Verkehrsunfallflucht: Eine empirische Untersuchung zu Reformmöglichkeiten [Reprint 2019 ed.] 9783110909043, 9783110121155


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German Pages 236 Year 1989

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Vorwort
II. Der kriminologische Wissensstand
III. Diskussion in der Fachöffentlichkeit um die Reform des § 142 StGB
IV. Befragungen
V. Möglichkeiten zur Senkung der Zahl von Verstößen gegen § 142 StGB und deren Bewertung
Anhang
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Verkehrsunfallflucht: Eine empirische Untersuchung zu Reformmöglichkeiten [Reprint 2019 ed.]
 9783110909043, 9783110121155

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Ulrich Eisenberg • Claudius Ohder • Karl Bruckmeier Verkehrsunfallflucht

Verkehrsunfallflucht Eine empirische Untersuchung zu Reformmöglichkeiten von Ulrich Eisenberg • Claudius Ohder • Karl Bruckmeier

w DE

G_ 1989 Walter de Gruyter • Berlin • New York

D r . jur. Ulrich

Eisenberg

o. P r o f e s s o r im Institut f ü r Strafrecht u n d S t r a f v e r f a h r e n s r e c h t der F r e i e n U n i v e r s i t ä t Berlin Claudius

Ohder

u n d D r . phil. Karl

Bruckmeier

Wissenschaftliche Mitarbeiter am Fachbereich Rechtswissenschaft an der F r e i e n U n i v e r s i t ä t Berlin

CIP-Titelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Eisenberg, Ulrich: Verkehrsunfallflucht : eine empirische Untersuchung zu Reformmöglichkeiten / von Ulrich Eisenberg ; Claudius Ohder ; Karl Bruckmeier. - Berlin ; N e w York : de Gruyter, 1989 I S B N 3-11-012115-8 N E : Ohder, Claudius:; Bruckmeier, Karl: © Copyright 1989 by Walter de Gruyter & Co., 1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Satz: Knipp, Wetter Druck: Saladruck, Berlin Bindearbeiten: Dieter Mikolai, Berlin

Inhalt I. 1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 4.

II. 1. 2. 3. 3.1. 3.2. 4. 5. III. 1. 1.1. 1.2.

Fragestellung und Methoden der Untersuchung . Operationalisierung der Fragestellung Suche und Bewertung von Möglichkeiten zur Herabsetzungder Fluchtrate Strategien der Zielerreichung Grenzen formaler Methoden Charakterisierung nicht-formaler Methoden »Verkehrsunfallflucht« als sozial konstituiertes Phänomen Die Untersuchungsteile Erschließung vorhandener Wissensbestände Befragung von Personen des Handlungsfeldes »Unfallflucht« Befragung von Experten Untersuchung der Situation in den Niederlanden und im Vereinigten Königreich Der kriminologische Wissensstand Systematische Mängel des vorhandenen statistischen Materials Quantitative Konturen des Delikts Unfallflucht . . . Ergebnisse kriminologischer Untersuchungen Strukturmerkmale des Unfallgeschehens Tätermerkmale Systematisierung empirischer Befunde in »Motivgruppen« Bewertung

11 11 11 12 13 14 16 17 19 19 22 23 25 26 30 36 37 42 53 56

Diskussion in der Fachöffentlichkeit um die Reform des § 142 StGB 61 Die Reform des § 142 StGB von 1975 61 Die Reformdiskussion 62 Die Reform und ihre Begründung 66

1.3. 2. 2.1. 2.2. 3. IV. 1. 1.1. 1.2. 1.3. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 4. 4.1. 4.2. 5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4.

Bewertung der Reformen von 1975 Die gegenwärtige Diskussion Beurteilung des § 142 StGB in seiner gegenwärtigen Formulierung und Anwendung durch die Fachöffentlichkeit Die Vorschläge der Fachöffentlichkeit zur Reform des § 142 StGB und seiner Anwendung Bewertung

69 72

Befragungen Befragung von Organisationen und Institutionen . . Durchführung der Befragung Darstellung der Ergebnisse Bewertung der Befragungsergebnisse Befragung von nach § 142 StGB verurteilten Personen Ausmaß des Delikts »Unfallflucht« in den Untersuchungsregionen Methodische Vorbemerkungen Darstellung der Ergebnisse Befragung von Geschädigten Methodische Vorbemerkungen Darstellung der Ergebnisse Bewertung der Ergebnisse der Befragungen von Verurteilten und Geschädigten Befragung von Polizeibeamten Methodische Vorbemerkungen Darstellung der Ergebnisse Befragung von Anklagevertretern, Richtern und Verteidigern Methodische Vorbemerkungen Darstellung der Ergebnisse der Befragung von Staatsund Amtsanwälten Darstellung der Ergebnisse der Befragung von Richtern Darstellung der Ergebnisse der Befragung von Verteidigern

97 97 97 98 108

73 78 93

109 109 111 113 119 119 121 127 130 130 132 148 148 150 162 168

5.5. 6. 6.1. 6.2. 6.3. 6.4. 6.5. 7. 7.1. 7.2. 7.3.

V. 1. 1.1. 1.2. 2. 2.1. 2.2. 3. 3.1. 3.2.

Bewertung der Ergebnisse der Befragungen von Polizeibeamten, Anklagevertretern, Richtern und Verteidigern Befragung von Experten Die Befragungsmethode Durchführung der Befragung Die erste Befragungsrunde Die zweite Befragungsrunde Bewertung der Expertenbefragung Verkehrsunfallflucht im Vergleich: die Situation im Vereinigten Königreich in den Niederlanden Die Situation im Vereinigten Königreich Die Situation in den Niederlanden Bewertung der britischen und niederländischen Regelungen

173 179 179 182 183 185 191 193 194 201 209

Möglichkeiten zur Senkung der Zahl von Verstößen gegen § 142 StGB und deren Bewertung 211 Abschätzung des möglichen Effektes von Reformmaßnahmen 211 Verkehrsunfallflucht als Ergebnis des Zusammentreffens verschiedener Faktoren 211 Allgemeine Strategien zur Senkung der Fluchtrate und deren Abschätzung 213 Mögliche Reformmaßnahmen und Kriterien zu deren Bewertung 216 Aufstellung und Systematisierung von Maßnahmen zur Senkung der Fluchtrate nach Sachschadensunfällen 216 Kriterien der Bewertung von Maßnahmen zur Senkung der Fluchtrate 220 Bewertung des Lösungsvorschlags: Straffreiheit durch »tätige Reue« 222 Allgemeine Bewertung 222 Spezifische Bewertung 224 Anhang

229

Vorwort Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist die Feststellung anhaltend hoher oder steigender Zahlen von Verstößen gegen § 142 StGB. Die Neuregelung dieser Vorschrift im Jahr 1975 hat zu keiner spürbaren Verbesserung der Situation geführt. Dies drückt sich in einer anhaltenden Diskussion um eine Reform des § 142 StGB aus. Hierbei fällt allerdings auf, daß die Zahl empirischer kriminologischer bzw. rechtstatsächlicher Untersuchungen des Phänomens Unfallflucht gegenüber derjenigen juristischer und kriminalpolitischer Abhandlungen weit zurücksteht. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist die Suche und Bewertung von Möglichkeiten und Strategien zur Herabsetzung der Zahlen von Verkehrsunfallflucht. Hierzu konnte nur beschränkt auf vorliegende empirische Ergebnisse zurückgegriffen werden. Es war vielmehr erforderlich, umfangreiche Befragungen und Erhebungen durchzuführen, die teilweise mit erheblichem zeitlichen und organisatorischen Aufwand verbunden waren. Für die freundliche Unterstützung des Forschungsvorhabens sei den Präsidenten der Amtsgerichte in Berlin, Fulda und Mannheim, den dortigen Polizeiführungen sowie dem Deutschen Anwaltsverein gedankt. Für die Kooperationsbereitschaft bei der Durchführung der Forschung danken wir den befragten in- und ausländischen Experten, Vertretern von Behörden und Institutionen, Richtern, Anklagevertretern und Polizeibeamten, sowie denjenigen wegen Verstoßes gegen § 142 StGB verurteilten bzw. durch einen solchen Verstoß geschädigten Personen, die sich an der Untersuchung beteiligt haben. Das Bundeszentralregister unterstützte das Projekt in erheblichem Maße, zumal u.a. Daten in umfangreichen Suchläufen zusammengetragen werden mußten; den Verantwortlichen und Beschäftigten

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Vorwort

in dieser Behörde sei hierfür gedankt. Ganz besonders danken wir Frau Referendarin Susanne Krauth, die während des gesamten Forschungsvorhabens wertvolle Anregungen vermittelte. Die Untersuchung wurde im Auftrag des Berliner Senators für Justiz und Bundesangelegenheiten (- Justiz -) durchgeführt. Die Veröffentlichung der Ergebnisse in der vorliegenden Form wurde ermöglicht durch Unterstützung der Juristischen Zentrale des A D A C sowie der Forschungskommission der Freien Universität Berlin. Berlin, Januar 1989

Die Verfasser

I. Fragestellung und Methoden der Untersuchung Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Feststellung anhaltenc hoher bzw. steigender Unfallfluchtzahlen 1 und die daran ge knüpfte Frage nach Möglichkeiten, die Fluchtquote zu verrin gern. Diese der Praxis entstammende Problemstellung kann nicht unmittelbar mit empirischen Methoden (im Sinne der Rechtstatsachenforschung) erschlossen werden. Vorausgehen muß eine Operationalisierung dieser Problemstellung, im Rahmen derer methodische Implikationen verdeutlicht und geeignete Untersuchungsschritte konzipiert werden.

1. Operationalisierung der Fragestellung 1.1. Suche und Bewertung von Möglichkeiten zur Herabsetzung der Fluchtrate Das Ziel der gegenwärtigen Diskussion um § 142 StGB ist insbesondere die Verringerung der Fluchtquote nach Sachschadensunfällen und damit eine verbesserte Verwirklichung des Schutzzwecks der Vorschrift 2 . Für eine empirische Untersuchung, die der Frage nachgeht, worin geeignete Ansatzpunkte bestehen könnten, dieses zu erreichen, ist zunächst folgende Aufgliederung zweckmäßig. - Welche Möglichkeiten (Mittel) gibt es, eine Verringerung der Fluchtquote zu erreichen? 1 2

S. II. 2. S. III. 2.

12

I. Fragestellung und Methoden der Untersuchung

- Welche unter diesen Möglichkeiten sind (praktisch) geeignet, das erwünschte Ziel (Zweck) zu verwirklichen? Die Identifizierung und Erfassung von Möglichkeiten zur Herabsetzung der Zahl von Verstößen gegen § 142 StGB kann mit Hilfe verschiedener, sich ergänzender Informationsquellen und analytischer Vorgehensweisen erfolgen, wie beispielsweise durch - Aufarbeitung kriminologischer und anderer, den Untersuchungsbereich berührender Wissensbestände - Auswertung der Fachdiskussionen um die Reform des § 142 StGB - Befragung von Personen, die aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit mit dem Problem Unfallflucht befaßt sind - Befragung von Personen, die aufgrund ihres Expertenwissens entsprechende Vorschläge entwickeln können. Aus der Gesamtheit der ermittelten plausiblen Möglichkeiten gilt es dann die geeignetsten auszuwählen. Hierbei sind verschiedene Mittel in ihrer Zieleffizienz abzuschätzen, zu bewerten und gegeneinander abzuwägen.

1.2. Strategien der Zielerreichung Das Ziel einer Verringerung der Zahl von Verstößen gegen §142 StGB ist grundsätzlich mit zwei unterschiedlichen Strategien zu erreichen. a) Durch eine Modifizierung der Rechtsnorm kann die Zahl der Normverstöße herabgesetzt werden, ohne daß eine Änderung des Verhaltens der Normadressaten erforderlich wäre. Hierzu müßte die Norm, die Verhalten in »recht« und »unrecht« unterscheidet, in einer Weise verändert werden, daß der dadurch definierte Unrechtsbereich abnimmt. Die Norm wird damit dem als konstant gesetzten Verhalten oder sozialen Handeln angepaßt. b) Alternativ dazu kann die Norm als gültig und nicht veränderungsbedürftig gesetzt werden, woraus sich die Notwendig-

1. Operationalisierung der Fragestellung

13

keit ergibt, durch eine gezielte Beeinflussung eine Verhaltensänderung bei den Rechtsadressaten zu erreichen3. Die Erfassung desjenigen Anteils von Normverstößen gegen § 1 4 2 StGB, der bei einer Redefinition der Norm (bzw. einer Verfahrensänderung) entkriminalisiert würde bzw. straffrei bliebe, wirft keine grundsätzlichen methodischen Probleme auf und ist wesentlich von der Exaktheit und Detailgenauigkeit vorhandener Daten und Unterlagen bestimmt. Im Mittelpunkt vorliegender Untersuchung werden daher solche Maßnahmen stehen, die zu einer Verhaltensänderung führen sollen. Gemeinsam ist diesen Maßnahmen, daß sie vermittelt wirken: durch bestimmte Interventionen (z.B. Aufklärungskampagnen) oder Modifikationen der Rahmenbedingungen (z.B. Abschaffung des Schadenfreiheitsrabatts bei der Kfz- Versicherung) soll eine Verhaltensänderung der Normadressaten und damit eine Abnahme der Zahl der Fluchtfälle erreicht werden. Allerdings ist der Zusammenhang zwischen solchen »von außen« kommenden Maßnahmen und tatsächlichem sozialen Handeln unbestimmt. Dies läßt sich an Hand des Verhältnisses von Rechts- und Handlungsnormen verdeutlichen. 1.3. Grenzen formaler Methoden Rechtsnormen werden nicht unmittelbar zu sozialen Handlungsnormen. Sie entsprechen nicht der Komplexität der Situationen, in denen sie handlungsleitend wirken sollen. Sie berücksichtigen kaum Unterschiede bei den Adressaten, sie beziehen sich allenfalls abstrakt auf die Vielzahl möglicher Umstände und Beson3

Eine Reihe der gegenwärtig diskutierten Vorschläge dazu, wie eine Abnahme der Fluchtquote zu erreichen sei, können allerdings als Kombination der beiden hier genannten Modelle angesehen werden. Die Vorschläge gehen davon aus, daß durch eine Entkriminalisierung bzw. einen Strafverfolgungsverzicht für einen Teilbereich der Unfallflucht eine Herabsetzung der Zahl von N o r m verstößen zu erreichen sei. Als zusätzliche, sekundäre Wirkung solch einer entstigmatisierenden Reform wird eine Motivierung der Verkehrsteilnehmer erwartet, sich nach einem Verkehrsunfall ihren Pflichten entsprechend zu verhalten. O f f e n bleibt dabei allerdings, wann und wie sich im einzelnen eine Reform auf das Verhalten der Normadressaten auswirken wird.

14

I. Fragestellung und Methoden der Untersuchung

derheiten. Rechtsnormen müssen von den Normadressaten alltagsbezogen verstanden, gedeutet und konkretisiert werden. Es ist deshalb nicht davon auszugehen, daß Rechtsnormen nach allgemeingültigen Befolgungsmustern verhaltenswirksam werden, zumal sie nach Art, Regelungsbereich, Sanktionsausmaß, Bekanntheitsgrad usw. in ihrer Wirkung auf die Normadressaten variieren. Das Verhältnis von Rechts- und Handlungnormen ist nicht präzise zu bestimmen. Die Untersuchung der Frage nach der Wirkung einer Reform auf das Verhalten von Verkehrsteilnehmern kann daher nicht auf ein empirisch fundiertes Theoriegerüst zurückgreifen. Dies zwingt zu einer zurückhaltenden Beurteilung dessen, was sozialwissenschaftliche Methoden bei der Beurteilung von Maßnahmen zur Senkung der Fluchtquote zu leisten vermögen. Es ist davon auszugehen, daß eine Neuformulierung der strafrechtlichen oder prozessualen Bestimmungen im Zusammenhang mit Verkehrsunfallflucht sich (allenfalls) vermittelt oder indirekt auf das Verhalten von Verkehrsteilnehmern auswirken wird. Zwischen die Größen Rechtsnorm und Verhalten tritt gewissermaßen eine Vielzahl von Einflüssen, wie individuelle Besonderheiten (Sozialisation, Bezugsgruppen, Orientierungen usw.), adressatenunabhängige Kontextfaktoren (die Art und Weise, in der eine Reform in der Öffentlichkeit, den Medien behandelt wird, Anwendung der Norm durch Polizei, Judikatur usw.) oder regionale Charakteristika (unterschiedliche Freizeitgewohnheiten etc.). Für eine exakte Beurteilung der Wirkung bestimmter Rechtsreformen müßte eine Vielzahl von Faktoren nach quantitativen Gesichtspunkten erfaßt und mit Hilfe formaler multivariater Verfahren analysiert werden. Dies übersteigt die Möglichkeiten einzelner empirischer Untersuchungen bei weitem.

1.4. Charakterisierung nicht-formaler Methoden Die Suche und Beurteilung von Möglichkeiten mit dem Ziel, eine Verhaltensänderung zu bewirken, fällt in ein äußerst kom-

1. Operationalisierung der Fragestellung

15

plexes und nach quantitativen Gesichtspunkten kaum strukturierbares Gebiet. Die Untersuchung der Wirkung solcher Maßnahmen - insb. rechtlicher Reformen - ist daher von vornherein durch wissenschaftliche Exaktheitsanspriiche angreifbar, sofern diese postulieren, daß Erklärungen und Vorhersagen logisch vollständig sein und in transparenter Weise erschlossen werden müssen 4 . Bei der Konzipierung des Untersuchungsprogramms müssen o.g. Restriktionen berücksichtigt werden. Es ist darauf zu achten, daß die gewählten Methoden robust sind gegenüber kognitiven Defiziten, wie dem Mangel an theorie- und empiriegestützten Erklärungsstrukturen oder an Modellen für die Wirkung bestimmter Maßnahmen auf die Verhaltenspraxis von Verkehrsteilnehmern. Zudem liegen keine Daten, Statistiken oder andere quantitativ exakten Beobachtungen vor, die - etwa im Sinne wirtschaftswissenschaftlicher Prognosen - Trendverlängerungen oder Extrapolationen zulassen würden und damit zentral zur Beantwortung der Untersuchungsfrage beitragen könnten5. Nicht-formale oder sog. »subjektive« Methoden genügen diesen Anforderungen. Dies sind empirische Verfahren, die an den individuellen Sichtweisen, Kenntnissen, Erfahrungen von Personen ansetzen, die als Experten, Praktiker, Betroffene usw. in Verbindung zu dem Bereich stehen, dem der Forschungsgegenstand zuzuordnen ist. Im vorliegenden Fall handelt es sich insbesondere um Personen, die wegen eines Verstoßes gegen § 142 abgeurteilt wurden, um Geschädigte, Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Verkehrsexperten, Polizeibeamte usw. Diese Personen besitzen individuelle und damit nicht »objektive« Sicht4

5

Dies kann entweder mit Hilfe von Generalisierung oder durch ein Ensemble singulärer Aussagen über das konkrete Untersuchungsfeld geschehen. Voraussetzung wäre, daß unabhängig vom spezifischen Untersuchungsproblem hinreichende, theoretisch fundierte und empirisch überprüfte Erklärungen vorliegen. Dies zu tun, wäre auch kaum sinnvoll, da mit den geplanten Rechtsreformen eine Veränderung bisherigen Verhaltens angestrebt wird, bei einer Verlängerung vorhandener Zahlen in die Zukunft dieses jedoch nicht ausgedrückt würde.

16

I. Fragestellung und Methoden der Untersuchung

weisen auf das Problemfeld »Unfallflucht«; allerdings sind diese Perspektiven und Interpretationen gewissermaßen praxiserprobt, denn sie können in der Regel als kompetent und zutreffend für einen bestimmten sozialen Raum und Bezugsrahmen angesehen werden. Zwar läßt sich ein Mangel an empirisch überprüften theoretischen Erklärungsmustern nicht durch die Addition der Sichtweisen und Reflexionsleistungen der sozialen Akteure aufheben, doch kann aus einer Aneinanderfügung subjektiver Perspektiven nicht nur ein systematischer Einblick in den Untersuchungsgegenstand (insbes. über die relevanten Faktoren) folgen, sondern auch ein Eindruck davon entstehen, wie eine Veränderung der Rahmenbedingungen (beispielsweise durch eine Rechtsreform) das Verhalten von wichtigen Personengruppen (beispielsweise Verkehrsteilnehmer, Polizeibeamte) beeinflussen könnte. Dies kann dazu dienen, Modelle oder Szenarien zu entwickeln, innerhalb derer auch prognostischen Fragestellungen nachgegangen werden kann.

1.5. »Verkehrsunfallflucht« als sozial konstituiertes Phänomen Neben der Bestimmung geeigneter Methoden ist es notwendig, ein Untersuchungsdesign zu entwickeln, das dem Untersuchungsgegenstand inhaltlich und in seiner Komplexität angemessen ist. Im vorliegenden Fall bedeutet dies, daß das empirische Vorgehen - sowohl was die Suche als auch die Bewertung von Möglichkeiten zur Senkung der Unfallfluchtrate betrifft - daran orientiert sein muß, daß es sich bei »Unfallflucht« nicht allein um einen normativ und damit abstrakt bestimmbaren Tatbestand, sondern um ein soziales Phänomen handelt, das durch eine Vielzahl von Handlungen und Größen beeinflußt wird. So bedarf es für die Einleitung und Durchführung eines Verfahrens nicht allein eines formalen Normverstoßes, sondern in aller Regel einer Anzeige, einer polizeilichen Ermittlung, einer Anklageerhebung und einer Aburteilung. Das Verhalten von Individuen auf jeder dieser Handlungsebenen trägt zu der quantitativen und qualitativen Konstitution des Tatbestandes »Unfallflucht« bei.

2. Die Untersuchungsteile

17

Dies geschieht zum einen dadurch, daß dieses Verhalten unmittelbar die offiziell registrierte Häufigkeit von Verstößen gegen § 1 4 2 StGB beeinflußt6; zum anderen dadurch, daß das Verhalten von Personen einer bestimmten Handlungsebene auf das aller übrigen beteiligten Personen(gruppen) wirkt 7 . Insofern konstituiert sich Unfallflucht in einem interaktiven, reflexiven und rückgekoppelten Prozeß als sozialer Tatbestand. Das Untersuchungsdesign muß dieser Komplexität Rechnung tragen und insbesondere berücksichtigen, daß das als Verstoß gegen eine Strafrechtsnorm bewertete Verhalten nicht isoliert betrachtet und allein auf eine vom Verkehrsteilnehmer jeweils - bewußt entschiedene Handlung »Verlassen des Unfallortes« reduziert werden kann. Insofern hat eine Untersuchung des Phänomens Verkehrsunfallflucht von einem »offenen System« auszugehen, das eine Vielzahl von Größen und Faktoren umschließt, die in ihrer Gesamtheit weder erfaßt noch in ihren funktionalen und kausalen Zusammenhängen dargelegt werden können. Aus Gründen der praktischen Durchführung muß der Untersuchung ein vereinfachtes, schematisiertes Modell zugrunde gelegt werden, das jedoch die soziale Konstitution des Tatbestandes berücksichtigt. In diesem Rahmen können wichtige Akteursgruppen und reflexive Prozesse einander zugeordnet und einzelne Untersuchungsschritte konzipiert werden (vgl. Bild 1/1).

2. Die Untersuchungsteile Die vorliegende Untersuchung untergliedert sich in mehrere Teile, die durch ein spezifisches Erkenntnisinteresse und bestimmte Methoden charakterisierbar sind. Dieses Untersuchungsdesign

6 7

Dies gilt insbesondere für das Anzeigeverhalten. Die Ermittlungsintensität der Polizei im Zusammenhang mit Unfallflucht hat beispielsweise Auswirkungen auf das Verhalten von Verkehrsteilnehmern nach einem Unfall, auf die Anzeigebereitschaft von Geschädigten, sowie auf die Praxis von Richtern, Staats- und Rechtsanwälten.

18

I. Fragestellung und Methoden der Untersuchung

Konstitution und soziale Bezüge des Phänomens "Unfallflucht"

I. NORMEBENE (unmittelbare Einflußgrößen)

II: HANDLUNGSEBENE (Unfallflucht konstituierende Handlungen)

III. STRUKTUREBENE (mittelbare Einflußgrößen)

c

RECHTSNORM § 142 StGB und andere relevante Vorschriften

HANDLUNGSWEISEN

HANDLUNGSTRÄGER

Verhalten nach Unfällen

Verkehrsteilnehmer

Anzeigeverhalten

Geschädigte I

Aufklärungsverhalten Sanktionsverhalten

Richter, Staats-, Rechstanwälte

Schadensregulierung

Versicherungen

RANDBEDINGUNGEN

GENERALISIERTE ORIENTIERUNGEN

- Information durch Massenmedien

- informelle soziale Normen

- Verkehrserziehung

- Position von Berufsverbänden

- Fahrausbildung - Parkmöglichkeit in Städten

(Bild 1/1)

Polizei

- Position von Interessenverbänden

2. Die Untersuchungsteile

19

scheint geeignet, der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes gerecht zu werden. 2.1. Erschließung vorhandener Wissensbestände Als vorhandene Wissensbestände können betrachtet werden: - Beschreibung von Umfang und Struktur des Delikts »Unfallflucht« anhand vorliegender Statistiken und anderer quantitativer Daten - wissenschaftliche Aussagen der Kriminologie und anderer, den Untersuchungsbereich berührender Disziplinen - Fachdiskussion um die Reform des § 142 StGB - Position und Einschätzung von Behörden und Ministerien des Bundes und der Länder, relevanten Berufsverbänden und -Organisationen, Parteien und von sonstigen mit der Thematik befaßten oder in Verbindung stehenden Institutionen. Die Erschließung dieser Wissensbestände erfolgt durch Litera turauswertung, Sekundäranalysen und gezielte Umfragen be o.g. Institutionen. 2.2. Befragung von Personen des Handlungsfeldes »Unfallflucht« Diesem Handlungsfeld zuzuordnende Personengruppen siru insbesondere Verkehrsteilnehmer, die wegen eines Verstoßes ge gen § 142 StGB verurteilt wurden, sowie durch Unfallfluchi Geschädigte. Hinzu kommen Personen, die in ihrer beruflichen Praxis mit Verkehrsunfallflucht befaßt sind: Polizeibeamte. Staats- und Amtsanwälte, Rechtsanwälte, Richter. Sämtliche Befragungen wurden schriftlich mit teilstandardisierten Fragebögen durchgeführt. Die Auswahl der Befragten erfolgte nach folgenden Kriterien: - regionale Verteilung: Um Gebiete mit unterschiedlichen geographischen, siedlungs-, sozial- und verkehrsstrukturellen Merkmalen in die Untersuchung einbeziehen zu können, wurden folgende Landgerichtsbezirke als Untersuchungsregionen gewählt Fulda (dünnbesiedelte Region mit ländlichem Charakter, wenij.

