf verweisen, was in der sprachlichen Interaktion getan wird. Diese zweite Art der Bedeutung kann als Sprecherbedeutung bezeichnet werden und muss von der semantischen Bedeutung unterschieden werden. Die Sprecherbedeutung bezieht sich auf die Absicht des Sprechers / der Sprecherin: darauf, ob er / sie etwas verlangt, um etwas bittet, versucht, seine / ihre ZuhörerInnen zu überreden. Die Konzeptualisierung dieser zwei Aspekte ein und derselben kommunikativen Äußerung als je einzeln vom Sprecher vollzogene Handlungen geht auf die Sprechakttheorie zurück. Austin46 und Searle47 haben gezeigt, dass das Sprechen mit einer anderen Person nicht nur 44 Die zentralen Thesen dieses Artikels sind in den Konzeptteil eines Forschungsvorhabens über »Sprachliche Diskriminierung« eingegangen, das bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingereicht wurde. 45 Clark, Herbert H., »Language Use and Language Users«, in: Lindzey Gardner / Elliot Aronson (Hg.), Handbook of Social Psychology, Bd. 2, Reading / MA, 1983, S. 179-231; Clark, Herbert H. / Thomas B. Carlson, »Speech Acts and Hearers Belief«, in: Neil V. Smith (Hg.), Mutual Knowledge, London 1982, S. 1-37. 46 Austin, Zur Theorie der Sprechakte, a.a.O. 47 Searle, John, Sprechakte. Ein sprachphilosophisches Essay, Frankfurt / Main 1969.
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bedeutet, eine Botschaft zu übermitteln, sondern auch immer heißt, eine Handlung zu vollziehen. Durch seine Ausrichtung auf eine andere Person ist der Sprechakt per se sozial. Beispiele für solche kommunikativen sozialen Handlungen, die durch eine Äußerung vollzogen werden, sind Befehle, Forderungen, Behauptungen, Versprechen usw. In der Sprechakttheorie werden sie Illokutionen genannt. Sie sind nicht zu verwechseln mit der Lokution des Sprechaktes. Die lokutionäre Komponente des Sprechaktes verweist auf Gegenstände, Zustände und Ereignisse, über die in der kommunikativen Äußerung etwas gesagt wird. Vom Standpunkt der Pragmatik aus kann die gleiche Aussage (die Basisinformation, die in einer Äußerung übermittelt wird) je nach Äußerungsart und Kontext verschiedene interpersonelle Funktionen erfüllen. Mit der Aussage »Es ist kalt draußen« beispielsweise kann der Sprecher verschiedene illokutionäre Handlungen vollziehen: Er kann die andere Person darum bitten, die Tür zu schließen, sie vor der Kälte warnen und ihr empfehlen, sich warm anzuziehen, ihr versichern, dass es drinnen gemütlicher ist und so weiter. Die Information an sich ist für das illokutionäre Potenzial der Äußerung tatsächlich irrelevant. Ebenso lässt sich an der Äußerung »Peter küsst Gabi« nachvollziehen, wie man in der Absicht, interpersonale Beziehungen zu regeln, verschiedene soziale Handlungen vollziehen kann. Auch mit dieser Äußerung kann man sehr unterschiedliche Dinge tun. Man kann zum Beispiel Hans wissen lassen, dass er bei Gabi keine Chance hat; man kann ihn dazu herausfordern, Ursula zu küssen; man kann die Aussage als Hinweis darauf verwenden, dass die beiden nicht gestört werden wollen etc. Kurz gesagt: Mit einer kleinen Information können verschiedene sozial-interaktionale Zwecke verfolgt werden. Dementsprechend ist das Verhältnis zwischen der Aussage und ihrer Funktion prinzipiell flexibel. Dieser Punkt ist für die Diskussion über sprachliche Diskriminierung von großem Interesse, da er die Tatsache verdeutlicht, dass nicht nur denjenigen Äußerungen eine diskriminierende Funktion zugeschrieben werden kann, die auf einer einfach zu entschlüsselnden Oberflächenebene negative Bewertungen enthalten. In vielen Zusammenhängen ist es Menschen nicht erlaubt, jemanden direkt zu diskriminieren, beispielsweise zu sagen: »Sie können in diesem Restaurant nicht essen, da Sie schwarz sind und wir hier keine Schwarzen wollen.«48 Wie weiter oben gezeigt wurde, scheinen heutzutage eher subtile Formen der Diskriminierung gebräuchlich zu sein. Die diskriminierende Funktion dieser subtilen Formen erschließt sich nicht auf den ersten Blick, sondern erst auf einer tieferen Verstehensebene zwischen den Teilnehmern. Diskriminierung durch Sprache vollzieht sich eher über den interaktionalfunktionalen Aspekt der Sprache als über den semantischen. Entsprechend sollte deutlich geworden sein, dass durch die Analyse der wörtlichen Bedeutung der diskriminierenden Äußerung nur ein Teil der sprachlichen Diskriminierung erfasst werden kann; der andere Teil bedarf einer gründlichen Analyse der Sprech48 Vgl. Crosby / Bromley / Saxe, »Recent Unobtrusive Studies of Black and White Discrimination and Prejudice«, a.a.O.
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situation und vor allem des Glaubenssystems, das bei der Beurteilung der diskriminierten sozialen Gruppe zum Zuge kommt und das von Sprecher und Zuhörer geteilt werden muss, damit subtile Diskriminierung funktionieren kann. Zwei Punkte sollen noch Erwähnung finden, bevor einige dieser subtilen Formen von Diskriminierung beschrieben werden, die mit den Mitteln der Sprache ausgeübt werden. Neben den bisher skizzierten Formen der Diskriminierung als soziales Handeln gibt es eine Art der Diskriminierung, die der Semantik der Sprache inhärent zu sein scheint, und eine weitere Diskriminierungsform, die aufgrund der Sprechweise einer Person ausgeübt wird. Nach einer kurzen Darlegung dieser Unterscheidung werden wir auf die illokutionäre Kraft diskriminierender Sprechakte zurückkommen. Diskriminierung, die dem Sprachsystem inhärent ist. Diese Sonderform sprachlicher Diskriminierung ist die einzige, die sich nicht direkt im individuellen Sprachgebrauch äußert, sondern allgemeiner in dem Verhältnis zwischen Sprache und sozialer Realität gründet. Dieses Verhältnis kann unterschiedlich konzeptualisiert werden. Traditionell wurde Sprache als ein Werkzeug verstanden, das der sozialen Struktur einer spezifischen Gesellschaft oder eines Staates gegenüber neutral ist und das daher von allen Mitgliedern einer Gesellschaft dafür genutzt werden kann, ihren kommunikativen Absichten nachzugehen. Entsprechend erscheint Sprache in dieser Lesart als ein System verbaler Zeichen, das unabhängig von politischen, kulturellen und sozialen Umständen und deren (historischen) Transformationen existiert. Seine primäre Funktion besteht in dieser Perspektive darin, ein Mittel für die Symbolisierung und Repräsentation von Erfahrungen zu sein.49 Die andere, vor allem in den Sozialwissenschaften weit verbreitete Sicht auf die Beziehung zwischen Sprache und gesellschaftlicher Realität geht auf den Deutschen Wilhelm v. Humboldt zurück, der bereits 1835 versuchte, seine Zuhörerschaft von seiner Theorie der Interdependenz von Sprache und sozialer Wirklichkeit zu überzeugen.50 Die Struktur der Sprache, so argumentierte Humboldt, beeinflusst die Epistemologie des ganzen Staates und des einzelnen Individuums, da Sprache bestimmte Ansichten über und Perspektiven auf (Teile der) Realität impliziert. Entsprechend besitzt Sprache Macht über die Individuen, da man sich nicht den Ansichten entziehen kann, die in der »Muttersprache« vertreten werden, also nicht eine andere, »neutrale« Sprache für die eigenen kommunikativen Absichten benutzen kann. (Auch in der Literatur müssen die kulturell geteilten und übereinstimmend geltenden Wortbedeutungen und deren Aspekte berücksichtigt werden.) In modernen sozio- und pragmalinguistischen, datenbasierten Ansätzen finden sich diese Humboldtschen Annahmen wieder. Ebenso traten sie in Bergers /
49 Langer, Susanne, Philosophy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite, and Art, Cambridge / MA 1976. 50 Humboldt, Wilhelm von, Über die Sprache (1835), München 1985.
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Luckmanns These wieder zutage, dass Sprache ein Mittel ist, mit dem Realität hergestellt wird;51 vor allem das Konzept der Sprache als Spiegel der Machtverhältnisse in einer Gesellschaft wurde als eine theoretische Hypothese übernommen, die empirisch überprüft werden konnte. Verschiedene Autoren vertraten diesen Forschungsansatz, z. B. Blakar,52 der zeigen konnte, dass das Norwegische die Perspektiven und Interessen von z. B. Stadtbewohnern und Landbevölkerung, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, von Erwachsenen und Kindern etc. als einander entgegengesetzt abbildet. Seit Lakoffs Analyse des »Sexismus im Englischen«53 weiß man, dass auch das zeitgenössische Englisch Machtverhältnisse, zumindest aber männliche Herrschaft widerspiegelt. Das Pronomen »he« beispielsweise wird in der Regel auch dann als geschlechtsneutrales Pronomen verwendet, wenn es Frauen bezeichnet. Eine Ausnahme gibt es bei diesem Unterscheiden sozialer Kategorien: Wird von einer Person in einem gehobenen Beruf gesprochen – Vorsitzender, Unternehmensleiter etc. –, wird aller Voraussicht nach das Pronomen »he« verwendet; wenn demgegenüber von wenig prestigeträchtigen Berufe wie Krankenschwester oder Sekretärin die Rede ist, wird das Pronomen angepasst (»she«). Lakoff formuliert es noch drastischer: »Ein Wort, das sowohl für Frauen als auch für Männer (und vielleicht auch für Gegenstände) verwendet werden kann, bekommt häufig dann, wenn es auf Frauen angewendet wird, eine besondere Bedeutung, die – eher implizit als explizit – Frauen als Gruppe herabsetzt.«54 Männliche Herrschaft scheint in Wortinhalten und im Sprechen über Frauen und Männer ihren Niederschlag zu finden. In ihrer Untersuchung über Sprache, Geschlecht und Gesellschaft konnten Thorne / Henley55 zeigen, dass zumindest im Englischen das Männliche mit dem Universellen, dem Allgemeinen, dem Übergeordneten gleichgesetzt wird; das Weibliche wird häufiger nicht erwähnt oder erscheint als Sonderfall: »Worte, die mit Männlichkeit assoziiert werden, haben häufiger positive Konnotationen, sie transportieren die Vorstellung von Macht, Prestige und Überlegenheit. ›Weibliche‹ Wörter dagegen sind häufiger negativ und lassen Schwäche, Unterlegenheit, Unreife und Banalität anklingen.«56 Es kann als eine der Voraussetzungen der anhaltenden Konstruktion sozialer Ungleichheit in Gesellschaften gedeutet werden, dass man sich diesen Wörtern nicht entziehen kann. Diese Ungleichheit basiert wiederum auf Verfahren der Akzentuierung (der Unterschiede zwischen Frauen und Männern), der Bewertung (z. B. entlang der stark / schwach-Achse) und der Fest51 Berger, Peter L. / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt / Main 1967. 52 Blakar, Rolv M., »How Sex Roles are Represented, Reflected and Conserved in the Norwegian Language«, in: Acta Sociologica, Bd. 18, 1975, S. 162-173. 53 Lakoff, Robin, Language and Woman’s Place, New York 1975. 54 Ebd., S. 57. 55 Thorne, Barrie / Nancy Henley, »Difference and Dominance: An Overview of Language, Gender and Society«, in: dies. (Hg.) Language and Sex: Difference and Dominance, Rowley 1975, S. 5-42. 56 Ebd., S. 15.
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schreibung (die Worte als solche werden in ihrer immergleichen, festgeschriebenen Bedeutung verwendet), die sämtlich keine individuellen Diskriminierungsverfahren, sondern kollektive Prozesse sind. In solchen Fällen ist die diskriminierende Funktion direkt an die Spracheinheit selbst gebunden und nicht an den Sprecher, der dieser Funktion möglicherweise gar nicht ausweichen kann. Natürlich ist Geschlecht nicht die einzige Achse, entlang derer die Welt in ungleiche Teile geteilt wird; weitere Dimensionen sind Alter, Klasse, »race« etc. Allerdings ist scheinbar keine dieser in unserer Sprache repräsentierten Unterscheidungen so beständig wie die zwischen weiblich und männlich. Diskriminierung aufgrund der Sprechweise einer Person. Wie alle Arten expressiven [overt] menschlichen Verhaltens kann Sprachverhalten eine Quelle der Information über den Sprecher sein. Wie eine Person Sprache verwendet, gibt demjenigen, der sie beurteilt, wichtige Anhaltspunkte über ihren sozialen Hintergrund, ihre Erziehung, ihren Status etc. Des Weiteren lassen sich aus diesen Beobachtungen Hinweise auf die Persönlichkeit ableiten, beispielsweise auf Kompetenz, persönliche Integrität (Hilfsbereitschaft, Vertrauenswürdigkeit etc.), soziale Attraktivität usw.57 Eine für die soziale Beurteilung wichtige Unterscheidung gründet sich darauf, ob die zu beurteilende Person die Standard- oder die Nonstandardform ihrer Sprache spricht.58 Scheinbar herrscht zwischen den Sprechern aller Sprachen ein Konsens über den Unterschied zwischen Standard- und Nonstandardsprache; erstere gilt den anderen Sprachvarietäten gegenüber als irgendwie überlegen.59 Welche Sprachvarietät in einer Gesellschaft als Standard gilt, scheint von einigen außersprachlichen Faktoren und primär von politischen und sozialen Machtstrukturen abzuhängen. Entsprechend gelten Standardsprecher als kompetenter und sozial bessergestellt als Nonstandardsprecher.60 Im Zusammenhang mit dem Thema der Diskriminierung ist es wichtig, festzustellen, dass es der Sprecher ist, der bewertet wird, und nicht sein Sprachstil: Der Sprachstil markiert einen Sprecher als Mitglied einer bestimmten sozialen Kategorie. Eine durch einen bestimmten Sprachstil definierte soziale Kategorie kann also wie jede andere soziale Kategorie zu einer Kategorie des »Andersseins« werden. Über Einstellungen gegenüber Sprache und Sprachvarietäten ist schon einiges an
57 Edwards, John R., »Language Attitudes and their Implications among English Speakers«, in: Ellen B. Ryan / Howard Giles (Hg.), Attitudes toward Language Variation, London 1982, S. 28-33. 58 Ryan / Giles, Attitudes towards Language Variation, a.a.O.; Ryan, Ellen B. / Richard Sebastian, »The Effects of Speech Style and Social Class Background on Social Judgements of Speakers«, in: British Journal of Social and Clinical Psychology, Bd. 19, 1980, S. 229-233. 59 Labov, William, Sociolinguistic Patterns, Philadelphia / PA 1972. 60 Lambert, Wallace E. u. a., »Evaluational Reactions to Spoken Language«, in: Journal of Abnormal and Social Psychology, Bd. 60, 1960, S. 44-51.
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Forschung geleistet worden;61 in diesen Untersuchungen geht es zwar selten direkt um Diskriminierung, aber es sind einige aufschlussreiche Erkenntnisse darüber gewonnen worden, wie soziale Beurteilung zu Diskriminierung führen kann. In einer Studie über (englische) Sprachvarietäten und berufliche Eignung konnten Giles / Wilson / Conway62 feststellen, dass Berufe mit geringem Prestige als eher geeignet für Personen angesehen wurden, die Nonstandard sprechen. Standardsprecher wurden im Vergleich zu Nonstandardsprechern als besser geeignet für höhere Positionen (geistliche Berufe, Führungspositionen und weitere »gehobene Berufe«) eingeschätzt. In anderen Studien konnte Diskriminierung in Form einer negativen Bewertung von Akzentsprechern festgestellt werden.63 Allerdings sind diese Ergebnisse nicht so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Das zeigt sich vor allem bei der Analyse der Abhängigkeiten zwischen Sprachvarietäten und anderen persönlichen Parametern. Hopper64 führte eine Studie über die Auswirkung von Sprachvariablen auf die Ergebnisse von Bewerbungsgesprächen durch. Als unabhängige Variablen legte er die ethnische Zugehörigkeit des Sprechers, Standardsprache vs. Nonstandardsprache sowie die berufliche Qualifizierung fest; die abhängige Variable war die Beurteilung der beruflichen Eignung für u. a. Supervision, Verkauf und technische Berufe. Es konnte gezeigt werden, dass zwei Faktoren, nämlich berufliche Kompetenz und eine angenehme Persönlichkeit des Bewerbers, signifikante Vorhersagen für die Einstellungsentscheidung zuließen. Ziemlich interessant war außerdem das Ergebnis, dass schwarze Standardsprecher sehr gut beurteilt wurden, dass also keine negative Diskriminierung festzustellen war. Street / Hopper65 erklären dieses Ergebnis damit, dass, wenn eine Annäherung an die Sprechweise einer positiv beurteilten Gruppe wahrgenommen wird, eine positive Beurteilung der Person zustandekommen kann. Dies scheint ein wichtiger Vorgang bei der Diskriminierung zu sein: Die trennenden und distanzierenden Funktionen der Diskriminierung können sich unter bestimmten situativen Zwängen in ihr Gegenteil verkehren. Nimmt die Häufigkeit diskriminierender Handlungen ab, wenn die diskriminierte Gruppe versucht,
61 Ryan, Ellen B. / Howard Giles, Attitudes Towards Language Variation, London 1982. 62 Giles, Howard / Pamela Wilson / Anthony Conway, »Accent and Lexical Diversity as Determinants of Impression Formation and Employment Selection«, in: Language Sciences, Bd. 3, 1981, S. 92-103. 63 De la Zerda, Nancy / Robert Hopper, »Employment Interviewers’ Reactions to Mexican American Speech«, in: Communication Monographs, Bd. 13, 1979, S. 126-134; Kalin, Rudolph / Donald Rayko, »The Social Significance of Speech in the Job Interview«, in: Robert N. St. Clair / Howard Giles (Hg.), The Social and Psychological Context of Language, Hillsdale 1980, S. 39-50. 64 Hopper, Robert, »Language Attitudes in the Job Interview«, in: Communication Monographs, Bd. 44, 1977, S. 346-351. 65 Street, Richard / Robert Hopper, »A Model of Speech Style Evaluation«, in: Ryan / Giles (Hg.), Attitudes Towards Language Variation, a.a.O., S. 175-188.
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sich an die bevorzugte Gruppe anzupassen? Verliert ein Mitglied einer diskriminierten Gruppe, das nicht dem Stereotyp gemäß agiert, die Mitgliedschaft in dieser Gruppe? Sprachlich lässt sich dieser »Zwischenstatus« einer Person beispielsweise mit der Formulierung »Genau genommen ist er ein Konservativer« ausdrücken, die besagt, dass die Person kein echter Konservativer mehr ist. Das Feld der Diskriminierung aufgrund der Sprechweise einer Person wirft also einige wichtige empirische Fragen auf.
Diskriminierende Sprechakte Sätze, deren primäre Funktion die Diskriminierung von Gruppen oder Einzelpersonen ist, prägen unseren Alltag. Sie gehören ebenso in die Sprache der Politik wie in Konflikte zwischen Gruppen und in Gespräche zwischen Freunden und in Familien. Die Anzahl kommunikativer Situationen, in denen diskriminierende Sätze verwendet werden, scheint also unbegrenzt. Das pragmatische Problem bei der Untersuchung sprachlicher Diskriminierung als spezifische Form sozialen Verhaltens besteht allem Anschein nach darin, dass die diskriminierende Funktion nur dann erfasst werden kann, wenn die Analyse sich nicht auf die spezifischen Umstände der Sprechsituation beschränkt, sondern auch das Glaubenssystem berücksichtigt, das der Diskriminierende und sein Zuhörer im Hinblick auf die soziale Beurteilung der diskriminierten Gruppe teilen. Wenn jemand einen diskriminierenden Witz über eine andere ethnische Gruppe erzählt, geht er in der Regel davon aus, dass der Zuhörer nicht nur versteht, worauf der Witz beruht, sondern auch davon, dass er die grundlegenden Werturteile über die allseits bekannte Dummheit, Unehrlichkeit, Undurchschaubarkeit etc. derjenigen Gruppe teilt, die diskriminiert werden soll. Das Lachen des Zuhörers zeigt dem Sprecher, dass seine negativen Werturteile geteilt werden, d. h. dass sie in ein kollektives Wissen eingegangen sind. Diskriminierung mit den Mitteln der Sprache kann den Diskriminierenden davor bewahren, aufgrund seiner aggressiven Handlung als »schuldig« zu gelten, da der diskriminierende Effekt nicht nur auf die Äußerung selber zurückzuführen ist, sondern auch auf das Verständnis des Zuhörers. »Typisch Frau« kann als eine zärtliche Bemerkung, aber ebenso als eine schwerwiegende Diskriminierung geäußert werden; beide Bedeutungen sind möglich. Welche Bedeutung beabsichtigt und / oder korrekt ist und worin genau sie besteht, wird jedenfalls erst durch die Analyse der Bedingungen der jeweiligen Kommunikationssituation ersichtlich. In diese Analyse gehen ein: 1) die Beteiligten und ihre zu erwartenden Urteile über den Gegenstand der Diskriminierung, 2) das Verhältnis zwischen den Beteiligten und 3) die Art, wie die Diskriminierung sprachlich vollzogen wird. Diskriminierung kann sowohl als Folge wie auch als Ausdruck von Vorurteilen verstanden werden. Das Sprechen stellt das gängigste Format dar, in dem Vorurteile geäußert werden können. Zumindest geht es allen anderen Formen der Diskriminierung, auch den unmenschlichsten und brutalsten,
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voraus. Zudem sind diskriminierende Handlungen, die von mehreren Personen ausgeübt werden, an die sprachliche Kommunikation über das Vorurteil gebunden, auf das sie sich beziehen. Es gibt viele Möglichkeiten, Vorurteile sprachlich auszudrücken, und die Themen, die narrative Struktur und die Rhetorik der Verbalisierung von Vorurteilen werden erst seit kurzer Zeit systematisch untersucht.66 In diesen Forschungen ist der informelle Diskurs in der Interaktion zwischen Personen die Datengrundlage, anhand derer die Tiefenstrukturen der Vorurteile erkennbar werden, wie sie sich in dem Wissen einer sozialen Gruppe darstellen. Die Art und Weise, in der Personen über die Mitglieder bestimmter Outgroups sprechen und dass und wie sie sich untereinander verstehen, liefern Grund zu der Annahme, dass Mitglieder der Ingroup ein Set von Einstellungen und negativen Zuschreibungen gegenüber einer bestimmten Outgroup teilen. Da dieses Wissen die Ebene der Individuen überschreitet, kann es als eine spezifische Form sozialer Repräsentation konzeptualisiert werden.67 Die Vorurteilsmuster, die zwanglosem Sprechen zugrunde liegen und sozial repräsentiert werden, sind aber wiederum nur ein Aspekt von Diskriminierung, da diskriminierendes Sprechen nicht nur Vorurteile »ausdrückt«, sondern schon an sich eine soziale Handlung gegen eine andere Person bzw. Personengruppe ist. Für die konkrete Sprechsituation, in der eine sprachliche Diskriminierung vollzogen wird, lassen sich zwei Arten von »Unmittelbarkeit« unterscheiden. Zunächst müssen wir zwischen direkter und indirekter Diskriminierung unterscheiden. Von direkter Diskriminierung kann man sprechen, wenn die diskriminierte Person der Kommunikationspartner der Person ist, die den diskriminierenden Sprechakt vollzieht. Bei indirekter Diskriminierung richtet sich der DSA auf eine abwesende Person und ist insofern ein Ingroup-internes »Sprechen über andere«. Bei diesen Interaktionen innerhalb der Ingroup verstehen sich die beiden Kommunikationspartner üblicherweise problemlos und teilen, zumindest im Hinblick auf die diskriminierte soziale Gruppe, ein gewisses Einverständnis. Die zweite relevante Unterscheidung bei einer Klassifizierung diskriminierenden Sprechens ist die Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem diskriminierenden Sprechen. Bei explizitem diskriminierenden Sprechen schreibt die Annahme, die der tatsächlichen Äußerung zugrunde liegt, einer Person als Mitglied einer sozialen Gruppe oder einer Outgroup als ganzer ein negatives Prädikat zu. Das heißt, dass bei expliziter sprachlicher Diskriminierung die diskriminierende Funktion in der Regel mit der Äußerung auch dann übereinstimmt, wenn diese unabhängig von der Sprechsituation betrachtet wird. Bei implizitem diskriminierenden Sprechen dagegen kann die diskriminierende Funktion nicht
66 Van Dijk, Teun A., Prejudice in Discourse, Amsterdam 1984; ders., Communicating Racism: Ethnic Prejudice in Thought and Talk, Beverly Hills / CA 1987. 67 Moscovici, Serge, »The Phenomenon of Social Representation«, in: Robert M. Farr / Serge Moscovici (Hg.), Social Representations, Cambridge 1984, S. 3-70.
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verstanden werden, wenn die Umstände der Situation, die Vorannahmen und die kontextabhängigen Implikationen nicht bekannt sind. Sowohl direktes als auch indirektes diskriminierendes Sprechen kann explizit oder implizit vollzogen werden. Außerdem können die eingangs beschriebenen Subfunktionen oder Aspekte der Diskriminierung (Trennen – Distanzieren – Akzentuieren – Bewerten – Festschreiben) in jeder der vier Formen des diskriminierenden Sprechens erscheinen: direkt-explizit, indirekt-explizit, direkt-implizit, indirekt-implizit. Dementsprechend können wir innerhalb unseres konzeptuellen Rahmens 20 Formen diskriminierenden Sprechens unterscheiden, von denen wir einige mit den folgenden Beispielen ethnisierender, rassistischer und sexistischer Diskurse illustrieren. Während indirektes diskriminierendes Sprechen üblicherweise in Interviews mit voreingenommenen Mitgliedern einer Mehrheitsgruppe nachweisbar ist,68 muss für Beispiele direkt diskriminierenden Sprechens, wenn sie nicht zufällig mitgehört werden, auf die Aussagen der Opfer zurückgegriffen werden. Einige Beispiele für direktes diskriminierendes Sprechen: »Der dunkelhäutige Migrant, dem ›schwarzer Bastard‹ hinterhergerufen wird, und die junge Schwarze, die von weißen Jugendlichen als ›Kanakin‹ angepöbelt wird, werden explizit herabsetzend typisiert. Oft ist damit die eine Distanz schaffende Forderung verbunden: ›Geh doch dahin zurück, wo du herkommst.‹«69 »Juden, die keine Möglichkeit hatten, ›dahin zu gehen, wo sie herkommen‹, wurde in Nazideutschland der Zutritt zu Geschäften, Bädern etc. mit Schildern verboten, auf denen stand: ›Nicht für Juden‹, ›Juden unerwünscht‹, während der ›arischen‹ Mehrheit auf Transparenten und Plakaten mitgeteilt wurde: ›Die Juden sind unser Unglück.‹« »Frauen werden mehr oder weniger scherzhaft an die scheinbar ihrem Geschlecht intrinsischen Defizite erinnert: ›Frauen sind eben so‹. Typisierung scheint selbsterklärend zu sein.« »Der westdeutsche ›Gastarbeiter‹, der von seinem Vorarbeiter in einer Nachahmung ›gebrochenen‹ Deutschs ›Du nix kapier‹ zu hören bekommt, wird von seinem ›kapierenden‹ deutschen Chef explizit getrennt und verspottet.« »Ein britischer Rassist, der einen Pub mit schwarzen Gästen betritt und rhetorisch, quasi-direkt und quasi-implizit fragt: ›Bin ich hier falsch?‹, trennt und distanziert sich von dieser nichtweißen sozialen Realität.«70
Indirekter diskriminierender Sprachgebrauch in der Ingroup ist viel einfacher nachzuweisen. Das Distanzieren äußert sich vor allem im Gebrauch des »De68 Van Dijk, Prejudice in Discourse, a.a.O. 69 Cashmore, Ernest E., The Logic of Racism, London 1987, S. 62. 70 Ebd., S. 33.
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monstrativs der Distanz«71, mit dem Rassisten auf »die da« und »solche Leute« verweisen. Der herabsetzende Charakter zeigt sich nicht nur in dem »das«, sondern auch in dem »was«, das zur Bezeichnung der Outgroup verwendet wird, wie die beiden folgenden Beispiele zeigen: »Ein niederländischer Interviewpartner von van Dijk spricht über Angehörige anderer Nationalitäten in seinem Wohnviertel: ›Ich lebe halt irgendwie in der Nähe davon.‹« (unsere Hervorhebung)72 »Eine neunzehnjährige Britin, die eine Beziehung mit einem dunkelhäutigen Malaysier hat, sagt über ihren Vater: ›[…] wenn ich einen Schwarzen nach Hause bringen würde, würde er wahrscheinlich nichts sagen, aber er würde sofort zu meiner Mutter rennen und sich beschweren: ›Hast du gesehen, was sie jetzt schon wieder angeschleppt hat?‹‹«73
»Distanz lässt sich außerdem über die Verkehrung von Rollen herstellen, wenn die voreingenommene Person z. B. sagt: ›Ich glaube, die haben Vorurteile gegen uns. Sie bleiben unter sich und wollen nichts mit uns zu tun haben.‹«74 Akzentuierung äußert sich in verschiedenen Formen der Betonung und dem übertriebenen Hinweisen auf Unterschiede. Wenn ein Brite über die Mitglieder einer ethnischen Minderheit sagt: »Die wollen doch provozieren, so auffällig wie die rumlaufen«,75 müssen wir daraus schließen, dass »anderes Aussehen« an sich provozierend ist. Des Weiteren werden Gefahren verallgemeinert und übertrieben, wie z. B. in der Behauptung: »Alle Ausländer haben Messer bei sich« oder »[…] ehe man sich versieht, hat man ein Messer im Rücken stecken«76; oder, wie ein junger arbeitsloser Engländer sagt: »[…] hier leben mittlerweile doch bestimmt 30 Millionen Schwarze.«77 Die abwertende Festschreibung von Eigenschaften oder Verhaltensmustern wird oft mit besonderem Nachdruck zur Sprache gebracht: »Ich kann Pakis einfach nicht leiden. Sie stinken. Pakis stinken wirklich; man kann sie auf einen Kilometer Entfernung riechen. Schwarze stinken nach Schweiß, und außerdem sind sie Zuhälter«.78 Eine sehr endgültige Festschreibung durch diskriminierendes Sprechen findet sich in der quasireligiösen Aussage einer weißen Mittelschichtsangehörigen, die gegen Ehen zwischen Schwarzen und Weißen ist: »Gott hat Menschen weiß und schwarz erschaffen und nicht halb und halb« oder, intel71 72 73 74 75 76 77 78
Van Dijk, Prejudice in Discourse, a.a.O., S. 137. Ebd., S. 150. Cashmore, The Logic of Racism, a.a.O., S. 90 f. (unsere Hervorhebung). Ebd., S. 99. Ebd., S. 22. Van Dijk, Prejudice in Discourse, a.a.O., S. 139 f. Cashmore, The Logic of Racism, a.a.O., S. 84. Ebd., S. 86.
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lektueller ausgedrückt: »Schwarze können zu 100 % oder zu 12,5 % schwarz sein, aber sie bleiben trotzdem schwarz. Sie werden niemals weiß werden, niemals den Quantensprung zum Weißsein schaffen.«79
Schlussfolgerung und Ausblick Diese Beispiele sollten einerseits die verschiedenen Funktionen und Zwecke diskriminierender Sprechakte illustrieren, wie wir sie in unserem funktionalen Modell erarbeitet haben. Zudem sollten sie zusammengenommen die These untermauern, dass eine Äußerung an sich noch kein diskriminierender Sprechakt ist. Damit wir eine Äußerung als diskriminierendes Sprechen identifizieren können, ist eine Kenntnis der Situation, d. h. der Vorbedingungen der jeweiligen Interaktion und der Vorannahmen des sprachlichen Austauschs wie z. B. des »gemeinsamen Vorwissens« von Sprecher und Zuhörer80 unverzichtbar. Aufgrund der Bedeutung des Ingroup-internen Sprechens über die Outgroup und deren Mitglieder sind außerdem Kenntnisse über die interpersonale Beziehung oder Rollenbeziehung zwischen Sprecher und Zuhörer unerlässlich. Wenn es stimmt, dass Diskriminierung ihre eigene Geschichtlichkeit hat81 und dass die offenkundigeren und gröberen Formen der Diskriminierung mittlerweile gesellschaftlich unerwünscht sind, während Vorurteile scheinbar weiter bestehen bleiben, muss die sozialpsychologische Vorurteilsforschung ihre Aufmerksamkeit auch auf die Kommunikation zwischen den Insidern, d. h. zwischen den Mitgliedern der Ingroup richten, statt nur die Interaktion zwischen In- und Outgroup zu untersuchen. Die Beispiele sollten uns außerdem ins Gedächtnis rufen, dass das Sprechen nicht nur aus Verweisen auf Personen und Gegenstände anhand von Zeichen besteht, sondern eine eigenständige Handlung ist. Vor allem aus einer sozialpsychologischen Perspektive muss gefragt werden: Was tun wir, wenn wir diskriminierende Sprechakte äußern? Was tun wir im Hinblick auf unsere eigene Gruppe oder Kategorie; was beabsichtigen wir im Hinblick auf die diskriminierte Outgroup? Diese Fragen eröffnen ein Untersuchungsfeld zwischen Sprache und Sozialpsychologie. Dies sollte für Sozialpsychologen offenkundig in zweierlei Hinsicht von Interesse sein: Erstens wissen wir nicht, unter welchen Bedingungen Vorurteile und Stereotype (Ko-)Determinanten diskriminierenden Verhaltens sind. Aber die Analyse diskriminierenden Sprechens ist die Basis, von der aus man auf die Vorurteile einer Person schließen kann, wenn wir diskriminierendes Sprechen als
79 Ebd., S. 84 (unsere Hervorhebung). 80 Clark, »Language Use and Language Users«, a.a.O. 81 Frederickson, George M. / Dale T. Knobel, »A History of Discrimination«, in: Thomas F. Pettigrew u. a. (Hg.), Prejudice, Cambridge / MA 1982, S. 30-87.
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einen »Ausdruck« von Vorurteilen verstehen.82 Zweitens wissen wir nicht, unter welchen Bedingungen und in welchem Ausmaß diskriminierendes Sprechen zu weiteren diskriminierenden Handlungen führt. Aber zumindest hat uns die Geschichte gelehrt, dass zum Beispiel antisemitische Hetze [hate speech] und Gruppenverleumdung als massenpsychologische Vorbereitung für extremere Formen sozialer Diskriminierung genutzt werden können: für Segregation und Mord. Aus dem Englischen übersetzt von Katharina Voß
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HANNES KUCH UND STEFFEN KITTY HERRMANN
Symbolische Verletzbarkeit und sprachliche Gewalt
Gewalt – das ist das Messer, das in den Magen sticht, die Faust, die das Gesicht trifft, der Stein, der den Kopf verletzt. Bei einem Blick auf einschlägige Konzepte der Gewalt wird rasch deutlich: Im Zentrum des Verständnisses von Gewalt steht der machtvolle Zusammenprall zweier Körper, oftmals vermittelt durch körperliche Gegenstände. »Gewalt ist körperlicher Einsatz, ist physisches Verletzen und körperliches Leid […]«, so der Gewaltsoziologe Trutz von Trotha.1 Vorausgesetzt wird mit solch einem Gewaltbegriff mehrerlei: Erstens nämlich, dass das Antun von Gewalt nicht einfach nur in einer Verletzung besteht, sondern in der Verletzung des Körpers eines Menschen. Und zweitens, dass das Mittel, durch das diese Verletzung zugefügt wird, selbst körperlich ist, nämlich ein Teil des menschlichen Körpers oder ein körperlicher Gegenstand. Ein solches Gewaltverständnis legt nahe, dass Sprache keine Gewalt zufügen kann, weil sie lediglich ›symbolisch‹ sei. Im Folgenden werden wir jedoch zeigen: Sprache kann verletzen – und das nicht obwohl, sondern gerade weil sie symbolisch ist. Denn sprachliche Gewalt zielt gerade nicht auf die Schädigung der materiellen Existenz einer Person, sondern auf ihr symbolisches Leben. Und in dieser Sphäre, so wird sich zeigen, ist sprachliche Gewalt nicht weniger ›real‹ oder ›effektiv‹ als physische Gewalt – auch sie kann in letzter Konsequenz tödlich sein. Symbolische Gewalt ist auch in den scheinbar nacktesten Gewalttaten immer schon am Werk. Nehmen wir ein Beispiel: Die Folter kann als ein Paradigma absoluter physischer Gewalt gelten. Das Zufügen von möglichst ausgedehnten 1 Trotha, Trutz von, »Zur Soziologie der Gewalt«, in: ders. (Hg.), Soziologie der Gewalt, Sonderheft Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Wiesbaden 1997, S. 9-56, hier S. 26.
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Schmerzen in der Folter dient der Intensivierung des Leids. Der Schmerz soll sich in eine Qual ohne Ende verstetigen – wenn nicht real, so doch in der erlebten Zeit des Opfers, die sich in zäher Endlosigkeit dehnt. Doch die Tortur der Folter ist wie kaum eine andere Gewaltform mit dem Symbolischen verschlungen.2 Nicht nur das Vorführen der Instrumente, das den Schmerz gleichzeitig androhen und vorwegnehmen soll, sondern auch die Folterung selbst zielt auf die Demonstration von Macht und Überlegenheit. Dem Opfer soll vor Augen geführt werden, dass sein Leben ganz in den Händen eines Anderen liegt, dass es diesem auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Es geht darum, das soziale Verhältnis zwischen Folterer und Gefoltertem zur Schau zu stellen. Dasselbe gilt für die Technik des Verhörs, die oft mit der Folter einhergeht: Der monotone, nie endende Rhythmus der Fragen, und vor allem ihre absurde Belanglosigkeit, machen deutlich, dass es im Verhör um vieles geht, vorrangig jedoch nicht um das Gewinnen von Information. Das Opfer soll sagen, was sein Folterer hören will. Damit offenbart das Verhör den tieferliegenden Zweck der Folter: Sie zielt nicht allein darauf ab, den Körper zu quälen, sondern durch die Demonstration von Überund Unterlegenheit ihr Opfer zu demütigen. Kommen wir von diesem Extrem physischer Gewalt zu ihrer untersten Schwelle: der Ohrfeige. Was heißt es, eine Ohrfeige zu bekommen? In welcher Hinsicht verletzt sie? Natürlich kann die Ohrfeige in einem Vokabular physischer Gewalt beschrieben werden, etwa wenn wir von einer ›schallenden Ohrfeige‹ reden – der Referenzpunkt ist zweifellos der Körper. Doch es liegt auf der Hand, dass sich die verletzende Kraft nicht in dieser körperlichen Dimension erschöpft. Denn die Ohrfeige kann in ihrer physischen Verletzungsmächtigkeit so geringfügig, so wenig intensiv sein, dass sie beinahe belanglos sein müsste. Aber sie ist nicht belanglos. Sie demonstriert etwas: die symbolische Verachtung und Geringschätzung der Akteurin gegenüber der Betroffenen. Auch wenn die Ohrfeige eine körperliche Handlung ist, so zielt sie doch vor allem auf eine symbolische Sphäre: Sie verletzt nicht eigentlich den Körper, sie verletzt das soziale Sein.3 Für Levinas stellt die Ohrfeige daher die ›exemplarische Szene‹ symbolischer Gewalt dar – einer Gewalt, der wir nicht in erster Linie als körperliche, sondern als soziale Wesen ausgesetzt sind.4
2 Dazu sehr eindrücklich Scarry, Elaine, Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt / Main 1992, S. 43-90. 3 Manche Autoren gehen soweit zu sagen, dass gerade diese symbolische Dimension, auf die ein Gewaltakt abzielt, eine grundlegende Existenzweise des Menschen freilegt. Für Richard Rorty etwa ist eine Person ein Wesen, das gedemütigt werden kann (Rorty, Richard, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt / Main 1992, S. 156). Ganz ähnlich formuliert Margalit: »Nur der Mensch leidet unter der Variante der Grausamkeit, die Demütigung heißt und zu der etwa das Nachäffen von Stotterern gehört«. (Margalit, Avishai, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Frankfurt / Main 1999, S. 112) 4 Levinas, Emmanuel, Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 2005, S. 94.
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Während die Ohrfeige noch ein Mittleres aus physischer und symbolischer Gewalt darstellt, so ist das verletzende Sprechen die Verkörperung symbolischer Gewalt par excellence. Sprachliche Gewalt richtet sich nicht nur gegen die symbolische Dimension der menschlichen Existenz, sondern wird ebenso ausschließlich im Medium des Symbolischen ausgeführt. Sprachliche Gewalt steht damit konträr zu jenem Gewaltverständnis, das Gewalt nur als physische Gewalt denken kann. Im Folgenden möchten wir zwei Seiten sprachlicher Gewalt nachgehen: Zum einen wollen wir zeigen, warum Menschen durch Worte verwundbar sind (Teil I). Unsere These lautet, dass das Verletzende dieser Gewalt in der Verletzung der sozialen Existenz von Menschen besteht. Zum anderen wollen wir zeigen, wie Gewalt durch Sprache ausgeübt wird (Teil II). Die These ist hier, dass sprachliche Gewalt eine soziale Praxis ist, deren Grammatik in den Bedingungen der Äußerung zu suchen ist.
Symbolische Verletzbarkeit Aristoteles hat den Menschen als ein sprachliches Wesen bestimmt. Sprache ist für ihn dasjenige Mittel, durch das sich der Bürger in der Polis über Gerechtes und Ungerechtes, Gutes und Schlechtes, Nützliches und Schädliches austauschen und an der Staatsgewalt zu partizipieren vermag. Für die Auseinandersetzung in der Polis entwickelt Aristoteles daher auch seine Rhetorik, die der Wahrheitsfindung und Überzeugung der Adressaten dienen soll. Sprache ist in dieser Sicht das klassische Medium des Diskurses, sie ermöglicht den Austausch von Argument und Gegen-Argument und dient der Übermittlung von Informationen und der Verständigung. Emile Benveniste hat diesen Gedanken so formuliert: »Wir finden in der Welt einen sprechenden Menschen, einen Menschen, der mit einem anderen Menschen spricht, und die Sprache lehrt die Definition des Menschen schlechthin.«5 Dennoch bleibt auch in dieser Sicht die Sprache den Menschen letztlich äußerlich; sie ist lediglich ein Werkzeug, dessen sie sich bedienen, um mit anderen Menschen in einen Dialog zu treten. Doch Sprache ist nicht nur ein Mittel der Verständigung, das zwischen ›Ich‹ und ›Du‹ vermittelt, sondern auch und vor allem eine Instanz, welche ›Ich‹ und ›Du‹ allererst ins Leben ruft. Dass Menschen sprachliche Wesen sind, bedeutet nicht zunächst, dass sie Sprechen können, sondern dass ihre Existenz aus Sprache gestrickt ist – einer Sprache, die immer vom anderen Menschen her kommt. Genau diese Tatsache aber lässt Menschen in einer immerwährenden Ausgesetztheit gegenüber den Anderen existieren, durch die sie in einem grundlegenden Sinne verletzungsoffen für sprachliche Gewalt sind.
5 Benveniste, Emile, »Über die Subjektivität in der Sprache«, in: ders., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974, S. 287-297, hier S. 288.
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Ansprache und Antwort Im Angesprochenwerden gründet die soziale Existenz von Menschen – die Ansprache durch eine Andere führt unvermeidlich ins Soziale ein. Das liegt daran, dass wir in dem Moment, in dem wir angesprochen werden, als ein Jemand adressiert werden. Jede Form der Ansprache – und sei sie noch so kümmerlich – zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich an Jemanden richtet und mit Jemandem kommuniziert. Selbst eine achtungslose Aussage wie »Du Niemand« bestätigt noch kommunikativ, was sie semantisch negiert. Obwohl sie versichert, dass die Adressatin ein Niemand sei, ist es doch ein Jemand, dem sie mitteilt, Niemand zu sein. Jede Ansprache ist daher ein Akt der Anerkennung, wobei diese Anerkennung noch gar nicht in einem normativen Register der Wertschätzung gelesen werden kann, sondern dafür steht, dass sich jede Anrede an eine Adressatin wendet. Es sind daher nicht erst die sprachlichen Bekundungen von Lob, Wohlwollen oder Befürwortung, die Anerkennung ausdrücken, sondern viel grundlegender ist jede Ansprache in einer bestimmten Hinsicht schon ein Ausdruck der Anerkennung. Anders ausgedrückt: Jeder Ansprache ist unabhängig von ihrem konkreten semantischen Gehalt eine grundlegende Form der Anerkennung eigen. Und diese Anerkennung, so schreibt Judtih Butler im Anschluss an Louis Althusser, »wird zu einem Akt der Konstitution«, weil sie die Angesprochene im Moment der Ansprache als soziales Wesen anerkennt.6 Auch wenn die Ansprache behauptet, ihre Adressatin sei nur ein Ding oder ein Tier, wendet sie sich doch an Jemanden, dem sie sagt, er sei ein Ding oder ein Tier – und nicht an ein Ding oder ein Tier.7 Wer angesprochen wird, wird als Mensch unter Menschen adressiert, als Eine unter Anderen, als Jemand im Kreis von Vielen – damit begründet die Ansprache in fundamentaler Weise das soziale Sein. Der Ansprache können wir uns nicht entziehen, denn jede Ansprache eröffnet einen Raum der Kommunikation. In dem Moment, wo wir durch ein persönliches »Du«, ein höfliches »Sie« oder ein schroffes »Hey« adressiert worden sind, sind wir der Ansprache in grundlegender Weise ausgeliefert. Jede Haltung, die wir als Angesprochene einnehmen, ist unweigerlich kommunikativ. Angesprochen zu werden bedeutet, dass mein Verhalten stets mitteilsam sein wird: Unabhängig davon, auf welche Weise genau ich mich verhalte, und unabhängig davon, ob ich will oder nicht, die Ansprache zieht mich in den Sog der Kommunikativität, in dem es nicht möglich ist, nicht zu kommunizieren.8 Wir sind in eine Beziehung zum Anderen gestellt, der wir uns nicht entziehen können.
6 Butler, Judith, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 43. Und an anderer Stelle: »Angesprochen werden bedeutet also nicht nur, in dem was man bereits ist, anerkannt zu werden, sondern jene Bezeichnung zu erhalten, durch die die Anerkennung der Existenz möglich wird.« (Ebd., S. 15) 7 Vgl. dazu auch Margalit, Politik der Würde, a.a.O., S. 114-142. 8 Watzlawik, Paul / Janet H. Beavin / Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, 10. Aufl., Bern u.a. 2000, S. 50 ff.
SYMBOLISCHE VERLETZBARKEIT UND SPRACHLICHE GEWALT | 183
Die Haltung, die auf die Ansprache folgt, kann grundlegend zwei Formen annehmen: Die Ansprache kann, wie wir mit Levinas sagen können, zur ›Verantwortung‹ rufen.9 Das heißt, sie fordert dazu auf, die Möglichkeit zu nutzen, die jedem Angesprochenwerden innewohnt: das Antworten. Die Ansprache kann so zum Gespräch werden, durch das wir das soziale Band zur Anderen aufgreifen und weiter knüpfen können.10 Die Antwort, die wir auf die Ansprache geben, kann ganz unterschiedlich aussehen. Sie kann die Andere grüßen, sie zurechtweisen, sie abweisen, kurz: Sie kann ihr mehr oder weniger gerecht werden. In jedem Fall nimmt sie die ›Ver-Antwort-ung‹ wahr, der Ansprache durch die Andere zu antworten und diese dadurch selbst zu einer Angesprochenen zu machen. Die Haltung, die durch die Ansprache hervorgerufen wird, kann jedoch auch noch eine andere Form annehmen: das Schweigen. Auch wenn das Schweigen immer noch kommunikativ ist, so stellt es doch das Ausbleiben einer Antwort dar: Seine Stummheit spricht nicht zurück. Es verweigert eine Antwort. Anders gesagt: Man kann zwar nicht nicht kommunizieren, aber man kann das Sprechen beenden und zu schweigen beginnen – und damit in einem grundlegenden Sinn auf die Gabe der Antwort verzichten. Die Möglichkeit des Schweigens hat zur Folge, dass die Einführung ins Soziale nur aus der passiven Perspektive des Angesprochenwerdens gesichert werden kann, nicht jedoch aus der aktiven Perspektive des Sprechens. Denn die Sprecherin, die in ihrer Ansprache behauptet, sie sei ein soziales Wesen, vielleicht sogar ein wichtiges, muss darauf keine Antwort bekommen. Die Ansprache hat sich in diesem Fall zwar an jemanden gerichtet, doch da sie keine Antwort erhält, wird sie nicht als ein Sprechen anerkannt, das von jemandem kommt. Sprechen ist der Appell an eine Antwort, doch die Antwort kann immer auch ausbleiben.11 Das Sprechen bleibt dann bloßes Gebrabbel, Gemurmel oder Störgeräusch. Anders gesagt: Wir können uns nicht selbst ins Soziale sprechen, ins Soziale werden wir immer nur durch Andere gesprochen. Diese Abhängigkeit von der Ansprache begründet das Ich in einer fundamentalen Passivität – auch dort, wo es ihr in der Aktivität des Sprechens zu entkommen sucht. Auch der selbstinitiierten Rede des Subjekts liegt das Streben nach einem Angesprochenwerden zugrunde: ich spreche, um eine Antwort zu bekommen. Selbst dort, wo ich derjenige bin, der redet, geht es mir immer auch darum, selbst angesprochen zu werden. Doch wer spricht, muss nicht unbedingt auch angesprochen werden. Dort, wo das Ich am aktivsten scheint, kommt es folglich – gleichsam hinter seinem Rücken – zu einer Radikalisierung seiner Passivität.
9 Levinas, Emmanuel, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1996. 10 Vgl. dazu etwa Buber, Martin, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1984. 11 Zum Appellcharakter des Sprechens vgl. Lacan, Jacques, »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: ders., Schriften I, Olten 1973 S. 71-169, hier S. 84 ff.
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Sagen und Gesagtes Ansprache und Antwort fördern eine Dimension der Sprache zutage, in der wir nicht nur oder nicht in erster Linie sprechen, um Aussagen über die Welt zu machen oder um einem ›Empfänger‹ Informationen zu übermitteln. Ein semantisches Verständnis jedoch betrachtet Sprache vor allem im Hinblick auf die Möglichkeit, mit ihrer Hilfe konstatierende Äußerungen über eine ihr entgegensetzte Welt zu machen. Bestimmte Formen von Äußerungen, nämlich Aussage-Sätze bzw. konstatierende Äußerungen, also Äußerungen, die Tatsachen feststellen, sind in diesem Bild der Sprache wahrheitsfähig, das heißt, sie können wahr oder falsch sein. Viele Kommunikationstheorien wiederum verstehen Sprache und Sprechen nach einem Modell, das bei der Intention des ›Senders‹, etwas mitzuteilen, beginnt, zur Übermittlung des ›Gehalts‹ der Mitteilung durch Zeichen voranschreitet, zur Wahrnehmung des Zeichens durch einen ›Empfänger‹ gelangt, um schließlich in der ›Decodierung‹ durch den Empfänger zu enden. Ansprache und Antwort zeigen jedoch eine Modalität des Sprechens, in der es weder darum geht, Aussagen über die Welt zu machen, noch Informationen zwischen Ich und Anderer auszutauschen, sondern vielmehr um das Verhältnis von Selbst und Anderer. Im Sprechen geht es immer auch um die bloße Eröffnung einer Beziehung zur Anderen, noch vor jeder Semantizität des Ausgesagten. Sprechen ist nie nur die zweckgerichtete Mitteilung von Information, vielmehr reden wir in bestimmtem Maß auch deshalb, um die Andere im Sprechen anzuerkennen und selbst anerkannt zu werden. Wir sprechen, weil Worte gewissermaßen der Stoff sind, aus dem wir gemacht sind. Mit Levinas nennen wir diese Dimension der Sprache das ›Sagen‹ und unterscheiden sie vom ›Gesagten‹.12 Das Sagen meint dabei keineswegs die aktive Form des Gesagten, so, als wäre das Gesagte das Produkt der Aktivität der Praxis des Sagens. Das Sagen bezeichnet vielmehr eine Dimension der Sprache, in der das an die Andere gerichtete Wort immer »die symbolische Gabe eines Sprechens«13 ist. Während im Gesagten Bedeutung übermittelt wird oder Ansprüche auf Wahrheit erhoben werden, wird im Sagen zunächst allein eine Nähe zwischen den Sprechenden eröffnet. Im Sagen geht es folglich um das Faktum des Kommunizierens, nicht um das Kommunizierte: Im Sagen zählt nicht das ›Was‹, sondern das ›Dass‹ des Sprechens.14 Was kommunikationstheoretisch als Redundanz in der Sprache betrachtet wird, bildet im Horizont des Sagens einen Resonanzraum für die Andere. Nicht die Übermittlung von Information, sondern die Evokation einer Antwort steht im Vordergrund des Sagens. Das Sagen als intersubjektive Dimension der Sprache zeigt sich in manchen sprachlichen Handlungen besonders deutlich, vor allem dort, wo Sprache de12 Levinas, Emmanuel, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg, München 1998, S. 110 ff. 13 Lacan, »Funktion und Feld des Sprechens«, a.a.O., hier S. 133. 14 Diese Formulierung verdanken wir: Till, Sabine, Sprache und Stimme bei Lacan und Levinas, Magistraarbeit, Institut für Philosophie, Freie Universität Berlin 2005, S. 12 ff.
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semantisiert auftritt. Begrüßungsformeln wie das ›Na, wie geht’s?‹, der kurze Small-Talk zwischen Tür und Angel, mehr oder weniger formelle Erkundigungen nach der Gesundheit, die Feststellung von selbstverständlichen Sachverhalten oder Bemerkungen über das Wetter – all diese Äußerungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht (oder zumindest kaum noch) darauf abzielen, dem Anderen etwas mitzuteilen oder etwas über die Welt auszusagen, sondern nur darauf, eine Beziehung oder eine Nähe zur Anderen zu eröffnen oder das Gespräch mit ihr nicht zu beenden. Auch das rhythmische ›Mhm‹, das die Rede der Anderen begleitet, ist nie nur eine konstatierende Bestätigung der Äußerungen des Gegenübers, sondern bezweckt immer auch die Fortdauer des Gespräches selbst. Malinowski bezeichnete diese Dimension des Sprechens als ›phatische Kommunikation‹.15 Den Begriff der phatischen Kommunikation fand Malinowski bei seinen Studien auf den Trobriand-Inseln im pazifischen Melanesien. Für die dortigen Gemeinschaften spielte das Geben und Empfangen von sprachlichen Gaben in der phatischen Kommunikation eine ähnlich bedeutsame Rolle wie der Austausch von materiellen Gaben – beide Praktiken dienen der Stiftung von Gemeinschaft zwischen den Beteiligten. Aber selbstverständlich ist es so, dass es im Sprechen, auch wenn wir immer ›zu jemandem‹ sprechen, zumeist doch ›um etwas‹ geht. Unser Sprechen hat meist ein Thema und ist somit Gesagtes. Auch Levinas betont, dass das Sagen so sehr im Gesagten aufgeht, dass es in Vergessenheit zu geraten droht. Aber selbst wenn es ›um etwas‹ geht, selbst wenn wir nur Informationen austauschen oder eine Feststellung treffen, ist die Äußerung stets auch noch eine symbolische Gabe an den Anderen. Levinas etwa betont, dass sich das Sagen selbst noch in konstatierenden Äußerungen zeigt: Weil der Aussage-Satz (frz. proposition) immer auch ein Angebot (frz. ebenfalls proposition) an den Anderen ist, stellt er eine Modalität der Annäherung an den Anderen dar.16 Und mehr noch: Das Sagen zeigt sich meist nicht nur im Gesagten, das Sagen ist sogar zum großen Teil davon abhängig, dass es einen gewissen Bezug zum Gesagten bewahrt. Wir treffen an diesem Punkt also auf ein Spannungsverhältnis zwischen Sagen und Gesagtem: Wenn das Gesagte bedeutungslos wird, droht dem Sagen dasselbe Schicksal – das Sprechen wird zu einem beredten Schweigen. Wenn das ›Mhm‹ meines Gegenübers in unserem Gespräch seinen Rhythmus verliert und mechanisch wird, verlieren seine Äußerungen nicht nur ihre Rolle als Bestätigungen dessen, was ich gesagt habe, sie verlieren auch ihre phatische Dimension, auf die Fortdauer des Gesprächs selbst hinzuwirken. Ein Beispiel dafür finden wir bei Watzlawik, der das Beispiel eines Lobes nennt, das zu jeder Gelegenheit wiederholt wird.17 Sofern es nie mit Kritik kontrastiert wird, 15 Malinowski, Bronislaw, »Das Problem der Bedeutung in primitiven Sprachen«, in: Charles K. Ogden / Ivor A. Richards, Die Bedeutung der Bedeutung, Frankfurt / Main 1974, S. 323-384 (engl. Original 1923), hier besonders S. 347 ff. 16 Levinas, Jenseits des Seins, a.a.O., S. 113. 17 Watzlawik / Beavin / Jackson, Menschliche Kommunikation, a.a.O., S. 86 f.
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verliert es nach und nach seine Bedeutung. Dabei verkehrt es sich jedoch nicht in sein Gegenteil, nämlich in Kritik oder Tadel, sondern es wird ›leer‹. Es gibt dem Anderen zu verstehen, ›nicht der Rede wert‹, inexistent zu sein. Indem das Gesagte seine Bedeutung verliert, droht aus dem Sagen ein Schweigen zu werden. Der Abbruch des Sagens kann folglich zu einem ›mitteilsamen‹ Schweigen werden, ein Schweigen, das noch eiserner sein kann als ein buchstäbliches Schweigen.
Name und Benennung Bisher ging es darum, dass wir durch die Ansprache als Jemand anerkannt werden und dass sich viele Gesprächsakte unserer alltäglichen Kommunikation gerade auf der Ebene des Sagens befinden. Nun gilt es vom Sagen zum Gesagten fortzuschreiten, um zu sehen, dass wir im Reden nicht nur als Irgend-Jemand, sondern als ein ganz bestimmter So-Jemand anerkannt werden. Anders gesagt: Es geht darum, wie wir durch die Sprache zu einem einzigartigen sozialen Wesen werden. Die Verleihung des Eigennamens kann als ›Urszene‹ der sozialen Inauguration von Menschen gelten, denn die soziale Existenz, die wir in der Ansprache zugesprochen bekommen, wird im Eigennamen verzeitlicht und dauerhaft gemacht.18 Das wird an dem grundlegenden Unterschied zwischen der Ansprache mit einem ›Du‹ und der Ansprache mit dem Eigennamen deutlich: Jeder Gebrauch des Eigennamens bezieht sich auf etwas, das hinsichtlich der verschiedenen Verwendungssituationen immer identisch bleibt. Jede Ansprache mit einem Eigennamen nimmt Bezug auf ein einziges menschliches Wesen. Die Ansprache mit einem ›Du‹ dagegen hat keine kontinuierliche Referenz: ›Du‹ hat seine Kontinuität nur für die Dauer der Ansprache, denn in dem Moment, in dem eine andere Adressatin angesprochen wird, ist ›Du‹ jemand anderes. Während die Zeit des Eigennamens also ewig ist, ist die Zeit des Pronomens dem Augenblick verhaftet. ›Du‹, so lässt sich mit Benveniste sagen, ist ein ›mobiles Zeichen‹, dessen Referenz jeweils mit dem Vollzug des Sprechens zustande kommt, der Eigenname hingegen ist ein ›starres Zeichen‹, dem seine Referenz anhaftet.19 Das hat zur Folge, dass der Eigenname die Existenz eines Du auch in dessen Abwesen18 Vgl. dazu Butlers Überlegungen zur Anrufung mit dem Eigennamen, die sie im Anschluss an Louis Althusser anstellt (Butler, Hass spricht, a.a.O., S. 41-47, und dies., Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt / Main 2001, S. 101124, sowie Althusser, Louis, »Ideologie und ideologische Staatsapparate«, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg 1977, S. 108-153, hier S. 130-153). 19 Vgl. Benveniste, Emile, »Die Natur der Pronomen«, in: ders., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974, S. 279-286, hier S. 284. Der Begriff ›starres Zeichen‹ lehnt sich hier an Saul Kripkes Begriff der ›starren Bezeichnungsausdrücke‹ [rigid designators] an. Vgl. Kripke, Saul A., Name und Notwendigkeit, Frankfurt / Main 1981, S. 59 f.
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heit verbürgt. Er gewährt Sicherheit, denn seine Nennung bewirkt, dass jemand adressiert ist, unabhängig davon wo er ist, wer er ist oder wie er ist. Um durch den Eigennamen benannt zu werden, bedarf es also keiner besonderen Leistung der Adressatin, sie muss nicht in den Namen hineinwachsen und ihn ausfüllen, er nennt sie einfach: jederzeit. Der Eigenname garantiert, dass ›Ich‹ gestern dieselbe war, die ›Ich‹ heute bin und ›Ich‹ morgen sein werde. Der Eigenname identifiziert nicht nur ein Leben lang, sondern er versichert seiner Trägerin auch, ein in das Soziale eingeschriebene Wesen zu sein. Das wird an einer Äußerung deutlich, die Wittgenstein ein Leben lang fasziniert hat: ›Ich, Ludwig Wittgenstein‹.20 Auf den ersten Blick könnte man meinen, es handelt sich dabei um eine Tautologie. Doch ganz im Gegenteil, an diesen Worten lässt sich etwas Grundlegendes zeigen: Im Gegensatz zum indexikalischen Demonstrativpronomen ›Ich‹ haftet dem Eigennamen ›Ludwig Wittgenstein‹ eine soziale Dimension an. Der Name wird uns durch Andere gegeben. Sich beim Namen zu nennen, bedeutet daher, sich aus der Perspektive der Anderen auf sich zurückzuwenden – man könnte fast sagen: sich als einen Anderen anzusprechen, und das heißt: sich auf sich selbst als ein soziales Wesen zu beziehen. Während das Wittgensteinsche ›Ich‹ lediglich ein singuläres, autonomes Wesen nennt, nennt der Eigennamen dieses ›Ich‹ als ein ›Ich‹ unter Anderen: als Teil einer Gemeinschaft. Der Eigenname bietet seiner Trägerin auf diese Weise die Möglichkeit, sich durch die Augen einer Anderen hindurch auf sich ›selbst‹ zu beziehen: Das ›Ich‹ wird dadurch zum ›Selbst‹. Der Eigenname ist zugleich die konkreteste und die abstrakteste Form der Selbstheit. Konkret ist der Eigenname, weil er unumstößlich die Existenz nennt und damit einen Ort eröffnet, an dem jemand adressiert werden kann. Abstrakt bleibt er jedoch, weil er außer dieser Existenzaussage keinerlei weitere Aussage macht. Aufgrund seiner kompletten Indifferenz gegenüber jeglicher Bedeutung gibt er keinerlei Auskunft über seine Trägerin. Das Selbst droht so, ein IrgendJemand zu bleiben – oder um Paul Ricœur zu paraphrasieren: der Eigenname droht das Selbst auf Selbigkeit festzuschreiben.21 Um das zu verhindern und das Selbst als ganz bestimmten So-Jemand im Sozialen zu situieren, bedarf es gesättigter Formen der Ansprache. Dazu gehören etwa gesellschaftliche Namen, Klassifizierungen, Prädikate und Beschreibungen, die wir an dieser Stelle unter dem Begriff der ›Benennung‹ zusammenfassen wollen.22
20 Vgl. exemplarisch Wittgenstein, Ludwig, Das blaue Buch, Frankfurt / Main, 9. Aufl., 2000, S. 107. 21 Ricœur, Paul, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 39-54. 22 Eine ähnliche Unterscheidung findet sich auch bei Butler, die zwischen ›Eigennamen‹ und ›Namen‹ unterscheidet (vgl. Butler, Hass spricht, a.a.O., S. 49), sowie bei Bourdieu, der ›Eigennamen‹ und ›Gattungsnamen‹ differenziert (Bourdieu, Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches, 2., erw. und überarb. Aufl., Wien 2005, S. 99).
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Diejenige Benennung, die dem Eigennamen noch am nächsten ist, aber doch schon in einem ganz anderen Register stattfindet, ist die Benennung mit einem Schimpf- oder Kosenamen. Diesen geht es nicht nur darum, ihr Gegenüber anzusprechen, sondern beide wollen auch etwas über ihren Adressaten aussagen: Das abwertende ›Schwitze-Sven‹ hebt genauso wie das liebevolle ›Moos-Rose‹ eine Eigenschaft des Adressaten vor, es ist mit Gehalt gesättigt, in ihnen kann sich die adressierte Person als ein so-und-so bestimmter Jemand wiederfinden. Dieser kann sich selbst als ganz bestimmtes soziales Wesen unter anderen sozialen Wesen verorten: als So-Jemand, der So-Jemandem gegenübertritt. Wird beispielsweise eine Schülerin von ihrem Lehrer als ›faul‹ bezeichnet, dann haben wir es mit einer Benennung zu tun, welche die Angesprochene im Bezug auf ihre Tüchtigkeit nicht als ›fleißig‹ oder ›arbeitsam‹, sondern als ›faul‹ klassifiziert. Dadurch erhält die Schülerin einen genau bestimmten Platz, von dem aus sich ihr die soziale Welt auftut und von dem aus sie anderen gegenüber Stand gewinnen kann: Sie kann sich etwa den Freunden gegenüber mit ihrer lässigen Art brüsten, muss sich den Eltern gegenüber wahrscheinlich rechtfertigen und von den Lehrern weiterhin Tadel einstecken. Kurz: Sie wird So-Jemand, denn die Benennung gibt ihr die Möglichkeit, einen sozialen Ort einzunehmen, der nicht existieren würde, wäre sie nicht adressiert worden. Die Benennung versetzt an einen sozialen Ort und in eine geschichtliche Zeit, sie schafft, wie Judith Butler schreibt, »die sprachliche Gelegenheit des Individuums, Verständlichkeit zu gewinnen und zu reproduzieren, also die sprachliche Bedingung seiner Existenz und Handlungsfähigkeit.«23 Je konkreter die Benennungen sind, die wir erfahren, desto mehr sind sie auch einem bestimmten Kontext verhaftet und verfallen mit der Zeit. Das mag daran liegen, dass wir uns entwickeln und verändern, oder aber einfach daran, dass wir in verschiedenen Kontexten ganz unterschiedlich adressiert werden. Wir haben es mit einer Asynchronizität zwischen Benennung und Eigennamen zu tun: Der Eigenname ist ewig, tendiert jedoch dazu, das Selbst als Irgend-Jemand festzulegen, Benennungen dagegen entfalten das Selbst als So-Jemand, sind dafür aber vergänglich. Die Stiftung des Selbst als So-Jemand steht damit immer in einem Spannungsverhältnis zur Vergänglichkeit der Benennung, denn zu So-Jemandem werden wir nie durch einen einzigen, singulären Akt, wie es bei der Verleihung des Eigennamens der Fall ist, sondern nur durch fortwährende Akte der Benennung. Um So-Jemand zu sein, müssen wir immer wieder von Neuem benannt werden. Diese fortwährende Benennbarkeit führt dazu, dass wir für die Namen und Ausdrücke, mit denen wir gerufen werden, eine grundlegende Offenheit besitzen.
23 Butler, Psyche der Macht, a.a.O., S. 15.
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Abhängigkeit und Anerkennung Im Gegensatz zum Eigennamen, der uns einfach verliehen wurde, stellt sich bei anderen Formen der Benennung die Frage, warum wir sie akzeptieren sollten. Können sie nicht auch einfach abgelehnt werden? Noch dazu, wenn es sich um eine negative Benennung handelt? Diese Fragestellung findet sich auch in einer Geschichte verdichtet, die von einem jüdischen Mädchen handelt, das zum Ende des Nationalsozialismus aus einem Konzentrationslager befreit wird. Nach der Befreiung wird es von den alliierten Soldaten nach seinem Namen gefragt. Seine Antwort lautet: »Judensau«. Diese Antwort macht deutlich, dass wir manchmal verletzende Benennungen akzeptieren. Denn obwohl jede Ansprache immer auch die Möglichkeit einer ablehnenden Antwort birgt, kann diese doch den Preis haben, zukünftig vielleicht gar keine Ansprache mehr zu erfahren. Manchmal nehmen wir daher lieber in Kauf, eine verletzende Ansprache anzunehmen, bevor wir unsichtbar bleiben. Das macht deutlich, dass wir von der Ansprache durch Andere in so grundlegendem Maße abhängig sind, dass wir auch verletzende Ansprachen akzeptieren. Dieser Umstand ist in der Zeitlichkeit jeder Ansprache verwurzelt: Der soziale Ort, der uns durch Benennungen zugewiesen wird, ist nie abschließend besetzt. Die soziale Existenz, welche die Ansprache gewährt, ist immer unabgeschlossen, sie muss durch fortwährenden Akte der Ansprache immer wieder erneuert und aufrechterhalten werden. Weil wir über die Zeit hinweg immer wieder neuen Benennungen unterliegen können und weil Benennungen in Vergessenheit geraten oder einfach nicht weiter überliefert werden können, tendieren sie immer wieder dahin zu verblassen und müssen daher durch andere, neue Benennungen ersetzt werden. Durch diese begrenzte Zeitlichkeit der Benennung stehen wir in einer dauerhaften Abhängigkeit von der Ansprache durch andere. Als soziale Wesen sind wir andern Menschen ausgesetzt, liegt unsere Existenz in ihrer Hand, sind wir – um eine Levinas’sche Redewendung aufzugreifen – die ›Geisel der Anderen‹. In dieser Ausgesetztheit gründet die symbolische Verletzungsoffenheit eines jeden Menschen. Sie macht uns in einem grundlegenden Sinne empfänglich für jede Form der verletzenden Ansprache. Sprachliche Verletzbarkeit tritt also nicht einfach zu den sozialen Beziehungen, die Menschen unterhalten, hinzu, sondern sie ist, wie Judith Butler treffend formuliert, »eine der ursprünglichen Formen, die diese sozialen Beziehungen annehmen«.24 Das Verhältnis von Selbst und Anderer ist also ein fundamental asymmetrisches. Weder in der Ausgangsstruktur noch in einem auch nur möglichen zukünftigen Horizont befinden sich Selbst und Andere in einem Verhältnis der Gleichheit, Symmetrie oder Wechselseitigkeit. Die symbolische Verletzung zerstört folglich keine vorgängige Gleichheit oder Symmetrie, sondern beutet eine primäre Asymmetrie zwischen Selbst und Anderer aus.
24 Ebd., S. 50.
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Dass Intersubjektivität grundlegend symmetrisch zu denken sei, ist ein Grundaxiom der universalpragmatischen Kommunikationstheorie.25 Ein prominenter Ausgangspunkt dieses Denkens ist die Hegelsche Herr-Knecht-Dialektik. Der ›Kampf um Anerkennung‹, den die beiden Selbstbewusstseine hier austragen, läuft darauf hinaus, dass Anerkennung nur wechselseitig und unter Gleichen möglich ist – gerade weil die Anerkennungsbeziehung zwischen Herr und Knecht scheitert: Der Herr will von seinem Gegenüber seine Wesentlichkeit bestätigt bekommen, und zugleich zielt er darauf ab, seinem Gegenüber keine Wesentlichkeit zuzugestehen. Damit steuert er in eine »existentielle Sackgasse«26: Denn wie soll sich der Herr anerkannt fühlen, wenn er denjenigen, von dem er anerkannt wird, nicht selbst anerkennt? Was zählt die Anerkennung von jemandem, der nichts zählt? Sie ist schlichtweg wertlos. Hegel sieht in diesem Widerspruch einen Grund für das Scheitern der Herrschaft des Herrn. Daher wird in einer hegelianischen Denktradition die Szene der Anerkennung zumeist so verstanden, dass sie mit einem gleichsam zwingenden Telos auf eine Symmetrie zusteuert, in der sich Herr und Knecht wechselseitig anerkennen.27 Das Grundproblem dieser Position besteht jedoch darin, dass sie nie über eine dyadische Relation hinausdenkt: Ein Selbstbewusstsein trifft auf ein anderes; der Dritte kommt in diesem Narrativ nicht vor – obwohl eine triadische Struktur die Dynamik des Kampfes auf grundlegende Weise verändert.28 Mit dem Auftauchen eines Dritten neben Herr und Knecht wird aus der interpersonalen Beziehung eine gesellschaftliche Szene, womit ein struktureller Bruch von einer wechselseitigen hin zu einer machtgesättigten Dynamik markiert ist. Denn die Bewegung auf Reziprozität hin wird dadurch gebrochen, dass der Herr seine Anerkennung nun auch von einer dritten Person erhalten kann – und diese Anerkennung erfolgt nicht nur trotz, sondern manchmal vielleicht sogar gerade aufgrund des Umstandes, dass es mit dem Knecht jemanden gibt, der ihm unterlegen ist.29 Der Herr ist damit nicht mehr auf die Anerkennung durch den Knecht angewiesen – dieser aber vielleicht immer noch auf seine. Das macht deutlich, dass, sobald die Szene der Anerkennung gesellschaftlich gedacht wird, sie nicht mehr zwangsläufig auf
25 Vgl. Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt / Main 1995 oder Apel, Karl-Otto, Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt / Main 1990. 26 Kojève, Alexandre, Hegel. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes. Mit einem Anhang: Hegel, Marx und das Christentum, Frankfurt / Main 1975 (franz. Original 1947), S. 64. 27 Ebd.; Tugendhat, Ernst, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen (1979), Frankfurt / Main, 6. Aufl., 1997, S. 341. 28 Vgl. dazu etwa Siep, Ludwig, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg u. a. 1979, vor allem seinen Exkurs über »Zweier- und Dreierbeziehungen in der Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts«, S. 76-85. 29 Todorov, Tzvetan, Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, Frankfurt / Main 1998, S. 36 ff.
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Symmetrie ausgelegt ist, sondern, dass die Begegnung zwischen Ich und Du auf einer grundlegenden Asymmetrie aufbauen kann. Durch das Auftauchen des Dritten kann die wechselseitige Angewiesenheit auf Anerkennung zwischen Herr und Knecht einer einseitigen Abhängigkeit weichen. Diese Abhängigkeit vom Andern hat Folgen für den Begriff der Anerkennung. In der Alltagssprache und auch im philosophischen oder sozialwissenschaftlichen Diskurs wird ›Anerkennung‹ oft im Sinne von Bestätigung, Wertschätzung, Achtung oder Bewunderung verwendet, womit ein Vorgang oder eine Haltung bezeichnet ist, durch die Menschen ihrem Gegenüber eine positive Bewertung kundtun. Auch Axel Honneth gründet seine Anerkennungstheorie auf diesem Gedanken, wenn er schreibt, dass »Anerkennung in ihrer elementaren Form eine expressive Geste der Befürwortung«30 ist. Anerkennung kann jedoch auch Unterwerfung bedeuten. Das zeigt sich, sobald die Szene der Anerkennung als gesellschaftliche Szene, als Szene unter Dritten verstanden wird. Der Knecht steht hier in einer einseitigen Abhängigkeit, er ist auf die Anerkennung, die ihm sein Herr gibt angewiesen. Damit ist er nicht nur für jene Formen der Ansprache offen, die eine Befürwortung zum Ausdruck bringen, sondern er ist auch jenen Formen der Ansprache ausgeliefert, die auf eine Unterwerfung abzielen. Denn selbst noch eine verletzende Ansprache ist eine Ansprache, die die Angesprochene als soziales Wesen anerkennt. Oder anders herum gesagt: Weil jede Ansprache durch eine Andere uns ein soziales Leben zugesteht, sind wir auf deren Anerkennung auch dann angewiesen, wenn sie in einer demütigenden, beleidigenden oder herabwertenden Ansprache besteht. Die Asymmetrie im Verhältnis zur Andern zeigt in grellem Licht, dass auch Formen der Ansprache, die auf Unterwerfung zielen, noch Formen der Anerkennung sind, einfach aufgrund der Tatsache, dass sie ihr Gegenüber überhaupt ansprechen und als soziales Wesen zur Kenntnis nehmen. Zugespitzt lässt sich in dieser Perspektive umgekehrt auch sagen, dass selbst bestätigende, wertschätzende Anerkennungsakte, wie ein Lächeln, ein Lob oder ein Zuspruch, eine Unterwerfung unter die Andere beinhalten. Denn sie führen mir vor Augen, wie sehr ich von der Anderen abhänge. Nicht nur missachtende Formen der Anerkennung, sondern jegliche Anerkennungsakte sind folglich im Grunde genommen als Unterwerfung zu verstehen. Diese Einsicht ist in den zwei Bedeutungsdimensionen des Englischen ›to be subject to somebody‹ aufgespeichert: ›Für jemanden ein soziales Wesen zu sein‹ ist hier gleichbedeutend mit ›jemandem unterworfen zu sein‹. In der verletzenden Ansprache tritt also lediglich mit aller Deutlichkeit eine Abhängigkeit vom Anderen zu Tage, die jeder Form der Ansprache unterliegt. Diese grundlegende Asymmetrie in der Struktur der Intersubjektivität bedeutet jedoch nicht, die unendliche Aufgabe eines Durcharbeitens oder Umarbeitens dieser Asymmetrie zu verabschieden. Im Gegenteil,
30 Honneth, Axel, »Unsichtbarkeit. Über die moralische Epistemologie von ›Anerkennung‹«, in: ders., Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt / Main 2003, S. 10-27, hier S. 21.
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durch den Aufweis dieser Asymmetrie zeigt sich erst, in welchem Ausmaß eine Umarbeitung dieser Asymmetrie eine schwierige, aber umso dringlichere Aufgabe ist.
