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German Pages 272 [274] Year 2019
Perspektiven der Ethik herausgegeben von
Reiner Anselm, Thomas Gutmann und Corinna Mieth
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Moritz Heepe
Verdientes Wohlergehen Philosophische Gerechtigkeit und empirische Moralforschung
Mohr Siebeck
Moritz Heepe, geboren 1965; Studium der Humanmedizin und Philosophie an der Freien Universität Berlin mit Promotion in beiden Fächern; Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Geriatrie, in Berlin und Teupitz; 2003–2009 Chefarzt der Abteilung Gerontopsychiatrie in der LWL-Klinik Warstein-Lippstadt; seit 2009 Ärztlicher Direktor des St. Joseph Krankenhauses Dessau; etliche Zeitschriftenpublikationen im Bereich Rechtsphilosophie und Ethik.
ISBN 978-3-16-156642-2 / eISBN 978-3-16-156643-1 DOI 10.1628/978-3-16-156643-1 ISSN 2198-3933 / eISSN 2568-7344 (Perspektiven der Ethik) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2019 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Minion gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden.
Vorwort Dieses Buch und die darin entfalteten Ideen sind das Ergebnis einer langwährenden und intensiven Beschäftigung mit der philosophischen Idee der Gerechtigkeit, sowohl in systematischer als auch historischer Hinsicht. Seit der weichenstellenden und überwältigenden Lektüre von John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit im philosophischen Grundstudium hat mich dieses Thema nie mehr ganz losgelassen. Mindestens genauso sehr wie die facettenreiche Gerechtigkeitsphilosophie selbst und ihre wendungsreiche Ideengeschichte haben mich darüber hinaus jedoch von Anfang an die empirische Gerechtigkeitspsychologie und die relevante Sozialgeschichte – speziell Rechts‑ und Religionsgeschichte – fasziniert. Es klingt fürchterlich banal: man kann ohne Kenntnis ihrer psychologischen und historischen Basis kaum eine lebensweltlich gehaltvolle philosophische Betrachtung über die Gerechtigkeit anstellen. Moralische Werte existieren eben nicht nur im Kopf des Philosophen. Und doch: die aktuelle Gerechtigkeitsphilosophie geht demgegenüber oftmals in verhängnisvoller Weise psychologisch völlig unbedarft und erstaunlich geschichtsvergessen vor. Diesem Defizit an Reichhaltigkeit der Perspektive und empirischer Fundierung will die im vorliegenden Buch entwickelte Theorie abhelfen. Es wird eine fest in der menschlichen Moralpsychologie verankerte und in der geschichtlichen Tradition verortete Konzeption von Gerechtigkeit beschrieben und analysiert. Diese eingestandenermaßen im Kern ziemlich altmodische Konzeption interpretiert Gerechtigkeit als propor‑ tionale Reziprozität, der zufolge, grob gesagt, jedem relativ soviel zusteht, wie er anderen zubilligt – im Guten wie im Schlechten. Den inhaltlichen Ausführungen will ich hier jedoch nicht vorgreifen. Eine kurze Danksagung ist an dieser Stelle indessen am Platze. Zunächst danke ich den Herausgebern für die Aufnahme meiner Studie in die Reihe „Perspektiven der Ethik“ und für weiterführende Hinweise zu Argumentationslücken. Herr Dr. Geiger vom Verlag hat den Text durch wertvolle konkrete Anregungen sehr viel lesbarer gemacht. Mein Dank gilt desweiteren den Professoren Dr. Holm Tetens und Dr. Peter Bieri, die vor langen Jahren einen noch unausgereiften Vorgänger dieses Buches als philosophische Dissertation an der Freien Universität Berlin betreuten bzw. annahmen. Mit ihren Anmerkungen, aber viel mehr noch mit ihrer Haltung zur Philosophie, stießen sie manche Veränderung in Richtung Bescheidenheit und Genauigkeit des Geschriebenen an. Die Professoren Dr. Ulrich Gähde und Dr. Walter Jaeschke haben damals dankenswerter
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Vorwort
Weise mein in diesem Buch wohl unverkennbares Interesse an Wissenschafts‑ und Philosophiegeschichte wachgerufen. Meine frühe Begeisterung für die Psychologie als empirische Wissenschaft wurde entscheidend durch ein für mich unvergessenes psychologisches Einführungsseminar von Prof. Dr. Hans-Peter Rosemeier inspiriert. Darüber hinaus haben mir im Laufe der Jahre Gespräche mit den verschiedensten Menschen zum Thema mannigfaltige Denkanstöße in ganz unterschiedliche Richtungen gegeben. Dies gilt für viele Freunde und Kollegen, aber auch für etliche meiner Patienten, deren zum Teil extreme Erfahrungen, Sicht‑ und Verhaltensweisen meine Weltsicht in Manchem entzaubert und doch zugleich vertieft haben. Ich kann unmöglich alle Personen aufführen, besonders herausgehoben sei indes Jens Aldag als streitbarer philosophischer Diskussionspartner seit dem gemeinsamen Studium. Unsere fundamentalen Kontroversen haben mich gelehrt, dass in philosophischen Belangen letztlich immer alles doch ganz anders sein könnte – möglicherweise ja sogar manchmal so, wie er es sieht! Bei weitem am wichtigsten war jedoch – natürlich – meine Familie. Sie hat mir durch Geduld, Nachsicht, hartnäckigen Widerspruch, Literaturbeschaffung, Erste Hilfe am Computer, Humor und unverwüstliche Zuneigung bei der gedanklichen und schriftstellerischen Arbeit eine unbezahlbare emotionale und kognitive Unterstützung gegeben: Danke dafür und für unendlich vieles mehr, Caterina, Nele, Oskar und Ida!
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
1. Einleitung: Gerechtigkeit moralisch, nicht politisch . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.1 Zwei gerechtigkeitsphilosophische Paradigmen und deren angestrebter Regelungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.2 Zum Gedankengang des Buchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
2. Das Sokratische Projekt: Gerechtigkeit psychologisch, nicht philosophisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2.1 Das Sokratische Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Lehnsessel-Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Lebendige Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Durchdachte Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10 13 15 18
3. Menschliche Moral: Befunde der empirischen Gerechtigkeitspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3.1 Moralische Urteile als Doppel-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Verteilungsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Grundannahme einer gerechten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Kooperation und Reziprozität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Strafgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Fazit: von der Gerechtigkeitspsychologie zur Gerechtigkeit . . . . . . . . . . .
20 22 25 28 31 32
4. Philosophische Moral: Theorien der aktuellen Gerechtigkeitsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 4.1 Zur Grundausrichtung der modernen Gerechtigkeitsphilosophie . . . . . 4.2 Moderne Gerechtigkeitsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Das Problem der Strafgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Fragen und Antworten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Eine platonisch-soziologische Spekulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34 35 38 40 41
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Inhaltsverzeichnis
5. Zur Vor‑ und Frühgeschichte der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 5.1 Philosophie und Alltagsmoral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Gemeinschaftsethik: Reziprozität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Gesellschaftsethik: moralisch-religiöse Verteilungsgerechtigkeit . . . . . . 5.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46 47 49 54
6. Annäherungen: die griechisch-antike Gerechtigkeitsphilosophie . . . 56 6.1 Tendenzen der frühen griechischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Sokratische Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Platonische Fortschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Aristotelische Gerechtigkeit 1: zwei Gesichter der partikulären Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Aristotelische Gerechtigkeit 2: Reziprozität und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56 58 60 62 66 68
7. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: Bestrafung . . . . . . . . . . 70 7.1 Reziprozität und Verdienstproportionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Grundnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Das Wertprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Das Zurechnungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Das Sanktionsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Proportional-reziproke Bestrafung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Das Problem proportional-reziproker Belohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70 73 73 75 76 78 80
8. Supererogation und Sündenablass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 8.1 Eschatologie und Heiligkeit im frühen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Die ciceronische Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Christliche Philosophie und supererogatorische Werke . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Glanz und Elend des Ablasses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81 82 85 87
9. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: Belohnung . . . . . . . . . . 90 9.1 Das Problem der Belohnung und seine Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Das Prinzip des Mühelohns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Das Prinzip der Wohltätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Aktiver Verdiensterwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5 Proportionale Reziprozität – eine Reformulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90 91 94 95 96
Inhaltsverzeichnis
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10. Einwilligung statt Wohlergehen: die voluntaristische Wende . . . . . 98 10.1 Gestalt und Geburt des moralischen Voluntarismus . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Römische Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Christliche Theokratie und diesseitige Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Die Augustinische Gnadenlehre und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Kanonisches Recht als Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6 Aristotelischer Zierrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98 100 102 104 105 107
11. Einwilligung statt Wohlergehen: der Kontraktualismus . . . . . . . . . . 109 11.1 Der programmatische Kern des Kontraktualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Hume und die Krise des Kontraktualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Eine „bloße Idee der Vernunft“: Hypothetische Einwilligung . . . . . . . . 11.4 Ein philosophisches Gerechtigkeitsrudiment: Kants Antinomie der praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Ein ökonomiehistorisches Gerechtigkeitsrudiment: die Arbeitswerttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.6 Moderner Kontraktualismus: Rawls und Andere . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109 113 115 116 119 120
12. Einwilligung statt Wohlergehen: Kontraktualistische Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 12.1 Kontraktualismus als moralisches Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Kontraktualismus und gelingendes Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Kontraktualismus und moralphilosophische Erklärungskraft . . . . . . . . 12.4 Kontraktualismus und Konsequenzialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
123 124 126 128
13. Eine missglückte eudämonistische Rehabilitation: der Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 13.1 Die Wende zum Utilitarismus im achtzehnten Jahrhundert . . . . . . . . . 13.2 Der klassische Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Utilitarismus und gerechte Wohlfahrtsverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4 Utilitarismus und Strafgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5 Utilitarismus und kategorische Rechte und Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . 13.6 Indirekter Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
130 133 134 136 138 138
14. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: systematische Eigenschaften und Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 14.1 Das Wertproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 14.2 Das Regressproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 14.3 Das Problem des unverdienten Verdiensts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
X
Inhaltsverzeichnis
14.4 Das Problem der mangelnden Sicherung der Grundbedürfnis- Befriedigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.5 Das Problem der mangelnden Gemeinwohlförderung . . . . . . . . . . . . . . 14.6 Probleme der „Trolley-ology“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.7 Probleme der intergenerationellen Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.8 Das Problem des relevanten Rechtssubjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.9 Probleme der Impraktikabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
156 157 158 161 163 166
15. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: die Heuristiken . . . . 168 15.1 Heuristiken der proportionalen Reziprozität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2 Einwilligungs-Heuristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3 Gleichverteilungs-Heuristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4 Tauschgleichheits-Heuristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5 Schadensersatz-Heuristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.6 Wiedervergeltungs-Heuristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.7 Selbstbestimmungs-Heuristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.8 Die Heuristiken im Zusammenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.9 Zum theoretischen Verhältnis von Grundnorm zu Heuristik . . . . . . . .
168 170 171 172 173 174 175 177 179
16. Proportionale Reziprozität contra Y-Gap-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . 181 16.1 Eine Renaissance des Verdiensts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.2 Eine halbherzige Modifikation: Verantwortungs-Egalitarismus . . . . . . 15.3 Verdienstproportionale Werttheorien: Rescher, Sher und Kershnar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4 Reformutilitaristen: Feldman und Trapp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5 Die Geometrie des Verdiensts: Kagans Y-Gap-Prinzip . . . . . . . . . . . . . .
181 182 186 187 188
17. Ein Anwendungsbeispiel: proportional-reziproke Strafgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 17.1 Das philosophische Problem der staatlichen Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2 Heutige Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3 Ein Blick in die Ideengeschichte der Strafgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . 17.4 Der proportional-reziproke Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.5 Das Schadensprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.6 Das Schuldprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.7 Das Liberalitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.8 Schadensersatzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.9 Gefährdersicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
192 194 197 203 205 207 207 208 209
XI
Inhaltsverzeichnis
17.10 Wiedervergeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 17.11 Abbüßungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 17.12 Todesstrafe und grausame Strafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 17.13 Therapie und Resozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 17.14 Wiederholungstäter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 17.15 Verbrechensprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 17.16 Moralisches Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 17.17 Empirisches und philosophisches Verdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 17.18 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
18. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Sachindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Namensindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
„… jeder Philosoph hat bisher geglaubt, die Moral begründet zu haben; die Moral selbst aber galt als ‚gegeben‘. Wie ferne lag ihrem plumpen Stolze jene unscheinbar dünkende und in Staub und Moder belassene Aufgabe einer Beschreibung, obwohl für sie kaum die feinsten Hände und Sinne fein genug sein könnten!“ Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse „Justice is getting what one deserves. What could be simpler?“ John Hospers, Human Conduct
1. Einleitung: Gerechtigkeit moralisch, nicht politisch Mit dem Begriff Gerechtigkeit wird ein Komplex von emotional hochbesetzten moralischen Normen, Werten und Tugenden bezeichnet.1 Sie haben einen starken subjektiven Verpflichtungscharakter, sind auf die Beziehung des Akteurs zu anderen Personen bezogen und haben mit einer gleichmäßigen oder unparteiischen Verteilung von Vorteilen und Lasten zu tun. Auch moralische Individualrechte beziehen sich oft auf Gerechtigkeit. Wenn ein anderer Mensch Ungerechtigkeit verursacht, kann dies heftige Empörung und Bestrafungswünsche hervorrufen. Falls man selbst der Verursacher ist, kann Ungerechtigkeit schwer erträgliche Schuld‑ oder Schamgefühle erzeugen. Forderungen nach Gerechtigkeit haben unter den vielen möglichen moralischen Appellen nicht nur zwischenmenschlich sondern auch im politischen Bereich einen herausragenden Stellenwert: sie erzeugen in besonders intensiver Weise Handlungsdruck für verantwortliche Akteure. Staatliche Gesetze werden dementsprechend meist mit dem Anspruch auf Gerechtigkeit erlassen oder auch kritisiert. Gerechtigkeit ist infolge ihrer großen moralischen Bedeutung eines der ältesten und meistbearbeiteten Themen der westlichen Moral‑ und Staatsphilosophie. Dabei wurden im Laufe der Debatte eine Vielzahl von grundsätzlich vernünftigen theoretischen Ansätzen und Modellen zur Bestimmung der Gerechtigkeit entwickelt. Bevor wir mit diesem Buch einen Beitrag zur aktuellen Gerechtigkeitsdebatte leisten können, müssen angesichts der schwer überschaubaren Vielfalt der Möglichkeiten einige – notgedrungen ziemlich abstrakte und stark vereinfachende – Vorklärungen und Festlegungen getroffen werden. Wir müssen zumindest vorläufig grob eingrenzen, in welcher Form Gerechtigkeit hier untersucht werden soll. Nur so können wir überhaupt in eine strukturierte Erörterung des weitläufigen und schillernden Themas der Gerechtigkeit eintreten.
1 Immer noch unübertroffene Übersicht bei Mill 1861, 155–77; vgl. Sidgwick 1907, 264–94, Perelman 1967, Finnis 2011, 161–97.
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1. Einleitung: Gerechtigkeit moralisch, nicht politisch
1.1 Zwei gerechtigkeitsphilosophische Paradigmen und deren angestrebter Regelungsbereich Man kann die philosophische Gerechtigkeitsdiskussion stark vereinfacht so strukturieren, als ob sich in erster Linie zwei hochabstrakte Paradigmen gegenüberstehen. Beide legen – in zahlreichen Spielarten daherkommend – der Gerechtigkeit jeweils eine eigene charakteristische Konzeption zugrunde. Das erste Paradigma kann man als eudämonistische Gerechtigkeit bezeichen, das zweite als juridische Gerechtigkeit. Die beiden Paradigmen lassen sich vor allem im Hinblick auf (i) ihre Wertbasis und (ii) ihre Normierungsbasis voneinander unterscheiden. i) Wertbasis: Die Wertbasis eudämonistischer Gerechtigkeit ist die gerechte Ver‑ teilung von Wohlfahrt auf die von dem Ansatz anerkannten Rechtssubjekte. Es geht somit in erster Linie um eine interpersonelle Verteilung bestimmter Güter, welche die Grundlage des Wohlergehens relevanter Individuen bilden. Gewisse raumzeitliche Muster von Güterverteilungen sind gerecht, andere sind ungerecht. Die Wertbasis der juridischen Gerechtigkeit besteht hingegen in der gerechten Verteilung von Individualrechten einschließlich der aus ihnen folgenden Ver‑ pflichtungen auf die relevanten Rechtssubjekte. Individualrechte sind dabei zuvörderst moralisch legitime Ansprüche, die ein Rechtssubjekt gegenüber anderen Rechtssubjekten hat. Für die anderen Rechtssubjekte ergeben sich aus dem Individualrecht des Berechtigten somit Pflichten. Das heißt, innerhalb seiner Rechtssphäre beherrscht das Rechtssubjekt legitimerweise das Handeln der Adressaten des betreffenden Individualrechts moralisch. Kurz zusammengefasst: der eudämonistischen Gerechtigkeit geht es um die Verteilung von Gütern, der juridischen Gerechtigkeit um die Verteilung von Macht. Der jeweils dominante Gesichtspunkt der einen Gerechtigkeitsform spielt in der jeweils anderen natürlich ebenfalls eine Rolle, aber eine untergeordnete: die Macht soll nach der eudämonistischen Gerechtigkeit so verteilt werden, dass dadurch die Güter gerecht verteilt werden; die Güter sollen nach der juridischen Gerechtigkeit so verteilt werden, wie es die Instanzen der gerechten Machtverteilung bestimmen. ii) Normierungsbasis: Vor dem Hintergrund der jeweiligen Wertbasis kann man zudem die Normierungsbasis der beiden Gerechtigkeitsparadigmen vergleichen. Die eudämonistische Gerechtigkeit ist an der moralischen Qualität des Weltzustands orientiert. Moralisch zählt primär, welche Güterverteilung über die relevanten Rechtssubjekte realisiert ist. Gerechtigkeit ist demzufolge zunächst ein moralischer Wert. Die Realisierung dieses Werts ist das davon abgeleitete, durch die Moralnorm der Gerechtigkeit gebotene Handeln. Derartig strukturierte Theorien werden bekanntlich auch als „konsequenzialistisch“ bezeichnet. Die juridische Gerechtigkeit ist dagegen primär auf die moralische Qualität des Prozesses ausgerichtet. Ausschlaggebend ist moralisch nicht das erzielte Ergebnis
1.1 Zwei gerechtigkeitsphilosophische Paradigmen und deren angestrebter Regelungsbereich 5
für sich genommen, sondern dass die Individualrechte der betroffenen Rechtssubjekte oder Rechtsinstanzen angemessen gewahrt werden, diese also bei der Herbeiführung eines Weltzustands in der geforderten Art und Weise beteiligt sind. Gerechtigkeit ist so gesehen vor allem eine Verfahrensnorm der Individualrechtswahrung.2 Um den moralischen Wert des durch dieses normierte Verfahren erzeugten Weltzustands geht es der juridischen Gerechtigkeit nur sekundär, wenn überhaupt.3 Zugespitzt: die eudämonistische Gerechtigkeit ist eine Ergebnisgerechtigkeit, die juridische Gerechtigkeit eine Verfahrensgerechtigkeit. Will man die eudämonistische oder die juridische Gerechtigkeit im skizzierten Sinne moralisch anwenden oder philosophisch beurteilen, so muss man deren angestrebten Regelungsbereich etwas genauer festlegen. Zwei große Regelungsbereiche interessieren die Philosophie seit ihrem Anbeginn ganz besonders: individuelles menschliches Handeln und soziale Institutionen, wie vor allem der Staat. („Institutionen“ können als auf personalem Handeln beruhende, aber der individuellen Verfügung weitgehend entzogene soziale Regelwerke analysiert werden.) Den ersten Regelungsbereich behandelt traditionell die Moral‑ philosophie (bzw. Ethik), den zweiten die politische Philosophie (bzw. Staatsphilosophie). Die eudämonistische und die juridische Gerechtigkeit können beide (unter anderem) sowohl das gerechte Handeln als auch den gerechten Staat definieren. Eine Handlung oder ein Staat ist eudämonistisch gerecht, wenn sie oder er eine gerechte Güterverteilung bewahrt oder erzeugt. Eine Handlung oder ein Staat ist juridisch gerecht, wenn sie oder er die Individualrechte der Betroffenen beachtet oder schützt. Typisch – aber wie gesagt, keinesfalls zwingend – ist die Fokussierung eudämonistischer Gerechtigkeit auf gerechtes Handeln, juridischer Gerechtigkeit auf gerechte Institutionen. Ein prominentes Beispiel für eine eudämonistische Gerechtigkeitstheorie ist der klassische Utilitarismus, für eine juridische Gerechtigkeitstheorie ist es der naturrechtliche Kontraktualismus. Während der Utilitarismus jedoch regelmäßig auf beide Normierungsbereiche angewandt wurde, war der naturrechtliche Kontraktualismus in hohem Maße auf die Staatsphilosophie begrenzt. In der vorliegenden Studie wollen wir uns der Gerechtigkeit von einer eudämonistischen und auf individuelles Handeln bezogenen Warte aus nähern. Wir werden Gerechtigkeit demzufolge im wesentlichen als ein Prinzip begreifen, das bestimmte Güterverteilungen als moralisch wertvoll auszeichnet und individuelles moralisches Handeln als verpflichtende Verwirklichung dieses 2 Vgl.
zur reinen Verfahrensgerechtigkeit Brams & Taylor 1996. nach dem päpstlichen Motto des sechzehnten Jahrhunderts: „fiat iustitia, pereat mundus“; s. Liebs 1998, 83 f. Besonders die Schwierigkeit, sich eine zentrale Verteilungsinstanz für die relevanten Güter vorzustellen, wird gerne zu einem Argument für juridische Konzeptionen gemacht, s. z. B. v. Hayek 1981, bes. 37–41, 99–104, Nozick 1974, 155–60. 3 Frei
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1. Einleitung: Gerechtigkeit moralisch, nicht politisch
Ideals versteht. Erst in zweiter Linie soll die Frage nach gerechten Institutionen gestellt werden. (Genauer gesagt, werden wir uns lediglich mit der staatlichen Strafe als Institution näher befassen.) Weitgehend ausgeklammert wird hier übrigens leider die in diesem Zusammenhang ebenfalls bedeutsame Frage der Gerechtigkeit als Tugend bleiben müssen. Die besondere eudämonistische Gerechtigkeitsnorm, um die es uns geht, ist die proportionale Reziprozität. Dieses Prinzip vereinigt zwei moralisch wichtige Ideen, den Gedanken einer Reziprozität (Gegenseitigkeit, Wechselseitigkeit) bei interpersonellen Transaktionen und den Gedanken einer Güterverteilung proportional zum moralischen Verdienst der Rezipienten. Genaueres dazu später. Kritische Leser einer früheren Version des vorliegenden Buchs mahnten allerdings eine grundsätzliche Rechtfertigung der vorab erfolgten Festlegung auf eine primär als Moralnorm verstandene eudämonistische Gerechtigkeit an. Gibt es eine solche Rechtfertigung? Ich fürchte nein, jedenfalls ist sie nicht mit ein paar Worten zu leisten. Gerechtigkeit in der genannten Weise zu verstehen, scheint dem Autor so dicht wie möglich an den semantischen Kern des alltagsmoralischen Gerechtigkeitsgedankens heranzukommen: Gerechtigkeit hat nach meinem Eindruck sehr viel mit der Verteilung von Gütern oder Übeln im weitesten Sinne zu tun und es wird in diesem Bereich bezüglich der Moralität des menschlichen Handelns eine höhere Urteilssicherheit empfunden als etwa bezüglich der Gerechtigkeit staatlicher Strukturen. Auch individuelle moralische Rechte werden meines Erachtens besonders in Hinsicht auf die aus ihnen resultierenden Güterverteilungen zuerkannt. Ob dieser subjektive Anschein aber zutrifft und wenn ja, inwiefern das überhaupt moralphilosophisch bedeutsam ist, kann letztlich erst die Argumentation des Werks in ihrer Gesamtheit erweisen. Insofern muss der in diesem Punkt ungeduldige Leser leider bis zum Ende der Studie vertröstet werden. Ungeachtet der Frage des Eudämonismus und seiner Begründung wäre eine Begrenzung der philosophischen Gerechtigkeitsidee auf die institutionelle Ausrichtung nach meinem Eindruck allerdings auch in lebenspraktischer Hinsicht gefährlich. Sie würde den zum Beispiel von dem Politikphilosophen Gerald A. Cohen sehr plastisch in Buchlänge angeprangerten Trend bürgerlicher Liberaler verstärken, Gerechtigkeitsfragen nahezu vollständig an den Staat zu delegieren und infolgedessen die eigene Lebensführung im Grunde unbekümmert gerechtigkeitsfrei oder gar eigennützig zu gestalten.4
4 S. Cohen
2001.
1.2 Zum Gedankengang des Buchs
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1.2 Zum Gedankengang des Buchs Um nach diesen unvermeidlich abstrakten Vorklärungen in transparenter Weise in die anstehenden inhaltlichen Erörterungen einzusteigen, ist ein orientierender Überblick über den notgedrungen etwas gewundenen Gang unserer Argumentation hilfreich. Nur so lassen sich die einzelnen Kapitel in den relevanten Zusammenhang einordnen. Zu Beginn ist eine Darlegung der hier gewählten moralepistemologischen Methodik unumgänglich (Kap. 2). Dabei wird die hohe erkenntnistheoretische Relevanz der Alltagsmoral mit einem grundsätzlichen Bekenntnis zur rawlsschen Idee des Reflektiven Gleichgewichts als Methode ethischer Theoriebildung untermauert. Allerdings favorisieren wir eine keineswegs selbstverständlich übliche, stark sozialpsychologisch gefärbte Lesart des zu equilibrierenden Materials. Von dieser methodischen Vorgabe ausgehend werden wir uns im zweiten Schritt die Inhalte der empirisch-psychologisch erforschten Alltagsgerechtig‑ keit im Überblick vornehmen (Kap. 3). Im Zuge dessen werden sich Rezipro‑ zität und Verdienstproportionalität als zwei zentrale Prinzipien des menschlichen Gerechtigkeitssinns erweisen. Wenden wir uns darauf aufbauend der aktuellen Gerechtigkeitsphilosophie zu, so sticht ins Auge, dass die beiden genannten Prinzipien weitgehend unbeachtet bleiben bzw. regelmäßig offen zurückgewiesen werden (Kap. 4). Da sich die Frage nach dem Grund der Persistenz der beiden Prinzipien in der Alltagsgerechtigkeit trotz fast einhelliger philosophischer Ablehnung aufdrängt, wollen wir uns dann in einem kurzen Exkurs der kulturhistorischen Herkunft dieser beiden offenbar trotz antagonistischer philosophischer Theoriebildung erstaunlich löschungsresistenten Prinzipien widmen (Kap. 5). Bevor wir die proportionale Reziprozität systematisch (re)konstruieren, muss aus historischer Neugier und intellektueller Redlichkeit ihrer philosophiegeschichtlichen Wurzeln gedacht werden – und angesichts der Reichhaltigkeit unserer philosophischen Tradition sind solche Wurzeln bei den klassischen Autoren unvermeidlich vorhanden.5 Wir müssen zu diesem Zweck allerdings recht weit zurückgehen und einen Blick auf die antike griechische Moralphi‑ losophie werfen (Kap. 6). Diese kam bereits sehr dicht an die proportionale Reziprozität heran – kulminierend in Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie –, synthetisierte sie aber aus bestimmten Gründen nicht in letzter Konsequenz. Nach dieser vorbereitenden psychologisch-ideengeschichtlichen Einbettung und Motivation können wir dann eine erste, noch nicht ganz vollständige Version 5 Eine Tatsache die den großen Philosophen Hilary Putnam bei einer Vorlesung zu seinem „Internen Realismus“ an der Freien Universität Berlin in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit dem Autor im Publikum zu dem auf Kant gemünzten Bonmot veranlasste, das eigentlich Schlimme an den Klassikern sei, dass sie uns immer unsere besten Ideen klauen würden.
8
1. Einleitung: Gerechtigkeit moralisch, nicht politisch
der proportionalen Reziprozität formulieren (Kap. 7). Diese stellt ein Gerechtigkeitsprinzip dar, das Verdienstproportionalität und Reziprozität zusammendenkt. Um dieses Prinzip im Hinblick auf eine wünschenswerte normative Breite hin zu vervollständigen, wenden wir uns anschließend kurz der christlich-mittelalterlichen Ethik mit ihrer an diesem Punkt relevanten Idee von Supererogation zu (Kap. 8). Dadurch sensibilisiert können wir die proportionale Reziprozität als systematischen Entwurf sodann vervollständigen (Kap. 9). Daran knüpft sich sogleich die Frage: Wie kam es dazu, dass die kulturgeschichtlich und alltagsmoralisch gut fundierte proportionale Reziprozität in der nachklassischen Philosophie nicht weiter erforscht und entwickelt worden ist? Wir werden uns die Zeit nehmen, eine narrativ-ideengeschichtliche Erklärung dieses bemerkenswerten Phänomens zu suchen. Ausschlaggebend war offenbar eine römisch-rechtlich und christlich induzierte Wende zum Voluntarismus bereits in der Antike (Kap. 10), die wir bis zum modernen Kontraktualismus mit seiner Fokussierung auf institutionelle Gerechtigkeit erkunden werden (Kap. 11–12). Ein Seitenblick auf den klassischen Utilitarismus als letztlich unbefriedigende eudämonistische Gegenbewegung wird ebenfalls lehrreich für unser Thema sein (Kap. 13). Nach diesem historischen Ausflug können wir sodann die vielfältigen sach lichen Probleme der proportionalen Reziprozität näher beleuchten, auch als mögliche systematische Erklärung für das Verschwinden der proportionalen Reziprozität aus der Moralphilosophie (Kap. 14). Ein Totschlagargument gegen die proportionale Reziprozität wird sich dabei allerdings nicht finden lassen – was sich für Philosophen ja eigentlich von selbst versteht.6 In Zusammenhang mit den durch die Kritik verdeutlichten Praktikabilitätsproblemen der proportionalen Reziprozität werden wir uns insbesondere mit Heuristiken dieses Ansatzes, also Praxisnormen zur hoch abstrakten Grundnorm, näher beschäftigen müssen (Kap. 15). Schließlich können wir die proportionale Reziprozität mit den raren heutzutage vertretenen Gerechtigkeitsprinzipien vergleichen, die ebenfalls den Begriff des moralischen Verdiensts ins Zentrum ihrer Betrachtungen rücken (Kap. 16). Bei nahezu allen diesen alternativen Verdienstprinzipien bleibt allerdings das wichtige zweite Element unseres Ansatzes auf der Strecke: die Reziprozität. Und genau das wird sich als ein entscheidender Nachteil für die Alternativprinzipien herausstellen. Zum Abschluss soll die proportionale Reziprozität über den personal-moralischen Bereich hinaus doch noch, ganz im Geiste der aktuellen Debatte, in‑ stitutionell angewandt werden, nämlich auf die Institution der staatlichen Strafe (Kap. 17). Diese eigentlich naheliegende Anwendung wird sich als etwas komplizierter erweisen, als man vielleicht denken könnte. Sie belegt aber die 6 Vgl.
Nozick 1981, 4–11.
1.2 Zum Gedankengang des Buchs
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Reichweite und Fruchtbarkeit der proportionalen Reziprozität in einem besonderen Bereich. Was kann der interessierte Leser schließlich nach der Lektüre des vorliegenden Buches erwarten? Bestenfalls wird er natürlich ein überzeugter Anhänger der proportionalen Reziprozität sein! Viel wahrscheinlicher ist jedoch ein bescheideneres Ergebnis. Zum einen wird der Leser ein erheblich vertieftes Wissen über die systematische Struktur des untersuchten – definitiv unmodernen oder urtümlichen, aber unterschwellig ausgesprochen wirkmächtigen – Gerechtigkeitskonzepts und dessen fruchtbarer psychologischer und philosophiehistorischer Grundlage mitnehmen. Zum anderen wird er sich aufgrund vieler offener Fragen vermutlich eine erhebliche Skepsis bewahren, indes den Aspekt der angemessen graduierten Gegenseitigkeit in sozialen Interaktionen vielleicht etwas besser würdigen können als bisher. So jedenfalls die Hoffnung des Autors. Nun jedoch genug der vorbereitenden Worte, beginnen wir mit den methodischen Grundlagen!
2. Das Sokratische Projekt: Gerechtigkeit psychologisch, nicht philosophisch In diesem Buch geht es um moralische Normen und Werte, also um das, was man tun soll, und das, was wertvoll ist. Das ist ein höchst anspruchsvoller und notorisch strittiger Themenbereich, zu dem nicht nachvollziehbar argumentiert werden kann, ohne kurz etwas zur methodischen Ausrichtung der Studie auszuführen. Erst im Anschluss daran können wir in die eigentlich moralische Debatte einsteigen.
2.1 Das Sokratische Projekt Das vorliegende Buch will ein moralphilosophisches Gerechtigkeitsprinzip untersuchen und begründen. Dieses Prinzip hat uralte kulturgeschichtliche Wurzeln, ist aber in der westlichen Moralphilosophie nach der klassischen griechischen Antike meist eher stiefmütterlich behandelt worden. Ihm zufolge besteht Gerechtigkeit grundsätzlich darin, dass jedes Rechtssubjekt über soviel Güter ver‑ fügt, wie es relativ zu den anderen Rechtssubjekten verdient. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Gerechtes Handeln hat eine solche gerechte Güterverteilung zu bewahren oder herzustellen. Diese oberflächlich recht schlicht anmutende Norm ist näher besehen ziemlich komplex. Wir werden sie später im Buch noch detaillierter entfalten. Um die kommenden Ausführungen jedoch verständlich zu machen, muss wie angekündigt kurz etwas zur gewählten Methodik der Argumentation vorausgeschickt werden. Methodisch folgen wir dem heutzutage in der philosophischen Ethik fast schon kanonischen Konzept des Reflektiven Gleichgewichts, das unter diesem Namen John Rawls in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts propagierte.1 Die Grundidee dahinter ist indes schon erheblich älter und hat ihren Ursprung im sogenannten Sokratischen Projekt.2 Dieses versteht Moralphilosophie in erster Linie als eine systematische Rekonstruktion der gegebenen Alltagsmoral des 1 S. Rawls 1951, ders. 1971, 38 f., 68–71, ders. 1993, 72 ff., 176 f.; vgl. z. B. Hörster 1977, Dworkin 1977, 259–80, Daniels 1979, Kersting 1993, 119–41, Pogge 1994, 157–76, Birnbacher 2003, 64–83, Irwin 2009, 897–906. 2 S. z. B. Röd 1994, 88 ff., Martens 2004, 103–37, Irwin 2007, 2 f.; vgl. Jaeger 1973, 579–9.
2.1 Das Sokratische Projekt
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Philosophen. Sokrates wird seit jeher als derjenige angesehen, der die Moralphilosophie erstmals in dieser Weise auffasste und sie damit gleichsam vom Himmel auf die Erde holte.3 Moralphilosophische Normen sollen demgemäß wesentliche Inhalte der intuitiv erfassten alltagsmoralischen Normen abbilden. Korrekturen in beide Richtungen sind indes möglich und erforderlich, wenn sie die Kohärenz des moralphilosophischen Normenkomplexes erhöhen. Alltagsmoralische Normen können hierzu im moralphilosophischen Normenkodex modifiziert oder sogar ignoriert werden, aber auch die moralphilosophischen Normen müssen angesichts übermäßiger Widersprüche zur Alltagsmoral verändert werden. Unter „Kohärenz“ wird heutzutage in diesem Zusammenhang üblicherweise so etwas wie die logische Konsistenz, die Erklärungskraft und die Einfachheit einer Theorie verstanden. Alle drei Begriffe sind natürlich ihrerseits erheblich explikationsbedürftig, worauf hier verständlicherweise nicht weiter eingegangen werden kann.4 Was als Alltagsmoral – und damit Ausgangspunkt der philosophischen Theoriebildung – anzusehen ist, verschiebt sich je nach den vertretenen moralphilosophischen Grundannahmen. Für Rationalisten waren deswegen vernünftig einsehbare, „selbstevidente“, allgemeine Normen und für Empiristen gefühlsmäßig verspürte moralische Einzelfallbeurteilungen paradigmatische Alltagsmoralnormen. Je nachdem war die Moral also mehr eine Angelegenheit des Verstandes oder mehr eine des Gefühls. In der frühmodernen Ethik gingen beide moralphilosophischen Fraktionen meist noch von einer fundamentalistischen Epistemologie aus, der zufolge alltagsmoralische Normen ein unkorrigierbares Fundament des moralischen Wissens bilden. In der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts geriet das fundamentalistische Dogma jedoch durch innerhalb der philosophischen Epistemologie verstärkt aufkommende kohärentistische Vorstellungen ins Wanken. Angefacht wurde diese Tendenz unter anderem durch die wissenschaftsgeschichtliche Beobachtung der Untauglichkeit des (logisch-positivistischen) Fundamentalismus zur Rekonstruktion der Dynamik extrem erfolgreicher naturwissenschaftlicher Theorien.5 Kohärentistische Ansätze verzichten auf die Vorstellung einer unkorrigierbaren Basis von Theorien und stellen, wie oben angedeutet, deren interne Stimmigkeit und explanative Fruchtbarkeit in den Vordergrund. In Anknüpfung daran favorisierten Rawls und viele seine Anhänger zunehmend ausdrücklich kohärentistische Lesarten des Reflektiven Gleichgewichts.6 Damit fallen sowohl eher affektbasierte Einzelfallentscheidungen als auch unmittelbar einleuchtende allgemeinere Regeln in den Bereich der relevanten Alltagsmoral, die aber eben grundsätzlich korrigierbar ist. Tusc. V.10 z. B. Barthelborth 1996. 5 S. z. B. Thagard 1982, Follesdal 2005. 6 S. z. B. Brink 1989, 100–43. 3 Cicero 4 S.
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2. Das Sokratische Projekt: Gerechtigkeit psychologisch, nicht philosophisch
Die – auch von uns bevorzugte – kohärentistische Lesart wirft jedoch unausweichlich die Frage auf, weshalb man überhaupt die Alltagsmoral beachten sollte. Warum nicht gleich, sozusagen more geometrico, kohärente Moralnormkodizes auf ganz anderer, a priori verfügbarer Grundlage entwerfen? Meines Erachtens kann man fünf (Meta‑)Rechtfertigungen für die Alltagsmoral als Basis der Theoriebildung in der Moralphilosophie ins Feld führen. Erstens haben wir einfach nichts Besseres: womit sonst, als unserer kulturell eingebetteten und spontan wahrgenommenen Meinung oder Empfindung sollten wir anfangen? Zweitens gibt es den motivationalen Gesichtspunkt: was immer die Alltagsmoral genau ist, sie stellt eines der unser individuelles und kollektives Handeln zutiefst prägenden Regelsysteme dar. Ein sie missachtendes Normensystem hätte schlicht massive Probleme, ausreichend handlungswirksam zu werden. Drittens gibt es den Auto‑ nomie-Gesichtspunkt: was immer die Alltagsmoral genau ist, sie leitet unsere vernünftige Selbstbestimmung an. Bewusst und überlegt unterwerfen wir uns ihr, nicht anderen Normen. Viertens gibt es den evolutionären Gesichtspunkt: was immer die Alltagsmoral genau ist, sie ist Produkt eines begrenzt einsehbaren, aber bezüglich der Entwicklung von Wohlstand und Frieden auf lange Sicht und im großen Maßstab erfolgreichen evolutionären Prozesses.7 In solche Prozesse ohne Not einzugreifen, ist in aller Regel unklug; zumindest sollten konkurrierende Normen nicht ohne ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge von Moralität im Sinne der Alltagsmoral und der verbesserten menschlichen Lebensbedingungen vorgezogen werden. Fünftens gibt es den sokratisch-therapeutischen Gesichtspunkt: was immer die Alltagsmoral genau ist, sie leistet – hier schließen wir uns ganz dem antiken griechischen Denken in der Nachfolge des Sokrates an8 – oft einen überragenden Beitrag zum Gelingen des individuellen Lebens.9 Ein Leben im krassen Widerspruch zur eigenen Moral kann kaum als gelungen oder erfüllt gelten. Alle fünf Punkte müssen und können wir hier nicht weiter erörtern. Sie mögen für manchen modernen Leser ein beschönigendes und übermäßig moralisches Bild des Menschen und seiner Geschichte voraussetzen. Die genannten Punkte sind gleichwohl für den Autor wegweisend und werden lediglich zur Verdeutlichung dessen genannt. Nicht wegweisend für dieses Buch, aber für das historische Verständnis von entscheidender Bedeutung war im übrigen etwas völlig Anderes, nämlich der theonome Gesichtspunkt. Jenseits des hier gewählten säkularen Rahmens wurde in der christlichen Tradition schon früh postuliert, dass die Alltagsmoral dem Menschen von Gott eingegeben sei, woraus sich ihr verpflichtender Charakter
7 S. Pinker
2011. z. B. Annas 1993, Horn 1998. 9 S. z. B. Haidt 2011, bes. 211–42, Tiberius 2015, 178–82. 8 Vgl.
2.2 Lehnsessel-Gerechtigkeit
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ableite. Berühmt sind die Worte des Apostels Paulus, der aus diesem Gedanken sogar die mögliche Moralität von Heiden folgerte: „Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst das Gesetz. Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab, ihre Gedanken klagen sich gegenseitig an und verteidigen sich …“10
Ideengeschichtlich hat diese Vorstellung der göttlichen Provenienz des moralischen Empfindens zweifellos in hohem Maße dazu beigetragen, die moralphilosophisch wahrgenommene Relevanz der Alltagsmoral in Mittelalter und früher Moderne trotz des Untergangs des antik-sokratischen Ethikverständnisses aufrechtzuerhalten.
2.2 Lehnsessel-Gerechtigkeit So weit, so gut. Es kann also scheinbar ganz unbekümmert im Geiste der philosophischen Tradition vorgegangen werden. Der Philosoph darf demzufolge, bequem im Lehnsessel platziert, seinen Gedanken nachhängen und in dieser komfortablen Haltung versuchen, seine verschiedenen alltagsmoralischen Wertungen und Normen rein denkerisch in ein kohärentes System zu bringen. Oder stimmt an diesem behaglichen Bild etwas nicht? Wie der aufmerksame Leser ohnehin schon erfasst hat, läuft hier tatsächlich etwas gewaltig schief. Wir sind ja im wissenschaftlichen Kontext nicht am individuellen Innenleben unseres Philosophen interessiert, sondern an der Moral als kulturellem oder gar universalem Phänomen. Und das Räsonieren des Philosophen im Lehnsessel ist aus dieser Perspektive mindestens in zweierlei Hinsicht methodisch zu bemängeln – und zwar selbst dann, wenn er ein überlegener Experte in der kohärenten Systematisierung alltagsmoralischer Intuitionen ist: eine ungenügende Fallzahl der Beobachtungssubjekte und ein zu stark eingeschränktes Verfahren der Datenerhebung. Zum einen begrenzt der Lehnsessel-Philosoph seine Beobachtungen zur Alltagsmoral ausschließlich auf sich selbst. Andere Subjekte tauchen bestenfalls unsystematisch vermittels seiner subjektiven Einschätzung ihrer Ansichten auf. Es ist aber – jenseits platonischer Philosophenkönige – überhaupt nicht einzusehen, warum nicht bei größeren Populationen systematisch die Meinungen, Empfindungen oder Reaktionen anderer Personen erhoben werden, um zu klären, ob die jeweiligen philosophischen Urteile von einer hinreichenden Zahl weiterer Menschen geteilt werden. Je universaler der Anspruch des Philosophen, desto
10 Röm.
2.14 f.
14
2. Das Sokratische Projekt: Gerechtigkeit psychologisch, nicht philosophisch
zwingend größer die Zahl der zu untersuchenden Personen und der zu berücksichtigenden Kulturen.11 Zum anderen geht der Philosoph rein introspektiv vor. Das heißt, er nimmt lediglich seine bewussten expliziten Urteile, eventuell ergänzt um bewusst erkannte emotionale Färbungen, als Datenbasis. Aus der neuzeitlichen Psycho‑ logiegeschichte kann man dementgegen exemplarisch lernen, dass eine solch enge Begrenzung – trotz allen unstrittigen Nutzens explizit-bewussten Denkens – ein inakzeptabler Hemmschuh ist. Das heutige vertiefte Verständnis menschlichen Erlebens und Verhaltens entwickelte sich in der Psychologie seit dem neunzehnten Jahrhundert im Zusammenhang mit einer zunehmenden Betonung ihrer unbewussten Determinanten.12 Tiefenpsychologie, Lerntheorie, Sozialpsychologie und Neurowissenschaft haben gemeinsam, dass sie – jede auf ihre eigene, besondere Art – das naive aufgeklärte Menschenbild eines vernünftigen, völlig selbstbestimmten und sich selbst weitgehend transparenten Akteurs zugunsten eines von unbewussten Faktoren ganz erheblich mitbestimmten Subjekts verändert haben.13 Diese unbewussten, auch moralisches Denken, Fühlen und Werten betreffenden Faktoren – zum Beispiel frühe Prägungen in interpersonellen Beziehungen, implizite Lernerfahrungen, kognitive Schemata, Wahrnehmungsstile, bestimmte neurobiologische Strukturen und Funktionen – sind dem Subjekt nicht präsent und trotzdem stark wirksam. Zudem bilden viele einen Bestandteil seiner Persönlichkeit oder sind mit solchen eng verbunden. Die verbalen Selbstdeutungen einer Person sind infolgedessen oftmals rückblickende Rationalisierungen, die zum Beispiel selbstwertdienlich oder sozial erwünscht sind, aber nicht ihre wahren Beweggründe offenlegen. Und dies gilt eben auch für moralische Überzeugungen und Urteile. Will man die Alltagsmoral gehaltvoll und in ihrer ganzen Wirklichkeit erfassen, kann man sich demzufolge keinesfalls auf Introspektion beschränken, auch nicht auf philosophischintuitive. Anders gewendet: die Lehnsessel-Methode der Philosophie wäre nur dann der Ethik methodisch angemessen, wenn Philosophen i) absolut repräsentativ für die von ihnen ihrer Theorie zugrunde gelegte Population und ii) sich selbst weitgehend transparent wären. Für diese beiden Eigenschaften bei typischen akademischen Philosophen zu argumentieren, dürfte indes nicht ganz einfach sein. Interessanterweise gibt es sogar bereits empirische Studien zum Thema. In der Untersuchung von Kevin Tobia und Mitarbeitern aus dem Jahre 2012 wurden 62 Philosophen und 40 Studenten im Grundstudium hinsichtlich verzerrender Reihenfolge-Effekte bei der moralischen Bewertung von moralischen Dilemmata verglichen.14 Ein verzerrender Reihenfolge-Effekt liegt vor, wenn jemand bei 11 S. Perelman
1967, bes. 149–63. z. B. Bargh & Chartrand 1999; vertieft Bargh 2018. 13 Überblick z. B. Shiraev 2015; speziell bzgl. Moralpsychologie Haidt 2010. 14 Tobia et al. 2012 12 S.
2.3 Lebendige Vielfalt
15
logisch unzusammenhängenden Bewertungen, A und B, diese anders vornimmt in Abhängigkeit von der präsentierten Reihenfolge. Er würde also beispielsweise A gut bewerten, aber nur, wenn A vor B präsentiert wird. Solche ReihenfolgeEffekte sind selbstverständlich ein starker Hinweis auf Irrationalität. Tatsächlich konnten Tobia und Mitarbeiter sowohl bei den Studenten als auch den professionellen Philosophen solche unerwünschten Reihenfolge-Effekte in gleichem Maße finden – aber mit geradewegs entgegengesetzter evaluativer Ausrichtung. Deutlich größer und methodisch etwas ausgereifter war die 2014 publizierte Studie der Gruppe um Eric Schwitzgebel.15 Sie untersuchte per Internetbefragung 324 Philosophen (davon 221 Ethiker), 753 akademische und 1389 nichtakademische Nichtphilosophen. Auch sie fahndete nach verzerrenden ReihenfolgeEffekten und zwar nicht nur bei Szenarien-Bewertungen, sondern auch bei der bekundeten Prinzipienakzeptanz in den (hier nicht näher zu erläuternden) moralischen Problembereichen Handlungs-Unterlassungs-Unterschied, Doktrin der Doppelwirkung sowie „Moral Luck“. Und Schwitzgebel und Mitarbeiter wurden fündig. In allen drei Bereichen unterlagen die Philosophen bei der SzenarienBewertung gleichermaßen verzerrenden Reihenfolge-Effekten wie die Laien. Bei der Prinzipienakzeptanz allerdings wiesen im Bereich Doppelwirkung und Moral Luck bemerkenswerter Weise sogar ausschließlich die Philosophen starke Reihenfolge-Effekte auf; bei der Handlungs-Unterlassung-Unterscheidung hingegen nur, wenn auch schwach, die Laien! Man sollte die Bedeutung dieser kleinen Experimente sicherlich nicht überschätzen. Allerdings sind sie ganz eindeutig nicht dazu angetan, das ohnehin fragwürdige Bild des akademischen Philosophen als vollständig repräsentativem moralischen Bewerter zu stützen – und auch nicht gerade das eines gegenüber kognitiven Verzerrungen immunen Ethik-Experten. Apropos philosophische Ethik-Expertise: in ihren alltäglichen Handlungsweisen scheinen Ethiker sich nach einer weiteren Schwitzgebel-Studie keineswegs moralkonformer zu verhalten als vergleichbare Personen16 – selbst wenn sie vorhanden wäre, hätte die Expertise demnach jedenfalls lebenspraktisch wenig moralisierende Effekte.
2.3 Lebendige Vielfalt Die Datenbasis des Reflektiven Gleichgewichts kann und muss folglich durch empirisch-psychologische Forschungsergebnisse erheblich angereichert werden.17 Diese Erkenntnis werden wir im vorliegenden Werk beherzigen und 15 Schwitzgebel
& Cushman 2014 2014 17 S. Appiah 2009, Sinnott-Armstrong 2006, ders. 2008, ders., Young & Cushman 2010, Copp 2012, Kahane 2013, Luetge, Rusch & Uhl 2014, Tiberius 2015, 187–218; vgl. schon Schlick 1930, 54–74. 16 Schwitzgebel
16
2. Das Sokratische Projekt: Gerechtigkeit psychologisch, nicht philosophisch
darauf zurückkommen. An dieser Stelle sind lediglich noch ein paar allgemeine Bemerkungen zum Thema angezeigt. Zunächst zur Frage der relevanten Population: wessen Alltagsmoral soll Beachtung finden? Wir nehmen hier keine Abgrenzung vor. Grundsätzlich alle Studien an menschlichen Individuen jedweder Kultur sollen hier einbezogen werden. Das birgt zwar die Gefahr, divergierende Normen und Werte künstlich zu vereinheitlichen, die Suche nach transkulturellen, gemeinsamen Grundprinzipien der Gerechtigkeit ist jedoch faszinierend und der eigentlichen philosophischen Intention wohl am ehesten angemessen. Allerdings gilt in der empirischen Moralpsychologie immer noch, dass die überwiegende Mehrzahl aller Untersuchungen Studenten im Grundstudium (meist der Psychologie) aus den westlich-demokratischen, gebildeten, reichen und industrialisierten Staaten als Probanden nutzt.18 Insofern steckt die Suche nach transkulturellen Normen und Werten im Grunde immer noch in den Kinderschuhen.19 Und letztlich gründen die später vorgestellten psychologischen Beobachtungen und Theorien deshalb eben doch fast ausschließlich in der westlichen Kultur. Was zählt als alltagsmoralische Norm oder Wert? Auch hier sollte man einen weiten Begriff zugrunde legen, der von konkreten Einzelfallbewertungen über Regeln mittlerer Allgemeinheit bis zu ganz abstrakten Prinzipien oder Werten reicht. Überdies sollte außer den subjektiven Kognitionen, Affekten und Volitionen vor allem auch das Verhalten der Probanden in definierten Situationen bzw. Situationsfolgen genau beachtet werden. Bei Abweichungen zum Beispiel von bewusster Motivation und erkennbarer Verhaltensausrichtung ist natürlich nie von vornherein klar, ob die relevante Norm der Alltagsmoral aus der vom Akteur bekundeten oder einer davon abweichenden tatsächlichen Motivation abzuleiten ist. Aber eines von beiden vorderhand auszuschließen, verengte den Blickwinkel, wie gesagt, in höchst unfruchtbarer Art und Weise. Alle diese programmatischen, noch sehr hölzern und skizzenhaft wirkenden Unterscheidungen werden wir noch bei der Auswertung der empirischen Erkenntnisse etwas mehr mit Leben füllen. Für das psychologisch angereicherte Reflektive Gleichgewicht bleibt bei der Anwendung auf die Frage der Gerechtigkeit gleichwohl ein weiteres Problem bestehen: die alltagsmoralische Normen‑ und Wertevielfalt. Gemeint ist nicht in erster Linie die transkulturelle Normenpluralität, sondern die Vielzahl anscheinend irreduzibler Normen und Werte innerhalb der westlichen Kultur. Gerechtigkeit ist ohne Zweifel ein zentraler moralischer Wert und gerechtes Handeln eine hochrangige moralische Pflicht. Aber es gibt neben der Gerechtigkeit, trans‑ und intrakulturell, unstrittig eine gewisse Anzahl weiterer alltagsmoralischer Werte, Tugenden und Normen: 18 S.
z. B. Henrich, Heine & Norenzayan 2010. interkulturellen Gerechtigkeitsforschung s. den Überblick bei Jodlbauer & Streicher
19 Zur
2013.
2.3 Lebendige Vielfalt
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Freiheitsschutz, Wohltätigkeit, Wahrhaftigkeit, Treue, Eigentumswahrung, Würde, Achtsamkeit, seelische Reinheit, Barmherzigkeit, Klugheit, Tapferkeit, Mäßigung … Es ist unter Ethikern, Kulturanthropologen und Sozialpsychologen zwar strittig, wie lang die Liste im Hinblick auf die Kulturen der Welt zu machen ist, dass sie jedoch mehr als Gerechtigkeit umfasst, wird von niemandem ernsthaft bezweifelt.20 Was bedeutet der moralische Pluralismus für die reflektive Equilibrierungsprozedur bezüglich der Gerechtigkeit? Bei dieser Prozedur werden intuitive Bewertungen von Situationen oder Handlungen mit den moralphilosophischen Bewertungen konfrontiert. Bei Diskrepanzen wird entweder die Intuition missachtet oder die philosophische Bewertung modifiziert. Eine solche Modifikation einer moralphilosophischen Gerechtigkeitsnorm ist allerdings nur indiziert, wenn die gegenläufige Intuition überhaupt eine Gerechtigkeitsintuition ist. Infolge der alltagsmoralischen Normenvielfalt ist jedoch nicht jede intuitive moralische Bewertung auf die Gerechtigkeitsnorm bezogen. Und wenn die summarische intuitive Bewertung einer Situation oder Handlung nicht der – möglicherweise durchaus mitbedachten oder mitempfundenen – Gerechtigkeit entspringt, sondern anderen Normen oder Werten, dann bräuchte die moralphilosophische Gerechtigkeitsnorm trotz Widerspruch zur Intuition gar nicht zwingend verändert zu werden. Anders ausgedrückt: wenn dem intuitiven Bewerter nicht völlig klar ist, welcher seiner multiplen Werte oder Normen seine summarische moralische Einschätzung letztlich leitet, dann kann man seine Gerechtigkeitsidee nicht unmittelbar aus seinen summarischen intuitiven moralischen Bewertungen oder Verhaltensweisen ableiten. Dies mag vielleicht bei direkten Befragungen moralisch äußerst reflektierter Menschen noch etwas besser gelingen. Bei weniger Reflektierten oder Verhaltensexperimenten dürfte es indes erheblich schwerer fallen. Dieses Pluralismusproblem verhindert natürlich nicht grundsätzlich den erfolgreichen Einsatz des Reflektiven Gleichgewichtsverfahrens bei der Suche nach der Gerechtigkeit, macht ihn jedoch fehleranfälliger. Wie kann dieser Fehlerquelle begegnet werden? Eine Möglichkeit bietet die Ideengeschichte. Die Gerechtigkeits-Philosophen der Vergangenheit sind genau eine solche Gruppe reflektierter Nachdenkender, die sich über Gerechtigkeit, nicht nur ihre Moral im summarischen Sinne, Rechenschaft abgelegt haben. Sie artikulierten auf hohem Niveau die Gerechtigkeitstradition des Westens, jeder auf seine Weise.
20 Vgl. z. B. Walzer 1983, Fiske 1992, Miller 1999, Haidt & Bjorklund 2008, Verplaetse 2011, Haidt 2012, 111–216, Graham et al. 2018.
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2. Das Sokratische Projekt: Gerechtigkeit psychologisch, nicht philosophisch
2.4 Durchdachte Gerechtigkeit Die westliche Moralphilosophie von Sokrates an bietet einen reichen Schatz an Gerechtigkeits-Konzeptionen.21 Bei der Prüfung der am moralischen Verdienst orientierten Gerechtigkeit ist es hilfreich, die aktuellen alltagsmoralischen Intuitionen durch die in der Geschichte der westlichen Tradition enthaltenen Gerechtigkeitstheorien zu ergänzen. Sie bilden einen wichtigen interpretativen Hintergrund bezüglich dessen, was als Gerechtigkeit bezeichnet werden kann. Und zudem sind solche, die letzten bis zu zweitausend Jahre überlebenden Ideen als die Essenz dessen anzusehen, was das angestrengte Denken herausragender Köpfe über Gerechtigkeit hervorbrachte. Man kann folglich durchaus aktuelle Theorien auch daran messen, inwieweit sie den Gedanken der Tradition gerecht werden. Die Begrenzung auf die westliche Tradition hat zum einen mit dem Unwissen des Autors über andere Kulturen zu tun. Zum anderen ist Gerechtigkeit gerade in der westlichen Tradition ein überragender Wert, was für nichtwestliche, zum Beispiel in bestimmter Weise religiös geprägte Kulturen nicht zwingend der Fall ist. Mit einem Blick in die Geschichte soll im übrigen nicht unbedingt die Idee einer allgemeinen „Philosophia perennis“ propagiert werden, der zufolge die Philosophie schon immer an den exakt gleichen Problemen herumlaboriert. Angenommen wird jedoch, dass speziell die als „Gerechtigkeit“ bezeichneten Normen und Werte einer elementaren Grundidee folgen, die tatsächlich transkulturell und transhistorisch äußerst weit verbreitet und dauerhaft ist. Dieser programmatische Kern der Gerechtigkeitsidee ist es, dem wir in dieser Studie auf der Spur sind. Noch ein kurzes Wort zur manchmal vollmundig angekündigten „Begründung“ eines Gerechtigkeitsprinzips: wie unsere bisherigen Ausführungen hoffentlich verdeutlicht haben, wird in diesem Buch das propagierte Gerechtigkeitsprinzip nicht in irgendeinem erkenntnistheoretisch besonders anspruchsvollen Sinne bewiesen oder begründet, sondern eher plausibilisiert.22 Das heißt, es werden Gründe genannt, die es als eine prominente Basis der Moralphilosophie empfehlen. Zu glauben, dieses Prinzip sei die einzige Moralnorm oder für alle Zeiten und Umstände als wahr erwiesen, wäre selbstverständlich töricht. Gleichwohl wird hier aber eben doch eine überaus bedeutsame Norm analysiert und vorgeschlagen. Sie ist für die Legitimation und das Verständnis der Moral‑ und Staatsphilosophie der westlichen Tradition unbestreitbar von herausragender Bedeutung.
21 Aktuelle 22 Zu
Übersichten s. Raphael 2001, Fleischacker 2004, Johnston 2011. dieser Unterscheidung s. Birnbacher 2003, 406–26.
2.4 Durchdachte Gerechtigkeit
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Bei den kommenden Darstellungen werden wir demgemäß, wie oben skizziert, etliche ideengeschichtliche und empirisch-moralpsychologische Beobachtungen in den Gedankengang einflechten. Dabei werden wir uns allerdings redlich bemühen, immer deutlich zu machen, ob wir gerade über historische Konzepte spekulieren, psychologische Daten präsentieren oder die eigene Gerechtigkeitsnorm vertreten. Eine solche saubere Trennung ist unumgängliche Voraussetzung für eine transparente und ehrliche Argumentation. Im Nebenaspekt ermöglicht die Beschäftigung mit der am moralischen Verdienst orientierten Gerechtigkeit aber auch eine erhellende Erzählung der Geschichte der westlichen Gerechtigkeitsphilosophie, an der entlang wir unsere Erörterung ausrichten können. Jetzt ist indes zunächst einmal ein Blick auf die empirisch vorfindliche Alltagsgerechtigkeit als dem wichtigsten Material der moralphilosophischen Theoriebildung angebracht.
3. Menschliche Moral: Befunde der empirischen Gerechtigkeitspsychologie In diesem Kapitel werden wir, wie angekündigt, gleichsam den philosophischen Lehnsessel für einen Moment verlassen und das psychologische Labor betreten. Wir werden relevante Erträge der durchaus heterogenen empirischen Gerechtigkeitsforschung überblicksweise zusammenfassen. Aufgrund der Heterogenität der vorliegenden Studien ist hier lediglich eine narrative Zusammenfassung von deren Ergebnissen möglich. Das impliziert leider eine unvermeidlich subjektiv gefärbte Auswahl und Bewertung der Untersuchungen. Gleichwohl wird damit eine unverzichtbare Basis für die weiteren Erörterungen geschaffen.
3.1 Moralische Urteile als Doppel-Prozess Ein Hauptanliegen der empirischen Moralpsychologie ist die Beschreibung und Erklärung moralischer Urteile, Empfindungen und Verhaltensweisen normaler Menschen. In den letzten zwanzig Jahren hat sich eine Vorstellung moralischen Urteilens herausgebildet, die dieses als einen Doppel-Prozess auffasst. Maßgeblich geprägt wurde diese Vorstellung unter anderem von dem Sozialpsychologen Jonathan Haidt, dem darin eine große Zahl von Autoren gefolgt sind.1 Moralische Urteile bestehen nach dem Modell des Doppel-Prozesses aus zwei Komponenten. Die erste Komponente sind schnelle, automatische, un‑ bis vorbewusste, affektgeladene und relativ starre Bewertungen. Die zweite Komponente sind langsame, überlegte, bewusste, weniger affektgeladene und flexiblere Bewertungen. Die erste Komponente kann man als moralische Intuition bezeichnen, die zweite als moralische Überlegung. In typischen moralischen Situationen nimmt der Handelnde eine durch seinen eigenen Zustand und die Umwelt bestimmte Reizkonstellation wahr, auf die er unwillkürlich und unmittelbar intuitiv-evaluativ reagiert. Mit willentlich aktivierter Aufmerksamkeit kann er davon ausgehend versuchen, die Situation 1 S. Haidt 2001, ders. 2007, ders. 2012, 3–108, ders. & Kesebir 2010; vgl. Greene & Haidt 2002, Heidbrink 2008, 151–8, Oswald & Stucki 2009, Greene 2013, 134–43, Aronson et al. 2014, 61–92, Decety & Yoder 2017, Graham et al. 2018, Van Prooijen 2018, 69–93; allgemeinpsychologischer Hintergrund: Kahneman 2012, 31–134.
3.1 Moralische Urteile als Doppel-Prozess
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vernünftig zu bewerten. Oft wird angenommen, dass die intuitive Bewertung im Vergleich zur vernünftigen Entscheidung erheblich weniger komplexe Merkmalskombinationen der gegebenen Situation als Entscheidungsgrundlage heranzieht. Deshalb wird die intuitive Komponente des Doppel-Prozesses auch als Heuristik (Faustregel) betrachtet2, die über ihren ausgeprägten affektiven Gehalt den Handelnden stark in eine Richtung drängt. Allgemein wird akzeptiert, dass die intuitive Bewertung erheblich handlungswirksamer als die vernünftige Bewertung ist. Während die vernünftige Bewertung in einer für den Handelnden oft kaum durchschaubaren Weise von der intuitiven Bewertung beeinflusst ist, ist die Intuition durch vernünftige Überlegungen sehr viel schwieriger zu modifizieren. Haidt wählt dafür immer gerne das Bild eines Elefanten mit seinem Elefantenführer als Analogie: der Führer (= die Vernunft) kann langsam und allmählich durchaus den Elefanten (= die Intuition) lenken, dieser ist aber zu jedem Moment ungleich kräftiger, einmal in Gang gesetzt beharrlicher und eben nicht durch plötzliche Einwirkungen des Führers sonderlich zielgerichtet und effektiv leitbar. Durch eine für Interaktionspartner erkennbare Selbstbindung kann diese scheinbar „unvernünftige“ moralische Emotionalität übrigens evolutionär hochgradig nützlich sein: sie reduziert ersichtlich die Ansprechbarkeit eines Interaktionspartners für bestimmte Anreize, was die Verhandlungsposition dieses emotionalen Akteurs gegenüber seinem vernünftigen Gegenspieler in bestimmten strategischen Zusammenhängen stärkt.3 Ein erläuternder Hinweis zum heuristischen Charakter unbewusst generierter moralischer Empfindungen ist indes vielleicht sinnvoll: die menschliche Psyche ist zur völlig unbewussten Wahrnehmung ausgesprochen komplexer Merkmale und Objektsequenzen in der Lage. Ein besonders eindrückliches Beispiel vieler vergleichbarer experimenteller Belege sind etwa bildschirmgenerierte Objektfolgen, deren hochkomplizierte Regularität unbewusst erkannt und verhaltensregulierend wirksam wird, ohne dass das Individuum sein Verhalten (sich oder anderen) verbal zu erklären vermag.4 Falls dies auch für die Wahrnehmung moralisch relevanter Sachverhalte zuträfe – was ziemlich wahrscheinlich ist –, läge das Heuristische an moralischen Intuitionen möglicherweise weniger in einer Reduktion der vom Akteur berücksichtigten relevanten Parameter, sondern vielmehr in der Reduktion der bewusst in seine Entscheidung integrierten Merkmale. Die bewusste Entscheidung folgte dann einer Art Affektheuristik, der zufolge bewusst als moralisch geboten angesehen wird, was sich moralisch geboten anfühlt.5 2 S. Sunstein 2005, Gigerenzer 2008, Sinnott-Armstrong 2010, Greene 2013, 132–43, Bruder & Tanyi 2014. 3 S. Winter 2015. 4 S. Lewicki et al. 1992; vgl. Nisbett 2016, bes. 69–89. 5 Vgl. Werth & Mayer 2008, 248 ff., Kahneman 2012, 133 f., Aronson et al. 2014, 232 ff.
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3. Menschliche Moral: Befunde der empirischen Gerechtigkeitspsychologie
Akzeptiert man das beschriebene psychologische Doppel-Prozess-Modell, so erschließt sich rasch, warum eine bloße explizite Meinungserhebung – durch Introspektion, Gespräch oder Fragebogen – keinesfalls ausreichend ist, um das Phänomen menschlicher Moralität zu ergründen. Die intuitive Komponente des Doppel-Prozesses ist besser durch die Untersuchung impliziter Assoziationen, systematische Verhaltensbeobachtung oder inzwischen sogar neurowissenschaftlich basierte Methoden, wie funktionell-bildgebende Verfahren oder – aufgrund ihrer hohen zeitlichen Auflösung besonders interessant – evozierte EEG-Potenziale erforschbar.6 Bei den nachfolgend vorgestellten Studienergebnissen werden demgemäß die verschiedensten Erhebungsmethoden berücksichtigt. Die herangezogenen psychologischen Untersuchungen sind folglich äußerst heterogen. Überdies werden wir an dieser Stelle letztlich nur zusammenfassende Ergebnisübersichten geben können. Der an Einzelheiten, konkreten Untersuchungen und methodischen Fragen interessierte Leser sei deshalb an die zitierte Original-Literatur verwiesen. Wir beginnen am besten mit einem Blick auf ein Kerngebiet der Gerechtigkeitspsychologie, die Verteilungsgerechtigkeit.
3.2 Verteilungsgerechtigkeit In der Psychologie werden die verschiedensten Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit untersucht. Höchst einflussreich ist dabei eine Dreiteilung, die der nordamerikanische Sozialpsychologe Morton Deutsch bereits in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vorschlug.7 Nach Deutsch sind besonders drei Verteilungsprinzipien alltagsmoralisch ausschlaggebend: Verteilung nach Verdienst („equity“), Verteilung nach Grundbedürfnis („needs“) und Gleichverteilung („equality“). Verteilung nach Verdienst zahlt Güter proportional zum Leistungsbeitrag aus; Verteilung nach Grundbedürfnis bevorzugt die Bedürftigsten bei der Güterzuteilung; Gleichverteilung gewährt jedem Mitglied der Population die gleiche Güterauszahlung. Deutsch stellte auf den damaligen Befunden fußend die These auf, dass alle drei bedeutsam seien, aber jedes dieser drei Prinzipien in einem bestimmten Kontext das dominierende sei (s. u.). Die direkt auf die Verteilung von Gütern und Lasten bezogene Forschung seit den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts konnte diese Einsicht Deutschs im Grunde in verschiedenartigen Studien immer wieder mehr oder
6 S. Van
Berkum et al. 2009, Zahn et al. 2011, Strohminger et al. 2014, Decety & Yoder 2017. 1975, ders. 1985, bes. 31–45. Ähnlich schon Ryan 1927, 212–22, der aber Verdienst durch Leistungsbeitrag vom Verdienst durch persönlichen Aufwand unterschied, und Frankena 1963, 66–70. 7 S. Deutsch
3.2 Verteilungsgerechtigkeit
23
weniger eindeutig bestätigen.8 Allerdings zeigte sich, dass von den genannten drei Kriterien offenbar das Verdienstkriterium das kontextabhängig meistverwendete ist. Zahlreiche Untersuchungen im Rahmen der in den fünfziger bis siebziger Jahren prosperierenden, sogenannten „Equity-Theory“9 belegten das vor allem bei ökonomischen Prozessen, wie zum Beispiel Lohn‑ oder Gewinnbemessung, eindrücklich.10 Nach der Equity-Theorie sind Probanden vor allem um eine zum Verdienst der Rezipienten proportionale Güterverteilung bemüht. „Verdienst“ („desert“) wurde in diesen Studien meist als Beitrag zu einer kollektiven Aktivität konzipiert, wobei Anstrengung und Ergebnis in unklarer Weise beide bei der Bemessung des Verdiensts mitbeachtet wurden. In der entsprechenden empirischen Forschung wurden früher meist auf Befragungen basierende Studiendesigns gewählt, zunehmend jedoch auch Verhaltensbeobachtungen in definierten Interaktionsequenzen (sogenannten „Spielen“). Es wurde zunächst unter dem Einfluss der nach dem zweiten Weltkrieg noch vorherrschenden „homo-oeconomicus“-Anthropologie wirtschaftswissenschaft licher Provenienz angenommen, dass diese Orientierung an Verdienst instru‑ mentell dem Eigennutz diene, da so Andere zu für den Bewerter nützlichen Beitragsleistungen motiviert würden. Im Verlauf wurde Verdienstbeachtung jedoch rasch zunehmend als hauptsächlich intrinsisches Motiv ernstgenommen. Dabei spielten vermutlich insbesondere die letztlich unabweisbaren empirischen Belege für genuin altruistisches menschliches Verhalten in anderen Bereichen der Sozialpsychologie und Neurowissenschaft eine Rolle.11 Wobei der nachgewiesene empathiebasierte Altruismus – im Einklang mit der proportionalen Reziprozität – übrigens relativ zur wahrgenommenen Moralität oder Kooperativität des Rezipienten variiert.12 Unbedingte Empathie ist demgegenüber selten und natürlich auch bezüglich ihrer psychosozialen Auswirkungen auf Akteure und Betroffene sehr kritisch zu hinterfragen.13 Unterstützend gibt es seit neuestem erste neurowissenschaftliche Befunde, die Verdienstproportionalität im Unterschied zur Gleichverteilung mit dem aktivierten Belohnungserwartungs‑ system des Gehirns in Verbindung bringen.14 8 S. Leventhal 1976, Mikula 1980, Rohrbaugh & McClelland 1980, Schwinger 1980, MurphyBerman et al. 1984, Deutsch 1985, 133–79, Törnblom & Jonsson 1987, Griffith & Sell 1988, Feather 1999, Marshall et al. 1999, Scott et al. 2001, Dawes et al. 2007, Scott & Bornstein 2009, Olson et al. 2010, Gaertner & Schokkaert 2012, 96–138, Rustichini & Vostroknutov 2014, Kazemi et al. 2017; Übersichten: Miller 1992, ders. 1999, 61–92, Konow 2003, Lotz 2013, Gollwitzer & van Prooijen 2016, Konow & Schwettmann 2016. 9 Homans 1958, Walster, Berscheid & Walster 1973 10 Hatfield, Salmon & Rapson 2011 11 S. Übersichten bei Batson 2002, ders. 2011, Blader & Tyler 2002, Montada 2002, Preston & Waal 2011. 12 S. Pinker 2011, 850–77. 13 S. Bloom 2016. 14 S. Cappelen et al. 2014, vgl. Hsu et al. 2008.
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3. Menschliche Moral: Befunde der empirischen Gerechtigkeitspsychologie
Verschiedene Faktoren beeinflussen nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand wahrscheinlich die – üblicherweise nicht bewusste – Wahl des Verteilungskriteri‑ ums. Besonders relevant scheint der wahrgenommene Gruppencharakter der Verteilungsrezipienten zu sein. Diesen Gruppencharakter kann man in Anlehnung an eine geläufige Idee des großen Soziologen Ferdinand Tönnies in zwei Formen differenzieren.15 Bei als geschlossen, homogen, auf ein Ziel hin und beziehungsorientiert empfundenen Gruppen – Gemeinschaften im Sinne Tönnies’ – werden zumeist Gleichverteilung und, etwas seltener, Bedürftigenpriorisierung gewählt. Beispiele für solche Gruppen wären Familien oder bestimmte Vereine. Bei eher als kompetitiv-individualistisch empfundenen Gruppen – Gesellschaften im tönniesschen Sinne – dominiert hingegen weitgehend unangefochten die Verdienstproportionalität. Beispiele für derartige Gruppen wären vielleicht große Firmen oder staatlich organisierte Populationen. Auch die Art der zu verteilenden Güter bestimmt offenbar das gewählte Gerechtigkeitskriterium, wobei lebenswichtige Güter in Richtung Bedürftigenpriorisierung lenken: Vitamine werden im Gegensatz zu Geld unter sonst gleichen Bedingungen weniger nach Leistung und mehr nach Bedarf verteilt.16 Besonders nachdenklich stimmen neuere Studien, welche eine ähnliche inkomplette Dominanz eines Verdienstkriteriums wie bei erwachsenen Probanden bereits bei kleinen Kindern im Vorschulalter zeigen können.17 Diese entwicklungspsychologisch frühe Anlage spricht für einen anthropologisch sehr grundlegenden Charakter des Verdienstkriteriums. Aus philosophischer Sicht sticht sogleich ins Auge, dass in der psychologischen Forschung zwei moralphilosophisch herausragende Prinzipien fehlen: der Utilitarismus mit seiner Forderung der Gemeinwohloptimierung und das rawlssche Differenzprinzip, dem zufolge eine Verteilung gerecht ist, wenn sie die Schlechtestgestellten möglichst gut stellt. Der Grund für deren Fehlen ist schlicht ihr schlechtes Abschneiden bei den entsprechenden Untersuchungen. Weder für das Differenzprinzip18 noch für den Utilitarismus19 liegen überzeugende Belege einer nennenswerten alltagsmoralischen Fundierung vor. Speziell für den Utilitarismus gibt es sogar einige recht kompromittierende Befunde. So korrelieren utilitaristische Wertungen bei moralischen Dilemmata in einzelnen Untersuchungen mit antisozialen Persönlichkeitszügen20 oder womöglich der Höhe des Blutalkoholgehalts21. 15 Tönnies
1935, 7–70 & Bar-Hillel 1984, Bar-Hillel & Yaari 1993. 17 Baumard et al. 2011, Meristo & Surian 2011, Ng, Hagemann & Barner 2011, Wang & Henderson 2018; vgl. Bloom 2013, 159–100, Sommerville & Ziv 2018 18 S. Frohlich, Oppenheimer & Eavey 1987, Michelbach et al. 2003; dagegen: Wolf & Lenger 2014. 19 S. z. B. Sheskin & Baumard 2016. 20 S. Bartels & Pizarro 2011; vgl. Hauser 2006, 245–52. 21 S. Duke & Begue 2015. 16 S. Yaari
3.3 Die Grundannahme einer gerechten Welt
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Die frühen Untersuchungen zur Verteilungsgerechtigkeit im Umfeld der Equity-Theorie inspirierten eine weiterreichende Forschung zum Stellenwert derselben im menschlichen Tun, die wir uns genauer ansehen sollten.
3.3 Die Grundannahme einer gerechten Welt Zur Erklärung einer Reihe anderweitig irritierender Befunde entwickelte der Sozialpsychologe Melvin Lerner seit den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts seine einflussreiche „Just World“-Hypothese, im Deutschen auch als Gerechtigkeitsmotiv bezeichnet.22 Er geht davon aus, dass alle Menschen das tiefe, nur teilweise bewusste Bedürfnis haben, in einer Welt zu leben, in der jeder das bekommt, was er verdient. Und die sich daraus ergebende feste Grundannahme einer prinzipiell gerechten Welt hat erhebliche, experimentell messbare Auswirkungen auf das Erleben und Verhalten der Menschen. Diese Auswirkungen resultieren vor allem aus dem Versuch, kognitive Dissonanz zu vermindern, die aufkommt, wenn Beobachtungen von Ereignissen, Handlungen oder Personen der Grundannahme einer gerechten Welt widersprechen. Ganz der sehr gut etablierten Theorie kognitiver Dissonanz von Leon Festinger entsprechend23, versucht ein Individuum bei dem zwei Kognitionen in Widerspruch geraten, durch sein Denken oder Handeln diesen Widerspruch zu beseitigen. Lerner unterscheidet dabei im Kontext der Gerechtigkeit rationale und irrationale Taktiken zur Tilgung von Widersprüchen.24 Eine rationale Taktik angesichts eines Missverhältnisses von Verdientem und wirklich Erhaltenem kann entweder eine Restitution oder vorab eine Prävention sein. In beiden Fällen wird handelnd die Gerechtigkeit faktisch wiederhergestellt oder aber gewahrt. Irrationale Taktiken sind vor allem zwei, nämlich Abwendung vom Geschehen bzw. Verdrängung einerseits und Uminterpretation von Ereignis oder Urheber andererseits. Beides lässt die Welt unverändert, aber mindert kognitive Dissonanz beim Beobachter. Eine darüber hinaus häufig verwendete Grundstrategie zur Entschärfung beobachteter Ungerechtigkeit ist zudem das Postulat einer ultimativen Gerechtig‑ keit, also einer sich im Verlaufe der Zeit unweigerlich ergebenden gerechten Verteilung. In ihren Forschungen belegten Lerner und nachfolgende Forscher weniger einen positiven, die Moralnormadhärenz fördernden Effekt der Grundannahme einer gerechten Welt, sondern vielmehr ihren bewertungsverzerrenden Effekt durch die genannten irrationalen Taktiken. Besonders eindrucksvoll wurde dies 22 S. Lerner 1980, ders. 2003, Callan & Ellard 2010, Hafer & Cone 2010, Ellard, Harvey & Callan 2016. 23 S. Festinger 1957; vgl. z. B. Jonas et al. 2007, 254–59, Werth & Mayer 2008, 225–39, Aronson et al. 2014, 181–208. 24 Lerner 1980, 19–26
26
3. Menschliche Moral: Befunde der empirischen Gerechtigkeitspsychologie
anhand des verstörenden Phänomens der Opferbeschuldigung bestätigt.25 Bei nicht zu entschädigenden Opfern und/oder nicht zu bestrafenden Tätern setzen Beobachter unbewusst den moralischen Wert des Opfers herab und sprechen ihm unbegründet eine Mitschuld zu. Auf diesem Wege wird die wahrgenommene Ungerechtigkeit der Situation spürbar vermindert und demgemäß die kognitive Dissonanz reduziert. Ein analoger Zug ist eine unbegründete Täter‑ entschuldigung bei der gleichen Konstellation. Paradoxerweise führt die mit der genannten Taktik einhergehende moralisch motivierte Wahrnehmung zwar zu einer wohltuenden Entlastung des Beobachters, aber tendiert natürlich ganz offensichtlich dazu, moralisch adäquate Reaktionen auf tatsächlich bestehende Ungerechtigkeiten eher zu behindern. Analog können übrigens auch wahrgenommene sozioökonomische Ungleichheiten in ansonsten als gleich präsentierten Gesellschaften wahrscheinlich zur unbewussten Abwertung der Verdienste der Schlechtestgestellten oder gar relativen Aufwertung der Leistungen der Oberschicht führen.26 Die Gerechtigkeitsgrundannahme erklärt gut mehrere andere, aus zahlreichen sozialpsychologischen Studien wohlbekannte Effekte. Der erste ist die bereits seit den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in der sogenannten Theorie der relativen Deprivation beschriebene Orientierung der Zufriedenheit mit sozialen Arrangements vorwiegend durch den Vergleich mit als gleich wahrgenommenen Individuen.27 In neueren wirtschaftspsychologischen Untersuchungen fand man etwa, dass für die Auswahl einer Lohnarbeit die absolute Einkommenshöhe oftmals ausschlaggebend ist; für die Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit hat jedoch eine möglichst gleiche Bezahlung als gleichrangig empfundener Mitarbeiter einen erheblich stärkeren Effekt.28 Ein analoges Erklärungsmuster bietet sich bezüglich des empirisch erhobe nen Zusammenhangs von Lebenszufriedenheit und Einkommensverteilung in ganzen Gesellschaften an. Bezüglich westlicher Gesellschaften ergibt sich nämlich das sogenannte Easterlin-Paradox, dem zufolge zu einem Zeitpunkt reichere Bürger eines Landes durchschnittlich zufriedener als die ärmeren Bürger sind, aber über die Zeit gesehen, wenn alle Bürger eines Landes wohlhabender werden, die Lebenszufriedenheit nicht steigt.29 Mehr noch als durch eine Gewöhnung an materiellen Wohlstand lässt sich dieser Befund durch spürbare Wohlfahrtseffekte des sozialen Vergleichs erklären.30
25 S.
vertieft Hafer 2002. & Simpson 2017 27 Lotz et al. 2013, 17 f. 28 Tversky & Griffin 1991 29 Easterlin 1974 30 Z. B. Layard 2011, bes. 41–54; vgl. differenzierend Weimann et al. 2015. 26 Heiserman
3.3 Die Grundannahme einer gerechten Welt
27
Ein zweites ist der sogenannte Besitztumseffekt.31 Menschen bewerten Objekte, die sich in ihrem Besitz befinden, signifikant als wertvoller, als solche, bei denen das nicht der Fall ist. Unter der Prämisse eines entsprechend wahrgenommenen positiven eigenen Verdiensts passt dieser Befund ausgesprochen gut zur Gerechtigkeitsgrundannahme. Verwandt mit dem eben genannten Phänomen ist der Erwerbsarteffekt. Der Wert von durch eigene Bemühungen erworbenen Objekten wird systematisch höher eingeschätzt als der von ansonsten gleichartigen, aber lediglich geschenkten Dingen.32 Auch hier kann die Wahrnehmung eines durch die Bemühung erworbenen Verdiensts die Steigerung der Werteinschätzung des Objekts zur Herstellung kognitiver Stimmigkeit erklären. Desweiteren gibt es ein eigenartiges Phänomen, das man vielleicht als Ab‑ leistungseffekt bezeichnen könnte. Man kann zeigen, dass Menschen, die dazu gebracht wurden, etwas Gutes zu tun, im Anschluss daran, verglichen mit Menschen ohne vorausgehend vollbrachte Wohltat, weniger geneigt sind, bei sich bietender Gelegenheit erneut gut zu handeln.33 Eine vor‑ oder unbewusste Kognition der zufolge die Betreffenden ihren Teil schon beigetragen haben, kann im Sinne der lernerschen Hypothese dieses Verhalten gut erklären. Umgedreht funktioniert es übrigens auch: die Hilfsbereitschaft von Menschen steigt signifikant nach Erzeugung von Schuldgefühlen oder dem Genuss unverdienter Wohltaten durch Andere. Offenbar soll durch die Hilfeleistung eine empfundene Schuld abgetragen werden.34 Schließlich neigen im Experiment unprovoziert Schädigende dazu, die durch sie Geschädigten zu entwerten, wenn kein Schadensersatz erfolgt.35 Dadurch ist die Gerechtigkeit gewahrt, da der nicht kompensierte Geschädigte den Schaden tendenziell verdient hat. Ein Geschädigter kann jedoch bei nicht möglichem Schadensersatz gegebenenfalls auch seinerseits den Schädiger vergeltend schädi gen, wodurch beide gewissermaßen wieder gleichziehen. Und bemerkenswerter Weise entwerten Schädiger sie selbst potenziell vergeltend schädigende Geschädigte offenbar nicht!36 Diesen Effekt kann man vielleicht Vergeltungsachtung nennen. Insgesamt hinterlässt die Gerechtigkeitsgrundannahme sicherlich ein ambivalentes Bild der menschlichen Moralität. Festzuhalten gilt es jedoch die zugrundeliegende Gerechtigkeitsidee: eine Verteilung nach Verdienst definiert die wahrgenommene Gerechtigkeit des Weltzustands. 31 Kahneman,
Knetsch & Thaler 1990, Kahneman 2012, 356–68 & Isacharoff 1994 33 Gollwitzer & van Prooijen 2016 34 Aronson et al. 2014, 408 f. 35 S. z. B. Aronson et al. 2014, 203 ff., 458 f. 36 S. Berscheid et al. 1968; vgl. im verwandten Geist z. B. Reid 1788, 356 f., der wehrlosen Kreaturen gegenüber Wohltätigkeit, aber nicht Gerechtigkeit als angemessen empfand. 32 Loewenstein
28
3. Menschliche Moral: Befunde der empirischen Gerechtigkeitspsychologie
3.4 Kooperation und Reziprozität In einer inzwischen unüberschaubar großen Zahl verhaltensbezogener Untersuchungen zum Thema Entstehung und Aufrechterhaltung von interpersoneller Kooperation ließ sich gut zeigen, dass Reziprozitätswahrung ein intrinsisches menschliches Motiv ist und diese Motivation im sozialen Kontext höchst koope‑ rationsförderlich ist.37 Es wird in den meisten Studien negative Reziprozität (Vergeltung) untersucht, also eine schädigende Reaktion auf ein als schädigend wahrgenommenes Verhalten des Interaktionspartners. Eine Quantifizierung der Vergeltung ist meist nicht Teil der Untersuchung. Es gibt zahllose Studiendesigns. Die vielleicht wichtigsten Untersuchungen beziehen sich auf das Verhalten von Menschen in experimentell durchgeführten, definierten Spielen. Drei besonders wichtige seien hier herausgegriffen, die aufgrund ihrer inzwischen allgemeinen Bekanntheit nur einer kurzen Skizze bedürfen. Das erste Spiel ist das sogenannte Gefangenendilemma, bei dem zwei Spieler vor drei Optionen stehen.38 Erstens, wenn beide defektieren, bekommen beide einen geringen Betrag. Zweitens, wenn beide kooperieren, bekommen beide einen mittelhohen Betrag. Drittens, wenn einer defektiert und der andere kooperiert, dann bekommt der Defektierende einen sehr hohen Betrag und der Kooperierende nichts. Rein egoistisch gesehen ist es demzufolge immer klug zu defektieren: egal, was der andere tut, fährt der Handelnde stets besser, wenn er defektiert. Falls beide dieser Logik folgen, stehen sie allerdings schlechter da, als wenn beide kooperieren. Im Widerspruch zur eng verstandenen egoistischen Klugheit kooperiert – wenn auch kulturabhängig etwas unterschiedlich ausgeprägt – eine Mehrheit der Menschen im Gefangenendilemma-Spiel. Insbesondere wenn das Spiel wiederholt gespielt wird, steigt dieser Anteil. Falls jemand jedoch auf eine Defektor stößt, beendet er in der Regel seine Kooperation rasch. Und bei Simulationen des iterierten Gefangenendilemmas hat sich die simple Vergeltungsregel „Wie Du mir, so ich Dir!“ („Tit-for-Tat“) als bemerkenswert erfolgreich für den Handelnden und den Aufbau von Kooperation erwiesen. Die bloße Benennung des Spiels scheint übrigens gleichfalls deutliche Auswirkungen auf das Verhalten der Teilnehmer zu haben: bezeichnet man das Ganze als „Gemeinschafts-Spiel“, so wird stärker kooperiert, als wenn es unter dem Namen „Wall-Street-Spiel“ läuft.39 Das zweite Spiel ist das Ultimatumspiel.40 Hier kann der erste Spieler einen Geldbetrag beliebig zwischen sich und dem zweiten Spieler aufteilen. Der zweite 37 Locus classicus: Trivers 1971; Übersicht z. B. Heidbrink 2008, 127–42, Bowles & Gintis 2011, 19–45, Verplaetse 2011, 157–207, Putterman 2014, Van Dijk et al. 2014. 38 S. z. B. Axelrod 1995, Fehr & Gächter 2000, Bowles & Gintis 2011, 11ff, Pinker 2011, 783– 94, Clark 2012, 95–99. 39 Liberman et al. 2004 40 Güth et al. 1982, Güth & Tietz 1990, Kahneman et al. 1986a, Thaler 1988
3.4 Kooperation und Reziprozität
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Spieler kann dieses Angebot dann entweder annehmen oder ablehnen. Bei Annahme bekommen beide Spieler den jeweiligen Betrag; bei Ablehnung gehen beide leer aus. Bei einem einmaligen Spieldurchgang wäre es in jedem Fall egoistisch nutzenmaximierend, dass der erste Spieler dem zweiten den minimal möglichen Betrag anbietet und der zweite jeden noch so kleinen positiven Betrag annimmt. De facto verhalten sich jedoch wirkliche Menschen kulturübergreifend völlig anders.41 Meist wird ein Anteil am Gesamtbetrag zwischen einem Drittel und der Hälfte angeboten und auch nur Beträge in dieser relativen Höhe angenommen. Insbesondere bei wiederholten Spielen verfestigt sich diese Tendenz sehr rasch. Wenn der erste Spieler allerdings weiß, dass der zweite nichts über sein Handeln erfährt, wird die Kooperation etwas geringer.42 Das dritte Spiel ist das Öffentliche-Gut-Spiel. Es hat viele Varianten.43 Der Spielaufbau soll die Problematik der Bereitstellung und Bewahrung öffentlicher Güter nachbilden. Öffentliche Güter sind solche, von deren Nutzung man niemanden ausschließen kann und deren Bereitstellung Aufwendungen verursacht, zu deren Leistung wiederum niemand gezwungen ist. Im Öffentliche-Gut-Spiel bekommen die Spieler Zahlungsmittel, die sie entweder für sich behalten können oder zu einem beliebigen Anteil in eine kollektive Kasse geben können. Die Zahlungsmittel in der kollektiven Kasse werden dann etwas vermehrt und gleichmäßig auf alle Teilnehmer verteilt, unabhängig von deren jeweiligem Beitrag. Bei diesem Spiel stellt sich bei wiederholten Durchgängen meist wenig oder keine Kooperation in Form von Beiträgen zur kollektiven Kasse ein. Führt man allerdings die Möglichkeit ein, dass Nichtbeitragende von den Mitspielern sanktioniert werden können, so ergeben sich von vornherein und tendenziell dauerhaft hohe Beiträge zur kollektiven Kasse, wovon jeder Spieler profitiert. Die Mitspieler sanktionieren zu geringe Beiträge auch dann, wenn es ihren Gewinn deutlich schmälert, also Kosten verursacht. Bei allen Kooperationsspielen sind vier für uns besonders relevante Tendenzen experimentell belegbar.44 Zum ersten kommt es – wiederum kulturabhängig etwas unterschiedlich ausgebildet – zu sogenannten altruistischen Bestrafungen: Menschen nehmen eigene Kosten in Kauf, um Mitspieler zu bestrafen, die Dritten gegenüber unkooperativ gehandelt haben.45 Und das Bestrafen bereitet dem Strafenden subjektiv Befriedigung.46 Weiterhin stabilisieren Sanktionen nachhaltig die Kooperation, die bei ihrem Wegfall prekär wird.47 Und schließlich wirken 41 Henrich
et al. 2005 & Murningham 1995, Dana et al. 2006 43 S. Fehr & Gächter 2000a; Übersicht: Chaudhuri 2011, Nosenzo & Sefton 2014. 44 S. Putterman 2014, Van Dijk et al. 2014, Van Prooijen 2018, bes. 125–74. 45 Fehr & Gächter 2002, Turillo et al. 2002, Boyd et al. 2003, Fehr & Fischbacher 2004, Henrich et al. 2006, Marlowe et al. 2008 46 De Quervain et al. 2004, Fehr & Rockenbach 2004, Seymour et al. 2007 47 Balliet et al. 2011 42 Straub
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3. Menschliche Moral: Befunde der empirischen Gerechtigkeitspsychologie
Sanktionen offenbar nur kooperationsfestigend, wenn sie bzw. die Strafenden als im Sinne einer Vergeltung gerecht empfunden werden.48 Um das Phänomen der kooperationsförderlichen altruistischen Bestrafung besser zu verstehen, hat man in die oben genannten Spiele in weiteren Untersuchungen einen Reputationsfaktor einbezogen, der die kooperativen Interaktionen des betreffenden Spielers bemisst („image scoring“). Dieser Reputationsfaktor war handlungsleitend, insofern eine niedrige Reputation die Bestrafung wahrscheinlicher machte.49 Als problematisch erwies sich jedoch die zunächst bei der Bildung des Reputationsfaktors nicht erfolgte Unterscheidung zwischen Vergeltung als Schädigung eines Schädigers und einfacher Schädigung als Schädigung eines Unbescholtenen, das sogenannte „Scoring-Dilemma“. Unter Beachtung dessen erhält man in Computersimulationen eine höhere kooperationsstabilisierende Wirkung, wenn man Schädigungen nur dann bestraft, wenn sie gegen einen nicht vergeltenden Schädiger gerichtet sind bzw. sie unbestraft lässt, wenn sie einem vergeltenden Schädiger zugefügt werden.50 Damit werden dann allerdings bereits ziemlich komplexe indirekt reziproke Verhaltensstrategien untersucht. Beim Regressproblem der proportionalen Reziprozität werden wir auf diese Problematik zurückkommen (s. 14.2). In den Wirtschaftswissenschaften haben die genannten Befunde dazu beigetragen, das – für Nichtökonomen ohnedies dubiose – anthropologische Konzept vom egoistisch-nutzenmaximierenden Homo-oeconomicus in Misskredit zu bringen.51 Für die Moralpsychologie erweist sich vor allem das strikt verhaltensbezogene Vorgehen der beschriebenen Experimente als ausgesprochen horizonterweiternd. Und es ergibt sich eine Kontinuität zum Verhalten nichtmenschlicher Säugetiere.52 Die Ergebnisse bestätigen überdies, dass die frühen Studien zur Verteilungsgerechtigkeit eben nicht mit Eigennutz als einzig intrinsischem Motiv erklärt werden sollten, sondern im Gegenteil eine Erklärung aus intrinsischen Gerechtigkeitsmotiven viel näher liegt. Weniger gut verhaltenspsychologisch untersucht als ihr negatives Gegenstück, ist übrigens die positive Reziprozität, die Dankbarkeit. Diese ist jedoch aus kulturhistorischer und sozialanthropologischer Sicht eine ebenso bedeutsame und in zahllosen, hier nicht zu rekapitulierenden deskriptiven Erhebungen dokumentierte menschliche Universalie.53 In der empirischen Sozialpsychologie ist ihre durchschlagende, von persönlicher Sympathie unabhängige motivationale Kraft vor allem bei der Untersuchung von durch Wohltaten oder 48 Fehr
& Rockenbach 2003, Hermann, Thöni & Gächter 2008, Bowles & Gintis 2011, 26–29 & Sigmund 1998 50 Ohtsuki & Iwasa 2006, Sasaki et al. 2017 51 Dagegen: Binmore 2006. 52 de Waal 2000, 169–201 53 S. z. B. Kropotkin 1902, Mauss 1925, Gouldner 1960, Wesel 1985, bes. 86–94, Stegbauer 2011. 49 Nowak
3.5 Strafgerechtigkeit
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Zugeständnisse induzierten reziprok-wohltätigen Handlungen des Begünstigten gegenüber dem vorher Begünstigenden gleichwohl unstrittig belegt.54 Große praktische Bedeutung erlangt dieser Wesenszug des Menschen bei persönlichen, geschäftlichen oder politischen Interaktionen sowie speziell in Verhandlungs‑ oder Verkaufsstrategien.