20

I. Fragestellung und Methoden der Untersuchung

Industrie), Mannheim (verstädtertes, dicht besiedeltes Ballungsgebiet, hohe Industrialisierung, Pendelverkehr) und Berlin (metropolitanes Großstadtgebiet, sehr hohe Verkehrs- und Siedlungsdichte, durchmischte Sozial- und Erwerbsstruktur)8. - Stichprobenkonstruktion: In allen drei Regionen wurden Polizeibeamte, Anklagevertreter, mutmaßlich Geschädigte und wegen Unfallflucht Verurteilte befragt. Die Rechtsanwälte entstammen einer bundesweiten Stichprobe, da in den kleineren Untersuchungsbebieten nur wenige Rechtsanwälte auf Verkehrssachen spezialisiert sind. - Die Konstruktion der Stichprobe richtete sich nach der Größe der jeweiligen Population. So wurden etwa von dem zahlenmäßig begrenzten Personenkreis der mit Verkehrssachen betrauten Richter und Anklagevertreter in den Regionenen Mannheim und Fulda alle und in Berlin ein Großteil einbezogen. Bei der Auswahl von Polizeibeamten wurde darauf geachtet, daß ein Querschnitt sowohl in Bezug auf die örtliche Lage der Dienststelle (innerstädtisches, ländliches Gebiet, Stadtrand) als auch nach der fachlichen Spezialisierung einbezogen wurde. Uber solche Vorstrukturierungen hinaus wurden für die Konstruktion der Stichpoben Zufallsverfahren angewandt. Bezogen auf den jeweiligen Erfahrungs- und Wissenshintergrund der befragten Personengruppen wurden durchgängig folgende thematischen Schwerpunkte gesetzt: - Einschätzung der Gründe für Verstöße gegen § 142 StGB - Wahrnehmung und Beurteilung der jeweils anderen Gruppen - Vorstellungen dazu, wie eine Verringerung der Fluchtrate bzw. eine Verbesserung des Opferschutzes zu erreichen sei. Ergebnis dieser Befragung ist ein in praktischer und insbesondere beruflicher Erfahrung begründeter Katalog von Vorschlägen und Maßnahmen mit dem Ziel einer Verringerung der Zahl von Fluchtfällen sowie eine Abschätzung der Auswirkungen und Folgen im Falle ihrer Implementation. Aus der »Insiderperspektive« von Betroffenen und Praktikern ergibt sich aller-

1985 betrugen die Einwohnerzahlen der Landgerichtsbezirke Fulda, M a n n heim und Berlin: 314.200, 495.000, 1.854.500 (Quelle: Handbuch der Justiz).

2. Die Untersuchungsteile

21

dings keine umfassende vorausschauende Beurteilung der Möglichkeiten zur Senkung der Unfallfluchtrate. Für die Betroffenen (Geschädigte und Verurteilte) läßt sich dies daran verdeutlichen, daß von ihnen keine Vorwegnahme künftigen Handelns im Lichte einer veränderten Norm erwartet werden kann. Die Frage, »Wie würden Sie sich verhalten, wenn die Rechtsvorschrift in folgender Weise modifiziert wäre?« läßt sich aus ihrer Perspektive nicht beantworten, da zum einen die Norm zu einer unbekannten Größe wird, über die nicht mehr auf der Basis eigener Erfahrungen geurteilt werden kann; zum anderen hängt mögliches zukünftiges Verhalten von Umständen und Gegebenheiten ab, die nicht antizipiert werden können. Die Antworten dieser Personen dürften zudem durch ihre aktuelle Betroffenheit beeinflußt sein. Schließlich unterliegen zu einem bestimmten Zeitpunkt geäußerte Handlungsabsichten einem ständigen Anderungs- und Beeinflussungsprozeß. Bei den aus beruflichen Gründen mit dem Problem Unfallflucht befaßten Gruppen läßt sich eine prognostische Kompetenz zwar insoweit eher annehmen, als diese Personen nicht aus der persönlichen, interessengebundenen Haltung von Betroffenen zu argumentieren brauchen. Sie beschränken sich in der Regel nicht auf einzelne Fälle und sind in der Lage, verallgemeinernde und vergleichende Beurteilungen vorzunehmen. Dennoch ist zu erwarten, daß auch diese Personen die Auswirkungen bestimmter Maßnahmen nur begrenzt voraussehen können, da der Bezugsrahmen ihrer Bewertungen durch spezialisierte berufliche Rollen und Aufgaben und dadurch bedingte spezifische Handlungsweisen und Erfahrungen geprägt ist. Daneben spielen generalisierte berufliche Orientierungen bzw. Gruppeninteressen eine Rolle. Hierbei handelt es sich gewissermaßen um Metaorientierungen, die nicht auf eine unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Problem »Unfallflucht« zurückzuführen sind, sondern allgemeine oder symbolische Ziele widerspiegeln 9 . 9

Beispielsweise dürfte bei Polizeibeamten das latente Interesse, durch eine eventuelle Rechtsreform keine Arbeitsmehrbelastung zu erfahren, von Einfluß auf die Beurteilung bestimmter Maßnahmen sein (zur generellen Bedeutung behördeninterner Handlungsnormen s. Eisenberg 1985 § 40).

22

I. Fragestellung und Methoden der Untersuchung

2.3. Befragung von Experten Zusätzlich zu den unter 3.2. genannten Gruppen wurde in einem weiteren Untersuchungsteil ein Kreis von Fachleuten befragt, deren Kompetenz zu dem Thema Unfallflucht nicht (überwiegend) auf beruflicher Tätigkeit innerhalb des Rechtsanwendungssystems oder im Rahmen der Strafverfolgung beruht. Die Befragung wurde in Anlehnung an das sogenannte »Delphi-Verfahren« durchgeführt10. Die Fragestellung der Untersuchung ist zu begrenzt und spezifisch, als daß es hierfür eine »zuständige« Disziplin oder auch nur einen problembezogenen, etablierten Forschungsbereich gäbe. Die Kompetenz der befragten Fachleute beruht daher auf Kenntnissen in Gebieten, die in einem weiter gefaßten Bezug zu Forschungsgegenstand und -methodik stehen. Solche Personen sind insbesondere: - Profilierte Vertreter von Wissensgebieten, die den Problembereich als spezielle Fragestellung einschließen (Verkehrswissenschaft, Kriminologie, Rechtswissenschaft) oder zu Teilgebieten - beispielsweise dem Verhalten von Verkehrsteilnehmern Stellung beziehen können (Psychologie). - Fachleute aus Arbeitsgebieten, die eine Beschäftigung oder Auseinandersetzung mit dem Problem »Unfallflucht« erfordern (Gutachter bei Technischen Uberwachungsvereinen, Verkehrsjournalisten, Versicherungsfachleute usw.). Diese Personen verfügen über spezifische, in ihrer beruflichen Praxis gewonnene Sichtweisen, ohne jedoch in fallbezogenes Geschehen eingebunden zu sein. Mithin können sie vermutlich leichter als die befragten Praktiker Implikationen des Problems erkennen und einzelne Lösungsvorschläge reflektieren. - Experten aus den Gebieten Planung, Prognose, Verhaltensund Entscheidungsforschung. Die Kompetenz, in komplexen Zusammenhängen zu denken und unterschiedliche Aspekte systematisch zu verbinden, steht bei diesen Personen im Vordergrund11. 10 11

Hierzu siehe IV. 6.1. D a s Delphi-Verfahren schreibt keine (Mindest-)zahl von Personen vor, die

2. Die Untersuchungsteile

23

Durch die Befragung eines Experten-Panels sollte eine Vielzahl unterschiedlicher Kompetenzen und Wissenshintergründe in die Untersuchung einbezogen werden. Die Erschließung dieser Kompetenzbereiche für das Untersuchungsproblem geschah mit Hilfe einer strukturierenden Gruppenbefragungstechnik, die es erleichtert, vermittels Abstraktion, Analogisierung oder Problemverfremdung, spezifische Wissens- und Erfahrungsbestände auf begrenzte Problemzusammenhänge zu beziehen. Bei der Befragung der Experten ging es nicht um die Voraussage einer bestimmten künftigen Entwicklung, sondern um die Eingrenzung eines Lösungsraums mit Hilfe alternativer Modelle, die sich unter dem vorgegebenen Ziel »Senkung der Unfallfluchtrate« bewerten lassen. 2.4. Untersuchung der Situation in den Niederlanden und im Vereinigtem Königreich In den Niederlanden und im Vereinigten Königreich bestehen rechtliche Regelungen für Verkehrsunfallflucht, die dem in der Bundesrepublik diskutierten Vorschlag, eine 24-stündige Frist für einen strafbefreienden Rücktritt zu schaffen, teilweise entsprechen. Zudem herrscht in beiden Ländern eine vergleichbare Verkehrssituation. In beiden Ländern wurden Expertenbefragungen zum Problembereich Unfallflucht durchgeführt. Dabei wurde kein umfassender Vergleich angestrebt. In Erfahrung gebracht werden sollte vor allem die praktische Bedeutung der jeweiligen Regelungsstruktur. Die Befragungen hatten explorativen Charakter. In offenen Interviews wurden insbesondere die Themen Rechtliche Normierung von Unfallflucht, Ausmaß des Delikts, öffentliche Wahrnehmung und Diskussion, konstitutive Faktoren des Problemfeldes angesprochen. Die Gespräche wurden nach Abschluß der Erhebungen in der Bundesrepublik durchgeführt.

in die Befragung einzubeziehen sind. Im vorliegenden Fall ergab sich die Teil nehmerzahl aus der Überlegung, daß alle genannten Kompetenzbereiche aus reichend - durch jeweils mehrere Experten - vertreten sein sollten.

24

I. Fragestellung und Methoden der Untersuchung

Dies begründet sich zum einen mit der Erwartung, daß aus den Interviews zusätzliche Ansatzpunkte für eine Bewertung der Situation in der Bundesrepublik folgen könnten, zum anderen mit der Überlegung, daß ein rein formaler Vergleich der Situation in den drei Ländern für die zu untersuchende Fragestellung unergiebig bleiben muß. Insofern war es erforderlich, die Gespräche im Ausland auf dem Hintergrund eines erweiterten Erkenntnisstandes über die in der Bundesrepublik relevanten, konstitutiven Faktoren des Problemfeldes zu führen.

II. Der kriminologische Wissensstand Die Zahl empirischer kriminologischer Untersuchungen des Phänomens Unfallflucht steht gegenüber derjenigen juristischer und kriminalpolitischer Abhandlungen zu diesem Themenbereich weit zurück. Dies überrascht, da in Deutschland seit 1906 gesetzlich fixierte Anforderungen an das Verhalten von Beteiligten an Verkehrsunfällen gelten. Bereits 1906 wurden 381 Fälle von Unfallflucht registriert, was einer Fluchtquote von fast 17% entsprach 1 . Nach Einführung der Kennzeichnungspflicht für Kraftfahrzeuge und der Kriminalisierung von Unfallflucht 2 sank diese Q u o t e zwar auf rund 5% 3 , jedoch wurden 1914 bereits 47, 1925 220 und 1935 682 Verurteilungen wegen Unfallflucht registriert4. Mit der allgemeinen Motorisierung in den 50er und 60er Jahren ist die entsprechende Zahl zumindest für die Bundesrepublik sprunghaft angestiegen. 1985 z.B. kam es zu rund 41.000 Verurteilungen wegen Verstoßes gegen § 142 StGB 5 . Die Zahl der Fälle von Unfallflucht wurde für 1986 auf 350.000 geschätzt 6 . Es handelt sich somit beim unerlaubten Entfernen vom Unfallort um ein Massendelikt. Bedenkt man, daß bei diesem Delikt der Zahl der »Opfer« eine annähernd gleichgroße Zahl von »Tätern« gegenübersteht, dürften jährlich über eine halbe Million bundesdeutscher Kraftfahrer mit dem Tatbestand Unfallflucht konfrontiert sein.

1

2 3 4 5 6

Wulffen, E. (1908): Psychologie des Verbrechers, Bd. 2, Groß-LichterfeldeOst, S. 469. Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen vom 3.5.1909. Küper, O . (1964): Die Flucht nach einem Verkehrsunfall, Hamburg, S. 3 f. Bär-Hauser S. 148 (2). StatJB 1987, S. 348 Tab. 15.9. Gaede in »Die Zeit« v. 9.1.87.

26

II. Der kriminologische Wissensstand

Die geringe Zahl kriminologischer Arbeiten überrascht auch auf dem Hintergrund der sowohl in der Öffentlichkeit als auch der wissenschaftlichen Diskussion verbreiteten Annahme, es handle sich hierbei um ein Delikt mit erheblichem kriminellen Gehalt. Zu finden sind beispielsweise Negativwertungen wie die Kategorisierung der Unfallflucht als »eines der verwerflichsten« Delikte oder als »Beweis für eine niedrige und gemeine Gesinnung« 7 . Folge und Ausdruck hiervon dürfte nicht zuletzt die seit 1909 zu beobachtende Verschärfung der Sanktionsandrohung bei Unfallflucht sein. Gründe für die geringe Zahl kriminologischer Arbeiten auf diesem Gebiet liegen unter anderem in der Schwierigkeit, für Analysen dieser Art geeignetes empirisches Material zu finden.

1. Systematische Mängel des vorhandenen statistischen Materials Die kriminologische Untersuchung des Phänomens Unfallflucht wird grundsätzlich dadurch erschwert, daß Straßenverkehrsdelikte seit 1963 nicht mehr in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfaßt werden. Dieses Defizit kann durch spezielle polizeiliche Statistiken nur unzureichend ausgeglichen werden, da eine zentrale Verwaltung und Aufarbeitung etwa der Jahresberichte aus den einzelnen Polizeidienststellen nicht erfolgt. Sie können daher allenfalls unter erheblichem Arbeitsaufwand für Analysen des regionalen Unfallgeschehens eingesetzt werden8. Der Wert anderer statistischer Quellen ist durch eine Reihe von generell für solche Datenquellen typischen Mängeln, aber auch Besonderheiten bei der statistischen Erfassung von Unfallflucht ebenfalls erheblich eingeschränkt.

7 8

Bergermann S. 16. Etwa Bär-Hauser f ü r den Bereich des Polizeipräsidiums München (S. 189 ff.).

27

1. Systematische Mängel des vorhandenen statistischen Materials

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28

II. D e r kriminologische Wissensstand

Bundes- und Länderstatistiken, insbesondere Verkehrsunfallstatistiken sind Zahlen zu dem Bestand an Kraftfahrzeugen, zu Straßenverkehrsunfällen und den Folgen sowie zur Flucht nach Verkehrsunfällen mit Personenschaden oder Sachschaden von mindestens 1.000,— DM bzw. ab 1983 von mindestens 3.000,— DM bei einem Beteiligten zu entnehmen. Da jedoch ein erheblicher Teil der Verkehrsunfälle nicht in diese Kategorien fällt (1987 immerhin 70,3% der polizeilich erfaßten Unfälle9), können aus diesen Statistiken die quantitativen Konturen des Phänomens Unfallflucht nur ungenau abgelesen werden. Darüber hinaus besteht ein Dunkelfeld sowohl in Bezug auf die Zahl der Unfälle10 als auch die Fälle von Unfallflucht11. Da die Dunkelfelder sich nicht symmetrisch zueinander verhalten Unfälle werden tendenziell gerade dann nicht der Polizei gemeldet, wenn der Geschädigte seinen zivilrechtlichen Anspruch realisieren kann - ,folgt daraus eine erhebliche Ungenauigkeit bei der Berechnung der Inzidenzrate von Unfallflucht unter Zugrundelegung dieser Zahlen. Ebenfalls unbekannt ist das Ausmaß falscher Anzeigen, z.B. um aus versicherungsrechtlichen Gründen die Selbstverursachung des Schadens zu verbergen12. Rechtspflegestatistiken erlauben ebenfalls keine umfassenden und insbesondere vergleichenden Analysen, weil - wie bei anderen Delikten auch - die Polizei nur einen Teil der angezeigten Fälle aufklären kann13. Hinzu kommt, daß sich die Zahl der ' S.Tab. II/l. Bei geringen Sachschäden wird der Polizei nur ein Teil der Unfälle gemeldet. 11 Gründe für das Unterlassen von Anzeigen entsprechen den Befunden bezüglich Delikten Allgemeiner Kriminalität (vgl. Eisenberg § 26 R n 12 f.). Es k ö n nen bespielsweise folgende sein: Eine Anzeige erscheint sinnlos, da sie kaum erfolgversprechend ist; der Schaden ist gering; der Schaden wird nicht sofort bemerkt; der Geschädigte zieht eine Nichtmeldung vor, da eigene Alkoholisierung, Fahrverbot, Fahruntüchtigkeit des Fahrzeugs usw. einen Kontakt mit der Polizei als unklug erscheinen lassen. 12 Zur generellen Problematik von Falschanzeigen vgl. Eisenberg, § 45 R n 2, 49. S. auch Kap. IV.4. 13 Die Q u o t e liegt durchschnittlich bei 5 0 % bis 6 0 % (Bär-Hauser, S. 151 (2)). Mit der Schwere der Unfallfolgen steigt diese Q u o t e allerdings an und kann bei Unfällen mit Getöteten 1 0 0 % erreichen. Folge dieser Asymmetrie ist, daß polizeilich ermittelte Unfallflüchtige bereits eine - zumindest auf die U n 10

1. Systematische Mängel des vorhandenen statistischen Materials

29

aufgeklärten Fälle nicht mit der Zahl der ermittelten Tatverdächtigen deckt 14 , und ferner, daß eine erhebliche Differenz zwischen den Zahlen der Abgeurteilten und der Verurteilten besteht (1984: 76,2%) 15 . Zwischen den Ebenen »polizeiliche Registrierung von Verkehrsunfallfluchtfällen« und »Verurteilungen gemäß § 142 StGB« findet somit eine zwar erhebliche, aber im einzelnen nicht bestimmbare Selektion statt. Bei der Interpretation der in der Rechtspflegestatistik ausgewiesenen Zahlen ist weiter zu beachten, daß bei Straftaten, die in Tateinheit und in Tatmehrheit begangen wurden, nur dann eine Eintragung wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort erfolgt, wenn es sich dabei um die Tat handelt, die nach dem Gesetz mit der schwersten Strafe bedroht ist16. Bei Unfällen mit Personenschaden ist dies z. B. regelmäßig nicht der Fall. Verschiedene kriminologische Untersuchungen des Phänomens »unerlaubtes Entfernen vom Unfallort« beruhen auf eigens erhobenem empirischen Material, für das zum Teil die oben aufgelisteten Mängel nicht gelten. Dagegen können diesen Arbeiten weder Anhaltspunkte über die aktuelle noch die überregionale Entwicklung dieses Delikts entnommen werden. Zudem erschweren systematische Unterschiede dieser Untersuchungen 17 eine vergleichende Interpretation.

14

15 16 17

fallfolgen bezogene - Selektion darstellen. Nach Heublein 1986 (S. 161) lag in Nürnberg die Aufklärungsquote für die Jahre 1977 - 83 bei durchschnittlich 46,2%. 1985 sei diese auf rd. 40% gesunken, u.a. deshalb weil die lokalen Zeitungen nur noch von Fällen mit mehr als 1.500 D M Sachschaden berichteten. Ein Fall gilt als aufgeklärt, wenn das Tatwerkzeug ermittelt wurde. Insbesondere bei Firmen und Dienstfahrzeugen muß dies nicht heißen, daß ein Tatverdächtiger feststeht. S.Tab. I I / l . S. dazu Eisenberg, § 17 Rn 17. Insbesondere Unterschiede hinsichtlich der Datenquellen und Analyseebenen; Brettel u.a. stützten beispielsweise ihre Untersuchung auf Polizeiakten, Bergermann wertete dagegen Gerichtsakten über bereits abgeurteilte Täter aus.

30

II. Der kriminologische Wissensstand

2. Quantitative Konturen des Delikts Unfallflucht Der Versuch, das Phänomen quantitativ zu umreißen, muß aus den unter II. 1. angeführten Gründen mit Vorsicht erfolgen und kann im Ergebnis nur eine Annäherung auf der Grundlage heterogener Datenquellen sein. a) Die Gegenüberstellung von Unfall- und Rechtspflegestatistiken (s. Tab. II/l) zeigt, daß ich seit den 70er Jahren weder bei den Unfall-, noch den Abgeurteilten- bzw. Verurteiltenzahlen die dramatische Entwicklung der vorangegangenen Dekaden fortgesetzt hat. Die Zahl der Unfälle ohne Personenschaden ist relativ stärker gestiegen. Die Zahl der jährlichen Ab- bzw. Verurteilungen gemäß § 142 StGB scheint seit den späten 70er Jahren bei leicht rückläufiger Tendenz vergleichsweise konstant geblieben zu sein. Bezieht man die Verurteiltenzahl auf die Zahl der Unfälle, ergibt sich ebenfalls eine relativ konstante Häufigkeitszahl: Auf 1.000 polizeilich registrierte Sachschadensunfälle kommen etwa 30 Verurteilungen wegen Unfallflucht 18 . Dieses Ergebnis ist nur bedingt durch eine Abnahme des relativen Anteils von Verurteilungen an Aburteilungen zu erklären. Zumindest seit den 80er Jahren scheint sich auch hier ein relativ stabiler Wert eingestellt zu haben. b) Aus den Straßenverkehrsunfallstatistiken (s. Tab. II/2 u. II/3) ergibt sich - allerdings beschränkt auf Unfälle mit erheblichem Sach- oder Personenschaden - folgendes Bild: - Erwartungsgemäß liegen die hier berechneten Inzidenzraten erheblich über vergleichbaren Raten, denen Verurteiltenzahlen zugrundeliegen. 1986 kam es etwa bei 11 von 100 Unfällen mit erheblichem Sach- und/oder Personenschaden zur Unfall18

Da die Rechtspflegestatistik bei Straftaten, die in Tateinheit oder Tatmehrheit begangen wurden, nur diejenige erfaßt, die nach dem Gesetz mit der schwersten Strafe bedroht ist, muß davon ausgegangen werden, daß sich die in dieser Statistik ausgewiesenen Zahlen über Verurteilungen gemäß § 142 StGB ganz überwiegend auf unerlaubtes Entfernen vom Unfallort nach Unfällen ohne Personen schaden beziehen.

2. Quantitative K o n t u r e n des Delikts U n f a l l f l u c h t H ä u f i g k e i t s r a t e n v o n Unfallflucht unter d e l e g u n g der Zahl der Unfallbeteiligten* Jahr

alle polizeilich erfaßten Unfälle

erheblicher Sachschaden

31 Zugrun'

(auch) Personenschaden

1976 1978 1980

6,5% 6,7% 7,6%

9,4% 9,1% 10,0%

4,1% 4,1% 4,5%

1981 1982 1 983 1984 1985 1986

7,9% 7,8% 5,6% 5,5% 5,7% 5,6%

10,3% 10,2% 7,3% 7,1% 7,2% 7,1%

4,6% 4,5% 4,5% 4,5% 4,5% 4,4%

(Tabelle 11/2) H ä u f i g k e i t s r a t e n v o n Unfallflucht d e l e g u n g der Zahl der Unfälle* Jahr

unter

Zugrun

alle polizeilich

erheblicher

erfaßten Unfälle

Sachschaden**

(auch) Personenschaden

1976 1978 1980

12,6% 13,1% 14,8%

18,5% 18,0% 19,8%

7,8% 7,9% 8,7%

1981 1982 1983 1984 1985 1986

15,4% 15,1% 10,8% 10,9% 11,1% 11,0%

20,3% 20,1% 14,5% 14,3% 14,4% 14,3%

8,7% 8,6% 8,5% 8,6% 8,7% 8,6%

(Tabelle 11/3)

Berechnet nach : Statistische Jahrbücher, Bundesrepublik Deutschland; Bär-Hauser S. 187 ff. Bis 1982 Ober 1 OOO DM, seitdem Ober 3 000 DM bei einem Unfallbeteiligten

32

II. Der kriminologische Wissensstand

flucht.Die relative Häufigkeit von Verstößen gegen § 142 StGB scheint jedoch - unabhängig von den Unfallfolgen - in dem untersuchten Zeitraum relativ konstant geblieben zu sein. - Flucht nach Unfällen mit Personenschaden ist vergleichsweise selten. Nach den hier analysierten Zahlen muß mit 8 bis 9 Verstößen gegen § 142 StGB auf 100 Unfälle mit Personenschaden gerechnet werden 19 . Hierbei dürfte es sich um einen vergleichsweise zuverlässigen Wert handeln, da bei dieser Unfallart nur ein verhältnismäßig kleines Dunkelfeld zu vermuten ist20. - Anders verhält es sich bei Unfällen ohne Personenschaden. Tabellen II/2 und II/3 verdeutlichen, daß die aus den offiziellen Daten zu errechnenden Fluchtquoten erheblich von der Schadensgrenze abhängen, unterhalb derer Unfälle und Verstöße gegen §142 StGB statistisch nicht erfaßt werden. Liegt der Schnittpunkt bei 3.000,— DM, kann nach den hier analysierten Daten von einer Quote von 14 bis 15 Verstößen gegen § 142 StGB auf 100 Verkehrsunfälle ausgegangen werden. c) Eine allgemeine Inzidenzrate für Verstöße gegen § 142 StGB läßt sich auf der Grundlage veröffentlichter Statistiken mit Hilfe einer Modellrechnung nur ungenau bestimmen. Tabelle II/4 sind Zahlen und Raten für Unfälle mit Personenschaden und Sachschaden von über 3.000,— DM bei einem Beteiligten für das Jahr 1984 zu entnehmen. Unbekannt ist die Zahl der Fluchtfälle nach Unfällen mit geringerem Sachschaden. Würde man für diese die gleiche Fluchtquote wie bei Unfällen mit erheblichem Sachschaden annehmen (14,1%), müßte man zu den bereits registrierten Fluchtfällen noch 166.820 Fälle hinzuzählen. Die Gesamtquote läge dann bei 12,9%. Bei Unfällen mit geringem Sachschaden ist jedoch eine erhöhte Fluchtrate anzu19

20

Noch geringer sind die hierin enthaltenen Fluchtquoten bei Unfällen mit Getöteten. Sie liegen relativ konstant bei etwas über 3 % . Bei Personenschaden ist die polizeiliche Meldung eines Unfalls obligatorisch; O p f e r von Verkehrsunfällen mit Unfallflucht werden bei Verletzung den Vorfall nur selten bagatellisieren und nicht zur Anzeige bringen.