Symbolische Verletzbarkeit und sozialer Tod Worte können beschmutzen. Sie können die Ehre ›beflecken‹, wie wir sagen. Beleidigt worden zu sein, bedeutet daher oftmals, sich gezwungen zu sehen, den eigenen Namen ›reinwaschen‹ zu müssen.31 Diese Reinwaschung erfordert unter bestimmten Umständen, die Unversehrtheit des sozialen Seins über die Unversehrtheit des physischen Seins zu stellen. Sie kann dazu führen, dass die Angesprochene lieber den eigenen Tod riskiert als eine bestimmte Demütigung zu ertragen. Das ist beispielsweise im Duell der Fall: Eher den eigenen Tod riskieren als mit einer befleckten Ehre weiter leben, so könnte die Maxime desjenigen lauten, der den Kampf auf Leben und Tod eingeht.32 Herabwertende Äußerungen sind in diesem Szenario alles andere als ›bloße Worte‹, sie verweisen vielmehr auf eine dramatische Verletzbarkeit durch Worte, eine Verletzbarkeit, die scheinbar so groß ist, dass für sie die physische Existenz aufs Spiel gesetzt wird. Worin nun liegt diese Verletzbarkeit? Was macht ihre Tragik aus? Welche Logik liegt ihr zugrunde? Durch die Sprache verletzt zu werden bedeutet, auf einen randständigen sozialen Ort verwiesen zu werden. ›Herabsetzung‹, ›Erniedrigung‹ oder ›Abwertung‹ etwa bringen zum Ausdruck, dass jemand an einem minderwertigen, prekären Ort im Sozialen positioniert worden ist – zumindest temporär oder in bestimmten Kontexten. Folgen wir diesem Alltagsvokabular, dann können wir davon sprechen, dass sprachliche Gewalt gemäß einer Logik sozialer Ortsverschiebungen arbeitet. Diese Logik hat eine zentrifugale Ausrichtung, sie zieht ihre Adressatin an den sozialen Rand hin. Die Verletzung durch die Ansprache weist der Angesprochenen zwar einen Platz zu: aber es ist ein minderwertiger, zunehmend unsicherer Platz. Wie prekär eine randständige Platzierung ist, zeigt sich beispielsweise in der Tatsache des Angesprochenwerdens. Denn gilt der eigene Ruf als beschmutzt, dann drohen sich die Anderen an mir ›die Finger schmutzig zu machen‹. Daraus kann ein zunehmender Verlust der Ansprache folgen, der sich darin zeigt, dass ich gemieden werde. Der Situation der Ansprache wird ausgewichen, indem einer Konfrontation in der face-to-face Situation ausgewichen wird. Ein Umstand, der in der Aussage ›Wer will schon mit so einer wie dir etwas zu tun ha31 Vgl. dazu etwa Benedict, Ruth, Chrysantheme und Schwert, Frankfurt / Main 2006, (engl. Original 1946), vor allem Kapitel 8: ›Seinen eigenen Namen reinwaschen‹, S. 131-158. 32 Das hat Hegel in seinen Überlegungen zum Kampf auf Leben und Tod eindrücklich deutlich gemacht: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes (1807), in: ders., Werke 3, Frankfurt / Main 1986, S. 148 ff.
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ben‹ ganz explizit wird. Die Ansprache kann jedoch auch in meiner Gegenwart ausbleiben, und sich darin zeigen, dass ich übergangen werde. Etwa in der Art, dass die Umstehenden nach ihrer Meinung oder ihrem Rat gefragt werden, ich jedoch nicht. Diese Bedeutungslosigkeit kommt in der Aussage ›Von dir will niemand etwas wissen‹ zum Ausdruck. Das eigene Sein gilt so wenig, dass es gar nicht erst adressiert wird. Auf der anderen Seite kann soziale Randständigkeit auch in dem Umstand zum Ausdruck kommen, dass die Betroffenen immer weniger die Möglichkeit haben, selbst diejenigen zu sein, die andere ansprechen und eine Antwort hervorrufen können. Der Verlust dieser sprachlichen Handlungsfähigkeit kann sich darin zeigen, dass mit zunehmender Desintegration ganz grundlegend die Möglichkeiten zur Rede immer stärker genommen werden:33 Es gibt erst gar keine Möglichkeit, dass die Stimme Gehör findet. Das mag daran liegen, dass eine Person nicht gefragt wird, dass ihr gedroht wird, bloß ›das Maul zu halten‹ oder dass sie einfach ›nichts zu melden‹ hat. Oder man erhält keinen Zugang zu den Orten, an denen eine Stimme überhaupt gehört werden kann. Der Stimmverlust kann aber auch darin bestehen, dass sprachliche Handlungen einfach keine Effekte mehr erzielen, da ihnen die nötige Autorität zur Verwirklichung ihrer Rolle fehlt. Verliert man eine überlegene soziale Position und gerät in eine zunehmende soziale Unterlegenheit, ist es zwar noch möglich, eine Äußerung zu vollziehen – aber sie kann ins Leere laufen, keine Kraft mehr haben oder nichts mehr zählen. Es mag der sprechenden Person mit Worten einfach nicht mehr gelingen, bestimmte Effekte hervorzurufen, weil sie nicht die nötige Autorität zum Sprechen besitzt. Unser abfälliges ›Lass sie doch reden, interessiert ja eh keinen‹ bringt diese Handlungsohnmacht zum Ausdruck. Mit der Sprache kann man also der Sprache berauben: die Sprache kann ins Schweigen sprechen. Dieses Schweigen kann soweit gehen, das wir ganz aus dem Spiel von Ansprache und Antwort ausgeschlossen, nicht mehr als soziales Wesen adressiert werden und damit die soziale Existenz vollkommen verlieren. Wir sprechen in diesem Fall vom ›sozialen Tod‹. Die Positionierung am sozialen Rand ist oft nur einen Fußbreit von diesem entfernt oder tendiert dazu, schon im nächsten Moment in diesen überzugehen. Zwischen sozialer Teilhabe und sozialem Tod gibt es keine klaren Trennlinien, sondern eher eine bedrohliche Übergängigkeit. Die verletzende Sprache kann auf einen sozialen Ort sprechen, der sich als ein Nicht-Ort entpuppt.34 Ein Ort, der keine Gewissheit darüber zulässt, ob wir noch Teil des Sozialen sind. Sozial ausgeschlossene Personen werden behandelt, als seien sie ›Luft‹, wie beispielsweise Obdachlose. Meist werden sie von Passanten einfach gar nicht bemerkt, an ihnen wird vorübergegangen wie man an einem Baum vorübergeht oder man irgendeinem Gegenstand ausweicht. Dem Obdachlosen wird auf seine
33 Wir orientieren uns hier an Rae Langtons Typologie der ›unsprechbaren Akte‹. Vgl. dies., »Sprechakte und unsprechbare Akte«, in diesem Band, S. 107-146. 34 Butler, Hass spricht, a.a.O., S. 12.
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Frage nach etwas Kleingeld oft nicht nur keine materielle Gabe entgegengebracht, sondern manchmal noch nicht einmal geantwortet. In diesem Sinn erfahren Obdachlose überhaupt keine oder kaum noch eine Adressierung von Anderen, und darüber hinaus haben Obdachlose freilich auch ganz buchstäblich keine Adresse mehr: Sie sind ohne bauliches wie auch ohne soziales Obdach.35 Im sozialen Tod ist der Stimmverlust so drastisch, dass die Fähigkeit der Betroffenen, mit Anderen zu kommunizieren, ganz verloren geht. Diese Art des Stimmverlusts führt zum Abbruch der Kommunikation, oder, wie Petra Gehring es ausdrückt, mündet in einen ›Kommunikations-Tod‹.36 Auch wenn dieser Tod keinen Leichnam hinterlässt, bringt er doch etwas hervor, was wir vom physischen Tod her kennen: Totenstille. So wie die körperlich Tote nicht mehr spricht, kann auch die sozial Tote nicht mehr sprechen – sie ist verstummt. Die lebende Tote vermag sprachlich kein soziales Band mehr mit anderen Menschen zu knüpfen und bleibt vom sozialen Leben ausgeschlossen. Ein letztes Aufbegehren gegen den Kommunikations-Tod stellt oft die Flucht in die Provokation dar. Provokation meint dann ganz wörtlich pro-vocare, den Ruf nach der Stimme des Anderen, nach seiner Antwort. Wer sich als unsichtbar erlebt, als jemand, der wie Luft behandelt wird, der versucht oft, eine Antwort zu provozieren – mit jeglichen Mitteln, und indifferent gegenüber der Art der Antwort.37 Personen beginnen dann, andere zu beleidigen, sie zu bedrohen, sie anzurempeln, nur um die Gewissheit zu erhalten, jemand zu sein, dessen Tun auf irgendeine Resonanz bei der Anderen stößt.
Die Grammatik sprachlicher Gewalt Von der Frage, warum Worte verletzen können, wollen wir nun zur Frage übergehen, wie Gewalt durch Sprache ausgeübt wird. Mit Hilfe der ›Grammatik sprachlicher Gewalt‹ werden wir die verletzende Rede dabei als eine soziale Praxis rekonstruieren. Das heißt Folgendes: (i) Keine Äußerung als solche verletzt zwangsläufig – und zugleich kann beinahe jede beliebige Äußerung verletzen. Selbst das schwerste Schimpfwort muss nicht notwendig zur Herabsetzung des Angesprochenen führen (ein Schwarzer, der einen Weißen als ›Scheiß-Weißen‹ beschimpft, wird vor erheblichen Schwierigkeiten stehen). Und selbst noch ein Lob vermag abzuwerten: etwa in der Formulierung ›Für eine Frau können Sie wirklich gut Autofahren‹. Das bedeutet, dass keine rein linguistische Untersu35 Vgl. dazu Bourdieu, Pierre, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt / Main 2001, S. 172-199. 36 Vgl. Gehring, Petra, »Die Wiederholungs-Stimme. Über die Strafe der Echo«, in: Doris Kolesch / Sybille Krämer (Hg.), Stimme, Frankfurt / Main 2006, S. 85-110. 37 Vgl. dazu Axel Honneths Anknüpfung an Ralph Ellisons Roman Der unsichtbare Mann, in dem der schwarze Protagonist Passanten auf der Straße ostentativ anrempelt oder um sich schlägt, um dem Gefühl zu entgehen, unsichtbar zu sein (Honneth, »Unsichtbarkeit«, a.a.O., S. 14 f.).
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chung allein etwas über das Gewicht einer Missachtung aussagen kann. Entscheidend sind vielmehr die Umstände der Äußerung – wer zu wem was in welchem Kontext sagt. Die Grammatik sprachlicher Gewalt ist daher keine Grammatik des Sprechakts, sondern eine Grammatik des Äußerungsszenarios. (ii) Die Szene der Äußerung bezieht sich nicht primär auf singuläre, rein individuelle Umstände: zum Beispiel darauf, dass die Sprecherin und die Adressatin schon am Tag zuvor miteinander Streit hatten, und die Adressatin deshalb das Lob der Sprecherin ›in den falschen Hals‹ bekommt. Sie bezieht sich vielmehr auf soziale Machtverhältnisse. Die Grammatik sprachlicher Gewalt sucht die Kraft einer Äußerung daher in den Kräfteverhältnissen des Sozialen. (iii) Die Verletzungsmacht der Rede wird oftmals ganz von der subjektiven Empfindlichkeit der Angesprochenen her verstanden. Die Angesprochene, so behauptet diese Position, reagiere aufgrund ihres biographischen Hintergrunds auf ein bestimmtes Wort emotional. Die Ansprache ist in dieser Sicht Projektionsfläche für innerpsychische Konflikte der Betroffenen, und die Verletzung wird zu einer Deutungsleistung der Angesprochenen.38 Die Äußerung in ihrer sozialen Logik zu untersuchen, bedeutet jedoch, sprachliche Gewalt aus dem Reich des Subjektiven zu holen. Für die Verletzungskraft sprachlicher Gewalt ist nicht konstitutiv, was auf einer psychischen Ebene geschieht, sondern was die Äußerung mit der Angesprochenen im Sozialen tut. (iv) Sprachliche Gewalt als soziale Praxis zu verstehen, bedeutet schließlich auch, den verletzenden Sprechakt als kommunikativen Akt zu denken, d. h. als Akt, der sich an jemanden richtet, der auf die Ansprache antworten kann. Die Grammatik sprachlicher Gewalt untersucht daher zugleich auch die Bedingungen, unter denen eine Antwort gegeben und die Gewalt eventuell aufgefangen oder erwidert werden kann.
Sprachliche Gewalt als Absetzungsakt Gewalt ist zerstörerisch – und gewiss ist auch sprachliche Gewalt zerstörerisch; sie setzt herab und entzieht ihrer Adressatin ihren sozialen Platz. Doch sie verstößt die Angesprochene von ihrem Platz, um ihr einen anderen, untergeordneten Platz zuzuweisen. Dieses Wissen ist in vielen Begriffen, die wir für die Beschreibung sprachlicher Gewalt benutzen aufgehoben: Herabsetzung, Erniedrigung oder Abwertung etwa bringen zum Ausdruck, das jemand seine sozialen Stellung in der Welt verloren hat. Sie nennen den Entzug einer bisherigen sozialen Stellung, einen Fall – doch dieser Fall ist kein freier Fall, sondern er endet an einem anderen Platz, den wir als unterlegenen, untergeordneten, unterworfenen Platz beschreiben. Nehmen wir das topologische Vokabular ernst, das wir in unseren Beschreibungen sprachlicher Gewalt anwenden, dann können diese Worte als Hinweis darauf verstanden werden, dass sprachliche Gewalt sowohl als eine Kraft zur Zerstörung einer bestehenden Ordnung betrachtet werden kann, als 38 Vgl. Nunner-Winkler, Gertrud, »Mobbing und Gewalt in der Schule. Sprechakttheoretische Überlegungen«, in: Westend, Heft 1, 2004, S. 91-100, hier S. 94.
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auch als eine Kraft, die neue Ordnung schafft. Anders ausgedrückt: Sprachliche Gewalt muss nicht nur eine destruktive, sondern kann auch eine produktive Kraft sein – sie kann ›negative‹ Ordnung stiften, und zwar in Form der ›Unter-Ordnung‹ einer Person. Der tieferliegende Grund dafür besteht darin, dass jede Ansprache die Angesprochene unvermeidlich ins Soziale einführt. Das lässt sich auch so formulieren: Mit einer Sprache, die ihre Adressatin immer an einem sozialen Ort anspricht, ist es nicht möglich, dieser ihren sozialen Ort ganz zu rauben – es kann allein ein anderer, minderwertiger Ort konstituiert werden. Sprachliche Gewalt beruht daher nicht in erster Linie auf einer Logik der Zerstörung, als vielmehr auf einer sozialen Logik der Ortverschiebung. Als Paradigma sprachlicher Gewalt können Absetzungsakte gelten. In ihnen geht es darum, wie Bourdieu sagt, jemandem mitzuteilen, »er habe diese oder jene Eigenschaft, und zugleich, er habe sich der ihm auf diese Weise zugesprochenen sozialen Natur gemäß zu verhalten«39. Ein Beispiel für einen Absetzungsakt ist etwa das militärische Degradierungszeremoniell, in dem ein Offizier zum einfachen Gefreiten zurückgestuft wird. Der Absetzungsakt verändert die Stellung der adressierten Person im Sozialen. Er verändert die Vorstellung, die die abgesetzte Person von sich selber hat, und auch das Verhalten, zu dem sich die Person nun verpflichtet fühlt. Und er verändert die Vorstellung, die Andere von nun an von der abgesetzten Person haben, und das Verhalten, das sie der Person gegenüber nun an den Tag legen. Die Absetzung ist ein Akt ›sozialer Magie‹: Ohne dass jemandem physisch etwas zugefügt würde, verwandelt sich der soziale Status einer Person – dazu nötig sind: nur Worte. Im Horizont von Absetzungsakten zeigt sich, dass die Gewaltsamkeit sprachlicher Gewalt auf einem Doppelcharakter beruht, der im deutschen Begriff ›Gewalt‹ aufgehoben ist. ›Gewalt‹ meint auf der einen Seite die verletzende Gewalt, die wortgeschichtlich auf das lateinische ›violentia‹ zurückgeht.40 Bei ihr handelt es sich um Gewalt als Kraft; sie wird gemessen an ihrer Wucht oder Stärke. Gewalt ist in dieser Hinsicht gleichbedeutend mit Schädigung, Verwüstung oder Zerstörung. Auf der anderen Seite bezieht sich Gewalt jedoch auch auf eine verfügende Gewalt, die auf das lateinische ›potestas‹ zurückgeht und in Ausdrücken wie etwa ›Staatsgewalt‹, ›Amtsgewalt‹ oder ›geistliche Gewalt‹ auftritt. Gewalt wird in dieser Dimension gemessen an dem Vermögen oder dem Können, etwas geschehen zu lassen; kurz: es handelt sich um Gewalt als Macht. Geht man nun davon aus, dass sprachliche Gewalt nicht nur einfach destruktiv, sondern auch produktiv ist, indem sie ihr Gegenüber als ein unterlegenes anspricht, dann wird deutlich, dass sich sprachliche Gewalt nicht im Aspekt der violentia erschöpft, sondern diese ein Produkt der potestas ist. Verletzend ist Sprache in dem Maße, wie es ihr gelingt, ihr Gegenüber mit Macht als untergeordnet, als herabgesetzt 39 Bourdieu, Was heißt sprechen? a.a.O., S. 99. 40 Vgl. etwa Imbusch, Peter, »Der Gewaltbegriff«, in: Wilhelm Heitmeyer / John Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 2657, hier S. 29 ff.
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oder als erniedrigt einzusetzen. Zugespitzt formuliert heißt das: Die verletzende Gewalt beruht im Grunde genommen auf einer verfügenden Gewalt. Erst indem jemand die verfügende Gewalt (Macht) ausübt, eine Person herabzusetzen, wendet er ihr gegenüber eine verletzende Gewalt (Kraft) an. Um einen Menschen physisch zu verletzen oder zu töten, bedarf es keiner verfügenden Gewalt, keiner Macht. Denn wenn wir von der Macht zu töten reden, dann ist von einer Macht die Rede, die allen Menschen zukommt (einen Messerstich kann tendenziell jede jeder zufügen) – sie stellt keine spezifische Verfügungsgewalt mehr dar.41 Physische Gewalt kann zwar durch Macht legitimiert werden, aber ihre Ausübung erfordert letztlich nur Kraft – sei es in Form der eigenen Körperkraft oder in Form einer durch den Einsatz von Waffen angeeigneten Durchschlagskraft. Im Gegensatz zu physischer Gewalt ist sprachliche Gewalt jedoch auf Macht angewiesen. Das verdeutlichen Absetzungsakte, denn die Verwandlung, auf die sie abzielen, hat nur Erfolg, wenn sie mit Macht auferlegt wird. Eine solche Macht – das hat Austin mit der Entdeckung seiner ›ursprünglichen Performativa‹ aufgezeigt – liegt weder in der Semantik noch in der Physis der Äußerung. Sie kommt vielmehr gleichsam von außen, vom Sozialen her: Performativa verweisen immer auf eine gesellschaftliche Szene der Äußerung.42 Den Bedingungen, unter denen sprachliche Absetzungsakte sich mit Macht zu sättigen vermögen, wollen wir im nächsten Schritt genauer nachgehen.
Figuren des Dritten Absetzungsakte sind rituelle Akte, die ihre Kraft aus gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen beziehen. Weniger die Intention einer Sprecherin als die sozialen Bedingungen einer Äußerung müssen daher bei der Untersuchung sprachlicher Gewalt im Vordergrund stehen. Garfinkel schlägt in diesem Sinne vor, das Gerichtszeremoniell zwischen der Anklägerin, der Angeklagten und den Geschworenen als ›Urszene‹ von Absetzungsakten zu begreifen.43 Wir greifen diese trialogische Anordnung auf und gehen davon aus, dass Absetzungsakte nicht auf einem dualen Verhältnis von Ich und Du beruhen, sondern durch eine dritte Instanz vermittelt sind. Während die Sprachphilosophie Kommunikation gemeinhin im Horizont eines dialogischen Paradigmas betrachtet, wird sich am Beispiel von sprachlicher Gewalt auf plastische Weise zeigen, wie sehr sich Kommunika-
41 Popitz formuliert diesen Umstand so: »Weil Menschen andere Menschen töten können, ist alle Macht von Menschen über Menschen unvollkommen.« (Popitz, Heinrich, Phänomene der Macht, 2., stark erw. Aufl., Tübingen 1992, S. 57) 42 Austin, John L., Zur Theorie der Sprechakte (How to Do Things With Words), 2. Aufl., Stuttgart, 1979 (engl. Original 1962). 43 Garfinkel, Harold, »Bedingungen für den Erfolg von Degradierungszeremonien«, in diesem Band, S. 49-57 (engl. zuerst 1956).
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tion gerade mittels eines Dritten vollzieht. Sprachliche Gewalt muss folglich in grundlegender Weise eine »Gewalt unter Dritten«44 verstanden werden. (i) Der Zeuge als personaler Dritter: Eine ›dritte Instanz‹ finden wir zunächst ganz plastisch in dritten Personen, an die sich viele Beleidigungen wenden und die den performativen Akt bezeugen sollen. Das machen semi-direkte Sprechakte45 besonders deutlich: Sie wenden sich nicht an jemanden, sondern sprechen zu einem Publikum über jemanden. Ist diejenige, über die gesprochen wird, sogar noch anwesend, wird der im Gesagten ausgedrückte Ausschluss auch noch sprachlich performiert. Solche semi-direkten Sprechakte, die sich ganz von ihrer Adressatin abwenden, machen deutlich, dass die Dritte die eigentliche Adressatin des verletzenden Sprechens ist. Die Zuschauer sind dabei nicht in erster Linie als Individuen anwesend, sondern als buchstäbliche Verkörperungen des Sozialen. Im Gegensatz zu sprachlicher Gewalt hinterlässt physische Gewalt, wie etwa der Schlag mit der Faust, schmerzhafte Spuren am Körper des Opfers. Wo keine materiellen Spuren von der Gewalt Zeugnis geben, ist die Anwesenheit einer Zeugenschaft umso gewichtiger. Was in dialogischer Kommunikation als Anspielung übergangen werden kann, droht in einer öffentlichen Situation plötzlich eine eigentümliche Kraft zu entfalten, die von der Hörerin kaum ignoriert werden kann. Darum reden wir auch davon, dass jemand ›vor allen Leuten‹ bloßgestellt wurde. Und darum ist es so entscheidend, ob wir mit unserem verächtlichen Witz die ›Lacher auf unserer Seite haben‹ oder nicht.46 Garfinkel hat darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht immer genügt, dass das Publikum eine Situation be-zeugt, es muss oft auch von einer Äußerung überzeugt werden.47 Garfinkel rückt mit dieser Überlegung die zeitliche Verstetigung der Absetzung in den Mittelpunkt. Wäre das Publikum immer auf die Rolle des Zeugen reduzierbar, dann würde seine Rolle stets nur darin bestehen, möglichst neutral zu bestätigen, dass eine Sprechhandlung x von einer Person A an eine Person B adressiert worden ist. Damit wäre diese Handlung aber noch nicht verstetigt. Denn damit eine Missachtung ihre Kraft entfaltet, kommt es für die Sprecherin nicht nur darauf an, dass ihr Sprechen als ein missachtendes Sprechen 44 Liebsch, Burkhard, »›Sprechende‹ Gewalt«, in: Kristin Platt (Hg.), Reden von Gewalt, München 2002, S. 150-174, hier S. 163. 45 Der Terminus ›semi-direkte Sprechakte‹ verwenden wir im Anschluss an Graumann, Carl F., »Verbal Discrimination: A Neglected Chapter in the Social Psychology of Aggression«, in: Journal for the Theory of Social Behaviour, Heft 1, Bd. 28, 1998, S. 41-61, hier S. 54. 46 Diejenige, die über jemanden spottet, versucht, so Freud, »die ursprünglich störende dritte Person zum Bundesgenossen« zu machen (Freud, Sigmund, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905), in: ders., Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Der Humor, 6. Aufl., Frankfurt / Main 2001, S. 114.). Dieser Umstand spiegelt sich auch darin wieder, dass laut Strafgesetzbuch für die Schwere einer ehrkränkenden Beleidigung der Grad an Öffentlichkeit mit ausschlaggebend ist; vgl. Sornig, Karl, »Beschimpfungen«, in: Grazer Linguistische Studien. Sprache & Gesellschaft, Heft 1, 1975, S. 150-170, S. 164 f. 47 Garfinkel, »Bedingungen für den Erfolg«, a.a.O., S. 53 ff.
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wahrgenommen wird, sondern dass die adressierte Person in den Augen des Publikums tatsächlich zu einer missachtenswerten Person wird. Das wird sie aber oft erst dadurch, dass das Publikum eine Sprechhandlung nicht nur bezeugt, sondern von ihr überzeugt wird. Und um überzeugt zu werden, muss das Publikum die Äußerung der Worte nicht nur beglaubigen, sondern es muss ihr zugleich auch seinen Glauben schenken. Erst dadurch erhält die Demütigung eine Dauerhaftigkeit, durch welche sie sich über die Zeit hinweg wirkungsvoll in das Soziale einschreiben kann. (ii) Autoritative Sprecherpositionen: Eine autoritative Sprecherposition einzunehmen bedeutet, nicht in erster Linie als Individuum zu sprechen, sondern mit der Stimme von Dritten. Die autorisierte Sprecherin kann mit Worten auf Andere einwirken, weil sich in ihrer Äußerung die symbolische Kraft einer ganzen Gruppe konzentriert. Die »delegierte Macht« verleiht der eigenen Stimme Gewicht.48 Diejenige, die z. B. im Namen des Gesetzes, im Namen der Wissenschaft oder im Namen einer Behörde spricht, macht sich die ganze Kraft einer Institution zu eigen. »Die Wirkung des performativen Diskurses, der den Anspruch erhebt, das Gesagte mit dem Akt des Sagens herbeizuführen, ist so groß wie die Autorität dessen, der spricht.«49 Die autorisierte Sprecherin spricht folglich in gewissem Maße immer mit einer fremden Stimme, der Stimme der institutionalisierten Macht. Diejenige, die in ihrer sozialen Stellung genügend Autorität akkumuliert hat, kann sich des Erfolgs ihrer Missachtung weitgehend sicher sein; diejenige dagegen, die nicht über einen solchen Rückhalt verfügt, muss viel eher damit rechnen, mit ihrer Missachtung zu scheitern. Der Manager, der aus dem Supermarkt kommend den Obdachlosen verächtlich als ›Schnorrer‹ bezeichnet, wird seiner Äußerung mehr Kraft verleihen können als der Obdachlose, der umgekehrt den Manager einen ›Schnösel‹ nennt. Ein noch drastischeres Beispiel sind Sklaven, die in vielen Gesellschaften nicht dazu in der Lage waren, ihre Herren mit Worten zu verletzen – ihre Äußerungen blieben einfach bedeutungslose Geräusche.50 (iii) Gesellschaftliche Klassifikationen: Sprachliche Gewalt gewinnt ihre Kraft durch das Aufrufen gesellschaftlicher Klassifikationen, die sich in einem hegemonialen Diskurs sedimentiert haben – sie muss sich also mit dritten Stimmen überlagern.51 Zu den Klassifikationen, die sprachliche Gewalt wieder aufrufen kann, gehören binär strukturierte Kategorien, in denen der jeweils sekundäre Terminus den abgewerteten, unterlegenen Platz markiert: weiß / schwarz, maskulin / 48 Zur ›delegierten Macht‹ und zum autoritativen Sprechen, vgl. Bourdieu, Was heißt sprechen?, a.a.O., S. 99-109; Austin, Zur Theorie der Sprechakte, a.a.O., S. 35-55. 49 Bourdieu, Was heißt sprechen?, a.a.O., S. 125. 50 Vgl. Patterson, Orlando, Slavery and Social Death. A Comparative Study, Cambridge u. a. 1982, S. 82. 51 Darauf hat besonders Judith Butler im Kontext der hate speech-Debatte mit ihren Überlegungen zum Rezitieren rassistischer Äußerungen aufmerksam gemacht (vgl. etwa Butler, Hass spricht, a.a.O., S. 53 ff.).
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feminin, eigenes / fremdes, normal / behindert usw. Solche Ungleichheitssemantiken sind durch die Geschichte einer Gesellschaft geprägt worden. Die Kraft und Legitimität der performativen Äußerung wird nicht im Augenblick geboren, sondern sie resultiert aus einer sedimentierten Geschichtlichkeit, aus dem, was durch Traditionen, Bräuche und Etiketten überliefert ist. Um dem Sprechen verletzende Kraft zu verleihen, können solche Klassifikationen aufgerufen und angeeignet werden. Die verletzende Äußerung wird daher in einem gewissen Sinne nie nur gesagt, sondern immer wieder-gesagt. Nicht die Sprecherinnen verfügen über die Macht der verletzenden Benennung, sondern ein historischer Chor an Stimmen: Gesellschaftliche Klassifikationen tragen die kollektive Kraft einer ganzen Kultur in sich. Die Autorität der sprechenden Person verleiht der Äußerung Gewicht, die Klassifikation gibt der verletzenden Formel Kraft und die Anwesenheit des Publikums verbürgt den dauerhaften Vollzug des sprachlichen Gewaltaktes. Für Missachtungen gilt folglich, dass sich soziale Kräfte in einer Stimme verdichten müssen, damit der performative Akt seine Gewalt – im doppelten Sinne – entfalten kann. Die Stimme der Einzelnen gewinnt in der Perspektive der Grammatik sprachlicher Gewalt nur in der Übereinstimmung mit dem kumulativen Gewicht einer Vielzahl von anderen Stimmen ihre Verletzungsmacht. Dennoch kann keine der drei Figuren des Dritten das Gelingen des Gewaltaktes abschließend sichern. Die unterschiedlichen Weisen des Bezugs auf einen Dritten gewährleisten den Erfolg der gewaltsamen Äußerung nie vollkommen. Und die drei Figuren des Dritten decken das Feld der Möglichkeiten, sprachliche Gewalt auszuüben, in keiner Weise vollständig ab. Der Erfolg einer Missachtung ist beispielsweise nicht zwangsläufig an ein Publikum gebunden. Vielmehr gilt oft das genaue Gegenteil: Für viele verletzende Äußerungen scheint nicht die Öffentlichkeit, sondern die Privatsphäre den Ausgangspunkt zu bilden. In engen persönlichen Bindungen können Worte so sehr treffen wie in kaum einem anderen sozialen Kontext. Verletzende Äußerungen zielen in dieser Konstellation nicht unbedingt darauf ab, das Gesagte öffentlich bekannt zu machen, sie ziehen ihre Wirkmächtigkeit vielmehr aus der intimen Kenntnis der Anderen. Oft kommen anwesende Dritte deshalb mit der Subtilität der Äußerungen gar nicht mehr mit; es mangelt ihnen am notwendigen Hintergrundwissen, durch das eine mehrdeutige Anspielung der Sprecherin auf einen ›wunden Punkt‹ ihrer Partnerin oft erst ihren Sinn erhält. Eine solche Konstellation der Verletzungsmacht in engen Bindungen beruht freilich auch auf einer starken Abhängigkeit der adressierten Person von der Sprecherin, eine Situation, in dem sie sich dieser nicht ohne Weiteres entziehen kann. Diese grundlegende Form der Asymmetrie, die auf mehr oder weniger drastische Weise alle Beziehungen zwischen Selbst und Anderer prägt, tritt in intimen Bindungen besonders deutlich zutage. In intimen Beziehungen begeben sich das Selbst und die Andere in eine leidenschaftliche Verletzlichkeit, die auf latente Weise für Intersubjektivität als solche kennzeichnend ist. Es ist diese Abhängigkeit von der Anderen, die uns in engen Zweierbeziehungen
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– vollkommen unabhängig von der Frage, ob Dritte anwesend sind oder auch nicht – extrem verletzbar macht. Auch hebeln sich die unterschiedlichen Gestalten des Dritten oft gegenseitig aus. Eine Person mit großer Autorität etwa, deren Machtposition gesellschaftliche Anerkennung genießt, kann von Äußerungen verwundet werden, die mit der Instanz des Dritten in Gestalt von Diskursen und Klassifikationen spricht. Wenn beispielsweise eine Schülerin ihre Lehrerin beleidigt, so muss sie dabei nicht zwangsläufig den Kürzeren ziehen, vielmehr kann es ihr auch gelingen, ihre Missachtung sehr wirkungsvoll zu platzieren, indem sie es so einrichtet, dass sie vor der Schulklasse als diejenige auftritt, die die Lehrerin im Namen der von der Klasse geteilten Werte – etwa: ›Unterwerfe dich nie einer Autorität‹ – herabsetzt. Wenn eine institutionell schwächer gestellte Person an bestimmte Diskurse anknüpfen kann, dann kann der ›delegierten Macht‹ wirkungsvoll entgegengetreten werden. Und noch mehr als das: Selbst wenn keinerlei Bezug auf einen Dritten vorhanden ist, kann sprachliche Gewalt vollzogen werden. Die drei Figuren des Dritten beziehen nicht alle möglichen Weisen mit ein, mit denen sprachliche Gewalt ausgeübt werden kann. Es gibt eine unendliche Vielzahl an rhetorisch-kreativen Kniffen, Schachzügen, Spielereien, Tricks, Zwischentönen, die einem jeden Sprechen Verletzungskraft verleihen kann. Kreative Rhetoriken verletzenden Sprechens kommen oft ohne jeden Bezug auf eine der drei Figuren des Dritten aus, sie können allein durch einen situativ-kreativen Umgang mit Worten hervorgebracht werden. Anspielungen, Ironien oder Beiläufigkeiten etwa sind nicht auf bestimmte Inhalte, bestimmte Sprecher oder bestimmte Mitanwesende festgelegt, vielmehr müssen sie in jeder Situation aufs Neue erfunden werden. Sie haben keinen eigenen Ort, von dem aus sie operieren können, vielmehr machen sie sich das vorgegebene Terrain durch taktische Finessen nutzbar. Allerdings bilden die Figuren des Dritten und die ›leisen‹ Rhetoriken der Verletzung keinen Gegensatz. Im Gegenteil, je stärker eine Sprecherin sich im Verhältnis zur Hörerin mit einer dritten Instanz verschwistern kann, desto subtiler vermag das rhetorische Gewand der Äußerung zu sein. Denn der Umstand, dass die Rolle von ›stillen‹ Beleidigungen konstitutiv unklar ist, bringt für die Sprecherin auch Schwierigkeiten mit sich. Eine vermeintlich belanglose Feststellung, die auf die Abwertung der Adressatin zielt, steht in der Gefahr, tatsächlich als belanglose Feststellung verstanden zu werden. Vielleicht ist die Äußerung für das Publikum überhaupt nicht – und vielleicht auch nicht für die Adressatin – als Missachtung erkennbar. Wenn jedoch eine Sprecherin mit einer Stimme des Dritten sprechen kann, sind die Ohren der Adressatin und des Publikums gemeinhin viel hellhöriger – und das Gelingen der ›leisen‹ Missachtung damit viel sicherer. Der Rückhalt durch Instanzen des Dritten erleichtert folglich den Vollzug sprachlicher Gewalt. Dieser Umstand lässt sich auch negativ wenden: Dritte Instanzen verringern die Gefahr des Scheiterns des Sprechakts. Das ist von besonderer Bedeutung, weil sich das Misslingen sprachlicher Gewaltakte drastisch vom Miss-
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lingen anderer performativer Akte unterscheidet. Sprachliche Gewalt steht – anders als andere Performativa – nicht nur in der Gefahr, ›nicht zu zünden‹52, sondern sich im Falle ihres Scheiterns gegen ihre Sprecherin zurückzuwenden. Ist sie zu plump vorgebracht, droht die Missachtung als ›fies‹, ›unangemessen‹ oder ›taktlos‹ auf ihre Sprecherin zurückzufallen.53 Die ungeschriebenen Gesetze der Höflichkeit besitzen in sozialer Hinsicht jedoch ungleiche Geltung: Diejenigen, die wenig gesellschaftliche Autorität besitzen, werden viel leichter in die Grenzen der Höflichkeit verwiesen als diejenigen, die mit der Stimme eines Dritten sprechen.
Die soziale Logik sprachlicher Gewalt Sprachliche Gewalt arbeitet gemäß einer Logik der sozialen Ortsverschiebung. Anhand einiger Gegensatzpaare wollen wir im Folgenden die zentralen Mechanismen herausstellen, die bei solchen Verschiebungen zum Einsatz kommen. Leere und volle Missachtung: ›Leere Beleidigungen‹ bringen die Wut oder den Ärger der Sprecherin zum Ausdruck, sie zielen darauf ab, ihre Adressatin zurückzuweisen und abzuwerten. Ein typisches Beispiel dafür wären zwei Autofahrer, die sich im Straßenverkehr in die Quere kommen und einander als ›Idiot‹ und ›Arschloch‹ beschimpfen, um ihrem Ärger ›Luft zu machen‹. Bei solchen Beschimpfungen geht es nicht in erster Linie darum, etwas über das Gegenüber auszusagen, als vielmehr darum, eine abwertende Haltung gegenüber der adressierten Person zum Ausdruck zu bringen. Von sprachwissenschaftlicher Seite wurde daher auch darauf hingewiesen, dass die Beschimpfung ins »pseudo-assertive« tendiert.54 ›Volle Missachtungen‹ dagegen besitzen einen sozialen Gehalt, sie nehmen Bezug auf sozial bewertete Eigenschaften, Werte oder Normen (zum Beispiel der Intelligenz, Ordentlichkeit oder Klugheit), die eine Adressatin in einer gegebenen Situation gut oder weniger gut erfüllt. Wenn sich bei einem gemeinsamen Essen unter Freunden jemand ungeschickt benimmt, wäre die spöttische Bemerkung ›Du frisst wie ein Schwein‹ eine volle Beleidigung. Die ›Fülle‹ dieser Missachtungsform bezieht sich folglich darauf, dass die Adressatin unter Rückbezug auf seine konkrete Verhaltensweise und auf wirkmächtige soziale Normen und Werte abgewertet wird. 52 Eine scheiternde Äußerung ist für Austin eine ›Fehlzündung‹ [misfire]; Austin, Zur Theorie der Sprechakte, a.a.O., S. 38. 53 Bourdieu, Was heißt sprechen?, a.a.O., S. 82. 54 Ermen, Ilse, Fluch – Abwehr – Beschimpfung, Bern u. a. 1996, S. 58, vgl. auch Sornig, »Beschimpfungen«, a.a.O., S. 150-170, hier S. 154. Silver u. a. drücken es so aus: »[…] ›mother-fucker‹ is an extremely potent insult. Could this insult be insulting because the insulter, the insulted, or an audience might believe that we actually had enacted the primal scene? Unlikely in the extreme; yet this insult is quite effective.« (Silver, Maury / Rosaria Conte / Maria Miceli / Isabella Poggi, »Humiliation: Feeling, Social Control and the Construction of Identity«, in: Journal for the Theory of Social Behaviour, Heft 3, Bd. 16, 1986, S. 269-283, hier S. 272 f.)
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Zuschreibung und Festschreibung: Missachtungen können, wie Bourdieu sagt, einen Unterschied »aus dem Nichts« hervorbringen oder bereits geschaffene Unterschiede sanktionieren.55 Die Zuschreibung ›erfindet‹ das adressierte Subjekt neu. In einer Art öffentlichen Anklage zielt sie darauf ab, die aktuelle soziale Position der Adressatin zu zerstören, um eine neue, schlechtere Position zuzuweisen – und zwar dadurch, dass sie einen Dritten oder eine dritte Instanz von der Abwertung der Adressatin, von der sie spricht, überzeugt. Für die Zuschreibung spielt folglich der Dritte in Form des Zeugen eine bedeutende Rolle. Mit Hilfe des Zeugen kann einem behaupteten Unterschied soziale Geltung verschafft werden. Indem der Zeuge ›über-zeugt‹ wird, erlangt der Unterschied nicht nur Bekanntheit, sondern wird auch anerkannt und damit wirkmächtig gemacht. Bei einem spöttischen Witz, z. B. über die scheinbare Verlogenheit des Gegenübers, ist es aus diesem Grund so wichtig, das Publikum auf die eigene Seite zu ziehen – das Lachen des Publikums bestätigt den Erfolg der Zuschreibung. Während Zuschreibungen Unterschiede erst entstehen lassen, machen sich Festschreibungen bestehende Unterschiede zunutze. Dem Menschen mit Behinderung, der als »Krüppel«, der Homosexuellen, die als »Lesbe«, oder die Migrantin, die als »Kanake« angesprochen wird, wird nicht in ein neues soziales Sein zugeschrieben, sondern die Position, die sie im Sozialen einzunehmen gezwungen ist, wird von Neuem als entwertet und minderwertig dargestellt. Die adressierte Person wird nicht neu erfunden, sondern ihre bereits bestehenden Eigenschaften werden aufgegriffen und in wirkmächtige hierarchische Klassifikationen eingeschrieben. Die Wirksamkeit der Festschreibung ist dabei umso größer, je mehr sie den Anschein erwecken kann, dass sie auf ›natürlichen‹ Differenzen, wie Hautfarbe, Alter, Geschlecht beruht. Graduelle und kategoriale Missachtung: Missachtungen bedienen sich oft zweier unterschiedlicher Klassifikationslogiken: im Anschluss an Foucault möchten wir das kategoriale Regime der Norm und das graduelle Regime der Normalität unterscheiden.56 Betrachten wir zunächst das Regime der Norm, das kategorialen Klassifikationen zugrunde liegt, etwas genauer. Die Norm zieht einen Schnitt, sie kennt nur die Zweiwertigkeit von Inklusion und Exklusion. Etwa zwischen den Menschen, die Mitglieder eines Vereins sind, und denen, die es nicht sind, zwischen den Menschen, die eine deutsche Staatsbürgerinnenschaft haben, und denen, die sie nicht haben, oder zwischen den Menschen, die ein körperliches Stigma tragen, und solchen, die keines haben. Die Grenzen, die durch soziale Klassifikationen gezogen werden, können unterschiedlich durchlässig sein, sie reichen von offensichtlich sozialen bis hin zu naturalisierten Unterscheidungen. Mitglied eines Vereins zu werden setzt normalerweise nicht mehr voraus, als einen Antrag zu stellen. Eine Staatsbürgerinnenschaft zu erhalten setzt 55 Bourdieu, Was heißt sprechen?, a.a.O., S. 113. 56 Foucault, Michel, Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am Collège de France 1977-1978, hg. von Michel Sennelart, Frankfurt / Main 2004, Vorlesung 3, S. 87-133.
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dagegen eine ganze Reihe von Bedingungen voraus, die nicht für alle Menschen gegeben sind, und ob wir ein körperliches Stigma tragen, liegt normalerweise gar nicht in unserer Hand. Den grundlegend binären Charakter der Norm betont auch Sighard Neckel, wenn er von der »disjunktiven Logik kategorialer Klassifikationen« spricht.57 Indem kategoriale Klassifikationen qualitative Urteile der Andersartigkeit fällen, stellen sie ein Nebeneinander wechselseitig sich ausschließender Kategorien her, es gibt keine Schnittmengen oder Überlappungen. Es handelt sich um eine Logik des Entweder-Oder, durch die jenseits aller Gemeinsamkeiten ein grundlegender Unterschied zwischen zwei Gruppen hervorgebracht wird. Dem graduellen Regime der Normalität, so Foucault, geht es hingegen darum, das Subjekt in seiner individuellen Schicksalhaftigkeit im Vergleich zu anderen zu erfassen. Daher tendiert dieses Regime nicht dazu, einfache binäre Oppositionen aufzustellen, sondern durch die Einbeziehung vieler anderer Schicksale ein hierarchisches Kontinuum zu schaffen, auf dem die Einzelnen verteilt werden. Etwa die ›Hochintelligenten‹, die ›Gescheiten‹, die ›durchschnittlich Begabten‹, die ›Förderbedürftigen‹ und die ›Hoffnungslosen‹. Das adressierte Subjekt ist hier nicht einfach ›in‹ oder ›out‹, sondern auf einem Platz in einem abgestuften Rangsystem verortet. Während das Regime der Norm nur die ›Normalen‹ und die ›Anormalen‹ kennt, existiert für das Regime der Normalität eine Abstufung zwischen vielen einzelnen Fällen. Das graduelle Regime der Normalität situiert ein Subjekt nicht einfach diesseits oder jenseits einer Grenze, sondern es verortet auf einer Linie. Bewertungen werden an dem Maßstab eines Mehr oder Weniger, Größer oder Kleiner gemessen und so in eine kontinuierliche Rangfolge gebracht. Im Gegensatz zu kategorialen Klassifikationen wird so eine Gemeinsamkeit der jeweils bewerteten Merkmale vorausgesetzt. Es handelt sich um eine soziale Logik, die nicht auf Ausschluss, sondern auf Abständen beruht. Auch wenn folglich graduelle Klassifikationen für Missachtungsakte oft ähnlich schmerzhafte Effekte zeitigen können wie kategoriale, bleibt festzuhalten, dass kategoriale Klassifikationen im Allgemeinen tiefgreifendere Effekte hervorrufen können. Das hat seinen Grund darin, dass bei graduellen Klassifikationen zumindest prinzipiell Übergänge zu anderen, überlegenen Positionen möglich oder auch nur denkbar sind. Bei sehr vielen kategorialen Klassifikationen scheint diese Option von vornherein ausgeschlossen, weil die sozialen Grenzziehungen sehr stark naturalisiert wurden und deshalb als etwas Unveränderbares wahrgenommen werden. Herabwertung und Entwertung: Auch wenn sprachliche Gewalt zugleich Destruktion wie auch Produktion ist, so dominiert in konkreten Akten sprachlicher Gewalt meist eines der beiden Szenarien. Im einen Fall steht der Verlust einer übergeordneten Position im Vordergrund, im anderen der Verweis auf eine unter-
57 Neckel, Sighard / Ferdinand Sutterlüty, »Negative Klassifikationen. Konflikte um die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit«, in: Wilhelm Heitmeyer u.a. (Hg.), Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft, Wiesbaden 2005, S. 409-428.
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geordnete. Bei der Herabwertung dominiert der Aspekt, dass die Adressatin innerhalb eines hierarchischen Schemas ihre Überlegenheit verliert. Sie wird ›von ihrem Sockel geholt‹, wie wir im Alltag sagen. Bei der Entwertung dagegen dominiert der Aspekt der Unterordnung: Die Adressatin wird auf eine minderwertige Position verwiesen. Auf der einen Seite steht also der Verlust einer Überlegenheit, auf der anderen die Produktion einer Unterlegenheit.58 Beispiele für Herabwertungen wären das ›Du‹ anstelle eines ›Sie‹, mit dem ich meinen Vorgesetzten anspreche. Oder die spöttische Bemerkung, die einen Physiker trifft, nachdem er von einem Laien aufgrund eines Fehlers korrigiert wurde. Bei Entwertungen dagegen wird die Adressatin auf einen minderwertigen sozialen Platz verwiesen. Beispiele dafür sind etwa rassistische Äußerungen oder abwertende Äußerungen gegenüber Menschen mit Behinderung. Solche Äußerungen haben eine Unterordnung des Gegenübers zur Folge, sie rücken es an den sozialen Rand. Indem die Adressatin aus dem Kreis der Normalen ausgeschlossen wird, scheint sie durch eine unüberwindliche Kluft von der Sprecherin getrennt zu sein. Abweisung und Ausschließung: Zu Missachten bedeutet immer auch Abzuweisen. Soziale Prozeduren der Abweisung demonstrieren den Abgewiesenen, dass sie der Nähe nicht wert sind. Eine Person zu meiden, sie nicht anzusprechen, sie zu ignorieren, ihre Äußerungen nicht zu erwidern, zeigt der Betroffenen, dass sie verachtenswert und mangelhaft ist. Dem Subjekt, das wir herabwerten, räumen wir keinen legitimen Platz innerhalb unserer sozialen Strukturen ein. Eine Abweisung geht daher immer auch mit einer Abwertung der Adressatin einher. Diese Verbindung von Abweisung und Abwertung bringen wir oft auch ganz deutlich zum Ausdruck: Etwa in Äußerungen wie »Du Null« oder »Du Niemand«. Eine Abweisung kann sich bis zur Ausschließung steigern. Während gewöhnliche Schimpfworte eine Distanzierung nur punktuell und individuell vollziehen, kennzeichnet die Ausschließung eine dauerhafte und kollektive Dimension. Das wird deutlich, wenn man betrachtet, wie im Deutschland der NS-Zeit Juden und Jüdinnen der Zutritt zu Lokalen und Geschäften durch Schilder mit der Aufschrift »Juden und Hunde unerwünscht« verboten wurde. Oder ähnlich im südafrikanischen Apartheidsregime, in dem Parkbänke mit der Aufschrift »Whites only« Schwarzen den Zugang zu bestimmten Orten verwehren sollten. Heinrich Popitz argumentiert in seinem Buch Phänomene der Macht auf ganz ähnliche Weise: Am einen Ende der Missachtungsskala sieht er Praktiken der Abweisung, die die soziale Teilhabe einschränken – wie Distanzierungen, NichtbemerkenWollen oder Kontaktvermeidung. Am anderen Ende stehen Praktiken der Ausschließung, die einen vollkommenen gesellschaftlichen Ausschluß oder eine Ent-
58 Eine Unterscheidung unterschiedlicher Missachtungsformen entlang ähnlicher Demarkationslinien findet sich auch bei Honneth, Axel, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt / Main 1994, S. 212-225, und Margalit, Politik der Würde, a.a.O., S. 114-141.
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mündigung vollziehen und zur Isolation des Betroffenen führen.59 Die Ausschließung generalisiert also die Abweisung in einer sozialen und einer zeitlichen Hinsicht: In der Ausschließung wird man nicht nur von einer einzelnen Person abgewiesen, sondern von einer Vielheit an Personen. Und man wird nicht nur zu einem bestimmten Moment, sondern in der Dauer der Zeit abgewiesen.
Herausforderung und Erwiderung Die verletzende Rede ist kein monologischer, sondern ein kommunikativer Akt. Viele Theorien des Performativen denken den Sprechakt jedoch zumeist allein innerhalb eines monologischen Äußerungsszenarios. Doch schon die Frage des Priesters an das Brautpaar »Wollen sie die Anwesende zur Frau nehmen?« zeigt die latente Dialogizität performativer Akte. Sie können von einer Seite eingeleitet und von der anderen Seite zu Ende gebracht werden – die performative Macht wird dann nicht einseitig ausgeübt, sondern zirkuliert zwischen Sprecherin und Adressatin. Nimmt man dieses Szenario als Ausgangspunkt, dann zeigt sich, dass performative Akte ein Schwellenstadium besitzen. Sie können in der Schwebe sein. Und in diesem Schwellenzustand ist noch völlig ungeklärt, ob und wie der performative Akt seine Kraft entfalten wird; seine endgültige Richtung erhält er erst, wenn er durch eine Antwort vollendet wird. Jede Ansprache birgt die Möglichkeit einer Antwort, denn sie spricht ihr Gegenüber als soziales Wesen an – als solches ermächtigt, kann dieses immer von der Möglichkeit der Erwiderung Gebrauch machen. Sprachliche Gewalt enthält für die Sprecherin immer die Gefahr, auf eine Antwort zu stoßen. Diese Antwort kann die Gewalt unter Umständen umwenden und eine ermächtigende Form annehmen, etwa wenn eine Beleidigung von der Adressatin in der ›gleichen Münze‹ heimgezahlt wird.60 Das hat zur Folge, dass sich das gewaltsame Sprechen oftmals nicht in einem singulären Äußerungsakt erschöpft, sondern in ein ›Wortgefecht‹ ausartet, in dem sich Ansprache und Antwort solange abwechseln, bis eine Person ›geschlagen‹ ist. Weil der Struktur der Ansprache in einem grundlegenden Sinne die Möglichkeit zur Antwort innewohnt, ist der Ausgang sprachlicher Gewalt daher zunächst einmal immer ungewiss. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich Rede und Gegenrede immer symmetrisch gegenüberstehen würden, denn jede verletzende Äußerung findet in einem Machtkontinuum statt, indem sich die Rede mit unterschiedlicher Kraft zu sättigen vermag. Es kann daher ein Ungleichgewicht im Kräfteverhältnisses zwischen Sprecherin und Hörerin existieren, durch welches die Möglichkeit des Antwortens vorstrukturiert ist. Das zeigt sich in dem Handlungsspielraum, der für die Antwort zur Verfügung steht. Ein Beispiel: Die Migrantin, die rassistisch beleidigt wurde, kann in der konkreten Situation auf die rassistische Äußerung nicht selbst mit einer rassistischen Äußerung antworten. Sie mag die weiße deutsche 59 Popitz, Phänomene der Macht, a.a.O., S. 45. 60 Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, a.a.O., S. 83.
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Sprecherin vielleicht als »Streberdeutsche« zu beleidigen versuchen, aber vermutlich wird diese Äußerung scheitern. Die Bedeutung und die Rolle der Äußerung ist klar – auch ihre herabwertende Intention –, aber ihr fehlt jede Kraft. Je stärker die Adressatin der Sprecherin unterlegen ist, desto weniger Möglichkeiten des Zurücksprechens bleiben ihr. Auch wenn die Möglichkeit zur Antwort daher jeder Ansprache ihrer Struktur nach eingeschrieben ist, kann sich diese Möglichkeit letztlich als die Unmöglichkeit einer wirkungsvollen Antwort entpuppen. Der Grund dafür liegt darin, dass die Angesprochenen oftmals nicht in der Lage sind, wirkmächtig mit der Stimme eines Dritten zu sprechen. Von der Möglichkeit zur Antwort Gebrauch zu machen, muss nicht immer heißen, erfolgreich von ihr Gebrauch zu machen – die Antwort kann auch wirkungslos bleiben. Eine Antwort kann jedoch nicht nur wirkungslos sein, sie kann auch verunmöglicht werden. Und zwar durch die Ansprache selbst, die Strategien einsetzen kann, die Möglichkeit der Antwort ganz außer Kraft zu setzen. Eine Möglichkeit, die Antwort zu unterbinden, liegt im Einsatz effektvoller Rhetoriken. Durch sie soll die Möglichkeit zur Antwort bereits in der Ansprache vorauseilend genommen werden. Subtile sprachliche Mechanismen wie der Witz, die Anspielung oder die Ironie können dazu dienen, den missachtenden Gehalt auf einer konnotativen Ebene zum Ausdruck zu bringen. Der beleidigende Gehalt kann hintergründig in die Worte eingestreut werden. Das hat den Vorteil, dass nicht klar ist, ob die Sprecherin überhaupt etwas gesagt hat bzw. sie abstreiten kann, dass sie es ›so‹ gemeint hat. Die Antwort geht in diesem Fall ins Leere, sie findet keinen Halt. Eine andere rhetorische Möglichkeit, einer ermächtigenden Antwort zu entgehen, kann in der lautstarken Beschimpfung bestehen. Das Herausplatzen mit einem Schimpfwort etwa kann dazu dienen, das Gegenüber zu überrumpeln und in einem Zug zu bezwingen. Der Schock soll in den Gliedern sitzen, damit die Möglichkeit, sich zu fangen, genommen ist. Die Adressatin bleibt sprachlos. Die Antwort bleibt aus. Das macht deutlich: Es gibt zwar immer die Möglichkeit, auf verletzende Worte zu Antworten, und diese Antwort kann auch erfolgreich ausfallen, der Spielraum für eine Umwendung sprachlicher Gewalt kann im Konkreten jedoch bis auf ein Minimum reduziert sein. Gibt es die Möglichkeit zur Antwort, dann kann diese Möglichkeit in einen Zwang zur Erwiderung umschlagen. Bourdieu hat in seinen Studien zur Kabylei herausgearbeitet, dass es sich dabei vor allem um ein Männlichkeitsritual handelt.61 Vom Adressaten wird erwartet, dass er seine befleckte Ehre verteidigt. Tut er das nicht, so kann sich die zugefügte Gewalt noch steigern. Der Angesprochene wurde dann nicht nur durch die Worte gedemütigt, sondern zugleich noch als jemand, der nicht auf die Ansprache antworten kann. Die unterlassene Erwiderung des Angesprochenen droht diesen als ›feige‹ zu diskreditieren. In der Perspektive des Zwangs zur Erwiderung geht es folglich vor allem darum, dass der 61 Vgl. dazu Bourdieu, Pierre, »Zur Dialektik von Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung«, in diesem Band, S. 89-106.
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Adressat zeigt, dass er sich nicht die Stimme rauben lässt. Zu diesem Zweck ist es nicht unbedingt notwendig, eine effektvolle oder ermächtigende Erwiderung hervorzubringen, sondern nur, die Herausforderung überhaupt zu erwidern. Tatsächlich genügt oft schon das bloße Hervorbringen irgendeiner Antwort – auch wenn diese nicht ›schlagend‹ ist. Durch die Tatsache, die Ansprache erwidert zu haben, schreibt sich der Angesprochene in den Kreis derjenigen ein, die das Spiel von Herausforderung und Erwiderung wert – und fähig – sind zu spielen. Für viele Kulturen und Subkulturen sind das vor allem Männer. Die Beleidigung dient hier der Herausforderung der Männlichkeit des Gegenübers. Indem der Adressat zurückspricht beweist dieser nicht nur, dass er die Fähigkeit zur Erwiderung besitzt, sondern zugleich auch, dass er sich nicht in einem passivem Schweigen ergibt. Die Erwiderung zeigt, dass der Adressat am maskulinen Kreislauf der Kommunikation teilnehmen und ›seinen Mann stehen‹ kann. Die Erwiderung wird hier zum Zwang, denn die Unfähigkeit zur Erwiderung bedeutet hier nicht nur die Beleidigung hinzunehmen, sondern zugleich auch, in der eigenen Männlichkeit in Frage gestellt zu werden. Sprachliche Gewalt als soziale Praxis zu verstehen, bedeutet die kommunikative Seite des Äußerungsszenarios mit einzubeziehen. Diese Perspektive kann sich jedoch nicht darin erschöpfen, die Möglichkeit der Antwort als Weg zur Umwendung der Gewalt zu erfassen, vielmehr muss auch die Möglichkeit des Antwortens selbst nach ihren Möglichkeitsbedingungen befragt werden. Nach der Antwort zu fragen heißt, auch danach zu fragen, in welchem Rahmen überhaupt eine Antwort gegeben werden kann und unter welchen Umständen eine Antwort sogar zum Zwang wird – erzwungen durch die drohende Gefahr der zusätzlichen Demütigung im Fall einer Unfähigkeit zu antworten.
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PETRA GEHRING
Über die Körperkraft von Sprache
»Ce langage-chose qui vaut comme arme […]« Maurice Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible
Stellen wir fest, dass Sprache verletzen kann, so gestehen wir der Sprache ein Handlungsvermögen zu, »nämlich die Macht zu verletzen«, schreibt Judith Butler in ihrem Buch Hass spricht. »Man behauptet also, dass die Sprache handelt, und zwar gegen uns handelt.«1 Sprache kann also die Macht einer Handlung annehmen. Stellen wir uns dieser Einsicht, stoßen wir allerdings auf ein Paradox, so entwickelt Butler den Gedanken weiter: Wir können eine sprachliche Verletzung nur wieder in Sprache behaupten. »Wir machen also auch dann von der Kraft der Sprache Gebrauch, wenn wir versuchen, ihr entgegenzutreten.«2 Die Sprache findet, an der Schwelle zur Handlung, nur wieder sich selbst. Eine unlösbare Bindung. Butler beendet ihre Überlegung mit einer dialektischen Wendung, die auf die Sprachlichkeit unseres Soseins verweist: Die Verletzungskraft der Sprache zeige, wie sehr es »ihre«, also: wie sehr es sprachliche »Bedingungen« sind, »die uns konstituieren«.3 Wir sind sprachliche Wesen. Die Sprache ruft uns an, sie gibt uns Handlungsmöglichkeiten, aber sie wohnt uns auch als ein Relief der Verletzbarkeiten inne. Daher müssen wir uns als sprachliche Wesen begreifen und dürfen vor der Macht der Sprache die Augen nicht schließen. Butler geht in ihrer Analyse von Austin aus. Sie warnt vor einer vorschnellen Analogie von sprachlicher und körperlicher Verletzung, denn ihr geht es gerade darum, die Besonderheit der sprachlichen Erniedrigung herauszuarbeiten. Damit
1 Butler, Judith, Hass spricht. Zur Politik des Performativen (1997), Berlin 1998, S. 9. 2 Ebd. 3 Ebd.
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wählt sie eine Perspektive, aus der heraus – fragt man überhaupt nach dem Körper – vor allem die Wirkungen der Sprachverletzung wichtig werden. Dabei ist die sprachliche Verletzung von der körperlichen unterschieden: »Die Tatsache, dass es keine eigentümliche Beschreibung der sprachlichen Verletzung gibt«, schreibt Butler, mache es einerseits »schwierig, die Besonderheit der sprachlichen Verletzbarkeit gegenüber der körperlichen zu bestimmen«; andererseits deute die Bedeutung körperlicher Metaphern für die Beschreibung sprachlicher Verletzungen auf eine »besondere Bedeutung dieser somatischen Dimension für das Verständnis des durch Sprache erzeugten Schmerzes hin«. Körperliches und Sprachliches wären damit als Getrenntes bedeutsam füreinander: »Bestimmte Wörter oder Anredeformen wirken nicht nur als Bedrohungen des körperlichen Wohlbefindens«. Vielmehr gelte »in einem strengen Sinne«: der Körper werde »durch die Anredeformen wechselweise erhalten und bedroht.«4
1. Butlers Sichtweise kann für avanciertes Sprachdenken als exemplarisch gelten. Sie deutet das Sprechen als Handlung, auch als »körperliche Handlung«5, und dies ist auch aus meiner Sicht eine Erkenntnis, hinter die kein Weg zurückführt. Dennoch habe ich Butlers Theorie aufgerufen, weil ich ihr widersprechen will. Butlers Theorie der sprachlichen Verletzung macht mit dem Zusammenhang von Körper und Sprache nicht Ernst. Sie deutet das Sprechen überhaupt wie auch den verletzenden Sprechakt gerade nicht unter konsequenter Einbeziehung der Frage nach dem Körper. Sie positioniert vielmehr den Körper von vornherein als Grenze und »Anderes« der Sprache. Der Körper erscheint gleichsam in der Rolle einer sensiblen Folie, eines Mediums, das zwar in die Sprachhandlung »irreduzibel« eingelassen ist und die Sache der Sprache auch tangiert, das aber doch nur wie ein Wesensrand ins Spiel kommen kann. Auch wenn bei Butler von der »Macht« die Rede ist, erscheint der Körper wie das plus ultra der Sprache: als ein Überschuss6, als die nachhaltigere Rückseite, als die machtgeprägte Tragfläche für die sprachliche Performanz. 4 Butler, Hass spricht, a.a.O., S. 13 f. 5 Ebd., S. 21. 6 Der Körper als Grenze der Intentionalität und inkongruente Dimension, in der immer »mehr« gesagt wird, als man wissen kann: Butler führt als Gewährsperson für dieses Paradigma Soshana Felman an (vgl. Hass spricht, S. 21 f.). Im Grunde laufen jedoch alle hermeneutischen Theorien des Körpers auf folgende Modellierung hinaus: Der Körper erscheint als beredtes Schweigen, als stumme Geschichte. Korrespondiert dieses Bild vom Körperlichen mit der geschichtlichen Hälfte der von Foucault ausgemachten »transzendentalen Doublette« der menschenwissenschaftlichen Epoche (vgl. Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (1966), Frankfurt / Main 1976), dann wäre das Bild der anderen Seite wohl der schweigend kausale Körper: Der Körper also, der nicht »mehr« sagt, sondern das Gesagte verursacht oder »erklärt«. Butler stellt sich gegen einen solchen Naturalismus.
ÜBER DIE KÖRPERKRAFT VON SPRACHE | 213
Ziel dieses Beitrages ist ein Gegenwurf zu dieser sprachphilosophisch geläufigen Sichtweise. Ich möchte, und zwar im Blick auf die sprachliche Verletzung, den im ungeschmälerten Wortsinn »physischen« Charakter dessen herausarbeiten, was Butler eine körperliche Sprachhandlung nennt. Anstatt von einer körperlichen »Bedeutung« der Sprache zu sprechen oder von einer Ähnlichkeit von sprachlichem und körperlichem Handeln (oder von sprachlicher und körperlicher »Verletzung«), möchte ich vorschlagen, tatsächlich von einer »Körperkraft von Sprache« zu sprechen. Meine These wird zugespitzt lauten, dass der verletzende Sprechakt gerade keine Sprachhandlung mehr darstellt, sondern sich tatsächlich einer stummen Handlung annähert, einem Schlag, einem Hieb. Im Moment der sprachlichen Verletzung wirkt nicht die Sprache verletzend, sondern in einem solchen Moment fungiert die Sprache als Ding. Die fragliche Sprechhandlung verwandelt sich – auch wenn Wörter gesagt werden mögen – in ihrem Sinn, in der Art ihrer physischen Qualität. Sie wird zu einer physischen Handlung der Person, die spricht. Die Sprache wird nicht wie, sondern tatsächlich als eine physische Berührung wirksam, und wird auch so erlebt: als ein Schlag, als ein Akt. Und im Grenzfall: als Vernichtung der Physis des Gegenübers.
2. In dieser ersten Formulierung mag die These dunkel und vielleicht auch etwas nach Körper-Mystik klingen. Um zu präzisieren, was ich meine, möchte ich zunächst das Thema über Probleme der Verwendung von Hassworten hinausgehend erweitern. Letztlich geht es mir nicht nur um sprachliche Angriffe, sondern – grundsätzlicher – um die physischen Valenzen von Sprache überhaupt. Damit verlagert sich gegenüber dem geschilderten Anliegen Butlers auch ein wenig der Akzent. Nachfolgend frage ich nämlich nach dem Zusammenhang von Sprache und Gewalt nicht bereits auf der Ebene einer in der Gesellschaft zirkulierenden Option namens hate speech, also der öffentlichen Existenz erniedrigender Namen und Zuschreibungen, die der einzelne Sprecher in mehr oder weniger exponierter Weise abrufen und einsetzen kann und deren etablierte Bedeutung sich in die Subjektivität derjenigen einschreibt, die sich durch Hassrede »angerufen« finden. Mir geht es nicht primär um derartige »gesellschaftliche Rituale«7. Ich möchte vielmehr einen Schritt näher herangehen und rolle – wenn man so will – das Problem vom phänomenologischen Extrem her auf. Freilich glaube ich, dass es sich bei diesem Extrem, unter Umständen noch diesseits sprachlich bereits fertig daliegender Verletzungsschablonen, dennoch um etwas Allerdings modelliert sie den Körper (mit Freud) als eine Instanz der Notwendigkeit – der Wiederholung nämlich: Materialität entsteht als »Iterabilität«; vgl. Butler, Judith, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (1993), Berlin 1995, S. 102 f. 7 Vgl. Butler, Hass spricht, a.a.O., S. 225.
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Erlebbares handelt: Um etwas, das man kennen kann – und zwar vielleicht gerade, wenn man in einer Gesellschaft lebt, in der physische Handgreiflichkeiten unter Erwachsenen relativ selten vorkommen. Ich meine Situationen einer äußersten verbalen Gewaltanstrengung, deren extremer Sinn sich gerade nicht an der Verwendung ganz bestimmter Vokabeln erkennen lässt. Es sind Situationen, in denen jemand Sprache so einsetzt und / oder versteht, dass das Gesagte – welches Wort auch immer, welcher Satz auch immer – seinen erkennbar einzigen Sinn nur mehr darin hat, den anderen zu treffen. Den anderen zu verletzen und einen ultimativen Schlag zu setzen – einen, den man in keiner Weise mehr »beantworten« kann. Es gibt solche Momente. Sie sind exorbitant. Dennoch brechen sie im Alltag auf, und ich behaupte, dass wir sie trotz ihrer relativen Seltenheit gleichsam gestalthaft sofort erkennen – und zwar als Überschreitung einer Schwelle: als den Übergang in die gleichsam blind werdende Sprache einer nicht mehr im metaphorischen Sinne tödlichen Wut. Zwischen Autofahrern eskalierender Streit, das nackte Rechthaben, die verzerrten Vorhaltungen der Eifersucht, die kalte Wut des provozierten Uniformträgers, die Pfeile gegen die allerverletzlichste Stelle im Ehekrieg, der ultimate Punkt einer Eskalation: der allerletzte Satz, den jemand in der Abkehr herausschleudert, bevor er oder sie geht. Eine solche Manifestation des Hasses in der Rede impliziert übrigens nicht unbedingt eine Position der Macht. Es kann sich auch um den schnappenden Zorn eines Gedemütigten handeln, ein weltloses Selbstmitleid, das in gepressten Worten seinen Ausdruck findet, oder um die hilflose Wut des zu Unrecht geprügelten Kindes. Welchen Status hat ein solcher verzerrter Sprechakt, der – so würde ich es nennen – in sich selbst die Durchstreichung des Sprechens, die Beendigung jeglicher Kommunikation enthält? Ein solcher Sprechakt, der in keiner Weise auf Antwort oder Botschaft aus ist, sondern die Sprache gleichsam umdreht und allein wie einen Hieb einsetzt? Gewollt oder ungewollt scheint dieser Akt die sprachliche Geste in ein anderes ihrer selbst zu verwandeln. Aus den Worten springt eine Fratze.
3. Wie also steht es nicht allgemein um »Hassworte« mit einer erniedrigenden Semantik, sondern um jene singuläre Situation: Den konkreten Auftritt eines Verletzungs-Worts, das sich im Erleben tief einbrennt, weil es seine Wucht ganz aus der Situation bezieht und sich so durch eine scharfe Unwiderruflichkeit auszeichnet? Welchen Charakter hat hier der verletzende Sprechakt, woher resultiert seine Kraft – oder allgemeiner gesprochen: woraus resultiert die Kraft, die in dieser Situation frei wird, und wie lässt sich die Macht begreifen, welche das, was wir Sprache nennen, in einem solchen Moment gewinnt?
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Von einem Akt der Verletzung ist die Rede. Wie radikalere Versionen der Sprechakttheorie oder Theorien, die vom Primat des Diskurses oder der Kommunikation ausgehen, möchte ich dennoch nicht von der Subjektperspektive der Beteiligten ausgehen oder gar von Täter- und Opfer-Perspektiven, sondern die Sprache selbst betrachten – genauer: jenen quasi-objektiven Wandel im Wandel des Sinnes eines Sprechakts, der sich in Momenten wie den geschilderten vollzieht. Man kann diesen Wandel negativ umschreiben, wie ich es bisher getan habe: Das Sprechen ist eigentlich kein Sprechen mehr. Das Gesagte wird semantisch »blind«. Die Sprache entfaltet ihre Wirkung nur mehr als Verweigerung der Mitteilung – und als eine Art Rest-Form von Botschaft bliebe dann nicht mehr als diese Negation der Botschaft zurück. Leere Rede, aggressive Zurückweisung, performatives Nein. Mittels des Sprechakt-Konzepts lässt sich auch eine solche Negation als Handlung rekonstruieren. Das Nein zur Rede ist »illokutionäre« Wirkung der Performanz selbst oder »perlokutionärer« Effekt danach – oder womöglich, so könnte man freihändig ergänzen, ist es auch beides. Was aber wäre hier positiv, jenseits der Deutung als ein performatives Nein, mit dem Wort »Handlung« gemeint? Zwar implizieren die »Akte« der Sprechakttheorie irgendwie Interaktion. Sie implizieren auch irgendwie den Körper als Medium. Im Grunde jedoch hängt das Akt-Modell in der Luft.
4. Wechseln wir die Perspektive. In Das Sichtbare und das Unsichtbare, dem Fragment gebliebenen Werk des Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty aus dem Jahr 1964, finde ich einen zwar kleinen, aber doch bedeutsamen Hinweis für unser Problem.8 Auf das Buch als ganzes werde ich nicht eingehen. Es versucht eine Balance zwischen einer Theorie des (leiblichen) Handelns, des (leiblichen) Erlebens und der (leiblichen) Kommunikationen – und es bindet in diese Balance sowohl die sinnlich-konkreten als auch die »idealen« Aspekte von Welt hinein. Der Angelpunkt von Merleau-Pontys Theorie ist die eigentümliche Generalität des Körpers, der Körper, unserer Körper. Terminologischer ausgedrückt: Es gibt da ein »fungierendes« leibliches Sein von Wahrnehmen, Begehren und ethischer Haltung – und von Sprache. Sofern wir Körperwesen sind, greifen die genannten Felder leibhaftig ineinander. Sie als getrennte Ordnungen zu erleben, setzt Abstraktionen voraus. Erfahrungswirklichkeit fällt demgegenüber immer auch als das Ineinander dieser Felder an. Merleau-Ponty erläutert nun aber mehrfach den engen Zusammenhang zwischen der stummen Seite unserer Erfahrung und der Sprache, sofern die Sprache als Rede (parole) bei näherem Hinsehen tatsächlich auf dem Boden jener vermeintlich stummen Wahrnehmungswelten entsteht. Der im ausgezeichneten 8 Merleau-Ponty, Maurice, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986 (frz. Original: Le visible et l’invisible, 1964).
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Sinne »sprachliche« Teil unserer Praxis ist überhaupt nichts von der Welt Getrenntes, das ist Merleau-Pontys Einsicht. Die leibhaftig vollführte Rede ist vielmehr hineingeflochten in die lautlose Textur unserer physischen Interaktionen miteinander und mit den Dingen. Die Übergänge zwischen der Ordnung der Dinge, der Ordnung des Gesagten sowie der sozialen Ordnung von Ich, Du, Wir, Ihr sind zwar gut eingeübt. Sie pflegen also zumeist markant zu sein. Im Grunde aber bleiben sie doch fließend: fließend in dem Sinne, dass unsere diskursiven Sinnmuster im Zuge des Zutunhabens mit der Soseinsordnung der Dinge nicht etwa »ausgeschaltet« sind, sondern dass sie diese Ordnung still mitlaufend formen. Ebenso lebt unser Engagement im Reden von der Komplizenschaft der Dinge, die auch beim Sprechen unentwegt im Spiel sind – weswegen das Sprechen auch für Merleau-Ponty selbstverständlich eine Handlung ist. Freilich nicht nur das. Das Sprechen ist auch, lapidar ausgedrückt, eine »Gefühlssache«. Es ist ein ästhetisches Geschehen. Es ist von Begehren getragen. Es ist dem Anderen gewidmet und mehr. Es gebe einen »Irrtum der semantischen Philosophien«, notiert Merleau-Ponty, und das kann man leicht gegen Hermeneutik wie auch Sprachanalyse und Sprechakttheorie wenden: »Der Irrtum der semantischen Philosophien besteht darin, dass sie die Sprache so in sich abschließen, als spräche sie nur noch von sich: doch sie lebt nur von der Stille; alles, was wir den Anderen zuwerfen, ist in jenem weiten stummen Land gewachsen, von dem wir immerdar umgeben sind.«9
Dies »stumme Land« ist aber eben nicht wirklich stumm, heißt es im Text weiter, »das Erleben ist gesprochenes Erleben, die dieser Tiefe entstammende Sprache ist keine Maske, die dem Sein aufgesetzt ist, sondern – wenn es gelingt, sie mit all ihren Wurzeln und ihrem ganzen Laubwerk zu erfassen – der zuverlässigste Zeuge des Seins […]«; auch Sehen und Denken »sind Artikulation vor Auftreten des Wortes«.10 Merleau-Ponty vollendet die fragliche Passage mit einer ziemlich schwindelerregenden Überlegung zur »sprechenden Sprache« – und hier fällt nun ein Satz, auf dessen Auslegung und Weiterführung ich mich im Folgenden konzentrieren will. Man könne die Sprache durchaus als regionales Problem betrachten, schreibt Merleau-Ponty, wenn man sie auf ihre fertig codierten Bereiche beschränke. Anders verhalte es sich aber mit der »sprechenden Sprache«, bei der die »Einrollung« des Sprachlichen in das Sichtbare und Gelebte, das Stumme, mitgedacht werden müsse. Im Bereich dieser sprechenden Sprache gebe es auch »[…] jene fungierende Sprache, die einer Übersetzung in Bedeutungen und Gedanken nicht bedarf, jene Ding-Sprache (langage-chose), die den Wert einer Waffe, Handlung, 9 Ebd., S. 167. 10 Ebd.
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Beleidigung und Verführung hat (vaut), weil sie die tiefen Beziehungen des Erlebens, aus denen sie entstanden ist, zur Sprache bringt, und die Sprache des Lebens und Handelns, aber auch der Poesie ist […]«11
5. Eine fungierende Sprache, die sich der Übersetzung entzieht, eine »DingSprache«: Waffe, Handlung, Beleidigung und Verführung. Man wird erst einmal klar sagen müssen, dass Merleau-Ponty im Text nicht primär die eskalativen Grenzsituationen des Umschlagens von Sprache in Gewalt vor Augen hat, wie sie uns hier interessieren. Nach der zitierten Stelle schließt der Text nämlich rasch mit einer sehr viel allgemeineren Überlegung an: mit dem Problem der Wirklichkeitsmacht der Sprache der Philosophie. Diese hätte sich genau entlang der Linie dieses authentischen Hervorkommens von Welt nicht in Sprache, sondern als Sprache zu bewegen. Die Poesie der Philosophie müsse »tätige Sprache« sein, fordert Merleau-Ponty, von innen her »offen für die Dinge, aufgerufen von den Stimmen des Schweigens«.12 Lassen wir diese Frage nach der möglicherweise besonderen Rhetorizität der Philosophie aber beiseite. Kann nicht die zitierte Stelle gelesen werden als die kurze Skizze einer extremen Möglichkeit, über die die Sprache regulär verfügt, nämlich die Möglichkeit, sich in eine massive Sache zu verwandeln, in ein Sprach-Ding, in etwas, das tatsächlich situativ den Status einer Handlung, einer primär in physischen Kategorien zu fassenden Handlung gewinnt? Von der Brauchbarkeit als »Waffe« ist im Text ausdrücklich die Rede – und die Fälle der Beleidigung und der Verführung werden hinzugefügt. Man wird die Stelle überinterpretieren müssen, um sie überhaupt zu interpretieren,13 aber es lohnt den Versuch. Setzen wir vorn an, so wird zuerst – und zwar quasi linguistisch-sprechakttheoretisch – jener besondere Fall einer »fungierenden Sprache« (langage opérant) charakterisiert: Es gibt Redesituationen, in denen Sprache einer Übersetzung in Bedeutungen und Gedanken nicht bedarf, sondern gleichsam unmittelbar funktioniert. Nicht etwa, weil geschwiegen würde. Man kommuniziert nicht im Stile wortloser Verständigung, sondern so, dass – wiewohl die Worte fallen – nicht deren lexikalische Bedeutung von Gewicht ist, sondern das Sagen den Wert einer Handlung erhält. Das Sagen hat den Wert einer Tat. Eben dies wird durch den zitierten Satz hervorgehoben, indem er durch 11 Ebd. – Ich gebe das wichtige Wort vaut hier in Abweichung von der deutschen Ausgabe von Das Sichtbare und das Unsichtbare nicht mit »gilt als« wieder, sondern mit »hat den Wert von«. An der Stelle hat es durchaus den handfesten Sinn von »taugt«. 12 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, a.a.O., S. 168. 13 Die Passage ist in der Tat stark verdichtet, denn Merleau-Ponty gibt hier nicht zuletzt dem Wort »Sprache« deutlich verschiedene Schattierungen: Ding-Sprache, Sprache des Lebens etc. Darauf gehe ich hier nicht ein.