3.5 Strafgerechtigkeit Bezüglich des praktisch besonders folgenreichen Bereichs der Strafgerechtigkeit gibt es einige ältere sozialpsychologische Untersuchungen, die einen prominenten Platz der Vorstellung einer Proportionalität von Strafe und Verbrechen in der Alltagsmoral bestätigen.55 In den letzten Jahren hat jedoch eine Arbeitsgruppe um die Psychologen Kevin M. Carlsmith, John M. Darley und den Juristen Paul H. Robinson hochinteressante Ergebnisse vorgelegt, welche diese globale Aussage noch einmal in Anknüpfung an aktuelle sozialpsychologische Modelle untermauern.56 In den von dieser Arbeitsgruppe durchgeführten empirischen Studien wurden die Probanden nicht nur gebeten, Strafurteile bezogen auf eine Vielzahl bestimmter Verbrechensfälle abzugeben, sondern sie sollten ihre Entscheidungen darüber hinaus begründen. Und dabei trat ein bemerkenswertes Spaltungs-Phänomen zutage. Während nämlich bei der Begründung von Strafen außer der direkt verdienten Vergeltung Verbrechensprävention und Resozialisierung oft sogar mehrheitlich als wichtigste Legitimation der Bestrafung explizit angeführt werden, so ist das verhängte Strafmaß fast vollständig direkt an der eingeschätzten relativen schuldhaften Schwere der Straftat orientiert, also der Vergeltung. Änderungen der Resozialierungschancen oder der Präventionswirkung bezogen auf konkrete Straftaten haben kaum eine Wirkung auf die Strafbemessung durch die Probanden, während Änderungen der verbrechensbedingten Schädigung oder der Tatverantwortung sich ganz unmittelbar niederschlagen. Interessanterweise lassen sich entsprechende Strafintuitionen sogar bei Straftätern nachweisen – womit sich parziell die immer gern zitierte Behauptung Kants zur Einsicht selbst von Mördern in ihre gerechte Strafe empirisch bestätigt.57 Ohnedies sind Vorstellungen von proportionaler Strafgerechtigkeit und deren zum Teil dezentrale Durchsetzung auch völlig außerhalb von Rechtsordnungen – etwa bei Piraten, Schiffbrüchigen auf entlegenen Inseln oder 54 Übersicht
b. Cialdini 2013, 43–91. & Rytina 1980; vgl. bereits Rose & Prell 1955 oder schon Sharp & Otto
55 S. Hamilton
1909/10. 56 S. Carlsmith 2008, Carlsmith, Darley & Robinson 2002, Darley 2002, Carlsmith & Darley 2008, Darley 2010, Robinson 2013, 18–35, Übersichten s. Gollwitzer & Wenzel 2013, Cushman 2014, Wenzel & Okimoto 2016, Van Prooijen 2018. 57 S. Benaquisto & Freed 1996; Kant MS 334; vgl. ähnlich auch Reid 1788, 349.
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3. Menschliche Moral: Befunde der empirischen Gerechtigkeitspsychologie
weitgehend entrechteten Insassen von Gefangenenlagern – in der Geschichte zahlreich zu finden, wie sie in der packend geschriebenen Untersuchung von Paul und Sarah Robinson zusammengetragen werden.58 Diese bemerkenswerten Studien werden von einigen Forschern mit Bezug auf das sozialpsychologische Doppel-Prozess-Modell moralischen Urteilens so gewertet, dass bei Fragen der Strafgerechtigkeit das intuitive System in Form einer proportional-verdienstsensiblen Heuristik (der Vergeltung) den Ausschlag bei der Urteilsfindung gibt, während das vernünftige System – wie vermutlich eben nicht ganz selten – lediglich sozial erwünschte Post-hoc-Rationalisierungen beisteuert (etwa Verbrechensprävention und Resozialisierung). Diese Sichtweise ist zweifellos plausibel und soweit gut mit den Daten vereinbar. Allerdings ist bei vielen Probanden der einschlägigen Studien das vernünftige System möglicherweise ebenfalls parziell verdienstsensibel und durch geeignete Hinweise lässt sich im intuitiven System ebenfalls ein zumindest begrenzter Fokus auf Wiedergutmachung hervorrufen.59
3.6 Fazit: von der Gerechtigkeitspsychologie zur Gerechtigkeit Verficht man als Moralphilosoph das Sokratische Projekt, ist damit ein Anhänger der Methode des Reflektiven Gleichgewichts und zugleich psychologisch für die epistemologischen Probleme der Introspektion sensibilisiert, dann führt kein Weg an der empirischen Moralpsychologie vorbei. Was können wir also der in diesem Kapitel überblicksweise zusammengefassten Gerechtigkeitspsychologie für die Zwecke der Gerechtigkeitsphilosophie entnehmen? In der beträchtlichen Vielfalt der Befunde ragen unübersehbar zwei inhaltliche Gerechtigkeitsprinzipien heraus, die Reziprozität und die Verdienstproportionalität. Die Reziprozität beantwortet das Verhalten einer Person gegenüber dem Handelnden mit einem gleichwertigen Verhalten, im Guten wie im Schlechten. Sie ist besonders als ein Faktor bei der Entstehung und Bewahrung kooperativer Verhaltensweisen gut belegt und ethnologisch ubiquitär nachweisbar. Die Ver‑ dienstproportionalität verteilt Güter und Lasten proportional zum positiven oder negativen Verdienst als Bestrafung oder Belohnung. Sie ist insbesondere in gesellschaftlich organisierten Personenverbänden eine dominante Norm. Bei stärker gemeinschaftlich strukturierten Verbänden findet indes auch das Prinzip der Gleichverteilung eine gewisse Beachtung. Beide bisher nur vage charakterisierten moralischen Grundprinzipien, Reziprozität und Verdienstproportionalität, sind in den moralischen Urteilen, Empfindungen und Verhaltensweisen der Menschen somit empirisch gut belegt. 58 Robinson 59 Darley
& Robinson 2015, bes. 11–135 & Gromet 2010
3.6 Fazit: von der Gerechtigkeitspsychologie zur Gerechtigkeit
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Natürlich gibt es konkurrierende Prinzipien, wie etwa das Gleichverteilungs‑ oder Bedürfnisprinzip. Überdies sind die überblickten Studien und ihre Auswahl – wie stets in der empirischen Psychologie – im Detail kritisch zu hinterfragen. In ihrer Gesamtheit lassen die referierten Ergebnisse nichtsdestoweniger den gut begründeten Schluss zu, dass eine philosophische Gerechtigkeitsnorm mit dem sokratischen Anspruch auf lebensweltliche Verankerung gut beraten ist, Reziprozität und Verdienstproportionalität entweder direkt zu integrieren oder zumindest deren empfundene moralische Relevanz in irgendeiner Weise indirekt zu erklären. Wir werden in dieser Studie den direkten Weg gehen und eine philosophische Gerechtigkeitsnorm konzipieren, die Reziprozität und Verdienstproportionalität in vereinigter Form enthält. Bevor wir uns ans Werk machen, drängen sich jedoch aus philosophischer Sicht einige Fragen auf. Wie verhält es sich mit der aktuellen Gerechtigkeitsphilosophie? Propagiert sie Reziprozität und Verdienstproportionalität so vorrangig, wie man es nach unseren bisherigen Ausführungen eigentlich erwarten würde? Und wenn nicht, warum eigentlich nicht? Vor allem die ersten beiden Fragen werden uns im nächsten Kapitel bewegen. Die dritte können wir vertieft erst im weiteren Verlauf des Buches bearbeiten.
4. Philosophische Moral: Theorien der aktuellen Gerechtigkeitsphilosophie In diesem Kapitel wollen wir uns sozusagen vom Labor wieder in den Lehnsessel begeben. Belehrt durch den psychologisch fundierten Blick auf die Alltagsgerechtigkeit wollen wir uns jetzt der aktuellen Gerechtigkeitsphilosophie widmen. Nach Verdeutlichung ihrer methodischen Ausrichtung können die für uns wichtigsten Theorien rekapituliert und es kann der Stellenwert von Reziprozität und Verdienstproportionalität in ihnen ausgelotet werden. Dabei wird ein vielleicht überraschendes Grundproblem der heutigen Gerechtigkeitsphilosophie auftauchen: die Strafe. Nach einer kurzen platonisch inspirierten Spekulation zur soziologischen Genese dieses Grundproblems kann dann besser informiert die Agenda für das weitere Buch abgesteckt werden.
4.1 Zur Grundausrichtung der modernen Gerechtigkeitphilosophie Die aktuelle Gerechtigkeitphilosophie hat das erkenntnistheoretisch fundamentalistische Programm einer Begründung der Moral aus selbstevidenten Grundsätzen oder Einzelfallbeobachtungen im Grunde aufgegeben. Die ganz überwiegende Mehrzahl der Autoren folgt in der einen oder anderen Weise grundsätzlich dem – auch in dieser Studie anerkannten – rawlsschen Konzept des Überlegungsgleichgewichts. Diese Grundorientierung verschafft der Alltagsmoral einen herausragenden Platz bei der Theoriebildung und Theoriebegründung. Offen bleiben der genaue epistemologische Status der Alltagsmoral, deren präzise Bestimmung sowie die Reichweite der so gewonnenen moralphilosophischen Erkenntnisse. Das ändert aber nichts an der grundlegenden methodischen Ausrichtung der aktuellen Gerechtigkeitsphilosophie. Inhaltlich werden in der aktuellen Debatte sowohl eudämonistische als auch juridische Gerechtigkeitskonzeptionen diskutiert, obgleich die letzteren ganz eindeutig die Mehrheit bilden. Passend dazu liegt der intendierte Normierungsbereich der meisten Ansätze unverkennbar in sozialen Institutionen und nicht im individuellen Handeln. Gerechtigkeit wird ganz überwiegend in der politischen Philosophie, nicht der Moralphilosophie abgehandelt.
4.2 Moderne Gerechtigkeitsprinzipien
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Trotz dieser unserem Grundansatz folglich in jedem Punkt konträren Grundausrichtung der aktuellen Gerechtigkeitsphilosophie würde man erwarten, dass Reziprozität und Verdienstproportionalität theoretische Beachtung finden. Wir wollen aktuell propagierte gerechtigkeitsphilosophische Prinzipien daraufhin in diesem Kapitel mustern. Im vorliegenden Kontext müssen wir dazu jedoch eine massive Vereinfachung und Anpassung des Materials vornehmen. Nur so können wir eine gewisse Vergleichbarkeit mit unserem Ansatz herstellen. In welchem Format prüfen wir also die aktuellen Gerechtigkeitsprinzipien? Zum einen werden wir die institutionsbezogene Normierungsintention schlicht missachten und die untersuchten Prinzipien wie Moralnormen der Individualethik behandeln. Zum anderen werden wir die untersuchten Prinzipien eudämonistisch umdeuten, also rücksichtslos in das hier gewählte Paradigma einfügen. Das führt dazu, dass wir Prinzipien möglicherweise in einer ganz anderen als der von ihren Erfindern vorgesehenen Lesart analysieren. Und es hat zur Folge, dass wir die juridische Gerechtigkeit hier noch nicht gründlich mituntersuchen können. Das Erste nehmen wir im Dienste der klaren Erkenntnis in Kauf. Das Zweite holen wir im systematisch ausgerichteten Kontraktualismuskapitel für die wichtigste juridische Gerechtigkeitsidee im Kern nach. Es würde an dieser Stelle aber den Rahmen sprengen. Die Rechtfertigung für unsere sorglose Formatierung liegt in einer durch sie hergestellten direkten Vergleichbarkeit mit der proportionalen Reziprozität und einer wohlwollenden Anpassung an die Alltagsgerechtigkeit, indem wir den moralischen Gehalt der untersuchten Gerechtigkeitsprinzipien zwar soweit wie möglich zu bewahren versuchen, aber sie dennoch in einer Form präsentieren, die grundsätzlich direkt Verdienstproportionalität oder Reziprozität abbilden kann.
4.2 Moderne Gerechtigkeitsprinzipien Man kann die gegenwärtig diskutierten substanziellen Gerechtigkeitsprinzipien vier Grundpositionen zuordnen: a) dem Utilitarismus, b) dem Bedürftigkeitsprinzip, c) dem Gleichverteilungsprinzip und d) dem Verdienstprinzip. (Die ersten drei werden nicht selten kontraktualistisch begründet, aber das soll hier ersteinmal ausgeklammert bleiben.) Den Utilitarismus wollen wir an dieser Stelle unbeachtet lassen. Erstens sterben die Vertreter dieser Position langsam aus. Zweitens ist der Utilitarismus sicherlich eine interessante Individual‑ und Sozialethik, aber ist nach allgemeiner Einschätzung eine moralische Alternative zur Gerechtigkeit und mithin gerade keine Explikation eines Gerechtigkeitsideals. Drittens werden wir bei unserer selektiven Rekapitulation der Geschichte der Gerechtigkeitsphilosophie noch einmal auf den Utilitarismus stoßen und können uns dann seine sattsam bekannten Vor‑ und Nachteile in Erinnerung
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4. Philosophische Moral: Theorien der aktuellen Gerechtigkeitsphilosophie
rufen. Bei Ausklammerung des Utilitarismus bleiben im Grunde die seinerzeit bereits von Morton Deutsch (s. o. 3.2) so angeordneten drei Prinzipien übrig, über deren Varianten wir uns jetzt kurz ins Bild setzen wollen. i) Bedürftigkeitsprinzip: Die vielleicht einflussreichsten substanziellen Gerech tigkeitsprinzipien der aktuellen Philosophie lassen sich dem Bedürftigkeits‑ prinzip zuordnen. Drei Varianten werden diskutiert: das Differenzprinzip, das Priorisierungsprinzip und Suffizienzprinzip. Wir betrachten sie kurz der Reihe nach. a) Differenzprinzip: In Anlehnung an eine Idee von John Rawls kann man Gerechtigkeit mit Bezug auf diejenigen Rechtssubjekte bestimmen, die am schlechtesten gestellt sind.1 Eine Handlung oder Institution ist dann gerecht, wenn sie die am schlechtesten gestellten Rechtssubjekte möglichst gut stellt – unabhängig davon, was mit den Bessergestellten der Fall ist. b) Das Priorisierungprinzip: Derek Parfit hat diese Abwandlung des Utilitarismus in die Diskussion gebracht.2 Nach dem Priorisierungprinzip ist eine Handlung gerecht, wenn sie das Gemeinwohl optimal fördert, aber das Individualwohl der betreffenden Rechtssubjekte zählt desto stärker im Kollektivwohl, je weniger Wohlergehen das betreffende Rechtssubjekt erlebt. c) Das Suffizienzprinzip: Auf Überlegungen von Harry Frankfurt geht das letzte Bedürftigkeitsprinzip zurück, das Suffizienzprinzip.3 Nach diesem Prinzip ist eine Handlung gerecht, wenn sie sicherstellt, dass jedes Rechtssubjekt moralisch ein ausreichendes minimales Wohlergehensniveau erreicht, das heißt, absolut über genug elementare Güter zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse verfügt. Alle drei Prinzipien haben systematische Schwachstellen, das heißt, sie erzeugen bestimmte kontraintuitive normative Resultate. Das Differenzprinzip führt beispielsweise gleichsam zu einer unplausiblen Diktatur der Armen: ein geringer Wohlfahrtszuwachs für die möglicherweise wenigen Schlechtestgestellten rechtfertigt im Grunde erhebliche Wohlfahrtseinbußen der vielen etwas besser Gestellten. Das Priorisierungsprinzip hat schwieriger absehbare Konsequenzen. Je nachdem, wie stark das Wohlergehen der Bessergestellten diskontiert wird, treten aber ähnliche Probleme wie beim Differenzprinzip auf. Das Suffizienzprinzip schließlich bleibt ausgesprochen vage, solange man nicht näher definiert, was hinreichende Wohlfahrt ist. Je höher man die absolute Schwelle setzt, desto stärker ähnelt es den beiden anderen, je niedriger man sie setzt, desto weniger relevant erscheint das Prinzip. Bei extrem niedriger Schwelle würde vielleicht ausschließlich ein schmerzloses Überleben das zu Verteilende sein, was für ein Gerechtigkeitskonzept sicherlich zu kurz greift. 1 S. Rawls
1971, 81–104 u. ö. 2000. 3 S. Frankfurt 1987. 2 S. Parfit
4.2 Moderne Gerechtigkeitsprinzipien
37
ii) Gleichverteilungsprinzip: Dieses Prinzip wird demgegenüber sehr viel seltener vertreten.4 Es ist formal erheblich komplexer als es zunächst den Anschein hat, wenn man die verschiedenen Möglichkeiten bedenkt, mit denen man die Ungleichheit von Verteilungsprofilen messen kann. Meist werden hierzu verschiedene Streuungsmaße verwendet, wie etwa der Gini-Koeffizient, ggf. in bestimmter Weise gewichtet, ohne dass sich ein intuitiv eindeutig zu bevorzugendes Messverfahren anbietet.5 Die Plausibilität des Gleichverteilungsprinzips kann man überdies im Grunde erst dann beurteilen, wenn man etwas näher erläutert, was für eine Art von Wohlfahrt oder Gütern denn eigentlich in der präzisierten Form gleichverteilt werden soll. Da dieses Problem der „Währung“ der Gerechtigkeit jedoch auch für die proportionale Reziprozität besteht, werden wir darauf erst später eingehen. Bezüglich des Gleichverteilungsprinzips wird indes oftmals mehr auf Chancengleichheit und nicht Gütergleichheit abgehoben. Damit ist jedoch wiederum eine sehr komplexe Norm angedeutet. Sie ist speziell individualethisch eher weniger attraktiv, allerdings institutionell interpretiert durchaus von größerem Interesse. Wir werden sie später noch einmal genauer inspizieren (s. 16.2), sie aufgrund ihrer Fokussierung auf verantwortliches Handeln jedoch als einen Versuch begreifen, moralisches Verdienst in einen egalitären Rahmen zu bringen. iii) Verdienstprinzip: Dieses Prinzip nimmt in der heutigen Gerechtigkeitsphilosophie unbestritten eine Außenseiterolle ein. Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung für unsere Studie werden wir die existenten verdienstbasierten Außenseiter-Prinzipien später in einem eigenen Kapitel rekapitulieren und mit der proportionalen Reziprozität vergleichen. Wenn unser kleiner, simplifizierender Überblick zutrifft, dann propagiert die Gegenwartsphilosophie Gerechtigkeitsprinzipien in, verglichen mit der Alltagsmoral, umgekehrter Gewichtung. Bedürftigkeit spielt eine große Rolle, Gleichverteilung eine geringe und Verdienst fast gar keine. Sozialpsychologisch verhält es sich nach unserem oben gegebenen Überblick jedoch bezogen auf Gesellschaften genau andersherum. Bevor wir die wichtigsten mit diesem Sachverhalt verbundenen Fragen formulieren, wollen wir uns noch eine grundlegende gemeinsame systematische Schwachstelle der beiden Gerechtigkeitsprinzipien, Bedürftigkeits‑ und Gleichverteilungsprinzip, klar machen, die in dieser Form das Verdienstprinzip – und übrigens auch der Utilitarismus – nicht teilt: die Unfähigkeit zur Straflegitimation.
4 S.
z. B. Anderson 1997. 1973, Temkin 1993.
5 S. Sen
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4. Philosophische Moral: Theorien der aktuellen Gerechtigkeitsphilosophie
4.3 Das Problem der Strafgerechtigkeit Eine Strafe ist begrifflich gesehen, grob gesagt, die Schädigung eines Akteurs, weil dieser sich in bestimmter Weise regelwidrig verhalten hat. Die Alltagsmoral und Rechtsbräuche aller Zeiten und Kulturen sehen Strafen bei bestimmten Vergehen als erlaubt bzw. meist sogar geboten an und es besteht seit je her ein enger Zusammenhang zur Gerechtigkeit. Eine gerechte Strafe wird vom dazu legitimierten Individuum oder einer entsprechenden Institution bei einer schuldhaft begangenen Verbrechenshandlung in angemessenem Maß über den Täter verhängt. Bezogen auf eudämonistische Gerechtigkeitstheorien kann man die in einer Strafe enthaltene Schädigung genauer als Entzug wesentlicher Güter (typischerweise Eigentum, Bewegungsfreiheit, Schmerzfreiheit, subjektive Wohlfahrt, Leben) definieren; bezogen auf juridische Theorien als Missachtung oder Entzug von entsprechenden Individualrechten. Obgleich es in den verschiedenen Rechtskulturen natürlich gewisse Unterschiede hinsichtlich der eingesetzten oder zulässigen Strafmaßnahmen gibt, so geht eine Strafe üblicherweise mit einem geringen bis sehr geringen oder sogar negativen Wohlfahrtsniveau des Sträflings einher. Eine frappierende Hauptschwierigkeit der Bedürftigkeits‑ und Gleichverteilungsprinzipien ist, dass sie mit ihrem Fokus auf die am geringsten Begüterten zunächsteinmal Strafe gar nicht legitimieren können: durch eine Strafe wird der Sträfling im allgemeinen genau in den Wohlfahrtsbereich der Schlechtestgestellten überführt, aus dem Bedürftigkeitsbeachtung und Gleichverteilung ihn vordringlich wieder herausführen wollen. Im Hinblick auf die resultierende Wohlfahrtsverteilung ist Strafe in der Regel geradezu das Muster einer ungerechten Handlung aus Sicht der Bedürftigkeit oder Gleichverteilung. Dieses auffällige Legitimationsdefizit ist selbstverständlich von Anfang an bemerkt worden. Der Gründervater der aktuellen Gerechtigkeitsphilosophie, John Rawls, hat seine Theorie gegen diesen offensichtlichen Einwand durch eine interessante Differenzierung abgeschirmt, worin ihm eine große Zahl Autoren gefolgt sind. Rawls unterschied zwischen einer idealen und einer nichtidealen Gerechtigkeitstheorie: die ideale Gerechtigkeitstheorie geht von der Voraussetzung vollständiger Normadhärenz der Normadressaten aus, während sich die nichtideale Gerechtigkeitstheorie um den Fall von auftretenden Normverstößen kümmert.6 Das Bedürftigkeitsprinzip oder das Gleichverteilungsprinzip gilt demnach, als ideale Theorie, nur unter der Voraussetzung, dass alle Normadressaten ihm gehorchen. Infolgedessen kann man das mangelnde Wohlergehen von Sträflingen nicht mehr in Anschlag bringen: da alle Normadressaten voraussetzungsgemäß gerecht handeln, werden keine Verbrechen begangen und es gibt keine Sträflinge mehr. 6 Rawls
1971, 25 f. u. ö.
4.3 Das Problem der Strafgerechtigkeit
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Die an diese rawlssche Differenzierung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts anschließende allgemeine Ausgrenzung der Strafe aus dem Kerngebiet der philosophischen Gerechtigkeitstheorie hatte übrigens eine bis heute währende verblüffende Folge für den philosophischen Diskurs: die Diskussion über Strafgerechtigkeit – in der westlichen Gegenwartskultur mit starkem territorialen Gewaltmonopol des Staates ja eine eminent politische Frage und bereits bei vielen Klassikern genau so untersucht – wurde von der politischen Philosophie fast vollständig abgekoppelt.7 De facto wurden lediglich eng begrenzte Minitheorien zur Strafe entwickelt. Eingeschränkt auf Vergeltung, Verbrechensprävention und Resozialisierung wurde ohne Einbezug in die allgemeine Ethik oder politische Philosophie im Kleinen und letztlich wenig effektiv theoretisiert. Der traditionell äußerts enge Bezug zur Gerechtigkeit verflüchtigte sich dabei weitgehend (dazu unten mehr). Ist die Auftrennung in ideale und nichtideale Theorie überzeugend? Selbstverständlich kann man die philosophische Gerechtigkeitstheorie prinzipiell so auftrennen, falls man es wünscht. Die Frage ist aber, ob es theoretisch sinnvoll und fruchtbar ist. Und die Antwort darauf lautet meines Erachtens eindeutig: nein! Zwei miteinander verwobene Gründe lassen sich hierfür benennen, einer bezieht sich auf den philosophischen Anspruch an ein Gerechtigkeitsprinzip und einer auf die normative Belanglosigkeit der idealen Theorie. Philosophischer Anspruch: Eine philosophische Gerechtigkeitstheorie sollte wesentliche Aspekte der Alltagsgerechtigkeit legitimieren können. Strafe ist sowohl in der moralischen als auch der politischen Philosophie ein unverzichtbarer Bestandteil des Gerechtigkeitskonzepts: ihre Zuteilung und Bemessung durch Personen oder Institutionen ist ein großer Teil dessen, was in unserer westlichen Kultur durch Gerechtigkeitsnormen geregelt werden soll. Die sogenannte ideale Theorie ist aus dieser Sicht also nicht nur ein wenig unvollständig, sondern sie ist so inhaltlich so stark amputiert, dass sie ihr Thema weitgehend verfehlt. Es ist ausgesprochen befremdlich, ja, alarmierend, wenn in einer zeitgenössischen Übersichtsarbeit zur philosophischen Gerechtigkeit dieser – unter Berufung auf moderne Gerechtigkeitskonzepte – mit größter Selbstverständlichkeit eine strafbegründende und strafbemessende Funktion weitgehend abgesprochen wird.8 Wenn diese Schlussfolgerung nicht mehr als das erkannt wird, was sie ist: eine glatte Reductio-ad-absurdum für die betreffende Gerechtigkeitstheorie, dann kann man die Irrwege der modernen Gerechtigkeitsphilosophie vielleicht nur noch durch eine Art offenbar diskursbedingten semantischen Neglect erklären. Normative Belanglosigkeit: Das aufgezeigte Legitimierungsdefizit der idealen Theorie ist jedoch nicht nur verwunderlich oder konträr zum üblichen Rechtsempfinden und der philosophischen Tradition, sondern letzten Endes normativ 7 S. Shuster
2017. 2012, 50–54.
8 S. Schlothfeldt
40
4. Philosophische Moral: Theorien der aktuellen Gerechtigkeitsphilosophie
fatal. Der Grund dafür liegt in der offenkundigen Nachrangigkeit der idealen Theorie gegenüber der nichtidealen Theorie. Aus Sicht der idealen Theorie ungerechtes Handeln – also eine beliebige Schädigung – ist von einer gerechten Strafe – wiederum einer Schädigung – nur zu unterscheiden, wenn die nichtideale Theorie bekannt ist und angewendet wird. Falls die nichtideale Theorie ein Handeln legitimiert, ist dieses also auch dann moralisch gerechtfertigt, wenn die ideale Theorie es verdammt. Mehr noch: wenn Verstöße gegen die ideale Theorie Strafen begründen sollten, dann ist unter Umständen sogar eine Strafe von einem Verbrechen nicht mehr unterscheidbar, ohne die nichtideale Theorie zu Rate zu ziehen! Das heißt, die nichtideale Theorie ist normativ vorrangig und die ideale Theorie ohne vorherige Anwendung der nichtidealen Theorie gar nicht einsetzbar.9 Die Schlussfolgerung aus unseren beiden Argumenten liegt auf der Hand: eine Gerechtigkeitstheorie ohne Einschluss der Strafgerechtigkeit ist legitimatorisch inkompetent und moralphilosophisch nachrangig. Die Differenzierung in ideale und nichtideale Theorie hilft diesem Problem letztlich nicht ab. Statt den eigentlich relevanten Gegenstandsbereich zu bearbeiten, verkleinert die Unterscheidung ihn bis zur moralisch-politischen Belanglosigkeit.
4.4 Fragen und Antworten Ziehen wir einige Lehren aus den bislang angestellten Überlegungen! Die aktuelle Gerechtigkeitsphilosophie folgt der Idee des Reflektiven Gleichgewichts und sieht Moralphilosophie als vernünftige Systematisierung der Alltagsgerechtigkeit. Die Alltagsgerechtigkeit ist tiefgreifend durch die Ideen der Reziprozität und der Verdienstproportionalität geprägt. Beide Ideen werden so jedoch in der aktuellen substanziellen Gerechtigkeitsphilosophie wenig beachtet. Aus dieser Konstellation lassen sich vier Fragen ableiten, die wir im vorliegenden Werk hauptsächlich beantworten wollen. 1. Gibt es eine philosophische Gerechtigkeitstheorie, die Reziprozität und Verdienstproportionalität erfolgreich integriert und wie sieht sie aus? 2. Gibt es eine ideengeschichtliche Erklärung für die Ablehnung von proportional reziproken Gerechtigkeitstheorien trotz ihrer alltagsmoralischen Fundierung und wie sieht sie aus? 3. Gibt es eine systematische Erklärung für die Ablehnung von proportional-reziproken Gerechtigkeitstheorien trotz ihrer alltagsmoralischen Fundierung? Und falls nein, wie geht die proportionale Reziprozität mit den wichtigsten Einwänden um? 9 Was
Rawls andeutungsweise durchaus einräumte, s. ders. 1971, 272 f.
4.5 Eine platonisch-soziologische Spekulation
41
4. Gibt es eine anthropologische Erklärung für die alltagsmoralische Präsenz proportional-reziproker Gerechtigkeitsvorstellungen trotz philosophischer Abstinenz und wie sieht sie aus? Alle vier Fragen werden wir uns bemühen zu beantworten. Die erste Frage leitet uns im 6. bis 9. Kapitel; die zweite Frage im 10. bis 13. Kapitel; die dritte Frage im 14. bis 16. Kapitel; die letzte Frage bereits im nächsten Kapitel. Bevor wir dem umrissenen Programm folgen, wollen wir indes in einer kurzen spekulativen Abschweifung der prima facie ja höchst befremdlichen und erklärungsbedürftigen Vermeidung der Strafgerechtigkeit im politisch-philosophischen Gegenwartsdiskurs aus einer eher soziologischen Perspektive nachgehen.
4.5 Eine platonisch-soziologische Spekulation Die Gegenwartsphilosophie orientiert sich stark am Bedürftigkeitsprinzip und zugleich hat sie die Strafgerechtigkeit aus dem Zentrum der Gerechtigkeitsdebatte entfernt. Und dies obwohl die anerkannt philosophisch relevante Alltagsmoral gerechte Strafe als einen wichtigen, emotional hochbesetzten Bestandteil ihres intuitiven Gerechtigkeitskonzepts enthält. Diese eigentümliche Konstellation werden wir narrativ-ideengeschichtlich ein Stück weit erklären können. Eine kraftvolle systematisch-philosophische Erklärung werden wir hingegen nicht finden. Daher soll hier eine sich dem traditionsverhafteten philosophischen Gemüt aufdrängende platonische Spekulation zur soziokulturellen Verursachung dieses Phänomens nicht verschwiegen und im Vorbeigehen skizziert werden. Platon hat sich in vielen seiner Werke kritische Gedanken zur athenischen Demokratie aus Perspektive der Gerechtigkeit gemacht, zweifellos auch durch den Justizmord an seinem Lehrer Sokrates angetrieben.10 Während er in „Der Staat“ indes noch ein Loblied auf die wahre Aristokratie oder sogar die philosophische Einmannherrschaft sang, so dämmerte ihm im Dialog „Der Staatsmann“ anscheinend, dass die philosophisch perfekten Herrscher in dieser Welt nicht existieren, und im Spätwerk, „Die Gesetze“, empfahl er daher dann sogar lieber eine Mischverfassung als das Stabilste. Sowohl im achten Buch des „Staates“ als auch dem dritten Buch der „Gesetze“ entwarf er jedoch eine Degenerationslehre der Demokratie, die deren Untergang aus ihrem eigenen Geist erklären sollte.11 Seine teilweise auf die athenische Geschichte bezogene Demokratielehre ist in unserem Zusammenhang einen näheren Blick wert. Nach Entstehung einer Demokratie, also Volksherrschaft, aus Tyrannis oder Oligarchie ergibt sich 10 Vgl.
Cammack 2015, Demandt 1996. Rep. 544a–569c, ders. Polit., ders. Leg. 676a–702e; s. a. Aristoteles Pol. V.; vgl. Jaeger 1973, 923–55, 1185–93, Schöpsdau 2013. 11 S. Platon
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4. Philosophische Moral: Theorien der aktuellen Gerechtigkeitsphilosophie
zunächst eine breite Verteilung von Wohlstand und politischer Mitbestimmung. Der Staat wird nach Platon „angenehm, herrenlos und bunt“.12 Die weitgehende gleiche Freiheit aller führt nach Platon jedoch aus verschiedenen Gründen dazu, dass auf lange Sicht zunehmend das freiheitliche Prinzip der Zwanglosigkeit auch auf die staatlichen Instanzen und insbesondere auf die behördliche Sicherstellung der Gesetzestreue angewendet wird. Letztlich werden demzufolge immer weniger Normverstöße tatsächlich negativ sanktioniert und Gesetzesgehorsam hört auf, eine Tugend zu sein. Dadurch wird es für bestimmte Bürger möglich, sich überdurchschnittlich viel Macht und Wohlstand anzueignen. Das resultierende inegalitäre Chaos führt dann in Verbindung mit der zunehmend geschwächten Zentralstaatlichkeit zum allgemeinen Wunsch nach einer starken friedenssichernden Machtinstanz. Dieser Wunsch spült dann letzten Endes einen Tyrannen oder ein oligarchisches Regime nach oben, vernichtet also die Demokratie. Diese platonische Kritik ist bei allen fragwürdigen Details auf den ersten Blick gar nicht einmal so unplausibel und verwendet geradezu klassische Deutungsmuster der politischen Geschichtsschreibung. Man kann sich trefflich damit unterhalten, sie auf tatsächlich stattgehabte staatsgeschichtliche Prozesse anzuwenden. Bezogen auf das aktuelle Verschwinden der Strafgerechtigkeit aus der Staatsphilosophie und übrigens auch dem alltäglichen politisch-rechtlichen Diskurs – wann und wo wird denn öffentlich intensiv oder wirklich ergebnisoffen über Strafe diskutiert? – lässt sich Platons bemerkenswerte These der schrittweisen Schwächung der Demokratie durch übermäßige Liberalisierung der Zwangsanwendung offenkundig mit Gewinn heranziehen. Den westlich-demokratischen Gesellschaften ist es in ihrer historischen Entwicklung in einzigartiger Weise gelungen, das Gewaltmonopol des demokratisch legimierten Rechtsstaats in hohem Maße territorial durchzusetzen. Die innere Befriedung ist damit einhergehend weitreichend gelungen. Der einzelne Bürger ist infolgedessen von moralisch motivierter Gewaltausübung persönlich nahezu vollständig entbunden. Zwischen den Bürgern ist eine rechtsförmige, friedliche Konfliktlösung der Normalfall, auch wenn im Rahmen relativ seltener krimineller Handlungen selbstverständlich unverändert Unrechts‑ und Gewalttaten verübt werden. Die Erziehung der Bürger steht indes im Zeichen einer nahezu vollkommenen privaten Gewaltlosigkeit. Aus der umrissenen Konstellation ergibt sich eine gewandelte Wahrnehmung zentraler gesellschaftlicher Konflikte mit Zwangsmitteleinsatz, derzufolge sich diese vor allem zwischen den Bürgern und dem Staat abspielen, nicht zwischen Bürgern untereinander. Der Staat wird dabei primär in der Rolle desjenigen gesehen, dessen für die bürgerliche Freiheit bedrohliche Zwangsbefugnis begrenzt und zurückgedrängt werden muss. Zwangsbewehrte Exekutivorgane des Staates, insbesondere die Polizei‑ und Streitkräfte, werden zuvörderst als 12 Platon
Rep. 558c
4.5 Eine platonisch-soziologische Spekulation
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zumindest potenzielle Gefährder der persönlichen Freiheit oder gar des allgemeinen Friedens wahrgenommen, nicht mehr in erster Linie als erwünschte Schutzinstanzen gegen interpersonelle Gewalt oder als Aufrechterhaltungsfaktoren einer notwendigen allgemeinen Gesetzestreue. Und eben diese Sichtweise tangiert auch die vielleicht einschneidendste staatliche Maßnahme außer dem Krieg: die Strafe. Sie erscheint dann mehr als ein soziales Problem und weniger als unverzichtbarer Beitrag zur Lösung sozialer Missstände. Der wahrhaft verblüffende Buchtitel des strafkritischen amerikanischen Psychiaters Karl Menninger, „The Crime of Punishment“, bringt eine solche Einschätzung auf den Punkt.13 Auch die individuelle Verbindlichkeit von Gesetzen leidet unter der pathologischen Liberalisierung im Sinne Platons. Bestimmte Gesetze werden trotz ihrer unbestreitbaren legalen Gültigkeit und ihres im Grunde moralisch unanstößigen oder sogar nützlichen Charakters zunehmend lediglich als lästige Hemmnisse individueller oder oligarchischer Interessenverfolgung angesehen. Sie verlieren ihre moralische Verpflichtungskraft für die Bürger, aber eben auch für die staatlichen Exekutivorgane. Die geforderte amtliche Durchsetzung der Gesetze wird in bestimmten Rechtsbereichen in der Folge nicht mehr ernsthaft betrieben. Aktuelle speziell deutsche Beispiele für diese platonisch prognostizierte Tendenz – einigermaßen wahllos herausgesucht und verschiedenartig – sind die trotz bereits 1993 erfolgter verfassungsgerichtlicher Anmahnung zum offenkundigen Vorteil der Wohlhabenden nicht befriedigend gesetzlich geregelte Vermögenssteuer, die Rücknahme der parlamentarisch beschlossenen Laufzeitverlängerung von Atommeilern durch die Bundeskanzlerin ohne erneuten Einbezug des Parlaments 2011, der seit 2015 europarechtlich nicht mehr gesetzeskonforme, weil langfristig (jedenfalls bis November 2017) dem Dublin-II-Abkommen widersprechende (und in Spannung zum Artikel 16a des Grundgesetzes stehende) Umgang mit illegaler Einwanderung, das behördliche Billigen des Verkaufs illegaler Drogen in bestimmten öffentlichen Zonen (etwa Berliner Parks, inklusive öffentlicher Fotopräsentation eines führenden Politikers mit seinen Cannabispflanzen im Hintergrund), die übermäßig späte oder zum Teil wegen Fristüberschreitungen gar nicht mehr erfolgende Verhängung und Vollstreckung einer großen Zahl von Gerichtsurteilen (laut Bundeskriminalamt Ende 2017: 297.820 offene Haftbefehle bzw. Fahndungsausschreibungen, davon 126.327 im Bereich Abschiebung [„Welt am Sonntag“ 29. 07. 2018]) oder auch – eine vielsagende Kleinigkeit – die bezüglich Radfahrern in vieler Hinsicht 13 S. Menninger 1968. Philosophisch gebildete Leser werden sich in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass bereits Nietzsche der – aus heutiger Sicht nicht gerade pazifistischen – europäischen Kultur des späten neunzehnten Jahrhunderts eine solche, aus seiner Sicht überzogene Gewaltaversion, als Teil ihrer „Herdenmoral“, attestierte; s. z. B. ders. 1886, bes. 90 u. ö. Die an diesem Punkt bedenkenswerte positive Seite der steigenden Gewaltaversion im direkten sozialen Miteinander stellt Pinker 2011, bes. 562–711, gekonnt heraus.
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4. Philosophische Moral: Theorien der aktuellen Gerechtigkeitsphilosophie
praktisch unbeachtete Straßenverkehrsordnung. All diese offenkundigen, eigentlich aus rechtsstaatlicher Sicht ja höchst bedenklichen, jedoch weitgehend unbeanstandeten Missstände sind passende Beispiele aus der deutschen Gegenwart für Platons Beobachtung der irregeleiteten Anwendung einer freiheitlichen Denkungsart auf die diese Freiheit schützenden legalen Grundstrukturen mit dem Ergebnis eines schleichenden Übergangs in illiberale Herrschaftsstrukturen. Problematisch ist rechtverstanden nicht in erster Linie die jeweilige inhaltliche Vorgehensweise – obgleich auch diese meist ziemlich fragwürdig erscheint –, sondern die völlige allseitige Missachtung der bestehenden Gesetzeslage ohne rechtfertigenden Notstand. Ein parallel dazu verlaufender Übergang speziell in Richtung Oligarchie lässt sich überdies angesichts einer spätestens seit dem zweiten Weltkrieg wieder stetig steigenden Vermögensungleichheit in den meisten westlichen Staaten zumindest als potenzielle Gefahr kaum noch von der Hand weisen.14 Zusammenfassend: Bürger und politische Entscheidungsträger in freiheitlichen Demokratien erfahren selten Gewalt, sind selbst nicht zur Gewaltanwendung gezwungen und missbillligen eine solche durch den Staat in zunehmenden Maße infolge einer überzogenen Ausdehnung ihrer durch das staatliche Gewaltmonopol ermöglichten, zunächst nur individualethischen freiheitlichen, also Zwang ablehnenden Grundhaltung. Damit verlieren Gesetze schleichend ihren Zwangscharakter und der allgemeine Gesetzesgehorsam wird prekär. Sieht man den philosophischen Fachdiskurs als unbewussten Ausdruck der jetzigen nahezu unbedingt gewaltaversiven, unbegrenzt freiheitlichen Alltagskultur des Westens und akzeptiert die hier skizzierte spekulative platonische Interpretation des aktuellen Zustands der westlichen Demokratien, dann passt das Verschwinden des Zwangs und der Gewalt aus dem individuellen philosophischen Denken und damit der Fachdebatte frappierend gut ins Bild. Eine ungetrübte Idee der gleichen Freiheit aller ist offenkundig schwer mit einer alltäglich präsenten reglementierenden und strafenden Staatsgewalt vereinbar. Die Strafverhängung und ‑vollstreckung oder die nötige Polizei-, Grenzschutz‑ oder Armeegewalt wird verschämt in den Hintergrund gedrängt. Es geht wohl, wie jeder ahnt, eigentlich nicht ohne, aber darüber reden möchte man als freiheitlicher Demokrat nicht. Kaum ein ernsthafter Philosoph wird bewusst so naiv räsonieren, wie hier angedeutet. Aber die persönliche Einschätzung, welche Normen und Institutionen philosophisch interessant und als zu erforschendes Thema attraktiv sind, wird zweifellos mehr oder weniger subtil durch den umrissenen sozialen Hintergrund mitbestimmt. Und dieser Hintergrund wird erheblich dazu beitragen, dass die – aus unbefangener Sicht, jenseits sozialromantischer Utopien, leider unvermeidlichen – dunklen Seiten der Gerechtigkeit heutzutage 14 S. Wehler
2013, Piketty 2014; vgl. Atkinson 2016, 17–147.
4.5 Eine platonisch-soziologische Spekulation
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gerechtigkeitsphilosophisch aus der Mode sind. Zu sehr sind im Sinne der platonischen These trotz ihrer faktisch gegebenen funktionalen Unverträglichkeit inzwischen eine demokratische Grundhaltung und ein unbedingter Gewaltver‑ zicht miteinander semantisch fusioniert. Ein unbefangenes Überdenken von Begründung und Bemessung von Strafe oder anderen staatlichen Zwangsmaßnahmen ist damit gefühlt in eine unbillige Nähe zu undemokratischen Haltungen gerückt – sehr zum Nachteil einer Gerechtigkeitsphilosophie mit lebensweltlicher Relevanz insbesondere auch im schützenswerten demokratischen Gemeinwesen.
5. Zur Vor‑ und Frühgeschichte der Gerechtigkeit Wieso bleiben Reziprozität und Verdienstproportionalität im menschlichen Gerechtigkeitssinn dominante Normen, obwohl die Gegenwartsphilosophie sie durchgängig höchst kritisch sieht und zugleich kaum konzeptuell eingehender ergründet hat? Woher stammen diese offenbar tief in der menschlichen Psyche verankerten Prinzipien und welchen sozioevolutionären Nutzen hatten (oder haben) sie? Diese Fragen wollen wir in diesem kurzen Kapitel zur anthropologisch-historischen Fundierung der Resultate der psychologischen Gerech tigkeitsforschung beantworten.
5.1 Philosophie und Alltagsmoral Wenn die Philosophie Reziprozität und Verdienstproportionalität stillschweigend ignoriert oder sogar ausdrücklich ächtet: warum sind sie alltagspsychologisch gleichwohl hochgradig wirksame Moralnormen oder ‑werte? Die einfachste Antwort wäre die ernüchternde Feststellung, die Philosophie sei für unser alltägliches Denken, Fühlen und Handeln schlicht irrelevant. Wir müssen eben nicht auf den Philosophen warten, um wertgeleitet zu handeln. Ob also die Philosophie Reziprozität bzw. Verdienstportionalität empfiehlt oder nicht: für die Alltagsmoral macht das nicht den geringsten Unterschied. Für diese entmutigende These spricht die tatsächlich vergleichsweise sehr geringe allgemeine Rezeption aktueller philosophischer Theorien.1 Die These ist meines Erachtens letztendlich dennoch überzogen. Zwar spielt die akademische Philosophie sicherlich keine nennenswerte Rolle bei der Herausprägung der persönlichen Moralvorstellungen zumindest von Nichtphilosophen. Aber, wie ja bereits mehrfach betont, artikuliert die Philosophie nicht selten durchaus gängige soziale Tendenzen. Und damit ist die philosophische Bewertung zumindest indirekt eben doch relevant. Sie ist nämlich immerhin ein brauchbares Indiz für soziale Entwicklungen, die von ihr zwar nicht verursacht, aber doch zumindest gleichsam illustriert werden. 1 In diese – für Philosophen vermutlich ziemlich enttäuschende – Richtung deuten auch empirische Befunde, die belegen, dass Ethikunterricht für Studenten deren Moralvorstellungen nicht nennenswert beeinflusst; s. Konow 2017.
5.2 Gemeinschaftsethik: Reziprozität
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Oben haben wir eine platonisch-soziologische Spekulation angestellt, warum heutige Moral‑ und Staatsphilosophen Strafgerechtigkeit weithin ignorieren. Teilweise lässt sich diese Spekulation auch auf Reziprozität und Verdienstproportionalität ausdehnen, da diese beiden Normen ja ganz offensichtlich sehr gut geeignet sind, Bestrafungen, auch drastische, zu legitimieren. Das heißt, es besteht dem Anschein nach ein starker, besonders auch von Philosophen empfundener soziokultureller Trend gegen Reziprozität und Verdienstproportionalität als Gerechtigkeitsprinzipien. Wir haben ihn in Zusammenhang mit der platonischen Demokratieanalyse gebracht. Da beide philosophisch diffamierten Prinzipien gleichwohl alltagspsychisch höchst präsent bleiben, ist es lehrreich zu überlegen, wie dieses psychische Beharrungsvermögen angesichts des in der Philosophie artikulierten, soziologisch begründeten Gegentrends wohl zu erklären ist. Dieser Aufgabe haben wir uns demzufolge im vorliegenden Kapitel verschrieben. Wir wollen hier prüfen, ob die aktuelle alltagspsychologische Präsenz von Reziprozität und Verdienstproportionalität in irgendeiner Weise anthropologisch erklärlich ist. Dazu werden wir diese beiden Moralprinzipien in die menschliche Sozialgeschichte zurückverfolgen. Die Idee dahinter ist es, die sozialevolutionären Wurzeln der beiden individualpsychologisch immer noch wirksamen Prinzipien offenzulegen, in der Hoffnung, damit ihre Löschungsresistenz bis zu einem gewissen Grade besser zu begreifen.
5.2 Gemeinschaftsethik: Reziprozität Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte war durch relativ kleine Populationen von Jägern und Sammlern geprägt. Ethnologische Beobachtungen und anthropologische Befunde sprechen dafür, dass die durchschnittliche Gruppengröße in dieser Stufe der Sozialisation meist bei 15 bis 25 Individuen lag und so gut wie nie 150 Individuen überschritt.2 Zur Entstehung und Aufrechterhaltung von kooperativen sozialen Normen, also insbesondere gewissen Schädigungsverboten, werden bezüglich dieser Epoche vor allem zwei Mechanismen diskutiert, die Verwandtenselektion und die Reziprozität. Genetisch gesehen könnte bei der Entstehung prosozialen Verhaltens die im Tierreich belegte Verwandtenselektion auch beim Menschen eine gewisse Rolle spielen.3 Ein genetisch gesteuertes Verhaltensprogramm kann aus dieser Sicht ein von ihm gesteuertes Individuum („Gen-Token“) opfern, um die Weitergabe seines Gentyps durch andere, eng verwandte Individuen zu optimieren. Dies 2 Man spricht nach dem Erstbeschreibenden von der „Dunbar-Zahl“, die sich noch heutzutage z. B. in der durchschnittlichen Größe persönlicher oder internetbasierter sozialer Netzwerke widerspiegelt; s. Dunbar 1992, ders. 2010. 3 Vgl. z. B. Dawkins 1998, bes. 154–84.
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5. Zur Vor‑ und Frühgeschichte der Gerechtigkeit
kann die genetische Basis kooperativen Verhaltens erklären, wie es etwa Warnrufe vor einem Raubtier darstellen, die das rufende Beutetier einer höheren Gefahr aussetzen, aber die angerufenen Artgenossen retten können. Für diesen Mechanismus ist allerdings ein recht hoher Grad an genetischer Verwandtschaft zwischen den Gruppenmitgliedern erforderlich. Und nach aktuellen ethnologischen Erkenntnissen scheint eine ausreichend enge Verwandschaft zumindest bei heutigen Jäger-Sammler-Gruppen meist nicht vorzuliegen.4 Ein Hintergrund dessen ist möglicherweise eine evolutionär vorteilhaft geregelte Gruppenvariabilität, die nichtkooperative Mitglieder effektiv ausschließt.5 Folglich ist die Relevanz der Verwandtenselektion bei den frühen Menschen-Gemeinschaften eher fraglich. Der zweite Mechanismus zur Erzielung prosozialen Verhaltens ist die Rezipro‑ zität.6 Reziprozität kann, wie gesagt positiv oder negativ sein, das heißt, Gutes mit Gutem vergelten oder Übles mit Üblem. Darüber hinaus kann Reziprozität direkt oder indirekt sein. Direkte Reziprozität beantwortet dem Handelnden zugefügte Schädigungen mit Schädigungen des verantwortlichen Gegenübers bzw. Wohltaten des Gegenübers mit an ihn adressierten Wohltaten. Indirekte Reziprozität schädigt Akteure, die relevante Dritte schädigen bzw. unterstützt Akteure, die relevante Dritte unterstützen. Reziprozität ist in jeder der genannten Formen eine historisch und transkulturell nachweisbare Universalie menschlicher Sozietäten (s. o. 3.4). Und sie ist in ihrer direkten Form selbst im nicht-menschlichen Tierreich nachweisbar.7 Obgleich natürlich die Sozialnormen der Menschengruppen der Frühzeit nicht unmittelbar nachweisbar sind, ist in der Ethnologie reziprokes Verhalten bei aktuellen Jäger-Sammler-Populationen gut belegt und ist analog hochwahrscheinlich für die frühen Menschengemeinschaften anzunehmen.8 Durch Überlegungen, Experimente und Computersimulationen, wie oben in Abschnitt 3.4 beschrieben, lässt sich zeigen, dass eine reziproke Verhaltensstrategie in vielen sozialen Kontexten ausgesprochen kooperationsförderlich ist.9 Sie verstärkt erwünschtes Verhalten und bestraft unerwünschtes durch entsprechende Verhaltensänderungen des Gegenübers. Dadurch nützt sie dem reziprok agierenden Individuum (Individualselektion) und macht zugleich die Gruppe durch interne Kooperativität gegenüber anderen, weniger kooperativen Gruppen erfolgreicher (Gruppenselektion). Über eine rein kultur-evolutionäre hinaus ist auch 4 S. Hill
et al. 2011. Baumard et al. 2013. Bei gesicherter Auswahlmöglichkeit von Kooperationspartnern ist übrigens Beitragsproportionalität der Gewinnteilung eine evolutionär erfolgversprechende Sozialnorm; s. Debove et al. 2017. 6 Vgl. z. B. Dawkins 1998, bes. 270–303. 7 Clutton-Brock & Parker 1995, de Waal 2000, 169–201, McAuliffe & Santos 2018 8 S. z. B. Wesel 1985, 86–94, 322 f. 9 Vgl. Guala 2012. 5 Vgl.
5.3 Gesellschaftsethik: moralisch-religiöse Verteilungsgerechtigkeit
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eine verhaltensgenetisch basierte Geneigtheit zu reziprokem Handeln vor diesem Hintergrund nicht unplausibel. Es gibt allerdings mindestens drei Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit reziprokes Handeln möglich ist und seine kooperationsstabilisierende Wirkung entfalten kann. i) Die Interaktionspartner müssen sich einigermaßen kennen. Sie müssen um ihre vormalig angewendeten Verhaltensstrategien bzw. um ihre Identität wissen. Nur so können sie reziprokes Verhalten adäquat bemessen und personal korrekt platzieren. ii) Die Interaktionspartner müssen regelmäßig über einen längeren Zeitraum bzw. wiederholt Kontakt haben. Bei einmaligen Begegnungen kann sich die kooperationsstabilisierende Wirkung von Reziprozität unzureichend entwickeln, da oftmals beispielsweise eine Vergeltung nicht auf Anhieb machbar ist. iii) Um effektiv reziprok reagieren zu können, muss ein annäherndes Kräftegleichgewicht zwischen den Interaktionspartnern bestehen. Bei zu großer Ungleichheit kann der machtvollere Akteur Reaktionen des anderen blocken oder Aktionen vornehmen, die der Andere aufgrund des für sie erforderlichen, für ihn zu großen Kraftaufwands nicht vergelten kann. Die drei Bedingungen sind in den kleinen Gemeinschaften der Jäger-undSammler-Epoche offenkundig in der Regel ausreichend erfüllt. Reziprozität ist damit eine Ethik der Gemeinschaft. Problematisch wird die Sache jedoch, wenn man größere Gesellschaften mit stärkerer sozialer Schichtung, also ungleicher Verteilung von Macht und Eigentum, betrachtet.
5.3 Gesellschaftsethik: moralisch-religiöse Verteilungsgerechtigkeit In größeren sozialen Verbänden jenseits der kleinen Populationen der Frühzeit sind die menschlichen Interaktionen sehr viel häufiger anonym, einmalig und finden zwischen ungleich mächtigen Interaktionspartnern statt. Eine ausschließlich reziprozitätsbasierte Wahrung von Kooperation ist unter diesen Umständen nicht mehr möglich. Damit ergibt sich die Frage, wie die frühen Großgesellschaften, etwa im Zweistromland oder Ägypten, aus sozialevolutionärer Perspektive entstehen konnten. Und genau an diesem Punkt kommen mora‑ lische Religionen als eine zunehmend beachtete, mögliche Ursache ins Spiel.10 Als „moralische Religion“ sei dabei eine Lehre bezeichnet, die (i) göttliche In‑ stanzen mit den Eigenschaften der Gerechtigkeit, des Allwissens und der Allmacht, (ii) ein jenseitiges Weiterleben des Menschen nach dem Tode und (iii) eine eschatologische göttliche Gerichtsbarkeit propagiert, die dem Verstorbenen moralisch verdiente Belohnungen oder Strafen postmortal zuerteilt. Bevor wir uns der historischen Funktion moralischer Religion genauer widmen, sollten wir 10 Dieser
Gedanke kursierte bereits bei den antiken Sophisten; vgl. Taureck 1995, 43–49.
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5. Zur Vor‑ und Frühgeschichte der Gerechtigkeit
einen exemplarischen Blick auf die Kultur einer für unsere Zwecke besonders interessanten Region werfen, nämlich den alten Orient. Grabbeigaben und Leichenschmuck lassen bereits früh in der kulturellen Entwicklung des Menschen den Glauben an eine jenseitige Existenz nach dem Tode vermuten. In Schriftzeugnissen fassbar wird dieser Glaube jedoch erst in den frühen Hochkulturen des östlichen Mittelmeerraums. Besonders eindrucksvoll und mit beträchtlicher Ausstrahlung auf benachbarte Kulturen war der alt-ägyp‑ tische Totenkult. Dieser manifestierte sich in einer zunehmenden artifiziellen Mumifizierung von Gestorbenen seit dem Alten Reich im dritten vorchristlichen Jahrtausend.11 Nachdem anfänglich eher die Leichen sozial hochgestellter Personen für ein postmortales Nachleben konservatorisch aufbereitet wurden, erfasste im Laufe der Zeit dieser Brauch breitere Bevölkerungsschichten. Die dahinterstehende Mythologie war komplex und wandelte sich im Laufe der folgenden Jahrhunderte.12 Beständige Eckpfeiler der eschatologischen Lehren der alt-ägyptischen Religion waren indes zwei bahnbrechende Grundideen, nämlich, erstens, das jenseitige Weiterleben der Seele des Menschen nach seinem Tode und, zweitens, seine postmortale Belohnung oder Bestrafung durch eine göttliche Instanz in Entsprechung zur moralischen Qualität seines irdischen Handelns, orientiert an der sogenannten „Ma’at“.13 In diesem Zusammenhang bildete sich die Vorstellung eines postmortalen Totengerichts unter Vorsitz des Jenseitsgottes Osiris heraus. Während des göttlichen Gerichtsverfahrens wurde in manchen Überlieferungen das Herz des Gestorbenen von Anubis gegen ein Symbol der Ma’at abgewogen, anhand dessen die Tugend des Besitzers bestimmt und die dazu angemessene jenseitige Sanktion festgelegt – im schlimmsten Fall Verspeisung durch ein anwesendes Monstrum. Als Hilfe zum Bestehen vor dem Totengericht kamen im Neuen Reich, also im Laufe des zweiten vorchristlichen Jahrtausends, verstärkt Toten‑ oder Unterweltbücher in Umlauf. Diese stellten in Fortentwicklung entsprechender Grabinschriften den Todgeweihten vorformulierte Verteidigungsreden zur Verfügung. Für unsere Zwecke festzuhalten ist besonders die Gerechtigkeitskonzeption, die der umrissenen eschatologischen Jurisprudenz der moralischen Religion Ägyptens zugrunde lag. Die ausschlaggebende Idee war dabei ganz offensichtlich eine moralische Bewertung des Lebenswandels des Gestorbenen und die Zuteilung eines jenseitigen Wohlergehens proportional zu dem solcherart bestimmten moralischen Verdienst desselben. Aus der Religion kommend befruchtete diese Idee der Ma’at in vieler Hinsicht übrigens auch das weltliche altägyptische Recht.14 11 S. Pommerening
2007; vgl. Assmann 1999, 81–93. 1999, 178–95. 13 S. Assmann, Janowski & Welker 1998, 10–19. 14 Vgl. Allam 2003. 12 S. Assmann
5.3 Gesellschaftsethik: moralisch-religiöse Verteilungsgerechtigkeit
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Das ägyptischstämmige Konstrukt einer eschatologischen Jurisprudenz auf Basis der Verdienstproportionalität erfuhr transkulturell eine ausgesprochen weite Verbreitung.15 Wobei benachbarte Kulturen, etwa im Zweistromland, höchstwahrscheinlich auch unabhängig davon recht ähnliche Anschauungen entwickelten. Das ägyptische Konstrukt wurde über die Orphik bzw. pythagoräische Strömungen insbesondere jedoch in den mit Ägypten in engen Kontakt stehenden griechischen Kulturkreis exportiert.16 In der griechischen Antike wurden demgemäß in der klassischen Zeit ganz ähnliche eschatologische Vorstellungen gepflegt, obschon mit einer anderen Götterwelt im Hintergrund.17 Es gab den Hades als Jenseits mit einem speziellen Strafort, dem Tartaros, und auch das Elysion, eine Art Insel der Seligen. In manchen Überlieferungen fungierten der mythische kretische Herrscher Rhadamanthys und seine Brüder Minos und Aiakos als Unterweltrichter. Während jedoch in einigen ägyptischen Lehren der Verstorbene den Fährmann in die Unterwelt noch unter Verweis auf seine guten Taten von seinem Recht auf die Passage argumentierend überzeugen musste, wurde in der griechischen Variante der Fährmann Charon für die Fahrt über den Unterweltfluss Styx schlicht mit einer Münze bezahlt, die der Leiche unter die Zunge gelegt wurde. Ein fester Tarif ersparte also nach der Einführung des Münzgeldes lange Verhandlungen und machte eine zuvor moralisch-argumentierend zu verdienende Wohltat käuflich.18 Welche sozialevolutionäre Funktion bei der Entstehung und Aufrechterhaltung großer Gesellschaften kann religiösen Konstrukten, wie den eben umrissenen, zugesprochen werden? Die Grundidee vieler neuer Ansätze zum Verständnis der historischen Funktion moralischer Religionen ist die Vorstellung, religiöses Verhalten und Denken sei ein individuell nützliches Nebenprodukt anderweitig vorangelegter psychischer Funktionen und zugleich für das Bestehen entsprechend geprägter Gesellschaften gruppenselektiv vorteilhaft.19 Auf welchen empirisch nachweisbaren psychischen Funktionen oder Eigenschaften von Menschen kann moralisch-religiöses Erleben und Verhalten gewissermaßen aufsatteln? Zunächst einmal gibt es den Aspekt der Bahnung („Priming“) moralischen Ver‑ haltens durch religiöse Gedanken oder Symbole: die Bereitschaft zu moralischem Tun steigt bei Präsenz religiöser Stimuli.20 Es ist in sozialpsychologischen Experimenten überdies belegt, dass auch un‑ oder vorbewusst wahrgenommene 15 Vgl.
Lang 2009, 9–42. interkulturellen Kontakt s. Wiesehöfer 2010, Dihle 1962, 26 f. 17 S. Platon Rep. bes. 608c–621d, ders. Gorg. 508a, 523a–527e, ders. Leg. bes. 884a–969d, ders. Theaet. 176a–177b, ders. Phaed. 113 ff.; vgl. Jaeger 1973, 975–80. 18 Lowry 1998, 11 19 Übersichten bei Alcorta & Sosis 2005; Norenzayan & Shariff 2008; Atran & Henrich 2010; Haidt 2012, 285–318, Baumard & Boyer 2013; Norenzayan 2013, Preston et al. 2014, Purzycki et al. 2017; kritisch: Schloss & Murray 2011, Bloom 2012. 20 S. Norenzayan 2013, 13–54. 16 Zum
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5. Zur Vor‑ und Frühgeschichte der Gerechtigkeit
Beobachtung durch andere Personen die moralische Normadhärenz des Akteurs erhöht. Dies gilt selbst für reine Symbole, insbesondere jedoch Gesichtsdarstellungen oder auch lediglich daran erinnernde Formen.21 Die subjektive Annahme einer allwissenden und strafenden Gottheit kann eine solche pro-moralische Rolle spielen („supernatural monitoring“), insbesondere, wenn entsprechende Monumente – Tempel, Pyramiden, Glaubenssymbole, Götter‑ oder Heiligenbilder etc. – als Hinweisreize mit ausreichender Häufigkeit präsent sind. Die Art des Gottesbildnisses kann dabei im Übrigen interessante Effekte erzeugen, insofern zum Beispiel zornige Götter härtere und liebende Götter mildere Strafurteile hervorrufen.22 Diese gesteigerte Normadhärenz unter Beobachtung ist offensichtlich auch gut als vor‑ oder unbewusst reputationswahrender Mechanismus anzusehen. Desweiteren legen sehr viele Menschen ihrer Wahrnehmung der Welt in wichtigen Belangen, wie oben (3.3) dargelegt, die Annahme einer grundsätzlich stabilen Gerechtigkeit der Welt zugrunde. Letztlich – so die un‑ oder vorbewusste Vorstellung – bekommt jeder, was er moralisch verdient. Alles, was diese Vorstellung aufrecht zu erhalten hilft, erhält schon dadurch eine höhere subjektive Glaubwürdigkeit. Das trifft unmittelbar auf die verdienstproportionale Gottesgerichtsbarkeit zu.23 Wobei die Gerechtigkeitsannahme natürlich auch eine Folge und keine Ursache der moralischen Religiosität sein könnte. Ein solcherart in seinem Glauben verstärktes Individuum kann überdies eine faktisch nichtvergeltbare Normdevianz anderer Akteure zur Kenntnis nehmen, ohne dass die eigene Normadhärenz sogleich darunter leidet. Eigene Normadhärenz setzt gemäß der Reziprozität bei den meisten Menschen nämlich Normadhärenz der Anderen voraus. Die menschliche Vergeltung normdevianten Verhaltens wird jedoch bei verinnerlichter moralischer Religion nicht mehr als so zwingend eingeschätzt, da ja Gott die ultimative Vergeltung übernimmt.24 Und dies kann durch die Wahrung des Eindrucks ausreichender Vergeltung den Austritt aus destruktiven Vergeltungsschleifen ermöglichen und somit kooperatives Verhalten fördern. Die Gottesvorstellung selbst kann wiederum im Kontext von vier typisch menschlichen psychischen Eigenschaften entstehen. Erstens gibt es das Ein‑ fühlungsvermögen in die subjektiven Zustände anderer Menschen, seit einiger Zeit gerne auch als „theory of mind“ bezeichnet.25 Und dieses Vermögen schießt, zweitens, manchmal über das Ziel hinaus, in dem auch unbelebten Ereignissen subjektive Intentionen zugeschrieben werden. So werden natürliche Vorgänge leicht als von Geistern, Göttern oder anderen übernatürlichen Wesen kontrolliert 21 Vgl.
Gervais & Norenzayan 2012. Bader et al. 2010. 23 Vgl. Baumard & Boyer 2013. 24 Vgl. Laurin et al. 2012. 25 Überblick bei Förstl 2012. 22 Vgl.
5.3 Gesellschaftsethik: moralisch-religiöse Verteilungsgerechtigkeit
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interpretiert. Ja, auch menschliches Verhalten wird nachweislich durchgängig in unangemessen hohem Maße als voll beabsichtigt gedeutet, der sogenannte „fundamentale Attributionsfehler“.26 Drittens hat der von den alltäglichen ontologischen Annahmen abweichende, kontraintuitive Charakter der Gotteslehre bzw. Eschatologie einen mnestischen Vorzug: erwartungswidrige, aber nicht in bizarrer Weise unerwartete Vorgänge lassen sich gegenüber völlig erwartungsgemäßen oder grotesk abnormen Vorgängen leichter merken.27 Und schließlich werden insbesondere religiöse Praktiken selbstverständlich gut über soziales Lernen vermittelt, zumindest, sobald eine hinreichend große Menge an Gläubigen diese Überzeugungen und Praktiken vorlebt. Über die bloße psychische Eingängigkeit hinaus entsteht sogleich die Frage nach dem individuellen Nutzen von moralischer Religion. Hier sind zwei Aspekte hervorzuheben. Zum einen steigt in den Augen der meisten Menschen die Ver‑ trauenswürdigkeit eines anderen Menschen durch dessen Bindung an Regeln einer religiösen Moral.28 Erkennbare Religiosität ist damit der Reputation förderlich und, einmal erreicht, im Kontakt zu Anderen für den Betreffenden erheblich vorteilhaft. Bestimmte Sozialbeziehungen, wie zum Beispiel Intim‑ oder Geschäftsbeziehungen, sind überhaupt nur gewaltlos und risikoarm möglich, wenn die Interaktionspartner einander vertrauen. Die Religion kann hier die Funktion eines sogenannten teuren Signals haben: die mit ihr verbundenen befremdlichen Überzeugungen und aufwändigen Rituale erschweren eine Vortäuschung durch Betrüger. Infolgedessen wird Religiosität zum einigermaßen sicheren Kennzeichen von Vertrauenswürdigkeit. Zum anderen ist natürlich moralisches Verhalten bei gegebener Annahme der Existenz Gottes im Eigeninteresse des Akteurs. Im Hinblick auf jenseitige Sanktionen ist Normadhärenz egoistisch rational. Insofern bietet sich hier eine, die kognitive Dissonanz mindernde Rationalisierung religiösen Verhaltens an, die dem Akteur den Zugang zu den Vorteilen der Religiosität motivational erleichtert.29 Bei der Durchsetzung moralischer Religionen muss zudem noch die Perspektive ganzer Gesellschaften eingenommen werden. Dabei fallen zunächst einige Korrelationen aus der vergleichenden Sozialforschung auf.30 Gesellschaften mit moralischen Religionen sind im Vergleich mit Gesellschaften ohne solche insgesamt größer, in höherem Maße marktwirtschaftlich organisiert, stärker sozial stratifiziert und öfter in nach außen gerichtete Konflikte verwickelt. Diese vier Beobachtungen sind zunächst bloße Korrelationen und lassen natürlich keinen Rückschluß auf Kausalverhältnisse zu. Sie können, vorsichtig bewertet, 26 Z. B.
Werth & Mayer 2008, 138–48, Aronson et al. 118–22. et al. 2011. 28 Norenzayan 2013, 55–117 29 Vgl. Johnson 2005, ders. 2011. 30 S. Roes & Raimond 2003. 27 S. Gervais
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5. Zur Vor‑ und Frühgeschichte der Gerechtigkeit
gleichwohl als Beleg für die vermutlich über eine intern-prosoziale Wirkung der moralischen Religion vermittelte, gesteigerte Überlebensfähigkeit von Gesellschaften mit moralischer Religion gewertet werden. Moralische Religionen fördern also vermutlich kooperatives, normadhärentes Verhalten in größeren Gruppen als Reziprozität und Verwandtenselektion. Sie könnten dadurch marktwirtschaftliches Handeln erleichtern, den Wohlstand von Gesellschaften positiv beeinflussen und eventuell die soziale Schichtung festigen. Und moralische Religionen fördern offenbar ein schnelleres und eventuell erfolgreicheres Engagement in Konflikten mit benachbarten Gesellschaften. So gesehen ist moralische Religion als kulturell übermitteltes Merkmal von Gesellschaften ein evolutionärer Faktor, der für diese Gesellschaften in hohem Maße überlebensdienlich ist.31 Auch wenn das skizzierte Bild viele Fragen offen lässt – warum etwa viele heutige islamische Gesellschaften vergleichsweise so wenig sozioökonomisch erfolgreich sind bzw. warum die stark säkularisierten Gesellschaften Nordeuropas hingegen so erfolgreich –, so entsteht doch ein in den Grundzügen zunächst recht plausibles Bild.
5.4 Fazit Die empirisch-gerechtigkeitspsychologisch dominanten Prinzipien Reziprozität und Verdienstproportionalität kristallisieren sich folglich als individual‑ und gruppenselektiv vorteilhafte, kooperationsstabilisierende Faktoren verschiedener früher Phasen der Menscheitsgeschichte heraus. Die kleinen Gemeinschaften der Vorgeschichte basierten auf der Reziprozität; die ersten Großgesellschaften beruhten unter anderem auf moralischen Religionen, welche göttliche Gerechtigkeit als Verdienstproportionalität interpretierten. Je nach untersuchter Region waren die beiden sozialgeschichtlichen Entwicklungsphasen natürlich unterschiedlich lang und zeitlich anders lokalisiert. Die kleinen jagend-sammelnden Gemeinschaften der Vorzeit währten jedoch einige hunderttausend Jahre und viele frühe Großgesellschaften Jahrtausende oder zumindest etliche Jahrhunderte. Unsere These hier ist, dass diese relativ lange Vorgeschichte deutliche Spuren in der menschlichen Psyche hinterließ – auf welchem Wege auch immer: ganz bestimmt als kulturell-evolutionäres, allerdings möglicherweise zudem gar als neurobiologisch-evolutionäres Erbe. Ähnlich wie man beispielsweise bei objekt‑ bzw. situationsbezogener Furcht eine stammesgeschichtlich vererbt allgemeinmenschlich erhöhte Bereitschaft dazu („preparedness“) bezüglich bestimmter Objekte bzw. Situationen, etwa Schlangen, Spinnen, Höhen‑ oder 31 Norenzayan
2013, 140–69
5.4 Fazit
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Engesituationen, nachweisen kann32, so sind reziproke und verdienstproportionale Interaktionen tendenziell und grundsätzlich dem intuitiven Rechtsgefühl gemäß. Und in dieser uralten, basalen Prägung liegt zweifellos eine mögliche Erklärung für das bemerkenswerte Beharrungsvermögen proportional-reziproker Intuitionen angesichts ihnen entgegenstehender sozialer Strömungen bzw. philosophischer Kulturen.
32 S.
z. B. Öhman & Mineka 2001.
6. Annäherungen: die griechisch-antike Gerechtigkeitsphilosophie Wendet man sich den Anfängen der westlichen Philosophie in der griechischen Antike zu, so stößt man auf Denker, deren Überlegungen erheblich dichter an die proportional-reziproke Gerechtigkeit herangekommen sind als die späterer Generationen. Eine orientierende Rekapitulation früher Ansätze griechischer Philosophie bis zu Aristoteles lohnt sich insofern aus der Perpektive unserer Studie. Außer einem rein antiquarischen Interesse an den nachverfolgten Ideen, ist speziell Aristoteles’ „Nikomachische Ethik“ ein Locus classicus der Gerechtigkeitsphilosophie, der eigentlich in keiner ernstgemeinten Arbeit zur Verdienstproportionalität unbeachtet bleiben kann. Unsere kleine ideengeschichtliche Skizze wird die griechische Philosophie‑ und Kulturgeschichte daher auf den faszinierenden Kulminationspunkt „Nikomachische Ethik“ hin ausrichten.
6.1 Tendenzen der frühen griechischen Philosophie Die frühe griechische Philosophie – chronologisch etwas irreführend auch als „vorsokratische“ Philosophie bezeichnet – ist aufgrund der problematischen Quellenlage ein philologieträchtiges Spezialgebiet der Historiografie, das hier keinesfalls in die Tiefe gehend abgehandelt werden kann. Wir können uns aber ein paar vergleichweise unstrittige Tendenzen der Philosophie‑ und Kulturgeschichte dieser Epoche bewusst machen, die eine hohe Relevanz für unser Thema haben. Die frühe griechische Philosophie war zuvörderst Naturphilosophie. Ein Verständnis oder eine Erklärung natürlicher Phänomene stand im Zentrum der Bemühungen der frühen griechischen Denker, wie etwa Thales, Anaximander, Pythagoras, Heraklit oder Demokrit.1 Ein Grundzug dieses Denkens war die Suche nach einer einheitlichen oder jedenfalls definierten Grundsubstanz alles Seienden. Das heißt, natürliche Phänomene sollten letztlich durch die raumzeitliche Dynamik einer einheitlichen Substanz erklärlich gemacht werden. Die abstrakteste Konzeption in dieser Richtung war wohl die des Anaximander, der ein schwer greifbares Apeiron als Grundstoff alles Seienden postulierte. Im theo1 Überblick
z. B. Röd 1994, 33–72, Geyer 1995, Heit 2011, Hackemann 2016.
6.1 Tendenzen der frühen griechischen Philosophie
57
logischen Bereich kam im Zusammenhang damit im übrigen bei Xenophanes erstmals die philosophische Idee eines Monotheismus auf, also die Reduktion der vielfältigen griechischen Götterwelt auf einen Hauptgott.2 Die Unterscheidung zwischen einerseits Tatsachenurteilen (über natürlich existierende Objekte oder Zustände) und andererseits Werturteilen (über moralische Normen und Werte) wurde allerdings keineswegs so eindeutig gezogen wie in der heutigen Philosophie. Besonders eindrucksvoll ist dies beim Ineinanderfließen der Ideen von gerechter Buße und Kausalität zu beobachten3, wie es nachstehendes Textfragment des Anaximander anschaulich illustriert: „Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron. Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.“4
Die unscharfe Trennung von Tatsachen und Werten hatte Folgen für die philosophische Ethik. Man kann auch dort zur Naturphilosophie analoge Versuche einer Reduktion der Phänomenenfülle auf so etwas wie ein Grundelement aufspüren. Diese Tendenz wurde interessanterweise stark durch eine damalige ökonomische Innovation befeuert, die gelegentlich ebenfalls auf die Naturphilosophie bezogen wird: die Einführung des Münzgeldes.5 Die Ausbreitung und Verwendung des – pikanterweise wohl aus der Sakralsphäre stammenden6 – Münzgeldes, verknüpft mit dem theoretischen Konstrukt einer Ursubstanz, bahnte zumindest implizit die Vorstellung eines universalen und verteilbaren moralischen Grundwerts als einer ethischen Basis menschlicher Handlungen an. Seinen Ausdruck fand dies individualethisch in der Idee einer Eudämonie als einheitlichem Grundwert eines gelingenden Lebens. Bezogen auf die Gerechtigkeit bildete sich in Grundzügen eine Vorstellung heraus, die man nach ihrem römischen Nachfahren als Suum-cuique Tradition bezeichnen kann.7 Nach dieser Vorstellung besteht Gerechtigkeit darin, jedem das zuzuerteilen, was ihm zusteht („suum cuique tribuere“). Gerechtigkeit definiert dieser Tradition zufolge einen bestimmten Weltzustand als gerecht, nämlich den, innerhalb dessen jedes Rechtssubjekt über die ihm zustehenden Güter verfügt, nach der altehrwürdigen (später im Dritten Reich dramatisch pervertierten) Maxime: Jedem das Seine! Der Normadressat ist verpflichtet, diesen gerechten Weltzustand zu fördern oder zu bewahren. Wer dieses gewohnheitsmäßig tut ist tugendhaft-gerecht. Die höchste, die eigentliche Unmoral ist daher die Habgier oder Habsucht („pleonexia“), das 2 S. Jaeger
1953, bes. 50–68; vgl. Seaford 2004, 209–16. Jaeger 1953, 46 ff., Seaford 2004, 190–209, Heit 2011, 38 f. 4 Zit. n. Heit 2011, 38; vgl. Hackemann 2016, 26. 5 S. Peacock 2006, Sommer 2013, 102–7, vgl. Martin 2014, 71–92. 6 Seaford 2004, Türcke 2015 7 Vgl. Hirzel 1907, 197 f., Del Vecchio 1953, 74, van den Bergh 2005. 3 Vgl.
58
6. Annäherungen: die griechisch-antike Gerechtigkeitsphilosophie
unmäßige Zuvielhabenwollen oder Zuvielnehmen.8 Um welche Güter es geht oder wie festgelegt wird, wem was zusteht, ist in dieser Tradition nicht mit Eindeutigkeit geregelt, aber die Konzeptualisierung gerechtigkeitsrelevanten Handelns als Herstellung und Bewahrung gerechter Güterverteilungen ist ihr harter Kern. Und ähnlich wie in der Naturphilosophie nach der Ursubstanz gefragt wurde, wirft die Suum-cuique-Tradition die Frage nach dem Urwert auf. Der in der Naturphilosophie erfolgreiche reduktive Ansatz, wurde hier ins Moralphilosophische übertragen. Insbesondere das Münzwesen suggerierte in diesem Punkt, wie gesagt, einen messbaren, verteilbaren Grundwert. Die Suum-cuique-Tradition wird bei Platon im vierten vorchristlichen Jahrhundert bereits als Gemeinplatz beschrieben.9 Nach ihrer Fortentwicklung in Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie (s. u.) wurde sie dann im Hellenismus von den Stoikern aufgegriffen.10 Im eng an die Stoa anschließenden römischen Rechtsdenken bildete sie mit erheblich in eine juridische Richtung gewandelter Bedeutung ebenfalls eine tragende Säule. Zusammengefasst wurde diese Tradition im spätantiken, justinianischen „Corpus iuris civilis“ mit seiner um den Begriff des „ius“ erweiterten Definition: „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuens.“, also etwa: „Gerechtigkeit ist der unwandelbare und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zu gewähren.“11.