2. Quantitative K o n t u r e n des Delikts U n f a l l f l u c h t

33

nehmen. Legt man beispielsweise die Quote bei Sachschadensunfällen aus dem Jahr 1982 zugrunde (20,1%) - dem letzten Jahr bei dem der Schnittpunkt zwischen leichtem und erheblichem Sachschaden bei 1.000,— DM angesetzt wurde - , so sind der bekannten Zahl 237.800 Fälle von Unfallflucht hinzuzählen, woraus sich eine Gesamtrate von etwa 17 Verstößen gegen 142 StGB auf 100 Verkehrsunfälle errechnet. Häufigkeit

von

Unfallflucht

1984*

Zahl der polizeilich registrierten Unfälle

Zahl der polizeilich registrierten Fluchtfälle

Häufigkeitsraten

Personenschaden darunter: - Getötete - Schwerverletzte - Leichtverletzte Sachschaden darunter:

359 487

30 596

8,5%

9 304 110 890 239 293

296 5 416 24 884

3,2% 4,9% 10,4% ?

- bis 3 000 DM** - über 3 000 DM

1 183 125 238 208

Unfallfolgen

(Tabelle

?

?

?

?

33 623

14,1%

II/4)

Zahlen der Verkehrsunfallstatistik nach Brühning/Schmid S. 110 Statistisches Jahrbuch, Bundesrepublik Deutschland

Die so erhaltene Gesamtzahl von ca. 302.000 Verstößen gegen §142 StGB bezieht sich freilich nur auf die registrierten Fälle. Hinzuzuzählen wäre das Dunkelfeld, das bei geringem Sachschaden möglicherweise erheblich sein könnte. Schätzungen hierzu sind jedoch widersprüchlich. So gelangen Schwind u.a. in ihrer Göttinger Dunkelfelduntersuchung (S. 191 ff.) zu einem Verhält-

34

II. Der kriminologische Wissensstand

nis von 32 nicht angezeigten Fällen auf einen angezeigten Fall 21 . Ruck (S. 167) und Geppert (S. 159) erachten ein Dunkelfeld von 1 zu 10 als realistisch, woraus sich die außergewöhnlich hohe Zahl von jährlich rund 3 Millionen Fahrerfluchtfällen errechnen würde. Brühning/ Schmid (S. 109) gehen dagegen von einer geringen Dunkelziffer aus, da der Geschädigte in aller Regel ein Interesse daran habe, die Polizei einzuschalten; zudem seien von der Zahl der registrierten Delikte solche Fälle abzuziehen, bei denen »Unfallflucht« bloße Schutzbehauptung sei, um von der eigenen Verantwortung für einen Schaden abzulenken. d) Veröffentlichten Statistiken ist eine zuverlässige Häufigkeitsrate von Verstößen gegen § 142 StGB nicht zu entnehmen. Zusätzliche Anhaltspunkte für die quantitativen Umrisse des Delikts ergeben sich jedoch aus Untersuchungen einzelner Regionen. A. Kaiser (S. 48) nennt für Nordrhein-Westfalen folgende Fluchtraten für das Jahr 1957: Unfälle mit Getöteten 2,8%, mit Schwerverletzten 3,7%, mit Leichtverletzten 6,3%, mit Sachschäden über 200 DM 6,9%, mit geringeren Sachschäden 8,6%. Nach Angaben des Innenministeriums wurden 1987 in Nordrhein-Westfalen 84.000 Unfallfluchten registriert22. Dies entspricht einer Fluchtquote von 15,5%. G. Kaiser (S. 268) stellte Mitte der 60er Jahre für Stuttgart, eine Fluchtquote von 10% fest. Das Innenministerium von Baden-Württemberg teilte mit23, daß im gesamten Land etwa 48.200 Verstöße gegen § 142 StGB registriert wurden, von denen 93% reine Sachschadensunfälle betrafen. Die Fluchtrate lag bei 17,6%. Brettel u.a. (S. 138) errechneten auf der Basis einer Auswertung von Unterlagen der Frankfurter Polizei für die Jahre 1968/69 eine Rate von 14,3%. Brüssow (S. 250) bezifferte die Fluchtrate für Frankfurt für das Jahr 1986 mit 25,1%. 21

22 23

Allerdings scheinen hier Bagatellschäden einbezogen worden zu sein, die nicht notwendigerweise auf einen Verkehrsunfall zurückzuführen sind. Schreiben vom 16.2.1988. Schreiben vom 18.7.1988.

2. Quantitative Konturen des Delikts Unfallflucht

Häufigkeitsraten von Unfallflucht,

35

PP München

(berechnet nach Bär-Hauser S. 189ff.)

Jahr

1960

1970

1974

1978

1980

1981

1982

Rate

9,5%

13,7%

20,6%

23,7%

22,6%

23,2%

22,1%

Jahr

1983

1984

1985

Rate

20,0%

20,2%

20,1%

(Tabelle

II/5)

Der Arbeit von Bär-Hauser (S. 189 ff.) ist relativ detailliert die Entwicklung des Delikts für den Bereich des Polizeipräsidiums München zu entnehmen. Die in Tabelle II/5 ausgewiesenen Zahlen können - allerdings nur für den Bereich München gegenüber den veröffentlichten Statistiken als zuverlässiger angesehen werden, da sie der gleichen instanziellen Ebene entstammen (die Raten sind aus den polizeilich erfaßten Unfällen und Verstößen gegen § 142 S t G B errechnet). Zudem sind Unfälle mit geringem Sachschaden darin enthalten, sofern diese überhaupt der Polizei gemeldet wurden. Dieser Umstand kann auch erklären, weshalb die für München ausgewiesenen Raten über denen des Bundesgebietes liegen (vgl. Tabelle II/3). Der Anteil von Fluchtfällen ist mit ca. 20% hoch 24 , allerdings ist er relativ stabil und hat gegenüber der Fluchtrate der Jahre 1976 - 1982 sogar abgenommen.

24

D a bei den hier zugrundegelegten Zahlen die relativ seltener vorkommende Flucht nach Unfällen mit Personenschaden eingeschlossen ist, muß die Inzidenzrate von Unfallflucht nach bloßem Sachschaden als noch höher vermutet werden.

36

II. Der kriminologische Wissensstand

e) Bei allen Mängeln und Beschränkungen des hier interpretierten Zahlenmaterials läßt sich zusammenfassend zweierlei feststellen: Verstöße gegen § 142 StGB sind insbesondere bei Verkehrsunfällen ohne Personenschaden häufig; eine allgemeine Zunahme dieses Delikts zeichnet sich jedoch zumindest für die 80er Jahre nicht ab25. Dies steht in Widerspruch zu der in der Literatur verbreiteten Ansicht, rechtswidriges Verhalten nach Verkehrsunfällen habe gegenüber normgerechtem zugenommen 26 . Zwar hat sich der Anstieg der Zahl von Fluchtfällen nicht proportional zum Anstieg der Zahl zugelassener Kraftfahrzeuge und der Verkehrsunfälle entwickelt (so ist zwischen 1965 und 1980 die Zahl der Kraftfahrzeuge um 122,9% und die der Verkehrsunfälle insgesamt um 53,2% dagegen die der Geflüchteten nach Unfällen mit Personenschaden um 128,3% und nach Unfällen mit Sachschaden von 1.000,— DM und mehr um 691,4%, gestiegen), indes beschreiben diese Ergebnisse lediglich Entwicklungen in Relation zu einem beliebigen Bezugspunkt - hier 1965 - und sind deshalb zu relativieren. Leichter interpretierbare Größen etwa die Häufigkeitsrate von Verurteilungen gemäß § 142 StGB oder der Anteil von Fluchtfällen an den polizeilich registierten Unfällen, haben sich dagegen nach einem rapiden Ansteigen in den 50er und 60er Jahren seit Mitte der 70er Jahre auf einem hohem Niveau eingependelt.

3. Ergebnisse kriminologischer Untersuchungen Kriminologische Untersuchungen des Phänomens »unerlaubtes Entfernem vom Unfallort« setzen zumeist an zwei unterschiedlichen Ebenen an.

25

26

Dessen ungeachtet können sich in einzelnen Regionen andere Entwicklungen ergeben. Bär-Hauser (S. 149) sprechen beispielsweise in diesem Zusammenhang von einem »stetigen Ansteigen«. Anders aber Geppert 1986, Brühning/Schmid 1987.

3. Ergebnisse kriminologischer Untersuchungen

37

- Zum einen werden Strukturmerkmale des Unfallgeschehens untersucht, d. h. die situativen Bedingungen werden daraufhin überprüft, ob sie Unfallflucht begünstigen oder im entgegengesetzten Fall weniger wahrscheinlich machen. Zwar ist dies eine indirekte Methode, da von den Umständen auf das zu untersuchende Verhalten geschlossen wird, sie hat jedoch den Vorteil, daß entsprechende Daten unabhängig davon vorhanden sind, ob ein Tatverdächtiger polizeilich ermittelt und vernommen wurde oder nicht. - Zum anderen beziehen sich die Untersuchungen auf Angaben zur Person des Unfallflüchtigen. Diese erscheinen leichter interpretierbar, da sie der generellen Vorstellung entsprechen, wonach weniger situative Faktoren als vielmehr Persönlichkeitsmerkmale bedeutsam für das Handeln und Verhalten von Individuen - wie auch für die Interpretation der situativen Umstände seien. Diese unterschiedliche Vorgehensweise hat nicht allein methodische Implikationen. In der kriminalpolitischen Debatte um die Reform des § 142 StGB werden nämlich je nach Position tendenziell Befunde der strukturellen bzw. der persönlichkeitsbezogenen Analyse herausgestellt. 3.1. Strukturmerkmale des Unfallgeschehens a)

Unfallfolgen

Tabelle II/4 ist zu entnehmen, daß die Wahrscheinlichkeit, mit der sich ein Unfallbeteiligter unerlaubterweise vom Unfallort entfernt, mit den Unfallfolgen korreliert (siehe auch Bild II/l). Es kann davon ausgegangen werden, daß die Häufigkeitsrate des Delikts mit der Schwere der Unfallfolgen abnimmt. Am niedrigsten ist diese Rate bei Unfällen mit Getöteten (ca. 3%), am höchsten bei Unfällen mit geringem Sachschaden (über 20%) 27 . Etwa 27

Vgl. G. Kaiser S. 283; Bergermann S. 166. Bär-Hauser 1986 (S. 189 ff.) errechneten für München 1976/77 eine fast fünfmal so hohe Fluchtquote nach Unfällen ohne Personenschaden (5,9% zu

38

II. D e r kriminologische Wissensstand

90% aller Verstöße gegen § 142 StGB geschehen nach reinen Sachschadensunfällen28. b) Unfallart Ein Zusammenhang zwischen Unfallart und Fluchtwahrscheinlichkeit ist anzunehmen. Generelle Unterschiede können hier zwischen Unfällen mit und ohne Personenschaden vermutet werden. Aufgrund des hohen Anteils der Verstöße gegen § 142 StGB nach Unfällen mit Sachschaden dominieren diese jedoch in der Mehrzahl der vorliegenden Befunde das Bild. G. Kaiser (S. 270) geht davon aus, daß sich etwa die Hälfte aller Fluchtfälle nach Unfällen ereignet, bei denen der Täter auf ein stehendes Fahrzeug oder einen Gegenstand aufgefahren ist. Pieper (S. 43) präzisiert dies für Frankfurt (1964/65), wonach sich 66,1% der Verstöße gegen § 142 StGB nach Unfällen dieser Art ereigneten. Bär-Hauser (S. 189 ff.) stellen für München (1976/77) fest, daß 61,3% der Delikte nach Unfällen im ruhenden Verkehr begangen wurden, 14,3% nach Zusammenstößen mit anderen Objekten und nur 24,4% nach Unfällen im fließenden Verkehr. In rund 75% der Fälle waren Kraftfahrzeuge und in 12% Verkehrseinrichtungen beschädigt worden, in 10% waren der Flucht sonstige Sachbeschädigungen vorausgegangen. In der überwiegenden Zahl der Fälle (87,5%) waren Personen, die gegen § 142 StGB verstießen, mit Pkws am Unfallgeschehen beteiligt29. Nach den Zahlen der Straßenverkehrsunfallstatistiken 1984 (Brühning/Schmid, S. 112 f.) ist bei Unfällen mit schweren Sach-

28

29

2 8 , 2 % ) . Von diesen lag bei etwa 4 5 % der Schaden zwischen 200,— und 1 . 0 0 0 , - D M , bei rund 2 0 % unter 2 0 0 , - D M . Allerdings ist bei Angaben dieser Art zu beachten, daß die Schadenshöhe keine stabile Vergleichsgröße darstellt. Vgl. II. 2. Dieser Anteil dürfte in Ballungsgebieten noch höher sein. BäarHauser (S. 191) nennen z.B. für München einen Wert von 9 3 , 8 % . Bundesstatistiken (1979) weisen hierfür nur einen Anteil von 7 1 , 0 % aus (Lkw, Bus 7 , 2 % ; motorisierte Zweiräder 2 , 6 % ) , (berechnet nach Daten des Stat. Bundesamtes, zit. in Bär-Hauser, S. 188 (2)). Allerdings fehlen dabei Fälle mit Sachschaden von unter 1.000,— D M .

3. Ergebnisse kriminologischer Untersuchungen

Bild 11/3 Bild 11/1: Entwicklung der Häufigkeitsraten von Unfallflucht Bild 11/2: Unfsllfucht nach Wochentagen Bild 11/3: nach Tagesstunden Unfallflucht (aus Brühning/Schmid S. I I I ) i i i i i i iii

i i i ii i 20

22

24

39

40

II. Der kriminologische Wissensstand

Schäden (über 3.000,— D M ) mit einer besonders hohen Fluchtrate zu rechnen, wenn sich diese im ruhenden Verkehr ereigneten (35,8%). Bei Unfällen mit Personenschaden ist dagegen dieser Anteil bei »Zusammenstößen im Längsverkehr« am höchsten (13,1%). Wenn allein schwerer Sachschaden vorlag, entfernten sich 1984 nach »Auffahren auf haltendes Fahrzeug« 33,5% unerlaubt vom Unfallort, 28,4% nach »Abkommen von Fahrbahn«, dagegen nur 5,4% nach »Auffahren auf fahrendes Fahrzeug« und 2,1% nach einem »Zusammenstoß mit Fahrzeug, das einbiegt oder kreuzt«. Es ist davon auszugehen, daß etwa 90% aller Fluchtfälle nach reinen Sachschadenunfällen erfolgen. Von diesen ereignen sich wiederum zwischen 75% und 90% im Anschluß an Unfälle, an denen fließender Verkehr nicht beteiligt war 30 . 67% bis 80% aller Verstöße gegen § 142 StGB geschehen demzufolge nach Unfällen, bei denen Personen nicht verletzt wurden und in der Regel kein Geschädigter bzw. »Berechtigter« am Unfallort war. c) Zeitpunkt des Unfalls Kriminologisch-empirische Untersuchungen stellen ausnahmslos einen Zusammenhang zwischen Fluchtwahrscheinlichkeit und Zeitpunkt des Unfalls fest. Entwickelt sich bei monatlicher Betrachtung die Verteilung der Verstöße gegen § 142 StGB nahezu parallel zu der der Verkehrsunfälle insgesamt 31 , so fällt eine relative Ü b e r h ö h u n g der Zahlen f ü r Unfallflucht an Wochenenden u n d in den Nachtstunden auf, was einerseits auf die dann herrschenden »besseren Möglichkeiten«, unerkannt zu entkommen, andererseits auf den höheren Anteil von Trunkenheitsfahrten zurückgeführt wird 32 .

30 31

32

Vgl. Scholz S. 8. Vgl. Bergermann S. 54; G. Kaiser S. 271; Bär-Hauser S. 157, allerdings wird dort für München ein leichtes Ansteigen der Fluchtquote in der »dunklen« Jahreshälfte festgestellt. Etwa Brettel u.a., S. 145. Langer stellte fest, daß 58,9% der von ihm untersuchten Alkoholdelikte im Straßenverkehr auf Wochenenden fallen. S. a. Brüssow S. 252.

3. Ergebnisse kriminologischer Untersuchungen

41

Bergermann (S. 58) fand, daß sich über 50% der von ihm untersuchten Fälle (Düsseldorf, 1961/62) freitags, samstags oder sonntags ereigneten. Staak/Mittmeyer (S. 316) replizierten dieses Ergebnis (Tübingen, Stuttgart, 1966 - 1970): 53,1% ihrer Fälle fielen auf diese Tage. Nach den Unterlagen der Münchener Polizei33 ist insbesondere an Freitagen (18,1% aller registrierten Delikte) und Samstagen mit erhöhten Fluchtraten zu rechnen. Die Daten der Straßenverkehrsunfallstatistiken (vgl. Bild II/2) weisen ebenfalls auf ein deutliches Ansteigen der Häufigkeit von Verstößen gegen § 142 StGB an Wochenenden 34 . Ahnlich einheitlich wird ein Anstieg der Fluchtraten in den Nachtstunden festgestellt. Staak/Mittmeyer (S. 316) nennen für 59,2% der von Ihnen untersuchten Fälle einen Begehungszeitpunkt zwischen 18 und 3 Uhr. Nach Müller 1968 (S. 139) wurden in dem Zeitraum zwischen 20 und 6 U h r nur 22,3% aller Unfälle, dagegen 45% bis 55% aller Fluchtfälle registriert. BärHauser (S. 170 (1)) legen für München 52,4% aller registrierten Fluchtfälle, dagegen nur 36,3% aller Unfälle in die Zeit zwischen 18 und 6 Uhr. Auch die Straßenverkehrsunfallstatistik zeigt - bei Unfällen mit schwerem Sachschaden wie auch mit Personenschaden - ein deutliches Ansteigen der Fluchtraten in den Nachtstunden (vgl. Bild 11/3). Die Spannbreite reicht bei den Sachschadenunfällen von unter 10% in den Mittagsstunden bis 35% zwischen 2 und 4 U h r nachts. d) Weitere

Strukturmerkmale

Brühning/Schmid untersuchten eine Reihe weiterer Merkmale35. Sie stellten unterschiedliche Anteile von Unfallflucht in den einzelnen Bundesländern fest (S. 110). Bei Unfällen mit Personenschaden lagen die Anteile zwischen 11,6% (Bremen) und 7,3% (Baden-Württemberg), bei Sachschaden zwischen 23,1% (Berlin) und 11,5% (Baden-Württemberg). Allerdings führen die Er53 54 55

Bär-HauserS. 189 ff. Brühning/Schmid S. 111. Da Unfälle mit Sachschaden unter 3.000,— D M nicht berücksichtigt wurden, sind diese Ergebnisse jedoch nur eingeschränkt aussagekräftig.

42

II. D e r k r i m i n o l o g i s c h e Wissensstand

gebnisse der von den Autoren durchgeführten multivariaten Analysen zu Zweifeln daran, ob die Variable Bundesland gegenüber anderen Faktoren einen eigenständigen Erklärungswert für unterschiedliche Fluchtquoten besitzt (aaO S. 115). Das gleiche gilt für die Variable Ortsgröße, wonach die bivariate Analyse insbesondere bei Sachschaden einen Anstieg der Fluchtrate mit zunehmender Ortsgröße zum Ergebnis hatte. Das Merkmal Lichtverhältnisse korrelierte ebenfalls mit der Fluchtrate. Allerdings dürfte dieses überwiegend die Variable Uhrzeit auf jahreszeitliche Schwankungen hin präzisieren. Eine Untergliederung nach der Zahl der Unfallbeteiligten bei Alleinunfällen bzw. Unfällen mit 2, 3, 4 und mehr Beteiligten (aaO. S. 112 ff.) macht Unterschiede im Anteil der Fluchtfälle deutlich. Danach scheint bei schwerem Sachschaden die Fluchthäufigkeit bei Alleinunfällen (26,1%) und bei Unfällen mit mehr als 3 Beteiligten (20,7%) hoch zu sein, bei Personenschaden dagegen relativ kontinuierlich mit der Zahl der Beteiligten von 6,5% auf 12,1% (mehr als 3 Beteiligte) anzuwachsen. 3.2. Tätermerkmale Soweit in der Literatur der Frage nachgegangen wird, ob zwischen persönlichkeitsbezogenen Variablen und dem Merkmal »Verstoß gegen § 142 StGB« Korrelationen vorstellbar sind oder nicht36, dient dies nicht allein dem Versuch, rechtswidriges Verhalten nach Unfällen zu erklären. Zumindest implizit hat dies auch Bedeutung für die Frage, ob Verkehrsunfallflucht mit einem aus der allgemeinen Population der Verkehrsteilnehmer ausgrenzbaren Täterkreis in Verbindung zu bringen ist. Daß nicht zuletzt an diese Einschätzung die Beurteilung der Chancen einer Reform des § 142 StGB geknüpft wird, bedarf keiner Ausführung. 36

D i e s e Variablen sind der allgemeinen K r i m i n o l o g i e e n t n o m m e n . A l l e r d i n g s ist i n s g e s a m t w e d e r inhaltlich m e t h o d i s c h noch theoretisch ausgewiesen, daß diese M e r k m a l e tatsächlich eine O p e r a t i o n a l i s i e r u n g solcher Persönlichkeitsoder S o z i a l s t r u k t u r e n darstellen, auf die rechtswidriges bzw. rechtstreues Verhalten nach Verkehrsunfällen z u r ü c k g e f ü h r t w e r d e n kann.

3. Ergebnisse kriminologischer Untersuchungen

43

3.2.1 Bezugsrahmen: Allgemeine demographische Variablen a) Geschlecht Kriminologische Untersuchungen nennen im allgemeinen einen Anteil von Frauen an den Verstößen gegen § 142 StGB, der ungefähr ihrem Anteil an den Verkehrsunfällen insgesamt entspricht37. Parallel zu einer gestiegenen Unfallbeteiligung ist seit den 50er Jahren daher eine drastische Zunahme der Belastung von Frauen mit diesem Delikt festzustellen: Der Anteil von Frauen an den gemäß § 142 StGB Verurteilten stieg von 4% bis 5% zwischen 1955 und 1965 auf 12,4% (1980) und 14,6% (1984)38. Brettel u.a. (S. 140) stellten einen leicht überproportionalen Anteil von Frauen fest (4,8% der untersuchten Unfälle wurden von Frauen verursacht, dagegen waren 7,7% der festgestellten Unfallflüchtigen weiblich). Nach Bär-Hauser (S. 192 ff.) waren 1976/77 bzw. 1978 14,3% bzw. 14,9% der in München registrierten Unfallflüchtigen weiblich. Damit waren Frauen leicht unterrepräsentiert. Als Grund für eine etwas erhöhte Fluchtrate bei Frauen wird genannt, daß sie relativ häufig nicht Fahrzeughalter seien und wegen des Unfalls Unannehmlichkeiten befürchteten. Gegenteilig mag sich eine geringere Rate von Trunkenheitsfahrten auswirken. b) Alter Die Häufigkeitszahlen von Verurteilungen gemäß § 142 StGB betrugen 1985 22,9 bei Jugendlichen, 218,9 bei Heranwachsenden, 72,8 bei Erwachsenen39. Daraus auf eine deutlich überproportionale Beteiligung von jungen Verkehrsteilnehmern zu schließen, wäre jedoch nicht zulässig, da aussagekräftige Feststellungen nur in Relation zu der Unfallbeteiligung einer Altersgruppe getroffen werden können. Danach scheinen Verkehrsteilnehmer in den Altersgruppen zwischen 18 und 35 Jahren allenfalls 57 38 39

Vgl. Bär-HauserS. 167. Angaben Stat. Bundesamt, zit. nach Bär-Hauser S. 186 (5). StatJB Bundesrepublik 1987, S. 348, Tab. 15.9.