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die sogleich folgenden Begriffe darauf abhebt, dass die Sprache nicht nur als Handlung erscheint, sondern auch wie eine Handlung wirkt. Und: Die Wirkung der Handlung ist physische Wirkung. Auf diese physische Pointe kommt es mir an. Sie scheint mir durch die drei weiteren Begriffe wie durch Beispiele belegt. Waffe, Beleidigung, Verführung: alles dies sind Fälle, in denen die Rede tatsächlich den Körper treffen kann – und zwar so, dass sie ihn wirklich als Körper trifft: ihn versehrt, aufpeitscht, bewegt. Gehen wir die drei Begriffe kurz durch. Die Verführung (séduction) – hier ist natürlich nicht der schäkernde Wortwechsel gemeint, sondern die Schwelle, jenseits derer durch Worte hindurch ein erotischer Bann von den Körpern Besitz ergreifen und sich zu einem zwingenden Alles oder Nichts verwandeln kann – oder, frei nach Kierkegaard: zu einem Entweder ohne Oder.14 Dann die Beleidigung (offense): Auch hier dürfte nicht einfach das strittige Wort gemeint sein, die Verwendung unschöner, unhöflicher oder illegitimer Ausdrücke, sondern eben die Beleidigung: Eine Situation, welche diejenige quasiphysische Integrität zerstört, die man früher die »Ehre« nannte. Worte können endgültig – man beachte die sinnliche Wortwurzel – das »Ansehen« eines Individuums treffen, mit einer Aufschlagsenergie, die den Körper des Gemeinten hochschnellen lässt oder ihn lähmt, wonach die Beleidigung dann gleichsam wie ein Projektil feststeckt. Eine Vergiftung nicht nur der Seele, sondern der physischen Lebensfähigkeit der ganzen Person kann im Grenzfall folgen: Dies ist der Fall des Traumas. Die Beleidigung ›sitzt‹. Schließlich die Waffe (arme). Betrachten wir die Reihe, so fällt eine gewisse Inkohärenz der Ebenen auf: Waffe, action – vielleicht sollte man das mit »Tat« übersetzen, also: Waffe, Tat, Beleidigung, Verführung. Es mag sich um eine Reihe der abnehmenden Gewalthaltigkeit handeln, und zugleich um eine Reihe der zunehmenden Wechselseitigkeit oder der zunehmenden Freiheitsgrade: von der Waffe zur Verführung, von wuchtig zu sanft. Dennoch stehen die vier Begriffe ungleich da, denn mit Handlung, Beleidigung und Verführung haben wir Prozesse vor uns, sprachliche Prozesse – wenngleich ihnen wesentlich ist, dass sie in die Welt der Körper hineinreichen und dort wirksam zum Tragen kommen. Dann aber die Waffe. Im Text steht nicht »Bewaffnung« oder »Waffeneinsatz«, vielmehr ist in der ersten Position dieser eigentümlichen Reihe die Rede von einem Ding – und nicht von einer sozialen Konstellation. Ich möchte eine Lesart vorschlagen, der zufolge die »Waffe«, dieser erste und extremste Begriff in der Folge jener exorbitanten Wirk-Szenen von Sprache, schlüssigerweise dort steht. Mit der »Waffe« nennt Merleau-Ponty nicht nur ein szenisches Beispiel oder ein soziales Vorkommensfeld jener fungierenden Sprache, die als »Ding-Sprache« wirken kann. Die »Waffe« steht vielmehr der Reihe der Beispiele voran: Als »Ding« bezeichnet sie gleichsam das Prinzip, dem diese 14 Vgl. den ersten Teil von Kierkegaard, Sören, Entweder – Oder. Ein Lebensfragment (1843), München, 5. Aufl., 1998.
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ganz besondere Sprache – die dinghaft wirkende Sprache – gehorcht. Die Sprache wird im fraglichen Moment nicht waffenartig eingesetzt, sie wird vielmehr als Waffe, als Gegenstand wirksam. Sie wird selbst zum physischen Ding.
6. Was aber soll das heißen: Wirken als Waffe, als physisches Ding? Es bleiben doch Worte und es wird ja gerade nicht zugeschlagen – oder eine »physikalisch« wirksame Waffe, ein Messer, ein Schlagring oder die Faust eingesetzt. Eben an dieser Differenz zwischen physischem Akt und Sprechakt kann man jedoch aus phänomenologischer Perspektive zweifeln – und eben das möchte ich tun. Tatsächlich ist es ja ein durchaus fragwürdiges Körperschema, nämlich ein Schema der abstrakten Trennung des Sprechakts von körperlichen Akten und körperlich wirksamen Akten, das uns so sicher sein lässt, dass der Einsatz von Sprache nur in einem metaphorischen Sinne ein physischer Eindruck oder eine physische Berührung sein kann. Wir sind zwar daran gewöhnt, davon auszugehen, dass Sprache sich gleichsam nicht ontologisch verwandelt. Aber spricht die reflektierte Erfahrung wirklich dafür? Nimmt man die vielen Indizien zusammen, die die Forschung zur verbalen Gewalt zusammengetragen hat, so muss man erstens zugestehen, dass Sprache physisch entsteht, dass sie leibhaftig gemacht und auch physisch performiert wird: Alles an ihr ist Gebärde, das gilt insbesondere für die mündliche Rede. Aber auch die verschiedenen Aufzeichnungssysteme geben uns stets auch einen Körper – wobei namentlich in der gedruckten Schrift der Textkörper dominiert und tatsächlich der Leib des Schreibenden sich sehr weit entziehen kann (bei Ton- oder Bildaufzeichnungen ist das anders). Dennoch ist auch hier Sprache stets an eine Geste gebunden.15 Wir gestehen allerdings dem, was man Geste nennt, keine Fernwirkung zu. Zugestehen muss man zweitens, dass Sprache gleichwohl »physisch« funktioniert, jedenfalls in dem Sinne, dass sie unmittelbar körperliche Wirkung hat – oder sagen wir ruhig und fordern damit eine neue Physik der Kommunikation der Körper und der Dinge: dass sie »physikalisch« Wirkung hat. Zwar kann ich nicht mit Worten dafür sorgen, dass Blut fließt, also jedenfalls nicht ohne den Umweg der Veranlassung eines Zuhörers zu irgendeinem nonverbalen Handeln. Aber dennoch wirkt der Sprechakt auf den Körper, auch auf »Körperfunktionen« ein. Kommunikation »beeindruckt«, würde Luhmann vielleicht sagen – und wer würde das leugnen: Vom kalten Schreck bis zur elektrisierenden Anregung reagieren wir physisch auf erlebte Sprache. Wir sind allerdings daran gewöhnt, Erfahrungen dieser Art psychologisch zu deuten. Wir rechnen die Kausalität, wenn un15 Vgl. stellvertretende für die reiche Literatur zum Problem der Geste: Hetzel, Andreas, Jenseits von Stimme und Schrift. Anmerkungen zu einer Rhetorik der Geste, Ms. 2005.
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ser Körper auf Sprache antwortet, nicht der Sprache, sondern einer inneren Instanz, der Psyche, zu. Zugestehen muss man drittens wohl auch, dass wir für die Art und Weise der physischen Präsenz von Sprache ein ungemein scharfes Sensorium haben – auch wenn wir gelernt haben, im Normalfall darüber hinwegzugehen. Im Zweifel kann ungemein schnell das Wie einer Sprachgeste wichtig werden. Es wird mitgefühlt, nachgefühlt, erinnert, und gehört untrennbar zum Was des Gesagten hinzu. Wir spüren etwas – jedenfalls dort, wo Verstehensprozesse gleichsam ihre Wurzeln haben (und auch dort, wo sie in Gefahr geraten können und sich beispielsweise von sich selbst entfremden). Die Trennung von Wie und Was ist ein Stück erlernter, situationsgebundener Kultur, und die einseitige Abstraktion des wortgebundenen Was setzt eine Menge Übung voraus. Ähnliches gilt für unsere Sicherheit, das Was als das ideale semantische Wesen der Botschaft zu nehmen. Auch sie ist etwas Gewordenes und wahrscheinlich eine besondere Spezialität von SchriftKulturen. Gleichwohl pflegen wir die physischen Qualitäten von Sprache wie auch ihre physischen Effekte stets nur als Vermittlungen zu erklären – vermittelt durch den Zwischenschritt des körperlosen »Sinns« von entschlüsselten Worten. Daher machen wir die Wirkung der Beleidigung etwa, oder auch die Wirkung der Verführung, an einer Art Übersetzungs- oder »geistigen« Verstehensleistung fest. Nichts Geringeres als dieses für Europa seit der Neuzeit dominierende Modell einer lediglich »idealen« Macht der Sprachhandlung stellt jedoch Merleau-Ponty in Frage. Die fungierende Sprache, so heißt es im Text ausdrücklich, ist eine, »die einer Übersetzung in Bedeutungen und Gedanken nicht bedarf«.16 Wagen wir den Schritt, die vielleicht etwas abenteuerlich anmutende Konsequenz explizit zu ziehen: Die Differenz zwischen Wort und Ding hat nicht den Charakter einer absoluten Trennung. Im Gegenteil. Hier kann es Übergänge geben. Auch die Physis der Rede ist Fleisch vom Fleisch unserer körperlichen Handlungen. Und jener besondere Sinn einer leibhaftigen Sprachhandlung, zwar das »Tun« eines Einzelnen zu sein, dennoch aber dem physikalisch gesehen »ätherischen« Feld der Rede anzugehören – jener besondere Sinn kann schwinden.17
7. Die Rede wird im Grenzfall blind: diese Formulierung hatte ich oben verwendet. Die Rede verliert oder verrät ihr semantisches Versprechen. Sie wird Waffe, sie 16 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, a.a.O., S. 167. 17 Wie Derrida gezeigt hat, hat jener »besondere Sinn« viel mit dem für die europäische Form der Abstraktion besonders wichtigen Archetypus der Stimme zu tun; vgl. Derrida, Jacques, Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls (1967), Frankfurt / Main 2003.
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gewinnt physisches Sein. Freilich passiert im Falle der Ding-Sprache etwas durchaus Eigenartiges: Die Sprache wird körperlich, aber der Sprachcharakter bricht dennoch nicht völlig in sich zusammen. Die Botschaft reduziert sich, aber die verbleibenden Zeichen erscheinen vielleicht sogar adressierter denn je. Vielleicht könnte man sagen: Die Worte laden sich gleichsam auf mit einer Physis, der Physis des Sprechers wie auch des Hörers. Die Worte werden von den Körpern überwältigt – Körpern, die im Normalfall lediglich den diskreten Hintergrund für Worte zu bilden haben. Und nun kann – nun muss nicht, aber kann – das Erstaunliche geschehen: In jener Dimension, in der wir im alltäglichen Miteinander nur eine weiche, gleichsam harmlose Kommunion der Worte pflegen, teilt sich nun auch die körperliche Wucht mit. Gibt sich die Wut zu spüren, springt das Begehren als physischer Zwang von Körper zu Körper. Bleiben wir beim Hass: Nicht die Semantik eines bestimmten, kanonischen Hassworts, sondern die gestalthafte Evidenz des tatsächlich in maßlosem Hass herausgestoßenen Satzes »kommt an« – fast unabhängig von dem, was er inhaltlich ausdrückt. Kein Schlag zerreißt die Haut. Aber ein Schlag trifft etwa zum einen mich, zum anderen das Körperschema, mit dem mir ein Mensch vertraut war. Der Moment gräbt sich physisch ins Gedächtnis, aber auch in die körperlichen Reaktionen ein. Er zerstört auf immer ein körperliches Vertrauen, er verwandelt die Reflexe und hinterlässt eine so durch und durch leibliche »Antwort« wie etwa ein Ekel- oder Übelkeitsgefühl. Mit anderen Worten: Die Ding-Sprache verletzt nicht deshalb, weil sie unsere normalsprachliche Erwartung enttäuscht. Sondern auf den Pfaden der Sprache treffen die Körper physisch aufeinander. Dass dies möglich ist, muss uns faszinieren. Es erfordert eigentlich eine ganz neue nicht Sprechakt-, sondern Sprachleib- oder Redekörpertheorie. Vom radikalen Standpunkt des späten Merleau-Ponty wäre eine solche Theorie wohl eine Theorie der Übergängigkeit und leibhaftigen Wirklichkeit von Sprache. Aus der Perspektive seiner radikalen Phänomenologie wäre sie kein großes Problem. Sie wäre sogar geboten. Dass im Normalfall die Pointe der Sprache ihre abstrakte Allgemeinheit ist, also die teilbare Idealität, die sie eröffnet, das würde Merleau-Ponty dabei nicht bestreiten. Auch für den Phänomenologen liegt der Witz der Sprache gerade in dem weiten Raum einer Offenheit für abstrakte Wahrheiten: für Objektformen, die unsere »wilde« Körpererfahrung überbieten – und für das, was man was man subjektphilosophisch zu bezeichnen pflegt als »Intersubjektivität«. Freilich haben wir eben auch an der subtilen, nur durch Sprache vermittelten Mitteilungswelt nicht körperlos Anteil. Das erkenntnistheoretisch grundierte Paradigma der »Intersubjektivität«, auch der Intersubjektivität von »Sprechakten«, blendet aber die körperlichen Bänder aus, deren sich die Gemeinsamkeit in der Mitteilung bedient. Die Ding-Sprache hingegen verrät, wie anders es im Extremfall sein kann – und wie anders also alles ist. Die archaische Nähe zwischen einem Gesagten / Verstandenen und unserem körperlichen Sosein kann sich steigern, bis hin zur »ech-
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ten« Kausalität. Die Sprache reicht gleichsam in die Physis der Beteiligten hinein. Dass wir sie überhaupt »vernehmen« können, diese Ding-Sprache, macht deutlich, wie fragil unser Körper im Gebundensein an den Anderen im Medium der Mitteilung ist. Ich möchte diesen Punkt noch einmal herausheben, er verdeutlicht den medientheoretisch unselbstverständlichen Zuschnitt der Sache: Es ist nicht so, dass das herausgeschleuderte Wort, das nur noch verletzen soll, gleichsam zum sinnleeren Geräusch wird und insofern als unwichtig zurücktritt. Es ist auch nicht so, dass sich uns in dieser Geste der Andere nur schlichtweg entzieht. Nein: Wir erkennen, wir spüren, und vielleicht muss man sagen: wir anerkennen die Verletzung – und derjenige, der uns verletzt, tritt in dieser Handlung seiner Sprache positiv, nämlich: deutlich oder sogar überdeutlich hervor. Wir nehmen nicht die semantische Schwäche der Worte wahr, wir erfahren vielmehr ihre Überdetermination. Wir realisieren den »Druck«, der ihre Bedeutung überbietet – und die Mitteilungs-Wirkung wandelt sich. Sie erhöht sich eher, als dass sie schwindet. Vielleicht ist die Ding-Sprache eine Art Hyper-Sprache oder eine »ExtraktSprache«.18 Auf jeden Fall kann sie sich zusammen ballen zu einer Geste, die so rein ist wie der nackte Ausdruck des Begehrens oder der nackte hasserfüllte Schlag. Es ist also kein Ende der Kommunikation, was mit der Sprach-Waffe beginnt. Nach wie vor agiert da der Andere. Allerdings womöglich doch nicht mehr derselbe, sondern ein Fremder, mit dem ich nun auf eine ganz seltsam verdrehte Weise gar nicht mehr – und doch in neuer Kälte fühlbar – quasi-kommunizieren kann. Quasi-Kommunikation der Gewalt, wo vorher noch ganz das Vertrauen in Mitteilung herrschte. Die Sprache ist nicht das Gegenteil der Gewalt. Sie kann mit derselben Körperkraft begegnen, wobei sie dann ebenso unmittelbar zu treffen vermag.
8. Das Stichwort Gewalt ist gefallen. Bisher habe ich die Gewaltfrage eher umgangen und das Problem der Ding-Sprache – mit Merleau-Ponty – weiter gefasst. Es ging um den wesentlich physischen Charakter der Sprache, und um von diesem zu reden, ist es nicht erforderlich, eine Form namens »Gewalt« von anderen Formen der physischen Einwirkung zu unterscheiden. Freilich verschiebt sich mit der hier gewählten Perspektive auch die konventionelle Fassung der Frage nach der Gewalt. Erkennt man den Gedanken einer unmittelbar physischen 18 Dieser begriffliche Vorschlag stammt von Thomas Ehlers und liefe darauf hinaus, die Ding-Sprache als Kondensat, vielleicht auch als Abstraktion zu deuten. Die Frage ist jedoch, ob mit der Verwandlung zum Ding nicht eher eine Konkretisierung erfolgt. Der vermeintliche semantische »Extrakt« würde dann gleichsam überwörtlich: Das Wort bedeutet auf neue Weise nur noch sich selbst.
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Macht der Sprache an, so sind jedenfalls keine einfachen Gleichungen mehr möglich. »Gewalt« heißt nicht, dass anstelle der Sprache der Körper ins Spiel kommt, denn er ist auch in der Sprache im Spiel. Gewalt ist auch nicht zwangsläufig ein »stummes« Phänomen, denn offenbar kann Rede in bestimmten Fällen sich in Gewalt verwandeln. Man kann, nein: man muss also die Gewaltfrage anders fassen als entlang der üblichen Linie von unkörperlich »sprachlichen« (und ergo gewaltlosen) oder aber sprachlosen »körperlichen« (und ergo potentiell gewaltsamen) Aspekten des Handelns. Zweiweltenlehren passen nicht mehr. Das Fehlen einer »physischen« Berührung im alten Sinne garantiert ebenso wenig Gewaltfreiheit – wie umgekehrt in einer stummen Berührung weniger Gewalt liegen mag als vielleicht in Worten. Der Gedanke eines realen Übergangs von Körperkraft in Sprache erfordert eine neue, eine in höherem Maße situationsrelative Bestimmung von Gewalt als man sie gemeinhin zur Verfügung hat. Wenig hilfreich wäre es aus meiner Sicht allerdings, den Gewaltbegriff noch weiter zu inflationieren als er es ohnehin schon ist. Nach der physischen und der psychischen nun auch noch eine sprachliche Gewalt, die prinzipiell überall lauert? Vielleicht kann man ganz im Gegenteil den Gewaltbegriff endlich enger fassen. Der Gesichtspunkt einer Körperkraft, welche schon der Sprache wirksam zukommen kann, sollte vielleicht generell Ängste vor physischen Wirkungen vermindern helfen, die die Welt, wenn wir sie körperlich erfahren, nun einmal auf uns hat. Dass im Sprechen der Körper sich zeigen und auch wirksam werden kann, heißt gerade nicht, dass überall Gewalt lauert. Vielmehr sind physische Wirkungen auch des vermeintlich »Abstrakten« und »Idealen« zumindest immer möglich – und vielleicht sogar die Regel. Kommunikation affiziert uns ganz, sie affiziert nicht nur unsere Köpfe. Also bedarf es eines deutlichen diesseits des als physischen Erleidens gefassten Gewaltbegriffs, um ungute, gewaltförmig zu nennenden Formen der Verletzung unseres Soseins von der (auch physisch) »wirkungsvollen« Macht, die die Rede über uns hat, zu unterscheiden. Ich habe an anderer Stelle einen Vorschlag zu einem solchen abstrakteren Gewaltverständnis gemacht. Er läuft darauf hinaus, die Gewaltfrage nicht gleichsam an der Menge an physischer Energie festzumachen, die in einer Situation frei wird, und auch nicht an der Frage der oberflächlichen Verletzungen, die die Beteiligten davon tragen, also gleichsam an der Frage nach der physikalischen Spur von Handlungen. Vielmehr stellt sich das Problem der Gewalt entlang der Frage nach der einseitigen oder aber von allen Situationsbeteiligten geteilten (und also, wenn man so will, »egalitären«) Herrschaft über die Art der Beendigung einer noch unabgeschlossenen Situation der physischen Auseinandersetzung – und in der Frage nach der Beendigungsmacht steckt die Frage nach der Herrschaft über die wirklichkeitsstiftende Deutung jener zunächst offenen Situation.19 Um ein 19 Vgl. Gehring, Petra, »Benjamins Kritik und Luhmanns Beobachtung: Perspektiven einer Zeittheorie der Gewalt«, in: Soziale Systeme, Bd. 5, 1999, S. 339-362.
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Beispiel zu nennen: Zwei sich einvernehmlich prügelnde Fußballspieler haben beide in dem Sinne eine »volle« Situationsherrschaft, dass sie sich über die Situationsdeutung im Großen und Ganzen einig sind und während der erlebten Gewalt noch ausgehandelt werden kann, wie sie diese geteilte Wirklichkeit auf mehr oder weniger selbstverständliche Weise beenden. Diese beiden hätten ebenso wenig eine Gewaltsituation erlebt wie zwei professionell die Waffen kreuzende Kombattanten. Krieger kommunizieren miteinander. Sie teilen das Erleben. Ganz anders verhielte es sich, wenn – sagen wir: auf der Straße eine Bande eine hilflose Passantin umzingelt und verhöhnt, so dass mit der verletzenden Handlung bereits eine Art Spaltung der Wirklichkeiten einhergeht: Das »Opfer« ist deshalb Opfer, weil ihm die Situationsherrschaft (einschließlich der Wahrnehmung und der späteren Mitteilbarkeit des Erlebten) vollständig verloren geht. Auf der einen Seite die Irreversibilität des Erlebens, auf der anderen die Situationskontrolle, bis hin zur Definitionsmacht: Die Bande wird entscheiden, wann Schluss ist, und sie wird mit ihren Mitteln dem Opfer deutlich machen, dass es nicht zuletzt um die Zerstörung einer bestimmten Kommunikationsposition gegangen war – es war die Realität der Täter und damit die Negation der Möglichkeit eines (noch) »eigenen« Erlebens, die es zu erleben hatte. Ein anderes, etwas subtileres Beispiel für eine solche einseitige Verteilung der Herrschaft über die »Wirklichkeit« der Situation wäre eine juristische Prozedur, die ihren Lauf im Wege der einseitigen Überwältigung durch den Jargon eines »Verfahrens« nimmt.20 Gewalt wäre auf diese Weise stets nur nachträglich zu rekonstruieren, nie schon aktuell erkennbar – jedenfalls nicht, solange aktuell noch um die Situationsherrschaft, um die Machtposition eines aktiven und »teilbaren« Erlebens gerungen wird. Und Gewalt wäre nicht über ihre physische Qualität definiert, sondern allein über die Asymmetrien des mit ihr verbundenen Erlebens von Möglichkeiten, den Situationsverlauf zu ändern. Gewalt würde folglich bestimmt als der einseitige, selbst nicht mitgeteilte Abbruch des Mitteilens in der (sei es sprachlichen, sei es »physischen«) Kommunikation. Mit anderen Worten: Nicht dass ein Sprechen existentiell, dass ein Sprechen von physischem Gewicht ist, macht eine Kommunikationssituation gewaltsam. Sondern erst die Frage, ob die Beteiligten gemeinsam Verfügungsmöglichkeit darüber haben, welchen mitteilbaren »Sinn« die Situation hat und gehabt haben wird. Und Gewalt beginnt, wo jemand einseitig dieses Ausgangs in einen gemeinschaftlichen, mitteilbaren Sinn des Erlebten beraubt ist. Diese Überlegung läuft auf den Appell hinaus, nicht vorschnell von Gewalt zu reden. Fassen wir den Gewaltbegriff eng und tabuisieren wir nicht den Übergriff des Sprechens auf die Körper. Die allermeisten physischen Kontakte zwischen Menschen halten sich weit davon entfernt, Gewalt zu sein – also liegt die Gewalt nicht im »Dass«, sondern im »Wie« der fungierenden Rede: In der Anerkennung, Rettung oder aber Aberkennung einer kommunikativen Dispositionsfreiheit der 20 Vgl. Luhmann, Niklas, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt / Main 1969.
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Gegenüber, in der praktischen Erfahrung eines »Freiheitskörpers«, der das Ineinander des Mitgenommenwerdens zu einer gemeinsamen Sache macht.21
9. Man kann nach der eigentümlichen Ontologie fragen, die sich mit einer zwischen Sprache und Körpern übergängigen Welt offenbar beim späten Merleau-Ponty abzeichnet. Meine Antwort ist vorsichtig. Ich habe aus einem umfangreichen Text nur wenige Sätze zitiert und will diese nicht vorschnell verallgemeinern. Was sich erkennen lässt, ist eine Art Stoßrichtung, die Merleau-Pontys Denken einer fungierenden Übergängigkeit der Wirklichkeitsordnungen trägt. Es gibt einen unmittelbar körperlichen Charakter der Performanz, das ist der Gedanke, den man beispielsweise gegen Butler ins Feld führen kann, um eine konkretere Dimension als die Ordnung der korrekten Aussagen ins Spiel zu bringen – etwa für den Umgang mit dem Hass in der Sprache, dem Problem hate speech. Gibt es nicht zunächst einmal ein ganz normales »Besessensein« von der Rede, in der wir wohnen, ein Besessensein, das – wie die Berührbarkeit durch Worte – auch die Verletzlichkeit durch Worte mit umfasst? Merleau-Ponty treibt den Gedanken der Intersubjektivität als physischer Verflechtung sehr weit. Er spricht von der individuellen Leiblichkeit überhaupt als einer Abstraktion, denn unsere Körper sind im Sprechen aus seiner Sicht schlicht immer erst einmal der Welt (und denen, mit denen wir sprechen) gewidmet. Es gibt ein »Versprühen der Körpermasse unter die Dinge«22, heißt es im Text – und das ist nicht negativ gemeint, sondern als ein konkretes Potential: Eben hierin gründet unser Denken, die Phantasie, die Idealität des Leibes. Es gibt auch ein Versprühen der Körpermasse unter die anderen, könnte man fortsetzen. Es gibt keinerlei Lücke des Erlebens, sondern eine ursprüngliche »Initiation« in die Kommunikation23 – und eben darum können wir im Reden beieinander sein, wie etwa wenn wir eine Sonate durch uns und durch die anderen hindurch fühlen. »Natürliche Generalität des Leibes«24 heißt dies in Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gerade die Welt der sprachlichen Verständigung ist »schwaches Sein«: eine riskante Form des Weltvertrauens. Sie wäre dafür aber (wie etwa die Musik) auf besondere Weise reich. Sie
21 Im Kommunizieren unter Anwesenden wäre dieser Freiheitskörper evident in Form von Anzeichen dafür, dass mein Gegenüber über den eigenen Leib disponieren kann, über das System Stimme-Ohr, das System Ohr-Hand, über ein ganzes Ensemble von Beweglichkeiten, an denen ablesbar ist, dass jemand im Kommunizieren ein Möglichkeitsfeld ausschreitet und sich darin so, aber auch anders verhalten könnte. 22 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, a.a.O., S. 191. 23 Ebd., S. 198. 24 Ebd., S. 199.
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wäre befähigt zu einer besonders »gedrängten Textur«25 – und diese Textur wiederum lässt sich konkret erleben.
10. Die Zeitstruktur jener ding-sprachlichen Momente wäre ebenfalls ein Untersuchungsgegenstand für sich – und man könnte weitere Fragen stellen. Etwa wie es um das Handeln bestellt ist. Actio oder passio – was prägt den als Wirksamwerden von »Ding-Sprache« umschriebenen Prozess? Mit Merleau-Ponty bietet sich auch hier eine radikale Antwort an, denn er betont auf sanfte Weise die Subjektlosigkeit jenes Prozesses der »fungierenden Sprache« und das wiederum heißt: den Primat der Sprache als ein Primat von Sprechakten, die mehr ein resonanzförmiges Anknüpfen, ein Antworten26 sind als das pathetische »Tun« einer Person. Nicht also ein instrumenteller Charakter der Rede, die Reduktion auf das Zweck-Mittel-Schema,27 gäbe von daher der Ding-Sprache ihre Kraft. Genauso wenig kann »Körperkraft der Sprache« gleichsam die Summe der Körperkräfte der beteiligten Sprecher meinen oder so etwas wie eine wechselseitige agonale Steigerung in der Art der von Nietzsche entworfenen Figur eines »Willens zur Macht«. Worauf Das Sichtbare und das Unsichtbare hindeutet, ist eher eine Art Erfordernis der Welthaltigkeit, ein Stil der gelungenen Passung und der überzeugenden Verbundenheit mit dem gemeinsam geteilten Umfeld, von dem die Körperkraft von Sprache zehrt. Vielleicht resultiert überhaupt Kraft aus der körperlichen Grundierung von Welt – als Kraft zur Verletzung wie auch als Kraft, der Verletzung entgegenzutreten, indem man auch die Ding-Sprache erkennen und – vielleicht – beantworten kann. Freilich kann gerade eine so über ihren körperlichen Nexus zur Welt bestimmte Sprache nicht in sich abgeschlossen sein. Sie bildet gerade keine zweite Welt. Vielmehr schießt sie im Moment der »Ding-Sprache« mit der physischen Person, oder vielleicht besser: mit den physisch beteiligten Personen im Plural in einer Weise zusammen, die auf ontologische Prioritäten verzichten kann. Ohne dass deswegen alles ununterscheidbar sein müsste, ist das Geschehen doch eins.
25 Ebd., S. 199. 26 Von einem »antwortenden« Handeln auszugehen, ist der Vorschlag von Bernhard Waldenfels in Antwortregister, Frankfurt / Main 1994. Dem Subjekt und der Rationalität gibt dies ein wenig mehr Raum, allerdings um den Preis der Gefahr, die Dyade des Dialogs zum Archetypus zu erklären. Kollektive Situationen, geteiltes Erleben und simultanes Miteinander mehrerer fasst das Modell der Antwort nur schlecht. 27 Mit diesem Argument – die Reduktion des kommunikativen Handelns auf bloßes instrumentelles Handeln sei tendenziell gewalthaltig – arbeitet bekanntlich Kommunikationstheorien auf den Spuren von Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt / Main 1981.
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11. Das Anliegen meines Beitrags ist es, in der Frage von Sprache und Verletzung allen semantizistischen Theorien vom Körper als der »Grenze« oder der »Rückseite« der Sprache entgegenzutreten. Es gibt radikale Alternativen. Eine fertige Theorie liegt auch bei Merleau-Ponty nicht bereit, der zitierte Satz kann nur als Einladung dienen. Immerhin finden wir in dieser Phänomenologie weder eine Theorie der sprachlichen Grenze als bloßer Übergangszone zum Körper noch eine Theorie des »blinden Flecks«, den der Körper für die Kommunikation bildet, sondern eben die Theorie einer mitlaufenden Priorität einer körperlichen, dabei zumeist unproblematisch »wissenden«, in sich sinnhaft handlungsfähigen und insofern »leiblichen« Dimension,28 in die unsere Sprache eingebettet ist, ohne irgend etwas an sie zu verlieren. Nicht die Sprache ist »ideal« und der Körper ist »stumm«, sondern eher verhält es sich umgekehrt: Dem Idealisierungsvermögen unserer körperlichen Wechselwahrnehmung lauschen auch die sprachlichen Formen ihre Grundlinien ab – und die Beredtheiten stehen sich nicht im Wege. Freilich folgt aus der von mir in den Mittelpunkt gerückten Frage nach den Momenten »fungierender Sprache« keineswegs, dass Sprachverwender im Normalfall in einer Welt der nahtlosen Übergänge leben. Die »Ding-Sprache« ist ein Extrem, ein Sonderfall, und dass die Sprache als Waffe fungiert, bildet einen Ausnahmezustand von Sprache. Allerdings handelt es sich um etwas, das sich zutragen kann.29
Literatur Butler, Judith, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (1993), Berlin 1995. — Hass spricht. Zur Politik des Performativen (1997), Berlin 1998. Derrida, Jacques, Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls (1967), Frankfurt / Main 2003. Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (1966), Frankfurt / Main 1976. Gehring, Petra, »Benjamins Kritik und Luhmanns Beobachtung: Perspektiven einer Zeittheorie der Gewalt«, In: Soziale Systeme, Bd. 5, 1999, S. 339-362. 28 Zur Geschichte und zu den möglicherweise verfänglichen Implikationen der phänomenologischen Entscheidung für den Terminus »Leib« vgl. Marc Rölli, Leib und Körper aus anthropologiegeschichtlicher Sicht, Ms. 2005. 29 Solche Situationen sind singulär. Daraus folgt etwas für Butlers Frage nach hatespeech. Gewalt ist insofern selten, als sie jedenfalls nicht an zu schlechten sprachlichen Standards hängt. Routinen erniedrigender Sprache sind nicht automatisch Gewalt. Das macht erniedrigende Sprache nicht besser als sie ist – aber bedeutet, dass Gegenwehr möglich ist: Wo sie nicht als »Ding-Sprache« fungiert, ist Hassrede ironisierbar und kann umgewendet werden.
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Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt / Main 1981. Hetzel, Andreas, Jenseits von Stimme und Schrift. Anmerkungen zu einer Rhetorik der Geste, Ms. 2005. Kierkegaard, Sören, Entweder – Oder. Ein Lebensfragment (1843), 5. Aufl., München 1998. Luhmann, Niklas, Legitimation durch Verfahren (1969), 2. Aufl., Frankfurt / Main 1989. Merleau-Ponty, Maurice, Das Sichtbare und das Unsichtbare (1964), München 1986. Rölli, Marc, Leib und Körper aus anthropologiegeschichtlicher Sicht, Ms. 2005. Waldenfels, Bernhard, Antwortregister, Frankfurt / Main 1994.
PASCAL DELHOM
Die geraubte Stimme
Die Annahme, dass wir in der Sprache eine Möglichkeit der Überwindung der Gewalt finden können, eine Möglichkeit der Unterbrechung ihrer Dynamik oder der gewaltfreien Lösung von Konflikten, ist eine Grundannahme jeder Philosophie des Sozialen und Politischen, die sich mit dem Problem der Gewalt befasst. Und diese Annahme ist richtig. Doch die Schlussfolgerung, dass Gewalt und Sprache entgegengesetzt wären, dass also Gewalt stumm und die Sprache gewaltlos wäre, ist eine Illusion, die sich nicht dadurch bewahrheitet, dass sie häufig wiederholt wird. Gewalt ist nicht stumm. Sie wird meistens durch Sprache begleitet: Sie wird geplant und beschlossen, erzählt und kommentiert, gerechtfertigt oder legitimiert. Und darüber hinaus wird sie durch die Sprache und in der Sprache vollzogen: in den direkten Formen der Beleidigung, der Drohung, der Erpressung und anderen gewaltsamen Sprechhandlungen, in der nicht angreifenden, aber nicht weniger verletzenden Form des Ausschlusses aus der Gemeinschaft der Sprechenden, und auch indirekt, zum Beispiel durch die Rechtfertigung von Gewalt, die selber eine Form der sprachlichen Gewalt gegen diejenigen ist, von denen behauptet wird, dass sie zu Recht Gewalt erleiden. Die Gewalt ist also nicht stumm und die Sprache nicht gewaltlos, auch wenn sie manchmal vermag, die Dynamik der Gewalt zu unterbrechen. Deswegen ist es wichtig, nicht zuletzt um des gewaltfreien Potentials der Sprache willen, ihre Gewaltsamkeit zu verstehen sowie die Art und Weise, wie sie verletzen kann. Richtig ist in dieser Hinsicht die doppelte Frage, die die Grundlage der hier versammelten Studien bildet, einerseits die nach der verletzenden Performativität der Sprache, das heißt nach der eigentlichen Form ihrer Gewaltsamkeit, andererseits die nach der Verfassung von Lebewesen, die durch Sprache verletzt werden
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können, weil, wie Judith Butler vermutet, sie durch Sprache konstituiert werden,1 das heißt, weil sie sprachliche Wesen sind. Doch die Rede der Verletzung durch Gewalt verweist nicht nur auf eine verletzende Handlung, auf eine verletzende Instanz und / oder auf ein gewaltsames Mittel der Verletzung. Sie verweist auch auf die Tatsache, dass die so verstandene Gewalt erlitten wird. Und dieses Erleiden ist nicht bloß die Wirkung eines verletzenden Gewaltgeschehens, das von außen als ein kausaler Zusammenhang hinreichend betrachtet und beschrieben werden könnte. Für die Erleidenden ist es ein Widerfahrnis, von dem sie getroffen und geprägt werden, bevor sie nach dessen Ursache fragen können, wenn sie überhaupt danach fragen können.2 Dieses Erleiden ist auch nicht bloß das Korrelat des Ausübens von Gewalt. Denn das, was getan, und das, was erlitten wird, kommt nie zur genauen Deckung. Der verletzende Schlag ist nicht mit der erlittenen Verletzung gleichzusetzen, auch wenn sie die zwei Seiten desselben Gewaltgeschehens sind. Der Sinnhorizont der Tat ist auch nicht derjenige des Erleidens.3 Und auch die Zeitlichkeit der Tat ist eine andere als diejenige des Lebens, das durch eine Verletzung unterbrochen wird und sich von nun an im Prozess der Bearbeitung dieser Verletzung befindet. Die Berücksichtigung der Perspektive des Erleidens ist nicht nur eine notwendige Ergänzung einer Analyse, die sich, wie meistens in der Geschichte (nicht nur) der Philosophie, auf die Perspektive des Ausübens konzentriert. Sie bietet einen privilegierten Zugang zu Phänomenen der Gewalt als solchen, denn nur sie kann die Gewaltsamkeit der Gewalt deutlich machen. Aus der Perspektive des Ausübens kann die Gewalt als Mittel zu einem bestimmten Zweck verstanden und wohl auch kritisiert werden, sowie auch als Äußerungsform einer »natürlichen« Aggressivität, als besonderer Ausdruck einer uneingeschränkten Freiheit bzw. als Weg der Befreiung, oder auch als legitimes Vorrecht einer Instanz, die mit Gewalt Ordnung und Frieden herstellt und bewahrt. Diese Liste könnte fortgeführt werden. Aber die Gewaltsamkeit dieser Gewalt, die Gewaltsamkeit der Mittel, des Ausdrucks, des Vorrechts, hängt mit der Tatsache zusammen, dass sie jeweils erlitten wird. Dies macht das Gewaltsame der Gewalt aus, d. h. das, was nicht ohne Rest in einer Ordnung und in einer Sinnordnung integriert werden kann, in der sie als Mittel, als Ausdruck oder als Vorrecht verstanden oder kritisiert werden kann.
1 Vgl. Butler, Judith, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, aus dem Englischen von Katharina Menke und Markus Krist, Berlin 1998, S. 44: »Hate speech offenbart eine vorgängige Verletzbarkeit durch die Sprache, die uns anhaftet, insofern wir als gleichsam »angerufene Wesen« von der Anrede des Anderen abhängen, um zu sein.« 2 Vgl. Waldenfels, Bernhard, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt / Main 2002, S. 54 ff: »Vorgängiges Getroffensein«. 3 Vgl. Delhom, Pascal, »Erlittene Gewalt verstehen«, in: Burkhard Liebsch / Dagmar Mensing (Hg.), Gewalt Verstehen, Berlin 2003, S. 59-77.
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In Bezug auf die Sprache heißt dies, dass wir uns nicht ausschließlich auf die Performativität von Sprachhandlungen und auf die Art und Weise konzentrieren dürfen, wie sie tätig verletzen, sondern auch auf die Formen des Erleidens sprachlicher Gewalt. Wie Judith Butler in ihrem schon erwähnten Buch Excitable Speech möchte ich also in meinen Überlegungen von der Verletzlichkeit durch Sprache ausgehen. Aber anders als sie geht es mir nicht darum, von der Wirkung auf eine Ursache zu schließen, die es zu analysieren gilt und von der wir annehmen, dass sie chronologisch und in der Logik der Kausalität ihrer Wirkung vorausgeht.4 Aus der Perspektive des Erleidens geht die Wirkung der Ursache voraus. Was erlitten wird, ist zuerst die eigene Verletzung, sei es in der Unmittelbarkeit des Schmerzes, der Wut oder eines Gefühls der Ohnmacht, sei es in einer objektiven – oder objektivierenden – Betrachtung, die schon die zeitliche Distanznahme eines intentionalen Bewusstseins voraussetzt. Eine Verletzung wird zwar nur dann als Gewalt erfahren, wenn das Zufügen der Verletzung einer gewaltsamen Instanz zugeschrieben wird, sei diese Instanz ein Mensch, eine Gruppe, eine gesellschaftliche Ordnung, ein personalisiertes Schicksal oder ein Gott. Dieser Instanz wird durch den Erleidenden zugeschrieben, dass sie die erlittene Verletzung beabsichtigt, vollzogen oder zumindest in Kauf genommen hat. Dies heißt allerdings nicht, dass es in der Welt diese Instanz wirklich gibt und dass sie wirklich die Ursache der erlittenen Gewalt ist. Nicht die objektive Ursache der Verletzung, sondern die Zuschreibung einer gewaltsamen Ursache ist eine notwendige Bedingung dafür, dass eine Verletzung als Gewalt erlitten wird. Wir haben es hier mit einer ähnlichen Figur zu tun, wie derjenigen des Blicks in Sartres Analyse der Scham: Die Scham entsteht durch das Bewusstsein des Angesehen-Werdens, unabhängig davon, ob uns tatsächlich jemand ansieht und bei einer peinlichen Handlung ertappt.5 Gleicherweise entsteht die Erfahrung der erlittenen Gewalt als Gewalt in dem Bewusstsein des Verletzt-worden-seins4 Den Perspektivenwechsel von dem Erleiden zur Wirksamkeit einer Ursache vollzieht Butler schon exemplarisch in den zwei ersten Sätzen ihres Buches (a.a.O., S. 9). Der erste Satz spricht vom Erleiden einer Verletzung, der zweite von dem Akt des Verletzens: »Welche Art von Behauptung stellt man eigentlich auf, wenn man sagt, durch Sprache verletzt worden zu sein? Im Grunde schreibt man der Sprache eine Handlungsmacht zu, nämlich die Macht zu verletzen, wobei wir uns selbst in die Position der Objekte dieser Verletzung versetzen.« Die Perspektive des Erleidens versetzt uns dagegen in die Position des Subjekts des Verletzt-Werdens. Dies ist die Perspektive, die ich hier privilegieren möchte. Butler selbst liefert einige Seiten später ein gutes Argument für diese Entscheidung: »Dass kein Sprechakt die Verletzung als Effekt vollziehen muss, beinhaltet auch, dass keine Erforschung des Sprechakts einen Maßstab liefern kann, anhand dessen sich die Verletzungen durch das Sprechen letztendlich beurteilen lassen.« (S. 28) 5 Vgl. Sartre, Jean-Paul, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, aus dem Französischen von Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 469 ff.
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durch-jemanden, unabhängig davon, ob es wirklich jemanden gibt, der uns absichtlich verletzt hat. Aus der Perspektive des Erleidens gehen wir von dieser Erfahrung aus und nicht von der so genannten objektiven Chronologie eines kausalen Zusammenhangs. Der Weg von der Erfahrung der erlittenen Gewalt zu einer Rekonstruktion des Geschehens aus der Perspektive der Ausübung ist in mancher Hinsicht notwendig, aber nie selbstverständlich. Besonders für die Erleidenden schwerer Gewalt ist er oft ein langer und schwieriger Weg. Er kann im Rahmen einer Vermittlung durch Dritte, eines strafrechtlichen Prozesses, einer psychologischen Behandlung, einer literarischen Bearbeitung, eines Prozesses der politischen Anerkennung oder der sozialen Wiedergutmachung beschritten werden, oft und am Besten in der Kombination verschiedener solcher Rahmen.6 Die Schwierigkeiten dieses Prozesses werden durch das Verlassen der Perspektive des Erleidens und der Privilegierung derjenigen des Ausübens nicht abgeschwächt, sondern verstärkt. Eine Analyse der erlittenen sprachlichen Gewalt wird entsprechend die Termini, in denen sprachliche Interaktionen beschrieben werden, verändern müssen. Sie geht nicht von dem Akt eines Sprechers oder Senders aus, der gegen einen Adressaten gerichtet wird und auch dann stattfindet, wenn er den Adressaten verfehlt, sondern sie geht von dem Angesprochenen aus, der auch dann als solcher betrachtet werden muss, wenn der vermutete Sender der Ansprache durch eine falsche Zuschreibung verfehlt wird oder wenn es überhaupt keinen gewaltsamen Sender gibt, etwa im Fall einer paranoischen Zuschreibung böser Absichten oder böswilliger Doppeldeutigkeiten einer Anrede. Es gilt also, das Erleiden sprachlicher Gewalt aus der Perspektive der Erleidenden zu analysieren, das heißt aus der Perspektive derjenigen, die sich durch eine sie verletzende Sprache angesprochen und angegriffen fühlen. Ich möchte mich im Folgenden auf zwei Elemente dieses Erleidens sprachlicher Gewalt konzentrieren: erstens auf die Verletzlichkeit durch sprachliche Gewalt, zweitens auf die verschiedenen Formen der Verletzung durch Sprache, und dabei besonders auf den Raub der Stimme, das heißt auf die Unmöglichkeit zu antworten.
I. Verletzlichkeit durch Sprache Das Erleiden sprachlicher Gewalt, wie im Allgemeinen das Erleiden jeder Form von Gewalt, ist für die Erleidenden durch die Unmöglichkeit gekennzeichnet, sich ihr zu entziehen. Aus der Perspektive des Ausübens ist es möglich zu sagen, dass ein Gewaltakt sein Ziel verfehlt hat. Dagegen geht die Erfahrung der erlittenen Gewalt von dem Getroffensein der Getroffenen aus. Und diese haben weder 6 Vgl. Delhom, Pascal / Rudolf Rehn, »Die Rückgewinnung der geraubten Stimme«, in: Günter Bierbrauer / Michael Jaeger (Hg.), Projektverbund Friedens- und Konfliktforschung in Niedersachsen. Ergebnisberichte aus Forschungsprojekten der Jahre 2001-2003, Osnabrück 2004, S. 181-213.
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eine Wahl in Bezug auf das, was sie trifft, noch auf die Tatsache, dass sie getroffen sind, noch auf die Tatsache, dass sie getroffen sind. Aus der Perspektive des Erleidens gibt es weder Fehlschläge noch die Möglichkeit der Täuschung oder der Verwechslung. Für den Erleidenden gibt es eine Evidenz des Erleidens, die derjenigen des Descartesschen cogito ähnelt. Auch wenn ein Irrtum in Bezug auf die zugeschriebene Ursache der erlittenen Verletzung und sogar in Bezug auf die Verletzung selbst möglich ist, die nur zum Teil bewusst, falsch eingeschätzt oder sogar erfunden worden ist, ist für den Erleidenden kein Zweifel darüber möglich, dass er das Erlittene erleidet. Diese Evidenz ist ein bewusster Bezug des Erleidenden zu sich selbst vor jeder Reflektion und vor jeder Objektivierung seiner Verletzung. Sie ist die Art und Weise, wie er sich selbst in seinem Erleiden gegeben wird. Dieser Selbstbezug nimmt verschiedene Formen an. Eine häufige Form ist der Schmerz. Elaine Scarry hat überzeugend dargestellt, wie besonders der physische Schmerz kein Bewusstsein eines Gegenstandes ist, sondern im Gegenteil den Bezug des Erleidenden zu Gegenständen und zu anderen Menschen in der Welt verhindert und den Erleidenden auf sich selbst, auf die unmittelbare Präsenz seines Leibes zurückwirft.7 Auch der Schmerz selbst ist kein Gegenstand in der Welt, sondern nur der leidvolle Selbstbezug des Erleidenden, so dass er für andere Menschen nicht zugänglich ist. »Für einen Menschen, der Schmerzen hat, ist der Schmerz fraglos und unbestreitbar gegenwärtig, so dass man sagen kann, ›Schmerzen zu haben‹ sei das plausibelste Indiz dafür, was es heißt, ›Gewissheit zu haben‹. Für den anderen indes ist dieselbe Erfahrung so schwer fassbar, dass ›von Schmerzen hören‹ als Paradebeispiel für Zweifel gelten kann.«8 Auf Grund dieser unüberwindbaren Trennung zwischen der Erfahrung des eigenen Schmerzes und seiner Unzugänglichkeit für andere Menschen ist der erlittene physische Schmerz weder teilbar noch mitteilbar. Er ist in der Erfahrung ein radikales Prinzip der Individuation. Im Fall der sprachlichen Gewalt sind die Evidenz des eigenen Erleidens und die Unmöglichkeit, sich ihr zu entziehen, nicht unmittelbar mit unserer leiblichen Individualität verbunden. Wir werden nicht durch physischen Schmerz auf uns selbst zurückgeworfen, sondern durch andere Arten der Individuation, die uns widerfahren und denen wir ausgesetzt sind, wenn wir angesprochen werden, das heißt, wenn wir uns als Empfänger einer Rede bewusst werden, von der wir annehmen, dass sie uns betrifft. Die jeweiligen Arten der damit einhergehenden Individuation hängen von der Art und Weise ab, wie wir uns selbst als Angesprochene bewusst werden, und welche Dimension unseres Lebens oder unseres Seins davon getroffen sind.
7 Scarry, Elaine, Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, aus dem Englischen von Michael Bischoff, Frankfurt / Main 1992. 8 Ebd., S. 12.
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Die erste Art der sprachlichen Individuation, die ich hier erwähnen möchte, erfolgt dadurch, dass sich jemand als Empfänger einer Anrede in der zweiten Person bewusst wird. Derjenige, der mit einem »Du« oder einem »Sie« angesprochen wird, kann sich dieser Ansprache nicht entziehen, insofern er sich selber als Empfänger dieser Adresse wahrnimmt. Zwar kann der Akt des Ansprechens sein Ziel verfehlen. Dies ist eine Erfahrung, die wir regelmäßig machen, zum Beispiel mit Kindern, die mehrmals gerufen werden müssen, bevor sie sich angesprochen fühlen. Der Akt des Ansprechens kann auch den intendierten Adressaten verfehlen und fälschlicherweise an jemand anderes adressiert werden. Aber der bewusste Empfänger einer Ansprache kann sein Angesprochen-werden nicht leugnen und er erfährt sich auch dann als solchen, wenn er offensichtlich nicht der intendierte Adressat einer Anrede ist – auch wenn er beteuert, er sei der falsche Adressat, er sei nicht zuständig für die an ihn adressierte Frage, er würde dem richtigen Adressaten nur ähnlich sehen oder denselben Namen tragen usw., und damit glaubhaft zu machen vermag, dass die Adresse verfehlt war. Der Tatsache aber, dass er angesprochen wurde, kann er sich nicht entziehen. Er, und niemand anderes an seiner Stelle, wurde angesprochen. Dies ist auch der Grund, warum er und niemand anderes in diesem Moment antworten muss. Anders und mehr als durch jede Eigenschaft, die wir besitzen, anders und mehr als durch jede soziale Stellung, die wir besetzen, sind wir als Empfänger einer Adresse unersetzlich und unvertretbar. Niemand anderes ist an unserer Stelle angesprochen worden, auch wenn es in Bezug auf das Angesprochene oder für die uns ansprechende Person besser gewesen wäre. Niemand anderes kann an unserer Stelle darauf antworten, auch wenn andere es besser tun würden als wir. Diese Individuation durch das Angesprochen-werden entspricht einer wesentlichen Dimension unserer menschlichen Existenz. Sie hat, wie Judith Butler schreibt, mit der Tatsache zu tun, dass wir als sprachliche Wesen, das heißt als »›angerufene Wesen‹ von der Anrede des Anderen abhängen, um zu sein«.9 Doch Butler sagt wenig darüber, was es heißt, »sprachliche« oder »angerufene Wesen« zu sein, und worin unsere Abhängigkeit besteht. Eine ausschließlich sprachliche Deutung könnte das »angesprochene Wesen« als reines Produkt einer sprachlichen Konstitution, als quasi-magische Wirkung der Ansprache verstehen. Doch Butler argumentiert zu Recht gegen »die Figur einer göttlichen Stimme […], die benennt und dabei ihre Subjekte / Untertanen ins Sein bringt.«10 Denn das Sein des Angerufenen lässt sich nicht auf sein Angerufen-Sein im Augenblick des Anrufs reduzieren. Und doch hängt dieses Sein von seinem Angerufenwerden ab. Dies kann so verstanden werden, dass durch das Angesprochen-werden eine Dimension der menschlichen Existenz hervorgerufen wird, die für sie konstitutiv ist, ohne dass dadurch die anderen Dimensionen des Lebens geleugnet werden. 9 Judith Butler, Hass spricht, a.a.O., S. 26. 10 Ebd., S. 51.
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Diese besondere Dimension ist die Sozialität der Menschen, ihre soziale Verbundenheit mit anderen Menschen jenseits der Notwendigkeiten des animalischen Lebens. Sie wird von den anderen Dimensionen des Lebens getragen und verändert sie auch zugleich. Sie macht sie menschlich.11 Sie macht aus, dass jeder Mensch nicht nur ein »Etwas« in der Welt ist, sondern jemand, ein »Wer«12, der oder die angesprochen wurde und werden kann. Danach sind sprachliche oder angerufene Wesen nicht Wesen, die durch einen Sprechakt wie ein Objekt geschaffen worden wären, sondern Lebewesen, die dadurch, dass sie angesprochen worden sind, zu denjenigen geworden sind, die sie sind, unersetzbar und unvertretbar. Und nicht nur die sprachliche oder die soziale Dimension ihres Lebens wird in der Sprache angesprochen, sondern jeder Mensch wird als jemand angesprochen, mit allen Dimensionen, die seine menschliche Existenz ausmachen und durch die Sprache wesentlich geprägt wurden. Dieses Hervorrufen des Menschlichen in der Sprache erfolgt nicht auf einmal, mit einem Schlag, sondern durch Wiederholungen des Angesprochen-werdens. Durch sie lernen wir, uns als angesprochen und als dadurch unvertretbar zu erkennen. Jedes Angerufen-werden bestätigt uns in unserem Sein, weil es früheres Angerufen-worden-sein wiederholt und weil wir uns in diesem Angesprochenwerden wiedererkennen. Es gibt kein Angesprochen-werden, das uns ursprünglich konstituiert und uns dann ermöglicht, uns reflexiv in jeder folgenden Adresse zu erkennen. Aber die Konstitution eines Ich als sprachliches Wesen durch das Angesprochen-werden wäre nicht möglich, wenn wir uns nicht in den mehrmals 11 Dies sind elementare Aussagen einer philosophischen Anthropologie, die hier nicht entwickelt werden kann. Ich verweise nur exemplarisch auf das Buch Tzvetan Todorovs: Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, aus dem Französischen von Wolfgang Kaiser, Frankfurt / Main 1998, besonders auf das zweite Kapitel: »Sein, Leben, Dasein«. Todorov spricht darin von einer eigentümlich zwischenmenschlichen Abhängigkeit. Wir sind nämlich nicht nur von den anderen Menschen abhängig, um leben zu können, sondern von ihrem Blick, ihrer Anrede, ihrer Anerkennung, um Menschen zu sein. Unsere soziale Abhängigkeit ist nicht an unsere Bedürfnisse gebunden, die wir besonders am Anfang des Lebens nicht ohne andere Menschen erfüllen könnten. Sie ist eine Abhängigkeit des Begehrens, das nicht nach Sättigung oder nach Lust, sondern nach einer Beziehung strebt (S. 79). Für Todorov erfolgt diese Beziehung primär durch den Blick. Doch es handelt sich nicht bei ihm um einen konflliktgeladenen und entfremdenden Blick, wie bei Sartre, sondern um das Medium der Sozialität. Der Blick erfüllt eine kommunikative Funktion, die Todorov auch in der Sprache sieht. Und genau diese Funktion des Blicks und der Sprache ist das, wodurch die Menschen zu sozialen Wesen werden, oder besser: wodurch die Menschen die soziale Dimension ihrer Existenz, die sie immer schon haben, entwickeln können. »Die Sprache ist selbst gesellschaftlich, denn sie ist von anderen Menschen vor uns auf uns überkommen, und ihr Erwerb besiegelt den endgültigen und unumkehrbaren Eintritt des Kindes in das Dasein.« (S. 83) Diese kommunikative Funktion der Sprache wird in der Anrede und im Angesprochen-werden erfüllt. 12 Zur Unterscheidung zwischen »was« und »wer«, vgl. Arendt, Hannah, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 1967, S. 164 ff., 178 und passim.
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an uns adressierten »Du« erkannt hätten und immer wieder, vor jeder Reflexion, erkennen würden. Dass wir uns von einer Rede angesprochen fühlen, ist nicht notwendig mit der grammatikalischen Form der Anrede in der zweiten Person verbunden. Wie Martin Buber bemerkte, ist es durchaus möglich, »Du« zu sagen und »Es« zu meinen sowie »Es« zu sagen und »Du« zu meinen.13 Entsprechend können wir uns auch von einer Rede in der dritten Person, die vorgibt, über uns oder sogar über andere zu reden, angesprochen fühlen. Der Satz »Die zweite Gruppe war mit Abstand die beste« kann zum Beispiel von dieser Gruppe als ein indirekt adressiertes Kompliment verstanden werden und vielleicht auch von anderen Gruppen als ein Tadel. Es erreicht sie insofern, als sie sich von ihm angesprochen fühlen. In Bezug auf die Frage der sprachlichen Gewalt bedeutet dies, dass sie uns nicht allein dadurch erreicht, dass bestimmte Ausdrücke in bestimmten Kontexten verletzen können, sondern auch und primär dadurch, dass wir uns von ihnen angesprochen fühlen und dass dieses Angesprochen-werden uns zugleich in unserem Sein konstituiert. Dies ist eine Bedingung dafür, dass wir durch sprachliche Ausdrücke verletzt werden können. Darüber hinaus werden wir dadurch sprachlich verletzt, dass sich die soziale Dimension der Ansprache mit einem Inhalt verbindet, der an uns adressiert wird oder von dem wir uns zumindest angesprochen fühlen. Durch diese Zusammensetzung des Angesprochen-werdens und eines bestimmten Inhalts werden wir in einer besonderen Weise identifiziert. Dies ist eine zweite Art der Individuation durch die Sprache: Wir werden zum Träger einer Identität, die uns auferlegt wird, in der wir uns mehr oder weniger erkennen, mit der wir uns zum Teil identifizieren. Durch die Unentrinnbarkeit des Angesprochen-werdens übernehmen wir auch dann eine uns auferlegte Identität, wenn wir sie nicht akzeptieren und in unser Selbstbild nicht integrieren können. Durch diese Identifizierung, der wir uns nur zum Teil entziehen können, können wir sprachlich verletzt werden. Und wir werden umso mehr getroffen und verletzt, als die an uns adressierte Rede sich in ihrem Inhalt auf Elemente und Dimensionen unseres Lebens bezieht, von denen wir uns kaum distanzieren können. Ein solches Element ist der Eigenname. Er wird jedem Menschen von anderen Menschen gegeben und verleiht ihm seine sprachliche Identität. Diese ist ihm nicht äußerlich, sondern sie definiert die Art und Weise, wie er in einer artikulierten Sprache gerufen werden kann. Die konstitutive Rolle des Eigennamens für die persönliche Identität wird unter anderem in den Fällen einer Namensänderung spürbar, geschähe sie auf Grund der Unerträglichkeit eines Namens (»Adolf« nach dem zweiten Weltkrieg in Europa und noch eindeutiger »Hitler« als Familienname), in Zusammenhang mit einem Lebenswandel (viele Mönche, 13 Vgl. Buber, Martin, »Ich und Du«, in: ders., Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1984, S. 5-136, hier S. 64.
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Nonnen und auch der Papst wählen zum Beispiel einen religiösen Namen oder bekommen einen) oder mit einem sozialen Wandel (es war lange selbstverständlich in unseren Gesellschaften, dass Frauen den Familiennamen ihres Mannes nach der Hochzeit übernehmen). Da die mit dem Eigennamen verbundene Identität durch die Sprache vergeben wird, ist sie auch der Möglichkeit einer Verletzung durch sprachliche Gewalt ausgesetzt. Besonders Kinder, aber nicht nur sie, verstehen sich darauf, andere Kinder damit zu ärgern, deren Namen mit einer Beschimpfung, mit etwas Lächerlichem oder Ärgerlichem zu reimen oder in Verbindung zu setzen. Die Betroffenen fühlen sich gegenüber solchen Benennungen ohnmächtig, weil sie mit diesem Namen und nur mit ihm angesprochen werden können. Der Name, der für den amüsierten Wortspieler und für die lachenden Zuhörer ein Name unter anderen ist und vielleicht keine besondere Bedeutung hat, außer der Möglichkeit, sich das eine oder andere Mal über jemanden lustig zu machen, ist für das angesprochene Kind das Zeichen seiner sprachlichen Identität. Es erkennt sich in ihm wieder, wenn es namentlich angesprochen wird. Der lustige oder böswillige Reim klebt von daher nicht nur an seinem Namen, sondern prägt von nun auch an seine sprachliche Identität, auch wenn es sich davon distanziert, andere Reime erfindet oder sogar versucht, seinen Namen zu ändern. Ein weiteres Element oder eine weitere Dimension unseres Lebens, von der wir uns noch weniger distanzieren können als von unserem Eigennamen, ist der Leib. Der Leib ist für jeden Menschen ein Prinzip seiner Individuation. Er ist die materielle Gestalt seiner Existenz und er besetzt einen Ort, der von niemand anderem besetzt werden kann. Von unserem Leib aus orientieren wir die Welt um uns herum und von ihm aus orientieren wir uns in der Welt. Der Leib wird nicht von außen betrachtet, sondern er konstituiert die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen Innen und Außen, indem er gelebt wird und indem von ihm aus die Welt bewohnt wird. In der Sprache kann der Leib nicht beschrieben, sondern nur angesprochen werden. Dagegen ist das, worüber in der Sprache gesprochen wird, nicht der Leib, sondern der Körper oder körperliche Merkmale. Diese Merkmale können wahrnehmbar sein, wie etwa die Hautfarbe, ein Pickel auf dem Gesicht, lange Haare oder ein besonderer Geruch. Sie können auch versteckt sein, aber indirekt, durch Rückschlüsse etwa aus dem Verhalten der betroffenen Personen, erkennbar sein, wie Taubheit, Fitness oder eine bestimmte Allergie. Diese Merkmale sind nie ganz individuell. Sie haben die Allgemeinheit dessen, was durch die menschliche Vernunft verstanden und in der Sprache ausgedrückt werden kann. Doch wenn jemand in Zusammenhang mit der Benennung dieser Merkmale angesprochen wird, sei es positiv oder negativ, wenn diese Benennung in der Anrede als Identifikationsmerkmal fungiert und wenn der angesprochene Mensch sich daran erkennt, sei es, weil es tatsächlich Merkmale seines Körpers sind oder weil er oft genug mit Verweis auf diese Merkmale angesprochen wurde, dann werden diese
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Merkmale ein Teil seiner leiblichen Identität. Er sieht sie nicht mehr nur als objektive oder ihm zugesprochene Merkmale seines Körpers, sondern er geht von ihnen aus in seiner Beziehung zur Welt und zu anderen Menschen. Er integriert sie in seinem Leib.14 Sicher, diese Aneignung körperlicher Merkmale könnte auch durch die wiederholte Betrachtung des eigenen Körpers, unmittelbar oder in einem Spiegel, und unabhängig von der Sprache erfolgen. Doch im Angesprochen-werden werden wir nicht nur durch den Besitz eines körperlichen Merkmals identifiziert, sondern auch von der sozialen Bedeutung und Bewertung dieses Merkmals geprägt. Und besonders in Bezug auf den Körper ist die Sprache selten neutral. Sie schleppt Auf- und Abwertungen, Be- und Verurteilungen, Billigungen und Missbilligungen in sich mit. Vergleiche mit Tieren oder Gegenständen sind hierbei häufig und meistens sehr suggestiv. Es macht zum Beispiel einen wesentlichen Unterschied ob jemandes Haare mit einer Löwenmähne oder mit einer Klobürste verglichen werden. Aus der Perspektive des Erleidens kann das wiederholte Angesprochen- und Identifiziert-Werden mit abwertenden körperlichen Merkmalen und die entsprechende Übernahme dieser Merkmale in die eigene leibliche Identität zu einer Stigmatisierung führen. In seinem Buch Stigma15 hat Erving Goffman gezeigt, dass wir uns fast unmöglich von stigmatisierenden Merkmalen befreien, sondern lediglich lernen können, mit ihnen umzugehen und besser oder schlechter mit ihnen zu leben. Neben dem Eigennamen und dem Leib möchte ich eine dritte Dimension unserer menschlichen Existenz erwähnen, von der wir uns kaum distanzieren können, die uns individuiert und in der wir entsprechend durch gewaltsames Angesprochenwerden in besonderer Weise erreicht und verletzt werden können: unsere moralische Verbundenheit zu anderen Menschen. Wir sind mit jemandem moralisch verbunden, wenn wir für ihn oder für eine bestimmte Aufgabe vor ihm verantwortlich sind. Wir sind es auch, wenn wir uns ihm gegenüber durch ein Versprechen verpflichtet haben oder / und wenn wir dadurch verpflichtet sind, dass er uns sein Vertrauen geschenkt hat. Wir sind es auch, weil wir ihn in der Gefahr 14 Das Kind, das zum Beispiel regelmäßig mit dem Spitznamen »Fußstinker« angesprochen wird, reagiert sicher unterschiedlich, je nachdem, ob es tatsächlich einen starken Fußgeruch hat oder nicht, ob es nur von einem anderen Kind oder von mehreren so genannt wird und ob es diese als ihm freundlich oder feindlich gesonnen wahrnimmt. Doch jeder mögliche Geruch seiner Füße, jede Reaktion anderer Menschen, die damit zu tun haben könnte, auch wenn es selbst nichts gerochen hat, jede Situation, in der ein Fußgeruch eine Rolle spielen könnte – wenn es zum Beispiel seine Schuhe ausziehen muss –, wird von ihm aus der Perspektive eines zumindest möglichen ›Fußstinkers‹ erlebt. Es bildet den persönlichen Horizont seines Verhaltens, was dieses auch immer sei. 15 Goffman, Erving, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt / Main 1967.
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nicht allein lassen dürfen. Diese Verpflichtungen gegenüber einem anderen Menschen sind jeweils unsere. Sie bedeuten für uns die Unmöglichkeit der Gleichgültigkeit dem anderen Menschen gegenüber. Wir können uns diesen Verpflichtungen nicht entziehen und wir können sie auch nicht auf andere Menschen übertragen. Zwar können und müssen wir in vielen Fällen die mit unserer Verantwortung und mit unseren moralischen Pflichten verbundenen Aufgaben auf andere Menschen und auf bestimmte soziale und politische Institutionen übertragen. Wir sind dazu nicht nur gezwungen, weil sie uns sonst überfordern würden, sondern auch im Namen unserer Verantwortung selbst, weil andere Menschen und Instanzen diese Aufgaben besser erfüllen können als wir. Dies entlastet uns aber nicht von unserer Verantwortung oder Verpflichtung selbst, wenn wir die mit ihr verbundenen Aufgaben auf andere übertragen. Es geschieht im Gegenteil auf Grund dieser Verantwortung, die auch dann unsere bleibt. Genau in diesem Sinne spricht Emmanuel Levinas von der Verantwortung, die auf den gebietenden Ruf des Anderen antwortet, als Individuationsprinzip.16 Nun bedeutet dies, dass wir nicht nur als sprachliche Wesen durch andere Menschen verletzt werden können, sondern auch in unserer Beziehung zu anderen Menschen verletzlich sind, und in einer besonderer Art und Weise in unserer moralischen Beziehung zu ihnen:17 Wie empfinden als sprachliche Gewalt eine Rede, die eine Person angreift, für die wir verantwortlich sind. Ihre Verletzung ist auch unsere, nicht nur und nicht primär auf Grund unseres Mitleids oder Mitgefühls, sondern weil uns diese verletzende Rede auf unsere Verantwortung zurückwirft und zugleich, da der andere schon sprachlich angegriffen worden ist, auf ihre Ohnmacht, das unser moralisches Versagen bedeutet. Aus diesem Grund sind manche Beleidigungen nicht wirklich an die Personen adressiert, die sie ausdrücklich beleidigen, sondern an diejenigen, die durch sie in ihrer moralischen Beziehung zu ihnen verletzt werden. So bedeutet »Hurensohn« nicht nur und nicht primär: »Deine Mutter ist eine Hure«, sondern auch und vor allem: »Du kannst nicht verhindern, dass ich sie so nenne, obwohl Du eigentlich dafür sorgen solltest, dass sie respektiert wird«. Das Versagen eines Menschen in seiner Verantwortung oder in seiner Verpflichtung kann auch direkt angesprochen werden, zum Beispiel indem er beschuldigt wird, ein Verräter zu sein. In diesem Fall wie im vorigen werden unsere moralische Verbundenheit und ihre Unübertragbarkeit durch die verletzende
16 Levinas, Emmanuel, »Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe«, in: ders., Zwischen Uns. Versuche über das Denken an den Anderen, aus dem Französischen von Frank Miething, München, Wien 1995, S.132-153, hier: S. 138. 17 Wir sind aber auch in anderen Beziehungen, etwa in unseren Liebesbeziehungen zu anderen Menschen verletzlich, nicht nur wenn die Beziehung zu brechen droht, sondern auch auf Grund der Beziehung, wenn zum Beispiel der Andere verletzt wird oder wenn die Beziehung von Dritten bekämpft oder belächelt wird.
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Rede nicht aufgehoben, sondern bestätigt, allerdings im Modus des Versagens. Die Verantwortung bleibt für uns ein Individuationsprinzip, aber als Schuld. Dadurch, dass die Verantwortung für andere Menschen und vor ihnen, sowie unsere moralischen Verpflichtungen ihnen gegenüber nie restlos erfüllt werden können, entspricht die Beschuldigung durch andere Menschen immer einem moralischen Mangel in uns und wird umso leichter vom Angesprochenen übernommen, als er sich dieses Mangels bewusst ist. Aber unabhängig von diesem Schuldbewusstsein bewirkt auch hier die Wiederholung der Beschimpfung, dass sich der Angesprochene in ihr erkennt. Für ihn wird die Individuation durch Verantwortung zu einer Individuation durch Schuld, von der er sich nicht frei sprechen kann. Sie führt zu einer Beschädigung seiner moralischen Identität. Die vierte und letzte Dimension unserer menschlichen Existenz, die ich hier erwähnen möchte, ist die soziale Identität. Sie ist kein Prinzip der Individuation, sondern wird den Menschen durch ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und sozialen Ordnungen gegeben. Sie wird innerhalb dieser Ordnungen nach unterschiedlichen Kriterien weiter differenziert, wird aber als solche von allen Mitgliedern der Gruppe geteilt. Die soziale Identität ist eine kollektive Dimension unseres Lebens. Jedes Individuum lebt und erlebt sie zwar in einer ihm eigenen Art und Weise und unterscheidet sich dadurch von anderen, dass es zu verschiedenen Gruppen gehört, von einer Sprach-, National- oder religiösen Gemeinschaft bis hin zum Sportverein oder zur Familienzugehörigkeit. Und einige Ordnungen prägen uns mehr als andere. Aber innerhalb jeder Gruppe und jeder Ordnung gibt es eine kollektive Identität, die allen Individuen gemeinsam ist. Sie wird durch gemeinsame Regeln und Werte bestimmt, in gemeinsamen Praxisbereichen und Gewohnheiten verankert, durch ein gemeinsames Gedächtnis und gemeinsame Orientierungen geprägt. Sie macht es auch möglich, dass Mitglieder einer sozialen Ordnung gemeinsame Verletzungen erleiden. So kann das Erleiden sprachlicher Gewalt als ein kollektives Erleiden erlebt werden, wenn zum Beispiel die Bezeichnung einer Gruppe, zu der wir gehören, als Schimpfwort benutzt, mit Beleidigungen verbunden oder durch sie ersetzt wird. Wenn jemand zum Beispiel als »Scheiß-Ausländer« beschimpft oder wenn ein Lehrer mit den Worten »Lehrer sind faul« konfrontiert wird, dann ist jedes Mitglied der angesprochenen Gruppe potentiell verletzt und die Individuen dieser Gruppe nicht in ihrer Individualität, sondern als Mitglieder der Gruppe betroffen. Dies passiert nicht selten, wenn die soziale Identität einer Gruppe durch Kriterien der Hautfarbe, der Volks- oder Religionszugehörigkeit, des Geschlechts, aber auch etwa einer sozial oder moralisch verpönten Tätigkeit definiert wird. Sprachlich verletzt werden Menschen auch, individuell oder kollektiv, wenn einem oder mehreren von ihnen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe abgesprochen wird. Die Behauptung ihres Ausschlusses aus einer Gruppe, die für ihre soziale Identität konstitutiv ist, wird als Abwertung ihres Lebens erlitten, dem diese Dimension abgesprochen wird. Und wenn sich diese Behauptung auf eine Zugehö-
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rigkeit bezieht, die in der Tat für sie nicht gesichert ist, wenn sie also auf eine wunde Stelle der sozialen Identität eines Menschen stößt, oder wenn sie häufig genug von verschiedenen Menschen wiederholt wird, kann die erlittene Abwertung des eigenen Lebens zu einem Teil der verletzten sozialen Identität des Erleidenden werden. Er trägt das Stigma des loosers, des Ausgeschlossenen, des Parias, das er dann nur noch versuchen kann zu verstecken oder zu verleugnen. Es gibt noch weitere Elemente und Dimensionen des menschlichen Lebens, die durch sprachliche Gewalt getroffen werden können. Ihre Analyse verlangt eine noch zu schreibende Phänomenologie der menschlichen Verletzlichkeit, die hier nur angedeutet werden konnte. All diesen Dimensionen ist aber gemeinsam, dass sie erstens für die Erleidenden mit der Unmöglichkeit verbunden sind, sich dem Erlittenen zu entziehen, und dass sie zweitens nicht als isolierte Dimensionen des Lebens getroffen werden, sondern dass durch sie hindurch die Erleidenden in ihrem ganzen Sein und in ihrer ganzen Identität verletzt werden. Sie werden es, sobald sie sich von einer Rede angesprochen fühlen, die sie als gegen sie gerichtete Gewalt wahrnehmen. Es bleibt allerdings noch zu fragen, wie es möglich ist, dass wir uns durch die Rede anderer Menschen angesprochen fühlen. Reagieren wir besonders stark auf bestimmte Formen der Rede und der Anrede? Beziehen wir uns primär auf solche Formen oder auf Inhalte, von denen wir annehmen, dass sie uns betreffen? Gefordert wäre hier eine Analyse der unterschiedlichen Arten, sich von der Rede anderer Menschen angesprochen zu fühlen. Zumindest einige Elemente einer solchen Analyse werden im Folgenden eingeführt.
II. Verletzende Sprache und der Raub der Stimme Die erste und offensichtlichste Art, durch sprachliche Gewalt getroffen zu werden, besteht für den Erleidenden darin, dass er einer ausdrücklichen und ausdrücklich adressierten gewaltsamen Rede ausgesetzt wird. Doch können wir auch von einer Rede in der dritten Person über uns, im Einzelnen oder im Allgemeinen, angesprochen und verletzt werden. Zum Beispiel können der nicht ausdrücklich adressierte Satz »Er ist ein Schwein« oder der allgemeine Ausdruck »Scheiß Ausländer« von denjenigen als verletzend empfunden werden, die sich in diesem »Er« erkennen oder sich als Ausländer angesprochen fühlen. Solche Sätze mögen weniger angreifende Kraft besitzen, als wenn sie direkt adressiert wären. Ihre Gewaltsamkeit wird auch nicht in gleicher Weise von der körperlichen Präsenz und Aggressivität des anderen Menschen unterstützt wie im Fall eines direkten verbalen Angriffs. Ihnen wohnt aber eine andere Form der Gewaltsamkeit inne, und zwar dadurch, dass durch sie die Betroffenen aus der Sphäre derjenigen ausgeschlossen werden, die sprechen und antworten. Die dritte
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Person ist in der Sprache eine Nicht-Person, wie Emile Benveniste schreibt18, da Menschen, über die in der dritten Person gesprochen wird, weder selbst sprechen noch angesprochen werden. Dass sich jemand in der dritten Person adressiert fühlt, das heißt sprachlich in den Status einer Nicht-Person versetzt wird, ist für ihn eine Form der erlittenen sprachlichen Gewalt.19 Während der sozialen Unruhen in Frankreich Ende 2005 sprach zum Beispiel der französische Innenminister, Nicolas Sarkozy, zweimal in ähnlichen Termini über die revoltierenden Jugendlichen in den Vororten der Großstädte. Er sagte: »Dies sind keine Jugendliche. Es sind Schurken, Gesindel« (»Ce sont des racailles«). Diese Rede konnte auf verschiedenen Ebenen als Gewalt empfunden werden. Die Beschimpfung war die erste Ebene. Sie traf die Jugendlichen in einer tiefen Wunde: Sie fühlten sich als die Ausgeschlossenen der Gesellschaft20 und »racaille« bedeutet »Abschaum der Gesellschaft«. Es ist nicht nur ein abfälliger Synonym für »die Ausgeschlossenen«, sondern das Wort hat eine normative Dimension: Sie gehören nicht dazu und sollen auch nicht dazu gehören. Die zweite Ebene der Gewalt war die Weigerung Sarkozys, die Jugendlichen, über die er sprach, anzusprechen. Seine Beleidigung wurde nie an die Jugendlichen selbst, sondern als Beschreibung in der dritten Person an Journalisten und an ein Fernsehpublikum, und dadurch an die breite Öffentlichkeit adressiert. Dieser linguistische Ausschluss der nur indirekt Angesprochenen aus der Sphäre der Sprechenden bestätigte und bekräftigte ihren Ausschluss aus der Gesellschaft, der semantisch in der Beschimpfung enthalten war. Er verletzte sie genauso wie der Inhalt der ministerialen Beschimpfung. Die dritte Ebene war eine mit der Aussage des Ministers verbundene Rechtfertigung der eigenen Strategie der »tolérance zéro« (Null Toleranz) und der Notwendigkeit, dem Problem der Vororte mit polizeilichen und nicht mit sozialen und ökonomischen Mitteln zu begegnen. Mit dem Abschaum der Gesellschaft kann und darf man nicht verhandeln. Für die Erleidenden ist die Tatsache, dass die von ihnen erlittene Gewalt von anderen Menschen gerechtfertigt wird, eine zusätzliche Gewalt. Denn sie bedeutet erstens, dass das von ihnen Erlittene nicht als gewaltsam, sondern als Recht oder gerecht dargestellt wird. Sie bedeutet zweitens und darüber hinaus, dass dadurch die Perspektive des Erleidens negiert wird: Eine Rechtfertigung ist immer Rechtfertigung des Ausübens nach Kriterien des Ausübens. Das Erleiden wird
18 Benveniste, Emile, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, aus dem Französischen von Wilhelm Bolle, München 1974, S. 285 f. 19 Es gibt allerdings Fälle, in denen das Sprechen über eine Person in ihrer Anwesenheit keine Form der Gewalt ist, sondern im Gegenteil eine Art und Weise, sie einzubeziehen. Die Vorstellung einer Person erfolgt zum Beispiel meistens in der dritten Person und führt sie eher in das Gespräch ein, als dass sie sie ausschließt. 20 In Frankreich sind »die Ausgeschlossenen«, »les exclus«, seit den neunziger Jahren eine soziale Kategorie, die sogar viele als Selbstbeschreibung gebrauchen.