6.2 Sokratische Gerechtigkeit Die Philosophie des über den Marktplatz wandelnden, mit jedermann diskutierenden Sokrates entstand in der Auseinandersetzung mit den Sophisten vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels in der Polis.12 Die Sophisten, wie etwa Protagoras, Gorgias oder Hippias, hinterfragten radikal die bestehende Ordnung und boten zugleich ihre Dienste als moralisch ungebundene Rhetoriklehrer für Begüterte an.13 Sokrates war dementgegen durch und durch ein Moralist. Er ging von der Voraussetzung aus, dass das gelingende Leben zugleich ein gerechtes Leben ist. Diese Grundannahme versuchte er immer wieder zu belegen und scheute dabei gelegentlich auch nicht vor einem Appell an die jenseitige göttliche Strafjustiz zurück. Sein Bestreben war zutiefst therapeutisch motiviert: in Sokrates’ zahlreichen, von seinem Schüler Platon aufgezeichneten 8 Das hatte noch bis ins frühkapitalistische Denken Bestand, dann kam es aber in dieser Hinsicht zu einem deutlichen Wertewandel; vgl. Hirschman 1987, bes. 17–76. 9 S. z. B. Platon Rep. 332b, 433e–434a. 10 S. Pohlenz 1963, 132, 202, Hossenfelder 1996, 102–7, Manthe 1997, Long & Sedley 2006, 452. 11 D.1.1.10; Inst.1.1; vgl. Cicero Rep. III.7, III.11, III.15, ders. Leg. I.19; s. Fantham 1973. 12 S. Macpherson 1985, Stein-Hölkeskamp 2010. 13 Überblick b. Taureck 1995.
6.2 Sokratische Gerechtigkeit
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Dialogen versuchte er oft, dieses Gerechtigkeitserfordernis der Glückseligkeit aus seinen Gesprächpartnern anhand von deren vorbewussten, impliziten Urteilen herauszufragen. Dabei entwickelte er die Grundzüge einer noch heute höchst lebendigen, klientenzentrierten psychotherapeutischen Gesprächsstrategie.14 Sokrates’ Ziel bei der dialogischen Vergegenwärtigungshilfe war in erster Linie die Förderung des gelingenden Lebensvollzugs seiner Adressaten; erst in zweiter Linie ging es um Wahrheit. Mit seiner Technik brachte Sokrates allerdings stets die Alltagsmoral, also die moralischen Intuitionen seiner Gesprächspartner, ins Spiel. Und insoweit haben wir oben das Bemühen um eine kohärente Systematisierung der Alltagsmoral durch die Philosophie als das „Sokratische Projekt“ bezeichnet. In den sokratischen Dialogen stößt man infolge der Orientierung an der Alltagsmoral demgemäß wiederholt auf reziproke Vergeltung und die Suum-cuiqueTradition. In mindestens einer Hinsicht widersetzte sich Sokrates jedoch der Alltagsmoral seiner Zeitgenossen. Er verfocht mit Vehemenz das Prinzip der Unfreiwil‑ ligkeit jedes Unrechttuns.15 Dieses Sokratische Prinzip war eine direkte Folge seiner Annahme der Kongruenz von Tugend und Glückseligkeit. Da jeder nach Glückseligkeit strebt und die Tugend als Quelle des Rechthandelns glücklich macht, so wird jeder, der weiß wie es geht, das Rechte tun. Anders gewendet: weil Unrechttun unglücklich macht und keiner freiwillig unglücklich sein will, wird jeder das Unrechttun vermeiden. Unrecht zu tun, ist sokratisch gesehen sogar schlimmer für eine Person als Unrecht zu erleiden.16 Dieses schon für sich genommen einigermaßen verblüffende Sokratische Prinzip hatte jedoch eine noch erstaunlichere, ja revolutionäre Konsequenz für den Gerechtigkeitsdiskurs: da gerechte Vergeltung nur bezogen auf freiwillige Unrechtstaten moralisch legitim zu sein scheint, lehnte Sokrates die Vergeltung als moralisches Rechtsprinzip ab.17 Damit gehörte Sokrates – beispielsweise mit dem biblischen Jesus – zu der kleinen Handvoll vorneuzeitlicher radikaler Vergeltungskritiker. Dies ist insbesondere deshalb höchst bemerkenswert, weil die auf Reziprozität beruhende Vergeltung in der griechischen Moral‑ und Rechtskultur einen mindestens ebenso zentralen Platz innehatte, wie in den allermeisten anderen bekannten Kulturen.18
14 Vgl.
Stavemann 2015. mit vielen Belegen z. B. Mackenzie 1981, 133–51. 16 S. z. B. Platon Gorg. 469b–473e u. ö.; vgl. bereits Demokrit Frg. 45, 100 f. 17 S. z. B. Platon Rep. 334c–335e; vgl. Dihle 1962, 61–71, Brickhouse & Smith 2002; dagegen Corlett 2018, 169–86. 18 S. Dihle 1962, Gill et al. 1998; vgl.Thür 2003. 15 S.
60
6. Annäherungen: die griechisch-antike Gerechtigkeitsphilosophie
6.3 Platonische Fortschreibungen Sokrates’ Schüler Platon wendete Gerechtigkeit zunächst auf den institutionellen Bereich an. Er ging dazu insbesondere in „Der Staat“ von einer Isomorphie-These aus, der zufolge das Individuum und der Staat eine analoge Struktur haben.19 Wenn man diese Struktur beachtet, dann kann man Gerechtigkeit im Staate definieren und, daraus abgeleitet, analogisierend auf das Individuum anwen den. Grundsätzlich wollte Platon den Staat aristokratisch durch den oder die Besten – also Philosophen – regiert sehen. Im Individuum ist das analog Beste die tugendhafte Vernunft und sie muss das Individuum kontrollieren. Bezogen auf den Staat propagierte Platon darüberhinaus zunehmend die Vorstellung, die Herrschenden könnten nur dann gerecht sein, wenn sie dem Gesetz gehorchen würden.20 Damit klang beim von prominenter Seite21 sattsam für seine totalitären Tendenzen kritisierten Platon bereits unverkennbar die Idee der Rechtsstaatlichkeit an. Individualethisch entspricht der politikethischen Forderung nach Gesetzeskonformität der Herrschenden die Forderung nach gerechtem Handeln als Ausdruck vernünftiger Selbstkontrolle. Was aber definiert inhaltlich das gerechte Tun? In seinen Dialogen diskutierte Platon in dieser Hinsicht wiederholt die Suum-cuique-Tradition (s. o.). Während diese von ihm behutsam kritisiert wurde, befürwortete Platon jedoch zwei aus dieser Tradition ableitbare Formen von Gerechtigkeit, nämlich eine göttliche, die der geometrischen Proportion folgt und eine einfache, die auf der Gleichheit der Verteilung oder der Chancen beruht.22 Platon vertiefte diesen von ihm mit großer Selbstverständlichkeit verwendeten Gerechtigkeitsdualismus allerdings nicht weiter und vermerkte auch wenig zu dessen Herkunft. Mit ziemlicher Sicherheit war er hier jedoch durch die noch bis in die Spätantike einflussreiche pythagoräische Proportionenlehre mit ihrer Trias von geometrischer, arithmetischer und harmonischer Proportion beeinflusst.23 Der mit Platon seit dessen Sizilienreisen bekannte Pythagoräer Archytas von Tarentum wird passenderweise meist als derjenige genannt, der sie erstmals formulierte.24
Platon Rep. 435b ff. Leg. 744b f. 21 S. Popper 1992, 104–200. 22 Platon Leg. 756 ff., s. a. ders. Gorg. 508a; zur wichtigen Rolle proportionaler Gerechtigkeit bei Platon s. Heinaman 1998. 23 Vgl. Heath 1949, bes. 272–6, Del Vecchio 1953, 42–50, Röd 1994, 46–9, Hischer 2002, Heninger 2013, 71–145. Bei den genannten Proportionen geht es um Gleichungen mit drei Zahltermen, a, b und c. Der Mittelwert, b, zwischen den beiden Außengliedern, a und c, soll errechnet werden: arithmetisch (aus a − b = b − c folgend) b = (a + c) / 2; geometrisch (aus a / b = − b / c folgend) b = √ ac; harmonisch (aus (a − b) / a = (b − c) / c folgend) b = 2ac / a + b. 24 Vgl. Johnson 2008, Erler 2006, 24 f. 19 Z. B.
20 Platon
6.3 Platonische Fortschreibungen
61
Bezüglich der Strafe vertrat Platon das Sokratische Prinzip und war insofern ebenfalls ein Gegner der Vergeltung.25 Da Verbrechen aus dieser Sicht gut als krankhafter Verlust der vernünftigen Selbstkontrolle begriffen werden können26, sah Platon Strafe nicht als Schädigung des Sträflings an, sondern als eine Therapie für dessen kranke Seele27. Platon vertrat somit grundsätzlich eine therapeutische Besserungs‑ oder Resozialisierungstheorie der Strafe.28 Dieser zufolge ist seine Bestrafung besser für den Sträfling als Straflosigkeit.29 Platon sprach vom Recht passenderweise auch als einer „Heilkunst für die Schlechtigkeit“.30 Platon war indes keineswegs so naiv oder zartbesaitet zu meinen, Strafe käme ohne die Zufügung von Schmerzen – in welcher Form auch immer – aus.31 Die platonische Resozialisierungstherapie bietet demzufolge ein gänzlich anderes Erscheinungsbild als typische heutige Ansätze in dieser Richtung. Platons Grundgedanke war immerhin, dass die strafende Züchtigung für den Gezüchtigten ja einen solchen Mehrwert durch Gesundung der Seele bringt, dass eine Strafe trotz ihrer kurzfristigen Unannehmlichkeit auf lange Sicht gesehen eben doch keine Schädigung des Sträflings darstellt. Um ihren Zweck zu erfüllen, muss die Strafe nach Platon desto härter sein, je tiefgreifender die seelische Störung des Verbrechers ist – also je schwerer das Verbrechen. Und damit brachte Platon das Vergeltungsprinzip gewissermaßen durch die Hintertür zurück in seine Theorie.32 Für therapeutisch hoffnungslose Fälle empfahl Platon demgemäß gar unumwunden die Tötung des Übeltäters als angemessene Behandlung.33 Bei dieser Sanktionsform begrüßte er besonders ihren sekundär nützlichen generalpräventiven Effekt durch die Abschreckung Anderer. Im Zuge dieser strafphilosophischen Erörterungen sokratischer Provenienz machte Platon in seinem Spätwerk „Die Gesetze“ überdies eine rechtsphilosophisch ausgesprochen folgenreiche Unterscheidung. Platon differenzierte nämlich bereits zwischen dem Ausgleich der Schädigung eines Verbrechensopfers und der strafenden (therapeutisch intendierten) Schädigung des Täters.34 Das erste ist der Schadensersatz, das zweite die eigentliche Strafe. Schadensersatz ist dabei im Gegensatz zur Strafe unabhängig von der Frage nach der Schuld (bzw. seelischen Krankheit) des Verbrechers geboten. Die Entdeckung dieser Leg. 860 Leg. 863. Damit artikulierte Platon in diesem Kontext das bemerkenswerte antikphilosophische Bemühen um Begrenzung oder Beseitigung des Zorns; vgl. Harris 2001. 27 Platon Leg. 854 28 S. Adkins 1960, 299–315, Mackenzie 1981, 179–224, Schütrumpf 2013, Shuster 2016, 15– 50. 29 Platon Gorg. 473e–474c u. ö. 30 Platon Gorg. 478d 31 S. Platon Gorg. 525b. 32 Vgl. Platon Leg. 870 ff., 904 f. 33 S. Platon Gorg. 525b-d, ders. Leg. 854 f., 863, 957 f. 34 S. Platon Leg. 862; vgl. Schütrumpf 2013. 25 Platon 26 Platon
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6. Annäherungen: die griechisch-antike Gerechtigkeitsphilosophie
epochemachenden Differenzierung wird oft erst der spätrepublikanischen römischen Jurisprudenz zugesprochen35, findet sich demnach aber in den Grundzügen schon bei Platon. Offen blieb bei Platon allerdings der Bezug zwischen Straftat, Schadensersatz und Ungerechtigkeit: sind alle oder einige Straftaten oder Schadenszufügungen Ungerechtigkeiten und falls ja, inwiefern? Ausgestattet mit dem bis jetzt umrissenen ideengeschichtlichen Hintergrund können wir uns nun dem größten Schüler Platons und dem eigentlichen Vater proportionaler Gerechtigkeitskonzepte, Aristoteles, zuwenden.
6.4 Aristotelische Gerechtigkeit 1: zwei Gesichter der partikulären Gerechtigkeit Man kann Aristotles’ Gerechtigkeitstheorie mit Gewinn als Weiterführung der skizzierten sokratisch-platonischen Tradition lesen. Er übernahm aus dieser Tradition vor allem drei Elemente. Erstens, betrieb auch Aristoteles in Anknüpfung an das Sokratische Projekt eine Systematisierung der Alltagsmoral bzw. des Gewohnheitsrechts. Anders als Sokrates verfolgte Aristoteles damit aber weniger individualtherapeutische, sondern vielmehr soziologisch-deskriptive Ziele.36 Und er erläuterte seine diesbezügliche Methode eigens in Buchlänge in der „Topik“.37 Zweitens entfaltete Aristoteles die duale Gerechtigkeitstheorie Platons in fruchtbarer Weise, wie wir sehen werden. Und drittens übernahm Aristoteles offenbar parziell die sokratische Abneigung gegen die negative Ver‑ geltung. Beachtet man diese drei Punkte, so kann man Aristoteles’ zum Teil recht komplizierte oder im fünften Buch der „Nikomachischen Ethik“ manchmal fast obskure Diskussion der Gerechtigkeit etwas leichter verstehen.38 In der „Nikomachischen Ethik“ unterschied Aristoteles zunächst die allgemeine (universale, generelle) von der speziellen (partikulären) Gerechtigkeit.39 Die allgemeine Gerechtigkeit wurde von ihm als grundsätzliche Normadhärenz bzw. Gesetzestreue verstanden.40 Die fraglichen Normen betrafen nach heutigen Begriffen wohl gleichermaßen positive Rechtsnormen und Moralnormen, weil die Unterscheidung zwischen Gesetz und Moral in der griechischen Klassik nicht besonders weit entwickelt war. Aristoteles konzipierte hier also ein Prinzip ganz im Geiste des gesetzestreuen Sokrates, wie dieser insbesondere von seinem Schüler Xenophon porträtiert wurde.41 35 S. Liebs
1993, 188–227, Honsell 1994, 75 f., Wesel 1997, 180–5, Harries 2007, 41–58. EN 1145b; vgl. Sidgwick 1886, 55 f., Jaeger 1923, 87–90, Irwin 2007, 119–22. 37 S. Aristoteles T; vgl. Höffe 2014, 55–61, 191–6. 38 Übersichten b. Gordon 2007, bes. 177–213, Englard 2009. 39 Aristoteles EN V.5–8; vgl. ders. Pol. 1301b–1302a, ders. EE 1241b. 40 Aristoteles EN 1129b f. 41 Xenophon Mem. IV.4 36 S. Aristoteles
6.4 Aristotelische Gerechtigkeit 1: zwei Gesichter der partikulären Gerechtigkeit
63
Aus den allgemein zu beachtenden Normen, Werten und Tugenden hob Aristoteles indes die spezielle Gerechtigkeit heraus. Diese präsentierte er in zwei Varianten, der distributiven und der korrektiven Gerechtigkeit. Die distributive Gerechtigkeit verlangt eine Verteilung der relevanten Güter proportional zur Würdigkeit oder dem Verdienst („axia“) der Rechtssubjekte.42 Die korrektive Gerechtigkeit gebietet dagegen eine gleichmäßige Aufteilung der relevanten Güter auf die Rechtssubjekte.43 Die distributive Gerechtigkeit gehorcht der geo‑ metrischen Proportion, der zufolge Begüterung und Verdienst bei den Rechtssubjekten im gleichen Verhältnis stehen sollen. Die korrektive Gerechtigkeit gehorcht der arithmetischen Proportion, der zufolge jedes Rechtssubjekt einen gleichen Anteil an der zugrundegelegten Gesamtbegüterung bekommen soll. Die dritte pythagoräische Proportion, die harmonische, blieb übrigens interessanterweise dem Anschein nach unbeachtet.44 Bezüglich des intendierten Normierungsbereichs beider Gerechtigkeitsprin zipien gibt es zwei in der gelehrten Exegese verfolgte Ansätze. Bevor wir die Gerechtigkeitsprinzipien inhaltlich noch etwas genauer betrachten, sollten wir uns hier auf eine mögliche Lesart in dieser Hinsicht festlegen. Man kann die beiden Gerechtigkeitprinzipien entweder primär auf die Politik beziehen, also institutionell verstehen, oder sie primär auf die Moral beziehen, also individualethisch verstehen. Beide Lesarten sind nicht offensichtlich unvernünftig, vielleicht sind in irgendeiner Form auch beide Normierungsbereiche von Aristoteles intendiert gewesen. Wir werden uns der aristotelischen Gerechtigkeit indes vorwiegend aus der moralischen Perspektive nähern. Das passt nicht nur besser zu unserer Fragestellung, sondern dessenungeachtet kann man Aristoteles’ Ideen einfach sehr stimmig so interpretieren, dass die individualethische Gerechtigkeit der politischen systematisch vorgelagert ist. Politisch unterschied Aristoteles nämlich in Anknüpfung an Platon verschiedene Verfassungstypen – je nach Anzahl und Qualität der Herrschenden –, wobei er diejenigen Regierungen als gerecht auszeichnete, bei denen die Regierenden das Gemeinwohl optimal fördern.45 Anders als bei seinem Lehrer Platon war also weniger die Unterordnung unter das Gesetz, als eben vielmehr die Gemeinwohlförderlichkeit das definierende Kennzeichen des gerechten Herrschers. Tugendhafte Herrscher – ob nun Alleinherrscher oder Aristokratenregimes – sichern für Aristoteles die Gerechtigkeit des Staates wegen ihrer Ausrichtung am Gemeinwohl. Tugendhaftigkeit lässt sich durch eine Reihe spezifischer Charakterzüge näher erklären, insbesondere auch die vier platonischen Kardinaltugenden, also Tapferkeit, Mäßigung, Weisheit und Gerechtigkeit.46 EN 1131a f. EN 1131b ff. 44 Vgl. Jaeger 1923, bes. 99–102, Manthe 1996, Lowry 1998, ders. 2010. 45 S. Aristoteles Pol. III.7–12; vgl. Miller 1995, bes. 153–72, Morrison 2013. 46 Vgl. Platon Rep. 427e u. ö. 42 Aristoteles 43 Aristoteles
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6. Annäherungen: die griechisch-antike Gerechtigkeitsphilosophie
Dabei gilt das aristotelische Prinzip der Mitte: jede Tugend ist so gesehen der maßvolle Mittelweg zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig in der fraglichen Verhaltensdimension. Bezüglich der Gerechtigkeit stößt man somit bei der Bestimmung gerechter Herrschaft über die erforderlichen Eigenschaften des idealen Herrschers wieder auf die individualethisch verstandene Gerechtigkeit. Diese ging Aristoteles auf den ersten Blick pluralistisch an, indem er die distributive Gerechtigkeit mit der Aristokratie, die korrektive mit der Demokratie assoziierte und beide als statthaft ansah. Diese Komplikation wollen wir hier außer acht lassen. Festzuhalten bleibt aber, dass gerechtes Handeln der Herrschenden in adäquater Weise das Gemeinwohl fördert, wenn diese – unter anderem – individualethisch gerecht handeln. In diesem Sinne ist das individualethische Gerechtigkeitsverständnis dem institutionellen logisch vorgelagert und wir können uns insoweit, auch exegetisch einigermaßen abgesichtert, getrost darauf kaprizieren. In welchem Verhältnis stehen nun distributive und korrektive Gerechtigkeit? Wir werden eine vom großen mittelalterlichen Aristoteliker Thomas von Aquin inspirierte Interpretation vertreten.47 Sie knüpft an den Vorrang an, den Aristoteles selbst der distributiven Gerechtigkeit zusprach, und deutet die korrektive Gerechtigkeit als Sonderfall der distributiven Gerechtigkeit. Aristoteles schrieb: „Wiewohl man darüber Übereinstimmung erzielt, dass das Gerechte überhaupt, das nach der Würdigkeit ist …“.48 Die distributive Gerechtigkeit bezieht sich auf das Niveau der Begüterung der Rechtssubjekte nach einer Transaktion. Jedes Rechtssubjekt soll am Ende einer Transaktion eine zu seinen Verdiensten proportionale Begüterung aufweisen. Die korrektive Gerechtigkeit bezieht sich hingegen nach unserem Verständnis nicht auf das Niveau der Begüterung von Transaktionspartnern, sondern auf den Anteil an den im Rahmen der Transaktion ausgetauschten Gütern. Jeder Transaktionspartner soll den gleichen Anteil von den umverteilten Gütern erhalten. Distributive Gerechtigkeit ist folglich zu‑ standsorientiert und korrektive Gerechtigkeit änderungsorientiert. Daraus ergibt sich, dass die korrektive Gerechtigkeit ein Sonderfall der distributiven Gerechtigkeit ist. Bei einer korrektiv gerechten Transaktion bleibt die bestehende distributive Gerechtigkeit nämlich unangetastet, wenn sich die Verdienste der Beteiligten nicht ändern und die Gesamtbegüterung gleichbleibt. Als Transaktionsbeteiligter zählt dabei jedes Rechtssubjekt, dessen Begüterung sich ändert. Ändert sich die Gesamtbegüterung, so bleibt offensichtlich die Proportionalität zwischen Verdienst und Begüterung nur im Falle der absoluten Gleichheit der Verdienste aller Rechtssubjekte erhalten. Andernfalls entsteht Disproportionalität: der weniger Verdiente erhält bei einer Steigerung S. Theol. II.II.61.2. Pol. 1301a–1302a, vgl. ders. EN 1134a, 1158b; vgl. Diogenes Laertios DL V.21, Gordon 2007, 166 ff., Polansky 2014. 47 S. Thomas
48 Aristoteles
6.4 Aristotelische Gerechtigkeit 1: zwei Gesichter der partikulären Gerechtigkeit
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der Gesamtbegüterung durch die korrektiv gerechte Transaktion aus einem distributiv gerechten Zustand relativ mehr als der stärker Verdiente. Ändert sich das Verdienst einzelner beteiligter Rechtssubjekte während der korrektiv gerechten Transaktion aus einem distributiv gerechten Zustand, so erlangt der Verdiensteinbüßende offenbar eine zu hohe und der Verdienstgewinnende eine zu niedrige Begüterung aus der korrektiven Transaktion. In diesem Sinne ist die korrektive Gerechtigkeit ein Sonderfall der distributiven Gerechtigkeit bei konstanten Verdiensten, konstanter Gesamtbegüterung und distributiv gerechter Ausgangssituation. Auf welche moralischen Bereiche sollen die beiden Prinzipien indes angewendet werden? Die korrektive Gerechtigkeit bietet sich, wie seinerzeit schon vom Aquinaten bemerkt, für einen normativen Bereich analog zum heutigen Zivilrecht an.49 Es geht nicht um obrigkeitliches oder schuldhaftes Handeln, sondern um den geregelten Umgang gleichrangiger Menschen miteinander. Jeder soll hier sein gleiches Recht erfahren. Musterbeispiel sind der Tausch als freiwillige Interaktion und der Schadensersatz als Folge einer unfreiwilligen Interaktion. Und tatsächlich gibt Aristoteles eine passende Reihe von Beispielen.50 Einerseits führt er eine Reihe von Schädigungen auf, die ungeachtet der Schuldfrage ausgeglichen werden sollen. Andererseits kann man auch Aristoteles’ ökonomische Erörterungen so verstehen, dass gerechter Tausch und Kauf eine Wertgleichheit der getauschten Objekte bzw. von Geld und Kaufobjekt implizieren (vgl. u.). Geht man von dieser Vorstellung aus, so drängt sich dem modernen Leser die Versuchung auf, die distributive Gerechtigkeit mit dem öffentlichen Recht bzw. der Strafe zu verknüpfen: Verdienst steht im Zusammenhang mit verantwortlichem Tun, also Schuld. Schon Thomas von Aquin sah die distributive Gerechtigkeit demgemäß als Regelung für einen normativen Bereich analog zum öffentlichen Recht an. Demzufolge würde die distributive Gerechtigkeit das Handeln des Herrschenden gegenüber den Beherrschten regeln. Aristoteles verknüpfte Obrigkeit und distributive Gerechtigkeit in der Nikomachischen Ethik andeutungsweise zwar durchaus51, aber bezüglich der Strafe, als Herzstück des öffentlichen Rechts, erlebt der Leser der Nikomachischen Ethik insoweit eine Überraschung: statt sie der distributiven Gerechtigkeit zuzuordnen, bringt Aristoteles in diesem Zusammenhang anstelle einer Strafbegründung in unklarer Weise ein weiteres Gerechtigkeitsprinzip ins Spiel: die Reziprozität.
S. Theol. II.II.61.1; vgl. Hardie 1968, 186, Böckenförde 2002, 114. EN 1131b–1132a 51 S. Aristoteles EN 1130b. 49 S. Thomas
50 Aristoteles
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6. Annäherungen: die griechisch-antike Gerechtigkeitsphilosophie
6.5 Aristotelische Gerechtigkeit 2: Reziprozität und Strafe Aristoteles sprach nach seiner Erörterung der beiden Formen partikulärer Gerechtigkeit die Reziprozität („antipeponthos“) an.52 Reziprozität kann, wie oben diskutiert, negativ oder positiv sein: Übles mit Üblem oder Gutes mit Gutem vergelten. Aristoteles diskutierte die negative Reziprozität als Grundlage der Strafe in Form des auch im antiken griechischen Recht ubiquitären Talionsprinzips, von ihm als „Prinzip des Rhadamanthys“ angesprochen.53 Die positive Reziprozität diskutierte er in bezug auf den Tausch. Aristoteles stellte eingangs fest, das die Reziprozität nicht mit distributiver und korrektiver Gerechtigkeit zusammenstimme.54 Reziprozität sei allenfalls dann akzeptabel, wenn sie proportional sei. Im Anschluss an dieses Postulat beginnen im achten Kapitel des fünften Buchs der „Nikomachischen Ethik“ die wohl dunkelsten und meistdiskutierten Passagen des ganzen Werks. Wie immer man die nachfolgenden Ausführungen des Aristoteles am Ende deutet, eine ausdrückliche Strafbegründung aus der distributiven Gerechtigkeit legte er definitiv nicht vor. Ja, es findet sich überhaupt keine geschlossene Straftheorie. Allerdings wird in Aristoteles’ Diskussion über reziproke Vergeltung deutlich, dass ihm im Sinne Platons gewärtig ist, dass Strafe über den Schadensersatz hinaus den Täter schlechter stellen muss.55 Eine Deutung der Strafe als korrektive Gerechtigkeit erscheint im Einklang mit Aristoteles’ eigener Einschätzung infolgedessen schlecht möglich. Auch die ausgesprochen naheliegende Möglichkeit, die platonische Unterscheidung von Schadensersatz (= korrektive Gerechtigkeit) und Strafe (= distributive Gerechtigkeit) auf seine beiden Gerechtigkeitsprinzipien anzuwenden, nutzte Aristoteles offensichtlich nicht.56 Ist deswegen am Ende doch die Reziprozität das Strafprinzip der „Nikomachischen Ethik“, wenn distributive und korrektive Gerechtigkeit nicht entsprechend expliziert werden? Aristoteles’ Haltung zur Reziprozität war, soweit ersichtlich, ambivalent. Manche Autoren vermuten in der Reziprozität – aus systematischer Sicht nicht unplausibel – ein drittes Prinzip der aristotelischen Gerechtigkeitsphilosophie.57 Anhand des Textes ist dies jedoch kaum EN 1132b–1133b. griechischen Strafrecht s. Wesel 1997, bes. 124–8, Thür 2003, bes. 223–6. 54 S. dagegen Thomas S. Theol. II.II.61.4, der sie mit der korrektiven Gerechtigkeit identifizierte. 55 S. Aristoteles EN 1132b, vgl. ders. Rh. 1369b, ders. T 112b, ders. MM 1194a f.; s. a. Thomas S. Theol. II.II.62.4; vgl. Finnis 1998, 210–15. 56 S. aber Hirzel 1907, 278, Raphael 2002, 51; auch (bei fraglicher Autorenschaft) Aristoteles MM 1194a. 57 S. Ritchie 1894, Miller 1995, 70–4, Inamura 2015, 190–4; vgl. schon Pufendorf 1672, 63– 67, vgl. ders. 1660, 239–46. 52 S. Aristoteles 53 Zum
6.5 Aristotelische Gerechtigkeit 2: Reziprozität und Strafe
67
überzeugend zu belegen.58 Allenfalls Aristoteles’ anderweitig getätigtes Lob für die gesellschafts‑ und freundschaftsstabilisierende Funktion von Reziprozität kann in dieser Hinsicht vielleicht bestätigend angeführt werden.59 Im Ganzen bleibt die Frage der Strafgerechtigkeit demnach bei Aristoteles unbefriedigend gelöst und auch der Stellenwert der Reziprozität ist nicht geklärt. Den Tausch immerhin kann man einigermaßen gut im Sinne der korrektiven Gerechtigkeit analysieren. Aristoteles’ teils recht undurchsichtigen diesbezüglichen Erörterungen zielen so gesehen darauf ab, klarzustellen, wie eine Wertgleichheit von Tauschobjekten hergestellt oder überprüft werden kann, wobei dem Geld eine herausragende Rolle als Maßstab zukommt.60 Hier ist nicht der Ort, tiefer in die Aristoteles-Exegese einzutauchen. Festhalten sollten wir indes, dass Aristoteles die duale platonische Gerechtigkeitstheorie in hilfreicher Weise spezifizierte. Dabei stieß er allerdings auf das Problem, Reziprozität und Strafe in diesen Normenkomplex zu integrieren. Es gelang ihm offenbar nicht, diese Schwierigkeit wirksam aus dem Wege zu räumen. Gab es Gründe für dieses Scheitern? Meines Erachtens lassen sich drei Hindernisse erkennen. i) Die Verdienstbasis: Will man Strafe als verdient durch die distributive Gerechtigkeit begründen, so stellt das Verdienst einen hochvariablen, tatbezo genen Parameter dar. Aristoteles setzte das Verdienst einer Person aber mit deren Tugend („arete“) gleich, welche als relativ stabile Persönlichkeitseigenschaft konzipiert war.61 Insoweit konnten Taten zwar Tugend signalisieren, aber die Tugend selbst war nicht in einer für strafrechtliche Belange geeigneten Form kurzfristig veränderlich. ii) Die religiöse Herkunft der distributiven Gerechtigkeit: Auch war die distributive Gerechtigkeit nach ihrer oben beschriebenen und von Platon ausdrücklich hervorgehobenen religiösen Herkunft wenig flexibel. Im eschatologischen Kontext wurde nach dem Tode die moralische Lebenszeitbilanz eines Menschen ausgewertet und ihm dann einmalig eine dementsprechende ultimative Sanktion beigebracht. Für ein tagesaktuelles Auf und Ab von Verdienst als Strafgrundlage fand sich hier offensichtlich keinerlei theoretischer Anknüpfungspunkt. iii) Das sokratische Erbe: Die negative Reziprozität bietet sich als Struk turierungshilfe für eine in Bezug auf das Problem der Strafe fortentwickelte distributive Gerechtigkeit an (vgl. u.). Und Aristoteles sah Reziprozität, wie gesagt, in Freundschaftsbeziehungen als wichtig an. Glaubt man Diogenes Laertios,
58 Hardie
1968, 192 f. Aristoteles EN 1129b, 1133a, ders. Pol. 1261a, ders. MM 1194a f.; s. a. Johnston 2011, 63–88, Inamura 2015, 143–78. 60 S. Aristoteles EN 1133a f.; vgl. Schumpeter 1954, 96–106, Meikle 1995, Ward 2010, Inamura 2015, 179–213. 61 Vgl. Adkins 1960, bes. 316–54, Annas 1993, 108–15, 291 ff. 59 Vgl.
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6. Annäherungen: die griechisch-antike Gerechtigkeitsphilosophie
propagierte Aristoteles sogar höchstpersönlich die reziprozitätsbasierte Goldene Regel, andere so zu behandeln, wie man selbst behandelt zu werden wünscht.62 Der starke sokratisch-platonische Bann über die Vergeltung mag aber diese einladende theoretische Option für Aristoteles im Bereich der Gerechtigkeit letzten Endes dennoch unattraktiv oder gar obsolet gemacht haben. Dem Sokratischen Prinzip hing er allerdings ausdrücklich nicht an.63
6.6 Fazit Die drei wichtigsten Philosophen der griechischen Klassik, Sokrates, Platon und Aristoteles, entwickelten an alltagsmoralische Normen und Werte anschließende Vorstellungen von Gerechtigkeit für den moralischen Bereich, die in den Versuch mündeten, moralisches Handeln als proportioniert güterverteilendes Handeln zu analysieren. Es handelte sich demzufolge im Wesentlichen um eine eudämonistische Ethik. Die von einzelnen Sophisten – etwa Glaukon oder Thrasymachos im zweiten Buch von Platons „Staat“ – und besonders Epikur bereits erwogene Alternative eines auf dem Eigeninteresse des Akteurs beruhenden Kontraktualismus, also einer juridischen Ethik, war und blieb letztlich eine Außenseiterposition.64 Einen Höhepunkt eudämonistischer Ethik bildete schließlich die von Aristoteles als distributive Gerechtigkeit formulierte Idee einer Güterverteilung proportional zum Verdienst. Da die Vergeltung als Form der Reziprozität jedoch aus verschiedenen skiz zierten Gründen wenig Anklang bei diesen Denkern fand, erkundeten bzw. gestalteten sie nicht den Zusammenhang dieses Gesichtspunkts mit der distributiven Gerechtigkeit. Es gelang ihnen im Zusammenhang damit letztendlich nicht, die Strafgerechtigkeit in die allgemeine Gerechtigkeit befriedigend zu integrieren. Hier verfehlte die klassische Diskussion ein wichtiges theoretisches Ziel, vermutlich zum Teil auch nach ihren eigenen Maßstäben. Demzufolge lässt uns die griechische Klassik mit einer ungelösten Aufgabe zurück. Sie hat uns den Respekt vor der Alltagsmoral gelehrt und das Konzept der distributiven Gerechtigkeit geliefert. Eine Konzeption der gerechten Strafe als Kerngebiet der Gerechtigkeit vermochte sie allerdings nicht zu ersinnen – die sokratisch-platonische Therapie von Übeltätern ist ja eher eine Alternative zur Strafe im üblichen Sinne, weniger eine Begründung von Strafe. Überdies räumten die großen Denker der griechischen Klassik der Reziprozität keinen ausreichenden Raum in ihren Denkgebäuden ein. Besteht zwischen dem Unvermögen, Strafe zu begründen, und der Missachtung der Reziprozität ein DL V.21 EN 1109b–1111b. 64 S. Epikur Briefe, 75–9; vgl. Gough 1957, Kap. 2. 62 Diogenes
63 S. Aristoteles
6.6 Fazit
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Zusammenhang? Die Antwort darauf lautet ganz klar: ja! Um die distributive Gerechtigkeit zur Begründung der Strafe tauglich zu machen, muss sie mit der Reziprozität vereinigt werden. Die dabei entstehende Norm ist eine – wenn nicht die – grundlegende Gerechtigkeitsnorm. Und diese systematische Aufgabe der Normkonstruktion ist es, der wir uns im nächsten Kapitel widmen werden.
7. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: Bestrafung Dieses Kapitel ist rein konstruktiv intendiert. Es soll eine spezielle Gerechtigkeitsnorm in ihren strukturellen Grundzügen vorgestellt werden, die propor‑ tionale Reziprozität. Sie ist eine Kombination der von Aristoteles im fünften Buch der „Nikomachischen Ethik“ als unvereinbar wahrgenommenen Prinzipien distributiver und reziproker Gerechtigkeit. Und sie verheißt eine interessante Möglichkeit zur Legitimation von Strafe. Man kann diese Gerechtigkeitsnorm in vier grundlegende Prinzipien aufteilen, die wir hier einzeln kurz durchsprechen werden: die Grundnorm, das Wertprinzip, das Zurechnungsprinzip und das Sanktionsprinzip. Vorbereitend sollten wir noch einige Überlegungen zum systematischen Verhältnis der Reziprozität zur Verdienstproportionalität anstellen. Beide sind ganz offensichtlich verwandt, aber wie kommt man von der einen zur anderen, wie hängen sie genau zusammen? Diese äußerst interessante Frage wollen wir im nächsten Abschnitt beantworten. Es ist im Grunde erstaunlich, dass sie in dieser Klarheit in der sokratischen moralphilosophischen Tradition kaum je erörtert wurde. Eine leuchtende Ausnahme bildet lediglich Henry Sidgwicks Analyse des alltagsmoralischen Gerechtigkeitsbegriffs in seinen auch in dieser Hinsicht meisterhaften „Methods of Ethics“.1 Dort entwickelte er in sehr knapper Form einen dem unseren sehr ähnlichen Gedankengang.
7.1 Reziprozität und Verdienstproportionalität Reziproke Gerechtigkeit ist zunächsteinmal eine sehr schlichte, universal geläufige Moralnorm. Man kann sie folgendermaßen formulieren: Naive Reziprozität: Dem Normadressaten ist es moralisch geboten, den Normbetroffenen so zu behandeln, wie dieser ihn behandelte.
Wir drücken diese Norm bewusst als Gebot aus. Die als Erlaubnis formulierte Variante ist bei den beiden herkömmlichen Anwendungskontexten, Bestrafung und Tausch, zu schwach, und eher in weniger ernsten normativen Gefilden angesiedelt. Offen bleibt bei der naiven Reziprozität übrigens der Fall, bei dem es 1 S. Sidgwick
1907, 279 ff.; vgl. Schneewind 1977, 291–95.
7.1 Reziprozität und Verdienstproportionalität
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keine vorausgehenden Interaktionen zwischen Normadressat und Normbetroffenem gab. Traditionell wurde – auch bereits im antiken Griechenland2 – in diesem Fall die gleichfalls kulturell ubiquitäre Goldene Regel angeraten, der zufolge der Normadressat den Normbetroffen so behandeln soll, wie er, der Normadressat, an dessen Stelle behandelt zu werden wünschte. Recht früh in der menschlichen Sozialgeschichte bildeten sich allerdings Erweiterungen der naiven Reziprozität heraus. Insbesondere im Zusammenhang mit Bestrafungen unsozialen Verhaltens entwickelte sich, wie oben schon dargelegt, die sogenannte indirekte Reziprozität, manchmal etwas irreführend als altruistisches Strafen bezeichnet. Indirekt reziprokes Verhalten universalisiert den Bereich derjenigen, deren Erfahrung mit dem Normbetroffenen in die Reziprozitätserwägung einfließt. Hier kommt implizit ein Verallgemeinerungsprinzip zur Geltung, das manchmal geradezu als der formale Kern menschlicher Moralität angesehen wird.3 Es kann folgendermaßen formuliert werden: Verallgemeinerungsprinzip: Bei der moralischen Bewertung einer Handlung macht die Identität der Beteiligten für sich genommen keinen Unterschied.
Dieses Prinzip gebietet dem Normadressaten, das Verhalten des Normbetrof fenen nicht nur ihm selbst gegenüber, sondern auch allen Anderen gegenüber bei seiner Handlungsplanung zu berücksichtigen. Also in etwa: Verallgemeinerte Reziprozität: Dem Normadressaten ist es moralisch geboten, den Normbetroffenen so zu behandeln, wie dieser die relevanten Rechtssubjekte behandelte.
Ganz klar bestehen hier beträchtliche Vagheiten. Wer die relevanten Rechtssubjekte sind und wie man die verschiedenen Handlungen des Normbetroffenen ihnen gegenüber dann irgendwie bewertend aggregiert, ist bis jetzt völlig ungeklärt. Wir kommen noch darauf zurück. Eine andere Frage betrifft das „Behandeln“: was bedeutet das? Wie kann man es theoretisch erfassen? Und hier kommt die eudämonistische Suum-cuique-Tradition ins Spiel, die eben eine solche Konzeption anbietet. Nach ihrer moralischen Handlungslehre gilt: Suum-cuique-Tradition: Wie ein Rechtsubjekt ein anderes Rechtssubjekt behandelt, ist dadurch definiert, wie der Akteur die Begüterung des Rezipienten beeinflusst.
Wendet man diese Konzeption auf die verallgemeinerte Reziprozität an, dann ergibt sich folgende Norm: Verallgemeinerte Reziprozität der Begüterung: Dem Normadressaten ist es moralisch geboten, die Begüterung des Normbetroffenen so zu beeinflussen, wie dieser die Begüterung der relevanten anderen Rechtssubjekte beeinflusste.
2 Vgl.
Dihle 1962, 85–102. 1961, bes. 34–56; vgl. Feinberg 1973, 99–102.
3 S. Singer
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7. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: Bestrafung
An diesem Punkt wird ein Maßstab für die Gerechtigkeit von Güterverteilungen notwendig. Diesen Maßstab kann die distributive Gerechtigkeit bereitstellen, wie sie Aristoteles im fünften Buch der „Nikomachischen Ethik“ in der Zwei-Personen-Variante vorlegte. Sie ist, genau genommen, ein Wertprinzip. Das heißt, die distributive Gerechtigkeit definiert die moralische Qualität von Welt‑ zuständen. Sie ist aber noch keine Norm, weil sie keine Handlungsweise gebietet, verbietet oder erlaubt. Die distributive Gerechtigkeit als Wertmaßstab könnte so ausgedrückt werden: Distributive Gerechtigkeit: Die Begüterung eines Rechtssubjekts ist moralisch angemessen, wenn sie proportional zu seinem Verdienst ist.
Legt man diesen Wertmaßstab der verallgemeinerten Reziprozität zugrunde, dann ergibt sich eine entsprechende proportionalistische Norm: Distributive Reziprozität: Dem Normadressaten ist es moralisch geboten, den Normbetroffenen relativ zu dessen Verdienst so zu begütern, wie dieser die relevanten anderen Rechtsubjekte relativ zu deren Verdiensten begütert hat.
Diese Norm findet man in dieser Form nicht mehr in der „Nikomachischen Ethik“, auch wenn dort beide Ausgangspunkte, reziproke und distributive Ge rechtigkeit, einzeln aufgeführt werden. Noch weniger findet man in diesem Zusammenhang den nächsten Schritt, den man als Fairnessprinzip charakterisieren kann. Die distributive Reziprozität bezieht sich ja auf Handlungen des Normbetroffenen. Diese fallen zum einen nicht immer gleichwertig aus, zum anderen trägt der Normbetroffene als Akteur ja nicht immer die volle Verantwortung für sein Tun, falls seine Selbstbestimmungsfähigkeit beim Handeln eingeschränkt oder gar aufgehoben war. Will man diesem letzten Aspekt gerecht werden, dann kommt das Fairness‑ oder Zurechnungsprinzip zum Einsatz: Zurechnungsprinzip: Eine Handlung kann einer Person nur in dem Maße moralisch zugerechnet werden, in dem sie verantwortlich vollzogen wurde.
Angewendet auf die distributive Reziprozität ergibt sich dann die proportionale Reziprozität: Proportionale Reziprozität: Dem Normadressaten ist es moralisch geboten, den Normbetroffenen relativ zu dessen Verdienst so zu begütern, wie dieser die relevanten anderen Rechtssubjekte relativ zu deren Verdiensten verantwortlich begütert hat.
Fassen wir den bisherigen Gedankengang kurz zusammen. Aus der naiven Reziprozität lässt sich bei Hinzuziehen eines Verallgemeinerungsprinzips, der Suum-cuique-Tradition und der distributiven Gerechtigkeit als Wertmaßstab eine Gerechtigkeitsnorm ableiten, die beide intuitiven Gerechtigkeitsprinzipien, reziproke und distributive Gerechtigkeit, zusammenfasst, die proportionale Reziprozität. Diese Moralnorm müssen wir jetzt etwas detaillierter analysieren.
7.3 Das Wertprinzip
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7.2 Die Grundnorm Die deontische Basis der proportionalen Reziprozität ist ihre konsequenzialistische Grundnorm, die folgendermaßen formuliert werden kann: Grundnorm: Dem Normadressaten ist es moralisch geboten, eine gerechte Güterverteilung zu erzeugen.
Diese Grundnorm definiert die moralische Pflicht nicht bezogen auf die Absicht des Normadressaten, sondern auf das Ergebnis seines Handelns. Der Normadressat soll einen bestimmten Weltzustand – eben die gerechte Güterverteilung – bewahren, fördern oder herbeiführen. Diejenigen Handlungsmotive sind demzufolge die moralisch besten, die diesen Zweck erfüllen. (Dazu später mehr.) Um diese rein formale, konsequenzialistische Moralnorm mit Inhalt zu füllen, ist offenkundig ein Wertprinzip erforderlich, das erklärt, wie eine gerechte Güterverteilung aussieht.
7.3 Das Wertprinzip Für die proportionale Reziprozität liest sich dieses gerechtigkeitserklärende Wertprinzip wie folgt: Wertprinzip: Eine Güterverteilung ist gerecht, wenn jedes Rechtssubjekt soviel Güter besitzt, wie es verdient.
Das Wertprinzip lässt zwei Lesarten zu, eine absolute und eine relative. Nach der absoluten Lesart gibt es zu jedem Verdienstgrad eine genau zugemessene Begüterung. Welches Maß an Verdienst und Begüterung andere Rechtssubjekte aufweisen, spielt bei der individuellen Gerechtigkeitsbemessung nach dieser Lesart keine unmittelbare Rolle. Nach der relativen Lesart hingegen ergibt sich die einem Rechtssubjekt gerechtigkeitshalber zukommende Begüterung aus dessen Verdienst relativ zum Verdienst der anderen Rechtssubjekte. Ein Beispiel: eine Welt voller gleichermaßen Heiliger, die in gleichem Elend leben, ist aus Sicht der relativen Lesart gerecht – jeder hat ja relativ zu seinem Verdienst die gleiche Begüterung –, jedoch aus Sicht der absoluten Lesart ungerecht, da jeder Heilige sicherlich höchste Glückseligkeit verdient. Es gibt vier Gründe, warum wir hier die relative Lesart der proportionalen Reziprozität zugrunde legen: Erstens entspricht die relative Lesart der Tradition der aristotelischen distributiven Gerechtigkeit. Zweitens erklärt nur die relative Lesart gut, warum Gerechtigkeit eine notwendig interpersonelle Moralnorm ist: ein vollkommen isoliertes Rechtssubjekt, ein wahrer Robinson Crusoe, mag moralische Pflichten sich selbst gegenüber haben, aber sicherlich keine
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7. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: Bestrafung
Gerechtigkeitspflichten.4 Drittens ist die Vorstellung eines absoluten Begüterungsniveaus für ein bestimmtes Moralitätsniveau schlichtweg uneinsichtig: wie und warum sollte man ein bestimmtes Begüterungsniveau völlig unabhängig vom Wohlergehen anderer Rechtssubjekte in dieser Weise auszeichnen? Und viertens vermag es lediglich die relative Lesart, auf direktem Wege die Rezipro‑ zität in die Gerechtigkeitsnorm zu integrieren, wie wir sehen werden. Um das ab jetzt durchweg relativ interpretierte Wertprinzip besser zu verstehen, muss man die ursprünglich dyadische Proportion des fünften Buchs der „Nikomachischen Ethik“ zunächst einmal zu einer Mehrpersonen-Version erweitern. Die einem Rechtssubjekt, r, zukommende Begüterung, Br, lässt sich mit Bezug auf sein Verdienst, Vr, die Gesamtbegüterung, Bges, und das Gesamtver‑ dienst, Vges, berechnen: Br = Vr x (Bges / Vges)
Eine gerechte Güterverteilung liegt vor, wenn die oben genannte Gleichung für jedes Rechtssubjekt erfüllt ist. Damit diese Gleichung anwendbar ist, müssen aus formalen Gründen Begüterung und Verdienst allerdings auf Verhältnis‑ skalenniveau messbar sein. Mithin gibt es ausschließlich positive Güter und Verdienste, die über einem absoluten Nullpunkt liegen. Der Unterschied zwischen einer wohltuenden und einer üblen Begüterung liegt demnach bei einem festzulegenden positiven Schwellenwert. (Bei der absoluten Lesart reicht dagegen ein Intervallskalenniveau mit negativen und positiven Werten für Verdienst und Begüterung, was man als Vorteil werten könnte.5) Der absolute Nullpunkt der Begüterung muss dann der schlimmstmögliche Zustand eines Menschen sein; der absolute Nullpunkt des Verdiensts repräsentiert die moralische Folge der größten Verwerflichkeit des Handelns. Möglich ist auch die Einführung eines absolut höchsten Begüterungswerts, der das größtmögliche Wohlergehen abbildet. Gerechtigkeit obwaltet, wenn jedes Rechtssubjekt soviel Güter hat, wie es relativ zu den anderen Rechtssubjekten verdient. Ungerechtigkeit bedeutet Abweichungen von dieser ideal gerechten Verteilung. Man kann für jedes Rechtssubjekt, r, einen individuellen Abweichwert, Ar, bestimmen, der sich aus dem Absolutbetrag der Differenz von seiner faktischen Begüterung, Br-de-facto, und der ihm moralisch zustehenden Begüterung, Br-de-iure, bei konstant gehaltener Gesamtbegüterung ergibt: Ar = | Br-de-facto – Br-de-iure |
Der Absolutbetrag ist deswegen adäquat, weil sowohl Über‑ als auch Unterschreitungen der moralisch geforderten Begüterung ungerecht sind. Aus Sicht der proportionalen Reziprozität sind ungerechtfertigte Bereicherung und 4 Vgl.
Aristoteles EN 1129b–1130a, 1134b, 1138a f., 1143a, und Thomas S. Theol. II.II.58.2. 2012, S.386 ff.
5 S. Kagan
7.4 Das Zurechnungsprinzip
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Benachteiligung grundsätzlich gleichermaßen ungerecht. Bei einer gerechten Güterverteilung beträgt deshalb der Abweichwert für jedes Rechtssubjekt 0. Vom individuellen Abweichwert kann man dann zu einem Maß für die kollektive Ungerechtigkeit einer Güterverteilung, U, übergehen. Dafür sind verschiedene Aggregationsverfahren denkbar. Am plausibelsten ist es, einfach den maximalen individuellen Abweichwert, Amax, als Maßstab zu nehmen: U = Amax
Die maximale individuelle Abweichung ist plausibler als ihr naheliegendster Konkurrent, die durchschnittliche Abweichung, da sie eine Begüterungsminderung nicht in Abhängigkeit von der Anzahl der weniger gravierend Minderbegüteten unterschiedlich bewertet: eine schlimme Schädigung wird zum Beispiel nicht weniger schlimm, nur weil sie in einer Welt mit mehr besser begüterten Rechtssubjekten stattfindet. Genau das würde sich aber aus einer Orientierung an der durchschnittlichen Abweichung ergeben, weil die Zahl der Nichtgeschädigten steigt und somit die durchschnittliche Abweichung sinkt. Die Orientierung an der maximalen individuellen Abweichung bemisst demgegenüber die größte Abweichung ohne Rücksicht auf den Rest der Rechtssubjekte, sie erfasst allerdings nicht, wie groß die Zahl der von ihrem verdienten Begüterungsniveau abweichenden Rechtssubjekte ist. Diese Eigenschaft erscheint indes zunächst akzeptabel; gegebenfalls müsste man den Abweichwert durch Integration der betroffenen Personenzahl noch komplizierter gestalten. Beachten wir unsere relative Interpretation des Wertprinzips und unsere Definition von Ungerechtigkeit, dann kann man das Wertprinzip jetzt wie folgt reformulieren: Erweitertes Wertprinzip: 1. Eine Güterverteilung ist gerecht, wenn jedes Rechtssubjekt soviel Güter besitzt, wie es relativ zu den anderen Rechtssubjekten verdient. 2. Eine Güterverteilung ist in dem Maße ungerecht, in dem die Begüterung vom verdienten Maß bei dem am stärksten davon betroffenen Rechtssubjekt abweicht.
Um mit Grundnorm und Wertprinzip fair zu operieren, muss nun im nächsten Schritt genauer erklärt werden, welche Güterverteilungsakte einem Handelnden zugerechnet werden können.
7.4 Das Zurechnungsprinzip Es wird desweiteren also ein Zurechnungsprinzip benötigt. Dieses Prinzip unterscheidet zwischen verantwortlich herbeigeführten Güterverteilungen und solchen, die aus Irrtum oder Missgeschick resultieren. Während Handlungen der ersten Gruppe einem Handelnden gerechtigkeitshalber zugerechnet werden können, so ist das bei den Handlungen der zweiten nicht der Fall. Man kann die erforderliche Verantwortlichkeit als Selbstbestimmung interpretieren:
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7. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: Bestrafung
Zurechnungsprinzip: Ein Verhalten wird einem Handelnden in dem Maße zur Bestimmung seines Verdiensts zugerechnet, in dem er es selbstbestimmt vollzieht.
Grundsätzlich kann die Zurechenbarkeit bzw. Selbstbestimmung mit einem Zahlwert zwischen 0 und 1 beziffert werden, wobei 1 volle Zurechenbarkeit bzw. Selbstbestimmung und 0 aufgehobene Zurechenbarkeit bedeutet.6 Was Zurechenbarkeit oder Selbstbestimmung eigentlich bedeuten, ist eines der tiefsten philosophischen Geheimnisse und kann hier keinesfalls auch nur im Ansatz nebenbei geklärt werden. Wir werden diesen – inhaltlich unverzichtbaren – Faktor der proportionalen Reziprozität infolgedessen weitgehend aus unseren Erörterungen ausklammern. Weiter unten beschreiben wir lediglich seine strukturelle Position in der proportionalen Reziprozität.
7.5 Das Sanktionsprinzip Kommen wir jetzt jedoch zum eigentlichen Vereinigungspunkt von reziproker und distributiver Gerechtigkeit, dem Sanktionsprinzip. Wir präsentieren hier eine erste Variante, werden diese indes später noch ergänzen müssen: Sanktionsprinzip: 1. Das Verdienst eines Rechtssubjekts bleibt unverändert, wenn es selbstbestimmt gerechte Güterverteilungen erzeugt. 2. Das Verdienst des Rechtssubjekts sinkt proportional zur erzeugten Ungerechtigkeit, wenn es selbstbestimmt ungerechte Güterverteilungen erzeugt.
Das Sanktionsprinzip erklärt den Zusammenhang zwischen Maß des Verdiensts und Gerechtigkeit des Handelns. Solange ein handelndes Rechtssubjekt gerechte Güterverteilungen erzeugt, bleibt sein Verdienst unangetastet. Wenn allerdings vom handelnden Rechtssubjekt einem Handlungsbetroffenen bezogen auf dessen Verdienst zu viel oder zu wenig Güter zuerteilt werden, dann sinkt das Verdienst des Handelnden. Das muss näher erläutert werden. Wie kann man die angemessene negative Verdienständerung infolge einer ungerechten Handlung berechnen? Die Ungerechtigkeit, U, einer vom Normadressaten, r, erzeugten Güterverteilung kann durch den maximalen Abweichwert, Amax, berechnet werden, wie oben dargestellt. Um nun den Grundgedanken der Reziprozität zu erfassen, muss man U lediglich in seinen Verdienstwert, dV, umrechnen, die resultierende Verdienstmenge vom Anfangsverdienst des Handelnden abziehen und die Gesamtbegüterung dann gemäß der veränderten Verdienste neu verteilen. Beginnen wir mit der Berechnung des Verdienstwerts dV bei gegebener Ungerechtigkeit U: dV = U x (Vges / Bges) 6 Vgl.
Nozick 1974, 62 f., ders. 1981, 363–70.
7.5 Das Sanktionsprinzip
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Das Verdienst des Normadressaten nach der ungerechten Handlung, Vr-post, ergibt sich durch Subtraktion des Verdienstwerts der Ungerechtigkeit, dV, vom Verdienst des Normadressaten vor der entsprechenden Tat, Vr-prä: Vr-post = Vr-prä – dV
Jetzt muss man nur noch gemäß oben genannter Formel die Begüterung errechnen, die dem Normadressaten entsprechend seines aktualisierten Verdiensts zukommt. Offensichtlich ist auch, dass ein gerecht handelnder Normadressat keine Änderung seines Verdienstes hinnehmen muss, da der U-Wert 0 ist. Zwei Komplikationen müssen noch beachtet werden. Die erste betrifft das Zurechnungsprinzip. Da eine Handlung einem handelnden Normadressaten, r, nur insoweit zugerechnet werden soll, wie er selbstbestimmt handelte, muss der zwischen 0 und 1 liegende Zurechnungswert, Zr mit dem Ungerechtigkeitswert multipliziert werden, um eine faire negative Verdienständerung zu erhalten: dV = Zr x U x (Vges / Bges)
Falls keine Zurechenbarkeit besteht, also der Z-Wert 0 ist, erfolgt demgemäß auch keine Änderung des Verdienstes. Bei voller Zurechnung hingegen wird die Ungerechtigkeit auch vollständig verdienstwirksam. Die zweite Komplikation betrifft das möglicherweise aufgrund äußerer Faktoren bestehende Unvermögen eines ansonsten vollkommen selbstbestimmt handelnden Normadressaten, die gerechte Güterverteilung zu realisieren. Es könnte unter bestimmten Umständen nur verschiedene ungerechte Möglichkeiten zur Verteilung der Güter geben, etwa weil bestimmte Rechtssubjekte aufgrund natürlicher Schranken nicht angemessen ausstattbar sind. In diesem Fall sollte die Ungerechtigkeit nicht mit Bezug auf die vollkommene Gerechtigkeit, sondern die geringstmögliche Ungerechtigkeit, Upragm, berechnet werden. Die zur Berechnung der Änderung des Verdiensts relevante Ungerechtigkeit, Urel, ergibt sich aus der Subtraktion der geringsten tatsächlich vom Normadressaten erziel‑ baren Ungerechtigkeit, Upragm, von der tatsächlich durch sein Handeln realisierten Ungerechtigkeit, Ufakt: Urel = Ufakt – Upragm
Falls der Normadressat durch sein Tun also die geringstmögliche Ungerechtigkeit herstellt, ist sein Handeln aus proportional reziproker Perspektive gerecht. Die komplette Sanktionsmaßformel sieht dann so aus: dV = Zr x Urel x (Vges / Bges)
Damit ist unsere formale Darstellung der proportionalen Reziprozität fürs Erste bereits abgeschlossen. Im Weiteren werden wir uns noch mit einer Reihe von Fragen zu beschäftigen haben. Die beiden letztgenannten Komplikationen werden wir indes weitgehend ignorieren. Unschwer lassen sich alle folgenden
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7. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: Bestrafung
Vorschläge um Zurechnung und objektive Erreichbarkeit in der beschrieben Form ergänzen. Die Diskussionen bleiben aber überschaubarer, wenn wir sie nicht regelmäßig wieder hervorkehren. Mit der groben Struktur eines großen Teils der proportionalen Reziprozität ausgestattet, können wir uns jetzt dem Problem des Aristoteles zuwenden, nämlich der Strafe.
7.6 Proportional-reziproke Bestrafung Die proportionale Reziprozität will, so könnte man verkürzt sagen, im Sinne der Gegenseitigkeit Änderungen des Verdiensts erfassen und vergelten, in Abhängigkeit von der Bewahrung der distributiven Gerechtigkeit durch den Handelnden. Damit wäre das Problem aus dem fünften Buch der „Nikomachischen Ethik“ lösbar: Aristoteles hätte in dieser Weise eine einheitliche Gerechtigkeitsnorm propagieren und Strafe moralisch legitimieren können. Illustrieren wir die proportionale Reziprozität zum besseren Verständnis an eben diesem Beispiel, der Strafe. Gemeint ist mit „Strafe“ im vorliegenden Kontext eine moralische Strafe, keine positivrechtliche Strafe. Es geht darum, jemanden begründet und wohlbemessen schlechter zu stellen, der Andere unverdient schlechter gestellt hat. Die soziale Institution der Strafe kann offenkundig mittels dieses moralischen Konzepts legitimiert werden7, ist aber aufgrund ihrer Einbettung in politische Strukturen ein erheblich komplexeres Problem, das wir uns später anschauen werden (s. Kap. 17). Nehmen wir ein hochgradig vereinfachtes 3-Personen-Beispiel. Alle drei Personen, P1, P2 und P3 sollen über das gleiche Verdienst, ausgedrückt durch die Zahl 20 verfügen und eine gleiche Begüterung aufweisen, die durch die Zahl 10 ausgedrückt wird. Es herrscht ein gerechter Weltzustand, den jeder der drei Personen bewahren soll. Jetzt unternimmt jedoch P1 – selbstbestimmt und trotz gerechter Verhaltensalternativen – eine Handlung, die ihm ungerechterweise eine Begüterung von 15 Gütereinheiten verschafft, aber P2 um 5 Gütereinheiten beraubt. P3 bleibt unangetastet. Wenden wir unsere oben vorgestellten Formeln an, so haben P1 und P2 beide eine (dann maximale) Abweichung von 5 Gütereinheiten, was sich in einen negativen Verdienständerungswert von 10 Verdiensteinheiten für P1 umrechnen lässt. Demzufolge haben nach der Tat P2 und P3 weiter ein Verdienst von jeweils 20 Verdiensteinheiten, P1 jedoch nur noch von 10 Verdiensteinheiten. Das Gesamtverdienst beträgt somit 50 Einheiten. Die Strafe besteht nun in der moralisch gebotenen Güterumverteilung, welche die Proportionalität wiederherstellen muss. Man kann drei Beispielvarianten wählen. 7 S. Cushman
2014.
7.6 Proportional-reziproke Bestrafung
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Variante 1: die Strafe ist eine ausgeglichene Transaktion. Das bedeutet, die Gesamtbegüterung bleibt vor und nach Strafe gleich. Dann müssen die 30 Gütereinheiten im Verhältnis 10 : 20 : 20 auf P1, P2 und P3 aufgeteilt werden, also 6 : 12 : 12. P2 und P3 profitieren von der Strafe; P1 wird deutlich schlechter gestellt. Variante 2: die Strafe ist eine moderat ineffiziente Transaktion, bei der die Gesamtbegüterung durch Schlechterstellen des Täters sinkt. Zum Beispiel könnte P2 entschädigt werden und P3 auf gleichem Niveau verbleiben, womit beide wieder bei jeweils 10 Gütereinheiten sind, für P1 aber eine gerechte Begüterung von nur noch 5 Gütereinheiten verbleibt. Das entspricht ganz besonders dem Geiste des Talionsprinzips, indem P1 exakt das widerfährt, was er P2 angetan hat. Nebenbei bemerkt: P1 muss bei dieser Variante gewissermaßen das Doppelte von dem zurückzahlen, was er P2 abgenommen hatte. Das passt auffällig gut zur aus vielen archaischen Rechtskodizes geläufigen Sühneleistung des „Duplum“.8 Variante 3: die Strafe ist eine stark ineffiziente Transaktion, also geht mit einer sinkenden Gesamtbegüterung durch Schlechterstellen aller Rechtssubjekte einher. Beispielsweise könnte P2 nicht voll zu entschädigen sein und bei einer Begüterung von 8 verharren. Dann müsste P3 ebenfalls auf 8 Gütereinheiten reduziert werden – falls man nicht aufgrund natürlicher Hindernisse seine Begüterung gar nicht anpacken kann. P1 würde es härter treffen, da er nur noch eine Begüterung von 4 Einheiten erhalten dürfte. Ist P2 gar nicht zu entschädigen, so kommt P1 sogar nur noch auf 2,5 Gütereinheiten. Die Reduktion für P3 als Unbeteiligten ist eventuell verwirrend, allerdings könnte man das zum Beispiel als erforderliche Kosten für die gebotene Bestrafung von P1 oder die Wiedergutmachung für P2 interpretieren. Dieses kleine Beispiel gibt ein erstes Gefühl für die proportionale Reziprozität. Man merkt, dass sie geradlinig eine Bestrafung im Sinne des Talionsprinzips erklärt, falls das Verbrechensopfer entschädigungsfähig ist. Andernfalls erlegt sie allen Beteiligten Kosten für die Bestrafung eines Täters auf, der im Zuge dessen auch erheblich härter bestraft wird. Offenkundig problematisch ist bei allen diesen Beispielen die bisher noch nicht geleistete inhaltliche Definition der Güter und ihrer Bemessung. Eine intuitive Erfassung ist damit noch nicht vollständig möglich. Nichtsdestoweniger ist die Struktur der proportionalen Reziprozität hoffentlich klarer. Und zumindest auf den ersten Blick scheint die proportionale Reziprozität ziemlich genau das zu sein, was die unaufgelösten Schwierigkeiten um die Strafe und die Vereinigung von distributiver und reziproker Gerechtigkeit im fünften Buch der „Nikomachischen Ethik“ aus dem Wege räumen könnte.
8 Vgl. Platon Leg. 857a-b, zum römischen Recht Liebs 1993, 190 f., im babylonischen Codex Hammurabi §§ 101, 120, 124, 126, 160 f., alttestamentarisch z. B. Ex. 22.3.
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7. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: Bestrafung
7.7 Das Problem proportional-reziproker Belohnung Allerdings sticht selbst bei unserem momentan vorwiegend an der Struktur der proportional-reziproken Norm orientierten Diskussionsstand sogleich ein theoretischer Mangel ins Auge. Die proportionale Reziprozität kann gerechtes Handeln und die Bestrafung ungerechten Handelns soweit ja erst einmal gut erklären. Das heißt, wie ein Rechtssubjekt sein Verdienst bewahrt oder vermin‑ dert, ist durch die Norm geregelt – wie aber kann ein Rechtssubjekt sein Verdienst erhöhen? Anders ausgedrückt: wie wird eine Belohnung für gute Taten in diesem Konzept erfasst?9 Die Antwort auf diese Frage hat zwei Hälften, deren erste, defensive, wir sogleich geben werden. Die zweite, konstruktive, können wir erst nach dem folgenden, historischen Kapitel liefern. Die erste Antwort besagt, dass auch ohne eine Möglichkeit, sein Verdienst aktiv zu steigern, der relative Anspruch auf Begüterung für ein Rechtssubjekt passiv steigen kann. Wenn andere Rechtssubjekte ihr Verdienst durch entsprechend sanktioniertes Handeln reduzieren („Verdienst-Deflation“) oder aus natürlichen Gründen die Gesamtbegüterung anwächst („Güter-Inflation“), kann einem Rechtssubjekt bei unveränderten Verdiensteinheiten dennoch zunehmend mehr Begüterung moralisch zustehen. Der Güterwert seines Verdiensts steigt durch beide genannten Mechanismen, weil sie das Verhältnis von Gesamtbegüterung zu Gesamtverdienst in einer für das betreffende Rechtssubjekt vorteilhaften Weise verändern. Allerdings ist zu bezweifeln, ob dieser unbestritten wirksame Mechanismus ausreichend effektiv ist. Außerdem ist es jedenfalls kontraintuitiv, dass niemand aktiv sein Verdienst steigern kann. Wir kommen daher, wie gesagt, später noch einmal darauf zurück und werden das Sanktionsprinzip entsprechend erweitern müssen, um dem Phänomen der Belohnung gerecht zu werden. Zuvor schauen wir aber überblicksweise auf eine lange, bewegte Epoche der mittelalterlichen Ideengeschichte, die sich dem Problem der Belohnung aus distributiv-gerechter Perspektive moraltheologisch widmete.
9 Der Common-Sense-Philosoph Thomas Reid sah indes die Ausrichtung auf die Vermeidung von illegitimen Schädigungen und damit negativem Verdienst als Kerneigenschaft der Gerechtigkeit an; Reid 1788, 345; ähnlich z. B. auch Schopenhauer 1840, 252–65.
8. Supererogation und Sündenablass Belohnung ist nicht ohne weiteres in die proportionale Reziprozität zu integrieren. Welche Ansätze bietet die philosophische Tradition bezüglich der Belohnung? Dieser ideengeschichtlichen Frage soll in diesem Kapitel nachgegangen werden. Sie ist eng mit dem philosophiegeschichtlichen Weiterleben und dann Absterben aristotelischer Gerechtigkeitskonzepte im Laufe des Mittelalters verbunden.
8.1 Eschatologie und Heiligkeit im frühen Christentum Wie wir noch sehen werden, gelangte im Mittelalter die maßgebliche Alternative zur proportionalen Reziprozität als Gerechtigkeitsnorm zum Durchbruch, nämlich der voluntaristische Ansatz. Diesen werden wir ab dem übernächsten Kapitel in seiner Genese und seinen Spielarten näher beleuchten. Die distributive Gerechtigkeit wurde infolgedessen in der mittelalterlichen Philosophie weitgehend verabschiedet und die Reziprozität erfuhr eine erhebliche Umdeutung. In mindestens einem Punkt griff die mittelalterliche Debatte aber weiterhin in faszinierender Weise auf die distributive Gerechtigkeit zurück und zwar bei der kirchlichen Ablasslehre. Und diese sollten wir uns näher ansehen. Zu ihrem Verständnis, muss zunächst eine für unsere Zwecke höchst interessante ethische Grundlage derselben präsentiert werden, nämlich die Lehre von den superogatorischen Taten und deren Hintergrund. Mit der Verbreitung des Christentums als dominanter Religion ergaben sich nämlich erhebliche moralphilosophische Verschiebungen gegenüber der griechischen Antike. Wir kommen darauf später noch eingehender zu sprechen. Für den Augenblick sind jedoch zwei Aspekte dieses Übergangs besonders relevant. Der erste Aspekt betrifft die Eschatologie. Durchaus in Anknüpfung an die entsprechenden Vorstellungen der alten Kulturen des östlichen Mittelmeerraums (s. o. 5.3) enthielt das frühe Christentum – neben der hebräisch inspirierten Idee einer Wiederauferstehung zum Jüngsten Gericht – das Konstrukt eines Nachlebens nach dem Tode in Himmel und Hölle, mit Belohnung und Bestrafung der irdischen Taten (s. u. 8.4). Hierfür war wiederum eine Lehre erforderlich, welche die angemessenen Belohnungen und Bestrafungen erklärt. Die distributive Gerechtigkeit war in dieser Hinsicht ein historisch prominentes
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8. Supererogation und Sündenablass
Modell. Während sie jedoch Bestrafungen recht gut erklären kann, ergab sich unverändert das Problem der Belohnung, das wir bei der systematischen Analyse der proportionalen Reziprozität bereits kennenlernten: wie sollte ein Mehr an jenseitiger Seligkeit begründet und bemessen werden? Der zweite Aspekt des Übergangs von der heidnischen Antike zum Christentum hängt aufs Engste mit dem ersten zusammen. In der antiken Ethik war die menschliche Tugend durchaus als graduell unterschiedlich gefasst. Für den Bereich der Gerechtigkeit war vollkommene Tugend im Geiste des Aristoteles demgemäß als eine Haltung zu verstehen, welche die distributive Gerechtigkeit perfekt verwirklicht. Mehr als das moralisch optimale Handeln war jedoch nicht möglich. Im Christentum erblühten demgegenüber von früh an Vorstellungen von Askese (z. B. Armut, Zölibat), Martyrium und Heiligkeit, als persönlichen Haltungen, Handlungsweisen und Eigenschaften, die eine Tugend über das vom normalen Menschen zu fordernde Maß hinaus darstellten und würdigten. Es ergab sich infolgedessen das Erfordernis, ein damit einhergehendes, außerordentliches und moralisch wertvolles Handeln moralphilosophisch zu erfassen. Um die theoretische Reaktion auf dieses Erfordernis zu verstehen, müssen wir einen weiten Schritt zurückgehen und Marcus Tullius Ciceros im Rom des letzten vorchristlichen Jahrhunderts formulierte Gerechtigkeitstheorie untersuchen, die Grundlage dieser späteren Konzepte war.
8.2 Die ciceronische Wende In seiner 44 v. Chr., ca. ein Jahr vor seiner Ermordung, verfassten Schrift zu den Moralpflichten, „De officiis“, bekannte sich der in der griechischen Philosophie sehr bewanderte Cicero zunächst ganz traditionsgemäß zu den vier platonischen Kardinaltugenden: Mut, Weisheit, Mäßigung und Gerechtigkeit.1 Die Gerechtig‑ keit im weiteren Sinne bzw. das Ehrenhafte („honestum“), teilte Cicero dann in zwei Bereiche ein: die vorrangige Gerechtigkeit im engeren Sinne („iustitia“) und die nachrangige Wohltätigkeit („beneficentia“).2 Die Gerechtigkeit im engeren Sinne definierte Cicero gemäß der Suumcuique-Tradition und im Einklang mit dem römischen Recht3, als Jedem das Seine gebend.4 Cicero nahm allerdings in „De officiis“ eine wichtige Umdeutung der Suum-cuique-Tradition vor, indem er diese mit zwei konkreten moralischen Pflichten identifizierte, nämlich einem bedingten Schädigungsverbot und einem Gebot der Eigentumswahrung.5 Und diese ciceronische Unterscheidung hatte Off. I.15 ff. Off. I.20. 3 Vgl. D.1.1.1. bzw. Inst.1.1. 4 S. z. B. Cicero Rep. III.7, III.11, III.15, ders. Leg. I.19; vgl. Gellius Noc. XIII.24.1. 5 S. Cicero Off. I.20. 1 S. Cicero 2 S. Cicero
8.2 Die ciceronische Wende
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Nachwirkungen bis ins spätere römische Recht, dokumentiert in der sogenannten Ulpian’schen Trias: „Ius praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laede‑ re, suum cuique tribuere“, also in etwa: „Die Vorschriften des Rechts sind diese: ehrenhaft leben, niemand anderes verletzen, jedem das Seine gewähren“.6 Das bedingte Schädigungsverbot bei Cicero besagt, dass niemand einen Anderen verletzen darf, es sei denn, der Andere hat die Verletzung durch ein begangenes Unrecht „herausgefordert“. Man kann diese Norm als einen Ausdruck von moralischer Reziprozität deuten. Das von ihm – vermutlich im Hinblick auf das diesbezüglich reich differenzierte römische Recht – nicht im Detail entfaltete Gebot der Eigentumswahrung sah Cicero als letzten Endes durch Ver‑ trag begründet an.7 Mit diesem Normenpaar der Gerechtigkeit stand Cicero somit fest auf dem Boden des römischen Zivilrechts, das als Grundlage von Verpflichtungen („Obligationen“) letztlich ebenfalls nur Delikt (Schädigung) und Vertrag anerkannte.8 Weniger direkt römisch-zivilrechtlichen Ursprungs war indes die zweite cice ronische Grundnorm der Wohltätigkeit. Diese verstand unter Wohltaten Handlungen, die drei Bedingungen genügen müssen9: die ersten beiden sind die Beachtung faktisch erzielter Effekte auf die Rezipienten einer Wohltat sowie die tatsächlich vorhandene Möglichkeit zur Wohltätigkeit. Die dritte Bedingung ist indes die ethikhistorisch vielleicht überraschendste: Wohltätigkeit soll Cicero zufolge nämlich proportional zum persönlichen Verdienst bzw. der persönlichen Würdigkeit (dignitas) gewährt werden. Cicero erklärte dazu: „… denn das ist die Grundlage der Gerechtigkeit, worauf alles zu beziehen ist“.10 Andernorts führte er im gleichen Geiste aus, dass Gleichmäßigkeit („aequabilitas“) unbillig („iniqua“) wird, wenn sie keine Stufen der Würde beachtet.11 Die Würdigkeit bzw. das Verdienst sah Cicero vor allem als durch Lebenswandel und Einstellung gegenüber anderen Menschen bedingt an.12 Rechtshistorisch gedeutet bezog sich Ciceros Gerechtigkeit im engeren Sinne offenbar auf das klar verbindliche Zivilrecht, während die Wohltätigkeit sich auf optionale, modifizierende rechtliche Erwägungen („aequitas“, Billigkeit)
6 D.1.1.10, Inst.1.1.3; Domitius Ulpianus war ein bedeutender römischer Rechtsgelehrter des späten zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, auf den viele Digestenstellen zurückgeführt werden. Leibniz Naturrecht, 79–83, hat die Ulpian’sche Trias bereits im 17. Jhrdt. sogar direkt auf Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie bezogen; vgl. Del Vecchio 1953, 25f; Schnepf 2004. 7 S. Cicero Off. I.21 ff. 8 S. Gaius Inst. 3.88; vgl. Honsell 1994, 186–9, Kaser & Knütel 2008, 208 f.; Quasi-Kontrakte und Quasi-Delikte seien hier ignoriert. 9 S. Cicero Off. I.42. 10 Cicero Off. I.42, 43, übers. M. H. 11 Cicero Rep. I.27, 135; vgl. Fantham 1973. 12 Cicero Off. I.45
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8. Supererogation und Sündenablass
bezog, wie sie vor allem durch das Honorarrecht des Prätors in rechtliche Entscheidungen einfließen konnten.13 Viel wichtiger für uns ist jedoch die philosophiehistorische Einordnung. In Ciceros Gerechtigkeitsdualismus läßt sich nämlich unschwer ein theoretischer Nachfahre von Aristoteles’ Gerechtigkeitskonzept erkennen. Ciceros Gerechtigkeit im engeren Sinne entsprach grob Aristoteles’ korrektiver Gerechtigkeit und Ciceros Wohltätigkeit Aristoteles’ distributiver Gerechtigkeit. Unterstützt wird eine solche Deutung noch durch Aristoteles’ Unterscheidung von freiwilliger und unfreiwilliger korrektiver Gerechtigkeit, die ersichtlich mit Ciceros Unterscheidung von Vertrag und Schädigung innerhalb der Gerechtigkeit im engeren Sinne korreliert.14 Das eigentlich Entscheidende hierbei ist jedoch Ciceros gegenüber Aristoteles umgekehrte Priorisierung: für ihn war die distributive Gerechtigkeit (bzw. Wohltätigkeit) eine nachrangige, in ihrer Ausführung dem Normadressaten ins Belieben gestellte Norm, während die korrektive Gerechtigkeit (bzw. Gerechtigkeit im engeren Sinne) vorrangig und streng verbindlich war. Gerechtigkeit ist für Cicero also moralisch verpflichtend, Wohltätigkeit lediglich löblich.15 Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie wurde so von den Füßen auf den Kopf gestellt. Ideengeschichtlich war damit ein ausschlaggebender Schritt zur Abkehr von ihr und folglich weg von der Entwicklung einer proportionalen Reziprozität getan. Dazu später mehr. In der frühen Aufklärung war Ciceros Lehre dann vor allem für den kleineren, nicht primär kontraktualistischen Teil der Naturrechtstheorie prägend, wie man gut an Leibniz’ stark ciceronianisch gefärbter Gerechtigkeitstheorie ablesen kann.16 Diesen Aspekt können wir hier indes nicht weiter verfolgen. Darüber hinaus stellte Ciceros Gerechtigkeitsdualismus ein geeignetes formales Gerüst für die sogenannte Supererogation bereit, also über die Pflicht hinausgehende gute Taten. Ciceros Gerechtigkeit im weiten Sinne bestand nämlich in formal-deontischer Hinsicht aus zwei strikt priorisierten Normen, von denen eine bestimmte Verhaltensweisen vorschreibt und die andere solche lediglich anrät. Die erste ist zwingend zu befolgen, bei der zweiten ist dies ins Belieben des Akteurs gestellt. In der römischen Rechtskultur wurde dementsprechend zwischen Gebot („praeceptum“) und Rat („consilium“) unterschieden.17 Und diese 13 S. Maine 1861, 42–69, Liebs 1993, 37–41, Stein 1996, 28 ff., Wesel 1997, 211 f., Kunkel & Schermaier 2005, 94–119, Kaser & Knütel 2008, 22–36; vgl. Aristoteles EN V.14, Cicero Off. I.31 f. 14 Aristoteles EN 1131a. Zum griechisch-philosophischen Einfluss auf das römische Recht s. Coing 1952, Del Vecchio 1953, 55 f., 72–6, Kunkel & Schermaier 2005, 130–7, Petrak 2014. 15 Vgl. Nussbaum 2000, Fleischacker 2004, 20 f. 16 Leibniz Naturrecht, bes. 79 ff.; Übersichten: Schneider 1967, 341–420, Busche 2015. Z. B. Humes reife Gerechtigkeitstheorie ist ebenfalls unverkennbar stark ciceronisch inspiriert, s. ders. 1751, 94–125. Allgemein zu Ciceros Einfluss auf die Aufklärung s. z. B. Gawlik 1963, Fox 2013. 17 S. Hruschka 1998, 95.
8.3 Christliche Philosophie und supererogatorische Werke
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formal-deontische Struktur konnte im vierten nachchristlichen Jahrhundert der Mailänder Bischof Ambrosius zur Erhellung der Idee von moralisch außerordentlichen Taten nutzen.
8.3 Christliche Philosophie und supererogatorische Werke Der stark von Cicero beeinflusste Ambrosius mobilisierte mithin die Unter scheidung zwischen zwei Normentypen, Gebot und Rat, um theoretischen Raum für supererogatorische Werke zu schaffen.18 Handlungen sind supererogatorisch, wenn sie drei Bedingungen erfüllen: 1. Die Handlung ist moralisch rein erlaubt, also nicht geboten und nicht verboten. 2. Die Unterlassung der Handlung ist nicht sträflich oder schändlich. 3. Der Vollzug der Handlung ist verdienstlich. Zur Erläuterung kann man auf eine in diesem Kontext meist verwendete biblische Geschichte aus dem Matthäus-Evangelium zurückgreifen. Dort wurde Jesus gefragt, was jemand tun muss, um das ewige Leben zu erlangen. Jesus antwortete: „Wenn du aber das Leben erlangen willst, halte die Gebote!“.19 Gemeint waren die zehn Gebote als verpflichtende Vorschriften.20 Jesus setzte dann jedoch auf Nachfrage hinzu: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben …“.21 Dies kann als Rat zu einem nicht gebotenen, aber höchst löblichen Handeln verstanden werden. Gehorsam gegenüber dem Dekalog – so diese Interpretation – ist demnach strikt geboten, die beschriebene weitreichende Barmherzigkeit hingegen geht über das Gebotene hinaus, sie ist daher lediglich angeraten, nicht streng verpflichtend. Des Weiteren wurde das Konzept des Supererogatorischen auf Jesu Gleichnis vom Barmherzigen Samariter zurückgeführt. Hier kommt der Aspekt des über das Gebotene hinaus gehenden Guten zum Tragen. In dieser bekannten Geschichte findet ein Samariter einen ausgeraubten, verletzten und hilflosen Mann. Der Samariter versorgt dessen Wunden und bringt ihn zu einem Wirtshaus. Dem Wirt gibt er zwei Denare und spricht zu ihm: „Sorge für ihn, wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.“22 In der Ambrosius damals vorliegenden lateinischen Bibel des vierten nachchristlichen Jahrhunderts wurde das „mehr brauchen“ als „mehr für ihn tun“ gedeutet und mit dem Verb „supererogare“ wiedergegeben, das „mehr bezahlen als angemessen“ bedeutete.23 Die supererogatorische Tat wird vom Wirt erwartet, der ggf. den 18 S. Heyd
1982, 15–34, Hruschka 1998; vgl. Dassmann 2004, 222 f., 161–74. 19.17 20 Vom mosaischen Dekalog, Ex. 20.1–21, zitierte Jesus in diesem Kontext fünf Regeln, Mt. 19.18 f.; vgl. Troeltsch 1912, Bd. 1, 259–64. 21 Mt. 19.21 22 Lk. 10.35 23 S. Hruschka 1998, 94. 19 Mt.
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8. Supererogation und Sündenablass
Verletzten über die Bezahlung hinaus versorgen muss.24 Für den Wirt erwächst daraus eine Belohnung bei Wiederkehr des Auftraggebers. Vor allem durch Ambrosius’ Erörterungen in diesem thematischen Zusammenhang wurde der Begriff der Supererogation in das über die Pflicht hinaus gehende gute Handeln gewandelt. In der Zusammenschau eröffnete Ambrosius’ Werk die Möglichkeit einer Sichtweise, nach der es einerseits moralische Gebote gibt – im wesentlichen im mosaischen Dekalog zusammengefasst –, deren Befolgung verpflichtend ist und deren Verletzung mit negativen Sanktionen beantwortet wird. Andererseits gibt es Ratschläge für moralisch vortreffliches Handeln, deren Befolgung positiv sanktioniert wird, deren Nichtbefolgung indes nicht verwerflich oder sträflich ist. Die Sanktionsinstanz war natürlich Gott. Eben diese Sichtweise wurde in der weiteren scholastischen Debatte verfeinert und gepflegt. Besonders einflussreich arbeitete Thomas von Aquin im dreizehnten Jahrhundert die Lehre von den supererogatorischen Werken weiter aus.25 Sie wurde infolge seiner überragenden Bedeutung zu einer herrschenden Doktrin in der römisch-katholischen Kirche, wobei die Trennung von Obligation und Supererogation weder bei Thomas noch später eindeutig auf konkrete moralische Normen des menschlichen Lebens angewandt wurde. Thomas betonte grundsätzlich den Aspekt der Freiheit: Während Verpflichtungen den Adressaten zwingen, das Gebotene zu tun, so lassen Ratschläge ihm die Wahlfreiheit. Das erste wurde mit dem Ethos des Alten Testaments, das zweite mit dem des Neuen Testaments verknüpft. Belohnung versprach indes nur ein supererogatorisches Handeln; pflichtgemäßes Handeln sicherte lediglich Straffreiheit. Eine Quantifizierung der jenseitigen Belohnung gemäß distributiver Gerechtigkeit sah Thomas indes – im Geiste des Augustinus’ (vgl. 10.4) – als unangemessen an.26 Mit der Konzeption der Supererogation war ein entscheidender Schritt getan. Zwar war die Idee einer jenseitigen Belohnung guter Werke für normale Gläubige bereits aus ganz anderen Gründen lange vor dem Hochmittelalter in Misskredit geraten (s. u. 10.4), aber zumindest die positiven Verdienste der Heiligen konnten in dieser theoretischen Struktur gut erfasst werden: Heilige hielten sich eben nicht nur an die dekalogisch-moralischen Gebote, sondern befolgten darüberhinaus den Ratschlag Jesu zur vollkommenen, altruistisch geprägten Askese. Damit war ihnen eine jenseitige Belohnung sicher, die von Jesus als „bleibender Schatz im Himmel“ bezeichnet wurde. Hieraus ergab sich eine elegante Möglichkeit, in Form des Sündenablasses trotz allem Einfluss auf die himmlische Seligkeit zu nehmen. 24 Manchmal wird heutzutage auch die Barmherzigkeit des Samariters als das Supererogatorische gedeutet, s. Heyd 1982, 17. 25 Zum Folgenden s. Heyd 1982, 20–26. 26 S. Thomas S. Theol. II.I.114.1.
8.4 Glanz und Elend des Ablasses
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8.4 Glanz und Elend des Ablasses Der Ablass („indulgentia“) ist einer der bemerkenswertesten Bräuche der Kirchengeschichte.27 Grundsätzlich besteht der Ablass in einer Verringerung jenseitiger Strafe durch die Kirche für den Vollzug einer Bußhandlung oder Geldzahlung durch den Sünder. Der Ablass setzt außer dem Konzept der Supererogation noch zwei weitere ideengeschichtliche Entwicklungen voraus, eine betrifft die Struktur der jenseitigen Welt, die andere betrifft die kirchliche Verfügungsgewalt über die Verdienste der Heiligen. Beginnen wir mit der ersten Entwicklung.28 Im frühen Christentum war das Jenseits noch zweigeteilt: die Hölle für die Bösen, der Himmel für die Guten. Seligkeit und Verdammung währen dort ewig.29 Nach verschiedene Vorläuferideen wurde im zwölften Jahrhundert, insbesondere von Petrus Cantor und Simon von Tournai ausgeführt, ein dreigeteiltes Jenseits konzipiert. Himmel und Hölle wurden um das Fegefeuer („purgatorium“) ergänzt. Diese dreiteilige Jenseitsstruktur setzte sich im Verlauf der nächsten hundert Jahre in der christlichen Theologie allgemein durch. Im dreigeteilten Jenseits kamen von keiner Sünde befleckte Menschen direkt in den Himmel. Menschen, die kleinere, lässliche Sünden begangen hatten, blieben vor ihrem Himmelseintritt für eine gewisse Zeit im Fegefeuer. Und schwere Sünder, Todsünder, wanderten direkt in die Hölle. Da vermutlich fast jeder Mensch im Laufe seines Lebens lässliche Sünden begeht, verbreitete sich die Vorstellung, dass nahezu Jeder vor Eintritt in den Himmel erst eine gewisse Zeit im Fegefeuer abzubüßen hätte. Die zweite ideengeschichtliche Entwicklung können wir direkt mit der Entstehung des Ablasses zusammen verfolgen. Eine Vorstufe zum Ablass war die Einführung der individuellen Beichte mit einer an eine nichtöffentliche Buße gekoppelten Absolution durch irische Mönche vom sechsten Jahrhundert an. Die – wohl durch germanische Rechtsbräuche beeinflusste30 – Idee, durch klar bemessene irdische Bußhandlungen („Tarifbuße“) drohende jenseitige Strafen teilweise abzutragen, hielt mit diesem Verfahren Einzug in die gesamte Christenheit. Im elften Jahrhundert breitete sich dann über die Bischöfe und Päpste die kirchliche Praxis des Ablasses aus; die theologische Theorie hinkte dieser faktischen Entwicklung hinterher. Ein wichtiger sozialer Auslöser der Ablasseinführung waren die Kreuzzüge, für die Teilnehmer gewonnen werden mussten und die es zu finanzieren galt. Den Gläubigen wurde für eine aktive Teilnahme am Kreuzzug von der Kirche demgemäß ein Sündenerlass gewährt. Parallel wurden im Anschluss daran aber auch Geldzahlungen als entsündigendes Sub27 Zum
Folgenden detailliert Paulus 2000, knapper: Schirrmacher 2012. zum Folgenden Le Goff 1984, Schirrmacher 2012, 60–65. 29 Vgl. Lang 2009, 25–56. 30 S. Paulus 2000, Bd. 1, 9 f.; vgl. Schmidt 1983, 25 ff., Kroeschell 1999, 39 ff. 28 S.