44

II. Der kriminologische Wissensstand

geringfügig überbelastet 40 . Zudem ist zu berücksichtigen, daß unabhängig vom Lebensalter - Fahrer mit geringer Fahrpraxis überproportional viele Unfälle verschulden und sich überdurchschnittlich häufig unerlaubt vom Unfallort entfernen 41 . Bei den jüngeren Altersgruppen fallen überproportional viele Fahrer in diese Kategorie. c)

Nationalität

Sofern diese Variable überhaupt in die kriminologische Betrachtung von Verstößen gegen § 142 StGB einbezogen wurde, scheinen nichtdeutsche Verkehrsteilnehmer etwas überdurchschnittlich sowohl an Unfällen wie auch an Fluchtdelikten beteiligt zu sein. Brettel u.a. (S. 140) berichten, daß 14,5% der untersuchten Unfälle und 17,1% der Fluchtfälle auf diese Gruppe zurückzuführen waren. Bär-Hauser (S. 192) errechneten einen Anteil der nichtdeutschen Verkehrsteilnehmer an den Fluchtdelikten von 17,8%. Gegen eine undifferenzierte Feststellung einer erhöhten Belastung der nichtdeutschen Bevölkerung spricht allerdings, daß nach den Ergebnissen dieser Autoren (S. 192) von dieser Gruppe 4,5% ihren Wohnsitz im Ausland hatten. Zudem ist zu beachten, daß aufgrund anders lautender Rechtsvorschriften im Ausland f ü r diese Gruppe die bereits f ü r deutsche Verkehrsteilnehmer weithin angenommene Unsicherheit gegenüber den Pflichten eines Unfallbeteiligten 42 im besonderen Maße gelten dürfte. Indes mag die Befürchtung, daß ein Unfall ausländerrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen könnte, Verstöße gegen § 142 StGB fördern.Gegenteilig kann der möglicherweise geringere Anteil an Trunkenheitsfahrern unter ausländischen Verkehrsteilnehmern wirken 43 . 40 41

42 43

Bär-Hauser S. 192 ff.; Brettel u.a. S. 139. G. Kaiser S. 278; Bär-Hauser S. 171; von den durch Bergermann untersuchten Unfallflüchtigen hatten 27,1% ihren Führerschein kürzer als 2 Jahre (S. 106). Vgl. Kap. III. Für eine geringere Häufigkeit von Trunkenheitsfahrten unter ausländischen

3. Ergebnisse kriminologischer Untersuchungen

45

d) Beruf Die vorliegenden kriminologischen Untersuchungen stellen ausnahmslos hohe Anteile von Arbeitern an den Unfallflüchtigen fest 44 . Diese Anteile liegen jeweils deutlich über der relativen Beteiligung dieser Gruppe an Verkehrsunfällen 45 . Bergermann (S. 88) verweist auf einen steigenden Anteil von Arbeitern mit zunehmenden Unfallfolgen. Hoch belastet scheinen auch Selbständige. Dies mag allerdings mit einer überdurchschnittlich hohen jährlichen Fahrleistung zusammenhängen. Dagegen werden Beamte außerordentlich selten wegen eines Verstoßes gegen § 142 StGB erfaßt 46 . e)

Zivilstand

Altere Untersuchungen stellen einen hohen Anteil von Geschiedenen und Ledigen an den Fluchttätern heraus 47 , wobei bei letzteren die Variable Alter keine ausreichende Erklärung böte. Mit dem Nachlassen der Negativbewertung und Stigmatisierung dieser Gruppen enthalten neuere Untersuchungen keine Angaben zu diesen Variablen. 3.2.2. Bezugsrahmen: Straftaten a) allgemeine

Straftaten

Obwohl es sich bei Verstößen gegen § 142 StGB definitionsgemäß um Straftaten handelt, wird in kriminologischen Betrach-

44

45 46

47

Verkehrsteilnehmern spricht der deutlich geringere Anteil von Unfallflucht in Trunkenheit bei dieser Personengruppe. Vgl. Bär-Hauser S. 171 (1); Brettel u.a. S. 140. Bär-Hauser (S. 192), 42%; Bergermann (S. 86 ff.), 46,2% gegenüber 37,6% bei der Unfallbeteiligung; Jost (S. 61), 44,8%; Pieper (S. 99), 49,4%. Beispielsweise Bergermann (S. 86 ff.), 37,6%. Bär-Hauser (S. 192), 2,6%; Jost (S. 61), 2,9%. Die Differenzierungen nach Berufsgruppen sind allerdings sehr ungenau. Innerhalb der Gruppen bestehen möglicherweise größere Unterschiede (beispielsweise bei den Merkmalen Einkommen und Status) als zwischen den Gruppen. Beispielsweise Brettel u.a. S. 140 f.; G. Kaiser S. 277.

46

II. Der kriminologische Wissensstand

tungen des Phänomens Verkehrsunfallflucht explizit der Zusammenhang zwischen dem Verhalten, das diesen Verstößen zugrundeliegt, und »Kriminalität« (wie sie in der Begehung sonstiger Straftaten zum Ausdruck kommt) thematisiert. Darin drückt sich eine beinahe charakteristische Ambivalenz aus: Unfallflucht generell und unbesehen als »kriminell« zu definieren, löst Unbehagen aus, sie andererseits aber als »normal« und »verständlich« zu beurteilen, würde das positiv gesetzte Strafrecht zu deutlich in Frage stellen. Der Nachweis, daß »Kriminalität« ein konstitutives Element von Unfallflucht ist, erfolgt weniger auf der Ebene der Tat48 als anhand vermeintlicher Charakterzüge des Täters. Danach sollen Kriminelle eher zu Unfallflucht neigen als »normale« Verkehrsteilnehmer. So stellen Staak/Mittmeyer eine »auffällig hohe Belastung mit kriminellen Delikten« fest. N u r 55% ihrer Untersuchungsgruppe seien nicht vorbestraft gewesen (S. 314). Bergermann (S. 92) behauptet »das Delikt Unfallflucht ... nähert sich der allgemeinen Kriminalität«. G. Kaiser (S. 279) geht davon aus, daß zwischen 25% und 30% der Fluchttäter mit Delikten der »klassischen Kriminalität« und 31% bis 36% mit Verkehrsdelikten vorbelastet sind. Insgesamt bleibt jedoch unklar, welches Erklärungsmodell und welche kausalen Begründungen dem angenommenen Zusammenhang zwischen Kriminalität und Unfallflucht jeweils zugrundeliegen. Vorzufindende Alternativen sind: Kriminelle Naturen sind den psychischen Belastungen eines Unfalls nicht gewachsen 49 , Vorbestrafte sind labil und stellen individuelle kurzfristige Interessen vor die der Gemeinschaft 50 , unter Vorbestraften ist der Anteil von Trunkenheitsfahrern hoch, was im Falle eines Unfalls die Fluchtwahrscheinlichkeit erhöht 51 , beziehungsweise - diese Begründung umge-

48

49 50 51

Dies vermutlich u.a. deshalb, weil der »kriminelle Gehalt« des zu bewertenden Verhaltens stark differiert. Unerlaubtes Entfernen nach einem geringfügigen Sachschaden fällt bekanntlich genauso unter den Tatbestand wie Flucht nach einem Unfall mit Getöteten. Middendorf 1982, S. 360. B ä r - H a u s e r S . 161. Brettel u.a. S. 142.

3. Ergebnisse kriminologischer Untersuchungen

47

dreht - alkoholisierte Verkehrsteilnehmer sind besonders häufig vorbestraft, woraus sich aufgrund der erhöhten Unfallwahrscheinlichkeit für die Gruppe ein hoher Anteil von Vorbestraften bei den Unfallfluchttätern ergibt 52 . Ein weiterer plausibler Kausalitätszusammenhang, daß sich bei Vorbestraften aufgrund ihrer Vorerfahrung mit den Instanzen strafrechtlicher sozialer Kontrolle die Parameter für einen Uberschlag der »Kosten und N u t z e n « normkonformen Verhaltens verschoben haben, bleibt - soweit ersichtlich - bisher außerhalb der Betrachtung. G . Kaiser (S. 279) sieht auf einer zweiten Ebene eine Verbindung zwischen »Kriminalität« und Unfallflucht. Aufgrund des hohen Anteils von Vorbestraften an den Tatverdächtigen und Verurteilten definiert er Unfallflucht gewissermaßen als Handlungsform von »Kriminellen«. Er meint daher, Unfallflucht hebe sich von der reinen Verkehrskriminalität ab und tendiere in Richtung Allgemeiner Kriminalität 53 . Die Orientierung an der Ebene des individuellen Täters führt dagegen zu anderen Bewertungen. So stellen Bär-Hauser (S. 162) fest: »Bei einem beträchtlichen Teil der Täter handelt es sich um völlig unauffällige, biedere, sozial vollwertige Durchschnittsbürger aus allen Bevölkerungsschichten, die in einer plötzlichen Krisensituation versagen«. Fahrerflucht sei daher ein psychologisches Problem, das sich nicht allein mit polizeilich kriminologischen Mitteln bekämpfen lasse.

52 53

Middendorf 1976, S. 14 ff. Allerdings kommen eine Reihe von Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß auch bei Personen, die wegen Alkoholdelikten im Straßenverkehr verurteilt wurden, der Anteil von Vorbestraften überproportional hoch ist (vgl. Middendorf 1978, S. 101 f.; Müller nennt Anteile von 4 0 % - 60% ( B A 1978, S. 141). Langer ermittelte beispielsweise einen Wert von 46,7% (S. 48)). Feststellungen wie die Kaisers laufen daher - entfernt von zutreffenden Charakterisierungen von Fluchttätern - möglicherweise auf den allgemeinen Erfahrungssatz hinaus, daß auffällig gewordene und verurteilte Verkehrsteilnehmer häufig bereits zu einem früheren Zeitpunkt strafrechtlich sanktioniert worden sind.

48

II. Der kriminologische Wissensstand

b) Trunkenheit im Straßenverkehr Nach Schätzungen beläuft sich in der Bundesrepublik die Zahl der jährlichen Fahrten unter erheblichem Alkoholeinfluß auf über 100 Millionen54. Das Endeckungsrisiko ist gering: Bei einer Blutalkoholkonzentration zwischen 0,8 und 1,3 Promille wird es mit 1:600 beziffert, bei Werten darüber mit 1:30055. Stichproben haben ergeben, daß zu jedem beliebigen Zeitpunkt zwischen 1,5% und 5% aller Fahrer als erheblich durch Alkohol beeinflußt gelten können. Trunkenheit vergrößert nicht nur die Unfallwahrscheinlichkeit selbst, sondern - so die übereinstimmenden Ergebnisse kriminologischer Untersuchungen - in hohem Maße auch die Tendenz zur Unfallflucht. Bei 57 von 100 Unfällen mit alkoholisierten Verkehrsteilnehmern kam es nach den Ergebnissen von Brettel u.a. zur Flucht (S. 139). In der gleichen Untersuchung wurde errechnet, daß etwa 38% der Unfallflüchtigen erheblich alkoholisiert waren und dieser Anteil an Wochenenden und zwischen 24.00 und 04.00 Uhr 50% überstieg (S. 147). Trotz erheblicher Probleme bei der Quantifizierung von Trunkenheit im Zusammenhang mit Unfallflucht 56 , kommen nahezu alle Untersuchungen zu im wesentlichen ähnlichen Ergebnissen. Bei den von Staak/Mittmeyer untersuchten Fällen von Fahrerflucht konnte bei 21,3% eine Alkoholisierung nachgewiesen werden (S. 311). Bei den von Bär-Hauser analysierten Fällen war in etwa 44% ein entsprechender Nachweis möglich, bzw. gab es Anlaß, Trunkenheit zu vermuten (S. 192). Sie bezeichnen Unfallflucht als ein »typisches Alkoholdelikt« (S. 170 (1)). Brüssow (S. 255) bezifferte für Frankfurt den Anteil nachgewiesener Trunkenheit ebenfalls mit 44%. G. Kaiser (S. 274) vermutet, daß über die Hälfte aller Fluchtfälle mit Alkohol im Zusammenhang stehen. Häuser (S. 195) ist der gleichen Ansicht, Müller 1968 (S. 174 f) nimmt sogar einen Wert von rund 75% an, Heublein (S. 54 55 56

Hauser S. 198 Undeutsch S.381, zit. nach Hauser S. 198. Trunkenheit kann mit Sicherheit nur dann nachgewiesen werden, wenn zwischen Unfall und Ermittlung des Flüchtigen nur eine relativ kurze Zeitspanne liegt.

3. Ergebnisse kriminologischer Untersuchungen

49

167) von über 70%. Bei den gemäß § 142 StGB Verurteilten streute der Anteil von Trunkenheitstätern in den Jahren 1970-1984 zwischen 22,6% und 26,9%57. Auf dem Hintergrund dieser Befunde wird Alkoholeinfluß an die Spitze der Gründe und Umstände gestellt, die eine Unfallflucht bedingen können58. Allerdings steigt die Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen § 142 StGB nach Alkoholkonsum vermutlich nicht alleine deshalb, weil durch die Flucht eine Bestrafung vermieden werden soll. Die Kriminologie greift zusätzlich auf ein großes Repertoire weiterer Erklärungen zurück. So wird Alkohol einerseits eine leistungsvermindernde, bewußtseinsbeeinträchtigende Wirkung zugeschrieben, wodurch das Verantwortungsgefühl herabgesetzt werde (»Desozialisierung«), andererseits führe er zu einer Triebentblößung, dem »Verlust ethischer und moralischer Hemmungen«, er senke »die Reizschwelle für die Auslösung von Primitivreaktionen, zu denen auch der Fluchttrieb gehört«59. Jenseits der allgemeinen Feststellung einer herausragenden Bedeutung des Alkohols bei Verstößen gegen § 142 sind den vorliegenden kriminologischen Untersuchungen einige Charakteristika der Unfallflucht in Trunkenheit zu entnehmen. Verstöße gegen § 142 werden insgesamt überproportional häufig an Wochenenden und in den Nachtstunden begangen60. Dieser Zusammenhang tritt bei Unfallflucht in Trunkenheit noch deutlicher hervor. Nach der Veröffentlichung von BärHauser für München zu entnehmenden Statistiken (1976/77) ereigneten sich 52,4% aller Fluchtfälle zwischen 18.00 und 06.00 Uhr, dagegen 89,3% der Verstöße unter Alkoholeinfluß (S. 170 (1)). In der Untersuchungsgruppe von Brettel u.a. fielen 18,6% der Fluchtfälle in Trunkenheit in die Zeit zwischen 06.00 und 18.00 Uhr und 51,7% in die Stunden von 22.00 bis 06.00 Uhr. Bei nachweislich nicht alkoholisierten Flüchtigen lagen die ent57 58

59 60

Stat. Bundesamt, zit. nach Bär-Hauser S. 186 (4) So beispielsweise Hauser S. 194. Geppert (S. 159) schätzt f ü r das Jahr 1979 1,5 Millionen Fluchtfälle mit vorausgegangenem Alkoholkonsum. HauserS. 197. Vgl. I. 3.1.

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II. Der kriminologische Wissensstand

sprechenden Werte bei 60,6% und 16,6%. Von denjenigen, die sich an Wochenenden unerlaubt vom Unfallort entfernten, waren 29,8% mit Sicherheit nüchtern, 33,1% nicht. An Montagen lag dagegen das Verhältnis bei 42,5% zu 15,7% (S. 145). Bei den Unfallfolgen ergeben sich möglicherweise ebenfalls Unterschiede. Nach Bär-Hauser (S. 189 ff.) beschädigen Alkoholfahrer vor ihrer Flucht relativ häufig Verkehrseinrichtungen und andere Objekte (32,6% gegenüber 20,9% bei der Gesamtgruppe). Auch ist bei diesen eine Flucht trotz eigener Verletzung relativ häufig (12,1 % ) " . Deutlicher noch als bei den Fluchttätern insgesamt62, scheint der Anteil von Arbeitern, oder aber von Personen ohne Berufsausbildung unter den Alkoholtätern überproportional hoch zu sein. Jost (S. 61) nennt für beide Gruppen einen Anteil von 52,9% gegenüber 44,8% und Brettel u.a. (S. 141) stellen insg. eine schlechtere berufliche Integration der Alkoholtäter fest. Auch wird von einigen Autoren eine Verbindung zwischen Vorbelastung und Unfallflucht in Trunkenheit betont. Kunkel 1975 (S. 84) stellt beispielsweises fest: »Die stärkste Beziehung zu kriminellen Tendenzen weisen die Kraftfahrer auf, die wegen Unfallflucht unter Alkoholeinfluß bestraft werden mußten«. c) Fahren ohne

Fahrerlaubnis

In älteren Untersuchungen wurde der Anteil von Fahrern, die nicht die erforderliche Fahrerlaubnis besitzen, an den Verstößen gegen § 142 StGB relativ hoch angesetzt. So nennen etwa Brettel u.a. (S. 142) Werte von 11,3% und bei den Alkoholtätern gar von 21 % 6 3 . Allerdings wurde gleichfalls angenommen, daß zwischen 11 und 2 5 % aller Verkehrsteilnehmer ihr Fahrzeug ohne die erforderliche Fahrerlaubnis führten64. Seitdem dürften mit der weiteren Motorisierung und dem fast routinemäßigen Er-

61 62 63

64

Brettel u.a. S. 146. Vgl. II. 3.2.1.d). Bergermann (S. 118) gibt einen Anteil von 15,6% an, Lincke (S. 235) von 8 , 8 % , Jost (S. 121) von 1 0 % . G. Kaiser S. 275.

3. Ergebnisse kriminologischer Untersuchungen

51

werb des Führerscheins diese Werte geringer geworden sein. So berichten Bär-Hauser (S. 192) von einem etwa 7,5%igen Anteil von Fahrten ohne Fahrerlaubnis an den Fluchtfällen und Briissow in seiner 1986 durchgeführten Untersuchung von 5,6%65. Im übrigen ist zu vermuten, daß eine Verschiebung bei dieser Tätergruppe stattgefunden hat. Die Zahl derer, die niemals eine Fahrerlaubnis besessen hat, dürfte sich verringert haben gegenüber der Zahl derer, denen wegen Verkehrsdelikten die Fahrerlaubnis entzogen wurde66. d) Unbefugte Benutzung eines Kraftfahrzeuges Unbefugte Benutzung eines Kraftfahrzeuges (etwa auf Grund von Diebstahl) scheint, wie bereits Fahren ohne Fahrerlaubnis in den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem Delikt Unfallflucht an Bedeutung abgenommen zu haben. Altere Untersuchungen nennen Anteile von 6,2%67 bis 8,1 %68 an den Fluchtfällen, jüngere69 von 1,5% und 3,6%. 3.2.3 Bezugsrahmen: Defizite bei Verkehrsteilnehmern a) Persönlichkeitsdefizite Obwohl hierdurch regelmäßig die Ebene empirisch fundierter Aussagen verlassen wird, finden sich, insbesondere in älteren

65

66

67 68 69

Brühning/Schmid berichten allerdings von einer durch das KBA durchgeführten Auswertung des Verkehrszentralregisters, wonach bei 18% der dort gespeicherten Verstöße gegen § 142 StGB keine Fahrerlaubnis oder ein Fahrverbot vorlag. 1985 wurden durch Gerichte und Verwaltungsbehörden 138.473 Fahrerlaubnisse entzogen. In insgesamt 120.109 Fällen wurden Fahrerlaubnisse aberkannt, Sperren oder Fahrverbote ausgesprochen. Zusätzlich erfolgten 24.475 Versagungen der Fahrerlaubnis (Kraftfahrt-Bundesamt und Bundesanstalt für den Güterverkehr (Hrsg.): Statistische Mitteilungen, Heft 4, E Tab. 2, April 1986). A. Kaiser S. 65. Bergermann S. 117. Bär-Hauser S. 192 f.

52

II. D e r kriminologische Wissensstand

Untersuchungen 70 , als argumentative Hilfskonstruktion Verweise auf die vermeintliche spezifische (psychische oder) Persönlichkeitsstruktur von Unfallflüchtigen. So wird Fluchttätern z.B. eine »niedrige und gemeine«71, »verwerfliche und feige«72 oder auch »sozial schädliche« Gesinnung 73 attestiert. Durch den Rückgriff auf allgemeine anthropologische Annahmen treten zwar individuelle Mängel in den Hintergrund, die Zielrichtung wird jedoch noch deutlicher: Die Androhung einer massiven Strafe bei Unfallflucht muß erhalten bleiben, da sonst das Geschehen auf der Straße durch »Urtriebe«, »Primitivreaktionen« und dergleichen beherrscht würde. Es wird ein »natürliches Bestreben der Menschen, Schuldvorwürfen auszuweichen«74, ebenso postuliert wie der Hang zur Selbstbegünstigung als eine »Ureigenschaft des primitiven Menschen« 75 . b) inadäquate Reaktionen auf das Unfallereignis Einzelne Autoren weisen darauf hin, daß das Unfallereignis inadäquate Reaktionen auslösen kann. Hierdurch wird nicht auf konstante Defizite (s.u.a), sondern auf Verhaltensweisen nach einem Unfall bezug genommen, die sich nicht mit der Persönlichkeitsstruktur des Unfallflüchtigen in Einklang bringen lassen. Weder Abschreckung noch harte Bestrafung, so die implizite Argumentation, können solche Reaktionen verhindern. Ein die Schuldfähigkeit ausschließender Schock (§ 20 StGB) sei zwar nur in Ausnahmefällen anzunehmen76, das Unfallerlebnis setze jedoch Triebkräfte frei, die sich in Fluchtimpulse abreagierten77;

70 71 72 73 74 75

76 77

S. auch Seib 1986. Luff S. 126. K r u m m e S . 234. Seib S. 397. Luff S. 127, auch Bär-Hauser S. 148. Arbad-Zadeh, S. 1050. Vgl. auch Seib S. 398: »Die Strafnormen erscheinen nachgerade als ein Bollwerk gegen die natürliche Wesensart des Menschen, sich zum Schaden anderer und der Rechtsgemeinschaft selbst zu begünstigen«. Vgl. Zabel. Bär-Hauser S. 162.

4. Systematisierung empirischer Befunde in »Motivgruppen«

53

es komme zu affektiver Erregung und panikartigen Kurzschlußreaktionen. Unter dem Eindruck des Unfallgeschehens würden Flüchtige ihre Tat leichtfertigt und ohne Überlegung begehen78. Der Unfall sei ein Streßerlebnis, das aufgrund der starken Belastung die Fähigkeit zu rationalem Uberlegen beeinträchtige79.

4. Systematisierung empirischer Befunde in »Motivgruppen« Die vorliegenden kriminologischen Untersuchungen bedienen sich recht unterschiedlicher Datenquellen. Insbesondere ist eine regionale und zeitliche Homogenität nicht gegeben, und die Frage ob und wie sich derartige Einzelbefunde durch eine übergreifende Interpretation verklammern lassen, bleibt insgesamt unbeantwortet. Kriminologische Stellungnahmen zu dem Gebiet der Unfallflucht müssen insgesamt auf dem Hintergrund einer beschränkten empirischen Wissensbasis gesehen werden. Der Versuch einer größeren Anzahl von Arbeiten zu dem Thema, »Motive« für unerlaubtes Entfernen vom Unfallort auszumachen, ist insofern nicht ohne spekulative Elemente möglich. Ungeachtet der Frage der Realitätsnähe solcher Interpretationsversuche sowie ihrer methodischen Zulässigkeit80 können Überlegungen dieser Art nicht übergangen werden. Sie sind offensichtlich wichtig für die kriminalpolitische Auseinandersetzung um § 142 StGB, weil sie mehr noch als die Suche nach

78 79 80

G.KaiserS. 270; JostS. 97, 116. Middendorf 1982, S. 359. Probleme ergeben sich insbesondere daraus, daß die spezifischen Umstände und Beweggründe für eine Straftat allenfalls individuell und subjektiv zu erschließen sind. Bei dem vorliegenden Material ist dies kaum geleistet worden. Es wird entweder auf Einlassungen von Tatverdächtigen oder Angeklagten vor Polizei und Gerichten zurückgegriffen oder von statistisch bestimmbaren Auffälligkeiten bei Fluchtätern auf intra-subjektive Charakteristika geschlossen (beispielsweise von Trunkenheit auf Angst).

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II. Der kriminologische Wissensstand

Tätermerkmalen eine normative Wertung des Delikts und des Täters implizieren, bzw. zur Folge haben. Generell scheint eine Einteilung akzeptiert zu sein, die zwischen Unfallflucht aus Angst vor Bestrafung und Unfallflucht zur Vermeidung von Unannehmlichkeiten grundsätzlich unterscheidet81. a) «Motiv«

Angst

Trotz erheblicher Differenzen bei der Bestimmung des Anteils von Unfallflüchtigen, die unter Alkoholeinwirkung am Verkehr teilgenommen haben (vgl. II. 3.2.2b), wird Trunkenheit als wichtigstes (Einzel-)Motiv für Unfallflucht gesehen. Zu der »Motivgruppe« Angst vor Strafe zählen ebenfalls Fahren ohne Fahrerlaubnis und unbefugtes Benutzen eines Fahrzeugs82. BärHauser (S. 175) schätzen auf der Grundlage vorliegender empirischer Ergebnisse und von Unterlagen, die sie bei der Münchner Polizei auswerteten, daß bei 55% bis 60% der Fluchtfälle die »Motive« in dieser Gruppe zu suchen sind. Für die kriminalpolitische Diskussion ist diese Motivgruppe von besonderer Bedeutung. Der Verstoß gegen §142 StGB, so wird angenommen, geschähe aus der Angst heraus, normgerechtes Verhalten (insbesondere die Benachrichtigung der Polizei) würde nachteilige Konsequenzen nach sich ziehen. Hieraus wird geschlossen, daß der Verstoß gegen §142 StGB in diesen Fällen nicht ursächlich auf einer beabsichtigten Verletzung des durch diesen Straftatbestand geschützten Rechtsgutes beruht83.

