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German Pages 352 Year 2000
PATRIC MAKRUTZKI
Verdeckte Ermittlungen im Strafprozeß
Schriften zum Prozessrecht Band 154
Verdeckte Ermittlungen im Strafprozeß Rechtswissenschaftliche Analyse Rechtsvergleichende Studie mit dem U.S.-amerikanischen Prozeßrecht
Von
Patric Makrutzki
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Makrutzki, Patric: Verdeckte Ermittlungen im Strafprozeß : rechtwissenschaftliche Analyse; rechtsvergleichende Studie mit dem U.S.-amerikanischen Prozeßrecht I Patric Makrutzki. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum Prozessrecht ; Bd. 154) Zug!.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09598-7
D25
©
Alle Rechte vorbehalten 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-09598-7
Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069
Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Wintersemester 1997/98 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.B. als Dissertation angenommen worden. Mein besonderer Dank gilt zuerst Herrn Prof. Dr. Rene Bloy, der es mir ermöglichte, diese Arbeit nach dem von mir selbstgewählten Thema anzufertigen, und mir stets mit Rat und Tat zur Seite stand. Seine vorbildliche Betreuung und Förderung, die sich nicht zuletzt durch ständige Gesprächsbereitschaft, eine Fülle von Denkanstößen, aber auch konstruktiver Kritik niederschlugen, haben entscheidend zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Dank aussprechen möchte ich ihm ebenso rur die zügige Erstellung des Erstgutachtens. Bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Prof. Dr. Rüdiger Herren fiir die rasche Anfertigung des Korreferats. Gleichermaßen gebührt mein Dank Martina Kienzier und Friederike Hoffmann, die bei der Korrektur der Arbeit und den notwendigen, recht zeitraubenden Recherchen unschätzbare Mitarbeit leisteten, sowie Anneliese Kienzier, die während des einjährigen Promotionsverfahrens ebenfalls wertvolle Unterstützung leistete. Besonderer Dank gebührt ebenfalls den Mitarbeitern der Bibliothek der ueLA in Los Angeles rur ihre ständige Hilfsbereitschaft beim Aufsuchen der einschlägigen Literatur, wodurch die Anfertigung des rechtsvergleichenden Teils meiner Arbeit zügig beendet werden konnte. Schließlich und endlich gilt mein Dank meinen Eltern. Ihnen widme ich dieses Buch als Zeichen meiner Dankbarkeit. Freiburg, im September 1999
Wolf-Patric Makrutzki
Inhaltsverzeichnis Erster Abschnitt
Terminologie und Kriminologie
17
§ I Einführung in die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
§ 2 Tenninologie und Kriminolgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
A. Verdeckte EnnittIungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
B. Organisierte Kriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22
I. Begriff und kriminologische Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . .
22
2. Geeignetheit und Erforderlichkeit von verdeckten Enniulungen? ....
30
Personelle Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
I. Verdeckte Ermittier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
c.
2. V-Personen
.....................................
33
3. Infonnanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
4. Under cover Agent (u.c.a.)
...........................
34
5. Agent Provocateur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
D. Empirik und Kriminologie in bezug auf die V-Person
............
36
I. Kriminologisches Erscheinungsbild der V-Person . . . . . . . . . . . . ..
39
a) Fonneller Integrationsprozeß der V-Person . . . . . . . . . . . . . . ..
39
b) Motivation zur polizeilichen Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . .
42
2. Empirik
.......................................
43
§ 3 Zusammenfassung des Ersten Abschnitts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
Zweiter Abschnitt
Verdeckte Ermittlungen im "Lichte der Verfassung"
48
§ I Problemdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
48
§ 2 Verfassungsrechtliche Vorüberlegungen
49
.....................
10
Inhaltsverzeichnis
§ 3 Verstoß gegen das "Gebot der Offenheit staatlichen HandeIns"? . . . . . .
51
A. Das Gebot der Offenenheit staatlichen HandeIns in der Strafprozeßordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
B. Gebot der Offenheit aufgrund der Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
§ 4 Verdeckte Ermittlungen und Grundrechtsschutz des Beschuldigten
....
60
A. Verdeckte Ermittlungen und die Würde des Menschen . . . . . . . . . . . .
63
I. Schutzbereich der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
2. Menschenwürde als Grenze verdeckter Ermittlungen . . . . . . . . . . . .
65
B. Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. I i.V.m. Art. I Abs. I GG.
69
I. Darstellung des Schutzbereiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
2. Strafprozessuale Erscheinungsformen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
a) Problementwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
b) Direkte Anwendung der §§ 136a, 136, 163a Abs. 4, 163a Abs. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
c) §§ I 36a, 163a Abs. 3 StPO analog aufgrund "vernehmungsähnlicher Situation"? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
d) §§ 136 Abs. I Satz 2, 163a Abs. 4 StPO analog und die "vernehmungsähnliche Situation"? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
78
e) "Nemo tenetur" und verdeckte Ermittlungen . . . . . . . . . . . . . . .
87
3. Exkurs: Informationelles Selbstbestimmungsrecht und verdeckte Ermittlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
Art. 13 GG - Unverletzlichkeit der Wohnung. . . . . . . . . . . . . . . . . .
\01
D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
103
§ 5 Eingriffsqualität verdeckter Ermittlungen durch V-Personen. . . . . . . ..
104
A. Grundrechtseingriff durch V-Personen und Verdeckte ErmittIer?
......
104
B. Das "Freiwilligkeitskriterium" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
105
c.
107
c.
Rechtsverhältnis und Rechtsstatus der V-Person
................
§ 6 Verfassungsmäßige Rechtfertigung von V-Personen-Einsätzen
.......
I 13
Inhaltsverzeichnis
11
A. Analoge Anwendung der §§ II0a ff. StPO für die V-Person?
113
B. Die "Schwellentheorie" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
115
c.
§§ 161, 163 StPO i.V.m. "Übergangsbonus"? . . . . . . . . . . . . . . . . ..
119
D. Rechtfertigung durch § 34 StGB? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119
E. "Vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
122
F. Verwaltungsvorschriften als ausreichende Rechtsgrundlage? . . . . . . . . .
122
G. Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht?
123
§ 7 Verdeckte Ermittlungen und das "Legalitätsprinzip"
124
§ 8 "Tatprovokation durch V-Personen"
.......................
127
A. Grenzen der zulässigen Tatprovokation in der Rechtsprechung . . . . . . .
128
I. Theoretische Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
128
2. Praxisbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
B. Ansichten zur Tatprovokation in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . ..
133
C. "Schwere der Tat" als absolute Grenze der beachtlichen Rechtsstaatswidrigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
134
D. Kritische Würdigung und eigene Stellungnahme
136
§ 9 Zusammenfassung des Zweiten Abschnitts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
Dritter Abschnitt Die "einsatzbedingte Straftat"
139
§ 1 Strafbarkeit wegen Teilnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139
A. Strafgrund der Teilnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
140
l. Lehre von der Schuldteilnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
140
a) Darstellung
...................................
140
.............................
143
2. Verursachungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149
...................................
149
b) Kritische Würdigung a) Darstellung
b) Kritische Würdigung
.............................
151
3. Akzessorietätsorientierte Verursachungstheorie . . . . . . . . . . . . . . ..
153
Inhaltsverzeichnis
12
a) Darstellung
153
b) Kritische Würdigung
.............................
4. Modifizierte Ansicht Roxins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . " a) Darstellung
...................................
b) Kritische Würdigung
153 155 155
.............................
157
5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159
B. Grundsätzliche Überlegungen zur Teilnahmestrafbarkeit von V-Personen.
160
C. Teilnahme an einer versuchten Haupttat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
161
I. Versuchte Tat als Tat im Sinne von § 26 StGB? . . . . . . . . . . . . ..
162
2. Determination des Teilnahmevorsatzes
....................
164
3. Objektive GeHihrdung des Rechtsguts als konstitutives Element des Anstifterunrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
166
4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
169
D. Teilnahme an einer vollendeten Haupttat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
170
I. Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
170
a) Delikte mit präventivem Rechtsgüterschutz . . . . . . . . . . . . . . "
172
b) Gemeinsamkeiten der "Vorverletzungsdelikte" . . . . . . . . . . . . ..
178
2. Lehre von der formellen Vollendungsgrenze . . . . . . . . . . . . . . . " a) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Lehre von der materiellen Beendigungsgrenze a) Darstellung
179 179 181
...............
185
...................................
185
b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . " 4. Systematisch-teleologisches Lösungsmodell
186
.................
189
5. Divergierende Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
199
a) Jrreparabilität des Rechtsgutsschadens
199
b) Lehre vom fehlenden Erfolgsunrecht
200
c) Kritische Würdigung aus analytischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . .
201
6. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
202
E. Sonderproblem: Beteiligung an abstrakten Gefährdungsdelikten ..... " I. Ausgangsproblem
202
.................................
203
2. Strafgrund der abstrakten Gefährdungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . .
210
Inhaltsverzeichnis
13
3. Lösungsmodelle zur Reduktion des Anwendungsbereichs der abstrakten Gefährdungsdelikte in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
212
a) Methodischer Ansatz am "Gefahrerfolg" . . . . . . . . . . . . . . . . .
212
(1) Rabl, Schröder und die "Gegenbeweis-Theorie" .... . . . . ..
212
(a) Darstellung
..............................
212
(b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
213
(2) Cramer und die "Theorie von der Hand1ungsgeeignetheit" ...
215
(a) Darstellung
..............................
215
(b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
217
b) Methodischer Ansatz an der "Handlung" . . . . . . . . . . . . . . . ..
218
(I) Horn, Brehm und die "Theorie von der Sorgfalts widrigkeit" ..
218
(a) Darstellung
..............................
218
(b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
221
c) Andere Lösungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
223
(1) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
223
(2) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
228
4. Eigenes Lösungsmodell: Die Vorsatzschuldtheorie . . . . . . . . . . . . .
234
a) Methodischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
234
b) Darstellung
...................................
238
§ 2 Sonstiger strafrechtlich relevanter Bereich von V-Personen . . . . . . . ..
247
A. Strafbarkeit wegen Beihilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247
8. Strafbarkeit wegen Täterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247
§ 3 Korrektur der Strafbarkeit der V-Person mit Hilfe des Opportunitäts-
prinzips? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
249
§ 4 Zusammenfassung des Dritten Abschnitts . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
250
Vierter Abschnitt
Rechtliche Konsequenzen des rechtswidrigen V-Personen-Einsatz
252
§ I Problemdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
252
§ 2 Die rechtswidrige Tatprovokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
252
A. Einführung
252
.......................................
Inhaltsverzeichnis
14 B. Rechtsprechungsanalyse
253
c.
Stand der wissenschaftlichen Erörterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
258
I. Materiell-rechtliche Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
258
2. Prozessuale Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
260
a) Tatprovokation als Verfahrenshindernis? . . . . . . . . . . . . . . . . ..
260
(I) Verfahrenshindernis wegen Verwirkung des Strafanspruchs ...
260
.....
262
(3) Verfahrenshindernis von Verfassungs wegen? . . . . . . . . . . . . . .
263
b) Neuere Rechtsprechung des BVerfG in bezug auf verfassungsrechtliche Verfahrenshindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
267
c) Beweisverwertungsverbot
269
3. Sonstige Lösungsvorschläge
272
(2) Verfahrenshindernis aufgrund einer ,,zweckverfehlung"
D. Kritische Würdigung der Ansichten von Rechtsprechung und Wissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
274
E. Rechtsvergleich mit dem V.S.-amerikanischen Recht . . . . . . . . . . . . .
289
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
289
2. "The Entrapment Defense"
...........................
291
a) "Subjektive Test" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
292
b) "Objective Test" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
295
c) "Hybrid Test" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
296
3. ,,Due Process of Law" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
296
4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
298
§ 3 Eigenes Lösungsmodell: Konsequenzen des V-Personen-Einsatzes . . . ..
299
A. Rechtsfolge des strafprozessualen Ermittlungseinsatzes von V-Personen de lege lata . . . . . . . .
299
I. Dogmatischer Fundus und Ausgangsüberlegung . . . . . . . . . . . . . ..
299
2. Darstellung der Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
300
B. Sonderproblem: Rechtsfolge rechtswidriger Tatprovokation . . . . . . . . ..
312
I. Ausgangsüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
312
2. Zur Problemlokalisation für staatlich veranlaßte Tatprovokationen ...
312
3. Konklusionen aus der Problemlokalisation für die bisherigen Lösungsmodelle und die eigene Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
318
Inhaltsverzeichnis
15
§ 4 Zusammenfassung des Vierten Abschnitts . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
318
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
321
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
348
Erster Abschnitt
Terminologie und Kriminologie § 1 Einführung in die Problematik In neuerer Zeit ist eine stetige Entwicklung der polizeilichen Praxis, Rechtsprechung und nicht zuletzt auch der Gesetzgebung zu erkennen, die in zunehmenden Maße verdeckte Ermittlungsmethoden zur Verbrechensaufklärung und -vorbeugung zuläßt. Als Rechtfertigung dieser neueren Form der Verbrechensbekämpfung wird regelmäßig auf die Gefahren der Organisierten Kriminalität (O.K.) sowie auf deren Immunität gegen konventionelle Ermittlungsmethoden verwiesen. Insbesondere die Rechtsprechung nahezu aller Gerichtszweige' betont die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit des Einsatzes von heimlich ermittelnden Vertrauenspersonen und Verdeckten Ermittlern. Auch die Bundesregierung2 hat in ihrer Begründung zum Entwurf des OrgKG erklärt, daß die Organisierte Kriminalität gegenüber den herkömmlichen Ermittlungsmethoden weitgehend immun seien. Organisierte Kriminalität lasse sich mit offen ermittelnden Polizeibeamten, beziehungsweise offenen Ermittlungsmethoden nicht wirkungsvoll bekämpfen. Die Strafverfolgungsorgane müßten daher zu Ermittlungsmethoden greifen, die es ihnen erlauben, in das Innere der kriminellen Organisationen einzudringen. Ein wesentliches Instrument hierzu sei der Einsatz von Verdeckten Ermittlern und V-Personen. Ähnlich argumentiert das Bundesverfassungsgeriche, wenn es in seinem Urteil vom 3. Oktober 1987 ausführt: "Bei der Bekämpfung des Rauschgifthandels können die Strafverfolgungsorgane nicht ohne den Einsatz sogenannter V-Leute auskommen, sofern sie ihrem Auftrag zur rechtsstaatlich gebotenen Verfolgung von Straftaten überhaupt gerecht werden sollen." Auffallend an diesen Ausführungen ist, daß eine genaue wissenschaftliche Erklärung dessen, was denn eigentlich "Organisierte Kriminalität" ist und warI BVerfG in: NJW 1996,448 ff.; BVerfGE 57,250 (284 f.); BVerfG in: NStZ 1991,445; BGHSt 32, 115 (120 ff.); BGHSt 33, 83 (90 f.); BGH in: NStZ 1991, 194; BVerwG in: JZ 1992,360 ff.; BVerfG in: NJW 1981, 1719 (1724); BGH in: NJW 1980, 1761; BGH in: StV 1994,368. 2
BT-Drucksache 12/89, S. 21 (41).
) BVerfG in: NJW 1987, 1874; BVerfG in: NJW 1992, 168; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 110a Rn. 5; PfeifJer/Fischer, § 1I0a Rn. 1. 2 Makrutzki
18
I. Abschnitt: Tenninologie und Kriminologie
um herkömmliche Ermittlungsmethoden nicht erfolgversprechend sind, nicht vorgenommen wird4 • Zwar finden sich in den Gemeinsamen Richtlinien der lustizminister / -senatoren und der Innenminister / -senatoren der Länder über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität5 dazu Ausruhrungen in Form einer Begriffsbestimmung sowie der Beschreibung von Erscheinungsformen und möglicher Indikatoren zur Erkennung O.K. relevanter Sachverhalte. Wie jedoch schon die Richtlinien ihrem eigenen Wortlaut nach erkennen lassen, handelt es sich hierbei lediglich um eine Beschreibung des Ist-Zustandes dieser Kriminalitätsform. Eine wissenschaftliche Darstellung hinsichtlich der Entstehung, der konkreten Arbeitsweise und der Aufrechterhaltung einer kriminellen Organisation kann in diesen Richtlinien nicht einmal ansatzweise gesehen werden. Indes ist es als wesentlicher Fortschritt zu bezeichnen, daß zumindest die Tendenz zu erkennen ist, daß die O.K. gegenwärtig schrittweise als Gesamtkomplex wissenschaftlich erfaßt werden soll. Verwundern darf die Beschränkung auf die bloße Beschreibung der Erscheinungsform der 0$. hingegen nicht, weil es kaum gesicherte empirische Erkenntnisse über Erscheimmgsbild, Umfang und Struktur des organisierten Verbrechens gibt6 • Erst in neuerer Zeit ist eine wissenschaftliche 7 und politische Auseinandersetzung mit dieser Frage zu beobachten. So ruhrte beispielsweise das "Economic and Social Council" der UNO 1994 in Neapel die "World Ministerial Conference on Organized Transnational Crime" durch, an der 142 Staaten teilnahmen. Ergebnis dieser Konferenzen war die Verabschiedung zweier Entwürfe unter den Titeln: "NapIes Political Dec1aration and Global Action Plan against Organized Transnational Crime" und "Establishment of an International Task Force". In Deutschland fand am 1. und 2. Dezember 1994 in Trier8 auf Einladung der Europäischen Rechtsakademie und der Vereinigung rur europäisches Strafrecht e.Y. eine ähnliche Veranstaltung statt. An dieser Veranstaltung nahmen 200 Teilnehmer aus 18 Ländern teil. Es ist also eine allmähliche Mobilmachung zur kriminologischen Erforschung des Phänomens "Organisierte Kriminalität" durchaus zu erkennen. 4 So heißt es etwa bei Krey, Rechtsprobleme, Rn. 20: "Es liegt auf der Hand, daß es Staatsaufgaben von hohem Verfassungsrang gibt, die zu ihrer Erfiillung geheimer Ennittlungen bedürfen ( ... ) Zu solchen Staatsaufgaben, die verdeckte Ermittlungen und Geheimhaltung gebieten können, ohne daß dagegen verfassungsrechtliche Bedenken zu erheben wären, zählt das BVerfG zutreffend ( ... ) die Bekämpfung der Bandenkriminalität."
5
Abgedruckt in: Kleinknecht / Meyer-Goßner, Anlage E.
• Bindzus in: JuS 1995, 373. 7 Ausführlich hierzu: Bögel, Strukturen und Systemanalyse der Organisierten Kriminalität in Deutschland; Sieber in: JZ 1995, 758 ff. • Siehe dazu das Resümee unter dem Titel "Organisierte Kriminalität in einem Europa offener Grenzen" in: DRiZ 1995,81.
§ 2 Tenninologie und Kriminologie
19
Bedenkt man in diesem Zusammenhang daneben, daß der Einsatz verdeckter Ermittlungen jedweder Art in der Hauptsache mit der Existenz der O.K. gerechtfertigt wird, ist eine eingehende Studie zur Erforschung dessen, was denn "Organisierte Kriminalität" ist, nicht nur von erheblichem Vorteil fur die Klärung der Sachfragen, sondern geradezu unentbehrlich. Hassemer9 kritisiert deshalb die derzeitige Entwicklung der Kriminalpolitik zu Recht als "Kriminalpolitik unter Nichtwissen". Eigens im Hinblick auf die Organisierte Kriminalität stellt er fest!o: "Wir wissen fast nichts Genaues über den Gegenstand, um den es geht, sind aber gleichwohl fest entschlossen, ihn zu bekämpfen; wir schießen also mit scharfer Munition auf ein undeutliches Ziel." Um diesem Einwand so gut es geht zu begegnbn, soll nachstehend der derzeitige Stand der kriminologischen Forschung in bezug auf die Organisierte Kriminalität in den Grundzügen dargestellt werden. Hierbei wird sich das Interesse auf die Beantwortung nachstehender Fragen konzentrieren: Hat das Organisierte Verbrechen ein Ausmaß angenommen, daß deren Bekämpfung als Staatsaufgabe von hohem Verfassungsrang angesehen werden kann? Ist der Einsatz von verdeckten Ermittlungen ein geeignetes und erforderliches Mittel zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität? Zweck dieses Kapitels ist es, neben diesen kriminologischen Untersuchungen auch die Terminologie im Zusammenhang mit verdeckten Ermittlungen zu klären. Dies ist schon deshalb wichtig, weil über die beim Einsatz von verdeckten Ermittlungsmethoden auftretenden Rechtsfragen nur dann nutzbringend diskutiert werden kann, wenn Klarheit über die Gegenstände der Erörterung besteht!!.
§ 2 Terminologie und Kriminologie A. Verdeckte Ermittlungen An dieser Stelle soll eine begriffliche Erfassung dessen, was überhaupt unter "verdeckten Ermittlungen" zu verstehen ist, erfolgen. Wie bereits dieser Terminus vermuten läßt, besteht das strafprozessuale Ermittlungsinstitut "verdeckte Ermittlungen" aus zwei Komponenten: "Ermitteln" und "Verdeckt". Der Begriff "Ermittlung" findet sich beispielsweise im Wortlaut der §§ 160, 161 StPO. Diese Normen sind im zweiten Abschnitt des zweiten Buches der Strafprozeßordnung, der das Ermittlungsverfahren zum Gegenstand hat, lokali9
Hassemer in: StV 1995,483 (487).
10
Hassemer, a.a.O.
11
Weichert, S. 119; Lisken in: DRiZ 1987, 187 (184).
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I. Abschnitt: Tenninologie und Kriminologie
siert. Sinn und Zweck des Ennittlungsverfahrens ist es, die Entscheidung der Staatsanwaltschaft darüber vorzubereiten, ob die öffentliche Klage zu erheben ist oder nicht, § 160 Abs. I StPO I2 • Die öffentliche Klage wird die Staatsanwaltschaft dann erheben, wenn "die Ennittlungen genügend Anlaß" dazu geben, § 170 Abs. I StPO. Nach allgemeiner Meinung 13 besteht "genügender Anlaß", wenn der Beschuldigte hinreichend verdächtig ist, eine Straftat begangen zu haben. Dies ist dann der Fall, wenn die Beweisfähigkeit des Tatvorwurfs den Grad der Wahrscheinlichkeit erreicht. Unter "Beweis" wird die Schaffung von Überzeugung vom Vorliegen einer Tatsache verstanden 14. Demzufolge ist das Ziel des Ennittlungsverfahrens, Beweise in bezug auf den Tatvorwurf gegen 15 den Täter zu "ennitteIn". Was ist nun aber genau mit "erforschen"'6 oder "ennitteIn" gemeint? In concreto ist damit gemeint, daß die Staatsanwaltschaft Infonnationen beschafft, um die eben genannte Entscheidung treffen zu können. Infonnationen sind Daten, zumindest im weiteren Sinne, und man kann an Stelle von "EnnitteIn" oder "Erforschen" ohne weiteres auch davon sprechen, daß die Strafverfolgungsbehörde sich die notwendigen "Daten" (= Infonnationen) verschafft 17 • Anschaulich wird der Zusammenhang der Begriffe "ennitteIn" und "Daten beschaffen" in den Landespolizeigesetzen. In den §§ 19-25 und 37-48 PoIG-BW ist die präventivpolizeiliche Arbeit im Hinblick auf den Umgang it Daten geregelt. In § 22 Abs. I Nr. 3 und Abs. 3, Abs. 4 PolG-BW ist der Einsatz eines präventiv handelnden Verdeckten Ennittlers geregelt. In § 22 Abs. 3 PoIG-BW heißt es schließlich: "Der Polizeivollzugsdienst kann personenbezogene Daten durch eine längerfristige Observation ( ... ) oder durch den Einsatz Verdeckter Ennittler ( ... ) erheben ... " Es ist somit, eine Vergleichbarkeit zwischen "ennitteIn", "erforschen" und "Daten erheben" zu erkennen, zumal der Unterschied zwischen einem polizeirechtlichen und einem strafprozessualen Ennittlungseinsatz sich lediglich im Verwendungszweck der gewonnenen Infonnationen / Daten erschöpft. Er ist nämlich entweder repressiv oder präventiv. Verdeckte Ennittlungen bezeichnen demnach, wie im übrigen auch im Vorentwurf zur Änderung 12 Näher Roxin, Strafverfahrensrecht, § 37 Rn. I; Wache in: KK, § 160 Rn. 19; Kleinknecht / Meyer-Goßner, § 160 Rn. 11. I) Wache/Schmidt, KK, § 170 Rn. 3.
Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. I, S. 160. Selbstverständlich hat die Ermittlungsbehörde nach § 160 Abs. 2 StPO auch entlastendes Beweismaterial zu erforschen. 14
I~
Ib Siehe den Wortlaut des § 160 Abs. I StPO a.E., hier wird "erforschen" bedeutungsgleich für "ermitteln" gebraucht. 17 Wobei hier nicht nur an personenbezogene Daten gedacht wird, wie dies in § 3 Abs. 2 Nr. I LDSG verstanden wird. Nach dieser Vorschrift wird unter Datenerhebung nur das Beschaffen von personenbezogenen Daten über den Betroffenen verstanden, vgl. Wo(f/ Stephan, PolG BW, § 19 Rn. 2.
§ 2 Tenninologie und Kriminologie
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des Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder in § 8c angenommen wird, eine besondere Fonn der Daten- beziehungsweise Infonnationsbeschaffung '8 . Nach Ansicht von Amelung ist deshalb auch der eigentliche Zweck des Strafverfahrens die Infonnationsgewinnung '9 , wobei Ernst20 treffend das Ennittlungsverfahren als reines "Infonnationssammlungsverfahren" bezeichnet. Infonnationen sind somit die Bausteine des polizeilichen Handelns21 • Durch sie kommt ein Verfahren in Gang oder es wird beendet. Dabei wird allerdings auch das Ausmaß der Bedeutung der Infonnationsverarbeitung in der Polizeiarbeit deutlich. Letztlich läßt sich nämlich jede polizeiliche Entscheidung, beziehungsweise jede rechtserhebliche Entscheidung überhaupt, auf eine Infonnationsverarbeitung zurückführen 22 • Das zweite Charakteristikum verdeckter Ennittlungen ist der Modus der Ennittlungen. Begrifflich ist "verdeckt" eben das Gegenteil von offen, wobei man auch "heimlich" sagen könnte. Verdeckte Ennittlung ist demnach heimliche Daten-, Infonnations- oder Beweisbeschaffung. Dem entspricht auch das eigentliche Ziel von V-Personen (VP) oder Verdeckte Ennittler (VE) Einsätzen. Ziel eines solchen Einsatzes kann es nur sein, unter Verschleierung des hoheitlichen Charakters, oftmals unter Ausnutzung entgegengebrachten Vertrauens und Umgehung jeglicher Belehrungen, die eben dargestellten Infonnationen zu erhalten. Jede andere Gewichtung des VP / VE-Einsatzes wäre lebensfremd. In diesem Zusammenhang kommt Scherp23 nach eingehenden kriminologischen und empirischen Studien jedenfalls für die V-Person zu dem Ergebnis, daß der Betroffene gezielt im Auftrag der Ennittlungsbehörden ausgespäht wird. Für den VE kann indes nichts anders gelten. An dieser SteHe ist auch das Verhältnis zwischen dem Zweck der Infonnationsbeschaffung und der Art und Weise, wie dies geschieht, erkennbar. Der Schwerpunkt liegt hier deutlich auf dem Modus der Infonnationsgewinnung, wobei der oftmals bemerkte "negative Nachklang" im Zusammenhang mit verdeckten Ennittlungen wird in der Regel darin gesehen, daß die Infonnationsgewinnung gerade und ausschließlich durch Täuschung erfolgt. Endlich ist zur KlarsteIlung weiterhin darauf hinzuweisen, daß "verdeckt" sich in diesem Zusammenhang nur auf die staatliche Funktion der EnnittlungsIK Rogall in: JZ 1987,849; der Text des o.g. Musterentwurfs ist abgedruckt in: Cilip 21 (1985), S. 44 f. (45). 19 Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S 11 ff.; auch in diesem Sinne: Rehmann I Schoreit in: NStZ 1984, 1 ff.; Duttge, S. 41; Krey, Rechtsprobleme, S. 83; Rogall in: GA 1985, I (3); Ernesti in: DRiZ 1982, 258; ders. in: NStZ 1983, 58. 20 Ernst, Verarbeitung und Zweckbindung von Informationen im Strafprozeß, S. 19 m.w.N.
22
Scholz I Pitschas, InformationeJle Selbstbestimmung und staatliche Verantwortung, S. 168. ScholzlPitschas, S. 168.
23
Scherp, S. 35.
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I. Abschnitt: Tenninologie und Kriminologie
behörde als solche und nicht darauf bezieht, was beispielsweise der Aussageperson im Laufe der Vernehmung mitgeteilt werden muß und was ihr verschwiegen (verdeckt) bleiben darf. Außerdem hat verdeckte Ermittlungsarbeit nichts mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz24 zu tun, bei welchem es um die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung geht und welcher im übrigen im Ermittlungsverfahren ohnehin keine Geltung hat.
B. Organisierte Kriminalität 1. Begriff und kriminologische Bestandsaufnahme
Der Begriff des Organisierten Verbrechens 25 ist in den letzten Jahren zu einem medienwirksamen Schlagwort geworden sowie zur Grundlage der neueren Reformen des Strafrechts wie auch der aktuellen Kriminalpolitik 26 . In zunehmendem Maße bestimmt die Problematik des Organisierten Verbrechens auch das politische Tagesgeschäft. So hat Bundeskanzler Kohl im Jahre 1996 bei einem Treffen mit dem französischen Staatspräsidenten Chirac die Ansicht vertreten, daß in den kommenden Jahren der Kampf gegen die internationale Kriminalität ebenso wichtig werden wird wie die Sicherung der Arbeitsplätze27 • Wie bereits erwähnt, ist auffä\lig, daß es kaum gesicherte Aussagen über Arbeitsweise und Umfang der O.K. gibes. Eine allgemein anerkannte Definition von Organisierter Kriminalität existiert nicht, was jedoch nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, daß nicht einmal in der Rechtswissenschaft Klarheit darüber herrscht, was denn in concreto Organisierte Kriminalität ist und wie sie definiert werden so1l29. Eine Begriffsdefinition wurde im Jahre 1990 von einer Arbeitsgruppe der Justiz und Polizei gegeben, welche in die "Gemeinsamen Richtlinien der Justizminister / -senatoren der Länder über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität" übernommen wurde. Dort heißt es: "Organisierte Kriminalität ist die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher 24
Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 45, S. 345 ff.
Zur historischen Entwicklung der Organisierten Kriminalität vgl. Bögel, S. 28 ff.; Sieber in: JZ 1995, 758 f. 2b Sieber in: JZ 1995,758; Begrundung zum OrgKG BT-Drucksache 12/989, S. 21. 21 F.A.Z. vom 10.12.1996, S. I. 20 Kaiser, Kriminologie, § 38 Rn. 15. 2~
29 Kürzinger in: Kriminologie, Rn. 481 S. 310; Kerner meint deshalb (in: Kleines Kriminologisches Wörterbuch, S. 378), daß "die Kenntnis vom Organized Crime bei wissenschaftlicher Einschätzung kaum anders zu beurteilen ist als ein untrennbares Gemisch von vielen Spekulationen und Meinungen, einigen Einsichten und wenigen gesicherten Fakten".
§ 2 Tenninologie und Kriminologie
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Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig a) unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, b) unter Verwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder c) oder unter Einflußnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken,,30.
Diese Definition ist so zu verstehen, daß der Teil, der vor der Aufzählung a)-c) steht, die generellen Merkmale von Bandenkriminalität enthält. Die besonderen Merkmale a)-c) sind hingegen die Differenzierungsmerkmale im Verhältnis zur allgemeinen Bandenkriminalität. Gleichwohl sind die Grenzen zur Bandenkriminalität fließend. Außerdem unterscheidet sich die O.K. von der Bandenkriminalität dadurch, daß bei der Bande der Täter die Straftat bestimmt, der Mitgliederstamm bei der Bande überschaubar ist, bei der Bande persönliche Beziehungen bestehen und die Bande "kurzlebiger" ist. Das Wichtigste ist aber, daß die Bande keine logistische Organisationsstruktur aufweist sowie nicht auf einen Machtanwachs in Politik und Wirtschaft bedacht ist 31. Bereits Mitte der siebziger Jahre haben Forschungsarbeiten auf Gemeinsamkeiten zwischen legalen Wirtschaftsunternehmen und illegalen Organisationen hingewiesen. Dieser Zusammenhang wird vor allem deutlich, wenn die geschätzte Dimension der O.K. mit in den Blick genommen wird32 : Anfang 1992 wurde die "Kommission Organisierte Kriminalität" beim BKA beauftragt, eine statistische Auswertung für das Jahr 1991 zu erarbeiten. In dieser Auswertung wollte man das Ausmaß dieser Kriminalitätsform beleuchten. Schon zu Beginn der Recherche wurde sichtbar, daß diese Repräsentativerhebung nicht auf die klassischen Datensammlungen und Statistiken zurückgreifen JO Gemeinsame Richtlinien der Justizminister / -senatoren und der Innenminister / -senatoren der Länder über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität. Abgedruckt in: Kleinknecht / Meyer-Goßner, Anlage E; siehe dazu auch: NeuseI in: Eisenmann (Hrsg), Politische Studien, Sonderheft 3/93, S. 7. - Eine ähnliche Definition hat der Deutsche Bundestag in der Begründung zum OrgKG vom 17.07. 1992 gegeben, BT-Drucksache 12/989, S. 24. Ähnlich auch die Legaldefinition in Art. I Abs. 3 BayVerfSchG i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des BayVerfSchG vom 8.7.94, GVBI. 551. - An der O.g. Definition wird teilweise Kritik geübt: Schwind, Kriminolgie, S. 460, ist der Ansicht, daß die BegrifTsdefinition möglicherweise nicht klar genugt gefaßt sei, um für den Bereich strafprozessualer EingrifTsregelungen tauglich zu sein. In der kriminologischen literatur (Kaiser, Kriminolgie, § 38 Rn. 15 fT.) wird deshalb die O.K. anhand einer Indikatorenliste bestimmt. Indikatoren für das Vorhandensein von O.K. sind danach: Dauerelernent; strafTer Führungsstil; planmäßiges und arbeitsteiliges Vorgehen; Verknüpfung von legalen mit illegalen Geschäften; konspiratives Täterverhalten; flexible Verbrechenstechnologie und -methoden; Geldwäsche; Ausnutzung der Infrastruktur; Internationalität und Mobilität. 31 Schwind in: Kriminologie, § 26, Rn. 7; Kollmar in: Kriminalistik 1974,3; Stümper in: Kriminalistik 1985, 15 fT.; Weschke in: Kriminalistik 1986, 298.
J2
Zum Ausmaß der O.K. vgl. Schwind in: Kriminologie, § 26 Rn. 7a fT.
24
I. Abschnitt: Tenninologie und Kriminologie
konnte, weil die kriminalpolizeilichen Meldedienste auf Täter- oder modusoperandi-Perseveranzen aufbauen. Auf die deliktsübergreifend und deliktsunabhängig agierenden O.K.-Straftäter treffen die Regeln der Perseveranzen jedoch gewöhnlich nicht zu. Eine an der Straftat orientierte Auswertung des Kriminalgeschehens konnte also nicht die gewünschten Ergebnisse bringen. Es mußte eine mühevolle manuelle, spezifische Auswertung vorgenommen werden33 • Resultat der Untersuchung war schließlich, daß im Jahre 1991 in neun Bundesländern sowie beim BKA 369 Verfahren bearbeitet wurd,en, die eindeutig dem Organisierten Verbrechen zuzuschreiben sind, wobei in diesen Verfahren insgesamt 104.937 Einzeldelikte verfolgt wurden. Der Gesamtschaden bezifferte sich auf ca. 3,5 Mi1\iarden Mark, wobei dabei ein Gewinn von etwa 760 Millionen Mark zu erzielen wa~4. Diese Zahlen brauchen nicht weiter interpretiert zu werden, zumal die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher liegen dürfte. Man kann also festhalten, daß das Organisierte Verbrechen überall dort anzutreffen ist, wo schnell und wo viel Geld zu verdienen ist. Allein der jährliche Umsatz aus dem weltweiten Drogenhandel wird auf die Größenordnung von mehreren hundert Milliarden Mark geschätzt, wobei davon auf die BRD ein Anteil von ca. 10 Milliarden Mark entfällt35 • Nach offiziellen Angaben der UN0 36 erreicht der jährliche "Gesamtumsatz" der Verbrechersyndikate, die weltweit operieren, die unvorstellbare Summe von einer Billion Dollar. Allein die Versicherungswirtschaft in der Bundesrepublik hatte 1992 wegen Kraftfahrzeugdiebstählen einen Schaden in Höhe von zwei Milliarden Mark. Daß diese Kriminalitätsform in der Bundesrepublik existiert, wird heute von fast niemandem mehr ernsthaft bestritten37 • Es stellt sich deshalb nicht mehr die Frage, ob es Organisierte Kriminalität in der BRD gibt, sondern allenfalls, wie verbreitet sie ise s. Es liegt auf der Hand, daß bei einem solch exorbitanten Umfang der Organisierten Kriminalität eine betriebswirtschaftsähnliche Struktur der kriminellen Organisationen zwingend notwendig sein muß, wenn ein funktionierender Ablauf gewährleistet sein soll. Nur eine arbeitsteilige, systematische )) Eisenberg weist zur Interpretation solcher empirischer Statistiken darauf hin, daß "das Phänomen Organisierte Kriminalität weder durch Straftatbestände noch durch gesetzliche Verfahrensnonnen definiert ist, sondern vielmehr ein Ergebnis kriminologischer oder kriminalistischer Bewertung ist. So vennögen die StrafVerfolgungsbehörden aus der Vielgestaltigkeit verdächtiger Phänomene diejenigen herauszugreifen, die sie als Organisiertes Verbrechen sehen (wollen) ...... Eisenberg in: Kriminologie, § 57 Rn. 77, S. 1156. J4
NeuseI in: Eisenmann (Hrsg.), Politische Studien, Sonderheft 3/93, S. 9.
J~
Neusei , S. I \.
J'
Bindzus in: JuS 1995,373.
Ostendot:f in: JZ 1991. 64 f.; Zachert in: Kriminalistik 1990, 622; Kube / Koch in: Kriminalistik 1990. 629; Meertens in: ZRP 1992, 205; Hassemer in: StV 1990, 328; Strate in: StV 1992, 29; Siebe,. in: JZ 1995, S. 758 (768). 37
JR
Schwind in: Kriminologie § 26 Rn. 22.
§ 2 Tenninologie und Kriminologie
25
Vorgehensweise kann eine derartige "Fülle an Straftaten" bewältigen39 • Ob sich diese theoretischen Überlegungen in praxi bestätigen lassen, hat Sieber40 in einer unter kriminologisch-empirischen Gesichtspunkten vorgenommenen Analyse der O.K. erforscht. Er kam zu folgenden Ergebnissen 41 : Bei der O.K. handelt es sich um ein kaufmännisch-geplantes Vorgehen42 • Das Merkmal "Verwendung gewerblicher oder geschäftlicher Strukturen" beschreibt die Parallelität zwischen illegalen Organisationen und legalen Wirtschaftsunternehmen. Diese Ähnlichkeit ist insbesondere in den "logistischen Strukturen43 .. gegeben. Das Neue am Forschungsansatz von Sieber44 ist, daß er ins Zentrum seiner Überlegungen die Erkenntisse gestellt hat, daß die organisierten Straftäter ähnliche Organisationsstrukturen wie legal arbeitende Wirtschaftsunternehmen aufweisen. Und weil das so ist, müssen die bestehenden betriebswirtschaftlichen Theorien in bezug auf Organisationsablauf, Warenabsatz und vor allem Logistik auch auf die O.K. unmittelbar anwendbar sein, wobei wiederum die Eigenart des illegalen Marktes und die Verhinderung der Tataufdeckung als wesentliches Sondermerkmal der O.K. berücksichtigt werden müssen. Für den hier zu bearbeitenden Themenbereich ergab sich sonach nachstehender Befund: a) Wichtiges Logistikelement ist der Informationsftuß (Datentransfer), welcher sorgsam getarnt und verschleiert wird. b) Die Tätergruppen 45 unterliegen einem strengen Disziplinierungssystem, was wiederum eine hierarchisch strukturierte Organisation bedingt. Die Hintermänner treten nur durch Mittelsmänner auf, welche abermals über Mittelsmänner agieren. Dadurch wird ein optimaler Abschottungseffekt erreicht. Die 39
40
Sieber in: JZ 1995, 760. Sieber, S. 760.
41 Dieser Befund deckt sich im wesentlichen mit einer Indikatorenliste, die das Bundeskriminalamt zur Erkennung von O.K. entwickelt hat. vgl. Kaiser, Kriminologie. § 38 Rn. 16. 42 Die kaufmännische Struktur wird im übrigen auch dadurch belegt. daß im Bereich der O.K. der Kunde die Tat bestimmt und nicht der Täter. Letztlich arbeitet das O.K. nach dem wirtschaftlichen Grundsatz von Angebot und Nachfrage. wodurch sich eine Spezialisierung auf die Befriedigung von gesellschaftlich anerkannten, aber illegalen Wirtschaftsgütern herausgebildet hat. Vgl. Kaiser, Kriminologie, § 38 Rn. 18 und Rn. 30.
43 Unter dem Begriff "Logistik" werden aus betriebswirtschaftlicher Sicht alle Material- und Infonnationsprozesse verstanden, die der Raumüberwindung und Zeitüberbrückung sowie deren Steuerung und Regelung dienen, sog. Business logistics. Die Logistik kann somit die gesamte Spanne von der Rohstoffbeschaffung bis hin zum Vertrieb der Fertigerzeugnisse umfassen. vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Band 13: LAH-MAF. 19. Aufl. 1990, S.488. Angewendet auf die O.K. bedeutet das, daß sich die Logistik der O.K. beispielsweise vom Diebstahl des Kfz bis zu dessen Vertrieb erstreckt. 44 Sieher, S. 767.
45 Im Gegensatz zur Bandenkriminalität tritt bei der O.K. die persönliche Beziehung im Gegenssatz zur Funktionalität der Mitgliedern in den Hintergrund. Die einzelnen Mitglieder sind somit weitgehend austauschbar. Vgl. Kaiser. Kriminologie, § 38 Rn. 17.
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I. Abschnitt: Tenninologie und Kriminologie
einzelnen Mitglieder besitzen häufig die gleiche Staatsangehörigkeit, was jedoch nicht zwingend ist. c) Die Logistik stellt sich so dar, daß die einzelnen Tätigkeitsbereiche sachlich und personell aufgeteilt werden (z. B.: Beschaffung, Herstellung, Absatz). Das Funktionieren der Logistik steht in Abhängigkeit zu dem oben unter a) erwähnten Kommunikationsgeflecht. d) Der illegale Markt zeigt eine oligopolistische Struktur. e) Die Organisationen bedienen sich externer Fachleute, wie Rechtsanwälte oder Steuerberater, um die betriebswirtschaftlichen Folgeprobleme in den Griff zu bekommen. Es ist also festzuhalten, daß die kriminellen Organisationen nach betriebswirtschaftlichen Strukturen arbeiten. Modifiziert sind diese Strukturen freilich durch die Tatsache, daß die kriminellen Organisationen auf Verdeckung ihrer Tätigkeit bedacht sein müssen, um auf Dauer ein effektives Gewinrlstreben zu ennöglichen. Diese Tarnung wird einerseits durch die bereits erwähnte strenge Personalhierarchie erreicht, andererseits werden die (treuen) Mitglieder aber auch in eine Art "soziales Netz" eingebunden, quasi als Belohnung tUr die erbrachten Dienste und um das Gemeinschaftsbewußtsein zu stärken. In concreto geschieht dies dergestalt, daß Budgets zur Bezahlung von Anwälten, Kautionen, Bestechungsgeldern gebildet werden und weiterhin eine "Familien- und Hinterbliebenenversorgung" initiiert wird46 • Die logistische Umsetzung des Zieles ist somit am besten mit einer Militärlogistik zu vergleichen. Mit dem Einsatz modernster Technologie, internationaler Kontakte und konspirativer Methoden sind die O.K.-Täter stets in der Lage, auf neue Bekämpfungs- und Ennittlungsmethode der Polizei rasch und effizient zu reagieren47 • Letztlich ist Hauptziel die Risikominimierung beziehungsweise die Venneidung von organisationsschädlichen Aussagen einzelner Mitglieder vor den Strafverfolgungsbehörden. Andere Untersuchungen48 ergaben, daß die überwiegende Anzahl der Gruppierungen im Sinne der O.K. keine monolitische Struktur aufweisen, wie etwa dauerhafte Gruppierungen. Es soll sich nicht um militärisch organisierte Gewaltorganisationen handeln, sondern in Europa ist ein grenzüberschreitendes informelles Netz gegenseitiger Bekanntschaften von Vollzeitkriminellen vorherrschend. Diese Kriminellen arbeiten dann von Aktion zu Aktion zusammen, wobei der Bestand ihrer Mitglieder wechselt. Es handelt sich größtenteils um Bandenkriminalität, wobei hierfiir auch der Begriff "Netzstrukturkriminalität" verwendet wird. In bezug darauf meint Eisenberg49 , daß eine "funktionsorientier%
Schwind, Organisierte Kriminalität, S. 17 ff.
47
Kaiser, Kriminologie, § 38 Rn. 24.
411
Schwind in: Kriminologie, § 26 Rn. 6 m.w.N.
49
Eisenberg in: Kriminologie, § 57 Rn. 74, S. 1155.
§ 2 Terminologie und Kriminologie
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te Verknüpfung" ohne Geschlossenheit an Stelle einer personell-hierarchischen Organisationsstruktur im Vordergrund stehe. Dies sei durch das Prinzip der Tatbegehung nach "Bedarf und Nachfrage" bedingt, weil die Folge davon die ständige Änderung des Angriffsobjektes und die Zusammensetzung der Gruppierungen sei. Die bedrohlichste50 Entwicklung für Staat und Gesellschaft besteht indes darin, daß die "Gewinne" in legale Geschäfte "refinanziert" werden und dadurch sich das Organisierte Verbrechen innerhalb der Gesellschaft auf scheinbar ganz "legale" Art und Weise mehr und mehr etabliert, wobei insoweit in zunehmendem Maße auch ein Einflußzuwachs in Politik und Wirtschaft zu erkennen ist51 • Diese Machtkonzentration birgt eine beachtliche Gefahr für eine effektive Verbrechensbekämpfung. Hat das Organisierte Verbrechen erst einmal seinen Weg in führende Positionen in Politik und Wirtschaft gefunden, wird eine erfolgreiche Verbrechensbekämpfung immer aussichtsloser. Es tritt als Folge einer solchen Entwicklung quasi eine Potenzierung der schädlichen Wirkung auf Staat und Gesellschaft ein52 • In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen von Krey53 aufschlußreich, daß "mit der zunehmenden Bedeutung der O.K. gewissermaßen die Axt an die Wurzel der rechtsstaatlichen Verfassungssordnung gelegt" wird und daß letztlich eine Gefahr der "Unterwanderung und Korrumpierung staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen" besteht. In die gleiche Richtung gehen die Ausführungen der SPD-Fraktion54 hinsichtlich des Entwurfs eines 2. OrgKG. Dort heißt es: "Die Organisierte Kriminalität kann zu einer systembedrohenden Kraft werden". 50
Kaiser, Kriminologie, § 38 Rn. 19.
Die Korruption ist ein wesentliches Element der O.K. Bisher ist kein spezifisches Ermittlungselement gegen diese Erscheinungsform der O.K. in Deutschland geschaffen worden. Anders indes in den U.S.A., Italien und der Schweiz. 51
52 Besonders drastisch, dafür aber umso deutlicher ist diese gefährliche Entwicklung derzeit in Rußland zu beobachten. Im Rahmen der Veranstaltung der Europäischen Rechtsakademie (s.o. S. 18) berichtete ein Vertreter des russischen Innenministeriums, daß in Rußland 80% der Banken von kriminellen Organisationen kontrolliert werden. Die Korruption in Verwaltung, Militär, JuStiz und Wirtschaft sei weit verbreitet. 30-50% der aus der O.K. stammenden Gelder werden für Korruption verwendet. Die allgemeine Sicherheitslage sei derart besorgniserregend, daß die Polizei nicht mehr in der Lage sei, die Kriminalität wirksam zu bekämpfen. Insgesamt sei die Kriminalität um 30% angestiegen. - Ein derartiges Ausmaß korruptiver Unterwanderung des Staates wird man zwar in der Bundesrepublik Deutschland nicht behaupten können. Die derzeitige Lage in Rußland soll jedoch als abschreckendes Beispiel für die Schlagkraft der O.K. beobachtet werden. Insbesondere hat der Präsident des BKA Zachert eine zusätzliche Gefahr darin gesehen, daß die Entwicklung in Rußland auch Deutschland erfassen kann, weil die geographische Lage der BRD die Entstehung einer Drehscheibenfunktion in bezug auf die Strömung von Ost nach West ermöglichen könnte, vgl. Zachert, oben S. 18, Fn. 8. 53 Krey in: FS für Miyazawa, S. 596; Rogall in: GA 1985, 1 (2); Schneider in: JURA 1984, 169 ff. 54 BT-Drucksache 12/6784.