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8. Supererogation und Sündenablass
stitut des persönlichen Engagements akzeptiert. Und damit war de facto der Ablass entstanden.31 In der Theorie verfestigten verschiedene Autoren bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts – zum Beispiel Albertus Magnus, Hugo von St. Cher oder Bonaventura – die Idee, dass die Heiligen mit ihren supererogatorischen Taten mehr Verdienst erworben oder produziert hätten, als sie selbst in Form von Seligkeit gleichsam verbraucht hätten.32 Dieser Verdienstmehrwert sei in den Besitz des Papstes als irdischem Stellvertreter Gottes übergegangen; es sei ein Kirchen‑ oder Gnadenschatz („thesaurus ecclesiae“).33 Den Ablass, also die Minderung jenseitiger Strafe, könne der Papst mit Hilfe dieses Verdienstschatzes ermöglichen. Im Grunde gibt der Papst von Heiligen erschaffenes, an die Kirche weiterveräußertes Verdienst an den ablasszahlenden Gläubigen weiter. Dadurch wird dessen Fegefeuerstrafe verkürzt oder sogar aufgehoben. Auch für bereits Verstorbene wurde nach anfänglicher Kritik – zum Beispiel durch Hugo von St. Cher – die Ablasszahlung ermöglicht und für legitim erachtet, etwa von Raimund von Pellafort. Thomas von Aquin schließlich verlieh auch diesem theologischen Lehrstück seine überdauernde Form.34 Er begrenzte die eigentliche Ablassbefugnis auf den Papst, während zuvor gelegentlich auch Bischöfe oder gar Pfarrer als aus eigener Befugnis berechtigt angesehen wurden. Die päpstliche Vollmacht sicherte aber keine Proportionalität zwischen Zahlungshöhe und Maß des Sündenerlasses zu, wie Thomas ja ohnehin die distributive Gerechtigkeit für jenseitige Sanktionen zurückwies. Allerdings betonte Thomas, dass aufgrund unserer Sündigkeit im Jenseits jedermann mehr oder weniger auf fremde Verdienste angewiesen sei. Dies ist die zweite ideengeschichtliche Voraussetzung des Ablasses: der Gedanke, moralisches Verdienst könne weiterveräußert, sozusagen gehandelt, werden. Eine Person kann so ohne eigenes moralisches Tun moralisches Verdienst käuflich erwerben. Oder eine Person mit hohem Verdienst kann Teile dessen für eine Gegenleistung weitergeben. Hier drängt sich sogleich eine Analogie von Verdienst und Geld auf, die sich als höchst problematisch erweisen sollte. Moralisches Verdienst in dieser Form veräußerlich zu machen, verstößt ganz klar gegen den Geist der proportionalen Reziprozität, die Erwerb, Beibehaltung und Verlust von Verdienst an die Moralität des Handelns einer Person bindet. Einige Scholastiker haben diese sich aufdrängende Kritik durch die Formel abmildern wollen, nicht die Schuld, sondern nur die Strafe würde infolge des Ablasses vermindert, was die Kritik jedoch ganz offensichtlich nicht wirksam entkräften kann. 31 Vgl.
Zippelius 1997, 76 ff. 2000, Bd. 1, 188–230. 33 S. Paulus 2000, Bd. 2, 141–58, Schirrmacher 2012, 65 ff. 34 S. Paulus 2000, Bd. 1, 205–17. 32 S. Paulus
8.4 Glanz und Elend des Ablasses
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Der Niedergang des Ablasses in der Reformationszeit ist allgemein bekannt.35 Er begann der Überlieferung nach am 31. 10. 1517 mit dem – historisch nicht verbürgten – Anschlag der 95 Thesen von Martin Luther an der Wittenberger Schlosskirche36, die den volkstümlichen Spottvers zitierten: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt.“37 Die Reformatoren, Luther und Jean Calvin allen voran, beanstandeten unter anderem den nichtbiblischen Charakter der gesamten Ablass-Praxis und der Lehre vom Kirchenschatz, besonders auf Grundlage der uns später noch begegnenden Augustinischen Gnadenlehre.38 Die dogmatisch gut begründete reformierte Kritik kulminierte in einer fundamentalen Papstkritik, die so am Anfang noch gar nicht absehbar war. Die Kirche reagierte mit der päpstlichen Bulle von 1518 und dem berühmten Konzil von Trient (1545–63), wo der Ablass im wesentlichen bekräftigt wurde.39 Nichtsdestoweniger kam es von diesem Problem ausgehend zur bis heute bestehenden Kirchenspaltung und der Ablass verlor auch in der katholischen Kirche immens an praktischer Bedeutung. Was blieb von diesen mittelalterlichen Debatten über Verdienst, Heiligkeit, Normentypen, Belohnung und Veräußerbarkeit nach dem Niedergang des Ablasses in systematischer Hinsicht hängen? Die ciceronische Pflichtenteilung fand ihren Weg in die moderne Naturrechtstheorie der Aufklärungszeit mit ihrem ubiquitären Dualismus von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten, verlor sich dann jedoch im neunzehnten Jahrhundert.40 Die Idee der Supererogation verschwand bereits nach der Reformation im sechzehnten Jahrhundert gemeinsam mit dem Ablass und seiner Idee eines frei veräußerlichen Verdiensts von der moralphilosophischen Bildfläche. Ein weiterreichender Effekt war die theoretische Diskreditierung verdienstorientierter Gerechtigkeit, die von da an mit als korrumpierend erlebten moralisch-religiösen Praktiken assoziiert wurde.41 Erst die analytische Philosophie des 20. Jhrdts. entdeckte die Supererogation wieder.42 Für das Problem der Belohnung ergeben sich aus den skizzierten historischen Trends indes zwei interessante Lösungsansätze, die wir im nächsten Kapitel erörtern wollen.
35 S.
z. B. Franzen 2000, 244–319, Zippelius 1997, 76–87. 2005, 30–6. 37 Luther Thesen Th. 27 38 S. Luther Thesen, Troeltsch 1912, Bd. 2, 434–48, Hägglund 1997, 160–91, Lohse 1997, 58– 65, Böckenförde 2002, 371–402, Decot 2005, 11–75, Schirrmacher 2012, 77–89. 39 S. Schirrmacher, 89–98. 40 S. Kersting 1982, Hruschka 1998; vollkommene Pflichten gehen im Gegensatz zu unvollkommenen Pflichten mit einem moralischen Erfüllungsrecht des Pflichtbegünstigten einher. 41 Vgl. Paulus 2000, Bd. 3, 395–420. 42 S. z. B. Urmson 1958, Heyd 1982, Wolf 1982, McNamara 1996, Zimmerman 1996, 232–53. 36 S. Decot
9. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: Belohnung In der moralphilosophischen Tradition findet sich nach den Erörterungen des letzten Kapitels kein geschlossenes Konzept proportional-reziproker Belohnung, wenngleich manche Anregung gegeben wurde. Ohne indes Belohnung adäquat erklären zu können, würde die proportionale Reziprozität als Gerechtigkeitsnorm eine gravierende systematische Lücke aufweisen. Daher müssen wir in diesem Kapitel entsprechende Möglichkeiten prüfen und die Norm der proportionalen Reziprozität diesbezüglich konstruktiv weiterentwickeln.
9.1 Das Problem der Belohnung und seine Lösung Das Problem der Belohnung ergibt sich für die proportionale Reziprozität daraus, dass diese Moralnorm bis jetzt lediglich einen Mechanismus für die aktive Ver‑ minderung des persönlichen Verdiensts vorlegt, nämlich durch selbstbestimmtungerechte Handlungen. Ein proportional-reziproker Weg zur aktiven Erhö‑ hung des eigenen Verdiensts ist dem Akteur bisher noch nicht aufgezeigt. Ein möglicherweise steigender Güteranspruch als Resultat einer passiv erfolgenden, relativen Verdienstwertsteigerung einer Person durch entsprechende verdienstmindernde Handlungen anderer Normadressaten oder steigende Gesamtbegüterung kann diese Lücke nicht vollends befriedigend schließen. Aus der im vorigen Kapitel beschriebenen Tradition lassen sich zwei mögliche Lösungen für das Problem der Belohnung herauslesen. Die beiden gehen von einer jeweils besonderen Deutung supererogatorischer Taten aus. Die erste Variante konzentriert sich auf die Art des Handlungsvollzugs durch den Normadressaten, indem sie dessen Mühe oder Anstrengung in den Vordergrund stellt. Wir nennen es Prinzip des Mühelohns. Die zweite Variante hebt auf das erzielte Handlungsergebnis bezüglich des Gemeinwohls ab. Wir nennen es Prinzip der Wohltätigkeit. Ideengeschichtlich leitet sich das Prinzip des Mühelohns aus der Vorstellung der außerordentlichen Leistungen der Heiligen ab, die durch heroischen Verzicht – auf alle möglichen weltlichen Güter oder gar das eigenen Leben – sich außerordentliches Verdienst erworben haben. Das Prinzip der Wohltätigkeit ist hingegen durch die ciceronische Konzeption einer moralisch rein optionalen
9.2 Das Prinzip des Mühelohns
91
Sekundärnorm geprägt. Dabei wird die Erreichung der Gerechtigkeit als unbedingt verpflichtendes moralisches Ziel angesehen, aber dem Handelnden an geraten, innerhalb der realisierbaren gerechten Verteilungen eine optimale auszuwählen. Falls der Akteur gegen die Gerechtigkeit verstößt, büßt er Verdienst ein; wenn er der Gerechtigkeit gehorcht, bleibt sein Verdienst unangetastet. Falls er aber unter den gerechten Verteilungen eine gemäß Sekundärnorm optimale realisiert, dann gewinnt er Verdienst. Die beiden Prinzipien bzw. die sehr verschiedenen Ansätze, die beiden zugrunde liegen, werden in der aktuellen Debatte zur Supererogation übrigens selten systematisch voneinander geschieden. Umso lehrreicher wird eine konstruktive Analyse beider Prinzipien sein.
9.2 Das Prinzip des Mühelohns Die Grundidee des Prinzips des Mühelohns besagt, dass ein Normadressat, der eine gerechte Güterverteilung unter äußersten Mühen erzeugt, moralisches Verdienst erwirbt. Die Mühe oder Anstrengung lässt sich als Überwindung innerer Widerstände oder Versuchungen, wie Angst, Ekel, Wut oder auch Hunger, Durst oder Schmerzen, deuten.1 Insofern die Überwindung derartiger innerer Widerstände motivational so schwierig ist, dass nur wenige Menschen sie bewerkstelligen können, liegt ein Fall von Mühe im relevanten Sinne vor. Moralisch gebotenes Handeln geht nämlich selbstverständlich häufig mit Anstrengung einher. Eine wichtige Unterscheidung jedoch ist die zwischen normal zumut‑ barer Anstrengung, die von jedem Normadressaten unter Drohung der Verdienstminderung gefordert wird, und außerordentlicher Anstrengung, die infolge der Ausübungserschwernis verdienstlich ist, deren Unterbleiben aber nicht negativ sanktioniert wird. Nur die zweite Art von Anstrengung ist Mühe im für die proportionale Reziprozität relevanten Sinne. Mühe allein genügt aber nicht. Das durch die mühevolle Handlung erzielte Ergebnis muss eine Belohnung rechtfertigen. Das bedeutet, dass durch die Mühe eine gerechtere Güterverteilung erreicht wird als mit einer müheloseren Handlung. Ein Normadressat der die gerechteste zumutbare Handlung vollzieht, erzeugt also eine Güterverteilung mit einem niedrigeren U-Wert, als der mühevoll handelnde Normadressat. Damit haben wir die beiden Versatzstücke für das Prinzip des Mühelohns schon zusammen. Wie sollen wir sie theoretisch erfassen? Ein erster Vorschlag wäre es, Mühe über die Zurechnung in unsere Norm zu integrieren. Man könnte mühevollen Handlungen einen erhöhten Zurechnungswert geben, also Z > 1. Das kommt der intuitiven Idee der relevanten Mühe in 1 Georg
Simmel 1892, 210–52, analysierte Verdiensterwerb in dieser Weise.
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9. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: Belohnung
manchem entgegen. Aus formalen Gründen erscheint der Vorschlag aber letzten Endes untauglich, da zum Beispiel bei vollkommener Gerechtigkeit der erzielten Güterverteilung, also einem U-Wert (dem Ungerechtigkeitmaß) von 0, keine positive Verdienständerung resultierte. Der alternative Vorschlag, dem wir hier folgen, nutzt den Gerechtigkeitsmehr‑ wert des mühevollen Handelns. Man kann zunächst den oben definierten UWert des praktisch möglichen, zumutbaren Handelns, Upragm, nehmen, und ihn vom U-Wert des mühevollen Handelns, Usuper, abziehen, woraus sich die gerechtigkeitsbezogene Effektstärke des mühevollen Handelns, Umehr, ergibt: Umehr = Usuper – Upragm
Wenn das mühevolle Handeln ein gerechteres Ergebnis zeitigt als das zumutbare Handeln, dann ist Umehr offenkundig negativ, andernfalls positiv. Infolgedessen kann Umehr – wie wir sehen werden – den verdienten Lohn für mühevolles gerechtes Handeln erklären. (So lässt sich obendrein eine härtere Strafe bei mühevollem ungerechten Handeln als Gegenstück besonderer Böswilligkeit erfassen.) Wie aber kann man den Gerechtigkeitsmehrwert in unser Sanktionsprinzip sinnvollerweise einfügen? Der nächstliegende Gedanke ist einfach die Subtraktion des Gerechtigkeitseffekts der Mühe in der Formel des bisherigen Sanktionsprinzips, das die Verdienständerung aus der Multiplikation der Parameter Zurechung, relevante Ungerechtigkeit und dem Quotienten von Gesamtverdienst und Gesamtbegüterung errechnet: dVr = (Zr x Urel x Vges / Bges) – Umehr
Wenn der selbstbestimmt gerecht handelnde Normadressat nach diesem Konzept die Wahl zwischen einem zumutbaren und mühevollen Tun hat, entsteht folgendes Bild. Aufgrund der geringstmöglichen Ungerechtigkeit der durch sein zumutbares Tun erzeugten Güterverteilung ergibt sich ein Wert von 0 für Urel. (Auch die zumutbare Handlung wird ja als gerecht bewertet.) Damit bestimmt ausschließlich der Umehr-Wert das Maß der Verdienständerung. Bei einer gerechten mühevollen Handlung ist der Verdienständerungswert negativ, was bedeutet, dass er bei seiner nach dem Sanktionsprinzip erfolgenden Subtraktion vom bestehenden Verdienst des Handelnden zum bestehenden Verdienst hinzuaddiert werden muss. (Umgekehrt bei einer ungerechten mühevollen Handlung, deren Bösartigkeit so zu einem höheren Verdienstabzug führt.) Und das ist genau das, was diese Formel leisten soll. Bevor wir uns dem Wohltätigkeitsprinzip widmen, sei die Funktion dieses Kalküls an einem Beispiel vorgeführt. Nehmen wir drei Personen (P1, P2, P3), von denen jede über ein Verdienst von 40 Einheiten und eine Begüterung von 20 Einheiten verfügt. Der Zustand ist folglich gerecht. Jetzt steht eine Entscheidungssituation an, bei der P1 entweder zumutbar gerecht oder mühevoll gerecht handeln kann. Nach der zumutbaren
9.2 Das Prinzip des Mühelohns
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Handlung verfügen P1 und P2 lediglich noch über 15 Gütereinheiten, während P3 auf 21 kommt. Es ergibt sich somit ein Wert für Ufakt von 4, der jedoch keine Verdienständerung nach sich zieht, da Upragm ja den gleichen Wert hat und damit Urel 0 beträgt. Mit der mühevollen Handlung kann P1 allerdings vollkommene Gerechtigkeit herstellen und alles gleichsam beim Alten lassen, so dass jede der drei Personen wieder auf 20 Gütereinheiten kommt. Demzufolge beträgt Usuper 0. Bei der Berechnung der gerechtigkeitsbezogenen Effektstärke des mühevollen Handelns resultiert demnach ein Wert von ‑4 für Umehr. Dem erweiterten Sanktionsprinzip zufolge wird also ein Wert von ‑4 vom Verdienst P1s abgezogen (d. h. 4 addiert), das somit auf 44 Verdiensteinheiten steigt. Nehmen wir an, P1 handelt in der mühevollen Weise. Dann entsteht die ursprüngliche Gleichverteilung neu. Aufgrund der geänderten Verdienste muss danach jedoch im nächsten Schritt eine erneute Umverteilung vorgenommen werden. Bei konstanter Gesamtbegüterung soll demnach P1 ca. 21,3 Gütereinheiten und die beiden anderen jeweils ca. 19,4 erhalten. Eleganter wäre ein Anstieg der Gesamtbegüterung um 4 Einheiten, die dann direkt an P1 gehen müssten. Und natürlich sind viele andere Verteilungen denkbar, die wir hier leider nicht systematisch durchspielen können. Mehr noch als bei der Strafe fällt beim Mühelohn auf, dass hier gewissermaßen Zug um Zug verfahren werden muss. P1 erzeugt eine gerechte Verteilung, die aber dank seiner mühevollen Erzeugungsarbeit schon wieder korrekturbedürftig ist. Man könnte in dieser Hinsicht eventuell argumentieren, dass P1 sogar in einem Zug die ihn belohnende Verteilung herstellen dürfte. Der Logik des Mühelohns entspricht allerdings besser das schrittweise Vorgehen, das wahrscheinlich auch dem Gesichtspunkt der Reziprozität angemessener ist. Kurz muss noch ein Problem dieses Ansatzes angesprochen werden. Da wir den Gerechtigkeitseffekt des mühevollen Handelns der Belohnungsberechnung zugrunde legen – so könnte man kritisieren –, erfassen wir nicht das eigentlich Entscheidende: die Mühe als subjektives Phänomen. Der Gerechtigkeitseffekt erfasst ja nicht das Ausmaß der Überwindung innerer Widerstände, sondern dessen äußeren Effekt. Dieser Einwand ist stichhaltig. Unser Ansatz geht jedoch von der stillschweigenden Annahme aus, dass mehr Mühe mehr Gerechtigkeit erzeugen kann und in der Regel auch erzeugt. Trifft diese Annahme zu, so ist der Gerechtigkeitseffekt ein akzeptables Maß der Mühe als subjektives Phänomen. Trifft sie nicht zu, so müsste man eventuell noch eine weitere Variable für die Mühe einführen, was wir hier nicht weiter vertiefen werden. Beim Mühelohn haben wir uns, wie erfolgreich auch immer, noch ganz im Rahmen der proportionalen Reziprozität bewegt. Bei der nächsten Interpretation von Supererogation stoßen wir indes auf ein ganz anderes moralisches Prinzip.
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9. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: Belohnung
9.3 Das Prinzip der Wohltätigkeit Die Grundidee des Prinzips der Wohltätigkeit besagt, dass ein Normadressat Verdienst erwirbt, wenn er unter den realisierbaren gerechten Güterverteilungen selbstbestimmt diejenige verwirklicht, welche die Gesamtbegüterung maximiert, also das Gemeinwohl optimal fördert. Es wird hier folglich von zwei Moralnormen ausgegangen.2 Die erste Moralnorm ist die der Gerechtigkeit gemäß proportionaler Reziprozität. Sie ist streng verpflichtend. Ihre Missachtung führt zu einer Verdienstminderung bzw. Bestrafung, wie oben dargelegt. Die zweite Moralnorm ist die der Wohltätigkeit, die gebietet, eine gerechte Güterverteilung mit der maximalen Gesamtbegüterung zu wählen. Sie ist allerdings optional, also ihre Missachtung führt zu keiner Verdienstminderung. Ihre Befolgung ist löblich, sie führt zu einer Verdienststeigerung.3 Man könnte die zweite Norm übrigens entgegen der ciceronischen Tradition auch voll verbindlich machen, wenn man sie lexikalisch der ersten nachordnet. Der Normadressat ist so gesehen verpflichtet, zunächst eine gerechte Verteilung zu wählen, von diesen gerechten Verteilungen dann jedoch die mit der maximalen Gesamtbegüterung. Diese Konstruktion lassen wir indes vorerst beiseite. Wie kann man die Wohltätigkeit bemessen und in das Sanktionsprinzip integrieren? Das entscheidende Element ist der Unterschied zwischen dem Niveau der durch das löbliche Handeln erzielten Gesamtbegüterung und dem Niveau der als Vergleich herangezogenen Gesamtbegüterung ohne löbliches Handeln. Der erste Wert ist noch recht eindeutig bestimmt – aber was misst der zweite? Die für den Normadressaten realisierbare gerechte Verteilung mit der niedrigsten möglichen Gesamtbegüterung? Oder die mit einer Gesamtbegüterung in Höhe der Ausgangssituation? Oder irgendeine andere suboptimale, gerechte Verteilung? Eine begründete Antwort darauf zu geben, ist nicht einfach. Nimmt man die gerechte Verteilung mit der niedrigstmöglichen Gesamtbegüterung als Vergleichsbasis, dann würde wahrscheinlich jedes Handeln verdienstlich, da es in kleinen Bezugspopulationen sehr oft eine gerechte, aber für alle schlechtere Verteilung geben mag. Nimmt man die aktuelle Gesamtbegüterung vor Durchführung der Handlung als Vergleichsbasis, so perpetuiert man möglicherweise irrational anmutend das Bestehende: falls eine gerechte Begüterungserhöhung für alle in zumutbarer Weise machbar ist, warum sollte der Normadressat diese unterlassen? Und warum sollte man ihn für ihre Verwirklichung eigens belohnen? Er würde ja in jedem Fall – proportioniert – von ihr
2 S. Zimmerman
1996, 244–48. das mit dem Rest seiner Theorie unverbundene Relikt einer solchen Struktur bei Kant MS 227 f. 3 Vgl.
9.4 Aktiver Verdiensterwerb
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profitieren. Weitere Möglichkeiten sind auch nicht ohne weiteres absehbar. Das Problem der angemessenen Vergleichsbasis bleibt mithin erst einmal ungelöst. Nehmen wir aber einmal an, es gäbe eine vernünftige Vergleichsbasis. Wie errechnete man dann sinnvollerweise den Verdienstzuwachs? Man könnte zunächst die Gesamtbegüterung der Vergleichsbasis, Bges-min, durch die Gesamtbegüterung der wohltätigen Güterverteilung, Bges-max, teilen und mit dem Verdienst des Handelnden, Vr, multiplizieren. Zieht man von diesem Wert das Verdienst des Handelnden ab, so hat man den proportionalen Mehrwert der wohltätigen Handlung in einer naheliegenden Weise quantifiziert, in der man ihn analog zum Mühelohn in die bekannte Sanktionsformel einfügen kann. Daraus resultiert die folgende, ziemlich unübersichtliche Gleichung: dVr = (Zr x Urel x Vges / Bges) – (Vr x (Bges-min / Bges-max) – Vr)
Hier wollen wir diesen prinzipiell denkbaren, offensichtlich ziemlich vertrackten Weg nicht weiter verfolgen, da er meines Erachtens in eine Sackgasse führt. Die Gründe dafür legen wir in unserer kurzen Zusammenfassung dar.
9.4 Aktiver Verdiensterwerb Welches der beiden Prinzipien, Mühelohn oder Wohltätigkeit, passt besser in das Sanktionsprinzip der proportionalen Reziprozität? Das Prinzip des Mühelohns drückt gut aus, was als verdienstlich galt und gilt: die besondere, ja außergewöhnliche Anstrengung des Handelnden. Dieses Prinzip sollten wir deswegen in die Theorie integrieren. Problematisch ist bei ihm – wie auch schon beim Wertprinzip –, dass die Beobachtung und Bemessung von Mühe begrifflich und praktisch hoch problematisch erscheinen. Diesen Gesichtspunkt wollen wir hier jedoch noch nicht vertiefen. Das Wohltätigkeitsprinzip imponiert dagegen erheblich ungeeigneter als Basis einer verdienststeigerungsinduzierten Belohnung. Es ist schlicht nicht einsichtig, warum unabhängig von den Möglichkeiten und Anstrengungen des Handelnden es als verdienstlich gelten soll, eine gerechte Güterverteilung auf höherem Begüterungsniveau zu erzeugen. Wenn ein Handelnder eine gerechte Verteilung auf einem suboptimalen Begüterungsniveau erzeugt, mutet dies nicht ungerecht an, sondern nur unklug oder nicht wohltätig. Ein Verdienstabzug scheint demgemäß nicht erforderlich zu sein. Aber eine Steigerung des Verdiensts bzw. eine Belohnung, wenn der Handelnde eine Güterverteilung mit einer Gesamtbegüterung oberhalb einer minimalen oder gegenwärtigen gerecht verteilten Gesamtbegüterung realisiert, erscheint gleichermaßen unpassend. Allzumal sich die letztgenannte Handlungsweise ja, wie gesagt, selbst belohnt, da der Akteur durch sein Tun selbst, wenn auch nur wohlproportioniert, besser gestellt wird.
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9. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: Belohnung
Damit drängt sich bezüglich der Wohltätigkeit eine Einordnung außerhalb des durch die Supererogation vorgezeichneten Bildes auf. Wohltätigkeit ist sinnvollerweise als eine der Gerechtigkeitsnorm lexikalisch nachgeordnete Moralnorm zu verstehen, deren Erfüllung geboten aber nicht verdienstlich, deren Missachtung aber nicht verdienstmindernd, sondern einfach nur unvernünftig oder unmoralisch ist. Mit diesem Ansatz können wir die proportionale Reziprozität in erweiterter Form noch einmal neu formulieren.
9.5 Proportionale Reziprozität – eine Reformulierung Die Grundnorm der proportionalen Reziprozität bleibt unverändert, kann zur besseren Einordnung jedoch als Grundnorm der Gerechtigkeit bezeichnet werden: Grundnorm der Gerechtigkeit: Dem Normadressaten ist es moralisch geboten, eine gerechte Güterverteilung zu erzeugen.
Diese vorrangige Gerechtigkeitsnorm kann moralisch um die folgende, von der Verdienstdynamik entkoppelte, nachrangige Grundnorm der Wohltätigkeit ergänzt werden – allerdings nicht zum Zwecke der Explikation von Gerechtigkeit, sondern im Rahmen einer umfassender gedachten Ethik: Grundnorm der Wohltätigkeit: Dem Normadressaten ist es moralisch geboten, von den für ihn realisierbaren gerechten Güterverteilungen die zu erzeugen, welche die höchste Gesamtbegüterung enthält.
Das Wertprinzip bleibt ebenfalls unverändert. In seiner ab jetzt immer vorausgesetzten erweiterten Form: Wertprinzip: 1. Eine Güterverteilung ist gerecht, wenn jedes Rechtssubjekt soviel Güter besitzt, wie es relativ zu den anderen Rechtssubjekten verdient. 2. Eine Güterverteilung ist in dem Maße ungerecht, in dem die Begüterung vom verdienten Maß bei dem am stärksten davon betroffenen Rechtssubjekt abweicht.
Ebenso bleibt das Zurechnungsprinzip unangetastet: Zurechnungsprinzip: Ein Verhalten wird einem Handelnden in dem Maße zur Bestimmung seines Verdiensts zugerechnet, in dem er es selbstbestimmt vollzieht.
Das Sanktionsprinzip muss hingegen um die Belohnung und den Unterschied zwischen zumutbarer und mühevoller Handlungsweise erweitert werden: Sanktionsprinzip: 1. Das Verdienst eines Rechtssubjekts bleibt unverändert, wenn es selbstbestimmt durch zumutbares Handeln gerechte Güterverteilungen erzeugt. 2. Das Verdienst eines Rechtssubjekts sinkt proportional zur erzeugten Ungerechtigkeit, wenn es selbstbestimmt ungerechte Güterverteilungen erzeugt. 3. Das Verdienst eines Rechtssubjekts steigt proportional zur dadurch erhöhten Gerechtigkeit, wenn es selbstbestimmt
9.5 Proportionale Reziprozität – eine Reformulierung
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durch mühevolles Handeln eine gegenüber zumutbaren Alternativmöglichkeiten in höherem Maße gerechte Güterverteilung erzeugt.
Damit sind die vier Grundprinzipien der Gerechtigkeit als proportionaler Reziprozität formuliert und eine moralisch sinnvolle, von der Verdienstbemessung entkoppelte sekundäre Wohltätigkeitsnorm benannt. Im nächsten Kapitel werden wir uns mit diesem Konstrukt im Hinterkopf den ideengeschichtlichen Tendenzen zuwenden, die eine Verschmelzung distributiv-gerechter, reziprokgerechter und supererogatorischer Moralvorstellungen, wie hier vorgelegt, nachhaltig verhinderten. Diese Tendenzen gingen von einem unserem in der eudämonistischen Suum-cuique-Tradition stehenden Ansatz zuwiderlaufendenen normativen Paradigma aus, dem juridischen Voluntarismus.
10. Einwilligung statt Wohlergehen: die voluntaristische Wende Warum entwickelten sich im Anschluss an Aristoteles die Konzepte distributiver und reziproker Gerechtigkeit nicht weiter? Warum wurde speziell bei der praktisch drängenden und sich diesbezüglich anbietenden Frage der Strafgerechtigkeit keine Fusion beider Konzepte erdacht? Mit unserer strukturell simplen proportionalen Reziprozität vor Augen sieht man ja, dass dieses prinzipiell ohne Weiteres möglich ist. Weniger die unverkennbaren systematischen Probleme – die wir später genauer erörtern werden – als vielmehr ideengeschichtliche Faktoren haben jedoch schon im Laufe der Antike und dann erst recht im Mittelalter konzeptuelle Weiterentwicklungen in diese Richtung verhindert. Und diese frühen historischen Faktoren wollen wir im jetzigen Kapitel erörtern. Damit beginnt unsere philosophiehistorische Erklärung für die philosophische Abstinenz der Moderne von der proportionalen Reziprozität.
10.1 Gestalt und Geburt des moralischen Voluntarismus Die proportionale Reziprozität ist eudämonistisch, wie auch Aristoteles’ Gerechtigkeitsidee. Sie bestimmt die moralische Pflicht durch den moralischen Wert des durch das pflichtgemäße Handeln erzeugten Weltzustands. Eine gänzlich andere Herangehensweise an moralische Normen verfolgt der Voluntarismus. Diesem zufolge wird die moralische Pflicht durch das von moralisch relevanten Instanzen Gewollte festgelegt. Voluntaristische Konzeptionen sind juridisch: nicht der verursachte Weltzustand in sich sondern dessen korrekte Herbeiführung gemäß Willensentscheid der relevanten Instanz ist moralisch ausschlaggebend. Voluntaristisch-juridisch ist ein Weltzustand gerecht, weil er gemäß dem Willen des befugten Rechtssubjekts erzeugt wurde. Eudämonistisch wollen umgekehrt gerechte Akteure bestimmte Weltzustände fördern oder sicherstellen, weil diese Zustände gerecht sind. Die beiden traditionell relevanten Instanzen voluntaristischer Ansätze waren und sind Gott und das personale Individuum. Die erste Variante bestimmt die moralische Pflicht letztlich als die Befolgung der Befehle Gottes – wie immer diese erkannt werden. Diese Variante kann man passend als Theokratismus bezeichnen. Die zweite Variante bezieht sich auf die individuelle Person. Bei
10.1 Gestalt und Geburt des moralischen Voluntarismus
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sozialen Gerechtigkeitsnormen ist das entscheidende Konzept dabei das der Ein‑ willigung. Die moralische Pflicht wird als die Befolgung von Normen bestimmt, in welche die individuelle Person eingewilligt hat – wie immer dies genauer erklärt wird. Diese Variante kann man passend als Kontraktualismus bezeichnen. Beide Varianten waren der antik-griechischen Ethik keineswegs unbekannt, aber gleichsam wesensfremd. Der polytheistische Götterglaube der Griechen war über die längste Zeit seiner Entwicklung wenig geeignet, Gehorsam gegenüber den Anordnungen der vielfältigen und von menschlichen Schwächen gezeichneten Götter zur Basis der Moral zu machen. Insbesondere anfangs hingen die Griechen dementsprechend einer sogenannten „Do-ut-des“-Religion an, bei der die verschiedenen Götter mehr oder weniger starke und verläßliche Bündnispartner auf Basis einer ungleichen Gegenseitigkeit waren. Obwohl später viele religiöse Pflichten sogar positivrechtlich verpflichtenden Charakter erhielten – man denke an die athenischen Asebie-Klagen gegen Anaxagoras, Protagoras und besonders Sokrates1 – waren die alltagsmoralischen Normen davon weitgehend unabhängig. Die Alltagsmoral der Griechen scheint demgegenüber eher eine Tugendmoral mit inhaltlich sehr reichhaltig definierten Tugenden gewesen zu sein. Von Theokratie findet man kaum eine Spur. Kontraktualistische Argumente wurden in den platonischen Dialogen zum Beispiel von Glaukon durchaus vorgebracht, allerdings nur, um sogleich von Sokrates entkräftet zu werden.2 Selbst bei Aristoteles klang eine Analogie von gerechtem Gesetz und Vertrag in der „Rhetorik“ an3; er favorisierte jedoch, wie oben ja ausführlich diskutiert, letztlich eine andersartige, konsequenzialistische Konzeption von Gerechtigkeit. Einzig Epikur und seine Anhänger waren, wie gesagt, kontraktualistischen Ideen durchaus zugeneigt, ohne sie jedoch zu einer geschlossenen Lehre zusammenzuziehen.4 Die Epikureer nahmen zudem größtenteils eine Außenseiterposition ein, was sich symbolisch an ihrer Nichtteilnahme an der berühmten griechischen Philosophen-Gesandtschaft nach Rom, 155/56 v. Chr., ablesen lässt: in dieser Gesandtschaft waren ausschließlich die Stoa mit Diogenes von Seleukia, der Peripatos mit Kritolaos und die Akademie mit Karneades von Kyrene vertreten. Letztlich wurde mithin von keinem namhaften Autor oder keiner langfristig einflussreichen Denkschule der griechischen Antike eine ausgeformte kontraktualistische Gerechtigkeitslehre vorgelegt5, sondern man blieb überwiegend der eudämonistisch gedeuteten Suumcuique-Tradition verhaftet. Wann und warum entwickelten sich die ersten voluntaristischen Gerechtigkeitstheorien und wie sahen sie aus? Kurz und vereinfachend gesagt, erblühte zu1 S. Demandt
1996, Wesel 1997, 128–31. Rep. 358e–359b. 3 S. Aristoteles Rh. 1376b. 4 Epikur Briefe, 75–9; vgl. Annas 1993, 293–302. 5 S. Gough 1957, Kap. 2. 2 S. Platon
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10. Einwilligung statt Wohlergehen: die voluntaristische Wende
nächst der reine Theokratismus als Frucht des spätantik-mittelalterlichen Christentums und übernahm dann im siebzehnten Jahrhundert der Kontraktualismus die führende Position. Beiden Strömungen wurde zudem durch das römische Rechtsdenken der Boden bereitet. Um diesen komplexen Entwicklungsgang besser zu überblicken, werden wir ihn in der chronologischen Reihenfolge kurz durchgehen.
10.2 Römische Gerechtigkeit Das römische Recht bleibt ein kulturhistorisches Faszinosum. Es war im Prinzip ein sich seit der Gründung Roms in grauer Vorzeit stetig fortentwickelndes Fall-Recht („case-law“), innerhalb dessen die damit befassten Amtsträger durch ihre abstrakt begründeten Entscheidungen in konkreten Rechtsfällen die entscheidende Triebfeder der Rechtsfortbildung waren. Nachdem es anfangs in der Hand der Priester lag, übernahmen im Laufe der republikanischen Zeit patrizische Honoratioren die rechtlichen Funktionen, allerdings nicht gegen Bezahlung, sondern als Ehrenamt. Erst im Kaiserreich entstand dann eine Juristenkaste im eigentlichen Sinne.6 Das römische Recht war in erster Linie ein Zivilrecht. Es regelte also den Umgang mehr oder weniger gleichrangiger, mündiger Bürger untereinander. Sein Grundprinzip war das der Vertragsfreiheit, wie es etwa der kaiserliche Rechtsgelehrte Domitius Ulpianus gekonnt auf den Punkt brachte: „volenti non fit iniuria“, also in etwa: Dem Einwilligenden geschieht kein Unrecht.7 Cicero stellte an einer höchst aufschlußreichen Stelle seines Werkes über die Gesetze diese voluntaristische Grundausrichtung als römischen Ansatz dem griechischen Ansatz substanzieller Gerechtigkeit gegenüber.8 Auf dieser voluntaristischen Grundlage wurde der korrekte Austausch von materiellen Gütern und Dienstleistungen zwischen Rechtssubjekten präzise, detailliert und umfänglich geregelt.9 Die zahlreichen konkreten Regelungen erreichten dabei ein methodisches Niveau und eine begriffliche Durchdringung der Handlungsabläufe, welche bis dahin unerreicht waren und bis heute nachwirken. Dazu passend kristallisierte sich spätestens bei dem herausragenden Rechtsgelehrten Gaius im zweiten Jahrhundert die uns ja aus Ciceros Gerechtigkeitstheorie bereits bekannte duale Obligationenlehre heraus, der zufolge sich nahezu alle Pflichten auf Vertragstreue und Nichtschädigung beziehen.10 Substanzielle Gerechtigkeitsprinzipien fanden allerdings vor dem Hintergrund dieses durch Regeln wohlgeformten freiwilligen 6 S. Liebs
1993, 51–69, Wesel 1997, 229–32, Kunkel & Schermaier 2005, 123–164. vgl. Honsell 1994, 86, Kaser & Knütel 2008, 208 f. 8 Cicero Leg. I.19; vgl. Harries 2013. 9 S. Manthe 2007, 92, Kaser & Knütel 2008, 43 f. 10 Gaius Inst. III.88; s. Liebs 1993, 66 ff., Kunkel & Schermaier 2005, 158 ff. 7 D.47.10.1.5;
10.2 Römische Gerechtigkeit
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sozialen Verkehrs keinen Platz im römischen Recht, abgesehen etwa von stark formelhaften Verweisen auf die Suum-cuique-Tradition (s. o. 6.1).11 Als zivilrechtlicher Normenkodex war das unverkennbar zutiefst individuellvoluntaristisch gestaltete römische Recht sozial fest verankert und hoch effektiv. Das öffentliche Recht, insbesondere das Strafrecht, war und blieb demgegenüber vergleichsweise unterentwickelt.12 Nach der bedeutsamen, platonisch vorgebahnten Differenzierung der archaischen Buße in Schadensersatz und Strafe in der Lex Aquilia im dritten vorchristlichen Jahrhundert13, wurde letztlich nur die zivilrechtliche Erfassung des Schadensersatzes weitergetrieben.14 Das anfängliche Privatstrafrecht bekam im Laufe der Jahrhunderte durch feste Schwurgerichtshöfe („quaestiones perpetua“) im letzten vorchristlichen Jahrhundert oder den kaiserlichen Beamtenprozess der Präfekten zwar immer mehr öffentlich-rechtlichen Charakter, aber das resultierende Strafrecht erreichte nie das Format des Zivilrechts. Bei der Anwendung wurden zudem schicht‑ und geschlechtsbezogene Unterschiede gemacht. Es wurde – zuvörderst in Gestalt der Polizeijustiz der sogenannten Dreimänner („tresviri capitales“) oder durch Stadt‑ und Feuerwehrpräfekt – wohl in erster Line gegen die soziökonomisch schwächeren Schichten eingesetzt. Das Strafrecht diente der Disziplinierung proletarischer Massen, während Patrizier unverändert geschmeidigere privatrechtliche Konfliktlösungen suchen konnten. Rechtsphilosophisch ist auffällig, dass schon das Zwölf-Tafel-Gesetz aus der Mitte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts strafmaßbemessend zwar oftmals dem Talionsprinzip gehorchte, aber ergänzend Sühneverträge einräumte.15 Zum Beispiel Tafel 8.2: „Si membrum rupsit, ni cum eo pacit, talio esto“, frei übersetzt: „Wer einem Anderen eine Gliedmaße zerstört, soll das Gleiche erleiden, wenn er sich nicht anders mit ihm einigt!“ Hier wird eindrücklich der bereits von früh an stark voluntaristische Charakter des römischen Rechtsdenkens sichtbar. In seiner Grundausrichtung war das römische Recht demnach zutiefst individualistisch-voluntaristisch. Vielleicht aufgrund der im vergleichsweise unterentwickelten öffentlichen Recht manifest werdenden, mangelnden kollektiven Gerechtigkeitsperspektive entstanden hier indes keine kontraktualistischen Denkmodelle. Gleichwohl kann der voluntaristische Einfluss des römischen Rechts auf die Moralphilosophie Europas gar nicht überschätzt werden. Nach dem Untergang des weströmischen Reichs ließ der byzantinische Herrscher Justinian im sechsten Jahrhundert die unüberschaubare Masse des römischen 11 Vgl.
Pollock 1901, 13 ff., Finkenauer 2014.
12 S. Liebs 1993, 188–227, Bauman 1996, Wesel 1997, 166–74, Kunkel & Schermaier 2005, 41–
4, 81–94, Harries 2007, Manthe 2007, 54 ff., 84, 104 f., Lintott 2015; vgl. dagegen die wagemutige Rekonstruktion von Mommsen 2010 13 S. Liebs 1993, 188–227, Honsell 1994, 75 f., Wesel 1997, 180–5. 14 Vgl. Sirks 2013. 15 Zum Zwölftafel-Gesetz s. Stein 1996, 14–9, Wesel 1997, 158–63, Kunkel & Schermaier 2005, 31–47, Manthe 2007, 36–56, Lintott 2015.
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10. Einwilligung statt Wohlergehen: die voluntaristische Wende
Rechts systematisch erfassen, ordnen und in Rechtsbüchern zusammenfassen, deren bedeutendstes der „Corpus Iuris Civilis“, die sogenannten „Digesten“, waren.16 Das konnte zwar nicht den weiteren Untergang der römischen Kultur verhindern. Als aber im späten elften Jahrhundert mittelalterliche Rechtsgelehrte in Archiven Oberitaliens die Digesten wiederentdeckten, da hatten sie den Eindruck, geradezu auf die „ratio scripta“, die aufgeschriebene Vernunft, gestoßen zu sein. Und von da aus trat das römische Recht infolge der sogenannten Rezeption einen unvergleichlichen Siegeszug durch die Rechtskulturen ganz Europas (und darüber hinaus) an, der im Grunde bis heute anhält.17 Das römische Recht floss in zahllose nationale Rechtsordnungen ein.18 Es prägte europaweit die universitäre Jurisprudenz und praktische Philosophie. Außer effektiven Zivilrechtsnormen und ausgearbeiteten Rechtsbegriffen wurde im gleichen Atemzug der voluntaristische Charakter des römischen Rechts weitergetragen. Und vor allem dieser war eine entscheidende Basis des naturrechtlichen Kontraktualismus des siebzehnten Jahrhunderts.
10.3 Christliche Theokratie und diesseitige Gerechtigkeit Die zweite Basis des Voluntarismus war die Ethik des Christentums.19 Die religiös fundierte christliche Ethik übte ihren pro-voluntaristischen Einfluss in drei nachstehend rekapitulierten Schritten aus, der ursprünglichen Theokratie, der Augustinischen Gnadenlehre und dem kanonischen Recht. Die Kernidee jeglicher moralischer Religion ist die Theokratie: sittliche Normen und Herrschaftsverhältnisse sind moralisch legimitiert, wenn sie göttlichen Befehlen gehorchen. Nicht der Vollzug oder die Unterlassung inhaltlich bestimmter Handlungsweisen, sondern der Gehorsam gegenüber Gottes Geboten ist das eigentlich moralisch Geschuldete. Diese – bekanntlich bereits von Platon im „Euthyphron“ kritisch hinterfragte20 – Kernidee propagierte auch das frühe Christentum. Dramatisch illustriert wurde diese Haltung in der alttestamentarischen Geschichte Abrahams, dem Gott die Opferung seines Sohnes Isaak befahl.21 Abraham wollte als gehorsamer Gottesdiener wider seine Vaterliebe diesen abscheulichen Auftrag erfüllen, wurde aber im allerletzten Moment von Gott doch noch zurückgehalten. Abrahams bedingungsloser Gehorsam wird aus biblischer Sicht als moralisch vorbildlich gewürdigt. Diese aus heutiger Sicht zweifellos 16 S. Liebs 1993, 92–103, Wesel 1997, 234–8, Kunkel & Schermaier 2005, 208–23, Leppin 2011, 167–81, Kaiser 2015. 17 S. Wieacker 1967, bes. 26–248, Liebs 1993, 103–118, Stein 1996, Kunkel & Schermaier 2005, 223–44. 18 S. Zimmermann 2015. 19 S. Schneewind 1997, 17–36. 20 S. Platon Euthyph. 6c–7a. 21 S. Gen. 22.1–19.
10.3 Christliche Theokratie und diesseitige Gerechtigkeit
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einigermaßen abstoßende Geschichte stellte mithin – ungeachtet ihrer unersprießlichen emotionalen Facetten – unmissverständlich und drastisch klar, dass gängige alltagsmoralische Normen, wie väterliche Fürsorgepflicht oder Tötungsverbot, göttlichen Imperativen bedingungslos untergeordnet sind. Der theokratische Ansatz des Christentums galt selbstverständlich auch für die Gerechtigkeit. Allerdings finden sich in der Bibel vergleichsweise wenig klare und unstrittige göttliche Vorgaben zur Verteilung von Gütern oder auch Macht.22 Allgemein waren die im mosaischen Dekalog gesammelten Gebote und die Goldene Regel die vielleicht wichtigsten Normen.23 Auf Gerechtigkeitsfragen im engeren Sinne wurde jedoch insoweit wenig eingegangen. Der ursprüngliche theokratische Voluntarismus des Christentums hatte einige bemerkenswerte Folgen. Erstens verabschiedete er im Grunde die Vorstellung einer substanziellen Gerechtigkeitstheorie, wie sie etwa die proportionale Reziprozität darstellt. Das Abraham-Beispiel zeigt, inwiefern substanzielle moralische Erwägungen bestenfalls sekundär relevant sind. Damit verlagerte sich, zweitens, das moralphilosophische Erkenntnisinteresse viel stärker auf Möglichkeiten, Gottes Willen zu ergründen, statt auf Versuche einer vernünftigen Begründung moralischer Normen. Verkürzt gesprochen: intensive Bibellektüre ersetzte freies Nachdenken. Drittens ließ der christliche Voluntarismus nicht nur die einfachen Bürger, sondern auch die staatlichen Machthaber jenseits des Dekalogs einigermaßen orientierungslos bezüglich der Gerechtigkeit. Die Christen zogen sich oft auf das paulinische Modell der göttlichen Ermächtigung weltlicher Herrscher zurück, dem zufolge alle Obrigkeit von Gott ist24 – was Christen vorderhand zu recht angenehmen Untertanen machte. Eindeutige und transparente Maßstäbe für herrschaftliches Handeln waren so jedoch nicht festgelegt. Viertens schließlich wandelte sich im Einklang mit dem bisher Genannten der antike, sehr umfassende Tugendbegriff in Richtung einer Reduktion auf bloße Normadhärenz: Tugend als Gehorsam. Außer dieser sozialethischen Seite hatte das frühe Christentum auch stärker individualethische Effekte. Die Heilslehre des Christentums sah das menschliche Leben lediglich im Höhepunkt der Gottesschau als vollkommen gelungen an. Für den Alltag war es dann bei aller Verinnerlichung die gewissenhafte Normadhärenz, die das seelische Heil im Diesseits und Jenseits sicherte. Auch diese Heilslehre hatte unmittelbare ideengeschichtliche Folgen. Die gehaltvolle und elaborierte antik-griechische Debatte über das gelingende Leben war durch die religiös vorgegebenen Sinnstrukturen im Christentum letztlich überflüssig geworden.25 Ja, das unbekümmerte Nachdenken über verschiedene Lebensweisen 22 Vgl.
Troeltsch 1912, Bd. 1, 166–72.
23 Von den Zehn Geboten hatten immerhin sieben weltlichen Charakter; s. Ex. 20.1–17, Dtn.
5.6–21. Die Goldene Regel wird biblisch mehrfach formuliert; s. Mt. 7.12, Lk. 6.31, Tob. 4.16. 24 Röm. 13.1 25 S. Röd 1994, 273–84; vgl. McMahon 2006, bes. 75–175.
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10. Einwilligung statt Wohlergehen: die voluntaristische Wende
zur Erlangung von Glückseligkeit oder Eudämonie lief sogar immer Gefahr, geradezu gotteslästerlich zu sein. Bezüglich der proportionalen Reziprozität oder anderer konsequenzialistischer Theorien bedeutete dieser Verlust unbefangenen eudämonistischen Denkens, dass noch weniger als vorher erkennbar war, um die Verteilung welcher Güter es bei Gerechtigkeitsfragen eigentlich gehen soll. Der christliche Voluntarismus bezüglich Moralnormen und die enge christliche Heilslehre untergruben demzufolge letztlich das Fundament substanzieller Gerechtigkeitskonzeptionen wie der proportionalen Reziprozität. Dies galt anfangs allerdings nur für die Gerechtigkeit im Diesseits. Die jenseitige Gerechtigkeit war noch im Sinne der distributiven Gerechtigkeit und damit der orientalischen Vorläuferreligionen gestaltet. Das sollte sich jedoch schon bald ändern.
10.4 Die Augustinische Gnadenlehre und ihre Folgen Durch Augustinus erfuhr der moralische Voluntarismus eine noch erheblich schärfere Zuspitzung. Ungefähr zeitgleich mit dem Antritt des Bischofsamts, 397 n. Chr., entwickelte Augustinus seine Theorie der göttlichen Gnade, die ihn zunächst in Widerspruch zur tradierten diesbezüglichen Position setzte.26 Die eher traditionelle Position verteidigte prominent der irischstämmige Mönch Pelagius. Diesem zufolge erwirbt sich der Mensch durch sein irdisches freies Handeln Verdienste, die dann nach dem Tode im Jenseits eine angemessene Belohnung oder Bestrafung durch Gott nach sich ziehen. Da die göttlich verliehene Freiheit und das aus ihr entspringende Handeln Voraussetzung für den Erwerb von Verdienst sind, konnte Pelagius überdies mit der Idee einer Erbsünde wenig anfangen. Augustinus ging demgegenüber von einer unbeschränkten Allmacht Gottes aus. Diese Allmacht erschien Augustinus mit einer gewissermaßen automatischen Verhängung fester postmortaler Sanktionen für definiertes menschliches Handeln unvereinbar. Gott belohnt oder bestraft den Menschen nach Augustinus’ Vorstellung in völlig freier Gnadenwahl, ungebunden durch dessen irdische Werke. Augustinus sah den Menschen zudem nicht nur durch eine im Zeugungsakt weitergebene Erbsünde belastet, sondern sogar als durch Gottes Beschluss zu Tugend oder Laster prädestiniert an. Da menschliches Handeln diese Prädestination nicht überwinden kann, wird das menschliche Handeln für das ewige Heil streng genommen irrelevant. Und die pelagianische Vorstellung einer distributiven Gerechtigkeit im Jenseits ist nach dieser Sichtweise fehlgeleitet. Die Augustinische Gnadenlehre war zweifellos konsequent. Sie war aber zudem ausgesprochen entmutigend, da sie den altehrwürdigen Tun-Ergehen- Zusammenhang aufhob, den Menschen von vornherein zum Sünder abstempelte 26 Zum Folgenden z. B. Röd 1994, 304 ff., Zippelius 1994, 56–62, Geerlings 1995, 79–86, Hägglund 1997, 101–8, Hauskeller 1999, 72–84, Flasch 2000, 46–51.
10.5 Kanonisches Recht als Modell
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und ihm zugleich eine erkennbare Möglichkeit nahm, das auszugleichen. Immerhin ermöglichte sie eine geradlinige Lösung des alten Theodizee-Problems: das Übel angesichts Gottes Allmacht, Allwissen und Gerechtigkeit wird durch die von Gott erkannte, frei sanktionierte und oft sogar ererbte Schlechtigkeit des Menschen erklärlich. Ein wirkliches katastrophales Übel – die Plünderung Roms durch die Westgoten, 410 n. Chr. – rechtfertigte Augustinus dann allerdings doch lieber direkt mit den menschlich erkennbaren weltlichen Sünden der Opfer.27 Trotz ihres einigermaßen kontraintuitiven Charakters triumphierte die Augustinische Gnadenlehre über den Pelagianismus. Sie wurde in der berühmten Synode von Orange, 529 n. Chr., endgültig als kanonische Doktrin anerkannt und der Pelagianismus als Häresie verworfen. Gleichwohl blieb für die meisten Theologen das Verhältnis moralisch verdienter positiver oder negativer Sanktionen im Diesseits und Jenseits trotz der offiziell akzeptierten augustinischen Doktrin problematisch. Beispielhaft kann man dies zum Beispiel gut in Anselm von Canterburys „Proslogion“ nachlesen28 oder aus Thomas von Aquins oben skizzierter Lehre verdienstlicher Werke ersehen29. In der Geschichte der Theologie wird in diesem Zusammenhang gern von „semipelagianischen“ Tendenzen gesprochen. Mit voller Wucht rehabilitierten und mobilisierten die Reformatoren die Augustinische Lehre dann im Ablassstreit des sechzehnten Jahrhunderts gegen eine weitere eschatologische Spur der distributiven Gerechtigkeit, den Ablass, wie oben (8.4) ja bereits beschrieben. Die Augustinische Gnadenlehre versetzte der Idee einer distributiven oder proportional-reziproken Gerechtigkeit einen empfindlichen Schlag. Nicht nur das diesseitige Handeln sollte ihr zufolge in erster Linie Gehorsam gegenüber Gottesgeboten sein, bei dem die verdienstproportionale Verteilung von Gütern keine erkennbare Rolle spielt. Auch im Jenseits kann nicht darauf gezählt werden, dass distributive Gerechtigkeit obwaltet: Gottes freie Gnadenwahl bleibt unerforschlich und mithin unberechenbar.
10.5 Kanonisches Recht als Modell Die an Größe und Einfluss gewinnende mittelalterliche christliche Kirche gab sich im Laufe der Jahrhunderte eine in immer höherem Maße verrechtlichte Struktur. Ein Meilenstein auf diesem Weg war das im zwölften Jahrhundert verfasste „Concordia discordantium canonum“, das sogenannte „Decretum“ des Gratian, das erste und für lange Zeit grundlegende Buch des Kirchenrechts. In zunehmend enger Anlehnung ans römische Recht wurden darin wichtige Civ., 15–8, 49. Pros., 34–43. 29 S. Hägglund 1997, 147, Hauskeller 1999, 220 ff. 27 S. Augustinus 28 S. Anselm
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10. Einwilligung statt Wohlergehen: die voluntaristische Wende
kirchliche Rechtsquellen gesammelt.30 Moralisch wurde einzig die Goldene Regel als Grundregel des Naturrechts zitiert.31 Das sich nachfolgend immer elaborierter entwickelnde kanonische Recht war grundsätzlich stark römisch-rechtlich geprägt. Und zugleich übte es in Begrifflichkeit und Systematizität über die soziale Wirksamkeit seiner Protagonisten und derer Institution einen massiven Einfluss auf die gesamte westliche Rechtskultur aus, den wir hier nicht im Detail nachvollziehen können.32 Infolgedessen liegt hier unstrittig eine bedeutende Quelle voluntaristischen Gerechtigkeits-Denkens. Das kanonische Recht hatte jedoch zwei noch etwas spezifischere Auswir kungen. Zum einen entwickelte das kanonische Recht den rechtlichen Begriff der Körperschaft weiter und brachte im Zusammenhang mit – durch das Große abendländische Schisma im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert ange heizten – Debatten über Begrenzungen der Herrschaftsmacht des Papstes die Idee einer von den Mitgliedern der gemeinschaftlichen Korporation ausgehenden Souveränität auf. In der Kirche wurden insbesondere die Konzilien als eigentliche Träger der Macht angesehen.33 Diese sogenannte Konziliarismusdebatte präsentierte erstmals den Begriff der Einwilligung als Grundlage einer Gehorsamspflicht und Herrschaftslegitimation.34 Bedeutende Namen wie Hervaeus Natalis, Durandus von St. Porcaine, Marsilius von Padua, aber auch William von Ockham sind hier zu nennen.35 Damit legte das kanonische Recht eine der Grundlagen für einen stärker politisch verstandenen Kontraktualismus als Alternative zu eudämonistischen Positionen. Zum anderen wurde auch noch ein weiteres Konzept im kanonischen Recht herausgebildet, das für die Entstehung des Kontraktualismus zentrale Bedeutung erlangen sollte: das Konzept des Individualrechts oder subjektiven Rechts. Dieses Konzept ist in der vorausgehenden Tradition allenfalls latent zu entdecken. Erstmals bei bestimmten Dekretisten – also Kommentatoren von Gratians Dekretum –, beispielsweise Huguccio oder Alanus, lässt sich diese normative Figur unzweideutig nachweisen.36 Speziell nominalistische gesonnene Theologen, wie zum Beispiel Ockham oder Gerson, griffen das Konstrukt auf und 30 S. Berman
1995, bes. 327–41, Winroth 2000. Dec., Dist. 1; vgl. Fürst 1971. 32 S. Weber 1922, 480 f., Wieacker 1967, 71–80, Berman 1995, Dreier 2002, Prodi 2003, bes. 48–81. Betrachtet man diese Verflechtungen genauer, erlebt man manche Überraschung: so hat etwa die heutzutage im Hinblick auf die Hexenprozesse übel beleumdete kanonische Inquisition entscheidend dazu beigetragen, die für den modernen Staat maßgebliche Anklage von Amts wegen im Strafrecht einzuführen; s. Rüping 1991, 46 ff., Wesel 1997, 335 f., Prodi 2003, 99– 102; dagegen Schmidt 1983, 86–107. Allgemein zum theologischen Einfluss auf das weltliche Strafrecht s. Berman 1995, 300–26. 33 S. Tierney 1955, ders. 1982, Black 1988, Zippelius 1997, 70–5. 34 S. Pennington 1988, Canning 1988, vgl. Gierke 1880, bes. 77–82. 35 Tierney 1982, 44–53, s. William von Ockham Texte, 310–51. 36 S. Reid 1991, Tierney 1997, 13–77, vgl. Troeltsch 1912, Bd. 1, 305. 31 Gratian
10.6 Aristotelischer Zierrat
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vererbten es der spanischen Spätscholastik und darüber den Naturrechtlern der Frühen Neuzeit.37 Das kanonische Recht vereinigte die beiden wichtigsten voluntaristischen Strömungen der Geistesgeschichte des Übergangs von Antike zu Mittelalter, das römische Recht und das Christentum, und war somit ein bedeutender Schrittmacher voluntaristischen Gerechtigkeitsdenkens. Das so entstandene voluntaristische Gerechtigkeitskonzept war zudem im Grunde die philosophische Widerspiegelung des in seiner berühmten Studie zur europäischen Kulturgeschichte von Henry Sumner Maine postulierten allgemeinen rechtshistorischen Trends „from Status to Contract“, von durch den jeweiligen Stand und den anhängenden Normen fest diktierten zu frei vereinbarten sozialen Beziehungen.38 Nichtsdestoweniger hielten sich in der religiös geprägten Moralphilosophie auch Vorstellungen distributiver Gerechtigkeit, worauf noch ein kurzer Blick geworfen werden sollten, bevor wir uns im nächsten Kapitel der reifen Gegenposition zu ihr, dem Kontraktualismus, zuwenden wollen.
10.6 Aristotelischer Zierrat Außer dem wiederentdeckten römischen Recht wurde ab dem zwölften Jahrhundert natürlich der wiederentdeckte Aristoteles gleichfalls fleißig rezipiert.39 Ab der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts war insbesondere die „Nikomachische Ethik“ in lateinischer Übersetzung verfügbar. Dies führte dazu, dass auch Aristoteles’ Gerechtigkeitskonzepte von der überwiegenden Anzahl der scholastischen Autoren zur Kenntnis genommen und zitiert wurden. Dabei wurden mannigfache Interpretationen von distributiver, korrektiver und auch reziproker Gerechtigkeit vorgeschlagen.40 Tendenziell wuchs im Laufe der Zeit die Anzahl derjenigen, die sich mehr oder weniger entschieden die ciceronische Position zu eigen machten und die korrektive Gerechtigkeit als vorrangig, ja sogar zur Regelung der Strafe besser geeignet ansahen. Die distributive und erst recht die reziproke Gerechtigkeit gerieten ins Hintertreffen. Thomas von Aquin ist auch in dieser Hinsicht repräsentativ.41 Letztlich spielte bei keiner der scholastischen Theorien die konsequenzialistisch analysierte aristotelische Gerechtigkeit eine wirklich tragende Rolle, da der dominante theokratische Rahmen dies verhinderte. Entsprechende Zitate hatten eher die Funktion eines bloßen Bildungs-Zierrats und kaum praktisch-normative Relevanz. Zwei 37 S. Tuck
1979, 20–24, Haakonssen 1996, 16–24, Tierney 1997, 93–235, Brett 1997. 1861, bes. 165; vgl. dagegen Weber 1922, 397–440. 39 S. Schulthess & Imbach 1996, 39–53, S. 133–40, Miethke 2008. 40 S. Englard 2009, 11–110. 41 S. bes. Thomas S. Theol. II.II.61.1–4; vgl. Zippelius 1994, 64 f., Finnis 1995, 187–218, LutzBachmann 2000, Böckenförde 2002, 242–8 38 S. Maine
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10. Einwilligung statt Wohlergehen: die voluntaristische Wende
Ausnahmen von dieser beobachtbaren normativen Irrelevanz sind vielleicht das biblisch und aristotelisch fundierte Wucherverbot42 und die Lehre vom gerechten Preis43. Aber auch diese waren letztlich wenig theoretisch durchgebildet und sind besser als Rudimente griechischen Denkens im Gebäude der mittelalterlichen Scholastik zu verstehen.
42 S. z. B. Ex. 22.24, Dtn. 23.20 oder Lk. 6.27–36, Aristoteles Pol. 1258a f.; vgl. Weber 1922, 352–55, Schumpeter 1954, 150 ff., Meikle 1995, 63–7, Langholm 1998, Graeber 2014, 359–65. 43 S. Troeltsch 1912, Bd. 1, 346 f., Weber 1922, 710 ff., Schachtschabel 1939, 60–96, Schumpeter 1954, 138 f., Hamouda & Price 1997, Langholm 1998.
11. Einwilligung statt Wohlergehen: der Kontraktualismus Historisch kulminierten die im letzten Kapitel dargelegten voluntaristischen Strömungen im naturrechtlichen Kontraktualismus, dessen Grundzüge wir uns in diesem Kapitel vergegenwärtigen werden. Außer dem programmatischen Kern werden wir dabei überblicksweise seine ideengeschichtliche Entwicklung etwas näher beleuchten. Die Krise des Kontraktualismus im achtzehnten Jahrhundert und die theoretischen Reaktionen darauf müssen in diesem Zusammenhang ebenfalls kurz diskutiert werden. Zeitgenössische Überbleibsel proportional-reziproken Denkens werden zudem in zwei kleinen Exkursen bedacht werden. Nach dieser systematisch-historischen Bestandaufnahme können wir im nächsten Kapitel den Versuch einer moralphilosophischen Bewertung des juridisch-kontraktualistischen Paradigmas wagen.
11.1 Der programmatische Kern des Kontraktualismus Vom frühen siebzehnten bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts erfuhren die naturrechtlich-kontraktualistischen Theorien ihre Blütezeit. Denker wie Hugo Grotius, Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf oder John Locke sind hier zu nennen.1 Wir müssen im vorliegenden Kontext leider schon aus Platzgründen darauf verzichten, ihre jeweils besonderen Theorien und deren Zusammenhang differenzierter zu betrachten. Stattdessen werden wir kurz fünf wesentliche und eng miteinander verschränkte gemeinsame Elemente dieser moral‑ und politikphilosophischen Lehren herausheben. Sie stellen, wenn man so will, den gemeinsamen programmatischen Kern aller verschiedenen Ansätze dieser Gruppe dar. Seine ideengeschichtliche Genealogie haben wir im vorigen Kapitel ja bereits in einigen Grundzügen erhellt. Erstens, die grundsätzliche Ausrichtung des Kontraktualismus war streng vo luntaristisch. Es geht nach dieser Theorie nicht um eine moralisch vorgeschriebene Verwirklichung bestimmter, zu realisierender Güterverteilungen für Handelnde. Stattdessen geht es um den legitimatorischen Effekt willentlicher Befürwortung 1 Übersichten
s. z. B. Welzel 1962, Tuck 1979, Haakonssen 1996, Tierney 1997.
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11. Einwilligung statt Wohlergehen: der Kontraktualismus
oder Ablehnung bestimmter Institutionen oder Handlungsweisen. Die durch diese Institutionen oder Handlungsweisen erzeugten Güterverteilungen sind allenfalls indirekt gerechtfertigt, nämlich als im relevanten Sinne gewollt. Zweitens, eine normative Basis des kontraktualistischen Voluntarismus waren natürliche Individualrechte.2 Diese Rechte kommen jedem vernünftigen Individuum – je nach Autor mehr oder weniger unbedingt – zu. Sie sichern den willentlichen Entscheidungen des Rechtssubjekts ihre moralische Verbindlichkeit für alle anderen Normadressaten. Ob das Rechtssubjekt seine Rechte egoistisch klug oder sozial wohltätig wahrnimmt, ist vorderhand irrelevant. Bei den naturrechtlichen Klassikern des Kontraktualismus stand indes weniger das kluge Eigeninteresse, als vielmehr die Ausübung eines moralisch eingefriedeten Mitbestimmungsrechts im Vordergrund. Drittens, ist mithin die Einwilligung (Einverständnis, Zustimmung, Befürwortung, Konsens) des Rechtssubjekts ein zentraler Begriff.3 Eine Maßnahme oder Handlungsweise ist mit Bezug auf ein betroffenes Rechtssubjekt durch dessen Einwilligung gerechtfertigt. Grundsätzlich gilt die uns bereits geläufige Maxime der Vertragsfreiheit „volenti non fit iniuria“ für alle naturrechtlichen Kontraktualisten. Sie gilt insbesondere für Herrschaftsrechte gegenüber einem Rechtssubjekt. Bei einem Herrschaftsverhältnis muss das untergebene Rechtssubjekt gegenüber dem herrschenden Rechtssubjekt auf bestimmte Rechte verzichtet haben, wie bei Hobbes oder Pufendorf, oder sie ihm delegieren, wie bei Grotius oder Locke. Hobbes brachte übrigens die Konsequenzen der uneingeschränkten Vertragsfreiheit bei seiner Diskussion der von ihm abgelehnten aristotelischen partikulären Gerechtigkeit gekonnt auf den Punkt mit dem empörten Ausruf (dessen erster Teil klarerweise auf die korrektive und der zweite auf die distributive Gerechtigkeit gemünzt war): „Als wäre es ungerecht, teurer zu verkaufen als einzukaufen, oder jemanden mehr zu geben, als er verdient!“.4 Viertens, verwendeten die allermeisten kontraktualistischen Theorien die Denkfigur des Naturzustands zur Legitimation von Institutionen oder Normen. Dieser ist als ein Zustand zu verstehen, in dem alles so ist wie jetzt, aber die fragliche Institution oder Norm nicht existiert. Und – so das Konzept – menschliche Rechtssubjekte haben mit diesem Zustand als Alternative vor Augen, einen mehr oder weniger zwingenden vernünftigen Grund, in die betreffende Institution oder Norm einzuwilligen. Nur auf diese Art können sie ihre Rechte optimal wahren. Wobei der Naturzustand von katastrophal und amoralisch, wie bei Hobbes5, über rechtlich verbesserungswürdig, bei Locke6, bis zu 2 S. Hägerström 1965, Olivecrona 1977, Tuck 1979, 58–173, Haakonssen 1985, ders. 1996, bes. 15–62, Oakley 2005, 87–109. 3 S. Riley 1982. 4 S. Hobbes 1651, 115, vgl. ders. 1642, 101. 5 S. Hobbes 1642, bes. 79–85, ders. 1651, bes. 94–98. 6 S. Locke 1689, bes. 201–9.
11.1 Der programmatische Kern des Kontraktualismus
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geradezu als bewahrenswert ideal, bei Jean-Jaques Rousseau7, alle möglichen Ausgestaltungen erfuhr. Fünftens, wird bezogen auf staatliche Normen und Institutionen ein Gesell‑ schaftsvertrag konzipiert, der die allgemeine Einwilligung in Form von staatlichen Gesetzen und Institutionen festschreibt und die im Zentrum stehende Pflicht zum Gesetzesgehorsam erklärt. Von Manchen, besonders von Pufendorf und vielen deutschen Naturrechtlern, wurde dieser Vertrag als zweiteilig gedacht, mit einem vorausgehenden vertraglichen Zusammenschluss der künftigen Untertanen und anschließendem Unterwerfungsvertrag mit dem Herrscher.8 Alle diese Kernelemente wurden, wie angedeutet, von verschiedenen Autoren durchaus unterschiedlich ausgearbeitet. Allen gemeinsam ist jedoch eine Verlagerung der Gerechtigkeitsdiskussion entlang der genannten Linien. Gerechtigkeit war damit sehr viel stärker politisch orientiert und weniger individualethisch. Legitimationsziel war folglich einerseits die Gerechtigkeit der staatlichen Herrschaftsinstitution und andererseits das moralische Gebot des Gesetzesgehorsams. In der historischen Situation des siebzehnten Jahrhunderts, mit zunehmender Zentralstaatlichkeit, staatlicher Monopolisierung von Gewalt und absolutistischen Herrschaftsansprüchen der Machthaber, war jedoch der Staat in viel höherem Maße als noch im späten Mittelalter ein gewichtiger moralischer Akteur, den es in Gerechtigkeitskonzepte einzubinden galt. Alle bedeutenden naturrechtlichen Kontraktualisten integrierten neben ihrer innovativen und normativ ausschlaggebenden Vertragslehre übrigens auf unterschiedliche Art auch theokratische Legitimationen in ihre Theorien, besonders prominent Pufendorf und Locke.9 Die natürlichen Individualrechte waren meist göttlich abgesegnet. Bei genauerem Hinsehen war diese Legitimationsstrategie jedoch stets ein Beiwerk. Die interessanten normativen Inhalte wurden ganz überwiegend aus den kontraktualistischen Argumenten abgeleitet. Bibelbelege und Feststellungen göttlicher Imperative dienten mehr als zusätzliche Stützen für anderweitig Begründetes. Bereits Grotius übernahm demgemäß aus der Scholastik den fruchtbaren Gedanken, naturrechtliche Normen müssten auch unter der kontrafaktischen Annahme von Gottes Nichtexistenz begründbar sein.10 Ähnlich findet man auch aristotelische Gerechtigkeitskonzepte in den natur rechtlich-kontraktualistischen Werken, insbesondere bei Pufendorf sogar recht ausführlich diskutiert. Aber mehr noch als schon in der Scholastik dienten sie keinem erkennbaren normativen Zweck. Allenfalls fanden Überreste von ihnen ihren Weg über Ciceros für die Aufklärungszeit prägende Pflichtenlehre in die Architektur der Naturrechtstheorien, etwas bei Grotius’ Unterscheidung 7 S. Rousseau
1755, 35–73, ders. 1762, bes. 12–16. 1672, 511 ff., ders. 1673, 165; vgl. Behme 1995, 120–30. 9 S. Tully 1980, 35–45, Haakonssen 1996, 37–43, 51–8. 10 S. Schneewind 1997, 73 ff., Tierney 1997, 319 f. 8 S. Pufendorf
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11. Einwilligung statt Wohlergehen: der Kontraktualismus
zwischen verpflichtenden und nur angeratenen Handlungen, die von Pufendorf bis Kant als vollkommene und unvollkommene Pflichten verschiedentlich konzeptualisiert wurden.11 Die damaligen Denker machten übrigens keinen strengen Unterschied zwischen moralischer und politischer Gerechtigkeit. Gleichwohl präsentierten sie auch verschiedene weitere Moralnormen, über den kontraktualistisch begründeten Gesetzesgehorsam als eigentlicher Gerechtigkeitsnorm hinaus. Besonders bei dem ansonsten ja durchaus geradlinigen Hobbes haben seine irritierend präsentierten moralischen Regeln („natürlichen Gesetze“) für eine nie ganz aufgelöste und fesselnde exegetische Debatte gesorgt.12 Ähnliche interpretatorische Unklarheiten wirft beispielsweise Lockes Ethik auf.13 Wir ignorieren diese komplizierenden Aspekte der historisch gegebenen naturrechtlichen Theorien im Dienste unserer Fokussierung auf die Gerechtigkeit. Eine Moralnorm, die alle Naturrechtler propagierten, war indes die Gegen‑ seitigkeit. Sie wurde meist in Form der Goldenen Regel „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu!“ zitiert.14 Der bedeutende Pufendorfschüler Christian Thomasius hat diese Regel zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts gar in drei Varianten aufgegliedert und seine reife Lehre entsprechend triadisch strukturiert.15 Einesteils gehörte diese Norm sicherlich oft zum weniger belangvollen theokratischen Schmuck der jeweiligen Theorien. Andernteils ist sie, voluntaristisch gedeutet, jedoch gut vereinbar mit dem Kontraktualismus. Ein Vertrag ist nämlich eine mehrere Parteien umfassende verbindliche Willenserklärung. Daher liegt es nahe, hier die Gegenseitigkeit ins Spiel zu bringen: die Erfüllung einer Vereinbarung durch den Einen steht unter dem Vorbehalt ihrer Erfüllung durch den Anderen. Die Gegenseitigkeit der Vertragserfüllung ist ein Teil des üblichen Verständnisses des Sozialkontrakts. Bei Hobbes verzichteten alle Rechtssubjekte auf Rechte zugunsten des Herrschers unter dem Vorbehalt des allgemeinen Verzichts. Bei anderen Autoren bot sich die Gegenseitigkeit gar für eine Analyse von Herrscherpflichten als Gegenleistung für Gesetzestreue – und damit auch als Basis für ein mögliches Widerstandsrecht – an. Der Kontraktualismus war ohne Zweifel die vorherrschende Gerechtigkeitstheorie der Frühen Neuzeit. Im achtzehnten Jahrhundert mehrten sich jedoch kritische Stimmen, denen wir kurz Raum geben sollten.
11 S. Kersting
1982, Hruschka 1998.
12 S. Taylor 1938, Warrender 1962, Hampton 1986, Kavka 1986, Curley 1989/90, Deigh 1996,
Tuck 1999, 142–74. 13 S. Schneewind 1994. 14 S. Reiner 1948, ders. 1977, Hruschka 1987, ders. 1994. 15 S. Thomasius 1705, bes. 118; vgl. Schneiders 1971, 268–73, Schröder 1999, 80–98.
11.2 Hume und die Krise des Kontraktualismus
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11.2 Hume und die Krise des Kontraktualismus Der naturrechtliche Kontraktualismus war bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein die dominante Lehre in der praktischen Philosophie Europas. Seit der Jahrhundertmitte kam es indes in steigendem Maße zu einer Ablösung durch stärker am Gemeinwohl orientierte Ansätze, herausragend dabei zweifellos der klassische Utilitarismus.16 Wie nicht selten in der Ideengeschichte wurden die Gründe für diesen Wandel kaum explizit thematisiert. Eine herausstechende Ausnahme von diesem allgemeinen Stillschweigen machte David Hume mit seiner Kontraktualismuskritik. Hume artikulierte wichtige Gründe für eine Ablösung des Kontraktualismus. Seine Argumentation entfaltete überdies offenbar eine große Wirksamkeit bei anderen Denkern. Frühere Kontraktualismus‑ bzw. Voluntarismuskritiken hatten keinen vergleichbaren Einfluss ausgeübt, wie man am Beispiel der berühmten Pufendorf-Leibniz-Barbeyrac-Debatte nachvollziehen kann, mit Leibniz in der Rolle des Voluntarismuskritikers.17 Wegen dieses historischen Gewichts, sollten wir einen kurzen Blick auf Humes in den vierziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts publizierte Argumentation werfen, die er in seinem Traktat über die menschliche Natur vorbereitete und etwas später in seinem bekannten Essay über den ursprünglichen Vertrag ausformulierte.18 Hume stellte im Kontraktessay konsequent die vertragstheoretisch begründete Gehorsamspflicht gegenüber dem Staat ins Zentrum seiner Erörterungen. Zunächst schied er die theokratische Idee der Legitimation einer staatlichen Regierung durch Gott aus, indem auf existierende ungerechte Regierungen hin wies und auf das Unvermögen des Theokratismus, diese von gerechten zu unterscheiden: außer der faktischen Existenz einer Herrschaftsmacht ist über Gottes Ratschluss eben wenig in Erfahrung zu bringen. Gegen den eigentlichen Kontraktualismus mobilisierte er vier Argumente, deren erstes auf die sozialhistorischen Gegebenheiten verwies: die wenigsten Staaten – auch der als gerecht angesehenen – sind durch einen ursprünglichen Vertrag gegründet worden, sondern fast durchweg mittels Machtanmaßung oder Eroberung. Damit kann man der ersten Generation von herrschaftsunterworfenen Bürgern jedoch schwerlich sinnvoll eine ausdrückliche oder stillschweigende Einwilligung in die Herrschaftsordnung zuschreiben. Interessanterweise ließ Hume die Möglichkeit einer auf anderer Grundlage zuschreibbaren, fiktiven Einwilligung der Unterworfenen in diesem Argument außer Acht, obgleich sie ihm – als zeitweiligem Studenten der Rechtswissenschaft in Edinburgh19 – in Form der in der philosophischen Debatte geläufigen römisch-rechtlichen 16 S. Schneewind 17 S. Schneewind
1995, ders. 1995a. 1997, 250–4, Hochstrasser 2000, 72–100, Korkman 2003, Hunter 2004; vgl.
Riley 2006. 18 S. Hume 1739/40, 262–74, 283–301, ders. 1748; vgl. Streminger 1995, 330 ff., Heepe 2011. 19 S. Streminger 1995, 97–102.
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11. Einwilligung statt Wohlergehen: der Kontraktualismus
Kategorie der Quasi-Kontrakte sowie ihrer blackstoneschen „Common-Law“Ausdeutung als „implied contract“ gut bekannt war.20 Hume stützte dieses Argument durch sein zweites Argument, den Hinweis auf die letztlich mangelnde Freizügigkeit auch der nächsten Generationen von herrschaftsunterworfenen Bürgern. Selbst wenn Bürger Eigentums‑ und Besitzrechte in ihrem Heimatland beanspruchen, kann man dies – contra Locke21 – keineswegs ohne weiteres als Zeichen ihrer stillschweigenden Zustimmung deuten, weil sie über keine realistische soziökonomische Möglichkeit zum Verlassen des Staates verfügen. In seinem dritten, wohl nur in einer noch immer latent feudal geprägten Kultur überzeugenden Argument verwies Hume darauf, dass die Gerechtigkeit von Herrschaft intuitiv gar nicht mit Bezug auf eine Bewilligung durch die Bevölkerung sondern mit Bezug auf ererbte Herrschaftsrechte eingeschätzt würde. Das vierte und letzte Argument schließlich brachte Humes Anliegen auf den Punkt. Das vernünftige Eigeninteresse sei ja der Beweggrund für die Einwilligung eines Menschen in eine Herrschaftsordnung. Demzufolge könnte man bei der Legitimation einer Herrschaftsordnung den redundanten Rekurs auf die Einwilligung schlicht überspringen und sich direkt einer Legitimation durch optimale Interessenbefriedigung zuwenden. Kurz gesagt: Einwilligung ist überflüssig, da es ohnedies nur um Interessenbefriedigung geht. Diese kompakte und fulminante Kritik rief vier ideengeschichtliche Reaktionen hervor. Im Kreise der aufgeklärten, gesellschaftskritischen Denker wie der französischen „Philosophes“, wurde der Kontraktualismus zunehmend als wenig hilfreich bei der genauen Formulierung von für erforderlich gehaltenen alternativen politischen Entwürfen wahrgenommen. Speziell bei den schottischen Aufklärern resultierte überdies ein steigendes Interesse an einer philosophisch informierten Sozialgeschichtsschreibung, wie man sie exemplarisch bei John Millar oder Adam Ferguson findet.22 Die naiv-rationalistische, größtenteils politisch motivierte Historie der frühen Aufklärung hatte ausgedient. Die zwei weiteren Reaktionen sind indes die für unsere Belange interessanteren. Einesteils wurde Humes Fokussierung auf Interessen statt Einwilligung ernstgenommen und es keimten utilitaristische Lehren auf. Diese Entwicklung schauen wir uns genauer im übernächsten Kapitel an. Anderenteils wurde das dem Kontraktualismus zugrundeliegende Verständnis von Einwilligung modifiziert, und zwar in Richtung der fiktiven oder hypothetischen Einwilligung. Diesen insbesondere von Rousseau angedeuteten, erst von Kant zum 20 S. Blackstone 1765–9 III.9; vgl. Birks & McLeod 1986, Haakonssen 1986, Condren 1986; s. a. Hutchesons Kritik am zeitgenössischen Rationalisten William Wollaston in ders. 1728, 47–64. 21 S. Locke 1689, 273–8. 22 Vgl. Millar 1779, Ferguson 1767; vgl. allgemein Berry 2003; zu Millars Gerechtigkeitslehre s. Haakonssen 1996, 154–81.
11.3 Eine „bloße Idee der Vernunft“: Hypothetische Einwilligung
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Ende des achtzehnten Jahrhunderts ausgeführten und bis heute nachhallenden Zug wollen wir uns im folgenden Abschnitt in Grundzügen vergegenwärtigen.
11.3 Eine „bloße Idee der Vernunft“: Hypothetische Einwilligung Humes Kritik zeigte bestenfalls, dass eine faktische Einwilligung für existierende Regierungen nicht in relevantem Umfang plausibel begründbar ist, weder explizit noch implizit. Damit bot es sich an, auf eine rein hypothetische Einwilligung zurückzugreifen. Die Klassiker des Kontraktualismus fassten diese Interpretation nicht ins Auge, da sie die von ihnen angestrebte Legitimation von moralischer Verpflichtung nicht ohne weiteres leisten kann. Immanuel Kant war der erste Denker, der sich konsequent über diese Bedenken hinwegsetzte.23 Er erklärte die einschlägige Vertragskonzeption mit den berühmten Worten: „Allein dieser Vertrag (contractus originarius oder pactum sociale genannt) … ist keineswegs als ein Factum vorauszusetzen nötig (ja ein solches gar nicht möglich); gleichsam als ob allererst aus der Geschichte vorher bewiesen werden müßte, daß ein Volk, in dessen Rechte und Verbindlichkeiten wir als Nachkommen getreten sind, einmal wirklich einen solchen Actus verrichtet … haben müsse, um sich an eine schon bestehende bürgerliche Verfassung für gebunden zu achten. Sondern es ist als eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber so zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als ob sie dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können …“24
Die Grundidee des rein hypothetisch interpretierten Kontraktualismus ist die Berufung auf eine Einwilligung, die das betreffende Rechtssubjekt de facto nie gegeben haben muss, weder ausdrücklich noch stillschweigend, aber die es geben würde, wenn es bestimmten relevanten Bedingungen genügt. Diese relevanten Bedingungen idealisieren das menschliche Individuum oder die Entscheidungsbedingungen in einer bestimmten Weise. Bei Kant war zum Beispiel die bestimmte Bedingung Vernünftigkeit – was immer das genau bedeutet. Und tatsächlich kann diese Interpretation von Einwilligung den Kontraktualismus gegen die humesche Kritik immunisieren: wie immer ein Staat entstanden ist, wie wenig auch immer ihn jemand eventuell frei verlassen kann und wie wenig er diesen Staat als berechtigt anerkennt, man kann dem Betreffenden unter Umständen dennoch attestieren, dass er als ideal vernünftige Person diesem Staat seine Einwilligung nicht verweigern würde. Das Problematische dieses Ansatzes liegt allerdings offen zutage: kontrafaktisch kann man jeder Person völlig unabhängig von ihrem natürlichen Willen alle möglichen Einwilligungen zuschreiben, abhängig vom zugrundegelegten 23 S. Riley, 24 Kant
1982, bes. 125–35. Gemeinspruch 297
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11. Einwilligung statt Wohlergehen: der Kontraktualismus
idealisierten Menschenbild. Und das stellt unverkennbar eine erhebliche Gefährdung der liberalen Stoßrichtung des Kontraktualismus dar. Isaiah Berlin sprach in Anbetracht dessen sogar von einem „monströsen Trick“ der Gleichsetzung von paternalistisch idealisierten mit den faktischen Entscheidungen oder Willensstrebungen eines Menschen, als größter Gefahr für die moralischrechtlich schützenswerte individuelle Freiheit.25 Es droht der Wille des realen Menschen für seine moralischen Rechte irrelevant zu werden und stattdessen eine philosophische Anthropologie gleichsam zur moralischen Zwangsjacke zu mutieren. Historisch rettete das kantsche Manöver den Kontraktualismus zunächst nicht: er verlor seine Bedeutung als tragende Gerechtigkeitslehre im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts schleichend, aber fast vollständig. Als allerdings in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts der Kontraktualismus in gewandelter Form seine triumphale Wiederauferstehung im Werk von John Rawls und seinen zahlreichen Apologeten erfuhr, da wurde der hypothetische Einwilligungsbegriff von Anfang an von allen Kontraktualisten ganz selbstverständlich vorausgesetzt. An diesem Punkt wollen wir einen Moment innehalten und zwei kurze historische Exkurse zu Kant und der frühen Wirtschaftswissenschaft einfügen, die bei beiden überraschende Rudimente proportional-reziproken Denkens aufspüren. Beide Rudimente sind für uns in erster Linie als bemerkenswerte Belege für die ungebrochene intuitive Strahlkraft der proportionalen Reziprozität im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert von Bedeutung.
11.4 Ein philosophisches Gerechtigkeitsrudiment: Kants Antinomie der praktischen Vernunft In der „Kritik der praktischen Vernunft“ von 1788 präsentierte Kant eine theoretische Schwierigkeit, die er die Antinomie der praktischen Vernunft nannte.26 Diese Antinomie bezieht sich auf das von Kant bereits früher konzipierte höchste Gut, das in einer Proportionalität von Tugend und Glückseligkeit besteht27 – unschwer ist darin die aristotelische distributive Gerechtigkeit zu erkennen. Dieses höchste Gut verstand Kant jedoch nicht nur als moralischen Wert, sondern 25 S. Berlin 1969, 197–256, Zitat 213 f. Aus der in diesem Zusammenhang erwachsenden Differenzwahrnehmung von menschlicher Lebenswirklichkeit und idealisierter aufgeklärter Anthropologie erwuchsen nicht nur die modernen Sozial‑ und Naturwissenschaften einschließlich der Psychologie, sondern vom späten 18. Jhdt. an auch die Philosophie der Romantik mit ihren Nachfolgern Irrationalismus und Nationalismus; vgl. Berlin 1999. 26 S. Kant KpV bes. 108–21; für das Folgende genauer, mit entsprechenden Belegen zur gelehrten Debatte Heepe 2014a; dagegen Milz 2002. 27 S. Kant V-Mo/K 11 ff., ders. KrV 523–32.