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hierbei höchstens als notwendige oder unvermeidbare Nebenwirkung eines richtigen Tuns dargestellt. Jemand kann also erstens dadurch sprachlich verletzt werden, dass er direkt angesprochen, beleidigt, verflucht oder gedemütigt wird, zweitens dadurch, dass er sich von einer Rede in der dritten Person angesprochen und ausgeschlossen fühlt, und drittens dadurch, dass sein Erleiden in der Rede anderer Menschen, die ihre Gewalt rechtfertigen, negiert wird. Andere Formen der Rede sind denkbar, durch die sich Menschen angesprochen und verletzt werden. Doch ich möchte hier nur noch eine letzte Art der sprachlichen Gewalt erwähnen, die vielleicht weniger offensichtlich ist als die anderen, weil sie nicht mit einem verletzenden Sprechakt in Verbindung gebracht werden kann. Es handelt sich um die mögliche Gewalt des Schweigens. Schweigen ist nicht die Abwesenheit von Sprache, sondern die Enthaltung der Sprache im Rahmen eines sprachlichen Horizonts. Und wie die Rede kann das Schweigen adressiert werden und als adressiert empfunden werden. Man kann von jemandem angeschwiegen werden und der Angeschwiegene kann dieses Schweigen als adressierten Ausschluss, als eine spürbare und schwer zu durchbrechende Markierung seiner sozialen oder moralischen Exklusion empfinden. Er kann dadurch verletzt werden. Das Schweigen wäre also eine Grenzform der sprachlichen Gewalt. Noch radikaler kann die Tatsache, das jemand von niemandem angesprochen wird, bedeuten, dass sich eine wesentliche Dimension seines Daseins und seiner Identität nicht entwickeln kann. Wer nie angesprochen wurde, kann kein sprachliches Wesen sein und wer, zum Beispiel durch Isolationshaft, nicht mehr angesprochen wird, verliert die menschliche Sprache. Diese Verletzung ist zugleich lautlos und erschreckend. Meistens taucht das Schweigen allerdings nicht auf der Seite dessen auf, was verletzt, sondern als ein wesentliches Element jeder Verletzung, und in eigentümlicher Weise jeder Verletzung durch sprachliche Gewalt. Denn all die Arten, durch Sprache getroffen und verletzt zu werden, weisen eine Gemeinsamkeit auf. Neben der Tatsache, dass sie selten in reiner Form, sondern meistens als Zusammensetzung mehrerer Arten auftreten, ist ihnen gemeinsam, dass sie zwar sprachlich sind und als adressiert empfunden werden, dass aber diejenigen, die ihnen ausgesetzt sind, durch sie nicht zum Sprechen, sondern zum Schweigen gebracht werden. In diesem Sinne treten sie der kommunikativen Dimension der Sprache entgegen. Meistens ruft die Rede anderer Menschen, von der wir uns angesprochen fühlen, eine Antwort in uns hervor, und umgekehrt ist unsere Rede meistens eine Antwort auf ein Wort, das sie hervorgerufen hat. Dies hängt mit der kommunikativen Dimension der Sprache zusammen, in der nicht nur über etwas gesprochen wird, sondern Menschen angesprochen werden und darauf in einer erwidernden Rede antworten. Doch die sprachliche Gewalt ruft bei den Angesprochenen keine Antwort hervor. Diese werden nicht zum Sprechen aufgefordert, sondern in ihrer sprachlichen, leiblichen, sozialen und moralischen Identität verletzt. Sie werden
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in den Dimensionen ihrer Existenz getroffen, die weitgehend durch die Sprache anderer Menschen konstituiert wurden und noch werden und von denen aus sie selber sprechen können. Ihnen wird dadurch sowohl ihre sprachliche Identität wie auch das Vermögen zu sprechen geraubt. Mit anderen Worten, ihnen wird die Stimme geraubt. Die Stimme bezeichnet nicht nur die menschliche Fähigkeit, durch die Stimmwerkzeuge Töne zu erzeugen: zu schreien, zu sprechen oder zu singen, sondern sie bezeichnet auch die sprachliche Identität der Menschen mit allen Dimensionen, die sie ausmachen und die durch das Erleiden (sprachlicher) Gewalt verletzt werden können. Die Stimme ist leiblich. Ihr Ton, ihre Höhe, ihre Wärme oder Kälte, ihr Volumen und viele andere Merkmale verbinden sie mit einem Individuum aus Fleisch und Blut, das durch sie erkennbar ist. Sie drückt auch den Zustand seines Leibes, seine Ruhe oder seine Aufregung, seinen Zorn, seine Müdigkeit aus. Sie lächelt, weint und verzweifelt mit ihm. Durch ihre Leiblichkeit verleiht die Stimme auch jeder sprachlichen Äußerung einen Ort und eine Gegenwart, von dem bzw. der aus sie gesprochen wird. Konstitutiv für die menschliche Stimme ist zudem ihre sprachliche Dimension. Denn die Stimme sendet nicht nur Signale, sondern drückt sich in einer artikulierten Sprache aus. Der Schrei ist die Grenze, an der sie ihre Menschlichkeit zu verlieren droht. Und umgekehrt wäre eine Sprache, die nie in Stimmen klingen würde, eine tote Sprache. Mehr und anders als durch die Schrift wird eine artikulierte Sprache durch die Stimmen lebendig, die sie sprechen, die sich in ihr ansprechen und antworten. Dieses Ansprechen und Antworten macht darüber hinaus die soziale Dimension der Stimme aus. Eine Stimme wird immer von einer anderen geweckt und ist nur hörbar als solche im Chor anderer Stimmen. Einerseits nimmt sie diese auf, zitiert und wiederholt sie, korrigiert sie, unterscheidet, trennt und distanziert sich von ihnen, so dass diese ihren unverzichtbaren Horizont bilden. Andererseits würde sie ohne die anderen Stimmen, die sie in gleicher Weise aufnehmen, verloren gehen. Denn jede Stimme lebt nur in den Stimmen der anderen, die sie aufnehmen und ihre Rede weiterführen. Jede Stimme lebt auch nur von der Anerkennung der anderen, die ihr zuhören, ihr Autorität verleihen, ihr vertrauen. Entsprechend, und dies ist eine moralische Dimension unserer Stimme, sind wir für die Stimmen der anderen verantwortlich, deren Empfänger, Bewahrer und vielleicht Fortführer wir sind. Schließlich hat die Stimme auch für jeden Menschen die politische Dimension eines Rechts zu sprechen. Die demokratischen Ordnungen leben von der Gleichwertigkeit der Stimme jedes Bürgers, ohne die die Souveränität des Volkes nicht zu verwirklichen wäre. Aber auch in anderen politischen Ordnungen hängt das politische Leben von denjenigen ab, deren Stimmen als legitim anerkannt und gehört werden.
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Die Stimme, mit ihren verschiedenen Dimensionen, ist das, was im Erleiden sprachlicher Gewalt verletzt wird. Durch die erlittene Gewalt werden die Erleidenden nicht in ihrer leiblichen Identität verstärkt und dazu aufgerufen, sie in ihrer Stimme auszudrücken, sondern sie werden auf eine körperliche Identität zurückgeworfen, die nicht spricht: Sie werden auf körperliche Merkmale reduziert und können nur noch versuchen, die daraus resultierende Stigmatisierung zu verstecken. Sie werden mit Namen angesprochen, die ihnen keinen Zugang zur Welt der Sprache öffnen, sondern über die sie sich schämen. Sie werden nicht in zwischenmenschliche Beziehungen eingeführt, in denen sie für andere Menschen und bestimmte Aufgaben verantwortlich sind, sondern sie werden auf ihre Schuld zurückgeworfen. Sie werden nicht in ihrer sozialen Zugehörigkeit gestärkt, sondern entweder durch sie verletzt oder von ihr ausgeschlossen. Das Erleiden sprachlicher Gewalt erreicht und verletzt nicht immer alle Dimensionen der menschlichen Stimme. Aber jede Verletzung beraubt die Stimme der vollen Entfaltung mindestens einer ihrer Dimensionen. Und je nach der oder nach den Dimensionen, die verletzt werden, nimmt das Schweigen, das dadurch entsteht, unterschiedliche Formen an: Es besteht darin, dass die Erleidenden über sich selbst, über das Erlittene, mit bestimmten Menschen, in bestimmten sozialen Rahmen oder überhaupt nicht mehr sprechen können. Meistens ist dieses Schweigen keine bloße Abwesenheit der Rede, sondern es verbirgt sich hinter der alltäglichen Sprache oder sogar hinter einem Überfluss der Rede. Derjenige, dessen Stimme geraubt wurde, wie der von Goffman beschriebene stigmatisierte Mensch, lernt zu täuschen und sich zu verstecken, um mit seiner Verletzung leben zu können. In manchen Fällen gelingt es ihm sogar, das Schweigen zu brechen und auf das Erlittene zu antworten. Doch diese Antwort wird nicht dadurch ermöglicht, dass die Beleidigung dem Beleidigten in seinem Sein konstituiert und einen Ort gibt, von wo aus er antworten kann. Denn von dem Ort aus, an den der Erleidende durch die sprachliche Gewalt versetzt wird, kann er nicht antworten. Er ist der Ort seiner Verletzung. Die Antwort wird auch nicht dadurch ermöglicht, dass der gewaltsame Sprechakt sein Ziel verfehlt und keine Verletzung verursacht hat.21 Denn aus der Perspektive des Erleidens hat die Verletzung immer schon stattgefunden. Die Antwort wird dadurch ermöglicht, dass die Stimme, das heißt die sprachliche Identität des Erleidenden, nicht vollständig zerstört wurde. Der Erleidende antwortet von dem Ort aus, an dem er sich dank der früheren Konstitution seiner sprachlichen Identität, die ihm nicht vollständig geraubt werden konnte, sowie dank der erneuten Ansprache durch andere Menschen, noch befindet, und zwar trotz der sprachlichen Gewalt, der er ausgesetzt wurde.
21 Dies scheint der Weg zu sein, den Judith Butler wählt (Hass spricht, a.a.O., S. 28): »Diese Auflösung des Bandes zwischen Akt und Verletzung eröffnet indes die Möglichkeit eines Gegen-Sprechens, eine Art von Zurück-Sprechen, das durch die Feststellung einer solchen festen Verbindung ausgeschlossen wäre.«
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Wenn die Sprache der geeignete Weg sein oder werden soll, um die Dynamik der Gewalt zu unterbrechen, setzt dies also erstens voraus, dass wir lernen, das Schweigen derjenigen zu hören, die sprachlicher Gewalt ausgesetzt wurden oder sind, dass wir also lernen, auf die Spur von Verletzungen der Stimmen durch das Erleiden sprachlicher Gewalt zu achten. Denn nur so kann sich die Sprache ihrer möglichen Gewalt jenseits der Sichtbarkeit körperlicher Verletzungen bewusst werden, und sie vermeiden. Es fordert zweitens, dass den Erleidenden sprachlicher Gewalt eine Stimme (wieder-)verliehen wird, dass ihnen also in der Sprache ein Ort gegeben wird, von dem aus sie auf das Erlittene antworten können. Dies ist besonders im Fall extremer Verletzungen, die etwa das Vertrauen der Erleidenden in die Stimmen anderer Menschen überhaupt zerstört haben, ein schwieriger Prozess. Er ist aber notwendig, um das Schweigen zu unterbrechen und dadurch der Zerstörung der kommunikativen Dimension der Sprache durch sprachliche Gewalt entgegenzuwirken.
Literatur Arendt, Hannah, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 1967. Benveniste, Emile, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, aus dem Französischen von Wilhelm Bolle, München 1974. Buber, Martin, »Ich und Du«, in: ders., Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1984, S. 5-136. Butler, Judith, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, aus dem Englischen von Katharina Menke und Markus Krist, Berlin 1998. Delhom, Pascal, »Erlittene Gewalt verstehen«, in: Burkhard Liebsch / Dagmar Mensing (Hg.), Gewalt Verstehen, Berlin 2003, S. 59-77. Delhom, Pascal / Rudolf Rehn, »Die Rückgewinnung der geraubten Stimme«, in: Günter Bierbrauer / Michael Jaeger (Hg.), Projektverbund Friedens- und Konfliktforschung in Niedersachsen. Ergebnisberichte aus Forschungsprojekten der Jahre 2001-2003, Osnabrück 2004, S. 181-213. Goffman, Erving, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt / Main 1967. Levinas, Emmanuel, »Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe«, in: ders., Zwischen Uns. Versuche über das Denken an den Anderen, aus dem Französischen von Frank Miething, München, Wien 1995, S. 132-153. Sartre, Jean-Paul, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, aus dem Französischen von Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1994. Scarry, Elaine, Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, aus dem Englischen von Michael Bischoff, Frankfurt / Main 1992.
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Todorov, Tzvetan, Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, aus dem Französischen von Wolfgang Kaiser, Frankfurt / Main 1998. Waldenfels, Bernhard, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt / Main 2002.
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Nach dem angeblichen Ende der ›Sprachvergessenheit‹: Vorläufige Fragen zur Unvermeidlichkeit der Verletzung Anderer in und mit Worten 1
1. Von der Sprachvergessenheit zur Sprachverachtung? Nach J. G. Herder, W. v. Humboldt und einem weiteren »Jahrhundert der Sprachvergessenheit« (J. Trabant)2 beginnt die Karriere der Sprachphilosophie mit Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1923) und nimmt dann nach Wittgensteins Aufweis des inneren Zusammenhangs von Sprachspielen und Lebensformen einen unerhörten Aufschwung. Nachträglich ist dieser Ansatz mit der ebenfalls späten, im Werk Heideggers entwickelten Einsicht verknüpft worden, dass die Sprache nicht allein dazu dient, Wahres möglichst eindeutig über die Welt auszusagen (wovon Aristoteles ausging). Menschliche, nicht auf die Aussage beschränkte Rede kann seitdem als an Andere adressiertes Sagen und dabei weltkonstitutive Praxis gelten.3 In der Rede nehmen demnach Lebenswelt1 Die nachfolgenden Überlegungen sind im Mai 2004 im Rahmen der Dienstagsgespräche auf Einladung des Martinushauses Aschaffenburg einer öffentlichen Diskussion ausgesetzt worden. 2 Trabant, Jürgen »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Sprache denken. Positionen aktueller Sprachphilosophie, Frankfurt / Main 1994, S. 9-26. 3 Den Weltbezug des Sagens hat Heidegger vor allem in Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, herausgestellt, dabei allerdings die Adressierung der Rede an den Anderen im Zeichen einer radikalen Abwendung vom Anthropologismus wieder weitgehend unterschlagen. Der Titel des Buches zeigt aber mit Recht an, dass sich jene
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formen4 Gestalt an, indem diejenigen, die zusammen leben, im Verhältnis zueinander Dinge mit Worten tun, wie es der Philosoph der normalen Sprache J. L. Austin in seinem Buch How to do things with words formulierte.5 Die darauf aufbauende Sprechakttheorie orientierte sich vielfach an für soziale und politische Lebensformen grundlegenden Phänomenen wie etwa dem Versprechen.6 Dabei hat sie zwar Aspekte der eigentümlichen Zerbrechlichkeit menschlicher Lebensformen wie etwa die fragile Verbindlichkeit des gegebenen Wortes ans Licht gebracht. Aber die Verletzlichkeit derer, die in zerbrechlichen, von Widerstreit, Differenz und Gewalt ständig beunruhigten Lebensformen zusammen leben, wurde sprachphilosophisch noch kaum bedacht. Inzwischen hat es sich allerdings herumgesprochen, dass man mit Worten verletzen kann, bspw. mit Sprechakten, die dem Anschein nach ein Versprechen bedeuten, tatsächlich aber auf eine Drohung hinauslaufen. Offenbar kann man auch mittels der Sprache Gewalt ausüben, d. h. »schlimme Dinge mit Worten tun«, wie man in Anlehnung an Austin sagen könnte. Dass Gewalt mit Worten ausgeübt wird, ist freilich nicht die einzige Herausforderung dazu, den Zusammenhang von Sprache und Gewalt zu bedenken. Denn es besteht der Verdacht, dass Gewalt nicht nur mit Worten bewusst ausgeübt wird, sondern auch in Worten auf subtile Art und Weise heimisch geworden ist, und zwar so sehr, dass sich die Aussicht auf einen ganz und gar von ihr befreiten »Sprachgebrauch« nur noch schwer aufrecht erhalten lässt.7
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Sprachvergessenheit so leicht nicht aufheben lässt, wenn wir aus der Sprache über sie sprechen; und zwar so, dass sie, indem sie zu denken gibt, zugleich entzogen bleibt (vgl. Anm. 42). Insofern trifft es den Kern der Sache, wenn zur Frage, wann je »die Sprache selber als Sprache zu Wort kommt« angemerkt wird: »seltsamerweise dort, wo wir für etwas, was uns angeht, uns an sich reißt, bedrängt oder befeuert, das rechte Wort nicht finden« (S. 161). Zum Motiv des Entzugs und der Gabe des zu Denkenden vgl. ebd., S. 169, 193. Nur soviel sei wenigstens angemerkt zu Spuren einer Gewaltsamkeit, die sich bereits im (scheiternden) Zur-Sprache-bringen bemerkbar machen. Vgl. zu diesem Begriff Liebsch, Burkhard, Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist 2005. Austin, John L., How to do things with words, Cambridge / MA 1962. Vgl. Liebsch, Burkhard, »Das Versprechen im Horizont der neuzeitlichen Sozialphilosophie. Zwischen Hobbes und Nietzsche«, in: Philosophisches Jahrbuch, Heft 1, Bd. 113, 2006, S. 143-166, sowie meine Rezension: »M. Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens. Naturrecht – Institution – Sprechakt, München 2005«, in: Philosophischer Literaturanzeiger, Heft 2, Bd. 59, 2006, S. 111-116. Ich werde im Folgenden diesen Begriff verwenden, ohne damit eine instrumentelle Sprachauffassung nahe legen zu wollen. Zwar spricht nicht die Sprache, wie man mit Heidegger immer wieder behauptet (vgl. Riedel, Manfred, Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik, Frankfurt / Main 1990, S. 63), aber sie steht uns im ganzen nicht zur Verfügung. Man kann nur mit ihr beginnen, um sich in ihr mittels des Sprachgebrauchs zu bewegen. Wenn wir in der Orientierung an Verständnis und Verständigung die von der Sprache bereitgestellten Möglichkeiten dazu ergreifen, müssen wir doch auch häufig feststellen, dass sie uns nicht nur Wege bahnt, sondern auch verbaut. Das gilt auch für die Gelegenheiten und Umstände des Verständnisses und der Verständigung. Allemal haben sie mit Ordnungen des
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In der gegenwärtigen Diskussion um den Zusammenhang von Sprache und Gewalt wird sogar der Eindruck erweckt, als hätte sich die Gewalt restlos der Sprache bemächtigt. An die Stelle einer dem Anschein nach »unschuldigen«, nur der Aussage-Wahrheit verpflichteten Sprache wäre demnach eine Gewalt-Sprache getreten, die selbst dann, wenn man keinerlei gewalttätige Absichten verfolgt, eine gewisse, unvermeidliche Gewaltsamkeit heraufbeschwört. Diese Diskussion steckt zwar noch in den Anfängen, doch hat sie bereits gründlich aufgeräumt mit dem Vorurteil, Sprache und Gewalt seien unvereinbar. Damit steht nicht nur zur Diskussion, wie es um die Hoffnung steht, mittels der Sprache wenigstens zu geringerer Gewalt beizutragen. In Frage steht auch, welchen Begriff wir uns in dieser Perspektive überhaupt von einer Gewalt machen sollen, als deren Medium die Sprache selber fungiert. Ob der Verdacht zu Recht besteht, dass wir andere unvermeidlich mit oder in Worten verletzen, sei dahingestellt. Worauf es mir hier ankommt, ist nicht, eine derart weitreichende These zu verteidigen, sondern auf einige Schwierigkeiten aufmerksam zu machen, die sich uns in den Weg stellen, wenn wir den noch kaum begriffenen Zusammenhang von sprachlicher Gewalt einerseits und Verletzung andererseits zu denken versuchen. Diese Schwierigkeiten liegen in einem weit verbreiteten Vorverständnis, das einen generellen Gegensatz zwischen Sprache und Gewalt unterstellt (2.); in einer fragwürdigen Orientierung an »physischer« Gewalt, die auch auf das Denken sprachlicher Gewalt abfärbt und mit einer mangelnden Unterscheidung zwischen gewaltsam Verletzendem, der Verletzung und dem Verletzten einhergeht (3.); sowie darin, dass man selbst dort, wo symbolische Verletzungen diskutiert werden, primär auf absichtliche Gewaltausübung im Medium der Sprache abstellt, also auf Verletzung mit Worten, wohingegen subtilere Gewaltsamkeit in Worten weitgehend unbeachtet bleibt (4.). Auf diesen Unterschied werde ich am Schluss meiner Überlegungen mit Blick auf die vermutete Unvermeidlichkeit des Ausgeliefertseins an sprachliche Gewalt eingehen und dabei die Frage aufwerfen, ob sie uns zu abgründiger Sprachverachtung zwingt (5.) oder dazu herausfordert, nach Spielräumen rhetorischer Gegen-Macht zu forschen (6.).
2. Gewalt vs. Sprache? Die Aufgabe des Gewaltverstehens stellt sich besonders dort, wo der Gewaltcharakter von Gewaltsamkeiten und Gewalttaten gar nicht evident ist. Und das ist, Sprachgebrauchs, der Sprachspiele und der Lebensformen zu tun, die uns Zwänge, Anforderungen und Normen auferlegen, wobei man eine gewisse Gewalt auch darin erkennen kann, dass man sich überhaupt der Sprache bedienen muss (die nur mühsam, wenn überhaupt, verschiebbare Grenzen der Sagbarkeit impliziert), der Sprache der Anderen, die wir uns nicht aussuchen konnten. Selbst wenn wir eine neue Sprache lernen, wird es wiederum eine Sprache Anderer sein. Der Weg in eine Privatsprache, in ein Idiom, dessen Regeln wir allein festlegen könnten, steht uns in Wahrheit nicht offen.
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wie sich zeigen wird, vielfach der Fall, wo sich die Gewalt in der Sprache einnistet. Dass es an Evidenz fehlt, liegt freilich nicht nur an den Phänomenen, sondern auch daran, dass die Überzeugung vorherrscht, Sprache und Gewalt seien unvereinbar. Diese Überzeugung begegnet als grobes Vorurteil, aber auch als anspruchsvolle philosophische These. Ersteres besagt, Gewalt herrsche nur dann, wenn noch nicht oder nicht mehr miteinander gesprochen wird, aber nicht in der Sprache. Wenn Konflikte stumm gegeneinander ausgetragen werden, ohne dem Gespräch auch nur eine Chance zu bieten, herrscht demnach die Gewalt ebenso unumschränkt wie dann, wenn man das Gespräch nicht mehr für sinnvoll hält, d. h. wenn man die anderen als ansprechbare Wesen und als Wesen, die uns in Anspruch nehmen können, bereits aufgegeben hat. Wenn Menschen nicht (mehr) miteinander sprechen, können sie, so scheint es, im Grunde nur gegeneinander oder bestenfalls aneinander vorbei leben – was aber keinerlei Gewähr dagegen bietet, dass das indifferente Nebeneinanderherleben im Konfliktfall in ein gewaltsames Gegeneinander umschlägt. Wo man auf das Miteinander-sprechen keinen Wert mehr legt, ist es um die Möglichkeit, ein solches Gegeneinander zu verhindern, jedenfalls schlecht bestellt.8 Derrida geht so weit zu sagen, das gesprochene Wort sei bereits eine erste Niederlage der Gewalt.9 Bahnt sie sich nicht schon dann an, wenn man sich an Andere wendet? Wenn man an einen Anderen gewandt spricht, um ihn auf Erwiderung hin anzusprechen und vielleicht zu einer Verständigung zu gelangen, tritt dann nicht wirklich die Gewalt zurück, die zuvor geherrscht haben mag? Eröffnet nicht das Miteinander-Reden (umwillen gegenseitiger Verständigung) den Weg der Befreiung von der Gewalt?10 Unter Berufung auf Aristoteles hat man immer wieder behauptet, das Miteinander-Reden der Menschen als »sprechender Lebewesen« sei der eigentliche Ort menschlicher Gemeinschaft. Was die Menschen miteinander verbinde, realisiere sich wenn nicht ausschließlich, so doch vor allem in bzw. mittels der Sprache, der das Telos der gewaltlosen Verständigung innewohne.11 Gilt das nicht erst recht für die vernünftige Rede? In sehr folgenreicher Weise hat etwa der französische Philosoph Eric Weil den Standpunkt vertreten, der vernünftigen Rede sei eigentlich die Gewalt fremd und äußerlich. Vernunft und Gewalt schlössen einander aus.12 Hier kehrt nicht als Vorurteil, sondern in einer anspruchsvol8 Assmann, Aleida u. Jan, »Kultur und Konflikt«, in: Jan Assmann / Dietrich Harth (Hg.), Kultur und Konflikt, Frankfurt / Main 1990, S. 11-48. 9 Derrida, Jacques, »Gewalt und Metaphysik«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt / Main 1976, S. 178. 10 Vgl. Habermas, Jürgen, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt / Main 1984, S. 498. 11 Vgl. Ruggenini, Mario, »›Seit ein Gespräch wir sind …‹ Das Gespräch und die Gewalt«, in: Ursula Erzgräber / Alfred Hirsch (Hg.), Sprache und Gewalt, Berlin 2001, S. 251-264, hier S. 254, 262. 12 Weil, Eric, Logique de la philosophie, Paris 1950. Selbst Levinas bekennt sich zum Einfluss Weils, in: Schwierige Freiheit, Frankfurt / Main 1992, S. 15; vgl. Ricœur, Paul, Geschichte und Wahrheit, München 1974, S. 74.
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len philosophischen Theorie die Überzeugung wieder, Sprache und Gewalt seien im Grunde miteinander unvereinbar. Daraus folgt zwar nicht, dass im Reich der Sprache faktisch generell die Gewaltlosigkeit herrschen würde. Denn es leuchtet doch ohne Weiteres ein, dass es entscheidend darauf ankommt, wie sie gebraucht wird. Wenn Gewalt mittels und in der Sprache herrschen kann, so heißt das aber wiederum nicht, dass wir dazu verurteilt sind, uns auch im Gebrauch der Sprache der Gewalt auszuliefern. Den Philosophen (Eric Weil und andere, die ihm gefolgt sind) interessieren deshalb diejenigen Formen der Rede und des Diskurses, die sich der Gewalt zu widersetzen und so weit wie möglich zur Gewaltlosigkeit vorzudringen suchen. Demnach schließt der Gebrauch der Sprache zwar nicht eo ipso die Gewalt aus, eröffnet aber allererst die Möglichkeit dazu, die dann im vernünftigen Gespräch miteinander ergriffen und realisiert wird, dessen Sinn es wohl widersprechen würde, wenn man es absichtlich irgendwie unter Zuhilfenahme von Gewalt führen wollte. Ist nicht das vernünftige Gespräch seinem Sinn nach wenigstens eine vorbehaltlose Absage an die Gewalt? Kann sich nicht ein bestimmter, nämlich verständigungsorientierter, vernünftiger Gebrauch der Sprache weitestgehend von der Gewalt befreien?13 Mögen an der faktischen Möglichkeit auch Zweifel bestehen, wir gehen doch allemal davon aus, dass dieser Gebrauch der Sprache seinem Sinn nach ganz und gar der Gewaltlosigkeit verpflichtet ist. (Manche gehen noch weiter und behaupten, der Sinn der Sprache überhaupt sei nur von daher angemessen zu begreifen.14 Sei es auf der Ebene der Geltung des Gesagten, sei es auf der vorgängigen Ebene der Eröffnung eines Dialogs mittels des Grußes, der Anrede oder eines Anspruchs, der den Anderen zu einer gewaltfreien Begegnung einlädt.) So wird die Sprache wenn nicht faktisch, so doch ihrem Sinn nach als der Gewalt sich entziehend gedacht. Ob ein wahres Sprechen etwa je gänzlich der Gewalt entzogen sein könnte, ist dafür nicht maßgeblich. Im wahren Sprechen miteinander würde in dieser Perspektive auch dann, wenn eine solche Utopie als unerreichbar gelten müsste, ein Ideal der Gewaltlosigkeit wenigstens zum Vorschein kommen. Nun ist ein solches Ideal gewiss nicht gering zu schätzen. (Könnte uns nicht eine regulative Idee mit Blick auf dieses Ideal wenigstens den Weg zu geringerer Gewalt weisen?) Gleichwohl glaube ich, dass gerade die Überzeugung, Gewalt und Sprache bildeten einen strikten Gegensatz, unsere Sensibilität für Formen der Kontamination von Gewalt und Sprache verkümmern lassen kann. Neigen wir nicht aufgrund dieser Überzeugung dazu, die Gewalt von vornherein allenfalls als äußerliche Verunreinigung oder Deformation der Sprache aufzufassen, statt erst einmal der Frage unvoreingenommen auf den Grund zu gehen, wie tiefgrei13 Vgl. Kopperschmidt, Josef, Rhetorica, Hildesheim 1985, S. 153 ff., ders. (Hg.), Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus, München 2000, S. 20, 30, 32. 14 Vgl. Böhler, Dietrich, »Dialogreflexion als Ergebnis der sprachpragmatischen Wende«, in: Trabant (Hg.), Sprache denken, a.a.O., S. 145-162.
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fend die Gewalt die Sprache unterwandert, um in ihr heimisch zu werden? Ist die Gewalt nur ein fremder Eindringling im Haus der Sprache? Oder gleichsam ein ungebetener Gast, der bleibt und auf unheimliche Weise in ihr Platz greift? Müssen wir uns, wenn es sich so verhält, deshalb auch von der idealen Möglichkeit einer gewaltlosen Sprache verabschieden? Ich möchte diese Frage hier nicht gewaltsam vorentscheiden, also nicht die Sprache als unvermeidlich gewaltsam denunzieren, um sie mit Verachtung zu strafen. Denn selbst wenn es sich herausstellen sollte, dass der Sprache bzw. dem Gebrauch, den wir von ihr machen, unvermeidlich Momente der Gewaltsamkeit (wenn nicht sogar der Gewalttätigkeit) anhaften, würde das nicht die Suche nach möglichen Spielräumen geringerer Gewalt oder den Versuch erübrigen, immer von Neuem solche Spielräume zu eröffnen – sei es auch nur durch einen Gruß, in dem sich ein Subjekt ungeschützt in seiner ganzen Verletzlichkeit exponiert.
3. Sprachliche Verletzung und Verletzlichkeit Nun haben wir gerade von dieser Verletzlichkeit bislang keine angemessene Vorstellung, obgleich sich offenkundig die Gewalt nicht ohne die Verletzung denken lässt, die sie – in welcher Form auch immer – zufügt. In einer aktuellen Einleitung in die »Soziologie der Gewalt« wird behauptet: »Gewalt ist körperlicher Einsatz, ist physisches Verletzen und körperliches Leid – das ist der unverzichtbare Referenzpunkt aller Gewaltanalyse.«15 Statt von Referenz würde ich lieber von einem Ausgangspunkt sprechen. Gewiss ist physisch Erlittenes der unmittelbar einleuchtendste Ausgangspunkt der Erfahrung von Gewalt als Gewalt. Das Gewaltsame an der Gewalt, das, was sie gewissermaßen zur Gewalt macht, wird zunächst als physische Verletzung erfahren. Gewalt »tut weh«. Als mit Absicht zugefügtes Übel bewegt sich sie immer schon an der Grenze zum Bösen. Doch kann sich die Gewalt weit von der Sichtbarkeit zugefügter Verletzungen entfernen, so weit, dass sie schließlich überhaupt keine physische Spur mehr hinterlässt – und dennoch »einschneidend« verletzt. Wie aber, das ist nicht leicht zu verstehen. Wenn wir nach dem Zusammenhang von Sprache und Gewalt fragen, so müssen wir von vornherein damit rechnen, dass wir es mit physisch nicht (zumindest nicht zureichend) fassbaren Verletzungen zu tun haben. Folglich bleibt uns gar nichts anders übrig, als die Gewalt nicht vom Mittel her, das verletzt, sondern von der erfahrenen Verletzung bzw. vom Verletzten her verständlich zu machen. Mehr noch: letztlich ist auch die physische Gewalt als Gewalt nur von der erfahrenen Verletzung her begreiflich zu machen. Wo allerdings keine physische Wirkung festzustellen ist, entbehren wir jeder evidenten Grundlage für eine einleuchtende Bestimmung dessen, was eigentlich das Gewaltsame an der Gewalt ist. 15 Trotha, Trutz von, »Zur Soziologie der Gewalt«, in: ders. (Hg.), Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, S. 9-58, hier S. 26.
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So sinnvoll nun die geltend gemachte Unterscheidung (zwischen den Mitteln der Gewalt und ihrer verletzenden Wirkung) sein mag, so sehr beschleicht uns doch ein gewisser Zweifel, ob es nicht geradezu obszön ist, angesichts mit Absicht zugefügter Verletzungen etwa noch zu fragen, was eigentlich das Gewaltsame an der Gewalt ist. Dennoch müssen wir uns dieser Frage stellen, wenn wir uns mit dem Problem konfrontiert sehen, ob die Gewalt nicht auch in der Sprache verwurzelt ist, ob und inwiefern man also in und mit Worten verletzen kann. Keineswegs geschieht beides immer in offensichtlicher Form. Und das in und mit Worten Verletzte, das getroffene Subjekt der Gewalt in der ihm eigenen Verletzbarkeit, ist noch kaum angemessen ins Blickfeld der Aufmerksamkeit gerückt.16 Wenn Worten gewaltsame »Taten folgen«, ziehen sie Verletzungen nach sich. Aber können nicht auch Worte wie Waffen eingesetzt werden, so dass sie selber »treffen« und verletzen? Lassen wir uns, wenn wir so fragen, nur von einer Metapher in die Irre führen? Immerhin fließt selbst bei »einschneidend« verletzenden Worten kein Blut; und selbst wenn jemand infolge der Rede eines Anderen (oder infolge seines Schweigens) zerbricht, bleibt er äußerlich eventuell unversehrt. Würden wir aber deshalb in einem solchen Fall nicht von Verletzung sprechen, so würde selbst eine derartige, tiefgreifende Gewalt gleichsam durch die Maschen unserer Sprache fallen. Unumgänglich bedürfen wir »lebendiger« Metaphern (Ricœur), »bloßer Worte«, um eine Gewalt auf den Begriff zu bringen, die nicht nur in einen Körper, sondern auch in das leibhaftige Selbstsein eines Anderen eingreift. Das geschieht zwar auf symbolischem Wege; aber das heißt nicht, dass Verletzung in und mit Worten nur Wirkungen im Medium bloßer Bedeutung zu zeitigen vermöchte. Das von sprachlicher Gewalt betroffene Subjekt ist allemal ein inkarniertes, das nur als leibhaftiges Selbst existieren (und symbolischen Schaden erleiden) kann. Die cartesianischem Erbe zu verdankende künstliche Trennung einer Ebene reiner Bedeutung von der Ebene bloßer Körperlichkeit wird den Phänomenen sprachlicher Gewalt, die Verletzung in und mit Worten zufügt, nicht gerecht. So gesehen bedarf gerade die nicht-metaphorische Rede von einer bloß physischen Verletzung, die man irreführenderweise für die maßgebliche hält, besonderer Rechtfertigung. Ist sie am Ende selber eine gewaltsame Abstraktion?17
16 Vgl. meine Rezension von Kleemeier, Ulrike, Grundfragen einer philosophischen Theorie des Krieges, Berlin 2002; Münkler, Herfried, Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, Weilerswist 2004; Hirsch, Alfred, Recht auf Gewalt? Spuren philosophischer Gewaltrechtfertigung nach Hobbes, München 2004, in: Philosophisches Jahrbuch, Jg. 112/II, 2005, S. 478-486. 17 Wird die Phänomenologie der Leiblichkeit übersprungen, so ergeben sich in sprachtheoretischer Gewaltanalyse rasch fragwürdige doppelte Wahrheiten wie die Unterscheidung physischer Verletzung hier, symbolischer dort, als ob die eine mit der anderen nichts zu tun hätte. Das Gespenst des cartesianischen Erbes geht noch immer um; vgl. Liebsch, Burkhard, »Descartes, Merleau-Ponty und das Selbst. Über-
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Dieses Beispiel verdeutlicht die erheblichen Schwierigkeiten, die nach wie vor bestehen, wenn man sich auf sprachlich sensible Art und Weise dem Zusammenhang von Sprache und Gewalt nähern möchte. Es stellt sich nämlich heraus, dass die Worte, die wir dabei verwenden, ihrerseits sehr leicht diesen Zusammenhang reproduzieren. Das kann bereits dadurch geschehen, dass selbst für das eigentlich Gewaltsame an der Gewalt – das ist die Verletzung, die sie bedeutet – keine oder doch keine angemessenen Worte zur Verfügung stehen und dass sie nicht einmal gesucht werden. Indem wir von Verletzung als Inbegriff der Gewaltsamkeit der Gewalt sprechen, verfügen wir gleichsam nur über eine Bestimmung der Richtung, in der nach Worten zu suchen ist, wobei sowohl die Erfahrung der Verletzung selber als auch die Hinsicht der Verletzung zunächst noch ganz unbestimmt ist. Deshalb bleibt es vorläufig ein Desiderat, wenigstens eine Annäherung an die Frage zu versuchen, was genau eigentlich die sprachliche, in und mit Worten verübte Gewalt zur Gewalt macht und wie sie verletzen kann. Diese Frage lässt sich aber auf direktem Wege nicht beantworten, denn der Gewaltcharakter sprachlicher Gewalt kann in vielen Fällen nicht als geklärt gelten, so dass wir dazu herausgefordert sind, die fragliche Gewalt überhaupt erst als Gewalt zu verstehen. Diese Aufgabe ist eine Sache der Hermeneutik, die in jeder anderen Zugangsweise zur Gewalt vorausgesetzt ist, so wenig das auch gesehen wird.18 Nicht selten wird der Sinn der Frage, was die Gewalt zur Gewalt macht, gar nicht erkannt. Man glaubt vielmehr, die Gewalt spreche für sich selbst und bringe sich gleichsam von selbst zum Vorschein, so dass man ohne Weiteres, in der Regel auf der Basis ihrer Verurteilung, zu ganz anderen Problemen übergehen könne: etwa in polizeilicher oder rechtlicher Perspektive zur Frage der Strafbarkeit bereits begangener Gewaltdelikte und ihrer Ahndung; in pädagogischer Perspektive zu Fragen der Prävention; in psychologischer Sicht zu Fragen nach biografischen Voraussetzungen eines individuellen Weges in die Gewalt; in soziologischer oder historischer Sicht zur Rekonstruktion der Genese kollektiver Formen der Gewalt, usw. Die Gewalt wird als Gewalt einfach als gegeben vorausgesetzt. Kaum je wird nach ihrer Gewaltsamkeit selber gefragt. Bei physischen Gewalttaten, auf die man im öffentlichen Reden über Gewalt meist die Aufmerksamkeit konzentriert, scheint sich diese Frage ohnehin zu erübrigen. Gehen physische Gewalttaten mit offenkundig destruktiver Wirkung einher, so scheint es keiner näheren Begründung zu bedürfen, was das Gewaltsame an ihnen ist.19 legungen zur Nachträglichkeit neuzeitlicher Philosophie«, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie, Heft 1, 2006, S. 109-123. 18 Zur Hermeneutik der Gewalt vgl. Liebsch, Burkhard / Dagmar Mensink (Hg.), Gewalt Verstehen, Berlin 2003. 19 Ich betone: »scheint«, denn nicht einmal derart eklatante Formen der Gewalt wie die viel zitierten »ethnischen Säuberungen« sind bislang hinsichtlich ihres vielfältig verletzenden Charakters wirklich verstanden worden. (Einmal abgesehen davon,
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Die mehr oder weniger alarmierte Berichterstattung über Phänomene wie »fremdenfeindlich motivierte« Gewalt, Rassismus und Diskriminierung ruft oft dringlich dazu auf, Abhilfe zu schaffen, sei es durch ihrerseits legitimierte Gegen-Gewalt, deren Monopol dem Staat zusteht, sei es durch Prävention auf dem Wege sozialer Arbeit etc.20 Dabei schiebt sich die Diskussion der öffentlich verlangten Bekämpfung der Gewalt nicht selten derart in den Vordergrund, dass demgegenüber das Gewalt-Verstehen zu kurz kommt – mit der Folge, dass beund verurteilt wird, was man gar nicht angemessen verstanden hat. So kann in der Auseinandersetzung mit Gewalt eine Gewaltsamkeit eigener Art liegen. Gewiss verfügen wir über ein ganzes Spektrum von Begriffen, die Verletzungen benennen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass sie meist die Mittel oder Akte betreffen, durch die die Verletzung bedingt ist. Viel seltener kommt die Erfahrung der Verletzung als Wirkung der erlittenen Gewalt zur Sprache. Noch seltener ist von der Verletzlichkeit des von der Gewalt getroffenen Subjekts selber die Rede. Wir verfahren gewöhnlich derart objektivistisch mit der Gewalt, dass als Antwort auf die Frage, was eigentlich das Gewaltsame an der Gewalt ist, ein einfacher Hinweis auf den Schlag, den Stich oder eine tödliche Verletzung zu genügen scheint. »Wir schlagen, treten, prügeln, ohrfeigen, erschießen, ›hauen in die Schnauze‹, überwältigen, fesseln, brechen den Arm, schlagen das Bein ab, stoßen ein Messer in den Körper, schwingen das Beil.«21 Liegt aber darin wirklich die Gewaltsamkeit der Gewalt? Die ausschließliche Fokussierung auf physische Gewalt verführt dazu, diese Frage mit dem Hinweis auf vermeintlich in ihrer Gewaltsamkeit offenkundige Akte für erledigt zu halten. In diesem Falle wird das Gewalt-Verstehen schon dadurch blockiert, dass zwischen dem Mittel bzw. dem Akt der Gewalt, der verletzt, einerseits und der erfahrenen Gewalt als solcher andererseits kein Unterschied gemacht wird. Wir verbauen uns von vornherein jeden adäquaten Zugang zum Zusammenhang von Sprache und Gewalt, wenn wir nur von der physischen Verletzung her denken und dazu noch das Verletzende mit der effektiven Verletzung gleichsetzen.22
dass auch die Rede von »Säuberung«, die dieses Wort nicht in Anführungszeichen setzt, einer spezifischen Gewaltsamkeit verdächtig ist.) Überhaupt ist bislang die Gewalt-Beschreibung – im Gegensatz zur Gewalt-Beurteilung und -Verurteilung – viel zu kurz gekommen. 20 Ein typisches Beispiel: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.), Das Gewalt-Dilemma, Frankfurt/ Main 1994. 21 Trotha, »Zur Soziologie der Gewalt«, a.a.O., S. 26. 22 Im Übrigen sollte man nicht übersehen, dass die physische Gewalt speziell dort, wo sie mit perfider Absicht zugefügt wird (wie in der Folter), kaum je von nicht sichtbarer, etwa psychischer Gewalt zu trennen ist und dass gerade die moderne Kunst der Folter es darauf angelegt hat, keine sichtbaren Spuren mehr zu hinterlassen. Um extreme Gewalt zu verüben, genügt es, Menschen stundenlang stehen, tagelang nicht schlafen oder nichts mehr sehen zu lassen (vgl. Hauskeller, Christine, »Subjekt und Folter«, in: Scheidewege, Bd. 31, 2001/02, S. 212-231).
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Selbst wo noch eine physische Verletzung stattfindet und offenkundig ist, wie beim Schlag ins Gesicht liegt die effektive Verletzung oft gerade nicht in der physischen Wirkung, sondern in einer symbolischen Dimension – etwa in der erfolgten Demütigung unter den Augen Anderer. Dergleichen können wir überhaupt nicht verstehen, wenn wir in einer fragwürdig objektivistischen Einstellung die erlittene Gewalt mit der (physischen) Verletzung identifizieren, mit der sie zugefügt wird. Wäre beides zu identifizieren, dann müsste man ja schließen, dass dort, wo nichts physisch Verletzendes festzustellen ist, auch keine Gewalt stattfindet. Es ist beileibe keine Wortspielerei, zwischen dem Verletzenden, der Verletzung und dem Verletzten zu unterscheiden. Das Versäumnis, diese Unterscheidung zu treffen, kann nämlich seinerseits sprachliche Gewaltsamkeit bedeuten, wenn nur von verletzenden Dingen und Akten die Rede ist, aber gerade das, was sie zur Folge haben, unthematisch bleibt. So kann es sein, dass selbst in einem kritischen Diskurs, der die Gewalt als solche zum Vorschein zu bringen sucht, um für Abhilfe zu sorgen, die Erfahrung der Gewalt selbst noch einmal zum Schweigen gebracht wird.23 Demgegenüber ist die Unterscheidung zwischen dem Verletzenden, der Verletzung und dem Verletzten ein unerlässlicher erster Schritt zu einem angemessenen Gewalt-Verstehen. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung gehe ich im Folgenden zunächst in deskriptiver Einstellung Indizien für Gewalt in der Sprache (die also durch Sprache geschieht) nach, um dann nach einer subtilen Gewalt zu fragen, die weniger mit Worten explizit zugefügt wird, als vielmehr in Worten widerfährt.
4. Auf dem Weg zu einer Phänomenologie sprachlicher Gewalt Mit Recht fordert der vorhin zitierte Soziologe Trotha, eine »strenge Phänomenologie« und eine »Ethik der Genauigkeit«24 ein, die den Phänomenen der Gewalt überall dort nachgeht und sie angemessen zur Sprache zu bringen sucht, wo sie sich wenigstens ansatzweise zeigen. Doch müssen wir nun auch von einer solchen Phänomenologie und Ethik verlangen, von der üblichen Fixierung auf »eklatante«, offensichtliche Gewaltanwendungen abzusehen und die Gewalt auch dort aufzuspüren, wo sie sich unserer Aufmerksamkeit vielfach entzieht, weil sich auf einer bloß physischen Ebene nichts beobachten lässt. Von dieser Ebene können wir zwar ausgehen, wenn wir Gewalt verstehen wollen, aber wenn wir diese Ebene nicht auch wieder verlassen, werden wir niemals angemessen in Erfahrung bringen, wie es um den Zusammenhang von Gewalt und Sprache bestellt ist. 23 Vgl. die entsprechenden Hinweise in Catharine MacKinnons energischer Diskussion der Pornografie in: Nur Worte, Frankfurt / Main 1994. 24 Trotha, »Zur Soziologie der Gewalt«, a.a.O., S. 20.
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Auf der Spur dieses Zusammenhangs müssen wir nicht nur (1) einer Sprache der Gewalt nachgehen, die sich oft genug lauthals und unmissverständlich äußert, so dass die Gewalt am Gesagten erkennbar ist. (Man denke an Beispiele wie Verunglimpfung, Beleidigung, Beschimpfung, Herabsetzung, Demütigung, usw.) Wir müssen darüber hinaus (2) nach Gewalt in der Sprache, d. h. Gewalt in sprachlicher Form forschen, die im Gesagten nur kaschiert begegnet und normalerweise (2.a) entweder auf verheimlichte oder auf verzerrte kommunikative Absichten zurückzuführen ist, die aber auch dann vorliegen kann, (2.b) wenn Absichten nicht im Geringsten auf die Spur sprachlicher Gewalt führen und sie dennoch heraufbeschwören.25 Zu 1: Die Sprache der Gewalt gebraucht nicht »nur Worte«, denen »Taten folgen«; sie lässt das Wort selbst zur Tat werden und tut schlimme Dinge in und mit Worten.26 Spätestens seit Austin sind wir daran gewöhnt, jedes Sprechen, das sich an Andere wendet, als Handeln zu begreifen. Aber die philosophische Sprachanalyse hat wie gesagt noch wenig dazu beigetragen, zu verstehen, wie Gewalt durch Sprache widerfahren und ausgeübt werden kann. Nicht selten dient die Sprache der Anbahnung späterer, massiver Gewalt, die geradezu »herbeigeredet« wird. Dafür lassen sich zahlreiche Beispiele nennen. In unseren Tagen ist wieder viel von einem angeblichen Kampf der Kulturen die Rede; und zwar so, dass der Anschein erweckt wird, zwischen miteinander unvereinbaren Lebensformen könne es im Grunde nur eine mehr oder weniger gewaltsame Auseinandersetzung geben. Gewiss ist Huntington, der dieses Schlagwort vom Clash of 25 Schon der bloße Gebrauch eines subjektiv oder objektiv diskriminierenden Namens kann Gewaltsamkeit mit sich führen. Deshalb ist hier stets die Frage der Sensibilität bzw. der Sensibilisierung für Gewalt als Gewalt im Spiel, für die die Wahrnehmung besonders dann geschärft werden muss, wenn die Schwelle zur Gewalt nicht eindeutig markiert ist. 26 Der provisorische Charakter der hier angestellten Überlegungen sollte die Gewaltsamkeit eines verletzenden Schweigens nicht übersehen lassen, das Andere nicht nur missachtet oder es an Anerkennung fehlen lässt, sondern gewissermaßen so tut, als ob der Andere überhaupt nicht existiere. Vor der Achtung und Anerkennung liegt allemal die Wahrnehmung des Anderen, die, wenn sie ausbleibt oder verleugnet wird, an die Wurzel des Daseins Anderer geht. (Für Levinas »beginnt« die Gewalt gerade dort, wo man »so tut«, als ob man unter Anderen allein wäre.) Auch in diesem Falle kann das »Maß« der erst zu ermittelnden Gewalt zunächst nur das Subjekt sein, das sich vom Schweigen, vom Verschweigen Anderer oder von schlichtem Ausbleiben etwa eines Grußes auf verletzende Art und Weise getroffen erfährt. Die Perspektive des gewaltsam Getroffenen derart Ernst zu nehmen, kann in meinem Verständnis allerdings nicht darauf hinaus laufen, ihr von vornherein gewisse kompensatorische Ansprüche etwa einzuräumen. Schließlich kann sie auch auf die Spur einer notorischen Kränkbarkeit führen, die sich durch sprachliche Gegen-Gewalt an Anderen schadlos hält. Selbst in diesem Falle aber ergibt sich die fragliche Gewaltsamkeit stets vom Getroffenen, nicht vom Redenden her, der stets gewärtigen muss, niemals im vorhinein genau wissen zu können, was und wie Gesagtes oder nicht Gesagtes Andere verletzt. Dieses Nicht-Wissen konfrontiert jeden, dem daran liegt, auf möglichst wenig gewaltsame Art und Weise zu kommunizieren, mit einem außerordentlich hohen, wenn nicht unerfüllbaren Anspruch.
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civilizations (wieder) in die Welt gesetzt hat, weit davon entfernt, auch einem Krieg der Kulturen das Wort zu reden. Aber ist er sich auch dessen bewusst, wie leicht die Rede vom Kampf eine rhetorischen Verschärfung erfahren und auf diese Weise in den Krieg münden kann? Wir haben die Apotheose eines regelrechten »Krieges der Kulturen«, der im Vorfeld des Ersten Weltkrieges selbst von der überwiegenden Mehrheit der deutschen »Intelligenz« herbeigeredet worden ist, noch in Erinnerung.27 Die nicht zuletzt aus dieser Apotheose resultierende kollektive Verfeindung wirkte in diesem Falle derart tiefgreifend, dass eine »Demobilisierung« des Denkens nach 1918 gar nicht mehr ohne weiteres möglich schien. Der »Krieg in den Köpfen«, wie es der Historiker Krumeich nannte, tobte noch bis zum Zweiten Weltkrieg weiter.28 Tatsächlich ist die Demobilisierung der Geister bzw. des Geistes der Revanche angesichts der Rede von »offenen Rechnungen« (man denke nur an Versailles) so wenig gelungen (oder auch nur versucht worden), dass das Ende des Ersten Weltkriegs geradewegs zur breitenwirksamen Rechtfertigung neuer, verbrecherischer Angriffskriege herhalten konnte. Auch dem Zweiten Weltkrieg ging eine intensive rhetorische Vorbereitung voraus, die ganze Völker und Nationen buchstäblich »zum Abschuss« frei gab. Im heutigen Rückblick auf die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges ist die Mitschuld derer, die zum Kampf oder Krieg angeblich miteinander unvereinbarer Kulturen keine Alternative sehen konnten, offensichtlich. Wer die interkulturellen und inter-nationalen Verhältnisse auch heute noch lediglich als eine Herausforderung zum kollektiven Kampf ums Überleben auffassen kann, wird im Lichte dieser Erfahrung sehr schnell selber zu einer Bedrohung für Andere und als konfliktverschärfend wahrgenommen. In diesem Zusammenhang sollte man sich an die sprachphilosophische Einsicht erinnern, dass Worten nicht nur »Taten folgen«, dass ihre Äußerung vielmehr ein (illokutionäres und perlokutionäres) Tun ist. Hinsichtlich der Gewalt, die sie auf symbolischem Wege heraufbeschwören können, belasten sie uns mit voller Verantwortung. Zu 2: Mag der Zusammenhang von Sprache und Gewalt im Fall eines bedrohlichen Herbeiredens von Gewalt noch deutlich sein, die im Gebrauch der Sprache kaschierte Gewalt ist es meist nicht. Als ein Beispiel kann hier die rhetorische Technik des Überredens dienen, die schon in der antiken Philosophie der Gewaltsamkeit verdächtigt worden ist. Platon hat sie in seiner Kritik der Sophisten mit Lüge, Schmeichelei und Heuchelei in Verbindung gebracht. (Heute setzen manche die Propaganda und die Werbung hinzu.) Aber was an der Überredung 27 Vgl. Gay, Peter, Kult der Gewalt, München 1996, S. 62, 83; Mommsen, Wolfgang J., »Einleitung«, in: ders. / Elisabeth Müller-Luckner (Hg.), Kultur und Krieg: Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, S. 1-16; Böhme, Klaus, Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1975. 28 Vgl. Wehler, Hans-Ulrich, »Die Urkatastrophe«, in: Der Spiegel, Heft 8, 2004, S. 82-89, hier S. 82 ff.
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sollte denn Gewalt sein? Zumal wenn sie außerordentlich geschickt erfolgt, merken die Überredeten kaum mehr, wie ihnen geschieht, d. h. wie sich ihre Meinungen und selbst ihre Wahrnehmungen unmerklich und »hinterrücks« in ganz andere verwandeln. Hier geraten wir in bemerkenswerte Schwierigkeiten mit der eingangs angedeuteten Auffassung der Gewalt von der erfahrenen Verletzung her. Selbst eine zunächst der Gewaltsamkeit verdächtigte Technik der Überredung, die sich vergifteter Worte bedient, um etwa intrigant gegen andere aufzustacheln, ist nur mit Mühe als Form der Gewalt verständlich zu machen, wenn das Gesagte dem Überredeten derart subtil »unter die Haut geht«, dass er nicht einmal merkt, was ihm da widerfährt. Gewiss kann man argumentieren, dass eine intrigante Überredung Gewalt gegen Dritte impliziert. Doch wird auch das »Opfer« einer Überredung in irgend einem Sinne verletzt, so dass der Verdacht der Gewaltsamkeit gegen den Versuch der Überredung mit Recht besteht? Immerhin ist ein Subjekt, das sich vergifteter Worte anderer bedient, ohne sich davon angemessen Rechenschaft ablegen zu können, in dieser Hinsicht sozusagen nicht mehr es selbst. Es wird sich selbst enteignet. Am Ende bedient es sich sprachlich nicht mehr seines eigenen Verstandes, wie es die Aufklärung mit Kant verlangte, sondern der vergifteten Sprache des Anderen. Bedenken wir aber, dass uns die Sprache, die wir sprechen, ohnehin nicht als Selbstbesitz gehört. Wir haben sie ganz und gar Anderen zu verdanken, von denen wir sie übernommen haben im Prozess eines langjährigen Erwerbs, hinter den unter keinen Umständen mehr zurückzugelangen ist.29 Nichts versichert uns in unserem Reden einer reinen Autonomie im Gebrauch der Worte, die von keinerlei Gewalt geprägt wäre, wie sie etwa gewissen vergifteten Worten zu verdanken ist, die wir allzu oft unbesehen gebrauchen. Wenn unser ganzes Sein, so weit es verstanden werden kann, »Sprache ist« (wie Gadamer sagt), wenn wir aber nicht aus ihr aussteigen können, dann vermögen wir auch die mit ihr womöglich ererbte Gewalt nicht wirklich loszuwerden; und wir können keine eindeutige Grenze ziehen zwischen uns selbst, als Subjekten des Sprachgebrauchs, einerseits und den Worten andererseits, derer wir uns in eventuell Gewalt heraufbeschwörender Art und Weise bedienen. Was so hinsichtlich der Sprache im Allgemeinen gilt, gilt auch für die Überredung im Besonderen. Auch in ihrem Falle können wir keine klare Grenze ziehen zwischen einem von anderen auf subtile Weise übernommenem Sprachgebrauch und uns selbst. Wir müssen statt dessen darauf bauen, dass uns wenigstens nachträglich die Möglichkeit grundsätzlich offen steht, einen bereits übernommenen Sprachgebrauch zu kritisieren und gegebenenfalls zurückzuweisen, den wir als in Bezug auf uns selbst oder mit Bezug auf Andere als gewalt29 Spuren erlittener Gewaltsamkeit, die schon allein darin liegt, dass man die »Sprache der Anderen« sprechen muss, geht eindrucksvoll Sartre am Beispiel Flauberts nach; vgl. Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821 bis 1857, Reinbek 1977, S. 36 ff., 366 ff.
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sam einstufen; und zwar selbst dann, wenn wir gar nicht mit Worten Gewalt ausüben wollen. Im Vorhinein kann man aber niemals genau wissen, inwiefern im Gebrauch der Sprache Gewaltsamkeit liegt, die bereits dadurch ins Spiel kommen kann, dass wir uns vergifteter Worte bedienen, ohne auch nur darüber nachzudenken oder dazu die Möglichkeit zu haben. (Ist nicht die Gedankenlosigkeit das Medium par excellence, in dem sich die Gewalt in der Sprache fortsetzt?)30 Deshalb besteht der Verdacht einer gewissen Gewaltsamkeit des Redens grundsätzlich auch dann, wenn wir uns nicht in und mit Worten gewalttätig verhalten. Ich mache hier einen terminologischen Unterschied, indem ich in diesem Fall von medialer Gewaltsamkeit spreche, die gerade nicht darin liegt, dass wir Gewalt (eventuell heimlich) »ausüben« wollen oder dass unsere kommunikativen Absichten verzerrt sind (s. o. 2.a). Sie ist nicht primär ein Aspekt unserer Absichten, sondern hat damit zu tun, wie wir etwas anderes indirekt tun, indem wir genau das tun, was wir zu tun beabsichtigten (2.b). Versuche ich beispielsweise zu überzeugen, indem ich mich in bester Absicht an den Anderen wende, dabei aber die Schwäche meiner Argumente mit der Lautstärke meiner Redeweise kompensiere, ohne das recht zu bemerken, verfahre ich bereits gewaltsam. Die Gewaltsamkeit der Stimme konterkariert die kommunikative Absicht dessen, was ich sage. Die Gewaltsamkeit des Redens steht der vermeintlichen Gewaltlosigkeit seiner Absicht, die nicht auf bloße Überredung abzielt, im Wege und widerstreitet ihr.31 Ich möchte im Folgenden diesen Gedanken einer medialen, mit dem kommunikativen, verständigungsorientierten Gebrauch der Sprache einhergehenden Gewaltsamkeit noch etwas vertiefen. Dabei sehe ich ab vom einfachsten Fall der offenkundigen Verletzung mit Worten, wo die Sprache mit Absicht zum Instru30 Diese Frage soll nicht nahe legen, eine einfache Aufklärung über den Zusammenhang von Gewalt und Sprache würde der »Gedankenlosigkeit« schon vorbeugen bzw. wirksam entgegentreten können. Rhetorizität (nicht als historische Ausprägung von »Rhetorik« oder als Absicht der manipulativen Überredung Anderer, sondern als universale Dimension menschlicher Rede überhaupt) lässt sich aus unserem Sprachgebrauch gar nicht wegdenken. 31 Ein schönes Beispiel gab vor Jahren der Transzendentalpragmatiker Karl-Otto Apel im Funkkolleg Praktische Philosophie / Ethik bei dem Versuch ab, den »Kritischen Rationalisten« Karl Albert von den bekannten, angeblich mit jeder vernünftigen Rede erhobenen Geltungsansprüchen zu überzeugen. Als Albert mehrfach die fällige Einsicht verweigerte, sah Apel keine andere Möglichkeit mehr, als laut zu werden. Was ein vorbildliches Gespräch hätte werden sollten, drohte im Eklat zu enden, weil der eine die Weigerung des anderen nicht mehr als vernünftig gelten lassen konnte, während letzterer offenbar glaubte, sich der im Namen der Vernunft auf ihn ausgeübten verbalen Gewalt widersetzen zu sollen. In diesem Falle konterkarierte die rhetorische Art der Auseinandersetzung den Sinn der angeblich gesuchten Verständigung. Aber darin ist kein so genannter »performativer Widerspruch« zu erkennen, insofern die Art und Weise der Rede nicht selber etwas Gesagtes, ein Argument ist, das mit einem Geltungsanspruch in einen Widerspruch geraten könnte. Eher wäre von einem Widerstreit zwischen verschiedenen Registern der Rede auszugehen.
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ment der Verletzung wird. (Beschimpfung, Beleidigung, Demütigung, Disqualifizierung – am Ende auch des Menschseins.) Statt dessen konzentriere ich mich auf normalen Sprachgebrauch, um an ihm Gewaltsamkeiten deutlich zu machen, die vielfach gar nicht als solche realisiert werden und nicht in unserer Absicht liegen. (Ich lasse dahingestellt, ob sich derartige Gewaltsamkeiten überhaupt vermeiden lassen – etwa in einer Rede, die sich im Gegensatz zum normalen Sprachgebrauch dezidiert der Absicht verpflichtet, nicht zu verletzen – und zwar in keiner Weise. Was bedeuten würde, eine Utopie der Sprache Wirklichkeit werden zu lassen.) Gehen wir von der allgemeinen Grundstruktur des Sprachgebrauchs aus, in dem folgende (jeweils unterschiedlich zu gewichtende) Momente festzustellen sind: (1.) Jemand (2.) spricht (3.) zu / mit jemandem (4.) über etwas (5.) in einem Kontext (und verfolgt dabei eine gewisse Absicht – nehmen wir an, die Absicht der Verständigung als Sinn der Kommunikation). Zu 1: Nicht einmal die schlichte Tatsache, dass jemand spricht, ist über den Verdacht der Gewaltsamkeit völlig erhaben. Wer »das Wort ergreift«, nimmt unweigerlich dem Anderen, der nur noch erwidern kann, die Chance dazu. Bereits der scheinbar harmlose Beginn des Gesprächs kann bedeuten, die Initiative »an sich zu reißen« und so Andere zum Schweigen zu bringen. Wenn erst einer anstelle oder für jemand anderen glaubt sprechen zu dürfen, haben wir Anlass zu fragen, ob das ungefragt oder autorisiert geschieht. Unter Umständen maßt sich der Sprecher eine nicht autorisierte Rolle an und bringt durch seine Worte gleichzeitig die Stimme anderer zum Schweigen. Wenn das Reden der einen das Schweigen der anderen als erzwungene Kehrseite hat, so zieht sich bereits die Subjektposition dessen, der spricht, den Verdacht der Gewaltsamkeit zu. In diesem Falle ist die fragliche Gewaltsamkeit weniger eine Angelegenheit des Gesagten, sondern bereits eine Frage des Ortes, den wir im Reden einnehmen und besetzen, so dass ihn nicht andere einnehmen können. (Dass man manchmal unvermeidlich für andere sprechen muss, ja dass man sogar die Verpflichtung dazu haben kann, bleibt davon unberührt. Allerdings zieht auch das die Frage nach sich, ob dabei nicht Gewaltsamkeit im Spiel ist – etwa die Gewaltsamkeit eines gewissen Paternalismus, einer unzulässigen Bevormundung oder Enteignung der Stimme Anderer gerade durch deren wohlmeinende Vertreter.) Zu 2: Jemand spricht. Aber wie? Niemals kommt das Sprechen einer einfachen »Verlautbarung« gleich. Stets sind Modalitäten, Arten und Weisen und Bedingungen der Rede im Spiel, auf die wir jeweils Rücksicht nehmen müssen. Wo Reden in energisches Einreden auf Andere übergeht, das die Adressaten bedrängt, ist ebenso Gewaltsamkeit im Spiel wie wenn man dem Anderen in ungebührlicher Vertrautheit buchstäblich »zu nahe tritt«. Zu 3: So selbstverständlich es scheint, dass einer zum anderen spricht, so subtil kann sich Gewaltsamkeit genau darin einschleichen, wie der Andere sich angesprochen fühlt. So kann es dem Adressaten widerfahren, dass man selbst in seiner Anwesenheit eher über ihn spricht als mit ihm, so dass er nur als Objekt der
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Rede, nicht aber als freies Subjekt möglicher Erwiderung angesprochen wird. Eigentlich wird er in diesem Falle also gar nicht angesprochen. Der Andere aber, dem nur übrig bleibt, über sich reden oder auf sich einreden zu lassen, ohne selbst, als wirklich Angesprochener, etwas erwidern zu können, wird solches Verhalten nicht als Zeichen versuchter Verständigung, sondern als gewaltsame Machtausübung verstehen, die man nur noch zu unterbrechen versuchen kann, wenn man sich ihr nicht ohnehin ganz entziehen will. Im schlimmsten Falle wird der Angesprochene gar nicht als jemand, sondern als etwas angesprochen. (Weniger offensichtlich ist die Gewaltsamkeit des Ansprechens, wenn der Andere zwar als jemand (als Person), aber als irgend jemand, d. h. ganz abgesehen von seiner Identität und Individualität angesprochen wird. Noch unkenntlicher ist die gewaltsame Reduktion, die auch darin noch liegen mag, den Anderen zwar als denjenigen, der er ist, d. h. in seiner Identität und in seiner Individualität, aber gerade nicht angesichts seines darin nicht aufgehenden, radikalen Andersseins anzusprechen.) Wollen wir ausdrücklich jemanden ansprechen, so verwenden wir dazu seinen Namen. Durch den Namen, den man uns nach der Geburt verliehen hat, sind wir im Kontext menschlicher Lebensformen für Andere als jemand, d. h. als eine Person ansprechbar, die daraufhin zu befragen ist, wer er oder sie ist. Mit dem Namen bestätigen und würdigen wir das Selbst-Sein des Anderen. Er oder sie ist auf eigene Art eine individuelle Person, die sich ihrerseits als jemand versteht, d. h. die ein eigenes Verständnis von sich hat, also davon, wer sie ist oder zu werden sich anschickt. Ich kann an dieser Stelle keine Ethik des Namens skizzieren, möchte aber wenigstens kurz auf potenzielle Gewaltsamkeiten aufmerksam machen, die selbst dann ins Spiel kommen können, wenn wir ausdrücklich den Anderen als personales Wesen ansprechen.32 So lässt sich ein personales Wesen auch als »Charakter« ansprechen, durch den der Angesprochene identifiziert wird; aber nicht in seiner Selbstheit, sondern in seiner Selbigkeit33, die es gestattet, ihn darauf zu reduzieren, was (nicht wer) er in den Augen Anderer ist (ein Mensch dieser oder jener Art). Wie wir jemanden als personales Wesen identifizieren, kann darauf hinauslaufen, ihn auf ein weitgehend unveränderliches Sosein festzulegen, was in Wahrheit kaum damit zu vereinbaren ist, ihn als anderes Selbst so anzusprechen, dass seiner Anderheit nicht Gewalt angetan wird.
32 Vgl. Kaplow, Ian, Analytik und Ethik der Namen, Würzburg 2002, wo die Frage der Gewalt allerdings eher nebenbei ins Blickfeld rückt. 33 Ich verweise an dieser Stelle auf die wichtige Unterscheidung von mêmeté und ipséité bei Ricœur, der die Frage, wer jemand ist, einerseits gegen Identifikationen dessen abgrenzt, was er ist (etwa: ein »Charakter« dieser oder jener Art), andererseits aber auch auf Formen gegenseitiger Kontaminationen von Selbigkeit und Selbstheit aufmerksam macht; vgl. Ricœur, Paul, Das Selbst als ein Anderer, München 1996. Ricœur rückt hier deutlich von seiner früheren Engführung von Charakter und Selbigkeit ab, wie sie in seiner Schrift Le volontaire et l’involontaire, Paris 1950, festzustellen ist (S. 382 ff.).
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Gewiss führt am Namen normalerweise kein Weg vorbei, wenn wir jemanden (persönlich) ansprechen wollen. Doch verleitet der Name zur Reduktion von Selbstheit auf Selbigkeit. Die namentliche Identifikation des Anderen als desselben verwischt den Unterschied beider Begriffe. Der Andere, den ich wiederholt namentlich ansprechen kann, ist aber nicht einfach derselbe (als den ich ihn äußerlich re-identifizieren kann), sondern ein anderes Selbst. Wird diese Differenz nicht beachtet, so reduziert selbst die vermeintlich gewaltlose Anrede den Anderen am Ende auf ein wiedererkennbares Objekt und triumphiert (unfreiwillig) ganz und gar über das Selbstsein dessen, an den sie sich in womöglich bester Absicht gewandt hat. Zu 4: Jemand redet zu einem Anderen über etwas. Indem wir etwas »zur Sprache bringen«, verlautbaren wir wie gesagt nicht nur etwas. Unter Umständen verhalten wir uns indiskret, d. h. wir machen etwas hörbar, worüber vielleicht besser geschwiegen worden wäre; oder wir verletzen sogar ein Tabu, d. h. wir übertreten eine Grenze, die nicht nur situativ, sondern grundsätzlich und für alle Zeit (für Andere) zwischen Reden und Schweigen gezogen zu sein scheint. So gesehen kann bereits die bloße Tatsache, dass wir etwas zur Sprache bringen (und wem gegenüber wir das tun) Gewaltsamkeit heraufbeschwören. (Wohlgemerkt geht es hier jedes Mal um nicht beabsichtigte Formen der Gewaltsamkeit, die nicht auf eine einfach zu entlarvende Gewalttätigkeit zurückzuführen sind. Ich sehe im Übrigen hier wiederum von der Frage ab, ob nicht auch ein Verhalten, das etwas nicht zur Sprache bringt, als verletzend erfahren werden kann – etwa dann, wenn im Rahmen einer intimen Beziehung erwartet werden kann, dass gewisse Dinge zur Sprache gebracht werden.)34 Zu 5: Was schließlich den fünften Punkt angeht, den Kontext nämlich, so kann Gewaltsamkeit bereits im de-platzierten Reden liegen, das zeitlich und angesichts des gewählten Ortes als unangemessen erscheint oder Dritte unfreiwillig zu Zeugen eines Gesprächs macht, das den Angesprochenen bis auf die Knochen beschämt. Mit Blick auf Fragen der kontextuellen Angemessenheit des Redens wird besonders deutlich, dass es der praktische, zumal der mündliche Sprachgebrauch stets mit kontingenten Bedingungen zu tun hat, denen selbst ein möglichst ideales Gespräch nicht ganz und gar entkommen kann. Ob wir unter bestimmten Umständen überhaupt einen Anderen (als Person, als anderes Selbst) ansprechen, wie wir dies tun, wo und wie viel Zeit das Gespräch in Anspruch nehmen kann, das sind Fragen, die jedes endliche Gespräch betreffen und die sogar einen angeblich gänzlich herrschaftsfreien, gewaltlosen Dialog noch ins Zwielicht gewisser Gewaltsamkeiten rücken. Selbst für das beste Gespräch stehen Zeit und Raum nicht unbegrenzt zur Verfügung. Irgendwann wird es ohne weitere Rücksicht (einvernehmlich?) abgebrochen werden müssen. Ein unendliches Gespräch kann es so wenig geben wie eine unendliche Analyse, an deren Ende das vollkommene Verständnis stehen sollte. 34 Vgl. Anm. 26.
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5. Sprachverachtung statt Gewaltlosigkeit? Trifft es nun zu, dass wir es ungeachtet des vielfach bedingten Risikos, sich selbst in wohlwollender Verständigung sprachlicher Gewalt auszusetzen, dennoch vorziehen, uns ihr auszuliefern? Die Alternative wäre wohl nur der Rückzug ins Schweigen, in dem eine Gewaltsamkeit ganz eigener Art liegen kann, wenn es bedeutet, von der Ansprechbarkeit durch Andere und von der Möglichkeit, sie anzusprechen, ausgeschlossen zu sein. Am Ende führen wir dann ein Gespräch nur noch mit uns selbst. Ziehen wir der Gewaltsamkeit eines Schweigens, in dem wir niemanden mehr anzusprechen hätten und uns niemand mehr ansprechen würde, nicht allemal vor, »im Gespräch zu bleiben«? Was im Alltag als bloße Redensart durchgeht, bedeutet tatsächlich, bereit zu sein, sich wieder und wieder sprachlicher Gewalt auszuliefern. Weit entfernt, die Gewalt durch die Sprache einfach überwinden zu können, entkommen wir durch sie vielleicht nur dem Tod in der Wortlosigkeit.35 Aber sobald wir reden, sehen wir uns wieder mit verletzender Gewalt – in vielfach nur schwer zu erkennenden Formen – konfrontiert. So wenig wir die Sprache als ein bloßes Instrument unseres Gebrauchs im Griff haben, so wenig verfügen wir souverän über die Gewalt, die mit Worten einhergehen kann. Sie kommt nur allzu leicht, auch gegen unseren Willen, in der Art und Weise ins Spiel, wie wir die Subjektposition der Rede einnehmen, wie wir sprechen und unsere Worte an jemanden als Anderen richten, durch das, was wir zur Sprache bringen oder nicht zur Sprache bringen, und schließlich durch den mehr oder weniger de-platzierten bzw. passenden Kontext. Gewiss ist Gewaltsamkeit in keiner dieser Hinsichten absolut unvermeidlich. Aber wer Andere auf Erwiderung hin anspricht, riskiert stets unumgänglich, sich einer im Vorhinein nicht kontrollierbaren Gewaltsamkeit schuldig zu machen. Diese Einsicht muss nicht in generelle Sprachverachtung münden, die zu einer stets nur mehr oder weniger gewaltsamen, aber kaum je völlig gewaltfreien Sprache doch keine Alternative weiß. Vielmehr, meine ich, nötigt sie Achtung gerade dafür ab, sich sprachlicher Gewaltsamkeit gerade umwillen des Sinns der Sprache auszuliefern, deren Gebrauch niemals indifferent die Verletzung in und mit Worten hinnehmen kann, ohne Gefahr zu laufen, diesen Sinn zu ruinieren. Was wir Verstehen und Verständigung nennen, bahnt uns freilich keinen kommunikativen Weg an der Gewalt vorbei; jedenfalls nicht allein dadurch, dass man »verständigungsorientiert« miteinander redet. Auch das Gespräch spielt unvermeidlich auf den Registern der noch kaum zureichend begriffenen Verletzbarkeit derer, die in ihm nach Verstehen und Verständigung suchen. Wenig spricht dafür, dass es Ordnungen der Rede in menschlichen Lebensformen geben könnte, die den Verdacht der Gewaltsamkeit gar nicht mehr hervorrufen würden. Insofern 35 Um uns womöglich dem Tod durch das Wort auszuliefern; vgl. Liebsch, Burkhard »Gewalt – Verstehen: Hermeneutische Aporien«, in: ders. / Mensink (Hg.), Gewalt Verstehen, a.a.O., S. 23-58, wo auch die hier ganz ausgesparte Frage einer gewaltsamen Subjektkonstitution zur Sprache kommt.