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I. Abschnitt: Terminologie und Kriminologie
Das Organisierte Verbrechen hat sich auf folgende Deliktsgruppen spezialisiert55 : Rauschgift, Waffenhandel, Kfz-Diebstahl, Zuhälterei und Menschenhandel, unerlaubte Arbeitsvermittlung und illegales Einschleusen von Ausländern, illegale Entsorgung von Sondermüll, Geldwäsche und neuerdings Nuklearkriminalität56 , vor allem in den ehemaligen Ostblockländern. Weiterhin sind massive Folgewirkungen der Organisierten Kriminalität zu beobachten. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes ist davon auszugehen, daß jeder zweite Diebstahl von oder aus einem Kraftfahrzeug sowie jeder dritte Einbruchdiebstahl und jeder fünfte Raub als Beschaffungskriminalität im Zusammenhang mit dem organisierten Rauschgifthandel zu werten ist57 • Die kriminellen Organisationen, welche in der Bundesrepublik Deutschland "etabliert" sind, sind namentlich weitgehend bekannt. Als bekannte Verbrechensorganisationen, welche in der Bundesrepublik Deutschland tätig sind, gelten 5R : Asiatische Organisationen Chinesische Triaden 59 : Dies ist ein Oberbegriff der Unterorganisationen 14 K (20.000 Mitglieder) und der WO-SHING-WO (25.000 Mitglieder). Die aus China stammende Verbrecherorganisation hat sich hauptsächlich auf die Deliktsbereiche: Raub, Schutzgelderpressung, unerlaubtes Glücksspiel und Rauschgifthandel spezialisiert. Eine umfassende Bewertung der kriminellen Tätigkeit der Chinesischen Triaden ist im Hinblick auf die Dunkelziffer und vor allem im Hinblick auf die abgekapselte Struktur der Organisation nicht möglich.
Italienische Organisationen Die italienischen Syndikate gelten als klassische Form des Organisierten Verbrechens. Zu nennen sind hier insbesondere die Sizilianische Mqfia 60 : ~~ Kaiser, Kriminologie, § 38
Rn. 21.
~. Bartholme JA 1996, 730 ff. ~7 NeuseI in: Eisenmann (Hrsg), Politische Studien, Sonderheft 3/93, S. 12.
~H Vgl. dazu auch Krey in: FS fiir Miyazawa, S. 595 f., sowie Werthebach I Droset-Lehnen
in: ZRP 1994, S. 57 ff.
~. Das Wort Triaden wird vorn chinesischen Emblem der Geheimgesellschaften in Fonn eines gleichschenkligen Dreiecks, dessen Seiten den Himmel, die Erde und den Menschen darstellen, abgeleitet. - Ähnlich der Mafia in Sizilien waren die Triaden Schutzorganisationen anner Bauern gegen soziale Ungerechtigkeiten. Die Anfänge reichen bis zur Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) zurück. Erst ab dem 20. Jhd. verkamen diese Banden durch die Abdankung des letzten Mandschu-Kaisers (1911) und die folgenden Bürgerkriege zu kriminellen Organisationen. Stützpunkte im Ausland werden "Drachenstädte" genannt. V gl. zum ganzen: Thamm, Drachen bedrohen die Welt, Hilden 1996. 60 Zum Begriff Mafia: Als Mafia bezeichnet man eine Verbrechensorganisation, die zusätzlich zu ihrem kriminellen Streben das Ziel hat, wirtschaftliche oder politische Machtpositionen zu erringen. Die Mafia unterscheidet sich somit dadurch von sonstiger O.K., daß sie bestrebt
§ 2 Tenninologie und Kriminologie
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Diese besteht aus 186 Clans und umfaßt etwa 5000 Mitglieder. Camorra61 aus Neapel: Die Camorra umfaßt etwa 106 Familien und 5000 Mitglieder. N'drangheta: Hier sind 144 Familien und 5.100 Mitglieder bekannt. Nuova Sacra Corona Unita: Diese Organisation umfaßt ca. 1.200 Mitglieder in 20 Familien. Russische Organisationen Rote Mafia 62 : Nach Schätzungen von O.K.-Experten des russischen Innenministeriums besteht die Rote Mafia aus etwa 500 Syndikaten. Schon im Jahre 1991 setzten sie mehr als 3 Milliarden Rubel um. Für das Jahr 1993 wird der Gesamtumsatz auf 130 Milliarden Rubel geschätzt. Einer Prognose nach soll die Rote Mafia in den nächsten Jahren 30-40% des Bruttosozialprodukts der GUS-Staaten kontrollieren63 • Als Antwort auf die erste Ausgangsfrage64 läßt sich somit sagen, daß das Phänomen "Organisierte Kriminalität" in der Tat ein bedrohliches Ausmaß angenommen hat und daß deren effektive Bekämpfung durchaus als vorrangige Staatsaufgabe angesehen werden kann und auch muß. Beachtenswerte Gedanken im Hinblick auf einen möglichen Zusammenhang von Staatsform und Organisiertem Verbrechen hat Kürzinger65 fonnuliert. Er ist der Ansicht, daß Grundveraussetzung tUr die O.K. die Existenz eines liberalen Staates sei sowie eine gewisse gesellschaftliche Infrastruktur. Zudem müsse der Staat wirtschaftlich liberal sein. Zu diesem Ergebnis kommt auch Kaiser66 • Er meint, daß die O.K. durch die zunehmende Mobilität und Freizügigkeit der Menschen in Europa begünstigt wird. Vor allem aber sei in diesem Zusammenhang problematisch, daß im Gegensatz zu dieser Freizügigkeit die Polizei streng an die Staatsgrenzen ist, Legislative und Exekutive mit eigenen Leuten zu unterwandern, vgl. Schwind, in: Kriminologie, § 26 Rn. 5. - Der Ausdruck "Mafia" taucht erstmals 1865 in der offiziellen italienischen Amtssprache auf. Die Herkunft des Begriffs sowie die Geschichte der Mafia sind nicht genau bekannt. Vermutlich wurde die Mafia schon im 13. Jahrhundert in Sizilien gegründet, und zwar als eine Art "Selbshilfeorganisation", die fiir die ländliche Bevölkerung Schutz- und Vermittlerfunktion ausübte, vgl. Schwind, Kriminolgie, § 26 Rn. 9. Die Mafiaoberhäupter werden Mafiosi genannt. Die Gemeinschaft, die der Mafioso beschützt, nennt man "Cosca" und die Vollstrecker seines Willens "banditi". An dieser Stelle sei das Buch des berühmtesten "MafiaJäges" Giovanni FaIcone "Inside Mafia" (München 1992) erwähnt. Der Richter FaIcone wurde 1992 bei I'alermo ermordet. 61 Schwind in: Kriminologie, § 26 Rn. 10 m.w.N. 62
Schwind in: Kriminologie, § 26 Rn. 21.
Zu dieser Problematik: Reitz/Jach, Deutschland im Visier, in: FOCUS 4/ 1993, S. 42 ff.; Rowold, Ein Mann kämpft gegen die Rote Mafia, in: DIE WELT vorn 29.01.1992; Kriwulin, In krimineller Gesellschaft, in: F.A.Z. vorn 24.10.1992. M Siehe oben S. 19. 63
65
Kürzinger in: Kriminologie, Rn. 479, S. 310.
M
Kaiser, Kriminologie, § 38 Rn. 25.
30
I. Abschnitt: Tenninologie und Kriminologie
gebunden ist. Es sei zwar im Vertrag von Maastricht die Schaffung einer europäischen Polizei (EURO-POL mit Sitz in Den Haag) beschlossen worden, eine Umsetzung ist bis dato indes noch nicht geschehen. Diese - fundamentalen - Gedanken sind nicht von der Hand zu weisen, wenn man das Entstehen der O.K. in den ehemaligen sozialistischen Ländem67 verfolgt. Dort blühte die O.K. erst nach dem Untergang der Planwirtschaft richtig auf. In diesem Sinne sieht Kürzinger die Existenz der O.K. als Preis für die Freiheit an. Diese interessanten Gedanken, die letztlich die Wechselwirkung von O.K. und Freiheitsrechten aufzeigen, mögen für den Moment hintan gestellt werden, um sie aber an anderer Stelle nochmals aufzugreifen. 2. Geeignetheit und Erforderlichkeit von verdeckten Ermittlungen?
Ist das erschreckende Ausmaß der Organisierten Kriminalität somit erkannt und auch die zwingende Notwendigkeit von deren rechtsstaatlicher Bekämpfung, so muß nun der zweiten Frage nachgegangen werden, ob der Einsatz von verdeckten Ermittlungen ein grundsätzlich geeignetes Mittel zur Bekämpfung darstellt. Auch zur Beantwortung dieser Frage kann auf den neueren empirischen Untersuchungen aufgebaut werden. Kerner68 hat in einer 1973 veröffentlichten Analyse ein "grenzüberschreitendes, informationelies Netzwerk" innerhalb der Verbrechensszene als wesentliches Charakteristikum angesehen. Zu demselben Ergebnis gelangen auch Sieber69 und Bögefo. Als wesentliches Untersuchungsergebnis erklären sie, daß das "wichtigste, übergreifende Logistikelement" der Informationsfluß unter den Tätern ist. Als "Informationsbörse" dienen vor allem Szenetreffs und Kontaktleute, wobei konkrete Deliktsabsprachen regelmäßig nur bei persönlichen Zusammentreffen stattfinden. Wenn somit das informationelle Netzwerk ein essentielles Kernstück in der Struktur des Organisierten Verbrechens ist, dann ist es evident, daß der Einsatz von verdeckten Ermittlungsmethoden grundsätzlich als geeignetes Mittel angesehen werden kann, um den Organisationsablauf der kriminellen Vereinigungen nachhaltig zu stören. Denn verdeckte Ermittlung ist letztlich nichts anderes als verdeckte Informationsbeschaffung. h7 Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion wurden von Experten bereits 1991 mehr als 3.500 kriminelle Gruppierungen geschätzt. Vor allem im Bereich des Waffenhandels sowie des Rauschgiftes und der Kfz-Schiebereien ist ein drastischer Anstieg zu verzeichnen. Vgl. Kaiser, a.a.O., Rn. 23; Joutsen, The potential for the growth of organized crime in central and eastem Europe, in: Euopean Journal ofCriminal Policy and Research (1993), S. 77 ff. (80). hK Kerner, Professionelles und organisiertes Verbrechen (BKA-Schriftenreihe), 1973; ders. in: Kleines Kriminologisches Wörterbuch, S. 381. h9 Sieber in: JZ 1995, 752. 70
Siehe Fn. 7.
§ 2 Terminologie und Kriminologie
31
Diese Erkenntnis hat sich nunmehr in Rechtsprechung 71 und Literatur72 grundsätzlich durchgesetzt. Der Sächsische Verfassungsgerichtshof1J vertritt in seinem Grundsatzurteil vom 14. Mai 1996 zur Überprüfung des Sächsischen Polizeirechts die Ansicht, daß die Organisierte Kriminalität eine Erscheinung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens ist. .. Dabei handelt es sich um besonders vielgestaltige, in steter Entwicklung begriffene Erscheinungsformen, deren Bekämpfung situationsbedingtes flexibles Handeln verlangt. Die Polizei muß als Widerpart des organisierten Verbrechens ihre Fahndungs- und Beobachtungsmethoden der Langfristigkeit und Weiträumigkeit der gegnerischen Strategien anpassen. In diesem Kriminalitätsbereich reichen die herkömmlichen Mittel des Polizeirechts nicht aus,,74. C. Personelle Begriffsbestimmungen In dem hier dargestellten Themenkreis werden in der Regel verschiedene Begriffe für denselben Gegenstand verwendet. Teilweise überlagern sich diese Begriffe, andererseits wird diesen Begriffen unterschiedliche Bedeutung75 beigemessen, wobei gerade hinsichtlich der dogmatischen Aufarbeitung dieses Problemkreises auf eine genaue Terminologie geachtet werden sollte. Aus diesem Grund soll zunächst einmal eine "Begriffsentwirrung"76 vorgenommen werden, wobei sich eine allgemein gebräuchliche Terminologie in Rechtsprechung und Wissenschaft noch nicht herauskristallisiert hat. 1. Verdeckte Ermittler
Der Einsatz des Verdeckten Ermittiers ist sowohl auf präventiver wie auf repressiver Ebene denkbar. Gesetzliche Regelungen finden sich folglich in den Landespolizeigesetzen sowie in der Strafprozeßordnung. Im repressiven Bereich ist der Begriff des Verdeckten Ermittiers durch das OrgKG 77 vom 15. Juli 1992 in § II0a Abs. 2, Satz 2 StPO legaldefiniert worden. Dort heißt es: "Verdeckte ErmittIer sind Beamte des Polizeidienstes, die unter einer ihnen verliehenen, auf Dauer angelegten, veränderten Identität (Legende) ermitteln. 71
SächsVerfGH in: LKV 1996,275 (282).
n Denninger in: JA 1987, 131; Kniesei I Vahle in: DÖV 1989, 566 (568 f.); Kniesei in: ZRP 1992, 164. 73 74
SächsVerfGH, a.a.O. SächsVerfGH, a.a.O.
7~ Ein eindrucksvolles Beispiel für eine Begriffsverwirrung ist in BGHSt 32, 115 (121) zu erkennen. Dort soll die V-Person einerseits "nicht nur im Einzelfall" Hinweise geben, andererseits aber soll der V-Person-Begriff auch die "gelegentlichen Hinweisgeber" umfassen. 76 Ostendorfl Mayer-Seitz in: StV 1985, 74 f. 77 BGB!. 1992 I S. 1302.
32
I. Abschnitt: Tenninologie und Kriminologie
Damit weicht die Legaldefinition in § 110a Abs. 2, Satz 2 StPO nur geringfügig von der Begriffsbestimmung, welche in den Gemeinsamen Richtlinien 78 der Justizminister / -senatoren und Innenminister / -senatoren über die Inanspruchnahme von Informanten sowie über den Einsatz von Vertrauenspersonen und Verdeckten Ermittlern im Rahmen der Strafverfolgung dem Verdeckten ErmittIer gegeben wurde, ab. In diesen Richtlinien heißt es: "Verdeckte Ennittler sind besonders ausgewählte und ausgestattete Polizeivollzugsbeamte, die unter einer Legende Kontakte zur kriminellen Szene aufnehmen, um Anhaltspunkte für Maßnahmen der Strafverfolgung zu gewinnen, und deren Identität auch im Strafverfahren geheimgehalten werden soll."
Die gesetzliche Definition differiert somit von der Begriffsbestimmung in den Gemeinsamen Richtlinien hinsichtlich des Dauerelernents sowie der Geheimhaltung im Strafverfahren. Daß die Geheimhaltung in einem möglichen Strafverfahren nicht explizit einen gesetzlichen Ausdruck gefunden hat, verwundert nicht, denn eine solche Geheimhaltung wird nach anderen strafprozessualen Grundsätzen, etwa § 110b Abs. 3 StPO, ohnehin geregelt und ist für den Verdeckten Ermittler nicht begriffsnotwendig79 • Hinsichtlich des Merkmals "auf Dauer angelegt" hat der Gesetzgeber ausgeführt, daß das Erfordernis der auf Dauer angelegten Legende den Verdeckten Ermittler von dem Beamten, der nur "gelegentlich verdeckt" auftrete und seine Funktion nicht offen lege, unterscheiden soll. Der Einsatz des Letzteren regele sich nach den allgemeinen Bestimmungen, wobei hier nur an die §§ 161, 163 StPO gedacht werden könnte 8o • Ob durch die Einfügung des "Dauerelements" bei der gesetzgeberischen Begriffsbestimmung der gelegentlich verdeckt operierende Polizeibeamte nunmehr unzulässig ist, ist keine Frage der Begriffsbestimmung, sondern eine Frage des zulässigen Handlungsbereichs. Weiterhin ist durch das Merkmal "Beamte des Vollzugsdiensts" klargestellt, daß der Polizist entweder Deutscher oder ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft sein muß, was in § 4 Abs. 1 Nr. 1 BRRG klargestellt ist. Für den präventiven Einsatz eines Verdeckten Ermittlers findet sich nur eine "mittelbare" Legaldefinition in den Landespolizeigesetzen 81 • In § 22 Abs. I, Nr. 3 BW PolG heißt es "der Einsatz von Polizeibeamten unter Geheimhaltung ihrer wahren Identität (Verdeckter Ermittier)". Hieraus läßt sich jedenfalls entnehmen, daß es sich um einen Polizeibeamten handeln muß und daß V-Personen nicht als Verdeckte Ermittier in diesem Sinne gelten 82 • Die Tatsache, daß in 7" Abgedruckt in: Karlsruher Kommentar, Richtlinien fiir das Strafverfahren, Anlage D; KleinknechtlMeyer-Goßner, Anlage E; vgl. auch Benjer in: MDR 1994, 12. 79 Krey, Rechtsprobleme, Rn. 4. RO
Vgl. Kleinknecht I Meyer-Goßner, § IlOa Rn. 4.
"I § 22 PolG BW; Art. 33, 35 PAG Bayern; § 16 SOG Hessen; § 39 PAG Mecklenburg-
Vorpommem; § 20 PolG Nordrhein-Westfalen. "2 WürtenbergerlHeckmannlRiggert, Rn. 412 und Fn. 127.
§ 2 Tenninologie und Kriminologie
33
§ 22 Abs. I Nr. 3 BW PolG das Tatbestandsmerkmal "auf Dauer" ebenfalls nicht vorhanden ist, ist wiederum keine Frage der BegrifTsdefinition, sondern eine Frage danach, ob sich hieraus Konsequenzen für den nur gelegentlich verdeckt handelnden Polizeibeamten ergeben. Im übrigen sind die Gesetzestexte der Landespolizeigesetze nicht einheitlich. In § 20 PolG NW heißt es etwa in Abs. I: "Die Polizei kann durch einen Polizeivollzugsbeamten, der unter einer ihm verliehenen, auf Dauer angelegten Legende eingesetzt wird (Verdeckter ErmittIer), personenbezogene Daten über die in §§ 4 und 5 genannten und anderen Personen erheben, wenn ( ... )". 2. V-Personen Eine der Legaldefinition des VE vergleichbare gesetzliche Regelung hinsichtlich der V-Person 83 findet sich in der Strafprozeßordnung nicht, wohl jedoch in einigen Landespolizeigesetzen. So heißt es etwa in § 19 PolG NW über V-Personen: "Einsatz von Personen, deren Zusammenarbeit mit der Polizei Dritten nicht bekannt ist"s4. Insbesondere hat der Gesetzgeber für eine gesetzliche Regelung der V-Person im Rahmen des Strafprozesses keinen Handlungsbedarf gesehen 85 . In der BegTÜndung86 zum Entwurf des OrgKG führt der Gesetzgeber dazu aus: "Der Entwurf greift den Vorschlag nicht auf, auch flir die Inanspruchnahme von Infonnanten sowie über den Einsatz von Vertrauenspersonen (V-Personen) besondere Regelungen in der StPO zu schaffen. Diese Personen sind strafprozessual Zeugen, so daß die notwendige gesetzliche Grundlage fiir ihre Heranziehung im Enniulungs- und Strafverfahren gegeben ist." Im übrigen findet sich eine Begriffsbestimmung der V-Person lediglich in Verwaltungsvorschriften. In den eingangs erwähnten "Gemeinsamen Richtlinien"87 heißt es: "V-Person ist eine Person, die, ohne einer Strafverfolgungsbehörde anzugehören, bereit ist, diese bei der Aufklärung von Straftaten auf längere Zeit vertraulich zu unterstützen, und deren Identität grundsätzlich geheimgehalten wird."KR KJ Synonym werden folgende Begriffe fiir die V-Person in der Literatur verwendet: Informant, Gewährsmann, Vigilant, Konfident, agent provocateur, Polizeispitzel, Polizeiagent und Denunziant. Dies zeigt, daß es sich in der Tat um eine Begriffsverwirrung handelt. 114 Einen ähnlichen Wortlaut hat § 36 Abs. 1 NGefAG i.d.F. vom 13.04.1994. K5 Auch in dem Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts (StV ÄG) aus dem Jahre 1988 war eine Regelung des V-Person Problems nicht vorgesehen, siehe BT-Drucksache 11 /2834 sowie die Stellungnahme des Deutschen Richterbundes in: DRiZ 1989,307. "" BT-Drucksache 12/989, S. 41. K7 Siehe oben Fn 78. KK Von dieser Definition geht auch der BGH aus, vgl. BGH in: StV 1995, 228 (229). 3 MakrutzJti
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I. Abschnitt: Tenninologie und Kriminologie
Eine ähnliche Definition findet sich in der bundesweit gültigen Polizeidienstvorschrift89 "Führung und Einsatz der Polizei": "Personen, die der Polizei nicht nur im Einzelfal1 bei der Aufklärung von Straftaten aus unterschiedlichen Motiven behilflich sind, Hinweise geben und deren Identität grundsätzlich geheim gehalten wird."
Eine V-Person ist somit eine, von ihrem formellen Status aus gesehen, außerhalb der polizeilichen Organisation stehende Person, die für eine gewisse Dauer mit der Polizei zusammenarbeitet. Diese Begriffsbestimmung läßt somit eine Abgrenzung zum verdeckten ErmittIer in qualitativer Hinsicht und zum bloßen Informanten in temporaler und qualitativer Hinsicht zu. 3. Informanten
Über den Informanten heißt es in den Gemeinsamen Richtlinien90 : "Infonnant ist eine Person, die im Einze\fal1 bereit ist, gegen Zusicherung der Vertraulichkeit der Strafverfolgungsbehörde Infonnationen zu geben."
Der wesentliche Unterschied zur V-Person liegt somit im Umfang der Zusammenarbeit, sowie in der Tatsache, daß der Informant nicht in die Polizeiorganisation einbezogen ist. Es findet bei den Informanten kein operativer Einsatz statt91 • Der Informant ist damit vielmehr als "Tippgeber" anzusehen, der ähnlich einem Anzeigenerstatter die Polizei mit ermittlungsauslösenden Informationen92 versorgt, wobei der Informant im weiteren Verlauf der Ermittlungen dann nicht weiter eingesetzt wird. Der Informant gelangt somit völlig unabhängig von einer polizeilichen Veranlassung zu den Informationen, die er dann an die Strafverfolgungsbehörden weitergibt. Es liegt bei dem Informanten gerade keine staatliche Veranlassung vor. Ohne ein wesentliches Ergebnis dieser Arbeit vorwegnehmen zu wollen, ist schon begriffsnotwendig eine Zurechnung des HandeIns eines Informanten an den Staat ausgeschlossen. 4. Under Cover Agent (u.c.a.)
Der under cover agent93 ist weder in einem Gesetz noch in einer Richtlinie begrifflich definiert. Bei dem u.c.a. handelt es sich um eine Rechtsfigur, die in der deutschen Rechtswissenschaft und der offiziellen Polizeipraxis keine Rolle spielt. Roga1l 94 hat zur Definition des u.c.a. ausgefiihrt: R9
90
91
92 93
Abgedruckt in: Die Streife, 1-2/ 1984, S. 10; s.a. Scherp, S. 6. Siehe oben Fn. 78. Scherp, S.7. Scherp, a.a.O. Grundsätzlich zu dieser Rechtsfigur: Körner, BtMG, § 31 Rn. 109.
§ 2 Tenninologie und Kriminologie
35
"Bei diesen (seil.: den u.c.a.) handelt es sich um Polizeibeamte, die langfristig ohne konkreten Ennittlungsauftrag in die kriminel\e Szene eingeschleust werden, sich dort frei bewegen und gegebenenfal\s auch Straftaten begehen dürfen."
Es liegt hier auf der Hand, daß ein solches Handeln eines Beamten in der deutschen Rechtsordnung nicht zulässig sein kann. Zum einen ist der Einsatz einer solchen Person schwerlich mit dem Legalitätsprinzip in Einklang zu bringen95 , und zum anderen ist die grundsätzliche Erlaubnis zur Begehung milieubedingter Straftaten problematisch. Ausdrücklich heißt es nämlich in den "Gemeinsamen Richtlinien" in Punkt 11 3.2: "Verdeckte Ennittler dürfen keine Straftaten begehen. Eingriffe in Rechte Dritter sind ihnen nur im Rahmen der geltenden Gesetze gestattet."