11.4 Ein philosophisches Gerechtigkeitsrudiment
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propagierte auch eine moralische Norm, die seine Verwirklichung gebietet.28 Kant deutete dann zwei sich widersprechende Überlegungen an, die begründen, warum die Befolgung dieser Norm für den Normadressaten einerseits möglich und andererseits unmöglich ist. Und eben darin, so kann man Kant lesen, besteht die Antinomie der praktischen Vernunft. Das Argument für die Möglichkeit der Verwirklichung des höchsten Guts berief sich auf das vom römischen Recht29 bis in die aufgeklärte Naturrechtslehre30 anerkannte Prinzip der Möglichkeit des Gebotenen: wenn jemand zu etwas verpflichtet ist, so kann er es auch vollziehen.31 Daraus kann in Verbindung mit der Norm vom höchsten Gut direkt die Möglichkeit des höchsten Guts abgeleitet werden. Gegen die Möglichkeit des höchsten Guts konnte Kant seine dominante Moralnorm, den kategorischen Imperativ mobilisieren.32 In vereinfachter Weise und nur auf die erste Formulierung desselben bezogen, kann man diesen als das moralische Gebot wiedergeben, stets nach einer verallgemeinerbaren Maxime zu handeln.33 Nimmt man weiterhin an, dass es unmöglich ist, zugleich nach einer verallgemeinerbaren Maxime zu handeln und das höchste Gut zu verwirklichen, so kann man aus dieser These und dem kategorischen Imperativ die Unmöglichkeit der Verwirklichung des höchsten Guts folgern. Die Antinomie der praktischen Vernunft ist mithin Folge einer – für Kant logisch nicht hinnehmbaren34 – moralischen Normenkollision zwischen kategorischem Imperativ und Förderungspflicht bezüglich des höchsten Guts. Kant nutzte bei seiner Auflösung der Antinomie in geschickter Weise die unterschiedliche Ausrichtung der beiden beteiligten Normen. Der kategorische Imperativ ist eine intentionalistische Norm: dem Normadressaten wird eine bestimmte Handlungsintention auferlegt; das daraus resultierende Ergebnis mag sein, wie es will. Die Förderung des höchsten Guts hingegen ist eine konsequenzialistische Norm: dem Normadressaten wird die Realisierung eines bestimmten Handlungsergebnisses befohlen; seine Intention ist sekundär. Diese Konstellation ermöglichte es Kant, eine Erklärung dafür anzubieten, warum entgegen dem ersten Anschein die Anwendung des kategorischen Imperativs als Handlungsabsicht notwendig auch zur Verwirklichung des höchsten Guts führt, womit die genannte moralische Normenkollision hinfällig ist. Kant sah Gott als den Garanten der Koinzidenz beider Normbefolgungen an. Gottes 28 S. Kant
KpV bes. 119, 125, 144; vgl. Irwin 2009, 135–46.
29 D.50.17.185
30 S. z. B. Hobbes 1642, 94, Pufendorf 1673, 33 ff., Wolff 1754, 13, Achenwall & Pütter 1750, 40 f., 52 f., 60 f. 31 S. Kant KpV 114, 125, 144; vgl. Stern 2004. 32 S. z. B. Kant GMS 406–45 u. ö. 33 Überblick zu den Formeln bei: Paton 1962, 152–55, Pogge 1989, vgl. Hruschka 1987. 34 S. Kant V-Mo/K 76, ders. MS 224.
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11. Einwilligung statt Wohlergehen: der Kontraktualismus
unsichtbares Wirken würde sicherstellen, dass die Tugend des Handelns nach dem kategorischen Imperativ – spätestens im postmortalen Nachleben – mit der proportionalen Glückseligkeit sanktioniert wird. Ja mehr noch, Kant leitete aus der Annahme, ausschließlich Gott könne die Korrelation zwischen gebotener Handlungsabsicht und gebotenem Handlungsergebnis garantieren, schlüssig die Existenz Gottes ab.35 Da Kant hier aus moralischen Normen auf die Existenz Gottes schloss, spricht man von einem moralischen Gottesbeweis.36 Im Widerspruch zum ersten flüchtigen Eindruck liegt hier übrigens kein normativer Fehlschluss – als Gegenteil des naturalistischen Fehlschlusses37 – vor. Ein normativistischer Fehlschluss liegt vor, wenn aus einer konsistenten Menge rein normativer Sätze ein nicht tautologischer deskriptiver Satz abgeleitet wird. Das in Kants Argumentation entscheidende Prinzip der Möglichkeit des Gesollten ist nämlich eine gemischt normativ-deskriptive Brückenprämisse, welche die logische Schlüssigkeit des Gedankengangs verbürgt. Auch die systematisch vielleicht zu fordernde Einbeziehung weiterer Erwägungen bezüg‑ lich Gottes Existenz oder Nichtexistenz, kann Kant nicht zur Last gelegt werden, weil er aus erkenntnistheoretischen Gründen solche weiteren Erkenntnisse als prinzipiell unmöglich ansah.38 Warum brachte Kant über den kategorischen Imperativ hinaus die distributive Gerechtigkeit allerdings überhaupt ins Spiel? Wenig freundlich und chronologisch nicht stimmig ist die gelegentlich geäußerte Unterstellung, dies sei lediglich zur Präsentation eines (moralischen) Gottesbeweises geschehen – als persönlichem Schutz vor der in Folge des Wöllner’schen Religionsedikts von 1788 verschärften preußischen Zensur. Wahrscheinlicher wollte Kant jedoch dem alltagsmoralischen Gerechtigkeitsempfinden genügen und zugleich über seine Pflichtlehre hinaus eine Werttheorie konzipieren. Tatsächlich war Gott durch die skizzierte Argumentation letzten Endes jedoch genauso kaltgestellt wie die distributive Gerechtigkeit: Gottes Wirken blieb unsichtbar und die distributive Gerechtigkeit war für das moralische Handeln des Menschen unmittelbar bedeutungslos. Die Idee, zwei Ebenen der moralischen Normierung einzuführen, sollte jedoch noch andernorts Schule machen und wird sich auch für die proportionale Reziprozität als höchst bedeutsam erweisen.
35 S. Kant KpV 122–46. Ohne daraus einen Gottesbeweis zu konstruieren, billigte Hume übrigens ebenfalls zu, dass bei gegebener Existenz Gottes die Tugendproportionalität der naheliegendste Maßstab der Verteilungsgerechtigkeit ist; s. Hume 1751, 112 f. 36 Vgl. Kreis 2011, 339–46. 37 S. Frankena 1974. 38 S. Höffe 1992, 151–63.
11.5 Ein ökonomiehistorisches Gerechtigkeitsrudiment: die Arbeitswerttheorie
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11.5 Ein ökonomiehistorisches Gerechtigkeitsrudiment: die Arbeitswerttheorie Aus der voluntaristisch geprägten Aufklärungsphilosophie entstand die Ökonomie als eigenständige wissenschaftliche Disziplin. Oft wird Adam Smith’ Werk „Wohlstand der Nationen“ als der entscheidende Durchbruch auf dem Weg dahin angesehen. Bei Smith stoßen wir in diesem Zusammenhang auf eine implizite Orientierung an der Verdienstidee. Sie kann den Ethikhistoriker eigentlich nicht verwundern, da sich Smith in seiner Moralphilosophie ja durchaus wohlwollend mit der Idee des Verdiensts auseinandersetzte.39 In Smith’ ökonomischem Denken hingegen mag ein solches Rudiment überraschender sein.40 Im „Wohlstand der Nationen“ präsentierte sich Smith als ein Anhänger der sogenannten Arbeitswerttheorie, die bereits prominent von John Locke propagiert wurde.41 Dieser Theorie zufolge ergibt sich der angemessene Tauschwert von materiellen Gütern aus der zu ihrer Herstellung notwendigen Arbeit. Die relativen Preise entsprechen somit, einer beliebten Formulierung folgend, der in den einzelnen Waren „verkörperten“ Arbeit. Smith räumte dieser Grundidee einen zentralen Platz in seinem Denken ein, worin ihm die klassischen Ökonomen – also die Autoren vor der subjektivistischen Wende im neunzehnten Jahrhundert, wie vor allem David Ricardo – gefolgt sind. Smith erkannte neben der Arbeitswerttheorie allerdings auch noch Grundrente und Gewinn als Preisfaktoren in Gesellschaften jenseits der Jäger-und-Sammler-Kulturen an. Ricardo verabsolutierte demgegenüber die Arbeitswerttheorie. In Smith’ Arbeitswerttheorie werden überdies drei Deutungen derselben nicht exakt auseinandergehalten. Der Ökonomiehistoriker Joseph Schumpeter nannte sie: die Arbeitsmengen-Deutung, die Arbeitsleid-Deutung und die KostenDeutung.42 Nach der ersten zählt im Grunde nur die Arbeitszeit, nach der zweiten die mit der Arbeit einhergehende Mühe und nach der dritten die durch die Arbeit verursachten Lohnkosten. Insbesondere die Kosten-Deutung ist dabei offensichtlich in Gefahr, eine zirkuläre Erklärung des Preises zu liefern. Ricardo schränkte die Arbeitswerttheorie dann konsequenterweise auf den ersten Faktor ein, die Arbeitszeit.43 Der seinerzeit recht anerkannte ricardianische Ansatz wurde in der erblühenden Wirtschaftswissenschaft alsbald zugunsten fruchtbarerer subjektivistischer 39 S. Smith 1759, 95–165; vgl. Haakonssen 1981, 63–66, Ballestrem 2001, 69–75, Irwin 2008, 694–700. 40 Zum Folgenden s. Schefold & Carstensen 1994, Pribram 1998, bes. 247–50, 280–87, Schumpeter 1954, 721–31. 41 S. Locke 1689, 216 f., Smith 1776, bes. 42–48; vgl. Ballestrem 2001, 161–66. Zu den mittelalterlichen Wurzeln der Arbeitswerttheorie s. Langholm 1998. 42 Schumpeter a. a. O. 43 S. Ricardo 1821, 15–54.
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11. Einwilligung statt Wohlergehen: der Kontraktualismus
Ansätze verlassen. Ein prominenter Anhänger der Arbeitswerttheorie und wirtschaftswissenschaftlicher Außenseiter von Format widersetzte sich jedoch dieser allgemeinen Tendenz: Karl Marx. Für Marx war im ersten Band des „Kapital“ nur Arbeit, nicht jedoch Boden oder Kapital wertschöpfend.44 Der Tauschpreis von Waren beruhte für Marx ausschlaggebend auf der Arbeitszeit, wobei unterschiedlich qualifizierte Arbeit aufeinander beziehbar unterschiedlich wertschöpfend sein sollte – eine Stunde chirurgischer Arbeit entspräche dann vielleicht zwei Stunden eines Modellbautischlers. (Einen konkreten Vergleichsmaßstab blieb Marx allerdings ebenso wie die Klassiker schuldig.) Etwas präziser formulierte er, dass der Tauschpreis sich aus dem eingesetzten Kapital, der Lohnzahlung und dem durch die Arbeit erzielten Mehrwert ergibt. Und eben das Einbehalten des Mehrwerts durch den arbeitgebenden Kapitalisten erschien aus marxistischer Sicht letztlich anstößig.45 Inwiefern ist die Arbeitswerttheorie ein Rudiment distributiv-reziproker Gerechtigkeitskonzepte? Insofern man sie streng deskriptiv liest, ist sie in dieser Weise natürlich nicht zu werten – allerdings aus verschiedensten Gründen auch kaum haltbar. Bei allen genannten Autoren schwingt jedoch überdies eine normative Komponente mit, die besonders in der Arbeitsleid-Deutung zum Ausdruck kommt. Hier erfährt der Arbeiter, in der Sprache der proportionalen Reziprozität gesprochen, eine Verminderung seiner Begüterung (das Arbeitsleid) und der Kapitalist eine Steigerung seiner Begüterung (durch die entstehende Ware bzw. den resultierenden Verkaufsgewinn abzüglich der Lohnkosten). Infolgedessen muss der Arbeiter in einer adäquaten Weise vom Kapitalisten bessergestellt bzw. entschädigt werden.46 Anders als bei subjektivistischen Ansätzen – die letztlich auf der Vertragsfreiheit beruhen – gibt die Arbeitswerttheorie hier der Idee nach einen präferenzunabhängigen normativen Maßstab für die Entschädigung vor. In diesem Sinne kann man Marx trotz seiner teils heftigen Kritik am bürgerlichen Gerechtigkeitsbegriff 47 durchaus als einen unausgesprochenen Verfechter einer verdienstbasierten Ethik ansehen.48
11.6 Moderner Kontraktualismus: Rawls und Andere Mit Kant war der naturrechtliche Kontraktualismus auf einem frühen Höhepunkt angelangt. Im neunzehnten Jahrhundert dann verlor sich der Einfluss der kontraktualistischen Philosophie nach und nach unter dem Eindruck von theoretischen Programmen wie Utilitarismus, Historismus, Evolutionismus 44 S. Marx
1872, 49–61. 1872, bes. 210–22; vgl. Ryan 1927, 126 ff., Fetscher 1999, 99–114. 46 Zur Problematik dieser Annahme vgl. Olsaretti 2003. 47 Vgl. Fleischacker 2004, 96–103, Irwin 2009, 239–50. 48 S. Pojman 2001; vgl. Sidgwick 1907, 280. 45 S. Marx
11.6 Moderner Kontraktualismus: Rawls und Andere
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und Sozialismus49, ohne dass es jedoch zu einer Wiederaufnahme eudämonistischen Denkens jenseits des im selben Zeitraum erstarkenden Utilitarismus kam. Reste kontraktualistischen Denkens kann man gleichwohl in etlichen unbeachteten Stellen großer Werke aufstöbern. Der im frühen neunzehnten Jahrhundert äußerst einflussreiche englische Moralphilosoph William Whewell wollte beispielsweise die Redeweise vom Sozialkontrakt nicht aufgeben, interpretierte diesen jedoch geradezu als die faktische Verfassung von Staaten.50 In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts kam dann die normative Moral‑ und Staatsphilosophie generell aus verschiedenen Gründen weitgehend zum Erliegen. Ideengeschichtlich dominierten im kontinentaleuropäischen Bereich philosophiehistorische Ansätze, im angelsächsischen Bereich metaethische Fragestellungen. Es ist das Verdienst insbesondere von John Rawls nach dem zweiten Weltkrieg eine Wendung der Moral‑ und Staatsphilosophie zum Normativen eingeleitet zu haben. Diese Entwicklung ging mit einer durchschlagenden Utilitarismuskritik und einer Rehabilitation des Kontraktualismus einher. Rawls nahm in vieler Hinsicht die Debatte da auf, wo das frühe neunzehnte Jahrhundert sie verlassen hatte. Man kann Rawls’ Rehabilitation der normativen Ethik vielleicht als philosophische Widerspiegelung der turbulenten gesellschaftlichen Strömungen in den westlichen Gesellschaften während der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts begreifen. Rawls’ legte seine Gerechtigkeitstheorie 1971 vor und entwickelte sie in verschiedenen Werken weiter.51 Sein Hauptwerk ist ideenreich und komplex strukturiert. Extrem verkürzt kann man den Inhalt in fünf Punkten zusammenfassen. Erstens sah Rawls seine Gerechtigkeitsprizipien als systematisierten Ausdruck der moralischen Gesinnung zivilisierter Menschen und zugleich als durch einen hypothetischen Vertrag unter idealisierten Bedingungen (dem „Urzustand“ mit allseitigem Nichtwissen über die eigene gesellschaftliche Position) begründet an. Zweitens propagierte Rawls zwei Prinzipien der Gerechtigkeit. Deren erstes, vorrangiges sprach allen Bürgern gleiche Grundrechte auf bestimmte Grundgüter zu. Das zweite, nachrangige Gerechtigkeitsprinzip („Differenzprinzip“) erkannte ungleiche Verteilungen von Gütern unter der Bedingung als gerecht an, dass sie den Schlechtestgestellten zum Vorteil gereichen. Drittens fokussierte sich Rawls mit seinen Gerechtigkeitsprinzipien auf soziale Institutionen, nicht moralische Normen oder Tugenden. Wie oben schon diskutiert präsentierte Rawls seine Theorie jedoch, viertens, als eine „ideale“ Theorie (also unter der Annahme vollständigen Gesetzesgehorsams) und ignorierte komplett die staatliche Strafe und deren notwendiges ethisches Fundament. Fünftens war Rawls dezidiert uti‑ 49 S. Gough
1957, Kap. 12 ff. 1845, 421–34. 51 S. Rawls 1971, ders. 1993; vgl. Kersting 1993, Pogge 1994. 50 S. Whewell
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11. Einwilligung statt Wohlergehen: der Kontraktualismus
litarismuskritisch. Er sah seine Gerechtigkeitskonzeption unter anderem deshalb als überlegen an, weil sie sich auf das Rechte ohne Bezug auf das Gute bezieht. (Der Utilitarismus – wie auch seine eudämonistische Schwester, die proportionale Reziprozität – leitet hingegen das Rechte aus dem Guten ab.) Angesichts des unterstellten Faktums der Pluralität der individuellen Wertvorstellungen in der modernen westlichen Welt erscheint eine Unabhängigkeit von Ideen des Guten als überlegene Strategie einer akzeptablen Gerechtigkeitsnorm. Rawls stellte in vielerlei Hinsicht die Weichen für seine Nachfolger. Sowohl der Verzicht auf fundamentalistische Letztbegründungen als auch die Vertragsmetapher waren im Anschluss an ihn moralphilosophische Mehrheitspositionen. Inhaltlich schlossen sich die meisten Autoren der Konzentration auf gleiche Rechte und den Schutz eines Wohlfahrtsminimums in der einen oder anderen Form an. Auch institutionalistisch, straflos und anti-utilitaristisch gaben und geben sich die Mehrheit der wichtigen politikphilosophischen Denker seit Rawls. Kritik kam einerseits von überlebenden Utilitaristen und andererseits radikalliberalen Autoren wie etwa dem Individualrechtstheoretiker Robert Nozick oder – sogar egoistisch-kontraktualistisch argumentierend – David Gauthier.52 Beide Gegenströmungen konnten aber die alltagsmoralische Fundierung nicht nachweisen, die Rawls damals zugebilligt wurde. Sie blieben letztlich Randpositionen. Da der Kontraktualismus demzufolge – mehr noch als der Utilitarismus – eine lebendige Gerechtigkeitsphilosophie ist, müssen wir zu ihm Stellung beziehen. Zu wichtigen substanziellen, qua Kontrakt begründeten Gerechtigkeitsnormen – dem eigentlichen Zielbereich unserer Studie – haben wir ja oben bereits kritische Überlegungen angestellt, indem wir sie individualethisch interpretierten.
52 S. Nozick
1974, Gauthier 1986.
12. Einwilligung statt Wohlergehen: Kontraktualistische Gerechtigkeit Aufbauend auf dem vorherigen, primär historischen Kapitel werden wir in diesem Kapitel das systematische Profil des Kontraktualismus in groben Zügen nachvollziehen. Der Kontraktualismus ist immerhin die wichtigste grundlegende juridische Alternative zu den später in unserem Buch im Vordergrund stehenden eudämonistischen Ansätzen. Das Ziel dieses Kapitels kann selbstverständlich keine abschließende Bewertung des Kontraktualismus sein, sondern lediglich eine gewisse selektive und vorläufige Bestandsaufnahme. Der Kontraktualismus ist der reifste Ausdruck des juridischen Paradigmas. Ein direkter Vergleich mit dem – nach unserer Einschätzung – besten Ausdruck des eudämonistischen Paradigmas, nämlich der proportionalen Reziprozität, ist indes nicht ohne weiteres möglich.
12.1 Kontraktualismus als moralisches Paradigma Der Kontraktualismus als moralphilosophische Theorie trägt deutlich die Züge eines kuhnschen Paradigmas, das man etwa in Gestalt der wissenschaftstheoretisch weiterentwickelten Vorstellung von Theorienstrukturen bei Imre Lakatos verstehen kann.1 Der Kontraktualismus hat so gesehen einen harten Kern, der vor allem durch die Bezugnahme auf Einwilligung als Kriterium gerechter Handlungen oder Institutionen gekennzeichnet ist. Wir nannten Theorien dieser Art juridisch. Dieser Kern ist nicht direkt falsifizierbar. Er wird jedoch von einer weichen Hülle von stärker falsifizierbaren Schutzhypothesen umgeben, die je nach Datenlage erheblich variabel sind. So ist etwa die Bedeutung des Einwilligungsbegriffs von zahlreichen Zusatzannahmen abhängig; speziell von anthropologischen und rationalitätstheoretischen Annahmen. Bevor wir hier genauer nachhaken, sollten wir uns aber klarmachen, was dieser Paradigmencharakter eigentlich bedeutet. Er hat die unmittelbare Folge, dass die Entscheidung zwischen dem Kontraktualismus und seinen eudämonistischen Kontrahenden nicht einfach mit ein paar spezifischen Beobachtungen zu leisten ist. Was immer der Kontraktualismus als moralphilosophische Theorie kann 1 Vgl.
Losee 2001, 197–206, Moulines 2008, 99–122.
124
12. Einwilligung statt Wohlergehen: Kontraktualistische Gerechtigkeit
oder nicht kann, muss sehr umfassend geprüft werden und dann einer ebenso umfassenden Prüfung der Alternativen gegenübergestellt werden. Insbesondere müssen stets vielfältige Zusatzannahmen mitbeachtet und variiert werden. Das heißt letztlich, dass wir in unserem vorliegenden, begrenzten Kontext keinesfalls auch nur annähernd eine angemessene Bewertung des Kontraktualismus vornehmen können. Was wir stattdessen gleichwohl anbieten können, ist lediglich, ein paar Eigenschaften des Kontraktualismus als Gerechtigkeitsnorm herauszugreifen, die nützlich für einen vorläufigen Vergleich mit der proportionalen Reziprozität sind.
12.2 Kontraktualismus und gelingendes Leben Die größte Stärke des Kontraktualismus als moralphilosophische Theorie ist zugleich seine größte Schwäche: die Abstinenz vom Thema des gelingenden Lebens. Infolge ihrer historischen Entwicklung und systematischen Ausrichtung haben die kontraktualistischen Ansätze der Sache nach darauf verzichtet, Überlegungen zum gelingenden Leben zu integrieren. Festzulegen, was für ein menschliches Individuum gut oder schlecht, nützlich oder schädlich ist, war nie Bestandteil kontraktualistischer Gerechtigkeit. Vielmehr ist der Kontraktualismus – prinzipiell schon bei den Klassikern, aber bewusst betont bei deren Nachfahren im zwanzigsten Jahrhundert – in diesem Punkt zutiefst liberal: jedem bleibt es letztlich selbst überlassen, für sich festzulegen, was er anstrebt oder nicht. Und innerhalb seiner moralischen Rechte kann der Einzelne demnach mehr oder weniger machen, was er will. Aus diesem Grund ist der Kontraktualismus für liberale politische Kräfte immer eine äußerst attraktive Legimitationsoption gewesen – und hat von konservativen oder sozialistischen Denkern immer wieder heftige Kritik einstecken müssen. Vorteilhaft an dieser Ausklammerung der Vorstellungen eines guten Lebens ist genauer gesagt zweierlei. Erstens ist die anscheinend damit einhergehende Komplexitätsreduktion theoretisch entlastend: ein notorisch schwieriges moralphilosophisches Themengebiet bleibt außen vor. Das menschliche Wohlergehen muss in keiner Weise konzipiert werden. Insbesondere müssen keinerlei Verfahren zum Vergleich verschiedener Niveaus der jeweiligen individuellen Wohlfahrt bereitgestellt werden, was bekanntlich ungeachtet der verwendeten Wohlfahrtstheorie erhebliche Schwierigkeiten aufwirft. Im liberalen Denken des zwanzigsten Jahrhunderts war die Idee, das individuelle Gute könne nicht allgemein konzipiert werden, nahezu ein Gemeinplatz, der etwa bei der Kommunitarismusdebatte der achtziger und neunziger Jahre eine entscheidende Rolle spielte.2 2 Übersicht
z. B. bei Kymlicka 199, 199–237.
12.2 Kontraktualismus und gelingendes Leben
125
Zweitens existiert in der wirklichen Welt ungeachtet der einschlägigen Konzeption des gelingenden Lebens so gut wie nie eine effektive zentrale Vertei‑ lungsinstanz, welche das individuelle Wohlergehen gerecht austeilen kann.3 Selbst bei einer – wahrscheinlich unangemessen engen – auf materielle Güter beschränkten Wohlfahrtstheorie, ist kaum vorstellbar, dass der Staat, oder wer auch immer, fortlaufend für die Einhaltung einer gerechten Wohlfahrtsverteilung sorgt. Insofern ermutigt der Kontraktualismus nicht zu einem Appell an etwas Unmögliches, was als Vorteil gegenüber konsequenzialistischen Ansätzen begriffen werden kann. Der Kontraktualismus kann also die Einschätzung über die für das individuell gelungene Leben notwendigen Güter den menschlichen Individuen selbst überlassen und braucht bei den von ihm legitimierten Verteilungsinstitutionen nicht vertieft auf Wohlfahrtsbelange einzugehen. Beides macht die moralphilosophische Theorie des Kontraktualismus zum einen einfacher und setzt sie zum anderen weniger den Schwierigkeiten völlig ungelöster ethischer und praktischer Probleme aus. Das ist die aus der Abstinenz von Vorstellungen des gelingenden Lebens folgende Stärke. Die aus dieser Enthaltung folgende Schwäche ist aber gleichfalls unübersehbar: der Kontraktualismus droht, das eigentliche Thema der Gerechtigkeit zu verfehlen. Das gelingende Leben ist das, worum es den menschlichen Individuen für sie selbst in moralischer Hinsicht geht. Und ernstgemeinte Gerechtigkeit ist mit genau dem Problem beschäftigt, wie Individuen oder Institutionen die Güter, die das gelingende Leben konstituieren, verteilen sollen. Dies gilt insbesondere bei – allfälligen – Situationen moderater Güterknappheit, moderater Eigennützigkeit und moderater Kräftegleichheit der Akteure – den sogenannten humeschen Bedingungen der Gerechtigkeit (s. u. 12.4).4 Eine Vermeidung dieses Aspekts der Gerechtigkeit ist somit aus praktischer Sicht eigentlich unmöglich.5 Der kontraktualistische Zug, die Verteilungsregeln einer hypothetischen Einmütigkeit zu überlassen, ist hier allenfalls überzeugend, wenn vorgängig nachweisbar ist, dass nicht nur die Grundannahmen des Kontraktualismus stimmen, sondern darüber hinaus, dass die kontraktualistisch legitimierten Regeln substanziell gerechte Verteilungen erzeugen. Die nächstliegende – und von der radikal-liberalen Staatsphilosophie weidlich genutzte – Alternative besteht für den Kontraktualisten darin, substanzielle Gerechtigkeit als Illusion abzutun und für eine reine Verfahrensgerechtigkeit einzutreten: also das, was jemandem nach kontraktualistisch begründeten Normen oder Institutionen zufällt, ist sein gerechter Anteil, völlig unabhängig von intuitiven Bewertungen des erzeugten Verteilungsmusters. Man darf allerdings 3 S. Hayek
1981, bes. 99–105, Nozick 1974, bes. 155–64. 1739/40, 317 f., ders. 1751, 101–12. 5 S. das überzeugende Plädoyer von Skidelsky & Skidelsky 2014. 4 S. Hume
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12. Einwilligung statt Wohlergehen: Kontraktualistische Gerechtigkeit
mit Fug und Recht bezweifeln, dass diese Alternative wirklich überzeugen kann. Die intuitiven Bewertungen von Verteilungsprofilen sind aus psychologischer Sicht demgegenüber viel zu stark ausgeprägt, um einfach ignoriert werden zu können (vgl. 3.2). Letzten Endes beurteilbar wäre eine solche Überlegung natürlich erst nach Analyse konkreter kontraktualistischer Normen. Ein noch kürzeres Fazit dieses ohnedies knapp bemessenen Abschnitts wäre: der exklusive Fokus auf das Richtige im Kontraktualismus ist gut für die Theorie, aber schlecht für die Praxis.
12.3 Kontraktualismus und moralphilosophische Erklärungskraft Eine allseits aus der humeschen Kontraktualismuskritik gezogene Lehre war die Fokussierung auf die hypothetische Einwilligung. Diese fürs erste ja sinnvolle Fokussierung bereitet dem Kontraktualismus als moralphilosophischer Theorie jedoch ein gravierendes Problem. Genauer gesagt, gerät er in eine Zwickmühle: entweder er kann die moralische Verpflichtungskraft von Moralnormen nicht mehr begründen oder er muss derart anspruchsvolle Hilfsannahmen bemühen, dass sein theoretischer Vorzug gegenüber dem eudämonistischen Konsequenzialismus auf der Strecke bleibt. Das muss näher erläutert werden. Hypothetische Einwilligung bedeutet im Grunde die Einwilligung von Personen unter kontrafaktischen, idealisierten Bedingungen. Genauer gesagt, kann man die Einwilligungssituation idealisieren oder die einwilligenden Personen.6 Die erste Variante wählt etwa Rawls.7 Bei ihm entscheiden weitgehend normale Menschen in einer hochgradig artifiziellen Entscheidungsituation über die ideale Rechtsordnung, nämlich aus einer Position des Nichtwissens über ihre soziale Position in der zu bewilligenden künftigen Gesellschaft. Die zweite Variante propagiert beispielsweise David Gauthier.8 Bei ihm entscheiden die Kontrahierenden über eine soziale Ordnung, in der sie ihren persönlichen Platz gemessen an ihren Fähigkeiten und Interessen einschätzen können. Aber die Kontrahierenden werden als streng rationale Egoisten im Sinne des Homo oeconomicus präsentiert. Beide Idealisierungen trifft jedoch die gleiche Kritik, die in Frageform lautet: warum sollte für wirkliche Menschen moralisch verbindlich sein, was ihnen vergleichbare Menschen in einer völlig unrealistischen Situation oder völlig unrealistisch gestaltete Menschen in einer nachvollziehbaren Situation bewilligen würden? Warum sollte – bezogen auf Rawls – meine fiktive Entscheidung ohne ein Wissen um wesentliche Determinanten meiner Wahl9 oder – bezogen auf Gauthier – die Entscheidung eines mir bestenfalls entfernt 6 S.
allgemein Barry 1989, 320–53. 1971, bes. 140–220. 8 S. Gauthier 1986, bes. 21–59. 9 Vgl. Dworkin 1977, 253–39. 7 S. Rawls
12.3 Kontraktualismus und moralphilosophische Erklärungskraft
127
ähnlichen egozentrischen Soziopathen irgendeine moralische Geltung für mich beanspruchen können? Kontraktualistischerseits werden meist zwei Verteidigungen gegen diese Kritik in Stellung gebracht. Die erste will das Vertragsmodell als theoretische Explikation eines moralischen Werts sehen. So kann Rawls’ Unwissenheitsklausel als Versuch gedeutet werden, die Idee der Unparteilichkeit oder ein ähnliches politisches Ideal zu erklären.10 Diese Verteidigung ist jedoch eher wenig effektiv, da man in so einem Fall immer auch ganz direkt über den zu explizierenden Wert, also etwa Unparteilichkeit, diskutieren kann. Es ist nicht recht ersichtlich, was das Vertragsmodell in dieser Hinsicht an darüber hinaus gehender Erklärungsleistung liefern könnte. Das ganze mutet mehr wie eine Illustration an. Und offensichtlich gelingt es dem so eher explanativ verstandenen Kontraktualismus nicht, die moralische Verbindlichkeit des explizierten Werts irgendwie über seine intrinsische Verbindlichkeit hinaus zu erhöhen. Nebenbei bemerkt ergibt sich aufgrund der unterstellten Gleichartigkeit der Kontrahierenden genauer besehen auch kein echter Unterschied zu Theorien des idealen Beobachters als Maßstab der Moral, wie sie in der schottischen Aufklärung im Schwange waren.11 Die zweite kontraktualistische Verteidigung läuft im Grunde darauf hinaus, innerhalb des Vertragsmodells eine epistemisch höherwertige Norm als Begründung für die durch das Vertragsmodell begründete Norm einzusetzen. Der rationale Egoist Gauthiers (und anderer) etwa folgt einer Norm der egoistischen Klugheit. Diese Norm wird im Vergleich zu den mit ihr begründeten Moralnormen oder Institutionen als entweder einsichtiger oder – im deutlichen Widerspruch zur empirisch-anthropologischen Forschung12 – als irgendwie psychologisch realitäts‑ näher angesehen, so dass eine Erklärung moralischer Normen mit ihrer Hilfe ein theoretischer Gewinn sein könnte. Dieser theoretische Gewinn entsteht jedoch nur, wenn die erklärend-begründende Norm wirklich entweder realitätsnäher oder einsichtiger ist. Eben das ist aber in der Regel nicht der Fall. Starke Erklärungskraft erhält diese MetaNorm nämlich nur, wenn sie den Entscheider als amoralisch konzipiert. Da Menschen de facto aber in beträchtlichem Maße moralisch sind, geht dies in jedem Fall zu Lasten ihrer Realitätsnähe. Und einsichtiger ist diese Norm in der Regel gleichfalls nicht. Man denke nur an die Schwierigkeiten zu erklären, was beispielsweise rationaler Egoismus überhaupt ist: was maximiert der rationale Egoist denn eigentlich für Güter? Wie steht er zur zeitlichen Realisierung der betreffenden Güter – ist heute weniger zu nehmen unvernünftig, wenn morgen andernfalls mehr genommen werden kann? Welche Erkenntnisregeln ermöglichen ihm eine optimale Förderung seines Eigennutzes? Bei all diesen 10 Vgl.
Rawls 1993, 89–97. bei Broadie 2006; vgl. Firth 1952. 12 Transkulturell z. B. Henrich et al. 2005. 11 Übersicht
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12. Einwilligung statt Wohlergehen: Kontraktualistische Gerechtigkeit
Themen stößt der Kontraktualist auf eben die Probleme, die er durch Ausklammerung der Theorie des gelingenden Lebens eigentlich umschiffen möchte. Dass bereits kleinste Unterschiede in der Art der Konzeptualisierung der Entscheider erheblich unterschiedliche kontraktualistisch legitimierte Sozialnormen bedingen, illustriert übrigens schön die seinerzeit bekannte Rawls-HarsanyiDebatte, bei der aus der unterschiedlichen angenommenen Risikoaversion der Kontrahierenden entweder das Differenzprinzip oder ein Durchnittsnutzen-Utilitarismus abgeleitet wurde.13 Die Entwicklung des Kontraktualismus im zwanzigsten Jahrhundert bestätigt unsere Einschätzung. Bei Rawls selbst spielte die kontraktualistische gegenüber der alltagsmoralischen Begründung seiner Normen im Laufe seiner Werkgeschichte eine immer geringere Rolle. Wobei allerdings die empirische Erforschung der Alltagsmoral seine Normen, wie beschrieben, nicht gerade unterstützt. Und auch im liberalen Lager gab es von Anfang an Denker, die den Vertragsgedanken ignorierten und sich lieber direkt den fraglichen moralischen Normen und Werten zuwandten. So kann etwa Robert Nozicks moralische Individualrechtstheorie in diesem Lichte gelesen werden, da bei ihr direkt mithilfe von Rechten argumentiert wird, ohne einen damit verbundenen Rekurs auf einen Sozialkontrakt.14 Und auch die zahlreichen alternativen gleichheits‑ oder freiheitsorientierten Normen der weiteren Debatte verzichteten in der Regel auf kontraktualistisches Beiwerk.
12.4 Kontraktualismus und Konsequenzialismus Folgt der Leser unserer im Endergebnis recht kritischen Einschätzung des Kontraktualismus, so gewinnen eudämonistisch-konsequenzialistische Ansätze sicherlich wieder mehr Interesse. Bevor wir aber weiter in diese Richtung denken, sei der Vollständigkeit halber noch auf ein interessantes strukturelles Merkmal beider gegenläufigen Ansätze hingewiesen: sie sind ohne weiteres kom‑ binierbar. Für jede substanzielle Moralnorm – so könnte man behaupten – kann ein sie fundierender Kontraktualismus ersonnen werden. Man kann sich etwa vorstellen, dass aus einer kontraktualistischen Theorie die proportionale Reziprozität abgeleitet wird, etwa bei hinreichend stark gerechtigkeitsorientierten Vertragsnehmern. Bietet man Menschen des westlichen Kulturkreises experimentell die hypothetische Auswahl über ihre künftige Gesellschaft, so könnten demgemäß weniger kollektiver Wohlstand als vielmehr meritokratische Verteilungsmechanismen zu einer Befürwortung führen.15 Oder man kann 13 S. Harsanyi
1977; vgl. Gauthier 1986, 233–267. 1974. 15 S. die entsprechenden empirischen Studienergebnisse von Mitchell et al. 1993. 14 S. Nozick
12.4 Kontraktualismus und Konsequenzialismus
129
analog Harsanyi bei rationalen Nutzenmaximierern ohne starke Risikoaversion einen Durchschnittsnutzen-Utilitarismus kontraktualistisch begründen. Auch Rawls’ Differenzprinzip – dem zufolge Ungleichheiten akzeptabel sind, wenn sie dem Wohl der Schlechtestgestellten dienen – kann als eine in diesem Sinne konsequenzialistische Auffassung vertragstheoretisch durch stark risikoaverse Grundgüter-Maximierer fundiert werden. Diesem kurzen Hinweis wollen wir hier aber nicht weiter nachgehen. Es sei nur zur Abrundung darauf hingewiesen.
13. Eine missglückte eudämonistische Rehabilitation: der Utilitarismus Aus der Krise des Kontraktualismus im späten achtzehnten Jahrhundert erwuchs der Eudämonismus bzw. Konsequenzialismus in Gestalt des Utilitarismus neu. Bemerkenswert ist, dass sich mit dem Utilitarismus eine vorderhand wenig an Gegenseitigkeit und Verteilungsgerechtigkeit orientierte Variante des Konsequenzialismus durchsetzte. Wir werden in diesem Kapitel daher zunächst ideengeschichtlich nachvollziehen, wie sich der Utilitarismus entwickelte. Sodann werden wir das systematische Verhältnis des Utilitarismus zur Gerechtigkeit untersuchen. Dies ist eine Voraussetzung für den Vergleich der Leistungsfähigkeit des Utilitarismus als Gerechtigkeitsnorm mit der proportionalen Reziprozität. Und dieser ist wiederum aus zwei Gründen von Bedeutung. Erstens ist der Utilitarismus auch heutzutage immer noch eine beachtenswerte systematische Lehre mit ernstzunehmenden Anhängern, wenn auch in abnehmender Zahl.1 Zweitens ist der Utilitarismus unstrittig die wichtigste eudämonistische Alternative zur proportionalen Reziprozität.
13.1 Die Wende zum Utilitarismus im achtzehnten Jahrhundert Humes Kontraktualismuskritik – oder besser: die in ihr wirkmächtig artikulierte geistesgeschichtliche Strömung – führte zu einer Rückbesinnung auf ein unter den vorherrschenden voluntaristischen Konstrukten verborgenes, jedoch nie ganz abgelegtes Konzept der Gerechtigkeit: das Gemeinwohl. Schon Aristoteles operierte mit diesem Begriff in seiner politischen Philosophie zur Legitimation eines konkreten Herrschaftsverhältnisses und darin sind ihm zahllose Autoren über Cicero bis ins Mittelalter gefolgt. Allseits wurde die Erhaltung oder Förderung des Gemeinwohls der betreffenden Gesellschaft, mehr oder weniger eindeutig, als Merkmal gerechter Herrschaft und Gesetzgebung empfunden. Der tatsächliche systematische Stellenwert der Gemeinwohlförderlichkeit in den stark theokratisch und kontraktualistisch geprägten Gerechtigkeitstheorien des Mittelalters und der frühen Neuzeit war jedoch eher gering. Selten wurden 1 S.
z. B. Brandt 1979, Hare 1992, Braybrooke 2004, Greene 2013.
13.1 Die Wende zum Utilitarismus im achtzehnten Jahrhundert
131
konkrete Moralnormen oder politische Strukturen direkt oder hauptsächlich durch ihre Gemeinwohlförderung begründet. Einer der ersten aufgeklärt-naturrechtlichen Autoren, die dem Gemeinwohl ein spürbar höheres Gewicht verliehen, war im späten siebzehnten Jahrhundert der englische Bischof Richard Cumberland. Cumberlands Theorie ist zuvörderst als ein Versuch zu begreifen, die für die Naturrechtsbewegung wegen ihres in weiten Teilen undogmatischen und häretischen Charakters gefährlichen Lehren Hobbes’ zu neutralisieren.2 Seine in unzähligen Abwandlungen angebotene Grundnorm der allgemeinen Wohltätigkeit verlangt eine Förderung des Gemeinwohls, das – eine Innovation Cumberlands – explizit als Aggregat der jeweiligen individuellen Wohlfahrt aller Vernunftwesen definiert wird. Diese Norm interpretierte Cumberland zugleich als göttlichen Imperativ, den man aus der sorgfältigen Naturbeobachtung ableiten könne. Wohlfahrt oder Glückseligkeit wurde von Cumberland nicht präzise definiert. Er war jedoch keinesfalls ein schlichter Hedonist, sondern individuelle Wohlfahrt war bei ihm auch stark durch Vollkommenheit bestimmt.3 Mögliche Konflikte zwischen individueller und kollektiver Wohlfahrtsförderung bedachte Cumberland vor diesem Hintergrund nicht. Cumberlands antihobbessche Fokussierung auf das Gemeinwohl zeigte eine gewisse Wirkung, beispielsweise betonte Pufendorf diesen Aspekt in seinem erst nach der Publikation der cumberlandschen Schrift verfassten Naturrechtskompendium stärker als im vorausgehenden umfangreichen Naturrechtswerk.4 Besonders ausgeprägt war Cumberlands Einfluss jedoch auf die schottische Aufklärung, speziell über den Pufendorfianer Gershom Carmichael und dessen Schüler Francis Hutcheson. Hutcheson vertrat zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts eine protoutilitaristische Lehre, der zufolge die Begründung von Staat, Individualrechten, Strafgerechtigkeit und individueller Tugend in ihren die kollektive Glückseligkeit optimierenden Wirkungen liegt.5 Er propagierte bereits die durch Jeremy Bentham später popularisierte Phrase vom „größten Glück der größten Zahl“, die ursprünglich von Leibniz höchstselbst stammen könnte.6 Hutcheson rekapitulierte auf dieser Basis ein stark durch Pufendorfs Theorie geprägtes Naturrechtssystem, dessen legitimatorische Basis indes die kollektive Glückseligkeit blieb.7 Hutchesons Landsmann Hume unterstützte, wie oben dargelegt, mit seiner Kontraktualismuskritik eine Wendung zu gemeinwohlorientierten Ansätzen als Basis der Gerechtigkeit. Seine eigene Gerechtigkeitstheorie oszillierte allerdings 2 S. Cumberland
1672; vgl. Schneewind 1997, 101–117, Parkin 1999, Haakonssen 2001 2008, 226 f. 4 S. Pufendorf 1673, 48, und v. a. bei seiner Straftheorie, 190–95. 5 S. Hutcheson 1725, 61–81; vgl. Haakonssen 1996, 63–85, Schneewind 1997, 333–42. 6 Hutcheson 1725, 71, s. Hruschka 1991; vgl. Shackleton 1972. 7 S. Hutcheson 1742; vgl. Irwin 2008, 420–38. 3 Irwin
132
13. Eine missglückte eudämonistische Rehabilitation: der Utilitarismus
in recht unklarer Weise zwischen einem Utilitarismus und einer Moral des gegenseitigen Vorteils.8 Bevor schließlich die klassischen Utilitaristen in Erscheinung traten, bildete sich bereits in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in Großbritannien die für die nächsten hundert Jahre sozialhistorisch beträchtlich einflussreichere Schule der theologischen (oder auch anglikanischen) Utilitaristen heraus, zu der zum Beispiel John Gay, Edmund Law, Abraham Tucker, Thomas Rutherford und, besonders prominent, William Paley gezählt werden.9 Diese wichtige Schule führte zwei ideengeschichtliche Strömungen zusammen, nämlich die protestantische Naturrechtslehre, wie wir sie bei Grotius und seinen Nachfolgern kennengelernt haben, und den aufgeklärten Neo-Epikureismus, wie er ausgehend von Pierre Gassendi und anderen zunächst besonders über Hobbes nach Großbritannien einsickerte.10 Beide Strömungen vereinigten sich dann bereits bei John Locke. Zum einen sah Locke, ganz voluntaristisch-naturrechtlich, moralische Verpflich tung nur vor dem Hintergrund eines göttlichen Gebots als möglich an.11 Zum anderen konzipierte er eine hedonistische Glückslehre, die sich in Verbindung mit einer christlichen Weltanschauung und Eschatologie hervorragend eignete, einen christlichen Utilitarismus zu stützen.12 Damit bahnten Lockes Ideen den anglikanischen Utilitarismus an, freilich ohne dass Locke selbst als ein Utilitarist gelten kann. Die anglikanischen Utilitaristen übernahmen die imperativistische Verpflich tungslehre und den Hedonismus von Locke, kombinierten sie mit dem summenaggregierenden Verteilungsprinzip der Glücksseligkeit von Cumberland und dehnten die Nutzenberechnungen bis in die mit göttlichen Sanktionen bewehrte postmortale Existenz des Menschen aus. Und diese kompakte Mischung war höchst erfolgreich: Paleys in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts erschienenes ethisches Hauptwerk „The Principles of Moral and Political Philosophy“ war noch bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts StandardLehrmaterial an den großen britischen Universitäten.13 Der klassische Utilitarismus war aufgrund seines säkular-gesellschaftskriti schen Charakters in die bestehenden sozialen Strukturen Europas nicht ganz so gleichsam schmerzlos integrierbar, wie der theologische Utilitarismus. ClaudeAdrien Helvetius etwa propagierte im vorrevolutionären Frankreich gesellschaftskritische säkular-utilitaristische Konzepte.14 Cesare Beccarias immer noch teilweise kontraktualistische Theorie wies ebenfalls deutlich utilitaristische 8 S.
z. B. Gräfrath 1991, 46–64, Haakonssen 1981, 4–44, ders. 1993, ders. 1996, 100–28. 1977, 122–9, Crimmins 1983, Heydt 2014. 10 S. Tuck 1993, 284–94, Schneewind 1997, 264–71. 11 S. Tully 1980, 39–43, Schneewind 1994, Haakonssen 1996, 51–8. 12 S. Locke 1689a, II.21, Specht 1989, 164–74. 13 S. Paley 1785; vgl. Schneewind 1977, 122–29. 14 S. Schneewind 1997, 413–17. 9 S. Schneewind
13.2 Der klassische Utilitarismus
133
Züge auf; ganz ähnlich im deutschen Sprachraum etwa Joseph von Sonnenfels’ reformerischen Ideen.15 Vom revolutionären Frankreich ausgehend übernahm indessen in steigendem Maße der Appell an grundlegende Menschenrechte die gesellschaftskritische Rolle, welche die genannten säkularen frühutilitaristischen Ansätze in der Mitte des Jahrhunderts noch versprochen hatten.
13.2 Der klassische Utilitarismus Der klassische Utilitarismus wurde von zahlreichen Autoren des ausklingenden achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts vertreten.16 Jeremy Bentham, John Stuart Mill und Henry Sidgwick waren indes zweifellos die hervorragendsten Protagonisten dieser Lehre.17 Sie erdachten reichhaltige, im Detail voneinander abweichende Theorien, die, wie gesagt, bis heute vertreten und weiterentwickelt werden. Man kann deren allseits geteilten programmatischen Kern jedoch in drei Prinzipien übersichtlich zusammenfassen:18 Konsequenzialistische Grundnorm: Dem Normadressaten ist es moralisch geboten, den im Ganzen moralisch wertvollsten Weltzustand zu erzeugen. Hedonistisches Wertprinzip: Der moralische Wert eines Weltzustands für ein Individuum ergibt sich ausschließlich aus dem Maß des subjektiven Wohlergehens des betreffenden Individuums. Summenmaximierendes Wertprinzip: Der moralische Wert eines Weltzustands im Ganzen ergibt sich durch Summation der Wohlergehenswerte aller Individuen.
Alle drei Prinzipien sollten wir kurz kommentieren. Die konsequenzialistische Grundnorm teilt der Utilitarismus mit der aristotelischen Verteilungsgerechtigkeit bzw. der proportionalen Reziprozität. Sie war in diesem Sinne die neuzeitliche Rehabilitation einer lange Zeit abgelegten theoretischen Vorstellung über die Struktur der moralischen Grundnorm. Der Unterschied zur Verteilungsgerechtigkeit bzw. proportionalen Reziprozität ergibt sich allerdings aus den Wertprinzipien. Für den Utilitarismus gilt die Aufsummierung der sub‑ jektiven Wohlfahrt aller Individuen als das Wertbestimmende. Bentham und Sidgwick waren in dieser Hinsicht traditionell-epikureischer als Mill; für sie war das individuelle Wohlergehen bedeutungsgleich mit Glückseligkeit.19 Mill hingegen kann als Vertreter einer qualifizierten Wunschtheorie oder gar einer objektiven Werttheorie gelesen werden: das individuelle Wohlergehen ist als
15 S. Beccaria
1764; vgl. Young 1983; s. Sonnenfels 1777, bes. 17, 24 f. historischen Hintergrund s. Pollard 1992. 17 S. Bentham 1789, Mill 1861 und Sidgwick 1907. 18 Vgl. Sen 1979. 19 S. Bentham 1789, 2, Sidgwick 1907, 123–50. 16 Zum
134
13. Eine missglückte eudämonistische Rehabilitation: der Utilitarismus
das bestimmt, was sich die darin Erfahrenen wünschen.20 Die sogenannten idealistischen Utilitaristen am Übergang zum zwanzigsten Jahrhundert, etwa Hastings Rashdall oder George Edward Moore, favorisierten dann übrigens eindeutig objektive Werttheorien, denen zufolge auch nichtbeglückende oder nichtgewünschte Güter, etwa ästhetische oder perfektionistische Sachverhalte, individuell wertvoll sind.21 Einig waren sich die drei Klassiker des Utilitarismus mit den idealistischen Utilitaristen aber in der Summenmaximierung als Maßstab des letztlich verbindlichen kollektiven Werts. Erst spätere Utilitaristen schlugen stattdessen eine Maximierung des durchschnittlichen Wohlfahrtsniveaus vor, was bei der Entscheidung zwischen Weltzuständen mit verschiedener Anzahl von Individuen Differenzen erzeugt.22 Sidgwick und Rashdall erwogen sogar, der Summenmaximierung ein gegebenenfalls nachgeordnetes Gleichverteilungsprinzip zur Seite zu stellen, dem zufolge die maximale kollektive Wohlfahrt überdies möglichst gleich verteilt werden soll.23 Der Utilitarismus war und ist eine in sich schlüssige und fruchtbare moralische Norm, die allerdings in ihrer klassischen, sprich: säkularen, Form von Anfang an heftiger Kritik ausgesetzt war. Meist ging die Kritik von alltagsmoralisch geprägten Intuitionen oder durch den Utilitarismus anscheinend nicht gedeckten politischen Programmen aus. Wie steht es indes speziell um seine Eignung als Gerechtigkeitsnorm? Dies gilt es jetzt näher zu beleuchten. Drei Themenbereiche ragen heraus: 1. Relevanz der Wohlfahrtsverteilung, 2. Strafgerechtigkeit, 3. Beachtung kategorischer Pflichten oder Rechte. Auf die manchmal in diesem Kontext genannte Generationengerechtigkeit kommen wir später noch zu sprechen. In allen diesen Punkten wurden und werden dem Utilitarismus unzureichende, kontraintuitive oder schlicht ungerechte Normierungen zur Last gelegt. Wir werden die einzelnen, sämtlich ja wohlbekannten Punkte der Reihe nach nur kurz umreißen. Im Anschluss können wir eine ganz allgemeine Verteidigungsstrategie des Utilitarismus vorstellen und untersuchen. Diese kam und kommt bei allen kritischen Themenbereichen zum Einsatz.
13.3 Utilitarismus und gerechte Wohlfahrtsverteilung Der Utilitarismus gebietet, die kollektive Wohlfahrt zu maximieren. Wie dabei die Wohlfahrt über die einzelnen Individuen verteilt wird, ist vom utilitaristischen Standpunkt aus betrachtet belanglos, Hauptsache, die kollektive Wohlfahrtssumme ist maximal. Diese Eigenschaft bietet drei Ansatzpunkte für Kritik am 20 S. Mill
1861, 121–7; vgl. z. B. Donner 1998, Irwin 2009, 399–407, Brink 2013, 46–78. 1903, 254–305, Rashdall 1907, 37–60. 22 Sidgwick überlegte eine solche Variante allerdings durchaus, s. Sidgwick 1907, 415. 23 S. Sidgwick 1907, 416 f., Rashdall 1907, 224 ff. 21 S. Moore
13.3 Utilitarismus und gerechte Wohlfahrtsverteilung
135
Utilitarismus als Gerechtigkeitsnorm.24 Erstens kann moniert werden, dass der Gesichtspunkt gleicher Verteilung zu wenig Beachtung findet. Zweitens kann die besondere Berücksichtigung der Bedürftigsten als zu wenig erfasst angesehen werden. Und drittens kann die Rolle moralisch verdienter Mehr‑ oder Minderausstattung als nicht erfolgreich erklärlich kritisiert werden.25 Betrachten wir diese – miteinander nur eingeschränkt kompatiblen – Kritiken näher. i) In einem sehr begrenzten und naiven Verständnis von Gerechtigkeit könnte diese in einer gleichen Verteilung von Wohlfahrt und nicht deren kollektiv maximaler Steigerung gesucht werden. Das könnte dem Utilitarismus als Ge rechtigkeitsnorm Schwierigkeiten bereiten. Dagegen gibt es allerdings eine bereits von David Hume angestellte und später als „Lerner-Theorem“ in den Wirtschaftswissenschaften populär gewordene Überlegung, die zeigt, inwiefern der Utilitarismus der Gleichverteilung von Wohlfahrt tatsächlich einen besonderen Stellenwert einräumt.26 Geht man nämlich von einem sinkenden Grenznutzen materieller Güter aus, so wird bei jedem Individuum mit jeder zusätzlichen Einheit derselben weniger zusätzliches subjektives Wohlergehen erzeugt.27 Unterstellt man nun hinreichend ähnliche Nutzenfunktionen aller Individuen (oder eine Unkenntnis des Entscheiders über dieselben), so verspricht eine Umverteilung von Gütern Bessergestellter zu Schlechtergestellten eine Steigerung der Summe des kollektiven Wohlergehens. Durch die Umverteilung erzeugen die betreffenden Güter schlicht eine höhere subjektive Wohlfahrt bei den durch die Maßnahme Begünstigten, als sie bei den durch die Maßnahme Benachteiligten zuvor bewirkten. Insofern ist eine Gleichverteilung von materiellen Gütern oft nutzenmaximierend, dabei zugleich aber auch nutzenegalisierend. ii) Eine ähnliche Überlegung kennzeichnet die Haltung des Utilitarismus zum zweiten Kritikpunkt, der mangelnden Bevorzugung der Bedürftigsten. Auch hier könnten bei Annahme (unter anderem) eines sinkenden Grenznutzens, hinreichend gleichförmiger Nutzenfunktionen und Ausblendung von Anreizeffekten, Umverteilungen nach unten utilitaristisch geboten sein.28 Ob diese auf bestimmten empirischen Voraussetzungen beruhende und somit deutlich eingeschränkte Bevorzugung der schlechtgestellten Individuen als ausreichend empfunden wird, sei dahingestellt. iii) Für unsere Zwecke am spannendsten ist natürlich der dritte Gesichtspunkt. Hier wird eine Ungleichheit der verteilten Wohlfahrt proportional zu den 24 Exzellente
aktuelle Übersicht bei Hooker 2014. ihrer auf Hume bezogenen Kritik am Nutzenprinzip betonten den intrinsischen Wert von Verdiensten etwa Price, 1758, 79–84, oder Reid, 1788, 339–61. Simmel 1892, 312–73, formulierte alle drei oben genannten Vorwürfe an die Adresse des Utilitarismus. 26 S. Hume 1751, 113 f.; vgl. Lerner 1944, 29 f., Brandt 1979, 311–16, Trapp 1988, 370–73. 27 In der heutigen Wirtschaftslehre ist das eine Standardannahme der Nutzentheorie, s. Samuelson 1998, 106 ff., die nach ihrem Erstbeschreiber im 19 Jhrdt. bekanntlich als „Erstes Gossen’sches Gesetz“ bezeichnet wird; vgl. Schumann 1994. 28 S. Brandt 1979, 316–19. 25 In
136
13. Eine missglückte eudämonistische Rehabilitation: der Utilitarismus
moralischen Verdiensten als gerecht propagiert und dem Utilitarismus dementsprechend vorgeworfen, dieses im Rahmen seiner Fokussierung auf Wohlfahrtsmaximierung nicht angemessen erklären zu können. Der naheliegende utilitaristische Gegenzug liegt in einer Begründung ungleicher Verteilungen durch anreiz‑ bzw. abschreckungsbedingte Verhaltensanpassungen der Individuen mit kollektivnutzenmaximierenden Effekten. Die ungleiche Verteilung sollte nutzensteigerndes Verhalten belohnen und nutzensenkendes bestrafen. Dadurch, so die Idee, wird der kollektive Nutzen optimal gefördert. Der anarchistisch gesonnene Sozialreformer William Godwin empfahl den Utilitarismus im späten achtzehnten Jahrhundert eigenartiger Weise sogar als einzige moralische Theorie, die mittels derartiger Überlegungen gerechtfertigte Ungleichheiten begründen könne.29 Auch hier stellt sich indes die Frage, ob die utilitaristische Begründung wirklich in der Lage ist, plausible Verdienstkonzepte zu generieren. Überdies scheint es bei der Beurteilung moralischer Verdienste, zumindest oberflächlich gesehen, eher nicht um strategisches Lob oder Tadel zum Zwecke der Nutzenmaximierung zu gehen. Bevor wir eine viel grundsätzlichere Immunisierungsstrategie des Utilitaris mus gegen alle diese Kritikpunkte präsentieren, müssen wir noch die anderen Kritiken aus Gerechtigkeitsperspektive skizzieren.
13.4 Utilitarismus und Strafgerechtigkeit Eng mit der soeben vorgestellten Kritik aus der Perspektive verdienter Ungleichheit hängen auch die Schwierigkeiten des Utilitarismus mit der Strafgerechtigkeit zusammen.30 Strafgerechtigkeit plausibel zu begründen, bereitete dem Utilitarismus von je her beträchtliche Schwierigkeiten. Dies ist umso bemerkenswerter, weil die utilitaristischen Juristen Jeremy Bentham und John Austin sowie ihre Anhänger im neunzehnten Jahrhundert sehr engagiert für Strafrechtsreformen eintraten.31 Strafe als Schädigung eines Straftäters ist utilitaristisch gesehen zunächst erheblich begründungsbedürftig, da die Schädigung des Straftäters den kollektiven Nutzen für sich genommen ja mindert. Vorwiegend drei Erwägungen können indes die Strafe utilitaristisch legitimieren. Erstens kann die Strafe durch Einsperren oder Töten den Verbrecher daran hindern, weitere Straftaten zu begehen. Diese Unterbindung von Straftaten ist nützlich, da sie die Einhaltung von Gesetzen absichert, deren durchgängige Befolgung kollektiv wohlfahrtsmaximierend ist. Der Verbotscharakter von Straftaten resultiert überdies daraus, 29 S. Godwin
1793, 52–58. z. B. Primoratz 1989, 33–65. 31 S. Schofield 1992, Rosen 2006, Crimmins 2016. 30 Vgl.
13.4 Utilitarismus und Strafgerechtigkeit
137
dass sie oftmals ineffizient sind, das heißt sie generieren weniger Nutzen für den Täter oder andere Tatbegünstigte als sie dem Opfer nehmen. Somit ist die Verhinderung weiterer Straftaten des Täters auch unmittelbar nützlich. Zweitens kann die Strafe über ihren direkten Sicherungseffekt hinaus den Täter selbst oder andere potenzielle Täter abschrecken. Damit reduziert sie die künftige Straftathäufigkeit und erhöht in dieser Weise die kollektive Wohlfahrt. Drittens hat die Strafe gemeinwohlförderliche Effekte auf Verbrechensopfer und gesetzestreue Unbeteiligte: diese fühlen sich zum Beispiel in ihrem Rechtsgefühl bestätigt, ihr Vergeltungsbedürfnis wird befriedigt und ihre Angst vor weiteren Straftaten sinkt. Insofern diese Effekte die strafbedingte Schädigung des Täters überwiegen, rechtfertigen auch sie eine Bestrafung. Was genau als Straftat zählen und welches Strafmaß man verhängen soll, bleiben für den Utilitarismus letztlich empirische Fragen. Ihre Lösung hängt von den vorliegenden Bedingungen ab, etwa der kulturell üblichen Gewaltneigung und Verletzlichkeit sowie der Effektivität der existierenden sozialen Einrichtungen. Grundsätzlich ist unter bestimmten Bedingungen ein äußerst brutales traditionelles Talions-Strafrecht ebenso denkbar wie ein sanftmütiges skandinavisch-deutsches Resozialisierungs-Recht. Das vielleicht schwierigste Problem für die utilitaristische Strafbegründung stellt die nicht sichergestellte intuitiv befriedigende Übereinstimmung von Strafhärte und Verbrechensschwere dar. Im Extremfall erlaubt die kollektive Nutzenmaximierung gar die Bestrafung Unschuldiger32, die sehr harte Bestrafung kleiner Delikte oder aber auch die Straflosigkeit bei schweren Straftaten. Alle Konstellationen können mit Beispielen illustriert werden. Wenn die öffentliche Bestrafung eines Unschuldigen etwa verhindert, dass ein Lynchmob weitere Unschuldige tötet, so kann das utilitaristisch gerechtfertigt sein (vgl. 14.6). Wenn die Handamputation Falschparken erfolgreich unterbinden würde, mögen die durch das angemessenere Parkverhalten erzeugten individuell kleinen, aber kollektiv großen Wohlfahrtseffekte bei den anderen Verkehrsteilnehmern, die Wohlfahrtseinbuße des punitiv verstümmelten Falschparkers eindeutig aufwiegen. Und wenn schließlich von einem brutalen Mörder aufgrund eines körperlichen Gebrechens sicher keine Gefahr mehr ausgeht, so kann seine Bestrafung anscheinend unterbleiben. Ähnlich wie bereits zuvor, kann der Utilitarist hier zur Verteidigung abschwächende empirische Annahmen bezüglich Abschreckungswirkung, Gerechtigkeitsempfinden etc. mobilisieren. Bis auf die weiter unten diskutierte grundsätzliche Lösung dieser Probleme wirken alle diese Versuche jedoch bereits bei flüchtiger Betrachtung kaum besonders überzeugend.
32 S. Primoratz
1989, 35–61, Boonin 2008, 41–52; dagegen: Rosen 1997.
138
13. Eine missglückte eudämonistische Rehabilitation: der Utilitarismus
13.5 Utilitarismus und kategorische Rechte und Pflichten Als charakteristisch für Gerechtigkeitspflichten oder auch zentrale moralische Individualrechte wird gelegentlich deren kategorische Verbindlichkeit angesehen: sie sind nicht gegen andere Pflichten bzw. Rechte abwägbar, sondern gelten unbedingt.33 Der Utilitarismus bietet für solche kategorischen Pflichten oder Rechte zunächst keinen Raum. Welche Gebote oder Berechtigungen normative Kraft haben, hängt von den Effekten des aus ihnen resultierenden Handelns ab. Ändert sich der Nutzenertrag, ändern sich auch die Pflichten und Rechte. Dass Kategorizität eine erfolgreiche Basis für Kritik am Utilitarismus als Gerechtigkeitsnorm darstellen kann, ist letzten Endes jedoch zu bezweifeln. Die Vorstellung bestimmter unter keinen Umständen zu verletzender Rechte oder Pflichten ist wahrscheinlich für die meisten derartigen Konzepte nicht aufrecht zu erhalten. Insbesondere bei dilemmatischen Konflikten solcher Pflichten oder Rechte miteinander, muss ja vom Handelnden unvermeidlich eine oder eines verletzt werden.34 Und dieses unausweichlich Verletzte kann nicht ohne eine heuchlerische Doppelmoral – und Verstoß gegen das allseits anerkannte Prinzip der Möglichkeit des Gesollten – weiterhin als moralisch verbindlich aufgefasst werden. Wir wollen deshalb diesen bei genauerer Analyse natürlich erheblich komplexeren und ansonsten wichtigen Punkt hier nicht weiter verfolgen.
13.6 Indirekter Utilitarismus Die klassischen Utilitaristen sahen sich im Übergang des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert zwei Problemen gegenüber. Zum einen erfuhr ihre Theorie von vielen Seiten erhebliche Kritik, die mit alltagsmoralischen Intuitionen arbeitete. Und diese Intuitionen wurden sehr oft im Rahmen eines damals vorherrschenden epistemologischen Fundamentalismus als selbstevidentes Wissensfundament präsentierte. So etwa lassen sich bereits beispielsweise Richard Price, Thomas Reid oder später auch William Whewell lesen, die einen über den Utilitarismus hinausgehenden moralischen Prinzipienpluralismus propagierten.35 Zum anderen vertraten die klassischen Utilitaristen durchgängig liberale politische Vorstellungen. Dies kann man bereits für Bentham plausibilisieren und sehr gut für Mill und die ihm nachfolgenden liberalen Utilitaristen, besonders etwa
33 Vgl.
z. B. Feinberg 1973, 94–7. in der antiken Debatte wurde dieser Punkt eingehend thematisiert. Berühmt ist der vom skeptischen Platoniker Karneades aufgeworfene Fall zweier Ertrinkender und einer sie rettenden Schiffsplanke, die aber nur Platz für einen von ihnen bietet. Zur „Planke des Karneades“ näherhin Aichele (2003). 35 S. z. B. Price 1758, Reid 1788, Whewell 1845. 34 Schon
13.6 Indirekter Utilitarismus
139
Herbert Spencer, bis heute zeigen.36 Diese liberalen Vorstellungen enthielten im Kern die Vorstellung von bürgerlichen Freiheitsrechten, freier Marktwirtschaft und demokratisch-rechtsstaatlichen politischen Strukturen, die nicht ohne weiteres aus dem Utilitarismus ableitbar erschienen. Bezüglich der alltagsmoralischen Intuitionen standen die Utilitaristen vor zwei prinzipiellen Möglichkeiten. Sie konnten entweder ihre Theorie an die Intuitionen anpassen oder die Intuitionen verwerfen bzw. epistemologisch diskreditieren. Von Bentham bis zu Sidgwick kann man deutlich eine Entwicklung rekonstruieren, die zwar einem starken moralepistemologischen Fundamentalismus bezüglich alltagsmoralischer Intuitionen durchwegs entgegentrat, nichtsdestoweniger in steigendem Maße versuchte, möglichst viele der alltagsmoralischen Intuitionen utilitaristisch zu erklären.37 Damit war der Utilitarismus auf eine Interpretation angewiesen, die ihm eine Integration genuin anti-utilitaristischer Moralnormen erlaubte. Gleiches gilt für liberale Institutionen und Gesetze. Auch hier musste der Utilitarismus ein Selbstverständnis ersinnen, das es ermöglicht, die von den meist zutiefst liberal gesonnen klassischen Utilitaristen befürworteten liberalen Institutionen auch dann als moralisch gerechtfertigt zu betrachten, wenn sie den kollektiven Nutzen nicht optimal zu fördern scheinen. Die entscheidende Weiterentwicklung zur Bewältigung der umrissenen Schwierigkeit bestand darin, dass der Utilitarismus zunehmend als indirekter Utilitarismus interpretiert wurde.38 Dieser greift auf den Unterschied zwischen einem Maßstab für den moralischen Wert einer Handlung und eines moralisch gebotenen Entscheidungsverfahrens zurück. Ein Handlungswertmaßstab bewertet eine Handlung rein äußerlich, bezüglich ihres Erfolgs oder des mit ihr verbundenen äußeren Verhaltens, unabhängig davon, mit welcher Absicht oder aus welcher Motivation der Handelnde agiert. Ein Entscheidungsverfahren hingegen gibt dem Handelnden ausdrücklich vor, welchen Absichten oder Motiven er folgen soll. Viele moralische Normen können sowohl in der einen, als auch der anderen Art gelesen werden. Ein direkter Utilitarismus macht die Nutzenmaximierung zum unmittelbaren Entscheidungsverfahren im konkreten Einzelfall. Der Normadressat soll sich stets bewusst und absichtlich bemühen, die kollektive Wohlfahrt zu optimieren. Ein indirekter Utilitarismus versteht dagegen die utilitaristische Norm lediglich als Handlungswertmaßstab. Die Handlung des Normadressaten soll den Nutzen maximieren, welche bewusste Absicht er damit verfolgt, ist hingegen sekundär. Das moralisch gebotene Entscheidungsverfahren muss der indirekte Utilitarismus empirisch ermitteln. Es ist schlichtweg 36 S.
zu Bentham: Kelly 1990, zu Mill: Brink 2013, 79–112, zu Spencer: Weinstein 1998. 1789, 4–7; zu Sidgwick: Schneewind 1977, 260–349, Sverdlik 1985, Deigh 2004; allgemein Gähde 1993. 38 S. Bentham 1789, 22 f., Mill 1861, 131 ff., Moore 1903, 211 ff., Sidgwick 1907, 405 f., S. 413, 431 ff., 489 f.; vgl. Bales 1971, Parfit 1984, 24–29, Brink 1989, bes. 256–62. 37 Bentham
140
13. Eine missglückte eudämonistische Rehabilitation: der Utilitarismus
die Regel, Institution oder persönliche Haltung, deren Erwartungsnutzen am höchsten ist. Die Entscheidungsregel oder die Institution kann dabei definitiv un‑ oder sogar anti-utilitaristisch sein, solange sie nur tatsächlich den kollektiven Nutzen maximiert. Wie konnte dieses Normverständnis des Utilitarismus ihm bei seinen skiz zierten Gerechtigkeitsproblemen helfen? Bezüglich des Liberalismus soll diese Argumentation nicht im Detail nachvollzogen werden. Grundsätzlich muss der Utilitarist vorzugsweise mittels sozioökonomischer Fakten nachweisen, dass liberale Institutionen mehr als direkt utilitaristisch formulierte Gesetze und Einrichtungen das kollektive Wohlergehen optimieren. Ähnliches gilt für Moralnormen oder soziale Institutionen, die Wohlfahrtsgleichheit oder besondere Berücksichtigung der Bedürftigen absichern. Am abgerundesten ausgeführt wurde dieses indirekte Normverständnis hin sichtlich der Strafgerechtigkeit. Es wurde behauptet, dass gerade das nahezu absolute Verbot der Bestrafung Unschuldiger, die Vermeidung übermäßig harter oder weicher Strafen oder der auf die vergangene Tat, nicht auf die Zukunft bezogenen Strafen, auf lange Sicht den Kollektivnutzen optimal fördert. Der Utilitarismus begründet also die gesetzlichen Strafrechtsnormen, deren Befolgung durch den einzelnen Normadressaten im gegebenen Einzelfall jedoch nicht mehr unter dem Vorbehalt der situativen Nutzenmaximierung steht, sondern durchaus auch vergeltend gestaltet ist.39 Wiederum sind die erforderlichen empirischen Gesetzmäßigkeiten und Sachverhalte jedoch prekär, was hier nicht in Einzelheiten nachvollzogen werden kann. Diese Relativität moralischer Wertungen zu faktischen Zufällen erweist sich im zentralen Bereich der Gerechtigkeit letztlich als unbefriedigend am Utilitarismus als moralische Norm. Das kurze Fazit dieses Kapitels besagt, dass der Utilitarismus als Moralnorm im Geiste des Sokratischen Projekts allenfalls in einem indirekten Verständnis überzeugen kann und als Gerechtigkeitsnorm in jedem Fall nur eingeschränkt plausibel erscheint. Damit ist die Zeit gekommen, sich wieder unserer bis dato vermutlich plausibleren eudämonistisch-konsequenzialistischen Gerechtigkeitsnorm, der proportionalen Reziprozität, zuzuwenden.
39 S. Rawls
1955, Hart 1959/60.
14. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: systematische Eigenschaften und Probleme Der Utilitarismus vermag nach den Ausführungen des letzten Kapitels allenfalls in einem indirekten Verständnis zu überzeugen, als Handlungswertmaßstab, nicht als konkretes Entscheidungsverfahren. Wie sieht es mit der proportionalen Reziprozität aus? Sie ist als Gerechtigkeitsnorm augenscheinlich weniger alltagsmoralisch-intuitiven Einwänden ausgesetzt als der Utilitarismus. Trotzdem kommen bereits bei flüchtiger Betrachtung erhebliche Bedenken bezüglich ihrer Anwendbarkeit als Moralnorm auf. Es wird sich zeigen, dass sie tatsächlich aus genau diesem Grund ebenfalls vorwiegend in einem indirekten Verständnis erwägenswert ist, wenn wir in diesem Kapitel die wichtigsten Kritikpunkte und systematischen Schwachstellen des proportional-reziproken Ansatzes durchgehen. Wir werden hier demgemäß in loser Reihenfolge fünf herausragende, in der philosophischen Literatur diskutierte Einwände gegen proportional-reziprokes Gerechtigkeitsdenken erörtern (14.1–5). Dabei geht es vor allem um die grundsätzliche Plausibilität des Ansatzes. Überdies werden wir drei notorisch schwierige moralische Problembereiche aus proportional-reziproker Sicht untersuchen (14.6–8). Dies dient in erster Linie einer Schärfung des theoretischen Profils der proportionalen Reziprozität. Erst im nächsten Abschnitt können wir dann aus der allgemein-abstrakten proportionalen Reziprozität resultierende Praxisnormen geringerer Allgemeinheit näher betrachten.
14.1 Das Wertproblem Will man die proportionale Reziprozität, so wie bislang entwickelt, als praktische Moralnorm anwenden, stößt man sofort auf zwei gravierende Schwierigkeiten: um nämlich bewusst proportional-reziprok gerecht handeln zu können, muss man (unter anderem) offenkundig das Verdienst und die Begüterung jedes Rechtssubjekts kennen. Nur so kann man sicherstellen, dass jedes durch das Handeln betroffene Rechtssubjekt soviel Güter erhält, wie seinem Verdienst entsprechen. Beides, die Erkennung der Begüterung und die des Verdiensts, erweist sich bei näherer Betrachtung allerdings als hochproblematisch. In diesem Abschnitt wollen wir uns zunächst dem Problem der Werttheorie oder Güterlehre widmen.
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14. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität
Was sind Werte oder Güter? Vereinfachend kann man Werte stärker auf Weltzustände beziehen und Güter bzw. Übel auf Dinge. Ein Zustand ist wertvoll, wenn sein Vorliegen besser ist, als sein Nichtvorliegen. Ein Ding ist ein Gut, wenn seine Existenz besser ist, als seine Nichtexistenz. Ein Ding ist ein Übel, wenn seine Existenz schlechter ist, als seine Nichtexistenz. Eine Begüterung ist die Ausstattung eines Rechtssubjekts mit Gütern bzw. Übeln. Diese rein formalen Definitionen sind zwar zutreffend, helfen jedoch zunächst nicht weiter. Es bleibt noch völlig unklar, was mit einem Gut bzw. der Begüterung eines Individuums im Rahmen der proportionalen Reziprozität überhaupt gemeint sein sollte. Grob gesagt geht es dabei ja wohl um das, was dem Leben seinen Wert verleiht oder das, was ein menschliches, personales oder subjekthaftes Leben gut macht. Für diesen zugleich vagen und umfassenden Gegenstandsbereich haben wir bisher jedoch noch überhaupt keine entsprechende Konzeptualisierung vorgelegt. Und das ist eigentlich auch nicht verwunderlich, denn wir stoßen hier auf ein uraltes philosophisches Kernproblem, für das selbst nach über 2000 Jahren der philosophischen Debatte ganz allgemein keine auch nur annähernd befriedigende oder einigermaßen akzeptierte Lösung parat steht.1 Aber nicht nur das: was immer die zu verteilenden Güter sind, sie müssen für die Zwecke der proportionalen Reziprozität sogar auf dem messtheoretisch höchsten Skalenniveau, einer Verhältnisskala, mess‑ und abbildbar sowie voll interpersonell vergleichbar sein. Das heißt zunächst formal, dass es einen absoluten Nullpunkt der Begüterung gibt und keine negativen Werte für dieselbe. Es heißt darüber hinaus, dass man nicht nur bestimmen kann, ob die Begüterung einer Person größer als die einer anderen Person ist, sondern sogar, wieviel mal größer die Begüterung ist: Additionen und Multiplikationen sind mit verhältnisskalierten Werten möglich. Unabhängig davon, welche verfügbare Güterlehre (s. u.) man favorisiert: ein Wertkonzept samt Messverfahren, das derart anspruchsvolle Werte erzeugt, ist nicht einmal im Ansatz erkennbar. Und das stellt für die proportionale Reziprozität als Moralnorm ein ernstes Problem dar: ohne messbare Werte ist – selbst ohne die zusätzliche Erschwernis einer Vielzahl von zu beachtenden Begüterungswerten bei Mehrpersonenentscheidungen – völlig unklar, wie ein Akteur proportional-reziprok gerecht zu Werke gehen könnte. Diese Schwierigkeit ist das Wertproblem. Es versteht sich von selbst, dass wir hier nicht gleichsam im Vorbeigehen eine überzeugende moralische Werttheorie vorlegen können, um das Wertproblem zu lösen. Zwei bescheidenere Ziele sind aber realistisch und werden in diesem Abschnitt verfolgt. Zum einen können wir untersuchen, welche Art von Werttheorie sich aus der proportionalen Reziprozität ergibt oder jedenfalls mit ihr kompatibel 1 Historische Überblicke White 2006, McMahon 2006; systematische Optionen: Dworkin 1981, Parfit 1984, bes. 493–502, Griffin 1986, Kagan 1992, Sumner 1996, Haybron 2013.
14.1 Das Wertproblem
143
ist (i-v). Zum anderen können wir versuchen, einen vernünftigen Umgang mit dem Faktum des Mangels einer überzeugenden Werttheorie zu skizzieren, welcher der proportionalen Reziprozität als vorgeschlagener Moralnorm gleichsam eine gewisse systematische Manöverfreiheit verschafft (vi). Schauen wir zunächst auf die axiologischen Konsequenzen der proportionalen Reziprozität. i) Personenrelativität: Werte können personenneutral oder personenrelativ sein. Das Vorliegen eines personenneutralen Werts ist schlichtweg gut; das Vorliegen eines personenrelativen Werts ist gut für eine bestimmte Person. Mora‑ lische Werte werden im allgemeinen als personenneutral verstanden: etwas ist im umfassenden Sinn moralisch gut, wenn es schlichtweg gut ist, nicht wenn es lediglich gut für jemand Bestimmtes ist. Egoistisch-kluge Werte werden hingegen meist personenrelativ analysiert: nur was für die betreffende Person gut ist, ist ein solcher Klugheitswert. Diese Unterscheidung ist natürlich keineswegs unproblematisch. In der antiken Philosophie flossen demgemäß beide Wertkategorien oft ineinander.2 Speziell Platon brachte mit seiner Gleichsetzung von Tugend und Glückseligkeit beide Wertsphären in engste Verschränkung.3 Im Rahmen der proportionalen Reziprozität kann es jedoch bei der Verteilung von Gütern zunächst ausschließlich um personenrelative Werte gehen: die Begüterung eines Rechtssubjekts ist das, was für dieses Rechtssubjekt wertvoll ist. Personenneutrale Gesichtspunkte spielen an dieser Stelle noch nicht mit hinein. Die rein personenrelativ wertvolle Begüterung soll dann aber gemäß der proportionalen Reziprozität verteilt werden. Indem dies geschieht, erlangt die personenrelative Begüterung durch ihre Verdienstproportionalität personenneutralen Wert: ihr Vorliegen ist moralisch gut. Das heißt, in der proportionalen Reziprozität geht es um personenneutralen Wert (also die verdienstproportionale Begüterung), erzeugt durch die gerechte Verteilung personenrelativ-wertvoller Güter (also die individuelle Wohlfahrt). Denkt man über die skizzierte werttheoretische Struktur einen Moment nach, so sieht man rasch, dass die proportionale Reziprozität den seinerzeit vom großen Moralphilosophen Henry Sidgwick als tiefgreifendes Problem wahrgenommenen Dualismus der praktischen Vernunft impliziert: es gibt offenbar zwei vernünftige und potenziell konfligierende Wertsphären, die individuellegoistische und die allgemein-moralische.4 Während allgemein-moralischer Wert durch die proportionale Reziprozität soweit ersteinmal klar definiert ist, bleibt der individuell-egoistische Wert ein Desiderat. ii) Objektivität: In der Geschichte der philosophischen Werttheorie findet man – analog zum gerechtigkeitstheoretischen Voluntarismus – den seit der frühen Neuzeit unternommenen Versuch, auf substanzielle bzw. objektive Kon2 Vgl.
Annas 1993, 223–325, dies. 2017, Kraut 2017. 2006, 201–8, Devereux 2017. 4 S. Sidgwick 1907, bes. 404, Fn.; vgl. Schneewind 1977, 352–79; Frankena 1976, ders. 1992, Irwin 2009, 518–31. 3 S. Erler
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14. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität
zepte von Wert zu verzichten und sich ausschließlich auf die subjektiven Wünsche von Individuen zu beziehen.5 Für ein Individuum ist nach dieser Vorstellung, der Wunschtheorie, ausschließlich die Erfüllung eines Maximums seiner jeweiligen Wünsche wertvoll.6 Bis in die moderne Wohlfahrtsökonomie und Entscheidungstheorie wurden bemerkenswerte formale Modelle auf dieser Basis ausgearbeitet7. Und auch etliche moderne Utilitaristen sind Anhänger dieser Vorstellung.8 Eine solche wunschbasierte Werttheorie ist begrifflich prinzipiell mit der proportionalen Reziprozität vereinbar. Sie stößt allerdings auf drei erhebliche philosophische Bedenken, die sie letztlich unattraktiv machen. Die erste Schwierigkeit ergibt sich aus sogenannten falschen Wünschen. Dies sind Wünsche deren Erfüllung das Individuum nicht befriedigt oder sogar unglücklich macht.9 In solchen Fällen kann man offenbar nicht von einem für das Individuum wertvollen Zustand sprechen. Zur Umgehung dieser Schwierigkeit wurde vorgeschlagen, nur in bestimmter Weise idealisierte Wünsche zuzulassen, etwa solche, die im Lichte von Logik und Fakten korrigiert worden sind.10 Die Erklärung der jeweils für erforderlich angesehenen Idealisierung raubt der Wunschtheorie allerdings einen Großteil ihrer explanativen Kraft: durch ihre Korrektur der Wunschbasis strebt sie nämlich implizit an, in wunschunabhängiger Weise als optimal erkannte Zustände als gewünscht sicherzustellen. So gesehen ist die Berufung auf idealisierte Wünsche jedoch redundant und es könnte gleich über die wünschenswerten Zustände oder Güter selbst gesprochen werden. Die zweite Schwierigkeit folgt aus der Möglichkeit, sich etwas zu wünschen, dessen Eintreffen der Wünschende nicht selbst erfährt, etwa unsterblichen Ruhm nach seinem Tod, Reichtum für seine Urenkel oder Ähnliches. Die Erfüllung solcher Wünsche als wertvoll für den Wünschenden anzusehen, erscheint fragwürdig. Im Allgemeinen wird im Widerspruch dazu bezüglich personenrelativer Werte die sogenannte Erfahrungsbedingung anerkannt: ein Zustand kann nur dann wertvoll für eine Person sein, wenn die Person diesen Zustand auch in irgendeiner Weise persönlich erfährt.11 Die dritte Schwierigkeit ist psychologischer Art. Es ist nämlich nicht recht ersichtlich, welche Art von Wünschen überhaupt Beachtung finden sollen: bezieht sich die Theorie nur auf bewusste Wünsche oder auch auf unbewusste Strebungen? Wenn unbewusste Wünsche hinzukommen – was sich psychologisch gesehen eigentlich nicht von der Hand weisen lässt – so ergibt sich die 5 S. Hobbes
1651, 41. Überblick: Griffin 1986, 10–39, Sumner 1996, 113–37. z. B. Gauthier 1986, 21–59. 7 Vgl. Bohnen 1964, Elster & Roemer 1991, Kahneman & Varey 1991, Schumann 1994, Kahneman & Krueger 2006. 8 Z. B. Hare 1992, 143–209; dagegen Sidgwick 1907, 109–13. 9 Zum glückspsychologischen Hintergrund s. z. B. Loewenstein & Schkade 1999, Gilbert 2008. 10 S. z. B. Brandt 1979, 24–162. 11 S. z. B. Sidgwick 1907, 113 ff., Griffin 1986, 16–20, Sumner 1996, 127 f., 138 f., 175 f. 6 S.