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besteht kaum Grund zu der Annahme, wenigstens im vernünftigen Gespräch, das am Sinn der Sprache umwillen der Gewaltlosigkeit orientiert wäre, könnten wir die dem Gebrauch der Sprache innewohnende Gewalt je ganz überwinden.36 Mangels einer idealen Rede und angesichts der schrecklichen Alternative eines sozialen Todes im Schweigen bleibt uns nichts anderes, als uns stets erneut sprachlicher Gewalt auszusetzen. Der fällige, noch ausstehende, durch meine kursorischen Hinweise natürlich nicht erbrachte Nachweis, wie und was sie im Einzelnen verletzt, wird angesichts dieser Alternative die Suche nach Spielräumen geringerer Gewalt bzw. geringstmöglicher Gewalt nicht sinnlos machen, sondern, im Gegenteil, als unumgänglich erweisen. Diese Suche muss sich allerdings drei Herausforderungen stellen: Sie muss sich erstens mit jenem Vorurteil eines bloß äußerlichen Verhältnisses von Sprache und Gewalt auseinandersetzen; sie muss zweitens zeigen, welche im weitesten Sinne als »rhetorisch« zu bezeichnenden Spielräume uns offen stehen, wenn wir in der Hoffnung auf einen möglichst weitestgehend der Gewalt entsagenden Gebrauch der Sprache mit einer Kontamination von Sprache und Gewalt zu rechnen haben, ohne uns ihr wehrlos bzw. indifferent überantworten zu wollen; und sie muss drittens zeigen, wie in diesen Spielräumen trotz eines nicht äußerlichen Verhältnisses von Sprache und Gewalt Formen der Auseinandersetzung mit ihm möglich sind, die nicht einfach auf Gegen-Gewalt hinauslaufen. Der Drehund Angelpunkt dieser drei Herausforderungen müsste so gesehen die Frage nach Aussichten rhetorischer Gegen-Macht sein, die uns vor einer fatalen und am Ende zynischen Sprachverachtung bewahren.37 Letzterer wären wir ausgeliefert, 36 An dieser Stelle sehe ich von anderen, nicht im engeren Sinne diskursiven Formen des Gesprächs, der Rede, der Gestik usw. ab, die der Gewaltlosigkeit möglicherweise bessere Chancen geben. 37 Zur Rechtfertigung des Prädikats »rhetorisch« nur soviel: Die Kritik Platons an Reden, die töten, bleibt ebenso bedenkenswert wie seine Warnung vor einer »Gewalt des Mundes« und subkutanen, magischen Wirkungen der Rede (Niehues-Pröbsting, Heinrich, Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie, Frankfurt / Main 1987, S. 94). Aber diese Kritik kann uns nicht mehr dazu bewegen, auf unsere »normale« Sprache zu verzichten, um beim Ideal einer reinen Sprache Zuflucht zu suchen, zu der man, wenn überhaupt, jedenfalls nur auf dem Weg einer eminent gewaltsamen Reinigung ersterer gelangen könnte (Merleau-Ponty, Maurice, Die Prosa der Welt, München 1984, S. 27 ff.). Wenn sich unsere normale Sprache als unvermeidlich »rhetorisch« verfasst, d. h. an das Wie menschlicher Rede im Hinblick auf ihre Wirkung gebunden erweist, so bedeutet das im Gegenzug nicht, dass wir uns rhetorischer Register der Rede nun ohne Wenn und Aber etwa zu manipulativen Zwecken bedienen könnten oder sollten. Die bereits von Nietzsche geforderte Anerkennung einer gewissen »Rhetorizität« menschlicher Rede und menschlichen Sprachgebrauchs überhaupt muss nicht auf eine sophistische, eristische oder gar schulmäßige Form von »Rhetorik« hinauslaufen. Roland Barthes hat Recht, wenn er speziell letztere für ein definitiv überlebtes, historisches Phänomen hält (Barthes, Roland, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt / Main 1988). Doch gibt es keine »unrhetorische ›Natürlichkeit‹ der Sprache« (Nietzsche), an die man appellieren und zu der man zu-
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wenn wir gegen jene Kontamination, die die neuere Forschung in immer subtileren Formen nachzuweisen unternimmt, nichts anderes setzen könnten als nur neue Formen gewaltsamen Redens, Denkens und Schreibens, die gar keinen Ausweg aus der Gewalt versprechen. Kann man die Sprache dagegen verteidigen? Die Herausforderung dieser Frage ist nicht zu umgehen, wenn wir die Erfahrung all derer Ernst nehmen, die am meisten unter gewaltsamer Aneignung der Sprache zu leiden hatten und gerade deshalb zwischen Sprache und Gewalt einen schroffen Gegensatz sahen. Diese Erfahrung dürfen wir auch dann nicht verraten, wenn sich dieser Gegensatz nicht mehr aufrecht erhalten lässt. Daran möchte ich abschließend wenigstens kurz erinnern.
6. Perspektiven sprachlicher Gegen-Macht Besonders in verächtlicher Rede, die Andere geradezu moralisch vernichtet, zeigt sich deutlich, wie tiefgreifend Worte verletzen können, ohne überhaupt mit dem Recht in Konflikt zu geraten.38 Kein Gesetz und keine Sprachpolizei kann gewährleisten, dass man Anderen mit sprachlichen Mitteln nicht derart Gewalt antut. Gewiss: Volksverhetzung, Rufmord, üble Nachrede und Verunglimpfung Anderer stehen unter Strafe. Aber die in solchen Delikten zum Ausdruck kommende Gesinnung versteht es nicht selten, sich raffiniert zu erkennen zu geben, ohne das Risiko einzugehen, dafür belangt zu werden. Viel einfacher liegen die Dinge, wenn eine Sprache der Verachtung, der Beleidigung und Demütigung Anderer zum öffentlichen Normalfall geworden ist und wenn sich die politisch Mächtigen ihrerseits einer solchen Sprache bedienen, wie es in beispielloser rückkehren könnte. Ihr Gebrauch ist allemal auch auf ›Wirksamkeit des Artikulierten‹ (W. Jens) bedacht. Dazu gibt es im Rahmen der sog. normalen Sprache gar keine Alternative. In dieser Einsicht konvergiert die Sprachphilosophie des späteren Wittgenstein mit dem Verweis Heideggers auf die Aristotelische Rhetorik als »erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins« (Sein und Zeit, Tübingen 1984, S. 138). Es geht hier um eine immer schon im Kontext sozialer Beziehungen situierte Rede, der nicht etwa trotz, sondern gerade in der ihr eigenen Rhetorizität eine authochthone, nicht bloß defiziente lebensweltliche Rationalität zuzusprechen ist. Für Gadamer ist Rhetorik in diesem Sinne der »einzige Anwalt eines Wahrheitsanspruchs« des Wahrscheinlichen und des der gemeinen Vernunft Einleuchtenden gegen den Beweis- und Gewissheitsanspruch der Wissenschaft. Sie zeigt als Theorie, wie es möglich ist, dass menschliche Rede überzeugt und einleuchtet, »ohne eines Beweises fähig zu sein«. (Gadamer, Hans-Georg, »Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik«, in: ders., Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt / Main 1973, S. 57-82, hier S. 63) Insofern es menschliche Rede darauf anlegt, ist ihr immer und unvermeidlich eine rhetorische Dimension eigen. Aber das bedeutet nicht, dass sie auf eine »Verzauberung des Bewußtseins durch die Macht der Rede« abzielen müsste (ebd., S. 69). 38 Vgl. ausführlich dazu Liebsch, Burkhard, »Spielarten der Verachtung. Sozialphilosophische Überlegungen zwischen Gleichgültigkeit und Hass«, in: Norbert Ricken (Hg.), Über die Verachtung der Pädagogik, Wiesbaden 2007, im Erscheinen.
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Weise in der Zeit des Nationalsozialismus hierzulande der Fall war. Kenneth Burke, der die NS-Rhetorik als einer der ersten als eine Form öffentlicher Gewalt analysiert hat, sah sich alsbald mit der grundsätzlichen Schwierigkeit konfrontiert, wie mit Mitteln der Sprache ein intimer Zusammenhang von Sprache und Gewalt herauszuarbeiten ist.39 Inwieweit kann sich die rhetorische Analyse ihrerseits überhaupt diesem Zusammenhang entziehen, wenn wir es hier nicht mit einem bloß äußerlichen Verhältnis von Sprache und Gewalt zu tun haben? Wie lässt sich dann eine angesichts dieses Zusammenhangs kritische Gegen-Macht verstehen, die nicht einfach andere sprachliche Gewalt gegen Gewalt setzt? Müsste eine solche Gegen-Macht nicht auf einem angemessenen Verständnis des Zusammenhangs von Sprache und Gewalt beruhen, um versprechen zu können, sich nicht nur neuer Formen sprachlicher Gegen-Gewalt zu bedienen, sondern Auswege aus einer fatalen Verkettung von Gewalt und Gegen-Gewalt zu eröffnen? Diese Frage hat nicht nur die Opfer staatlicher Gewalt-Sprache, sondern auch Sprachtheoretiker und (gelegentlich) Philosophen, am meisten aber Autoren umgetrieben, die sich von Berufs wegen, als freie Schriftsteller, auf ein Ethos der Bezeugung speziell mit sprachlichen Mitteln deformierter Wahrheit verpflichtet glaubten. So behauptete Siegfried Lenz in seiner Bremer Rede Der Künstler als Mitwisser (1962), es sei die wichtigste politische Pflicht des Schriftstellers, wachsam zu sein, »wenn die Macht die Sprache zu beeinflussen, zu bedrohen, zu zerstören beginnt« – mit anderen Worten: wenn sie die Form sprachlicher, Andere verletzender Gewalt annimmt.40 Lenz stellt sich die Macht hier nach dem Modell des Dostojewskischen Großinquisitors vor. Dem Vorbild dieses Modells folgt der Argwohn, den er gegen jede politische Macht hegt, sofern sie Macht über die Sprache zu gewinnen sucht. So besteht er auf einer gewissen WeltFremdheit, will »niemandem verpflichtet« sein und sich nicht durch Vertrauen auszeichnen, das ihm Mächtige schenken könnten. Ohne sich im Geringsten zu wichtig nehmen zu wollen, verordnet er sich eine »ganz normale Dissidenz«, die zu keinem Ehrentitel berechtigt. Die politische Herausforderung, vor die er sich als Wächter der Sprache gestellt sieht, bleibt unter allen, auch unter demokratischen Umständen die gleiche: die »schamlose Beziehung von Sprache und Macht« aufzudecken, angefangen bei der üblichen Manipulation des Wortschatzes, durch die man des so genannten »allgemeinen Bewusstseins« Herr zu werden versucht.41 So unerlässlich diese Überlegungen des Schriftstellers als eine erste Standortbestimmung seiner und unserer Freiheit sein mögen, so fragwürdig erscheint indessen die äußerliche Beziehung von Sprache und Macht, die sie unterstellen. 39 Burke, Kenneth, Die Rhetorik in Hitlers ›Mein Kampf‹ und andere Essays zur Strategie der Überredung, Frankfurt / Main 1967, S. 7, 33; Ueding, Gert, Moderne Rhetorik, München 2000, S. 98. 40 Lenz, Siegfried, Beziehungen, Hamburg 1970, S. 278-286. 41 Vgl. ebd., S. 43, 48, 82, 279, 286.
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Demzufolge steht eine von sich aus machtlose bzw. -indifferente Sprache einer an sich sprachlosen Macht gegenüber, die sich opportuner Worte lediglich als Mittel zum politischen Zweck bedient, wie es Hobbes paradigmatisch am Befehl gezeigt hat. Aber die Macht befiehlt nicht nur, was man tun und denken soll. Sie schafft sich auch die Sprache, die für sie dichtet und denkt, um schließlich auf die Welt selbst und das, was als erfahrene Wirklichkeit zur Sprache zu bringen ist, überzugreifen.42 Sie erweist sich nicht nur als »wortgewaltig«, sondern dringt ins Innere der Sprache ein; und zwar am Ende so, dass jede Spur eines Zu-Sagenden, das sich ihr widersetzen könnte, getilgt zu werden droht. Aber gerade daran, dass ihr das gelingen könnte, zweifelt selbst die politische Herrschaft, die totalitäre Ambitionen hegt. Weil sie als befehlende und verbietende stets das voraussetzt, was zu untersagen ist, kann sie ihrer Macht niemals sicher sein: Das Untersagte bleibt als solches in der Macht des Untersagens eigentümlich präsent. Unter Umständen (das ist Lenz’ optimistische Hoffnung) genügt dem Schriftsteller ein Wort, das gewisse Sehnsüchte auslöst, um der Macht ihre Ohnmacht vor Augen zu führen, die in einem letztlich unverfügbaren Weltbezug begründet liegt. Politische Macht kann in den Sprachgebrauch reglementierend eingreifen; sie kann bestimmen, wann, wie und wo überhaupt etwas durch jemanden zur Sprache kommen kann. Aber sie kann nicht den stets vorgängigen Anspruch, heterogene Erfahrung allererst zur Sprache zu bringen, zerstören oder aufheben. Allenfalls kann sie darüber auf unabsehbare Zeit ein bleiernes Schweigen verhängen. Des Schriftstellers »Versprechen, die Sprache zu verteidigen«, beschränkt sich so gesehen nicht etwa darauf, mit gewissen »Machtlosen solidarisch zu sein«; es handelt sich vielmehr darum, die Macht, die sich anmaßt, der Sprache Herr zu werden, und dabei in Gewalt umschlägt, durch Erinnerung an jene Ohnmacht zu blamieren – auch auf die Gefahr hin, selbst zum Schweigen verurteilt zu werden.43 So aber vertraut der Schriftsteller auf eine Gegen-Macht, die er mittels der Sprache ausüben will; und zwar gegen eine gewaltsame Macht, der er prima facie machtlos, in einem geradezu hoffnungslosen asymmetrischen Konflikt gegenübersteht. Es geht also nicht um eine schroffe Konfrontation von Macht und Sprache, sondern um eine Auseinandersetzung zwischen einer von herrschender Macht angeeigneten Sprache einerseits und machtloser, d. h. hier: zu keinerlei Herrschaft befähigten Gegensprache andererseits. Die Gegensprache, die sich in derselben Sprache, die die Macht sich angeeignet hat, gegen sie wendet, soll Gegenmacht ausüben, was nur gelingen kann, wenn die Macht nicht ganz und gar erfolgreich war, d. h. wenn es verbleibende Spielräume der Rede gibt, in denen 42 Besonders Michel Foucault hat in diesem Sinne die »Produktivität« einer nicht nur verbietenden Macht betont; vgl. seine Skizze »Die Maschen der Macht« in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV, 1980-1988, Frankfurt / Main 2005, S. 224-244, sowie zur Macht des Nennens und Benennens von Dingen Heidegger, Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 164, wo allerdings auch nachdrücklich menschlicher Verfügungsmacht über das zu Sagende entsagt wird (S. 168 f., 179). 43 Lenz, Beziehungen, a.a.O., S. 282 ff.
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zur Sprache kommen kann, was die angeeignete Sprache der Macht nicht hat ein für alle Mal untersagen können. In den Registern dieser Spielräume spielt die eigentümlich machtlose Gegenmacht; freilich nicht mit der Sprache als solcher, sondern mit einem bestimmten, abweichenden Sprachgebrauch, dem es auch darum gehen muss, Macht anders auszuüben. Es geht um eine Gegen-Macht, die sich von der politischen Macht, gegen die sie antritt, nicht beliebig unterscheidet, sondern auf das Verhältnis von Sprache und Macht selbst reflektiert. Die vom Versprechen, die Sprache zu verteidigen, inspirierte Gegen-Macht weist eine gewaltsame Indienstnahme der Sprache durch die Macht – durch jede Macht – zurück. Konsequent kann sie dies nur tun, wenn sie nicht ihrerseits nur eine solche Indienstnahme praktiziert, um die Sprache wiederum gewaltsam für eine andere, nämlich eigene Gegen-Macht in Anspruch zu nehmen. Sofern die Gegen-Macht im Zeichen dieses Versprechens ihrerseits Macht in Anspruch nimmt und machtvoll zu wirken versucht, müsste sie das noch zeigen. Sie müsste sich gewissermaßen entblößen und dürfte auch als »gute« Sprach-Macht, die dem mit der Sprache getriebenen Machtmissbrauch sich widersetzen will, nicht einfach nur Gegen-Macht oder gar Gegen-Gewalt sein: Sie müsste sich vielmehr als Macht, die über die Sprache zu verfügen scheint, in Frage stellen. Als solche Gegen-Macht müsste sie gerade vom Gedanken der Unverfügbarkeit der Sprache inspiriert sein. Eine Sprachphilosophie, die diesem Gedanken Geltung verschaffen wollte, dürfte sich nicht mehr einer pauschalen, antirhetorischen Kritik der Sprache befleißigen, wie sie sich von Platons Kritik der Sophisten herleitet; sie müsste vielmehr eine Kritik dieser Kritik in Betracht ziehen, die eine unvermeidliche rhetorische Dimension der Sprache anerkennt, statt bei fragwürdigen Idealen einer rhetorischer Macht entzogenen Sprache Zuflucht zu suchen. Statt die Sprache im ganzen nur rhetorischer Gewalt und / oder Machtausübung zu verdächtigen (wie es jene Kritik nahe legt), wären Spielräume einer sprachlichen Gegen-Macht herauszuarbeiten, die es sich nicht anmaßt, über die Sprache zu verfügen, sei es auch im Zeichen guten Willens zur Verständigung, der Gerechtigkeit oder des Guten. Die Anerkennung einer rhetorischen Dimension der Sprache, die sie zunächst menschlicher Verfügung ganz und gar zu unterstellen scheint, sowie die Bedeutung des guten Willens zur Verständigung (der sich nur gewaltsamer Aneignung der Sprache widersetzt) entlastet nicht von der Aufgabe, der Unverfügbarkeit der Sprache auch in der rhetorischen, mit Macht erfolgenden Auseinandersetzung im Kampf um Spielräume geringerer Gewalt Rechnung zu tragen.44 Für das, was der Schriftsteller mit Blick auf die Kritik des beklagten politischen Missbrauchs der Sprache deren »Verteidigung« nennt, scheint dreierlei entscheidend zu sein: dass sie unumgänglich rhetorische Form annehmen muss,
44 Vgl. dazu die kritischen, hier nicht eigens aufgerollten Überlegungen zu einem »Guten Willen zur Macht« in den Anfragen Jacques Derridas an Hans-Georg Gadamer in: dies., Der ununterbrochene Dialog, Frankfurt / Main 2004, S. 51 ff.
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dass sie als Gegen-Macht auftreten muss, und dass sie als solche der Verfügung über die menschliche Sprache entsagt. Sie kann mit anderen Worten nicht mit dem Ideal einer Rhetorik-freien Wahrheit liebäugeln und muss einen sprachlichen Machtkampf aufnehmen. Die Frage ist aber, ob sie rhetorisch, machtvoll und zugleich inspiriert vom Gedanken auftreten kann, der Verfügung über die menschliche Sprache zu entsagen. Diese Frage muss nicht nur Schriftsteller, sondern jeden umtreiben, der in der Unterstellung der Sprache unter fremde oder auch eigene Macht etwas zutiefst Inhumanes erkennt. Mit einer Kritik gewaltsamen Missbrauchs der Sprache ist es jedenfalls nicht getan, wenn sich der Gebrauch der Sprache auch dort den Verdacht einer gewissen Gewaltsamkeit zuzieht (wofür hier nur einige Anhaltspunkte genannt wurden), wo er umwillen gegenseitiger, möglichst gewaltfreier Verständigung erfolgt. Diesem nicht zu verachtenden Ziel mag auch eine der Verfügung über die Sprache entsagende Kritik sprachlicher Gewaltsamkeit in jedweder Form verpflichtet bleiben. Auch sie kann freilich über jenen Verdacht nicht ganz und gar erhaben sein, denn eine Rhetorik des Entsagens läuft Gefahr, zum Guten zu manipulieren.45 Als Ausweg bleibt ihr vielleicht nur der Verzicht darauf, rhetorisch restlos überzeugen zu wollen. In diesem Falle würde sie gelingen im Maße ihres Scheiterns.
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NACH DEM ENDE DER ›SPRACHVERGESSENHEIT‹ | 273
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STEFAN DEINES
Verletzende Anerkennung. Über das Verhältnis von Anerkennung, Subjektkonstitution und ›sozialer Gewalt‹
I. Einleitung: Anerkennung und soziale Gewalt Es gehört zur conditio humana, dass der Mensch auf bestimmte Weisen verletzlich ist und sich bestimmten Sorten der Gewalt ausgeliefert sieht, die über die rein körperliche Gewalt und die rein physische Verletzlichkeit hinausgehen, welche er, da er ein körperliches Wesen ist, mit den Tieren teilt. Menschen sind verletzlich, da sie gedemütigt, erniedrigt und beleidigt, missachtet, verspottet und gekränkt werden können. Und häufig sind die Schmerzen, Wunden und Traumata, die durch diese Formen der Gewalt verursacht werden, intensiver und langwieriger als eine rein körperliche Verletzung.1 Sogar die körperlichen Verletzungen, die Menschen von anderen Menschen zugefügt werden, sind meist nicht nur aufgrund ihrer physischen Wirkungen schmerzhaft, sondern auch aufgrund des symbolischen Gehalts, der abwertenden, diffamierenden und unterdrückenden Geste, die durch körperliche Attacken exekutiert und kommuniziert wird. Ri1 »Worte schmerzen mehr als Schläge«, antwortet beispielsweise Yussuf, ein arbeitsloser Jugendlicher, im November 2005 auf die Frage, warum er sich an den gewalttätigen Ausschreitungen beteilige, bei denen zunächst in den Pariser Vorstädten und später in ganz Frankreich die Menschen auf die Straße gingen und jede Nacht neue Rekorde bezüglich der Anzahl brennender Autos aufgestellt wurden, und bezieht sich dabei auf die Worte des Innenministers Sarkozy, der die ›Aufrührer‹ mehr oder weniger explizit als ›Dreck‹ bezeichnet hatte (in: Die Zeit, Nr. 46, 10. November 2005, S. 2).
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chard Rorty konstatiert auf der Suche nach Merkmalen, die allen Menschen gemeinsam sind, dass wir »nur durch Schmerzempfindlichkeit mit der übrigen spezies humana verbunden [sind], besonders durch die Empfindlichkeit für die Art Schmerz, die die Tiere nicht mit den Menschen teilen – Demütigung.«2 Rorty geht sogar so weit, zu behaupten, dass die moralisch relevante Definition einer Person, eines moralischen Subjekts laute: »etwas, das gedemütigt werden kann.«3 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie es kommt, dass, und welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Menschen auf diese eigentümliche Weise verletzbar sind. Welche Eigenschaften und Verhältnisse sind dafür verantwortlich, dass Subjekte für die besonderen Angriffe durch Demütigungen und Missachtungen überhaupt empfänglich sind? Worauf zielen diese Angriffe? Woraus schöpft sich ihre verletzende Kraft? Und was genau wird durch sie eigentlich verletzt? Ich werde bei der Erörterung dieser Fragen davon ausgehen, dass hilfreiche Antworten darauf im Zuge einer Analyse der Konstitution sowie der Konstitutionsbedingungen von Personen zu finden sind. Personen können dieser Überlegung zufolge durch andere Personen gekränkt und gedemütigt werden, weil sie soziale Wesen sind, die in konstitutiven intersubjektiven Relationen zu den anderen Subjekten einer Gemeinschaft stehen. Der soziale Status und die personale Identität sind abhängig davon, in welcher Art und Weise die Anderen auf ein Subjekt reagieren und wie es von ihnen behandelt wird. »Wir sind, was wir sind,« – wie George Herbert Mead es prägnant formuliert – »durch unser Verhältnis zu anderen.«4 Im Laufe der letzten 15 Jahre sind in mehr oder weniger verbindlicher Anknüpfung an Hegel verschiedene philosophische Ansätze unterbreitet worden, die diesen sozialen, intersubjektiven oder »dialogischen Charakter menschlicher Existenz« unter Rückgriff auf den Begriff der ›Anerkennung‹ beleuchten.5 Die Anerkennung durch andere Subjekte wird dabei als der zentrale Mechanismus ausbuchstabiert, von dem die Identität und der Status einer Person abhängen. Charles Taylor betont in seinem Buch Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, »wie nachdrücklich Identität auf die Anerkennung […] Anderer angewiesen ist und wie verletzlich sie ist, sofern ihr Anerkennung vorenthalten bleibt.«6 Der Begriff der Anerkennung bietet also eine Theorie über die soziale Konstitution von Subjekten und er bietet, so lässt sich anhand des Zitats von Taylor hoffen, damit auch das Instrumentarium, mit dem man die neuralgischen
Rorty, Richard, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt / Main 1992, S. 158. Ebd., S. 156. Mead, George H., Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt / Main 1995, S. 430. Taylor, Charles, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt / Main 1993, S. 21. 6 Ebd., S. 26. 2 3 4 5
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Punkte markieren kann, an denen soziale Gewalt wirksam wird.7 Taylor zufolge sind Verletzungen Resultate der Verweigerung oder des Entzugs von Anerkennung. Demütigungen und Beleidigungen sind Äußerungen, mit denen Anerkennung implizit oder explizit verweigert wird, bzw. Akte, die das Gegenteil von Anerkennung ausdrücken; und sie sind verletzend, da sie der Persönlichkeit, der Identität und dem (positiven) Selbstbild einer Person die Grundlage zu entziehen drohen. Dies kann als (ein) Grundmodell zur Konzeptualisierung der verletzenden Phänomene festgehalten werden: Demütigungen und Kränkungen sind die Negation von Anerkennung und sie haben verletzende Kraft, da sie die Identität einer Person destabilisieren, welche auf die stützende Funktion von Akten der Anerkennung angewiesen ist. Ich möchte im Folgenden mit einer Rekonstruktion der Ansätze von Axel Honneth und Judith Butler zwei theoretische Entwürfe genauer vorstellen, die unter Rückbezug auf den Begriff der Anerkennung Phänomene der Demütigung und Missachtung konzeptualisieren und erläutern. Während Honneth eine facettenreiche und systematische Konkretisierung des genannten Modells vornimmt, in dem Verletzungen als Negation oder Entzug von Anerkennung erscheinen, nimmt Butler auch Phänomene von Gewalt in den Blick, die die Reichweite dieses Modells überschreiten bzw. mit ihm nur unzureichend zu beschreiben sind. Im Anschluss an die Rekonstruktion der beiden Theoriemodelle soll geklärt werden, ob die Phänomene, die Butler herausarbeitet und die mit dem Terminus der ›verletzenden Anerkennung‹ gefasst werden sollen, signifikante Formen sozialer Gewalt darstellen, ob sie relevante Gegenstände für eine kritische Theorie sind und ob sie im Rahmen des Honnethschen Theorieansatzes Berücksichtigung finden könnten. Dabei soll zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Akten und Praktiken der Demütigung, Beleidigung und Missachtung im Folgenden nicht strikt unterschieden werden. Zwar sind es häufig sprachliche Äußerungen, Beschimpfungen, explizite Beleidigungen, ironische oder sarkastische Bemerkungen, mit denen Personen verletzt werden können. Aber nicht immer muss auf das Medium der Sprache zurückgegriffen werden. Auch Handlungen und Gesten können einer ablehnenden Haltung Ausdruck verleihen.8 Und sogar das Schweigen ist ein ausgezeichnetes Mittel zur Demütigung von Personen; es kann sogar die schlimmsten Verletzungen herbeiführen, da die vollständige Verweigerung von Kommunikation einer totalen ›Ent-Menschlichung‹ des Gegenübers gleichkommen kann. Im 7 Vgl. zum Verhältnis von Anerkennung und Verletzbarkeit auch: Emcke, Carolin, Kollektive Identitäten. Sozialphilosophische Grundlagen, Frankfurt / Main 2000, S. 270 f. 8 In dem Aufsatz »Unsichtbarkeit« hat Honneth beispielsweise die Bedeutung von Gestik und Mimik für die Anerkennung herausgestellt (Honneth, Axel, »Unsichtbarkeit. Über die moralische Epistemologie von ›Anerkennung‹«, in: ders., Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt / Main 2003, S. 10-27).
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Gegensatz zu rein körperlichen Gewaltakten sollen diese Phänomene im Folgenden unter dem Stichwort der ›sozialen Gewalt‹, die Wunden, die durch diese verursacht werden, unter dem Begriff der ›sozialen Verletzungen‹ subsumiert werden. Allen diesen Akten ist gemeinsam, dass sie nicht auf rein körperliche Phänomene zu reduzieren sind. Sie sind symbolisch aufgeladen; sie sind Äußerungen im Medium ›sozialen Sinns‹ und sie haben damit eine Bedeutung für die Integrität und Stabilität des Selbstbildes und Selbstverständnisses einer Person. Um all die symbolisch bedeutsamen Akte berücksichtigen zu können, die für die Anerkennung von Personen und die Ausübung von ›sozialer Gewalt‹ Relevanz besitzen, lässt sich der weite Sprachbegriff in Anschlag bringen, den Taylor in seiner Theorie der Anerkennung vorschlägt: »Zu handlungsfähigen Menschen, die imstande sind, sich selbst zu begreifen, werden wir, indem wir uns eine Vielfalt menschlicher Sprachen aneignen. Ich verwende das Wort Sprache hier in einem sehr weiten Sinne. Es umfasst nicht nur die Worte, die wir sprechen, sondern auch andere Ausdrucksweisen, etwa die ›Sprachen‹ der Kunst, der Gestik, der Liebe und dergleichen.«9
II. Dimensionen sozialer Gewalt bei Honneth Seit seinem Buch Kampf um Anerkennung entwickelt Honneth in kritischer Auseinandersetzung mit Hegel und Mead ein »intersubjektivitätstheoretisches Personenkonzept«10, das die Konstitution und Profilierung der personalen Identität im Hinblick auf den Prozess sozialer Anerkennung ausbuchstabiert. Dass Subjekte in bestimmten Hinsichten von anderen anerkannt werden, ist dieser Theorie zufolge eine notwendige Bedingung dafür, dass die Subjekte in bestimmte Beziehungen zu sich selbst eintreten und diejenigen Selbstverhältnisse ausbilden können, die für eine intakte psychische Konfiguration und (damit) für ein gelingendes Leben unabdingbar sind. Denn die Selbstverhältnisse, die mit den verschiedenen Formen und Spielarten der Anerkennung einhergehen, sind konstitutive Elemente der »Fähigkeit zur autonomen Selbstbestimmung«.11 Honneth unterscheidet drei verschiedene Sphären bzw. Stufen der Anerkennung – Liebe, Recht und Solidarität – die mit drei Formen der positiven Selbstbeziehung des Subjekts gekoppelt sind. 9 Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, a.a.O., S. 21 f. Vgl. zu der Bedeutung von Sprache für die Selbstbeziehung von Personen auch: Honneth, Axel, »Gesellschaft ohne Demütigung. Zu Avishai Margalits Entwurf einer ›Politik der Würde‹«, in: ders., Die zerrissene Welt des Sozialen, Frankfurt / Main 1999, S. 248-277, hier S. 256. 10 Honneth, Axel, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt / Main 1994, S. 8. 11 Ebd., S. 326.
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A. Liebe: Der Bereich der ›Liebe‹ umfasst zwar auch erotische und Liebesbeziehungen aller Art sowie Freundschaften, scheint aber paradigmatisch am Verhältnis zwischen Eltern und Kind bzw. Säugling orientiert zu sein, da sich hier die fundamentalen Voraussetzungen der Subjektwerdung am eindringlichsten verdeutlichen lassen. Denn erst in der Auseinandersetzung mit dem elterlichen Anderen werden in der frühkindlichen Wahrnehmung die Grenzen zwischen einer Dingwelt, einer anderen Person und dem eigenen Ich erkennbar. Das Subjekt löst sich in diesem Verhältnis der ›Triangulation‹ aus einer symbiotischen Struktur und wird durch die Anerkennung der psychischen wie physischen Grenzen der eigenen Person allererst zum Individuum.12 Im Aushalten und Meistern der »Spannung zwischen symbiotischer Selbstpreisgabe und individueller Selbstbehauptung«13 hat das Subjekt die Gelegenheit, die erste Form des Selbstverhältnisses auszubilden: das Selbstvertrauen. Dieses umfasst das Vertrauen in die eigene körperliche wie psychische Selbstständigkeit und ist die Bedingung sowohl für die Fähigkeit, »sorglos mit sich allein zu sein«14, als auch dafür, in Beziehung zu Anderen zu treten, ohne sie in eine symbiotische Struktur münden zu lassen, die zu einer Form von Selbstaufgabe führen würde. B. Recht: Die Anerkennung als vollgültige Rechtsperson gestattet den Subjekten die Teilnahme am öffentlichen Leben einer Gesellschaft. Sie werden als moralisch zurechnungsfähige, für ihre Handlungen verantwortliche Subjekte wahrgenommen und gewinnen damit den Status autonomer Personen. Der Selbstbezug, der durch diesen Status gefördert wird, ist der der Selbstachtung, in der sich das Subjekt als selbstverantwortlich Handelnder erfährt. C. Solidarität:15 Wird der Status der Rechtsperson dem Subjekt unter Absehung aller individuellen Merkmale verliehen, so umfasst der dritte Bereich der Anerkennung die soziale Würdigung gerade der individuellen Fähigkeiten, Eigenschaften oder Leistungen. Subjekten wird im Rahmen einer bestimmten sozialen Gruppe mit geteilten Normen Wertschätzung für Handlungen entgegengebracht, die im Lichte dieser Normen als positiv zu bewerten sind. Dies führt zum Selbstverhältnis der Selbstschätzung, die auf der Einsicht beruht, wertvolle und sinnvolle Leistungen zu erbringen. Die drei genannten Selbstverhältnisse sind notwendig, um eine intakte personale Identität sowohl ausbilden als auch aktiv ausleben zu können. »Insofern hängt die Freiheit der Selbstverwirklichung von Voraussetzungen ab, die dem menschlichen Subjekt nicht selber zur Verfügung stehen, weil es sie allein mit
12 13 14 15
Vgl. hierzu: Honneth, Axel, Verdinglichung, Frankfurt / Main 2005, S. 47. Honneth, Kampf um Anerkennung, a.a.O., S. 154. Ebd., S. 168. Diese Dimension wird später auch unter dem Titel ›Leistung‹ behandelt; vgl. Honneths Ausführungen in: Fraser, Nancy / Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt / Main 2003, S. 162-177.
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Hilfe seiner Interaktionspartner zu erwerben vermag.«16 Diese Abhängigkeit von der Anerkennung anderer Personen impliziert naturgemäß die Möglichkeit, dass Subjekten die Anerkennung verweigert werden kann. Die Verletzbarkeit, die Offenheit und Empfänglichkeit für Akte der Demütigung ist daher der ontologischen Struktur des Subjekts eingeschrieben. »Es ist die interne Verschränkung von Individualisierung und Anerkennung, aus der sich jene besondere Versehrbarkeit menschlicher Wesen ergibt, die mit dem Begriff der ›Missachtung‹ bezeichnet wird: weil das normative Selbstbild eines jeden Menschen […] auf die Rückversicherung im Anderen angewiesen ist.«17
Vor der Folie der drei oben dargestellten Anerkennungssphären und der mit ihnen gekoppelten positiven Selbstverhältnisse entwirft Honneth daher, gleichsam als deren Kehrseite, eine Typologie der sozialen Verletzungen. Honneth vertritt die These, »dass Formen der Missachtung anhand des Kriteriums zu unterscheiden sind, welche Stufe der intersubjektiv erworbenen Selbstbeziehung einer Person sie jeweils verletzen oder gar zerstören.«18 So lassen sich verschiedene Formen sozialer Gewalt unterscheiden, die aus dem Entzug und der Verweigerung je unterschiedlicher Akte der Anerkennung resultieren, unterschiedliche Aspekte einer Person versehren können und sich deshalb auch in unterschiedlichen psychischen Reaktionen und Symptomen äußern. Die komplementären Begriffe zu den affirmativen Arten der Anerkennung sind ›Vergewaltigung‹, ›Entrechtung‹, ›Entwürdigung‹. A. Vergewaltigung: Unter dem Begriff der Vergewaltigung werden Handlungen und Übergriffe gefasst, die die »leibliche Integrität« einer Person attackieren und ihr die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper rauben, die sich durch die Anerkennungsform der Liebe herausbilden konnte. Diese Beschreibung der Dimension der Vergewaltigung erlaubt auch noch einmal eine plausible Erläuterung, warum die Zufügung von körperlicher Gewalt oft nicht auf den physischen Aspekt von z. B. körperlichem Schmerz zu reduzieren ist. Körperliche Gewalt ist soziale Gewalt, wenn sie mit einer Überwältigung und Unterdrückung durch ein anderes Subjekt einhergeht: mit einer Entmächtigung, dem Verlust der Handlungsfreiheit und der Kontrolle über das eigene Selbst, und daher mit »dem Gefühl, dem Willen eines anderen Subjekts schutzlos […] ausgesetzt zu sein.«19 B. Entrechtung: Fälle von Entrechtung sind zu diagnostizieren, wenn Subjekten bestimmte gesellschaftliche Rechte nicht gewährt werden und sie damit von der Teilnahme an Bereichen des gesellschaftlichen und institutionellen Lebens systematisch ausgeschlossen werden. Über die Verknappung von Handlungsspielräumen hinaus geht die Entrechtung mit einer Beschädigung des Selbstbil16 17 18 19
Honneth, Kampf um Anerkennung, a.a.O., S. 279. Ebd., S. 212. Ebd., S. 150. Ebd., S. 214.
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des einer Person einher, da sie »den Status eines vollwertigen, moralisch gleichberechtigten Interaktionspartners« verliert, und nicht als jemand wahrgenommen wird, dessen Ansprüche und Aussagen etwas zählen oder in den Augen der Anderen ins Gewicht fallen würden.20 C. Entwürdigung: Mit der Entwürdigung ist das weite und facettenreiche Feld der Phänomene angesprochen, in dem Personen in Bezug auf ihre persönliche und individuelle Lebensweise, ihre Eigenschaften und Fähigkeiten und ihre Handlungen und Werke die soziale Wertschätzung versagt wird. Durch Akte der Kränkung, in denen die Dinge, Eigenschaften und Überzeugungen degradiert, verschmäht und verhöhnt werden, mit denen sich eine Person identifiziert und die ihr zu einem positiven Selbstbild verhelfen, geht ein Verlust des Selbstwertgefühls einher. Honneths Konzeption ›sozialer Gewalt‹ lässt sich nach diesen Ausführungen folgendermaßen zusammenfassen: Die Verletzbarkeit durch ›soziale Gewalt‹ resultiert aus der Negation von Anerkennung. Die Verweigerung von Akten der Anerkennung ist verletzend, da es das ›normative Selbstbild eines Menschen‹ beschädigen kann, das sich nur durch die affirmativ anerkennende Haltung anderer Personen ausbildet. Durch die Beeinträchtigung des positiven Selbstbilds werden die Selbstverhältnisse gestört, die zur Ausübung eines selbstbestimmten, selbstverwirklichenden Lebensvollzugs unabdingbar sind. Die Verletzung wird also als eine Störung der psychischen Disposition von Personen wirksam, die sich auch an negativen Gefühlen wie Scham, Depression oder Wut ablesen lässt.
III. Dimensionen sozialer Gewalt bei Butler Judith Butler hat die Debatte, die in den 90er Jahren in den USA über die sogenannte hate speech, also über verletzende Worte, verbale Diffamierungen, Erniedrigungen und Beleidigungen geführt wurde, zum Anlass genommen, ihre Theorie der Subjektwerdung zu spezifizieren, um die Verletzbarkeit des Menschen durch Worte in Bezug auf seine ontologischen Konstitutionsbedingungen zu erläutern.21 Auch Butler berührt in ihrer Auseinandersetzung mit sozialen Verletzungen das Phänomen des Schweigens und die Bedeutung nicht-sprachlicher Praktiken; sowohl in der Rekonstruktion der Subjekt-Konstitution als auch in der Analyse von sozialer Gewalt misst Butler den sprachlichen Praktiken allerdings
20 Ebd., S. 216. 21 Es sei hier nur am Rande erwähnt, dass Butler mit diesen Überlegungen eine politische Position im Streit um die juristische Zensur der in Frage stehenden verletzenden Ausdrücke bezieht. Sie spricht sich dezidiert gegen eine Zensur aus, da damit gleichzeitig die Maßnahme einer kritischen Umdeutung und Aneignung der verletzenden Begriffe durch die Betroffenen verunmöglicht würde.
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eine sehr viel zentralere Bedeutung zu, als dies bei Honneth der Fall ist. So fragt sie in dem Buch Hass spricht, »ob Sprache uns verletzen könnte, wenn wir nicht in einem bestimmten Sinne ›sprachliche Wesen‹ wären, die der Sprache bedürfen, um zu sein. Beruht unsere Verletzbarkeit durch die Sprache vielleicht darauf, dass es ihre Bedingungen sind, die uns konstituieren? Denn wenn wir sprachlich geprägt sind, dann geht diese prägende Macht jeder Entscheidung, die wir im Hinblick auf sie treffen, voraus und beleidigt uns sozusagen von Anfang an durch ihre vorgängige Kraft.«22
Dass Subjekte ›sprachlich geprägt‹ sind, heißt, dass sie nur zu Individuen werden können, die über eine Identität verfügen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben, wenn sie in eine symbolische Ordnung eingeführt werden. Nur im Rahmen einer bestimmten gesellschaftlichen, normativen und symbolischen Struktur werden sie zu Personen, die Wünsche und Meinungen ausbilden und diese artikulieren können, denn die symbolische Struktur legt fest, was in einer Gesellschaft als sinnvoll und verstehbar gilt, welche Rollenmuster und Identitätskonzepte es gibt und welche Möglichkeiten der Lebensführung offenstehen. Subjekte werden in eine solche symbolische Ordnung eingeführt, indem sie von den anderen Mitgliedern einer Gesellschaft als Subjekte anerkannt werden bzw. sie werden allererst zu Subjekten, indem sie als solche anerkannt werden. Die zentrale Figur des Anerkennungsmodells bei Butler ist die der ›Anrufung‹, die sowohl durch Althusser als auch durch Levinas inspiriert ist.23 Durch die Anrufung bzw. die Adressierung durch ein Mitglied der Gesellschaft wird das Subjekt in seine soziale Existenz gerufen. Das Subjekt wird also nicht anerkannt als die Person, die sie bereits vorgängig und für sich selbst ist, oder aufgrund von Merkmalen und Eigenschaften, auf die sich der Akt der Anerkennung rezeptiv beziehen könnte, sondern erst durch die Einführung in die diskursive Ordnung kann das Subjekt eine individuelle Persönlichkeit überhaupt ausbilden. »Der Akt der Anerkennung wird zu einem Akt der Konstitution; die Anrede ruft das Subjekt ins Leben.«24 Diese Situation wird mit dem von Foucault entlehnten Begriff der ›Subjektivation‹ bezeichnet, der gleichermaßen Subjektwerdung wie Unterwerfung meint. Nur durch die Unterwerfung unter ein bestehendes diskursives und normatives System ist es möglich, den Status eines Subjekts zu erlangen. 22 Butler, Judith, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 9. 23 Althusser konstatiert, »dass die Ideologie derart ›wirkt‹ oder ›funktioniert‹, dass sie durch eine ganz bestimmte Operation, die wir Anrufung nennen, aus der Masse der Individuen Subjekte ›rekrutiert‹ (sie rekrutiert alle) oder diese Individuen in Subjekte ›verwandelt‹ (sie verwandelt alle). Man kann sich diese Anrufung nach dem Muster der einfachen und alltäglichen Anrufung durch einen Polizeibeamten vorstellen: ›He, Sie da!‹« (Althusser, Louis, »Ideologie und ideologische Staatsapparate«, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg, Berlin 1977, S. 108-153) 24 Butler, Hass spricht, a.a.O., S. 43.
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Wir sind also Butler zufolge ›sprachliche Wesen‹, da wir nur durch sprachliche Mittel und im Möglichkeitsraum, den eine Sprache zur Verfügung stellt, zu denen werden können, die wir sind. Nur im Rahmen des Intelligiblen, des ›sozialen Sinns‹, der durch die jeweiligen historisch wandelbaren diskursiven Regeln und Praktiken bestimmt wird, kann das Subjekt als erkennbares und anerkennbares in Erscheinung treten. Subjekte sind diesem Modell zufolge irrreduzibel auf die Ansprache durch andere Subjekte bezogen. Ihre Identität ist dabei nicht das Produkt eines einmaligen initiatorischen Ereignisses, einer einmaligen Anrufung, sondern entsteht in einem laufenden Prozess gegenseitiger Anerkennung. Den Status, ein anerkanntes und anerkennbares Subjekt der Gesellschaft zu sein, das mit gewissen Rechten ausgestattet ist und dem gewisse Handlungsspielräume offenstehen, ist ein Status, der auch wieder verloren bzw. verweigert werden kann. Subjekte verlieren dann mit ihrem Platz in der Gesellschaft gleichsam ihren sozialen Ort und ihr soziales Leben. Durch die Notwendigkeit der beständigen Reaktualisierung des sozialen Status durch die Anerkennung der Anderen ist das Subjekt also seinem Wesen nach auf die Anderen hin geöffnet und in seiner Identität von ihnen abhängig. Diese Offenheit bzw. dieses Geöffnetsein wird nun als die Quelle der Verletzbarkeit durch Worte markiert. Denn durch die Abhängigkeit von und die Empfänglichkeit für die Worte des Anderen kann das Subjekt im Kern seiner Identität, seines Personseins getroffen werden. »Wenn […] Subjekte ohne die sprachliche Haltung zueinander nicht sein könnten, wer sie sind, dann ist diese Haltung hierfür offenbar wesentlich oder etwas, ohne das man nicht sagen könnte, dass die Subjekte existieren. Ihre sprachliche Haltung zueinander, ihre sprachliche Verletzbarkeit durch einander, tritt nicht einfach zu ihren sozialen Beziehungen zueinander hinzu. Vielmehr ist sie eine der ursprünglichen Formen, die diese sozialen Beziehungen annehmen.«25
Wenn man die entsprechenden Passagen in Butlers Ausführung – z. B. auch die zu Beginn dieses Abschnitts zitierte Textstelle – genauer unter die Lupe nimmt, kann man feststellen, dass sprachliche Gewalt bei Butler nicht ein einziges fest umrissenes Phänomen umfasst. In ihrem Modell der Subjektkonstitution sind zumindest drei Aspekte sprachlicher Verletzungen bzw. drei Bedrohungsszenarien, in denen soziale Gewalt ausgeübt wird, im Spiel, die sich in Butlers Ausführungen allerdings nicht immer klar voneinander unterscheiden lassen, und die teilweise erheblich von den Dimensionen, die Honneth unterbreitet, abweichen. Ich möchte diese drei Szenarien im Folgenden unter den Schlagworten ›Ausschluss‹, ›AnVerkennung‹ und ›Prägung‹ voneinander abheben. A. Ausschluss: Die erste und fundamentalste Bedrohung, die in der Konstellation der Subjektivation zum Tragen kommt, ist die des Ausschlusses. Das Sub-
25 Ebd., S. 50.
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jekt muss hier fürchten, von den Mitgliedern einer Gemeinschaft nicht anerkannt zu werden und so durch das Netz sozialer Partizipation hindurchzufallen. Anerkennung ist bei Butler daher eine Frage von Leben und Tod, denn nur durch Anerkennung erhält man eine ›soziale Existenz‹, die Möglichkeit der Teilnahme an Kommunikation und zur Ausbildung einer persönlichen Individualität. Die Bedingung der Anerkennung ist so fundamental angesetzt, dass sich das Schicksal einer nicht-anerkannten Existenz nur schwer vorstellen lässt. Butler betont selbst, dass dies eigentlich eine ›unmögliche Szene‹ darstellt, da alles, was gesellschaftlich wahrnehmbar und beschreibbar ist, bereits in einem gewissen Sinne in den sozialen Raum aufgenommen sein muss. In Bezug auf Subjekte, die durch das Raster der sozialen Anerkennungsordnungen hindurchfallen, spricht Butler »von nichtautorisierten Subjekten, gleichsam von Vor-Subjekten, von Gestalten des Verworfenen […], die der Sicht entzogen sind.«26 B. AnVerkennung:27 Die zweite Form sprachlicher Gewalt bringt uns zu ›verletzendem Sprechen‹ im engeren Sinne, der Ebene also, auf der konkrete Akte der Beschimpfung, Kränkung und Demütigung ihren Platz haben. Die verletzenden Namen, mit denen Subjekte in diesen Fällen angerufen und bezeichnet werden, deklassieren und entwürdigen die Subjekte, sie weisen ihnen einen sozial minderwertigen Status zu. Diese Akte sind bei Butler allerdings nicht, wie es in Honneths Theorie konzipiert wurde, ausschließlich als Negationen und Entzüge von Anerkennung zu begreifen, sondern sie sind selbst auch Formen der Anerkennung, wenn auch depotenzierte und minderwertige. Dass es sich auch bei den Demütigungen um Akte der Anerkennung handelt, kann man daran erkennen, dass sie auf einer basalen Ebene dieselbe konstitutive Funktion erfüllen wie die positiven und affirmativen Akte der Anerkennung. Auch sie verorten das Subjekt im sozialen Raum, wodurch ihm ermöglicht wird, überhaupt am sozialen Leben teilzuhaben, überhaupt gesehen und gehört werden zu können. Im Gegensatz zum vollständigen sozialen Ausschluss ist also sogar die Bezeichnung mit Schimpfnamen etwas Erstrebenswertes, weil diese dem Subjekt wenigstens irgendeinen Platz im sozia-
26 Butler, Judith, »Kontingente Grundlagen«, in: Seyla Benhabib u. a., Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt / Main 1993, S. 31-58, hier S. 46. Butler weist den Status der Verworfenheit manchmal etwas zu leichtfertig zu. So sind Frauen zwar lange Zeit und in vielen Epochen Rechte vorenthalten worden, sie konnten aber sehr wohl als rationale und im privaten Bereich anerkannte Personen existieren; genauso wie Personen mit von der Norm abweichender sexueller Orientierung zwar gesellschaftlich ausgegrenzt werden können, ohne dabei allerdings ihren Status als Rechtssubjekte zu verlieren. Eine Differenzierung von Anerkennungsebenen wie bei Honneth könnte hier mehr Klarheit schaffen.) Was verworfene Wesen aber sein könnten, zeigt sich sehr anschaulich an Butlers eindringlicher Auseinandersetzung mit der Situation der Häftlinge in Guantanamo; vgl. hierzu: Butler, Judith, »Unbegrenzte Haft«, in: dies., Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt / Main 2005, S. 69-120. 27 Diesen Begriff verdanke ich Martin Saar.
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len Gefüge zuweisen, von dem aus es versuchen kann, seine Position zu verbessern und eine akzeptablere Stellung zu erreichen. Dass auch Kränkungen aus Butlers Perspektive diese ermöglichende und konstituierende Funktion erfüllen können, ist der Grund dafür, »dass wir lieber erniedrigt, als gar nicht angesprochen werden.«28 Diese Fälle, in denen die einzigen Begriffe, die dem Subjekt zur Identitätsbildung zur Verfügung stehen und die ihm überhaupt zu einer sichtbaren Existenz im sozialen Raum verhelfen, verletzende und beleidigende Begriffe sind, sind für Butler die interessantesten. Denn an ihnen zeigt sich, dass die Abhängigkeit von der Anerkennung Anderer auch eine negative Dimension birgt, da sie zu einer gewissen Erpressbarkeit führt. »Die Begierde zu sein, erkannt, gesehen, anerkannt zu werden, halte ich für fundamental und manchmal nehmen wir in Kauf, auf Grund von Begriffen erkannt, wahrgenommen, platziert, aufgenommen und anerkannt zu werden, die uns einer enormen Ambivalenz aussetzen, aber wir tun es dennoch, weil wir nur so sein, dass heißt anerkannt werden können.«29
C. Prägung: Die dritte Form sozialer Verletzung ist nun paradoxerweise sogar dann gegeben, wenn affirmative Anerkennung stattfindet. Dieser Aspekt betont das Moment der Einführung in die herrschenden normativen Strukturen, die mit der Subjektwerdung einhergeht, und interpretiert diese als ursprüngliche Einwirkung von Gewalt, als eine Form von basaler Unterwerfung. Der Akt der Anrufung und das Geschehen der Anerkennung ist etwas, was von außen an das Subjekt herangetragen wird, ein Ereignis, das es weder herbeiführen noch verhindern noch steuern kann.30 Die Art und Weise der Aufnahme in eine soziale Ordnung, die den Subjekten in diesem Raum einen bestimmten Ort zuweist, sie mit einer Sprache, einem Wertesystem und einer personalen Identität ausstattet, ist ihnen grundsätzlich unverfügbar, da sie handlungsfähige Subjekte im eigentlichen Sinne erst durch diese Operation werden. Butler beschreibt diesen Sachverhalt meist mit dem Vokabular einer Kränkung oder einer Überwältigung. So ist von einem »konstitutiven Verlust«31, einer »Verletzung«32, einer »Enteignung«33 oder
28 Butler, Hass spricht, a.a.O., S. 45. 29 Ebd. 30 Beatrice Hanssen weist darauf hin, dass für Butler Akte verletzenden Sprechens nur eindringliche Exemplifizierungen einer Gewaltsamkeit der Sprache im Allgemeinen sind (Hanssen, Beatrice, »The Violence of Language«, in: dies., Critique of Violence. Between Poststructuralism and Critical Theory, London, New York 2000, S. 158-178, bes. S. 172 f.). 31 Butler, Judith, Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt / Main 2003, S. 39. 32 Butler, Hass spricht, a.a.O., S. 45. 33 Butler, Kritik der ethischen Gewalt, a.a.O., S. 37.
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einer »inauguralen Entfremdung«34 die Rede. Das unkontrollierbare Ausgeliefertsein wird gleichsam als der Preis veranschlagt, der für den Eintritt in eine soziale Existenz zu entrichten ist. »Es gibt keinen möglichen Schutz vor der Verletzbarkeit und die Empfänglichkeit für den Anruf der Anerkennung, der gleichsam die Existenz herbeiruft, oder vor der primären Abhängigkeit von einer Sprache, die wir nicht selbst gemacht haben, damit wir einen zumindest vorläufigen ontologischen Status haben.«35
Im Gegensatz zu den beiden ersten Formen sozialer Gewalt ist diese Art der Verletzung nicht auf bestimmte einzelne Akte oder Haltungen eingeschränkt, die auch unterlassen werden könnten; sondern diese Art der Verletzung wird als eine ubiquitäre und notwendige Begleiterscheinung der Subjektwerdung eingeführt, die sozusagen eine anthropologische Konstante darstellt.
IV. Verletzende Anerkennung? Offensichtlich sind die beiden Theorien nicht ohne weiteres aufeinander abbildbar und versuchen, mit dem Begriff der Anerkennung jeweils recht unterschiedliche Phänomene, d. h. unterschiedliche Formen von Verletzungen, in den Griff zu bekommen. Einig scheinen sich beide zunächst nur darin zu sein, dass Akte der affirmativen Anerkennung positive psychische Resultate zeitigen können, und dass das Ausbleiben dieser Akte zu psychisch prekären Situationen führen kann. Butler benennt aber weitere Formen der sozialen Gewalt, die durch bestimmte Akte der Anerkennung selbst exekutiert werden. Dies ist mit Honneth, zumindest auf den ersten Blick, nicht vereinbar, da der Anerkennung die Affirmation nach Maßgabe seines Ansatzes bereits begrifflich eingeschrieben ist. Akte der Anerkennung sind immer Akte, die auf Eigenschaften und Fähigkeiten anderer positiv und bejahend Bezug nehmen und diese würdigen. Butler benutzt im Gegensatz dazu einen evaluativ neutraleren Begriff der Anerkennung. Mit anerkennenden Akten sind dabei diejenigen intersubjektiven Akte gemeint, die sich so auf ein Subjekt beziehen, dass ihm dadurch ein bestimmter Status und ein sozialer Ort zugewiesen wird. Anerkennung hat damit eine ermöglichende oder konstitutive Funktion, ohne dass dies allein über die psychisch positive Disposition des fraglichen Subjekts erläutert würde. Die Anerkennung als ›Klassenclown‹ kann beispielsweise zu Scham und Minderwertigkeitsgefühlen führen und räumt dem Subjekt dennoch eine Position ein, in der es als rationales Wesen gesehen wird und in der sich ein gewisser Spielraum von 34 Butler, Judith, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt / Main 2001, S. 32. 35 Butler, Hass spricht, a.a.O., S. 44. Oder ebd., S. 60: »Schließlich ist jede Benennung durch einen Anderen traumatisch, weil diese Handlung meinem Willen vorausgeht […].«
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Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Im Gegensatz zu Honneth lässt sich bei Butler daher von ›verletzender Anerkennung‹ reden, ohne dass es sich dabei um ein Oxymoron handeln würde.36 Im Folgenden soll im Austausch mit den beiden theoretischen Ansätzen geklärt werden, inwieweit es sinnvoll ist, Formen von ›verletzender Anerkennung‹ anzunehmen. Dies soll unter Berücksichtigung der folgenden beiden Leitfragen geschehen: Erstens soll geklärt werden, ob die beiden Phänomenbereiche, die mit Butler als ›verletzende Anerkennung‹ gefasst werden können und die im vorherigen Abschnitt unter den Schlagworten ›AnVerkennung‹ und ›Prägung‹ eingeführt wurden, überhaupt relevante Gegenstände sind, ob sie in dieser Form tatsächlich existieren und ob sie als Formen sozialer Gewalt einzustufen sind. Um die zweite Leitfrage zu formulieren, muss kurz eine Dimension in den Blick gerückt werden, die bisher nicht berücksichtigt wurde: die Dimension der Kritik. Sowohl Butler als auch Honneth etablieren den Begriff der Anerkennung und untersuchen das Feld der ›sozialen Gewalt‹, um damit das Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie zu fundieren. Die Phänomene von Demütigungen, Ausgrenzungen und anderen Formen ›sozialer Verletzung‹ können dabei zu einer systematischen Durchleuchtung und einer normativen Beurteilung der jeweiligen Anerkennungsordnungen einer Gesellschaft beitragen.37 Aus dieser Perspektive lässt sich fragen, ob es sich bei den Phänomenen der ›verletzenden Anerkennung‹ um relevante Gegenstände handelt, die im Rahmen einer kritischen Theorie berücksichtigt und erläutert werden können sollten. Diese Punkte werden nun nacheinander für die Phänomene der ›Prägung‹ und der ›AnVerkennung‹ erörtert. A. Prägung: Das Verfahren, jegliche Form der Subjektkonstitution als repressiv, verletzend und gewaltsam zu begreifen, ist nicht ohne theoretische Vorbilder und kann zu durchaus erhellenden Einsichten führen. Viele Theoretiker von Nietzsche über Freud bis hin zu Adorno und Foucault haben in genealogischer Perspektive den Prozess der Subjektwerdung als ein mehr oder weniger, physisch oder psychisch grausames Schauspiel der Dressur und Unterwerfung, der Züchtigung und Zurichtung ausgemalt. Butler verortet sich offensichtlich und in manchen Hinsichten auch zu Recht in dieser Traditionslinie, in der das Subjekt nicht als transzendentale und unhistorische Gegebenheit betrachtet wird, sondern der Blick auf die (mehr oder weniger) kontingenten Konstitutionsbedingungen des Subjekts und insbesondere auch auf die Kosten, die mit der Subjektwerdung verbunden sind, gelenkt wird. Die Kontingenz der Konstitutionsbedingungen kann Butler immer wieder sehr überzeugend herausarbeiten. Was allerdings nur sehr unzureichend begründet wird, ist der Umstand, dass es sich hier überhaupt um 36 So spricht Butler mit einer Formulierung von Gayatri Spivak auch von einer »befähigenden Verletzung«. (Butler, Judith, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt / Main 1997, S. 176.) 37 Vgl. hierzu: Deines, Stefan, »Soziale Sichtbarkeit. Anerkennung, Normativität und Kritik bei Judith Butler und Axel Honneth«, in: Georg Bertram u. a. (Hg.), Socialité et reconnaissance. Grammaires de l´humain, Paris 2007, S. 139-157 (im Druck).
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eine irgendwie geartete Verletzung oder Entfremdung handelt. Denn im Gegensatz zu den anderen genannten Autoren vermisst man hier eine Benennung sowohl dessen, der verletzt wird, als auch der Art und Weise der Verletzung.38 Als ›Verlustgeschichte‹ könnte der Prozess der Subjektwerdung in der Perspektive Butlers nur vor der Folie einer isolierten und autonomen Subjektinstanz gelesen werden. Das einschränkende des Prozesses wird unter Hinweis auf die Tatsache erläutert, dass ich die Normen und Bedingungen meines Werdens »nicht gemacht« habe, dass ich mich nicht als ihr ›Autor‹ verstehen kann und dass sie mir äußerlich sind, bevor ich sie mir im Prozess der Subjektivation aneigne. Das bedeutet, dass der intersubjektive Aspekt der Subjektkonstitution, das Verwiesensein auf den Anderen und auf die Normen der Gesellschaft, als heteronome Einschränkung eines vorgängigen unabhängigen und autonomen Subjekts konzipiert wird, um den Akt der Anrufung und Anerkennung als einen gewaltsamen und verletzenden Akt begreifen zu können. Das ist nun aber im Kontext des Butlerschen Theoriegebäudes höchst verwunderlich; denn für ein Subjekt mit diesen Eigenschaften ist dort eigentlich keinerlei Platz. Im Gegenteil: Die theoretische Arbeit Butlers ist von dem Projekt geprägt, die Instanz eines autonomen Subjekts zu dekonstruieren und aus dem philosophischen Denken zu entfernen. Ihre Ethik ist dem entsprechend darauf ausgerichtet, eine ethische Haltung zu plausibilisieren, ohne dabei auf einen durchgängig rationalen und autonomen Agenten zurückgreifen zu müssen, der als ›Autor‹ seiner Handlungen dingfest und für sie verantwortlich gemacht werden könnte. Ein solches Subjekt ist – und da ist sich Butler Nietzsche und Lacan im Grunde einig – höchstens ein Phantom, ein Phantasma, eine reine (und unerreichbare) Wunschvorstellung.39 Nur vor der Folie einer autonomen und geradezu omnipotenten Subjektivität allerdings »wird die Verletzung bereits durch den Akt der Anrufung vollzogen, der die Möglichkeit einer Autogenese des Subjekts durchstreicht […].«40 Unter diesen Voraussetzungen scheint Butler die verletzende Anerkennung der Prägung also gar nicht plausibel ausformulieren zu können.41 Darüber hinaus ist 38 Es fehlen also, mit einer Formulierung von Martin Saar, die »konkreten Kostenrechnungen« und »Verlustgeschichten« und damit das diffamierende Element, das der Genealogie seine kritische und subversive Kraft verleiht (Saar, Martin, »Genealogie und Subjektivität«, in: ders. / Axel Honneth (Hg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt / Main 2003, 157-177, hier 167). 39 »Kein Subjekt ist sein eigener Ausgangspunkt. Die Phantasie, die es zu einem solchen erklärt, kann [die gesellschaftlichen] konstitutiven Beziehungen nur verleugnen, indem sie sie zum entgegengesetzten Gebiet reiner Äußerlichkeit umformt.« (Butler, »Kontingente Grundlagen«, a.a.O., S. 41) 40 Butler, Hass spricht, a.a.O., S. 45. 41 Bei Butler lassen sich in dieser Hinsicht dieselben Rudimente einer Entfremdungstheorie finden, die Rorty auch bei Foucault zu entdecken vermeint: »Ich glaube […], dass er […] in dem Punkt, dass das Selbst, das Subjekt Mensch, immer nur ist, was kulturelle Anpassung aus ihm macht, selbst doch noch im Bereich der Denkweise bleibt, die sich etwas tief innen im Menschen vorstellt, das durch kulturelle
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das Phänomen, wie sie es beschreibt, für eine kritische Theorie nicht besonders alarmierend, da die Subjektivation immer, überall und unvermeidlich dieselben Kosten zu verursachen scheint, die in der Beschädigung der Autonomie des Subjekts liegen. Kritische Theorie ist hingegen nur bei Phänomenen gefragt, die sich auch sinnvoll kritisieren, das heißt letztendlich auch, zumindest potentiell, verändern bzw. verbessern lassen. Nun ist aber keinesfalls ausgemacht, dass dies bei dem Prozess der Subjektkonstitution nicht tatsächlich der Fall ist, und dass es verschiedene Praktiken der Konstitution gibt, die unterschiedlich gewalttätig, gleichmacherisch oder einschränkend vorgehen;42 und die Bedingungen und Techniken der Subjektkonstitution sind daher durchaus ein potentieller Gegenstandsbereich kritischer Theorie. Auch wenn ihr die Mittel zu einer differenzierenden Beschreibung fehlen, eröffnet Butler hier also zumindest die Perspektive auf ein Feld potentieller sozialer Gewalt, das mit Honneths Theorie gar nicht recht in den Blick zu nehmen ist, weil er die positiven und bejahenden Handlungen und Praktiken als einzig relevant und auch hinreichend für die Konstitution für Subjekte erachtet, nicht aber mögliche negative und verletzende. B. AnVerkennung: In noch stärkerem Maße als Honneth betont Butler die Abhängigkeit des Subjekts von der Haltung der Anderen und legt damit auch den Bereich einer gewissen Erpressbarkeit des Subjekts im Hinblick auf Formen der Anerkennung frei. Dabei kann diese Erpressbarkeit zu ausgesprochen perfiden Situationen führen, in denen Subjekte sich möglicherweise mit den Demütigungen und Kränkungen durch Andere arrangieren, weil es für sie, um die eindringliche Formel von Butler zu wiederholen, besser ist, erniedrigt als gar nicht angesprochen zu werden. Butler unterstreicht damit, dass selbst in verletzenden Anrufen noch ein Stück Anerkennung steckt, und dass diese Anerkennung manchmal den Preis der Demütigung wert zu sein scheint. Dass Butler auf diese Weise ein Instrumentarium zur Verfügung stellt, mit dem sich nicht nur analysieren lässt, wieso Subjekte gedemütigt und erniedrigt werden können, sondern darüber hinaus, warum Subjekte es manchmal vorziehen, in dieser Erniedrigung zu verharren, ist ein nicht unerheblicher Beitrag für eine kritische Theorie. Denn so können auch Formen einer ideologischen oder verzerrten Anerkennung aufgedeckt werden, die nicht der bejahenden Unterstützung von Personen dienen, sondern eher ihrer Steuerung und Formung. Der Klassenclown, die Selbstmordattentäterin und der Workaholic machen deutlich, dass es Strukturen der Anerkennung geben kann, die nicht der individuellen Selbstverwirklichung dienen, sondern zur Anpassung deformiert wird.« (Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a.a.O., S. 116) 42 Diesen Punkt moniert meiner Meinung nach zu Recht Nancy Fraser: »Ebenso schließt die Ansicht, Subjektivierung bringe zwangsläufig Unterwerfung mit sich, normative Unterscheidungen zwischen besseren und schlechteren subjektivierenden Praktiken aus.« (Fraser, Nancy, »Falsche Gegensätze«, in: Seyla Benhabib u. a., Der Streit um Differenz, a.a.O., S. 73.)
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Übernahme fremdbestimmter Selbstbilder und Lebenswege drängen, weil für manche Subjekte auf diese Weise mehr – oder sogar ausschließlich auf diese Weise – Anerkennung zu erlangen ist. In dem Aufsatz »Anerkennung als Ideologie« sieht auch Honneth, dass die »Unschuldsvermutung«, die besagt, dass Anerkennung immer der Steigerung der individuellen Autonomie dient, durch den Verdacht in Frage gestellt wird, dass »die Praktiken der Anerkennung nicht eine Ermächtigung der Subjekte, sondern im Gegenteil deren Unterwerfung bewirken« können.43 Allerdings ist die Gefahr der Verbreitung von ideologischen Formen der Anerkennung nicht besonders groß, wie sich an dem Katalog von Anforderungen ablesen lässt, die Honneth zufolge erfüllt sein müssen, damit eine Ideologie der Anerkennung überhaupt wirksam werden könnte. »Ideologien der Anerkennung müssen […] positive Klassifikationen darstellen, deren evaluativer Gehalt so glaubwürdig ist, dass sie von den Adressaten aus guten Gründen akzeptiert werden können: deren Selbstverhältnis muss sich im Licht der neuen Auszeichnung so ändern können, dass ihnen die psychische Prämie winkt, wenn sie sich die mit der Auszeichnung assoziierten Fähigkeiten, Bedürfnisse oder Tugenden tatsächlich zu Eigen machen.«44
Darüber hinaus sollen sich die mit der Anerkennung verbundenen symbolischen Auszeichnungen auch in konkreten Handlungen oder Gütern niederschlagen und daher nicht in der Sphäre ›leerer Versprechungen‹ verbleiben können. Wenn Subjekte nur unter diesen Bedingungen geneigt sind, die Angebote der Anerkennung anzunehmen und sich mit ihnen zu identifizieren, dann existiert für ›verletzende Anerkennung‹ und eine auf der Abhängigkeit von der Anerkennung beruhenden Erpressbarkeit tatsächlich nur ein sehr geringer Entfaltungsraum. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass die Subjekte, die den ›Verlockungen‹ ideologischer Anerkennung widerstehen können, als sehr ›starke Subjekte‹ konzipiert werden müssen. Sie müssen selbstständig und autonom reflektieren und agieren können, und das heißt nach Maßgabe von Honneth ja eigentlich: Sie müssen in allen relevanten Bereichen schon sehr viel Anerkennung erfahren haben, um diese Position einnehmen zu können. Dass es aber auch Formen der Anerkennung gibt, die wirksam werden können, da sie sich an vergleichsweise ›schwache Subjekte‹ richten, hat auch Honneth selbst bereits früh erkannt. Am Beispiel neonazistischer Gruppierungen markiert er in dem Text »Die soziale Dynamik von Missachtung« die Möglichkeit des ›Missbrauchs‹ von Anerken43 Honneth, Axel, »Anerkennung als Ideologie«, in: Westend. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, Heft 1, 2004, S. 51-70, hier S. 51 f. Ganz im Sinne des vorherigen Abschnitts wendet Honneth hier gegen Butler und insbesondere gegen Althusser ein, dass es zur Klärung des Phänomens der ›ideologischen Anerkennung‹ nicht dienlich sein kann, »jede Form der Anerkennung unterschiedslos [als] eine Gestalt der Ideologie« zu betrachten (ebd., S. 60). 44 Ebd., S. 65
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nung, da hier Praktiken greifen, mit denen junge Menschen gefügig gemacht werden können, weil sie hier auf Anerkennung rechnen dürfen, die ihnen draußen (in der Gesellschaft) verweigert wird. Honneth zitiert die Aussage eines ehemaligen Mitglieds einer solchen Gruppe über seinen Umgang mit den jungen Männern: »›Ich baute sie auf und lobte sie gelegentlich, um ihr Selbstwertgefühl zu heben. Solche Anerkennung machte sie vollkommen abhängig von der Gemeinschaft, die wir Kameradschaft nannten. Diese »Kameradschaft« wird für viele zu einer Art Droge, von der sie nicht mehr lassen können.‹«45
Auch Honneth sieht also durchaus gewisse negative Formen der Anerkennung, die ihre Wirksamkeit aus der Abhängigkeit der Subjekte von Anerkennung beziehen. Diese Formen der Anerkennung sind als negativ zu betrachten, weil sie nicht der Selbstverwirklichung der Individuen zuarbeiten. Die Akte, durch die diese Formen der Anerkennung ausgeübt werden, sind allerdings auch hier ausschließlich Akte der positiven Bezugnahme, des Lobs und der Bejahung, nur dass sie sozusagen unaufrichtig eingesetzt werden. Butler geht hier nun noch einen Schritt weiter, indem sie auch in nicht-bejahenden Akten wie Demütigungen und Schmähungen eine Form von Anerkennung aufspürt. Aber auch zur Erläuterung dieses Sachverhalts lässt sich möglicherweise ein Ansatzpunkt in Honneths Theoriegebäude finden. Denn in seinem kürzlich erschienenen Buch über »Verdinglichung« wird eine neue, vierte Dimension der Anerkennung eingeführt, die den drei oben dargestellten Dimensionen noch zugrunde liegen soll. In dieser, in Anlehnung an Stanley Cavell entwickelten, »elementareren« oder »existentielleren« Schicht der Anerkennung geht es nicht um die Würdigung spezieller Eigenschaften und Fähigkeiten am Gegenüber, sondern um eine bloße Wahrnehmung des Anderen als eine menschliche Person. Die Akte, durch die diese Form der Anerkennung ausgeübt wird, sind nun nicht notwendig affirmativ, sondern in den meisten der alltäglichen Handlungen oder Äußerungen zu finden: »Auch bloße Indifferenz oder negative Empfindungen sind […] noch mögliche Weisen der intersubjektiven Anerkennung […].«46 »[S]elbst wenn wir ihn im Augenblick verfluchen oder hassen«, erkennen wir im Anderen einen gewissen Wert an und schreiben ihm den Status, eine menschliche Person zu sein, zu. In Honneths Ausführungen klingt es nun nicht so, als ließe sich denken, dass es menschliche Wesen gibt, denen diese Form der Anerkennung jemals vorenthalten werden könnte, wohingegen Butler in einer pessimistischeren Perspektive durchaus Szenarien entwirft, in denen Subjekte vollständig ausgegrenzt, isoliert und verworfen sein können. Auch diese basale Ebene der 45 Honneth, Axel, »Die soziale Dynamik von Missachtung. Zur Ortsbestimmung einer kritischen Gesellschaftstheorie«, in: ders., Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt / Main 2000, S. 88-109, hier S.108. 46 Honneth, Verdinglichung, a.a.O., S. 59.
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Anerkennung ist bei ihr noch Territorium eines ›Kampfes um Anerkennung‹. Unter solch extremen Bedingungen, in denen Subjekte droht, vollständig aus der gesellschaftlichen Ordnung herauszufallen, können es dann aber sogar die Begriffe sein, »die uns beleidigen, verletzen, kontrollieren, regulieren, ohne die wir nicht zu leben wissen, die wir brauchen, um eine öffentliche oder soziale Position einzunehmen.«47
V. Fazit Es hat sich gezeigt, dass anerkennungstheoretische Erläuterungen der Konstitution von Subjekten sehr fruchtbar auf die Frage nach der Quelle und der Wirkungsweise sozialer Gewalt angewendet werden können. Die meisten verletzenden Handlungen und Haltungen lassen sich dabei überzeugend mit dem Modell erfassen, das Demütigungen und Missachtungen als Negationen von Anerkennung begreift und das Honneth für verschiedene Ebenen der Anerkennung systematisiert und präzisiert hat. Mit der Theorie Butlers sind aber noch weitere Formen sozialer Gewalt sichtbar geworden, die als Akte ›verletzender Anerkennung‹ bezeichnet wurden, da sie nicht durch den Entzug, sondern gerade durch die Gewährung von Anerkennung soziale Gewalt ausüben. Ob man diese Phänomene nun tatsächlich mit dem Terminus der Anerkennung bezeichnen sollte oder diesen für die positiven und affirmativen intersubjektiven Akte reservieren möchte, bleibt letztlich ein Streit um Worte. Wichtig ist, festzuhalten, dass es responsive Akte geben kann, die zwar ein gewaltsames Element transportieren, das dem positiven Selbstbild einer Person schadet oder widerspricht, aber dennoch eine ermöglichende und subjektkonstituierende Funktion ausüben. In den Nischen und an den Grenzen der Anerkennungspraxis können sich daher Formen sozialer Gewalt verbergen, denen eine kritische Theorie auf der Spur bleiben sollte.
Literatur Althusser, Louis, »Ideologie und ideologische Staatsapparate«, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg, Berlin 1977, S. 108-153. Butler, Judith, »Kontingente Grundlagen«, in: Seyla Benhabib u. a., Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt / Main 1993, S. 31-58. — Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt / Main 1997.
47 Butler, Judith, »Eine Welt, in der Antigone am Leben geblieben wäre«, Interview, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 4, Bd. 49, 2001, S. 587-599, hier S. 592.
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— Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998. — Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt / Main 2001. — »Eine Welt, in der Antigone am Leben geblieben wäre«, Interview, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 4, Bd. 49, 2001, S. 587-599. — Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt / Main 2003. — »Unbegrenzte Haft«, in: dies., Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt / Main 2005, S. 69-120. Deines, Stefan, »Soziale Sichtbarkeit. Anerkennung, Normativität und Kritik bei Judith Butler und Axel Honneth«, in: Georg Bertram u. a. (Hg.), Socialité et reconnaissance. Grammaires de l´humain, Paris 2007, S. 139-157 (im Druck). Emcke, Carolin, Kollektive Identitäten. Sozialphilosophische Grundlagen, Frankfurt / Main 2000. Fraser, Nancy, »Falsche Gegensätze«, in: Seyla Benhabib u. a., Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt / Main 1993, S. 59-79. Fraser, Nancy / Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung. Eine politischphilosophische Kontroverse, Frankfurt / Main 2003. Hanssen, Beatrice, »The Violence of Language«, in: dies., Critique of Violence. Between Poststructuralism and Critical Theory, London, New York 2000, S. 158-178. Honneth, Axel, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt / Main 1994. — »Gesellschaft ohne Demütigung. Zu Avishai Margalits Entwurf einer ›Politik der Würde‹«, in: ders., Die zerrissene Welt des Sozialen, Frankfurt / Main 1999, S. 248-277. — »Die soziale Dynamik von Missachtung. Zur Ortsbestimmung einer kritischen Gesellschaftstheorie«, in: ders., Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt / Main 2000, S. 88-109. — »Unsichtbarkeit. Über die moralische Epistemologie von ›Anerkennung‹«, in: ders., Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt / Main 2003, S. 10-27. — »Anerkennung als Ideologie«, in: Westend. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, Heft 1, 2004, S. 51-70. — Verdinglichung, Frankfurt / Main 2005. Mead, George H., Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt / Main 1995. Rorty, Richard, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt / Main 1992. Saar, Martin, »Genealogie und Subjektivität«, in: ders. / Axel Honneth (Hg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt / Main 2003, S. 157-177. Taylor, Charles, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt / Main 1993.