Ein weiterer wesentlicher Unterschied zum gesetzlich geregelten Verdeckten Ermittler besteht darin, daß der u.c.a. keinen konkreten Ermittlungsauftrag als Grundlage seines Einsatzes haben muß, während der verdeckt arbeitende Polizeibeamte grundsätzlich einer straffen Führung durch die leitende Dienstbehörde unterliegt. So heißt es auch in den "Gemeinsamen Richtlinien": "Verdeckte EnnittIer dürfen nur mit einem konkreten Ennittlungsauftrag zeitlich begrenzt operativ eingesetzt werden ( ... ). Verdeckte Ennittler unterliegen einer straffen Führung."
Gerade an einer straffen Führung wie an einem konkreten Ermittlungsauftrag fehlt es bei dem u.c.a., so daß deutlich ist, daß die Figur des u.c.a. in unserer Rechtsordnung keinen Platz finden kann. Vor allem die neu eingefügten §§ llOa-e StPO lassen angesichts ihres abschließenden Charakters fur den Einsatz eines u.c.a. gar keinen Spielraum96 • 5. Agent Provocateur
Der Begriff des "agent provocateur" kennzeichnet keine eigenständige Personengruppe innerhalb der polizeilichen Untergrundarbeit. Als "agent provocateur" wird deljenige bezeichnet, der einen anderen zu einer Tat anstiftet, um ihn zu stellen und wegen dieser Tat der Bestrafung zuzuführen 97 • Der Begriff des agent provocateur steht demnach vielmehr rur eine Strategie, derer sich sowohl V-Personen, Verdeckte Ermittier, Informanten als auch under cover agenten bedienen können. Teilweise wird der Terminus "agent provocateur" sogar auf die klassische Fallgruppe der Anstiftung zu einer versuchten Straftat begrenzt98 • 94
Rogall in: JZ 1987, S. 847 (849).
9~
Rogall, a.a.O.
97
Krey, Rechtsprobleme. Rn. 12. Maaß in: JURA 1981,514.
9M
Seier / Sch/ehofer in: JuS 1983. 52.
%
36
1. Abschnitt: Tenninologie und Kriminologie
Solch eine begriffliche Restriktion soll hier vennieden werden. Die Figur des "agent provocateur" ist nämlich nicht gesetzlich vorgegeben, sondern dogmatisch entwickelt worden. Bei den zu entscheidenden Sachfragen hinsichtlich der Stratbarkeitsgrenze des "agent provocateur" bleiben die Intentionen in jeder Fallkonstellation die gleichen. Ganz gleich, ob der Provocateur nur zu einem Versuch oder zu einer vollendeten Haupttat anstiftet, er handelt immer mit dem Bestreben der Tataufklärung oder der Beweissicherung. Lediglich der straflose Handlungsbereich wird durch die möglichen Variationen beeinflußt, zu einer differenzierenden Tenninologie nötigt dies freilich nicht. Der "agent provocateur" steht somit für ein Handlungsmuster. Im Zusammenhang mit verdeckten Ennittlungen und aus kriminologischer Sicht ist jedoch bemerkenswert, daß der agent provocateur die Passivität verläßt und selbst versucht, das kriminelle Geschehen zu steuern. Er interagiert also nicht nur, sondern er versucht durch Interaktion eine Führungsrolle zu übernehmen99 • Eine prinzipielle Gleichsetzung von verdeckter Ennittlungsarbeit und der Handlungsweise des agent provocateur ist jedoch nicht haltbar und stünde auch mit der Praxis nicht im Einklang.
D. Empirik und Kriminologie in bezug auf die V-Person Die kriminologischen Erkenntnisse in bezug auf die V-Person sind ähnlich dürftig 100 wie die oben geschilderten Erkenntnisse hinsichtlich der Organisierten Kriminalität. Empirische Daten liegen so gut wie keine vor lOI • Dieser Mangel ist indes genauso zu beklagen, wie dies bereits bei der Darstellung der Organisierten Kriminalität geschehen ist. Einsichtig ist dieses Forschungsdefizit aber schon deshalb nicht, weil in der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung die grundsätzliche Bedeutung und die Notwendigkeit der V-Person für die Verbrechensbekämpfung immerwährend hervorgehoben wird, wobei sich der Leser vergegenwärtigen möge, daß die V-Person nicht der legislatorischen Regelung als würdig angesehen worden ist 102 • In diesem Sinne führt das BVerfG 103 aus: "Das BVerfG hat anerkannt, daß die Strafverfolgungsorgane bei der Bekämpfung des Rauschgifthandels ohne den Einsatz sog. V-Leute nicht 99 KreuzerlGebhardtlMaassenlStein-Hilbers, BKA-Forschungsreihe 14/81, S.364; Scherp, S. 8. 100 Scherp, S. I f.; Fallbeschreibungen aus der Praxis finden sich bei Velten, S. 22 ff., wobei allerdings hier extreme Negativbeispiele behandelt sind. Es handelt sich um die bekannten Fälle: ..Schmücker", ..Bulletjahn" und "Celler Loch". 101 Als Ausnahme sei hier die Dissertation von Scherp aus dem Jahre 1992 erwähnt, der, soweit ersichtlich, erstmalig eine gründliche kriminologische und empirische Aufarbeitung des Phänomens "V-Person" vornimmt. 102 Vgl. oben S. 33 f.
10)
BVerfG in: NStZ 1987, 276 unter Verweis auf BVerfGE 57, 250 (284).
§ 2 Tenninologie und Kriminologie
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auskommen, sofern sie ihrem Auftrag zur rechts staatlich gebotenen Verfolgung von Straftaten überhaupt gerecht werden sollen." Diese Ausführungen wurden wohl bemerkt zur Begründung der Zulässigkeit eines V-Personen-Einsatzes gemacht. Gegenüber diesen Ausführungen des BVerfG deutlich distanzierter erklärt der BGW 04 in einer Entscheidung vom 22. Februar 1995: ,,( ... ) während Vertrauenspersonen der Polizei oft selbst aus dem kriminellen Milieu stammen (seil.: im Gegensatz zu VE, die Polizeibeamte sind), in dem sie eingesetzt werden, jedenfalls aber nicht dieselbe professionelle Zuverlässigkeit wie Angehörige der Polizei aufweisen. Diesem Nachtei/ 105 bei der Inanspruchnahme von Vertrauenspersonen wird dadurch Rechnung getragen, daß bei der Bewertung ihrer Berichte gegenüber ihrem Polizeiführer besondere Vorsicht geboten ist und auf die Aussage eines V-Person Führers als eines Zeugen vom Hörensagen Feststellungen nur gestützt werden dürfen, wenn dessen Angaben durch andere wichtige Beweiszeichen bestätigt werden." Noch deutlicher erklärt das LG Berlin lO6 : ,,( ••• ) Es liegt auf der Hand, daß V-Personen erfolgsorientiert sind und ihre Mithilfe bei der Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität gewürdigt wissen wollen. Daher liegt die Annahme nahe, daß sie ihre Tätigkeit nicht selbstlos entfalten, sondern dafür entlohnt werden wollen. Bleibt infolge einer Sperrerklärung unklar, aus welchen sozialen Kreisen die V-Person kommt, muß mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß sie sich nicht erst auf die Fersen eines schon zur Tat Entschlossenen heftet, sondern daß sie selbst den Anreiz zur Tat schafft." Ähnliche Befürchtungen werden in der Literatur geäußert. So schreibt Z.B. Schoreit lo7 : "Es ist allgemein bekannt, daß V-Personen und ähnliche als voreingenommen und interessiert eingestuft werden können, so daß ihre Aussage prinzipiell weniger wert erscheint als diejenige eines anderen Zeugen. Wird also die V-PersonEigenschaft verschwiegen, kann das als rechtswidriger Versuch der Manipulation gedeutet werden." Aber auch Fälle aus der Gerichtspraxis scheinen einen Beleg für die Dubiosität von V-Personen erbringen zu können. So hat LüdersseniOR auf zwei Fälle hingewiesen, in welchen die Art und Weise des Vorgehens 104 BGH in: StV 1995, 228 (229) = NJW 1995, 2236 f., siehe zu dieser Entscheidung auch die Anmerkungen von Lilie in: NStZ 1995, 514 ff., Fezer in: JZ 1995,972, BGH in: StV 1991, 197; StV 1992,216; StV 1994,413; BGH in: StV 1983,403 f.; BGHSt 17,382 ff.; VGH Mannheim in: NJW 1984, 2429 f.; Sehr deutlich LG Darmstadt in bezug auf die zweifelhafte Glaubwürdigkeit einer V-Person, in: StV 1991,342; BGH in: StV 1994,413 f.; BGH 5. Senat - unveröffentlicht -, Az.: 5 StR 10/94; BGH in: StV 1994, 638. Im gleichen Sinne auch BGH in: NStZ 1995,410, (411), dort heißt es: "Damit können die durch den Einsatz von V-Leuten gewonnenen Ergebnisse zur Erlangung zulässiger Beweismittel mit hohem Beweiswert führen, während den Bekundungen von V-Personen im übrigen regelmäßig ein deutlich verminderter Beweiswert zukommt." 105 Hervorhebung vom Verfasser. 106
107 10.
LG Berlin in: StV 1993, 199 ff. Schoreit in: MDR 1992, 1013 (1015). Lüderssen in: JURA 1985, 114 (115).
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I. Abschnitt: Tenninologie und Kriminologie
der V-Personen in der Tat unhaltbar war. In dem einen Fall hatte ein junger Türke, der selbst erheblich straffällig geworden war, zwei Landsleute mit einem "getürkten Heroingeschäft" den Strafverfolgungsbehörden ausgeliefert, nur durch Zufall konnte der wahre Sachverhalt aufgeklärt werden. Diese Äußerungen decken in der Tat Widersprüchlichkeiten auf. Wenn denn das strafprozessuale "Ermittlungsinstitut V-Person" so essentiell rur die Strafverfolgung sein soll wie es das Bundesverfassungsgericht meint, dann muß es doch geradezu absurd wirken, wenn der Bundesgerichtshof der Ansicht ist, daß der Beweiswert einer V-Person sehr gering sei und ihm eigentlich nur beim kumulativen Zusammenwirken mit anderen Beweiszeichen Glauben geschenkt ~erden dürfe. Das heißt doch wiederum nichts anders, als daß der V-PersonEinsatz weitgehend ungeeignet ist, weil das dadurch erlangte Beweismaterial minderwertig ist. Es muß aber hemach einleuchten, daß eine überwiegend ungeeignete Ermittlungsmethode nicht als Essential der Verbrechensbekämpfung angesehen werden kann und schon gar nicht für den sensiblen Bereich verdeckter Ermittlungen. Zugespitzt wird der eben aufgezeigte Widerspruch durch die schon mehrfach angesprochenen "Gemeinsamen Richtiinien"JO'l. Dort heißt es bei dem Gliederungsabschnitt "Grundsätzliches" unter Punkt 1.1. sinngemäß, daß die Polizei in zunehmendem Maße auf die Informationen aus der Öffentlichkeit angewiesen sei, und unter Punkt 1.2. wird apodiktisch erklärt: "Darüber hinaus ist bei bestimmten Erscheinungsformen der Kriminalität der Einsatz von V-Personen erforderlich." Unter 1.3 heißt es weiter: "Die Inanspruchnahme von Informanten und V-Personen sind als zulässige Mittel der Strafverfolgung in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, des Bundesgerichtshofs und der Obergerichte anerkannt." Auffällig ist hier, daß die eingangs zitierten Gerichte sowie die "Gemeinsamen Richtlinien" für die getroffenen, weitreichenden kriminologischen und empirischen Behauptungen JJO keinerlei Erklärung abgeben. Man könnte meinen, daß es sich hier um Selbstverständlichkeiten handelt, für die es einer Erklärung nicht bedarf. Schaut man hingegen etwas schärfer hin, dann wird allenthalben versucht, wissenschaftlicher Begründung mit argumentativen Zirkelschlüssen zu begegnen. Der Zirkelschluß zeigt sich hier darin, daß die Richtlinien in 1.2. die Notwendigkeit des V-Person Einsatzes postulieren, weil mit anderen Mitteln nicht so effektiv gegen das Organisierte Verbrechen vorgegangen werden kann. In 1.3. wird die Zu lässigkeit nach der neueren Rechtsprechung hervorgehoben. Das heißt also: Der V-Person-Einsatz ist deshalb verfassungsrechtlich zulässig, 109
Siehe oben S. 32.
Die Behauptungen bzw. Feststellungen sind im Umkehrschluß aus den zitierten Entscheidungen sowie dem Wortlaut der "Gemeinsamen Richtlinien" zu entnehmen. Es ergibt sich dann: BVertD: V-Leute bringen wertvolle Informationen rur das Ermittlungsverfahren. BGH: V-Leute sind unseriös. Die beschaffien Infonnationen haben nur einen beschränkten Vertrauenswert. 110
§ 2 Tenninologie und Kriminologie
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weil er in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt ist. Kennt man hingegen die neuere Rechtsprechung, dann weiß man, daß diese wiederum die Zulässigkeit aus der Notwendigkeit deduziert. Eine tatsächliche Erklärung zur Zulässigkeit wird demnach nicht abgegeben. Ein Zirkelschluß, der recht deutlich macht, daß weder dem Gesetzgeber noch der höchstrichterlichen Rechtsprechung ganz klar sein dürfte, was sich hinter den Begriffen "Organisierte Kriminalität" und "V-Person" im wissenschaftlichen und empirischen Sinne verbirgt. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß in der Sozialwissenschaft lll die Feststellung getroffen wurde, daß längerfristiger Aufenthalt in polizeilich interessanten Subkulturen zu Anpassungserscheinungen ruhrt. Dies ist jedenfalls rur den Verdeckten ErmittIer problematisch, während die V-Person regelmäßig in derartige Subkulturen ohnehin involviert ist. Nach alledem ist es notwendig, daß zunächst einmal die Kriminologie und die Empirik des polizeilichen Ermittlungsinstituts "V-Person", zumindest in ihren Umrissen, geklärt wird. Im anderen Falle besteht die Gefahr, daß eine Diskussion ohne Grundlagen- und Hintergrundwissen geruhrt wird, was recht schnell in die Irre ruhren kann. Eine allumfassende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den hier zu erörternden kriminologischen und empirischen Fragen würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit gleichwohl übersteigen. Insoweit ist auf Spezialliteratur zu verweisen 112 • Die Auseinandersetzung mit diesen Sachfragen soll sich im Rahmen dieser Arbeit deshalb auf die folgenden Fragen konzentrieren: Ist die Vertrauenswürdigkeit von V-Personen aufgrund ihrer kriminellen Herkunft und ihrer Motivation zur polizeilichen Zusammenarbeit derart unseriös, daß deren Informationen grundsätzlich unglaubwürdig sind ll3 ? Ist der Einsatz von V-Personen schon deshalb unangebracht, weil er kaum sichtbare Erfolge im Kampf gegen das Organisierte Verbrechen einbringt ll4? 1. Kriminologisches Erscheinungsbild der V-Person
a) Formeller Integrationsprozeß der V-Person
Das bei der Begriffsbestimmung verwendete Definitionsmerkmal "außerhalb der Polizeiorganisation" legt die Vermutung nahe, daß die V-Person völlig 111
Eser in: Eser/Schumann, Risiken und Privilegien des Forschers, S. 7-39.
Eingehende Darstellung bei: Scherp, V-Personen als Ennittlungsmethode und Beweismittel im Strafverfahren. 113 Dies ist wohl das Hauptargument der Gegner des V-Person Einsatzes, vgl. Dierks in: AnwBI 1987, S. 147. 114 In diesem Sinne: Lüderssen in: V-Leute, die Falle im Rechtsstaat, S. 4. 112
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I. Abschnitt: Tenninologie und Kriminologie
losgelöst und unabhängig von den Polizeibehörden "ermittelt,,1I5. Diese Vermutung fällt bei Gesetzgeber und Rechtsprechung auf fruchtbaren Boden. In der Begründung zum OrgKG weist der Gesetzgeber 116 darauf hin, daß V-Personen Zeugen sind. Soweit sie aufgrund ihrer Wahrnehmungen gefährdet sind, komme ihnen derselbe Zeugenschutz wie den Zufallszeugen zu 117• Derselben Ansicht ist auch der BGH lIs, wenn er ausführt: "Der Zeuge ist auch nicht etwa allein auf Grund seiner V-Person-Tätigkeit berechtigt, das Zeugnis gemäß § 54 Abs. 1 StPO zu verweigern. Da er weder Beamter noch Angestellter der Kriminalpolizei ist, sondern, soweit ersichtlich, nur in einer losen äußeren Beziehung zu ihr steht ( ... )". Im neuerern Schrifttum ist der tatsächliche Status der V-Person ebenfalls nicht hinreichend geklärt l19 , wenn dort von einem "freiem Mitarbeiter" die Rede ist. In praxi steht die V-Person allerdings gerade nicht außerhalb der Polizeiorganisation. Ganz im Gegenteil wird die V-Person gezielt und systematisch in den Polizeiapparat eingefügt. Die Integration der V-Person wird unter rechtlichen, kriminalpsychologischen und kriminaltaktischen Gesichtspunkten vorgenommen 120, wobei der Integrationsprozeß als "V-Person Führung" bezeichnet wird. Im Rahmen dieser "V-Person Führung" sind vor dem erstmaligen Einsatz der V-Person eine Reihe von Formalitäten zu erledigen. Beispielsweise wird über die V-Person eine Personalakte angelegt sowie eine sogenannte "Abklärung" m Dies ist ein sehr gewichtiger Gesichtspunkt fiir die Entscheidung der Rechtsnatur der V-P-Handlung. Die per Definition vorgenommene Ausgrenzung der V-Person aus dem Polizeiapparat läßt vermuten, daß der Gesetzgeber unter allen Umständen eine Zurechnung der V-PHandlung vermeiden will. In diesem Abschnitt wird jedoch recht deutlich, daß die VP zwar nicht per Gesetz, jedoch per Verwaltungsvorschriften in den Polizeiapparat eingefiigt wird. Rein tatsächlich ist die V-Person während ihrer polizeispezifischen Handlungen Teil der Polizeiorganisation. Ob das Handeln der V-Person auch dann der Polizei zugerechnet wird, wenn die V-Person weisungsfremde Handungen durchfiihrt, ist eine Frage der Grenzen der Zurechnung. II~ BT-Drucksache 12/89, S. 41. 117 Im Zusammenhang mit dem - notwendigen - Zeugenschutz fiir V-Personen wird von Seiten des Gesetzgebers auf die analoge Anwendung des § 96 StPO sowie des § 54 StPO hingewiesen. So fiihrt der Gesetzgeber aus: ,,§ 96 - in Verbindung mit § 54 - ist auch die wesentliche Grundlage fiir die Zusage der Geheimhaltung oder anderer Schutzmaßnahmen durch die Strafverfolgungsbehörden", BT-Drucksache 12/989, S. 34. - Im Zusammenhang mit § 54 Abs. I StPO ist bemerkenswert, daß die V-Personen nur dann als "andere Person des öffentlichen Rechts" angesehen werden, wenn sie nach dem Verpflichtungsgesetz von 1974 förmlich zur Verschwiegenheit verpflichtet worden sind, vgl. BGHSt 31, 148 ff. Nach einschränkender Ansicht soll dies aber auch nur dann gelten, wenn die V-Person hauptberuflich mit festen Bezügen angestellt ist, vgl. Kleinknecht / Meyer-Go.ßner, § 54 Rn. 11. 11' BGH in: MDR 1980,244 = NJW 1980,846 = JR 1981, 122; gleichzeitig wird bei diesen Ausfiihrungen des BGH die Begriffsverwirrung um die V-Person deutlich. 119 Beulke, Strafprozeßrecht, Rn. 423; Lesch in: JA 1995,691 ff. 120 Scherp, S. 9.
§ 2 Tenninologie und Kriminologie
41
vorgenommen. Darunter versteht man das Erfassen von umfangreichem Informationsmaterial über derzeitige Lebensumstände, Vorstrafen und Motivation der V-Person. Dem VP-Führer ermöglicht eine solche Abklärung die Schaffung einer Entscheidungsgrundlage in bezug auf die Einsatzbarkeit der V-Person. Dieser Integrationssprozeß zeigt deutlich, daß es sich um ein subordinatives Verhältnis zwischen V-Person und Polizei handelt. Der VP-Führer ist grundsätzlich ein erfahrener Polizeibeamter. Ihm obliegt die Aufgabe der eben beschriebenen Abklärung sowie der späteren Kontaktpflege mit der V-Person. Die VP-Führer werden ständig speziellen Weiterbildungsmaßnahmen auf dem Gebiet der Kriminalistik sowie der angewandten Psychologie unterworfen. Ziel dieser Weiterbildungsmaßnahmen ist es einerseits, dem VP-Führer die Entscheidung über einen konkreten V-Personen-Einsatz sowie über die Inanspruchnahme einer V-Person im Einzelfall zu erleichtern und andererseits durch die Aussonderung ungeeigneter V-Personen einen möglichst hohen Grad an seriöser Informationsbeschaffung rur die Strafrechtspflege oder die Verbrechensprävention zu erzielen . Der konkrete Einsatz läuft rur die V-Person in einem strengen vorgegebenen Rahmen ab. Während eines Einsatzes hat die V-Person so gut wie keine eigene Entscheidungskompetenz. Das Gesamtgeschehen wird im Regelfall vom VPFührer kontrolliert '21 und damit insgesamt von der Polizei beherrscht. Gerade im konkreten Einsatz zeigt sich das oben dargestellte Subordinationsverhältnis zwischen den Beteiligten sehr prägnant. Der Zwang zum auftragsgemäßen Verhalten wird durch die Relativität der Vertraulichkeitszusage verstärkt. Vertraulichkeitszusage bedeutet, daß die Polizeibehörde an die V-Person eine Zusicherung mit dem Inhalt abgibt, daß die Identität der V-Person grundsätzlich geheimgehalten wird und der V-Person auch das Auftreten vor Gericht erspart bleibt 122 • Die Bindung an die Vertraulichkeitszusage soll nach den Gemeinsamen Richtlinien '23 dann allerdings entfallen, wenn die V-Person entweder Informationen vorsätzlich oder leichtfertig falsch angibt, von Weisungen abweicht, sich eine strafbare Tatbeteiligung des Empfängers der Zusicherung herausstellt, die V-Person sich bei ihrer Tätigkeit rur die Strafverfolgungsbehörde strafbar macht I24. 121
Scherp, S.11.