14.1 Das Wertproblem
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weitere Schwierigkeit, wie diese wohl zu identifizieren sind. Und auch bei widersprüchlichen bewussten oder unbewussten Wünschen bleibt deren Gewichtung gegeneinander schwierig. Die Wunschtheorie verliert bei genauerer psychologischer Betrachtung offenbar rasch ihren zunächst erfrischend direkten und einfachen Anschein. Zusammenfassend sollte in die proportionale Reziprozität aus allgemeinen werttheoretischen Erwägungen heraus wahrscheinlich besser eine objektive, also prinzipiell von Wünschen unabhängige Wertheorie integriert werden. Ein Objekt oder Sachverhalt ist demnach für ein Rechtssubjekt ein Gut, nicht weil es/er gewünscht wird, sondern es/er wird gewünscht, weil es/er ein Gut ist. iii) Pluralismus: Bei den in diesem Sinne objektiven Werttheorien stehen sich traditionell zwei Entwürfe gegenüber: hedonistisch-monistische und pluralisti sche Ansätze. Der Hedonismus sieht – so wie man ihn heute, inspiriert durch die klassischen Utilitaristen, präsentiert – Glückseligkeit oder, moderner gesprochen, subjektives Wohlbefinden als zentralen Wert an. Glückseligkeit ist ein psychischer Zustand mit einem bestimmten Gefühlston höchster positiver Valenz. Das maximale und häufige Erreichen dieses Zustands wird aus hedonistischer Sicht als das gute Leben angesehen.12 Im Unterschied dazu wurde übrigens im Hellenismus von den Epikureern ein sogenannter negativer Hedonismus propagiert.13 Diesem zufolge geht es nicht um Glückssteigerung, sondern um die Vermeidung von Leiden: das Optimum ist Leidfreiheit, nicht höchstes Glückserleben. Ganz ähnlich sahen auch die Stoiker die komplette Leidvermeidung durch kognitive Umbewertung von natürlichen Zuständen des Subjekts als entscheidendes Kennzeichen des gelungenen Lebens an.14 Und schließlich empfahl die skeptische Schule ebenfalls in erster Linie eine Befreiung vom Leid durch das Erlernen wertungsfreier Achtsamkeit.15 Das Ideal einer Glückssteigerung war dem Hellenismus insofern generell eher fremd; Leidminderung stand schulenübergreifend im Vordergrund.16 Der hedonistische Ansatz erweist sich in mehreren Hinsichten als proble matisch. Drei Aspekte können herausgehoben werden. Erstens bleiben überspitzt gesagt Helden und Heilige hedonistisch unbefriedigend erklärlich. Ein gelungenes Leben kann manchmal mit viel Unbehagen einhergehen, etwa wenn jemand für seine bedeutenden und Lebenssinn stiftenden Ziele große 12 Übersicht
bei Sumner 1996, 81–112. Briefe; vgl. Hossenfelder 1995, 100–46, Woolf 2017. 14 S. Hossenfelder 1995, 45–68. 15 S. Hossenfelder 1995, 166–82. Die unübersehbare Ähnlichkeit der skeptischen Denkungsart und ihrer Techniken mit dem Buddhismus ist übrigens möglicherweise kein Zufall, sondern Produkt einer faszinierenden, von Diogenes Laertios DL IX.61 bezeugten Begegnung des im Gefolge Alexanders des Großen nach Indien gereisten Schulgründers Pyrrho mit wahrscheinlich buddhistischen Gelehrten („Gymnosophisten“ oder „Magier“); s. Beckwith 2015; vgl. Halkias 2015; Hintergrund: Lorenz 1998, bes. 64–83. 16 S. Hossenfelder 1995, 23 ff. 13 S. Epikur
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14. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität
Entbehrungen auf sich nimmt, ohne dass die Erreichung des Ziels notwendigerweise diese Entbehrungen übertreffende Glücksgefühle auslöst. Der Stolz oder die Zufriedenheit über Erreichtes ist nicht immer eine notwendige Bedingung für das Gelingen eines solchen Lebensentwurfs. Die Dynamik von sinngebenden Zielen, deren Anstreben und Erreichen ist daher oft hedonistisch nicht nachvollziehbar. Zweitens bleibt phänomenologisch völlig unklar, ob es so etwas wie einen hedonischen Grundton als phänomenale Gemeinsamkeit allen subjektiven Wohlbefindens überhaupt gibt. Haben der sexuelle Höhepunkt, die Freude am Betrachten eines schönen Kunstwerks und die Begeisterung beim Lösen einer schwierigen Denkaufgabe wirklich mehr gemeinsam, als ihre positive Bewertung durch das Subjekt? Drittens geht es den meisten Menschen nicht nur um das, was sie empfinden, erleben oder wahrnehmen, sondern auch um das, was sie tun, erreichen oder sind. Deshalb ist die Vorstellung der von Robert Nozick erdachten Erfahrungs‑ maschine so wenig einladend.17 Diese Maschine generiert alle vom Betreffenden erwünschten und beglückenden Erfahrungen, aber ohne dass diese von realen Objekten bzw. Situationen erzeugt werden, sondern bloß durch geschickte Hirnstimulation. Wäre lediglich das subjektive Erleben relevant, so würde die Erfahrungsmaschine alle relevanten moralische Werte erschaffen können. Nach üblicher intuitiver Einschätzung gelingt ihr dies aus dem genannten Grund indes nicht. Wendet man sich folglich den pluralistischen objektiven Werttheorien zu, so ragt der auf Aristoteles zurückgehende Perfektionismus oder Funktionalismus heraus.18 In der neueren Ethikgeschichte wurde er besonders innerhalb der deutschen Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts19 und dem britischen Idealismus des neunzehnten Jahrhunderts20 gepflegt sowie heutzutage im „ca pabilities“-Ansatz von Amartya Sen und Martha Nussbaum erneuert.21 Nach dem Perfektionismus besteht das menschliche Wohlergehen in der optimalen Erlangung, Entwicklung, Erhaltung und Ausübung bestimmer natürlicher Fähigkeiten des Menschen. Offensichtlich hochgradig problembehaftet ist allerdings die Auswahl, Erfassung, Begrenzung und Gewichtung der zugrunde gelegten Fähigkeiten. Aristoteles konnte sich noch auf das natürliche Ziel („telos“) des Menschen berufen, um daraus die wertvollen Funktionen abzuleiten.22 Da wir heutzutage 17 S. Nozick
1974, 42–45. bes. Aristoteles EN I.1–7; vgl. Ackrill 2010, Reeve 2014, Charles 2017. Übersicht: Griffin 1986, 56–72, Sumner 1996, 60–80; vgl. Hurka 1993, 9–143. 19 S. Hornig 1980, Moggach 2009. 20 Z. B. Green 1883; vgl. aktuell Hurka 1993. 21 S. Sen 1993, ders. 2009, 225–90, Nussbaum 1998. 22 S. Irwin 2007, 134–53. 18 S.
14.1 Das Wertproblem
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infolge unseres naturwissenschaftlich geprägten Weltbilds die Vorstellung eines natürlichen menschlichen Ziels jedoch nicht mehr teilen, entfällt dieser elegante, deduktive Weg. Andere von einem allgemeinen substanziellen Wertprinzip deduktiv ausgehende Ansätze sind zudem gleichfalls nicht in Sicht. Alternativ kann man daher wiederum nur die Liste der wertvollen Funktionen und Fertigkeiten quasi-induktiv aus dem empirisch erhebbaren Erleben und Verhalten der Menschen und ihren intuitiven Werturteilen rekonstruieren. Das führt zu Werttheorien, die viele verschiedene Aspekte aufführen, deren theoretischen Zusammenhang und etwaige Vereinheitlichkeitsmöglichkeiten man dann erst im nächsten Schritt prüfen kann. Und damit sind wir – ganz analog zu unseren methodischen Überlegungen zur Gerechtigkeit – wieder bei der empirischen Psychologie angelangt. In der Psychologie hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten erfreulicherweise eine lebhafte Forschung zum Thema des subjektiven Wohlbefindens, seiner Messung und Beeinflussung entwickelt. Diese sogenannte „Hedonische“ oder „Positive Psychologie“ versucht in Erweiterung des traditionell ja eher therapeutisch-leidmindernden oder defizitorientierten Schwerpunkts klinischer Psychologie, biopsychosoziale Determinanten von glücklichem oder gelingendem Leben zu erkunden und zu erklären.23 Dabei sind zunehmend recht komplexe, pluralistische und gegenüber der philosophischen Abstraktion lebensnähere, psycho‑ bzw. neurowissenschaftlich fundierte Ansätze entstanden. Beispielhaft kann auf Martin Seligmans einflussreiches Konzept des persönlichens Gedeihens („flourishing“) verwiesen werden, das fünf Säulen des Wohlbefindens definiert: (i) positive Gefühle, (ii) Streben, (iii) Erreichen, (iv) Sinnerleben, (v) positive Beziehungen.24 Seligmans Konzept weist offenbar in die richtige Richtung, wobei weitere Aspekte, wie lebenserhaltende Faktoren (Ernährung, Atemluft, Temperatur, Reizdichte, …)25 oder nicht infolge sozialer Faktoren deformierte Erwartungen (also durch schädliche soziale Institutionen maladaptierte Bedürfnisse), vielleicht noch zu wenig Beachtung finden. Auch bleibt das holistische Ausbalancieren der verschiedenen Achsen des Wohlergehens noch gänzlich ungeklärt. Dabei könnten nicht lediglich Einzelwerte aufsummierende, sondern komplizierte ganzheitliche Bewertungen notwendig werden, wie sie berühmterweise seinerzeit George Edward Moore als „Organisches Ganzes“ andachte.26 23 S. z. B. Kahneman et al. 1999, Diener 2009, Kringelbach & Berridge 2010, Tiberius & Plakias 2010, Haidt 2011, Layard 2011, Haybron 2013, Skidelsky & Skidelsky 2014, 136–70, Bishop 2015, Tiberius 2015a, Weimann et al. 2015, Dunn 2018. 24 S. Seligman 2015. 25 Das entspricht den beiden unteren Stufen der bekannten, fünfstufigen Maslow’schen Bedürfnis-Pyramide, nämlich den physiologischen und Sicherheits-Bedürfnissen; s. Maslow 1943. 26 S. Moore 1903, 60–72; vgl. Carlson 2015.
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14. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität
Werttheoretische Erwägungen legen derartige, hochkomplexe Theorien vermutlich nahe. Eine solche Güterlehre ist, soweit ersichtlich, prinzipiell gut in die proportionale Reziprozität integrierbar. Aber aufgrund ihrer Komplexität macht sie die proportionale Reziprozität wahrscheinlich selbst dann nicht gerade besser anwendbar, wenn man sie sich in ausformulierter Form – die es ja de facto noch nicht gibt – vorstellt. Im Gegenteil, es entsteht der Eindruck eines notwendigen, erheblich impraktikablen Informationsbeschaffungs-Aufwands für proportional-reziprokes Handeln. iv) Sequenzialisierung: Eine weitere werttheoretische Komplikation ist der Zeitbezug der Werttheorie. Man kann zwischen dem übergreifenden Wohlergehen, das auf ein ganzes Leben bezogen ist, und episodischem Wohlergehen, das nur auf kurze Zeitabschnitte (Momente, Stunden, Tage) bezogen ist, unterscheiden.27 Beides ist grundsätzlich sicherlich nicht unabhängig voneinander. Aber in welcher Form episodisches Wohlergehen sich auf das übergreifende Wohlergehen auswirkt, ist noch erheblich klärungsbedürftig. Eine bloße Summation episodischen Wohlergehens über die Zeit ist sicherlich nicht ausreichend, da hier notwendige Investitionen von episodischem Übelergehen zur Erlangung übergreifenden Wohlergehens nicht gut abbildbar sein können.28 Darüber hinaus könnten auch für beide Wohlfahrtsformen unterschiedliche Güter relevant sein, bezogen auf die seligmanschen Kategorien etwa der Faktor Sinn mehr übergreifend und der Faktor positive Affekte eher episodisch. Für die proportionale Reziprozität könnte man vielleicht erwarten, dass sie sich ausschließlich auf episodisches Wohlergehen bezieht. Handlungen werden ja proportional-reziprok danach bewertet, wie sie die Begüterung der Betroffenen verändern. Und dies bezieht sich naheliegenderweise auf ihre gegenwärtige Begüterung. Auch die proportional-reziprok geforderten Sanktionen verändern demgemäß die Begüterung von Individuen im Hier und Jetzt. Ein Fokus auf episodische Begüterung scheint sich also aus der proportional-reziproken Gerechtigkeit unmittelbar zu ergeben. Dies ist jedoch zu kurz gedacht. Aus Gerechtigkeitssicht kann es alternativ auch – wie in den religiöseschatologischen Wurzeln des Prinzips – darum gehen, das übergreifende Wohlergehen (die Gesamtbegüterung eines Rechtssubjekts) proportional reziprok zu verteilen. Um das sicherzustellen, sollte moralisches Handeln oder sollten moralische Institutionen in einer Art und Weise agieren, die das episodische Wohlergehen (die episodische Begüterung) so verteilt, dass dadurch das übergreifende 27 S. Seel 1999, bes. 62–65. Die besondere Bedeutung des übergreifenden Wohlergehens arbeitete in der Antike Herodot Hist. I.29–33 in seiner bekannten Erzählung der Begegnung des reichen und mächtigen lydischen Herrschers Kroisos mit dem Weisen Solon heraus. Solon stellte dabei die Behauptung auf, man könne das Wohlergehen eines Menschen erst am Ende seines Lebens beurteilen, weshalb Kroisos’ Lebensglück noch nicht feststünde. Der sich darob missachtet fühlende und erzürnte Kroisos verstand den Punkt erst nach seinem späteren Verlust von Reichtum, Macht und Sicherheit; vgl. Schubert 2012, 75–78. 28 Vgl. Forgas 2018.
14.1 Das Wertproblem
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Wohlergehen (individuell-lebenszeitliche Gesamtbegüterung) proportional reziprok verteilt ist. Das könnte zum Beispiel leicht die zeitliche Begrenzung von Haftstrafen erklären: der lebenslangen Gesamtbegüterung eines Übeltäters wird durch seine Minderung episodischer Güterausstattung soviel abgezogen, das Verdienstproportionalität entsteht. Aus diesem an sich naheliegenden Gedanken erwachsen allerdings schnell beträchtliche Komplikationen. Bei der Bewertung der moralischen Effekte einer Handlung oder Sanktion muss dementsprechend bei allen Handlungsbetroffenen der Status und die Änderung der übergreifenden Begüterung für alle verfügbaren Optionen bemessen und abgewogen werden. Und das birgt schier unüberschaubare Anforderungen an die notwendige Informationsverarbeitung in sich. Im Ganzen legt die proportionale Reziprozität somit eine gewisse Begrenzung der Werterwägungen auf episodische Begüterung nahe. Wobei die Länge der relevanten Episode nur unter Schwierigkeit begründet festlegbar ist. Je länger man sie konzipiert, desto angemessener aus werttheoretischer Sicht und desto komplizierter aus proportional-reziproker Sicht. Werttheoretisch begründet könnte man hier nur weiterkommen, wenn das Verhältnis von episodischer zu übergreifender Wohlfahrt besser verstanden wird.29 v) Bewertung statt Messung: Allgemein wertphilosophische und speziell proportional-reziproke Gesichtspunkte lassen es mithin plausibel erscheinen, dass personenrelativer Wert in der – auch den personenneutralen moralischen Wert festlegenden – proportionalen Reziprozität objektiv, perfektionistisch und ten denziell episodisch bestimmt wird. Das heißt, es gibt keinen einzelnen messbaren Parameter in der Welt, der mit dem personenrelativen Wert korreliert. Vielmehr muss man eine Vielzahl von Wertungen in holistischer Weise zusammenführen und deren Gesamthöhe für das Rechtssubjekt in der als relevant angesehene Episode bewerten. Bildlich gesprochen gleicht die Bewertung von Wohlfahrt also nicht der Messung von Temperatur, sondern mehr der Einschätzung von künstlerischer Schönheit. Die Bewertung einer Begüterung kulminiert in der proportionalen Reziprozität demzufolge in einem Gesamtwert. Dieser Wert soll auf VerhältnisskalenNiveau ausdrückbar sein. Es gibt somit einen absoluten Nullpunkt. Die weitere Gestaltung bleibt indes der Phantasie des Philosophen überlassen. In der vorliegenden Studie folgen wir der Idee, dass der Nullpunkt der Begüterung den schlechtestmöglichen Zustand darstellt und die positiven Begüterungswerte bis zu einer weiteren Schwelle steigen, ab welcher der damit bewertete Zustand nicht mehr schlecht, sondern gut für das Subjekt ist. Auch eine obere Begüterungsgrenze ist in so einem Modell gut vorstellbar. Beispielsweise könnte 0 den schlechtestmöglichen Zustand für ein Rechtssubjekt ausdrücken, 100 den bestmöglichen und 50 den Umschlagpunkt zwischen schlecht und gut. 29 Vertiefend
s. Bykvist 2015.
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14. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität
So naiv dies vielleicht auf den ersten Blick anmutet, könnte man dennoch in der genannten Weise die hochkomplexen Bewertungen des personenrelativen Werts von Weltzuständen angemessen zusammengefasst ausdrücken. Da es sich um eine praktische Bewertung handelt, keine direkte Messung eines empirisch gegebenen Parameters, erscheint diese Idee zumindest nicht von vornherein völlig unannehmbar. Epikureisch inspiriert könnte man übrigens den Nullpunkt auch als Leidfreiheit definieren, die nach oben unbegrenzten positiven Werte als Quantifizierung des zunehmenden Leids verstehen und die Sanktionen als Belohnungen auffassen. Vermutlich entspricht diese Formalisierung aber nicht dem Geiste verdienstproportional-reziproker Gerechtigkeit, da sich Bestrafungen dann nicht mehr in der direkten Weise des Ursprungsmodells erklären lassen. vi) Praktische Konsequenzen: Was besagt diese bezüglich Eindeutigkeit und Praktikabilität eher enttäuschende Skizze der philosophischen Werttheorie im Kontext der proportionalen Reziprozität? Bedeutet das Wertproblem für die proportionale Reziprozität das theoretische Aus? Bei der Beantwortung dieser Frage gilt es, drei Dinge zu beachten. Erstens ist die Werttheorie für die Moralphilosophie schlechthin unverzichtbar. Eine Moral, die sich nicht im Kern um das Wohlergehen ihrer Rechtssubjekte (ob nun Personen, Empfindungswesen oder was auch immer) und dessen Verteilung sorgt, kann nicht den Anspruch erheben, die menschlichen Grundwerte und Grundnormen gehaltvoll und mit lebenspraktischer Bedeutung zu erfassen. Der wichtige Exponent des Wiener Kreises, Moritz Schlick, kritisierte schon vor einem Jahrhundert eine solche wohlergehensunabhängige Ethik mit den unübertroffenen Worten: „Was haben wir damit zu schaffen? Was geht es uns an? Das einzige Interesse, das wir an diesem Reich der Werte nehmen könnten, wäre das rein wissenschaftliche … Für das Leben und Handeln aber wäre diese Ordnung nicht wichtiger als etwa die der Sterne nach ihrer Größe oder als die Reihenfolge der Gegenstände nach der alphabetischen Ordnung ihrer Benennungen in der Suahelisprache.“30
Innerhalb besonderer normativer Bereiche, etwa der Staats‑ oder Rechtsphilosophie, mag man ja bewusst auf einen unmittelbaren Appell an das gelingende Leben verzichten, dieses Vorgehen kann auf einer höheren Ebene jedoch im Grunde wiederum nur durch werttheoretische Überlegungen begründet werden. So kann ein radikaler Liberaler fordern, sich bei staatlichen Gesetzen ausschließlich auf die Willensäußerungen selbstbestimmter Personen zu berufen und deren Wohlbefinden vollständig zu ignorieren. Aber er wird eine solche Haltung vermutlich letzten Endes mit einem werttheoretischen Pluralismus begründen müssen, der rechtliche Eingriffe in wohlfahrtsorientierten Rechtsbereichen als auf lange Sicht nicht im Interesse der betreffenden Personen gelegen erscheinen 30 Schlick
1930, 136
14.1 Das Wertproblem
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lässt. Der Grund für die Unvermeidlichkeit eines Wohlfahrtsbezugs in der Ethik ist schlicht und ergreifend, dass es uns allen in letzter Konsequenz um ein gelingendes Leben geht und die Moral dazugehörige Grenzen aufzeigt, sie das jedoch nicht ohne eine weitreichende Beachtung des Lebensgelingens in praktisch relevanter Weise tun kann. Zweitens ist die moralphilosophische Werttheorie so wenig entwickelt und die verschiedenen Ansätze sind so komplex, dass jede Moralnorm, die auf Werte oder Güter bezugnimmt – und solche Normen sind wie gesagt unverzichtbar –, in diesem Punkt letztlich nur vage hinweisend und intuitiv konzipiert sein kann. Das heißt, das Wertproblem stellt sich in aller Härte keineswegs nur der proportionalen Reziprozität, sondern jeglicher ernstgemeinter säkularer Moralnorm. Lediglich die besonders hohen messtheoretischen Anforderungen könnten speziell der proportionalen Reziprozität zur Last gelegt werden. Da jedoch selbst die praktische und theoretische Messbarkeit von Werten oder Gütern nicht gut gedanklich durchdrungen ist, bleibt dies letztlich eine schwache Kritik. Drittens verwenden nahezu alle reifen, selbstbestimmungsfähigen Menschen jeden Tag völlig selbstverständlich unscharfe und intuitive Bewertungen des momentanen und globalen Lebensgelingens oder der Wohlfahrt auf sich selbst und Andere bezogen. Bei vielen wichtigen Entscheidungen über das persönliche Leben, das der einem Nahestehenden und sogar bei politischen Fragen nutzen fast alle Menschen ganz unbekümmert und mit subjektiv als hinreichend empfundener Sicherheit Abschätzungen der Wohlfahrt der Betroffenen als Basis. Ohne solche intuitiven Bewertungen ließe sich ein großer Teil unseres moralischen Kosmos nicht verstehend nachbilden. Eine häufig vermutete psychologische Grundlage dessen ist übrigens ein men‑ taler Rollentausch. Der Normadressat versetzt sich in die anderen Betroffenen hinein, um – in der Sprache der proportionalen Reziprozität gesprochen – ihre Begüterung zu erfassen. Der Beobachter rekonstruiert subjektiv die Gedanken, Gefühle und Wünsche, gewissermaßen die biopsychosoziale Situiertheit, der relevanten Rechtssubjekte. Die so erhobenen subjektiven Bewertungen stellen dann das alltäglich mehr oder weniger bewährte Material zur Anwendung seiner Moralnormen dar. Zusammengefasst: ein Bezug auf die Begüterung der relevanten Individuen ist moraltheoretisch nicht zu vermeiden. Während die philosophischen Theorien hierzu allesamt noch recht kümmerlich erscheinen, sind selbstsichere intuitive Bewertungen in diesem Bereich ein ubiquitäres, sozial wichtiges Alltagsphänomen. Aus dieser Sachlage kann man für die proportionale Reziprozität meines Erachtens in aller Vorsicht zwei Dinge ableiten. Auf der einen Seite muss es der proportionalen Reziprozität als philosophischer Moralnorm erlaubt sein, von einer nicht theoretisch durchdrungenen, durchaus auch anspruchsvollen Werttheorie auszugehen und den Begriff des Guts vorerst stark formal zu halten. Auf der anderen Seite ist die proportionale Reziprozität jedoch als
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14. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität
alltagsrelevante Moralnorm nur anwendbar und ein praktischer Gewinn, wenn sie Entscheidungsverfahren an die Hand gibt, die mit möglichst wenig aufwändigen intuitiven Begüterungsabschätzungen oder idealerweise sogar ganz ohne solche auskommen. Während der erste Teil schon ein Stück weit geleistet ist, muss der zweite Aspekt im Kommenden noch ausgearbeitet werden (s. Kap. 15).
14.2 Das Regressproblem Eine zweite große Anwendungsschwierigkeit der proportionalen Reziprozität betrifft die Messung von Verdienst. Selbst wenn der Handelnde die Begüterungen aller relevanten Rechtssubjekte aktuell erfassen könnte, so kann er Handlungen – die anderer Personen oder seine eigenen –, welche die erfasste Güterverteilung verändern, nicht auf ihren proportional-reziproken Charakter hin beurteilen, ohne die Verdienste der Rechtssubjekte zu kennen. Die Verdienste sind allerdings ein Resultat der güterverteilenden Handlungen der Rechtssubjekte vor der aktuell anstehenden Handlung. Die vorausgehenden güterverteilenden Handlungen wiederum sind ihrerseits nur dann bezüglich ihres verdienstbestimmenden Effekts beurteilbar, wenn die noch weiter in der Vergangenheit liegenden güterverteilenden Handlungen auf die damals vorliegenden Verdienste bezogen werden können. Und immer so weiter zurück in die Vergangenheit. Das bedeutet, der Akteur gerät bei der Verdienstbestimmung unweigerlich in einen infiniten Regress, der selbst bei einer überzeugenden Lösung des Wertproblems eine Anwendung der proportionalen Reziprozität anscheinend verunmöglicht.31 Diese Schwierigkeit soll das Regressproblem genannt werden. Auf das Regressproblem hatte im neunzehnten Jahrhundert schon Arthur Schopenhauer bei seiner harschen Kritik der kantschen Vorstellung vom höchsten Gut (vgl. 11.4) – als Spielart der distributiven Gerechtigkeit – hingewiesen.32 Aktuelle Güterumverteilungen seien nur relativ zu den vorbestehenden Verdiensten der Rechtssubjekte beurteilbar. Und die vorbestehenden Verdienste sind nur relativ zu den in der Vorgeschichte vorgenommenen Güterumverteilungen beurteilbar. Und so bis in alle Ewigkeit zurück. In formaler Hinsicht ist der infinite Regress innerhalb der proportionalen Reziprozität schlicht nicht zu leugnen. Offen ist jedoch, ob diese formale Eigenschaft die proportionale Reziprozität als Moralnorm untragbar macht. Untragbar kann eine Moralnorm in praktischer oder theoretischer Hinsicht sein. In beiden Hinsichten kann man den infiniten Regress der proportionalen Gerechtigkeit beanstanden. Praktisch verfügt kein Akteur über ein ausreichendes Wissen über die Verdienstvorgeschichte aller Beteiligten. Er kann somit nicht 31 Frankena
1963, 67 f. 1819, 642.
32 S. Schopenhauer
14.2 Das Regressproblem
153
proportional-reziprok handeln. Theoretisch ist ein infiniter Regress natürlich eine logische Schwäche, die vermieden werden sollte. Beide Kritikpunkte sind somit grundsätzlich zutreffend. Gleichwohl können beide Kritikpunkte, wenn schon nicht vollends widerlegt, so doch zumindest etwas abgeschwächt werden. In praktischer Hinsicht kann man eigentlich nur mit einer informierten Schät‑ zung der Verdienste arbeiten. Und das wiederum ist genau das, was gerechtigkeitsorientierte Menschen im Alltag tun: unter Beachtung aller vorliegenden Informationen abschätzen, was jemand verdient. Nachteilig bleibt, dass die proportionale Reziprozität als Moralnorm hier wenig unmittelbare praktische Hilfe leistet. Aber immerhin: die proportionale Reziprozität expliziert die gültige Form von Verdienstgewinnung und ‑verwirkung. In theoretischer Hinsicht gibt es zwei Lösungsstrategien für das Regressproblem. Erstens kann man mit dem Konzept einer gerechten Anfangsverteilung arbeiten, von der ausgehend man aber die Moralität der Handlungen im Zeitverlauf rückblickend errechnen kann. Wenn einmal eine gerechte Verteilung vorliegt, so kann die proportional-reziproke Verdienstdynamik ihre Arbeit aufnehmen. Historisch hat es eine solche gerechte Anfangsverteilung natürlich nie gegeben, sie ist daher eine rein theoretische Option. Allerdings kann man bestimmte gesellschaftliche Umbrüche als einen Versuch deuten, eine solche gerechte Ausgangssituation herzustellen. Ein schönes und bekanntes Beispiel sind die legendären Reformen des zu den sieben Weisen der Antike gerechneten Gesetzgebers Solon im Athen des ausklingenden sechsten vorchristlichen Jahrhunderts.33 Solon schuf – die Details sind historisch natürlich umstritten – in einer chaotischen und allseits als ungerecht empfundenen Situation einen sozialen und rechtlichen Neuanfang vor allem durch eine einmalige vollständige Tilgung bzw. Amnestie der bis dahin aufgelaufenen Schulden, einschließlich der offenbar dramatisch angewachsenen Schuldknechtschaft. Zweitens kann man einen evolutionären Prozess schildern, der auch bei einer vorliegenden ungerechten (also disproportionalen) Güterverteilung dafür sorgt, dass sich diese im Verlauf der Zeit proportionalisiert. Dies könnte etwa so ablaufen, dass die Befolgung einfacherer, aus der proportionalen Reziprozität abgeleiteter Praxisnormen die Grundlage für die Zurechnung von Disproportionalität bildet. Die Normadhärenz einer Person mag infolgedessen für die Interaktionspartner besser erkennbar sein, womit diese ihren Handlungen in höherem Maße valide intuitive Verdienstschätzungen zugrundelegen können. Falls eine hinreichende Zahl von Normadressaten entsprechend handelt, so proportionalisiert sich höchstwahrscheinlich im Laufe der Zeit schrittweise die Güterverteilung. Dies wird auch dadurch unterstützt, dass es zunehmend egoistisch klug wird, normadhärent zu verfahren. Mit dieser Strategie werden wir 33 S. Aristoteles Ath. 6–10; vgl. Schubert 2012; vgl. Stein-Hölkeskamp 2010, Martin 2014, 236–40.
154
14. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität
bereits auf die weiter unten behandelten Heuristiken der proportionalen Reziprozität verwiesen, die eben solche leicht anwendbaren Praxisnormen bereitstellen (vgl. Kap. 15). Auf ein seltener bemerktes, verwandtes Problem der proportionalen Reziprozität sei noch hingewiesen. Dieses Problem stellt sich allerdings nicht nur der proportionalen Reziprozität, sondern eigentlich allen konsequenzialistischen Normen, so auch dem Utilitarismus oder einem wohlfahrtsmaximierenden Egoismus. Entscheidungstheoretisch ist es als „Paradoxie des gemeinnützigen Fonds’“ bekannt.34 Es handelt sich um das Problem des drohenden infiniten Pro‑ gress’. Die Moralität einer proportional-reziprok gerechten Handlung ergibt sich aus dem durch sie verwirklichten Weltzustand, der gerecht sein soll. Manchmal ist es jedoch nötig, eine kurzzeitige Zunahme der Ungerechtigkeit zu bewirken, um auf längere Sicht Gerechtigkeit abzusichern. Es ist so gesehen aber völlig unklar, wie weit in die Zukunft der Normadressat schauen muss, um sein Handeln zu rechtfertigen. Denn auch die durch eine kürzere Ungerechtigkeit erzeugte Gerechtigkeit mag wieder Ursache einer erneuten Ungerechtigkeit sein und immer so weiter. Es ist also zunächst eine offene Frage, welche zeitliche Sequenz eine gerechtigkeitsrelevante Grundeinheit ist. Vermutlich sollte der Handelnde immer die Handlung wählen, welche die über die gesamte Zeit gesehen geringste Ungerechtigkeit erzeugt. Damit wäre der logische infinite Progress allerdings nicht wirklich verhindert, falls man eine unendliche Fortdauer der Zeit in der Zukunft unterstellt. Und auch handlungspraktisch ist nicht klar definiert, welchen Zeitraum der proportional-reziproke Konsequenzialist seiner Handlungsplanung zugrunde legen sollte, da er nicht unbegrenzt in die Zukunft sehen kann. Wiederum wird man hier angesichts der begrenzten menschlichen Möglichkeiten auf Heuristiken als Substitute zurückgreifen müssen.
14.3 Das Problem des unverdienten Verdiensts Das Problem des unverdienten Verdiensts ist einer der populärsten und – wenn man einen Moment darüber nachdenkt – doch zugleich auch lahmsten Einwände gegen verdienstorientierte Ethiken wie die proportionale Reziprozität. Die Grundidee ist es, mit Hilfe des Konstrukts eines Meta-Verdiensts das Verdienst im eigentlichen Sinne zu widerlegen. Dieser Einwand kommt entweder in der deterministischen oder der logischen Variante daher. Die wohlfeile deter ministische Variante führt die Beobachtung ins Feld, dass moralisches Verdienst und die daraus folgende Belohnung oder Bestrafung im Hinblick auf verantwortliches Handeln des Akteurs vergeben werden. Die Fähigkeit zu verantwortlichem 34 S. Clark
2012, 100 ff.
14.3 Das Problem des unverdienten Verdiensts
155
Handeln oder gar die Verantwortung für die Herausbildung von Handlungspräferenzen des Akteurs sei jedoch stets sozial, neurobiologisch oder durch unbewusste Motive – oder sonstige überindividuelle Faktoren – bedingt: der Einzelne trüge dafür keine Verantwortung. Demzufolge verdient moralisch auch keiner, was er moralisch zu verdienen scheint.35 Die logische Variante spitzt die Überlegung noch zu: Jedes moralische Verdienst beruht auf einer Verdienstbasis, das heißt, einem bestimmten Faktor, der das Verdienst begründet und bemisst.36 Auch diese Verdienstbasis ist jedoch in bestimmter Weise verteilt. Und es stellt sich die Frage, ob die Handelnden die bei ihnen lokalisierte Verdienstbasis eigentlich verdienen. Auch für dieses MetaVerdienst muss es eine Basis geben, für die sich dann die gleiche Frage ergibt. In dieser Weise resultiert mithin ein infiniter Regress. Beide Varianten können indessen nicht überzeugen. Die erste Variante unterstellt eine Determination menschlichen Handelns, die nicht nur verdienstbasierten Ethiken, sondern jeglicher Moral westlichen Zuschnitts gewissermaßen die Lebensader kappt. Falls niemand für irgendetwas verantwortlich ist, kann man einen moralischen Diskurs im eigentlichen Sinne gar nicht mehr führen. Es gibt dann einfach keinen moralischen Normadressaten im üblichen Sinne mehr. Moralnormen erübrigten sich demgemäß. Dass dies einer Aufgabe der philosophischen Ethik gleichkommt, muss wohl kaum weiter untermauert werden. Und diese absurde Konsequenz genügt, um die erste Variante des Einwandes vom unverdienten Verdienst rasch aus dem Rennen zu schlagen. Davon abgesehen ist ein Determismus – ob nun soziologisch, psychologisch oder neurobiologisch gestaltet – nach aktuellem Diskussionsstand gar nicht zwingend unvereinbar mit Verantwortlichkeit im Sinne von Selbstbestimmung, so dass die Argumentation mit großer Sicherheit ohnehin von einer falschen Voraussetzung ausgeht.37 Pointiert zusammengefasst: Entweder der Determinismus gilt und schließt persönliche Verantwortung aus. Dann beweist die Verdienstkritik zu viel. Moralnormen wären demzufolge rein illusionär. Oder der Determinismus gilt, aber ist kompatibel mit persönlicher Verantwortung. Dann ist die Verdienstkritik nicht mehr begründbar. Die zweite Variante ist ebenfalls wenig überzeugend. Es gibt nämlich schlicht keinen Grund anzunehmen, die Verteilung der Verdienstbasis (im Falle der proportionalen Reziprozität: selbstbestimmt proportionierendes Tun) müsse oder könne ihrerseits im Hinblick auf ihre Verteilung auf eine Art Meta-Verdienstlichkeit hin überprüft werden. Der drohende infinite Regress kann demgegenüber 35 S. z. B. Rawls 1971, 345 f., Feinberg 1973, 116, Hinsch 2002, 239–66, Schlothfeld 2012, 68–71; dagegen Moriarty 2005; vgl. schon Boethius Cons., 287. Die Bedeutung des Zufalls für Erfolgsleistungen belegt materialreich der Ökonom Robert H. Frank (2018). 36 Kritisch dazu: Feldman 2016, 190–95. 37 S. z. B. Dennett 1994, Pauen 2004, Kane 2005, bes. 107–19.
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14. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität
geradezu als eine Reductio-ad-absurdum der Annahme von Meta-Verdienstlichkeit verstanden werden.38 Verdienstrelevantes Handeln ist also die Verteilungsbasis für Verdienst, bezüglich dieses verdienstrelevanten Handelns kann jedoch nicht sinnvoll erneut nach dessen Verdientheit gefragt werden. Zusammenfassend kann man festhalten, dass der Einwand vom unverdienten Verdienst trotz seiner großen Beliebtheit keine ernsthaften Schwierigkeiten für die proportionale Reziprozität aufwirft. Entweder er beweist zu viel – die gesamte westliche Moralphilosophie und Rechtskultur beruhen auf einem Irrtum – oder er muss sich auf eine völlig unbegründete Unterstellung berufen – die Verdienstbasis muss immer ihrerseits verdient sein.
14.4 Das Problem der mangelnden Sicherung der Grundbedürfnis-Befriedigung Wir haben oben gesehen, dass die moderne Gerechtigkeitsphilosophie christliche Nächstenliebe und westliche Sozialstaatlichkeit in philosophische Prinzipien gegossen hat, die in verschiedener Weise auf das Wohlergehen der Schlechtestgestellten abzielen. Aus dieser Perspektive könnte der proportionalen Reziprozität vorgeworfen werden, dass sie den besonderen Unterstützungsbedarf Notleidender nicht ausreichend widerspiegelt. Kann diese vorerst mehr gefühlte Kritik auch inhaltlich substanziiert werden? Tatsächlich spielt die Tatsache, dass ein Rechtssubjekt eine unterdurchschnittliche oder sehr niedrige Begüterung hat, aus Sicht der proportionalen Reziprozität nur dann eine Rolle, wenn die niedrige Begüterung nicht verdient ist. Dann ist allerdings Abhilfe dringend geboten. Bei verdientem Übelergehen liegt hingegen keine proportional-reziproke Ungerechtigkeit vor, selbst wenn es dem betreffenden Rechtssubjekt erbärmlich schlecht geht. Es bleibt aber zunächst völlig unklar, inwiefern diese Sicht der Dinge eigentlich zu beanstanden ist. Die proportional-reziproke These ist ja eben genau die Behauptung, dass Gerechtigkeit sich auf Verdienst bezieht und daher nicht immer eine gleiche oder allseits grundbedürfnissichernde Verteilung der Wohlfahrt moralisch wertvoll ist. Intuitive Schubkraft bekommt der Einwand aus der Grundbedürfnissicherung eigentlich nur dann, wenn man ihn mit der – irreführenden – Idee des unverdienten Verdiensts kombiniert: wenn die Schlechtestgestellten zwar schlimme Dinge getan oder Gutes unterlassen haben, dies aber gar nicht selbstbestimmt geschah, so haben sie ihr niedriges Verdienst nicht verdient und infolgedessen auch nicht ihre geringe Wohlfahrt. Weil jedoch das Problem des unverdienten Verdiensts ein Scheinproblem ist (s. o.), braucht dieser Gedankengang hier nicht weiter verfolgt zu werden. Ganz im Gegenteil ist es aus unserer Sicht 38 S. Zaitchik
1977.
14.5 Das Problem der mangelnden Gemeinwohlförderung
157
ein wichtiger Vorzug der proportionalen Reziprozität, dass sie moralisch begründet differenzieren kann, wer Schlechtes verdient und wer nicht. Zwischen selbstverschuldetem Elend und unverdienter Notlage besteht moralisch ein gewaltiger Unterschied. Rein bedürfnisorientierte Prinzipien sind zu dieser ausschlaggebenden Differenzierung, wie oben besprochen, zu ihrem eigenen Nachteil nicht ohne weitere Hilfsannahmen in der Lage.
14.5 Das Problem der mangelnden Gemeinwohlförderung Ganz ähnlich könnte ein utilitaristisch gesonnener Kritiker der proportionalen Reziprozität vorwerfen, sich nicht ausreichend um das Gemeinwohl zu kümmern. Wenn die Verteilung der Begüterung verdienstproportional ist, ist das Niveau dieser Begüterung proportional-reziprok gesehen ja völlig gleichgültig. Das heißt aber, dass eine sehr arme Welt genauso gerecht sein kann wie eine sehr reiche, solange nur die Güter verdienstproportional verteilt sind. Und diese Bewertung könnte als moralisch unangemessen eingestuft werden. Hier kann sich der Anhänger der proportionalen Reziprozität allerdings in die Hacken stemmen: es geht ihm um Gerechtigkeit und diese achtet eben tatsächlich nicht auf die Summe, sondern die Verteilung von Gütern. Das passt auch zu ihrem streng interpersonellen Charakter und ihrer Realisierungsmöglichkeit in vielen, unterschiedlich gut ausgestatteten Welten. Auch hier kann man die intuitive Stoßkraft des noch nicht so recht effektiven utilitaristischen Einwands etwas erhöhen, wenn man eine verborgene Annahme einschmuggelt: nämlich die gleichzeitige Existenz der armen und der reichen Welt. Gibt es eine reiche Gesellschaft und eine arme, so können beide für sich gesehen proportional-reziprok gerecht sein, im Vergleich erscheint die arme Welt jedoch ungerecht benachteiligt. Diese zutiefst proportional-reziproke Intuition ist jedoch nicht voraussetzungsgemäß: das Gemeinwohlargument vergleicht abgeschlossene Welten, nicht separierte Gesellschaften in einer Welt. Bedenkt man dies, so verflüchtigt sich meines Erachtens der Eindruck der Ungerechtigkeit der armen Welt, obgleich sie bedauernswert sein mag und daraus auch eine moralische Hilfspflicht erwachsen kann. Diese wäre dann jedoch eine Wohltätigkeitpflicht, die einer anderen Moralnorm als der proportionalen Reziprozität gehorcht, wie oben (9.5) konzipiert. Im Bedarfsfall steht einem proportional-reziproken Ethiker zudem jederzeit die Möglichkeit offen, die vorrangige proportional-reziproke Grundnorm der Gerechtigkeit um eine nachrangige Wohltätigkeitsnorm zu bereichern und das Normenpaar dann Gerechtigkeitstheorie zu nennen. Dies ist ist aus unserer Sicht für eine umfassendere moralische Theorie ein sympathischer und vielleicht sogar unvermeidlicher Zug, für eine auf ihren Kernbereich begrenzte Gerechtigkeitstheorie indes überflüssig.
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14. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität
14.6 Probleme der „Trolley-ology“ Eines der hartnäckigsten Probleme der philosophischen Ethik ist das inzwischen sattsam durchgekaute Trolley-Problem, das seinerzeit Philippa Foot erdachte.39 Aufgrund der nicht mehr zu überblickenden Vielzahl von Beiträgen zu diesem Problem wird unterdessen gern etwas abfällig von „Trolley-ology“ gesprochen. Über die vielen philosophischen Rationalisierungsbemühungen hinaus sind hier zunächst die inzwischen etwas besser erforschten faktisch-alltagspsychologischen Bewertungen interessant.40 Für unsere Zwecke reicht es, zwei Varianten des dem Problem zugrunde liegenden Falls zu unterscheiden. Bei der ersten Variante verlaufen hinter einer vom Handelnden zu verstellenden Weiche genau zwei Gleise. Auf dem ersten Gleis laufen mehrere Menschen, auf dem zweiten Gleis nur ein Mensch. Nun rast ein ungebremster Eisenbahnwaggon („Trolley“) heran, vor dem die Menschen nicht gewarnt werden können. Wenn der Handelnde nicht die Weiche umstellt, dann tötet der Eisenbahnwaggon die Menschengruppe, andernfalls den einzelnen Menschen. Bei dieser Variante befürwortet eine Mehrheit der Entscheider im Einklang mit ihrem Gewissen ein Umstellen der Weiche, um die Menschengruppe zu retten. Der Tod des Einzelnen wird in Kauf genommen. Bei der zweiten Variante des Falls rast wieder ein Eisenbahnwaggon auf eine Menschengruppe zu. Diesmal kann der Entscheider sie jedoch nur retten, wenn er einen sehr dicken Mann von einer über das Gleis führenden Brücke stürzt und mit seinem Körper den Waggon stoppt. Dabei wird angenommen, dass der dicke Mann nicht auf anderem Wege zum Sprung zu bewegen ist und der Entscheider selbst zu leicht ist, um an seine Stelle zu treten. Bei dieser Variante entscheidet sich eine Mehrheit von Probanden gegen den tödlichen Schubs und nimmt den Tod der Vielen hin. Für Moralphilosophen stellt diese unterschiedliche Behandlung beider Fälle meist ein Problem dar. Bezüglich des lebensrettenden bzw. tödlichen Effekts sind beide Varianten ja gleichwertig, lediglich das unmittelbare persönliche Handeln des Entscheiders differiert: entweder er stellt eine Weiche um oder er schubst einen anderen Menschen. In beiden Fällen bewirkt das Handeln des Entscheiders allerdings den Tod von Menschen – das Unterlassen natürlich auch.41 Im Kontext einer Gerechtigkeitsnorm stellt sich die weitere Frage, ob das Handeln oder Unterlassen des Entscheiders im skizzierten Fall denn auf der 39 S. Foot
1967. 2006, 121–43, Greene 2013, 105–31; vgl. Tiberius 2015, 189–200. Dabei gibt es Hinweise auf bemerkenswerte Differenzen zwischen den verbalen Beurteilungen und dem tatsächlichen Handeln in strukturell gleich gelagerten Situationen; s. Bostyn et al. 2018. 41 Vgl. Birnbacher 1995, 217–27. 40 S. Hauser
14.6 Probleme der „Trolley-ology“
159
moralischen Bewertung fußend strafbar sein sollte. Ohne dass dem Autor hierzu Untersuchungen bekannt wären, lässt sich aus der moralischen Ambivalenz der Alltagsmoral mutmaßlich ableiten, dass eine Strafbarkeit wohl in keinem Fall angemessen erscheinen wird. Sehr passend zur intuitiven Bewertung der Situation ist die proportionalreziproke Bewertung. Ausgehend von der Annahme, dass eine gerechte Ausgangsituation mit annähernd gleichverteilten Verdiensten der Beteiligten vorliegt (zur Begründung dieser Annahme s. nächstes Kapitel), sind nämlich beide Handlungsweisen in beiden Varianten zulässig: keine der jeweils alternativen Handlungsmöglichkeiten erhöht die Disproportionalität der Verteilung. Eine Verdienstminderung – also Bestrafung – des Handelnden ist keinesfalls zu rechtfertigen. Allerdings gebietet die nachrangige Wohltätigkeitsnorm der proportionalen Reziprozität eine Maximierung der Begüterung, was im Trolley-Fall in beiden Varianten die Opferung des Einen zur Folge hätte. Damit wäre die Opferung des Einen moralisch besser, aber ihre Unterlassung nicht ungerecht oder verdienstmindernd. Eine Erklärung für die unterschiedliche alltagsmoralische Bewertung beider Varianten muss vor diesem normativen Hintergrund außerhalb moralischer Motive, bei anderen Beweggründen gesucht werden. So könnte etwa eine sozial erlernte Scheu vor direkter körperlicher Gewaltausübung oder die operant gelernte Verknüpfung von negativen Sanktionen mit einer solchen hier den Ausschlag für die Wahl der Unterlassungsoption im zweiten Fall geben. Dies würde auch gut zu neurowissenschaftlichen Befunden passen, die auf eine höhere Beteiligung von mit Emotionen verknüpften Hirnzentren bei Wahl der Unterlassungsoption hindeuten.42 Ein verwandtes Szenario und dessen intuitive Einschätzung wird regelmäßig im strafrechtlichen Bereich gegen den Utilitarismus ins Feld geführt, nämlich der oben schon angesprochene Lynch-Mob-Fall (s. 13.4). Es ist eines der bekanntesten Beispiele problematischer Konsequenzen des Utilitarismus. Hier wird eine Situation angenommen, bei der nach einem schrecklichen Verbrechen ein Verdächtiger vorläufig in polizeilichen Gewahrsam genommen wird, sich aber dessen Unschuld im Zuge der vorgenommenen Ermittlung rasch erweist. Unterdessen hat sich eine aufgebrachte Volksmenge vor dem Polizeirevier versammelt und fordert lautstark und unbeirrbar die Auslieferung des vermeintlichen Schwerverbrechers, um ihn zu lynchen. Bei Nichtauslieferung drohen absehbar massive Ausschreitungen in der nächsten Umgebung, mit vielen Toten und Verletzten. Es wird unterstellt, dass schnelle Hilfe für das umzingelte Revier nicht verfügbar ist und sich die Menge anderweitig nicht beruhigen lässt. Die Frage ist dann, ob der zuständige Behördenleiter den Unschuldigen der Menge ausliefern soll, weil er nur so Schlimmeres verhindern 42 Greene
et al. 2001.
160
14. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität
kann. Alltagsmoralisch lehnt nach gegenwärtigem Kenntnisstand eine Mehrheit westlich sozialisierter Probanden die Auslieferung ab, während allerdings Angehörige kollektivistischer Kulturen, wie etwa China, offenbar viel weniger eindeutig zu dieser Position neigen.43 Direkt utilitaristisch gedacht könnte die Auslieferung geboten erscheinen; indirekt utilitaristische Erwägungen könnten aber dagegen sprechen, etwa die Verunsicherung der Bevölkerung und deren Vertrauensverlust in die Strafermittlungsbehörden, wenn später der wahre Sachverhalt ruchbar wird. Der Utilitarist muss demgemäß einfach den kollektiven Nutzen der getroffenen Maßnahme prüfen. Wenn die Auslieferung insgesamt – unter Beachtung aller, auch indirekter Effekte –, mehr Nutzen bringt als die Verweigerung, dann sollte ausgeliefert werden. Proportional-reziprok gesehen stellt sich die Sache jedoch etwas anders dar. Aus dieser Perspektive muss überprüft werden, ob die durch die Menge bei Nichtauslieferung verursachte Disproportionalität größer ist, als die durch die Auslieferung verursachte. (Auch dabei müssen natürlich indirekte Effekte mitbeachtet werden.) Das heißt, die konkret drohenden Schädigungen müssen relativ zum Verdienst der Betroffenen verglichen werden: beim unschuldig Inhaftierten und den unschuldig von der Menge Angegriffenen. Dabei spielt dann – bei ausschließlicher Erwägung der direkten Effekte! – nicht so sehr die Anzahl der Geschädigten, sondern das individuell maximale Ausmaß der unverdienten Schädigung eine Rolle. Wenn also der Inhaftierte ein unbescholtener Mensch ist und die durch die Menge bei Nichtauslieferung Geschädigten moralisch klar weniger verdienstlich sind (z. B. Gewohnheitsverbrecher), wenn der Inhaftierte von der Menge getötet oder gefoltert würde, aber die anderweitig Angegriffenen lediglich leichten Körperverletzungen und Vermögensschäden ausgesetzt wären, sollte die Auslieferung unterbleiben. Falls die Dinge gerade umgedreht liegen, sollte die Auslieferung erfolgen. Ob dieses Ergebnis intuitiv vollständig überzeugend ist, muss dahingestellt bleiben. Die proportionale Reziprozität scheint aber deutlich angemessenere und stimmigere Erwägungen zu mobilisieren als der Utilitarismus mit seiner Fokussierung auf den ungefilterten kollektiven Wohlfahrtseffekt. Ein weiteres verwandtes, philosophisch ebenfalls heiß diskutiertes Szenario ist Bernard Williams’ Jim-Fall.44 Dieses Szenario wurde meines Wissens noch nicht empirisch-psychologisch untersucht. Beim Jim-Fall ist der Akteur, Jim, als Botaniker im südamerikanischen Urwald tätig. Auf dem Marktplatz eines entlegenen Dorfes werden Eingeborene von Uniformierten mit vorgehaltener Waffe in Schach gehalten. Sie sollen als Warnung für Regierungsfeinde erschossen werden, obgleich sie völlig zufällig herausgesucht wurden. Der Hauptmann 43 S. Doris
& Plakias 2008. 1973.
44 S. Williams
14.7 Probleme der intergenerationellen Gerechtigkeit
161
der Soldaten, ist ein Mann, von dem zweierlei gewiss ist: erstens, er ist vollkommen skrupellos, zweitens, hält er immer, was er verspricht. Er droht Jim nun Folgendes in Form eines Versprechens an: Entweder Jim nimmt eine von ihm dargebotene Pistole und erschießt eigenhändig einen der Indios – als perverses Gast-Privileg –, woraufhin der Rest völlig unbehelligt bliebe, oder die Soldaten werden die Indios allesamt umbringen. Was soll der Akteur tun, wenn keine Ausweichmöglichkeiten bestehen? Utilitaristisch sollte der Akteur den Einzelnen töten. Und das widerspricht offenbar den alltagsmoralischen Intuitionen vieler Menschen. Wie bewertet die proportionale Reziprozität den Fall? Auch hier muss ein Anhänger der proportionalen Reziprozität offenbar wieder komplizierte Verdienst‑ und Begüterungserwägungen anstellen. Unter der Annahme einer gerechten Welt bezüglich des Akteurs und der Eingeborenen – der Hauptmann und seine Soldaten sind höchstwahrscheinlich in einem disproportional günstigen Zustand – steht dem Handelnden aus Gerechtigkeitsperspektive tatsächlich frei, so zu handeln, wie er denkt: der resultierende Zustand ist unabhängig von seiner Entscheidung gleichermaßen disproportional, gleich, ob er selbst den Einen oder die Soldaten Alle töten. Die maximale Disproportionalität bleibt davon ja unberührt. Die sekundäre Wohltätigkeitsnorm würde indes moralisch zuraten, die utilitaristische Entscheidung zu treffen, da so bezogen auf den Akteur und die Eingeborenen bei gleicher Disproportionalität eine höhere Gesamtbegüterung erzielt wird. Eine Verdienstminderung erführe der Akteur jedoch bei der Unterlassung der aktiven Tötung nicht. Insoweit geht die proportionale Reziprozität auch hier einen Schritt auf die mutmaßliche Alltagsmoral zu.45
14.7 Probleme der intergenerationellen Gerechtigkeit Durch den zeitgenössischen Utilitarismus hat sich eine interessante Debatte um moralische Pflichten gegenüber zukünftigen Personen ergeben, die in dieser Form der Tradition der Moralphilosophie fremd war. Angestoßen hat die inzwischen unüberschaubare Literatur dazu vor allem Derek Parfit, unter anderem in seinem bahnbrechenden Werk „Reasons and Persons“.46 Zunächst hat er dabei ein Problem für die Alltagsmoral – so, wie er sie versteht – aufgeworfen, das den Utilitarismus empfiehlt, das „Non-Identity“-Problem. Dieses Problem ergibt sich anhand intuitiver Fälle, bei denen der Akteur zwischen zwei nicht-identischen künftigen Personen wählen kann und es falsch erscheint, denjenigen mit dem deutlich geringeren Wohlergehen zu wählen, obwohl durch diese Wahl niemand schlechter gestellt wird. Die Alltagsmoral bietet keine ausformulierte Norm, die 45 Vgl.
Birnbacher 1995, 224–27. 1984, Kap. 17–19; Übersicht bei Birnbacher 1988; aktuell: Mulgan 2014.
46 S. Parfit
162
14. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität
diese intuitive Präferenz erklären kann, aber der Utilitarismus ist eine solche. Dieser begründet über die Nutzensteigerung mühelos die intuitive Bewertung. Für den Utilitarismus wirft Parfit dann zahlreiche Probleme auf. Für die traditionelle nutzensummen-maximierende Variante des Utilitarismus ergibt sich die „Repugnant Conclusion“, die abstoßende Schlussfolgerung, dass zu einer beliebigen Welt sich immer noch eine Alternativwelt denken lässt, in der es allen Personen schlechter geht, aber durch die schiere Vermehrung der Personenzahl die kollektive Nutzensumme dennoch größer ist. Solange das Leben der Betroffenen gerade noch lebenswert ist, gebietet der Nutzensummen-Utilitarismus also ein nahezu unbegrenztes Zeugungsgebot. Der Utilitarist kann sich jedoch durch eine Wendung zum DurchnittsnutzenUtilitarismus verteidigen: da die durchschnittliche Wohlfahrt der Personen bei der vergrößerten Bevölkerungszahl sinkt, wäre folglich das Zeugungsgebot verhindert. Aber auch für diese Variante des Utilitarismus sieht Parfit Schwierigkeiten, das „Hermit-Problem“. Ausgehend von einer beliebigen Welt ist nämlich die Erzeugung von Personen mit unterdurchschnittlicher, aber positiver Wohlfahrt durchschnittsnutzen-utilitaristisch falsch – auch wenn diese den Rest der Bevölkerung ansonsten in keiner Weise tangieren, indem sie etwa als Einsiedler außerhalb der sonstigen Welt leben. Dies erscheint ebenfalls kontraintuitiv. Da die faktischen Intuitionen zu den Fällen nicht untersucht sind, die anschließende Kontroverse hochkompliziert erscheint und uns der Utilitarismus ja nur mittelbar interessiert, werden wir diese Probleme nicht nachverfolgen. Aber wenn man versucht, die proportionale Reziprozität auf diese Probleme anzuwenden, lernt man eine interessante Eigenschaft unseres Ansatzes kennen: die proportionale Reziprozität kann nämlich nur funktionieren, wenn aus‑ schließlich die Begüterung der gegenwärtig existierenden Personen beachtet wird. Eine reziproke Gerechtigkeit ist nicht auf zukünftige – oder übrigens auch vergangene – Personen anwendbar. In der Sprache der proportionalen Reziprozität muss man sagen, dass die Verdienstlichkeit zukünftiger Personen individuell prinzipiell unbestimmt ist, da diese noch nicht gehandelt haben. Daher kann die Zukünftigen individuell zustehende Begüterung nicht festgelegt werden. Die künftige Gesamtbegüterung und Gesamtverdienstlichkeit sind jedoch eventuell näherungsweise abschätzbar. Bei bekannter und feststehender Personenzahl kann somit ein durchschnittliches Verdienst beziffert werden, das jedoch nicht auf Einzelfälle anwendbar ist. Bei vergangenen Personen ist dagegen das Verdienst-Begüterungs-Verhältnis unveränderlich festgelegt. Würde man sie in die Berechnungen einbeziehen, würde man im Grunde eine absolute Verdienstbemessung etablieren, geeicht durch die erste Generation von Rechtssubjekten. Die Verdienstdynamik der proportionalen Reziprozität wäre gleichsam lahmgelegt; Änderungen der Gesamtbegüterung und Gesamtverdienstlichkeit würden nicht mehr in gerechter Weise Beachtung finden können oder müssten sogar unterbunden werden. Was
14.8 Das Problem des relevanten Rechtssubjekts
163
bedeutet die proportional-reziprok gebotene Beschränkung auf aktuell existente Rechtssubjekte aber für die beiden parfitschen Konstellationen? Das unbegrenzte Zeugungsgebot der „Repugnant Conclusion“ gilt für die proportionale Reziprozität im Prinzip nicht. Eine Welt mit mehr Personen ist unabhängig von deren Verdienst-Güter-Verhältnis nicht gerechter als eine Welt mit weniger Personen. Wenn allerdings im Rahmen gerechten Handelns die Bevölkerungszahl immer weiter steigt und die durchschnittliche Begüterung sinkt, so ist das nach der proportionalen Reziprozität nicht ungerecht, solange nicht in einer Generation Disproportionalität auftritt. Die sekundäre Wohltätigkeitsnorm würde es überdies sogar als geboten ansehen, im Rahmen des gerechten Handelns die Population zu maximieren. (Wenn man sie, anders als oben, nicht auf die durchschnittliche Begüterung bezieht.) Das Verbot der Erzeugung unterdurchschnittlich Begüterter, das „HermitProblem“ ist bei angenommener durchschnittlicher Verdienstlichkeit der Hinzukommenden scheinbar ebenfalls durchaus gegeben. Allerdings würde es nicht nur für unterdurchschnittlich, sondern auch für überdurchschnittlich Begüterte (die dabei gleichverdient sind) gelten! Das mutet möglicherweise ziemlich befremdlich an. Es geht aber um Gerechtigkeit. Und zudem ist, wie gesagt, die künftige Verdienstlichkeit grundsätzlich unbestimmt. Und das hat zur Folge, dass der Handelnde die proportionale Reziprozität in so einem Fall im Grunde nicht anwenden kann. Er muss auf andere Normen zurückgreifen. Insofern ist nicht ganz klar, ob die proportionale Reziprozität hier vor einem Problem steht oder schlicht eine – nicht zwingend zu beanstandende – Regelungslücke enthält. Dieser Abschnitt hat einige interessante Probleme aufgeworfen, die hier nicht einmal im Ansatz geklärt werden können und bei denen die alltagsmoralischen Bewertungen ebenfalls fraglich sind. Festzuhalten bleibt insofern lediglich der, wenn man es so nennen will, aktualistische Charakter der proportionalen Reziprozität: sie kann sich nur auf zu einem Zeitpunkt existierende Rechtssubjekte beziehen.
14.8 Das Problem des relevanten Rechtssubjekts Eine wichtige Eigenschaft moralphilosophischer Normenkodices ist ihre Definition der moralischen Gemeinschaft, also derjenigen Dinge oder Wesen, deren Interessen unmittelbar moralische Berücksichtigung erfahren sollen. Eine gewisse Begrenzung auf gegenwärtig existente Rechtssubjekte ist nach dem letzten Abschnitt der proportionalen Reziprozität immanent. Welche Art von gegenwärtig existierendem Wesen ist jedoch aus proportional-reziproker Perspektive ein mögliches Rechtssubjekt? Scheinbar müssen proportional-reziprok anerkannte Rechtssubjekte zwei Eigenschaften haben: sie müssen i) be‑ güterungsfähig und ii) verdienstzurechnungsfähig (also selbstbestimmungsfähig)
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14. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität
sein. Genau diese beiden Merkmale lassen sich übrigens interessanterweise bei der Begrenzung der moralischen Gemeinschaft in der westlichen Alltagsmoral sozialpsychologisch nachweisen.47 Beide Eigenschaften sollten wir folglich kurz etwas ausformulieren. i) Da es aus Perspektive der proportionalen Reziprozität moralisch grundsätzlich um die Begüterung von Rechtssubjekten geht, kommen nur Wesen moralisch in Betracht, die über die Fähigkeit zur Begüterung verfügen. Nicht begüterbare Wesen sind moralisch unbeachtlich. Die entscheidende Frage lautet daher: was ist Begüterungsfähigkeit? Mit dieser Frage werden wir offensichtlich auf das Wertproblem zurückgeworfen. Infolgedessen kann an dieser Stelle eingestandernermaßen nicht viel Gehaltvolles ausgesagt werden, da wir keine kohärente Güterlehre vorweisen können. Allerdings ist es sehr wahrscheinlich, dass jede plausible Güterlehre subjektivistisch ist.48 Subjektivismus meint in diesem Zusammenhang, dass nur Wesen als Rechtssubjekte in Frage kommen, die über ein subjektives Erleben verfügen, wie Bewusstsein, Wahrnehmung, Denken, Empfinden und Fühlen, vielleicht auch Selbstbewusstsein und Selbststeuerungsfähigkeit. Nur insofern etwas einen Unterschied für die Wohlfahrt eines solchen Subjekts macht, kann es als moralisches Gut verstanden werden. Dieser moralische Subjektivismus ist in der westlichen Moralkultur tief verankert. Das Wohlergehen von Subjekten ist mithin der entscheidende Bezugspunkt der Begüterung. Normalentwickelte, wache, erwachsene Menschen sind demzufolge eindeutig proportional-reziproke Rechtssubjekte, während beispielsweise Gesteinsbrocken eindeutig keine proportional-reziproken Rechtssubjekte sind. Die Dinge und Wesen zwischen diesen eindeutigen Extremen – zum Beispiel der menschliche Fetus, Kleinkinder, bewusstlose Menschen, verschiedene Tiere oder Pflanzen – lassen sich dagegen erst einordnen, wenn die Güterlehre besser ausformuliert ist. ii) Nach der proportionalen Reziprozität kann ein Rechtssubjekt nur Verdienst erwerben oder verwirken, wenn es in zurechenbarer Weise handeln kann. Wenn ein Rechtssubjekt moralisch korrekt handelt, bewahrt es sein Verdienst; wenn es moralisch falsch handelt, verwirkt es Verdienst; und wenn es mühevoll moralisch korrekt handelt, steigert es sein Verdienst. Diese Dynamik legt es nahe, nur selbstbestimmt handlungsfähigen Wesen moralische Beachtung zu schenken, also nur sie als Rechtssubjekte anzuerkennen. Dieser erste Eindruck täuscht allerdings. Genau genommen können natürlich nur zurechnungsfähig Handelnde ihr Verdienst aktiv ändern. Das schließt jedoch keineswegs aus, dass begüterungsfähige Subjekte, die nicht zurechnungsfähig handeln können, passiv einen festen Verdienstgrad zugeschrieben bekommen. Sie 47 S. Sytsma 48 S.
& Machery 2012, Wegner & Gray 2016, 1–23. z. B. Kagan 1992, Sumner 1996, 25–44.
14.8 Das Problem des relevanten Rechtssubjekts
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sind damit proportional-reziproke Rechtssubjekte, aber ohne die Möglichkeit, handelnd ihr Verdienst zu ändern. Dieser feste Verdienstgrad könnte entweder absolut fixiert werden und dann durch die dynamische Weiterentwicklung zu unterschiedlichen relativen Begüterungen führen. Oder – wahrscheinlich sinnvoller – der Verdienstgrad könnte relativ zur Gesamtverdienstlichkeit bestimmt sein, indem er einen auf die Zahl der Rechtssubjekte bezogenen Prozentsatz an der Gesamtverdienstlichkeit ausmachte. Falls das nicht zurechungsfähig handelnde Rechtssubjekt etwa als vollwertiges Rechtssubjekt akzeptiert werden soll, könnte ihm in einer n Rechtssubjekte umfassenden Gemeinschaft immer genau ein n-tel der Gesamtverdienstlichkeit zugerechnet werden. Dies wäre insbesondere auch im Sinne der unten noch vorgestellten Gleichverteilungsheuristik begründbar. Proportional-reziproke Rechtssubjekte sind also Subjekte, aber nicht zwingend zurechnungsfähig Handelnde. Der moralische Status des menschlichen Fetus und nichtmenschlicher Tiere ist damit zunächst unbestimmt. Beim erst allmählich und gering ausgeprägt subjekthaft werdenden, durchgängig nicht zurechnungsfähigen menschlichen Fetus besteht die Komplikation, dass man die moralisch relevante Subjektivität nicht nur aktual vorliegend, sondern auch rein potenziell vorliegend als moralisch relevant annehmen kann. Je nachdem ergibt sich vor allem eine unterschiedliche moralische Bewertung von Schwangerschaftsabbrüchen. Die damit verbundenen begrifflichen und moralischen Schwierigkeiten sind allerdings sehr weitreichend und können hier nicht im Vorbeigehen abgehandelt werden. Nach aktuellem Argumentationsstand ist aus der westlichen Alltagsmoral keine eindeutige Position zu dieser Frage herauszudestillieren: potenzialistische und aktualistische Prinzipien sind gleichermaßen gut alltagsmoralisch gestützt bzw. abtreibungsbefürwortende und ‑verbietende Praxisnormen gleichermaßen vernünftig.49 Dies spiegelt sich auch in den unentschiedenen und uneindeutigen Abtreibungsgesetzen der europäischen Rechtstradition wieder.50 Insofern kann jedoch eine weitere Untersuchung dieses Bereichs an dieser Stelle unterbleiben: eine normative Konsequenz bezüglich der moralischen Statthaftigkeit von Abtreibungen hätte ungeachtet ihrer Ausrichtung keinerlei Beweiskraft. Bei nichtmenschlichen Tieren ist seit dem neunzehnten Jahrhundert in der westlichen Kultur ein gewisser Konsens etabliert, dem zufolge – je nach Gattung natürlich unterschiedlich gewichtet – ein Schutz ihres Wohlergehens grundsätzlich moralisch wünschenswert ist, auch wenn ihre Tötung für menschliche Zwecke statthaft erscheint.51 Die kontraktualistische Tradition der frühen Neuzeit stand demgegenüber Individualrechten nichteinwilligungsfähiger Subjekt 49 Überblick: Heepe 2011a mit weiterführenden Angaben; s. a. Leist 1990, Boonin 2003, Damschen & Schönecker 2003. 50 S. Jerouschek 1988. 51 S. z. B. Regan 1983, Nida-Rümelin 1996, Loughnan & Piazza 2018.
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14. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität
höchst kritisch gegenüber.52 Der Charakter als Subjekt hat bei den historisch prominenten philosophischen Tierschutzbefürwortern den Ausschlag für ihre reformerische Wertung gegeben, wie man bei Jeremy Bentham oder für den deutschen Sprachraum bei Schopenhauer nachlesen kann.53 Zurechnungsfähigkeit wurde dagegen bisher für kaum eine Tierart propagiert, wenn auch höhere Primaten oder bestimmte Meeressäuger zumindest im Ansatz in dieser Hinsicht eigentlich durchaus in Betracht kommen würden. Francis Hutchesons eigenwillige Vorstellung des moralischen Verdiensts von Tieren blieb insoweit eine ideengeschichtliche Anomalie der Aufklärungszeit.54 Die proportionale Reziprozität bietet, wie skizziert, die Möglichkeit, moralische Tierrechte abzubilden. In welchem Ausmaß, für welche Art und wie man solche Tierrechte genau erfassen kann, ist in unserem Kontext jedoch nicht näher zu ergründen. Allzuviel problematische empirische Frage müssten hier geklärt werden. Im Ganzen kann die proportionale Reziprozität auch bei der Frage der moralischen Gemeinschaft wesentliche Eckpfeiler der westlichen Alltagsmoral im Grundsatz integrieren, ohne dass sich aus ihr ohne Weiteres schon klare oder eindeutige Konsequenzen für diesen auch alltagsmoralisch vagen und widersprüchlichen Bereich ergeben.
14.9 Probleme der Impraktikabilität Obwohl keiner der oben gemachten Einwände die proportionale Reziprozität widerlegt, bleiben etliche Fragen offen: welche Wert‑ oder Güterlehre soll gelten und wie soll man Begüterungen messen? Wie kann man das Verdienst von Rechtssubjekten praktisch einstufen? Überdies haben wir weder moralische Alltagsregeln noch soziale Institutionen näher untersucht, die proportionalreziprok gerecht sind. Mit Blick auf die offenen Fragen kann man der proportionalen Reziprozität als moralischer Norm vorwerfen, unanwendbar zu sein. Wie könnte sie individuell oder kollektiv Handelnden unter diesen Umständen moralische Orientierung bieten? Diese Impraktikabilität muss letzten Endes wohl eingeräumt werden. Allerdings gilt sie so auch für die meisten abstrakten Gerechtigkeitsphilosophien abgesehen von der proportionalen Reziprozität. Moralphilosophische Prinzipien oder Theorien sind eben keine detaillierten praktischen Verfahrensanweisungen. Gleichwohl sollte eine philosophische Gerechtigkeitsnorm zumindest in der Lage sein, grundsätzliche, allgemeine Verhaltensstrategien oder gesellschaftliche 52 Vgl.
z. B. Grotius 1625, 52, Hobbes 1642, 91 f., ders. 1651, 105, 207 f. 1789, 310 f., Schopenhauer 1840, 278–84. 54 S. Hutcheson 1725, 136 f. 53 S. Bentham
14.9 Probleme der Impraktikabilität
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Einrichtungen zu begründen. Sie sollte so etwas wie die moralische Norm‑ und Wertbasis für die alltäglichen Regelungsbedürfnisse bereitstellen. Wir werden zu diesem Zweck zum einen im nächsten Kapitel anwendungsnähere Praxisnormen der proportionalen Reziprozität untersuchen. Zum anderen werden wir nach einem Seitenblick auf andere aktuelle verdienstbasierte Ethiken die soziale Institution Strafe aus proportional-reziproker Perspektive rekonstruieren. Beides ist als Beitrag zur Überwindung des Impraktikabilitätsproblems gedacht.
15. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: die Heuristiken In diesem Kapitel werden wir uns der proportionalen Reziprozität als praktischer Moral annähern. Entscheidend sind in diesem Zusammenhang die sogenannten Heuristiken der proportionalen Reziprozität und deren Zusammenspiel. Anschließend sollten wir überdies zum Zusammenhang von moralischen Grundnormen und Heuristiken einige kurze Überlegungen anstellen.
15.1 Heuristiken der proportionalen Reziprozität Heuristiken sind im vorliegenden Zusammenhang Praxisnormen für abstraktkomplexe Idealnormen. Eine moralische Idealnorm formuliert das moralisch Gebotene (bzw. Erlaubte oder Verbotene). Sie braucht nicht für Normadressaten anwendbar zu sein, sondern zeigt auf, was aus moralischer Perspektive geschehen soll (bzw. möglich ist oder unterbleiben soll). Eine moralische Praxisnorm ist hingegen eine Entscheidungsregel, welche die Normadressaten ihrem Handeln unmittelbar zu Grunde legen können und sollen. Die Beachtung der Praxisnorm verbürgt bis zu einem gewissen Grade die Erfüllung der Idealnorm. Typischerweise sind normale menschliche Normadressaten im normalen Lebensumfeld in ihren Fähigkeiten auf eine Weise begrenzt, die ihnen eine direkte Beachtung der moralischen Idealnorm schwierig macht. Der Versuch dazu könnte sogar aus Sicht der Idealnorm geradezu schlechte Ergebnisse erzielen. Die Praxisnorm (oder eben Heuristik) ist nach den ideal-normativen Maßstäben ein überlegenes Handlungsmotiv. Was unterscheidet Praxisnormen von Idealnormen? Eine Praxisnorm kann als eine Norm definiert werden, die zwei Bedingungen erfüllt: a) Zu Anwendung einer Praxisnorm werden weniger Parameter herangezogen, als zur Anwendung der Idealnorm. Ihre Anwendung ist daher einfacher. b) Die Befolgung der Praxisnorm erzielt die von der Idealnorm gebotenen Ergebnisse besser, als es die direkte Befolgung der Idealnorm tun würde.1 1 W. D. Ross 1930, 19–34, propagierte mit seiner Ethik sogenannter Prima-facie-Pflichten einen Normenkodex, der als auf heuristischen Normen beruhend begriffen werden kann.
15.1 Heuristiken der proportionalen Reziprozität
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Aus dieser Definition ergibt sich, unter welchen Voraussetzungen eine moralische Norm rein ideal und infolgedessen auf eine Praxisnorm angewiesen ist: nämlich dann, wenn die Moralnorm nur unter sehr großen oder gar unüberwindlichen Schwierigkeiten vom Normadressaten befolgt werden kann. Tatsächlich überfordern viele Moralnormen der philosophischen Tradition die menschliche Fähigkeit zur Erhebung und Verarbeitung notwendiger Informationen. Und das macht ihre Idealität und Angewiesenheit auf Praxisnormen aus. So auch die proportionale Reziprozität. Drei Parameter muss ein Normadressat verfügbar haben, der proportional-reziprok gerecht handeln will: 1. das Verdienst der Handlungsbetroffenen vor der Handlung, 2. die Begüterung der Betroffenen nach der Handlung und 3. die aktuelle Ratio von Gesamtverdienstlichkeit zu Gesamtbegüterung. Mit diesen drei Parametern bewaffnet, lassen sich die bestehenden Handlungsoptionen (wie in Kapitel 7 näher ausgeführt) moralisch bewerten und die beste von ihnen als geboten auswählen. Es bedarf natürlich keiner langen Diskussion darüber, dass alle drei Parameter erkenntnistheoretisch extrem anspruchsvoll sind. Sie sind dem alltäglich moralisch Handelnden oder dem menschlichen Planer einer sozialen Institution allzumeist nicht unmittelbar zugänglich. Alle drei proportional-reziprok erforderlichen Parameter sind bestenfalls vage abschätzbar. Die proportionale Reziprozität ist also unverkennbar eine moralische Idealnorm und benötigt heuristische Praxisnormen. Im weiteren Verlauf des Kapitels wollen wir sechs mögliche und naheliegende Heuristiken der proportionalen Reziprozität mustern. Sinnvollerweise gehen wir bei einer jeden von den für ihre Anwendung notwendigen Informationen aus, formulieren die Heuristik, begründen dann ihre proportional-rezipoke Wirkung und skizzieren ihren naheliegenden Anwendungsbereich. Zwei Warnungen seien vorausgeschickt. i) Zum einen sind Heuristiken ganz allgemein nie fehlerfrei: sie verbessern die Ergebnisse gegenüber der Idealnorm als Entscheidungsverfahren, aber sie garantieren keinen Erfolg. Heuristiken sind insbesondere fast durchweg kontext‑ abhängig, da sie nur unter bestimmten Umständen ihren guten Effekt erzielen.2 Im falschen Kontext kann das Festhalten an einer Heuristik erheblich dysfunktional werden, im Sinne einer kognitiven Verzerrung („bias“).3 Im richtigen Kontext hingegen optimieren Heuristiken auf elegante Art die Qualität menschlichen Planens und Handelns ganz erheblich.4 Da verschiedene Kontexte in ihrer Häufigkeit differieren und auch ihr Vorliegen nicht immer klar bestimmt ist, können wir also Heuristiken immer nur mittels Plausibilitätserwägungen 2 S. Jungermann et al. 1998, 166–73, Werth & Mayer 2008, 51–82, Gigerenzer & Gassmaier 2011. 3 S. Kahneman 2012. 4 S. Gigerenzer 2008.
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15. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: die Heuristiken
bewerten. Demgemäß werden wir sie nicht durch logische Ableitung, sondern durch empirisch gestützte Überlegungen begründen müssen. ii) Die von uns untersuchten Heuristiken sind nach dem ersten Eindruck überwiegend auffällig banal. Jeder kennt sie; sie bieten keine wirklichen Überraschungen. Diese unbestreitbare Banalität darf aber nicht als theoretische Schwäche verkannt werden. Ganz im Gegenteil ist die Fähigkeit der proportionalen Reziprozität, die nachstehend aufgeführten unspektakulären und weithin gebräuchlichen moralischen Faustregeln zu begründen, ein starker Nachweis ihrer moralphilosophischen Fruchtbarkeit. Nach diesen zwei Warnungen nun aber zu unseren sechs Heuristiken: Einwilligung, Gleichverteilung, Tauschgleichheit, Schadensersatz, Wiedervergeltung und Selbstbestimmung.
15.2 Einwilligungs-Heuristik Nehmen wir an, der Akteur hat keinerlei Erkenntnisse über Verdienst und Be‑ güterung der relevanten Rechtssubjekte. Was ist dann die proportional-reziprok gebotene Vorgehensweise? Folgende Heuristik bietet sich an: Einwilligung: Eine Handlung bzw. Institution ist gerecht, wenn alle betroffenen Rechtssubjekte selbstbestimmt in ihre Durchführung einwilligen.
Dies entspricht der uralten römisch-rechtlichen Maxime: „volenti non fit iniuria“ (s. o. 10.2) und ist eine plausible liberale Grundvorstellung. Wichtig ist dabei, dass die Einwilligung der Rechtssubjekte ausreichend freiwillig und informiert erfolgt. Wie könnte diese Heuristik proportional-reziprok begründet werden? Zwei Bereiche sind zu bedenken, der sozial‑ und der individualethische. Sozialethisch wird die Zufriedenheit von Menschen stark durch ihre Einschätzung der Gerechtigkeit der obwaltenden sozialen Institutionen geprägt und zwar durchaus im Sinne der proportionalen Reziprozität (s. o. 3.3). Das bedeutet, dass eine allgemeine Einwilligung in eine angedachte soziale Institution für deren allseits wahrgenommene ausreichende Gerechtigkeit spricht. Individualethisch wird auch aus Eigeninteresse niemand der Handlungsweise eines Anderen zustimmen, die ihn selbst stark schädigt. Dies ist, falls nicht im großem Umfang moralische Übeltäter die Population bilden, zumindest ein schwacher Hinweis, dass die fragliche Handlung keine als stark schädigend oder disproportionierend eingeschätzte Güterverteilung erzeugt. Das Einwilligungsprinzip ist somit eine proportional-reziproke Heuristik bei vollständigem Nichtwissen des Handelnden. Sie verspricht zumindest bessere Ergebnisse als ein rein zufällig festgelegtes Handeln.
15.3 Gleichverteilungs-Heuristik
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15.3 Gleichverteilungs-Heuristik Wie kann ein Akteur verfahren, der zwar das Begüterungsniveau der relevanten Rechtssubjekte einigermaßen einschätzen kann, aber deren Verdienste und auch Gesamtverdienst und Gesamtbegüterung nicht zu beziffern vermag? Für ihn ist es sinnvoll, auf eine sehr einfache Heuristik zu wechseln: Gleichverteilung: Eine Handlung bzw. Institution ist gerecht, wenn durch sie alle Rechtssubjekte das gleiche Begüterungsniveau aufweisen.
Bei der Gleichverteilung geht es also nicht um Begüterungsänderungen, sondern um die de facto durch eine Handlung oder Institution erreichte Ausstattung. Zwei Überlegungen lassen das Gleichverteilungsprinzip als eine probate proportional-reziproke Heuristik bei mangelndem Wissen über Verdienste erscheinen. Erstens kann der Akteur durch eine Gleichverteilung der Begüterung die mögliche Disproportionalität minimieren. Jede Wegbewegung von der Gleichverteilung erhöht die mögliche Disproportionalität, falls sie nämlich in die falsche Richtung geht, also einem Rechtssubjekt über dessen Verdienste hinaus oder weniger als er verdient zuteilt. Man kann das gut sehen, wenn man sich klar macht, dass eine Disproportionalität bei einem Rechtssubjekt infolge des relativen Charakters der proportionalen Reziprozität immer auch Disproportionalität bei mindestens einem weiteren Rechtssubjekt bedingt: was der eine zuviel hat, hat mindestens ein anderer zuwenig. Da jedoch bei Unkenntnis der Verdienste dem Akteur die Richtung der Abweichung unbekannt ist – wer hat zuviel, wer zuwenig – kann er offenkundig bei Ungleichverteilung mit vertauschter Richtung die Ungleichheit über das Maß der Disproportionalität bei Gleichverteilung der Güter hinaus steigern. Die mögliche Disproportionalität bleibt also bei der Gleichverteilung am kleinsten, wenn auch natürlich keine Garantie dafür besteht, dass die Gleichverteilung tatsächlich proportional ist. Zweitens könnte man argumentieren, dass bei Unkenntnis der individuellen Verdienste ein zureichender Grund zur Ungleichbehandlung fehlt. Dieser Gedanke wäre ganz analog der – meist durch das sogenannte „Prinzip des unzureichenden Grundes“ gerechtfertigten – Gleichwahrscheinlichkeits-Annahme bei Entscheidungen unter Unwissen in der Statistik.5 Es stellt sich allerdings beiden Ideen das gleiche Problem: wenn ein Grund für die Benennung einer bestimmten Ungleichverteilung fehlt, so gilt dies ja auch für die Gleichverteilung als einer bestimmten Verteilung. Das bedeutet, dass jede beliebige Verteilung gleichermaßen gut begründet ist wie die Gleichverteilung. Falls dieser Einwand überzeugt – für den Autor tut er dies zumindest im vorliegenden Kontext –, dann ist die erste Überlegung die ausschlaggebende.
5 S.
z. B. Resnik 1987, 35 ff.
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15. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: die Heuristiken
Der Anwendungsbereich des Gleichverteilungsprinzips sind demnach Situationen, bei denen Verdienste nicht erkennbar sind. Dies ist sowohl im institutionellen Kontext als auch im individualmoralischen Kontext sinnvoll. Traditionell kann übrigens die Goldene Regel als individualmoralische Ausformung einer solchen Heuristik angesehen werden.6 Nach der Goldenen Regel soll man Andere so behandeln, wie man selbst selbst behandelt zu werden wünscht. Plausiblerweise wird diese Regel insbesondere auf Fälle angewendet, bei denen einem das Gegenüber noch unbekannt ist. Bezogen auf Begüterung kann das als Aufforderung zur Gleichverteilung des Wohlergehens verstanden werden, solange der Andere sich nicht antagonistisch verhält. Dies kann im politischen Bereich – entgegen einer üblichen Assoziation mit meritokratischer Ungleichheit – wohlfahrtsegalitäre Institutionen bis zu einem gewissen Grade proportional-reziprok begründen.7 Wenn allerdings Hinweise auf die Verdienste Einzelner vorliegen, etwa bei offensichtlich antisozial-schädigendem Verhalten oder Ähnlichem, dann ist eine Anwendung der güteregalitären Heuristik ersichtlich kontraproduktiv für die Entstehung und Aufrechterhaltung proportional-reziproker Gerechtigkeit.
15.4 Tauschgleichheits-Heuristik Praktisch relevant ist auch eine Konstellation, bei welcher der Akteur zwar die Begüterungsänderung der betroffenen Rechtssubjekte, aber weder deren Begüterungsniveaus, die Begüterungsniveaus Dritter und auch nicht Gesamtbegüterung und Gesamtverdienst bemessen kann. Man kann eine Handlung in diesem Zusammenhang als Transaktion zwischen bestimmten Parteien verstehen. Eine passende Heuristik könnte dann folgende sein: Tauschgleichheit: Eine Handlung bzw. Institution ist gerecht, wenn jedes transagierend beteiligte Rechtssubjekt die gleiche Begüterungsänderung erfährt.
Die Grundidee dieser Heuristik ist im Grunde der Tausch. Die interagierenden Rechtssubjekte tauschen Güter oder Dienstleistungen so aus, dass die Beteiligten danach den gleichen Gewinn, eine Bestandswahrung oder gleiche Verluste erlangen. Die Eignung der Tauschgleichheit als proportional-reziproke Heuristik hängt offensichtlich von der Art der Transaktion und dem sozialen Kontext ab. Man kann zwischen effizienten, ineffizienten und ausgeglichen Transaktionen unterscheiden. Eine Transaktion ist effizient, wenn die Gesamtbegüterung der 6 Zur
Goldenen Regel in diesem Kontext s. Hertzler 1934, Reiner 1948, Wattles 1996. häufig gehörte Kritik an verdienstbasierter Ethik, individuelle Verdienste seien weder erkennbar noch – besonders infolge sozialer Determination – voll zurechenbar (s. 14.3), lässt sich somit auch in den Verweis auf eine vermeintlich angemessenere, egalisierende Anwendung des Verdienstprinzips umdeuten. 7 Die
15.5 Schadensersatz-Heuristik
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Transagierenden durch sie steigt; sie ist ineffizient, wenn die Gesamtbegüterung sinkt und sie ist ausgeglichen, wenn die Gesamtbegüterung konstant gehalten wird. Bei Tauschgleichheit erfährt jeder Transagierende die absolut gleiche Begüterungsänderung. Dies ist aus proportional-reziproker Perspektive problematisch, da sich bei ungleichen Verdiensten dadurch die relative Begüterungverteilung verändern kann. Bei einer ungerechten Ausgangsverteilung ist die moralische Qualität dieser Änderung nicht zu ermessen; bei einer gerechten Ausgangsverteilung ist dieser Effekt jedoch disproportionierend, also gerechtigkeitsmindernd. Darüber hinaus bringt ein verändertes Begüterungsniveau der Transagierenden die Schwierigkeit mit sich, dass sich die Begüterung der nicht transagierenden Rechtssubjekte ja nicht ändert, so dass auch hier die Gefahr einer Steigerung der Ungerechtigkeit lauert. Die aufgeworfenen Probleme gelten allerdings nicht für ausgeglichene Transaktionen. Diese bewahren ja die Proportionalität zwischen den Transagierenden und zwischen diesen und den unbeteiligten Rechtssubjekten. Bei einer anzunehmenden gerechten Ausgangsverteilung sind daher lediglich ausgeglichene Transaktionen eine völlig unbedenkliche Heuristik. Dies widerspricht allerdings scheinbar der intuitiven Vorstellung von üblichen akzeptablen Tauschaktivitäten, etwa in einer idealen Marktwirtschaft ohne externe Verzerrungen, wie Monopol‑ oder Oligopolbildung. Dabei geht es den Beteiligten ja um ihren persönlichen Gewinn, der durchaus als legitim angesehen wird. Effiziente Transaktionen sollten demnach möglich sein. Um diese Vorstellung zu integrieren, muss die proportionale Reziprozität institutionell verstanden werden. Es muss beispielsweise nachgewiesen werden, dass eine freie Marktwirtschaft auf längere Sicht nicht nur das Gemeinwohl steigert (das ist wohl eine etwas leichtere Aufgabe), sondern – zum Beispiel aufgrund gesicherter Chancengleichheit bei ökonomischen Transaktionen – jedes Rechtssubjekt die Verdienstproportionalität seiner Begüterung innerhalb wiederholter Transaktionen absichern kann (das ist wohl eine deutlich schwerere Aufgabe). Zusammengefasst: in einem weitgehend gerechten Weltzustand sind Transaktionen mit gleichermaßen gewahrter Begüterung der beteiligten Rechtssubjekte gerecht. Besteht in der betreffenden Gesellschaft ausreichende Chancengleichheit sind darüber hinaus auch gleich verteilte effiziente Transaktionen praktisch ausreichend begründet.
15.5 Schadensersatz-Heuristik Vorstellbar ist auch eine Konstellation, bei welcher der Akteur lediglich weiß, dass die vorliegende Begüterungsverteilung hinreichend gerecht ist. Wenn in dieser Situation ein Rechtssubjekt ohne Verschulden einer Person geschädigt wird, so ist
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15. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: die Heuristiken
klar, dass der Geschädigte weniger Begüterung aufweist, als ihm zusteht. Daraus ergibt sich rasch die folgende Heuristik: Schadensersatz: Eine Handlung bzw. Institution ist gerecht, wenn sie ein Rechtssubjekt, das ohne schuldhaftes Einwirken einer Person schlechter gestellt wurde, wieder auf sein vormaliges Begüterungsniveau bringt ohne die Begüterung Dritter zu tangieren .
Der springende Punkt ist die Wiederherstellung des vormaligen Zustands. Das beinhaltet unangetastete Begüterungen Dritter. Unter diesen Bedingungen ist der proportionierende Charakter der Handlung offensichtlich. Wie kann dies mit üblichen und allgemein akzeptierten zivilrechtlichen Schadensersatzforderungen in Einklang gebracht werden, die ja den kausal für die Schädigung Verantwortlichen Entschädigungskosten auferlegen? Aus proportional-reziproker Perspektive muss man hier wieder zwischen geringer Schuld durch fahrlässiges Verhalten und vollkommen fehlender Verantwortung für die Schädigung unterscheiden. Bei geringer Schuld sind die Kosten für den Schädiger gerecht, indem sie proportionalisierend wirken. Bei komplett mangelnder Schuld ist eine Kostenübernahme durch den Schädiger nicht gerechtfertigt. Dies erklärt sehr gut, warum verpflichtende Versicherungen in diesem Bereich moralisch erlaubt oder sogar geboten sind. Durch eine Versicherung werden entstehende Schadensersatz-Kosten kollektiviert. Eine vergleichbare Kollektivierung durch Versicherung ist demgegenüber bei verbrecherischen Schädigungen offensichtlich absurd. Der sinnvolle Anwendungsbereich der Schadensersatz-Heuristik sind demzufolge schuldfreie Schädigungen, vor allem im zivilrechtlichen Bereich.