THOMAS MARKERT
Zur Praxis verbaler Gewalt unter Schülerinnen und Schülern
Verbale Gewalt unter Schüler/innen zu thematisieren bedeutet, den Alltag in Schulen zu untersuchen. Von außen betrachtet scheint es für Kinder und Jugendliche geradezu ›normal‹ zu sein, sich gegenseitig zu beleidigen oder übereinander zu lästern. Nicht nur die Heranwachsenden sind als Akteure damit konfrontiert. Auch die Pädagog/innen nehmen Beleidigungen und Beschimpfungen unter den Kindern / Jugendlichen wahr. Für sie ist damit tagtäglich die Frage verbunden, inwieweit das Handeln der Schüler/innen Gewalt ist und so Anlass für eine Intervention ihrerseits bilden sollte oder hier ihr Einschreiten eine überzogene, dramatisierende Reaktion auf eine spielerische Neckerei wäre. Was sich als eine Problematik für das pädagogische Handeln skizzieren lässt, muss ebenso in der Forschung Beachtung finden. Daher ist es Anliegen dieses Beitrages, in einem ersten Schritt verbale Gewalt zu bestimmen. Ausgehend davon wird dann die Praxis verbaler Gewalt in einer Schulklasse anhand von Interviewmaterial1 untersucht. Im Mittelpunkt stehen zwei Jugendliche, die im Rahmen von Ausgrenzungsprozessen zum Ziel sprachlicher Gewalt werden. Über die Aussagen der interviewten Jungen und Mädchen wird zum einen die Verletzungsmächtigkeit von Worten deutlich. Zum anderen weist das empirische Ergebnis jedoch auf soziale Effekte gewalthaften Sprechens hin, die neben der de1 Die Interviews wurden vom Autor im Rahmen einer Forschung zu Ausgrenzungsprozessen in Schulklassen durchgeführt. In dem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Promotionsprojekt wird anhand einer qualitativen Fallstudie die Perspektive von Schüler/innen und Lehrerkräften auf die Ausgrenzungspraxis in einer Schulklasse untersucht (vgl. auch Markert, Thomas, Ausgrenzung in Schulklassen. Eine qualitative Fallstudie zur Schüler- und Lehrerperspektive, Bad Heilbrunn 2007 (im Druck)).
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mütigenden und verletzenden Wirkung auch ein Teil der Praxis verbaler Gewalt unter Schüler/innen sind. Diese begleitenden sozialen Prozesse trägt der letzte Abschnitt zusammen.
Verbale Gewalt im Kontext von Ausgrenzungsprozessen – eine Begriffsbestimmung Gewalt ist laut Imbusch einer der »schillerndsten und zugleich schwierigsten Begriffe der Sozialwissenschaften«.2 Auch in der schulbezogenen Gewaltforschung erweist sich der Gebrauch des Gewaltbegriffs keinesfalls als unproblematisch.3 Gewalt wird hier zumeist »als eine zielgerichtete direkte Schädigung begriffen […], die unter körperlichem Einsatz und / oder mit psychischen und verbalen Mitteln erfolgt und sich gegen Personen und Sachen richten kann.«4 Gewalt dient der Durchsetzung eigener Interessen gegenüber denen anderer und ist so der »Gegenpol zu argumentativem Aushandeln«5. Mit dem Aspekt der Schädigung geht der Umstand einher, dass die Agierenden als Täter/innen bzw. Opfer bestimmt werden. Mit diesem Blickwinkel ist nicht jede Rauferei, die unter Kindern / Jugendlichen stattfindet, zugleich Gewalt. »Raue Spiele«6, die für die Handelnden im gegenseitigen Einverständnis »Spaß« bedeuten, sind von körperlichen Tätlichkeiten zu trennen. Entsprechend wird in der schulischen Gewaltforschung hinsichtlich physischer Gewalt zwischen »Spaßkampf« und »ernsthaften Prügeleien« unterschieden.7 Eine solche Differenzierung ist für die Formen der sprachlichen Gewalt noch völlig offen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Wirkung von Beschimpfungen und Beleidigungen wesentlich stärker als bei körperlicher Gewalt von der Interpretation des Empfängers abhängt. Nunner-Winkler zeigt im Rahmen ihrer sprechakttheoretischen Analyse diese grundsätzliche Differenz deutlich auf: »Im prototypischen Fall kann physische Gewalt monologisch, d. h. vom Täter allein vollzogen 2 Imbusch, Peter, »Der Gewaltbegriff«, in: Wilhelm Heitmeyer / John Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 26-57, hier S. 26. 3 Vgl. Krumm, Volker, »Methodenkritische Analyse schulischer Gewaltforschung«, in: Heinz Günter Holtappels u. a. (Hg.), Forschung über Gewalt an Schulen, Weinheim, München 1999, S. 63-79. 4 Melzer, Wolfgang, »Gewaltemergenz – Reflexionen und Untersuchungsergebnisse zur Gewalt in der Schule«, in: psychosozial, Heft 1, Bd. 79, 2000, S. 7-16, hier S. 9. 5 Krappmann, Lothar / Hans Oswald, Alltag der Schulkinder, Weinheim, München 1995, S. 124. 6 Oswald, Hans, »Jenseits der Grenze zur Gewalt: Sanktionen und rauhe Spiele«, in: Mechthild Schäfer / Dieter Frey (Hg.), Aggression und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen, Göttingen u. a. 1999, S. 179-199. 7 Beispielsweise: Forschungsgruppe Schulevaluation, Gewalt als soziales Problem in Schulen, Opladen 1998.
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werden. Psychische ›Gewalt‹ hingegen stellt notwendig ein interaktives Geschehen dar, sofern der Täter für den Erfolg seiner Handlung unhintergehbar auf die Mitwirkung des Opfers angewiesen ist.«8 Pointiert heißt dies: »Der gut gezielte Faustschlag trifft das Opfer unvermeidlich, die Beleidigung kann es ignorieren oder – besser noch – öffentlich sichtbar scheitern lassen.«9 Diese Besonderheit sprachlicher Gewalt im Verhältnis zu physischer Gewalt fand bisher ungenügend Eingang in die schulische Gewaltforschung. In einschlägigen Repräsentativstudien werden die Schüler/innen danach gefragt, ob sie von anderen »gehänselt oder geärgert« bzw. »angeschrien, beschimpft, beleidigt«10 worden sind. Die Ergebnisse belegen, dass verbale Gewalt häufiger als andere Gewaltformen von den Schüler/innen angewandt wird. Zudem stellen Fuchs et al. in ihrer Längsschnittstudie fest, dass sich im Vergleich zur ersten Befragung 1994 im Jahr 1999 mehr Kinder und Jugendliche an sprachlicher Gewalt beteiligen, indem sie beispielsweise »mit der Clique laut über eine andere Clique herziehen« – so eine Formulierung aus dem Fragebogen. In der Analyse werten die Forscher das »Übereinander-Herziehen« zwar als eine »Form verbaler Gewalt«, die jedoch »eher harmlos – um nicht zu sagen, fast schon ›normal‹ ist«.11 Diese Interpretation erweckt den Anschein, dass die Autoren anzweifeln, tatsächlich Gewalt gemessen zu haben. Aus der Verbreitung wird auf eine Normalität geschlossen, die dann zu einer harmlosen, also unschädlichen Handlung erklärt wird. Eindrücklich zeigt sich hier, dass von außen schwer einschätzbar ist, welche Verletzung einer Person mit dem gewalthaften Sprechen einhergeht. Verbale Gewalt lässt sich nur unscharf erfassen, wenn der Handlungszusammenhang sowie die Perspektive derjenigen, die Ziel des gewalthaften Sprechens sind, unbekannt bleiben. Daher wird in diesem Beitrag verbale Gewalt unter Schüler/innen anhand von Interviewpassagen in Verbindung mit dem Interaktionskontext analysiert. Ausgewählt werden Beschimpfungen, Beleidigungen etc., die im Zusammenhang mit zugespitzten Konflikten, die von den Agierenden auch als solche interpretiert werden, auftauchen. Mit diesem Schritt rücken Interaktionen ins Zentrum der Betrachtung, in denen Ausgrenzungsprozesse ersichtlich sind. Mit den Ausgrenzungen wird so ein Interaktionsfeld betrachtet, in dem gewalthaftes Sprechen bedeutsam ist. Sprachliche Gewalt, die innerhalb der Klasse in anderen 8 Nunner-Winkler, Gertrud, »Mobbing und Gewalt in der Schule. Sprechakttheoretische Überlegungen«, in: Westend. Zeitschrift für Sozialforschung, Heft 1, Bd. 1, 2004, S. 91-100, hier S. 94. 9 Ebd., S. 96 10 So wird beispielsweise in einer sächsischen und einer hessischen Repräsentativstudie nach den Opfer-Erfahrungen psychischer Gewalt gefragt (vgl. Forschungsgruppe Schulevaluation, Gewalt als soziales Problem in Schulen, a.a.O., S. 300; Tillmann, Klaus-Jürgen u. a., Schülergewalt als Schulproblem, Weinheim, München 2000, S. 345). 11 Fuchs, Marek / Siegfried Lamnek / Jens Luedtke, Tatort Schule, Opladen 2001, S. 108.
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Zusammenhängen angewandt wird, bleibt in diesem Beitrag damit unberücksichtigt.
Verbale Gewalt – eine empirische Bestimmung Der Frage, wie Schüler/innen verbale Gewalt einsetzen, wird anhand von Interviews12 mit Jugendlichen einer achten Realschulklasse nachgegangen. Mit einem ersten Interviewausschnitt wird zunächst in die Schulklasse als sozialem Raum eingeführt, in dem gewalthaft gesprochen wird. Für die weitere Analyse werden die Fälle Doro und David ausgewählt, denn diese beschreiben sich in den Interviews selbst als Ziel verbaler Gewalt und lassen so die Erfahrungsebene verbaler Gewalt deutlich werden. Darüber hinaus eröffnen diese beiden Fälle auch eine Perspektive auf diejenigen, die beleidigen, beschimpfen oder lästern, da Doro und David von ihren Mitschüler/innen explizit als Zielscheibe verbaler Gewalt betrachtet werden.
Das soziale Klima in der Klasse: »Beleidigungen sind an der Tagesordnung« Die Relevanz sprachlicher Gewalt in der untersuchten Schulklasse lässt sich mit Hilfe einer Äußerung13 des Schülers Egon erschließen. Nach ›Gewalt‹ gefragt, spricht Egon – im Gegensatz zu den anderen befragten Jugendlichen – nicht von den alltäglichen körperlichen Auseinandersetzungen unter den Jungen: I: Wie ist das unter den Gruppen oder unter Jungs und Mädels. Gibt es da so was wie manchmal so Gewalt in irgendeiner Art und Weise, oder? […] 12 Die Schüler/innen wurden mittels einer als ›narratives Soziogramm‹ bezeichneten Variante des problemzentrierten Interviews befragt. Diese Befragungstechnik wurde eigens im Rahmen des oben genannten Forschungsprojektes entwickelt, um gezielt die Perspektive der Jugendlichen auf die sozialen Beziehungen und Prozesse in ihrer Klasse zu erfassen. Kennzeichen des Verfahrens ist die Erarbeitung eines grafischen Gesprächsleitfadens durch die befragten Jugendlichen selbst. In einem ersten Schritt erstellen diese auf einem Pappkreis mit Hilfe von Klebeetiketten, die die Namen ihrer Mitschüler/innen tragen, ein Soziogramm ihrer Schulklasse. Diese Grafik bildet den Leitfaden des Interviews. Die Jugendlichen erläutern im Gespräch anhand des Sozigramms ihre Perspektive auf die Beziehungen und Geschehnisse in der Klasse. (Zum problemzentrierten Interview siehe Witzel, Andreas, »Das problemzentrierte Interview«, in: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [Online Journal], Nr. 1, Bd. 1, 2000, abrufbar über http://qualitative-research.net/fqs.) 13 Eine formale Anmerkung zu den eingefügten Gesprächsauszügen: Die Interviewtexte sind durch Auslassungen, die mittels […] gekennzeichnet sind, gekürzt. Der Buchstabe »I« markiert die Beiträge des Interviewers. Mit der Zeichenkombination (.) sind die Gesprächspausen transkribiert. Die Anzahl der in runden Klammern gerahmten Punkte gibt die Pausendauer in Sekunden wieder (Beispiel: (...) = 3 s Pause).
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E: Na ja, verbale Beleidigungen sind also an der Tagesordnung. Also, das ist normal, aber das sieht, sieht eigentlich keiner als Beleidigung wirklich. (Egon)
In Egons Äußerung erscheint »verbale Beleidigung« als Gewalt und zugleich als alltäglicher Umgang. Sprachliche Gewalt ist für Egon eine Normalität, die zum einen den Alltag und die Klassenatmosphäre bestimmt und zum anderen mit der Anforderung verbunden ist, Beleidigungen nicht als solche zu bewerten: die »sieht eigentlich keiner als Beleidigung wirklich.« Hier vermischen sich zwei verschiedene Formen der Beleidigung. Zum einen verweist Egon auf Beleidigungen, die im Zuge eines »rituellen Beleidigens«14 unter den Jugendlichen ausgetauscht werden. Dies meint, dass es unter den Jugendlichen an der »Tagesordnung« ist, einander durch Beschimpfungen zu provozieren und sich darin zu messen, aufeinander zu reagieren. Dabei bleiben die Beteiligten innerhalb eines ausgehandelten »Rahmens«15, in dem ausgesprochene Beleidigungen eben keine »wirklichen« Beleidigungen sind. Dies gehört zum Alltag der Jugendlichen. Was extern betrachtet wie Gewalt wirkt, ist hier ein Bestandteil der Gleichaltrigenkultur, der mit einem sportlichen Wettkampf vergleichbar ist.16 Zum anderen werden Beleidigungen laut Egon nur »eigentlich« von keinem als solche verstanden. Es gibt also auch Fälle, wo Jugendliche Beleidigungen – in Egons Worten – ›als solche sehen‹. D. h., sie reagieren ›beleidigt‹, was bedeutet, dass über ihre Reaktionen die verletzende Wirkung der Verbalattacke sichtbar wird. Die Beleidigung wird auf Seiten der Betroffenen nicht mehr als problemlos empfunden. Es existiert kein verbindender Handlungsrahmen, innerhalb dessen die verletzenden Worte als harmlos interpretiert werden können. Die Beleidigung wird so von der betroffenen Person als verbale Gewalt verstanden. Auch dies scheint zur »Tagesordnung« in der Klasse zu gehören. In den Interviews wird deutlich, dass das »rituelle« gegenseitige Beleidigen im Einvernehmen und aber auch das gezielt verletzende Beleidigen Einzelner den Alltag der Schulklasse bestimmen. Die beiden nachfolgend betrachteten Jugendlichen Doro und David sind bzw. waren zum Interviewzeitpunkt Ziel massiver sprachlicher Gewalt. An ihnen prallen entgegen Egons Anspruch die Beleidigungen keinesfalls ab.
David: »Ich wäre so die Pest in Person« David wird in der Klasse ausgegrenzt. Er ist nicht nur Ziel sprachlicher Gewalt, sondern er wird ebenso getreten und geschlagen. Diese gewalthaften Ausgren-
14 Weißköppel, Cordula, Ausländer und Kartoffeldeutsche, Weinheim, München 2001, S. 152 ff. 15 Goffman, Erving, Rahmen-Analyse, Frankfurt / Main 2004. 16 Welche Qualität solche »Beleidigungsduelle« annehmen können, zeigt Tertilt in einer ethnografischen Studie über eine türkische Jugendbande (Tertilt, Hermann, Turkish Power Boys, Frankfurt / Main 1996).
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zungshandlungen sind in unterschiedlichem Umfang Thema in allen Interviews. Anhand von Ausschnitten aus den Gesprächen mit den Jugendlichen Egon und Nina lässt sich beispielhaft zeigen, wie über die gegen David eingesetzte sprachliche Gewalt gesprochen wird. Für Egon ist David derjenige, gegen den die meisten der in der Klasse ausgesprochenen Beleidigungen gerichtet sind: E: Eigentlich macht es uns ja nichts aus, wenn jemand dick ist. Bloß wenn jemand dick ist und auch noch provoziert, ständig, dann wird er schon hier da drauf angesprochen, also wie Fettsack und solche Beleidigungen. (Egon)
Egon spricht hier keinen individuellen Standpunkt aus, sondern er äußert sich in Vertretung einer durch das Pronomen »uns« gekennzeichneten Gruppe. Nicht er allein fühlt sich von David »provoziert«, sondern laut Egon ist es eine kollektiv getragene Einschätzung, dass David sich gegenüber ihnen herausfordernd verhält. Zugleich werden an die Gruppe gebundene informelle Regelsetzungen sichtbar, nach denen aus Egons Sicht niemand allein wegen seiner als »dick« bewerteten Körperstatur beleidigt wird. Da David nach Meinung der Gruppe aber zugleich »provoziert«, wird er als »Fettsack« beschimpft. Bei ihm macht es – in Egons Worten gesprochen – ›etwas aus, dass er dick ist‹. Die Beleidigung hat die Funktion einer Abgrenzung. Indem David auf seine Statur angesprochen wird, wird die Grenzziehung sichtbar: Nicht alle Personen, denen von den Jugendlichen eine korpulente Statur zugeschrieben wird, werden beleidigt, sondern nur David. David als »Fettsack« zu beschimpfen verfolgt das Ziel, ihn zu demütigen und abzuwerten. Mit der Beleidigung geht folglich eine Hierarchisierung einher. Als Rechtfertigung für die Beleidigung verweist Egon auf das vermeintliche Fehlverhalten von David: Dieser wird beschimpft, da er sich inakzeptabel verhält. Mit der Beleidigung wird David aber nicht eine Kritik an seinem Benehmen mitgeteilt. Stattdessen wird ein anderes Thema zur Distanzierung gewählt: Die Abweichung von einem Ideal des Körperbildes dient der Kennzeichnung der zugeschriebenen Fehlerhaftigkeit und wird zur abwertenden Abgrenzung genutzt. Mit der Frage von Gewicht und Körperstatur greifen die Jugendlichen ein breit in der Gesellschaft diskutiertes Thema auf. Dies ist allen – also auch David – zugänglich und deshalb ist auch die Zielrichtung der Beleidigung unverkennbar. Egons Äußerung erklärt David zum Schuldigen, wobei das, was Davids »Provokationen« sind, im Dunkeln bleibt und eine Leerstelle bildet. Offen ist, wodurch sich Egon und andere Jugendliche herausgefordert fühlen. Ungeklärt ist also, was dazu führt, dass die Jugendlichen über verbale Gewalt eine Grenze zwischen sich und David ziehen und diesen abwerten. Antworten auf diese Fragen finden sich in einer Erzählung Ninas. Sie berichtet von Geschehnissen auf einer Klassenfahrt und nimmt die / den Zuhörer/in mit in ein von verschiedensten Formen der Gewalt geprägtes Interaktionsknäuel, in dessen Zentrum David steht:
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N: Also (.) vor allen Dingen in Stadt E zum Beispiel, da haben die den [David; T.M.] geschlagen. I: […] Was ist da genau passiert? N: Na, die haben den geschlagen und auf einmal hatte der Nasenbluten ohne Ende. I: Aha. N: Und da ist der halt in die Ostsee gefallen und hat eingekackt und so. I: Was, alles auf einmal? N: Nee, nee, nicht alles auf einmal. Aber das passierte jeden Tag. I: Jeden Tag passierte irgendwas Neues. N: Nu17 genau. Und da hieß der halt dann »Ostseescheißer« und damit haben die den auch aufgezogen und da ist der immer gleich wie so eine Granate explodiert, weil den das wirklich genervt hat. […] I: Und, also, was, was ist dann so passiert? […] N: Na, die haben den geärgert mit diesem Spruch halt und das hat den irgendwann mal so gereizt, dass der wieder wütend geworden ist. Und schlägt dann immer gleich auf Leute ein, die jetzt was sagen. I: […] Also du warst mit, was hast du da in so, in der Situation gemacht oder … N: Ich habe mich da eigentlich rausgehalten und immer bloß zugeguckt. (Nina)
Nina schildert keinen zeitlich geordneten Handlungsablauf, sondern fasst die mit David in Verbindung stehenden Vorfälle anhand von quasi Höhepunkten zusammen: »jeden Tag« passierte etwas. Am Anfang und Ende der Erzählung schildert Nina dabei körperliche Auseinandersetzungen, in denen David »Nasenbluten ohne Ende« hat, also auch körperliche Verletzungen erleidet. David ist in der Erzählung jedoch nicht nur Ziel von Schlägen, sondern auch von Beleidigungen. Auffällig ist, dass ein konkreter Ausgangspunkt der Auseinandersetzung fehlt. Lediglich ein Anlass für die Beleidigung wird sichtbar: Nina beschreibt, dass David aufgrund eines anscheinend ungeschickten Verhaltens und einer im Vergleich zu den anderen unterentwickelten Körperbeherrschung auffällt: Er fällt ins Wasser und kotet ein. Aus dieser Situation heraus entwickeln die anderen in einem kreativen Akt ein neues, eben nur David betreffendes Schimpfwort: »Ostseescheißer«. Dieser Terminus fasst gezielt und prägnant Umstände zusammen, die David aus Sicht der anderen von ihnen unterscheiden und wird entsprechend zur Abgrenzung genutzt. So betitelt wird David zu einem Kleinkind, das ins Meer fällt und noch in die Hosen macht. Nicht Davids Verhalten anderen gegenüber bildet die Begründung der Grenzziehung. Stattdessen werden einzelne Merkmale seiner Persönlichkeit, die andere nicht unmittelbar beeinflussen, hervorgehoben und von diesen als defizitär gekennzeichnet. Die Anwesenheit von David wird zum Anlass genommen, sich von ihm abzugrenzen. In Anlehnung an die Worte Egons wird David eine »Provokation« zugeschrieben, die dann zur Abgrenzung genutzt wird. Nina erzählt von einem Interaktionsablauf, in dem David mittels verbaler und auch körperlicher Gewalt abgewertet und gedemütigt wird – einer 17 »Nu«: regionaler Dialekt; Ausdruck von Zustimmung.
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Gewalt, die scheinbar keiner Begründung bedarf. Ein Element von Davids Handeln oder Eigenschaften wird hervorgehoben, als defizitär konstruiert und als Anlass einer Grenzziehung aktiviert. Wendet man dieses Schema auf die weiter oben von Egon beschriebene Beschimpfung Davids als »Fettsack« an, so wird die von den Jugendlichen als »dick« bewertete Körperstatur zur Provokation erklärt, die die diskriminierende Beleidigung rechtfertigt. In Ninas Erzählung »explodiert« David, weil er mit der Beschimpfung als »Ostseescheißer« »gereizt« wird. In der Beschreibung wird deutlich, dass es hier nicht um ein Beleidigungsduell gleichwertiger Akteure geht. Aus einer Gruppe heraus wird David verbal provoziert und so eine tätliche Auseinandersetzung herausgefordert, in der die Gruppe zurückschlagen kann. David wird so lange »geärgert«, bis er auf körperlicher Ebene reagiert: »Und schlägt dann immer gleich auf Leute ein, die jetzt was sagen.« Die Interaktionsstruktur aktualisiert die Grenzziehung zu David, dem darin die Schuld an seinem Leid zugeschrieben wird. Auch die von Nina abschließend benannte eigene Reaktion auf die Gewalthandlungen springt ins Auge. Sie nimmt als Zuschauerin daran teil und schreibt sich dabei eine passive, unbeteiligte Rolle zu. Damit entspricht Ninas Handlungsund Deutungsmuster dem der anderen interviewten Jugendlichen, die sich selber nicht als Personen sehen, die in den Auseinandersetzungen physische oder verbale Gewalt ausüben. Sie nehmen als Publikum an den gewalthaften Abgrenzungsprozessen teil, an denen David die Schuld trägt. David selbst reflektiert im Interview seine ausgegrenzte Position in der Klasse und empfindet sich als »kleines bissel mit Außenseiter« (David). Diese Selbsteinschätzung leitet er aus dem Verhalten einiger Jungen ihm gegenüber ab: D: Na eben weil ein paar von den hier [zeigt auf eine größere Jungengruppe im Soziogramm] tun immer so, als wäre ich, ein paar tun davon ich wäre so die Pest in Person oder so etwas. (David)
David beschreibt über die Metapher der Krankheit Pest, dass die Mitschüler sich von ihm distanzieren wie von jemandem, der eine ansteckende Krankheit hat. Die nächste Interviewpassage zeigt, wie David diese Grenzziehung erlebt. Unabhängig von einer eigenen konkreten, auf die anderen bezogenen Handlung wird er von diesen verbal und auch körperlich »geärgert«: D: Also der Bert, der hat immer, der hat immer eine Macke. Der tut mich andauernd ärgern ohne Grund und bei den anderen da braucht bloß irgendwas (.) bräuchte ich zum Beispiel bloß mal (.) zu laut niesen, da bin ich dann wieder Gesprächsthema. I: Da sagen die »David halt’s Maul« oder was sagen die da? D: Nu. […] I: Aha, nur weil du geniest hast? D: Nu. I: Und was sagst du dann da drauf?
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D: Manche also, manche, dass sie mich in Ruhe lassen sollen, aber manche (.) da fangen die auch an mich zu schubsen, da schubse ich halt so zurück. (David)
David beschreibt seine eigene Situation ganz ähnlich den bereits angeführten Zitaten von Egon und Nina. Während Bert ihn grundlos »ärgert«, reicht bei »den anderen« »irgendwas« um ihn aus dem Moment heraus zu »ärgern«. Aus Davids Sicht lassen die anderen Jugendlichen ihn nicht »in Ruhe« und beginnen die Auseinandersetzungen. Ein Niesen Davids genügt, um als »Gesprächsthema« der Klasse »geärgert« zu werden. Damit nehmen die anderen Jugendlichen eine Regung Davids, von der sie in keiner Weise betroffen sind, zum Anlass, um David zu beleidigen. Zugleich wiederholt sich – wie bereits in Ninas Erzählung deutlich wurde – auch die Verknüpfung von Beleidigung und physischer Gewalt. Die Beleidigung steht am Beginn einer Interaktion, die sich zu einem körperlichen Schlagabtausch steigert. Die Episode des Niesens weist zudem darauf hin, dass auch David das Verhalten seiner Mitschüler als Reaktion auf eigene Defizite versteht: Denn er niest nicht nur, sondern er hat aus seiner Sicht »zu laut« geniest und daher einen Anlass zum »Ärgern« gegeben. Er hat die ihm in der Abgrenzung zugeschriebene Schuld internalisiert. Im weiteren Interviewverlauf schildert David, wie er versucht, sein Verhalten zu ändern, um den anderen Jugendlichen weniger Anlass für deren Abgrenzungshandlungen zu geben. Er möchte den Anforderungen der anderen gerecht werden. Ihm wird jedoch klar, dass seine Anpassungsversuche keinen Erfolg zeigen: D: Also zum Beispiel der Egon, der findet immer wieder einen neuen Grund, um mich zu ärgern. […] Ich hatte mal eine Zeit lang mich dolle, also wenn man mich irgendwie bloß doof, bloß ein doofes Wort zu mir gesagt hat, habe ich gleich angefangen zu heulen und jetzt mache ich es gar nicht mehr. […] Ich habe auch schon versucht, mal mit denen zu reden, aber die lassen ja, also, die (.) wollen einfach nicht zuhören. (David)
David macht am Rande die demütigende Wirkung der Beleidigungen deutlich. Ein »doofes Wort« verletzt ihn, was an seinen Tränen erkennbar wird. Dass er »heult«, wird dann als Anlass genutzt, ihn erneut zu demütigen. Indem er sein Weinen unterdrückt, versucht er, dem in der Klasse herrschenden und von Egon proklamierten Anspruch, Beleidigungen nicht als solche zu sehen (s. o.), gerecht zu werden. Dies verändert jedoch nicht seinen Status in der Klasse, sondern führt nur dazu, dass die anderen Jugendlichen den Anlass der Grenzziehung modifizieren. Es wird »immer wieder ein neuer Grund« gefunden, um David »zu ärgern«. Mit dem Fall David wird deutlich, dass die mit den Verbalattacken einhergehende Abgrenzung variabel und situativ ausgestaltet wird. Verschiedenste Anlässe werden als Inhalte in die Beschimpfungen und Beleidigungen eingearbeitet. Als stabil, ja als regelrecht massiv erweist sich aber die Grenzziehung selbst: Niemand will ihm »zuhören«. Auch die nachfolgend thematisierte Schülerin Do-
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ro erfährt Ausgrenzung durch die anderen, jedoch wirken die verletzenden Worte bei ihr anders. Sie scheint nicht wie David auf verbaler oder gar körperlicher Ebene ›zurück zu schubsen‹.
Doro: »Ich war auch schon seelisch kaputt« Die gegen Doro gerichtete sprachliche Gewalt soll zunächst anhand von Auszügen aus dem Interview mit Jana betrachtet werden. Jana rückt auf die Frage des Interviewers nach »Lästereien« und »Balgereien« innerhalb der Klasse die tätlichen Auseinandersetzungen unter den Jungen in den Hintergrund und fokussiert sprachliche Gewalt unter den Mädchen: I: So Lästereien oder, ich sage mal Balgereien, oder so was, gibt es so was in eurer Klasse? […] J: Na die Jungs, die kloppen sich halt oft, aber die mei- die machen das bestimmt bloß aus Spaß. Und bei den Mädels, da geht es dann halt schon ein bissel (.) das ist dann halt schon ein bissel heftiger. I: Was machen die Mädels so? J: Na zum Beispiel die Doro, ich habe mich mal richtig mit der gestritten und da habe ich gemerkt, dass die vier Tage den selben Tanga anhatte, aber die hatte den abends immer gewaschen. Da haben wir, ich und die Katrin, haben dann einen Zettel geschrieben gehabt »Doro trägt vier Tage den selben Tanga!«, durch die Klasse gegeben und so was halt. (.) Oder richtig sagen in der Klasse »Doro ist ein Schlampe« oder so was. I: […] Was hat die [Doro; T.M.] da gemacht? J: Na, die Doro ist zu ihrer Mutter gegangen und dann haben ich, die Katrin, die Doro, die Klassenleiterin und die Mutti von der Doro, haben wir dann halt ein Gespräch geführt und haben uns dann auch entschuldigt bei der Doro. Und das klären wir dann untereinander. Meistens ist es blo- ist es bloß so, wenn man sich mal ein bissel streitet oder so, den nächsten Tag ist das dann wieder vergessen. I: Mhm. (.) Weil du gerade erwähnt hast, die Klassenleiterin, dass die da an der Stelle äh, mit dabei ist, […] also […] unterstützt die euch dann, so was zu klären, oder wie macht die das? J: Nee, das war halt bloß ein Extremfall, weil die Jungs haben die auch viehischst gehänselt. Das muss dann wohl auch durch fast die ganze Schule gegangen sein. Und das war dann halt schon ein bissel heftig. (.) Und da hat die Klassenlehrerin uns dann, also die Katrin und mich, haben wir dann alle so zusammen ein Gespräch geführt gehabt. (Jana)
Während aus Janas Sicht die Jungs sich nur aus »Spaß« schlagen, sind die Konflikte unter den Mädchen ein »bissel heftiger«. Als Beispiel beschreibt Jana einen Streit mit Doro, der den Ausgangspunkt dafür darstellt, dass diese letztlich in der ganzen Klasse und darüber hinaus gehänselt wird. Für die schrittweise Einbezie-
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hung weiterer Jugendlicher in den Streit bildet eine Beobachtung die Basis: Doro trägt einen der aktuellen Mode entsprechenden Slip mehrere Tage lang.18 Geht man der Frage nach, wie die schlagzeilenartige Veröffentlichung von Doros Kleidungswahl die in der Erzählung geschilderte soziale Dynamik entfachen kann, wird auch die Wirkweise sprachlicher Gewalt unter den Jugendlichen sichtbar. Ähnlich dem Fall von David wird auch bei Doro das Thema der Abgrenzung mit einem bestimmten Merkmal bzw. einer konkreten Verhaltensweise verknüpft, die zu einer Schwäche Doros konstruiert wird. Mit der Tatsache, dass Doro mehrere Tage den selben Slip trägt, verbindet sich das Bild und sogleich der Vorwurf eines unhygienischen Verhaltens. Hier koppelt die Diffamierung von Doro an einer allgemein getragenen Norm von Sittlichkeit an. Diese Abgrenzung erweist sich für viele, so zeigt die Dynamik, als anschlussfähig. Jana räumt ein, dass Doro das Kleidungsstück täglich gereinigt hat und somit der Norm des regelmäßigen Unterwäschewechsels entsprach.19 Diese Praxis Doros weist auf das zweite Thema, das in der Abgrenzung der Jugendlichen behandelt wird, hin. Es geht um die Frage modischer Kleidung, die sowohl für Jana wie in der gesamten Klasse – so zeigen andere Passagen – eine hohe Relevanz hat. Unabhängig vom Vorwurf mangelnder Hygiene ist Doro über die verbreitete Zettelbotschaft als diejenige gekennzeichnet, die den modischen Anforderungen unter den Jugendlichen nicht entsprechen kann. Der Tanga gehört zur quasi geforderten Ausstattung und Doros Kleidungsauswahl erscheint hier unzulänglich. Doro muss, um den Vorwurf, unsauber zu sein, widerlegen zu können, zugeben, eben nur einen in der Klasse tragbaren Slip zu besitzen. Damit verknüpft sich im aufgerufenen Thema eine mehrfache Demütigung: Doro wird zu einer unsauberen Person konstruiert. Zudem wird auf ihre als mangelhaft bewertete modische Ausstattung als Abgrenzungskriterium hingewiesen. Im Zusammenhang damit wird sie zur »Schlampe« degradiert und als diejenige stigmatisiert, die dem Idealbild einer modebewussten und reinlichen Frau nicht entspricht. Neben dieser inhaltlichen Brisanz sprachlicher Gewalt verstärkt auch die angewandte Technik des gewalthaften Sprechens die abwertende Grenzziehung gegen Doro. Jana gibt ihre Beobachtung zunächst an Katrin und damit an eine erste Öffentlichkeit weiter. In einer Zettelbotschaft, die einer Skandalmeldung der Boulevardpresse ähnelt, werden alle anderen Mitschüler/innen über die Sachlage und deren Bewertung informiert. Betitelt dann Jana in der Öffentlichkeit der Klasse Doro als »Schlampe«, sind die Hintergründe für die Beschimpfung und deren 18 Erläuternd sei hier angemerkt, dass der Tanga als Teil der Unterwäsche aufgrund der zum Interviewzeitpunkt unter den Jugendlichen geltenden Mode bei Alltagshandlungen fortwährend ins Blickfeld kam. Hosen und T-Shirts waren so geschnitten, dass es keiner besonderen Situationen wie beispielsweise dem Kleidungswechsel beim Sportunterricht bedurfte, um den Slip zu sehen. 19 Aus dem Interviewausschnitt geht jedoch nicht hervor, seit wann Jana diese Information zugänglich war. Wusste sie es schon am Beginn der Diffamierung Doros oder erfuhr sie es erst im Rahmen des anschließenden klärenden Gesprächs?
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Begründung bereits bekannt. Alle wissen, dass Doro angeblich ihren Slip nicht wechselt. Diese Grenzziehung mittels sprachlicher Gewalt erweist sich in der Klasse als äußerst wirkungsvoll. Aus einem Streit zwischen Jana und Doro wird eine längerfristige Ausgrenzung. Mädchen wie Jungen schließen sich der Grenzziehung an, in dem sie sich an der Hetze gegen Doro beteiligen, und distanzieren sich auf diese Weise von einem unsauberen Verhalten und mangelhafter modischer Ausstattung. Am Abgrenzungsprozess mitzuwirken, scheint attraktiv zu sein und einen hohen Aufforderungscharakter zu besitzen. Doro kann dem nichts entgegensetzen. Dass die Ausgrenzung von Doro ein »Extremfall« – so Jana am Ende der obigen Passage – war, macht Jana daran fest, dass zum einen ein großer Personenkreis eingebunden war und zum anderen die Klassenleiterin sowie Doros Mutter eingriffen. Die Dynamik konnte nur durch eine Intervention von außen gestoppt werden. Die zum Teil schwerwiegenden Auswirkungen der Ausgrenzung für Doro erwähnt Jana nicht. Diese werden aber im Gespräch mit Doro deutlich. Nur zögerlich erzählt Doro die Geschehnisse: D: Oder wo ich mich mit der Jana gestritten habe und mit der Katrin. Da haben sie dann Zettel durch die Klasse gegeben, ähm, aber darüber will ich nicht reden. (.) Dass ich halt (......) dass ich mich nicht waschen würde zum Beispiel. Und da haben wir uns aber halt ziem- ziemlich ge- äh hier ziemlich heftig gestritten. Das hat sich dann, dass ging dann auch über ein paar Monate und da geht dann halt das Geläster durch die ganze Klasse. […] Hm, ich war auch schon (..) seelisch kaputt. Da musste ich schon Tabletten schlucken, weil ich überhaupt nicht mehr in die Schule wollte. I: Lag das dann an, an diesem … D: An dem Streit zwischen […] der Katrin und der Jana und mir. Und dann hatte halt noch die ganze Klasse mitgemacht. […] Aber das legt, das hat, das legt sich jetzt über die Zeit. Da ist erst mal nichts mehr. I: […] Also, wie ist das dann zu Ende gegangen? D: Na, wir hatten ein Gespräch mit der Klassenleiterin und mit meiner Mutti. Und das, ab da ging’s dann eigentlich wieder bergauf. (Doro)
Auch Doro erzählt davon, dass die Vorwürfe auf der Inhaltsebene ihr vermeintlich unhygienisches Verhalten zum Thema hatten. Sie beschreibt, wie sie ausgehend von einem Streit mit Jana und Katrin zum Ziel einer Diffamierungskampagne der gesamten Klasse wird. Die gegen sie gerichtete sprachliche Gewalt der Mitschüler/innen macht sie letztendlich »seelisch kaputt«. Der Ausgrenzung scheint sie machtlos ausgeliefert zu sein. Sie umgeht die Begegnungen mit den anderen Jugendlichen, indem sie die Schule verweigert. Die psychischen Verletzungen sind so stark, dass sie sich in medizinische Behandlung begibt. Die traumatischen Auswirkungen der Ausgrenzung für Doro kommen am Ende der Passage zum Ausdruck. Doro hofft: »Da ist erst mal nichts mehr.« Die darin deutlich werdende Unsicherheit bezieht sich nicht auf die inhaltliche Ebene. Doro hat erfahren, wie die Beziehungen in der Klasse sich von einem Mo-
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ment auf den anderen gegen sie wenden können, wie sie Ziel einer durch sprachliche Gewalt vollzogenen Grenzziehung wird, die auf einem eigentlich marginalen Anlass beruht. Geprägt durch diese Erfahrung befürchtet sie, dass sich die verbesserten sozialen Beziehungen zu den anderen Jugendlichen der Klasse (»ging’s dann eigentlich wieder bergauf«) wieder verschlechtern könnten. So beschreibt sie zugleich die Bedrohung, dass der gegen sie gerichtete Ausgrenzungsprozess sich wiederholen könnte. Darin dokumentiert sich die Dynamik der sozialen Prozesse innerhalb der Klasse.
Zusammenfassung: Zugehörigkeit über verbale Gewalt Die angeführten Interviewpassagen fokussierten verbale Gewalt im Kontext von Ausgrenzungsprozessen. Mit der so zugeschnittenen Perspektive gelang ein Einblick in die alltägliche Praxis des gewalthaften Sprechens, da Ausgrenzung in der untersuchten Klasse keine Ausnahmesituation darstellt. Auch das Ausgrenzungshandeln ist unter den befragten Jugendlichen Alltag. Gewalthaftes Sprechen erscheint als ›Normalität‹, ist jedoch keinesfalls ›harmlos‹. Dennoch soll in diesem zusammenfassenden Abschnitt nicht die Wirkung verletzender Worte auf Seiten der Opfer im Mittelpunkt stehen, sondern die Frage, was im sozialen Raum der Schulklasse passiert, wenn beschimpft, beleidigt und gelästert wird. Die Aufmerksamkeit gilt damit den sozialen Effekten, die sich im Umfeld verbaler Gewalt zeigen. In dem empirischen Material wurde ein Interaktionsmuster der Jugendlichen deutlich, dass hier zunächst auf der Handlungsebene als Drangsalierung bezeichnet werden soll.20 Eine Gruppe von Jugendlichen beschimpft und beleidigt eine Person oder lästert über diese. Kennzeichnend für Drangsalierungen ist, dass unterschiedliche Formen von Gewalthandlungen miteinander verwoben sind – im Fall Doro wurde beispielsweise die Hetze mit der Beleidigung kombiniert. Markant für den Fall David war, dass durch die Beteiligung der männlichen Jugendlichen zur sprachlichen Gewalt körperliche Tätlichkeiten hinzukamen. Im Folgenden soll jedoch nicht physische, sondern sprachliche Gewalt den Fokus der Betrachtung bilden. Das gewalthafte Sprechen bewirkt eine Differenz zwischen den Drangsalierenden und der drangsalierten Person und drückt diese zugleich aus. Indem David als »Fettsack« bezeichnet wird, wird von den so sprechenden Jugendlichen nicht nur auf einen Unterschied verwiesen, sondern sie grenzen sich zugleich von Da20 Gezielt wird hier nicht der Mobbing-Begriff verwendet, da mit ihm die Einteilung der Beteiligten in Täter/innen und Opfer einhergeht. Diese juristisch konnotierte, die Schädigung fokussierende Betrachtungsweise der Interaktionprozesse widerspricht dem Anliegen, die sozialen Effekte im Zusammenhang zu beschreiben und dabei alle Mitglieder einer Schulklasse als aktiv Handelnde zu verstehen.
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vid ab. Die Beschimpfung ist also zunächst eine Einheit von Differenzkonstruktion und gleichzeitiger Abgrenzung. In den Beleidigungen zeigt sich die destruktive Wirkung verbaler Gewalt. Die Bezeichnungen »Fettsack«, »Ostseescheißer« oder »Schlampe« sind nicht neutral, also keine einfache Unterscheidung, sondern dienen der Abwertung. Doro und David werden jedoch nicht im persönlichen Vier-Augen-Gespräch »runtergemacht« – wie die Jugendlichen es in Interviews bezeichnen –, sondern in der Öffentlichkeit der Schulklasse. Daher ist hier der Begriff der Degradierung angemessen. Verbale Gewalt dient im Rahmen der Degradierung dazu, im sozialen Raum der Schulklasse eine Unterlegenheit Einzelner zu schaffen, zu betonen und darzustellen. Eine besondere Bedeutung kommt jenen Gewaltformen zu, die sprachlich vollzogen werden, da mit ihnen die Abgrenzung thematisch wird. Innerhalb der Beschimpfungen werden Inhalte aufgerufen, die eng an die angesprochenen Personen gekoppelt werden. Dass David wegen seiner Körperstatur bzw. seiner Tränen oder Doro hinsichtlich eines modischen und hygienischen Erscheinungsbildes adressiert wird, stellt keine Zufälligkeit dar. Gezielt werden individuelle Kennzeichen einzelner Personen innerhalb der Degradierungen hervorgehoben und als Defizit konstruiert. Mit dieser Defizitzuschreibung geht einher, dass den betroffenen Jugendlichen selbst die Schuld an ihrer Ausgrenzung gegeben wird. Aus einer anderen Perspektive sind diese Zuschreibungen zugleich willkürlich. Die Drangsalierten sind situativ als Projektionsfläche thematischer Abgrenzungspunkte in die dynamischen Prozesse unter den Jugendlichen eingebunden. Denn die Verbalattacken behandeln Themen, die eine hohe Orientierungsrelevanz für die Jugendlichen besitzen. In den Degradierungen spielen Fragen der Entwicklung, der Reife, die Konstruktion des sozialen Geschlechts, aber auch Hygiene oder Mode eine Rolle. Das Verhalten von Doro und David wird von den anderen zum Anlass genommen, informelle Normsetzungen in Abgrenzung zu den betroffenen Jugendlichen auszuhandeln. Folgt man dem eben eingeführten Gedankengang, dass in den Degradierungen auch Inhalte verhandelt werden, so erhält die gemeinsame Beteiligung der Jugendlichen an den Drangsalierungen eine zweite Bedeutung. Es geht nicht nur darum, über Gewalt die Macht gegenüber einem anderen darzustellen. Indem beispielsweise Doro zur »Schlampe« degradiert wird, entsteht für die anderen Jugendlichen die Aufforderung, sich zu positionieren. Doro ebenfalls als »Schlampe« zu bezeichnen, bedeutet für die anderen, für eine bestimmte inhaltliche Position – in diesem Fall: in Bezug auf Mode und Hygiene – zu stehen und so der Mehrheit der Klasse zugehörig zu sein. An der Beschimpfung von Doro mitzuwirken, veröffentlicht nicht nur eine Distanzierung zur Person, sondern auch eine inhaltliche Positionierung innerhalb des sozialen Raums der Schulklasse. Indem auf diese Weise drangsaliert wird, entsteht Zugehörigkeit durch Abgrenzung. Die verbal Attackierenden sind Teil einer Gemeinschaft, während die Betroffenen zu isolierten Vertreter/innen der Abgrenzungspunkte konstruiert werden. Sie werden zu Symbolen, die außerhalb der informellen Normen der Ju-
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gendlichen stehen. Im Fall David wurde dabei deutlich, dass er als Abgrenzungspunkt variabel eingebunden wird. Die sich wiederholenden Beschimpfungen erinnern dabei an eine rituelle Handlung, im Zuge derer die Jugendlichen immer wieder über das gemeinsame Beleidigen einer Person zusammen finden. Davids Versuche, sein Verhalten zu modifizieren, um den anderen keinen Anlass zum Drangsalieren zu geben, schlagen daher fehl. Denjenigen beizustehen, die Ziel verbaler Gewalt im Rahmen der Degradierung sind, beinhaltet das Risiko, selbst zu einem solchen Ziel zu werden. Mit dem hier eingeführten Verständnis der Degradierung bedeutet die Passivität der Mitschüler/innen, die das Leid der Drangsalierten wahrnehmen und dennoch nicht intervenieren, jedoch nicht mehr allein eine Reaktion auf die Bedrohung durch das Gewalthandeln.21 Denn die Person, die gegen die Drangsalierungen interveniert, begibt sich auf jene inhaltliche Position, die den Ausgegrenzten zugeschrieben wird, und stellt sich folglich thematisch in Opposition zu den anderen Jugendlichen. Damit geht das Risiko einher, isoliert und zugleich Ziel des gewalthaften Abgrenzungshandelns der anderen zu werden. Daher erscheint die Beteiligung an den Degradierungen – und dies beinhaltet auch ein tolerierendes Zuschauen – als regelrechter Handlungszwang. Hier mitzumachen heißt, Zugehörigkeit zu demonstrieren und die Schwerpunktsetzungen der dominant handelnden Gruppierung zu bestätigen. Mit dem dargelegten Ergebnis bestätigt sich der gewählte Zugang, verbale Gewalt im Zusammenhang mit dem Interaktionskontext zu untersuchen. Zum einen wurde die Wirkung verletzender Worte deutlich. Zugleich konnten soziale Prozesse herausgearbeitet werden, die im Hintergrund der Täter-Opfer-Interaktionen, also neben der Schädigung, ablaufen. Auf gruppendynamischen Ebene wurde die produktive Seite der in das Degradierungshandeln eingebundenen sprachlichen Gewalt sichtbar. Aus dieser Perspektive erscheinen Ausgrenzungsprozesse doppelt problematisch: Zum einen weil in ihnen einzelne Personen durch gewalthaftes Sprechen gedemütigt, verletzt und ausgeschlossen werden, aber zum anderen weil in ihnen eine problematische Kultur der Gemeinschaftsbildung und Normsetzung deutlich wird.
21 Im Material zeigt sich dies beispielsweise bei Beate. Ihr tut David leid, aber sie hält sich zurück: »Ich halte mich da raus, weil ich keinen Stress haben will. […] Na ja, […] dass die dann sagen hier ›Ah David und Beate sind verknallt!‹ oder irgend so etwas.« (Beate) Ein Engagement für David würde – so die Befürchtung von Beate – von den restlichen Mitschüler/innen sofort als Liebesbeziehung interpretiert und quasi den Skandal des Tages und damit Ausgangspunkt von Lästereien bilden. Beate bekäme »Stress« und wäre dann selbst das Ziel von Provokationen – wodurch sich ihre Situation in der Klasse verschlechtern würde.
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SONJA KLEINKE
Sprachliche Strategien verbaler Ablehnung in öffentlichen Diskussionsforen im Internet
Einleitung In diesem Beitrag werden sprachliche Strategien verbaler Ablehnung in öffentlichen Internetdiskussionsforen in Hinblick auf ihr Gewaltpotenzial untersucht. Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der sprachlichen Höflichkeitsforschung, der Sprechakttheorie und der Konversationsanalyse soll der Frage nachgegangen werden, welche zum Teil deutlich verletzenden kommunikativen Techniken Teilnehmer/innen an öffentlichen Diskussionsforen im Internet zum Ausdruck der Ablehnung eines Diskussionsbeitrages einsetzen. Worin liegt ihr spezifisches Gewaltpotenzial und wie tragen die besonderen Bedingungen der Internetkommunikation einerseits und der Gesprächssorte ›Streitgespräch / Diskussion‹ andererseits zu diesem Gewaltpotenzial bei? Dazu sind drei thematisch geschlossene Diskussionsforen des öffentlichen Internetdiskussionsforums ›Spiegel Online‹ (SPON 1-3) einer detaillierten sprachlichen Analyse unterzogen worden, die in diesem Beitrag vorgestellt werden soll. Öffentliche Diskussionsforen / Newsgroups im Internet erfreuen sich inzwischen regen Zuspruchs. Thimm und Ehmer1 berichten bereits im Jahre 2000 von ca. 30000 verschiedenen Gruppen mit einer breiten Themenpalette, die von Computerthemen über Themen aus Kultur und Gesellschaft bis Freizeitthemen reicht. Ebenso dispers wie die Themen und das Spektrum der Benutzer/innen hat sich die sprachliche Gestaltung der Beiträ1 Thimm, Caja / Heidi Ehmer, »›Wie im richtigen Leben …‹: Soziale Identität und sprachliche Kommunikation in einer Newsgroup«, in: dies (Hg.), Soziales im Netz. Sprache, Beziehungen und Kommunikationskultur im Internet, Opladen, Wiesbaden 2000, S. 220-239, hier S. 220.
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ge in den Diskussionsgruppen entwickelt und ist deswegen frühzeitig in den Fokus diskurslinguistischer und soziolinguistischer Untersuchungen2 gerückt. Die Fragestellung dieses Beitrages liegt an der Schnittstelle dieser beiden linguistischen Perspektiven.
1. Verbale Ablehnung in Internetdiskussionsforen und sprachliche Gewalt 1.1 Verbale Ablehnung Verbale Ablehnung wird im Folgenden relativ breit definiert und umfasst jeden nicht unterstützenden Gesprächsschritt, in dem eine Person Dissens / ihr Nichteinverstandensein mit einem vorausgegangenen Gesprächsschritt bzw. der Person oder Handlungsweise der Diskussionsteilnehmer/innen innerhalb oder außerhalb der unmittelbaren Diskursdomäne äußert.3 In allen drei Diskussionsforen übersteigt die Zahl der verbalen Ablehnungen mit einem Verhältnis von absolut 70:60, 106:84 und 44:30 jeweils deutlich die Gesamtzahl der untersuchten Gesprächsbeiträge. Aus der Perspektive der sprachlichen Höflichkeitsforschung (insbesondere des von Brown und Levinson entwickelten Face-Modells4) gehören verbale Ablehnungen zu den das positive oder negative Adressatenimage bedrohenden Sprechakten, deren Ausübung von S(precher/innen) ein besonderes Maß an Sorgfalt und in der Regel mehr oder weniger explizite begleitende sprachliche Wiedergutmachungsstrategien (›redressive actions‹) erfordert; es sei denn, der das Adressatenimage bedrohende Akt 2 Vgl. z. B. Feldweg, Helmut / Ralf Kiebinger / Christiane Thielen, »Zum Sprachgebrauch in deutschen Newsgruppen«, in: Ulrich Schmitz (Hg.), Neue Medien, OBST. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 50, Osnabrück 1995, S. 143-154, Lenke, Nils / Peter Schmitz, »Geschwätz im globalen Dorf – Kommunikation im Internet«, in: Ulrich Schmitz (Hg.), Neue Medien, OBST. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 50, Osnabrück 1995, S. 117-141, Runkehl, Jens / Peter Schlobinski / Torsten Siever, Sprache und Kommunikation im Internet. Überblick und Analysen, Wiesbaden 1998. 3 Vgl. in diesem Sinne, jedoch nicht völlig identisch, auch Kohnen, Thomas, Zurückweisungen in Diskussionen. Die Konzeption einer Sprechhandlungstheorie als Basis einer empirisch orientierten Konversationsanalyse, Frankfurt / Main u. a. 1987, S. 101. 4 Ungeachtet der nunmehr jahrzehntelangen kritischen Auseinandersetzung mit Brown und Levinsons Modell in der pragmatischen Fachliteratur, die vor allem seinen Universalitätsanspruch und in diesem Zusammenhang die ihm innewohnende Überbetonung der strategischen Komponente kritisiert, gilt das Modell nach wie vor als das bekannteste und am weitesten verbreitete, auf dessen Grundlage zahlreiche empirische Studien durchgeführt worden sind und noch immer werden. Für eine neuere kritische Betrachtung vgl. Watts, Richard J., Politeness, Cambridge 2003, S. 85-116, der besonders den Aspekt der interaktionalen Konstruktion von Höflichkeit im Diskurs hervorhebt.
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wird von vornherein ›off-record‹ (mit nicht-nachweisbarer Verletzungsabsicht) ausgeführt. Zur Vermeidung der Verletzung des Gleichgewichts der Imagebedürfnisse von S und A(dressat/in) steht S nach Brown und Levinson5 eine ganze Bandbreite von Strategien zur Verfügung. Die Erkenntnis, dass S in der Realkommunikation häufig das Vorhandensein möglicher sprachlicher Ausgleichshandlungen ignoriert, hat der verbalen Ablehnung als grundsätzlich Harmonie und Adressatenimage gefährdender Strategie auch in der sprachlichen Unhöflichkeitsforschung eine exponierte Stellung verschafft.6 Brown und Levinson7 und Holtgraves8 charakterisieren sie als direkte und inhärente Angriffe auf das positive Adressatenimage, Culpeper in direkter Umkehrung zu Brown und Levinsons Modell als ›positive impoliteness output strategy‹9, Kakava10 im Gefüge von situativem und interkulturellem Kontext und sprachlicher Direktheit.
1.2 Sprachliche Gewalt Wenngleich feste sprachliche und moralische Verhaltensregeln (die so genannte ›Netikette‹11) besonders in moderierten Internetforen den verbalen Umgang der Diskussionsteilnehmer regeln, kommt es immer wieder zu gesichtsverletzenden
5 Brown, Penelope / Stephen C. Levinson, Politeness, Cambridge 1987, S. 101-210; vgl. auch die deutsche Erstübersetzung in diesem Band: dies., »Gesichtsbedrohende Akte«, S. 59-88. 6 Dabei darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass in der neueren pragmatischen Höflichkeitsforschung kein sprachliches Ausdrucksmittel unabhängig von seinem Kontext per se als ›höflich‹ oder ›unhöflich‹ gilt und sprachliche Höflichkeit eher als Dimension verstanden wird, auf der explizit ›höfliches‹ und explizit ›unhöfliches‹ Sprachverhalten die Extrempole einer Skala gradueller Übergänge bilden; vgl. Kienpointner, Manfred, »Varieties of Rudeness«, in: Functions of Language, Heft 2, Bd. 4, 1997, S. 251-287, hier S. 257, Culpeper, Jonathan, »Towards an Anatomy of Politeness«, in: Journal of Pragmatics, Bd. 25, 1996, S. 349-367, hier S. 351, Fraser, Bruce / William Nolan, »The Association of Deference with Linguistic Form«, in: International Journal of the Sociology of Language, Bd. 27, 1981, S. 93109, hier S. 96, und Watts, Politeness, a.a.O. 7 Brown / Levinson, Politeness, a.a.O., S. 66. 8 Holtgraves, Thomas, »YES, BUT … Positive Politeness in Conversation Arguments«, in: Journal of Language and Social Psychology, Heft 2, Bd. 16, 1997, S. 222-239, hier S. 225. 9 Culpeper, »Towards an Anatomy of Politeness«, a.a.O., S. 357. 10 Kakava, Christina, »Directness and Indirectness in Professor-Student Interactions: The Intersection of Contextual and Cultural Constraints«, in: James E. Alatis u. a. (Hg.), Georgetown University Round Table of Languages and Linguistics 1995: Linguistics and the Education of Language Teachers: Ethnolinguistic, Psycholinguistic and Sociolinguistic Aspects, Washington 1995, S. 229-246. 11 Storrer, Angelika / Sandra Waldenberger, »Zwischen Grice und Knigge: Die Netiketten im Internet«, in: Hans Strohner / Lorenz Sichelschmidt / Martina Hielscher (Hg.), Medium Sprache: Forum Angewandte Linguistik, Bd. 34, Frankfurt / Main u. a. 1998., S. 63-77.
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verbalen Angriffen. Anzeichen für das subjektive Empfinden sprachlicher Gewalt werden in Internetforen zum Teil explizit thematisiert: (1) Re: Re: Re: Agressives Forum am Montag, 24. Februar 2003 - 11:41:42 Hallo lieber ;-)) Ich werde mich bemühen, deine gut gemeinten,und aufrichtigen Worte mir zu Herzen nehmen. Das fällt mir in Anbetracht des gemobbt werdens hier nicht leicht. So ahbe ich gegen das bösartige Statement von der mobberin Sede an den Webmaster versucht ,so differnziert als nur möglich zu bleiben. Und weiter keine Angriffsfläche für ihr Mobbing zu bieten. Viele Grüße sendet 12
Auch Feldweg, Kiebiger und Thielen13 ebenso wie Storrer und Waldenberger14 bezeichnen den ›Umgangston‹ in Newsgruppen als »harsch«15 und in Thimm und Ehmer16 gilt »die über mehrere Tage hin- und hergehende Auseinandersetzung um die inhaltliche Qualität […], den angemessenen Sprachgebrauch sowie die persönlichen Attacken zwischen einigen Mitgliedern der N[ews] G[roup]« als ein augenfälliger Indikator für die Entwicklung sozialer Identitäten innerhalb der untersuchten Newsgruppe. Weniger genau sind bislang die Mechanismen sowie sprachlichen Strukturen und Techniken beleuchtet worden, mit denen bei A und eventuell unbeteiligten Leser/innen der subjektive Eindruck sprachlich ›harschen‹ oder auch gewalttätigen Verhaltens erweckt wird. Anders als physische Gewalt trägt sprachliche Gewalt und Gesichtsverletzung häufig weniger offensichtliche, subtile Züge. Nicht immer erfüllt sie die von Altmann17 in seiner sehr engen Definition sprachlicher Gewalt als ›hate speech‹ im Kontext verbindlicher sprachpolitischer Verhaltensregeln (›hate speech regulations‹) an amerikanischen Universitäten geforderten Kriterien. Altmans Definition sprachlicher Gewalt ist in Austins Unterscheidung von perlokutionärem Effekt (»causal effects on the hearer, infuriating her, persuading her, frightening 12 Aus ethischen Gründen werden alle Originalbelege vollständig anonymisiert; vgl. auch Cameron, Deborah, Working with Spoken Discourse, London 2001. 13 Feldweg / Kiebinger / Thielen, »Zum Sprachgebrauch in deutschen Newsgruppen«, a.a.O., S. 146. 14 Storrer / Waldenberger, »Zwischen Grice und Knigge«, a.a.O., S. 73-74. 15 Vgl. auch Schütte, Wilfried, »Diskursstrukturen in fachlichen Mailinglisten: Zwischen Einwegkommunikation und Interaktion«, in: Michael Beißwenger / Ludger Hoffmann / Angelika Storrer (Hg.), Internetbasierte Kommunikation, OBST. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 68, Osnabrück 2004, S. 55-75, hier S. 68. 16 Thimm / Ehmer, »›Wie im richtigen Leben …‹«, a.a.O., S. 220 und 238. 17 Altman, Andrew, »Liberalism and Campus Hate Speech: A Philosophical Examination«, in: Ethics, Bd. 103 (Juli), 1993, S. 302-317, hier S. 308 f.
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her, and so on«) und illokutionärer Rolle eines Sprechaktes (»the kind of speech act one is performing in making the utterance, advising, warning, stating, claiming, arguing, and so on«)18 verankert. Nach Altman geht sprachliche Gewalt über den beim Opfer durch sie ausgelösten negativen psychologischen Effekt hinaus und konzentriert sich auf den Aspekt des ›dem Opfer Unrechtzufügens‹ im Sinne seiner moralischen Herabwürdigung mittels der bloßen Ausübung des illokutionären Aktes ›Herabwürdigung‹. »My suggestion is that it is the wrong of treating a person as having inferior moral standing […] I believe that they [Lawrence und Matsuda, S. K.] are suggesting that hate speech can inflict a wrong in virtue of its illocutionary acts, the very speech acts performed in the utterances of such speech.«19
›Jemanden verbal als moralisch unterlegen behandeln‹ wird als eigenständiger illokutionärer Sprechakttyp postuliert, dessen illokutionäre Kraft darin besteht, Personen als ›moralisch unterlegen‹ in ihre Schranken zu verweisen (»put them in their place«).20 Diese illokutionäre Kraft erniedrigender und herabwürdigender Sprechakte wird im Diskurs nach Altman vor allem durch ihre konventionelle Bedeutung erzielt.21 In der Tradition der weiteren Entwicklung der Sprechakttheorie durch Searle und der Griceschen Theorie der konversationellen Implikaturen22 soll im Unterschied zu Altman, der sprachliche Gewalt durch andere illokutionäre Sprechakttypen wie z. B. ›Beschreiben‹, ›Annehmen‹, ›Feststellen‹, ›Argumentieren‹ zwar nicht prinzipiell ausschließt, sie jedoch nicht als primär ansieht23, in der hier vorgestellten Untersuchung dem Prinzip der indirekten Sprechakte und der damit verbundenen indirekten, subtilen sprachlichen Gewalt weit größere Bedeutung zugemessen werden. Beide von Altman diskutierten Aspekte sprachlicher Gewalt, ihre subjektiv durch das Opfer erlebten verletzenden psychologischen Effekte ebenso wie die, gemessen an allgemeingültigen Moralvorstellungen einer Sprachgemeinschaft, objektive moralische Herabwürdigung des Opfers, werden sprachlich häufig nicht nur durch direkte Sprechakte, in denen nach Searle24 Sprecherabsicht und zur Versprachlichung gewählter Sprechakttyp übereinstimmen, zum Ausdruck gebracht. Dies gilt insbesondere auch für Gesprächsschritte der Ablehnung, in denen S das Nichteinverstandensein mit vorher Gesagtem bzw. mit Handlungsweisen von A zum Ausdruck bringt. Ein enges Geflecht zahlreicher Faktoren (z. B. das sprachliche und enzyklopädische Hintergrundwissen von S und A sowie der spezifische situative Kon18 19 20 21 22 23 24
Altman, »Liberalism and Campus Hate Speech«, a.a.O., S. 309. Ebd., S. 306-307. Ebd., S. 309-310. Ebd., S. 311. Grice, Paul, Studies in the Way of Words, Cambridge 1989. Altman, »Liberalism and Campus Hate Speech«, a.a.O., S. 311. Vgl. Searle, John, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge 1969.
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text) determiniert die Entschlüsselung der aktuellen Bedeutung eines bestimmten Sprechaktes in der laufenden Interaktion durch A und somit das Erleben einer sprachlichen Handlung als ›gewalttätig‹. Um auch den Grenzbereichen potenziell als gewalttätig erlebter Gesprächsschritte gerecht zu werden, soll in Bezug auf die hier untersuchte sprachliche Gewalt von einem relativ weit gefassten Gewaltbegriff ausgegangen werden, der, wie durch Schauer25 postuliert, prinzipiell sprachliche Gewalt als nicht weniger schwerwiegend als physische Gewalt ansieht und mit dieser in Hinblick auf so wichtige Kriterien wie die Intensität des Erlebens, ihre Dauer bzw. Möglichkeiten ihrer aktiven Vermeidung durch das Opfer gleichzustellen ist.26 Gewalt soll mit Januschek und Gloy als ›Struktureigenschaft von Sprache‹ verstanden werden und zwar in dem Sinne, dass »sprachliche Äußerungen selbst Gewalthandlungen sein können«.27 Luginbühls Definition sprachlicher Gewalt für die Untersuchung von Fernsehdiskussionen erwies sich für die Untersuchung von Internetforen als besonders fruchtbringend: »Ein Akt verbaler Gewalt liegt dann vor, wenn eine Person eine Sprechhandlung vollzieht, die, sei es intentional und feindlich oder nicht, eine am Gespräch teilnehmende Person in deren durch die Textsorte gewährtem konversationellem Spielraum in einer dramatischen Weise einschränkt und so diese Person in ihrer Integrität, ihren Einflussmöglichkeiten und ihrer sprachlichen ›Funktionsfähigkeit‹ schädigt, einschränkt oder gefährdet, wobei eine Gefährdung infolge der trialogischen Kommunikationsform relevant sein dürfte.«28
Internetdiskussionen weisen mit öffentlichen Fernsehdiskussionen zahlreiche Parallelen auf.29 Sie stellen wie die hier untersuchten Internetforen eine Form des öffentlichen Diskurses dar, die ganz wesentlich durch eine trialogische Kommunikationssituation gekennzeichnet ist. In der klassischen Fernsehdiskussion stehen sich nicht nur die Diskursteilnehmer/innen, sondern zusätzlich Zuschauer/innen sowie die moderierende Person gegenüber. Eine ähnliche Konstellation finden wir in moderierten Internetdiskussionsforen. Die Moderation gibt die Themen vor und bestimmt damit wesentlich auch die thematische Ausrichtung der zum Teil über mehrere Monate hinweg geführten Diskussion. Ihr obliegt die Ent25 Schauer, Frederick, »The Phenomenology of Speech and Harm«, in: Ethics, Bd. 103 (Juli), 1993, S. 635-653. 26 Ebd., S. 646-647. 27 Januschek, Franz / Klaus Gloy, »Sprache und / oder Gewalt«, in: dies. (Hg.), Sprache und / oder Gewalt? OBST. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 57, Osnabrück 1998, S. 5-11, hier S. 5. 28 Luginbühl, Martin, Gewalt im Gespräch. Verbale Gewalt in politischen Fernsehdiskussionen am Beispiel der »Arena«, Bern u. a. 1999, S. 83. 29 Für detailliertere Ausführungen zu den strukturellen Besonderheiten und kommunikativen Rahmenbedingungen öffentlicher Newsgroups vgl. Thimm / Ehmer, »›Wie im richtigen Leben …‹«, a.a.O., S. 221, Runkehl / Schlobinski / Siever, Sprache und Kommunikation im Internet, a.a.O., sowie Punkt 3 zu den Details der hier untersuchten Diskussionsforen.
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fernung nicht-themenbezogener bzw. die persönlichen Rechte einzelner Benutzer verletzender Beiträge. Die Diskussionsteilnehmer/innen unterliegen somit über den gesamten Diskussionszeitraum hinweg den steuernden Eingriffen der Moderation. Mindestens ebenso wichtig ist jedoch die den Diskutierenden durchaus bewusste Anwesenheit unbeteiligter Beobachter (›Lurker‹), die einen Diskussionsstrang lediglich passiv verfolgen, teilweise ohne jegliche eigene Beteiligung an der Diskussion. Der Aspekt der Öffentlichkeit der Kommunikation in Internetdiskussionsforen wird gelegentlich mit der Metapher des ›globalen schwarzen Bretts‹ erfasst.30 Feldweg, Kiebiger und Thielen gehen davon aus, dass »die Gemeinde der Leser die Anzahl der Schreiber um ein vielfaches übertrifft«31. Thimm und Ehmer quantifizieren diesen Eindruck in ihren Themenpaletten und Partizipationsraten32 und zeigen auf der Grundlage ihrer Daten, dass die Teilnehmer/innen die Anwesenheit passiver ›Lurker‹ zumindest teilweise beschäftigt (vgl. (2)): (2) »Wir haben hier in der N[ews]G[roup] keinen blassen Schimmer, wie viele Leute hier noch so mitlesen, ob 20, 200 oder gar 2000 […] () (775)«33
Der Verzicht auf eine Intentionalitätskomponente unterscheidet Luginbühls Definition von anderen Gewaltdefinitionen und soll hier kurz diskutiert und leicht modifiziert werden. Zweifelsohne verstärkt bei Gewaltopfern das subjektive Empfinden absichtlich und in vollem Bewusstsein der negativen Folgen für die dem Opfer zugefügte Gewalt das Gewalterleben. Für Altman34 gehört die Intentionalität der erniedrigenden Verbalattacke zu einem definitorischen Kriterium seines sehr engen Begriffs sprachlicher Gewalt. Entscheidend dürfte hier jedoch die Definition des Begriffs der Intentionalität selbst sein. Wenderoth charakterisiert ›intentional verübt‹ als »vom Täter als Gewalt erkannt […] und beabsichtigt […]«.35 In diesem strengen Sinne der reflektierten Gewalt lassen sich wohl nur wenige Gesprächsschritte der untersuchten Diskussionsgruppen als ›voll intentional‹ beschreiben, zumal eine Verifizierung der ›voll erkannten‹ und ›beabsichtigten‹ Wirkung sich in der Regel als schwierig erweisen dürfte. Weitaus plausibler erscheint im Kontext der Internetdiskussionsforen der durch Wenderoth36 sinngemäß stellvertretend genannte Aspekt des durch ›alltagspraktische 30 Vgl. z. B. Thimm / Ehmer, »›Wie im richtigen Leben …‹«, a.a.O., S. 221. 31 Feldweg / Kiebinger / Thielen, »Zum Sprachgebrauch in deutschen Newsgruppen«, a.a.O., S. 145. 32 Thimm / Ehmer, »›Wie im richtigen Leben …‹«, a.a.O., S. 230. 33 Ebd., S. 229. 34 Altman, »Liberalism and Campus Hate Speech«, a.a.O., S. 314. 35 Wenderoth, Anette, »›Hast du was …?‹ – Die stille Gewalt der Schmollenden. Gedanken zu Tätern und Opfern«, in: Franz Januschek / Klaus Gloy (Hg.), Sprache und / oder Gewalt? OBST. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 57, Osnabrück 1998, S. 137-152, hier S. 149. 36 Ebd.
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Urteilskraft‹37 absehbaren Effekts einer Handlung, zumal Kommunikation in Newsgroups durch die Asynchronität und Schriftsprachlichkeit des Mediums ein relativ hohes Maß an Reflektiertheit der eingebrachten Beiträge ermöglicht.38 Intentionalität im engeren Sinne kann demnach mit der Luginbühlschen Definition völlig zu Recht ausgeschlossen werden; der Aspekt der reflektierten und mit ›alltagspraktischer Urteilskraft‹ abschätzbaren Wirkung wird jedoch bei der Analyse der Strategien sprachlicher Ablehnung eine Rolle spielen. Diese umfasst das in Schauer39 diskutierte Hintergrund- bzw. Weltwissen. Es beinhaltet u. a. wesentliche Aspekte der hinlänglich bekannten ›Nettikette‹, weitreichende Kenntnisse im Bereich der pragmatischen Kompetenz (inklusive allgemein anerkannter Regeln sprachlicher Höflichkeit und der allgemeinen Mechanismen konversationeller Implikaturen) und etablierte Ursache-Wirkung-Zusammenhänge im Bereich des menschlichen Zusammenlebens, die allesamt in das Konzept des mit alltagspraktischer Urteilskraft abschätzbaren Effekts einfließen. Neben der Modifikation der Intentionalitätskomponente ist für die hier untersuchten Diskussionsforen auch von einer Umkehrung der Kausalverhältnisse in Luginbühls Definition auszugehen, auf die in Punkt 4 näher eingegangen wird.
2. Sprachliche Strategien der verbalen Ablehnung in den untersuchten öffentlichen Internetforen ›Spiegel Online‹ ist im Sinne Thimm und Ehmers40 ein thematisch organisiertes und redaktionell nach inhaltlichen Schwerpunkten ausgerichtetes öffentliches, moderiertes, aber nicht selektiertes deutschsprachiges Diskussionsforum im Internet. Es zeichnet sich durch einen breit gefächerten Themenkatalog aus, der derzeit (April 2006) parallel in zwölf thematischen Leitforen abgehandelt wird. Diese enthalten wiederum zahlreiche einzelne Foren, in denen Diskussionsgruppen / Newsgroups zu festgelegten Makrothemen miteinander diskutieren.41 In ›Spiegel Online‹ wird zeitversetzt kommuniziert. Die Beiträge werden zu dem vorher festgelegten Makrothema an die zentrale web-basierte Adresse des Diskussionsforums eingesandt, dort gespeichert und sind auf Abruf öffentlich in der Reihenfolge ihres Eingangs lesbar. Dadurch kann der Verlauf der Diskussion je37 Auf den durch Wenderoth verwendeten Begriff des ›gesunden Menschenverstandes‹ wird hier wegen seines normativen Aspektes, der sprachlicher Gewalt in der Alltagskommunikation Vorschub leistet und Abweichungen von der Norm von vornherein deklassiert, bewusst verzichtet. 38 Ebd. 39 Schauer, »The Phenomenology of Speech and Harm«, a.a.O., S. 646, und in der Pragmatik vgl. Levinson, Stephen, Pragmatics, Cambridge 1983, u. v. a. 40 Thimm / Ehmer, »›Wie im richtigen Leben …‹«, a.a.O., S. 223. 41 Im Leitforum ›Politik‹ wird derzeit (April 2006) mit insgesamt 153596 Beiträgen von Teilnehmer/innen zu 120 verschiedenen Themen diskutiert, vgl. http://iiforum. spiegel.de.
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derzeit verfolgt werden. Diskussionsbeiträge können auf bestimmte vorherige Beiträge ausgerichtet werden, das Diskussionsforum ermöglicht außerdem die direkte Kontaktaufnahme mit Mitgliedern mittels E-Mail, deren Text wiederum innerhalb eines Beitrages, als Einzelbeitrag oder als ›private‹ E-Mail für die breite Öffentlichkeit gar nicht erscheinen kann. Die Mitteilungen sind mit dem Sendedatum, dem jeweiligen Betreff und dem von S gewählten Benutzernamen und dessen Status (›neu‹ vs. ›erfahren‹ sowie der Anzahl bisher gesendeter Beiträge) versehen. Die Diskussion eines Makrothemas kann sich über mehrere Monate erstrecken, die Beiträge der Diskutierenden werden archiviert und sind über lange Zeiträume hinweg abrufbar. Ihre Organisation auf dem Benutzerbildschirm erfolgt wie in anderen Newsgroups linear-chronologisch.42 Ein Verweis auf die Netikette (mit abrufbarem Link) erscheint auf der Startseite von ›Spiegel Online‹. Es gibt in der laufenden Diskussion zensierende Eingriffe durch den ›Systemoperator‹ in Form der sichtbaren Löschung von Beiträgen oder Wörtern, für die im konkreten Fall keine Begründung gegeben wird. Für die vorliegende Untersuchung sind insgesamt 174 Beiträge zwischen Frühjahr 2003 und Herbst 2005 zunächst unter dem Gesichtspunkt einer möglichst regen Beteiligung am Forum gesammelt worden. Dabei handelt es sich um jeweils 60, 84 und 3043 aufeinander folgende Beiträge zu den Themen: ›Terror in Europa – wie effizient sind die Abwehrstrategien?‹ (SPON 1), ›Hartz IV – ein vernünftiges Reformpaket?‹ (SPON 2) und ›Rechtschreibreform – die unendliche Debatte‹ (SPON 3). Die technische Organisation der Foren beeinflusst die Wahl der Verfahrensarten sprachlicher Gewalt. Luginbühl44 unterscheidet für Realkommunikation im Mediendiskurs zwei Verfahrensarten verbaler Gewalt, ›formale Gewalt‹, die sich auf strukturelle Aspekte wie die Verletzung der Redezeit durch Unterbrechungen bzw. Erscheinungen paraverbaler Gewalt durch ›Überschreien‹ oder ›Nachäffen‹ bezieht, und ›inhaltliche Gewalt‹, deren Zielrichtung der semantische Gehalt von Äußerungen oder die Stigmatisierung einer Person ist. Formale Gewalt ist durch die Medienspezifik des Internets nahezu komplett ausgeschlossen. Die Asynchronität des Mediums erlaubt problemlos die gleichzeitige Inanspruchnahme des Rederechts durch mehrere Teilnehmer/innen, die Länge der einzelnen Beiträge ist durch die Vorschrift der Netikette45 lediglich moralisch begrenzt und die physische Distanz der Teilnehmer/innen erlaubt paraverbale Gewalt nur in eingeschränktem Maße, etwa in Gestalt des ›Nachäffens‹ durch ›strukturelle bzw. lexikalische Parallelität‹ (vgl. (3)):
42 Vgl. z. B. auch Thimm / Ehmer, »›Wie im richtigen Leben …‹«, a.a.O., S. 221. 43 Da es sich hier um eine qualitative und nicht um eine quantitative Untersuchung handelt, ist aus den gesamten Diskussionssträngen nur eine relativ geringe Datenmenge direkt in die Untersuchung eingeflossen. 44 Luginbühl, Gewalt im Gespräch, a.a.O., S. 85. 45 Storrer / Waldenberger, »Zwischen Grice und Knigge«, a.a.O., S. 68.