81

82

83

Beispielsweise Bär-Hauser S. 169 (2)ff.; G. Kaiser S.281; Bergermann S.122; Hauser S.194; Geppert S. 159 f. Die seit Ende 1986 geltenden neuen Führerscheinbedingungen können möglicherweise ebenfalls dazu führen,daß eine normgemäße Unfallmeldung unterbleibt, um Nachschulung oder Widerholungsprüfung zu vermeiden. Vergl. etwa Bergermann S. 125.

4. Systematisierung empirischer Befunde in »Motivgruppen«

b) «Motiv« Vermeidung von

55

Unannehmlichkeiten

Dieser »Motivgruppe« sind, so die Ergebnisse von Bär-Hauser (S. 175), 40% bis 45% der Unfallfluchtfälle zuzuzählen84. Im einzelnen werden genannt: Verlust des Schadenfreiheitsrabatts bei der Kfz-Versicherung85; Fahrer ist nicht Eigentümer des Unfallfahrzeugs; Bekanntwerden, daß sich ein (bestimmter) Beifahrer im Fahrzeug befand, soll vermieden werden; Befürchtung, daß Unfall zu Prestigeverlust, beruflichen Schwierigkeiten usw. führen könnte. Bei Verkehrsteilnehmern, deren »Motiv« für ihren Verstoß gegen §142 StGB der Kategorie »Vermeidung von Unannehmlichkeiten« zugeordnet wird, werden im allgemeinen keine entlastenden Momente angenommen. Bei diesen Unfallflüchtigen müsse die Strafandrohung des §142 verwirklicht werden, da aus einer »egoistischen Grundhaltung«86, aus »Mangel an charakterlicher Zuverlässigkeit, die man von einem Inhaber einer Fahrerlaubnis verlangen muß«87 die Interessen des Unfallgeschädigten absichtlich verletzt wurden.

84 85

86 87

Bergermann nennt 48% (S.122). Die Vermeidung des Verlusts des Schadenfreiheitsrabattes als Grund für U n fallflucht wird sehr unterschiedlich bewertet, da diesbezügliche Angaben entweder auf Aussagen von Beschuldigten oder Verurteilten beruhen (dann eher geringe Anteile) oder das Ergebnis von Plausiblitätsüberlegungen sind (dann eher hohe Anteile). Die genannten Anteile schwanken zwischen unter 1% (Lincke S. 83) und 15 bis 25% (Bär-Hauser, S. 178 f.). Für Osterreich wurde nach der Einführung des Bonus-Malus-Systems am 1.8.77 ein erhebliches Ansteigen der Fluchtfälle nach Unfällen mit Sachschaden registriert, so daß von einer Kriminogenität des Schadenfreiheitsrabatts gesprochen wurde. In der Bundesrepublik wurde das System des Schadenfreiheitsrabattes stufenweise etabliert: ab 1951 erfolgte die Rückvergütung von Uberschüssen an unfallfreie Versicherungsnehmer, 1962 wurden Schadenfreiheitsklassen, 1969 ein Malus mit gegenüber der Basisprämie erhöhten Beiträgen eingeführt. 1980 befanden sich rund 8,5 Mio. oder 43% der Halter in der höchsten Rabattstufe, 1981 80% der Versicherungsnehmer im Bonus (Bär 1982, S. 125). Insofern ist im System des Schadenfreiheitsrabatts zumindest ein erhebliches Potential für Verstöße gegen § 142 StGB zu sehen. G. KaiserS. 281. Bär-Hauser S. 175.

56

II. Der kriminologische Wissensstand

5. Bewertung a) Systematische Mängel bei dem vorhandenen statistischen Datenmaterial88 erschweren die Abschätzung des quantitativen Umfanges und der Entwicklung des Delikts Unfallflucht. Nach vorsichtiger Interpretation des vorliegenden Materials scheinen folgende Feststellungen möglich: - Jährlich werden mindestens 300 000 Verstöße gegen § 142 StGB polizeilich registriert. Daraus ergibt sich eine Fluchtquote von ca. 17%. - In Abhängigkeit zu den Unfallfolgen differiert die Fluchtquote erheblich. Bei Unfällen mit Getöteten kann mit einem Fluchtanteil von etwa 3%, bei Schwerverletzten von etwa 5%, bei Leichtverletzten von 9% bis 11%, bei schwerem Sachschaden von 14% bis 15% und bei Sachschaden von unter 3000 DM mit einer Fluchtquote von über 20% gerechnet werden. - Es ist davon auszugehen, daß ein Dunkelfeld besteht. Dieses könnte bei Verstößen gegen § 142 StGB nach Unfällen mit geringem Sachschaden erheblich sein. Diese Vermutung verliert jedoch erheblich an Relevanz, sobald man den formal-juristischen Bezugsrahmen verläßt und bedenkt, daß bei Unfällen dieser Art gerade deshalb ein Dunkelfeld besteht, weil nach dem »Alltagsverständnis« des Geschädigten aber auch des »Täters« unter Umständen gar kein Unfall mit regelungsbedürftigen Unfallfolgen vorliegt. Insofern geht der formalen oder juristischen Definition eines Tatbestandes als Unfallflucht in der Regel eine »alltagsori88

Mängel ergeben sich insbesondere aus folgenden Besonderheiten: Verstöße gegen §142 StGB werden nicht durch die Kriminalstatistik erfaßt; Bundesund Länderstatistiken weisen Flucht nur nach Unfällen mit Personen- oder erheblichem Sachschaden aus; polizeiliche Unterlagen sind nur punktuell für begrenzte Regionen ausgewertet worden; Rechtspflegestatistiken können selbst für den strafrechtlich sanktionierten Teil der Verstöße gegen § 142 StGB nur unpräzise Angaben entnommen werden, da bei Tatmehrheit und Tateinheit nur die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat erfaßt wird (s. Eisenberg 1985 § 17 Rn 17, unter Hinweis auf die Zählkarten sowie die Anleitungen zum Ausfüllen (zu deren Änderung ab 1.1.1987 s. etwa JMB1 N R W 1986, 243 ff.)).

5. Bewertung

57

entierte« Interpretation voraus, die je nach den an einem »Unfallgeschehnis« beteiligten Personen zu völlig gegensätzlichen Ergebnissen führen kann. Diese Dimension muß bei der Bewertung des Dunkelfeldes, aber auch des Deliktes Unfallflucht insgesamt beachtet werden. O b allerdings die Kenntnis des Dunkelfeldes zu einer erhöhten Fluchtquote führen würde, ist zu bezweifeln, da gerade Sachschadenunfälle, die problemlos zwischen den Beteiligten geregelt werden können, nicht der Polizei gemeldet werden und insofern die Zahl der tatsächlichen Verstöße gegen § 1 4 2 auf eine größere Zahl möglicher Vorkommnisse (Unfälle) bezogen werden müßte. Von daher ist auch eine tatsächlich geringere Fluchtquote denkbar. Im übrigen ist das Ausmaß falscher Anzeigen nicht systematisch erforscht. - Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß die Fluchthäufigkeit in den letzten Jahren allgemein zugenommen hat. Dies folgt sowohl aus der Betrachtung der Verurteiltenzahlen, der Statistiken über Unfallentwicklung und Verstöße gegen §142, als auch aus regionalen Untersuchungen. b) Jenseits der quantitativen Konturen des Delikts sind kriminologischen Untersuchungen Strukturmerkmale von Unfällen mit anschließender Unfallflucht zu entnehmen. - Etwa 90% aller Verstöße gegen § 142 StGB erfolgen nach reinen Sachschadensunfällen. - Flucht nach Unfällen mit fließendem Verkehr ist relativ selten. Die Schätzungen für den Anteil von Fluchtdelikten nach Unfällen mit abgestellten Fahrzeugen (oder Objekten wie Verkehrseinrichtungen) schwanken zwischen 50% und 9 0 % , wobei neuere Untersuchungen zu höheren Werten tendieren. Ausgehend von diesen Zahlen kann der Anteil von Verstößen gegen § 142 nach Unfällen, bei denen weder Personen verletzt, noch ein Geschädigter oder »Feststellungsberechtigter« unmittelbar am Unfallort war, auf etwa 67% bis 80% geschätzt werden. - Fälle von Unfallflucht ereignen sich überdurchschnittlich häufig an Wochenenden und während der Nachtstunden. Uber 50% sollen auf diese Tage, bzw. in diese Stunden fallen. Danach

58

II. Der kriminologische Wissensstand

folgt die Zu- und Abnahme der Fluchtwahrscheinlichkeit über Tageszeit und Wochentage im wesentlichen drei Tendenzen: Unfallhäufigkeit, Häufigkeit von Trunkenheitsfahrten, Entdekkungsrisiko der Flucht (z.B. bei Dunkelheit geringer). c) Als Gegenstück zu Strukturmerkmalen von Unfällen mit Fahrerflucht gehen kriminologische Arbeiten der Frage nach, ob sich Tätern spezifische Merkmale zuschreiben lassen. - Die Merkmalsdifferenzierung nach Geschlecht, Alter und Nationalität scheint keine nennenswerte Tätercharakterisierung zu ermöglichen. - Dagegen wird eine überproportional hohe Beteiligung von Arbeitern und Berufslosen (40% bis 50%) sowie von strafrechtlich Vorbelasteten (bis zu 45%) herausgestellt. - Darüber hinaus werden - allerdings ohne empirische Fundierung - bei Unfallflüchtigen spezifische Persönlichkeitsdefizite behauptet, bzw. es wird festgestellt, daß das Unfallereignis allgemein die Fähigkeit zu rationalem und kontrolliertem Verhalten beeinträchtige. - Die Beobachtung von Trunkenheit bei einer Vielzahl von Fluchtfällen (45% bis 75%), von Fahren ohne Fahrerlaubnis (7% bis 25%), wie von unbefugter Benutzung des Fahrzeugs (2% bis 8%) dient zwar ebenfalls der Charakterisierung von Fluchtätern, führt jedoch zugleich zu der Beantwortung der Frage nach den »Motiven« für Unfallflucht. d) Kriminologische Untersuchungen fassen »Motive« für Unfallflucht im allgemeinen in zwei Gruppen zusammen. - Flucht aus Angst vor Strafe wird bei Trunkenheit, Fahren ohne Fahrerlaubnis und bei unbefugter Benutzung des Unfallfahrzeugs angenommen. Die Schätzung des Anteils von Fluchtdelikten die auf »Motive« dieser Art zurückzuführen seien, liegen bei 50% bis 60%. - Flucht zur Vermeidung von Unannehmlichkeiten (beispielsweise Verlust des Schadensfreiheitsrabatts)- dieser Motivgruppe werden 40% bis 50% der Delikte zugezählt - wird gegenüber der erstgenannten Motivgruppe negativ abgesetzt, da hier von

5. Bewertung

59

einer unmittelbaren und beabsichtigten Verletzung des durch §142 StGB geschützten Rechtsgutes auszugehen sei. Die Frage, ob Unfallflucht mit einem aus der allgemeinen Population der Verkehrsteilnehmer ausgrenzbaren Täterkreis in Verbindung zu bringen ist, wird in der Literatur uneinheitlich beantwortet. Altere Stellungnahmen89 und solche, die täterbezogene Merkmale in den Vordergrund stellen90, tendieren zu einer Bejahung dieser Frage, neuere zu der Ansicht, daß Personen, die gegen § 142 StGB verstoßen haben, nicht generell oder insgesamt ausgrenzbar sind91. Eine wichtige Rolle bei Bewertungen dieser Art dürfte die Beurteilung des Fahrens unter Alkoholeinfluß spielen: Bleibt man von der hohen Prävalenz von Straftaten dieser Art unbeindruckt so muß das Argument, daß der überwiegende Teil von Unfallfluchttätern aus unauffälligen Bürgern bestehe, an Gewicht verlieren. e) Strukturierungen kriminologischer Befunde etwa in Tätermerkmale und Motive beruhen nur begrenzt auf empirischem Wissen. Sie sind in erster Lilnie vorgeprägt und Ergebnis von allgemeinen disziplinären Wahrnehmungs- und Interpretationsweisen von Kriminalität. Folglich kann von ihnen nur bedingt ein Beitrag für die Erarbeitung von aussichtsreichen Mitteln und Maßnahmen zur Senkung der Fluchtrate erwartet werden. Die vorliegenden kriminologischen Wissensbestände sind jedoch aufschlußreich für die Erfassung einiger wichtiger Tatumstände an die eine Reform gezielt ansetzen muß, wie auch für die Präzisierung relevanter Fragestellungen in eigenständigen empirischen Untersuchungen.

89 90 91

Beispielsweise G. Kaiser (S. 283), Middendorf 1972 (S. 49 ff.). Seib (S. 397 ff.). z.B. Bär-Hauser (S. 161 f.).

III. Diskussion in der Fachöffentlichkeit um die Reform des § 142 StGB 1. Die Reform des § 142 StGB von 1975 Durch die Neuregelung des § 142 StGB im Jahr 1975 wurde die heute gültige Fassung der Norm geschaffen. Die Unzufriedenheit mit der Normierung des Straftatbestandes Unfallflucht, die in einer anhaltenden Diskussion um eine Reform zum Ausdruck kommt, ist zum Teil in dieser Neufassung und in den seither zu beobachtenden Auswirkungen auf das Unfallfluchtverhalten begründet. Insbesondere wird darauf verwiesen, daß ein Rückgang der Häufigkeit des Delikts bisher ausgeblieben ist (s. u., Abschn. 2.1.). Betrachtet man die gegenwärtige Reformdiskussion, so haben die damals vorgetragenen Reformziele, die in der vorausgehenden Diskussion artikulierten Interessen sowie dabei sichtbar gewordene Reformhindernisse an Aktualität nicht verloren. Wesentliche Ergebnisse der Reform von 1975 waren - auf rechtsdogmatischer Ebene die Anerkennung der zivilrechtlichen Interessen Betroffener als Schutzgut des § 142 StGB; - hinsichtlich der Normierung des Straftatbestandes die Straffreiheit des Versuchs - allerdings bei gleichzeitiger Vorverlegung der Vollendung des Tatbestandes auf bloßes Entfernen vom Unfallort und der Einführung einer Vorstellungspflicht, so daß für eine Pönalisierung des Versuchs »kein ausreichendes kriminalpolitisches Bedürfnis mehr gesehen wurde«1; der Wegfall »besonders schwerer Fälle« - bei gleichzeitiger Heraufsetzung der '

Janiszewski S. 175.

62

III. Reform des § 142 StGB

Strafandrohung von zwei auf drei Jahre, womit »auch für schwerere Fälle eine ausreichende Eingriffsmöglichkeit« vorhanden schien2; - hinsichtlich der Verhaltenspflichten eine aktive Beteiligung in Form einer Vorstellungspflicht der Unfallbeteiligten (die Definition des Unfallbeteiligten wurde ebenfalls erweitert) und durch ergänzende Novellierung des § 34 StVO eine Konkretisierung der Verhaltenspflichten 3 Für die Unfallbeteiligten handelte es sich im Ergebnis um eine deutliche Verschärfung der Norm durch eine Erweiterung der zum ersten Mal ausdrücklich statuierten Wartepflicht, eine Verschärfung des Entfernungsverbotes sowie die Einführung der Vorstellungspflicht. Im Folgenden werden zunächst (in 1.1) wichtige Argumente aus der Reformdiskussion vor 1975 dargestellt, danach (in 1.2.) die »offizielle« Argumentation zur Begründung und Verteidigung der tatsächlichen Reform. Hierbei wird deutlich, daß in der damaligen Diskussion Stimmen laut wurden, die im Widerspruch zu der durchgeführten Novellierung standen. Vor diesem Hintergrund wird dann (in 1.3.) eine Interpretation und Bewertung versucht, die Aspekte des Diskussions- und Reformprozesses betrifft, die auch im gegenwärtigen Reformprozeß zu bedenken sind (Interessen der Diskussionsteilnehmer, Reformziele und -hindernisse). 1.1. Die Reformdiskussion In der Strafrechtslehre kritisierte Lackner § 142 StGB insbesondere wegen Unbestimmtheit der Fassung, Unklarheit der Schutzrichtung und Unangemessenheit eines Teils seiner Er-

2 3

Ebd. Die nach § 142 a.F. bestehende Rückkehrpflicht nach straflosem Verlassen des Unfallorts ist mit der Neufassung gegenstandslos geworden (vgl. Wölfel S. 4 ff.).

1. Die Reform des § 142 StGB v o n 1975

63

gebnisse4. Er sprach öffentlichen Belangen (Interesse an Strafverfolgung, Ermittlung ungeeigneter Fahrzeugführer etc.) die Qualität von Strafgründen ab und forderte als Maßstab der Reform Normklarheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung 5 . Hinsichtlich konkreter Reformvorschläge wurde Zurückhaltung geübt. So plädierte Lackner beispielsweise nicht für die Einführung »tätiger Reue« als Strafbefreiungsgrund und verwies auf die Möglichkeit der Einstellung von Verfahren nach § 153 StPO 6 . Seitens der richterlichen Praxis wies Spiegel darauf hin, daß die »Rätselhaftigkeit« des Delikts Fahrerflucht dadurch festgeschrieben werde, »daß auf die erste Normierung des Tatbestandes im Laufe der Jahre immer neue aufgestockt wurden, ohne daß der Gesetzgeber dabei auch nur ein einziges Mal den Strafzweck der Norm klar ausgesprochen hätte« 7 . Für ihn war die Diskussion über das geschützte Rechtsgut mit der Entscheidung des BVerfG von 1963 (in der als Schutzzweck das privatrechtliche Interesse des Geschädigten bestimmt wurde) gegenstandslos geworden. Er stellte sich hinter die Auffassung, »die Abgrenzung der konkreten Pflichten bei einem Verkehrsunfall dem Richter« zu überlassen, »widerspreche schlechthin dem Verfassungsgebot der Gewaltenteilung« 8 . Spiegel plädierte für die Einführung der tätigen Reue als Strafbefreiungsgrund 9 und verwies darauf, daß bis zur Lösung dieser Frage die Gerichte, »mit

4

5

6 7 8

9

S. Lackner S. 287; s. ebd., S. 283: »eine der am meisten mißglückten Vorschriften des materiellen Strafrechts«. S. ebd., S. 287 f.; zur Diskussion über das Rechtsgut des § 142 StGB s. Blüm von A n n S. 3 ff. S. Lackner S. 291; vgl. Janiszewski S. 172. Spiegel S. 291. Ebd. S. 292. Diesen Problembereich hat die Reform von 1975 durch die ergänzende Novellierung v o n § 34 S t V O zu erfüllen versucht. Dadurch ist sie einem Minimalbedürfnis vieler Diskussionsteilnehmer nachgekommen. So wurde beispielsweise in einer Resolution der ADAC-Juristentagung von 1972 gefordert, die Reform nicht noch länger aufzuschieben, konkrete Verhaltensregeln f ü r Unfallbeteiligte in die S t V O aufzunehmen und den Versicherungsschutz zu verbessern. (S. A D A C 1974, S. 6) Spiegel S. 293.

64

III. Reform des § 142 StGB

einer am Einzelfall ausgerichteten, dann aber großzügigen Anwendung des § 153 oder des § 154 StPO« operieren sollten10. Beier kritisierte den Reformentwurf als »Kodifizierung des status quo« 11 . Er warnte, daß der Entwurf »in Anbetracht des Beharrungsvermögens« der Gesetze und der »Schwerfälligkeit der Gesetzgebungsmaschinerie« einen Rechtszustand zementieren würde, »der längst als sehr unbefriedigend, wenn nicht sogar als unerträglich erkannt worden ist«12. Beier schlug vor, die Warteplicht durch eine aktive Mitwirkungs- und Benachrichtigungspflicht (die auch vom ADAC in der Reformdiskussion gefordert wurde) zu ersetzen. Dadurch sollte sich für Geschädigte die Chance erhöhen, zivilrechtliche Ansprüche durchsetzen zu können sowie bestimmte Gründe für Unfallflucht gegenstandslos werden. Eine Benachrichtigungspflicht stünde außerdem in Einklang mit den meisten anderen europäischen Rechtsordnungen. Die Umwandlung von § 142 StGB in ein Antragsdelikt lehnt er jedoch ab13. Zur Frage der »tätigen Reue« präsentierte Beier eine Alternativüberlegung. Für Sachschäden und bei Abwesenheit des Geschädigten soll die Hinterlassung einer schriftlichen Mitteilung sowie die Feststellung des Geschädigten durch den Verursacher bis 18 Uhr des folgenden Werktages genügen. Von den Interessenverbänden der Autofahrer hat der ADAC bereits vor 1975 (und bis heute) kontinuierlich Vorschläge zur Reform des § 142 StGB vorgelegt. Sie schließen sich zusammen auf der Argumentationslinie einer Entstaatlichung des Konfliktbereichs Unfallflucht bzw. der Ersetzung eines strafrechtlichen Regelungsmodells durch ein privates Selbstregelungsmodell, bei dem die Autofahrer und die Versicherer gewissermaßen »unter sich« bleiben. Ein Nebeneffekt dieses Reformkonzeptes wäre 10 11

12 13

Ebd. S. Beier S. 86: der Entwurf regele nur »bestimmte Fallgruppen kasuistisch« unter der »unzutreffenden Voraussetzung«, »die richtige Regel aus der Rechtsprechung zu einem unzulänglichen Gesetz übernehmen zu können«. Ebd. S. ebd., S. 89: Rechtswidrigkeit und Strafwürdigkeit der Unfallflucht seien »mit gewachsenem Verkehrsbewußtsein heute in allen Bevölkerungskreisen uneingeschränkt anerkannt«; dieses Rechtsbewußtsein könnte bei einem A n tragsdelikt geschwächt werden.

1. Die Reform des § 142 StGB von 1975

65

die Entkriminalisierung der Fahrerflucht. Die wichtigsten Forderungen des A D A C in der Reformdiskussion, die bisher nur zum Teil von der Gesetzgebung erfüllt wurden, sind: (1) Der Versuch der Unfallflucht soll straflos bleiben. (2) In leichteren Fällen (Sachschaden und leichte Körperverletzungen) soll Unfallflucht Antragsdelikt werden. (3) Die Wartepflicht soll durch eine Benachrichtigungspflicht ersetzt werden. (4) «Tätige Reue« soll als Strafbefreiungsgrund in die Norm eingeführt werden. Hiervon wurde mit der Novellierung von 1975 nur die Straffreiheit des Versuchs verwirklicht, was jedoch durch die verschärften Regelungen zur Warte- und Mitteilungspflicht relativiert wurde. Von den weiteren ADAC-Forderungen wurde berücksichtigt: die Offenbarungspflicht, die Abschaffung des »besonders schweren Falles«, eine klarere Definition eines Unfallbeteiligten, die Ergänzungsnovellierung von § 34 StVO (klarere Verhaltenspflichten Unfallbeteiligter), schließlich die Anerkennung des faktisch bereits bestehenden Schutzgutes zivilrechtlicher Interessen Geschädigter. Zur Realisierung der oben genannten Forderungen schlägt der A D A C vor, neutrale Institutionen (Automobilclubs, Versicherungen) mit der Entgegennahme von Unfallmeldungen zu betrauen. Damit wäre eine institutionelle Konkretisierung des bis heute nicht verwirklichten Alternativmodells zur Strafverfolgung geschafffen. Der ACE hat sich nicht gegen die Forderungen des A D A C geäußert und in der Diskussion nur punktuell eigene Vorschläge formuliert. Seine gegenwärtigen Forderungen sind in erster Linie: (1) Einführung einer kürzeren und einheitlichen Wartefrist (30 Minuten), (2) Schaffung der Möglichkeit »tätiger Reue«. Gegen die Einführung einer einheitlichen Wartefrist war anläßlich der Novellierung im Jahre 1975 von offizieller Seite einge-

66

III. Reform des § 142 S t G B

wandt worden, dies führe zu »unerträglicher Starrheit und in vielen Fällen zu unbefriedigenden Ergebnissen« 14 .

1.2. Die Reform und ihre Begründung Ziele der Novellierung waren eine Klarstellung der Norm für Unfallbeteiligte und die Beseitigung von Auslegungsschwierigkeiten in der Rechtspraxis. Diese wurden jedoch nur eingeschränkt erreicht. Es wird auch weiterhin geltend gemacht, daß § 1 4 2 StGB schlecht in das Strafrechtssystem paßt, die Norm den Adressaten schlecht erreicht und Anwendungsschwierigkeiten (Beweislage, Auslegung der Wartepflicht u.a.) bestehen. Ergebnis der Reform von 1975 war insofern im wesentlichen die Verschärfung der Verhaltenspflichten von Unfallbeteiligten. Diese steht den in der damaligen Diskussion artikulierten Liberalisierungswünschen entgegen, die u. a. beinhalten: - Umwandlung in ein Antragsdelikt bei leichteren Unfällen - Ersetzung der Warte- durch eine Benachrichtigungspflicht - Einführung tätiger Reue als Strafbefreiungsgrund. Janiszewski verwies zur juristischen Begründung der eingeführten Normänderung auf die »frühzeitig aufgetretenen vielfältigen Auslegungs- und Anwendungsschwierigkeiten, zu denen vor allem die knappe und unbestimmte Fassung des bisherigen § 142 StGB geführt hatte«15. Daraus leiteten sich als Reformziele ab: es »soll den Unfallbeteiligten eine ausführlichere Informationsgrundlage geboten, durch die Beseitigung besonders grober Mängel des bisherigen Rechts der Rechtsschutz verstärkt

14 15

Janiszewski S. 173. Janiszewski S. 169. Janiszewski faßte den Verlauf der Novellierung aus der Sicht des Bundesjustizministeriums zusammen und berichtet über die im Gesetzgebungsverfahren für und gegen bestimmte Fassungen des § 142 S t G B vorgetragenen sowie die mit der Novellierung festgeschriebenen Argumente. Hierbei kam gewissermaßen die »offizielle« Begründung der Reform zum Ausdruck.