15.6 Wiedervergeltungs-Heuristik Häufig sind auch Fälle bei denen in einem hinreichend gerechten Weltzustand ein Rechtssubjekt ein anderes Rechtssubjekt selbstbestimmt schädigt. Unter diesen Umständen ist sicher, dass ein moralisches Unrecht geschehen ist und der Täter über eine disproportional hohe Begüterung verfügt. Die Gesamtbegüterung, Gesamtverdienstlichkeit und die individuellen Verdienste und Begüterungsänderungen von Täter und Opfer mögen nicht erkennbar sein. Wenn aber das durch die verbrecherische Tat induzierte Begüterungsniveau des Opfers bemessbar ist, ergibt sich eine der kulturgeschichtlich ältesten Heuristiken: Wiedervergeltung: Eine Handlung bzw. Institution ist gerecht, wenn sie ein Rechtssubjekt, das ein anderes Rechtssubjekt selbstbestimmt schädigt, auf das Begüterungsniveau bringt, auf das der Geschädigte durch die Tat gebracht wurde.
Wann ist die Wiedervergeltung proportional-reziprok gerechtfertigt? Es sind im Wesentlichen drei Bedingungen zu erfüllen. Die erste: es muss eine hinreichend gerechte Anfangsverteilung vor dem Verbrechen vorliegen. Andernfalls ist schwer
15.7 Selbstbestimmungs-Heuristik
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abzusichern, dass die in Frage stehende Schädigung überhaupt ein Verbrechen ist: sie könnte ja im Extremfall schlicht eine proportional-reziproke Bestrafung sein. Zweitens stimmt das schlichte Wiedervergeltungsprinzip nur mit der proportionalen Reziprozität überein, wenn die betreffenden Rechtssubjekte vor der Tat annähernd gleichverdient waren. Bei starker Verdienstungleichheit darf die Strafe den Täter nicht mehr auf ein Begüterungsniveau bringen, das der absoluten Begüterung des Opfers nach Tat entspricht: wenn der Täter verdienter war, muss er sanfter bestraft werden, wenn er weniger verdient war, härter. Drittens muss das geschädigte Rechtssubjekt nach der Tat entschädigt sein, also auf sein altes Begüterungsniveau zurückgebracht werden. Kann kein Schadensersatz erfolgen, muss die Strafmaßnahme bei Erfüllung der beiden anderen Bedingungen ja härter als die Tat ausfallen, also der Schädiger in einen schlechteren Zustand gebracht werden als der nicht rehabilitierbare Geschädigte. Das überlieferte Wiedervergeltungsdenken griff dieses durch seine potenzierten Versionen auf, etwa dem Duplum oder Triplum (s. o. 7.6). Ein naheliegender Anwendungsbereich der Wiedervergeltungs-Heuristik ist das Strafrecht in einem hinreichend gerechten Staat (s. 17.10). Auch interpersonell kann die Wiedervergeltung angemessen sein, wobei insbesondere auch der Akzent auf der Wiedergutmachung als strafmindernde Maßnahme nützlich erscheint.
15.7 Selbstbestimmungs-Heuristik Eine letzte Heuristik erwächst aus dem bereits betonten notwendig fremdbezogenen Charakter der proportionalen Reziprozität (s. o. 7.3). Da die proportional-reziproke Gerechtigkeit die Begüterung eines Rechtssubjekts nur relativ zur Begüterung anderer Rechtssubjekte (qua Verdienstproportionalität) bewertet, ist bei Einzelpersonen in Isolation keine Gerechtigkeitserwägung relevant: jede Begüterung des Betreffenden ist unabhängig von seinem Verdienst proportionalreziprok gerecht, da keine Vergleichssubjekte existieren. Weil es in der wirklichen Welt so gut wie immer Vergleichssubjekte gibt, ist diese Eigenschaft der proportionalen Reziprozität zunächst wenig spektakulär. Allerdings kann sie gut die notwendig interpersonelle Ausrichtung der alltagsmoralischen Gerechtigkeitsnorm erklären – wenn man diese einmal im Hinblick auf die aristotelische Tradition als gegeben annimmt.8 Ausformuliert hat diese alltagsmoralische Eigenschaft der Gerechtigkeit übrigens David Hume mit seinen drei Bedingungen, unter denen überhaupt
8 Vgl. Aristoteles EN 1129b–1130a, 1134b, 1138a f., 1143a, Thomas S. Theol. II.II.58.2; Del Vecchio 1953, 54–76.
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15. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: die Heuristiken
Gerechtigkeitserwägungen wirksam werden können.9 Erstens muss ein moderater Mangel der zu verteilenden Güter vorliegen – bei Überfluss oder extremer Notlage stellen sich keine Gerechtigkeitsfragen. Zweitens müssen die Menschen moderat egoistisch sein – bei heiligen Asketen oder völlig gewissenlosen Egoisten stellt sich gleichfalls keine Gerechtigkeitsfrage. Und drittens sollten die potenziellen Rezipienten der Güter einigermaßen gleichartig sein – zwischen extrem unterschiedlich befähigten oder gestalteten Wesen sind Gerechtigkeitsfragen ebenfalls problematisch. Die humeschen Bedingungen der Gerechtigkeit verdeutlichen, inwiefern Gerechtigkeit als Norm ihren primären Anwendungsbereich bei der Lösung von Verteilungskonflikten zwischen verschiedenen Personen hat. Und dies macht ihren oft konstatierten notwendig interpersonellen Charakter aus. Was für eine Heuristik kann aus dieser Eigenschaft der proportionalen Reziprozität abgeleitet werden? Ein Vorschlag wäre: Selbstbestimmung: Eine Handlung ist gerecht, wenn ein Rechtssubjekt sich selbst damit selbstbestimmt schädigt, ohne dass dies sich auf andere Rechtssubjekte auswirkt.
Es steht nach dem Selbstbestimmungsprinzip also jedem frei, sich straflos selbst zu schädigen. (Eine selbstbestimmte Eigenbegünstigung ist durch dieses Prinzip natürlich nicht legitimiert.) Proportional-reziprok ist diese Freiheit zur Selbstschädigung geradlinig begründbar. Nach der proportionalen Reziprozität ist jede ein Rechtssubjekt schädigende (= begüterungssenkende) selbstbestimmt vollzogene Handlung eines Normadressaten verdienstsenkend. Dies gilt im Prinzip auch für Fälle, in denen ein Individuum ausschließlich sich selbst disproportionierend schädigt. Aus formalen Gründen entspricht allerdings bei gerechter Ausgangsbegüterung und gleichbleibender Gesamtbegüterung die sanktionierende Verdienstreduktion infolge einer Selbstschädigung bezüglich der resultierenden gerechten Begüterung exakt der durch die Selbstschädigung erzeugten Begüterung.10 Das bedeutet, dass jemand der sich selbst in ungerechter Weise, aber selbstbestimmt schädigt, die moralische Strafe für diese Ungerechtigkeit eo ipso bereits an sich selbst vollzogen hat. Die proportionale Reziprozität ist somit in der Lage, ein zutiefst liberales und sympathisches Prinzip zu erklären und als Heuristik einzusetzen. Der vordergründige Anwendungsbereich ist natürlich das Strafrecht (s. 17.7), das rechtshistorisch im nachantiken Europa lange zwischen theokratisch motivierter Verfemung speziell auch des Suizids und eher alltagsmoralisch motivierter Akzeptanz von Selbstschädigung und Selbsttötung schwankte.11 In der letzten Art ist schon das alte deutsche Rechtssprichwort „Wer selbst tut, der hab’ auch selbst!“12 zu ver 9 S. Hume 1739/40, 317 f., ders. 1751, 101–12; vgl. Rawls 1971, 148–152, Barry 1989, 152–63.
Aristoteles EN 1138a. Gratian Dec. Dist. 2.23.5.10 f.; vgl. Liebs 1998, 129. 12 S. Schmidt-Wiegand 2011, 287. 10 Vgl. 11 Vgl.
15.8 Die Heuristiken im Zusammenspiel
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stehen. Die reine Selbstbezüglichkeit und die Selbstbestimmtheit müssen dabei allerdings sicher festgestellt sein. Das heißt vor allem, entsprechende Irrtümer des Handelnden und schwere, selbstbestimmungsmindernde oder ‑aufhebende psychische Erkrankungen müssen ausgeschlossen sein. Andernfalls muss der sich selbst Schädigende gegebenfalls Schadensersatz erhalten, um die Verdienstproportionalität wiederherzustellen, da die Schädigungshandlung ihm nicht zuzurechnen ist. Nur nebenbei sei angemerkt, dass die Selbstbestimmungs-Heuristik auf proportional-reziproker Grundlage in dieser Weise einen Kernbereich voluntaristischer Ethiken auf der praktischen Ebene gut erklären kann. Nicht eine normativ vorrangige Willensentscheidung wie im Voluntarismus, sondern die proportionalreziproke Verdienstdynamik erklärt dann aber die Möglichkeit einer moralisch nicht weiter zu verfolgenden Selbstschädigung.
15.8 Die Heuristiken im Zusammenspiel Es lassen sich demnach sechs eingeschränkt anwendbare Heuristiken für die proportionale Reziprozität identifizieren, die in den verschiedensten menschlichen Kulturen weithin gebräuchlich sind. Ein moralischer Akteur muss klären, welche der Heuristiken einschlägig ist. Er kann dabei bezüglich der skizzierten Heuristiken in der folgenden Weise vorgehen. i) Zunächst einmal kann er prüfen, ob überhaupt Zugriff auf die Gesamt‑ und Individualwerte von Begüterung und Verdienst hat. Falls nicht, ist die Einwilligungs-Heuristik zu bevorzugen. ii) Sodann kann er untersuchen, wer alles von seiner Handlung betroffen ist. Wenn nur er selbst betroffen ist und er sich schädigen will, so steht ihm dies nach der Selbstbestimmungs-Heuristik frei – wie auch allen Anderen, deren Taten er evaluiert. iii) Wenn der Akteur nur die Begüterungsniveaus aller relevanten Rechtssubjekte erkennen kann – und ihm also insbesondere keine Verdienstinformationen zur Verfügung stehen –, so soll er grundsätzlich der Gleichver‑ teilungs-Heuristik folgen. iv) Erwägt der Akteur eine Transaktion bei der er Güter oder Dienstleistungen mit Anderen tauscht, kann er ausschließlich die Begüterungsänderungen der Beteiligten ermessen und liegt nach seiner Einschätzung ein hinreichend gerechter Weltzustand vor, dann sollte er die Transaktion nach der Tauschgleichheits-Heuristik durchführen. Die Transaktion muss entweder ausgeglichen sein oder kann bei ökonomischer Chancengleichheit auch gleichverteilend-effizient ablaufen. v) Wenn ein Rechtssubjekt ohne schuldhaftes Zutun eines Normadressaten geschädigt wird, der Akteur nur die Begüterungsminderung des Geschädigten erkennen kann und ein Schadensersatz zu akzeptablen Kosten möglich ist, soll der Akteur die SchadensersatzHeuristik anwenden. vi) Wenn aus einer gerechten und bezüglich Verdienstlichkeit egalitären Situation ein Rechtssubjekt durch ein anderes selbstbestimmtes
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15. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: die Heuristiken
Rechtssubjekt geschädigt wird, eine Entschädigung möglich ist und nur das tatinduzierte Begüterungsniveau des Opfers erkennbar ist, so soll der Akteur nach der Wiedervergeltungs-Heuristik verfahren. Falls geringere Verdienste des Täters offenkundig oder eine Entschädigung des Opfers nicht möglich ist, muss die durch die Wiedervergeltung vorgegebene Täterbestrafung verschärft werden. Wenn man diese Gedankengänge soweit mitgeht, dann ist damit übrigens auch eine bemerkenswerte erkenntnistheoretische Stütze für die proportionale Reziprozität errichtet worden: die proportionale Reziprozität erklärt moralisch kulturelle Universalien, was sie selbst im Sinne des Reflektiven Gleichgewichts prima facie epistemisch rechtfertigt. Die Heuristiken sind nicht nur unter bestimmten Bedingungen als Praxisnormen aus der proportionalen Reziprozität ableitbar, sondern die proportionale Reziprozität kann überdies den angemessenen Anwendungsbereich der Heuristiken eingrenzen, wie oben skizziert. Sowohl die Tauschgleichheit, der Schadensersatz als auch die Wiedervergeltung sind, wie ausgeführt, allerdings nur dann anwendbar, wenn eine gerechte Anfangsverteilung vorliegt. Damit hängen drei theoretische Beobachtungen zusammen. Erstens, je wahrscheinlicher eine gerechte Anfangsverteilung vorliegt, desto zuversichtlicher können die genannten Heuristiken bei Tausch, Schadensfall bzw. Strafe angewendet werden. Daraus ergibt sich indes sogleich die Frage, ob es außer der unmittelbaren Einschätzung des Handelnden eine ergänzende oder eventuell sogar überlegene Möglichkeit gibt, die Gerechtigkeit eines Weltzustands einzuschätzen. Die jetzt schon geläufige Antwort lautet: ja! Ein ausgesprochen gutes Signal für eine vorherrschende Gerechtigkeit ist die Zufriedenheit der Rechtssubjekte. Da Menschen ihre Zufriedenheit in sozialen Strukturen insbesondere auch aus ihrer relativen Wohlfahrt ableiten – also intuitiv die proportionale Reziprozität erfassen und berücksichtigen –, so ist ihre Zufriedenheit ein Zeichen für obwaltende Gerechtigkeit im Sinne der proportionalen Reziprozität. Da nun eine Mehrzahl von Individuen mehr wahrnimmt als ein Einzelner, so ist die Zufriedenheit vieler ein besonders wichtiges Signal. Das bedeutet, dass ein Akteur bei für ihn erkennbar insgesamt zufriedenen Rechtssubjekten eines sozialen Verbands bei Tausch, Schadensfall und Strafe begründet auf Tauschgleichheit, Schadensersatz und Wiedervergeltung zurückgreifen kann. Einschränkend müssen natürlich die jeweilige individuelle Gerechtigkeitswahrnehmung unbewusst verzerrende psychosoziale Kräfte be dacht werden, wie religiös oder ökonomisch basierte Hierarchien oder ähnliches. Zweitens wird, wie gesagt, bei weitreichender Unkenntnis des Handelnden über die Verdienste der relevanten Rechtssubjekte sinnvollerweise die Heuristik des Gleichverteilungsprinzips angewendet. Das hat jedoch zur Folge, dass wiederum das Wiedervergeltungsprinzip bei Verstoß gegen das Gleichverteilungsprinzip gut begründet erscheint: wenn allen das Gleiche zusteht, dann ist leichter zu ersehen, wer diese Norm selbstbestimmt schädigend ignoriert. Und die nachfolgende Sanktion ist angesichts der unterstellten Güter‑ und
15.9 Zum theoretischen Verhältnis von Grundnorm zu Heuristik
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Verdienstgleichverteilung vor der Schädigung mit gutem Grund am Talionsprinzip auszurichten. Drittens stößt man hier mithin auf einen Mechanismus, der das Regressproblem in praktischer Hinsicht entschärfen kann (vgl. 14.5). Infolge des Regressproblems ist nämlich die Verdienstverteilung für einen Normadressaten nicht erkennbar. Für eben diesen Fall ist jedoch das Gleichverteilungsprinzip heuristisch legitimiert. Und damit kann der Normadressat – und jeder andere – das weitere Verhalten der Rechtssubjekte proportional-reziprok durchaus beurteilen. Die zum Stopp des infiniten Regress’ notwendige gerechte Ursprungsverteilung liegt demzufolge zwar nicht faktisch vor, aber sie anzunehmen, ist heuristisch berechtigt. Und damit ist der Regress in praktischer Hinsicht nicht mehr infinit, sondern gestoppt. Die nach dieser Annahme folgenden Transaktionen müssen beim Tausch der Tauschgleichheit und bei der Strafe der Wiedervergeltung folgen. Ab wann das dann wieder zu kompliziert wird, hängt ersichtlich von der tatsächlich vorliegenden Situation ab.
15.9 Zum theoretischen Verhältnis von Grundnorm zu Heuristik Wenn man die sechs Heuristiken überzeugend findet, so kommt möglicherweise die Frage auf, wozu dann eigentlich die komplizierte proportionale Reziprozität noch gut sein soll – das moralische Handeln wird sich ja ohnehin ganz überwiegend an den Heuristiken ausrichten. Oder man könnte umgedreht die Frage aufwerfen, welchen Status denn die Heuristiken haben können, wenn ihr Anwendungsbereich so eingeschränkt und die Erkennung seines Vorliegens schwierig ist – muss man dann nicht sowieso immer wieder direkt auf die proportionale Reziprozität zurückgreifen? Beide Fragen sind natürlich berechtigt und erfordern eine kurze Antwort. Die proportionale Reziprozität ist eine abstrakte moralische Norm, die eine Erklärung eines größeren Bereichs von weniger allgemeinen moralischen Bewertungen bietet. Und eben darin liegt auch ihre Begründung. Sie vereinheitlicht die verschiedenen intuitiven Heuristiken im Bereich der Gerechtigkeit. Diese sind – so jedenfalls die Annahme – aus ihr ableitbar. Zugleich klärt und begrenzt die proportionale Reziprozität jedoch die Anwendungsvoraussetzungen der Heuristiken, was notwendig ist, weil die Heuristiken auch aus intuitiv-alltagsmoralischer Sicht nur unter bestimmten Bedingungen einsetzbar sind. Überdies strukturiert und verknüpft die proportionale Reziprozität die Güterlehre mit der Gerechtigkeit. Sie schafft so eine größere Kohärenz im Bereich der Moral. Die Heuristiken hingegen bieten einem Handelnden in häufig vorkommenden oder unübersichtlichen Situationen eine – im Sinne von Faustregeln – hand‑ lungsleitende normative Orientierung, welche die proportionale Reziprozität so probat nicht zu geben vermöchte. Wenn auch die Grenzen des Einsatzes der
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15. Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität: die Heuristiken
Heuristiken sicherlich unscharf sind, so gibt es zentrale Anwendungsbereiche – zum Beispiel Tausch und Strafe in als gerecht empfundenen Gemeinschaften oder Gesellschaften – wo sie offenbar höchst nützlich sein können. Unter theoretischen Gesichtspunkten sind die Heuristiken als moralische Normen gesehen jedoch viel zu begrenzt gültig, vage und schlicht, um so etwas wie eine moraltheoretische Erklärung der Gerechtigkeit leisten zu können. Fazit: Die proportionale Reziprozität ist eine moraltheoretische Erklärung der Heuristiken und diese sind äußerst hilfreiche, aber lediglich kontextspezifische Praxisnormen. In dieser Weise sind beide Normtypen auf ihre jeweilige Art legitimiert.
16. Proportionale Reziprozität contra Y-Gap-Prinzip Wir haben bisher die Gerechtigkeitsnorm der proportionalen Reziprozität formuliert, ideengeschichtlich verfolgt, warum sie trotz eines ersten, vielbeachteten Ringens um sie bei Aristoteles aus der nachantiken Moralphilosophie verschwunden ist, und gezeigt, inwiefern sie verspricht, eine brauchbare normative Erklärung der Alltagsmoral zu bieten. Jetzt ist es an der Zeit, verfügbare verwandte Alternativen mit der hier konzipierten proportionalen Reziprozität zu vergleichen. Zunächst schauen wir dazu, welche Alternativen aktuell vertreten werden. Dabei verzichten wir aber auf einen erneuten Einbezug von Moralnormen, die einer Verdienstproportionalität lediglich instrumentellen Wert zusprechen, wie beispielsweise den Utilitarismus. Wir wenden uns vielmehr direkt „meritistischen“ Normen zu, die nach langer moralphilosophischer Abstinenz in den letzten Jahrzehnten vereinzelt durchaus wieder untersucht oder propagiert werden. Und diese meritistischen Normen gehen wir einzeln ein wenig genauer durch.
16.1 Eine Renaissance des Verdiensts? Die Moralphilosophie des zwanzigsten Jahrhunderts war an normativer Ethik anfangs wenig interessiert. In der angelsächsischen Philosophiekultur dominierte eine analytische Ethik, die sich mehr um Fragen der Begrifflichkeit und metaethische Probleme kümmerte, während in der kontinentalen Philosophie ideengeschichtliche Studien das Bild bestimmten. Im Rahmen verschiedener theoretischer und sozialer Entwicklungen nach dem zweiten Weltkrieg erfuhren jedoch normativ-ethische Probleme in der politischen Philosophie und Moralphilosophie ein beeindruckendes Wiederaufleben. Diese Entwicklung wurde wohl insbesondere von John Rawls und anderen nordamerikanischen Philosophen angestoßen. Die entsprechenden materialethischen Ansätze griffen im Wesentlichen zunächst auf die verfügbaren normativen Konzepte zurück, also in erster Linie auf Utilitarismus und Kontraktualismus. Aber auch in der nie ganz verklungenen rationalistisch-intuitionistischen Tradition stehende normenpluralistische Konzeptionen wurden wieder in Betracht gezogen.1 1 S.
z. B. Gert 1983; vgl. schon Ross 1930; speziell zur Gerechtigkeit, 26 f., 134–41.
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16. Proportionale Reziprozität contra Y-Gap-Prinzip
In den letzten zwanzig Jahren haben dann einzelne Autoren Verdienst als Grundbegriff der Gerechtigkeit wiederentdeckt.2 Oft erwächst diese Entdeckung aus Mängelanalysen des Utilitarismus oder Kontraktualismus, der beiden dominanten ethischen Paradigmen, manchmal überdies aus einer damit einhergehenden Rückbesinnung auf vormoderne Traditionen, wie etwa in Alasdair MacIntyres berühmtem Rehabilitierungsversuch aristotelischer Ethik.3 Wir haben einige der relevanten Mängel oben skizziert und brauchen das jetzt nicht zu wiederholen. Die aktuell entwickelten Ansätze einer verdienstbasierten Gerechtigkeit sind insgesamt recht heterogen. Viele Autoren integrieren Verdienst – meist ohne allzu weitgreifende normative Analysen – in normen‑ oder wertpluralistische Theorien, manchmal sogar in Kombination mit utilitaristischen Prinzipien. Um unseren Ansatz hier einordnen zu können, werden wir einfach die vielleicht wichtigsten Konzeptionen kurz besprechen. Nicht eigens thematisieren werden wir die ausgesprochen gehaltvollen pluralistischen Ansätze von Michael Walzer und David Miller.4 Diese steuern unstrittig zwar manches Erhellende zum Verdienstbegriff bei. Aber aufgrund ihres umfassenden und viel reichhaltigeren Ansatzes sind speziell die verdienstbezogenen Aspekte eher wenig entwickelt.
16.2 Eine halbherzige Modifikation: Verantwortungs-Egalitarismus Wir beginnen unsere Diskussion mit Versuchen, den egalitären Liberalismus in einer Weise fortzuentwickeln, die wichtige Teilaspekte des Verdienstbegriffs integriert und dennoch explizit ohne das Verdienstkonzept auskommt. Die Majorität der modernen liberalen Gerechtigkeitstheorien setzt, wie oben dargelegt (Kap. 4), einen starken Akzent auf die Förderung der Schlechtestgestellten als Ausdruck eines Egalitarismus. Diese Denkweise tendiert dazu, das verantwortliche Handeln von Menschen zumindest dort nicht ernstzunehmen, wo sie sich selbst schlechter stellen. Und das wiederum steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zum liberalen Selbstverständnis als einer Anschauung, die in erster Linie auf dem Respekt vor dem autonomen Individuum beruht. Infolgedessen haben sich spätestens seit den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts im Detail verschiedenartige Gerechtigkeitstheorien entwickelt, die außer einer Orientierung an – wie auch immer genau verstandener – Gleichheit die Förderung der Schlechtestgestellten auf die Fälle nicht selbstverschuldeter Schäden begrenzen wollen.5 In der Regel geht es diesen Ansätzen um so etwas 2 Früh
schon Kleinig 1971. 1995, 325–339. 4 S. Walzer 1983, 53–56 u. ö., Miller 1999, 131–202. 5 S. z. B. Frankena 1966, 3–20, Dworkin 1981, Arneson 1989, ders. 2011, Cohen 1989, Ackerman & Alstott 2001; ähnlich Sen 2009, 225–317; vgl. Knight & Zemplowska 2011, Schlothfeldt 2012, 87 ff., Allingham 2014, 38–57. Ein bemerkenswerter Vorläufer war Thomas Paine 1797. 3 S. MacIntyre
16.2 Eine halbherzige Modifikation: Verantwortungs-Egalitarismus
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wie Chancengleichheit und Ausgleich von Handicaps. Mit Modifikationen in dieser Richtung nähert sich der Liberalismus der Verdienstidee offensichtlich etwas an, da selbstbestimmtes Handeln Auswirkungen auf den gerechten Wohl‑ fahrtanspruch hat.6 Diese von uns als Verantwortungs-Egalitarismus (englisch auch „responsibility-sensitive-egalitarism“ oder „luck-egalitarism“) bezeichneten Lehren vertreten näherhin meist vier grundlegende Thesen: (1) Kein Rechtssubjekt soll durch bloßes Unglück schlechter gestellt werden. (2) Ungleiche Güterverteilungen infolge bloßen Unglücks sind ungerecht. (3) Verantwortlich getroffen Entscheidungen von Rechtssubjekten sind zu res‑ pektieren. (4) Ungleiche Güterverteilungen infolge verantwortlich getroffener Entschei dungen von Rechtssubjekten sind gerecht. Der Verantwortungs-Egalitarismus hat einige Vorzüge gegenüber dem einfachen Egalitarismus. Beispielsweise nimmt er im Sinne eines Liberalismus die vernünftige Person in ihrem Handeln viel ernster und billigt ihr größere Freiheit zu. Auch kann die Theorie gerechtfertigte Ungleichheiten besser erklären: wer sich selbstbestimmt schlechter stellt, verliert eben den Anspruch auf Ausgleichsmaßnahmen. Der Verantwortungs-Egalitarismus steht jedoch vor mindestens zwei Problemen, die ihn zumindest als ungenügend entwickelt erscheinen lassen.7 Das Problem der maßlosen Nachteile: Wenn einem Rechtssubjekt unabhängig von seinen selbstbestimmten Entscheidungen ein Unglück widerfährt, so soll der entstandene Schaden nach dem Verantwortungs-Egalitarismus ersetzt werden. Ein bloßes Unglück ist dadurch gekennzeichnet, dass der Betroffene weniger als das gleichzuverteilende Begüterungsniveau erlangt und dass diese Begüterungsminderung nicht von ihm verschuldet ist. Unklar bleibt allerdings, welche Eigenschaften oder Faktoren verteilungsrelevant bzw. gleichheitsbemessend sind. Welche Mindestausstattung mit materiellen Gütern, Begabungen oder Wohlergehen ist der Standard, dessen Unterschreitung entschädigt werden soll?8 Zwei Varianten stehen dem Verantwortungs-Egalitarismus hier offen: die absolute und die relative Gleichheit. Bei der absoluten Variante wird ein bestimmtes Wohlergehensniveau festgeschrieben, das jedes Rechtssubjekt erreichen soll. Gleichheit ist dann die allseitige Erreichung dieses Niveaus. (Das interessante Problem der Überschreitung ignorieren wir.) Unerklärlich bleibt aber das konkrete Maß: sollen etwa Geisteskräfte auf dem Niveau eines Albert Einstein, Körperkräfte eines Arnold Schwarzeneggers oder finanzielle Möglichkeiten eines Jeff Bezos’ der anzustrebende Standard sein, oder geht es doch um weniger. Ist 6 Vgl.
Vallentyne 2003. Kritik aus liberaler Perspektive: Anderson 1997. 8 Vgl. dagegen die einfache, heuristische Art, Schadensersatz proportional-reziprok zu bestimmen in 15.5 und die Möglichkeit, nicht-kompensationspflichtige Selbstschädigungen zu erklären in 15.7. 7 Umfassendere
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16. Proportionale Reziprozität contra Y-Gap-Prinzip
eine Gesellschaft mit wenigen Einsteins radikal ungleich, weil nur eine Minderheit über die erforderliche Geisteskraft verfügt oder ist sie nicht eher nahezu gleich, weil fast alle Bürger intellektuelles Mittelmaß erreichen und nur wenige Einzelne gewaltig darüber liegen? Unabhängig von der Art des betrachteten Guts ist nicht zu sehen, wie man hier zu einer begründeten Bestimmung kommen könnte. Und das heißt, dass nicht einsichtig ist, welche Güterausstattung als zu kompensierender Nachteil gelten darf.9 Der absolut gedeutete VerantwortungsEgalitarismus muss sich demzufolge einen unabhängig begründeten moralischen Standard zur angestrebten Verteilung zu eigen machen, um die Gleichheit zu erklären. Andernfalls ist die bloße Berufung auf unverschuldete Nachteile nicht informativ, da unklar bleibt, welches Niveau der Gleichheit anzustreben ist. Der Verantwortungs-Egalitarismus kann sich in diesem Punkt verteidigen, in dem er sich auf die relative Gleichheitsvariante zurückzieht. Nach dieser ist das Niveau der Gleichheit nicht wichtig, sondern nur die gleiche Verteilung der relevanten Güter auf alle Rechtssubjekte. Damit gäbe es bei gleichverteiltem Elend keine Rechtfertigung für Entschädigungen. Allerdings wäre der modernliberale Wunsch nach gerechter Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse in dieser Weise auch nicht erfüllt. Ebenfalls problematisch sind Fälle verschieden ungleicher Verteilungen der relevanten Güter. Da es kein völlig überzeugendes Ungleichheitskriterium gibt, entsteht hier eine beträchtliche Vagheit. Diese weitreichende Komplikation können wir hier jedoch nicht weiter verfolgen. Der interessierte Leser sei an Larry Temkins umfassende Studie zum Thema verwiesen, in der etliche Gleichheitsprinzipien und die daraus resultierenden Ungleichheitsmaße in ihren Stärken und Schwächen analysiert werden.10 Wiederum ist der Verantwortungs-Egalitarismus an diesem Punkt somit nicht streng widerlegt, aber es wird deutlich, dass er ohne ein noch zu definierendes Ungleichheitsmaß unvollständig ist. Zusammengefasst: der Verantwortungs-Egalitarismus ist für sein Konzept eines auszugleichenden Nachteils auf eine Gleichheitskonzeption angewiesen, die entweder ein absolutes Wohlergehensniveau begründen kann oder ein klares Maß für relative Ungleichheit bereitstellt. Ohne eine solche – bislang in diesem Zusammenhang nicht vorgelegte – Gleichheitskonzeption ist der Verantwortungs-Egalitarismus nicht bewertbar. Das Problem des fremdverschuldeten Unglücks: Ein Rechtssubjekt kann auf drei Wegen ins Unglück stürzen: a) selbstverschuldet, b) fremdverschuldet, c) völlig unverschuldet, also durch natürliche Faktoren, nicht durch menschliches Handeln. Beim selbstverschuldeten Unglück ist die Angelegenheit für den Verantwortungs-Egalitarismus klar: Schadensersatz ist hier nicht angebracht. Bei völlig unverschuldeten Schäden ist die Sache schon weniger klar. Hier ist eine 9 Vgl.
v. Hayek 1981, 119 f., und Nozick 1974, 235–38. 1993; vgl. Sen 1973, 45–69.
10 S. Temkin
16.2 Eine halbherzige Modifikation: Verantwortungs-Egalitarismus
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Entschädigung möglicherweise gerechtfertigt. Ob das der Fall ist und wenn ja, wie hoch sie ausfallen muss, kann aber erst nach Lösung des Problems der maßlosen Nachteile geklärt werden. Vollends problematisch ist aber der Punkt des fremdverschuldeten Unglücks: wenn also ein Rechtssubjekt selbstbestimmt eine Handlung vornimmt, die ein anderes Rechtssubjekt ohne dessen Zutun schlechterstellt, so geraten nämlich die verantwortungs-liberalen Thesen (2) und (4) in Widerspruch. Für den Geschädigten ist die resultierende Güterverteilung gemäß These (2) ungerecht, da Folge eines bloßen Unglücks. Für den Schädiger ist die resultierende Güterverteilung gerecht, da sie gemäß These (4) Folge der verantwortlichen Entscheidung eines Rechtssubjekts ist. Der Verantwortungs-Egalitarist kann an diesem Punkt zwei Strategien befolgen: er kann entweder den Respekt gegenüber selbstbestimmten Handlungen einschränken und diesen zum Beispiel auf rein selbstbetreffende Handlungen eingrenzen. Oder er kann das Konzept des unverschuldeten Unglücks modifizieren und dieses auf von niemandem verschuldete Schäden einschränken. Die zweite Strategie ist offenkundig willkürlich: welchen Unterschied sollte es aus Sicht eines Geschädigten machen, ob eine andere Person oder ein natürlicher Faktor sein Unglück verursachte? Wenn eine andere Person verantwortlich ist, so kommen sicherlich Empörung und andere affektive Beeinträchtigungen zum direkten Schaden hinzu – aber der direkte Schaden ist ja das eigentlich Schlimme und moralisch Ersatzpflichtige für den Betroffenen. (Insbesondere eine interpersonell ausgerichtete Gerechtigkeitstheorie sollte dementgegen sogar einen Schwerpunkt auf durch menschliches Handeln bewirkten Schädigungen legen.) Darüber hinaus ist die Unterscheidung zwischen menschlich und natürlich bewirkten Vorgängen selbst philosophisch problematisch. Im Einzelfall kann eine Differenzierung menschlich verantworteter und natürlicher Kausalfaktoren höchst undurchsichtig sein. Ein Beispiel wären menschliche Begabungen: in welchem Ausmaß sind sie das Resultat verantwortlichen Handelns von bestimmten Menschen, wie etwa von Eltern, Lehrern, Politikern, oder eine Folge natürlicher Vorgänge, wie beispielsweise genetischer Prozesse, Erkrankungswellen, Nahrungsquellen? Ein anderes Beispiel wäre der Tod durch Blitzschlag in der Straße bei einem plötzlichen Gewitter11: hat der Erschlagene hier das Ereignis durch sein Verhalten bewirkt oder ist es ein natürliches Ereignis, an dem ihn keine Schuld trifft? Entbindet die geringe, aber bezifferbare Wahrscheinlichkeit, vom Blitz getroffen zu werden, den Getroffenen von der Verantwortung für seinen Spaziergang? Die erste Strategie wirkt hingegen zunächst vielversprechender. Eine Begrenzung auf selbstbetreffende Handungen ist allerdings näher besehen nicht weiterführend. Aufgrund des ja bereits mehrfach betonten interpersonellen 11 S. Feldman
2016, 132.
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16. Proportionale Reziprozität contra Y-Gap-Prinzip
Charakters der Gerechtigkeit würde hier eine zentrale Eigenschaft des Gerechtigkeitskonzepts verfehlt werden: jede Gerechtigkeitsnorm muss interpersonelles Handeln beurteilen können. Welche sonstigen Möglichkeiten bestehen? Naheliegend wären etwa Berufungen auf Verallgemeinerungsfähigkeit oder Gegenseitigkeit – oder vielleicht ja sogar auf moralische Verdienste. Ähnlich wie beim Problem des maßlosen Nachteils, ist der Verantwortungs-Egalitarismus hier also auf einen anspruchsvollen externen normativen Standard angewiesen, also für sich genommen grob unvollständig. Nimmt man beide Probleme zusammen, so sieht man rasch, dass der Verantwortungs-Egalitarismus (jedenfalls in unserer Rekonstruktion) sowohl im Hinblick auf die jedem zustehende Begüterung als auch das für jeden berechtigte Handeln unvollständig ist. Ja, er ist in so hohem Maße unvollständig, dass eine gehaltvolle Beurteilung noch nicht möglich ist. Meine persönliche Vermutung ist, dass man bei seiner konsequenten intuitiv fundierten Weiterentwicklung letztlich auf so etwas wie die proportionale Reziprozität stoßen würde. Proportional-reziprok gerechte soziale Institutionen sind nämlich möglicherweise besonders gut geeignet, so etwas wie Chancengleichheit herzustellen. Ein schönes Beispiel außer der Strafe wäre etwa das Erbrecht, welches proportional-reziprok die Anhäufung unverdienter Vermögen für Erben grundsätzlich verbieten oder jedenfalls einschränken würde.12 Der Verantwortungs-Egalitarismus wäre somit auf halbem Wege zu einer verdienstbasierten Theorie stecken geblieben.13 Ob indes nicht doch auch andere plausible Wege zur Füllung seiner theoretischen Lücken existieren, bleibt natürlich abzuwarten. Bis dato kann dieser liberal-egalitäre Versuch, eine Integration des Verantwortlichkeitsgedankens ohne ausdrückliche Beachtung des Verdienstbegriffs hinzubekommen, jedoch nicht als erfolgreich vollendet angesehen werden.
15.3 Verdienstproportionale Werttheorien: Rescher, Sher und Kershnar Zwei Philosophen, die schon früh Verdienst als moralischen Begriff ernstnahmen, waren Nicholas Rescher und George Sher.14 Der ideengeschichtlich hochversierte Rescher stellt den Verdienstbegriff ins Zentrum einer grundlegenden Untersuchung zur Gerechtigkeit. Er legt sich allerdings auf kein geschlossenes Verdienstkonzept fest, sondern konstatiert schlicht mannigfache verdienstgenerierende Faktoren („desert-bases“). Auch bleibt Reschers Diskussion 12 Vgl. schon Emile Durkheims soziologisch fundierte Rechtskritik auf proportionalmeritistischer Grundlage, Durkheim 1950, 237–304, bes. 294, die diesen Punkt stark machte. 13 Vgl. Knight 2011, Temkin 2011. 14 S. Rescher 1966 und Sher 1987.
15.4 Reformutilitaristen: Feldman und Trapp
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über den Wert der Verteilung von Gütern proportional zum Verdienst völlig unverbunden mit dem Konzept der moralischen Pflicht und im Zusammenhang damit wird Reziprozität in seinen Ansatz überhaupt nicht berücksichtigt. Ganz in der analytischen Tradition stehend fokussiert sich Sher auf begriffsanalytische Untersuchungen. Diese beschäftigen sich beispielsweise mit denkbaren verdienstgenerierenden Faktoren, dem rückblickenden Charakter der Verdienstbeachtung und dem begrifflichen Zusammenhang zwischen Individualrechten und moralischem Verdienst. Alle diese reizvollen semantischen Erörterungen inspirierten etliche gleichgelagerte Darlegungen. Mangels eines damit verkoppelten normativen Konstrukts können sie indessen letzten Endes wenig moralische Handlungsrelevanz beanspruchen und haben eher propä deutischen Charakter. Ein dritter, neuerer Autor schließt sich gut an die beiden eben genannten Ansätze an, der Philosoph Stephen Kershnar.15 Er versteht Verdienstgerechtigkeit ganz explizit als eine moralische Werttheorie, die vom deontischen Teil der Ethik grundsätzlich unabhängig ist. Vor diesem Hintergrund analysiert er verschiedene der oben genannten Fragen und mehr. Aber auch bei ihm mangelt es eben, ganz bewusst, am moralischen Handlungsbezug, so dass ein Vergleich mit der proportionalen Reziprozität wenig gewinnversprechend ist.
15.4 Reformutilitaristen: Feldman und Trapp Fred Feldman knüpft in vielem an oben genannte Autoren an.16 Er steht jedoch in utilitaristischer Tradition und strebt infolgedessen mit seiner Theorie einen klaren moralischen Handlungsbezug an. Für Feldman ist – ganz utilitaristisch gedacht – die Summenaggregation der individuellen Wohlfahrt das Ziel moralischen Handelns. Allerdings zählt für ihn nicht die ungefilterte Wohlfahrt, sondern die verdiente Wohlfahrt. Der Wert von Wohlfahrtseinheiten im Aggregationsverfahren variiert demnach in Abhängigkeit vom Verdienst des Re zipienten. Dieser Ansatz ist interessant, kann jedoch nicht alle intuitiven Probleme des Utilitarismus vermeiden.17 Insbesondere aufgrund der Summenaggregation lassen sich intuitiv ungerechte Verteilungmuster legitimieren, wenn etwa der Zugewinn der Unverdienten soviel höher ist, dass er trotz verdienstbedingter Diskontierung die Verluste der Verdienten übersteigt. Besonders problematisch bleibt die völlig ungeklärte Verdienstbemessung: Feldmans Theorie gibt keinerlei Aufklärung darüber, wie Verdienst entsteht, bemessen wird, sich ändert 15 S. Kershnar
2010. 1997, 154–92. 17 S. z. B. Arrhenius 2003. 16 S. Feldman
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16. Proportionale Reziprozität contra Y-Gap-Prinzip
oder – eine besonders eklatante Lücke – in welchem Verhältnis es zur moralischen Pflichterfüllung steht. Auch das einem gegebenen Verdienstgrad angemessene Wohlfahrtsniveau bleibt letztlich komplett unerklärt. Das gilt im übrigen auch für Feldmans ganz analoge politische Gerechtigkeitstheorie, den Meritismus, die er in einem aktuellen Buch nachgelegt hat.18 Ein ähnliches Problem stellt sich auch bezüglich der Theorie von Rainer Trapp.19 Dieser vereinigt in seiner konsequenzialistischen Theorie drei Parameter: Nutzenmaximierung, Verdienstgewichtung des Nutzens und Gleichverteilung des verdienten Nutzens. Die formal sehr detailliert entwickelte Theorie bietet spannende Perspektiven. (Gleichverteilung und Verdienstberücksichtigung arbeiten in dieser Theorie allerdings neutralisierend gegeneinander, was nicht recht überzeugen kann.) Es ergibt sich bezüglich des Verdienstfaktors jedoch das gleiche Problem wie bei Feldman: er bleibt – eingestandenermaßen – völlig unanalysiert und wird nicht in Verbindung zum moralisch gebotenen Handeln gebracht. Der Normadressat wird hier einfach unverbunden mit dem Rest der Theorie auf seine intuitive Einschätzung zurückverwiesen.20 Dieser Verweis ist übrigens, anders als bei der proportionalen Reziprozität, nicht rein heuristisch gemeint, sondern die trappsche Theorie stellt keinerlei prinzipielle Erklärung der Verdienstlichkeit bereit. Und damit ist einer bedenklichen Beliebigkeit bei der moralischen Urteilsfindung Tür und Tor geöffnet. Es erübrigt sich an dieser Stelle, über die vielen fruchtbaren oder problematischen Details des feldmanschen oder trappschen Ansatzes nachzusinnen. Ohne Zweifel stellen beide gegenüber dem gleichsam verdienstblinden klassischen Utilitarismus einen markanten Fortschritt dar. Was aber beiden nicht gelingt, ist eine kohärente Vorstellung der Veränderungsgesetzlichkeiten von moralischem Verdienst, dessen Bezug zur Moralität des Handelns und damit eben auch der Vergleichsbasis verschiedener Verdienstniveaus zu entwickeln. Sie sichern im Grunde nur eine rein formale Mehrbeachtungsmöglichkeit von im höheren Maße als – unerklärt – verdient angesehenen Rechtssubjekten bei der kollektiven Nutzenmaximierung. Ohne weiterreichende Erklärung kann dies aber bestenfalls als Versatzstück einer adäquaten Gerechtigkeitstheorie betrachtet werden.
15.5 Die Geometrie des Verdiensts: Kagans Y-Gap-Prinzip Der originellste, konsequenteste und detailreichste Entwurf einer auf Verdienst beruhenden Gerechtigkeitskonzeption stammt ohne jeden Zweifel von Shelly Kagan, von ihm nach diversen kleineren Vorarbeiten zusammengefasst in 18 S. Feldman
2016. 1988, modifiziert 1990; vgl. Gesang 1998. 20 S. Trapp 1988, 511–20. 19 S. Trapp
15.5 Die Geometrie des Verdiensts: Kagans Y-Gap-Prinzip
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seinem beeindruckenden Werk „The Geometry of Desert“.21 Wir können Kagans umfänglicher Konzeption einschließlich des Y-Gap-Prinzips hier nicht wirklich gerecht werden, aber einzelne im vorliegenden Kontext relevante Aspekte sollten kurz besprochen werden. Kagan vertritt grundsätzlich ein absolutes Verdienstkonzept („non-compa rative desert“), dem zufolge das Verdienst eines Rechtssubjekts unabhängig von den Verdiensten und der Wohlfahrt anderer Rechtssubjekte festlegt, wieviel Wohlfahrt dem Betreffenden moralisch zukommt. Demgegenüber folgt aus einem relativen Verdienstkonzept („comparative desert“) – wie im vorliegenden Buch in aristotelischer Tradition vertreten –, dass ein Verdienstniveau prinzipiell nur im Vergleich mit den anderen relevanten Rechtssubjekten bestimmbar ist (vgl. 7.3). Bereits in diesem Punkt stößt Kagan meines Erachtens auf eine erste von ihm nicht einmal ansatzweise gelöste fundamentale Schwierigkeit: wie sollte man ohne jeden Bezug auf die Gesamtmenge der zu verteilenden Güter, die Begüterung und Verdienstlichkeit der anderen Rechtssubjekte eine individuelle Verknüpfung zwischen einem bestimmten Grad von Verdienstlichkeit und einer bestimmten Be‑ güterung (einem bestimmten Wohlfahrtsniveau) herstellen? Eine Antwort auf diese zentrale Frage bleibt Kagan dem Leser in seinem ganzen Werk schuldig. Und eine begründete Antwort liegt, vorsichtig gesagt, nicht gerade auf der Hand. Die Grundlage einer Antwort auf unsere offene Frage würde man naheliegender Weise bei der Konzeption des Erwerbs, Erhalts und Verlusts von moralischem Ver‑ dienst erwarten. Zum elaborierten Konzept einer am Verdienst orientierten Ethik gehört eine solche unabweisbar und wesentlich dazu.22 Aber auch zu diesem entscheidenden Aspekt – und das ist ein zweiter kritischer Gesichtspunkt – bietet Kagan dem Leser schlichtweg nichts. Aus meiner Sicht schwebt Kagans Theorie damit gewissermaßen in einem luftleeren Raum: man kann die Wohlfahrtskonsequenzen seiner formal elaborierten Theorie im Grunde nicht vernünftig bewerten, weil ausschlaggebende relevante Informationen fehlen. Überdies versäumt es Kagans Theorie an dieser Stelle, die für Gerechtigkeit hochgradig relevante Reziprozität in irgendeiner Weise mit einzubeziehen, was ebenfalls im Sinne einer Kohärenzsteigerung wünschenswert wäre. Eine weitere befremdliche Eigenschaft haftet Kagans Ansatz infolge seines absoluten Verdienstkonzepts an und ist ein dritter theoretischer Mangel. Obgleich man Kagans Theorie als Grundlage einer Gerechtigkeitsnorm verstehen muss, vermag sie es nicht, den seit der Antike immer wieder beschworenen notwendig interpersonellen Charakter von Gerechtigkeit zu erklären (vgl. 7.3). Nach Kagans Ansatz wird also der Umgang mit sich selbst zu einer Gerechtigkeitsfrage.
21 S. Kagan
2012. 2001.
22 S. Pojman
190
16. Proportionale Reziprozität contra Y-Gap-Prinzip
Selbst wenn man dementsprechend ganz traditionsgemäß moralische Pflich ten rein sich selbst gegenüber annimmt, so sind dies laut herkömmlichem Verständnis aber gerade keine Gerechtigkeitspflichten, sondern eher besondere Wohltätigkeitspflichten. Nach einer absoluten Verdienstethik im Stile Kagans hingegen kann auch ein vollständig isolierter Mensch (Adam, der letzte Mensch, Robinson Crusoe, …) Ungerechtigkeit erleiden – durch sich selbst oder vielleicht gar die Umwelt verursacht –, falls er nämlich zuwenig oder zuviel Wohlbefinden erfährt. Das konfligiert jedoch nicht nur mit einer seit alters angenommen Grundeigenschaft von Gerechtigkeit, sondern erscheint auch alltagsmoralischintuitiv höchst fragwürdig. Wie sollte das gerechte Wohlfahrtsniveau eines vollständigen Eremiten begründet werden? Weshalb nimmt Kagan nun diese recht offensichtlichen Defizite in Kauf, statt auf ein aristotelisch-traditionelles relatives Verdienstkonzept zu wechseln? Er verdeutlicht das bei seiner Kritik des „Ratio-Views“, also der relativen Konzeption. Vorab räumt Kagan allerdings ein, dass auch seine Theorie sekundär auf relative Bewertungen angewiesen ist, nämlich für die Situationen, bei denen eine vollkommen verdienstgerechte Wohlfahrtsausstattung nicht zu erzielen ist.23 Am Ende entwickelt er in dieser Hinsicht die Idee – das ist das wegen seiner graphischen Darstellungsform so genannte „Y-Gap-Prinzip“ –, dass der relativ beste nichtideale Zustand erreicht wird, wenn der Verstoß gegen die ideale Wohlfahrtsverteilung bei allen Individuen möglichst gleich ist – womit er ja erkennbar ein wenig in eine proportionalistische Richtung geht. Allerdings ist nach dem YGap-Prinzip im Gegensatz zur proportionalen Reziprozität eine zur idealen Verteilung proportionale Verteilung auf niedrigerem oder sogar eine auf höherem Wohlfahrtsniveau immer noch ungerecht. Und das erscheint dann doch recht unplausibel. Was gibt es nun nach Kagan am relativen Verdienst eigentlich auszusetzen? Im Grunde hebt seine in vielen Beispielen formulierte Kritik darauf ab, dass die relative Sicht eine Verhältnisskalierung der Wohlfahrt voraussetzt, also vor allem keine negativen Werte für Wohlfahrt und Verdienst enthält und einen absoluten Nullpunkt erforderlich macht.24 Für seine eigene, absolute Konzeption benötigt Kagan indes nur eine Intervallskalierung. Eine weitergehende Begründung seiner Skalierungspräferenz bleibt Kagan allerdings schuldig. Beide Skalierungsformen sind messtheoretisch anspruchsvoll, die Verhältnisskala selbstverständlich in etwas höherem Maße. Bei beiden ist besonders der Nullpunkt ein Problem: bei der relativen Konzeption muss ein schlechtestmöglicher Zustand (Begüterung = 0) oder eine größtmögliche Verwerflichkeit (Verdienst = 0) angenommen werden und eventuell ein positiver Schwellenwert der Begüterung als Trennlinie zwischen wünschenswerten und unerwünschten Begüterungen definiert 23 S. Kagan 24 S. Kagan
2012, 352; vgl. McLeod 2003. 2012, 353–58.
15.5 Die Geometrie des Verdiensts: Kagans Y-Gap-Prinzip
191
werden; gegebenfalls kann sogar ein Höchstwert der Begüterung festgelegt werden. Bei der absoluten Konzeption hingegen ist ein neutraler, weder guter noch schlechter Zustand (Wohlfahrt = 0) erforderlich, während es allerdings keinerlei natürliche Grenzen von Wohlergehen, Übelergehen, positiven oder negativen Verdienst gibt. Beide Ansätze machen hier also anspruchsvolle Annahmen, die meines Erachtens, wenn überhaupt, eher verdienstbasierte Konzeptionen allgemein pragmatisch fragwürdig erscheinen lassen und weniger einen der beiden Ansätze vor dem anderen auszeichnen.25 Fazit: Kagans Theorie ist eine bedenkenswerte Alternative zu unserem Ansatz, aber ihre Überlegenheit ist bisher keineswegs belegt. Im Gegenteil erklärt einzig die proportionale Reziprozität – bei ähnlichen Schwierigkeiten – wesentliche Aspekte einer moralisch unvermeidlichen Verdienstdynamik im Sinne der Gegenseitigkeit und den notwendig interpersonellen Charakter von Gerechtigkeit, womit sie über Kagans Ansatz ebenso hinausreicht, wie über die anderen vorgestellten.
25 Vgl.
Wolff 2003.
17. Ein Anwendungsbeispiel: proportional-reziproke Strafgerechtigkeit Bisher haben wir die proportionale Reziprozität als abstrakte individualethische Gerechtigkeitsnorm behandelt. Jetzt wollen wir sie jedoch auf ihre Eignung zur Begründung sozialer Institutionen hin untersuchen. Dazu werden wir eine proportional-reziproke Strafgerechtigkeitskonzeption präsentieren. Der mögliche Vorwurf übrigens, das sei eine Art nicht aussagekräftiges Heimspiel, schließlich sei die proportionale Reziprozität ja aus dem Geiste der intuitiven Strafgerechtigkeit entwickelt, muss klar zurückgewiesen werden: Staatliche Strafe ist und bleibt eine zentrale Institution des modernen, gewaltmonopolisierenden Staates und wo immer eine Gerechtigkeitsnorm herstammt, die in diesem Bereich eine befriedigende Konzeption bietet, ist die Fähigkeit zur Strafbegründung ein äußerst kraftvolles Argument für deren allgemeine staatsphilosophische Gültigkeit. Wir werden in diesem Kapitel daher zunächst einmal das philosophisch Problematische der staatlichen Strafe herauspräparieren und uns die daran anküpfenden Lösungsvorschläge der aktuellen Philosophie vor Augen führen. Im Anschluss werfen wir zur Fundierung noch einen kurzen Blick in die vorausgehende Ideengeschichte der philosophischen Strafgerechtigkeitsidee. Davon ausgehend wird dann der proportional-reziproke Ansatz entfaltet und in etliche relevante Elemente untergliedert.
17.1 Das philosophische Problem der staatlichen Strafe Eine Strafe kann man traditionsgemäß definieren als eine Schädigung, die einem Schädiger zugefügt wird, weil dieser jemanden unrechtmäßig geschädigt hat. Epochemachend bestimmte bereits im siebzehnten Jahrhundert der große Naturrechtler Hugo Grotius im Anschluss an die theologische Tradition Strafe in dieser Weise als: „ein Leidensübel (malum passionis), das man erleidet, weil man ein Handlungsübel (malum actionis) getan hat“.1 Die strafbegründende Schädigungstat des Verbrechers – so die Voraussetzung – ist eine moralisch normwidrige Tat. In einer eudämonistischen Ethik kann man die sträfliche Schädigung als illegitime Minderung der Wohlfahrt des Verbrechensopfers charakterisieren, in 1 Grotius
1625, 325; vgl. Hartung 1996.
17.1 Das philosophische Problem der staatlichen Strafe
193
einer juridischen Ethik als Verletzung eines Individualrechts.2 Mit der Strafe wird dem Straftäter allerdings vom Strafenden gleichfalls eine Schädigung zugefügt, die ihrerseits auf den ersten Blick ebenfalls als Wohlfahrtseinbuße oder Individualrechtsbruch erscheint. Dem Straftäter wird durch die Strafe also typischerweise etwas angetan, das außerhalb des punitiven Kontexts moralisch verboten und meist selbst strafwürdig wäre: etwa körperliche Züchtigung, Tötung, Eigentumsentzug oder Inhaftierung. Und hierin liegt die erste legitimatorische Herausforderung für jede philosophische Konzeption von Strafgerechtigkeit.3 Sie muss folgende Frage beantworten: Warum soll oder darf der Strafende dem Straftäter etwas antun, was andernfalls strikt moralisch untersagt ist? Wenn man so will, erfährt der Straftäter hier eine Ungleichbehandlung, die moralisch zu rechtfertigen ist.4 Man kann einen Unterschied wird zwischen „natürlichen“ und staatlichen Strafen machen. Eine staatliche Strafe wird vom Staat als strafender Instanz ausgesprochen und exekutiert; eine natürliche Strafe vollziehen Menschen außerhalb eines Staates oder unabhängig von einer positiven Rechtsordnung. In einer jahrzehntealten sprachanalytisch-philosophischen Debatte über die Strafdefinition, wurde übrigens immer wieder bezweifelt, ob die natürliche Strafe überhaupt dem Begriff der Strafe genügen würde.5 Wir können diesen moralisch sterilen Streit getrost beiseite lassen, da an definitorischen Fragen an dieser Stelle nichts hängt. Akzeptiert man allerdings die grundsätzliche Moralität von natürlichen Strafen außerhalb gesellschaftlicher Strukturen und will innerhalb des Staates einen gewichtigen Teil moralisch gravierender Normverstöße im Strafgesetz abbilden sowie durch den Staat bestrafen lassen, so ergibt sich die zweite legitimatorische Herausforderung für philosophische Konzeptionen von Strafgerechtigkeit, nämlich die Frage: Warum soll der Staat die strafende Instanz sein und nicht Privatpersonen? Bei der Beantwortung dieser Frage kommt man dann unwillkürlich in den Bereich der normativen Staatsphilosophie. Es geht letztlich um das Gewaltmonopol des Staates und seine Begrenzung. Die beiden formulierten Fragen helfen, die sogenannten philosophischen Straftheorien zu strukturieren. Beide liegen natürlich auch der Rechtsphilosophie der europäischen Tradition zugrunde. Schauen wir uns zuerst die Antworten der heutigen Philosophie an!
2 Zum
relevanten Schadensbegriff vgl. ausführlich Feinberg 1984 ff. z. B. Honderich 1989, 11–14, Primoratz 1989, 7 ff., Boonin 2008, 1–36. 4 Singer 1961, 205–8. 5 Z. B. Hart 1959/60; kritische Übersicht bei Zaibert 2017. 3 Vgl.
194
17. Ein Anwendungsbeispiel: proportional-reziproke Strafgerechtigkeit
17.2 Heutige Lösungsansätze Die oben genannte zweite Herausforderung für die Strafphilosophie liegt in der moralischen Begründung und Begrenzung des staatlichen Strafmonopols, ungeachtet zunächst der allgemeinen Begründung des moralischen Strafrechts. Und in dieser Hinsicht bieten sich ohne viel Nachdenken ja gute Gründe für staatliche Strafe an: wie etwa die potenziell größere Unparteilichkeit staatlicher Instanzen, die größeren staatsbehördlichen Fähigkeiten zur Ermittlung von Tatumständen und Durchsetzung von Strafmaßnahmen sowie vieles mehr. In der aktuellen Debatte spielen solche Erwägungen aber eigentlich keine Rolle mehr. Ein Grund dafür ist die inzwischen ja mehrfach angesprochene Abstinenz der politischen Philosophie vom Thema Strafe – dieses Thema wird eben als Teil der als nebensächlich bewerteten „nichtidealen“ Theorie gesehen. Die großen philosophischen Gerechtigkeitskonzeptionen der Gegenwart enthalten infolgedessen wenig Erhellendes zur Begründung eines exklusiven staatlichen Strafrechts. Ein zweiter Grund ist das weitgehend durchgesetzte und akzeptierte staatliche Gewaltmonopol in westlichen Gesellschaften, das Privatstrafen als von vornherein illegitim erscheinen lässt. Nun ist der rechtspraktische Bedarf für eine moralische Legitimation des staatlichen Strafrechts infolge fortschreitenden gesellschaftlich-kulturellen Wandels und damit einhergehender Gesetzesänderungen dennoch praktisch unverändert gegeben. In Reaktion darauf hat sich im vergangenen Jahrhundert eine eng begrenzte Strafrechtsphilosophie entwickelt, die entkoppelt von den großen staatsphilosophischen Grundlagentheorien versucht, staatliche Strafe zu legitimieren.6 Diese staatsphilosophisch abstinente Strafphilosophie bemüht sich insbesondere um eine rein bereichsspezifische Beantwortung der ersten oben gestellten Frage, will also die moralische Legitimität von Strafe überhaupt nachweisen. Welche Ideen werden dabei diskutiert? Die Debatte gruppiert sich um die jahrhundertealte Trias der Strafzwecke Vergeltung, Abschreckung und Resozialisierung.7 Der vielleicht früheste Beleg dieser einflußreichen Trias findet sich übrigens bereits in den im zweiten nachchristlichen Jahrhundert verfassten „Noctes Atticae“ des rechtskundigen römischen Autors Aulus Gellius unter Berufung auf das damalige Oberhaupt der platonischen Akademie, Calvisius Taurus.8 In der frühneuzeitlichen Rechtsphilosophie machte Hugo Grotius sie dann mit Verweis auf Gellius populär.9 Und von da aus fand sie ihren Weg ins moderne Rechtsdenken. Skizzieren wir kurz die Positionen! 6 Übersichten z. B. Honderich 1989, Primoratz 1989, Wolf 1992, Boonin 2008, Hoerster 2012, Brooks 2012. 7 S. z. B. Radbruch 1932, 151–57, oder Armstrong 1961. 8 S. Gellius Noc. VII.14.1–5; zu Gellius’ Platonismus s. Tarrant 1996. 9 S. Grotius 1625, 330.
17.2 Heutige Lösungsansätze
195
Die Vergeltungstheorie sieht in der gerechten Strafe die Zufügung eines verdienten Übels proportional zur Schwere des Verbrechens.10 Die moralische Begründung für die Strafzufügung ist im Wesentlichen schlicht deren moralische Verdientheit im verbrechensäquivalenten Maß.11 Die Strafe stellt damit die gerechte Ordnung wieder her.12 Die unverkennbare Stärke der Vergeltungstheorie liegt in der Erfassung der oben ja bereits skizzierten alltagsmoralischen Intuitionen zu Bestrafungen. Ihre hauptsächliche Schwäche bleibt jedoch bei allen Autoren ihre Vagheit: ohne Einbettung in eine umfassendere Theorie bleibt die Proportionalitätsforderung bzw. die Verdienstquantifizierung völlig unbestimmt. Der Verweis auf harte Strafen für schwere Verbrechen und milde Strafen für leichte Verbrechen überzeugt vielleicht auf den ersten Blick, aber weder kann die Theorie aus sich heraus erklären, was überhaupt als Verbrechen zählen soll, noch gibt sie hilfreiche Hinweise zur Graduierung von Strafhärte und Verbrechensschwere. Die Abschreckungstheorie sieht die Rechtfertigung der staatlichen Strafe in ihrer von der Begehung von Straftaten abschreckenden Wirkung für den aktuellen und alle potenziellen Täter. Das geförderte künftige Gemeinwohl rechtfertigt eine Zurücksetzung der Täterinteressen im Rahmen der Bestrafung, solange die Kosten für diese Rechtspraxis nicht höher als der Gewinn sind.13 Damit drückt sie einen Gedanken aus, der sich beim unbefangenen Nachdenken über Strafe zunächst sicherlich großer Zustimmung erfreuen kann.14 Als problematisch erweisen sich für diesen Ansatz jedoch insbesondere die fragwürdigen empirischen Annahmen bezüglich der Verbrechensmotivation und die Maßlosigkeit. Weil die Mehrzahl der Verbrecher nicht kühl egoistisch nutzenmaximierend, sondern vielmehr stark emotional getriggert oder in kriminelle Gruppierungen sozialisiert handelt, könnte selbst bei hoher Aufdeckungsrate und massivem Strafmaß die handlungsmodifizierende Furcht infolge der staatlichen Strafdrohung motivational häufig weitgehend wirkungslos sein. Demgemäß sind die erforderlichen kriminologischen Belege für wirksame Abschreckung durch staatliche Strafgesetze auch höchst umstritten.15 Dies wäre eventuell anders – das ist der Punkt der Maßlosigkeit –, wenn man den (wenig verbrecherisch gesonnenen) Bürgern für geringfügige Vergehen empfindliche Strafen androhen würde: bei Handabhacken für Falschparken würde beispielsweise die überwiegende Mehrzahl der Menschen nicht mehr Falschparken – aber 10 Übersichten: Cottingham 1979, Honderich 1989, 22–50, S. 207–44, Boonin 2008, 85–154, Brooks 2012, 15–34. 11 Z. B. Moore 1997, 83–188, Corlett 2001. 12 Z. B. Finnis 2011, 262 ff. 13 Z. B. Becker 1968, Buchanan 1984, 186–208; Überblick: Honderich 1989, 51–87, Boonin 2008, 37–84, Brooks 2012, 35–50. 14 S. Hoerster 2012. 15 Robinson & Darley 2004, Robinson 2006, Paternoster 2010.
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17. Ein Anwendungsbeispiel: proportional-reziproke Strafgerechtigkeit
vermutlich dringend eine Gesetzesänderung anstreben, weil hier die intuitiv geforderte Proportionalität von Übeltat und Bestrafung mit den Füßen getreten wird. Aus Sicht einer ungebremsten Abschreckungstheorie dagegen wäre jedoch bei entsprechendem sozialen Nutzen nichts an der grausamen Strafe zu beanstanden. Die Resozialisierungstheorie kommt in etlichen Varianten einher.16 Der gemeinsame Grundgedanke liegt in der Begründung der Strafe durch ihre den Täter bessernde Wirkung. Die moralische Begründung für die Strafe liegt demzufolge außer im durch die künftige Gesetzestreue des Sträflings geförderten Gemeinwohl auch im Interesse des Täters an Besserung – wie immer das dann näher erklärt wird. Es werden forensisch-psychotherapeutische Mittel, restorative Ansätze mit Vermittlung zwischen Täter und Opfer und auch erzieherisch-kommunikativ-expressive Aspekte mit einer gesellschaftlichen Botschaft zur Verwerflichkeit des verbrecherischen Handelns ins Spiel gebracht.17 Alle diese Ansätze verbindet, dass sie keinesfalls ernsthaft beanspruchen können, den gesamten Bereich des Strafrechts abzudecken. Sie sind für Bagatelldelikte, Rechtsbrüche psychisch Erkrankter, Aspekte des Jugendstrafrechts und familienrechtliche Sanktionen sicherlich im Einzelfall erwägenswert, aber für gefährliche und grausame Straftaten durch zurechnungsfähige Täter sind sie ganz offenkundig völlig unzureichend im Hinblick auf das allgemeine Rechtsempfinden und ihre Wirksamkeit, was die entsprechenden Autoren in der Regel letztlich sogar eingestehen. Insbesondere die Behandlung des Täters als eine Art unselbstständig Fürsorgebefohlenem bereitet nicht nur potenziellen Verbrechensopfern wegen ihrer vermeintlichen Weichheit Unbehagen, sondern wegen der aus ihr folgenden weitreichenden Entmündigung auch potenziellen Delinquenten, die dementgegen als autonome Personen ernstgenommen werden wollen.18 Jede dieser drei traditionellen Straflehren hat somit offensichtliche Vorzüge und Schwierigkeiten; keine kann ohne Weiteres überzeugen. Folglich liegt es äußerst nahe, gemischte Ansätze zu konzipieren.19 Bekannt geworden ist vor allem die von John Rawls (in einem Frühwerk) und H. L. A. Hart entwickelte indirekt utilitaristische Vorstellung, die Vergeltungstheorie würde die persönliche Zuordnung und Bemessung der Strafe regeln und die Abschreckungstheorie sei die Rechtfertigung der retributiven Strafpraxis auf gesellschaftlicher Ebene.20 Neuerdings hat beispielsweise Thom Brooks sogar eine noch umfassendere pluralistische Version einer Straftheorie vorgeschlagen, die auch zahlreiche resozialisierende Aspekte integriert.21 Er tut dies allerdings wiederum ohne 16 Übersichten:
Honderich 1989, 88–104, Alschuler 2003, Brooks 2012, 51–85. 1984; vgl. schon Whewell 1845, 501–9, Ewing 1953, 179–90. 18 S. Lewis 1949. 19 Übersicht: Brooks 2012, 87–148. 20 S. Rawls 1955, Hart 1959/60. 21 S. Brooks 2012, 123–48. 17 S. Hampton
17.3 Ein Blick in die Ideengeschichte der Strafgerechtigkeit
197
irgendeine Einbettung seiner Konzeption in eine umfassende Gerechtigkeitsnorm, was seinem pluralistischen Ansatz unvermeidlich etwas Willkürliches und Ungeordnetes verleiht. Wir können hier unmöglich diese vielfältigen Ansätze sachgerecht überblicken und beurteilen. Es entsteht auf den ersten Blick allerdings der Eindruck, dass die gemischten Theorien, je nach dem von ihnen priorisierten Teilprinzip, dessen jeweilige Probleme letzten Endes miterben22 oder bei ungeordneten Teilprinzipien normativ weitgehend inert bleiben23. Die gemischten Theorien sind gleichwohl zumindest in einer Hinsicht eine konstruktive Weiterentwicklung der Debatte: statt in ermüdender Regelmäßigkeit immer wieder eine der oben skizzierten drei herkömmlichen Minitheorien gegen die anderen auszuspielen und zu verteidigen, ist es wahrscheinlich erheblich zielführender, die von den Minitheorien favorisierten Gesichtspunkte alle ernst zu nehmen. Jeder dieser Ansätze mutet auf den ersten Blick nämlich in gewissen Grenzen durchaus vernünftig an. Keiner ist völlig abwegig. Was benötigt wird, wenn man alle Aspekte grundsätzlich anerkennen will, ist jedoch eine allgemeinere Gerechtigkeitsnorm, die den in den Minitheorien artikulierten Gesichtspunkten ihren angemessenen Platz innerhalb einer umfassenderen Strafkonzeption zuweist. Nur so kann eine kohärente Strafgerechtigkeitsnorm formuliert und verteidigt werden. Diese Einbettung in eine umfassendere Gerechtigkeitsvorstellung findet sich in der heutigen Strafphilosophie meines Erachtens außerhalb utilitaristischer Ansätze nicht mehr. War dies schon immer so? Wenden wir uns kurz noch einmal der Geschichte der philosophischen Strafgerechtigkeit zu, bevor wir unseren eigenen Ansatz beschreiben.
17.3 Ein Blick in die Ideengeschichte der Strafgerechtigkeit Rechts‑ und moralgeschichtlich wird das frühe Strafrechtsdenken in allen bekannten Kulturen durch das Talionsprinzip dominiert, dem zufolge einem Übeltäter das zuzufügen ist, was er seinem Opfer zufügte. Exemplarisch kann man dies an vielen Stellen des Kodex Hammurabi, des mosaischen Alten Testaments oder des römischen Zwölftafelrechts nachlesen.24 Wenn man so will, hing die kriminaljuristische Tradition Eurasiens seit ihren frühesten Zeiten durchgängig Vergeltungslehren an. Gegen das Vergeltungsdenken regte sich bereits in der griechischen Antike philosophischer Protest in der oben in anderem Kontext skizzierten sokratisch22 Goldman
1979 1995, Wood 2002. 24 S. Cod. Ham. § 196 ff., im Alten Testament Ex. 21.12 ff., Lev. 24.17 ff., Num. 35 und im römischen Zwölftafelrecht XII tab. 8.2; umfassend dokumentiert in Günther 1889; vgl. Dihle 1962, 13–40. 23 S. Koriath
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17. Ein Anwendungsbeispiel: proportional-reziproke Strafgerechtigkeit
platonischen Tradition (s. 6.2 f.). Da Verbrechen als schädlich nicht nur für das Opfer, sondern auch für den Verbrecher gedeutet wurden, interpretierte die genannte Tradition sie in erster Linie als Ausdruck von krankhaft mangelnder Selbstkontrolle und Strafe wurde als Therapie für dieses Charakterdefizit verstanden. Allerdings waren brachiale Therapiemaßnahmen bis hin zur Tötung des Straftäters nach dieser Sichtweise keineswegs ausgeschlossen, was sie mit der wenig zimperlichen Rechtspraxis ihrer Zeit ein Stück weit versöhnte. Die sokratisch-platonische Straflehre widerstrebte den intuitiven Urteilen vieler Zeitgenossen, wie es in den entsprechenden platonischen Dialogen do kumentiert ist. Sie hatte jedoch erstaunlicher Weise lange Zeit zumindest unterschwellig Bestand. Man kann ihre Spuren bis in die ansonsten stärker stoisch geprägte römische Rechtsphilosophie verfolgen. Zwei einflußreiche Beispiele sind Cicero und Seneca. Cicero beurteilte die talionsgemäße Vergeltung als nützlich zur Begrenzung der Strafhärte.25 Er hob aber im Allgemeinen eher auf die „uti‑ litas publica“, das Gemeinwohl, ab, das durch Abschreckung, „metus poena“ (Straffurcht), zu fördern sei, ohne jedoch den Täter unnötig zu demütigen oder die Strafe im Zorn auszuführen.26 Seine oben nachvollzogenen Gerechtigkeitsnormen (s. 8.2) wandte Cicero interessanterweise nicht auf Strafe an.27 Senecas Denken war in Bezug auf die Strafe in noch höherem Maße platonisch gefärbt als Ciceros.28 Seneca gewährte der Vergeltung keinen Raum: sie diene zwar einem Gefühl der Genugtuung und der Sicherheit, dies sei aber der einzig legitim ausführenden Macht, des Kaisers, unwürdig.29 Zudem sei nur die Prävention von Verbrechen ein moralisch zulässiges Ziel: „nemo prudens punit quia peccatum est, sed ne peccetur“, also in etwa: „Kein Vernünftiger bestraft weil gefehlt wurde, sondern damit nicht gefehlt wird“.30 Über Cicero und Seneca hinaus überlebten im Neuplatonismus die vergeltungskritischen platonischen Strafkonzepte im römischen Reich bis zum Beginn des Mittelalters.31 Für das christliche Mittelalter sind zwei wichtige Entwicklungen hervorzuheben.32 Die erste hängt mit der theokratischen Gerechtigkeitsvorstellung dieser Epoche zusammen. Aus dieser Position betrachtet war Strafe zunächst einmal eine göttliche Reaktion auf einen Verstoß gegen göttliche Gebote. Die Legitimation der Strafe lag in Gottes unbestrittenem Herrschaftsrecht und die Off. I.34, I.89, vgl. ders. Leg. III.46. Off. I.88 f.; vgl. Bauman 1996, 35–49. 27 Vgl.Cicero Off. I.20, ders. Rep. III.7, III.11, III.15. 28 Vgl. Bauman 1996, 77–91. 29 S. Seneca Clem. I.21.1. Diese Schrift Senecas war übrigens makabrerweise an Kaiser Nero adressiert, der Seneca später aufgrund des Verdachts der Untreue zum Suizid zwang; s. Fuhrmann 1997, 175–96, 307–28.. 30 Seneca Ira I.19.7; vgl. schon Protagoras in Platon Prot. 324b 31 Vgl. Boethius Cons. bes. 251. 32 Zum mittelalterlichen Strafrechtsdenken s. Schmidt 1983, 46–139, Rüping 1991, 3–53, Berman 1995, 272–326, Wesel 1997, 273–343, Schild 2010, bes. 8–36. 25 S. Cicero
26 Z. B.Cicero
17.3 Ein Blick in die Ideengeschichte der Strafgerechtigkeit
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korrekte Strafbemessung war durch göttliche Gerechtigkeit sichergestellt – entweder weil man, voluntaristisch, seinen Willen als den Ursprung und das Maß der Gerechtigkeit anzusehen hat oder weil, intellektualistisch, Gott die natürliche Gerechtigkeit optimal erkennt und verwirklicht. Das weltliche Recht wurde als Anordnung der von Gott anerkannten und ihn vertretenden Obrigkeit verstanden. Die Begründung dieses Rechts war demzufolge ein durch Gott an die weltliche Regierung delegiertes Herrschaftsrecht. Dieses göttlich begründete Gesetz umfasst auch das Strafrecht. Ohne substanzielle Gerechtigkeitsvorstellung bleibt das dominante volun taristisch-theokratische Strafrecht allerdings de facto unbegrenzt: die göttlich ermächtigte Herrschaftsinstanz hat das Recht, Verbrecher zu strafen, ohne dass das Strafmaß eindeutig festgelegt wäre. Die alt-testamentarische Tradition berief sich deshalb bezüglich des Strafmaßes auf das Talionsprinzip. Dieses erhielt dadurch eine zu seinem weltlichen Status kongruente göttliche Weihe. Und das harmonierte wiederum ausgesprochen gut mit den germanischstämmigen Gewohnheitsrechten Westeuropas.33 Es kann mithin als zweite wichtige Entwicklung mittelalterlichen Rechtsdenkens festgehalten werden: Strafe wurde zum guten Teil mit der Wiedervergeltung identifiziert. Damit war die christliche Strafrechtsphilosophie gut geeignet, die teils äußerst brutalen Strafpraktiken des Mittelalters zu rechtfertigen.34 Mit dem Aufkommen des Kontraktualismus trat die theokratische Strafbegründung in den Hintergrund, obwohl sie nie völlig abgelegt wurde.35 Drei Strategien zur Begründung des staatlichen Strafrechts unter Wahrung der schä digungsverbietenden Individualrechte unbescholtener Bürger entwickelten die kontraktualistischen Denker. Zwei findet man schon bei Grotius, die dritte bei Hobbes. Die erste grotianische Strafbegründung berief sich geradewegs auf eine Einwilligung eines Straftäters in seine eigene Bestrafung.36 Grotius schrieb in einer berühmten Passage: „Hier ist ein Punkt, der an den Vertrag erinnert. Denn auch der Verkäufer wird, ohne etwas zu sagen, zu Allem verpflichtet, was beim Kauf gebräuchlich ist; ebenso scheint der Beschädiger durch seinen Willen sich der Strafe unterworfen zu haben. Denn das Verbrechen kann nicht unbestraft bleiben; wer also jenes will, hat folgerichtig auch die Strafe gewollt …“.37
Grotius argumentierte hier wohl mit der allgemeinen Kenntnis der geltenden Strafgesetze. Angesichts dieser Kenntnis kann man dem Straftäter bei Begehung seiner Tat eine implizite Einwilligung in die Bestrafung zuschreiben. Er hat nur 33 Vgl. Schmidt 1983, 3–45, Berman 1995, 118–43, Wesel 1997, 259–71, Kroeschell 1999, bes. 39–52, 198 ff. 34 Vgl. Schild 2010. 35 Zu Straftheorien speziell der deutschen Aufklärung s. Cattaneo 1998, Reulecke 2007. 36 S. Hartung 1996; vgl. Hüning 2000, Straumann 2006. 37 Grotius 1625, 326
200
17. Ein Anwendungsbeispiel: proportional-reziproke Strafgerechtigkeit
die Wahl zwischen Begehung der Straftat und Erleiden der Strafe einerseits und Unterlassung der Straftat und Straffreiheit andererseits. Da er sich für die Straftat entscheidet, entscheidet er sich eo ipso für die Strafe. Dieses Argument fand allerdings im rationalistischen Naturrecht eher wenig Anklang. Erst einige Frühkantianer griffen es fast zweihundert Jahre später wieder auf.38 Die zweite grotianische Strafbegründung fand hingegen sogleich viele Nachahmer. Sie arbeitete mit einem Prinzip der Gegenseitigkeit. Die über Grotius’ Werk verstreute Grundidee ist, dass ein Rechtssubjekt nur die Rechte für sich in Anspruch nehmen kann, die es auch bei anderen Rechtssubjekten respektiert. Wenn ein Straftäter mit seiner Untat die Rechte seines Opfers verletzt, verwirkt er eben dadurch sein analoges Schutzrecht.39 Und das ist die moralische Grundlage der Strafe. Das resultierende Recht zu strafen kommt prinzipiell jedem Rechtssubjekt zu, ist aber im staatlichen Zustand an die Regierung delegiert. Bei nicht handlungsfähigem Staat oder Nichtvorhandensein eines staatlichen Exekutivorgans bleibt die private Bestrafung des Übeltäters indes moralisch zulässig. Eine reziproke Bestrafung dürfen nach Grotius allerdings nur Unbescholtene vornehmen, da nur diese über Rechte verfügen, die durch Verbrechen beeinträchtigt werden.40 Die beiden grotianischen Strafbegründungen sehen moralische Individualrechte als verpflichtend für alle Normadressaten an. Sie konzipieren jedoch zwei Wege, wie ein Straftäter diese Rechte verwirkt, durch implizite Einwilligung oder durch Verletzung der Gegenseitigkeit der Rechtsanerkennung. Dadurch ist eine Bestrafung moralisch legitimiert. Grotius milderte die komplette straftatbedingte Rechtsverwirkung dadurch etwas ab, dass er beim Straftäter ein unbedingtes nichtverpflichtendes Recht auf Nichtschädigung beließ. Infolge dieses Rechts ist eine Bestrafung nur dann vernünftig, wenn sie einem weiteren Zweck dient, nämlich Generalprävention durch Abschreckung oder Spezialprävention durch Sicherung.41 Die Strafbemessung einer infolge Rechtsverlusts moralisch statthaften Strafe soll demnach durch präventive Aspekte geleitet sein. Der individualrechtlich-reziprozitätsbasierte Teil der grotianischen Straftheo rie wurde so etwas wie eine Standardposition der aufgeklärten Rechtsphilosophie, beispielsweise in Großbritannien bei Locke oder Adam Smith, in Deutschland Christian Wolff, Johann Gottlieb Heineccius, Gottfried Achenwall oder im Grundsatz noch Wilhelm von Humboldt.42 Auch bei den meisten frühen 38 S. Heydenreich 1794, 189 ff., Hufeland 1795, 142, 241, Feuerbach 1798, 222 ff.; vgl. Hegel 1820/21, 192; Nino 1983. 39 Grotius 1625, 326; vgl. Tuck 1979, 62 f., ders. 1993, 177. 40 S. Grotius 1625, 327. 41 S. Grotius 1625, 327 f. 42 S. Locke 1689, bes. 200–10; vgl. Euchner 1979, 182–92; Smith Lectures, 103–6, ders. 1759, 105 f.; vgl. Haakonssen 1981, 114–23, Salter 1999; Wolff 1754, 58, 97 ff., Heineccius 1737, 436– 44, Achenwall 1750, 290–3; vgl. Hruschka 1987a; Humboldt 1851, 153–77.
17.3 Ein Blick in die Ideengeschichte der Strafgerechtigkeit
201
Kantianern und Kant selbst finden sich immer noch unverkennbar die Grundzüge des grotianischen Programms, nämlich Gegenseitigkeit der Rechte und Rechtsverwirkung bei deren Missachtung.43 Kant betonte dabei aber, anders als der in dieser Hinsicht präventionsorientierte Grotius, intensiv den Aspekt der Wiedervergeltung bei der Strafbemessung, was einige Kantianer in verschiedener Weise weiterdachten.44 Herauszuheben ist dabei die elaborierte Konzeption Ludwig Heinrich Jakobs.45 Überdies brachten Theodor von Schmalz, Gottlieb Hufeland oder Johann Gottlieb Fichte die rechtspolitisch anregende Idee eines Abbüßungsrechts auf, dem zufolge ein Straftäter einen Anspruch auf Wiedererarbeitung seiner Rechte hat, wenn ein Schadensersatz sichergestellt ist.46 Hobbes präsentierte eine etwas andere Erklärung des Strafrechts als Grotius.47 Man kann ihn so lesen, dass die weitreichenden – Hobbes postulierte bekanntlich das Recht eines jeden auf alles48 – natürlichen Individualrechte im Naturzustand keine verpflichtenden Rechte sind. Gewalttätige Konflikte infolge der Durchsetzung kollidierender Rechte sind im Naturzustand daher moralisch nicht zu beanstanden, obgleich sie unvernünftig sind. Erst durch den im Sozialkontrakt mündenden Verzicht auf bestimmte Rechte gewinnen die anschließend mittels Zwang staatlich garantierten Rechte von Herrscher und Untertan Verbindlichkeit. Während grundsätzlich alle Rechte, ganz wie bei Grotius, veräußerlich sind, war allerdings für Hobbes das Recht auf körperliche Unversehrtheit, speziell das Lebensrecht, unveräußerlich.49 Auf dieses Recht kann demzufolge nicht zugunsten der staatlichen Obrigkeit verzichtet werden. Wie ist dann aber die frühneuzeitlich wichtigste Strafsanktion, die Todesstrafe, legitimierbar? Hobbes postulierte bei einem mit der Todesstrafe bedrohten Verbrecher einen regional wiederauflebenden Naturzustand: weder ist der Übeltäter zur Strafduldung noch der Staat zum Lebensschutz verpflichtet. Das heißt, das unveräußerliche Lebensrecht des Täters ist schlichtweg von vornherein nicht moralisch verpflichtend und damit die Bestrafung nicht pflichtwidrig. Dieser hobbessche Ansatz wurde mit leicht abgewandeltem theoretischen Hintergrund etwa von Baruch Spinoza, Pufendorf und Thomasius aufgegriffen und kurzzeitig popularisiert.50 Ab Anfang des achtzehnten Jahrhunderts dominierte
43 S. Fleischacker
1988, Tafani 2011, 1–28, 71–109, Heepe 2014. MS, 235 f., 331–37; vgl. Hüning 2004. 45 S. Jakob 1795, bes. 249 ff.; vgl. Cattaneo 1998, 175–223. 46 S. Schmalz 1792, 54–61, Hufeland 1795, 98, Fichte 1796/7, 253–79. 47 S. Hobbes 1642, 215–34, ders. 1651, 223–44; vgl. Hüning 2007, Shuster 2016, 51–74. 48 Zum Folgenden inkl. Belege s. Heepe 2006. 49 Ein fürwahr bemerkenswertes mittelalterliches und eventuell antiskeptisch intendiertes Erbe bei Hobbes; s. Strauss 1956, 177–84, Tuck 1989, 84–94, ders. 1993, 279–345, dagegen Zagorin 1993. 50 S. Spinoza 1677, bes. 237–40, Pufendorf 1672, 615–51, vgl. ders. 1673, 190–5, Thomasius 1705, 185–9. 44 S. Kant
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17. Ein Anwendungsbeispiel: proportional-reziproke Strafgerechtigkeit
indes die grotianische Sicht das Feld, selbst bei den wichtigen Schülern des Thomasius.51 Ein interessantes Nachspiel hatte die Konkurrenz von grotianischer und hobbesscher Straftheorie übrigens im achtzehnten Jahrhundert bei dem ausgesprochen einflussreichen Todesstrafenkritiker Cesare Beccaria: dieser konzipierte das Lebensrecht im Geiste Grotius’ als verpflichtend und zugleich im Geiste Hobbes’ als unveräußerlich, so dass der Staat – außer, was gerne überlesen wird und logisch nicht ganz stringent erscheint, bei unverbesserlichen Missetätern oder Gefahr der eigenen Vernichtung – kein Recht erlangen kann, einen Übeltäter zu töten.52 Als kurzes Fazit können wir festhalten: Strafe war im Kontraktualismus durch den tatbedingten Verlust oder das Nichtvorhandensein eines verbindlichen täterseitigen Nichtschädigungsrechts gerechtfertigt. Das Strafmaß hingegen orientierte sich im Allgemeinen am verbrechenspräventiven Nutzen und blieb damit recht unscharf bestimmt. Infolge der weitgehenden Entrechtung des Täters war dieser Zug der Theorie in willkommener Weise prädisponiert, die noch aus dem Mittelalter stammenden, teilweise weiterhin extrem harschen Bestrafungspraktiken der frühen Neuzeit zu legitimieren.53 Im neunzehnten Jahrhundert konzipierte G. W. F. Hegel, eine facettenreiche Strafrechtslehre, in der viele Aspekte der vorausgehenden Tradition zusammengeführt wurden.54 Hegel begründete Strafe mit der gebotenen Wiedervergeltung, postulierte zugleich allerdings – in Anknüpfung an Ideen Fichtes – ein Recht des Verbrechers auf Strafe.55 Dieses Recht resultiert für Hegel aus dem Anspruch jedes Menschen, als freies Wesens respektiert zu werden, so dass eine Strafmaßnahme auch den menschlichen Täter durch Androhung und Exekution von Strafe als freien Akteur würdigt und nicht versucht, ihn durch einen abschreckenden Appell an seine Gefühle zu manipulieren. Hegel formulierte diese Lehre im bewussten Gegensatz zur im deutschen Sprachraum prominenten Abschreckungstheorie des stark von Hobbes, Kant und Achenwall beeinflussten P. J. A. Feuerbachs, der eine psychische Assoziation von Verbrechensimpuls und Straffurcht durch Bestrafung von infolge ihres Verbrechens Entrechteten als geboten verstand.56 Wie oben bereits näher ausgeführt, kam die Vergeltungslehre nach ihrem Höhepunkt bei Kant und Hegel allmählich außer Gebrauch. Stattdessen übernahmen unter dem Einfluss des Utilitarismus benthamscher oder paleyscher Prägung im neunzehnten Jahrhundert präventive Straflehren das Feld (vgl. 13.4), 51 Zur
Thomasius-Schule s. Rüping 1968. 1764, bes. 107 f.; Hintergrund und Belege s. Heepe 2008, Shuster 2016, 90–96. 53 Vgl. z. B. van Dülmen 1995. 54 S. Hegel 1820/1 bes. 178–98; vgl. Primoratz 1989, 67–81, Mohr 1997, Tafani 2011, 11–38. 55 S. Fichte 1796/7, bes. 255; vgl. McTaggart 1909/10, Deigh 1996, Dubber 1998. 56 S. Feuerbach 1798, bes. 203–37. 52 S. Beccaria
17.4 Der proportional-reziproke Ansatz
203
wobei die Abschreckung potenzieller Verbrecher als wichtigster Präventionsmechanismus angesehen wurde.57 Die kontraktualistische Idee der verbechensbedingten Rechtsverwirkung konnte im Utilitarismus nicht gut erklärt werden, woraus das oben umrissene Problem der Bestrafung Unschuldiger resultierte. Im zwanzigsten Jahrhundert erfuhr die Vergeltungstheorie indessen unerwartet ein leises Wiederaufflackern aus der sprachanalytischen Philosophie heraus, wobei verschiedene eng begrenzte Interpretationen von Vergeltung erwogen wurden.58 Insbesondere die naturrechtliche Idee der Explikation von Vergeltung durch verbrechensbedingte Rechtsverwirkung („forfeiture“) erlebte in diesem Zusammenhang ein Wiederaufleben.59 Zugleich richtete sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive das Augenmerk stark auf resozialisierungsorientierte Ansätze (s. o.).60 Zusammenfassend kann man festhalten, dass die drei Ansätze der gelliuschen Trias zu verschiedenen Zeiten und in verschiedener Weise in die politische Philosophie versuchsweise eingebunden allesamt vertreten wurden. Die Vergeltung war dabei allgegenwärtig. Da jedoch ein Einbezug speziell der Vergeltung in ein umfassenderes Gerechtigkeitskonzept nicht überzeugend gelang, blieben die entsprechenden Bemühungen rechtspraktisch eher folgenlos.