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(3) das gibt Anlaß zu mehr Hoffnung. Hoffnung auf mehr Terror. (SPON 1/25)
In den untersuchten Foren liegt der Schwerpunkt eindeutig auf inhaltlicher Gewalt. Sie entspricht Infante / Wigleys Definition »verbaler Aggression«, die von rein argumentativen Diskursstrategien abgegrenzt wird: »Verbal aggression […] denotes attacking the self-concept of another person instead of, or in addition to, the person’s position on a topic of communication.« Dazu gehören zum Beispiel Angriffe auf Charaktereigenschaften der Person, ihre Kompetenz, Beschimpfungen, Lächerlichmachen, Veralbern, Ignorieren etc.46 Infante und Wigleys sowie Luginbühls Konzepte sprachlicher Gewalt lassen sich im Rahmen des Modells sprachlicher Höflichkeit von Brown und Levinson als Angriffe auf das positive oder negative Adressatenimage bzw. dessen erfolgte Verletzung beschreiben. Ausnahmslos allen hier diskutierten Strategien wohnt die Bedrohung des Adressatenimages nach Brown und Levinson gewissermaßen per Definition inne, indem sie in Gestalt von Missfallensäußerungen, Kritik, Lächerlichmachen, Beschwerden, Ermahnungen, Beschuldigungen, Verletzungen, Widerspruch und Nichteinverstandensein oder Herausforderungen eine negative Bewertung der positiven Imagebedürfnisse von A beinhalten.47 Dies kann sprachlich in vielfältiger Form geschehen. In den untersuchten Foren werden drei Strategien aggressiver verbaler Ablehnung systematisch und häufig eingesetzt, die im Folgenden nacheinander erklärt und an Beispielen aus den untersuchten Daten illustriert werden.
Strategie 1: Die negative Bewertung des propositionalen Gehaltes Der Inhalt der Sprechhandlung des vorausgehenden Gesprächsschrittes wird explizit negativ bewertet. Dies geschieht ohne gesichtswahrende Maßnahmen wie z. B. die Benennung gemeinsamer Grundpositionen, die Verwendung von expliziten äußeren Zeichen einer gemeinsamen Gruppenidentität, die Vermeidung des expliziten Ausdrucks von Nichtübereinstimmung durch die ›ja-aber-Strategie‹, die bestätigende Wiederholung unstrittiger Inhalte, die Verwendung so genannter ›Heckenausdrücke‹ oder Modalisierung des propositionalen Gehaltes der eigenen Aussage sowie das Angeben oder Erfragen von Gründen für die Annahmen oder Verhaltensweisen der Gesprächspartner/innen. Dies zielt nach Kohnen »natürlich implizit auch auf die Person S1 ab, der Fakt, dass [S1] etwas für richtig hält, wird negativ bewertet«.48 Im Mittelpunkt steht nach Kohnen die Feststellung der Fehler des anderen. S2 reklamiert für sich selbst eine objektive Norm bzw. einen allgemeingültigen Wertmaßstab. Dadurch wird durch S2 bestimmt, ob ein Beitrag 46 Infante, Dominic / Charles J. Wigley, »Verbal Aggressiveness: An Interpersonal Model and Measure«, in: Communications Monographs, Bd. 53, 1986, S. 61-69, hier S. 61. 47 Brown / Levinson, Politeness, a.a.O., S. 65-66. 48 Kohnen, Zurückweisungen in Diskussionen, a.a.O., S. 201-202.
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›wahr‹, ›falsch‹, ›unstimmig‹, gefährlich‹ etc. ist, wodurch sich S2 in die Gutachterposition begibt und S1 einen Platz (an der Peripherie?) im sozialen Raum der virtuellen Gruppe zuweist. Kohnen beobachtet diesen Mechanismus für Realdiskussionen: »Da […] [S2] aber gleich zu Anfang und in allgemein gültiger Weise postuliert, dass […] [S2] Gedankengang falsch ist, werden die Gesprächsteilnehmer dazu verleitet, die nachfolgenden Argumente nicht weiter auf ihre Plausibilität zu überprüfen und […] [S1] Beurteilungskompetenz vorschnell anzuerkennen.«49
Heisler, Vincent und Bergeron50 untersuchen metadiskursive Kommentare von S, die auf die eigene Äußerung gerichtet sind, um deren potenzielle Bedrohung der eigenen Imagebedürfnisse abzufedern, und stellen dabei fest, dass Zweifel am propositionalen Gehalt einer Äußerung (wie bei der falschen Wiedergabe von Tatsachen oder dem Vorbringen schwacher Argumente) eine inhärente Bedrohung der eigenen Imagebedürfnisse darstellen. Sprecher/innen sind sich dieser Tatsache bewusst und streben danach, dieser Gefahr durch den selbst produzierten metadiskursiven Kommentar vorzubeugen. Geht die kritische Bewertung des propositionalen Gehaltes der Äußerung nicht von S selbst, sondern von anderen Gesprächsteilnehmer/innen aus, stellt dies ein weit größeres Risiko für das Image von S1 dar, dem in der sprachlichen Höflichkeitsforschung z. B. durch Leechs51 Formulierung einer Zustimmungsmaxime (›Approbation Maxim‹ = ›minimize dispraise of other; maximize praise of other‹) Rechnung getragen wird. Es ist davon auszugehen, dass der einer direkten Ablehnung des propositionalen Gehalts einer Äußerung innewohnende Angriff auf das Adressatenimage in einer Sprachgemeinschaft unseres Kulturkreises als ›gesichertes Gut‹ gilt und zumindest im Sinne Wenderoths52 als ›mit alltagspraktischer Urteilskraft‹ abschätzbares Risiko bewertet werden muss. Die Strategie der negativen Bewertung des propositionalen Gehaltes eines Diskussionsbeitrages wird in den untersuchten Daten durch verschiedene sprachliche Substrategien realisiert. Die am häufigsten verwendeten Substrategien werden im Folgenden exemplarisch gezeigt. (a) Formulierung einer Gegenthese ohne explizite Verneinung (4) @ […], es kann doch nicht mehr um Reparaturmaßnahmen wie irgendwelche Steuern rauf oder runter gehen, hier geht es schon lange um echte Reformen, dazu muss aber erst mal zugegeben werden, dass der Kapitalismus ein in der jetzigen Situation nicht funktionierendes System ist. […] (Spon 2/132) 49 Ebd., S. 205. 50 Heisler, Troy / Diane Vincent / Annie Bergeron, »Evaluative Metadiscoursive Comments and Face-work in Conversational Discourse«, in: Journal of Pragmatics, Bd. 35, 2003, S. 1613-1631. 51 Leech, Geoffrey, Principles of Pragmatics, London, New York 1983, S. 135-136. 52 Wenderoth, »›Hast du was …?‹ «, a.a.O., S. 149.
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Die Formulierung einer Gegenthese ohne explizite Verneinung des vorangegangenen Beitrages wird häufig durch die Verwendung von Modalpartikeln flankiert. Das Modalverb kann (Bedeutungsvariante ›Erlaubnis‹ bzw. ›ontologischer Status‹)53 und die Modalpartikel doch (Abtönungspartikel zur Färbung von Äußerungen, Ausdruck von Verärgerung, Zweifel etc.)54 sind hier nicht als abschwächende, sondern die Aussage verstärkende Modalisierung zu betrachten, mit der S1 den für sich reklamierten Wahrheitsanspruch zusätzlich unterstreicht. Weinrich unterstreicht den Korrekturanspruch, den S mit der Verwendung von doch häufig verbindet: »Mit doch signalisiert der Sprecher (wie mit ja) ›Bekanntheit‹, aber diese Bekanntheit reicht zur Handlungssteuerung [durch S1, S. K.] nicht aus, und die Äußerung [von S1, S.K.] bedarf einer Korrektur. […] Mit dieser zweifach akzentuierten Bedeutung hat doch oft eine vorwurfsvolle Konnotation.«55 (b) Direkte Verneinung des propositionalen Gehaltes (5) Umgekehrt wird ein Schuh draus. Die SPD ist ihren bisherigen Wählern in den Rücken gefallen und hat sich zu einer Zweigstelle des elenden BDI machen lassen. (Spon 2/99)
Die direkte Verneinung erfolgt in (5) lexikalisch durch die Verwendung des antonymischen ›umgekehrt‹. In der gleichen Gruppe sind natürlich ebenso Verneinungen durch die Verneinungspartikel nicht, kein und deren sprachliche Varianten56 möglich und werden häufig verwendet. Die Metapher ist hier ambivalent. Metaphern gehören nicht nur zum lexikalischen Inventar der poetischen Sprache, sondern auch zum Inventar der Alltagssprache, mit der über die Strategie des Herausstellens von Gemeinsamkeiten (sprachliche Markierung von Gruppenidentität – ›in-group language or dialect‹ nach Brown und Levinson57) die positiven Imagebedürfnisse von A befriedigt werden können. Nicht lexikalisierte metaphorische Ausdrücke finden sich jedoch in der Alltagssprache häufig in emotionsgeladenen Kontexten und können in diesem Zusammenhang eine die Aussage verstärkende Wirkung haben.58
53 Vgl. so in Drosdowski, Günther u. a. (Hg.), Duden. Die Grammatik, Mannheim 1984, S. 96. 54 Ebd., S. 351-352. 55 Weinrich, Harald, Textgrammatik der deutschen Sprache, Mannheim u. a. 1993, S. 845-846, vgl. auch Gruber, Helmut, Streitgespräche. Zur Pragmatik einer Diskursform, Opladen 1996, S. 184. 56 Vgl. Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, a.a.O., S. 864 ff. 57 Brown / Levinson, Politeness, a.a.O., S. 107 ff. 58 Bertau, Marie-Cecile, Sprachspiel Metapher. Denkweise und kommunikative Funktion einer rhetorischen Figur, Opladen 1996, S. 218 ff.
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Strategie 2: Metasprachliche Zurückweisung Die metasprachliche Zurückweisung beinhaltet nach Kohnen59 häufig die implizite negative Bewertung nicht des propositionalen Gehalts eines vorangegangenen Gesprächsschritts, sondern der Person S1. S1 ist nicht in der Lage, sich korrekt bzw. angemessen zu äußern. Heisler, Vincent und Bergeron machen deutlich, dass der Imagebedrohung durch metasprachliche Kritik ein größeres Gewicht zukommt als der Bedrohung durch eine alleinige Kritik des propositionalen Gehalts einer Äußerung: »Although there is a potential threat to the speaker’s face in both cases, we consider that the threat based on a negative judgement on the speaker is, in principle, more important than that based on an objection to the discourse.«60
Angesichts der größeren Reflektiertheit lässt sich in den hier untersuchten Newsgroup-Daten meines Erachtens für die implizite negative Bewertung von S1 davon ausgehen, dass der Gesichtsverlust der anderen Person im Sinne Wenderoths zumindest billigend in Kauf genommen wird. Kohnen bewertet sie für Realdialoge als Teil des strategischen Vorgehens von S2 beim Aufbau des eigenen Kompetenzimages.61 Auch innerhalb dieser zweiten Strategie verwenden die Beteiligten verschiedene sprachliche Substrategien wie z. B. (c)-(e): (c) Negative Bewertung des allgemeinen Diskursmodus (6) Nun, nach diesem unerfreulichen »Phrasenwechsel« […] können wir uns ja wieder einmal den segensreichen Folgen dieser »richtigen, zukunftsweisenden« Hartzerei zuwenden: (Spon 2/78) (7) Die eifernde Diskussion um die innere Sicherheit finde ich unerhört […] (SPON 1/31) (8) Die Debatte wird in dreister Weise vor der falschen Annahme geführt […] (SPON 1 /31)
Die negative Einschätzung des Diskursklimas wird in allen drei Beispielen durch explizit negativ bewertende Attribute (unerfreulich, unerhört, dreist und eifernd) zum Ausdruck gebracht. Das Substantiv ›Phrasenwechsel‹ enthält diese explizit negative Bewertung durch seine negative Konnotation. In allen drei Beispielen wird damit das unangemessene Diskursverhalten der Teilnehmer/innen hervorgehoben, was im Sinne Heislers, Vincents und Bergerons62 eine Imagebedrohung darstellt. Die metasprachliche Kritik richtet sich gegen die Art und Weise, in der 59 Kohnen, Zurückweisungen in Diskussionen, a.a.O., S. 209. 60 Heisler / Vincent / Bergeron, »Evaluative Metadiscoursive Comments and Facework in Conversational Discourse«, a.a.O., S. 1623. 61 Kohnen, Zurückweisungen in Diskussionen, a.a.O., S. 209. 62 Heisler / Vincent / Bergeron, »Evaluative Metadiscoursive Comments and Facework in Conversational Discourse«, a.a.O., S. 1623.
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die Diskussion in ihrer Gesamtheit (zumindest durch eine Gruppe von Teilnehmer(n)/innen) geführt wird. Das Risiko der Gesichtsverletzung einzelner, bestimmter Adressat(en)/innen wird durch die Bezugnahme auf Phrasenwechsel, Debatte und Diskussion anstelle der direkten Bezugnahme auf die jeweilige Person etwas abgefedert, womit Brown und Levinsons63 Strategie 7 für negative Höflichkeit Rechnung getragen wird (›Impersonalize S and H‹). Gegen das gleiche Prinzip verstößt jedoch mit finde ich unerhört Beispiel (7). Beitrag (8) zeigt zusätzlich eine explizit negative Bewertung des propositionalen Gehalts eines vorangegangenen Beitrages, die sprachlich wie in (5) explizit durch ein lexikalisches Ausdrucksmittel (falsch) zum Ausdruck gebracht wird. Sie enthält damit beide in Heisler, Vincent und Bergeron64 diskutierten Risikofaktoren für das Adressatenimage (propositionales und metasprachliches Risiko), die in den Diskussionsbeiträgen auch kombiniert auftreten. (d) Negative Einschätzung der Relevanz (9) Herr , es geht doch nicht um Missionen oder Visionen, sondern um die Frage, ob die Grundannahmen der heutigen SPD Politik zutreffend sind. Und genau da bleiben Sie wie viele eine Antwort schuldig. (Spon 2/91)
Im Unterschied zur Substrategie (a) wird die Imagebedrohung hier nicht auf eine Gruppe Diskutierender gerichtet, sondern durch die direkte Bezugnahme und Ansprache auf eine bestimmte Person. Damit wird erneut Strategie 7 (›Impersonalize S and H‹) der negativen Höflichkeitsstrategien im Modell von Brown und Levinson verletzt. In Anlehnung an die Relevanzmaxime wird S1 hier (persönlich und direkt) unterstellt, einen Aspekt behandelt zu haben, der für das Thema nicht relevant ist. Dabei handelt es sich nicht im engeren Sinne um die in Schütte65 für professionelle Mailinglisten ausführlich beschriebene metasprachliche Kritik am ›Off-Topic‹-Modus, in dem das vorgegebene Thema nicht beachtet wird. Der Mechanismus des Angriffs auf das Adressatenimage ist hier subtiler. Impliziert ist – wie auch Heisler, Vincent und Bergeron66 beobachten – ein Angriff auf die (virtuelle) Person S1, der indirekt unterstellt wird, die Reichweite eines Themas intellektuell falsch zu beurteilen. Die Verwendung der Modalpartikel doch hat hier die gleiche Korrektur und Verhaltensänderung einfordernde Funktion wie in Beispiel (4) und bezieht sich auf S1 Kenntnis des Umfangs des behandelten Themas.
63 Brown / Levinson, Politeness, a.a.O., S. 190 ff. 64 Heisler / Vincent / Bergeron, »Evaluative Metadiscoursive Comments and Facework in Conversational Discourse«, a.a.O., S. 1623. 65 Schütte, »Diskursstrukturen in fachlichen Mailinglisten«, a.a.O., S. 68. 66 Heisler / Vincent / Bergeron, »Evaluative Metadiscoursive Comments and Facework in Conversational Discourse«, a.a.O., S. 1623.
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(e) Negative Bewertung der Klarheit (10) […] falls Sie so Typen wie mich überhaupt meinen, Sie bleiben da ja etwas nebelhaft, […] (Spon 2/134)
Wie in (9) erfolgt auch in (10) der Angriff mehr oder weniger direkt auf die Person S1. Eine denkbare Alternative wäre z. B. die Bezugnahme auf den Redebeitrag wie etwa in ›ihr Beitrag bleibt etwas nebelhaft‹. Stattdessen wird durch die metonymische Bezugname die Kritik nicht auf eine bestimmte (eventuell weniger geglückte) Einzelhandlung bezogen, sondern gleich auf die Gesamtpersönlichkeit von S1. Dieser Eindruck wird zusätzlich durch die Verwendung der Modalpartikel ja unterstrichen, die nach Weinrich dem Adressaten (S1 und allen Mitlesenden) anzeigt, »daß er den Sachverhalt als bekannt ansehen soll«67, wodurch eine zusätzliche (unzulässige, S. K.) denkbare Übertragung der Einschätzung eines Einzelbeitrages von S1 auf gewöhnliches Verhalten suggeriert wird. Die negative Bewertung der Klarheit des Beitrages in (10) stellt durch die persönliche Ansprache mit ›Sie‹ gleichzeitig einen Angriff auf die negativen Imagebedürfnisse von S1 dar und verletzt in Brown und Levinsons Modell Strategie 7 im Bereich der negativen Höflichkeitsstrategien (›Impersonalize S and H‹).
Strategie 3: Negative Bewertung der Person Kennzeichnend für die Strategie 3 ist nach Kohnen68 die explizit negative Bewertung des Wissens und der Annahmen von A: »[D]ie Einstellung des Adressaten wird als fragwürdig, falsch, änderungsbedürftig dargestellt.«69 Dies geschieht wie in Strategie 1 ohne gesichtswahrende Maßnahmen. Analog zu Strategie 1 bestimmt S damit auch für sich selbst eine ›objektive Norm bzw. einen allgemeingültigen Wertmaßstab‹. Dadurch begibt sich S2 auch hier in die Gutachterposition und weist S1 einen Platz im sozialen Raum der virtuellen Gruppe zu. Während in den Strategien 1 und 2 die persönliche Ansprache eines/r Diskussionsteilnehmer(s)/in möglich ist, aber nicht durchgängig genutzt wird, ist sie für Strategie 3 typisch. In jedem der Beispiele wird eine bestimmte Person direkt angesprochen. Die in Luginbühl als besonders relevant angesehenene ›trialogische Kommunikationssituation‹ erlangt dadurch besondere Bedeutung. S2 hat bewusst nicht von der im Forum vorgesehenen Möglichkeit der individuellen Kontaktaufnahme zu A Gebrauch gemacht, wodurch eine ›Prangersituation‹70 provoziert 67 68 69 70
Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, a.a.O., S. 844. Kohnen, Zurückweisungen in Diskussionen, a.a.O., S. 201 ff. Ebd., S. 162-163. Kleinke, Sonja, »Geschlechtsrelevante Aspekte sprachlicher Unhöflichkeit im Internet«, in: Antje Hilbig / Claudia Kajatin / Ingrid Miethe (Hg.), Frauen und Gewalt: Interdisziplinäre Untersuchungen zu geschlechtsgebundener Gewalt in Theorie und Praxis, Würzburg 2003, S. 197-213; vgl. auch Gruber, Streitgespräche, a.a.O., S. 308, zu ›Diffamierungsstrategien‹.
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wird. Die negative Bewertung der Person S1 erfolgt explizit in der Öffentlichkeit der Gruppe und eventuell mitlesender Gäste. Selbst wenn A persönlich in der Betreffzeile erwähnt wird, bleibt der Beitrag an die betreffende Person öffentlich, für alle Teilnehmer/innen und Unbeteiligten zugänglich. Auffällig ist in Strategie 3 darüber hinaus die größere Bandbreite an Substrategien, die im untersuchten Material vorgefunden wurde, und außerhalb der hier exemplarisch vorgestellten Strategien noch die stereotypisierende Eingliederung von S1 in eine Gruppe und den ›persönlichen Vorwurf der unzureichenden Sprachbeherrschung‹ enthalten. (f) Kritik am persönlichen Verhalten im Diskurs (11) Also, es darf schon etwas mehr sein, als die üblichen schen Pöbeleien! (Spon 1/61) (12) @ Herr Staunen Sie über den Begriff »strukturbedingt«? Soll es in NRW zuweilen noch geben! Oder gehen Ihnen einmal mehr die Argumente aus? (Spon 1/96) (13) Ihr hündisches Gekrieche vor Helmut Schmidt ist nur peinlich genauso ihre Aussage, dass eine Politik ohne Visionen gestaltet werden kann. (Spon 1/112)
Gemeinsam ist allen drei Beispielen, dass im Unterschied zu Strategie 2 nicht mehr die metasprachliche Kritik an einem Beitrag im Mittelpunkt steht, sondern stattdessen die Verhaltensweise von S1 im Diskurs (die üblichen schen Pöbeleien, gehen Ihnen einmal mehr die Argumente aus, Ihr hündisches Gekrieche). Über S1 werden mittels negativ wertender Begriffe (hündisch, peinlich, Gekrieche) explizit negativ bewertende Aussagen getroffen, die durch die Verwendung von habituellem Verhalten implizierenden Adverbialpartikeln (üblichen, einmal mehr) in (11) und (12) sowie die subjektiv negative Bewertung peinlich in (13) zusätzlich unterstrichen werden. Günthner und Christmann verweisen für Realdialoge auf das bewertende Element lexiko-semantischer Ausdrucksmittel in Entrüstungs- und Mokieraktivitäten: »Anhand negativ wertender Begriffe [Hervorhebung Günthner und Christmann] stellen Entrüstungsagent/innen ihre Entrüstungsobjekte bzw. deren Handlungen als moralisch verwerflich dar. […] [E]s ist […] möglich, Entrüstungsdarstellungen mit zunehmend schärferen negativen Evaluationen zu steigern […]«71
(g) Unterstellte unzureichende Kenntnisse (14) Die Qualität der Antwort war vorhersehbar […] (Spon 3/3508)
71 Günthner, Susanne / Gabriela B. Christmann, »Entrüstungs- und Mokieraktivitäten – Kommunikative Gattungen im Kontextvergleich«, in: Folia Linguistica, Heft 3-4, S. 327-358, hier S.338.
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(15) Zitat von Dr : ›Bereits erhebliche Beispiele aufgeführt. Lesen Sie ein paar Beiträge zurück.‹ Bedaure. Da finde ich nur inkompetenten Unfug, der jeder linguistischen Argumentation spottet. […] (Spon 3/3517)
Im Unterschied zu Strategie 1 wird in Substrategie (g) direkt und explizit ein Kausalzusammenhang zwischen der Person S und dem negativ bewerteten Inhalt der Äußerung hergestellt. Dies geschieht in (14) durch das (wiederum habituelles Fehlverhalten implizierende) Adjektiv vorhersehbar und in (15) durch das prämodifizierende Attribut inkompetent, das wie sein positives Pendant kompetent (»maßgebend, urteilsfähig, […] ich bin in dieser Angelegenheit, Frage nicht […]«72, »das notwendige Sachverständnis für etwas besitzend«73) üblicherweise mit einem menschlichen Subjekt kollokiert wird, hier jedoch das Ergebnis der vorhergehenden verbalen Handlung (Unfug) von S1 charakterisiert. (h) Unterstellung negativer Verhaltensweisen außerhalb des Forums (16) – ansonsten beschränkt sich Ihr politischer Aktivismus nämlich ungefähr auf den Radius eines Bierdeckels – (Spon 2/61)
Substrategie (h) unterscheidet sich verschärfend von Substrategie (f) durch die unzulässige explizite und verallgemeinernde Annahme unzulänglicher Verhaltensweisen von S1 über den direkt im Diskussionsforum beobachtbaren Lebensbereich von S1 hinaus. Damit wird erneut (allerdings auf andere Weise als in (e)) die Person in ihrer Gesamtheit und in Hinblick auf ihre (nur angenommenen) habituellen Verhaltensweisen herabwürdigend kritisiert. Die negativ wertende Metapher erhöht das Gewaltpotential von (16) zusätzlich und bildet den Übergang zu (i). (i) Explizite persönliche Beschimpfung (17) Ich sage es noch einmal, , Sie sind kein Zyniker, sie sind kein U-boot […] was Sie sind, dass ist ein Glaeubiger […]. und solche Leute sind die schlimmsten. (Spon 2/3508) (18) Zitat von Dr : ›Bereits erhebliche Beispiele aufgeführt. Lesen Sie ein paar Beiträge zurück.‹ Könnten Sie freundlicherweise die Beitragsnum-mern nenne? Es sucht sich so schwer nach Stecknadeln in Ihrem Beitragsheuhaufen. (Spon 3/3519)
Mit der expliziten persönlichen Beschimpfung wird eine sprachliche Strategie gewählt, die das Adressatenimage direkt angreift und in der Literatur zur sprach72 Wahrig, Gerhard, Der kleine Wahrig. Wörterbuch der deutschen Sprache, Gütersloh 1993, S. 466. 73 Kempke, Günter, Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Berlin 1984, Bd. 2, S. 666.
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lichen Unhöflichkeitsforschung mehrfach diskutiert wird (Brown und Levinson74, Kienpointner75, Beebe76, Culpeper77). Insbesondere in (17), aber auch schon in (16), kommt durch die direkte Ansprache von S1 der direkt performative Akt der Beschimpfung bzw. die Verletzung im Sinne von Altman78 hinzu. S1 wird explizit herabgewürdigt (vgl. (17)) bzw. werden vorausgegangene sprachliche Handlungen von S1 explizit wie in (18) negativ beurteilt.
3. ›Mobbing‹ in Internetforen – ein Sonderfall Sprachliche Gewalt wird vor allem in Gestalt des so genannten ›Mobbings‹ als besonders aggressiv erlebt. Als ›Mobbing‹ werden sprachliche Aktivitäten bezeichnet, die im Zuge der Gruppendynamik ein Opfer systematisch erniedrigen und ausgrenzen. Stegbauer stellt in etwa zwei Drittel der untersuchten Kommunikationsräume eine auf hierarchische Verhältnisse hindeutende »Zentrum-Peripheriestruktur« fest, deren Spezifika jedoch nicht explizit erläutert werden.79 Thimm und Ehmer unterstreichen für ihre Daten die Herausbildung klarer Strukturen innerhalb der Gesamtgruppe, die sowohl die »Ausprägung von individuellen Profilen« als auch die »Herausbildung einer Gesamtgruppenidentität«80 umfassen. Dies scheint für die Entwicklung von Mobbingstrategien besonders wichtig zu sein, weil diese auf dem Zusammenschluss und Zusammenwirken mehrerer Gruppenmitglieder gegen ein Gruppenmitglied beruhen. In allen drei untersuchten SPON-Foren ließen sich zwei Strategien beobachten, die eindeutig Merkmale des Mobbings zeigen.
Strategie 1: Aggressive Hervorhebung negativer Verhaltensweisen, Eigenschaften und Kenntnisse (19) Für Leute wie Herrn gibt es anscheinend nur eine Wahrheit und eine Realität. (Spon 2/71)
74 »S indicates that he doesn’t like / want one or more of H’s wants, acts, personal characteristics, goods, beliefs or values.« (Brown / Levinson, Politeness, a.a.O., S. 66.) 75 Kienpointner, »Varieties of Rudeness«, a.a.O., S. 274-276. 76 Beebe, Leslie, »Polite Fictions: Instrumental Rudeness as Pragmatic Competence«, in: James E. Alatis u. a. (Hg.), Georgetown University Round Table of Languages and Linguistics 1995: Linguistics and the Education of Language Teachers: Ethnolinguistic, Psycholinguistic and Sociolinguistic Aspects, Washington 1995, S. 154168, hier S. 159 f. 77 Culpeper, »Towards an Anatomy of Politeness«, a.a.O., S. 357-358 und 359 ff. 78 Altman, »Liberalism and Campus Hate Speech«, a.a.O., S. 308-309. 79 Stegbauer, Christian, »Begrenzungen und Strukturen internetbasierter Kommunikationsgruppen«, in: Thimm (Hg.), Soziales im Netz, a.a.O., S. 23-24. 80 Thimm / Ehmer, »›Wie im richtigen Leben …‹«, a.a.O., S. 231.
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(20) Nun, nach diesem unerfreulichen »Phrasenwechsel« mit dem Jungsozialisten neuer Prägung (hat wohl 68er Eltern und muss per Projektion noch aufarbeiten) (Spon 2/78) (21) Aber nicht doch! In Herrn nordrhein-westfälischem Heimatdorf hält die SPD trotz hoher strukturbedingter Arbeitslosigkeit die absolute Mehrheit. Weil, das muss man wissen, es zwei Arten von Arbeitslosigkeit gibt: […] (Spon 2/101) (22) scheint mir exemplarisch zu sein für die Beliebigkeit der Machtelite, auch wenn er selbst nicht dazu gehört, es sich nur wünscht, Teil der Macht zu sein. (Spon 2/114)
Dies verstößt massiv gegen das positive Adressatenimage und gegen die Regeln nicht aggressiver Argumentation nach Infante und Wigley81, nach denen der Inhalt von Beiträgen und nicht die (vermeintlichen) Eigenschaften der beitragenden Personen zu diskutieren sind. Außerdem handelt es sich um eine markierte Struktur eines Themenstranges, da sich außergewöhnlich viele Beiträge auf Eigenschaften ein und derselben Person beziehen. Auch dies deutet auf den Zusammenschluss von virtuellen Gruppenmitgliedern gegen ein ausgewähltes Gruppenmitglied hin.
Strategie 2: Öffentliches »Hinter-dem-Rücken«-Reden Das vermeintliche Fehlverhalten von Forumsteilnehmer(n)/innen wird öffentlich im Forum zwischen anderen Teilnehmer(n)/innen diskutiert, indem im Forum vor den Augen des Opfers, der Forumsteilnehmer/innen und der mitlesenden Öffentlichkeit über das Opfer in der dritten Person, als wäre es nicht (potenziell) »anwesend«, diskutiert wird, wodurch das besondere Gewaltpotenzial der trialogischen Gesprächssituation erneut zum Tragen kommt. (23) Jetzt auf einmal beansprucht sie die Freiheit! (Spon 3/3503) (24) Warum legt sie sich dann nur so sehr dafür ins Zeug??? (Spon 3/3503) (25) ??? Aber egal, keine spießigen Details – vielleicht sollten Sie aber mal versuchen, dies so simpel zu erklären, daß selbst sie es vage verstehen kann? (Spon 3/3518) (26) Wie sagt uns doch die derzeit etwas verstummte Frau in #3283 Zitat von : ›Aber mehr als eine [geänderte] Schreibung pro DIN-A-4-Seite ist es nicht.‹ Ob sie diese Schreibungen gemeint hat??? (Spon 3/3586)
81 Infante / Wigley, »Verbal Aggressiveness«, a.a.O., S. 61.
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4. Besonderheiten der Gesprächssorte »Diskussion« und der Internetkommunikation Eine entscheidende Besonderheit der Gesprächssorte ›Diskussion‹ liegt in ihrer spezifischen Art der Präferenzorganisation. Im Unterschied zum ›informellen Gespräch‹, in dem zustimmende Gesprächsschritte aufgrund ihrer Strukturmerkmale durch Levinson82 als ›bevorzugte Gesprächsschritte‹ identifiziert wurden, gilt nach Pomerantz83, Jacobs84 und Kotthoff85 in der Diskussion die verbale Ablehnung als bevorzugte Strategie in Realdiskussionen. »Jede inhaltliche Nichtübereinstimmung zwischen den Interaktanten« hat jedoch nach Gruber86 »immer auch eine negative Auswirkung auf ihre Beziehung«. Ziel des Gesprächs ist nicht die gemeinsame Lösung, sondern die Durchsetzung des eigenen Standpunktes. In der Konfliktkommunikation ist demnach nach Gruber »›höfliches‹ Verhalten ganz oder zumindest teilweise suspendiert […], während ›unhöfliches‹ Verhalten durchaus angemessen sein kann«87, wodurch die Eignung des Brown und Levinsonschen Modells für die Untersuchung von Konfliktkommunikation nach Gruber nur bedingt gegeben ist. Für die hier untersuchten Foren trifft Grubers Beobachtung, die sich in erster Linie auf strukturelle Gewalt bezieht, meines Erachtens nur bedingt zu. Metapragmatische Äußerungen, die das subjektive Gewaltempfinden von Teilnehmer(n)/innen klar formulieren, deuten darauf hin, dass der kommunikative Rahmen von Internetforen zumindest nicht von allen Beteiligten per se gleich bewertet wird, sondern ausgehandelt werden muss.88 Die Verschiebung dieses Rahmens von der ›sachorientierten Argumentation‹ hin zur konfliktorientierten Dissenskommunikation wird als Prozess erlebt, in dem einzelne Teilnehmer/innen das Gefüge der hierarchischen Sozialbeziehungen im Forum zu ihren Gunsten verändern (wollen). Die angestrebte Durchsetzung des eigenen Standpunktes auf der Beziehungsebene mit dem Bestreben nach einer Störung der ›rituellen Ordnung‹ enthält deutlich Merkmale der Luginbühlschen Gewalt82 Levinson, Pragmatics, a.a.O., S. 307-308. 83 Pomerantz, Anita, »Agreeing and Disagreeing with Assessments: Some Features of Preferred / Dispreferred Turn Shapes«, in: Maxwell Atkinson / John Heritage (Hg.), Structures of Social Action, Cambridge, New York 1984, S. 57-102. 84 Jacobs, Scott, »The Management of Disagreement in Conversation«, in: Frans H. van Eemeren u. a. (Hg.), Argumentation: Across the Lines of Discipline, Dordrecht 1987, S. 229-239, hier S. 234. 85 Kotthoff, Helga, »Disagreement and Concession in Disputes: On the Context Sensitivity of Preference Structures«, in: Language in Society, Bd. 22, S. 193-216, hier S. 195. 86 Gruber, Helmut, Streitgespräche. Zur Pragmatik einer Diskursform, Opladen 1996, S. 52. 87 Vgl. so in ebd., S. 62. 88 Vgl. auch Schütte, Wilfried, »Normen und Leitvorstellungen im Internet: Wie Teilnehmer/-innen in Newsgroups und Mailinglisten den angemessenen Stil aushandeln«, in: Inken Keim / Wilfried Schütte (Hg.), Soziale Welten und kommunikative Stile. Festschrift für Werner Kallmeyer zum 60. Geburtstag, Tübingen 2002, S. 339362.
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definition. Gruber selbst bezeichnet das »Verlieren« eines beziehungsorientierten verbalen Konfliktes als bedrohlich.89 Im Unterschied zu Grubers Beobachtungen für Realdialoge verlaufen die hier untersuchten Interaktionen in der Regel defizitär und umfassen nicht alle Phasen der »kommunikativen Konfliktbearbeitung«. Besonders die Aushandlungsphase entfällt häufig, »konvergente Positionen« werden nicht erreicht, wodurch »eine antagonistische Beziehung zwischen den Parteien« bestehen bleiben kann.90 Die für Realdialoge typische Möglichkeit des wechselseitigen Aushandelns hierarchischer Positionen im Gespräch91 fällt teilweise der Asynchronität des Diskurses und der Fluktuation der Teilnehmer/innen zum Opfer. Auch die Schriftlichkeit des Mediums92 und ihre Auswirkungen auf den Diskursmodus (das Fehlen paraverbaler und prosodischer Signale sowie von Möglichkeiten zur direkten Rückkopplung), kombiniert mit der trialogischen Kommunikationssituation und der ›Öffentlichkeit‹ der Kommunikation, kann zum zusätzlichen Gewaltpotenzial beitragen, das über das normal erwartbare Maß in einer nicht öffentlich geführten Diskussion von Angesicht zu Angesicht hinausgeht.93 Ein weiterer Faktor ist die Anonymität von S und A. In den untersuchten SPON-Foren war das Verhältnis von scheinbaren Klarnamen zu deutlich erkennbaren Pseudonymen etwa ausgeglichen. Anonymität wird in jüngeren Untersuchungen zunehmend als eine Gefahr für ein freundliches Diskursklima betrachtet.94 Lenke und Schmitz diskutieren neben positiven Aspekten der Anonymität die Gefahr des Missbrauchs, bedingt durch »fehlende soziale Kontrolle« und »fehlenden Gruppendruck«.95 Aus der Perspektive der sprachlichen Höflichkeitsforschung ist jedoch nicht allein die Anonymität entscheidend für die Erhöhung des Gewaltpotenzials von Beiträgen. Vielmehr fehlt, bedingt durch die lediglich virtuelle Identität der Beteiligten, die gelegentlich metapragmatisch kommentiert wird (vgl. (27)), der Effekt der sozialen Selbstkontrolle. Leech stellt in seiner Erweiterung der Griceschen Konversationsmaximen das ›Höflichkeitsprinzip‹ über das Gricesche ›Kooperationsprinzip‹ und stellt fest: »To put matters at their most basic: unless you are polite to your neighbour, the channel of communication between you will break down, and you will no longer be able to borrow his mower.«96 Das Fehlen jeglicher sozialer Konsequenzen über den virtuellen 89 Gruber, Streitgespräche, a.a.O., S. 54. 90 Ebd., S. 319. 91 Vgl. besonders Watts, Politeness, a.a.O., S. 217 ff., zum Aushandeln von ›(Un-) Höflichkeit‹ und Gruber, Streitgespräche, a.a.O., S. 64, zur ›Relevanzherabstufung‹ von Unterbrechungen. 92 Vgl. z. B. auch Lenke / Schmitz, »Geschwätz im globalen Dorf«, a.a.O., S. 122. 93 Vgl. auch Schütte, »Normen und Leitvorstellungen im Internet«, a.a.O., S. 342. 94 Vgl. z. B. Storrer / Waldenberger, »Zwischen Grice und Knigge«, a.a.O., S. 73, oder Kleinke, »Geschlechtsrelevante Aspekte sprachlicher Unhöflichkeit im Internet«, a.a.O., S. 208. 95 Vgl. Lenke / Schmitz, »Geschwätz im globalen Dorf«, a.a.O., S. 123-125, und Schütte, »Normen und Leitvorstellungen im Internet«, a.a.O., S. 347. 96 Leech, Principles of Pragmatics, a.a.O., S. 82.
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Raum des Forums hinaus dürfte den sprachlicher Gewalt innewohnenden Risikofaktor einer möglichen sozialen Isolation merklich absenken. (27) – 12:14 am Mar 16, 2004 CEST (63 of 378) Hat aber alles keinerlei Einfluß aufs Weltgeschehen, schafft nur virtuelle Zustimmung oder Ablehnung und kann ohne Verlust in den ebenso virtuellen Abfallkorb entsorgt werden. (Spon 1/63)
Durch die übergroße Zahl an Teilnehmer(n)/innen und Beiträgen, die eine direkte Bezugnahme aller Beiträge auf alle anderen nicht mehr ermöglicht, entfallen indirekte Mechanismen der Themenkontrolle, die im Realdialog durch das Ignorieren von S bzw. der durch S eingebrachten Beiträge als Reaktion auf unangemessenes Diskursverhalten einsetzen können. Die Dynamik der aktiven Teilnahme an Foren erlaubt derartig geradlinige Interpretationen des Ausbleibens einer Reaktion nicht. Kritik muss stattdessen explizit verbalisiert werden. Die Länge eines möglichen Diskussionsstranges übersteigt die von Realdialogen um ein Vielfaches. Infante und Wigley97 stellen fest, dass das größte Maß an Aggression in verbalen Auseinandersetzungen in der Regel nicht zu Beginn eines Streitgesprächs anzutreffen ist, sondern sich erst im Verlauf der Auseinandersetzung zeigt. Auch in den hier untersuchten SPON-Foren zeigen die aus SPON 1 zu Beginn der Diskussion gesammelten Beiträge auffallend wenige Instanzen von Strategie 3, während in SPON 2 und 3 (jeweils in weit fortgeschrittenem Stadium der Gesamtinteraktion) deutlich mehr Instanzen direkter Angriffe auf die persönliche Integrität zu beobachten sind.
5. Wirkungen sprachlicher Gewalt in Internetforen Bezüglich der Einschätzung der Wirkung sprachlicher Gewalt stehen wir wie in der Sprechakttheorie auch in der Internetkommunikation vor ernsthaften Problemen. Direkte, beobachtbare Wirkung, die sich durch Aussagen der Opfer sprachlicher Gewalt beweisen lässt, liegt in den Foren oft nicht vor. Auch in Luginbühls Studie gibt es auf persönlich angreifende inhaltlich aggressive Gesprächsschritte kaum explizite Reaktionen: »Formale Gewalt wird inhaltlich eingeklagt, inhaltliche Gewalt beinahe nie.«98 Sprachliche Gewalt kann aber auch ausgeübt worden sein, wenn das Opfer sie nicht ratifiziert. Nach Luginbühl macht die Ratifizierung eine Ausübung von Gewalt eindeutig, fehlt sie, hat das nichts zu besagen.99 Der Rückzug aus dem Gespräch oder Schweigen lässt sich nicht eindeutig interpretieren und kann verschiedene Gründe haben (Zeitmangel, Beiträge noch nicht gelesen, kein Zugang zum Internet […]). Eine Ausnahme bildete das Forum ›Sa97 Infante / Wigley, »Verbal Aggressiveness«, a.a.O., S. 62. 98 Luginbühl, Gewalt im Gespräch, a.a.O., S. 89. 99 Ebd., S. 82.
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bine Christiansen‹, das im Frühjahr 2003 wegen »Verstöße[n] gegen die Nutzungsbedingungen wie Beleidigungen und Diffamierungen […]«100 geschlossen und nach Veränderung der gesamten Organisationsform des Forums von einem frei zugänglichen, zwar moderierten aber nicht selektiven Forum zu einem moderierten und selektiven Forum, in dem nur noch eine Auswahl an Beiträgen präsentiert wird, die zuvor durch die Moderatorin ausgesucht werden, umgewandelt worden ist.101 Entscheidend für die Bewertung von Interaktionsstrategien als ›sprachliche Gewalt‹ ist die in Punkt 2 gezeigte teilweise subtile Demontage von Teilnehmer(n)/innen als gleichwertige (virtuelle) Gruppenmitglieder. Sager beschreibt die möglichen Auswirkungen einer Imageintegritätsdemontage und die damit verbundene ›dramatische Einschränkung des konversationellen Spielraumes‹: »Eine […] interaktiv demontierte Person ist aber kommunikativ ›unmöglich‹ gemacht und damit letztlich unfähig zu handeln, zumindest aber in ihrer persönlichen kommunikativen Entfaltung eingeschränkt, im sozialen Beziehungsgeflecht der Gruppe ein Aussenseiter, ein unterlegener und fremdbestimmter Partner.«102
Für die untersuchten Internetforen bedeutet dies, dass nicht wie in Fernsehdiskussionen der ›Verlust an kommunikativem Raum‹ durch die Ausübung formaler Gewalt zum Imageverlust des Opfers führt. Umgekehrt wird durch die inhaltliche Abwertung des Opfers dessen Platz in der virtuellen Gruppe gefährdet, wodurch eine weitere Ausübung kommunikativer Rechte als im Forum gleichberechtigt behandelte virtuelle Person unmöglich wird. Die Demontage in der Gruppe setzt wegen der trialogischen Kommunikationssituation unabhängig von der Ratifizierung sprachlicher Gewalt durch das Opfer und dessen individuellem Gewaltbegriff sowie dem Gewaltbegriff der anderen beteiligten Teilnehmer/innen ein. Strategien der verbalen Ablehnung in öffentlichen Internetdiskussionsforen erfüllen damit beide von Beebe als entscheidend angesehenen Funktionen sprachlicher Gewalt, die ›Ventilfunktion‹ und die Funktion der ›Reorganisation von Dominanzverhältnissen‹.103 Besonders letztere kann, wie die unterschiedlichen von mir herausgestellten sprachlichen Strategien deutlich gemacht haben, subtilen Mechanismen folgen. Weitere Untersuchungen sind nötig, um die Rolle verbaler Ablehnung bei der konkreten sprachlichen Aushandlung von Zentrums- und Peri-
100 http://www.sabine-christiansen.de/c_erklaerung.html (inzwischen gelöschte Internetseite). 101 http://www.sabine-christiansen.de. 102 Sager, Sven Frederik, Reflexionen zu einer linguistischen Ethologie, Hamburg 1988, S. 149. Den gleichen Mechanismus und den daraus für S 2 erwachsenden Prestigegewinn beschreibt Kohnen, Zurückweisungen in Diskussionen, a.a.O., S. 204 f., für Realdialoge. 103 Beebe, »Polite Fictions«, a.a.O., S. 159.
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pheriepositionen in virtuellen Diskussionsgruppen im Internet sowie einzelsprachliche Besonderheiten dieser Prozesse104 zu bestimmen.
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Jacobs, Scott, »The Management of Disagreement in Conversation«, in: Frans H. van Eemeren u. a. (Hg.), Argumentation: Across the Lines of Discipline, Dordrecht 1987, S. 229-239. Januschek, Franz / Klaus Gloy, »Sprache und / oder Gewalt«, in: dies. (Hg.), Sprache und / oder Gewalt? OBST. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 57, Osnabrück 1998, S. 5-11. Kakava, Christina, »Directness and Indirectness in Professor-Student Interactions: The Intersection of Contextual and Cultural Constraints«, in: James E. Alatis u. a. (Hg.), Georgetown University Round Table of Languages and Linguistics 1995: Linguistics and the Education of Language Teachers: Ethnolinguistic, Psycholinguistic and Sociolinguistic Aspects, Washington 1995, S. 229-246. Kempke, Günter, Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Berlin 1984, Band 2. Kienpointner, Manfred, »Varieties of Rudeness«, in: Functions of Language, Heft 2, Bd. 4, 1997, S. 251-287. Kleinke, Sonja, »Geschlechtsrelevante Aspekte sprachlicher Unhöflichkeit im Internet«, in: Antje Hilbig / Claudia Kajatin / Ingrid Miethe (Hg.), Frauen und Gewalt: Interdisziplinäre Untersuchungen zu geschlechtsgebundener Gewalt in Theorie und Praxis, Würzburg 2003, S. 197-213. — »Strategien der verbalen Ablehnung in englischen und deutschen Internetdiskussionsforen« (in Vorbereitung). Kohnen, Thomas, Zurückweisungen in Diskussionen. Die Konzeption einer Sprechhandlungstheorie als Basis einer empirisch orientierten Konversationsanalyse, Frankfurt / Main u. a. 1987. Kotthoff, Helga, »Disagreement and Concession in Disputes: On the Context Sensitivity of Preference Structures«, in: Language in Society, Bd. 22, S. 193-216. Leech, Geoffrey, Principles of Pragmatics, London, New York 1983. Lenke, Nils / Peter Schmitz, »Geschwätz im globalen Dorf – Kommunikation im Internet«, in: Ulrich Schmitz (Hg.), Neue Medien, OBST. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 50, Osnabrück 1995, S. 117-141. Levinson, Stephen, Pragmatics, Cambridge 1983. Luginbühl, Martin, Gewalt im Gespräch. Verbale Gewalt in politischen Fernsehdiskussionen am Beispiel der »Arena«, Bern u. a. 1999. Pomerantz, Anita, »Agreeing and Disagreeing with Assessments: Some Features of Preferred / Dispreferred Turn Shapes«, in: Maxwell Atkinson / John Heritage (Hg.), Structures of Social Action, Cambridge, New York 1984, S. 57102. Runkehl, Jens / Peter Schlobinski / Torsten Siever, Sprache und Kommunikation im Internet. Überblick und Analysen, Wiesbaden 1998. Sager, Sven Frederik, Reflexionen zu einer linguistischen Ethologie, Hamburg 1988.
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Schauer, Frederick, »The Phenomenology of Speech and Harm«, in: Ethics, Bd. 103 (Juli), 1993, S. 635-653. Schütte, Wilfried, »Normen und Leitvorstellungen im Internet: Wie Teilnehmer/innen in Newsgroups und Mailinglisten den angemessenen Stil aushandeln«, in: Inken Keim / Wilfried Schütte (Hg.), Soziale Welten und kommunikative Stile. Festschrift für Werner Kallmeyer zum 60. Geburtstag, Tübingen 2002, S. 339-362. — »Diskursstrukturen in fachlichen Mailinglisten: Zwischen Einwegkommunikation und Interaktion«, in: Michael Beißwenger / Ludger Hoffmann / Angelika Storrer (Hg.), Internetbasierte Kommunikation, OBST. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 68, Osnabrück 2004, S. 55-75. Searle, John, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge 1969. Stegbauer, Christian, »Begrenzungen und Strukturen internetbasierter Kommunikationsgruppen«, in: Caja Thimm (Hg.), Soziales im Netz. Sprache, Beziehungen und Kommunikationskultur im Internet, Opladen, Wiesbaden 2000, S. 18-38. Storrer, Angelika / Sandra Waldenberger, »Zwischen Grice und Knigge: Die Netiketten im Internet«, in: Hans Strohner / Lorenz Sichelschmidt / Martina Hielscher (Hg.), Medium Sprache: Forum Angewandte Linguistik, Bd. 34, Frankfurt / Main u. a. 1998, S. 63-77. Thimm, Caja / Heidi Ehmer, »›Wie im richtigen Leben …‹: Soziale Identität und sprachliche Kommunikation in einer Newsgroup«, in: Caja Thimm (Hg.), Soziales im Netz. Sprache, Beziehungen und Kommunikationskultur im Internet, Opladen, Wiesbaden 2000, S. 220-239. Wahrig, Gerhard, Der kleine Wahrig. Wörterbuch der deutschen Sprache, Gütersloh 1993. Watts, Richard J., Politeness, Cambridge 2003. Weinrich, Harald, Textgrammatik der deutschen Sprache, Mannheim u. a. 1993. Wenderoth, Anette, »›Hast du was …?‹ – Die stille Gewalt der Schmollenden. Gedanken zu Tätern und Opfern«, in: Franz Januschek / Klaus Gloy (Hg.), Sprache und / oder Gewalt? OBST. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 57, Osnabrück 1998, S. 137-152.
MECHTHILD HETZEL UND ANDREAS HETZEL
Zur Sprache der Sprachlosen. Ebenen der Gewalt in der diskursiven Produktion von Behinderung
Gegenstand der folgenden Überlegungen sind Äußerungsformen, in denen »wir« uns gegenüber »anderen« Geltung zu verschaffen trachten, die wir als »Behinderte« anreden. Die in dieser Anrede implizierte Gewalt manifestiert sich nicht nur in offen verletzenden Adressierungen als »Krüppel«, »Spast«, »Missgeburt« oder »Mongo«, sondern auch, auf einer diskursiven Ebene, im Begriff der Behinderung selbst. Was hier zur Debatte steht, ist die gleichermaßen subjektivierende wie marginalisierende Funktion des Begriffs; Menschen werden mittels der Anrede als »Behinderte« pathologisiert und zugleich mit einem Normalisierungsgebot konfrontiert, das tendenziell unerfüllbar bleibt. Gewalt richtet sich in diesem Sinne nicht einfach nur gegen »Behinderte«, sondern geht bereits in deren Konstitution ein. Der in der heutigen Alltags- und Wissenschaftssprache leitende Begriff von Behinderung kann in einer ersten Annäherung als medizinisch-defektologischer Begriff charakterisiert werden. Er etabliert die Idee eines »normalen Menschen« als Maßstab, dem gegenüber »Behinderte« als Abweichung und Ausnahme von der Regel gelten. Ein medizinisch-pädagogisches Dispositiv nimmt sich der unter dem Label von Fürsorge und Integration betriebenen Normalisierung von Menschen mit Behinderung an, die im Zuge dieser Bemühungen in speziellen Institutionen separiert und damit zugleich auch ausgegrenzt werden. Die Normalisierungsbemühungen selbst pathologisieren die von ihnen Betroffenen. »Behinderung« wäre so gesehen Teil eines komplexen diskursiven Gefüges, das die Adressaten sprachlich vermittelter Gewalt produziert; »Behinderung« wird durch pädagogisierende und medizinische Zugriffe erzeugt. »Behindertsein« wäre in diesem Sinne genauso wenig als natürliche Eigenschaft zu verstehen, wie »Ras-
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se« oder »Geschlecht«. Behindert werden Menschen durch die Aufrichtung von Schwellen, die ihnen die Partizipation an Kultur, Politik und Sprache verunmöglichen. Zur Aufrichtung dieser Schwellen tragen auch und gerade diejenigen Wissenschaften und Institutionen bei, die sich dem Ideal der Integration verpflichtet haben. Von Seiten der Gesellschaft auferlegte Behinderungen werden den Betroffenen nachträglich als natürliche Eigenschaften unterstellt. Nicht zuletzt findet diese diskursive Gewalt ihren Ausdruck darin, Menschen im Zuge ihrer Marginalisierung in Abrede zu stellen, das Wort ergreifen oder für sich selbst sprechen zu können; als Objekte von Fürsorge und Fürsprache werden sie auch aus der Sprachgemeinschaft ausgegrenzt. Das Absprechen der Sprachfähigkeit, das in der Übernahme der Fürsprache impliziert wird, kann gewaltsamer sein als eine physische Gewalt, die zumindest auf einer körperlichen Ebene noch auf ein erfahrbares Gegenüber bezogen bleibt. Fürsorge und Fürsprache tendieren dazu, den Anderen gänzlich zum Verschwinden zu bringen. Martin Buber schreibt in diesem Sinne: »Aber besser noch Gewalt am real erlebten Wesen, als die gespenstische Fürsorge an antlitzlosen Nummern! Von jener führt ein Weg zu Gott, von dieser nur ins Nichts.«1 So schockierend diese Feststellung Bubers auch klingen mag: In der körperlichen Gewalt konfrontiert sich der Gewalttäter mit einer realen Person, deren Status als Person von einer bestimmten Strategie der Fürsorge und Fürsprache in Abrede gestellt wird. Gewalt spricht. Sie spricht in vielen Idiomen und auf vielen Ebenen. Das wäre Jan Philipp Reemtsma entgegenzuhalten, der im Zuge einer Interpretation von Aischylos’ Der gefesselte Prometheus auf einer prinzipiellen Stummheit der Gewalt (bia) beharrt und damit eine lange Tradition der Verleugnung sprachlicher Gewalt2 fortschreibt: »Die Gewalt spricht nicht, sie begleitet die Macht (kratos), die die Worte zielsicher zu setzen weiß, wie ein stummer Schatten.«3 Dem wäre zu entgegnen, dass Sprache nicht nur körperlich verletzen, sich also nach dem Modell von Kafkas Strafkolonie in den Körper einschreiben,4 sondern – wie gerade die antiken Tragöden wussten – in letzter Konsequenz sogar töten kann. Hölderlin spricht in Bezug auf die Antigone des Sophokles vom »griechischtragische[n]« als dem »tödlichfaktisch[en]« Wort, das denjenigen, »den es ergreift,
1 Buber, Martin, Das dialogische Prinzip, Darmstadt 1984, S. 28. 2 Diese Tradition beginnt mit der philosophischen Kritik an der Rhetorik. Während die Rhetoriker Sprache in erster Linie über ihre soziale Wirksamkeit begreifen – Gorgias von Leontinoi bezeichnet sie als megas dynastes, als »große Bewirkerin« – neigt die Philosophie eher zu einem semantizistischen und repräsentationalistischen Sprachbegriff. Ihren Höhepunkt findet diese Tradition in der Philosophie von Jürgen Habermas, der Sprache als das Andere von Zwang und Gewalt auszeichnet und die Möglichkeit einer symbolischen Gewalt damit nicht zulässt. 3 Reemtsma, Jan Philipp, Die Gewalt spricht nicht, Stuttgart 2002, S. 10. 4 Das hebt neuerdings insbesondere Judith Butler hervor (vgl. dies., Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998).
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wirklich tötet«. In der Tragödie werde »der wirkliche Mord aus Worten«5 inszeniert. Die logoi der Tragödie zeichnen sich dadurch aus, dass sie von ihren Sprechern nie vollständig beherrscht werden, sondern sich gegen diese selbst kehren. Logos meint in der Tragödie nicht nur, wie in der zeitgleichen Philosophie, Sprache und Vernunft, sondern auch das, was über einen Menschen immer schon gesagt wurde: den Spruch, der über das eigene Leben verhängt ist und der zu einem unentrinnbaren Schicksal wird. Zu einem solchen tödlichen Schicksal kann auch und gerade die Zuschreibung von Behinderung werden – und das nicht nur im Nationalsozialismus, der Behinderungen zum Inbegriff »lebensunwerten Lebens« erklärte.6 Eine theoretische Rekonstruktion der Gewalt gegen Menschen mit Behinderung schwebt immer in der Gefahr, sie im Zitat zu verlängern. Die Darstellung diskursiver Gewalt soll hier deshalb vor allem dazu dienen, Widerstandspunkte zu benennen, für mögliche Sprachen der vermeintlich Sprachlosen zu sensibilisieren, die sich dem Dispositiv »Behinderung« nicht fügen. Das Interesse des 5 Hölderlin, Friedrich, »Anmerkungen zur Antigone«, in: ders., Werke, hg. v. Paul Stapf, Bd. 2, Darmstadt o. J. , S. 425-431, hier S. 429. 6 So wäre etwa für Peter Singer die »Tötung eines behinderten Säuglings […] nicht moralisch gleichbedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht.« (Singer, Peter, Praktische Ethik, Leipzig 1994, S. 244) – Ein früher Kritiker derart fataler Zuschreibungen ist John Locke, der mit nominalistischen Argumenten auf die Unmöglichkeit hinweist, den Begriff eines »normalen Menschen« zu stabilisieren und eine klare Grenze zwischen »normal« und »behindert« zu ziehen: »›Der Abt von St. Martin hatte bei seiner Geburt so wenig Menschenähnliches in seiner Gestalt, dass er danach eher für eine Missgeburt gelten musste. Man war eine Zeit lang unschlüssig, ob man ihn taufen sollte. Indess geschah es, und er wurde vorläufig (bis die Zeit es bestätigen werde) für einen Menschen erklärt. Die Natur hatte ihn so unförmlich gestaltet, dass er sein Lebelang der Abt Malotrn, d. h. der Missgestaltete, genannt wurde; er war aus Caen.‹ Man sieht also, wie hier ein Kind nur seiner Gestalt wegen beinahe von der menschlichen Gattung ausgeschlossen worden wäre. Er entging dem mit Mühe, und wäre seine Gestalt noch ein wenig verkehrter gewesen, so hätte man ihn für kein menschliches Wesen gehalten, sondern bei Seite geschafft. […] Worin bestehen also, dies möchte ich gern wissen, die festen und unveränderlichen Grenzen dieser Gattung? Offenbar hat die Natur nichts der Art gemacht und für die Menschen aufgestellt. Das wirkliche Wesen dieser oder jeder andern Gattung von Substanzen ist uns unbekannt, und es ist von dem Wort-Wesen, welches der Mensch sich gebildet hat, so unterschieden, dass, wenn man Mehrere über missgestaltete Neugeburten fragte, ob sie Menschen seien oder nicht, man sehr verschiedene Antworten erhalten würde. Dies wäre unmöglich, wenn das WortWesen, nach dem wir die Arten der Substanzen bestimmen und unterscheiden, nicht von dem Menschen selbst mit einer gewissen Freiheit gemacht sondern genau nach natürlichen Grenzen festgesetzt wäre, durch welche die Natur selbst die Substanzen in verschiedene Arten getrennt hätte. So unsicher sind für uns die Grenzen der Arten der Geschöpfe; sie können nur nach den von uns verbundenen Vorstellungen bemessen werden, und man ist weit von der sichern Kenntniss, was der Mensch ist, entfernt.« (Locke, John, Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern, Berlin 1872, Bd. 2, S. 60, 61; vgl. zu dieser Stelle auch Posselt, Gerald, Katachrese. Rhetorik des Performativen, München 2005, S. 172)
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Beitrags gilt Strategien der »katachrestischen Resignifikation« (Judith Butler) und der »Wortergreifung« (Jacques Rancière), insofern sie Räume sprachlicher Handlungsfähigkeit ermöglichen und bestimmende Zuschreibungen in ihrer Gewalttätigkeit zurückweisen. Zeigt sich in diesem Rahmen womöglich ein Sprechen, in dem einerseits die Grenzziehungen gegen »Behinderte« belanglos, andererseits aber zugleich je besondere Ansprüche vernehmbar werden? Ansätze zu einer Sprache der Sprachlosen, so die Annahme, sind bereits vorhanden. Menschen sind auf mehreren Ebenen gewaltsamen Sprechakten ausgesetzt. Dieser Beobachtung entsprechend gliedert sich der Beitrag in vier Abschnitte. In einem ersten Abschnitt stehen sprachliche Diffamierungen im Mittelpunkt, die unmittelbar verletzen (1). Der zweite Abschnitt wechselt auf die Ebene einer diskursiven Gewalt, die die Konstitution von »Behinderung« selbst betrifft (2). Der dritte Abschnitt bezieht sich auf eine Gewalt, die darin besteht, Menschen mit Behinderung die Sprachfähigkeit und -kompetenz abzusprechen (3). In diesem Zusammenhang soll zugleich nach der Möglichkeit einer Sprache der Sprachlosen gefragt werden, in der sich ein Widerstand gegen diskursive Strategien artikulieren könnte, mit denen Menschen zum Schweigen gebracht werden (4).
1. Offene Diffamierungen Drei von zehn Befragten geben jüngst zu Protokoll, sich in Anwesenheit von Behinderten unwohl zu fühlen.7 Marginalisierte werden, wie Wilhelm Heitmeyers Langzeitstudie Deutsche Zustände (2003 ff.) eindrucksvoll belegt, zunehmend zum Ziel einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, die sich etwa gegen Obdachlose, Asylanten, Nichtdeutsche, Muslime, Homosexuelle und Behinderte richtet. Diese werden immer wieder zur Zielscheibe eines gewaltsamen Sprechens, wie es der von Butler analysierten hate speech entspricht. Die Gewaltförmigkeit dieses Sprechens manifestiert sich in diffamierenden und subjektivierenden Effekten. »Spast«, »Mongo«, »Missgeburt«, »Behinderter« sind Beispiele einer solchen hate speech. Die Vokabeln dieser Hasssprache dienen nicht bloß der direkten Diffamierung derjenigen Menschen, die äußerlich als »Behinderte« identifiziert werden. Die diskriminierenden und diskreditierenden Äußerungen werden alltäglich und wie selbstverständlich in einem weitergefassten Kontext verwendet; so sind sie insbesondere zu einem festen Bestandteil der Jugendsprache geworden. Überall dort, wo der andere als »Spast« oder »Mongo« angerufen wird, reproduziert sich die Herabsetzung von Menschen mit Behinderung. »Behinderte« stehen hier Modell für einen Nullpunkt des Erniedrigtseins. »Spast« oder »behindert« fungiert unter Jugendlichen als Superlativ der Abgrenzung –
7 Heitmeyer, Wilhelm, Deutsche Zustände, Folge 1, Frankfurt / Main 2003, S. 204.
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wobei die Grenze zwischen Kränkung und Anerkennung, zwischen Ausgrenzung und Auszeichnung durchaus fließend sein kann.8 Jugendliche in separierenden Einrichtungen bilden in diesem Zusammenhang keine Ausnahme. Ein Schüler mit Down-Syndrom wird in einer Sonderschule für Körperbehinderte durch mehrere gehbehinderte Mitschüler als »Behinderter« zum Besten gehalten, die dadurch ihre Überlegenheit zu behaupten suchen. Die Behinderten sind längst keine homogene Gruppe; an Stelle von Solidarität, die »wir« möglicherweise von »ihnen« erwarteten, orientieren sich die Jugendlichen (im Übrigen in Übereinstimmung mit den Normen unserer Gesellschaft) an einer Hierarchisierung9, die abhängig ist vom Grad der Behinderung. Bei vielen möglichen Handicaps gilt, dass sie, was ihre soziale Akzeptanz betrifft, durch Stärken kompensiert werden können. Davon bleiben allerdings jene Handicaps ausgenommen, die direkt die Kommunikationsfähigkeit betreffen.10 Um es auf eine einfache Formel zu bringen: Je stärker das geistige und sprachliche Vermögen eingeschränkt scheint, auf desto niedriger »Stufe« finden sich Menschen in der Hierarchie sozialer Anerkennung vor. Die Attitüde der Überlegenheit – der wechselseitigen Überbietung darin, wer sich am ehesten als »zugehörig« und »normal« einschätzen darf – ist rassistischen Diskursen vergleichbar: Die vielleicht stärksten Formen der wechselseitigen Herabsetzung und offenen Diskriminierung tragen heute Jugendliche unterschiedlicher Herkunftsländer aus. Auch in diesen Auseinandersetzungen orientieren sich die Jugendlichen häufig an genau denjenigen gesellschaftlichen Maßstäben, denen sie ihre eigene Marginalisierung zu verdanken haben. Wenn es also darum geht, Menschen über sprachliche Gewalt herabzusetzen, geschieht dies überwiegend, um sich den »anderen« gegenüber als dominant zu behaupten und / oder als zugehörig abzugrenzen – eine Zugehörigkeit, die von allen an diesen Konflikten Beteiligten unter Umständen noch nicht erreicht ist, sondern erst angestrebt wird.11 Bezeichnungen wie »Spast«, »Mongo«, »Missgeburt«, »Behinderter« suggerieren eine Minderwertigkeit, Nichtnormalität und Nichtdazugehörigkeit der Angerufenen. Sie konstituieren die so angerufenen Subjekte nicht einfach nur als unterworfene (wie im klassischen Beispiel der Anrufung bei Althusser: dem »He,
8 Vgl. hierzu den unpersönlichen Ausdruck »Das ist ja voll behindert!«, der auch ironisch verwendet wird, um Bewunderung auszudrücken. 9 Vgl. hierzu Klee, Ernst, »Der blinde Fleck: Wie Lehrer, Ärzte und Verbandsfunktionäre die »Gebrechlichen« der Verstümmelung und Vernichtung auslieferten«, in: Die Zeit, Nr. 50, 1995, S. 58. 10 Vgl. Stiftung Deutsches Hygiene-Museum / Deutsche Behindertenhilfe – Aktion Mensch e.V. (Hg.), Der (im-)perfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit, Dresden 2001. 11 Zum Zusammenhang von sozial unsicherem Status (Desintegration, Anomie) und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit vgl. Heitmeyer, Wilhelm, Deutsche Zustände, Folge 1-4, Frankfurt / Main 2003-2006.
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Sie da!« des Polizisten, der auf der Straße einen Passanten anruft)12, sie bestimmen die auf diese Weise angerufenen Subjekte vielmehr als beschädigt, wehrlos, nicht lebensfähig und nicht »lebenswert« – als Subjekte, die noch nicht einmal unterworfen werden können, weil sie von vornherein nicht als Subjekte in Frage kommen. Das Vokabular dieser Hass-Sprache konnotiert die nazistischen Vorstellungen eines »gesunden Volkskörpers«, aus dem alles vermeintlich »Kranke« auszuschließen sei.13 Häufig rekurrieren sprachliche Gewalttäter, die Menschen mit Behinderung verletzen, sogar ganz offen auf einen Nazi-Jargon14, dessen Überlieferungsgeschichte hierzulande nie gänzlich abgerissen ist. Was veranlasst Menschen zur Hass-Sprache? Versuchen Heranwachsende, sich durch Grenzziehung gegenüber »anderen« und deren Herabsetzung selbst zu normalisieren, sich der eigenen Normalität (mittels deren ostentativer Behauptung) zu vergewissern? Zeugt dieser Versuch nicht gerade davon, dass die eigene Normalität als prekär und bedroht erlebt wird und die eigene Zugehörigkeit fraglich bleibt? Ist die Zugehörigkeit nur für jene fraglich, denen bereits ein Platz an der Peripherie, am Rande der Gesellschaft, zugewiesen wurde? Sind die sprachlichen Gewalttäter nur jene, die selbst marginalisiert werden? Oder wäre »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« (Werner Heitmeyer) ein zentrales Signum der sogenannten Mitte der Gesellschaft? Was macht eine Grenzziehung zwischen »uns« und den »anderen« so unabänderlich? Warum erschüttert »uns« die Entdeckung, »sie« sind wie wir? Was ist es, das uns so entsetzt? Warum verstört es uns, zu denken: »Wir sind sie«? Warum geraten wir, solchermaßen angesprochen, aus der Fassung? Unvorstellbar wäre es gar, für die Einsicht, »wir sind sie«, zu danken. – Die Diffamierung von Menschen als »Behinderte« könnte, aus sozialpsychologischer Perspektive betrachtet, dazu dienen, etwas abzuwehren, von dem wir uns selbst bedroht sehen, eine Ohnmacht und Unfähigkeit. In der gegenwärtigen neoliberalen Situation wird jeder und jedem zunehmend die Verantwortung für das eigene Schicksal aufgebürdet. Der gesellschaftliche Erfolg, so lautet die implizite Forderung, hängt von der Anpassungsfähigkeit, Flexibilität, Durchsetzungskraft, dem Mut und der Intelligenz des Individuums ab. Die objektiven Zwänge, die ihm von außen auferlegt werden, die objektiven Hindernisse, die sich ihm entgegenstellen, werden insofern als je eigene Beschränkung und Benachteiligung spürbar. »Alle können«, so lautet das Credo des Neoliberalismus, »im Prinzip alles erreichen.« Diejenigen, die es verfehlen, sind selbst dafür verantwortlich. Gegen12 Vgl. Althusser, Louis, »Über die Ideologie«, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg 1977, S. 130-153. – Zur Theorie der Anrufung vgl. ferner Allerkamp, Andrea, Anruf, Adresse, Appell. Figurationen der Kommunikation in Philosophie und Literatur, Bielefeld 2005. 13 Vgl. Agamben, Giorgio, Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg, Berlin 2001, S. 35-40. 14 Zur Gewaltsamkeit dieser Sprache vgl. Klemperer, Victor, LTI. Lingua Tertii Imperii. Die Sprache des Dritten Reiches, Leipzig 1991.
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über diesem neoliberalen Idealbild müssen wir »uns« permanent als behindert erfahren. Insofern lässt sich in den »anderen«, von denen wir »uns« als normal, als nicht behindert abzugrenzen suchen, in der Tat ein verleugneter Teil unserer selbst wiederfinden, etwas Unheimliches, das wir abstoßen und von uns weisen möchten, einen quälenden Stachel, der uns an der Verwirklichung unseres (von außen auferlegten) Ichideals hindert. Gewalt wäre auch hier nichts anderes als das Signum der eigenen Ohnmacht.
2. Behinderung als Dispositiv Neben den offenen und obszönen Formen der hate speech, die ohne Scham verletzen, sehen sich Menschen mit subtileren Formen sprachlicher Gewalt konfrontiert. Zu fragen ist hier, wie selbstverständlich »behindert« – und korrespondierend dazu »normal« – als Beschreibungskategorien gehandhabt werden. Ist nicht der »Körper« (body) genauso wenig von Natur aus gegeben wie ethnische Zugehörigkeit (race), Geschlecht (gender) und sozioökonomischer Status (class), sondern immer zunächst diskursiv produziert, sozial und kulturell hervorgebracht?15 Von der Kategorie der Behinderung geht eine »epistemische Gewalt«16 aus. »Behinderung« vereinheitlicht zunächst ein äußerst heterogenes Feld, das allgemein durch Schädigungen, Beeinträchtigungen, Schwächen und Leiden charakterisiert wird. Als »behindert« gilt der »lernbehinderte« Schüler wie die »geistigbehinderte« Helferin in der Großküche, der nach einem Unfall »querschnittgelähmte« Chirurg wie die »hochgradig sehgeschädigte« Verwaltungsangestellte, die »spätertaubte« Nachbarin wie der von Geburt an »schwerstmehrfachbehinderte« Jugendliche. Die verschiedenen Ansprüche, Rechte, Kompetenzen, Lebensformen und Stimmen, die sich hinter diesen wenigen genannten Personen verbergen, lassen sich nur gewaltsam unter den einen Begriff der »Behinderung« fassen. Die eine Kategorie verrechnet inkommensurable Ansprüche und Fähigkeiten. Dem wird auch nicht durch ein System der Differenzierung nach »Graden der Behinderung« Abhilfe geschaffen. Gerechtfertigt könnte diese Identifizierung allenfalls im Sinne eines »strategischen Essentialismus«17 sein, wenn es etwa darum geht, gegenüber dem Staat gewisse fundamentale Rechte (vgl. Bundesgleichstellungsgesetz 2002) einzuklagen.
15 Zur diskursiven Produktion behinderter Körper vgl. Bruner, Claudia Franziska, KörperSpuren: Zur Dekonstruktion von Körper und Behinderung in biografischen Erzählungen von Frauen, Bielefeld 2005. 16 Spivak, Gayatri Chakravorty, »Can the Subaltern Speak?«, in: Cary Nelson / Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, London 1988, S. 271-313, hier S. 289. 17 Spivak, Gayatri Chakravorty, »French Feminism in an International Frame«, in: Yale French Studies, Bd. 62, 1981, S. 154-184.
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Vorbereitet durch diese Vereinheitlichung heterogener Ansprüche im Bemühen um Normalisierung korreliert die Zuschreibung von »Behinderung« einem normierenden, überwachenden und disziplinierenden Zugriff auf Personen. Möglicherweise ist der Foucaultsche Begriff des Dispositivs geeignet, das genauer zu bezeichnen: »Behinderung« wäre dann zu verstehen als ein geschichtlich gewordener Horizont anthropologischen, medizinischen und ethischen Wissens, dem konkrete Praktiken und Institutionen entsprechen. Im Mittelpunkt stehen dabei menschliche Verhaltensweisen wie Organisationsformen, die Behinderung umgeben, strukturieren oder gar erst erzeugen. An diesen sozialen Prozessen sind Menschen mit und ohne Behinderungen beteiligt; sie treten in Interaktionen beispielsweise gleichermaßen als Täter auf. Der Ort, an dem das Dispositiv der Behinderung historisch entstanden ist, lässt sich ausgehend von Michel Foucault relativ präzise benennen. Behinderung entsteht genau dort, wo eine Gesellschaft, die das Heterogene ausschließt und unsichtbar macht, von einer Disziplinargesellschaft abgelöst wird, die das Heterogene zu integrieren und zu normalisieren sucht. Aus dem Wahnsinnigen wird auf dieser historischen Schwelle der geistig Behinderte oder psychisch Kranke.18 Für Foucault fällt dieser Schwellenort mit der Entstehung der Moderne im 19. Jahrhundert zusammen. Im Zuge seiner Archäologie der Humanwissenschaften untersucht er die historische und systematische Komplizenschaft zwischen Psychologie, Soziologie, Medizin, Ökonomie, Pädagogik und Linguistik, den Wissenschaften, die nach dem Menschen in seinen vielfältigen Erscheinungsweisen fragen, und bestimmten Disziplinartechnologien, die diesen Menschen zu beherrschen und zu normalisieren suchen. Den symbolischen Deutungssystemen der Humanwissenschaften korrespondieren immer auch bestimmte Techniken der Ausbeutung und Beherrschung des Objektes, das diese Wissenschaften konstituieren: des Menschen. Der Mensch, der in der Doppelung von normal und anormal konstituiert wird, ist für Foucault nichts anderes als das Subjekt und das Objekt von Humanwissenschaften und den ihnen korrespondierenden Machtdispositiven. Das Wissen der Humanwissenschaften ist nicht zu trennen von den Praktiken der Klassifizierung von normal und pathologisch, von den Instanzen, Institutionen und Architekturen, die das Pathologische diagnostizieren, einfassen und zu normalisieren suchen. Der Behinderte entspringt der gleichen historischen Konfiguration wie der psychisch Kranke, der Delinquent, der Anormale und der Perverse. Er bildet den Angriffspunkt eines Dispositivs, das ihn konstituiert und sich über die unendliche Aufgabe seiner Normalisierung zu reproduzieren sucht. Bislang wurden Formen der Gewalt thematisiert, die sich darin äußern, Menschen als »Behinderte« zu verbesondern; Gewalt liegt hier in der subjektivierenden und marginalisierenden Funktion des Begriffs selbst. Fällt beispielsweise die Identifizierung als »Behinderte« mit dem Absprechen von Autonomie zusammen, so werden Menschen Opfer institutioneller Zugriffe. So leben 2006 in 18 Vgl. Foucault, Michel, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt / Main 1993.
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Deutschland nach wie vor vier von fünf Menschen mit geistiger Behinderung in separaten Einrichtungen mit mehr als vierzig Bewohnerinnen,19 in denen, wie Peter Fuchs schreibt, »das Selbstverständliche im Umgang von Menschen miteinander nicht immer selbstverständlich ist«20. Damit geht nicht selten einher, Menschen abzusprechen, das Wort für sich selbst ergreifen zu können; sie werden auch aus Sprache ausgegrenzt. Dies verweist – neben der Hasssprache und der exkludierenden Rede – auf eine weitere Ebene sprachlicher Gewalt.
3. Strategien der Entsprachlichung Auf dieser dritten, der vielleicht subtilsten Ebene, zeigt sich sprachliche Gewalt darin, dass Menschen mit Behinderungen eine bestimmte Sprachkompetenz zuoder genauer: abgesprochen wird. Nicht selten werden Menschen als »Behinderte« durchaus unabhängig von der Art oder Schwere der Beeinträchtigung generalisierend für »stumm« und »taub« gehalten, für nicht sprachfähig und von beschränkter Auffassungsgabe.21 Solchen muss eine Sprache allererst gegeben werden. Dies kann durch Fürsprache geschehen, dadurch, dass wir »uns« zu »ihrem« Anwalt machen, oder dadurch, dass »ihnen« »unser« Sprechen als normales Sprechen (Standardsprache) aufoktroyiert wird.22 Ein Beispiel hierfür bildet der Umgang mit Gehörlosen. In der deutschsprachigen Pädagogik der Hörschädigung konkurrieren bis heute zwei Ansätze, von denen der eine das Gebärden bevorzugt, der andere die Lautsprache. Innerhalb der Fraktion, die die Lautsprache bevorzugt, gilt Gehörlosigkeit als medizinisch-defektologisches Problem, das sich auch und vor allem mit medizinischen und / oder technischen Mitteln lösen können soll. Dazu dient vor allem das Cochlear Implant, ein Apparat, der in die Cochlea (oder Schnecke) des Innenohres implantiert wird. Elektroden, die mit einem Empfänger verbunden sind, reizen direkt 19 Lange, Rainer, »Mitten ins Leben«, in: Echt. Das Magazin der Evangelischen Kirche, Heft 1, 2006, S. 13. 20 Fuchs, Peter, »Vom Selbstverständlichen im Umgang mit Menschen. Serie ›Umgang mit Behinderten‹ in sieben Folgen«, in: Die Tageszeitung (Nr. 6412, 6419, 6423, 6429, 6435, 6440, 6446), April / Mai 2001, hier Nr. 6412 vom 02.04.2001. 21 Vgl. Goffman, Erving, Stigma: Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt / Main 2002. 22 Die eindrucksvolle Geschichte einer solchen Aufoktroyierung erzählt Peter Handkes Kaspar (Frankfurt / Main 1967), ein Stück, von dem der Autor sagt, es »könnte auch »Sprechfolterung« heißen« (7). Der nach »unseren« Begriffen zunächst sprachlose Kaspar – seine Sprache beschränkt sich auf den einen, monoton wiederholten Satz »Ich möchte ein solcher werden wie einmal ein andrer gewesen ist« – wird von sogenannten »Einsagern«, körper- und gesichtslosen Stimmen aus dem Off, die ihn »durch Sprechen zum Sprechen bringen« (15), auf eine normale Sprache verpflichtet, die »unserer« vertrauten Ordnung der Dinge entspricht: »Du lernst mit dem Satz, daß es Ordnung gibt« (21). Bevor Kaspar auf die Ordnung der Dinge eingeschworen werden kann, wird er »zum Schweigen gebracht« (25); seine anfängliche, stammelnde Sprache wird ihm (sprach-)gewaltsam »ausgetrieben« (ebd.).