Durch die Geheimhaltung der Identität der V-Person durch die Polizeibehörde ist die Verweigerung der Behörde aufgrund einer analogen Anwendung des § 96 StPO ein "nicht zu beseitigendes Hindernis", § 223 Abs. I StPO; ein "unerreichbares Beweismittel", § 244 StPO sowie ein Grund im Sinne von § 251 Abs. 2 StPO, "der eine gerichtliche Vernehmung in absehbarer Zeit nicht zuläßt". Konsequenz von alledem ist, daß auf Beweissurrogate zurückgegriffen werden darf, vgl. BT-Drucksache 12/89, S. 35. 123 Siehe Fn. 78 und dort Punkt 4. 124 Hierzu sei angemerkt, daß die Relativität der Vertraulichkeitszusage in diesem Punkt dann extrem problematisch ist, wenn die V-Person bei der Ennittlung in bezug auf abstrakte Geflihrdungsdelikte eingesetzt wird. Hier stellt sich nämlich die schwierige Frage nach der 122
42
l. Abschnitt: Tenninologie und Kriminologie
b) Motivation zur polizeilichen Zusammenarbeit
Es braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß die Glaubwürdigkeit der V-Person wesentlich von deren Motivation zur polizeilichen Zusammenarbeit abhängt 125. Die Kenntnis dessen, warum die betreffende Person mit der Polizei zusammenarbeitet, wird bereits in der oben erwähnten "Abklärung"126 vorgenommen, so daß der VP-Führer sich schon vor einem erstmaligen Einsatz ein genaues Bild von der Persönlichkeitsstruktur der V-Person machen kann. Vor allem für die Rechtsprechung ist der Motivationsgrund der V-Person ein wesentliches Glaubwürdigkeitskriterium 127• Die möglichen Motivationen lassen sich durch folgende Begriffe grob klassifizieren l28 : a) Egoistische Motivation: Bezahlung der V-Person für die Informationsbeschaffung; Informationstausch; Vorteile für einen eigenen Strafprozeß. b) Soziale Motivation: Selbstbetroffenheit der V-Person, z.B. durch ein Familienmitglied; Grundsätzliche Einstellung gegen eine bestimmte Form von Kriminalität. c) Aggressive/29 Motivation: Haß, Neid und / oder Rache gegen Mitglieder einer kriminellen Organisation usw. ... d) Gemischte Motivation: Die Motivationen der Gruppe a)-c) können selbstverständlich auch als Motivbündel auftreten. "einsatzbedingten Straftat". SteHt es sich nämlich heraus, daß der Einsatz der V-Person im Bereich der abstrakten Geflihrdungsdelikte in der Regel zur Beteiligung an Straftaten fUhrt, dann stellt sich das verwaltungsrechtliche Problem nach der Wirksamkeit der Relativität der Zusicherung jedenfalls in diesem Punkt. Indes steckt in dieser Fragestellung ein Hauptproblem der verdeckten Ennittlungen überhaupt, weil es kaum sinnvoll sein dürfte, einerseits Straftaten zu provozieren und andererseits die sich daraus ergebenden Nachteile auf den im Auftrag des Staates Handelnden abzuwälzen. Zum Problem der "einsatzbedingten Straftat" vgl. insbesondere den dritten Abschnitt, S. 138 ff. m V gl. auch die Parallelproblematik in diesem Aspekt bei der Kronzeugenregelung. Siehe dazu: Baumann in: JuS 1975, 342; Hoyer in: JZ 1994, 233; Weigend in: FS fUr Jescheck, S. 1333. 126 Siehe oben S. 40. 127 BGHSt 32, 115 (127): "Der Zeugenbeweis ist eines der wichtigsten Beweismittel. ( ... ) Anders als bei den Mitteln des Sachbeweises ( ... ) hängt die Bedeutung des Zeugen beweises von Umständen ab, die in diesem Beweismittel selbst begründet sind, namentlich von seiner Persönlichkeit, seinem Lebenslauf, seinem Charakter und seinen Beweggründen." 12M Zur ausfUhrlichen wissenschaftlichen Aufarbeitung aus sozialpsychologischer Sicht: Scherp, S. 45 ff. 129 An dieser SteHe muß kurz auf den Aggressionsbegriff eingegangen werden, um massive Verständigungsprobleme zu venneiden. In der Psychologie gibt es keinen allgemein akzepierten Aggressionsbegriff. Auch im Alltag beschränken wir uns in der Regel darauf, nicht die Aggressivität zu beschreiben, sondern lediglich deren Erscheinungsfonnen zu benennen. So gibt es in der Psychologie eine enge und eine weite Aggressionsdefinition, was hier jedoch nicht weiter interesssieren soll. Nach überwiegender Ansicht versteht man unter Aggression ein gegen einen Organismus oder ein Organismussurrogat gerichtetes Austeilen schädigender Reize, wobei die Aggression offen oder versteckt, positiv oder negativ wirken kann. Näher dazu: No/ling, Lernfall Aggression; Scherp, S. 52, jeweils m.w.N.
§ 2 Tenninologie und Kriminologie
43
2. Empirik
Der Klärung der Frage, welches der eben dargestellten Motive tatsächlich dominant ist, respektive, in welchem Verhältnis die Motive zueinander stehen, ist erstmals Scherp'30 nachgegangen. In seiner kriminologisch-empirischen Studie über den Einsatz von V-Personen als Ermittlungsmethode im Strafverfahren hat Scherp mittels einer Datenerhebung der V-Personen führenden Polizei dienststellen ein aussagefähiges empirisches Strukturbild einer durchschnittlichen V-Person geschaffen. Scherp hat in der Zeit vom 1.7.-31.12.1985 mit Unterstützung des Landeskriminalamts Hessen eine Befragung an Hand eines Fragebogens durchführen können. Der Fragebogen richtete sich an die VP-Führer, also die Beamten der jeweiligen Polizeibehörde. Eine direkte Datenerhebung der V-Person fand leider nicht statt, so daß an der Aussagekraft der Daten gegebenenfalls einige Abstriche zu machen sind. Der Fragebogen IJ I wurde an alle Polizeidienststellen in Hessen, bei denen V-Personen geführt wurden, versandt. Die Ergebnisse der Datenerhebung sollen nachstehend an Hand von Schaubildern dargestellt werden: Motivationen der V-Person zur Zusammenarbeit mit der Polizei Zur Erfassung der Motivation der V-Personen ist Scherp dergestalt vorgegangen, daß zwischen der Motivationslage bei Beginn der polizeilichen Zusammenarbeit und dem späteren Zeitpunkt der Befragung unterschieden wurde, wodurch ein möglicher Verschiebeprozeß mitberücksichtigt werden konnte. Zudem hat Scherp eine getrennte Motivationsanalyse dadurch vorgenommen, daß er die Antworten der V-Personen und der VP-Führer getrennt untersuchte. Das Ergebnis der Datenerhebung ist in nachstehenden Schaubildern verdeutlicht:
%-Angabe
EgoiSITIJS
Aggressioo
Sozial
Abbildung 1: Beginn der Zusammenarbeit
tr.
1)0
Scherp, S. 79
1)1
Der Fragebogen ist abgedruckt im Anhang I, S. 127 bei Scherp, a.a.O.
44
1. Abschnitt: Tenninologie und Kriminologie
100 % - Angabe
0 .....- - - ·
Egoism us
Aggression
S ozia I
Abbildung 2: Zeitpunkt der Befragung Zur Interpretation 132 dieser Grafik ist folgendes auszuführen: Das Motiv "Egoismus" überwiegt deutlich, auch wenn eine Abnahme dieser Antriebsmotivation im weiteren Verlauf der Zusammenarbeit zu erkennen ist. Innerhalb des egoistischen Motivationsphänomens ist darauf hinzuweisen, daß finanzielle Gründe als Ursprungsmotivation nach Einschätzung der VF mit 41,8% deutlich höher lagen als die Selbsteinschätzung der V-Personen mit 30%. Allerdings stiegen die Angaben der V-Personen in bezug auf finanzielle Motivation im Zeitpunkt der Befragung auf 42% an. Dies könnte damit zusammenhängen, daß sich andere egoistische Motivationen mittlerweile erledigt haben, wie beispielsweise ein anhängiges Strafverfahren. Eine weitere Diskrepanz zwischen den Angaben der VF und der V-Personen lag in dem egoistischen Ziel, Vorteile fur das eigene Strafverfahren erlangen zu können. Für 26,9% der VF war dies die Antriebsmotivation flir den erstmaligen Kontakt, wohingegen nur 15,6% der V-Personen diesen Grund angaben.
Sonstige Motivationsanalyse Die aggressive Antriebsmotivation ist deutlich gering. Bei der Untersuchung wurde offenkundig, daß es sich bei der Aggressionsfonn um eine instrumentelle Aggression lJJ handelt, weIche erfahrungsgemäß von kurzer Natur ist. Hatte beispielsweise die V-Person durch ihre Mitarbeit ihr schädigendes Ziel (in bezug auf die kriminelle Organisation) erreicht, dann mußte entweder eine motivationale Neuorientierung vorgenommen werden oder die Mitarbeit aufgegeben werden. Hierbei war zu erkennen, daß die ursprüngliche Aggressionsmotivation zu einem baldigen Abbruch der V-Personen-Tätigkeit führte. Auch die Untersuchung der sozialen Motivation hat nur einen geringen Befund erbracht. Hierbei ist anzumerken, daß eine Steigerung der sozialen Motivation zwischen Beginn und aktuellem Zeitpunkt zu erkennen ist. In vielen Fällen entwickelte sich erst
132
Schel'p, S. 97 ff.
1m Gegensatz zur der allgemeinen Aggression lebt die intrurnenteIle Aggression nicht primär vom Affekt, sondern vom Effekt, genauer vom Nutzeffekt. Bei der instrumentellen Aggression wird also die Aggression gezielt eingesetzt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Die Aggression ist Mittel zum Zweck. Zur Vertiefung: No/ting, Lernfall Aggression, S. 125 ff. IJJ
§ 2 Terminologie und Kriminologie
45
im Laufe der Zusammenarbeit ein Vetrauensverhältnis zwischen der V-Person und dem VP-Führer. Sonstiges empirisches Erscheinungsbild Altersstruktur: Das Durchschnittsalter der V-Person liegt im Bereich von 30 und 50 Jahren. Bemerkenswert dabei ist, daß sich dieses Resultat nicht mit der Altersstruktur der Kriminalstatistik in bezug auf die Täter deckt. Im Vergleich dazu sind die V-Personen älter als die von ihnen überwachten Täter 134 • Altersstruktur
21-25
25-30
30-50
< 50
Abbildung 3: Altersstruktur
Geschlechtsstruktur: Bei der Geschlechtsstruktur ist auffällig, daß es sich ganz überwiegend um männliche V-Personen handelt. Der Anteil von männlichen V-Personen lag bei der Untersuchung von Scherp bei 89%, der Frauenanteil nur bei lI %. Geschlechtsstruktur 100 50
o
Männlich
Weiblich
Abbildung 4: Geschlechtsstruktur
Vorstrafen: 71 % der V-Personen waren nach Angaben von Scherp vorbestraft. 58% waren sogar bis zu dreimal vorbestraft, wobei sich allerdings nur bei 13% Anzeichen rur eine "kriminelle Karriere" zeigten. Von Interesse im Zu134
Scherp. S. 82.
46
I. Abschnitt: Tenninologie und Kriminologie
sammenhang mit der Vorstrafenanalyse der V-Personen ist vor allem der Grund der Vorstrafe. Denn gerade in bezug auf die Glaubwürdigkeit der V-Personen ist ein besonderes Augenmerk auf diejenigen Vorstrafen zu werfen, die eine Täuschung zum Gegenstand haben, namentlich Betrug, Urkundenfälschung usw. Hier zeigte sich, daß insgesamt nicht mehr als etwa 15% der V-Personen wegen Täuschungsdelikten vorbestraft waren. In der Mehrzahl handelte es sich, erwartungsgemäß, um BtmG-Delikte. Bildungs- und Berufsstruktur der V-Personen: Nach den Angaben von Scherp waren in seiner Studie 37% der V-Personen ohne Beruf und genauso viele, also 37%, zum Zeitpunkt der Datenerhebung arbeitslos. Innerhalb der erlernten Berufsstruktur traten die Berufsbilder Taxifahrer, Gastwirt und derlei nicht in der erwarteten Deutlichkeit hervor. Lediglich 8% der V-Personen gehörten diesen Berufsgruppen an 135 • Weiterhin ist in diesem Zusammenhang die Tatsache erwähnenswert, daß lediglich 7,6% der V-Personen ihren Lebensunterhalt mit der V-Personen-Tätigkeit bestritten. Die überwiegende Zahl, nämlich 92,4%, bestritt ihren Lebensunterhalt durch andere Einnahmequellen. Einsatzgebiete der V-Person und Erfolge durch den V-Personen-Einsatz: Das Haupteinsatzgebiet der V-Person ist der Bereich der BtmG-Delikte. Hier finden etwa 70% der Einsätze statt. Als weitere Einsatzgebiete sind der Waffenhandel (10%) sowie die Falschgeldkriminalität (10%) zu nennen. Diese Deliktsbereiche sind identisch mit dem Betätigungsfeld der O.K., so daß in der Tat die geforderte 136 Beschränkung des V-Personen-Einsatzes auf besonders schwer aufklärbare und gefährliche Taten gegeben zu sein scheint. Allerdings ist bei der Untersuchung von Scherp auch ein wesentlicher Einsatz bei den Eigentumsdelikten zutage getreten, wobei in dieser Untersuchung nicht geklärt werden konnte, ob es sich auch bei diesen Delikten um besonders gefährliche und schwer aufklärbare Taten handelte.
§ 3 Zusammenfassung des Ersten Abschnitts Die Organisierte Kriminalität hat auch in Deutschland eine derartige Dimension erreicht, daß von einer Gefährdung von Staat und Gesellschaft gesprochen werden kann. Als kriminologischer Befund ergab sich, daß die illegalen Organisationen eine modeme betriebswirtschaftliehe Infrastruktur aufweisen. Insbesondere arbeiten diese Organisationen mit einer Logistik, welche ähnlich einer Militärlogistik aufgebaut ist.
lJj Abweichend. aber ohne kriminologisch-empirische Rechtfertigung: Krey in: FS für Miyazawa, S. 602; Rogall in: JZ 1987,847; Körner, BTMG-Kommentar. § 31 Rn. 104 tT. 13~ BGHSt (GS) 32, 115 (122).
§ 3 Zusammenfassung des I. Abschnitts
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Wesentliches und wichtigstes Logistikelement ist der Informationentransfer jedweder Art zwischen den und innerhalb der verschiedenen Organisationen bzw. Organisationselemente. Erfolgversprechender Ansatz präventiver und repressiver Ermittlungen im Bereich der Organisierten Kriminalität ist die Störung, respektive Infiltration des Informationstransfers. Prädestinierte Methode für dieses Vorhaben ist der Einsatz von verdeckten Ermittlern und V-Personen, welche gezielt in das Informationsnetz der Organisationen einzuschleusen sind. Der Einsatz verdeckter strafprozessualer Ermittlungsinstrumente stellt sich folglich als grundsätzlich geeignetes und aufgrund fehlender Alternative auch als erforderliches Mittel dar. Die kriminologische Untersuchung hinsichtlich der V-Person zeigt einen Befund, der im Ergebnis bisher verbreiteten Anschauungen über V-Personen widerspricht. Die V-Person wird von der Strafverfolgungsbehörde operativ gezielt eingesetzt. Während eines solchen Einsatzes hat die V-Person kaum eigenen Handlungsspielraum, sondern unterliegt einer straffen Führung durch den VP-Führer. Die straffe Führung der V-Person wird durch eine relative Vertraulichkeitszusage intensiviert. Bevor eine V-Person in diesem Sinne operativ eingesetzt wird, findet eine umfangreiche "Abklärung" dieser Person bezüglich Motivation, Vorstrafen und Charakter statt, um über die Vertrauenswürdigkeit der V-Person zulänglich entscheiden zu können. Nur wenn diese Abklärung positiv verläuft, kommt die V-Person zum Einsatz. Im Ergebnis stimmt es also nicht, daß die V-Person grundsätzlich unglaubwürdig ist. Dies belegt insbesondere die Feststellung bezüglich der Vorstrafen, so daß man die V-Person nicht als Gewohnheitsverbrecher bezeichnen kann. Ferner ergab sich der Befund, daß das Phänomen Organisierte Kriminalität mit der jeweiligen Staatsform in einer gewissen Wechselwirkung steht. Es läßt sich die These wagen, daß je demokratischer und liberaler die Staatsstruktur ist, desto einfacher es für die Organisierte Kriminalität ist sich zu etablieren. Diese Korrelation leuchtet um so mehr ein, wenn man weiterhin bedenkt, daß es gerade die verdeckten Ermittlungsmethoden sind, welche sich als die vielversprechendsten herausgestellt haben. Wie aber im weiteren Verlauf dieser Untersuchung noch zu zeigen sein wird, sind verdeckte Ermittlungen selbst rechtsstaatswidrige Elemente. Und wenn das Strafprozeßrecht in der Tat der "Seismograph der Verfassung"l37 ist, läßt sich sagen, daß eine liberale Gesellschaftstruktur ihrerseits wieder durch die Organisierte Kriminalität begrenzt wird. Das Sein der O.K. ist vom Nichtsein einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung abhängig.
131
Roxin. Strafverfahrensrecht. § 2 Rn. l.
Zweiter Abschnitt
Verdeckte Ermittlungen im "Lichte der Verfassung" § 1 Problemdarstellung Die Zulässigkeit und Rechtmäßigkeit verdeckter Ermittlungen wird von der Rechtsprechung I seit jeher anerkannt, wobei dies sowohl rur den Verdeckten Ermittler als auch rur V-Personen gilt. Jedenfalls im Hinblick auf V-Personen ist dies mit gesetzlichen Vorschriften nicht belegbar und wird insbesondere von der Rechtsprechung quasi aus dem Nichts geschöpft. Als Begründung bedient sie sich einer "kunstvollen Technik der inhaltsleeren Quer- und Rückverweisung auf andere Entscheidungen" sowie der Betonung kriminalistischer Sachzwänge, respektive staatlichen Handlungsbedarfs2• Ganz in diesem Sinne beschränken sich die Gerichtsentscheidungen der letzten Jahre auf die Markierung der durch den Rechtsstaat gesetzten Grenze rur verdeckte Ermittlungen und die Auswirkungen J bei deren Überschreitung. Zwar ist durch das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (fortan: OrgKG) vom 15. Juli 1992 eine gesetzliche Regelung durch die §§ 110a ff. in die Strafprozeßordnung eingerugt worden, die eingangs erwähnten Defizite wurden aber durch das OrgKG nicht sämtlich beseitigt, weil der V-Personen-Einsatz keinen Eingang in die gesetzliche Regelung gefunden hat. In der amtlichen Begründung4 des OrgKG heißt es apodiktisch: "Der Entwurf greift den Vorschlag nicht auf, auch rur die Inanspruchnahme von Informanten sowie rur den Einsatz von Vertrauenspersonen (V-Personen) besondere Regelungen in der StPO zu schaffen ( ... ) Daraus, daß sich der Entwurf lediglich zu einer Regelung des Ermittlungsorgans "Verdeckter Ermittier" entscheidet, kann und darf nicht geschlossen werden, daß die Heranziehung von Zeugen (Informanten, V-Personen) in Zukunft unzulässig sei." Diesen Ausruhrungen ist anschaulich zu entnehmen, daß der Gesetzgeber keinerlei legislatorischen Handlungsbedarf in bezug auf V-Personen gesehen hat. I
2
3 4
Vgl. dazu die Ausführungen in Abschnitt I, S. 17 und dort die Nachweise in Fn. I. Rogal/ in: JZ 1987,849; Bruns in: NStZ 1983,49 (51). Siehe dazu ausführlich unten Abschnitt 4, S. 252 fT. BT-Drucksache 12/989, S. 41.
§ 2 Verfassungsrechtliche VOTÜberlegungen
49
Dies kann darin seine Ursache haben, daß er für einen derartigen Ennittlungseinsatz keinen legislatorisch zwingend zu regelnden Grundrechtseingriff bzw. keine Grundrechtsgefährdung gesehen hat. Oder es könnte daran liegen, daß die V-Person außerhalb der behördlichen Organisation steht und schon deshalb jedwedes Handeln der VP dem Staat ohnehin nicht zugerechnet werden kann. Oder der zurechenbare grundrechtsrelevante VP-Einsatz kann auf bereits bestehende gesetzliche Befugnisnonnen gestützt werden. Es stellen sich somit folgende Fragen: a) Berühren verdeckte Ennittlungen unter Verwendung von V-Personen grundrechtliehe Schutzbereiche? b) Handelt es sich dabei um einen dem Staat zurechenbaren Grundrechtseingriff? c) Ist dieser Eingriff nach der derzeitigen Rechtslage gerechtfertigt?
§ 2 VerfassungsrechtIiche Vorüberlegungen Ausgangspunkt der Problematik ist der verfassungsrechtliche Grundsatz "Vorbehalt des Gesetzes"s. Der Vorbehalt des Gesetzes bezeichnet jenes allgemeine verfassungsrechtliche Prinzip, wonach Eingriffe in Freiheit und Eigentum des Bürgers eines Gesetzes oder jedenfalls einer gesetzlichen Ennächtigung bedürfen. Als Herkunft des Gesetzesvorbehalts wird zum Teil auf das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip6, auf Verfassungsgewohnheitsreche sowie auf die GrundrechteS oder direkt auf Art. 20 Abs. 3 GG 9 verwiesen. Wo nun in der Tat die Wurzeln des Grundsatzes vom Gesetzesvorbehalt zu suchen sind, braucht im Rahmen dieser Untersuchung nicht entschieden zu werden. Von Interesse ist vielmehr die inhaltliche Reichweite dieses Grundsatzes. Teilweise wurde die Ansicht vertreten, daß jedwedes Verwaltungshandeln dem Gesetzesvorbehalt unterliege, sogenannte "Lehre vom Totalvorbehalt"10. Diese Lehre hat sich gleichwohl zu Recht nicht durchsetzen können, weil sie das in Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 GG zum Ausdruck kommende "Organisationsund Funktionsprinzip" der Gewaltenteilung mißachtet. Nach diesem Prinzip j Zu diesem Rechtsinstitut: Stern, Staatsrecht, § 80, S. 369 f1; Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte; Dreier in: Grundgesetz, Band I, Vorbem. Rn. 86; Losche/der in: Handbuch des Staatsrechts, Band IV, § 123 Rn. 54 f1 6 Jarass in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 20 Rn. 29; ders. in: NVwZ 1984, 475 ff. 7 Herzog in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 20 Rn. 85 ff.
K
Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, S. 32 ff.; Schoch in: JuS 1994, 391 (396).
Hesse, Gtiindzüge des Verfassungsrechts, Rn. 201; BVerfGE 40, 237 (248 f.); BVerwGE 72, 265 (266). 9
10 Zur Lehre vom Totalvorbehalt vgl. insbesondere: Jesch, Gesetz und Verwaltung; Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungslehre.
4 Makrutzki
50
2. Abschnitt: Verdeckte Ermittlungen im "Lichte der Verfassung"
kommt allen drei Gewalten eine gewisse originäre Eigenkompetenz zu, denn auch die Exekutive verfUgt über eine eigenständige demokratische Legitimation und somit über einen Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung". Das Bundesverfassungsgericht hat unter Ablehnung der Lehre vom Totalvorbehalt '2 entschieden, daß sich aus dem Demokratie- und Rechsstaatsprinzip ergebe, daß der Gesetzgeber nicht alle, aber alle wesentlichen Entscheidungen in grundlegenden normativen Bereichen selbst zu treffen habe und dies nicht der Verwaltung überlassen werden dürfe, sogenannte "Wesentlichkeitstheorie"lJ, wobei sich die Wesentlichkeit wiederum an der Grundrechtsrelevanz der einzelnen Verwaltungstätigkeit zu orientieren habe '4 . Einigkeit besteht jedenfalls darüber, daß ausgehend von seiner liberal-rechtsstaatlichen Tradition der Vorbehalt des Gesetzes fUr alle diejenigen staatlichen Maßnahmen gilt, die in Freiheit und Eigentum des Bürgers eingreifen '5 . Mithin sind mit dem Erfordernis der Grundrechtsrelevanz und der Eingriffsqualität einer hoheitlichen Maßnahme als Indikatoren des Gesetzesvorbehalts zwei hilfreiche Parameter gefunden worden, um den Anwendungsbereich des Gesetzesvorbehalts hinreichend zu definieren. Es gilt demnach festzustellen, ob durch verdeckte Ermittlungsmethoden grundrechtliche Schutzbereiche oder andere Verfassungsprinzipien berührt werden, und im Anschluß daran ist zu untersuchen, ob dies sich als dem Staat zurechenbarer Eingriff darstellt. Sollten sich diese Voraussetzungen als richtig bestätigen, wäre das Erfordernis einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage zwingend. 11 BVerfDE 67, 100 (139) = JZ 1985, 129 (\33); BVerfDE 68, I (109); BGHZ 111,229 (234); Jarass in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 20 Rn. 30. 12 BVerfDE 40, 233 (249); 41, 251 (260); 61, 260 (275); 45, 400 (417 f.); 47, 46 (78); 49, 89 (\26); 77, 170 (230 f.); BVerwGE 47, 194 (198). 13 BVerfDE 61, 260 (275). Die Wesentlichkeitstheorie ist indes nicht unangefochten geblieben. Insbesondere wird ihr entgegengehalten, daß sie Banales und Nichtssagendes zum Ausdruck bringe. Wesentlich soll nämlich das sein, was im Sinne der Grundrechte von Bedeutung ist. Damit ist aber in der Tat das Problem der Reichweite dieses Prinzips lediglich auf die Frage nach der Grundrechtsrelevanz verschoben. Diese Frage braucht hier indes nicht entschieden zu werden. Zur Vertiefung vgl. Baader in: JZ 1992, 394 (395); Ossenbühl in: Isensee / Kirchhof (Fn. 22), § 62 Rn. 45. 14 Die Wesentlichkeitstheorie darf nicht dahingehend mißverstanden werden, daß unterschieden werden müsse zwischen wesentlichen und unwesentlichen Eingriffen und nur bei letzteren eine Gesetzesgrundlage erforderlich sein solle. Ganz im Gegenteil verstärkt die Wesentlichkeitstheorie den Grundrechtsschutz, indem der Gestzesvorbehalt zu einem Parlamentsvorbehalt erstarkt. Vor allem im Bereich des Art. 80 GG ist die Wesentlichkeitslehre relevant, hier darf der Gesetzgeber eben nicht der Verwaltung einen zu großen Spielraum im grundrechtrelevanten Bereich einräumen. Bei der hier vorliegenden Thematik spielt die Wesentlichkeitslehre keine besondere Rolle, da verdeckte Ermittlungen dem klassischen Bereich des Gesetzesvorbehalts, der Abwehr von Eingriffen in Freiheit und Eigentum, zuzuordnen sind. Vgl. zum ganzen: Krebs in: JURA 1979,304; Pietzcker in: JuS 1979,710. I~ Schnapp in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 20 Rn. 43; Jarass in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 20 Rn. 31; Schmidt-Bleibtreu / Klein, Grundgesetz, Art. 20 Rn. IOd.