1. D i e Reform des § 142 StGB von 1975

67

und schließlich insgesamt zu einem besseren verkehrssozialen Verhalten angeregt werden«16. Zur Begründung der NichtVerwirklichung der oben genannten Reformvorschläge führt Janiszewski allgemein an, daß es sich bei § 142 StGB »um einen vor allem wegen der enormen Vielfältigkeit der möglichen Fallgestaltung strafrechtlich besonders schwer zu fassenden Tatbestand« handele17. Damit war impliziert, daß jede denkbare Reform unbefriedigend bleiben müsse. Die Abweisung des Vorschlags, die Vorschrift in ein Antragsdelikt umzuwandeln, erfolgte mit dem Argument, es sei zu befürchten, »daß dadurch die inkriminierte Tat bagatellisiert und die Pflicht, am Unfallort bleiben zu müssen, abgeschwächt werden könnten«18. Ahnlich wurde gegen die insbesondere vom ADAC und vom 9. Dt. Verkehrsgerichtstag erhobene Forderung nach strafbefreiendem Rücktritt vorgebracht, daß dadurch »eine zu weitgehende Aushöhlung des mit § 142 StGB angestrebten Verhaltens (Verbleiben am Unfallort) zugunsten vermehrter Fluchtfälle (Ausschlafen des Rausches, Vorschikken eines Nüchternen als angeblichen Fahrer oder Beseitigung von Lackschäden pp.) zu befürchten« sei19. Der Wunsch nach einer Erhöhung der Auslegungs- und Anwendungsklarheit hat zu einer Verschärfung der strafbaren Verhaltenstatbestände geführt. Es wurde ein privatrechtliches Schutzgut anerkannt, von dem Interesse an Strafverfolgung jedoch nicht Abstand genommen. Dieses Ergebnis ist offensichtlich auf praktische Reformschwierigkeiten, wie sie Janiszewski angesprochen hat und auf Reformwiderstände zurückzuführen, die jedoch in der letzten Fassung des Reformentwurfs nicht mehr sichtbar waren, bzw. sich auf die Abwägung rechtssystematischer Argumente reduzierten20. Als hinderlich für eine Reform im Sinne einer Liberalisierung können sich Eigeninteressen der Institutionen strafrechtlicher 16 17 18 19 20

Ebd., S. 170. Ebd. Ebd., S. 171. Ebd., S. 172. Zur Problematik vgl. Spiegel S. 293; Leipold S. 43.

68

III. Reform des § 142 StGB

Verfolgung an effizienter Aufklärung von Straftaten, an der Anwendbarkeit von Normen, an Rechtsprinzipien (Legalitätsprinzip) erweisen. Schließlich machen Verfahrensprobleme, erforderliche Abstimmungs- und Koordinationsprozesse etc. Rechtsänderungen generell schwierig21. Das intra-institutionelle Interesse an einem effizienten Rechtsvollzug wurde durch kriminalpolitische Ziele ergänzt, wie beispielsweise das Erreichen »sozialkonformen Verhaltens«. Die instrumentalistische Verbindung von Rechtseffizienz und Erhöhung der »Verkehrsmoral« lautete somit: weil die Rechtsgenossen ihre Verhaltenspflichten nur schlecht kennen und, diese auch nicht detailliert genug normiert sind, wird eine effiziente Normdurchsetzung unmöglich. Im Mittelpunkt der Reformbemühungen stand das Ziel einer Erleichterung der Normanwendung und nicht die Klärung dogmatischer und rechtssystematischer Probleme (Normunklarheit) 22 . Die auf effiziente Rechtsanwendung und Strafverfolgung gerichtete Sichtweise, die sich mit der Reform durchgesetzt hat, stützte sich sodann auf das Argument, daß die privatrechtlichen Interessen der Opfer/Geschädigten durch »eine etwaige Abschaffung der Halte-, Warte- und Feststellungspflicht« gefährdet würden, da sie »eine noch größere Anzahl von Unfallbeteiligten zum Wegfahren animieren und so die Geschädigten in noch stärkerem Umfange oft erheblichen Vermögensschäden aussetzen würde als bisher« 23 . Hier stellte sich die Strafandrohung in den Dienst der zivilrechtlichen Ansprüche bzw. wurden diese und die »öffentlichen Belange« als gleichgerichtet dargestellt. Eine Erhöhung der haftungsrechtlichen Effizienz hätte jedoch möglicherweise auch durch das Gegenteil erreicht werden können, 21

22 23

Zur Implementationsstruktur des Gesetzgebungsverfahrens vgl. Eisenberg 1985, § 23, R n 14: es mag, »sofern nicht organisierte Interessen in Rede stehen, gelegentlich dem Zufall überlassen bleiben, ob relevante Tatsachen in den Meinungs- und Entscheidungsbildungsprozeß Eingang finden«. Zu den behördeninternen Handlungsnormen vgl. ebd., § 40. S. dazu statt vieler: Leipold 1987. Janiszewski S. 171. Es wurde deduktiv, von bestimmten Annahmen über soziales Verhalten ausgehend, argumentiert. Empirische Fundierungen bleiben aus.

1. Die Reform des § 142 StGB von 1975

69

durch Strafverzicht oder durch Zulassung eines alternativen Rechtssicherungsverfahrens (z. B. durch neutrale, nicht dem Strafverfolgungssystem zugehörige Meldestellen). Derartige Überlegungen fehlten in der offiziellen Reformbegründung von 1975. Daß die »Eigenlogik der Pönalisierung« den empirisch feststellbaren Tatsachen nicht genügt, wird allerdings heute eher sichtbar. Die angestrebte Erhöhung verkehrssozialen Verhaltens mit der veränderten Norm ist zumindest nicht eingetreten. Die dogmatische Sicherung der Zwiespältigkeit von Anerkennung privatrechtlicher Interessen und Strafverfolgung wurde in der Form einer interpretativen Hierarchisierung und Verschachtelung der geschützten Rechtsgüter geleistet. Während Vertreter der Strafrechtslehre und der Praxis alle zeitweilig diskutierten öffentlichen Belange als geschützte Güter verworfen und - bestärkt durch das BVerfG - sich auf das zivilrechtliche Interesse als Schutzgut geeinigt hatten, wurde in der offiziellen Begründung der Reform versucht, die öffentlichen Interessen zu retten bzw. unter das Dach der schutzwürdigen Interessen der Geschädigten zu bringen. Es würde »auf der Basis des zivilrechtlichen Rechtsgüterschutzes selbst den öffentlichen Interessen an einer Erfassung ungeeigneter Kraftfahrer oder einer strafrechtlichen Verfolgung - soweit nötig und möglich - mittelbar weitgehend Rechnung getragen«, diese stünden nur nicht »im Vordergrund« oder wären nicht »allein geschütztes Rechtsgut« 24 . 1.3. Bewertung der Reform von 1975 An die Diskussion über den Schutzzweck des § 142 StGB anknüpfend, ist festzustellen, daß die Reform von 1975 nicht der in der rechtswissenschaftlichen Diskussion erreichten Klarheit über das geschützte Rechtsgut entsprach. Versucht wurde, der Norm eine sinnhafte Einheit aufzuinterpretieren, die beides zuließ: die Ergebnisse dieser Diskussion anzuerkennen und eine 24

Ebd.; zur Argumentation in der Lehre s. Lackner 1972; die Entscheidung des BVerfG 1 6 , 1 9 1 vom 29.5.1963 unterstützt die sog. private Rechtsguttheorie (s. Magdowski S. 23; Leipold S. 34).

70

III. Reform des § 142 StGB

gewisse Kontinuität der Normgeschichte zu wahren. Letztere weist eine Verschärfung der Verhaltensgebote für Unfallbeteiligte auf: 1906 Haltegebot, 1909 Fluchtverbot, 1940 verschärfte Strafandrohung bei Flucht, 1975 verschärftes Fluchtverbot bzw. Entfernungsverbot und aktive Vorstellungspflicht 25 . a) In rechtshistorischer Perspektive stellt die Reform eine Fortsetzung langfristiger Entwicklungstendenzen der Norm (Verschärfung) dar und markiert nicht den Beginn einer Entkriminalisierung dieses Bereichs. Sie ist in diesem Sinn eine Optimierung der alten Norm nach Gesichtspunkten der Anwendungseffizienz. Die Reform war durch folgende Orientierungslinien geprägt: - Als Leitgedanke stand die Rechtsvervollkommnung (Beseitigung von Rechtsmängeln und Anwendungsschwierigkeiten) im Vordergrund. - Ein nichtstrafrechtliches Konfliktregelungsmodell wurde zugunsten einer Bekräftigung des staatlichen (strafrechtlichen) Regelungsmonopols abgewiesen. Die Idee der Abschaffung des Straftatbestandes wurde nicht (nur) mit rechtsdogmatischen Gründen, sondern mit dem kriminalpolitisch ausgerichteten Argument abgelehnt, daß die Norm zur bestehenden und sozial akzeptierten »Rechtswirklichkeit« gehöre. - Die »deutsche Tradition« des § 142 StGB wurde fortgesetzt unter Vernachlässigung der Zielvorstellung einer internationalen Rechtsvereinheitlichung 26 . - Es wurde an einem einheitlichen Straftatbestand festgehalten und Vorschläge zurückgewiesen, einen »entkriminalisierten Bagatellbereich« zu schaffen. b) Reforminteressen verschiedener Diskussionsteilnehmer sind in der realisierten Änderung weitgehend unkenntlich geworden. Die Interessen von Gruppen und Verbänden sind kaum aufgegrif25 26

Zur Geschichte des Unfallflucht-Paragraphen s. statt vieler Leipold S. 2 7 ff. Dazu wurde geltend gemacht, daß Rechtsgutauffassungen, Rechtssystematik und Rechtspolitik in den verschiedenen Ländern zu unterschiedlich seien; s. Janiszewski S. 170; vgl. Leipold S. 3 f.

1. Die Reform des § 142 StGB von 1975

71

fen worden. Durchgesetzt haben sich eher verfahrensbezogene Interessen des Vollzugsapparates; kaum Berücksichtigung fanden: - die juristische Lehre, die in die Diskussion den Vorschlag einbrachte, eine mißglückte und schlecht interpretierbare Norm langfristig aufzulösen, - die juristische Praxis (Verkehrsgerichte) mit ihren praktischen Interessen an einer Vereinfachung der Entscheidungsprozeduren, - der A D A C mit seinen Entformalisierungs- und Entstaatlichungsforderungen. c) Der Reformprozeß scheint nicht von klar konzipierten und formulierten Zielen getragen gewesen zu sein. Es fand auch keine Einigung auf bestimmte Ziele hin statt. Diese blieben vielmehr allgemein und symbolisch und entweder ohne inhaltlichen Bezug zur Norm (z. B. Beseitigung bisheriger Mängel) oder wenn dies der Fall war ( z. B. Verbesserung des »verkehrssozialen Verhaltens«) - wurden sie offenbar nicht auf die Eignung der Mittel hin diskutiert. Der von Spiegel als Provisiorium gedachte Ratschlag, daß bei der Anwendung des § 142 StGB nicht »zu engherzig« auf die Möglichkeit der Einstellungen ausgewichen werden solle, wurde in der Folge der Novellierung zu einer dauerhaften Praxis 27 . Zweifelhaft ist, ob es der intendierten Erhöhung der Anwendbarkeit und Vollzugseffizienz gedient hat, wenn de facto auf diese Weise die formal nicht normierten »Bagatellfälle« in einer Art »Ausweichnorm« behandelt werden. d) In der Diskussion wurde verschiedentlich Interesse an einer Entkriminalisierung und Liberalisierung des Straftatbestandes formuliert (das bis heute gilt). Dagegen standen innerrechtliche Reformschwierigkeiten und Reformwiderstände. Sichtbar geworden ist dieser reformhemmende Konflikt von öffentlichen und privaten Interessen etwa in dem Argument, daß eine Reduzierung der Strafandrohung (Antragsdelikt,« tätige Reue«) gegen

27

S. Lackner S. 293; vgl. ebd., S. 291 und Janiszewski S. 172.

72

III. R e f o r m des § 142 S t G B

die »Rechtswirklichkeit« und die Akzeptanz der Norm bei der »Gemeinschaft der Verkehrsteilnehmer« verstoße. Gerade dieses Argument wurde jedoch keiner empirischen Prüfung unterzogen. Solange man hinsichtlich der Kriterien Rechtsbewußtsein, Normakzeptanz und »verkehrssoziales Verhalten« nur auf Mutmaßungen, unsystematische Alltagserfahrung, Plausibilität und unzulängliche Beobachtung angewiesen ist, sind andersgerichtete Reformwünsche jedoch ebenfalls schwer zu begründen. In diesem Zusammenhang ist wohl das von Beier angesprochene

2. Die gegenwärtige Diskussion Die Reform des § 142 StGB von 1975 hat die breite Diskussion um diese Vorschrift nicht beendet28. Im Vordergrund der gegenwärtigen Diskussion stehen Verstöße gegen § 142 StGB nach Unfällen außerhalb des Begegnungsverkehrs und mit bloßem Sachschaden als Folge. Fast ausnahmslos werden Positionen formuliert, die sich kritisch mit der gegenwärtigen Praxis im Zusammenhang mit Flucht nach Unfällen dieser Art auseinandersetzen. Insgesamt ist weniger die Frage umstritten, ob eine Reform erforderlich ist, als an welcher Stelle und mit welchen möglichen Konsequenzen diese zu realisieren wäre. Obwohl die unterschiedlichen Vorschläge zumindest teilweise mit spezifischen (kriminal)politischen Positionen zusammenfallen, wird dieser Bereich in der Diskussion kaum berührt. Die Mehrzahl der Argumente läßt sich anderen Ebenen zuordnen: Kriminologie, Strafrechtsdogmatik, die Rechtspraxis aus der Sicht des Fachmanns und Laien. Die Diskussion baut dabei weder auf allgemein akzeptierte Annahmen über Zusammenhänge (Kausalität usw.), noch auf eine einheitliche Argumentationslogik. Dadurch gewinnt die aktuelle Auseinandersetzung um

28

Sie ist d u r c h eine Vielzahl v o n Veröffentlichungen aus den letzten J a h r e n belegt.

2. Die gegenwärtige Diskussion

73

§142 StGB nur bedingt den Charakter einer offenen, auf empirischem Wissen beruhenden und mit rational wissenschaftlichen Kategorien faßbaren Diskussion 29 . Die einzelnen Beiträge zu dieser Diskussion werden im folgenden nach einem analytischen Muster ausgewertet, das zunächst grob nach den in ihnen enthaltenen Stellungnahmen zu § 142 StGB in seiner jetzigen Form und den darin vorgetragenen Reformvorschlägen unterscheidet; innerhalb dieser Kategorien wird differenziert nach einzelnen Argumenten untergliedert. Daraus ergibt sich ein Bild von den Dimensionen und der Komplexität des Bereichs Unfallflucht, wie dieser von der Fachöffentlichkeit wahrgenommen wird. Dadurch werden die Ebenen der Diskussion nachvollziehbar. Dieser Darstellung ist jedoch keine quantitative Feststellung etwa darüber zu entnehmen, welchen Grad an Zustimmung ein einzelner Vorschlag findet, welche Verbreitung ein bestimmtes Argument aufweist oder welche Popularität die verschiedenen Reformmodelle in der Fachöffentlichkeit tatsächlich besitzen. 2.1. Beurteilung des § 142 S t G B in seiner gegenwärtigen Formulierung und Anwendung durch die Fachöffentlichkeit a) Kritikebene »Effizienz« Beinahe einhellig werden Zweifel an der »Effizienz« des § 142 StGB in seiner gegenwärtigen Form und Anwendung formuliert30. Es wird festgestellt, daß die Neufassung des Paragraphen im Jahre 1975 zu keiner Verbesserung der Situation der Geschädigten geführt habe; bei Unfallflucht handele es sich nach wie vor um ein Massendelikt 31 . Damit wird die nach außen gerichte29

30 31

Dies ist nicht zuletzt auch eine Folge der unter II. beschriebenen Defizitsituation. Der Mangel an empirisch gewonnenen kriminologischen Befunden äußert sich beispielsweise in zumeist impliziten Rückgriffen auf Elemente anderer Disziplinen wie Pädagogik, Psychologie oder Anthropologie (Verhaltensund Lerntheorie, Triebentwicklung usw.). Beispielsweise Berz S. 181; Scholz S. 7. Sinngemäß beispielsweise: Bär S. 113; Denzlinger S. 178; Geppert S. 158; Haag S. 57.

74

III. Reform des § 142 StGB

te Effizienz des §142 StGB, seine Wirkung auf die Normadressaten kritisch gewertet 32 . b) Kritikebene

»Rechtsnorm«

Sofern in der gegenwärtigen Diskussion ausdrücklich auf die geltende Gesetzesnorm eingegangen wird, stehen deren Mängel an Transparenz und Bestimmtheit im Vordergrund. Verstöße gegen § 142 StGB geschähen aus Unkenntnis 33 , auch potentielle Täter seien zu den Opfern der Norm zu zählen 34 , es ergebe sich »in einem jeden Bürger praktisch berührenden Bereich ein ... hohes Strafbarkeitsrisiko« 35 . Zudem gehe ein präventives Potential verloren, denn es fehle der Norm an genau umrissenen Pflichten, an die der Verkehrsteilnehmer sich im »entscheidenden Moment erinnert und die für ihn gleichsam ein Korsett darstellen« 36 .Im einzelnen wird bemängelt, daß durch den Wortlaut der Norm, insbesondere im Zusammenhang mit den Begriffen »angemessene Zeit« und »berechtigt oder entschuldigt«, Tatbestandsirrtümer provoziert würden 37 . Ferner wird im Zusammenhang mit den aus § 142 StGB hergeleiteten Pflichten anhaltend bezweifelt, ob diese sich im Einklang mit dem Grundsatz der Straflosigkeit bei Selbstbegünstigung befänden 38 . Weiterhin wird die Vorschrift im Hinblick auf die Grundsätze der Subsidiarität des Strafrechts sowie der Verhältnismäßigkeit problematisiert 39 und gefragt, ob die Realisierung eines zivilrechtlichen Anliegens (Schadensersatz für

32

33 34 35 36 37 38

39

Zur Beurteilung der innengerichteten Normeffektivität i. S. von Schwierigkeiten der Justiz bei der Anwendung des § 142 StGB s. u. bei c). Beispielsweise Haag S. 58. G e p p e r t S . 158. H ö f l e S . 431. Middendorf 1982, S. 363. Heublein 1985, S. 15. Beispielsweise Scholz S. 8; Seib S. 397 f. verneint dagegen diesbezügliche Probleme; s. aber Geppert S. 160. Beispielsweise Scholz S. 8.

2. Die gegenwärtige Diskussion

75

den Geschädigten) die Androhung staatlicher Strafen mit deren spezifischen Strafzwecken rechtfertige 40 . c) Kritikebene

»Rechtsprechung«

Die Justizpraxis wird in der derzeitigen Diskussion um § 142 StGB nur am Rande angesprochen. Dabei wird darauf hingewiesen, daß - auch als Reflex auf die mangelnde Bestimmtheit der Gesetzesnorm - die Judikatur heterogen und kaum überschaubar sei41. Zudem wäre bei nachträglicher Meldung die bei der Gesetzesformulierung vorgesehene Alternative zwischen einer Mitteilung an die Polizei und an den Berechtigten durch eine Betonung des Unverzüglichkeitsgebotes faktisch außer Kraft gesetzt42. d) Kritikebene

»Schutzaspekt

des § 142 StGB«

Als Schutzobjekt des § 142 StGB wird auch in der gegenwärtigen Diskussion ausschließlich das private Beweissicherungsrecht der Unfallbeteiligten angesehen 43 . Besonderes Gewicht bei der Beschränkung auf privatrechtliche Interessen hat nach wie vor der Beschluß des BVerfG vom 29.5.63. Die Verfassungsmäßigkeit des § 142 StGB, so wird festgestellt, sei somit an den Ausschluß öffentlicher Interessen (als unmittelbares Schutzobjekt) an der Strafverfolgung gekoppelt 44 . An die Bestimmung des Schutzzwecks wird die Beurteilung möglicher unerwünschter Folgen einer Reform des § 142 StGB geknüpft. Im Vordergrund steht hierbei das Problem der Verkehrssicherheit im Zusammenhang mit Trunkenheit. Ungeachtet der Frage, ob § 142 StGB in seiner jetzigen Fassung ein geeig-

40 41 42 43 44

Heublein 1985, S. 17. Bär S. 126 f.; Cramer S. 158; Heublein 1986, S. 164. Cramer S. 158. Vgl. die diesbezüglichen Darstellungen bei Magdowski, Ruck oder Leipold. Scholz S. 9; Höfle S. 431; Geppert S. 160, sieht auch in dieser Auslegung die einzige Möglichkeit einen Konflikt mit dem Prinzip der straflosen Selbstbegünstigung zu vermeiden.

76

III. Reform des § 142 StGB

netes Instrument ist, Trunkenheit zu bekämpfen 45 , sowie einer möglichen Zunahme von Trunkenheitsfahrten im Anschluß an eine bestimmte Reform der Vorschrift, wird aufgrund der Beschränkung des Schutzzwecks dieser Rechtsvorschrift auf das private Beweissicherungsrecht das Problem unerwünschter Nebenfolgen tendenziell ausgegrenzt46; sie müßten sogar bewußt in Kauf genommen werden, wenn dies im Interesse der Geschädigten liege47. Obwohl die Auseinandersetzung um das durch § 142 StGB geschützte Rechtsgut zu einem Abschluß gekommen zu sein scheint und einer Beschränkung auf privatrechtliche Interessen nicht widersprochen wird, weisen einzelne Stimmen darauf hin, daß de facto eine Kumulation von Rechtsgütern festzustellen sei, die sich in Bezug auf den Rechtsgüterschutz nicht harmonisieren lasse48. Auch sei in der Judikatur eine Tendenz zu beobachten, die an der Beschränkung des zu schützenden Rechtsgutes auf das private Beweissicherungsinteresse zweifeln lasse49. e) Kritikebene »Mangelhafte Realisierung des Schutzzwecks« Ausschlaggebend für die negative Wertung des § 142 StGB in seiner gegenwärtigen Formulierung und Anwendung ist die Feststellung eines Widerspruchs zwischen intendiertem Schutzzweck und zur Verfügung stehenden Schutzmitteln mit der Folge, daß dem privatrechtlichen Beweissicherungsinteresse nur ungenügend Geltung verschafft werden könne 50 . Dahinter steht die Einschätzung, daß die Vorschrift (insbesondere wegen des Unverzüglichkeitsgebotes) häufig die Pflicht zur Selbstanzeige impliziere51. Sie überfordere den Normadressaten, indem er zur Sicherung privater Vermögensinteressen seine eigene Bestrafung

45 46 47 48 49 50 51

Verneinend Bär S. 128. Beispielsweise Scholz S. 9. HaagS. 58. R u c k S . 18 ff. Schwab S. 100 ff. Bär S. 129; Scholz S. 8. CramerS. 160.

2. Die gegenwärtige Diskussion

77

riskieren müsse 52 . »Je größer die Nachteile sind, die dem Täter bei einer unverzüglichen Meldung drohen, desto größer ist auch der Anreiz, nach einem Unfall seinen Pflichten nicht nachzukommen.« 53 Demgemäß wird angenommen, daß unter den gegebenen Umständen insbesondere Trunkenheitsfahrer das geringe Entdeckungsrisiko nach § 142 StGB in Kauf nehmen, um einer als sicher angenommenen Bestrafung zu entgehen. Die Rechtsvorschrift mit ihrer statuierten Wartepflicht wird somit als kontraproduktiv gesehen, da sie den Geschädigten im Hinblick auf die Realisierung von Schadensersatzansprüchen wenig nützt. Verlegt man den Schwerpunkt dieser Argumentationslinie auf die Täter, so impliziert sie die Annahme, daß diese nicht eigentlich gegen den Schutzzweck der Strafvorschrift verstoßen wollen, sondern aus »Motiven« handeln, die durch die Strafandrohung des Gesetzes nicht ursächlich bekämpft werden sollen54. Die »Motivation« für den Verstoß gegen § 142 StGB entstamme folglich nicht dem Bereich des durch die diese Norm geschützten Rechtsguts, sondern wird mit deliktfremden »Motiven« wie Angst vor Strafe begründet. Eine Argumentation dieser Art setzt freilich voraus, daß der Täter nicht als »Krimineller« gesehen wird 55 . »Der Praktiker weiß aus seiner täglichen Erfahrung im Umgang mit Unfallflüchtigen, daß es einfach nicht wahr ist, daß Unfallflucht so sehr aus einer verwerflichen Gesinnung oder aus Gemeinheit und Rücksichtslosigkeit anderen gegenüber begangen wird, sondern daß sie vielfach auf einem menschlichen Versagen, oft ausgelöst durch Unkenntnis, beruht« 56 . Die Unfallflucht geschehe meistens »ohne abwägende Überlegung, sondern spontan aus Furcht und Schrecken. Die Flucht war schon immer der verfüh52 53 54 55

56

Denzlinger S. 178; Ruck S. 142. C r a m e r S . 158. G e p p e r t S . 160; HaagS. 57. Allein Seib (S. 397) spricht von der sozialschädlichen, verwerflichen Gesinnung des Fluchttäters. Dieses Urteil deckt sich mit seiner Warnung, eine strafbefreiende Rücktrittsregelung einzuführen: Die kriminellen Täter würden sich auch dann nicht melden, dagegen die heute rechtstreuen Verkehrsteilnehmer in Versuchung geführt. Bär S. 124.