17.4 Der proportional-reziproke Ansatz Die im vorliegenden Buch untersuchte Gerechtigkeitsidee, die proportionale Reziprozität, ist eine sowohl individualmoralisch-interpersonell als auch sozialmoralisch-institutionsbezogen anwendbare Norm. Sie sieht insbesondere die auf den Staat bezogene Strafgerechtigkeit als Bestandteil einer allgemeinen Gerechtigkeitsnorm an. Wie beantwortet sie unsere beiden oben formulierten Fragen an jede Strafgerechtigkeitskonzeption? Beginnen wir mit der zweiten Frage: Warum soll der Staat bestrafen, nicht der einzelne Bürger? Die Antwort hierauf ist aus proportional-reziproker Sicht denkbar simpel: Der Staat soll strafen, weil (und nur solange!) er dies effektiver und gerechter kann, als es menschliche Individuen selbsttätig vermögen. Genauer gesagt soll der Staat Gesetze annehmen und durchsetzen, deren Befolgung eine proportional-reziproke Verteilung der relevanten Güter optimal fördert. Über Bürger, die diesen gerechten Gesetzen nicht gehorchen, sollen Strafen verhängt 57 Vgl.
z. B. Bedau 2004, Rosen 2006. z. B. Mabbott 1939, Mundle 1954, Armstrong 1961, Gendin 1971, Davis 1971/2, Bedau 1978, Day 1978; vgl. Cottingham 1979; kritisch s. Boonin 2008, 85–154, Matravers 2011, Zimmermann 2012. 59 S. z. B. Ross 1930, 56–64; vgl. Morris 1968, Davis 1986, Sher 1987, 69–90, Morris 1991, Dagger 1993; dagegen Murphy 1973, Burgh 1982, Dolinko 1991. 60 Gesamtüberblick speziell über die deutsche Entwicklung bei z. B. Vormbaum 2009. 58 S.
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17. Ein Anwendungsbeispiel: proportional-reziproke Strafgerechtigkeit
werden, weil die Rechtsbrecher disproportionierend agieren. Da idealerweise staatliche Gerichte, Ermittlungs‑ und Vollstreckungsbehörden unparteiischer, regelkonformer und wirksamer die Tatverantwortung, den normwidrigen Charakter eines Tuns und dessen begüterungsbezogenen Folgen beurteilen können (jedenfalls sollten sie dies!), können sie eine gerechtere Strafe verhängen und sie angemessener vollstrecken als das individuelle Bürger tun können. Das grundsätzlich vorhandene allgemeinmenschlich-moralische Recht auf Gerechtigkeitswahrung sollte bei entsprechend schädlichen Taten daher an den Staat delegiert sein. Kommen wir noch zur ersten Frage, nämlich wie das moralische Recht der Strafinstanz zu einer den Täter schädigenden Handlung zu begründen ist. Nach der proportionalen Reziprozität ist auch hierauf die Antwort schlicht und direkt: Der Täter hat durch sein Verbrechen disproportional Begüterung an sich gebracht (subjektives Wohlgefühl, Fähigkeiten, materielle Güter oder was immer) und zugleich dem Opfer disproportionierend Begüterung geraubt. Deswegen ist es moralisch geboten, die Begüterung des Täters zu vermindern und die des Opfers zu verbessern. Die öffentlichrechtliche Strafe hebt auf das erste ab, der zivilrechtliche Schadensersatz auf das zweite. Das genauere Maß der Strafe lässt sich nur im Hinblick auf die aus der jeweiligen Vorgeschichte der Beteiligten resultierenden Verdienste und deren Begüterungsprofile ableiten, wie ja formal oben vorgeführt. Was fangen wir mit dieser geradlinigen aber unverkennbar noch vagen Strafgerechtigkeitsvorstellung an? Wir können erproben, ob sie wichtige Bestandteile der westlichen Strafinstitution in ihrer Idealform erklären kann. Wenn ja, wäre dies ein erheblicher Gewinn, trotz der Probleme mit der Realform der Strafinstitution. Die Rechtspraxis der staatlichen Strafe in den meisten westlichen Nationen wirkt nämlich inzwischen de facto nicht nur weder vergeltend, stark präventiv noch gar resozialisierend.61 Sie wird infolgedessen auch in der Öffentlichkeit oft als letztlich unzureichend gerecht wahrgenommen.62 Überdies wird staatliche Strafe, wie gesagt, von der zeitgenössischen Philosophie auch de iure kaum kohärent erklärt. Die staatliche Strafe hängt in ihrer gegenwärtigen Verfassung somit moralisch gewissermaßen in der Luft, so dass einige Gelehrte philosophischer Provenienz gelegentlich sogar schon ihre Abschaffung fordern – wobei ihnen allerdings die gesellschaftliche Wirklichkeit und deren sozialpsychologische Determinanten außerhalb des universitären Seminarraumes wohl ein wenig aus der Sicht geraten. Wir werden mithin nachstehend in loser Reihenfolge etliche Aspekte proportional-reziproker Strafe diskutieren, die geeignet erscheinen, sie als plausible philosophische Straflehre zu 61 Vgl. z. B. Robinson & Darley 2004, Meier 2007, 256–67, Suhling & Greve 2009, Paternoster 2010, Bock 2013, 307–21, Aronson et al. 2014, 455 ff. 62 S. z. B. Keijser & Elffers 2009; vgl. Tyler 2010.
17.5 Das Schadensprinzip
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erweisen. Manches davon entspricht den üblichen Meinungen; manches lädt zu Reformen ein. Im Zuge dessen gewinnt der Leser jedoch in jedem Fall ein besseres Gefühl für die praktische Seite der proportionalen Reziprozität, soweit sich dies ohne eine befriedigende Lösung des Wertproblems erreichen lässt.
17.5 Das Schadensprinzip Jede Straftat ist nach dem plausiblen und für die Moderne maßgeblichen kriminalphilosophischen Schadensprinzip, wie es zum Beispiel Wilhelm von Humboldt, John Stuart Mill oder heutzutage Joel Feinberg propagieren, eine Schädigungshandlung.63 Es geht im Strafrecht nicht um kleine Misshelligkeiten und Ärgernisse, sondern um die Zufügung ernsten Schadens: zum Beispiel Tötung, Verletzung, gravierenden Eigentumsverlust oder massiv eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Für die proportional-reziproke Gerechtigkeit ist eine strafbare Schädigung gemäß dem Sanktionsprinzip immer der Entzug von Begüterung eines Rechtssubjekts (des Verbrechensopfers), das damit unterhalb des verdienten Niveaus anlangt, bzw. die Vergrößerung der eigenen Begüterung über das verdiente Maß hinaus (des Verbrechers), womit andere Rechtssubjekte gewissermaßen um ihren verdienten Anteil gebracht werden. Leicht zu erklären ist für die proportionale Reziprozität bezogen auf das staatliche Strafrecht, dass nicht jede Verminderung der Begüterung eines Anderen strafbar ist: es sind nämlich diejenigen straffrei, die dem Anderen Begüterung nehmen, die er nicht verdient, etwa wegen vorausgehender Übeltaten seinerseits oder wegen einer Abnahme der Gesamtbegüterung. Die Strafe selbst ist eine moralisch legitime Schädigung aus genau diesem Grunde, ihrer Verdientheit. Das staatliche Strafrecht insbesondere ist übrigens nur genau dann moralisch gerechtfertigt, wenn es tatsächlich effektiver und gerechter als das individualmoralisch eingeschätzte und durchgesetzte Recht auf Bestrafung ist. Wenn der Staat bzw. seine Gesetze ungerecht sind, so ist ein Verstoß gegen die entsprechenden strafbewehrten Gesetze nicht unbedingt moralisch verboten, weil der Staat nicht moralisch begründet ist. In einem gerechten Staat hingegen sind diejenigen disproportionierenden Schädigungen nicht im staatlichen Strafrecht erfasst, deren Bestrafung effektiver und gerechter individuell vollzogen wird. Sicher gilt demzufolge ein staatliches Strafrecht für Tötungsverbrechen, Körperverletzung, Vergewaltigung, Raub, Diebstahl, Betrug, Entführung und ähnliches. Bei leichteren ungerechten Handlungen, etwa Kränkungen, Unfreundlichkeit, kleinsten Sachbeschädigungen, folgenloser Unehrlichkeit oder Ähnlichem gilt es wahrscheinlich nicht. In diesen Fällen ist die individuelle sanktionierende 63 S. Humboldt
1851, 153 ff., Mill 1859, 73–90, Feinberg 1984 ff.
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17. Ein Anwendungsbeispiel: proportional-reziproke Strafgerechtigkeit
soziale Reaktion, wie verbale Zurechtweisung, Ausgrenzung oder Ähnliches, wahrscheinlich angemessener. Staatlich zu bestrafende Handlungen liegen folglich aus proportional-reziproker Perspektive nur bei ernsteren Schädigungen vor, genauso wie es das Schadensprinzip fordert. Dem Schadensprinzip zufolge gibt es bei jeder Straftat einen Geschädigten: Schädigung impliziert einen Geschädigten. Will man die Gruppe der möglichen Geschädigten näher einkreisen, stößt man erneut auf das Wertproblem: erst wenn klar ist, was eine Begüterung ausmacht, kann man definieren, was eine Schädigung ist, und erst dann kann man die Art von Wesen charakterisieren, die aufgrund ihrer Begüterungsfähigkeit auch potenzielle Geschädigte sind. Kann es in einem proportional-reziproken Strafrecht überhaupt opferlose Delikte geben, also Straftaten ohne Geschädigte?64 Die allermeisten opferlosen Delikte sind – um eine im englischen Common Law seit dem fünfzehnten Jahrhundert entwickelte Differenzierung zu mobilisieren65 – sogenannte Mala pro‑ hibita, also Taten, die nur deswegen moralisch verboten sind, weil sie gegen das Gesetz verstoßen. Die sogenannten Mala in se sind hingegen Taten die für sich gesehen moralisch verboten sind und überdies auch illegal. Ein Beispiel für ein opferloses Delikt im Sinne eines Malum prohibitum ist vielleicht die Übertretung eines Geschwindigkeitsgebots von 20 km/h auf einer ansonsten unbefahrenen, höchst übersichtlichen Landstraße. Mala-prohibita-Gesetze kann die proportionale Reziprozität in zweierlei Fällen leicht begründen, nämlich dann, wenn erstens deren Installation einer wohlpro‑ portionierten Güterverteilung direkt oder indirekt dienlich ist. So etwas könnte bei unserer Landstraße nur erklärlich sein, wenn beispielsweise die Gefahr von Unfällen mit Fremdschädigung (z. B. durch unberechenbare Windböen) oder eine andere Rechtssubjekte schädigende Umweltfolge bei Aufhebung des Verbots belegbar ist. Das heißt, opferlose Delikte sind nach dieser ersten Begründung in Wirklichkeit Taten, die nur eine sehr geringe, aber gleichwohl positive Wahrscheinlichkeit haben, auf direktem oder indirektem Wege Opfer zu erzeugen. Zweitens werden manche Mala prohibita durch reine Koordinationsnormen verboten, Normen also, die etwas regeln, bei dem es nicht auf die Ausrichtung der Regelung ankommt, sondern darauf, dass überhaupt eine Festlegung getroffen wird. Ein Beispiel ist der Rechtsverkehr. Ob Rechts‑ oder Linksverkehr auf den Straßen gilt, ist der Sache nach sicherlich gleichgültig, aber dass eine diesbezügliche Festlegung getroffen wird, ermöglicht überhaupt erst einen kollisionsfreien Straßenverkehr samt seinen unbestritten nützlichen Folgen. Immer dann, wenn eine derartige konventionelle Koordination gerechtigkeitsförderliches Handeln ermöglicht, sind die entsprechenden Gesetzesnormen proportional-reziprok gerecht und Verstöße gegen sie moralisch verbindlich im Sinne von Mala prohibita. 64 Vgl. 65 Vgl.
Feinberg 1990, 159–65, Hassemer 2009, 231–34. Blackstone 1765–9 1.Intr.2; vgl. schon Pufendorf 1672, 97.
17.7 Das Liberalitätsprinzip
207
17.6 Das Schuldprinzip Ein weiterer uralter Grundpfeiler der westlichen Rechtskultur ist das Schuld‑ prinzip, dem zufolge nur ein Schädiger bestraft werden darf, der schuldhaft gehandelt hat. Eine Handlung ist schuldhaft verübt, wenn sie dem Handelnden zugeschrieben werden kann, er also die Verantwortung für sie trägt. Dies tut er, wenn er bei Begehung der Handlung selbstbestimmt handelt und keinem vermeid‑ baren Irrtum unterliegt. Wenn er unter Zwang handelt, sich über wesentliche Sachverhalte nicht klar sein kann oder infolge einer psychischen Störung nicht selbstbestimmungsfähig agiert, dann kann keine volle Zurechnung der Handlung erfolgen. (Aufgrund seiner extrem weiten Verbreitung erübrigen sich Literaturbelege für dieses Prinzip; andernfalls kämen hier seitenlange Verweise zustande.) Das Schuldprinzip ist der proportionalen Reziprozität, wie sie hier präsentiert wird, offenbar immanent. Wir haben es Zurechnungsprinzip genannt (s. 7.4): nur die Handlungen von selbstbestimmt handelnden Akteuren ändern deren Verdienstgrad und implizieren Bestrafungen im Sinne von Minderungen der Begüterung. Bei gebotenen Begüterungsminderungen wegen sinkender Gesamtbegüterung oder zum Schadensersatz anderer Rechtssubjekte ist der Unterschied zur Strafe offensichtlich. Insofern kann die proportionale Reziprozität das für das Strafrecht verbindliche Schuldprinzip mühelos begründen. Ein Problem der Bestrafung Unschuldiger besteht nicht. Dies kann anerkennend festgehalten werden, aber wird hier nicht weiter ausgeführt.
17.7 Das Liberalitätsprinzip Aus der proportionalen Reziprozität lässt sich, wie oben dargelegt, das Selbstbestimmungsprinzip als Heuristik ableiten. Für das staatliche Strafrecht bedeutet dies, dass unter der Annahme gegebener Selbstbestimmungsfähigkeit rein selbstschädigende Handlungen nicht strafbar sein können, was man als Liberalitäts‑ prinzip bezeichnen könnte.66 Theoretisch könnte sich ein Akteur natürlich weniger schädigen als es den anderen Rechtssubjekten bei einer zugleich ansonsten wohlproportioniert sinkenden Gesamtbegüterung ergeht, was dann eventuell moralisch strafbar wäre. Diese Komplikation wollen wir aber außer Acht lassen. Damit kann die proportionale Reziprozität einen weiteren Grundpfeiler jedes modernen, tolerant-liberalen, am Schadensprinzip orientierten Rechtsdenkens mühelos erklären. Insbesondere ist ein gesetzlich-strafbewehrtes Verbot des Suizids ausgeschlossen, insofern dieser selbstbestimmt vollzogen wird und keine Dritten beeinträchtigt. Dies entspricht der modernen Bewertung von Suiziden, 66 Vgl.
Feinberg 1986.
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17. Ein Anwendungsbeispiel: proportional-reziproke Strafgerechtigkeit
die sich nach der moralischen Verdammung der Selbsttötung im Christentum wieder dem toleranten antiken Verständnis annähert.67 Die letzten drei Abschnitte kann man in einem Satz zusammenfassen: Ein durch einen selbstbestimmt agierenden Schädiger hinreichend wahrscheinlich Geschädigter muss bei jeder Straftat vorhanden sein, aber der Geschädigte darf nicht identisch mit dem Schädiger sein.
17.8 Schadensersatzpflicht Schadensersatz zielt auf den Geschädigten, das Opfer, und soll dessen Schaden ausgleichen. Zum Schädigenden, dem Täter, ist damit nichts gesagt. Schadensersatz hat in der westlichen Rechtstradition seinen Platz im Zivilrecht. Es geht zivilrechtlich typischerweise nicht um schuldhaft begangene Schädigungen, sondern lediglich um eine kausale Verantwortung für Schäden. Eine Bestrafung des Täters ist nicht vorgesehen, sondern er hat lediglich die Verpflichtung, die Schäden des Opfers auszugleichen. Proportional-reziprok gesehen ist nach dem Zurechnungsprinzip eine Strafe des Schädigers dann nicht gerechtfertigt, wenn er nicht selbstbestimmt handelte. Eine kausale Verantwortung für eine Schädigung zieht dann keine Zurechnung nach sich; das Verdienst des Betreffenden bleibt also unangetastet. Gleichwohl soll der Schaden ausgeglichen werden, da der Geschädigte auch ohne schuldhaftes Handeln einer Person disproportionierend Begüterung verloren hat. Im ZweiPersonen-Fall müsste der Täter dazu vermutlich Begüterung abgeben, um die Güterproportionalität wiederherzustellen. Gesellschaftlich sind jedoch aufgrund der mangelnden Zurechenbarkeit offensichtlich auch Versicherungsmodelle möglich, die einen Schadensersatz kollektivieren. Eine besonders interessante Folge der proportionalen Reziprozität ist die unmittelbare Auswirkung von Schadensersatz auf das Strafmaß bei zurechenbaren Straftaten (s. 7.6, 15.5). Wenn Schadensersatz nämlich möglich ist und geleistet wird, dann sinkt nach dem Sanktionsprinzip das gerechte Strafmaß: die Proportionalität der Begüterung ist dann auf einem für den Täter höheren Begüterungsniveau zu gewährleisten, wie oben exemplarisch gezeigt. Strafrechtspolitisch könnte man daraus ableiten, dass ein mildes Strafrecht immer dort möglich ist, wo ein Schadensersatz durch den Täter oder Andere sichergestellt werden kann. Die starke Zentrierung des westlichen Strafrechts auf den Täter ist folglich aus proportional-reziproker Gerechtigkeitssicht kritisch zu hinterfragen.68 Zwar verdient der Täter ohne Zweifel Strafe, aber das Opfer verdient auch Entschädigung. Und die Strafe des Täters kann gelinder ausfallen, 67 S. Minois 68 Vgl.
1996. Fletcher 1999, Hassemer 2009, 229–62.
17.9 Gefährdersicherung
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wenn er den angerichteten Schaden soweit wie möglich wiedergutmacht. Ein humanes Strafrecht gebietet also aus proportional-reziproker Sicht einen optimierten Schadensersatz bei Verbrechensopfern. Dabei könnte die traditionelle und rechtsdogmatisch gut fundierte Trennung von Zivil‑ und Strafrecht eventuell überrraschend hinderlich sein.
17.9 Gefährdersicherung Die Sicherung der moralischen Gemeinschaft vor voraussehbaren Gefährdern ist offenbar moralisch problematisch: solange jemand noch nichts getan hat, ist seine Schädigung zum Schutz vor künftigen Übeltaten nicht einfach zu rechtfertigen. Dies gilt ganz allgemein, aber besonders auch für ein moralisches Prinzip wie die proportionale Reziprozität, das den individuellen Verdienstgrad rückblickend festlegt. Der künftige Übeltäter hat vor seiner Übeltat anscheinend ein ungemindertes Verdienst. Infolgedessen ist die Sicherung von Gefährdern zum Beispiel im deutschen Recht konsequenterweise Teil des Polizei‑ bzw. Maßregelgesetzes, nicht des Strafrechts. Die proportionale Reziprozität erklärt die intuitive Bewertung von solchen Fallkonstellationen gleichwohl sehr gut. Eine Sicherungsmaßnahme ist aus ihrer Sicht nur dann wohlproportionierend, wenn (i) der Gefährder mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit straffällig werden wird und wenn (ii) die Sicherungsmaßnahme ihm möglichst wenig Begüterung abnimmt, also so wenig beein‑ trächtigend wie möglich durchgeführt wird. Die erste Bedingung ergibt sich daraus, dass es moralisch verpflichtend ist, wohlproportionierte Güterverteilungen zu sichern. Wenn jemand nahezu sicher die Verdienstproportionalität der Begüterung zerstören wird, ist eine proaktive Verhinderung dessen legitim, ohne dass er bereits verdienstrelevant gehandelt hat. Bei einer solchen proaktiven Sicherungsmaßnahme ergibt sich aber auch die zweite Bedingung, weil der künftige Täter zwar an seinem ungerechten Beginnen legitimerweise zu hindern ist, aber eine verdienstproportionale Begüterungsminderung noch nicht begründet ist. Die Sicherungsmaßnahme sollte also so wenig beeinträchtigend wie möglich durchgeführt werden. Sie ist damit analog einer Quarantäne zu gestalten und ist keine Strafe im eigentlichen Sinne. Der laut Aristoteles von Kleisthenes eingeführte Ostrakismos im Athen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts war eine gefahrenabwehrende Praxis in diesem Sinne.69 Beim Ostrakismos („Scherbengericht“) wählten die Bürger Athens bekanntlich anonym Personen für eine zehnjährige Verbannung aus, die ihnen aufgrund ihres Ehrgeizes und ihrer Macht als gefährlich für die 69 S. Aristoteles
Ath. 54 ff., ders. Pol. 1284a f.; vgl. Walzer 1983, 384–87.
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17. Ein Anwendungsbeispiel: proportional-reziproke Strafgerechtigkeit
Demokratie erschienen. Außer der Verbannung blieben die Ostrakizierten jedoch völlig unbeeinträchtigt in Vermögen und Ehre. Bei Fällen mit offener Androhung von Gewalt bzw. Unrecht sieht die Sache jedoch anders aus. Bei ihnen wirkt sich die Drohung selbst aufgrund der Furcht und Wut der Bedrohten und wohlwollender Umgebungspersonen disproportionierend aus. Daraus ergibt sich eine Verdienstminderung des Drohenden. In solchen Fällen kann eine Bestrafung des Täters also mit seiner Sicherung durch Inhaftierung oder andere Maßnahmen gut verbunden werden.
17.10 Wiedervergeltung Rechtshistorisch prominent und eine Heuristik der proportionalen Reziprozität ist das heutzutage in der westlichen Jurisprudenz weithin in Ungnade gefallenen Prinzip der Wiedervergeltung, die Talion (s. 17.3, 15.6). Dieses Prinzip will dem Täter mit der Strafe das zufügen, was er dem Opfer mit dem Verbrechen zufügte. Wie oben bereits kurz angedacht, ist eine strafende Schädigung im gleichen Maß wie die verbrechensbedingte Opferschädigung nur dann proportional-reziprok gerecht, wenn das Opfer zugleich voll entschädigt wird und der Täter gleichverdient zum Opfer war. Beides ist in der Realität nicht selbstverständlich. Der proportionalen Reziprozität folgend sollte eine Strafgesetzgebung unter anderem aber genau darauf achten: die Vorgeschichte des Täters und den erreichten Zustand des Opfers. Je übler die Vorgeschichte und je weniger entschädigt das Opfer, desto talionsüberschreitend härter sollte die Strafe ausfallen. Auf der anderen Seite muss natürlich die Selbstbestimmungsfähigkeit des Täters bedacht werden: je geringer diese unter den talionslegitimierenden äußeren Umständen, desto talionsunterschreitend milder sollte die Strafe ausfallen. In Erinnerung gerufen werden soll an dieser Stelle allerdings erneut, dass es proportional-reziprok auch bei Talionsstrafen eigentlich nie um buchstäbliche Wiedervergeltung geht, sondern nur um die Wertgleichheit von Aktion und Re‑ aktion. Und diese ist bei ausreichendem Schadensersatz und nicht vorbelastetem aber selbstbestimmt handelndem Straftäter eine gute, wenn auch größtenteils intuitive Orientierung für das gerechte Strafmaß im Rahmen einer richterlichen Strafzumessung.
17.11 Abbüßungsrecht Die in der aktuellen Kriminaljustiz weitgehend unbeachtete frühkantianische Idee (s. o. 17.3) eines Abbüßungsrechts will dem Sträfling die Möglichkeit garantieren, durch besondere Leistungen seine bürgerlichen Rechte zurückzugewinnen. Neben der stets indizierten zwangsweisen Erduldung der Strafmaßnahme sollen
17.12 Todesstrafe und grausame Strafen
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zumindest bestimmte Sträflinge im gerechten Strafgesetz die Gelegenheit für eine darüber hinausgehende freiwillige Abbüßung erhalten. Auch dieses Konzept ist proportional-reziprok gut erklärlich. Ein Straftäter hat durch seine Straftat Verdienst verwirkt. Er kann dieses aktiv nur durch gerechtes Handeln mit großer Anstrengung wieder steigern. Bloß normgerechtes Verhalten reicht ja nicht aus, um Verdienst hinzu zu gewinnen. Straftätern eine Abbüßung zu ermöglichen, hieße beispielsweise, Inhaftierten zu gegebener Zeit die Chance zu eröffnen, über eine bestrafende Haft hinaus sozial wichtige Tätigkeiten zu vollziehen, die mit großer Mühe verbunden sind. Durch diese Tätigkeiten könnten sie gleichsam einen Teil ihrer Schuld abarbeiten.
17.12 Todesstrafe und grausame Strafen Die Todesstrafe ist über viele Jahrhunderte in allen bekannten Kulturen eine völlig selbstverständlich eingesetzte Strafmaßnahme gewesen.70 Dies gilt uneingeschränkt auch für die christlich geprägten europäischen Rechtskulturen seit der Spätantike.71 Erste kritische Stimmen erklangen in der Aufklärungszeit ab dem achtzehnten Jahrhundert.72 Eine zunehmende öffentliche Ablehnung erfuhr die Todesstrafe dann jedoch erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, wahrscheinlich unter anderem infolge der mahnenden Erfahrung mit totalitären Regierungen, wie im deutschen Nationalsozialismus oder russischen Stalinismus, die diese Sanktionsform ideologiegeleitet im politischen Strafrecht einsetzten.73 Seit den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts haben die allermeisten westlichen Staaten mit Ausnahme der USA die Todesstrafe de facto oder gar de iure abgeschafft.74 Alternativ ist für schwere Verbrechen die erst in der Moderne häufiger eingesetzte Inhaftierung nach und nach die durchgängig übliche Strafsanktion geworden.75 In den Bevölkerungen der westlichen Staaten sinkt parallel dazu langsam die Befürwortung der Todesstrafe, obgleich bis heute selten mehr als die knappe Hälfte der Bürger in Befragungen sie grundsätzlich ablehnen.76 Philosophisch gesehen bereitet eine Legitimation dieser trendgemäßen Ablehnung von Todesstrafen durchaus beträchtliche Probleme.77 Jede gelungene Strafbegründung löst nämlich das oben genannte Problem der Rechtfertigung der schädigenden Ungleichbehandlung von Verbrechern. Damit sind aber die 70 Umfassende
historische Darstellung für den deutschen Sprachraum: Evans 2001. 2003; vgl. Finnis 1998, 279–84. 72 S. z. B. Heepe 2008. 73 Weitere Hintergründe bei Pinker 2011, 204–38. 74 Ungewöhnlich ist indes die Aufnahme der Abschaffung der Todesstrafe als eigener Artikel 102 ins Grundgesetz der jungen Bundesrepublik Deutschland; vgl. Evans 2001, 923–40. 75 S. Krause 1999. 76 Vgl. Unnever & Cullen 2009. 77 S. Brooks 2012, 151–72. 71 S. Megivern
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17. Ein Anwendungsbeispiel: proportional-reziproke Strafgerechtigkeit
allgemeinen moralischen Argumente gegen die Tötung von Menschen – ihr Lebensrecht, die Nichtschädigungspflichten ihnen gegenüber oder was auch immer –, die gegen die Todesstrafe mobilisiert werden können, zunächst wirkungslos: jede gelungene moralische Strafbegründung erklärt ja genau den Grund, warum man Verbrechern etwas antun darf oder soll, was ansonsten infolge dieser allgemeinen moralischen Argumente verboten wäre. Die üblichen moralischen Argumente sind also angesichts der gerechten Strafe außer Kraft gesetzt. Will man begründen, warum man Verbrechern strafweise andere Schädigungen (z. B. Inhaftierung) zufügen aber sie dennoch nicht töten darf, so muss dafür eine gesonderte Erklärung geleistet werden. Zwei herausragend wichtige solche Erklärungen gibt es, die Irreversibilität und die Grausamkeit von Todesstrafen. Betrachten wir sie der Reihe nach. i) Das Argument aus der Irreversibilität besagt, dass eine Todesstrafe im Falle eines Fehlurteils nicht mehr rückgängig zu machen ist.78 Dies sei beispielsweise bei Haftstrafen anders, da könne man den Häftling ja gegebenfalls freilassen und finanziell entschädigen. ii) Das Argument aus der Grausamkeit besagt, dass jede Begründung der Todesstrafe offenbar nicht nur schmerzlose Tötungen, sondern auch qualvolle Bestrafungs‑ und Tötungsprozeduren rechtfertigen kann. Wenn ein schlimmes Verbrechen vergolten oder andere davon abgeschreckt werden sollen, so seien ja grausame Tötungen oder Folterstrafen eventuell noch passender oder wirksamer. Und diese potenzielle Begründung von Folterstrafen durch die Todestrafenbegründung wird als Reductio-ad-absurdum jeder die Todestrafe befürwortenden Argumentation angesehen. Wie steht die proportionale Reziprozität zur Todesstrafe bzw. zu Folterstrafen? Zunächst ist sie grundsätzlich – wie jede effektive Strafbegründung! – gut geeignet, Todesstrafen und grausame Strafen zu legitimieren. Wenn der Täter sein Opfer selbstbestimmt handelnd entsprechend hart geschädigt hat – getötet, gefoltert oder gar beides – wird in der Regel sein Verdienstgrad auf Null herabgesenkt, was ja bedeutet, dass ihm Schlimmes angetan werden muss. Wie geht die proportionale Reziprozität angesichts dessen aber mit den beiden augenscheinlich nicht unvernünftigen Kritikpunkten an der Todesstrafe um?79 ad i) Das Argument von der Irreversibilität ist recht besehen eine mä‑ ßigende, aber keine die Todesstrafe kategorisch bekämpfende Überlegung. Wie jedes menschliche Handeln fußt die Verurteilung eines Verbrechers auf Wahrscheinlichkeitsurteilen. Diese beziehen sich auf die Verantwortung des Verbrechers für die Tat. Falls die Verantwortung des Verbrechers über jeden Zweifel erhaben ist – zahlreiche unbescholtene Zeugen etc. –, dann gibt es jedoch keinen 78 S.
schon Bentham 1789, 199 f., Primoratz 1989, 164 ff. verteidigte die Todesstrafe in einer berühmten Parlamentsrede mit dem ungewöhnlichen Argument als utilitaristisch optimal, dass sie weniger grausam als eine lebenslange Haftstrafe sei, aber den Menschen als grausamer erschiene, s. Mill 1868. 79 J. S. Mill
17.12 Todesstrafe und grausame Strafen
213
vernünftigen Grund, die Bestrafungsmaßnahme reversibel zu gestalten. Falls hingegen trotz begründeter Annahme der Täterschaft Zweifel bestehen – reine Indizienketten, ohne Zeugen etc. –, dann ist eine Strafform zu bevorzugen, die der Möglichkeit Rechnung trägt, dass entlastende Informationen auftauchen könnten. Dem Verbrecher würde dann vermutlich sinnvollerweise die schwerste noch zu entschädigende Strafe zugefügt, etwa lebenslange Haft. Hierdurch entsteht allerdings eine gewisse Disproportionalität: falls zwei Verbrecher ceteris paribus das Gleiche getan haben, so wird der Verbrecher, dessen Täterschaft weniger wahrscheinlich ist, offenbar weniger verdienstproportional geschädigt. Da die Urteilsinstanz aber die massive Disproportionalität der harten Bestrafung eines Unschuldigen dagegenrechnen muss, ist diese potenzielle Ungerechtigkeit proportional-reziprok gesehen unter bestimmten Bedingungen schlicht nicht zu vermeiden. ad ii) Bezüglich grausamer Strafen hat die proportionale Reziprozität angesichts von sicher ermittelten Tätern grausamer Verbrechen keine grundsätzlichen, auf den Täter bezogenen moralischen Skrupel, ihm das anzutun, was er seinem Opfer antat. Es gibt allerdings mäßigende Überlegungen bezogen auf die strafvoll‑ ziehenden Personen. Keinem psychisch normal entwickelten Justizangestellten ist zuzumuten, einen anderen Menschen strafweise zu foltern oder gar zu Tode zu quälen. Für die allermeisten Menschen wäre dies wahrscheinlich eine abscheuliche und hochgradig traumatisierende Erfahrung. Selbst diejenigen, die bereit wären, derartige Maßnahmen durchzuführen, würden sich entweder überschätzen oder wären ohnedies in einer Weise sadistisch-pathologisch persönlichkeitsverändert, die sie in dieser Hinsicht nicht als ausreichend selbstbestimmt erscheinen ließe und ihr Wohlbefinden bei der Maßnahme als moralisch wertlos oder gar schädlich erwiese. Das heißt, eine aus der Sträflingsqual resultierende Befriedigung oder die infolge Empathielosigkeit gleichbleibende Gemütslage kann nicht als legitime Begüterung der Strafenden betrachtet werden. Insbesondere wäre beim Strafpersonal vermutlich eine Erosion seiner Sozialisierung mit negativen Folgen für Dritte zu erwarten. In der gegenüber grausamen Strafen sehr aufgeschlossenen mittelalterlichen Kultur Europas spiegelten sich diese Bedenken im zwiespältigen sozialen Status der sogenannten Unehrlichkeit der Henker und ihrer Angehörigen wieder.80 Die Angehörigen der unehrlichen Berufe (außer den Scharfrichtern v. a. Abdecker) erfuhren von ihren „ehrlichen“ Mitbürgern eine ungare Mischung aus einerseits Angst, Abneigung und Ausgrenzung sowie andererseits Bewunderung und Anerkennung. Kurz gesagt: grausame Strafen sind nicht ohne Schädigung der Strafvollziehenden (oder bereits vorgeschädigte Strafvollziehende) machbar; daher sind sie in der Regel auch nicht proportional-reziprok gerecht, wenngleich bei entsprechenden Delikten keine auf den Täter bezogenen Gründe gegen sie sprechen. 80 S.
van Dülmen 1995, 91–97, Evans 2001, 87–97, Schild 2010, 163–68.
214
17. Ein Anwendungsbeispiel: proportional-reziproke Strafgerechtigkeit
Diese Einschränkung gilt jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit nicht für einigermaßen ungrausam durchgeführte Todesstrafen, die ohne Entwürdigung und exzessive Schmerzufügung auskommen. Eine grundsätzliche Gegnerschaft zur Todesstrafe ist mithin aus der proportionalen Reziprozität keinesfalls zu begründen. Ob man das letztlich als Empfehlung dieses Gerechtigkeitsprinzips ansehen möchte oder nicht, muss hier offen bleiben.
17.13 Therapie und Resozialisierung Im modernen Strafrechtsdenken nimmt die Resozialisierung einen prominenten Platz ein. Und tatsächlich ist die Resozialisierung eines (nicht zur Todesstrafe oder tatsächlich lebenslanger Haft) verurteilten Straftäters allein schon zur Verhinderung weiterer Straftaten unbestritten in den meisten Fällen im Hinblick auf das zu fördernde Gemeinwohl entscheidend. Resozialisierung ist infolgedessen banalerweise Bestandteil einer jeglichen human-lebenspraktisch orientierten Strafrechtslehre. Die proportionale Reziprozität geht mit diesem Ansatz demgemäß entgegenkommend um. Auch proportional-reziprok ist eine Verhinderung weiterer Verbrechen ein wichtiges und vernünftiges Ziel staatlichen Handelns. Und Maßnahmen zur Resozialisierung von Tätern sind somit geboten. Im Unterschied zu einer reinen Resozialisierungslehre muss aber vor jeglicher Resozialisierungs‑ bemühung die gerechte Bestrafung des Täters erfolgen. Nur durch adäquate Schädigung des Täters entsteht Verdienstproportionalität der Begüterung. Eine strafbegleitende Resozialisierung kann daher nicht mit einer großen Steigerung der Begüterung des Sträflings einhergehen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Strafvollstreckung im Falle von Haftstrafen zeitlich in jedem Fall besser vor der Resozialisierung liegen muss. Strafmaßnahmen, die in der Art von „Boot-Camps“ die Entwicklung von prosozialem Verhalten und höherer Selbstkontrolle durch unangenehme Maßnahmen fördern, können offensichtlich durchaus proportional-reziprok legitim sein. Nicht proportional-reziprok wäre indes eine Strafsanktion schwerer Verbrechen, die den Täter völlig ungeschädigt lässt, auch wenn sie ihn erfolgreich resozialisiert. Und dies steht offenbar im Einklang mit den empirisch erhobenen Urteilen westlicher Probanden in entsprechenden sozialpsychologischen Untersuchungen.81 Insbesondere Bewährungsstrafen sind demnach nur bei wenigen Delikten begründbar, etwa im Bereich des Jugendstrafrechts, wo die Selbstbestimmungsfähigkeit der Delinquenten oft noch nicht als voll entwickelt angesehen werden kann, was die Zurechenbarkeit einer Schädigungshandlung und damit das Strafmaß senkt. 81 S. Van
Prooijen 2018, 239–46.
17.15 Verbrechensprävention
215
17.14 Wiederholungstäter Kriminologisch stellen Wiederholungstäter („Gewohnheitsverbrecher“) die Mehrheit der Häftlinge im Strafvollzug westlicher Nationen. Sie sind somit ein ernstes gesellschaftliches Problem. Ohne Zweifel greifen für dauerhaft Kriminelle rein strafrechtliche Bewältigungsstrategien selbst bei vorhandener Todesstrafe viel zu kurz. Welcher Umgang mit ihnen folgt aus der proportionalen Reziprozität? Wiederholungstäter werden zumeist einen niedrigen und durch die wiederholten Straftaten noch sinkenden Verdienstgrad haben. Gemäß der Verdienstdynamik der proportionalen Reziprozität bedeutet dies grundsätzlich, dass Wiederholungstäter härter bestraft werden müssen als zuvor unbescholtene Ersttäter. Wie das genau aussieht, kommt natürlich auf den Einzelfall an. Aber Rechtspraktiken wie die Verhängung sehr langer Haftstrafen für häufige Wiederholungen auch nur mittelgradig schädlicher Straftaten (z. B. „Three-strikes-andyou’re-out“-Gesetze, wie aktuell in etlichen US-Bundesstaaten) finden hier eine mögliche moralische Begründung, wenn sie denn angemessen gestaltet sind.82
17.15 Verbrechensprävention Die Prävention von Verbrechen ist ein im Grunde völlig unstrittiges Ziel staatlichen Handelns. Offen ist eigentlich nur die Art des Einbezugs in die philosophische Strafrechtslehre. Punitive Prävention kann man dessenungeachtet in zweierlei Hinsicht differenzieren. Einerseits gibt es die Individualprävention bezogen auf den Täter und die Generalprävention bezogen auf alle anderen Bürger. Andererseits gibt es die sogenannte negative Prävention durch Abschreckung und die sogenannte positive Prävention durch anderweitig erzielte Motivation zum Gesetzesgehorsam. Todesstrafe und (tatsächlich) lebenslange Haftstrafen wirken vollkommen individualpräventiv, da dem Sträfling idealerweise jegliche Möglichkeit für weitere Verbrechen genommen wird. Bei allen anderen Strafformen ergibt sich die Frage ihrer die Normadhärenz motivie renden Wirkung. Psychologisch gesehen muss man dabei zwischen intrinsisch und extrinsisch zur Normadhärenz motivierten Normadressaten unterscheiden. Intrinsisch Motivierte befolgen eine Norm um ihrer selbst willen; extrinsisch Motivierte befolgen sie zur Erlangung eines weiteren Ziels, etwa des persönlichen Nutzens oder einer Straflosigkeit. Beim Strafrecht gibt für intrinsisch Motivierte wahrscheinlich die inhaltliche und prozedurale Gerechtigkeit der Strafgesetzesnormen 82 Vgl. Robinson & Robinson 2015, 164–88, zu Entgleisungen des aktuellen us-amerikanischen Systems.
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17. Ein Anwendungsbeispiel: proportional-reziproke Strafgerechtigkeit
und ‑institutionen den Ausschlag für die Normadhärenz (s. o. 3.5). Wenn ein Strafgesetz als gerecht gestaltet und durchgesetzt wahrgenommen wird, so stärkt dies die persönliche Gesetzestreue. Wie wir oben bereits gelernt haben, heißt dies vor allem, dass kriminaljuristisch eine Proportionalität von Strafhärte und Verbrechensschwere beachtet werden muss. Eben dafür bietet die proportionale Reziprozität einen brauchbaren theoretischen Rahmen. Es ist also davon auszugehen, dass ein proportional-reziprok gestaltetes Strafrecht eine hohe po‑ sitiv-generalpräventive Wirksamkeit entfaltet: nicht die Furcht vor einer Strafe, sondern die anerkannte Gerechtigkeit des geltenden Strafgesetzes veranlasst die intrinsisch motivierten Bürger zur strafrechtlichen Normadhärenz bzw. bestärkt sie darin.83 Zu diesem Zweck muss über die inhaltliche Gerechtigkeit des Strafrechts hinaus auch die regelmäßige Durchsetzung gerechter Gesetze für jeden Bürger erkennbar sein. Dies sollte wahrscheinlich nach aktuellem Kenntnisstand unter anderem eine spürbar dichte polizeiliche Präsenz mit daraus folgender Ahndung auch von bagatellhaften Störungen der öffentlichen Ordnung beinhalten. Auf entsprechenden empirischen Befunden zur sogenannten „Broken-windows“These fußend84 wurde ein solches „zero-tolerance“-Konzept mit zum Teil eindrucksvollem Erfolg in verschiedenen us-amerikanischen Städten angewandt.85 Eine demgegenüber rein verbrechenspräventiv legitimierte, abschreckend gedachte Strafrechtsordnung könnte bei intrinsisch rechtstreu Motivierten sogar die Normadhärenz unterminieren.86 Dieser sogenannte Verdrängungseffekt ist bei Entlohnungsschemata vielfach bestätigt87, wenn auch in seiner genauen Ausprägung nicht unumstritten88. Sein Hintergrund könnte eine motivationspsychologisch ungünstige Selbstzuschreibung nichtmoralischer Motive infolge einer entsprechend begründeten und gestalteten Norm sein.89 Der Verdrängungseffekt erklärt überdies vermutlich zu einem gewissen Teil, warum wir manche Aktivitäten nicht monetär bewerten und vergüten bzw. mit einem Preis versehen wollen, also beispielsweise Erziehungsleistungen, Lernleistungen oder gesunden Lebenswandel.90 Anders sieht die Sache für extrinsisch Motivierte aus. Unterstellt man diesen einen vernünftigen Egoismus, dann gibt offenbar die wahrgenommene Wahrscheinlichkeit, eines Verbrechens überführt zu werden, multipliziert mit der 83 S. Baurmann 1994, Robinson 2006, ders. 2013, 152–75, Tyler 2010; vgl. Hassemer 2009, 96–113, Van Prooijen 2018, bes. 38–46. 84 S. Wilson & Kelling 1982; vgl. Meier 2007, 52–55, Bock 2013, 315–18. 85 S. Robinson & Robinson 2015, 153 ff. 86 S. z. B. Mooijman et al. 2016; Hintergründe s. Rudolph 2003, 198–201, Jonas et al. 2007, 259–62, Bowles 2016. 87 S. Deci et al. 1999. 88 S. Cameron et al 2001. 89 Vgl. Aronson et al. 2014, bes. 191–99. 90 Beispiele diskutiert Sandel 2012; vgl. Walzer 1983, 153–61.
17.16 Moralisches Strafrecht
217
Härte der Strafe den Ausschlag bei der Entscheidung für oder gegen ein Verbrechen. Tatsächlich fällt den meisten Menschen eine Prognose des Effekts künftiger Umstände auf ihr Wohlergehen allerdings sehr schwer91, was derartige Vernunftserwägungen problematisch macht. Retrospektiv gesehen ergibt sich die subjektiv vom Sträfling bewertete Härte speziell von Haftstrafen wahrscheinlich auch nicht so sehr durch die Länge, sondern durch die unangenehmeste und die letzte Episode der Gesamtstrafe.92 Abschreckend intendierte Strafgesetze müssen aus dieser Perspektive nichtsdestoweniger umso härter ausfallen, je geringer die Ermittlungserfolge in der entsprechenden Gesellschaft sind. Weil proportional-reziprok gesehen aber nicht die genannten Randbedingungen sondern die Verdienstdynamik den Ausschlag gibt, ist nicht ein für alle Mal festgelegt, wie vernünftig-egoistisch abschreckend proportional-reziproke Strafgesetze sind. Bei Verbrechen ohne die Möglichkeit eines vollen Schadensersatzes für das Opfer fällt die gerechte Schädigung eines Täters für ihn allerdings deutlich härter aus, als seine Schädigung des Opfers. Und damit steigt zumindest bei solchen Verbrechen die vernünftige Abschreckung selbst bei nicht sehr großer Überführungswahrscheinlichkeit. Dies gilt offensichtlich vor allem bei nichteffizienten Verbrechen, wo der Täter also gleichviel oder weniger Nutzen aus dem Verbrechen zieht, als er dem Opfer abnimmt. In der Realität sind allerdings die Verbrechensmotive bei den meisten schweren Delikten in aller Regel nicht vernünftig-egoistisch wohlkalkuliert, sondern resultieren aus Impulsivität und Empathiemangel, gegebenfalls durch Alkohol‑ oder Drogeneinfluss oder gar ideologische Faktoren gefördert. Infolgedessen ist eine Abschreckung durch das Strafrecht ohnedies in sehr vielen Fällen gar nicht möglich. Verbrechenspräventive Bemühungen müssen folglich viel umfassender gedacht werden und betreffen zum Beispiel eher Arbeitsmarkt-, Erziehungs-, Bildungs-, Einwanderungs-, Sozial-, Gesundheits‑ und Drogenpolitik.
17.16 Moralisches Strafrecht Eine Besonderheit von Strafgesetznormen ist ihr enger Bezug zu Moralnormen. Eine tradierte rechtsphilosophische Debatte unterscheidet zwischen Gesetzes‑ normen (positivem Recht) und Moralnormen (Naturrecht). Zwei idealtypische Fraktionen von Rechtsphilosophen werden einander gern gegenüber gestellt: während Gesetzespositivisten Gesetzesnormen rein deskriptiv definieren, charakterisieren Gesetzesmoralisten Gesetzesnormen moralisch.93 Gesetzespositivisten 91 S.
z. B. Loewenstein & Schkade 1999. folgen meist der sog. „Höchststand-Ende-Regel“; s. Kahneman 1999, ders. 2012, 465–75. 93 Zum systematischen Hintergrund s. z. B.: Hart 1961, bes. 255–92, Dworkin 1977, bes. 42– 143, Alexy 1994, Seelmann 1994, 27–88, Finnis 2011, 4–55. 92 Episodenbewertungen
218
17. Ein Anwendungsbeispiel: proportional-reziproke Strafgerechtigkeit
geben rein beschreibende Kennzeichen von Sozialnormen an, die bestimmen, ob die betreffende Norm eine Gesetzesnorm ist. Die ordnungsgemäße Setzung ist dabei ausschlaggebend. Zum Beispiel wird die korrekte öffentliche Anordnung durch eine Herrschaftsinstanz als ein solches Kennzeichen angesehen. Traditionell wurde diese Anordnung schlicht als Befehl des Souveräns gedeutet („Imperativentheorie“)94, heutzutage eher als Ableitung aus bestimmten rechtlichen Verfahrens‑ bzw. Erkenntnisregeln höherer Ordnung95. Gesetzesmoralisten hingegen erkennen in antiker Tradition eine Sozialnorm nur dann als Gesetzesnorm an, wenn sie überdies bestimmten normativen Vorgaben genügt, also zum Beispiel Gerechtigkeit oder Gemeinwohl ausreichend bewahrt oder fördert.96 Aus moralphilosophischer Sicht gewinnt dieser rein begriffliche Streit um Gesetzesnormen im Grunde nur Bedeutung, insofern Gesetzesnormen mit einem moralischen Anspruch auf Gesetzesgehorsam versehen gedacht werden. Der Gesetzespositivist muss diesen moralischen Anspruch einer unabhängig davon zu erkennenden Gesetzesnorm gesondert begründen. Nur Gesetzesnormen, deren moralische Angemessenheit belegt ist, können dann Gehorsam beanspruchen. Der Gesetzesmoralist hingegen sieht zwar bei jeder Gesetzesnorm Gehorsam als begriffsnotwendig moralisch geboten an, er muss aber bei jeder gegebenen Gesetzesnorm nachweisen, dass sie tatsächlich eine solche ist, das heißt, einen gültigen moralischen Standard ausdrückt. Von einer empirischen Warte aus ist wahrscheinlich eine schwache Form von Gesetzespositivismus zu bevorzugen. Gesetzesnormen lassen sich im Hinblick auf ihre variable Setzung durch Herrschaftsinstanzen im Grunde unstrittig von urwüchsigen, von keiner Instanz erlassenen und vergleichsweise statischen alltagsmoralischen Normen abgrenzen. Ein problematischer Zwischenbereich ist allerdings das sogenannte Gewohnheitsrecht, das zwar Gesetz, aber primär nicht gesetzt ist. Insofern besteht ein Kontinuum zwischen reinen Gesetzesnormen über das Gewohnheitsrecht bis hin zur Alltagsmoral. Will man die moralische Wertigkeit von Gesetzesnormen beurteilen, ist überdies der Bezug auf einzelne Normen zumeist irreführend. Vernünftiger ist es, holistisch vorzugehen und ein gesamtes Rechtssystem moralisch zu bewerten. Dies ergibt sich daraus, dass ein großer Teil der staatlichen Gesetze erst in ihrem Zusammenspiel moralisch signifikante Effekte erzielt. Der gesamte Bereich etwa des Prozessrechts, des Verwaltungsrechts und der vielen rein koordinativen Normen, etwa großen Teilen des Verkehrs‑ oder Baurechts, kann erst in Bezug auf die resultierende materielle Rechtsfindung in vielen Einzelfällen und die dadurch bewirkten Ergebnisse beurteilt werden. 94 S. z. B. Hobbes 1642, 135, ders. 1651, 203–22, Pufendorf 1672, 10 f., ders. 1673, 38, Bentham 1789, 330 f., Austin 1832, 9–33. 95 S. Kelsen 1960, 196–282, Hart 1961, 115–72. 96 S. z. B. Cicero Leg. I.42, II.13, ders. Off. II.40, Augustinus Civ. IV.4.
17.16 Moralisches Strafrecht
219
Bestimmte Gesetzesnormen sind allerdings aus diesem moralischen Bewertungsholismus herausgehoben. Besonders eindeutig betrifft dies materielle Strafgesetznormen. Strafgesetznormen sind direkter Ausdruck intuitiv hochgradig verbindlicher Moralnormen. Und Strafnormen gehören wahrscheinlich zu den kulturhistorisch ältesten Sozialnormen des Menschen.97 Schon der große Rechtshistoriker Theodor Mommsen schrieb demgemäß: „… die Strafordnung ist das verstaatlichte Sittengesetz.“98 Dies drückt sich in drei eng zusammenhängenden Eigenschaften des staatlichen Strafrechts aus. Zum einen sind Strafgesetznormen affektiv hoch besetzt: die allermeisten Menschen treffen zur Angemessenheit von Strafgerichtsurteilen und deren gesetzlicher Grundlage rasch klare und zum Teil heftige, affektiv basierte Einschätzungen. Strafgesetze werden als gerecht angesehen, wenn sie diesen Einschätzungen genügen. Zum anderen werden Strafgesetze niemals als so vergleichsweise frei bestimmbar, wie etwa Bau‑ oder Verkehrsrecht angesehen. Zwar können sich Menschen auch über die letztgenannten Fragen trefflich ereifern, aber keinesfalls mit solcher Vehemenz und Entschiedenheit wie beim Strafrecht. Schließlich – und das ist der für uns springende Punkt – manifestiert sich die enge moralische Anbindung der Strafgesetze auch an ihrem hohen subjektiven Verpflichtungsgrad: während kleinere Eigentumsdelikte, Steuerhinterziehung oder Verkehrsdelikte bei vielen Menschen weniger Schuldgefühle (falls sie selbst die Täter sind) bzw. Empörung (falls Andere die Täter sind) hervorrufen, so wird auf ernstere Straftaten mit erheblichem Schuldgefühl oder Entrüstung reagiert. Bei Straftaten ist der Gesetzesbruch unstrittig immer zugleich eine gravierende moralische Verfehlung. Nicht wenige Menschen verkehren mit Anderen, die schwarzfahren, ihre Hundesteuer nicht bezahlen oder Hauswände mit Graffittis besprühen, aber die Mehrzahl der Menschen möchte – unabhängig von den damit für sie persönlich verbundenen Gefahren – nicht mit schweren Straftätern, wie Mördern, Räubern oder Vergewaltigern, in Kontakt stehen und verabscheut sie. Die Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität zu begreifen, erklärt die Moralnähe des Strafrechts gut. Wenige Handlungen haben einen so klar dispro‑ portionierenden Effekt wie Straftaten. Und damit ist die Straftat selbst intuitiv unmittelbar bewertungsleitend. Ein holistischer Blick auf die gesamte Rechtsordnung erscheint kaum notwendig. Zudem sind die Strafgesetznormen in gewisser Weise zur Gerechtigkeitsnorm isomorph, indem sie eine Begüterungsminderung des Täters für dessen begüterungsmindernde Taten verhängen. In hobbesscher Tradition99 werden Strafgesetznormen im deutschen Straf gesetzbuch und anderswo übrigens oft als Befehle an die strafverhängenden und strafvollstreckenden Institutionen formuliert, nicht als Verbote für Bürger: es 97 S. Van
Prooijen 2018, 104–14. 1899, 565 99 S. z. B. Hobbes 1651, 218. 98 Mommsen
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17. Ein Anwendungsbeispiel: proportional-reziproke Strafgerechtigkeit
wird den Strafinstanzen geboten, eine Person, die eine bestimmte Tat begangen hat, in einer bestimmten Form zu behandeln. Die zugrundeliegende an den potenziell straffälligen Bürger adressierte Verbotsnorm bezüglich der bestimmten Tat ist dennoch latent enthalten. Sie wird nicht mehr eigens formuliert, sondern stillschweigend vorausgesetzt. Und dies erscheint genau deshalb gut möglich, weil den zugrundeliegenden Normen eine Selbstverständlichkeit, allgemeine Bekanntheit und universale Geltung unterstellt wird.
17.17 Empirisches und philosophisches Verdienst Wir haben in diesem Buch somit eine abstrakte philosophische Gerechtigkeitsnorm entwickelt, die unter anderem gut geeignet erscheint, die Bemessung und Platzierung staatlicher Strafen angemessen zu begründen. Der Begriff des Verdiensts spielt dabei eine zentrale Rolle. Während diese Konzeption als strukturelle Entfaltung der Gerechtigkeitsidee vieles für sich hat, blieben gleichwohl bei ihrer Anwendung einige Schwierigkeiten bestehen, die sich insbesondere um das Wertproblem drehen, die Schwierigkeit also, genau zu bestimmen, was die Begüterung von Rechtssubjekten ausmacht. Von dem bereits mehrfach zitierten Strafrechtler Paul H. Robinson und seiner Arbeitsgruppe gibt es in diesem Punkt einen interessanten, methodisch und inhaltlich elaborierten, jedoch eng auf das Strafrecht begrenzten Vorschlag.100 Auf seine Anwendbarkeit im aktuellen deutschen Strafrecht hin wird dieser Ansatz etwa von Tobias Andrissek untersucht und befürwortet.101 Robinson legt sich strafphilosophisch im Einklang mit unseren Ausführungen auf die Idee fest, dass eine gerechte Strafe durch das Verdienst („desert“) des Straftäters festgelegt ist. Bei verantwortlich begangenen, unberechtigten Schädigungen soll der Täter demnach proportional zur moralischen Schwere der Schädigung („blameworthiness“) bestraft werden. Robinson unterscheidet dabei allerdings zwischen philosophischen („deontological desert“) und empirischen („empirical desert“) Verdienstkonzepten.102 Philosophische Verdienstkonzepte leiten aus einer moralphilosophischen Grundlagennorm die konkreten, gerechtigkeitssichernden Bestimmungen des Strafgesetzes ab. Die im vorliegenden Buch präsentierte philosophische Moralnorm ist das nächstliegende Beispiel eines solchen Verdienstkonzepts. Empirische Verdienstkonzepte hingegen sind nicht aus abstrakten philosophischen Normen abgeleitet, sondern aus den faktisch gegebenen Bewertungen konkreter Straftatbestände durch Mitglieder einer Gemeinschaft oder Gesellschaft. Während beim philosophischen Verdienst also die 100 S.
z. B. Robinson 2013; ähnlich schon Davis 1983. 2017. 102 S. Robinson 2013, bes. 164–67. 101 S. Andrissek
17.17 Empirisches und philosophisches Verdienst
221
allgemeine philosophische Konzeption die Strafzumessung bestimmt, tut dies beim empirischen Verdienst schlicht die sozialpsychologisch erhobene, einzelfallbezogene alltagsmoralische Einschätzung. Idealerweise korrelieren natürlich beide Herangehensweisen. Bei einer philosophischen Konzeption wie der unseren, die ohnehin stark alltagsmoralisch fundiert ist, ist eine solche Korrelation auch keineswegs unwahrscheinlich. Robinson verficht indes resolut eine rein empirische Verdienstkonzeption, da aus seiner Sicht nur eine solche die gefühlte Gerechtigkeit einer staatlichen Strafrechtsordnung und damit die Gesetzestreue einer Mehrzahl der Bürger sicherstellt (vgl. 17.15). Demzufolge legt er nahe, von einer vorgegebenen Höchststrafe (Tod, lebenslange Haft, mehrere Jahre Haft) ausgehend systematisch die entsprechenden Intuitionen zu erheben und das gesetzliche Strafmaß an der resultierenden Stufenfolge zu orientieren. Wie ist dieser robinsonsche Vorschlag aus Sicht der proportionalen Reziprozität zu bewerten? Er ist ganz eindeutig zu begrüßen! Drei Annahmen machen ihn für die proportionale Reziprozität interessant. Die erste Annahme besagt, dass bei der moralisch-punitiven Bewertung im Gesetz definierter Tatbestände vom intuitiv Bewertenden viele proportional-reziprok verdienstrelevante Faktoren ausreichend valide erfasst werden können. Die zweite Annahme besagt, dass die proportionale Reziprozität beim gegenwärtigen Stand der Werttheorie ohnehin unvermeidlich auf intuitive Bewertungen von Begüterungen (bzw. Schädigungen oder Bereicherungen) angewiesen ist. Die dritte Annahme besagt, dass Strafgesetze nur ganz allgemein gefasste Straftatbestände formulieren können, die insofern nur auf typische Fälle, aber nicht auf konkrete Einzelfälle zutreffen. Daher ist ohnedies lediglich eine sehr grobe Bewertung möglich. Und diese treffen die meisten Menschen innerhalb der westlichen Kultur anscheinend sogar recht ähnlich (s. o. 3.5). Will man daher ein proportional-reziprokes Strafgesetz verfassen, ist die robinsonsche Idee, Tatbestände unter Zugrundelegung der Höchstrafe intuitiv grob nach der mit ihnen verbundenen Strafhärte ordnen zu lassen, sinnvoll und weiterführend. Damit kann eine rechtspraktisch verwendbare und prima facie gerechte Strafpalette konzipiert werden, ohne das man schon die komplizierten wirklichen Fälle der Lebenswelt bewerten kann. Bei der weiteren Entwicklung einer in dieser pragmatischen Weise etablierten Strafrechtsordnung kann und muss man dann allerdings proportional-reziproke Argumente einfließen lassen. Dies wird vor allem bei veränderten Einschätzungen von Begüterungen geschehen müssen. Eine vielleicht früher als nur geringgradig eingeschätzte Schädigung, wird eventuell als schwerer bewertet werden und demgemäß das Strafmaß erhöht werden. Ein rechtshistorisch aussagekräftiges Beispiel ist etwa die Bewertung der körperlichen Züchtigung als Erziehungsmittel und deren strafrechtliche Relevanz im Laufe der letzten fünfzig Jahre.
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17. Ein Anwendungsbeispiel: proportional-reziproke Strafgerechtigkeit
Empirisches und philosophisches Verdienst schließen sich also nicht aus, sondern ergänzen sich. Die philosophische Legitimation der proportional-reziproken Vergeltung als Strafprinzip liefert das philosophische Verdienst; die erste Bemessung von Strafmaßen in Bezug auf bestimmte Taten kann bei nicht befriedigender Werttheorie durch systematische intuitive Einschätzung gut geleistet werden. Empirisches Verdienst wird dann gleichsam als strafrechtsbezogene Heuristik der proportionalen Reziprozität eingesetzt.
17.18 Fazit Wir haben in diesem Kapitel etliche Gesichtspunkte eines proportional-reziprok gerechten Strafrechts erörtert. Wirklich detaillierte Festlegungen lassen sich auf dieser Ebene der Debatte freilich nicht treffen. Hierzu müsste man einzelne Tatbestände des Strafrechts mit allen relevanten biopsychosozialen Hintergrundinformationen untersuchen. Deutlich ist aber hoffentlich geworden, dass die proportionale Reziprozität eine vielversprechende allgemeine Wertbasis abgibt. Sie funktioniert dabei im Sinne eines normativen Kompasses: man kann mit ihr vor Augen die richtigen Fragen stellen bzw. die moralisch relevanten Informationen herausheben, wenn man an das staatliche Strafgesetzbuch herantritt. Tut man dies, so zeigt sich, dass aus proportional-reziproker Perspektive (i) nur schuldhaftes Tun Strafe verdient; (ii) nur Fremdschädigungen strafbar sein können; (iii) präventive und rehabilitative Gesichtspunkte bedeutsam, aber der Vergeltung strikt nachgeordnet sind; (iv) Wiederholungstäter härter bestraft werden müssen; (v) auch harte Strafen bis zur Todesstrafe möglich sind, aber nur bei hinreichender Sicherheit der Tatfeststellung; (vi) Abbüßung und (vii) Schadensersatz das aktuelle Strafrecht ergänzen sollten; (viii) reine Sicherungsmaßnahmen nur möglichst wenig schädigend vollzogen werden dürfen; (ix) eine positive Generalprävention durch explizit vergeltungsorientierte Strafgesetznormen gefördert wird; (x) speziell beim Strafgesetz die Konformität mit der Moral letztlich bedeutsamer für die allgemeine Gesetzestreue als der – rechtsstaatlich selbstverständlich unverzichtbare – korrekte politische Setzungsprozess ist; (xi) mangels einer überzeugenden Werttheorie bei Tatbestands‑ und Strafmaßkonzeption die systematisch erhobenen intuitiven alltagsmoralischen Bewertungen direkt als erster Anknüpfungspunkt aktueller Strafgesetzgebung dienen können. Vieles davon klingt vielleicht wenig Aufsehen erregend. Aber gerade die Einfachheit mit der die proportionale Reziprozität diese unspektakulären Grundsätze begründen kann, ist eine starke Stütze ihrer Glaubwürdigkeit als moralischer Theorie.
18. Zusammenfassung und Ausblick Zum Abschluss unserer Studie ist es hilfreich, die hier getätigten verästelten und verschiedenartigen Erörterungen noch einmal zu bündeln. Die Geschichte der menschlichen Gerechtigkeitsidee beginnt mit der dominierenden Sozialnorm der Reziprozität in den kleinen Gemeinschaften der Frühzeit und setzt sich fort mit der Vorstellung verdienstproportionaler Güterverteilung in den moralischen Religionen der ersten eurasischen Großgesellschaften. Die philosophische Analyse beider Konzepte beschäftigte die alltagsmoralisch orientierte griechische Philosophie seit ihrer Entstehung. Im fünften Buch der „Nikomachischen Ethik“ kam Aristoteles einer Fusion der beiden verwandten Konzepte Reziprozität und Verteilungsgerechtigkeit bereits nahe. Infolge einer vom römischen Recht und dem Christentum getragenen Wende zum Voluntarismus stagnierte jedoch im Anschluss die Erforschung der substanziellen Gerechtigkeit. Vielmehr entwickelte sich aus dem voluntaristischen Denken und einer steigenden Fokussierung auf das vernünftige Individuum der Kontraktualismus als wesentliche, juridische Alternative zu eudämonistischen Gerechtigkeitstheorien. Eine erste Krise des Kontraktualismus führte in der Aufklärungszeit zu einem hypothetischen Verständnis des zentralen Einwilligungsbegriffs und mithin letztlich zu einer erheblichen Begrenzung der philosophischen Erklärungskraft des Kontraktualismus. Dieser Mangel haftet der Sache nach auch dem wiederbelebten Kontraktualismus des letzten halben Jahrhunderts noch an. Der aus der aufgeklärten Kontraktualismuskrise erwachsene Utilitarismus war eine Rückbesinnung auf eine eudämonistische Moral. Er scheitert aber letztlich an seiner mangelnden intuitiven Akzeptabilität. Diese wiederum resultiert vor allem aus der Unfähigkeit des Utilitarismus, die alltagsmoralisch unverändert hochbedeutsamen Gedanken des Verdiensts und der Gegenseitigkeit adäquat zu integrieren. Das Gerechtigkeitsdenken des zwanzigsten Jahrhunderts war zunächst gleichwohl durch den Utilitarismus und später dann auch einen erneuerten Kontraktualismus geprägt. Infolge einer unter anderem aus sozialen Strömungen der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erwachsenen nahezu unbedingten Gewaltaversion und einer Beschränkung des Gerechtigkeitsdenkens auf ein Gebot zur Sicherung von Grundbedürfnissen der Schlechtestgestellten, hat die moderne Moralphilosophie es überwiegend nicht vermocht, die Institution der staatlichen Strafe in ihren angestammten Kontext zu stellen, nämlich den der
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18. Zusammenfassung und Ausblick
Gerechtigkeit. Damit einhergehend ist insbesondere die Idee der gerechten Vergeltung im Strafrechtsdiskurs bis vor kurzem nicht nur weitgehend diskreditiert gewesen, sondern auch nach ihrer beginnenden Reintegration moral‑ oder rechtsphilosophisch völlig unexpliziert geblieben. Die in unserem Buch vorgelegte Konzeption der Gerechtigkeit als proportionale Reziprozität reagiert auf die aufgezeigten Entwicklungen. Mit ihr liegt eine Moralnorm vor, die den Gedanken der Verteilungsgerechtigkeit in aristotelischer Tradition erklärt und – über Aristoteles und alternative heutige Verdienstkonzepte hinausgehend – ihn mit der Reziprozität fusioniert. Überdies stellt sie im Zuge dessen auch eine plausible moralische Grundlage des Strafrechts bereit. Diese Konzeption ist, wenn schon nicht in ihrer vorgelegten Form, dann jedoch zumindest in ihren wesentlichen Elementen, uralt. Und vor allem ist sie nachweislich tief in die Alltagsmoral der westlichen Kultur eingebettet. Sie ist demnach im menschlichen Fühlen und Handeln äußerst kraftvoll wirksam, wenn auch oft in versteckter Form. Der proportionalen Reziprozität zufolge soll jeder das bekommen, was er verdient. Das ist der Aspekt der distributiven Gerechtigkeit. Was jemand verdient, bemisst sich daran, wie derjenige die Verdienste der anderen Personen respektiert hat. Das ist der Aspekt der reziproken Gerechtigkeit. Aus beiden Komponenten folgt in der Kombination: wer die Verdienste von Rechtssubjekten missachtet, verdient eine zum Grad der Missachtung proportionale Bestrafung; wer alle Verdienste möglichst gut beachtet, bleibt straffrei; und wer die Verdienstbeachtung mit sehr großer Mühe realisiert, der verdient eine zum Effekt der Mühe proportionale Belohnung. Diese vorrangige Gerechtigkeitsnorm nennen wir proportionale Reziprozität. Wir haben sie der Übersichtlichkeit zuliebe in vier detaillierter entfaltete Prinzipien aufgegliedert: Grundnorm, Wertprinzip, Zurechnungsprinzip und Sanktionsprinzip. Idealerweise sollte die vorrangige proportional-reziproke Gerechtigkeitsnorm allerdings noch durch eine nachrangige Wohltätigkeitsnorm ergänzt werden, der zufolge das Gemeinwohl optimal zu fördern ist. Die Wohltätigkeit ist moralisch geboten, aber anders als die Gerechtigkeit ist ihre Erfüllung oder Missachtung nicht mit entsprechenden Verdienständerungen verknüpft. Da die so entwickelte proportionale Reziprozität eine hochabstrakte moralische Norm ist, kann sie offenkundig nicht ohne Weiteres in der moralischen Praxis angewendet werden. Hierzu benötigt man Heuristiken. Sechs davon haben wir umrissen. Sie sind überwiegend traditionelle moralische Grundsätze: Einwilligungsprinzip, Selbstbestimmungsprinzip, Gleichverteilungsprinzip, Tauschgleichheitprinzip, Schadensersatzprinzip, Wiedervergeltungsprinzip. Die Angemessenheit ihres Einsatzes bzw. limitierende Anwendungsbedingungen lassen sich mit Hilfe der proportionalen Reziprozität recht gut erklären. Insbesondere die gerechte staatliche Strafe konnten wir, teilweise ebenfalls auf entsprechenden Heuristiken fußend, als eine stark proportional-reziprok geprägte Institution erweisen.
17.18 Fazit
225
Die proportionale Reziprozität vereinigt Reziprozität und Verdienstproportionalität. Sie kann jedoch als alltagsmoralische Norm in der heutigen westlichen Kultur – im Gegensatz zu früheren Epochen – weder auf eine reziprozitätskonstituierende Kleingruppensozialisation noch auf weithin geteilte, die verdienstproportionale Gerechtigkeit wahrende moralisch-religiöse Überzeugungen zurückgreifen. Angesichts ihrer trotzdem offenbar unverwüstlichen intuitiven Anerkennung und motivationalen Schubkraft, sollte der Gesichtspunkt der Ver‑ teilungsgerechtigkeit auf Basis einer graduierten Gegenseitigkeit gleichwohl in viel höherem Maße als bisher Beachtung in praktisch-normativen Kontroversen finden. Insbesondere der demokratisch-säkulare Rechtsstaat als eigentlicher historischer Nachfolger der großen moralischen Religionen1 ist gut beraten, sie bei Gesetzgebung und Gestaltung seiner Institutionen fest im Auge zu behalten, um seine Akzeptabilität und intuitive Legitimität aufrecht zu erhalten. Nur so kann letztlich im Sinne einer positiven Generalprävention die grundlegende Normadhärenz seiner Bürger gesichert werden. Andernfalls werden verhaltensmodifizierend intendierte Gesetzesnormen nicht die erwünschte Wirkung entfalten können. Moralisch-politisch-legislative Diskurse sollten deshalb nicht, wie bisher, nur nebenbei, verschämt, indirekt und versteckt, sondern ganz offen aus dieser Perspektive argumentieren dürfen – selbstverständlich bei ausgewogener Mitbeachtung der vielen anderen relevanten moralischen Normen und Werte. Die Ursache von Uneinigkeit zwischen den nach Gerechtigkeit Trachtenden ist allerdings unter der Oberfläche wahrscheinlich häufig gar nicht so sehr der Streit, ob proportionale Reziprozität überhaupt anzustreben sei, sondern vielmehr, was das im Detail bedeutet und wie es zu bewerkstelligen ist. Es bleiben jedoch selbstverständlich viele offene Fragen und ernste Bedenken bezüglich der proportionalen Reziprozität als philosophischer Rekonstruktion des alltagsmoralischen Gerechtigkeitsideals bestehen, von denen drei besonders gravierende herausgehoben seien: i) Zuvörderst fehlen empirische Untersuchungen, die eindeutiger als die bisherigen die psychologische Basis der proportionalen Reziprozität und ihrer Heuristiken erweisen und konturieren. Inwieweit gerechtigkeitsorientiertes menschliches Denken, Fühlen und Handeln sich proportional-reziprok beschreiben und erklären lässt oder unter welchen Bedingungen dies fruchtbar ist, ist noch in vieler Hinsicht unklar. Eine viel engere Verschränkung von empirischer Forschung und philosophischer Konzeptbildung ist hier dringend vonnöten. ii) Sodann ist die für die proportionale Reziprozität ausschlaggebende Wert‑ theorie bzw. Güterlehre, also die Theorie des gelungenen Lebens und seiner Bestandteile, noch völlig unterentwickelt. Bei der momentan lediglich zu erahnenden Komplexität des Themas (s. o. 14.1) werden Entwicklungen in diesem Bereich enorme Auswirkungen auf die Form, aber vielleicht sogar die Plausibilität der 1 S. Norenzayan
2013, 170–92.
226
18. Zusammenfassung und Ausblick
proportionalen Reziprozität haben. Auch bei diesem Thema wird ein Brückenschlag zwischen empirischer Psychologie inklusive Neurowissenschaft und normativer Philosophie nicht zu vermeiden sein, wenn echte Fortschitte erzielt werden sollen. iii) Desweiteren erfordert die proportionale Reziprozität aufgrund ihres abstrakten Charakters die Entwicklung und Begründung weiterer, umwelt‑ und kulturadaptierter Heuristiken. Dies ist für eine moralisch adäquate individuelle, aber auch kollektive Entscheidungsfindung unabdingbar. Bei der Heuristikentwicklung müssen auch über die staatliche Strafe hinausgehende persönliche und gesellschaftliche Bereiche aus proportional-reziproker Perspektive analysiert werden. Und solche Analysen versprechen interessante Einsichten. Nur bei Weiterentwicklungen in den genannten Bereichen wird die proportionale Reziprozität vielleicht eines Tages beanspruchen können, nicht lediglich eine abstrakte Erklärungs‑ oder Begründungsmöglichkeit bestimmter moralischer Intuitionen, sondern eine moralische Norm im vollen, präskriptiven Sinne des Worts zu sein.
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Sachindex Abbüßungsrecht 201, 210 f. Ablass 87 ff. Ableistungseffekt 27 Abraham-Isaak-Geschichte 102 f. Abschreckung 195 f. Abtreibung 165 Affektheuristik 21 Alltagsmoral 10 ff., 15 ff., 46 f., 59 Anfangsverteilung, gerechte 153 Antinomie der praktischen Vernunft 116 ff. Apeiron 56 f. Arbeitswerttheorie 119 f. Argument aus dem philosophischen Anspruch 39 – aus der normativen Belanglosigkeit 39 f. Askese 82 Attributionsfehler, fundamentaler 53 Bahnung moralischen Verhaltens 51 f. Barmherziger Samariter 85 f. Bedingungen der Gerechtigkeit, humesche 125, 175 f. Bedürfigkeitsprinzip 36 f. Begüterung 142 Beobachter, idealer 127 Besitztumseffekt 27 Bestrafung, altruistische 29 Billigkeit („aequitas“) 83 f. „Broken-windows“-Konzept 216 Buddhismus 145 Chancengleichheit 182 f. Codex Hammurabi 79, 197 Dekalog 86 f., 103 Differenzprinzip 24, 36 f., 121 Diktatur der Armen 36 Dissonanz, kognitive 25 Doppel-Prozess moralischen Urteilens 20 ff., 32 Dualismus der praktischen Vernunft 143 Dunbar-Zahl 47
Easterlin-Paradox 26 Einfühlungsvermögen 52 Einwilligung, hypothetische 115 f., 126 Erfahrungsbedingung 144 Erfahrungsmaschine, nozicksche 146 Ergebnisgerechtigkeit 4 f. Erklärung, moralische 178 ff. „Equity“-Theorie 23 Erbrecht 186 Erwerbsarteffekt 27 Eschatologie 49 f., 81 f., 132 Fegefeuer 87 Fetus 165 Funktionalismus 146 Gebot 84 f. Gefangenendilemma 28 Gegenseitigkeit s. Reziprozität Gemeinschaft 24 Gemeinwohl 63 f., 113, 130 f., 157 Gerechtigkeit, allgemeine 3, 62 – distributive 63 ff., 72, 84 – eudämonistisch 4 f. – juridisch 4 f. – korrektive 63 ff., 84 – partikuläre 63 – reziproke 66 ff. Gerechtigkeitsmotiv 25 f., 52 Gerechtigkeitstheorie, ideale/nichtideale 38 ff. Gesellschaft 24, 53 f. Gesellschaftsvertrag 111 Gesetzesgehorsam 62, 111 Gesetzesmoralismus 217 f. Gesetzespositivismus 217 f. Gewaltaversion 42–45 Gewaltmonopol, staatliches 42 ff., 193 Gini-Koeffizient 37 Gleichgewicht, reflektives 10 Gleichverteilungsprinzip 37, 134 f., 171 f.
258 Gnadenlehre, Augustinische 104 f. Gnadenschatz 88 Goldene Regel 68, 103, 106, 112, 172 Grenznutzen, sinkender 135 Grundbedürfnis 135, 156 f. Grundnorm der Gerechtigkeit 73, 96 – der Wohltätigkeit 96 Grundton, hedonischer 146 Gruppenselektion 48 f., 51 Güter 142 Güter-Inflation 80 Hades 51 Hedonismus 145 f. Heilslehre, christliche 103 f. „Hermit“-Problem 162 f. Heuristik 21, 168 f. Homo oeconomicus 23, 30 Individualrechte, natürliche 106 ff., 110 Introspektion 14 Intuition, moralische 10–13 Isomorphie-These, platonische 60 Jim-Fall 160 f. „Just-World“-Hypothese 25 f. Kanonisches Recht 105 ff. Kardinaltugenden 63, 82 Kategorischer Imperativ 117 Kohärenz 11 f. Kontraktualismus 99 f., 109–16, 120–29, 199–202 Konziliarismusdebatte 106 Kooperation 28–31 Lerner-Theorem 135 Liberalitätsprinzip 207 f. Lynch-Mob-Fall 137, 159 f. Ma’at 50 Mala prohibita / in se 206 Meta-Verdienst 154 ff. Mühelohn 91 Münzgeld 57, 67 Naturzustand 110 f. „Non-Identity“-Problem 161 Obligationenlehre, römische 83, 100 Öffentliches-Gut-Spiel 29 Opferbeschuldigung 26 Ostrakismos 209 f.
Sachindex Paradigma 123 Paradoxie des gemeinnützigen Fonds’ 154 Pelagianismus 105 Perfektionismus 146 ff. Personenrelativität von Werten 143 Pflichten, un-/vollkommene 89 Pluralismus, wertmoralischer 16 f. Positive Psychologie 147 Prävention von Verbrechen, Individual-/ General‑ 215 f. – positive/negative 215 f. Preis, gerechter 108 Prinzip der Mitte 64 – der Möglichkeit des Gebotenen 117 – der Wohltätigkeit 94 f. – des Mühelohns 90–93 – des Rhadamanthys 66 – des unzureichenden Grundes 171 Priorisierungsprinzip 36 f. Progress, infiniter 154 Proportion 60, 63 Rat 84 f. Rawls-Harsanyi-Debatte 128 Reformation 89 Reflektives Gleichgewicht s. Gleichgewicht, reflektives Regress, inifiniter 152 Reihenfolge-Effekt, verzerrender 14 f. Relative Deprivation, Theorie der 26 Religion, moralische 49–54 „Repugnant-Conclusion“ 162 f. Reputationsfaktor 30 Resozialisierung 61, 196, 214 Reziprozität 28–31, 47 ff., 66 ff., 70 ff., 200 Römisches Recht 82–85, 100 ff. Romantik 116 Sanktionsprinzip 76 ff., 96 f. Schadensersatz 61 f., 173 f., 208 f. Schadensprinzip 205 f. Schuldprinzip 207 Scoring-Dilemma 30 Selbstbestimmung 75 f., 175 f. Sequenzialisierung 148 f. Sicherungsmaßnahmen 209 f. Signal, teures 53 Sokratisches Prinzip 59, 61, 67 f. Strafgerechtigkeit 31 f., 38 ff., 61 ff., 66 ff., 136 ff., 140, 192–222 Suffizienzprinzip 36 f. Suizidverbot 176, 207 f.
Sachindex Supererogation 85 f. Suum-cuique-Tradition 57 f., 60, 71, 82, 101 Täterentschuldigung 26 Talionsprinzip 66, 79, 197, 210 Tarifbuße 87 Tausch 66 f., 172 f. Theodizee 105 Theokratismus 99 f., 102 f., 111, 113, 198 f. „Three-strikes-and-you’re-out“-Gesetze 215 Tierschutz 165 f. Todesstrafe 211–14 Trolleyproblem 158 Tugend 63 f., 103 Tun-Ergehens-Zusammenhang 104 f. Ulpian’sche Trias 83 Ultimatumspiel 28 f. Ungerechtigkeit, Bemessung der 75, 77 Utilitarismus, idealistischer 134 – indirekter 138 ff. – klassischer 24, 133 f., 202 f. – theologischer/anglikanischer 132, 202 f. Verallgemeinerungsprinzip 71 Verantwortungs-Egalitarismus 182–86 Verdienst, absolut/relativ 73 f. – empirisch/philosophisch 220 ff. Verdienständerung, Berechnung 76 f., 92, 95
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Verdienst-Deflation 80 Verdrängungseffekt, motivations psychologischer 216 Verfahrensgerechtigkeit 4 f., 125 f. Vergeltung 59, 61, 66 ff. Vergeltungsachtung 27 Verhältnisskalierung 74, 142 Vertragsfreiheit 100 f., 110 Verwandtenselektion 47 f. Voluntarismus 98 ff., 109 f. Wert, personenrelativ/-neutral 143 – objektiv/subjektiv 143 ff. Wertpluralismus 145–48 Wertprinzip 73 ff., 96 Wiederholungstäter 215 Wiedervergeltung 174 f., 185, 199, 202, 210 Wohlergehen, episodisches/übergreifendes 148 f. Wohltätigkeit 82 f. Wucherverbot 108 Wünsche, falsche 144 Y-Gap-Prinzip 189 Zeugungsgebot 162 Zurechnung 75 f. Zurechnungsprinzip 72, 75 f., 96 Zwölf-Tafel-Gesetz 101, 197, 199
Namensindex (Aufgrund der großen Zahl zitierter empirischer Studien mit zahlreichen Autoren werden hier nur klassisch-historische Denker aufgeführt.)
Achenwall, G. 117, 200, 202 Alanus 106 Albertus Magnus 88 Ambrosius 85 f. Anaxagoras 99 Anaximander 56 f. Anselm v. Canterbury 105 Archytas v. Tarentum 60 Aristoteles 56, 58, 62–68, 74, 78, 82, 84, 39, 99, 107 f., 130, 146, 153, 175 f., 181, 209, 223 f. Augustinus 86, 104 f., 218 Austin, J. 136, 218 Barbeyrac, J. 113 Beccaria, C. 132 f., 202 Bentham, J. 131–39, 166, 212, 218 Blackstone, W. 114, 206 Boethius 155, 198 Bonaventura 88
Gaius 83, 100 Gassendi, P. 132 Gay, J. 132 Gellius, A. 82, 194 Gerson, J. 106 Glaukon 68, 99 Godwin, W. 136 Gorgias 58 Gierke, O. 106 Gratian 105 f., 176 Green, T. H. 146 Grotius, H. 109 ff., 165, 192 ff., 199 ff. Günther, L. 197
Demokrit 56, 59 Diogenes Laertios 64, 67 f., 145 Diogenes v. Seleukia 99 Durandus v. St. Porcaine 106 Durkheim, E. 186
Hegel, G. W. F. 200 ff. Heineccius, J. G. 200 Helvetius, C.-A. 132 Heraklit 56 Herodot 148 Hervaeus Natalis 106 Heydenreich, K. H. 200 Hippias 58 Hirzel, R. 57, 66 Hobbes, T. 109–12, 117, 131, 144, 165, 201 ff., 218 f. Hufeland, G. 200 f. Hugo v. St. Cher 88 Huguccio 106 Humboldt, W. v. 200, 205 Hume, D. 84, 113 f., 118, 125, 131, 135, 175 f. Hutcheson, F. 114, 131 f., 166
Epikur 68, 99, 145 Ewing, A. C. 196
Jakob, L. H. 200 f. Jesus 53, 85 f.
Ferguson, A. 114 Feuerbach, P. J. A. 200 ff. Fichte, J. G. 201 f.
Kant, I. 31, 94, 114–18, 201 f. Karneades v. Kyrene 99, 138 Kleisthenes 209
Calvin, J. 89 Calvisius 194 Cantor, P. 87 Carmichael, G. 131 Cicero, M. T. 11, 58, 82–85, 100, 130, 198, 218 Cumberland, R. 131 f.
Namensindex Kritolaos 99 Kropotkin, P. 30 Law, E. 132 Leibniz, G. W. 83 f., 113 Locke, J. 109–114, 119, 132, 200 Luther, M. 89 Maine, H. S. 84, 107 Marsilius v. Padua 106 Marx, K. 120 Mauss, M. 30 McTaggart, J. E. 202 Mill, J. S. 3, 133 f., 139, 205, 212 Millar, J. 114 Mommsen, T. 101, 219 Moore, G. E. 134, 139, 147 Nietzsche, F. 43 Paine, T. 182 Paley, W. 132 Paulus 13 Pelagius 104 f. Platon 41 ff., 51, 58–68, 79, 102, 143, 197 f. Pollock, F. 101 Price, R. 135, 138 Protagoras 58, 99, 198 Pütter, J. S. 117 Pufendorf, S. 66, 109–13, 117, 131, 201, 206, 218 Pyrrho 145 Pythagoras 56 Raimund v. Pellafort 88 Rashdall, H. 134 Reid, T. 27, 31, 80, 135, 138 Ricardo, D. 119 Ritchie, D. G. 66
261
Ross, W. D. 168, 181 Rousseau, J.-J. 111, 114 Rutherford, T. 132 Ryan, J. A. 22, 120 Schlick, M. 15, 150 Schmalz, T. v. 201 Schopenhauer, A. 80, 152, 166 Seneca 198 Sidgwick, H. 3, 70, 120, 133 f., 139, 143 f. Simmel, G. 91, 135 Simon v. Tournai 87 Smith, A. 119, 200 Sokrates 11 f., 18, 41, 58 f., 62, 68, 99 Solon 148, 153 Sonnenfels, J. v. 133 Spencer, H. 139 Spinoza, B. 201 Thales 56 Thomas v. Aquin 64 ff., 74, 86 ff., 105, 107, 175 Thomasius, C. 112, 201 f. Thrasymachos 68 Tönnies, F. 24 Troeltsch, E. 85, 89, 103, 106, 108, 196 Tucker, A. 132 Ulpianus, D. 83, 100 Weber, M. 106 ff. Whewell, W. 121, 138, 196 William v. Ockham 106 Wollaston, W. 114 Wolff, C. 117, 200 Xenophanes 57 Xenophon 62