§ 3 Verstoß gegen das "Gebot der Offenheit staatlichen Handeins"?
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§ 3 Verstoß gegen das "Gebot der Offenheit staatlichen Handeins"? A. Das Gebot der Offenheit staatlichen Handeins in der Strafprozeßordnung Verdeckte Ennittlungen sind heimliche Ennittlungsmaßnahmen, die insbesondere auf der Täuschung des Beschuldigten beruhen. Der Einsatz verdeckter Ennittlungen zielt eigens darauf ab, daß unter Verschleierung des hoheitlichen Charakters, möglicherweise unter Ausnutzung entgegengebrachten Vertrauens sowie unter Umgehung jeglicher Belehrungen im Hinblick auf Schweigerechte zur Aufklärung von Straftaten Infonnationen vom Verdächtigten selbst oder von Dritten erfaßt werden l6 • Es stellt sich die Frage, ob ein solches heimliches Vorgehen mit den Grundsätzen der Strafprozeßordnung bzw. der Verfassung zu vereinbaren ist. In der bedeutsamen Entscheidung des Großen Strafsenats 17 vom 13. Mai 1996, in welcher grundlegende Fragen in bezug auf die V-PersonenProblematik erörtert wurden, hat der BGH die Ansicht vertreten, daß es keinen "Grundsatz der Offenheit staatlichen Handeins" in der Strafprozeßordnung gebe. Der Große Senat führte dazu aus: "Im übrigen sind die Polizeibehörden in der Wahl ihrer Ennittlungsmethoden grundsätzlich frei. Das schließt auch die Möglichkeit eines verdeckten Vorgehens gegenüber dem Tatverdächtigen ein. Die Heimlichkeit eines polizeilichen Vorgehens ist kein Umstand, der nach der StPO für sich allein schon die Unzulässigkeit der ergriffenen Maßnahme begründet ( ... )." Nachfolgend soll untersucht werden, ob diese Ausführungen des BGH mit den Grundstrukturen des geltenden Strafprozeßrechts vereinbar sind. Zur Darstellung dessen, wie die Strafprozeßordnung das Ennittlungsverfahren urprunglich regelte, ist nach dem jeweiligen Wahrnehmungsziel der Ennittlungshandlung zu differenzieren l8 • Ist das Wahrnehmungsziel die Erlangung von 16 Duttge in: JZ 1996, 562; Rieß in: LR, § 163 Rn. 57; Dencker in: FS für Dünnebier, S. 447; Roxin in: NStZ 1995,465 (467); Sternberg-Lieben in: JZ 1995,844. 17 BGH GSSt in: StV 1996,465 ff. 1M Dencker in: StV 1994, 667 (674). Nimmt man diese Differenzierung nicht vor, dann besteht die Gefahr, daß bei den entscheidenden Sachfragen schon der richtige Ansatz verfehlt wird. Wenn etwa Lammer (S.154) zu dem Ergebnis gelangt, daß die StPO kein striktes Verbot heimlicher Ermittlungsmaßnahmen kennt, dann ist diese Aussage richtig. Um als strafprozessualer Grundsatz gelten zu können, hätte es jedoch der vorherigen Klärung bedurft, in weichem Umfang und mit welcher Begründung heimliche Ermittlungen erlaubt sind. Vor allem die Argumentation von Lammer mit § 33 Abs. 4 StPO zeigt dieses Defizit (S. 152). § 33 Abs. 4 StPO läßt ohne vorherige Anhörung des Betroffenen die Anordnung von Untersuchungshaft, Beschlagnahme und "anderen Maßnahmen" zu. Unter "anderen Maßnahmen" werden Eingriffe nach §§ 81a, 99, 100a, 102-\04 StPO verstanden (Kleinknecht/MeyerGoßner, § 33 Rn. 15 f.). Bei allen diesen Maßnahmen wird folglich deutlich, daß § 33 Abs. 4 StPO in keinem Falle einen Personalbeweis betriffl, jedenfalls dann, wenn man richtigerweise unter "verdeckt" das staatliche Handeln als solches versteht. - Ähnlich undifferenziert geht Krey vor, wenn er ausführt: "Polizeiliche Ermittlungen werden in erheblichem Umfang auf-
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Gedankenäußerungen, die nicht stofflich perpetuiert und somit auch nicht beschlagnahmbar sind, so handelt es sich um einen Personalbeweis. Geht es dagegen um den Zugriff auf Urkunden und Augenscheinsobjekte, handelt es sich um Sachbeweise. Der Unterschied zwischen Sach- und Personalbeweis erschöpft sich indes nicht darin, daß beim ersteren das reproduzierbar fixierte Wort und bei letzterem das flüchtig gesprochene Wort steht. Der Unterschied liegt vielmehr im Entstehungsprozeß. Der Personalbeweis entsteht am Ende eines kommunikativen Prozesses zwischen dem Beteiligten und der Strafverfolgungsbehörde. Die Erlangung von Personalbeweisen regelt die Strafprozeßordnung deutlich als offenes Verfahren, was aus den §§ 133, 136, 57, 52 Abs. 3, 72 und 55 Abs. 2 StPO unmißverständlich zu entnehmen ist. Denn die Erlangung der Kenntnis von nicht stofflich fixierten Gedankenäußerungen geschieht durch die Ermittlungsmethode "Vernehmung". Bei einer Vernehmung geht es um die Entäußerung von Informationen seitens der zu vernehmenden Person l9 • Unter Vernehmung wird ein kommunikativer Vorgang zwischen einer Person und einem Strafverfolgungsorgan verstanden, wobei das Strafverfolgungsorgan die zu vernehmende Person zur Entäußerung von Gedankeninhalten veranlaßt, und zwar in erkennbar amtlicher Funktion. Die Strafprozeßordnung versteht somit unter einer Vernehmung nur denjenigen kommunikativen Prozeß, der in amtlicher Funktion verlangt wird20 . Das Manko dieser Vernehmungsdefinition trat im Bereich von heimlicher Informationsbeschaffung schnell zu Tage. Als Folge davon wurde in der Literatur teilweise die sogenannte "funktionale Vernehmungstheorie"21 entwickelt, die unter Vernehmung alle Äußerungen verstand, die von einer Behörde irgendwie veranlaßt wurden Diese Theorie hat sich indes zu Recht nicht durchsetzen können, weil der Strafprozeßordnung ein solcher Vernehmungsbegriff fremd ist, und im übrigen ist er auch nicht zwingend notwendig, weil gegebenenfalls eine Analogie der einschlägigen Schutzvorschriften, etwa § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO, in Frage kommt22 • Es ergibt sich somit als Zwischenergebnis, daß verdeckte Vernehmungsmethoden zur Erlangung eines Personalbeweises der Strafprozeßordnung fremd sind23 . grund kriminal taktischer Erfordernisse nicht etwa offen, sondern verdeckt durchgeführt, wobei das verdeckte Sammeln von Informationen ( ... ) fiir die Straftataufklärung zum herkömmlichen ( ... ) Ermittlungsinstrumentarium ( ... ) zählt. Nicht von ungefähr treten die Beamten der Kriminalpolizei (Kripo) anders als die Schutzpolizei, nicht etwa in Uniform sondern in Zivil auf' (Krey, Rechtsprobleme, S. 83). Diese Ausfiihrungen sagen nichts über die eigentliche Sachfrage aus. Es hätte einer Klärung der Frage bedurft, über was und bei wem und wie von den Kripo-Beamten "gesammelt" wird. Nach den Ausfiihrungen von Krey könnte man annehmen, daß die so beschriebenen Kripobeamten unbeschränkt "ermitteln" dürften. 19 Dencker, a.a.O. 20
BGHSt 40, 211.
21
Seebode in: JR 1988,427; LG Darmstadt in: StV 1990, 104.
22
Vgl. die Ausfiihrungen unten S. 78 ff.
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Bei der Erlangung von Sachbeweisen gilt das nicht. Als Sachbeweis kommen prinzipiell Urkunden sowie Augenscheinsobjekte in Frage24 • Als Augenschein wird jede sinnliche Wahrnehmung durch Sehen, Hören, Riechen und so weiter verstanden 25 • Die theoretisch möglichen Augenscheinsobjekte hat bereits Julius Planck 26 im Jahre 1857 in drei Kategorien eingeteilt. Einerseits gibt es bewegliche Augenscheinsobjekte, die einer Beschlagnahme fähig sind und gegenständlich unverändert in die Hauptverhandlung eingeführt werden können. Andererseits gibt es unbewegliche Augenscheinsobjekte und solche, die sich nicht reproduzieren lassen, wobei dazu nichtgegenständliche Wahrnehmungsobjekte zählen wie etwa Bewegungen, Abläufe, Geräusche, Zustände von Personen und so weiter. In diesem Sinne war die Ermittlungstätigkeit der Polizei nach dem damaligen Verständnis grundsätzlich formfrei und geheim. Die Grenzen der Zulässigkeit eines Zugriffs auf Augenscheinsobjekte lagen dort, wo bei der Suche in die Rechte von Bürgern eingegriffen werden mußte, es sei denn, der Eingriff geschah mit Einwilligung des Betroffenen27 • Polizeiliche Ermittlungen zur Erlangung von Sachbeweisen waren demnach solange erlaubt, wie in niemandes Rechtsgebiet eingriffen wurde. War dies aber der Fall, so bedurfte es folglich eines den Eingriff gestattenden Gesetzes. Dieser Eingriff konnte zwar verdeckt beantragt werden, die Durchfohrung des Eingriffs geschah dennoch prinzipiell offen. Einzige Ausnahme 28 von dem Gebot der Offenheit im Ermittlungsverfahren war und ist § 33 IV StPO i.Y.m. § 99 StP029 • Bei der Postbeschlagnahme wird in der Tat in das Grundrecht des Post- und Briefgeheimnisses aus Art. 10 GG "verdeckt" eingegriffen, und es erfolgt erst eine nachträgliche Offenlegung, § 101 StPO. Der Postbeschlagnahme vergleichbar ist die Regelung in den §§ 100a, 100c StPO. Bei den §§ 100a, 100c StPO geht es wie bei § 99 StPO um einen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Privatsphäre. Wesentlich bei diesen Vorschriften ist aber, daß diese Eingriffe ohne kommunikativen Kontakt mit dem Rechtsinhaber stattfinden30 • Der Betroffene wird also nicht aktiv zur Mitwirkung veranlaßt, so daß die Strafverfolgungsbehörden auf einen "passiven Eingriff' beschränkt sind. Ähnlich sind die Neuregelungen in §§ 98a-c, 103 Abs. 1,2, 111, 23 Eine ganz andere Frage ist es, was der Aussageperson im Laufe der Vernehmung mitgeteilt werden muß und was ihr verschwiegen (verdeckt) bleiben darf.
25
Roxin, Strafverfahrensrecht, § 28, S. 208 ff. BGHSt 18, 51 (53); Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 86 Rn. I.
26
Planck, Systematische Darstellung des deutschen Strafverfahrens, S. 377 f.
27
Dencker in: StV 1994, 679 f.
2'
Lammer, S. 150 (152); Dencker in: StV 1994, 678; BGH GS in: StV 1996, 465 ff.
24
Nach h.M. verweist § 33 Abs. 4 StPO auch auf § 99 StPO im Sinne einer "anderen Maßnahme", vgl. KleinknechtIMeyer-Goßner, § 33 Rn. 15; Maul in: KK, § 33 Rn. 12; Pfeiffer in: PfeijJer I Fischer, § 33 Rn. 3. 30 Dencker in: StV 1994, 681. 29
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163b - e StPO. Entweder handelt es sich bei diesen Regelungen um einen "passiven Eingriff" im oben genannten Sinne oder der heimlich beantragte Eingriff erfolgt offen J !. Nach alledem wird auch das wirklich Neue an der gesetzlichen Regelung in den §§ II0a ff. StPO deutlich. Durch diese Normen wird den Strafverfolgungsbehörden erstmals ein aktives, auf Täuschung beruhendes, verdecktes Ermitteln auch innerhalb eines kommunikativen Prozesses gestattetJ2 , und zwar zum Zweck der Erlangung eines Personalbeweises. Der Beschuldigte wird hierbei veranlaßt, an der eigenen Überführung mitzuwirken. Das zeigt, daß diese Vorschriften einen eindeutigen Ausnahmecharakter besitzen und daß aus ihrer Existenz keinesfalls der Schluß gezogen werden darf, daß nunmehr täuschendes, verdecktes Ermitteln schon dann zulässig wäre, weil, wenn und soweit es Erfolg verspricht. Es wäre verfehlt, im grundrechtlichem Schutzbereich allein mit Praktikabilitätsargumenten zu hantieren. Im übrigen hat diese Ermittlungsmethode in den §§ 1l0a ff. StPO eine strenge und detaillierte gesetzliche Regelung in bezug auf Zulässigkeit und Befugnisse der eingesetzten Beamten erfahren. Es läßt sich somit als Ergebnis festhalten, daß es insgesamt keinen geschriebenen Grundsatz der "Offenheit staatlichen Handeins" in der Strafprozeßordnung gibe J • Allerdings gilt dies uneingeschränkt nur zur Erlangung von Sachbeweisen. Die Erhebung von Personalbeweisen muß nach der Struktur der Strafprozeßordnung grundsätzlich offen erfolgen. Die §§ llOa ff. StPO bilden hierzu eng umgrenzte Ausnahmevorschriften, die keinesfalls verallgemeinerungsfähig sind. Übertragen auf den strafprozessualen Einsatz von V-Personen bedeutet dies in der Konsequenz: Die Erlangung von Beweismaterial durch V-Personen vom BeschuldigtenJ4 selbst, aufgrund einer heimlichen, durch Täuschung veranlaßten kommunikativen Interaktion, verstößt gegen die Grundstruktur der StPOJ5 • 31
Krey I Haubrich in: JR 1992, 311 ff.
32
Dencker in: StV 1994,681.
33 Weß/au, Vorfeldermittlungen, S. 211; Sternberg-Lieben in: JZ 1995, 844; BGHSt 39, 335 (346 f.); Wo/ter in: SK-StPO, vor § 151 Rn. \06.
34 Der Betroffene muß im Zeitpunkt der kommunikativen Interaktion bereits Beschuldiger sein. Wann eine Person Beschuldigter im Sinne der StPO ist, ist nicht eindeutig geklärt, weil die StPO zwar den Begriff des Beschuldigten in zahlreichen Vorschriften erwähnt, ihn indes nicht näher bestimmt. Es handelt sich um die Abgrenzung zur informatorischen Befragung, bei welcher die Schutzvorschriften zugunsten des Beschuldigten keine Geltung haben. Daran wird deutlich, daß die Bestimmung der Beschuldigteneigenschaft aus dem Sinnzusammenhang der Schutzvorschriften zum Vorteil des Beschuldigten ermittelt werden muß. Einigkeit besteht jedenfalls insoweit, als ein Betroffener dann Beschuldigter ist, wenn sich konkrete Ermittlungsmaßnahmen gegen ihn richten. Vgl. zum Beschuldigtenbegriff: Ra'!ft, Strafprozeßrecht, S. 61 (61); K/einkllechtIMeyer-Goßner, Einl. Rn. 76; Fincke in: ZStW 95, 918; Rogall in: MDR 1977,978. 3l
Im Ergebnis ebenso: Dellcker in: StV 1994, 667 (674); Fezer in: NStZ 1996, 289.
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Zulässig ist hingegen die Erlangung von Beweismaterial ohne kommunikative Interaktion und ohne Veranlassung dazu dann, wenn der Beschuldigte lediglich als Augenscheinsobjekt dient und keine weiteren grundrechtlichen Schutzbereiche des Beschuldigten davon betroffen sind, wie etwa bei längerfristigen Observationen36 .
B. Gebot der Offenheit aufgrund der Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG Ein Gebot der Offenheit staatlichen HandeIns könnte sich auch aus der Rechtsschutzgarantie, also aus der Verfassung selbst ergeben. Dieser Gedanke bietet sich schon deshalb an, weil das Strafprozeßrecht bekanntlich "angewandtes Verfassungsrecht"37 darstellen soll oder, wie Ernst von Be\ing38 im Jahre 1902 in seiner Tübinger Amtsantrittsrede erklärte: "Der Umgang mit dem Beschuldigten ist die Nagelprobe für die Ernsthaftigkeit rechtsstaatlicher Verfahrenskonzeption." Offensichtlich problematisch ist bei verdeckten Ermittlungsmethoden, daß der Betroffene durch den Einsatz von V-Personen eventuell in seinen Grundrechten verletzt wird und davon gar nichts erfahrt. Wie aber soll geprüft werden, ob der Beschuldigte nun tatsächlich in seinen Rechten verletzt wurde? Gilt hier das Prinzip: "Wo kein Kläger, da kein Richter"?w Der tiefere Grund der Problematik liegt darin, daß der verdeckte Ermittlungseinsatz von V-Personen und Verdeckten Ermittlern ein nachrichtendienstliches Mittel darstellt40/41 und es gerade zur Natur nachrichtendienstlicher Mittel ge36
Vgl. dazu die Regelung in § 100c StPO.
37
Henkel in: Strafverfahrensrecht, S. V; Lagodny in: StV 1996, 167.
3M von Beting, Die Beweisverbote als Grenzen der Wahrheitsforschung im Strafprozeß, S.5 ff. 39 Diese Problematik sieht auch Amelung, Einwilligung, S. 104. Er meint, daß der Gesetzgeber das Zitiergebot nach Art. 19 I GG beachten müsse und außerdem damr Sorge tragen müsse, daß die Rechtsschutzgarantie durch nachträgliche Mitteilungspflichten zu geWährleisten
sei.
40 SächsVerfDH in: LKV 96, 275 (286); Weßlau, Vorfeldermittlungen, S. 228; Haas, V-Leute, S. 100; Amelung, Einwilligung, S. 104. 41 Demzufolge wird in der Literatur zum Teil problematisiert, ob das Trennungsgebot zwischen Verfassungsschutz und Polizei es verbiete, daß die Polizei nachrichtendienstliche Mittel einsetzt. Ein solches Verbot s01l sich aus dem Sinn und Zweck des Trennungsgebots zwischen Nachrichtendienst und Polizei ergeben. Dazu wird auf den Inhalt des Polizeibrief.~ der alliierten Militärgouverneure vom 14.4.1949 Bezug genommen (Übersetzung bei: Roewer in: DVBI 1986, 206 und dort Fn. 11). Das Trennungsgebot soH der Gefahr des Entstehens eines aHumfassenden Polizeiapparats entgegenwirken, die sich aus der funktioneHen Verschmelzung bei der Behörden ergeben würde. Grundgedanke des Trennungsgebots ist nach dieser Ansicht, den Ausschluß der Polizei von Erkenntnissen aus dem Vorfeld von Gefahren und Verdacht zu sichern. Damit wird aber bereits deutlich, daß im Rahmen der hier vorliegenden Thematik, nämlich des strafprozessualen Einsatzes nachrichtendienstlicher Mittel, die
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hört, daß der Betroffene nichts von einem Eingriff erfahrt. Damit werden aber die Grundrechte ihrer Schutz funktion beraubt. Denn damit die Grundrechte ihre Funktion in der sozialen Wirklichkeit erfiillen können, bedarf es nicht nur inhaltlicher Nonnierung, sondern auch geeigneter Organisationsfonnen und Verfahrensregelungen 42 • Grundrechte beeinflussen auch das Verfahrensrecht43 • Durch die Verdeckung des staatlichen HandeIns fallt der Rechtsschutz für den Betroffenen regelmäßig aus, und zwar völlig. Dies gilt für den Kern grundrechtlicher Verfahrensgarantien wie das Recht des Betroffenen, vor Entscheidungen, die seine Grundrechte betreffen, angehört zu werden44 • Zwar ist es nichts Neues, daß bei Gefahr der Vereitelung des staatlichen Vorhabens eine vorherige Anhörung entfallen kann4 \ im Bereich des Einsatzes von V-Personen wird dem Betroffenen aber auch nachträglich der Einsatz nicht offenbart46 • Dies ist äußerst problematisch, denn gerade hier sind kompensatorische Verfahrensregelungen indiziert47 • Das Fehlen einer Unterrichtungspflicht läßt sich nicht per se durch ein grundsätzlich überwiegendes Geheimhaltungsinteresse der Polizei rechtfertigen 48 • Die unbestreitbare Pflicht des Staates zum Schutz seiner Bürger legitimiert nicht schon aus sich heraus jede Einschränkung der Rechte der Bürger. Von einer nachträglichen Benachrichtigung darf nur dann abgesehen werden, wenn der Zweck des ebenfalls verfassungsrechtlich legitimierten Eingriffs sonst beeinträchtigt werden würde. Wann das der Fall ist, ist vom Gesetzgeber präzise zu bestimmen und nicht im Allgemeinen wie im Besonderen der Exekutive zu überlassen49 •
erhobenen Bedenken nicht einschlägig sind. Im Bereich der Strafverfolgung ist die Polizei an die Voraussetzungen der StPO gebunden, beispielsweise an den Anfangsverdacht nach § 152 Abs. 2 StPO. Im repressivem Bereich ist damit offensichtlich, daß der vom Trennungsgebot erfaßte Vorfeldbereich nicht berührt ist. Vgl. : Lisken in: NJW 1982, 1483; Schapper in: DRiZ 1987, 223; Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 148; Gusy in: ZRP 1987, 48 ff.; Haas, V-Leute, S. \08; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 152 Rn. 4; Weßlau, Vorfeldermittlungen, S. 228 ff.; BGH in: StV 1989,518. 42 Hesse in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 5 Rn. 42 ff.; Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien. 43 BVerfGE 53, 30 (65). 44
BVerfGE 84, 59 (72); Grimm in: NVwZ 1985, 865 (869).
Dies muß allerdings gesetzlich normiert werden! Für die V-Pe~on ist dies evident, weil der Einsatz der V-Person nicht gesetzlich geregelt ist. Für den verdeckten Ermittier schreibt nur § II0d StPO eine nachträgliche Benachrichtigungpflicht im Zusammenhang mit dem Betreten von Wohnungen vor. Für den Einsatz als solchen ist eine nachträgliche Benachrichtigungspflicht nicht vorgesehen. 45
46
47 SächsVerfGH, a.a.O., S. 286; vgl. auch Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, S. 24 f. 4M Anderer Ansicht ist der BayVerfGH in: DVBI 1995,347 (352 f.). 49
Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 148 (149).