78

III. Reform des § 142 StGB

rerische Ausweg der bedrängten Kreatur.«57 Sei das psychische Gleichgewicht wieder hergestellt, rege sich bei vielen Geflüchteten der Wunsch, die Tat ungeschehen zu machen, den Schaden zu ersetzen58. »Echte Täter einer Unfallflucht sind daher lediglich diejenigen, die fliehen, weil sie Unannehmlichkeiten befürchten ...« 59 . Hier wäre allerdings auch zu berücksichtigen, daß nach allgemeinen Erkenntnissen zum Täter-Opfer-Verhältnis60 bei Massendelikten (wie auch Unfallflucht), besonders bei der Betrachtung längerer Zeiträume, Täter bereits Opfer waren und Geschädigte zu Unfallflüchtigen werden. Eine weniger durchgängige Trennung der am Deliktsgeschehen Beteiligten nach Opfern und Tätern könnte daher die Diskussion um eine Reform des § 142 StGB an Realitätsnähe gewinnen lassen. 2.2. Die Vorschläge der Fachöffentlichkeit zur Reform des § 142 StGB und seiner Anwendung Die Beurteilung des § 142 StGB durch die Fachöffentlichkeit konzentriert sich insbesondere auf die mangelhafte Realisierung des Schutzzwecks dieser Vorschrift. An dieses Ergebnis geknüpft ist eine breite Palette von Reformvorschlägen, die einheitlich eine verbesserte Durchsetzung von Ersatzansprüchen nach Unfällen mit Sachschaden zum Ziel haben.

57 58

59 60

H ö f l e S . 433. Leipold (S. 20 f.) sieht einen Widerspruch zwischen der Realität der Unfallflucht, die aus einer Situation eingeschränkter kognitiver und moralischer Kompetenz erwachse, und der Definition der Unfallflucht als Vorsatztat, die also einen rationalen abwägenden Entscheidungsprozeß voraussetze. Die geltende Fassung des § 142 StGB sei inadäquat, da sie die Vollendung der Tat (unter Umständen bereits nach einem Entfernen von wenigen Metern) vor den Zeitpunkt lege, zu dem der Täter sein Verhalten reflektieren könne. DenzlingerS. 179. Eisenberg § 56 Rn 17, s. auch § 4 9 R n 1.3.

2. Die gegenwärtige Diskussion

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2.2.1 Reform des Prozeßrechts In der Diskussion um eine Reform des § 142 StGB findet sich sowohl der Vorschlag, in die RiStBV eine Vorschrift aufzunehmen, wonach bei nachträglicher Meldung grundsätzlich gemäß §§ 153 ff. StPO einzustellen sei61, als auch die Empfehlung, in Fällen, bei denen nur formal gegen den § 142 StGB verstoßen wurde, d. h. wenn der Unfallverursacher sich i. S. des Schutzzweckes dieser Vorschrift um Aufklärung bemüht und geeignete Schritte unternommen hat, von der Möglichkeit einer Einstellung gemäß §§ 153 ff. StPO stärker und systematischer Gebrauch zu machen62. Die Ablehnung strafprozessualer Lösungen erfolgt in erster Linie mit dem Hinweis, daß sich die Situation der Geschädigten nur verbessern ließe, wenn der Geflüchtete die Reaktion der Strafverfolgungsbehörden mit Gewißheit vorausbestimmen könne63. Die Effektivität dieses Reformmodells würde ferner dadurch in Frage gestellt, daß in der Strafrechtspraxis bei Verkehrsstraftaten in Zusammenhang mit vermutetem Alkoholeinfluß wenig Bereitschaft zu Verfahrenseinstellungen bestünde64. Zudem erfolgten Einstellungen häufig gegen Zahlung einer erheblichen Geldbuße und würden daher als Bestrafung empfunden. Im übrigen wird kritisch vermerkt, eine strafprozessuale Lösung könne keinen Ersatz für eine erforderliche, aber nicht konsensfähige materiell-rechtliche Reform sein65.

61

62 63 64 65

Vgl. etwa Empfehlung des 20. DVGT. Ein zusätzlicher Antrag, der die Empfehlung an die Innenminister vorsah, die Polizei anzuweisen, bei sich selbst meldenden Unfallbeteiligten eventuelle Ordnungswidrigkeiten nicht zu verfolgen, fand dagegen keine Mehrheit (siehe Denzlinger S. 180). Auch in der Fachöffentlichkeit wurde dieser Vorschlag nur vereinzelt befürwortend aufgegriffen (z. B. Denzlinger S. 180). Bär S. 128 f. Berz S. 187; Scholz S. 10. HöfleS. 433. GeppertS. 164.

80

III. Reform des § 142 S t G B

2.2.2 Reform des materiellen Rechts a) Entkriminalisierung Die Entkriminalisierung der Verkehrsunfallflucht bei gleichzeitiger Übernahme in das Ordnungswidrigkeitenrecht nach ausländischem Vorbild 66 wird vereinzelt als eine »an sich« akzeptable Lösung empfunden. Jedoch wird einer solchen Reform keine Realisierungschance eingeräumt 67 , und entsprechende Uberlegungen erhalten daher nicht das Gewicht eines eigenständigen Reformvorschlages. Einwände gegen eine Entkriminalisierung beziehen sich auf möglicherweise kontraproduktive Folgen: Der intendierte Rechtsschutz der Geschädigten würde nicht gestärkt, da »die Strafdrohung des § 142 StGB trotz aller Defizite noch immer eine größere motivatorische Kraft entfaltet als die Androhung eines Bußgeldes« 68 . b) Strafantragserfordernis Der Vorschlag, die Strafverfolgung von Verstößen gegen § 142 StGB von einem Antrag abhängig zu machen 69 , beruht auf der Erwartung, Unfallbeteiligte seien eher bereit, ihrer Feststellungspflicht nachzukommen, wenn sie ohne den Druck drohender strafrechtlicher Konsequenzen auch nachträglich mit den Geschädigten eine Regelung treffen können. Fragen der Wartezeit am Unfallort und des Zumutbarkeitserfordernisses würden gegenstandslos, als Maßstab bliebe allein die Schadenswiedergutmachung 70 .

66 67 68 69

70

Beispielsweise D D R , Italien und Portugal (vgl. Bär-Hauser S. 97 ff). Cramer S. 158; Heublein S. 17. Berz S. 181; ähnlich Geppert S. 162 und H ö f l e S. 432. Bereits 1962 hatte ein Entwurf zum heutigen § 142 S t G B vorgesehen, daß bei Unfällen mit Sachschaden oder leichter Körperverletzung ein Einschreiten von Amts wegen nur erfolgen soll, wenn ein besonderes öffentliches Interesse vorliege (vgl. BT-Drs. IV/650). Beispielsweise Höfle S. 434.

2. Die gegenwärtige Diskussion

81

Zusätzlich wird der Vorschlag mit rechtssystematischen Erwägungen begründet: Flucht nach Sachschadenunfällen sei als Nachtat zu einer »fahrlässigen Sachbeschädigung« zu werten; Sachbeschädigung aber sei selbst bei der allein strafbaren Vorsatztat im allgemeinen ein Antragsdelikt 71 . Demgegenüber wird eingewandt, daß es sich beim Feststellungsinteresse zwar um ein Individualrechtsgut handle, dieses jedoch dem überindividuellen Bereich des Verkehrsstrafrechts zuzuordnen sei72. Gegen die Einführung eines Strafantragserfordernisses wird weiter angeführt, daß dadurch das Interesse der Allgemeinheit an einer differenzierten und »gleichen« Behandlung der Täter nachteilig tangiert werden könnte. Dies folge insbesondere daraus, daß Geschädigte die Drohung mit einem Strafantrag zur Durchsetzung ungerechtfertigter Ansprüche mißbrauchen könnten73. Ferner wird davor gewarnt, daß durch die Einführung eines Antragserfordernisses die generalpräventive Wirkung des § 142 StGB geschwächt würde 74 und - analog zu den Argumenten gegen die Stärkung des Opportunitätsprinzips - gegen diesen Reformvorschlag angeführt, daß eine Besserstellung der Geschädigten nicht zu erwarten sei, da nur die Gewißheit des Ausbleibens strafrechtlicher Konsequenzen Täter zu einer nachträglichen Meldung motiviere75. c) Verwertungsverbot Der Vorschlag, entsprechend etwa dem englischen Recht 76 , Feststellungen aus Anlaß eines Verkehrsunfalls nicht strafrechtlich zu verwerten, wird damit begründet, daß nach einem Unfall zumeist ein geringes Strafbedürfnis bestehe, da der Unfallverur71

72 73 74 75 76

Vgl. §§ 303 ff. S t G B ; Heublein S. 166; H ö f l e S. 433. Es sei zu schließen: »Die Rechtsgemeinschaft kann kein größeres Interesse an der Verfolgung von Personen haben, die die Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen vereiteln, als an der Verfolgung solcher, welche die diesen Ansprüchen zugrundeliegende Sachbeschädigung selbst begangen haben« (Berz S. 189). Beispielsweise Cramer S. 161 f. Berz S. 189; Cramer S. 162; Geppert S. 162 f.; Scholz S. 10. Geppert S. 162; Scholz S. 10. Berz S. 189; Scholz S. 10. Vgl. § 23 IV Road Traffic Act, mitgeteilt v. Magdowski S. 175.

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III. Reform des § 142 StGB

sacher durch den eigenen Schaden bereits wirksam bestraft sei. Er werde gegenüber Verkehrsteilnehmern, die folgenlos die Norm verletzten, zusätzlich und ungerechtfertigt benachteiligt wenn polizeiliche Ermittlungstätigkeit im allgemeinen an den Verkehrsunfall anknüpfe77. Kritische Stellungnahmen zu diesem Vorschlag78 verweisen insbesondere darauf, daß sich ein Verwertungsverbot nicht in das deutsche Recht einfügen lasse. Gegenüber alkoholisierten Fahrern, die an einem Unfall beteiligt sind, bestehe außerdem ein größeres Bestrafungsinteresse als bei nüchternen. Demgegenüber wäre bei einem Verwertungsverbot ein alkoholisierter Fahrer, der in einen Unfall verwickelt ist, besser gestellt als ein Trunkenheitsfahrer, der bei einer Kontrolle aufgefallen ist79. d) Absehen von Strafe Vereinzelt wird vorgeschlagen, in den § 142 StGB eine Ermessensvorschrift aufzunehmen. Analog zu Vorschlägen, die auf eine Reform des Prozeßrechts abzielen, soll dadurch die Möglichkeit geschaffen werden, in Fällen, bei denen sich der Unfallflüchtige bemüht hat, eine Beeinträchtigung des zivilrechtlichen Anspruchs des Geschädigten zu verhindern, die Strafe zu mildern bzw. ganz von einer Bestrafung abzusehen80.

77

78 79 80

Denzlinger S. 179; in eine ähnliche Richtung weist auch der Vorschlag von Ruck (S. 150 ff.), das Legalitätsprinzip durch das Zurückstellen öffentlicher Interessen einzuschränken und in Anlehnung an § 154c StPO eine verfahrensrechtliche Einstellungsmöglichkeit zu schaffen. Cramer S. 161; Geppert S. 163; Heublein 1986, S. 166. H ö f l e S . 439. Siehe z. B. den Antrag des Landes Rheinland-Pfalz im Bundesrat, §142 StGB einen neuen Absatz 5 anzufügen: »Das Gericht kann die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§49 Abs.2) oder von einer Bestrafung nach diesen Vorschriften absehen, wenn der Täter nach einem Unfall, bei dem ausschließlich Sachschaden entstanden ist, durch Meldung bei dem Geschädigten, der Staatsanwaltschaft oder den Behörden und Beamten des Polizeidienstes verhindert, daß der dem Geschädigten aus dem Unfall erwachsene Ersatzanspruch beeinträchtigt wird.«(Sitzung Unterausschuß des Rechtsausschusses vom 3.9.86).

2. Die gegenwärtige Diskussion

e) Neuformulierung

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der nachträglichen Feststellungspflicht

Eine Reihe von Beiträgen zielt auf eine Verlagerung der Schwerpunkte innerhalb des § 142 StGB ab: Die Benachrichtigungsbzw. Feststellungspflicht soll gegenüber dem Unverzüglichkeitsgebot bzw. der Wartepflicht gestärkt werden. Die hierzu in die Diskussion eingebrachten Vorschläge sind recht unterschiedlich. Sie reichen von der Forderung nach einer Umorientierung der justiziellen Auslegung der Vorschrift in ihrer geltenden Fassung bis hin zu der nach einer Streichung der Wartepflicht. Gemeinsam ist diesen Vorschlägen die Grundannahme, daß durch einen (faktischen) Wegfall des Unverzüglichkeitsgebots die Quasipflicht zur Selbstanzeige entfiele, die Zahl der Meldungen anstiege und dadurch mehr Geschädigte ihren Schaden ersetzt bekommen würden. Cramer (S. 160 ff.) sieht dieses Ziel erreicht, wenn die 1975 geschaffene Regelung in ihrem ursprünglich gedachten Sinn verwirklicht würde. Dies könne etwa dadurch erreicht werden, daß die in der Vorschrift enthaltene Alternative zwischen einer Benachrichtigung der Polizei oder des Geschädigten präzisiert und damit die Judikatur daran gehindert würde, diese Wahlmöglichkeit unter dem Gesichtspunkt des Unverzüglichkeitsgebots einzuschränken. Trunkenheitsfahrer könnten sich dann nach einer Halterfeststellung direkt beim Geschädigten melden und müßten nicht befürchten, kriminalisiert zu werden. Das kontraproduktive Element der jetzigen Regelung wäre neutralisiert und damit im Kern das erreicht, was eine Rücktrittsregelung (vgl. u. 2.2.2. f) der Sache nach sei, »nämlich eine vernünftige Ausgestaltung der nachträglichen Feststellungspflicht«81. Dagegen schlägt Geppert (S. 167) bei Sachschadenunfällen, die in Abwesenheit des Geschädigten oder eines Feststellungsberechtigten geschehen, zusätzlich zur Einführung einer Rücktrittsregelung vor, die Wartepflicht zurückzunehmen und durch eine Benachrichtigungspflicht zu ersetzen82. 81 82

Cramer S. 162. Ahnlich auch Haag (S. 59), dessen Vorschlag vorsieht, zur Erfüllung der Benachrichtigungspflicht einen Zeitraum einzuräumen, der für den Schädiger

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III. Reform des § 142 StGB

Gegen Vorschläge dieser Art wird zunächst ein pragmatisches Argument angeführt: Die Realisierung der angestrebten Ziele wäre auch auf diesem Wege mit einem Eingriff in das materielle Recht verbunden und würde damit im Vergleich zu anderen Maßnahmen keinen Vorteil bieten 83 . Zwar würde eine Einschränkung des Unverzüglichkeitsgebots nicht notwendigerweise die in § 142 StGB statuierte Wartepflicht tangieren, dennoch wird davor gewarnt, daß eine Reform dieser Art, »den Normappell an den Unfallbeteiligten, am Unfallort zu bleiben« und insbesondere das Haltegebot aufweichen würde 84 . In eine ähnliche Richtung gehen die Befürchtungen, daß eine Veränderung auf der Tatbestandsebene (Verschiebung des Vollendungszeitpunktes) die »plakative, unrechtstypisierende Funktion des Tatbestandes« aushöhlen 85 und die Reform »geradezu eine Aufforderung zu mehr Trunkenheitsfahrten mit der Möglichkeit der häuslichen Ausnüchterung nach dem Unfall« darstellen könnte 86 . Indes sind Argumente dieser Art unspezifisch, da sie nahezu (beliebig) auf alle Reformen bezogen werden können, die nicht eine Verschärfung der jeweiligen Strafnorm intendieren 87 .

83

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lang genug sei, die Gefahr der Entdeckung einer nicht unfallbezogenen Tat auszuschließen. In diesem Zusammenhang ist auch auf entsprechende Regelungen im Ausland zu verweisen. So werden beispielsweise in den U S A bei Unfällen dieser A r t teilweise erhebliche Fristen eingeräumt: N e w York 48 Stunden, Illinois 10 Tage, Kalifornien 15 Tage (vgl. Heublein 1986, S. 167). In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, daß nach h. Rechtsprechung im § 142 StGB das Verhältnis von Abs. 2 und 3 so geregelt ist, daß Abs. 3 die Bestimmung des Abs. 2 erläutert, nicht aber das Unverzüglichkeitsgebot einschränkt, und damit ein Spielraum für eine Betonung der Feststellungspflicht nicht gegeben scheint (siehe insbes. B G H 29, 138 (141); vgl. auch Dreher/Tröndle § 142, Rn 47). Höfle S. 435; auch Berz S. 184. Berz S. 184. Etwa Middendorf 1982, S. 364. Aus diesem Grunde liegen die Bestimmungsgrößen und Parameter einer Diskussion dieses Themenkomplexes außerhalb des Bezugsrahmens der vorliegenden, thematisch begrenzten Untersuchung.

2. Die gegenwärtige Diskussion

f) « Tätige Reue« als

85

Strafaufhebungsgrund

Mit der Einführung einer Rücktrittsregelung soll die Möglichkeit einer strafbefreienden nachträglichen Meldung geschaffen werden. Anders als bei der von der Zielvorstellung her vergleichbaren Neuregelung der nachträglichen Feststellungspflicht, bleibt jedoch von diesem Vorschlag die Tatbestandsebene des § 142 StGB unberührt: Die Strafbarkeit des unerlaubten Entfernens vom Unfallort, wie sie durch § 142 StGB definiert ist, würde aufrechterhalten bleiben; allein die Verhinderung des Eintritts eines Vermögensverlustes für den Geschädigten würde i. S. eines persönlichen Strafaufhebungsgrundes Straffreiheit garantieren. Für diese Konstruktion wird strafrechtsdogmatisch ausgeführt, daß es sich bei § 142 StGB dem Charakter nach um ein abstraktes Gefährdungsdelikt handle. Der Verlagerung der Strafbarkeit vor den Zeitpunkt der tatsächlichen Beeinträchtigung des Schutzgutes Vermögen müsse - quasi als Ausgleich - die Möglichkeit gegenübergestellt werden, den Täter straflos zu belassen, wenn er nach einer Verwirklichung des Gefährdungstatbestandes den Eintritt einer solcher Beeinträchtigung selbst verhindert habe88. Mit Blick auf die Rechtssystematik wird darauf verwiesen, daß das StGB auch bei anderen Tatbeständen mit einem vorgezogenen Vollendungszeitpunkt den Täter prämiere, der trotz (formaler) Vollendung des Delikts den endgültigen Eintritt eines Schadens an dem Rechtsgutobjekt verhindere89. Eine Schlechterstellung der durch Sachschadenunfälle Betroffenen sei auszuschließen, da die generalpräventive Wirkung des § 142 StGB bei einer solchen Lösung nicht geschwächt würde. Das Verlassen des Unfallorts bliebe weiterhin Tatunrecht und eine Strafaufhebung sei nur bei freiwilliger Meldung, nicht jedoch nach einer polizeilichen Ermittlung vorgesehen. Zudem ziele die Einführung der straffreien nachträglichen Meldung genau darauf ab, die Interessen der Betroffenen zu wahren, indem sozusagen eine zusätzliche Möglichkeit zur Verhinderung des88 89

B e r z S . 182. E t w a B e r z S . 185; H ö f l e S . 435.

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III. Reform des § 142 StGB

sen geschaffen werde, daß aus der Gefährdung des Schutzgutes des § 142 StGB eine endgültige Beeinträchtigung folgt 90 . Die Befürworter einer Rücktrittsregelung erwarten mit deren Einführung eine Abnahme der Zahl der Verstöße gegen § 142 StGB. So sprächen beispielsweise anwaltliche Erfahrungen dafür, »daß die Schädiger sich ... häufig bereitgefunden hätten, sich den Ansprüchen des Geschädigten zu stellen, falls dies noch nachträglich straffrei möglich gewesen wäre« 91 . Von einer Reform ginge keine indirekte Ermunterung zur Unfallflucht aus, da aufgrund des Fortbestehens der derzeitig gültigen Tatbestandsebene der Täter unter dem Druck stehe, vor seiner freiwilligen Meldung entdeckt und bestraft zu werden. Zudem wäre die Polizei verpflichtet, beispielsweise bei Verdacht des Vorliegens von Trunkenheit, tätig zu werden 92 . Kontraproduktive Auswirkungen einer Reform seien somit auszuschließen. Als gewichtiges »Argument« für die Schaffung einer Rücktrittsmöglichkeit muß sicherlich auch die Zustimmung und Unterstützung gesehen werden, die dieser Vorschlag auf Fachtagungen und durch Verbände erhielt. So sprachen sich die großen Automobilclubs 93 , aber auch der 44. Deutsche Anwaltstag 94 sowie der 20. und 24. DVGT 95 für eine solche Lösung aus. Dies kann als Hinweis darauf verstanden werden, daß zumindest in Teilen der Praxis eine gewisse Bereitschaft vorhanden ist, eine Reform des § 142 StGB, die »tätige Reue« als einen persönlichen Strafaufhebungsgrund etabliert, mitzutragen. Auch die Beobachtung, daß aus einer Vielzahl gerichtlicher Entscheidun-

90 91 92 93

94 95

Sinngemäß Scholz S. 8 f. Berz S. 183. Beispielsweise Höfle S. 435 f. Beispielsweise ADAC-Stellungnahme zum Entwurf eines 14. S t r A n d G (§ 142 StGB) vom Dezember 1974; Presseerklärung des A C E zum 24. DVGT. Der Tagesspiegel v. 12.6.1987. S. Höfle S. 435. Der A K II des 20. D V G T sah allerdings bei Einführung einer 24-Stunden-Frist für verspätete Meldungen eine strafprozessuale Lösung vor: W ü r d e das Feststellungsinteresse des Geschädigten nachträglich befriedigt, sollte das Verfahren gemäß §§ 153 ff. StPO regelmäßig eingestellt werden.

2. Die gegenwärtige Diskussion

87

gen eine Entwicklung in diese Richtung zu erkennen sei (nach nächtlichen Unfällen würden beispielsweise Meldungen am nächsten Morgen zunehmend anerkannt) 96 , mag als diesbezüglicher Hinweis gelten. Gegen die Einführung einer Rücktrittsmöglichkeit wird vorgebracht, von einer Reform dieser Art sei eine Schwächung der präventiven Wirkung der Vorschrift zu erwarten. Die große Mehrheit der Unfallbeteiligten käme auch heute ihren Pflichten nach; die Möglichkeit, trotz Normverletzung nachträglich Straffreiheit zu erlangen, würde jedoch zu einer Erosion dieser (noch verbreiteten) Rechtstreue führen 97 . Insbesondere wird eine Aufweichung des Normbefehls, nach einem Unfall anzuhalten und der Wartepflicht genüge zu tun, befürchtet, da trotz Beibehaltung des Tatbestands »das Ergebnis eben doch so« sei, »daß auch derjenige straflos ausgeht, der nach einem Unfall weder anhält und aussteigt, noch den Umfang des Schadens abschätzt ...«. Zudem untergrabe die Schaffung eines persönlichen Strafaufhebungsgrundes ein lerntheoretisches Konzept, wonach das Verkehrsrecht darauf angelegt sein müsse, dem Verkehrsteilnehmer eindeutige und klare Normbefehle zu geben98. Außerdem verschlechtere sich mit dem Entfernen vom Unfallort die beweisrechtliche Situation des Geschädigten, was auch durch die Einführung einer Beweislastumkehr nicht auszugleichen sei99. Die Ablehnung des hier diskutierten Reformmodells wird auch mit Zweifeln in Bezug auf dessen praktische Effektivität begründet100. »Die kriminogenen Faktoren des potentiellen Täterkreises« sowie die »egoistische Grundhaltung«, die motivierend für Unfallflucht sei, würden nachträgliche Meldungen nur in geringem Umfang erwarten lassen101. Die Reform laufe auf ein »Naßfahrerprivileg« hinaus, aber selbst bei Alkoholfahrern sei keine wesentliche Verhaltensänderung denkbar, handele es

96 97 98 99 100 101

Höfle S. 434. Ruck S. 118 ff. Cramer S. 159. Cramer S. 161. Ruck S. 120. Seib S. 399.

88

III. Reform des § 142 StGB

sich doch um eine »kriminogen anfällige, zu einem beträchtlichen Teil vorbelastete, zur Verantwortungslosigkeit neigende Tätergruppe«102. Jenseits der grundsätzlichen Frage der Schaffung eines persönlichen Strafaufhebungsgrundes wird eine Reihe spezifischer Probleme diskutiert, die teilweise auf (potentielle) Schwachstellen dieses Modells verweisen. aa) Zivilprozessuale Beweislastumkehr Stellungnahmen zu der Frage, ob bei Einführung einer Rücktrittsmöglichkeit quasi flankierend die zivilprozessuale Beweislast demjenigen aufgetragen werden sollte, der den Unfallort verlassen hat, orientieren sich grundsätzlich an der Beurteilung dessen, ob durch diese Reform dem Geschädigten Nachteile bei der Durchsetzung des Beweissicherungsinteresses entstehen würden oder nicht. Ausgeschlossen wird eine solche Konsequenz vor allem mit dem Hinweis darauf, daß bei Fällen, die unter die vorgeschlagene Reform fielen, für die Klärung der Schuld und Haftungsfrage der körperliche Zustand des Fahrers (insbesondere Trunkenheit) sowie der technische Zustand des Fahrzeugs (Reifen usw.) keine Rolle spielten; gemäß der Gefährdungshaftung aus § 7 StVG stünde außer Zweifel, daß den Verursacher die volle Haftung träfe103. Die Forderung nach einer Beweislastumkehr zielt indes grundsätzlich auf eine einheitliche Regelung von »Eventualitäten« ab104, bzw. es soll eine zusätzliche Sicherung dagegen geschaffen werden, daß sich nach Einführung einer Rücktrittsregelung die beweisrechtliche Situation der Unfallgeschädigten doch verschlechtern könnte105. Legitimiert wird eine Beweislastumkehr mit der Überlegung, daß sich der Schädiger die Möglichkeit, den Unfall straflos nachträglich zu melden, durch den Verzicht auf

102 103 104 105

Seib S. 400. Scholz S. 8 f.; Berz S. 183. Berz S. 186. Geppert S. 165; Heublein 1986, S. 168.