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den Hörnerv. Ein nahe am Ohr angebrachtes Mikrophon übermittelt akustische Signale an den Empfänger, der sie wiederum an die Cochlea-Elektroden weiterleitet. Hörgeschädigte werden hier genötigt, ihr verbliebenes Hörvermögen soweit wie möglich zu nutzen, im mindesten von den Lippen abzulesen. Lautsprache, verstanden als Standardsprache, bildet dabei die Norm, der sich Hörgeschädigte anzupassen haben. Das Gebärden wird demgegenüber von denen, die es praktizieren, nicht als minderwertige, sekundäre oder bloß abgeleitete Form der Sprache empfunden. Sie erleben das Gebärden vielmehr als eigenständige Kulturform. Kann diese Kulturform23 als Ausdruck eines Suchens nach einer eigenen Sprache gelesen werden, als bewusste Abwehr von (medizinischen, pädagogischen, therapeutischen …) Versuchen der Norm(alis)ierung? Vermag nicht die konstitutive Bedeutung, die nonverbaler Sprache zukommt, die Vorherrschaft lautlicher und schriftlicher Sprache in ein problematisches Licht zu rücken? Welcher Stellenwert kommt der »Geste« als einer Kommunikation vor der Stimme und Schrift zu? Geht es bei der Geste vielleicht gerade nicht darum, jemanden (die, die nicht gebärden) auszuschließen? »Können Subalterne sprechen?« Erstmals explizit aufgeworfen wurde diese Frage von Gayatri Spivak in ihrem gleichnamigen Aufsatz. Spivak diskutiert hier die Lage der Frauen im Indien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die in doppelter Weise als subaltern gelten können. Einerseits sind sie einer patriarchalen hinduistischen Tradition unterworfen, andererseits einer hegemonialen britischen Kolonialmacht. Am Beispiel der Witwenverbrennung weist Spivak darauf hin, dass die Subalternen keine Stimme haben, dass sie nicht sprechen können. Die Diskussion um ein Verbot der Witwenverbrennung im 19. Jahrhundert wurde ausschließlich zwischen den Eliten der Hindus und der britischen Kolonisatoren geführt, ohne Beteiligung der Betroffenen. Die einzige Möglichkeit, gleichwohl das Wort zu ergreifen, findet Spivak in einem radikalen Akt der Zurückweisung beider Diskurse. Einzelne Frauen widersetzen sich sowohl dem kolonialistischen Verbot der Witwenverbrennung, als auch dem hinduistischen Gebot, dem verstorbenen Mann auf den Scheiterhaufen zu folgen. Sie bringen diese Zurückweisung mit Hilfe einer katachrestischen Verhaltensweise zum Ausdruck, indem sie sich etwa durch Selbsttötung zum »falschen Zeitpunkt« beiden Alternativen entziehen: The »suicide is an unemphatic, ad hoc, subaltern rewriting of the social text of sati-suicide«.24 Dieser »unmögliche« Akt erschüttert die beiden hegemonialen Diskursuniversen und verleiht, wenn auch auf tragische Weise, einer ansonsten unhörbaren Stimme Ausdruck. Die Frage nach der Sprachfähigkeit der Subalternen verweist auf eine aporetische und insofern ethische Situation. Spivak tendiert dazu, eine negative Antwort
23 Agamben, Mittel ohne Zweck, a.a.O., S. 65-71. 24 Spivak, »Can the Subaltern Speak?«, a.a.O., S. 308.
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zu geben: »The subaltern cannot speak.«25 Die Bejahung der Frage wäre, zumindest was den Kontext von Frauen unter kolonialen und postkolonialen Bedingungen betrifft, zynisch und euphemistisch. Eine apodiktische Verneinung der Frage würde dagegen in der Gefahr schweben, diejenige Gewalt, die die Subalternen zu Subalternen macht, zu verlängern, ihr fatalistisch das letzte Wort einzuräumen.
4. Die Sprachen der Sprachlosen Im Folgenden werden einige theoretische Vorschläge erörtert, die auf diese aporetische Situation reagieren: Butlers »katachrestische Resignifikation«, Rancières »Wortergreifung« und Agambens »In-der-Sprache-Sein«, das an Benjamins Idee einer »Sprache überhaupt« anknüpft. Auf der Spur, die Sprache der Sprachlosen zu vernehmen, sind diese Vorschläge insofern von Interesse, als sie Räume sprachlicher Handlungsfähigkeit zu denken ermöglichen. Vor dem Hintergrund dieser Vorschläge stellt sich die Frage, welche Gestalt Sprache annimmt, sofern das »Sprechen an sich« auf dominierende Vorstellungen (einer Einzelsprache, Standardsprache, Lautsprache usf.) zurückwirkt. In ihren Analysen rassistischer und sexistisch-pornographischer hate speech weist Butler auf die Subvertierbarkeit jeden Versuchs einer sprachlichen Kränkung und Verletzung hin. Solange Gewalt sprachlich ist, kann sie immer ironisiert, parodiert, umdefiniert, kurz: katachrestisch resignifiziert werden. Es ist niemals absolut garantiert, dass eine Anrufung gelingt. Das Subjekt, das nach Althusser und Foucault häufig als »Produkt« sprachlicher Subjektivierungspraktiken interpretiert wird, ist niemals vollständig einer symbolischen Ordnung unterworfen, sondern konstituiert sich immer auch als Subjekt der Widerständigkeit gegen diese symbolische Ordnung; genauso wie für den Erfolg steht es auch für das Scheitern subjektivierender Anrufungen. Sprachliche Gewalt kann für Butler nicht die Form einer absoluten Gewalt annehmen, die ihren Opfern keine Widerstandsmöglichkeiten einräumen würde. Die Gewalt von Sprache unterscheidet sich auf dieser Ebene fundamental von physischer Gewalt. Die performativen Effekte jeder beliebigen Äußerung, auch der hate speech, gehen mit einer konstitutiven Unbestimmbarkeit einher. Sie lassen sich vom Sprecher nie ganz kontrollieren. Insofern äußert sich Butler verhalten bis skeptisch zu allen Versuchen einer rechtlichen Sanktionierung von hate speech. Der mögliche Missbrauch rechtlicher Sanktionsmöglichkeiten für Zwecke der Zensur gilt ihr tendenziell als schwerwiegender als hate speech selbst. Wie aber liegt der Fall bei diffamierenden Anrufungen wie »Behinderter« oder »Krüppel«? Stößt Butlers These, jede hate speech sei katachrestisch resignifizierbar, hier nicht an eine Grenze? Die Anrufung »Behinderter« subjektiviert Menschen nicht einfach nur als subaltern, pathologisch, anormal und nicht dazugehörig, sondern der Tendenz nach auch als sprachlos. Könnte ihnen mit der 25 Ebd.
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Sprachfähigkeit nicht auch die Möglichkeit der kritischen Umwendung abgesprochen werden? Oder anders gewendet: Blieben ihre katachrestischen Resignifikationen nicht notwendig unerhört? So wie die Adressaten der hate speech nach Butlers Modell das diffamierende Sprechen annehmen können müssen, um es in einem zweiten Schritt subvertieren zu können, so müssen die Autoren der hate speech die Resignifizierungen anzunehmen bereit sein, damit die Widerstandsmöglichkeit, von der Butler spricht, gewahrt bleibt. Im Falle »Körperbehinderter«, die sich gleichermaßen offensivselbstbewusst als »Krüppel« bezeichnen wie homosexuelle Frauen als »Lesbe« oder Afroamerikaner als »Nigger«,26 mag die Rede von der widerständigen Umwendung einleuchten. Doch wie steht es um die »anderen«? Der Begriff der »Körperbehinderung« legt nahe, dass sich die Behinderung hier auf das bloß Körperliche bezieht, dass »wir« es mit ansonsten normalen Menschen zu tun bekommen, die eine normale, nämlich »unsere« Sprache sprechen. Andere Zuschreibungen wie »Geistigbehinderter« oder »Schwerstmehrfachbehinderter« sprechen den Adressaten den Zugang im mindesten zu »unserer« Sprache (nicht selten zu Sprache generell) ab. Kann sich eine katachrestische Resignifikation dann allenfalls in einer »anderen« Sprache artikulieren, die von »uns« nicht vernommen wird? Die – sei es im alltags- oder fachsprachlichen Kontext, seien es diskriminierende oder identifizierende – Zuschreibungen nicht körperlicher Formen von Behinderung entsprachlichen ihre Adressaten. Die als »geistig-« oder »schwerstmehrfachbehindert« Adressierten werden in einem Maße anteilslos, das sich von denen als sexistisch oder rassistisch Diskriminierten unterscheidet, die immerhin noch einen Anteil, wenn auch nicht in Form gesellschaftlicher Teilhabe, so doch an Sprache, am Menschsein haben. Wären insofern »Geistig-« oder »Schwerstmehrfachbehinderte« als sprachlos zu erachten – als unmenschlich (oder vorsichtiger formuliert: als jene, die aus dem, was Menschsein für uns umgreift, herausfallen)? Sie werden als solche, die sich jenseits des Menschen und jenseits der Sprache befinden, angerufen; ob sie menschliche Personen sind und eine Sprache sprechen, wird nicht selten in Zweifel gezogen, teilweise in Abrede gestellt (und das nicht nur von Peter Singer). Im Falle dieser Anrufungen, die ihre Subjekte nicht als Subjekte, sondern als etwas jenseits von Subjektivität anrufen, als etwas, das kein legitimer Adressat einer Anrufung sein kann, das nicht einer symbolischen Ordnung unterworfen wird, sondern in einem Außerhalb alles Symbolischen konstituiert wird, nähert sich sprachliche Gewalt durchaus physischer Gewalt an. Doch könnte es nicht auch hier eine Widerständigkeit geben, etwas, das auf »uns« und unsere Idee einer normalen Sprache zurückschlägt, was diese Sprache ent-setzt, eine Art katachrestischer Resignifikation zweiter Stufe?
26 Butler, Hass spricht, a.a.O., S. 143 f.
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Vielleicht ist es an dieser Stelle ertragreich, den kategorialen Rahmen Butlers zu verlassen und Jacques Rancières Konzept des »Unvernehmens«27 hinzuzuziehen. Rancière schreibt: »Die Fälle des Unvernehmens sind jene, bei denen der Streit darüber, was Sprechen heißt, die Rationalität der Sprechsituation selbst ausmacht.«28 Könnte der Widerstand derjenigen, die als Sprach- und Subjektlose subjektiviert werden, nicht darin bestehen, dass sie den Streit, von dem Rancière hier spricht, auslösen? Dass sie uns in gewisser Weise dazu zwingen, unsere Begriffe des Menschen und der Sprache zu revidieren? Sprechen uns diese anderen nicht jenseits unserer Sprache an, als Subjekte jenseits von Subjektivität? Ihre Ansprache besteht vielleicht darin, uns und unsere Sprache einer radikalen Befragung auszusetzen. Die im Unvernehmen aufgeworfenen Fragen, »was Sprechen heißt« und worin »die Rationalität der Sprechsituation selbst« besteht, können innerhalb der Beschränkungen der menschlichen Sprache (im Sinne phonetisch-graphematischer Einzelsprachen) nicht beantwortet werden. Diejenigen, die diese Frage, gleichsam in Antwort auf »unsere« Exklusionen, an uns zurückadressieren, ergreifen nicht das Wort in unserer Sprache, sondern in einer »Sprache überhaupt« (Walter Benjamin)29, in einem »Sagen«, das jedem »Gesagten« (Emmanuel Levinas) unvordenklich vorausgeht. Dieses Sprechen artikuliert sich in der Gestalt dessen, was Rancière als »Wortergreifung« beschreibt: Diejenigen, deren Sprechen als schlechthin unvernehmbar gilt, machen sich mittels der Wortergreifung gleichwohl vernehmbar. Sie verschaffen sich Gehör und verweisen damit zugleich kritisch auf ein Sprechen an sich30; in genau diese Richtung gehen auch Überlegungen Giorgio Agambens. Bei allen Versuchen, so etwas wie Sprache zu definieren, setzen wir die bloße Tatsache voraus, dass Menschen sprechen und eine Gemeinschaft bilden. Wir wissen nicht, so zeigt Agamben in seinem Essay »Die Sprachen und die Völker«31, was das ist, »Volk« und »Sprache«. Doch auf das Verhältnis von Sprache und Volk, Begriffen also, die mysteriös bleiben, gründet sich unsere politische Kultur. Denken und Handeln werden nur dann »auf der Höhe der Zeit« sein, gibt der Verfasser zu bedenken, »wenn man die Existenzreihe von Sprache – Gram-
27 Rancière, Jacques, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt / Main 2002. 28 Ebd., S. 10. 29 Benjamin, Walter, »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, in: ders., Gesammelte Schriften II.1, Frankfurt / Main 1980, S. 140-157, hier S. 143 ff. – Die reine Existenz der Sprache wäre für Benjamin etwas, das aufscheint, wenn die Grenzen von Einzelsprachen (etwa im Moment der Übersetzung) überschritten werden. Sie hat nicht den Status einer Metasprache, die über den Sprachen schwebt; sie lässt sich nicht dingfest machen, in keine einzelsprachlichen Wendungen überführen. »Sprache überhaupt« ist der Name dafür, dass wir, bevor wir Einzelsprachen sprechen, auf einer fundamentaleren Ebene bereits sprachliche Wesen sind. 30 Vgl. zum factum loquendi: Agamben, Mittel ohne Zweck, a.a.O., S. 67 f., 70 und 110. 31 Ebd., S. 65-71.
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matik – Volk – Staat an irgendeinem Punkt sprengt. Diese Brechung, mit der das factum der Sprache und das factum der Gemeinschaft für einen Augenblick ans Licht kommen«, nimmt unter anderen vielfältigen Variationen die Form der »Praktizierung einer grammatischen Sprache durch eine Minderheit«32 an. Agambens Diagnose versteht sich aus einer Umkehrung gewohnter Perspektiven und ist darin der Argumentation Rancières vergleichbar. Von dorther, wo »wir« gewohnt sind, nicht die Regel, sondern den Sonderfall auszumachen, eröffnet sich der Blick darauf, was die Normalität und Selbstverständlichkeit »unserer« Vorstellungen von Sprache (das Einzelsprachenkonzept, die Privilegierung einer Hochsprache gegenüber Dialekten, die Favorisierung von Lautsprache gegenüber der Gebärdensprachen usf.) in Frage stellt. Was hier auf dem Spiel steht, ist nicht einfach nur linguistischer oder literarischer, sondern vor allem politischer und philosophischer Natur. Ausgehend von zeithistorisch-politischen Ereignissen (Tienanmen) analysiert Agamben, dass – zum Schrecken der Macht – eine »beliebige Singularität« existiert, die sich den Dispositiven nicht fügt. Diejenigen beispielsweise, die auf dem Platz des Himmlischen Friedens demonstrierten, stehen für keine Gruppe, die in der chinesischen Gesellschaft repräsentiert wäre oder im Bezugssystem dieser Gesellschaft repräsentiert werden könnte. Sie zeigen mit ihrem Protest, »dass das Unrepräsentierbare existiert«, das »was weder repräsentiert werden kann noch will, und was sich trotzdem als eine Gemeinschaft und als ein gemeinsames Leben präsentiert«.33 Eine solche »beliebige Singularität« zeichnet Agamben als das Subjekt einer Politik aus, die alles andere wäre als eine Identitätspolitik. »Die beliebige Singularität, die sich […] das In-der-Sprache-sein selbst zu eigen machen will und dafür jede Identität, jede Bedingung von Zugehörigkeit ablehnt, ist […] weder subjektivistisch noch gesellschaftlich konsistent.«34 Und an anderer Stelle: »Von diesem unsicheren Terrain aber, von dieser opaken Zone der Unterschiedslosigkeit müssen wir heute ausgehen, um den Weg einer anderen Politik, eines anderen Sprechens zu finden. […] Eben hier muss ich meinen Raum auffinden – hier, oder an keinem anderen Ort. Nur eine Politik, die von diesem Bewusstsein ihren Ausgang nimmt, kann mich etwas angehen.«35 Die Rede von der Inkonsistenz oder »Unterschiedslosigkeit«, die Agamben diagnostiziert, schwebt möglicherweise in der Gefahr, als vereinheitlichendes Moment begriffen werden zu können, in dem alle Widersprüche in sich zusammenfallen. Ein solcher Verdacht wäre die Kehrseite einer identitätslogischen Erwartungshaltung. Es bleibt jedoch unmöglich, Agambens »opake Zone der Un-
32 33 34 35
Ebd., S. 70/71. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87. Ebd., S. 129.
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terschiedslosigkeit«36 als ein »fertiges Ding«37 aufzufassen. Hindert die von Agamben aufgewiesene Zone der Indifferenz das Dispositiv der Behinderung daran, sich zu schließen? Zeigt sich in diesem Rahmen womöglich ein Sprechen, in dem die Grenzziehungen gegen »Behinderte« belanglos gewesen sein werden? Wie aber werden zugleich je besondere Ansprüche vernehmbar? Hieße das, Identität als die Bedingung von Zugehörigkeit auszusetzen und zugleich die Inkonsistenz der Vielheit anzuerkennen? Den Begriff der »Behinderung« zu dekonstruieren und zugleich das Spezifische in seinen Ansprüchen in sein Recht zu setzen? »Unter Wesen, die immer schon verwirklicht, die immer schon diese oder jene Identität wären und ihre Potenz darin gänzlich erschöpft hätten, könnte es keine Gemeinschaft geben, sondern nur zufällige Übereinstimmungen und faktische Aufteilungen. Mit anderen kommunizieren können wir nur über das, was in uns wie in den anderen Potenz geblieben ist, und jede Mitteilung ist (wie Benjamin es für die Sprache geahnt hatte) nicht die eines Gemeinsamen, sondern einer Mitteilbarkeit. Wenn es andererseits nur ein einziges Wesen gäbe, so wäre es absolut ohnmächtig […], und wo immer ich kann, dort sind wir immer schon zu vielen.«38
Literatur Agamben, Giorgio, Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg, Berlin 2001. Allerkamp, Andrea, Anruf, Adresse, Appell. Figurationen der Kommunikation in Philosophie und Literatur, Bielefeld 2005. Althusser, Louis, »Über die Ideologie«, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg 1977, S. 130153. Benjamin, Walter, »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, in: ders., Gesammelte Schriften II.1, Frankfurt / Main 1980, S. 140157. Buber, Martin, Das dialogische Prinzip, Darmstadt 1984. Bruner, Claudia Franziska, KörperSpuren: Zur Dekonstruktion von Körper und Behinderung in biografischen Erzählungen von Frauen, Bielefeld 2005. Butler Judith, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998. Foucault, Michel, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt / Main 1993.
36 Ebd. 37 Cantor, Georg, Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts, Berlin 1932, S. 378; zitiert nach Agamben, Mittel ohne Zweck, a.a.O., S. 139: »Eine Vielheit kann nämlich so beschaffen sein, dass die Annahme eines ›Zusammenseins‹ aller Elemente auf einen Widerspruch führt, so dass es unmöglich ist, die Vielheit als ein ›fertiges Ding‹ aufzufassen. Solche Vielheiten nenne ich absolut unendliche oder inkonsistente Vielheiten.« 38 Agamben, Mittel ohne Zweck, a.a.O., S. 18-20.
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Fuchs, Peter, »Vom Selbstverständlichen im Umgang mit Menschen. Serie ›Umgang mit Behinderten‹ in sieben Folgen«, in: Die Tageszeitung (Nr. 6412, 6419, 6423, 6429, 6435, 6440, 6446), April / Mai 2001. Goffman, Erving, Stigma: Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt / Main 2002. Heitmeyer, Wilhelm, Deutsche Zustände, Folge 1-4, Frankfurt / Main 20032006. Hölderlin, Friedrich, »Anmerkungen zur Antigone«, in: ders., Werke, hg. v. Paul Stapf, Bd. 2, Darmstadt o. J., S. 425-431. Klee, Ernst, »Der blinde Fleck: Wie Lehrer, Ärzte und Verbandsfunktionäre die »Gebrechlichen« der Verstümmelung und Vernichtung auslieferten«, in: Die Zeit, Nr. 50, 1995. Klemperer, Victor, LTI. Lingua Tertii Imperii. Die Sprache des Dritten Reiches, Leipzig 1991. Lange, Rainer, »Mitten ins Leben«, in: Echt. Das Magazin der Evangelischen Kirche, Heft 1, 2006. Locke, John, Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern, Berlin 1872, Bd. 2. Posselt, Gerald, Katachrese. Rhetorik des Performativen, München 2005. Rancière, Jacques, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt / Main 2002. Reemtsma, Jan Philipp, Die Gewalt spricht nicht, Stuttgart 2002. Singer, Peter, Praktische Ethik, Leipzig 1994. Spivak, Gayatri Chakravorty, »French Feminism in an International Frame«, in: Yale French Studies, Bd. 62, 1981, S. 154-184. — »Can the Subaltern Speak?«, in: Cary Nelson / Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, London 1988, S. 271-313. Stiftung Deutsches Hygiene-Museum / Deutsche Behindertenhilfe – Aktion Mensch e.V. (Hg.), Der (im-)perfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit, Dresden 2001.
DANIEL LOICK
Words like violence. Konstellationen des Unvernehmens
Zwei Kategorien orchestrieren das sprachtheoretische Feld des 20. Jahrhunderts: Auf der einen Seite die der sprachlichen Verständigung, auf der anderen Seite die der sprachlichen Gewalt. Entlang dieser Entgegensetzung formieren sich zwei konkurrierende philosophische Koalitionen, die entweder die eine oder die andere Dimension der Kommunikation akzentuieren. Auf der einen Seite sieht einer der prominentesten zeitgenössischen moralphilosophischen Entwürfe, die sich an Apel und Habermas orientierende Diskursethik, in der Sprache grundlegende normative Ansprüche implementiert; der Sprache kommt hier die Funktion zu, Ressource gerade gewaltfreier Interaktionsmöglichkeiten zu sein. Der Zwang des besseren Arguments kann nur zwanglos, also in einer nicht mehr von Gewalt geprägten »idealen Sprechsituation« zur Geltung kommen, auch wenn eben diese bereits in den alltäglichen Kommunikationen kontrafaktisch unterstellt werden muss. Die Verständigung ist hier der eminente Kontrapunkt zu einem nur strategischen oder instrumentellen Handeln, das auf eine unmoralische Übervorteilung der Anderen abzielt. Diese optimistische Sicht der emanzipativen Potenzen der Sprache ist jedoch keineswegs unumstritten, denn auf der anderen Seite haben zahlreiche Ansätze den Blick auf die gewaltförmigen und verletzenden Dimensionen sprachlichen Handelns gelenkt. Noch vor der Erfindung der Diskursethik hatte bereits Adorno die Sprache als Medium »identifizierenden Denkens« begriffen, durch das die Dinge »vergewaltigt« werden. »Versöhnung« oder »Verständigung« im Sinne einer unversehrten Intersubjektivität sind bei ihm nur durch eine Überschreitung rein sprachlicher Methoden, nämlich durch die Gewahrwerdung des leibhaften, somatischen Impulses im Denken möglich. Michel Foucaults Genealogie des modernen Wissens- und Diskursregimes hat später auf
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die radikale historische Relativität unserer gegenwärtigen Kommunikationsformen hingewiesen, die Ergebnis spezifischer gewaltförmiger Ausschluss- und Ordnungspraktiken sind. Die Vorstellung von Kommunikation als einem »semantischen Transport des Sagen-Wollens« schließlich hat die Dekonstruktion Jacques Derridas blamiert, indem er ein sprachliches Unbewusstes zutage gefördert hat, das der sprachlichen Transparenz Grenzen setzt. Und last but not least hat Judith Butler den verletzenden Charakter der Benennung enthüllt, die das Subjekt in das soziale Dasein zwingt. Auch in dieser zweiten sprachtheoretischen Koalition spielt Verständigung eine Rolle. Die Verständigung erscheint auch hier in gewisser Hinsicht als das Andere der Gewalt. Wenn sie auch nicht immer explizit als positiver Bezugspunkt genannt wird, fungiert sie doch als eine Art Negativ des Zwangs, als Leerstelle oder als implizite Chiffre gewaltloser Begegnung mit der Anderen. Sprachkritische Interventionen zielen auf den Nachweis eines Mangels an Verständigung in der Sprache ab; selbst dann noch, wenn Gewalt der Sprache quasi-ontologisch oder existenziell attribuiert wird, nimmt die Verständigung den Platz des lexikalischen Gegenpols der Gewalt ein. Fremd wäre es deshalb zunächst auch dieser zweiten Perspektive, die ans Licht gebrachten Pathologien sprachlichen Handelns als Ausdruck von Verständigung zu verstehen. Ist nicht auch sprachliche Gewalt erst dort anzutreffen, wo die Verständigung aufhört bzw. dort, wo sie noch nicht begonnen hat? Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die beunruhigende Vermutung, dass diese beiden sprachtheoretischen Positionen zugrunde liegende Dichotomie von Verständigung und Gewalt einer Korrektur unterworfen werden muss. Was wäre, wenn Gewalt und Verständigung nicht als zwei voneinander trennbare Phänomene, sondern als gegenseitige Möglichkeitsbedingungen verstanden werden müssen? Der Begriff des Unvernehmens, den Jacques Rancière im Rahmen seiner politischen Philosophie ins Spiel gebracht hat, soll als Inspirationsquelle dienen, über eine andere Verhältnisbestimmung von Verständigung und Gewalt nachzudenken. Die Kategorie des Unvernehmens will ich hierfür aus dem genuin politisch-interventionistischen Kontext lösen, den Rancière ihr gibt, um ihre im weiteren Sinne sprachtheoretischen Implikationen und Konsequenzen auszuloten – auch auf die Gefahr hin, damit vielleicht selbst dem Autor Rancière »Gewalt« anzutun, weil er mit der Neuverwendung des »Unvernehmens« nicht einvernehmen würde. Dabei gebe ich zu, einen recht weiten Begriff von Gewalt zu verwenden. »Gewalt« soll nicht lediglich Formen physischer Aggressionen bezeichnen, sondern auch die unterschiedlichsten Arten der Verletzung subjektiver Anerkennungsansprüche beinhalten. Dem liegt die Intuition zugrunde, dass wir eine zwischenmenschliche Interaktion bereits dann als gewaltvoll erleben, wenn wir in dem verkannt werden, was wir sind oder sein wollen, aber auch, wenn wir uns in unseren Möglichkeit eingeschränkt sehen, unsere Subjektivität gehaltvoll kommunikativ zu entäußern. Die Verpflichtung auf Gewaltverzicht impliziert damit die
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Forderung nach einer Annäherung an die unendliche Andersheit der Anderen, an die Andere in ihrer Fluidität oder Labilität, wenn auch in dem Bewusstsein, dass es sich bei dieser Annäherung um einen potenziell ewigen Prozess handelt.
1. Ein Vater sagt zu seiner Tochter: »Du gehst heute nicht zu McDonald’s, bevor du dein Zimmer aufgeräumt hast. Hast du mich verstanden, junge Dame?« Und die Tochter antwortet verbittert: »Ja, Papa, ich habe verstanden.« Was hat die Tochter verstanden? Sie hat verstanden, dass sie zunächst ihr Zimmer aufräumen muss, wenn sie zu McDonald’s gehen will. Aber ihr trotziger Tonfall deutet darauf hin, dass sie noch etwas verstanden hat: Sie hat verstanden, dass es ihrem Vater egal ist, ob sie versteht, dass es nur darum geht, dass sie ihr Zimmer aufräumt. Die Tochter hat mehr und etwas anderes verstanden, als zu verstehen war – was freilich das Gegenteil von Verständigung ist. Ein Überschuss an Vernehmen im Einvernehmen: »Ich habe verstanden« als die ironische Replik auf eine Frage, die sich selbst dementiert. In dieser Szene haben sich Vater und Tochter zugleich verständigt und nicht verständigt: Zunächst sind die beiden zu einer gültigen Übereinkunft hinsichtlich des Gesagten und Gemeinten gekommen, es lag weder eine Täuschung noch ein Missverständnis vor, insofern war die Kommunikation effektiv. Andererseits haben sich Vater und Tochter hier jedoch auch nicht verstanden, denn der Vater versteht unter Verständigung das Befolgen eines Befehls, während die Tochter schmerzlich den Mangel an Verständigung in der Verständigung des Vaters wahrnimmt. Hierbei handelt es sich nicht einfach um eine zufällige Homonymie zweier unterschiedlicher Auffassungen von Verständigung: Es wäre naiv zu glauben, man könne die hier auftauchenden Verwirrungen dadurch vermeiden, indem man einfach in Verständigung 1 (»echtes Interesse an der Tochter als Person«) und Verständigung 2 (»vorgeschobenes Interesse, um einen bestimmten Effekt zu erzielen«) unterscheidet, so als habe es sich bei der letzteren um einen bedauerlichen, aber korrigierbaren Irrtum, lediglich um eine Episode der Abweichung vom Kommunikationsideal gehandelt, oder so als handle es sich um zwei getrennte Modi der Verständigung, die nur durch eine versehentliche Fehlbennenung gleich heißen. Die Sprachspiele von Vater und Tochter sind auf unhintergehbare Weise heterogen. Diese Situation einer gleichzeitigen Verständigung und Nicht-Verständigung ist genau das, was Jacques Rancière als das »Unvernehmen« (la mesentente) bezeichnet. Das Unvernehmen definiert Rancière wie folgt: »Unter Unvernehmen wird man einen bestimmten Typus einer Sprechsituation verstehen: jene, bei der einer der Gesprächspartner gleichzeitig vernimmt und auch nicht vernimmt, was der andere sagt. Das Unvernehmen ist nicht der Konflikt zwischen dem, der weiß und jenem, der schwarz sagt. Es ist der Konflikt zwischen dem, der ›weiß‹ sagt
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und jenem, der auch ›weiß‹ sagt, aber der keineswegs dasselbe darunter versteht bzw. nicht versteht, dass der andere dasselbe unter dem Namen der Weiße sagt.«1
Das Unvernehmen lässt sich damit abgrenzen sowohl vom bloßen Verkennen wie auch vom Missverständnis. Beide Begriffe, Verkennen und Missverständnis, suggerieren, man könnte die Verständigung mit sprachlichen Mitteln von einer nur kurzfristigen Irritation reinigen, indem die Gesprächspartnerinnen nämlich die Wörter genauer instruierten, eben dieses und nicht jenes zu bedeuten, indem man also die Sprechsituation durch einen Zusatz an Wissen oder eine Reduktion von sprachlichen Ambiguitäten und Vagheiten von der Krankheit der Unbestimmtheit heilt. Demgegenüber betont Rancière, dass das Unvernehmen keineswegs das Gegenteil einer »echten« Verständigung ist, dass vielmehr die Verfehlung bereits der Rationalität der Sprache selbst eingeschrieben ist. Im Unvernehmen affiziert die Verfehlung jeden Sprechakt. Jeder Konsens, jedes Einvernehmen fingiert nur die Kongruenz der Intentionen der Sprechenden, die in Wirklichkeit nie vollständig hergestellt werden kann. Dies macht das Sprechen selbst zu einer paradoxen Operation: Wenn wir nun mal nur ein bestimmtes Repertoire an Wörtern zur Verfügung haben, dann müssen wir die Worte der Anderen nehmen, um zu sagen, dass wir etwas ganz anderes sagen. Rancière untersucht in seinen Texten diejenigen Extremfälle, in denen das Unvernehmen die Subjektpositionen der Sprechenden und Streitenden selbst aufs Spiel setzt, Situationen krasser Hierarchien, in denen mitunter sogar die Sprachfähigkeit der beteiligten Akteure selbst in Frage gestellt wird. Das Unvernehmen zwischen Plebejern und Patriziern, zwischen dem Volk und der Aristokratie, aber vielleicht auch zwischen den revoltierenden Jugendlichen in den Banlieues und dem französischen Establishment oder zwischen migrantischen SchülerInnen in Berlin Neu-Kölln und ihren überforderten LehrerInnen (die aktuellen Beispiele ließen sich endlos weiterführen, wenn sie nicht so schnell in Vergessenheit gerieten) ist ein Streit nicht nur darum, was »Gerechtigkeit« oder »Freiheit« meinen, sondern auch ein Kampf um die eigene Stimme, darum, wessen Argument in der gemeinsamen Welt als Argument zählt. Aber bereits vor der Emergenz solch drastischer Situationen bleibt das Unvernehmen in der Sprache virulent. Die Rationalität der politischen, aber auch der privaten, der intimen Routine ist eine des Unvernehmens. Sprachtheoretisch könnte man also sagen, dass das Unvernehmen durch eine nicht zu vermeidende grundsätzliche Polysemie der Wörter bei gleichzeitiger Wortknappheit ermöglicht wird. Wenn es stimmt, dass dies das Charakteristikum jeder Sprachlichkeit ist (solange sie nicht die Sprache unendlich vieler Zeichen und damit keine Sprache mehr wäre; oder solange sie nicht die Sprache identischer Individuen ist, was die Abschaffung alles Gesellschaftlichen in der Gesellschaft markierte), dann lässt sich das Unvernehmen niemals
1 Rancière, Jacques, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt / Main 2002, S. 9 f.
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abstellen, niemals in einem endgültigen Einvernehmen beruhigen. Im Gegenteil, wenn das Verfehlen dessen, was die Andere sagen will, elementarer Bestandteil der Sprache ist, dann wird die Unmöglichkeit der Verständigung zur Bedingung ihrer Möglichkeit. Hieraus folgt, dass Verständigung und Verkennen nicht länger als antipodische Seiten einer dichotomen sprachphilosophischen Taxinomie figuriert werden können, dass vielmehr der Skandal ihrer Nicht-Opposition alle Phantasien einer befriedeten Intersubjektivität für immer ruiniert.
2. Das Unvernehmen schleicht sich sogar bis in unser Bett. »Findest du mich wunderbar?« lässt Jonathan Safran Foer ein Mädchen ihren Liebhaber fragen2, und der antwortet: »Nein.« »Warum?« »Weil so viele Frauen wunderbar sind. Ich kann mir vorstellen, dass heute Hunderte von Männern zu den Frauen, die sie lieben, gesagt haben, dass sie wunderbar sind, und dabei ist es erst Mittag. Du kannst nicht etwas sein, das Hunderte andere ebenfalls sind.« »Willst du damit sagen, dass ich nicht-wundervoll bin?« »Ja.« »Findest du mich nicht-schön?« »Du bist unglaublich nicht-schön. Du bist von schön so weit entfernt, wie es nur geht.« Die Kehrseite dieses Abgrenzungsversuches ist offensichtlich; dem Negativ der Floskeln mangelt es ebenso an Originalität wie der Floskel selbst: Mehr als Menschen, die sich wunderbar finden, gibt es nur Menschen, die sich nicht wunderbar finden. Was der Protagonist hier aber bemerkt, ist die schmerzliche Unmöglichkeit, die Einzigartigkeit und die Fülle der eigenen Gefühls- und Gedankenwelt zu kommunizieren. Leiden an Unbestimmtheit: Selbst die zarteste Mitteilung kann so zur gröbsten werden, wenn das Unvernehmen der nächsten Nähe eine unüberbrückbare Distanz unterschiebt. Damit meine ich nicht nur diejenigen Fälle, die es zweifelsohne täglich gibt, in denen das »Ich-liebe-dich«-Zitat bewusst oder unbewusst strategisch angeführt wird, in denen es eine beschlagnahmende, nivellierende, paternalistische, besänftigende Wirkung entfaltet. Die strukturelle Latenz des Unvernehmens kontaminiert die Aufrichtigkeit des Liebens selbst. Meine Geschichte kann ich dir nur mit Worten erzählen, die dir etwas anderes bezeichnen, und mit Worten, die mir vielleicht selbst plötzlich etwas anderes zu bezeichnen scheinen. Das Unvernehmen enteignet uns unserer Liebe, weil wir gegenseitig nicht voneinander wissen können, ob wir (noch) für die Mitteilung unserer Liebe, die wir durch unsere Blicke und unser Lächeln signieren, einstehen, und ob wir unsere Mitteilung ganz allgemein mit unserer absolut aktuellen und anwesenden Intention oder Aufmerksamkeit unterstützen.3 Der Versuch, mich innerhalb dieses kafkaesken Settings mit dir zu verständigen, kann nie ganz gelingen, da der Verständigung selbst ein Ver2 Foer, Jonathan Safran, Alles ist erleuchtet, Frankfurt / Main 2005, S. 320 f. 3 Allgemeiner vgl. Derrida, Jacques, »Signatur Ereignis Kontext«, in: ders., Limited Inc., Wien 2001, S. 15-45, hier S. 26.
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fehlen eingeschrieben ist, das verständigend nie eingeholt werden kann. Viele Liebende haben deshalb bereits die Einsamkeit verspürt, die von der Verständigung nicht beendet, sondern erzeugt wurde. Ein Ende dieser Einsamkeit würde sich ihnen erst dort einstellen, wo auch das gewaltfrei akzeptiert werden kann, was sich nicht verständigen lässt, was die Verständigung bricht, sie überschreitet und sie so begrenzt. Wahres Glück wäre ihnen erst an einem Punkt erreicht, der nicht erreichbar ist, an dem nichts mehr verständigt werden muss, weil alles gut ist, und an dem man also weiß: All I ever wanted, all I ever needed, is here in my arms, words are very unnecessary, they can only do harm. Zweifelsohne wird die Situation noch prekärer, wenn nicht mehr nur zwei, sondern ganz viele Menschen an einer Kommunikation beteiligt sind, in der Sphäre also, die der traditionelle Wortgebrauch »Öffentlichkeit« nennt. Hier kann, anders als in der Liebe, keine unendliche Solidarität der beteiligten Akteure vorausgesetzt werden, und anders als in der Liebe mangelt es hier nicht nur an Worten, sondern auch an der Zeit, mit ihnen zu spielen und sie so vielleicht immer wieder und immer neu zu präzisieren. Im Gegenteil regiert in der Politik wohl eher ein rein instrumentelles Verhältnis zu den Gesprächspartnerinnen. Verständigung, wenn davon überhaupt noch die Rede sein kann, wird dominiert durch die Tugenden der Rhetorik, also der sprachlichen Übervorteilung der Anderen. Doch wiederum geht es mir nicht um die Phänomene »pervertierter« Verständigung, die sich in Wahlkämpfen, Kanzlerduellen, Koalitionsverhandlungen oder Talkshows präsentieren. Selbst in einer demokratischen Gemeinschaft mit einer pluralen und vitalen Öffentlichkeit aus mündigen Staatsbürgerinnen nach Habermas’schem Modell wird das Unvernehmen noch den politischen Diskurs heimsuchen, da das Verkennen die Möglichkeitsbedingung der Verständigung ist.4 Wenn auch die Demokratie einen gewissen wahrheitstheoretischen Relativismus sich zu Eigen macht, indem sie die Existenz privilegierter Zugänge zur Wahrheit dementiert, so beruht sie doch auf einer mindestens provisorischen definitorischen Geste. Der demokratische Streit erfordert, dass man das zu Verhandelnde bezeichnet, für sich und für die Anderen, und dass man in der Bezeichnung standhält. Das Unvernehmen aber durchkreuzt diese definitorische Geste von vornherein; das häufige Auftreten von Diskussionen in demokratischen Gremien aller Art darüber, was genau man gerade beschlossen habe, mag hierfür ein Indiz sein. Der Gegenstand der demokratischen Entscheidung ist im demokrati4 Zur »Differenz zum Was« als demokratietheoretische Aporie haben wir ausführlicher argumentiert in DemoPunk Frankfurt, »Die ankommende Demokratie. Überlegungen zu Kommunismus und radikaler Demokratie«, in: DemoPunk / Kritik und Praxis (Hg.), Indeterminate! Kommunismus. Texte zu Ökonomie, Politik und Kultur, Münster 2005, S. 127-136, hier: S. 133. Ein anderes einschlägiges Beispiel für die Aporien, die sich aus der Allgemeinheit der Definition ergeben, ist das Recht. Hierzu etwa Derrida, Jacques, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, Frankfurt / Main 1991, anders Honneth, Axel, Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegel’schen Rechtsphilosophie, Leipzig 2001.
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schen Diskurs nie ganz anwesend: Die Intentionen und Vorstellungen der demokratischen Akteure können nie ganz zur Deckung gebracht werden. Und obwohl doch gerade die aufgrund einer freien Einigung der beteiligten Akteure erzielte genaue Definition dessen notwendig wäre, worüber man überhaupt redet, um die Behauptung zu legitimieren, man sei an einer Entscheidung beteiligt gewesen, werden die differierenden Referenten der Entscheidung für immer unter den sich gleichenden Signifizierungen begraben bleiben. Das Unvernehmen verurteilt die Demokratie zur Unvollendbarkeit, weil die Herstellung einer vollen Souveränität des demokratischen Kollektivsubjekts wenigstens die Transparenz der Gegenstände seiner Entscheidungen voraussetzte.
3. Liebe und Demokratie sind zwei Beispiele für die Kollaboration der Verständigung mit dem Verkennen. Wenn die These vom Skandal der Nichtopposition dieser beiden Kategorien aber konsequent durchgehalten werden soll, dann darf sie sich nicht damit begnügen, eine neue Perspektive auf die Verständigung zu entwickeln, sondern muss im Gegenzug auch das Verkennen in einem anderen Lichte erscheinen lassen. Sprachlicher Gewalt muss dann, so sehr dass unseren Intuitionen widerstreben mag, eine basale Verständigungsleistung zugesprochen werden. Wenn das Unvernehmen die Verständigung begrenzt, dann auch die Möglichkeit der Verletzung, mehr noch, dann stellt es die diskursive Routine einer ständigen Gefahr der Anfechtung anheim. Der Vater, der seiner Tochter das Zimmeraufräumen befiehlt, kann auf das »Hast du mich verstanden?« nicht verzichten, erst die Gewissheit der Verständigung ratifiziert den Befehl. Der Zwang und die Gewalt, die jedem Befehl und jeder Beleidigung innewohnen, setzen Verständlichkeit voraus; wer jemandem befiehlt oder jemanden beleidigt, muss sicherstellen, dass das Gegenüber verstanden hat. Noch die Feindschaft ist ein Verhältnis, das auf das verstehende Gegenzeichnen des Feindes angewiesen ist: Ich kann nicht jemandes Feind sein, der das Faktum meiner Feindschaft nicht vernimmt. Sprache ist das universelle Medium der intersubjektiven Relationen, als schieres Erfordernis der Zivilisation kann sich auch Herrschaft nicht anders realisieren als durch Verständigung. Wo jedoch Verständigung herrscht, dort spukt das Unvernehmen. In den allermeisten der auf Deutsch vorliegenden Texte führt Rancière dasselbe Beispiel für eine Heimsuchung der Verständigung durch das Unvernehmen an: Den Auszug der Plebejer auf den Aventin im alten Rom, wie er von dem französischen Schriftsteller Pierre Simon Ballanche um 1830 neu geschildert wurde.5 Als Geste 5 Vgl. Rancière, Das Unvernehmen, a.a.O., S. 34; ders., »Die Gemeinschaft der Gleichen«, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt / Main 1994, S. 101-131, hier: S. 121; ders., »Gibt es eine politische Philosophie?«, in: Alain Badiou u. a. (Hg.), Politik der Wahrheit, Wien 1997,
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der Verweigerung formierten sich die Plebejer durch ihren Auszug aus Rom in einer Art »Generalstreik« als eigene Gemeinschaft mit eigenen Versammlungen, eigenen Regeln, sie gaben sich Namen (vollzogen also verschiedene Akte der Imitation der Patrizier) und schufen so ein neues Universum der Repräsentation. Als sie von den Patriziern einen Vertrag forderten, antworteten diese, dies sei unmöglich, weil den Plebejern die für einen Vertragsabschluss notwendige Bedingung des Sprachvermögens fehle – sie besäßen zwar Laute des Hungers und des Schmerzes, die jedoch »nur eine Art Blöken und keine Äußerung von Intelligenz« seien. Der Senat schickte den Abgeordneten Menenius Agrippa auf den Aventin, und er erzählte den Plebejern die Fabel vom Gesellschaftskörper, der beides braucht: einen Bauch, der arbeitet, und einen Kopf, der denkt. Doch mit dem Erzählen dieser Fabel ist selbige, wie es Ballanche formuliert, »an einem Tag um eine Ära gealtert«: Das Erzählen der Fabel bedeutet ein Anerkenntnis des Sprach- und Verstandesvermögens der Plebejer und damit die Besiegelung der Niederlage der Patrizier, die nunmehr mit den Plebejern zu verhandeln hatten. Bei dem Überredungsversuch Agrippas handelte es sich um eine Form sprachlicher Gewalt, da einem subordinanten Gesprächspartner mittels einer rhetorischen List das gewünschte Ergebnis oktroyiert werden sollte. Gleichzeitig erzeugte seine Fabel einen Überschuss an Vernehmen im Einvernehmen: Die Plebejer haben verstanden. Rancière zeigt die egalitäre Kraft auf, die in diesem Verkennen liegt, in dieser paradoxen Demonstration der »Kompetenz der Inkompetenten«: »Menenius Agrippa erklärt den Plebejern, dass sie nur die dummen Glieder eines Staates sind, dessen Herz die Patrizier sind. Aber um ihnen so ihren Platz zu lehren, muss er voraussetzen, dass die Plebejer seine Rede verstehen. Er muss diese Gleichheit der sprechenden Wesen voraussetzen, die der polizeilichen Verteilung der Körper, die an ihren Platz gestellt und an ihre Funktionen verwiesen sind, widerspricht.«6
Agrippa und die Plebejer haben einander gleichzeitig verstanden und nicht verstanden: Nicht verstanden haben sie sich, weil die Plebejer den eigentlichen Sinn der Botschaft verkannt oder nicht akzeptiert haben, sie war dazu gedacht, die Plebejer unter Kontrolle zu bringen, statt sie aufzustacheln. Sie haben sich aber auch verstanden, denn es war ja erst die Intoleranz gegenüber der Kontrafaktizität sprachlichen Handelns, die das egalitäre Axiom auch materiell verifiziert hat. Die Tatsache, dass man sich gleichzeitig verständigen und nicht verständigen kann, infiziert die Verständigung, aber eben auch den Befehl oder die Beleidigung.
S. 64-93, hier S. 67; ders., »Politisches Denken heute«, in: Lettre International, Heft 2, Bd. 61, 2003, S. 5-7; ders., »Wider den Konsens. Gekürzte Dokumentation eines Vortrages im Berliner Institut Français«, in: Freitag, Nr. 28, 4. Juli 2003. 6 Rancière, Das Unvernehmen, a.a.O., S. 45.
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Dieser Zug, die Hierarchien der Welt mit der in der Kommunikation implementierten Gleichheit zu konfrontieren, hat durchaus Ähnlichkeit mit einem Habermas’schen Hinweis auf einen »performativen Widerspruch« (größere Ähnlichkeit, als sich dies Rancière selbst eingesteht). Allerdings hat Rancières Philosophie des Unvernehmens genau die gegenteiligen Konsequenzen: Während Habermas aufgrund der Konsensorientierung der Rede, die er als eine der universalen Bedingungen möglicher Verständigung identifiziert haben will, die Eindämmung von Missverständnissen und semantischen Unklarheiten für ein wichtiges Element kommunikativen Handelns hält, ist für Rancière gerade das verkennende Element in der Verständigung Garant für die jeder demokratischen Politik zugrunde liegende Offenheit und Unabgeschlossenheit des Diskurses. Contra Habermas betont Rancière, dass diese egalitäre Demonstration der Gemeinschaftlichkeit menschlicher Existenz sich nicht als sukzessive Entschränkung vorhandener Diskursgemeinschaften durch eine historische und soziale Ausweitung verständigungsorientierter Rationalität vollzieht, sondern im Gegenteil in der singulären Unterbrechung des symbolischen Regimes des Konsenses. Dies betrifft zu allererst die Subjektwerdung, die gesellschaftliche Regulierung, welches Subjekt wir sein sollen und welches wir werden können. Selbst das »He, Sie da!«, das Althusser den Polizisten in seiner berühmten Anrufungsszene rufen lässt, kann anders verstanden werden, weil auch die herrschaftlichen Signifikanten dem Unvernehmen anheim fallen. Die Anrufungssignifikanten bedeuten immer mehr, als sie bedeuten sollen, und sie produzieren so auch unerwünschte Effekte: Die Disidentifikation operiert schon im Herzen der Identifizierung. Rancière schreibt: »Politische Figuren sind immer in gesellschaftlichen Figuren gefangen. Die politischen Figuren unterscheiden sich von sich selbst, werden politisch insofern, als sie die Darstellung der Gleichheit eines jeden mit einem jeden anderen tragen. Der Name der Armen schließt im Namen einer sozialen Gruppe den Namen von jedermann ein. Gleichzeitig definiert er einen Platz, den jedermann einnehmen kann, er macht eine gesellschaftliche Bezeichnung für einen Prozess der politischen Subjektivierung zugänglich.«7
Eine demokratische Politik – und authentische Politik ist immer demokratisch – ist daher für Rancière eine Politik der Katachrese. Eine Katachrese soll hier eine unerlaubte Verwendung der Sprache, eine Störung der Signifikationsharmonie, ein unautorisiertes Sprechen bezeichnen, das die Logik der Autorisierung irritiert und subvertiert. Die Subalternen können, um einen Ausdruck Judith Butlers zu benutzen, »zurücksprechen« (talk back), indem sie das gegebene Vokabular eines sprachlichen Regimes entwenden und in unvorhersehbaren Weisen benutzen. Jeder Versuch, das Feld des Politischen und des Sozialen vollständig abzusichern
7 Rancière, »Gibt es eine politische Philosophie?«, a.a.O., S. 72.
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und zu schließen, wird von einer Heimsuchung durch das Unvernehmen unterbrochen und unterminiert werden.
4. Eben dieses Zurücksprechen bleibt jedoch ein Sprechen, es entkommt dem Makel des Unvernehmens nicht. Die Reaktion auf sprachliche Gewalt verfügt selbst nicht über die Sicherheit, die sie beim Gegner destruiert; das Unvernehmen schreibt der Gegen-Sprache nicht nur ein unvordenkliches Scheitern ein, sondern auch die Potenzialität, selbst Gewalt zu tragen, Gegen-Gewalt. Die sprachliche Reaktion auf das Verkennen der Egalität, das der Befehl darstellt, oder das Verkennen der Person, das die Beleidigung darstellt, ist selbst geprägt von einem Verkennen. Die »permanente Diversität im semantischen Feld«8 muss auch jedes Zurücksprechen von Anfang an verunsichern: Sie verpflichtet die politische Intervention zu einer schonungslosen Selbstkritik (und, vielleicht, zu einer Verantwortung für den Feind). Und letztlich muss das Unvernehmen auch das Sprechen über das Sprechen irritieren: Es gibt kein ruhiges Hinterland. Verständigung will verständigt sein9, die Unmöglichkeit eines Ortes außerhalb der Verständigung, von dem aus sich ein Licht auf die in der Verständigung latente Gewalt werfen ließe, macht Verständigung zu einem aporetischen Akt. Auch wenn wir selbst keine Gewalt in unserer höchst aktuellen Verständigung spüren, sollten wir wissen, dass sich ein Unvernehmen immer erst im Nachhinein enthüllt. Die zeitliche Struktur der Verständigung verunmöglicht jede Immunisierung gegen dieses Erschrecken. Verkennen in der Verständigung, Verständigung im Verkennen. Die Gewalt wohnt der Verständigung als Verständigung inne, nicht erst als ihr Mangel; und gleichzeitig bietet die Gewalt, wo sie als sprachliche Gewalt auftritt, auch Ansatzpunkte für ein basal verstandenes verständigungsorientiertes Handeln. Damit erschüttert das Unvernehmen das Vertrauen in die Reinheit der Liebe ebenso wie das in die des Hasses. Es ging mir nicht darum, die Gewalt zu verharmlosen, die in den überall zu beobachtenden Variationen der Nicht-Verständigung liegt. Eine Politik der Gewalt8 Butler, Judith, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 125. 9 »Verstehen will verstanden sein«, heißt es ganz zu Beginn von Werner Hamachers Buch zum »entfernten Verstehen«, und weiter: »Dass Verstehen verstanden sein will – dieser Satz vom Verstehen, Ankündigung oder Resümee, Forderung oder Klage, wird so lange nichts vom Verstehen gesagt haben, wie er selber nicht verstanden ist – und wie nicht auch verstanden ist, dass er von der Unmöglichkeit des Verstehens und der Unmöglichkeit noch dieses Satzes spricht.« (Hamacher, Werner, Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt / Main 1998, S. 7) Verständigung akzentuiert im Verstehen die genuin intersubjektive Dimension. Die (onto-)logische Paradoxie der Selbstbezüglichkeit von Verstehen und Verständigung prekarisiert hier darum nicht mehr nur hermeneutische, sondern ebenso ethische Unterfangen.
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reduzierung kommt nicht ohne Verständigung, Verständnis und Verstehen aus. Sie muss jedoch auch für Formen der Gewalt sensibilisiert sein, die noch in der Verständigung selbst liegen, nicht um Verständigung aufzugeben und der Ignoranz das Feld zu überlassen, sondern um nicht einen selbst notwendig unvollkommenen Modus der Intersubjektivität als den einzig guten und gerechten zu deklarieren, um also in der Lage zu sein, auch die Opfer der eigenen sprachpolitischen Praxis zu zählen. Die Kategorie des Unvernehmens ist in der Lage, eine Distanz zu den lebenspraktisch eingespielten Kommunikationspraktiken dadurch zu eröffnen, dass sie die Kommunikationsnorm so entnormalisiert, dass eine Beurteilung des sonst selbstverständlich Gegebenen möglich wird – indem sie also Voraussetzungen ent-setzt.10 Es geht darum, den Zwang merkbar zu machen, der selbst noch der Kritik innewohnt: » – und sei es als Zwang des zwanglosen Arguments.«11
Literatur Benjamin, Walter, Zur Kritik der Gewalt, in: ders., Gesammelte Schriften II.1, Frankfurt / Main 1977, S. 179-203. Butler, Judith, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998. DemoPunk Frankfurt, »Die ankommende Demokratie. Überlegungen zu Kommunismus und radikaler Demokratie«, in: DemoPunk / Kritik und Praxis (Hg.), Indeterminate! Kommunismus. Texte zu Ökonomie, Politik und Kultur, Münster 2005, S. 127-136. Derrida, Jacques, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, Frankfurt / Main 1991. — »Signatur Ereignis Kontext«, in: ders., Limited Inc., Wien 2001, S. 15-45. Foer, Jonathan Safran, Alles ist erleuchtet, Frankfurt / Main 2005. Hamacher, Werner, Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt / Main 1998. Honneth, Axel, Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegel’schen Rechtsphilosophie, Leipzig 2001. Lemke, Thomas, »Andere Affirmationen. Gesellschaftsanalyse und Kritik im Postfordismus«, in: Axel Honneth / Martin Saar (Hg.), Michel Foucault – Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt / Main 2003, S. 259-275.
10 Der Begriff der Entsetzung stammt in diesem Zusammenhang von Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: ders., Gesammelte Schriften II.1, Frankfurt / Main 1977, S. 179-203, hier S. 202. 11 Lemke, Thomas, »Andere Affirmationen. Gesellschaftsanalyse und Kritik im Postfordismus«, in: Axel Honneth / Martin Saar (Hg.), Michel Foucault – Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt / Main 2003, S. 259-274, hier S. 263 f.
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Rancière, Jacques, »Die Gemeinschaft der Gleichen«, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt / Main 1994, S. 101-131. — »Gibt es eine politische Philosophie?«, in: Alain Badiou u. a. (Hg.), Politik der Wahrheit, Wien 1997, S. 64-93. — Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt / Main 2002. — »Politisches Denken heute«, in: Lettre International, Heft 2, Bd. 61, 2003, S. 5-7. — »Wider den Konsens. Gekürzte Dokumentation eines Vortrages im Berliner Institut Francais«, in: Freitag, Nr. 28 vom 4. 7. 2003.
Die Autorinnen und Autoren
PIERRE BOURDIEU (1930-2002), französischer Philosoph und Soziologe, lehrte unter anderem Soziologie an der École des Hautes Études en Sciences Sociales und am Collége de France. Seine ethnologischen Forschungen in der algerischen Kabylei stellen die Grundlage dar für seine 1972 vorgelegte Esquisse d’une théorie de la pratique (dt. Entwurf einer Theorie der Praxis, 1976). Die Begriffe Habitus, sozialer Raum, soziales Feld und Kapital bildeten das Zentrum seiner Soziologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die männliche Herrschaft, 2005; Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches, 1990; Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, 1987; Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 1982. PENELOPE BROWN, geb. 1944, Dr., Wissenschaftlerin am Max Planck Institut für Psycholinguistik in Nijmegen, Niederlande. Arbeitsschwerpunkte: Sprache, Wahrnehmung, Systematik sozialer Interaktion, der Ausdruck sozialer Beziehungen in der Sprache, Höflichkeitsforschung. Ausgewählte Veröffentlichungen: »Cognitive anthropology«, in: Jourdan u. a. (Hg.), Language, Culture and Society, 2006; »Language, culture and cognition«, in: ZGL (Zeitschrift für Germanistische Linguistik), Bd. 34, 2006, S. 64-86; »Linguistic politeness«, in: Sociolinguistics: An International Handbook of the Science of Language and Society, Bd. 2, hg. v. Ammon u. a., 2. Aufl, 2005, Politeness. Some Universals in Language Use (zusammen mit S. C. Levinson), 1987. STEFAN DEINES, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Studium der Philosophie, Germanistik und Soziologie in Gießen; 2000-2002 Stipendiat des Graduiertenkollegs »Klassizismus und Romantik im europäischen Kontext«; 2002-2004
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Mitarbeiter am Zentrum für Philosophie in Gießen und Mitglied des Forschungsprojekts »Aussichten einer evolutionären Ästhetik«. Veröffentlichungen zu Geschichtstheorie, Sprachphilosophie und kritischer Theorie; Mit-Hrsg. des Bandes Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin, New York 2003. – E-Mail: [email protected] PASCAL DELHOM, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Flensburg, lehrte Philosophie an den Universitäten Lüneburg und Flensburg. Studium der Philosophie und Romanistik in Genf, Promotion in Bochum über Emmanuel Levinas. Arbeitsschwerpunkte: Sozial- und politische Philosophie, Ethik und Philosophie der zwischenmenschlichen Beziehungen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Philosophie und Kritik der erlittenen Gewalt, Phänomenologie der Verletzung sowie neue Ansätze der Friedensphilosophie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Denkwege des Friedens. Aporien und Perspektiven (Hg. mit A. Hirsch), 2007; Im Angesicht der Anderen. Emmanuel Levinas’ Philosophie des Politischen (Hg. mit A. Hirsch), 2005; »Erlittene Gewalt verstehen«, in: Mensink u. a. (Hg.), Gewalt verstehen, 2003; Der Dritte. Levinas’ Philosophie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit, 2000; »Verletzungen«, in: Dabag u. a. (Hg.), Gewalt, 2000. – E-Mail: [email protected] HAROLD GARFINKEL, geb. 1917, Prof. emeritus am Department of Sociology an der University of California, Los Angeles. US-amerikanischer Soziologie und Begründer der Ethnomethodologie. Bekannt wurde Garfinkel vor allem durch sein 1967 erschienenes Standardwerk Studies in Ethnomethodology. Ausgewählte Publikationen: Ethnomethodology’s Program: Working out Durkheim’s Aphorism, 2002; »On formal structures of practical actions« (zusammen mit H. Sacks), in: McKinney u. a. (Hg.), Theoretical Sociology, 1970; Studies in Ethnomethodology, 1967. CARL FRIEDRICH GRAUMANN, geb. 1928, Prof.emeritus für Sozialpsychologie der Universität Heidelberg. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Psychologie, speziell der Sozial- und Umweltpsychologie, Psychologie als Humanwissenschaft, der phänomenologische Ansatz in der Psychologie, Perspektivität in Sprache und Denken, Sprachliche Diskriminierung. Ausgewählte Publikationen: »Verbal discrimination: A neglected chapter in the social psychology of aggression«, in: Journal for the Theory of Social Behaviour, Bd. 28, 1998. »Die Erfahrung des Fremden«, in: Mummendey u. a. (Hg.), Identität und Verschiedenheit, 1997; »Implizite sprachliche Diskriminierung aus linguistischer Sicht« in: Pietri (Hg.), Dialoganalyse, 1997. PETRA GEHRING, Prof. Dr. phil., seit 2002 Professorin für Theoretische Philosophie am Institut für Philosophie der Technischen Universität Darmstadt. Studium
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN | 367
der Philosophie, Politikwissenschaften und Rechtswissenschaft an den Universitäten Gießen, Marburg und Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Metaphysik und Metaphysikkritik im 19. und 20. Jahrhundert, Klassische und nachklassische Phänomenologie, Strukturalismus und poststrukturalistische Theorien, Politische Theorie und Geschichtsphilosophie, Philosophie des Rechts, Biomacht, Zeichen – Text – Medien, Philosophische Begriffsgeschichte, Metaphorologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Ambivalenzen des Todes. Wirklichkeit des Sterbens und Todestheorien heute (Hg. mit M. Rölli u. M. Saborowski), 2007; Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, 2006; Foucault – Die Philosophie im Archiv, 2004. – E-Mail: [email protected] ANDREAS HETZEL, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Technischen Universität Darmstadt. Arbeitsschwerpunkte: Sprach-, Sozial- und Kulturphilosophie, Politische Theorie, Rhetorik. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die Rückkehr des Politischen. Demokratietheorien heute (Hg. mit R. Heil / O. Flügel), 2004; Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur, 2001; Interpretationen. Hauptwerke der Sozialphilosophie (mit G. Gamm / M. Lilienthal), 2001; Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung (Hg. mit P. Wiechens), 1999. – E-Mail: a.hetzel@ gmx.de MECHTHILD HETZEL, Dr. des., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der LeopoldFranzens-Universität Innsbruck; gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung; 2006 Promotion in Philosophie mit der Arbeit »Provokation des Ethischen. Diskurse über Behinderung und ihre Kritik«. Ausgewählte Veröffentlichungen: »Zur Revision des politischen Vokabulars: Giorgio Agamben«, in: Heil / Hetzel (Hg.), Die unendliche Aufgabe, 2006; »Dem Ethischen ›Raum‹ geben: Motiviertes Unbehagen an der Zuweisung symbolischer und sozialer Orte«, in: Vurgun (Hg.), Gender und Raum, 2005; »Behinderung und Ethik. Eine Frage der Gerechtigkeit«, in: Kodalle (Hg.), homo perfectus? Behinderung und menschliche Existenz, 2004. – E-Mail: [email protected] SONJA KLEINKE, Dr. phil. habil., derzeit wissenschaftliche Oberassistentin am Institut für Englische Philologie der Freien Universität Berlin. Studium der Anglistik und Germanistik in Rostock, Promotion und Habilitation im Fach Englische Sprachwissenschaft. Zwischen 1985 und 1999 Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Rostock. Zwischen 1999 und 2004 als Privatdozentin Lehrstuhlvertretungen an den Universitäten Heidelberg und Leipzig. Forschungsschwerpunkte im Bereich der kognitiven Linguistik, der Diskurspragmatik (insbesondere Internetkommunikation) und der linguistischen Frauenforschung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Englische Komplementstrukturen. Schematische und prototypische Bedeutungen, Frankfurt / Main 2002; sowie diverse
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Aufsätze zu den Themenkreisen Englische Verbkomplementierung, Sprachliche Repräsentation von Geschlecht im öffentlichen Diskurs und in der Internetkommunikation. STEFFEN KITTY HERRMANN, M.A., promoviert mit einer Arbeit über Sprache als Gewalt. Philosophiestudium in Frankfurt / Main und Berlin. Politisch aktiv in der A.G.Gender-Killer. Arbeitsschwerpunkte: Sozial- und Subjektphilosophie, Leibund Körperphilosophie, Geschlecht, Philosophien der Praxis. Ausgewählte Veröffentlichungen: »Ein Körper werden. Praktiken des Geschlechts«, in: A.G.Gender-Killer (Hg.), Das gute Leben, 2007; »Bühne und Alltag. Über zwei Existenzweisen des Drag«, in: Thilmann u. a. (Hg.), Drag Kings. Mit Bartkleber gegen das Patriarchat, 2007; »Queer(e) Gestalten. Praktiken der Derealisierung von Geschlecht«, in: Yekani u. a. (Hg.), Quer durch die Geisteswissenschaften, 2005; »Performing the Gap. Queere Gestalten und geschlechtliche Aneignung«, in: arranca!, Heft 28, 2003. – E-Mail: [email protected]. SYBILLE KRÄMER, Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin; Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin; Projektleiterin im SFB ›Kulturen des Performativen‹ und Gründungsmitglied im Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik; 2000 bis 2006 Mitglied des Wissenschaftsrats. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie und Mathematik in der frühen Neuzeit, Zeichen- und Medientheorie, Sprachphilosophie, Grundlagenprobleme der Kulturwissenschaften. Ausgewählte Veröffentlichungen: Stimme (Hg. mit D. Kolesch), 2006; Performativität und Medialität (Hg.), 2004; Bild, Schrift, Zahl (Hg. mit H. Bredekamp), 2003; Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? (Hg. mit E. König), 2002; Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, 2001. HANNES KUCH, geb. 1978, M.A., Stipendiat am Graduiertenkolleg ›Sklaverei – Knechtschaft und Frondienst – Zwangsarbeit‹; Studium der Philosophie, Soziologie und Volkswirtschaftslehre in Frankfurt / Main und an der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Identität, Alterität, Intersubjektivität; Theorien der Sprache und des Performativen; Männlichkeit; Philosophie der Anerkennung; Theorien des Schamgefühls; Machttheorie. Ausgewählte Publikationen: »Vergeschlechtlichungen der Scham«, in: A.G. Gender-Killer (Hg.), Das gute Leben, 2007; »Beleidigung, Beschämung und die Gewalt des Performativen«, in: Geiger u. a. (Hg.), Diskurse der Gewalt – Gewalt der Diskurse, 2005; »Das affektive Leben der Macht: das Gefühl der Scham«, in: Diskus, Heft 3, Jg. 53, 2004. – E-Mail: [email protected]. RAE LANGTON, Professorin für Philosophie am Massachusetts Institute for Technology. Arbeitsschwerpunkte: Politische Philosophie und Moralphilosophie, Geschichte der Philosophie, Metaphysik, feministische Philosophie.
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN | 369
Ausgewählte Veröffentlichungen: Sexual Solipsism, im Erscheinen; »Feminism in philosophy«, in: Jackson u. a. (Hg.), The Oxford Handbook of Contemporary Analytic Philosophy, 2005; Kantian Humility: Our Ignorance of Things in Themselves, 1998. STEPHEN C. LEVINSON, Direktor der Forschungsgruppe Sprache und Kognition am Max Planck Institut für Psycholinguistik, Nijmegen, Niederlande. Arbeitsschwerpunkte: Linguistik, Anthropologie und kognitive Anthropologie Ausgewählte Publikationen: Roots of Human Sociality. Culture, Cognition and Interaction (Hg. mit N. Enfield), 2006; Grammars of Space. Towards a Semantic Ttypology (Hg. mit D. Wilkins), 2006; Space in Language and Cognition: Explorations in Cognitive Diversity, 2003; Politeness. Some Universals in Language Use (zusammen mit P. Brown), 1987. BURKHARD LIEBSCH, Dr. phil., apl. Prof. für Philosophie an der Universität Bochum. Studium der Psychologie, Philosophie, Pädagogik und Sozialwissenschaften in Heidelberg u. Bochum. 1989-1995 wiss. Assistent am Philosophischen Institut der Universität Bochum; 1996/97 Gastprofessor für Philosophie am Humboldt-Studienzentrum für Geisteswissenschaften und Philosophie der Universität Ulm. Danach Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut (Essen) im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen und Leitung der Studiengruppe »Lebensformen im Widerstreit« (mit J. Straub). 2002-03 Fellow am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Geschichte, zur Phänomenologie und Hermeneutik sowie zur Praktischen und Sozialphilosophie in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Ausgewählte Veröffentlichungen: Revisionen der Trauer, 2006; Gastlichkeit und Freiheit, 2005; Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd.1 (Hg. mit F. Jaeger), 2004; Gewalt Verstehen (Hg. mit D. Mensink), 2003; Vernunft im Zeichen des Fremden (Hg. mit M. Fischer / H.-D. Gondek), 2001; Zerbrechliche Lebensformen, 2001; Geschichte als Antwort und Versprechen, 1999; Moralische Spielräume, 1999; Hermeneutik des Selbst – Im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie Paul Ricœurs (Hg.), 1999. DANIEL LOICK, lebt in Frankfurt am Main und promoviert zurzeit am dortigen Institut für Philosophie mit einer Arbeit zur kritischen Theorie der Souveränität. Er ist politisch aktiv im Verein zur Förderung demokratischer Politik und Kultur (DemoPunK). Ausgewählte Veröffentlichungen: »Let it be. Towards a post-sovereign concept of revolution«, in: Bartels u. a. (Hg.), Revolutions: Revisited, Revised, Redesigned, 2007; »Die Welt wird enger mit jedem Tag. Foucault und Adorno: Philosophieren im universellen Verblendungszusammenhang«, in: Chlada u. a. (Hg.), Das Foucault’sche Labyrinth, 2002; Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang! Texte zu Ideologieproduktion und Subjekt-
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konstitution (Hg. mit J. Deck / S. Dellmann / J. Müller), 2001. – E-Mail: daniel@ kulturrevolution.de THOMAS MARKERT, ist Doktorand an der Technischen Universität Dresden, Fakultät Erziehungswissenschaften, und forscht zum Thema »Ausgrenzung in Schulklassen« (Abschluss in 2007). Das Promotionsprojekt wird von der HansBöckler-Stiftung gefördert. Weitere Schwerpunkte der Forschungs- und Lehrtätigkeit sind die Themenfelder Schulsozialarbeit und Spielpädagogik. Vor seiner wissenschaftlichen Arbeit war er mehrere Jahre Schulsozialarbeiter an einer großstädtischen Schule. Ausgewählte Veröffentlichungen: Ausgrenzung in Schulklassen. Eine qualitative Fallstudie zur Schüler- und Lehrerperspektive, 2007; »›Oh, du bist nicht in unserer Klasse, du gehörst hier nicht her!‹ – Eine Fallanalyse zu den sozialen Auswirkungen des sächsischen DaZ-Konzeptes«, in: Figatowski u. a. (Hg.), Making of Migration, 2007. – E-Mail: markertthomas@ web.de MARGRET WINTERMANTEL, Prof. Dr. phil., geb. 1947, seit 2006 Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz. 1986 im Fach Psychologie an der Universität Heidelberg habilitiert; seit 1992 Professorin an der Universität des Saarlandes. Arbeitsschwerpunkte: Theorie der interpersonalen Kommunikation, sprachliche Darstellung technischen Wissens, Mensch-Computer-Interaktion, Urteilsbildung und sozialpsychologische Geschlechterforschung. Ausgewählte Publikationen: »Verarbeitung von personbeschreibender Information als Textverstehen« (mit S. Krolak-Schwerdt), in: Psychologische Rundschau, Bd. 55, 2004; »Die sprachliche Darstellung von Sachverhalten und Ereignissen«, in: Hermann u. a. (Hg.), Enzyklopädie der Psychologie. Sprachproduktion, 2004; »Verstehen von Personbeschreibungen«, in: Rickheit u. a. (Hg.) Handbuch Psycholinguistik, 2003.
Nachw eise
Garfinkel, Harold, »Bedingungen für den Erfolg von Degradierungszeremonien«, zuerst erschienen in: Gruppendynamik, Heft 2, 1974, S. 77-83, übersetzt von Arno Pilgram (engl. Original: »Conditions of Successful Degradation Ceremonies«, in: American Journal of Sociology, Bd. 61, 1956). Brown, Penelope / Stephen C. Levinson, »Gesichtsbedrohende Akte«, Erstübersetzung aus dem Englischen: Politeness. Some universals in language usage, Cambridge: Cambridge University Press 1987, S. 61-84. Bourdieu, Pierre, »Die Dialektik von Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung«, Auszug aus: ders., Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, übersetzt von Cordula Pialoux und Bernd Schwibs, Frankfurt / Main: Suhrkamp 1976, S. 15-32 (frz. Original: Esquisse d’une théorie de la pratique, Genf, Paris: Droz, 1972). Langton, Rae, »Sprechakte und unsprechbare Akte«, Erstübersetzung aus dem Englischen: »Speech Acts and Unspeakable Acts«, in: Philosophy & Public Affairs, Heft 4, 1993, S. 293-331. Graumann, Carl Friedrich / Margret Wintermantel, »Diskriminierende Sprechakte. Ein funktionaler Ansatz«, Erstübersetzung aus dem Englischen: »Discriminatory Speech Acts: A Functional Approach«, in: Bar-Tal, Daniel u. a. (Hg.), Stereotyping and Prejudice. Changing Conceptions, New York u. a.: Springer, 1989, S. 184-204. Liebsch, Burkhard, »Nach dem angeblichen Ende der ›Sprachvergessenheit‹: Vorläufige Fragen zur Unvermeidlichkeit der Verletzung Anderer in und mit
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Worten«, in einer kürzeren Fassung zuerst erschienen unter dem Titel: »Verletzung in und mit Worten«, in: Scheidewege. Jahreszeitschrift für skeptisches Denken, Bd. 34, 2004/2005, S. 243-263.
Edition Moderne Postmoderne Dirk Quadflieg Differenz und Raum Zwischen Hegel, Wittgenstein und Derrida
Hans-Joachim Lenger, Georg Christoph Tholen (Hg.) Mnêma Derrida zum Andenken
November 2007, ca. 340 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-812-4
Oktober 2007, ca. 230 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-510-9
Judith Siegmund Die Evidenz der Kunst Künstlerisches Handeln als ästhetische Kommunikation
Jens Szczepanski Subjektivität und Ästhetik Gegendiskurse zur Metaphysik des Subjekts im ästhetischen Denken bei Schlegel, Nietzsche und de Man
Oktober 2007, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-788-2
Fabian Goppelsröder Zwischen Sagen und Zeigen Wittgensteins Weg von der literarischen zur dichtenden Philosophie Oktober 2007, ca. 150 Seiten, kart., ca. 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-764-6
Martin Nonhoff (Hg.) Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe Oktober 2007, ca. 180 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-494-2
Iris Därmann, Harald Lemke (Hg.) Die Tischgesellschaft Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen Oktober 2007, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-694-6
September 2007, ca. 295 Seiten, kart., ca. 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-709-7
Harald Lemke Die Kunst des Essens Eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks September 2007, ca. 180 Seiten, kart., ca. 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-686-1
Christian Filk Günther Anders lesen Der Ursprung der Medienphilosophie aus dem Geist der ›Negativen Anthropologie‹ August 2007, ca. 150 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-687-8
Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer, Hannes Kuch (Hg.) Verletzende Worte Die Grammatik sprachlicher Missachtung Juli 2007, 372 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-565-9
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Edition Moderne Postmoderne Ludger Schwarte (Hg.) Auszug aus dem Lager Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas in der politischen Philosophie Juli 2007, 318 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-550-5
Andreas Niederberger, Markus Wolf (Hg.) Politische Philosophie und Dekonstruktion Beiträge zur politischen Theorie im Anschluss an Jacques Derrida Juni 2007, 186 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 978-3-89942-545-1
Daniel C. Henrich Zwischen Bewusstseinsphilosophie und Naturalismus Zu den metaphysischen Implikationen der Diskursethik von Jürgen Habermas März 2007, 246 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-620-5
Alice Pechriggl Chiasmen Antike Philosophie von Platon zu Sappho – von Sappho zu uns 2006, 188 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-536-9
Reinhard Heil, Andreas Hetzel (Hg.) Die unendliche Aufgabe Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie
Jens Badura (Hg.) Mondialisierungen »Globalisierung« im Lichte transdisziplinärer Reflexionen 2006, 318 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-364-8
Ulrike Ramming Mit den Worten rechnen Ansätze zu einem philosophischen Medienbegriff 2006, 252 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-443-0
Stefan Blank Verständigung und Versprechen Sozialität bei Habermas und Derrida 2006, 232 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-456-0
Peter Janich (Hg.) Wissenschaft und Leben Philosophische Begründungsprobleme in Auseinandersetzung mit Hugo Dingler 2006, 274 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-475-1
Tobias Blanke Das Böse in der politischen Theorie Die Furcht vor der Freiheit bei Kant, Hegel und vielen anderen 2006, 232 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-465-2
2006, 288 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-332-7
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Edition Moderne Postmoderne Johann S. Ach, Arnd Pollmann (Hg.) no body is perfect Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und ästhetische Aufrisse 2006, 358 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-427-0
Arnd Pollmann Integrität Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie 2005, 394 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-325-9
Gerald Hartung, Kay Schiller (Hg.) Weltoffener Humanismus Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutschjüdischen Emigration 2006, 224 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-441-6
Christoph Henning Philosophie nach Marx 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik 2005, 660 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN: 978-3-89942-367-9
Christian Schulte, Rainer Stollmann (Hg.) Der Maulwurf kennt kein System Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge 2005, 272 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-273-3
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