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Verdeckte Ennittlungen kollidieren50 demnach mit dem Prinzip des "effektiven Rechtsschutzes,,51. Dieses Prinzip wird aus Art. 19 Abs. 4 GG hergeleitet und verbürgt die Garantie, daß dem Bürger eine tatsächlich wirksame Kontrolle durch die Gerichte gewährleistet wird. Nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG52 so1\ sich der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes neben Art. 19 Abs. 4 GG auch unmittelbar aus den materiellen Grundrechten ergeben, beziehungsweise aus dem Rechtsstaatsprinzip53. Das Bundesverwaltungsgericht54 hatte in neuerer Zeit zwei Fälle zu entscheiden, in welchen die Kläger einen Anspruch auf Auskunftserteilung über die zu ihrer Person gespeicherten Daten geltend machten. Das BVerwG55 führte dazu aus: "Das BVerfG hat daher einen Rechtsschutz gegen die Verwendung der nach dem Volkszählungsgesetz 1983 nach Angaben des Bürgers gewonnenen Daten verfassungsrechtIich für unzureichend erachtet, wenn der Bürger nicht Kenntnis davon erlangen könnte, wer wo über welche seiner persönlichen Daten in welcher Weise und zu weIchem Zweck verfUgt." Zwar ist aus Art. 19 Abs.4 GG kein Anspruch auf Erteilung von Auskünften herzuleiten, Art. 19 Abs. 4 GG ist aber für die Ausübung des Ennessens bei der Auskunftserteilung von Bedeutung56 , wobei die Ausübung des Ennessens gerichtlich voll nachprüfbar ist57 • Das kann aber nur bedeuten, daß grundsätzlich der Betroffene zumindest nach Abschluß der Maßnahme benachrichtigt werden muß und die Voraussetzungen der Versagung zwingend gesetzlich festgeschrieben werden müssen. Dementsprechend hat nunmehr der Sächsische Verfassungs gerichtshof im Zusammenhang mit der Überprüfung des Sächsischen Polizeigesetzes im Urteil vom 14. Mai 1996 50 Eine Kollision von verdeckten Ermittlungen und Art. 19 Abs. 4 GG hat nunmehr auch das Sächsische Verfassungsgericht bei der Prüfung des Polizeigesetzes vom 14.05.1996 ftir den präventiv intendierten verdeckten Ermittlungseinsatz gesehen. Vgl. SächsVerfGH in: LKV 1996, 273 ff. 51 Vgl. zum Grundsatz des Gebots vom effektiven Rechtsschutz: BVerfGE 49, 329 (340 f.); BVerfGE 37, 150 (153); BVerfGE 30, I (36); BVerfGE 54, 39 (41); BVerfGE 60, 253 (296 f.); BVerfGE 84, 34 (49); Jarass in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 19 Rn. 30; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 335 ff., insbesondere Rn. 339; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 1106 ff.; Herzog in: NJW 1992,2601; Lorenz in: JURA 1983,393; Schenke in: JZ 1988,317; Schmidt-Aßmann in: NVwZ 1983, I ff.; Guttenberg in: NJW 1993, 573; BVerfGE 30, I (36 ff.). 52 BVerfGE 49, 220 (225 ff.).
53
Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 364.
BVerwG in: NJW 1990, 2761. In diesem Rechtsstreit verlangte der Kläger Auskunft über die zu seiner Person gespeicherten Daten vom Bundesamt für Verfassungschutz; BVerwG in: NJW 1990, 2765. Hier begehrte der Kläger vom Polizeipräsidenten in Berlin Auskunft über die zu seiner Person gespeicherten Daten. Vgl. dazu auch die Vorinstanz: OLG Berlin in: NJW 1986,2004. 55 BVerwG in: NJW 1990,2761 (2762). 54
56
BVerwG, a.a.O.; ebenso BVerwG in: NJW 1990, 2765.
57
BVerwG, a.a.O., S. 2764; BVerwG in: NJW 1990,2765.
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2. Abschnitt: Verdeckte Ermittlungen im "Lichte der Verfassung"
unmißverständlich klargestellt, daß der Einsatz von Verdeckten Ermittlern unter Verzicht auf eine generelle Benachrichtigungspflicht gegen die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG verstößt58 • Aus grundrechtsdogmatischer Sicht ist zu konstatieren, daß Art. 19 Abs. 4 GG zwar keinen Gesetzesvorbehalt enthält, daß aber Eingriffe aus kollidierendem Verfassungsrecht zu rechtfertigen sind. Die ihrem Wortlaut nach schrankenlose Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ist unter dem Gesichtspunkt der praktischen Konkordanz Einschränkungen zugunsten überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter unterworfen59• Grundrechtseinschränkungen sind insbesondere dort verfassungsrechtlich hinzunehmen, wo die Geheimhaltung zur Verfolgung anderer, gleichwertiger und mit Verfassungsrang ausgestatteter Ziele erfolgt. In der Rechtsprechung ist anerkannt, daß es verfassungsrechtlich legitimierte staatliche Aufgaben gibt, die zu ihrer Erfüllung auch der nachträglichen Geheimhaltung bedürfen, ohne daß dagegen verfassungsrechtliche Bedenken zu erheben sind60 • Das BVerfG61 hat dazu klargestellt, daß eine wirksame Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung, die auch den Schutz zukünftiger Opfer von Straftaten einschließt, eine wesentliche Aufgabe des rechtsstaatlichen Gemeinwesens ist. Insbesondere strafrechtlich relevante Verhaltensweisen betreffen nicht nur den privaten Bereich des einzelnen, sondern berühren auch Belange der Allgemeinheit und damit den Aufgabenbereich der für die Bekämpfung von Straftaten zuständigen Behörden62 • Eine Pflicht zur nachträglichen Bekanntgabe eines verdeckten Ermittlungseinsatzes könnte in der Tat dem staatlichen Geheimhaltungsinteresse im Einzelfall zuwiderlaufen. Und ein staatliches Geheimhaltungsinteresse ist jedenfalls für diejenigen staatlichen Aufgaben anerkannt, denen aufgrund ihres besonderen Charakters die Geheimhaltung immanent ist63 • Insgesamt läßt sich sagen, daß das Recht des einzelnen auf effektiven Rechtsschutz durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden kann. Eine Verhältnismäßigkeitsabwägung zwischen dem Recht auf effektiven Rechtsschutz und dem staatlichen Verfassungsauftrag der effektiven Strafrechtspflege wird auch in der Regel zugunsten von letzterem ausfallen. In diesem Zusammenhang ist deshalb Weßlau64 nicht zu folgen 65 , wenn sie meint, daß durch eine nachträgliche Benachrichtigung die Gefahren, die mit der Zulassung heimlicher Eingriffsmaßnahmen verbunden sind, nicht vollständig 5R 59
60 61
62 63 M
65
SächsVerfGH in: LKV 1996,275 (288). BVerfGE 30, 1 (25). BVerfGE 57, 250 (284); BVerwG in: NJW 1990,2765. BVerfG in: NJW 1990,563 (564); vgl. auch: BVerfG in: NJW 1981, 1719. BVerwG in: NJW 1990, 2766. BVerwGE 74,115 (120); BVerfG in: NJW 1981, 1719. Weßlau, Vorfe1denniu1ungen, S. 206 (207). BVerfGE 30, 1 (27).
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beseitigt werden könnten. Denn nach ihrer Ansicht besteht immer noch die Gefahr, daß die Benachrichtigungspflicht als solche mißachtet wird. Ich halte diese Überlegung nicht fUr zwingend. In einem Rechtsstaat ist die Annahme gerechtfertigt, daß die Behörden grundsätzlich rechtmäßig handeln. Die bloße Möglichkeit von Mißbräuchen gebietet keine andere Sicht, da sie ohnehin nie auszuschließen ist66 • Außerdem kann selbst eine Benachrichtigungspflicht ganz entfallen61, wenn dies im Hinblick auf kollidierendes Verfassungsrecht geboten ist. Allerdings bedarf es dazu eines formellen Gesetzes, welches die Voraussetzungen dafUr festlegt, wie es etwa in den §§ 110 d und 101 StPO geschehen ist. In der amtlichen Begründung des OrgKG68 heißt es: "Im Hinblick darauf, daß die in § IOOc Abs. I Nr. 2 StPO geregelten ErmiUlungsmaßnahmen nach ihrer Eingriffsstärke der Überwachung des Fernmeldeverkehrs gleichkommen, kann ebenso wie dort auf eine Benachrichtigung der betroffenen Personen nicht verzichtet werden." Weiterhin muß berücksichtigt werden, daß der Einsatz eines Verdeckten Ermittiers nach §§ llOa, I lOb StPO zum einen von dem Vorliegen von Straftaten von erheblicher Bedeutung abhängig ist, und daß im Falle des Einsatzes gegen einen bestimmten Beschuldigten der Einsatz von der Zustimmung eines Richters abhängig ist. In diesem Bestimmungen spiegelt sich folglich das oben dargestellte Ergebnis einer Verhältnismäßigkeitsprüfung wider. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf ein weiteres Problem: Auch in den Fällen, in denen die Polizeibehörde aufgrund eines Gesetzes nach Ausübung ihres pflichtgemäßen Ermessens von einer nachträglichen Benachrichtigung absieht, erfährt der Beschuldigte im Ergebnis nichts. Daraus folgt, daß eine Ermessensüberprüfung dieser Entscheidung gar nicht statt findet, sie ist somit faktisch nicht justitiabel. Das ist aus verfassungsrechtlicher Sicht äußerst problematisch. Diese Bedenken sind vom Sächsischen Verfassungsgerichtshof aufgegriffen worden, und er fUhrt dazu aus: "Der Rechtsweg zu den Gerichten gegen Eingriffe eines Nachrichtendienstes ist dem Betroffenen faktisch verschlossen, da er von diesem grundsätzlich nichts erfährt." Ein geeignetes Äquivalent zur Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ist die Überprüfung verdeckter Ermittlungseinsätze durch (Hilfs-)Organe des Parlaments, das heißt eine parla-
M In diesem Sinn meint Lammer, daß "die Möglichkeit von Mißbräuchen" kein zwingendes Argument in Richtung eines Verbotes aller heimlichen Maßnahmen sein kann. Denn es ist in der Tat dem Staat ein grundsätzlich rechtmäßiges Handeln zu unterstellen. Eine nachträgliche Benachrichtungspflicht würde im übrigen auch nach Ansicht von Lammer dem Art. 19 Abs. 4 GG "ausreichend Rechnung tragen", vgl. Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 145.
~7 Dies übersieht Lammer (S. 146) wenn er meint, daß die nachträgliche Benachrichtigung in jedem Falle die absolut unerläßliche Mindesforderung sei. Demgegenüber ist zu sagen, daß Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsimmanenten Schranken unterworfen ist, die dazu ruhren können, daß in speziellen Einzelfällen eine Benachrichtung gänzlich entfallen kann; vgl. BVerfDE
30, I (21).
~. BT-Drucksache
12/989, S. 41 (43).
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2. Abschnitt: Verdeckte Ennittlungen im "Lichte der Verfassung"
mentarische Kontrolle69 • Insgesamt kann diese Problematik an dieser Stelle nicht vertieft werden. Immerhin läßt sich aber fiir den derzeitigen Rechtszustand sagen, daß der Einsatz von V-Personen als verdecktes strafprozessuales Ermittlungsinstrument, das keinerlei Kontrolle durch die Justiz unterliegt, mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG sicher nicht zu vereinbaren iseo.
§ 4 Verdeckte Ermittlungen und Grundrechtsschutz des Beschuldigten Nachstehend soll untersucht werden, ob der verdeckte Ermittlungseinsatz grundrechtliche Schutzbereiche berührt. Diese Untersuchung soll anband einiger Praxisbeispiele erfolgen: Ein typischer VE-Einsatz lag einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 24. November 1994 zugrunde 71 • 69
SächsVerfGH in: LKV 1996,275 (289, 290); BVerfGE 30, I (23).
Vgl. etwa BVerfGE 30, I (21): ,,Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, daß jeder hoheitliche Eingriff in Freiheit und Eigentum des Bürgers mindestens einer effektiven Rechtsschutzkontrolle unterliegen muß. Dürig kommt in seinem Gutachten im Rahmen des "Abhörurteils" zu dem Ergebnis, daß ein totaler Ausschluß der Benachrichtigungspflicht den Rechtsstaatsgrundsatz im Kern verletze (BVerfG, a.a.O., S. 11). 10
71 VGH BW, Az.: I S 2909/93 - unveröffentlicht -; vorhergehend VG Stuttgart, Az.: I K 3212/92 = Kriminalistik 1994,572, siehe dazu auch die Anmerkung von Vahle in: DVP 1995, 132. Es handelt sich hier zwar um eine präventive Polizeimaßnahme nach Landespolizeirecht. Die grundrechtlichen Probleme bleiben aber die gleichen, lediglich die Rechtsgrundlage fiir das staatliche Handeln und der Rechtsschutz fiir den Betroffenen divergieren, so daß der ausgewählte Fall zur Problemdarstellung durchaus geeignet ist. - Es handelt sich hierbei zwar um einen präventiv-polizeilichen Einsatz, welcher von der Thematik dieser Arbeit nicht unmittelbar umfaßt ist, zur Verdeutlichung der grundsätzlichen Arbeitsweise eignet er sich dennoch, weil sich der Unterschied zwischen dem präventiven und repressiven V-PersonenEinsatz letztlich in der Einsatzintention erschöpft. Im übrigen ist gerade im Bereich der verdeckten Ermittlungstätigkeit umstritten, wann und wie die Prävention von der Repression zu unterscheiden ist, wobei nochmals problematisch ist, ob und, wenn ja, in weIchem Umfange präventiv-polizeiliche Erkenntnisse repressiv im Strafverfahren verwertet werden dürfen. Vgl. auch die aktuelle Entscheidung des BGH vom 07.05.1995 hinsichtlich der Frage der strafprozessualen Verwertbarkeit von präventiv erlangten Erkenntnissen, StV 1996, 185 ff. - Zur Abgrenzung von Polizeirecht und Strafprozeßrecht gilt: Die Polizei hat eine Doppelfunktion. Einerseits ist sie präventiv zur Abwehr von Gefahren tätig und andererseits repressiv zur Verfolgung von Straftaten. Im ersten Fall findet das Landespolizeirecht und im zweiten Fall die Strafprozeßordnung Anwendung. Problematisch ist die Zuordnung, wenn die konkrete Maßnahme die Verhinderung von im Einzelfall drohenden Straftaten zur Aufgabe hat. Beispielsweise, wenn eine Person in Gewahrsam genommen wird, die beabsichtigt eine Straftat zu begehen. Die Trennung von Strafprozeß- und Landespolizeirecht wird anhand von § 152 Abs. 2 StPO gezogen. Danach beginnt das Strafprozeßrecht dann, wenn ein Anfangsverdacht vorliegt. Ein Sonderproblem bilden dabei die sogenannten "doppelfunktionalen Maßnahmen". Hierbei ist problematisch, daß eine Maßnahme gleichzeitig eine Gefahr abwehren, aber auch eine Straftat aufklären soll, etwa bei der Observation eines Rauschgiftringes. Dienen die Maßnahmen der strafprozessualen Ermittlung oder der vorbeugenden Gefahrenabwehr? Nach
§ 4 Verdeckte Ennittlungen und Grundrechtsschutz des Beschuldigten
61
Die Kläger arbeiteten im Arbeitskreis Nicaragua der Evangelischen Studentinnen- und Studentengemeinde mit und befaßten sich dabei in vielfältiger Weise mit der politischen und sozialen Lage in Mittelamerika, insbesondere in Nicaragua und EI Salvador. Der Arbeitskreis traf sich wöchentlich, wobei über die Lage in den betreffenden Ländern gesprochen und öffentliche Aktivitäten der Gruppe vorbereitet wurden ( ... ) Ende 1990 ordnete der derzeitige Präsident des Landeskriminalamts mündlich den Einsatz zweier Verdeckter Ermittler72 im Raum ( ... ) an. Unter dem Datum des l. Dezember 1991 erging folgende schriftliche Einsatzanordnung: "Betreff: Einsatz von Verdeckten Ennittlern zur vorbeugenden Bekämpfung der Staatsschutzkriminalität ( ... ) Ziel ist es, durch die Erhebung von Infonnationen bei zur PB 07 ausgeschriebenen Personen, in deren Umfeld sowie bei Personen, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, daß sie künftig Staatsschutzdelikte begehen, vorbeugend Straftaten mit erheblicher Bedeutung zu bekämpfen. Insbesondere sollen durch den verdeckten Einsatz das militante autonome Spektrum wie das RAFUmfeld im Bereich ( ... ) aufgehellt werden, Infonnationen über bevorstehende / beabsichtigte Straftaten sowie Anhaltspunkte für die Unterstützung/Bildung terroristischer Vereinigungen gewonnen werden ( ... )." Die Anordnung erging zunächst für die Dauer von 6 Monaten (!) und wurde am I. Juni 1992 um weitere 6 Monate verlängert. Der tatsächliche Einsatz stellte sich dann wie folgt dar: Ab März 1991 hatten die Verdeckten Ermittler unter anderem an Treffen des Arbeitskreises Nicaragua teilgenommen, halfen bei der Organisation und Durchführung verschiedener Veranstaltungen und Demonstrationen und suchten intensiven Kontakt insbesondere zu den Klägern, die in einer Wohngemeinschaft im selben Gebäude wohnten, in welchem sich auch die Verdeckten Ermittier eingemietet hatten. Zwischen den Klägern und den Verdeckten Ermittlern entwickelte
sich ein freundschaftliches Vertrauensverhältnis, und es fanden auch private Treffen statt. Die bei der Ermittlungstätigkeit gesammelten Informationen, ca. 64 "Treflberichte" mit etwa 78 Personen, wurden an das Landeskriminalamt weitergeleitet.
herrschender Auffassung entscheidet der Schwerpunkt der Maßnahme, wobei zur Bestimmung auf einen objektiven Beobachter abgestellt wird und ergänzend auf den erkennbaren Willen der Behörde. Vgl. Würtenberger / Heckmann / Riggert, Polizeirecht in Baden-Württemberg, Rn. 122 ff. 72 Hier hätte auch eine V-Person eingesetzt weden können.
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2. Abschnitt: Verdeckte Ermittlungen im "Lichte der Verfassung" "Zellengenossen-Entscheidung ,073 174
Auf Veranlassung der Polizei verlegte der Leiter der JVA Hannover die V-Person Y auf die ZeHe des später wegen Mordes angeklagten A, um diesen durch die V-Person gezielt aushorchen zu lassen. Der V-Person wurden bei erfolgreicher Informationsbeschaffung Vorteile für ihr eigenes Strafverfahren versprochen. In den ersten Tagen gelang es der V-Person nicht, von dem Angeklagten etwas über die Tat zu erfahren, obwohl sie ständig versuchte, das Gespräch auf die Tat zu lenken. Erst als die V-Person auf Fluchtpläne des Angeklagten einging und sich zudem bereiterklärte, bei einem geplanten RaubüberfaH mitzuwirken, erhielt sie die erstrebten Informationen vom Angeklagten. Anschließend gab Y diese Erkenntnisse an die Polizei weiter und sagte auch in der Hauptverhandlung gegen den A als Zeuge aus. " Sedelmayr-Entscheidung" 75
Der Schauspieler Sedelmayr wurde am Abend des 17. Juli 1990 ermordet aufgefunden. Der Tat verdächtig waren die Halbbrüder L. und w., wobei der Beschuldigte W. mit Sedelmayr jahrelang eng befreundet war. Die Tataufklärung erwies sich für die Polizei und Staatsanwaltschaft als äußerst schwierig. Aus diesem Grund verpflichtete die Polizei im Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft die Kaufleute R. und H. als V-Personen. Diese hatten den Auftrag, Kontakt mit den zwei Tatverdächtigen und deren Umfeld aufzunehmen. Ihre Wahrnehmungen soHten sie jeweils voHständig an die Polizei weitergeben, ohne dieses Material nach belastenden oder entlastenden Gesichtspunkten zu filtern. 73 Zellengenossen-Entscheidung nach BGHSt 34, 362 ff. = StV 1987, 283 ff. = JZ 1987, 936; vgl. zu dieser Entscheidung auch: Fezer in: JZ 1987,937; Kramer in: JURA 1988,520; Hassemer in: JuS 1988,409; Wagner in: NStZ 1989,34; Neuhaus in: NJW 1990, 1221.
74 Beachte in diesem Zusammenhang auch die Entscheidung des 3. Senats des BGH vom 24.07.1998 - 3 StR / 98 (unveröffentlicht): Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, ein Asylbewerberheim in Brand gesetzt zu haben. Bei dem Brand sind 10 Menschen ums Leben gekommen. Die voI). dem in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten in den Besucherraum der Haftanstalt mit seinen Angehörigen geführten Gespräche wurden - für den Angeklagten und seine Gesprächsteilnehmer ersichtlich - von einem Vollzugsbeamten teilweise unter Zuhilfenahme eines Dolmetschers überwacht und auf Tonband aufgezeichnet. Der 3. Senat hat ein Verstoß gegen § 100c Abs. I Nr. 2 StPO a.F. abgelehnt, weil es sich bei dem Besucherraum nicht um eine Wohnung i.S.d. Art. 13 GG handelt. Allerdings sind auch hier die besonderen Verhältnisse des Untersuchungshaftvollzugs zu beachten. Eine Verletzung der Menschenwürde kommt andererseits dann nicht in Betracht, wenn die Überwachung erkennbar stattfindet, der Verdacht einer schweren Straftat gegeben und auch im übrigen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt ist. 75 BGH in: NJW 1994,2904. Vgl. zu dieser Entscheidung: Schmidt in: JuS 1995, 174 ff.; Helmhagen in: JA 1995, 183 ff.; Schlüchter in: NStZ 1995,354 ff.; Sternberg-Lieben in: JZ 1995,354 ff.; Gusy in: StV 1995,449 ff.; Gol/witzer in: JR 1995,469 ff.; Widmaier in: StV 1995, 621 ff.; Neuhaus in: Kriminalistik 1995, 787.
§ 4 Verdeckte Ennittlungen und Grundrechtsschutz des Beschuldigten
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Die V-Personen sprachen ihre Kontakte mit der Polizei ab. Es gelang ihnen, das Vertrauen des Beschuldigten L. und dessen Verlobten K. zu gewinnen. Die K erzählte der V-Person während eines Gesprächs, daß der in der Zeitung abgebildete Hammer, das Mordwerkzeug, dem Beschuldigten L. gehöre. Auf Nachfragen der V-Person beschrieb die L. den Hammer genau nach individualisierenden Merkmalen. Auf nochmaliges Nachfragen der V-Personen bekundete die K diesen gegenüber zu einem späteren Zeitpunkt, daß sie sich hundertprozentig sicher sei, daß der abgebildete Hammer dem L. gehöre. Die V-Personen teilten dies unverzüglich der Polizei mit. Gegenüber dem Ermittlungsrichter sowie in der Hauptverhandlung berief sich die Zeugin und Verlobte K auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO und machte keine Angaben zur Sache. Gegen den Widerspruch der Verteidigung hat das Landgericht die V-Personen als Zeugen darüber vernommen, was die K ihnen gegenüber geäußert hatte. Daraufhin verurteilte das LG die Angeklagten Wund L wegen Mordes in Tateinheit mit schwerem Raub zu lebenslanger Freiheitsstrafe.
"Hör/allen-Entscheidung ..76 Das Opfer 0 wurde von zwei Beschuldigten A und B erpreßt. In seiner Not vertraute sich 0 einer Freundin F an, die die Täter kannte. 0 und F gingen schließlich zur Polizei. Dort forderte der Kriminalbeamte P die F auf, die Beschuldigten anzurufen, um sie über die Tat auszufragen, wobei der Beamte P das Gespräch an Hand eines Zweithörers mitverfolgen sollte. So geschah es auch. Während des Gesprächs machten die Täter die gewünschten belastenden Äußerungen. Die Aussage des P wurde in der anschießenden Hauptverhandlung als Zeugenaussage eingeruhrt und verwertet.
A. Verdeckte Ermittlungen und die Würde des Menschen 1. Schutzbereich der Menschenwürde
Artikel I unseres Grundgesetzes, die Menschenwürde, gehört zu dessen "tragenden Konstitutionsprinzipien"77, die alle Bestimmungen des Grundgesetzes durchdringen. Die Menschenwürde ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 78 unantastbar und stellt den höchsten Wert der Verfas76 BGHSt 39, 335 ff.; vgl. auch: BGHSt 33, 217; BGH Vorlagebeschluß vom 22.3.95 in: NStZ 1995,410; BGH GS in: NStZ 1996,200; Rogall, Informationseingriff; Kühl in: StV 1986, 187; Beulke in: StV 1990, 180; König in: Kriminalistik 1997, 17 ff.
77 7K
BVerfGE 30, 1 (29); BVerfGE 50, 166 (175); Münch, Die Menschenwürde. BVerfGE 5, 85 (205); BVerfGE 35, 202 (221); BVerfGE 50,166 (175).