2. Die gegenwärtige Diskussion

89

eine Aufklärung des Unfallhergangs und damit auch auf möglicherweise für ihn günstige Feststellungen erkaufe106. bb) Schaffung neutraler Meldestellen Sowohl die geltende Fassung des § 142 StGB als auch einige der in die Diskussion eingebrachten Reformvorschläge107 sehen vor, daß nachträgliche Meldungen an Polizei bzw. Staatsanwaltschaft zu richten sind108. Der Vorschlag, auch Stellen, die nicht dem Legalitätsprinzip unterliegen (Automobilclubs, Versicherungen, Straßenbaubehörden, usw.), mit der Entgegennahme von Unfallmeldungen zu betrauen, scheint dagegen insofern konsequenter an die gegenwärtig formulierten Reformziele anzuknüpfen, als dadurch die Hemmschwelle, einen Unfall zu melden, herabgesetzt werden könnte. Auch würde eine solche Regelung unterstreichen, daß der § 142 StGB die zivilrechtlichen Feststellungsinteressen der Unfallbeteiligten und Geschädigten schützen soll, nicht jedoch öffentliche Interessen109. cc) »Freiwilligkeit« als Voraussetzung von Straffreiheit bei nachträglicher Meldung Neben den formalen Voraussetzungen für die Erlangung von Straffreiheit bei nachträglicher Meldung (Zeitgrenze, Meldestellen etc.) ist in der gegenwärtigen Diskussion die Frage kontro106 107 108

109

Haag S. 60. Etwa Cramer, Scholz. Diese Beschränkung bleibt allerdings i.d.R. ohne nähere Begründung. Scholz (S. 10) weist beispielsweise allein darauf hin, daß es bei der Klärung der Frage, ob die Meldung innerhalb der vorgeschlagenen Frist erfolgt ist, zu Beweisproblemen kommen könnte und somit eine derartige Beschränkung aus dem Gebot der Rechtsklarheit folge. Der 20. D V G T empfahl 1982 - allerdings im Zusammenhang mit einem strafprozessualen Reformmodell - die Zulassung von Stellen, »die nicht Strafverfolgungsbehörden« sind (vgl. auch Bär S. 129; Denzlinger S. 181). Seitdem wurde dieser Vorschlag auch im Zusammenhang mit der hier diskutierten Einführung einer Rücktrittsmöglichkeit eingebracht (Etwa Haag S. 60; Berz S. 181 ff.; Geppert S. 167). Der A D A C , der als neutrale Institution mit der Entgegennahme von Unfallmeldungen betraut werden könnte, hat sich hierzu ebenfalls positiv geäußert und seine Bereitschaft zu einer Mitwirkung erklärt (schriftl. Mitteilung an Verf. v. 7.8.1987).

90

III. Reform des § 142 StGB

vers, was unter der für die »tätige Reue« erforderlichen Freiwilligkeit zu verstehen sei. Das sogenannte Berliner Modell 110 definiert »freiwillige Meldungen« im wesentlichen negativ. Die Voraussetzungen für Straffreiheit seien dann erfüllt, wenn die Unfallbeteiligung des Unfallflüchtigen vor einer nachträglichen Meldung nicht bekannt war, oder - falls die Beeinträchtigung des Ersatzanspruchs ohne Zutun des Täters nicht eintritt - wenn er sich um die Verhinderung der Beeinträchtigung freiwillig und ernsthaft bemüht hat. Nach diesem Modell erwächst Straffreiheit in erster Linie aus der Effektivität der Bemühungen des Geflüchteten, dem Geschädigten zur Erfüllung der Ersatzansprüche zu verhelfen. Ein anderer Akzent folgt dagegen aus der Überlegung, dem Täter müsse für den Fall das Bestrafungsrisiko genommen werden werden, daß seine Meldung nicht mehr zur Tataufklärung beigetragen hat. In diesem Falle würde das freiwillige und ernsthafte Bemühen um nachträgliche Aufklärung im Vordergrund stehen111. Problematisiert wird das Erfordernis der Freiwilligkeit auch im Zusammenhang mit der Setzung einer gesetzlichen Frist, die wesensmäßig erfordere, daß sie auch ausgeschöpft werden kann. Diesem Grundsatz laufe das Freiwilligkeitserfordernis insofern zuwider, als es die Möglichkeit einer Fristausnutzung abschneidet, wenn die »Meldung zwar noch fristgemäß, aber nicht mehr »freiwillig« erfolgen kann« 112 .

110 1,1 112

S. Scholz S. 7 ff. Berz S. 187. Cramer S. 162. Vgl. auch den Vorschlag des Landes Niedersachsen (Sitzung des Unterausschusses des Rechtsausschusses des Bundesrats vom 3.9.86), auf »Freiwilligkeit« als Voraussetzung von Straffreiheit zu verzichten. Das durch § 142 StGB geschützte Rechtsgut sei allein privater Art, und daher komme es ausschließlich darauf an, daß durch eine Nachmeldung eine Benachteiligung der Interessen des Geschädigten verhindert werde. A u s welchen Motiven heraus der Täter dabei handle, sei gleichgültig.

2. Die gegenwärtige Diskussion

91

dd) Begrenzung der Rücktrittsmöglichkeit (Zeit und Schadenshöhe) Eine Beschränkung auf Sachschadenunfälle ohne Festlegung der Schadensobergrenze scheint nicht kontrovers113. Unterschiedliche Positionen werden dagegen bei der Frage deutlich, ob Straffreiheit nur bei Nachmeldung innerhalb einer bestimmten Frist erfolgen sollte oder nicht. So wird gefordert, »dem Täter eine nicht allzu komfortabel bemessene Frist zur Nachmeldung zuzugestehen«114 und die »Bedenkzeit« auf 24 Stunden zu begrenzen, um die zeitliche Nähe zum Unfall zu erhalten. Demgegenüber wird vor Anwendungsproblemen im Falle der Einführung einer solchen Frist gewarnt. Die ohnehin komplexe Bestimmung des § 142 StGB würde für die Allgemeinheit noch unzugänglicher115. »Ungereimtheiten« würden entstehen, wenn jemand die Tagesfrist aus Gründen versäumt, für die er nicht verantwortlich gemacht werden könne116. Ferner wird darauf verwiesen, daß das Feststellungsinteresse des Geschädigten nicht mit dem Ablauf einer Frist erlösche und daher ein Unfallflüchtiger die »eigentliche« Voraussetzung seiner Straffreiheit, nämlich die Tataufklärung durch Eigeninitiative, auch nach mehreren Tagen erfüllen könne117. Dementsprechend werden auf systematischer Ebene Bedenken angemeldet, da sich eine zeitliche Begrenzung bei keiner der übrigen Rücktrittsvorschriften des StGB findet und es auch beim vollendeten Delikt stets ausreiche, rechtzeitig das Unrecht wiedergutzumachen, bevor ein weiterer Schaden eingetreten ist 118 .

113 114 115 116 117 118

Eine solche Begrenzung wäre offensichtlich impraktikabel. Vgl. Berz S. 186. Scholz S. 10; Leipold (S. 242) fordert dagegen eine von nur 12 Stunden. Berz S. 186. Cramer S. 162. Beispielsweise Berz S. 187; Denzlinger S. 181. Cramer S. 162.

92

III. Reform des § 142 StGB

2.2.3. Reformvorschläge außerhalb des Straf(verfahrens)rechts Zusätzlich zu Maßnahmen im Strafrecht oder Strafprozeßrecht werden in die Diskussion Vorschläge eingebracht, die sich auf Regelungen im Umfeld des § 142 StGB beziehen. a) Abschaffung des Schadenfreiheitsrabattes Es wird allgemein von einer kriminogenen Wirkung des Schadenfreiheitsrabattes ausgegangen119. Die Vorstellungen darüber, wie dies für die Praxis umzusetzen sei, sind jedoch recht unterschiedlich. So wird vorgeschlagen, das gegenwärtige Rabattsystem ganz abzuschaffen120, da es die Solidargemeinschaft der Versicherten zerstöre und damit dem Ziel der gesetzlichen Haftpflichtversicherung entgegenwirke, Opfern von Unfällen Schutz zu garantieren121. Gegen diese Position wird eingewandt, das Rabattsystem habe zu vorsichtigerer Fahrweise und damit zu einer Erhöhung der Verkehrssicherheit geführt122. Außerdem wird die Effektivität einer Abschaffung des Rabattes bezweifelt, da der größte Teil der Verstöße gegen § 142 StGB mit Alkohol in Verbindung stünde und eine solche Änderung für diese Fälle ohne Folge bliebe 123 . Zwischen diesen Vorstellungen (Abschaffung bzw. unveränderte Beibehaltung des gegenwärtigen Systems) liegt der Vorschlag, eine Schadensgrenze zu bestimmen, unterhalb derer eine Inanspruchnahme der Versicherung zu keiner Beeinträchtigung des Rabatts führt 124 . b) Änderungen der Versicherungsbestimmungen Einzelne Stimmen weisen darauf hin, daß dem Ziel, nachträgliche Unfallmeldungen zu erleichtern, potentiell die Bestimmung des § 7 A K B entgegenstünde, wonach der Versicherungsnehmer verpflichtet ist, alles zu tun, was der Aufklärung des Tatbestandes dienlich sein kann. Unerlaubtes Entfernen vom 1,9 120 121 122 123 124

Vgl. I. 4. Detailliert Ruck S. 140 ff. Denzlinger S. 180. Bär S. 125; Cramer S. 160 f.; Geppert S. 163. Geppert S. 163. Cramer S. 160 f.

3. Bewertung

93

Unfallort gilt als Obliegenheitsverletzung mit der Konsequenz, daß der Versicherte vom Versicherer bis zu einem Betrag von 5.000,— D M in Regreß genommen werden kann. Zur Erreichung des Reformzieles sei daher diese Leistungsfreiheit auszuschließen 125 , zumal bei Unfällen, die unter die vorgeschlagenenen Reformen fallen, die Haftungslage gemäß § 7 Abs. 1 StVG regelmäßig eindeutig sei126.

3. Bewertung Die anhaltende Diskussion um den § 142 StGB ist deutlich durch kritische, eine Reform befürwortende Stellungnahmen geprägt. Dabei läßt sich jedoch keine Entwicklung in Richtung einer Konsensbildung auf der Ebene konkreter Kritikpunkte an der jeweils geltenden Fassung der Norm sowie daraus resultierender Anderungsvorschläge beobachten. Allerdings haben sich einige typische Ansatzpunkte für eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Vorschrift und, analog dazu, bestimmte Schwerpunkte für Reformüberlegungen herauskristallisiert (s. Bild III/l). a) Kritische Positionen stimmen tendenziell in der Feststellung einer mangelhaften Realisierung des Schutzzwecks bzw. mangelhafter Effizienz bei der Anwendung der bestehenden Rechtsnorm überein. Dies schließt eine Erweiterung der Perspektiven ein, die in die Diskussion eingehen. Die rechtsdogmatisch orientierte Problemwahrnehmung wurde ergänzt durch Sichtweisen, die der Rechtspraxis entstammen. Damit wurde zugleich ein Interesse an empirischen Erkenntnissen über den Problembereich deutlich (Anwendungsprobleme der Norm, Verhalten von Verkehrsteilnehmern etc.).

125 126

Berz S. 190 f. Höfle S. 436.

94

III. R e f o r m des § 142 StGB

Systematisierung der Vorschläge zu einer Reform des § 142 StGB • Flexible Reaktion der Institutionen Ziel:

Differenzierte Reaktion der Institutionen auf unterschiedliche Tatumstände; Verfahrenseinstellung bzw. Straffreiheit/ -minderung, wenn nur formal gegen § 142 StGB verstoßen und das geschützte Rechtsgut nicht verletzt wurde.

Mittel: u.a. Reform des Prozeßrecht, Aufnahme einer Ermessensvorschrift in §142 StGB Eine Änderung des Norminhalts des § 142 StGB wird nicht erforderlich. • Erleichterung normkonformen Verhaltens nach Sachschadensunfällen Ziel:

Eliminierung von Hindernissen für Normeinhaltung; Modifikation des Unverzüglichkeitsgebots dahingehend, daß Erfüllung der Benachrichtigungspflicht nicht mit Nachteilen (insb. Bestrafung) verbunden ist.

Mittel: u.a. Streichung oder Einschränkung des Unverzüglichkeitsgebots bzw. der Wartepflicht, Schaffung einer Meldefrist, Einführung einer strafbefreienden Rücktrittsmöglichkeit Eine partielle Veränderung der Norm des § 142 StGB wird notwendig; die grundsätzliche Normstruktur bleibt durch Reformen unberührt. • Entkrlmlnallsierung von Unfallflucht nach Sachschadensunfällen Ziel:

Konsequente Umsetzung der Festlegung des durch § 142 StGB geschützten Rechtsgutes (privates Beweissicherungsinteresse); Herausnahme des Verhaltens von Verkehrsteilnehmern nach einem Sachschadensunfall aus dem Regelungsbereich des Strafrechts.

Mittel: u.a. Übernahme des Tatbestandes in Ordnungswidrigkeitenrecht, Etablierung eines Strafantragserfordernisses, Verwertungsverbot Umsetzung dieser Strategie ist mit einer grundsätzlichen Veränderung der Normstruktur verbunden.

(Bild 111/1)

3. Bewertung

95

b) Die Diskussion hat (noch) nicht zu einem spezifischen, weithin akzeptierten Reformmodell geführt, doch knüpft die Mehrzahl der relevanten Vorschläge an Änderungen im materiellen Recht an. Innerhalb dieses Rahmens kommt einer Modifikation des Unverzüglichkeitsgebotes bzw. der Wartepflicht die größte Bedeutung zu. Diese Vorschläge zielen insgesamt darauf ab, im Zusammenhang mit Sachschadensunfällen, die Verhaltenspflichten weniger eng zu bestimmen und damit normkonformes Verhalten zu erleichtern. c) Der Vorschlag zur Einführung einer straft?efreienden Rücktrittsmöglichkeit hat zunehmend, auch innerhalb der juristischen Praxis, Zustimmung gefunden. Die Bewertung von Reformansätzen im Hinblick auf die Erreichung des allgemein akzeptierten Zieles »Verbesserung der Durchsetzungsmöglichkeiten von Schadenersatzansprüchen der Geschädigten« muß insbesondere diesen Ansatz berücksichtigen. Es ist zu klären, ob für diesen Vorschlag praktische Realisierungsmöglichkeiten bestehen, und wie weit er Lösungen für die in der Reformdiskussion deutlich gewordenen Defizite der bestehenden Norm verspricht.

IV. Befragungen 1. Befragung von Organisationen und Institutionen 1.1. Durchführung der Befragung Insgesamt wurden rund 70 Organisationen - Parteien, Ministerien bzw. Senatsverwaltungen, Behörden und Verbände - zu § 142 StGB und damit in Zusammenhang stehenden Sichtweisen befragt. Ziel war dabei, den Stand der Diskussion und Meinungsbildung bei diesen sog. »politischen Akteuren« sowie die Positionen zu den verschiedenen Reformbestrebungen zu ermitteln. In die Befragung einbezogen wurden nach Möglichkeit alle Organisationen und Institutionen, die - auf unterschiedliche Art und Weise - auf den Gesetzgebungsprozeß bei Verkehrsrechtsfragen potentiell Einfluß haben (könnten)1. Die Befragung erfolgte schriftlich mit Hilfe eines kurzen Leitfadens, der folgende Aspekte aufgriff: problematische Teilbestimmungen des § 142 StGB, Reformbedürftigkeit, Stellungnahme zur Einführung einer strafbaren Rücktrittsmöglichkeit. Nicht alle angeschriebenen Institutionen und Organisationen haben sich geäußert, und nicht immer erfolgte die Beantwortung der Fragen. Anders als bei Befragungen von Einzelpersonen ist dies jedoch nicht als unmittelbare »Antwortverweigerung« zu interpretieren; vielmehr scheint festzustehen, daß es - abgesehen von den formell zuständigen Ministerien bzw. Senatsverwaltungen, juristischen Berufsverbänden und KraftfahrervereinigunDie entsprechenden Berufs- und Interessenverbände wurden insb. anhand des Staatshandbuchs der Bundesrepublik Deutschland identifiziert.

98

IV. Befragungen

gen - in den befragten Organisationen keine kontinuierliche Diskussion, häufig auch keine konsolidierte Position zu § 142 StGB bzw. zu dem Problem der Unfallflucht gibt. 1.2. Darstellung der Ergebnisse 1.2.1. Parteien Von den fünf im Bundestag vertretenen Parteien antworteten allein FDP und CSU. Innerhalb der FDP wird eine Reformbedürftigkeit der gegenwärtigen Fassung des § 142 StGB festgestellt, und man spricht sich für die Einführung einer strafbefreienden Rücktrittsregelung bei Sachschadensunfällen im ruhenden Verkehr aus. Im Unterschied hierzu besteht in der CSU die Auffassung, daß »ein Anderungsbedarf nicht vorliegt«; indes hätten sich die entscheidenden Gremien in der Partei nicht mit der Problematik des § 142 StGB befaßt. Innerhalb der großen Parteien C D U und SPD bestehen keine homogenen Haltungen zu § 142 StGB und seiner etwaigen Reform 2 . Verkehrsunfallflucht gilt als wichtiger aber spezieller Problembereich, und eine Transformation dieses Themas in einen sog. »political issue« wird nicht erwünscht 3 . Insofern ist davon auszugehen, daß die Parteien nur in begrenztem Maße auf die weitere Ausgestaltung des § 142 StGB Einfluß nehmen werden und somit nicht zu den zentralen »politischen Akteuren« zählen.

2

3

Dies verdeutlicht sich an den unterschiedlichen Positionen der Länder zu einer Reform, die nicht mit C D U - bzw. SPD-geführter Regierung zusammenfallen. Hierfür spricht bspw. eine wenig veränderte Haltung auf Seiten des Bundesjustizministeriums zu einer Reform des § 142 StGB auch über den Bonner Regierungswechsel hinweg (vgl. diesbezügliche Stellungnahmen aus dem BMJ im Zusammenhang mit dem 13. Strafrechtsänderungsgesetz, etwa BT-Dr 7/2434, BT-Dr 9/1388, S. 4 f. und Recht 3/85, S. 46 f.).

1. Befragung von Organisationen und Institutionen

99

1.2.2. Ministeriendes Bundes Im Einvernehmen mit dem BMV stellt das BMJ fest, daß dort keine anderen Probleme bei der Anwendung des § 142 StGB bekannt geworden seien, als solche, die in der Fachliteratur oder bei Fachtagungen bereits angesprochen worden seien. Ein Reformerfordernis wird nicht konstatiert, und aus den Ministerien liegen diesbezügliche Vorschläge folglich nicht vor. Bekräftigt wurde die bereits im Bundesratsrechtsausschuß im September 1986 vorgetragene Skepsis gegenüber der Einführung einer strafbefreienden Rücktrittsmöglichkeit innerhalb von 24 Stunden. Diese Ablehnung beruht zum einen auf den inhaltlichen Argumenten, daß eine Aushöhlung des Normzwecks zu befürchten sei sowie eine Reform in einem größeren Zusammenhang betrachtet werden müsse, insb. im Hinblick auf die Beweissituation der Geschädigten und auf versicherungsrechtliche Aspekte4. Zum anderen wird eine Rechtsreform aus formalen Gründen abgelehnt, indem auf einen Kabinettsbeschluß der Bundesregierung verwiesen wird, wonach Gesetzesvorhaben nur dann eingebracht werden sollen, wenn ihre Notwendigkeit unabweisbar sei. Eine gewisse Kompromißbereitschaft gegenüber dem Reformlager wurde jedoch dadurch signalisiert, daß das BMJ vorschlug, vor einer endgültigen Entscheidung die Ergebnisse einer einschlägigen empirischen Untersuchung abzuwarten sowie nach Praxisbefragungen Beratungen mit den Fachreferenten der Landesjustizverwaltungen durchzuführen. 1.2.3. Ministerien und Behörden der Länder Auf Länderebene haben die Innenministerien (mit Ausnahme von Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Hamburg) und die Verkehrsministerien auf die Zuständigkeit der Justizministerien verwiesen oder - zu einem kleineren Teil - nicht geantwortet 5 . In den Stellungnahmen der Justizministerien kommt insgesamt eine deutliche Besorgnis darüber 4 5

Vgl. auch BT-Dr 9/1388, S. 4 f. und Recht 3/85, S. 46 f. Berliner Senatsstellen wurden nicht in die Befragung einbezogen.

100

IV. Befragungen

zum Ausdruck, daß aufgrund der aktuellen Entwicklungen im Bereich Verkehrsunfallflucht ein effektiver Opferschutz in Frage gestellt sei. Folge davon ist eine generelle Aufgeschlossenheit gegenüber Bestrebungen, die das Ziel verfolgen, dem Schutzgedanken der Vorschrift des § 142 StGB verstärkt Rechnung zu tragen: Die Länder Berlin, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen haben im September 1986 Anträge auf eine Änderung des § 142 StGB in den Rechtsausschuß des Bundesrats eingebracht (s. u.); Länder, die sich gegen eine Reform dieses Paragraphen aussprechen, tun dies weniger aus grundsätzlichen Erwägungen, als aus einer Skepsis gegenüber den Wirkungen einer Reform (s. Tab. IV/1.1). Die Länder Bayern, Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen und das Saarland lehnen die Einführung einer strafbefreienden Rücktrittsmöglichkeit ab. Diese Ablehnung erfolgt primär mit dem pragmatischen Argument, es sei ungewiß, ob mit dieser Maßnahme eine Effektivierung des Opferschutzes erreicht werden könne. Zudem werden folgende negative Sekundärfolgen befürchtet: die Aufweichung des Normbefehls, nach einem Verkehrsunfall zu halten; eine mögliche Zunahme von Alkoholfahrten; eine Verschlechterung der Beweissituation von Unfallgeschädigten; eine Reduzierung der polizeilichen Ermittlungstätigkeit innerhalb der Nachmeldefrist. Teilweise wurden Gerichte und Staatsanwaltschaft durch die Justizminsterien befragt (so Bayern, Baden-Württemberg, Saarland). In den Stellungnahmen wird darauf verwiesen, daß sich dadurch keine neuen Gesichtspunkte, die für eine Reform sprechen könnten, ergeben hätten. Insgesamt ist die ablehnende Haltung dieser Länder das Ergebnis der Einschätzung, daß fachliche Bedenken und Befürchtungen die an eine Reform geknüpften Hoffnungen überwiegen. Dieses gegenseitige Abwägen ermöglicht eine fortdauernde Offenheit gegenüber neuen Argumenten und empirischen Befunden, wodurch bei diesen Bundesländern eine Modifikation derzeitiger Positionen möglich werden kann. Für die Einführung einer Regelung i.S. »tätiger Reue« sprechen sich Berlin, Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein aus. Die Argumentation verläuft spiegelbildlich zu der der Reformgegner: durch die Einführung der Möglichkeit i.S. von

1. Befragung von Organisationen und Institutionen

101

»tätiger Reue« wird gerade eine Verringerung der Zahl der Personen erwartet, die sich nach einem Verkehrsunfall auf Dauer den erforderlichen Feststellungen zu entziehen versuchen. Negative Sekundärfolgen werden nicht vorhergesehen. Neben diesen positiven Effekten für die Unfallgeschädigten wird mit dieser Reform eine Stärkung des Grundsatzes der Straflosigkeit verbunden. Das nordrhein-westfälische Justizministerium nimmt eine abwartende Haltung ein. Der weitere Meinungsbildungsprozeß soll in Abhängigkeit zu dem weiteren Diskussionsverlauf erfolgen. In den Stellungnahmen der Innenministerien wird die polizeiliche Sicht des Problems Verkehrsunfallflucht deutlich. Verstöße gegen § 142 StGB werden als Massendelikt beschrieben und Probleme in der praktischen Anwendung dieser Vorschrift dargestellt (insb. Umfang der Wartepflicht und Feststellungspflicht). Damit scheint ebenfalls eine latente Reformbereitschaft zu bestehen. Das Bayerische Staatsministerium des Innern schlägt vor, die in § 142 StGB enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe durch »klare, für jedermann verständliche Vorgaben« zu ersetzen. Präzise Reformvorschläge bestehen jedoch auf Seiten der Innenministerien nicht. Wie auch die Justizministerien, lehnen die Innenministerien von Baden-Württemberg, Bayern und Hamburg die Einführung der Möglichkeit i.S. von »tätiger Reue« ab6. Die Gründe hierfür sind wiederum Zweifel daran, ob mit dieser Maßnahme tatsächlich mehr Verkehrsteilnehmer veranlaßt werden können, nach einem Unfall ihrer Feststellungspflicht nachzukommen. Zusätzlich werden negative Sekundärfolgen befürchtet. Überlegungen dieser Art werden auch aus der Stellungnahme des Innenministeriums von Nordrhein-Westfalen deutlich. Dennoch scheint sich dort eine Haltung durchgesetzt zu haben, die - auf dem Hintergrund der Annahme rasch steigender Fluchtzahlen - der Ein-

6

Das Bayerische Innenministerium scheint eine Lösung vorzuziehen, bei der bei geringfügigen Sachschäden allgemein eine 24-stündige Meldefrist eingeräumt würde.

102

I V . BEFRAGUNGEN

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