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2. Abschnitt: Verdeckte Ennittlungen im "Lichte der Verfassung"
sung dar, wobei dies nicht nur als Programmsatz79 aufgefaßt wird, sondern es wird durch Art. I GG ein subjektiv-öffentliches Recht statuiertSo. Eine Abwägung zugunsten von Strafverfolgungsinteressen im Bereich der Menschenwürde ist nach herrschender Auffassung grundsätzlich nicht möglichSJ . Ganz in diesem Sinne fuhrt Bleckmann82 aus, daß der Staat eben fur den Menschen und nicht der Mensch fur den Staat da sei. Es fragt sich somit, ob ein verdecktes Vorgehen im Strafprozeß die Würde des Menschen berührt und damit als ein schon per se nicht zu rechtfertigender Eingriff!3 angesehen werden muß. Dazu ist es notwendig, den Schutzbereich der Menschenwürde näher zu charakterisieren. Den Schutzbereich der Menschenwürde84 zu bestimmen, ist nicht einfach, denn "Würde" ist ein unbestimmter und in der heutigen Zeit wenig geläufiger Begriff. In diesem Sinne ist es nicht verwunderlich, daß die Rechtsprechung den Schutzbereich nicht positiv definiert, sondern den umgekehrten Weg geht und an Hand von Kasuistik die Frage klärt, wann ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegt85 • Das BVerfG bedient sich dabei der von Dürig86 entwickelten sogenannten "Objektformel"s7. Danach widerspricht es der Würde des Menschen, wenn dieser zum bloßen Objekt des staatlichen HandeIns wird. Im bekannten 79 Teilweise wird wegen des proklamatorischen Charakters des Art. I Abs. I GG die Ansicht vertreten, daß Art. I Abs. I GG gar kein Grundrecht sei, weil wegen Art. lAbs. 3 GG die öffentliche Gewalt an die "nachfolgenden Grundrechte" gebunden sei, und außerdem sei der Schutz des Art. lAbs. 1 GG lückenlos durch die anderen Grundrechte geWährleistet, vgl. Dürig in: MaunzlDürig, Grundgesetz, Art. 1 Rn. 13. Gegen ihn mit guten Argumenten Pieroth I Schlink, Grundrechte, Rn. 398, die darauf hinweisen, daß nach Systematik und Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes Art. 1 Abs. 1 GG zu den Grundrechten gehört und daß proklamatorische und unbestimmte Begriffe (Menschenwürde) sich auch in anderen Grundrechten finden, vgl. auch BVerfU in: E 61, 126 (137). Benda (Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 7) argumentiert, daß das System des Grundgesetzes, das gegen jede Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt den Rechtsweg eröffne, um so mehr gelten müsse, je höher der Rang des Rechtsgutes in der Hierachie der Verfassungswerte stehe. 110 BVerfUE 1, 333 (343/348); BGHZ 13, 334 (338); Benda in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 7 m.w.N. Vgl. auch: Graf Vitzthum in: JZ 1985,201 (203).
KI BVerfUE 6, 32 (41); BVerfU in: NJW 1990,701; BGHSt 5, 332 f.; BGH in: StV 1989, 388 (390); Geppert in: JR 1988,471 (473); Gössel in: NJW 1981,649 (656); Amelung in: JR 1984,256; Arndt in: NJW 1961,897 ff.; Herrmann in: FS f. Jescheck, S. 1291 (1294). K2
Bleckmann, Die Grundrechte, S. 445.
Art. 1 Abs. 1 GG steht unter keinem Gesetzesvorbehalt. Da er wegen Art. 79 Abs. 3 GG nicht einmal bei einer Verfassungsänderung angetastet werden darf, stellt sich ein Eingriff zugleich als ein Verstoß gegen die Menschenwürde dar - vgl. Pieroth ISchlink, Grundrechte, Rn. 413; Kunig in: von MünchlKunig, Grundgesetz-Kommentar, Art. I Rn. 4. K)
K4 Vgl. dazu Benda in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 14 ff.; Kunig in: von Münch I Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, Art. I Rn. II ff. R5
Pieroth I Schlink, Grundrechte, Rn. 403.
Dürig in: Maunz I Dürig, Grundgesetz, Art. I Abs. I Rn. 28; die Objektfonnel geht auf eine Formulierung Kants zurück, vgl. Bleckmann, Die Grundrechte, S. 457. 106
K7 BVerfUE 9, 89 (95); BVerfUE 57, 250 (275); vgl. auch: Jarass in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 1 Rn. 4.
§ 4 Verdeckte Ennittlungen und Grundrechtsschutz des Beschuldigten
65
"Abhörurteil"88 hat das BVerfG die Objektformel nochmals konkretisiert. Danach sei die Menschenwürde dann verletzt, weim der Mensch einer Behandlung ausgesetzt werde, die seine Subjektsqualität prinzipiell in Frage stelle oder die Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Mißachtung der Menschenwürde bedeute, etwa dann, wenn das staatliche Handeln Ausdruck einer verächtlichen Behandlung sei 89 . Schließlich ist zu beachten, daß der Begriff der Menschenwürde als Ausfluß seiner Unbestimmtheit wandlungsfähig ist90 und daß sich zudem der Begriff nicht generell, sondern immer nur wertend für den konkreten Einzelfall bestimmen läßt91 . Sicher ist jedenfalls, daß nach bisheriger Rechtsprechung die Menschenwürde dem einzelnen einen Innenraum gewährt, in den er sich zurückziehen kann und zu dem seine Umwelt keinen Zutritt hat92 • Für den Strafprozeß gilt, daß es die Menschenwürde nicht zuläßt, daß die Wahrheit mittels eines "Lügendetektors"93 oder ähnlicher Dinge ermittelt wird. Es gibt somit keine Wahrheitsermittlung um jeden Preis94 . Auch soll die Menschenwürde dem Betroffenen einen Anspruch auf rechtliches Gehör95 garantieren sowie ein Recht aufVerteidigung96 • Ebenso verstößt es gegen die Menschenwürde, wenn ein Beschuldigter durch Zwang zur Selbstbelastung veranlaßt wird97 . 2. Menschenwürde als Grenze verdeckter Ermittlungen
Die Beantwortung der Frage, ob strafprozessuale verdeckte Ermittlungen durch V-Personen oder Verdeckte Ermittier die Menschenwürde des Betroffenen •• BVerfGE 30, I ff. 09 BVerfGE a.a.O., S. 26. Dieses subjektive Element ist heftig kritisiert worden. Vor allem das abweichende Votum der Richter Geiler, Schlabendorff und Rupp trat dieser Ansicht entgegen. In der Tat ist es nicht einleuchtend, warum neben einer objektiven Mißachtung der Menschenwürde eine subjektive hinzukommen soll. Das Gericht fuhrt selbst aus, daß der Mensch objektiv nicht wie ein Gegenstand behandelt werden dürfe, auch wenn dies "in guter Absicht" geschehe. Vgl. BVerfGE 30, I (40); DüriglEvers, Zur verfassungsändernden Beschränkung des Post-, Telefon- und Fernmeldegeheimnisses; Dürig, Gesammelte Schriften, S. 343 ff.; Häberle in: JZ 1971, 145 (\5\). Gegen die Berechtigung dieser Kritik vgl. Graf Vitzthum in: JZ 1985, 204.
90
OVG Berlin in: NJW 1980,2485.
91
Lepa, Grundrechte, Art. I Rn. 6.
92
BVerfGE 27, \ (6).
93
BGHSt 5, 332 f.
!M Diese sprichwörtliche Redewendung geht zurück auf BGHSt 14, 358 (365); Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 16.
95 Dieser Grundsatz hat dort praktische Bedeutung, wo Art. 103 Abs. I GG nicht zum Zuge kommt, vgl. BVerfGE 9, 89 (95) und BVerfGE 7, 275 (279). 96 BGHSt 36, 44 (48). Die speziellen strafprozessualen Gesichtspunkte der Menschenwürde sollen im einzelnen untersucht werden, wobei der nachfolgende Befund indes präjudizielle Wirkung hat, vgl. dazu S. 70 ff. 97
BVerfGE 56, 37 ff. = Gemeinschuldner-Beschluß.
5 Makrutzki
66
2. Abschnitt: Verdeckte Ermittlungen im "Lichte der Verfassung"
verletzen, hängt vom Ergebnis einer wertenden Abwägung mit anderen Verfassungsgütern ab, weil bereits der Bestimmung des Kernbereichs ein Moment der wertenden Betrachtung inhärent ist9ft • Letztlich geht es um den Interessenausgleich kollidierender Verfassungsgüter, wobei im allgemeinen dem Individualinteresse des einzelnen die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege99 entgegenstellt 'OO wird. Dabei ist nach moderner Grundrechtsdogmatik indes nicht stehen zu bleiben. Die Grundrechte sind nach neuerern Verständnis nicht nur Abwehrrechte, sondern sie begründen für den einzelnen auch Leistungsrechte lOl , welche sich im Bereich der vorliegenden Thematik in concreto als Schutzpflichten des Staates gegenüber seinen Bürgern darstellen. Es ist zunehmend anerkannt, daß staatlicher Schutz auch gegenüber Beeinträchtigungen oder Gefährdungen notwendig ist, die nicht vom Staat ausgehen 102. Solche Schutzpflichten sind beispielsweise für die Bewahrung des ungeborenen Lebens 103 , im Bereich der Kernenergie '04 oder des Fluglärrns l05 bereits anerkannt worden. An dieser Stelle sollen die Ergebnisse des ersten Abschnitts in Erinnerung gerufen werden lO6 • Dort ergab sich der Befund, daß die Dimension der Organisierten Kriminalität in der Tat rechtsstaatsbedrohendes Ausmaß angenommen hat. Dementsprechend hat der Sächsische Verfassungsgerichtshofo7 im Zusammenhang mit der Prüfung des Sächsischen Polizeigesetzes ausgeführt: "Der Gesetzgeber durfte im Interesse der inneren Sicherheit des Staates und der zu gewährenden Sicherheit der Menschen den Zweck verfolgen, die Effektivität der Gefahrenabwehr und der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, insbesondere auf dem Gebiet der Organisierten Kriminalität zu steigern."108 9K Erst eine Abwägung kann als Ergebnis haben, ob ein Verhalten den Kembereich bzw. die Menschenwürde berührt oder nicht. In diesem Sinne ist Ernst (Verarbeitung und Zweckbindung von Informationen im Strafprozeß, S. 109, 110 f.) nicht zuzustimmen, wenn er meint, daß kollidierendes Verfassungsrecht die Schranken des Betroffenen nicht herabsetzen könne. Gerade das ist der Fall, vgl. Degenhart in: JuS 1992, 362. 99 Sternberg-Lieben in: NJW 1987, 1246; Vogel in: NJW 1978, 1218. Teilweise wird dem entgegengehalten, daß es in diesem Zusammenhang nicht um die Funktionsfahigkeit der Strafrechtspftege gehe, sondern um eine EfTektivierung ihrer Instrumente und Abläufe, vgl. Hassemer in: StV 1982, 279 f. 100 Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 45 fT. 101 BVerwG in: NJW 1997,2695.
102 Hesse in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 5 Rn. 49, S. 149; lsensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 27 fT.; Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 410fT.; Wahl / Masing in: JZ 1990, 553 fT.; Klein in: NJW 1989, 1633. Kritisch für den strafprozessualen Bereich ist Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S.49. 103 BVerfGE 39, I (42 fT.). 104 BVerfGE 53, 30 (57).
106
BVerfGE 56, 54 (73). Vgl. oben S. 46.
107
SächsVerfGH in: LKV 1996,273 (279).
105
§ 4 Verdeckte Ennittlungen und Grundrechtsschutz des Beschuldigten
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Nach alledem darf abermals nicht vergessen werden, daß verdeckte Ermittlungsmethoden strafprozessuale Beschuldigtenschutzfunktionen einschränken. Ernst Benda '09 sagt in diesem Zusammerihang zu Recht, daß es im Strafverfahren um die Erforschung der Wahrheit gehe, und solange diese nicht feststeht, dürfe die Schuld des Verdächtigten nicht als vorhanden und nur noch zu beweisen unterstellt werden. Die öffentliche!) Sicherheitsbelange, wozu auch eine funktionierende Strafrechtspflege gehört, sind somit nicht bereits per se vorzugswürdig, so daß bei einer Abwägung keinem dieser Rechtsgüter eine generelle Präferenz zuerkannt werden darf"o. Anders gewendet ist mit den Worten von Hesse'" eine "praktische Konkordanz" herzustellen, was nichts anderes als die verhältnismäßige Zuordnung von Grundrechten und grundrechtsbegrenzenden Rechtsgütern zueinander bedeutet, weil schließlich und endlich diese Zuordnung die Organisation einer Koexistenz konkurrierender verfassungsrechtlich legitimierter Lebensverhältnisse beschreibt ll2 . Die Grundrechte des einzelnen und die kollidierenden Gemeinwohlbelange sind somit nach Möglichkeit zu einem vernünftigen und gerechten Ausgleich zu bringen, bei dem die zu wahrenden Belange einander gerecht zuzuordnen sind. Läßt sich ein Ausgleich nicht erreichen, so ist unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung und unter besonderer Berücksichtigung des Einzelfalls zu entscheiden, welches Interesse zurückzutreten hat '13 . Als Abwägungsgesichtspunkte gelten die konkreten Lebensverhältnisse, die jeweilige Lebenswirklichkeit und die gesellschaftlichen Gegebenheiten. Zu den maßgeblichen Aspekten einer solchen Abwägung ist mit Lammer l14 festzuhalten, daß strafprozessuale verdeckte Ermittlungsmethoden in aller Regel dann (noch) nicht in die Menschenwürde des Beschuldigten eingreifen, wenn es sich bei dem Gegenstand der Ermittlungen um schwerwiegende Delikte handelt, 10M
Gleiche Argumentation muß fUr den repressiven Polizeieinsatz gelten.
109
Benda in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 21, S. 172.
110 BVerfDE 51, 345; Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 51; SächsVerfDH in: LKV 1996, 273 (280).
111
Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 317 ff.
Zum gleichen Ergebnis fUhrt der interessante dogmatische Ansatz von Alexy (Theorie der Grundrechte, S. 100 ff.). Er meint, daß es zur Lösung von Kollisionen grundsätzlich zwei Möglichkeiten gebe. Entweder könne man dem einen Interesse grundsätzlich den Vorrang vor dem anderen einräumen, dann handele es sich um Regeln, weil die Lösung darin liege, daß ein Interesse fUr ungültig erklärt werde. Als zweite Möglichkeit könne man den widerstreitenden Interessen als Prinzipien anerkennen. Prinzipien seien dann Optimierungs gebote, und optimiert könne nur dann werden, wenn ein Interesse (Prinzip) hinter dem anderen zurücktrete, wobei letzteres seinen Geltungsanspruch nicht aufgibt, sondern lediglich, soweit dies nötig ist, reduziert. Parameter zur Feststellung, welches Interesse zurücktreten solle, seien konkrete Umstände. Im Ergebnis entspricht dieser Ansatz der Herstellung praktischer Konkordanz im Sinne von Hesse. 113 BVerfDE 35, 202 (225). 114 Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 53. 112
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2. Abschnitt: Verdeckte Ermittlungen im "Lichte der Verfassung"
namentlich um jene der Organisierten Kriminalität 115 . Weiterhin muß der Gesetzgeber aber durch Ausgestaltung der Eingriffsermächtigungsnormen mit grundrechtsschützenden und kompensierenden Verfahrensvorschriften die praktische Konkordanz ermöglichen" 6 • Letztlich müssen für die Annahme eines Eingriffs in die Menschenwürde weitere Beeinträchtigungen hinzukommen, wie etwa der Aufbau einer Liebesbeziehung zur Zielperson ll7 • Dieses Resultat erscheint auch angemessen, wenn man sich das Menschenbild ll8 des Grundgesetzes vergegenwärtigt. hat das BVerfG lI9 schon in früher Zeit ausgeführt: "Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum / Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden ( ... )." Daraus ergibt sich, daß der einzelne sich diejenigen Schranken gefallen lassen muß, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des allgemein Zumutbaren zieht. Dazu hat Dürig '20 ausgeführt, daß das Strafrecht zum einen die stärkste Waffe des Staates zum Schutz der Menschenwürde des einzelnen sei, zum anderen bringe es aber zugleich eine der schärfsten Bedrohungen der Menschenwürde mit sich. Der Schutzbereich der Menschenwürde sei somit enger Natur, und die Garantie der Menschenwürde sollte nicht vorschnell zur "kleinen Münze"'21 gemacht werden, auch wenn die Berufung auf sie in vielen Fällen zu passen scheine und einen starken emotionalen Beiklang aufweise.
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115 In diesem Sinne hat der SächsVerfDH mit Urteil vom 14.5.1996 (LKV 1996,273 ff.) § 39 Abs. I Nr. 2 des Sächsischen Polizeigesetzes für verfassungswidrig erklärt, weil dort gegen das Übermaßgebot verstoßen wurde, weil ein verdeckter Ermittlungseinsatz auch zur vorbeugenden Bekämpfung von Vergehen im strafrechtlichen Sinne eingesetzt werden konnte. Das Gericht führt dazu aus: "Wegen der schweren und oft nicht wiedergutzumachenden Grundrechtsbeeinträchtigung, die mit einer Informationsgewinnung durch besondere Mittel der Datenerhebung verbunden ist, sind ( ... ) Eingriffsmaßnahmen unterhalb der Gefahrenschwelle nur ausnahmsweise zulässig ( ... )" (a.a.O., S. 283). Diese Ausahme sei nur dann gegeben, wenn es sich um Taten des Organsierten Verbrechens handele, weil gerade daraus sich das besondere öffentliche Interesse legitimiere. 116 SächsVerfDH in: LKV 1996,275 (280) = JZ 1996,957 ff. = DVBI 1996, 1423 ff. = NVwZ 1996,784 ff. = Kriminalistik 1996,585; vgl. dazu auch: Spaner in: LKV 1996,267; Gröpl in: NJW 1996, 100; BVerfD in: NJW 1996, 114; Bäum/er in: NVwZ 1996, 765 ff.; Knemayer in: SächsVBI 1996, 197 ff.; Habermehl in: SächsVBI 1996, 20 I ff.; Pae/Jgen in: NJ 1996,454 ff.; Götz in: JZ 1996,969 ff.; Schenke in: DVBI 1996, 1396. 117 Vgl. die Entscheidung des AG Heidenheim in: NJW 1981, 1628. IIR Vgl. Benda in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 5 ff. 119 BVerfDE 4, 7 (16).
120
Dürig in: AöR 79 (1953/54), S. 57 ff.
Dürig in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. I Rn. 16 (29); Jarass in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. I Rn. 4. 121
§ 4 Verdeckte Ennittlungen und Grundrechtsschutz des Beschuldigten
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B. Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG 1. Darstellung des Schutzbereiches
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wurde von der Rechtsprechung entwikkelt. Ihren Anfang nahm diese Entwicklung bei der Zivilrechtsprechung 122 • Erstmals in der "Leserbrief-Entscheidung"123 aus dem Jahre 1954 und dann im "Herrenreiter-Fall"124 aus dem Jahre 1958 wurde das allgemeine Persönlichkeitsrecht als ein verfassungsmäßig gewährleistetes Grundrecht anerkannt. Grundsätzlich basiert der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auf zwei Komponenten, einer dynamischen und einer statischen. Die dynamische Komponente ist in Art. 2 Abs. I GG verwurzelt. Seit dem "Elfes-Urteil"125 geht das BVerfG in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß Art. 2 Abs. I GG jegliches Handeln und Unterlassen schützt. Anders gewendet: Jeder kann tun und lassen, was er will. Die statische Komponente wird durch Art. I Abs. I GG abgesichert. Hierdurch wird dem einzelnen ein Rückzug in seine Privatsphäre gewährt, was von einigen Autoren l26 bildhaft als "right to be let alone" bezeichnet wird. Die Besonderheit des Persönlichkeitsrechts ist zudem darin begründet, daß der Schutzbereich in der Intensität nicht konstant ist. Das BVerfG wendet hierbei seine "Sphärentheorie" an. Danach wird der Schutzbereich in verschiedene Sphären eingeteilt. Plastisch gesprochen handelt es sich hierbei um ein "kreisförmiges Schichtenmodell"l27, bei dem die Schutzintensität von innen nach außen abnimmt. Den intensivsten Schutz genießt der Kernbereich. Diese Sphäre wird auch als Intimsphäre bezeichnet und ist der letzte, unantastbare Bereich menschlicher Freiheit. Dieser Bereich ist der gesamten öffentlichen Gewalt entzogen l28 • Daran schließt sich die Privatsphäre an. Hier darf unter den Voraussetzungen des Art. 2 Abs. I GG eingegriffen werden. Als dritte Sphäre gilt die Sozialsphäre, die die betreffenden Vorgänge so weit in die Öffentlichkeit schiebt, daß der einzelne vor der ungewollten Anteilnahme keinen Schutz genießt 129 • Dies ist auch angemessen, weil und soweit der einzelne auch Teil einer Gemeinschaft ist, in der er sich bewegt.
122
Degenhart in: JuS 1992, 362.
123
BGH in: NJW 1954, 1404.
125
BGH in: NJW 1958,827. BVerfGE 6, 32 ff.
126
Benda in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 25, S. 174; Duttge in: JZ 1996, 562.
124
Degenhart in: JuS 1992, 363; Pieroth I Schlink, Grundrechte, Rn. 434 ff.; Duttge in: JZ 1996,562. m BVerfGE 6, 32 (41); BVerfGE 38, 312 (320). 127
129
Duttge in: JZ 1996,563.
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2. Abschnitt: Verdeckte Ermittlungen im "Lichte der Verfassung"
Bezogen auf die Ausgangsfrage, ob der Einsatz von V-Personen das allgemeine Persönlichkeitsrecht berührt, wird man dies bejahen müssen 130. Der Betroffene wird durch den V-Personen-Einsatz zumindest in der dynamischen Komponente des allgemeinen Persönlichkeitsrechts tangiert, weil der Staat den Betroffenen zur aktiven Mitwirkung bei der Ermittlungstätigkeit veranlaßt, wozu der Betroffene nicht verpflichtet ist. Ebenso wird vielfach das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner statischen Komponente, dem "right to be let alone", tangiert sein, wenn sich der Staat verdeckt in die Privatsphäre des Betroffenen einschleicht. Ganz in diesem Sinne stellt der VGH-BW 131 apodiktisch fest: "Es steht außer Frage, daß durch den Einsatz der Verdeckten Ermittier in den geschützten Persönlichkeitsbereich der Kläger eingegriffen worden ist ( ... )." Die Ansicht von Krey l32, wonach eine "nicht allzu umfangreiche polizeiliche Observation, beziehungsweise Beobachtung, das Sammeln von Informationen über den Beschuldigten bei Nachbarn und am Arbeitsplatz" nicht grundrechtlich geschützte Bereiche berührt, erscheint demnach kaum überzeugend. Ganz im Gegenteil werfen verdeckte Ermittlungsmethoden ein ganzes Bündel von verfassungsrechtlichen Problemen auf, wie nachstehend noch zu zeigen sein wird. Und wenn Krey den kritischen Autoren ins "Stammbuch"'33 schreiben will, daß man die Rechtsstaatlichkeit auch dadurch aushöhlen kann, daß man durch "ständiges Erfinden neuer ( ... ) rechts staatlicher Prinzipien schließlich eine Hypertrophie herbeiführt, die den Staatsorganen die effektive Ausübung ( ... ) ihrer Aufgaben unerträglich erschwert", dann argumentiert er letztlich selbst losgelöst von jeder rechtsstaatlichen Dogmatik ausschließlich mit Praktikablitätserwägungen. 2. Strafprozessuale Erscheinungsformen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts
a) Problementwicklung Es ist offensichtlich, daß verdeckte Ermittlungen durch V-Personen hauptsächlich den Zweck haben, daß der Beschuldigte sich unbewußt selbst belastet oder verrät l34 . Ein solches von staatlicher Seite veranlaßtes Verhalten könnte gegen verschiedene strafprozessuale Grundsätze verstoßen. Zu denken ist hierbei etwa an den Grundsatz "Nemo tenetur se ipsum accusare", der den Beschuldigten davor schützen soll, daß er an seiner eigenen Überführung mitwirkt 135 • Auch 130
Duttge in: JZ 1996,563.
VGH BW, Urteil vom 24.11.1994, Az.: 1 S 2909/93 - unveröffentlicht -, S. 6 der Urteilsbegründung. 112 Krey, Rechtsprobleme, Rn. 106. m Krey, a.a.O., Rn. 122. 134 Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 155; Duttge, a.a.O. 135 Benda in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 20, S. 171. IJI
§ 4 Verdeckte Ennittlungen und Grundrechtsschutz des Beschuldigten
71
ist problematisch, daß die eben erwähnten belastenden Äußerungen stets aufgrund einer Täuschung über die wahre Identität der V-Person veranlaßt werden und daß der Beschuldigte freilich nie belehrt wird. Es stellt sich insoweit die Frage nach der Vereinbarkeit derartigen Vorgehens mit den §§ 136a und 136 Abs. 1 Satz 2 StPO. All das sind schwierige Fragen im Rahmen verdeckter Ermittlungsmaßnahmen im Strafprozeß, und es ist daher nicht verwunderlich, daß jüngst der 5. Strafsenat des BGH einen einschlägigen Fall zum Anlaß genommen hat, eine grundsätzliche Klärung der eben aufgeworfenen Fragen durch den Großen Senat des BGH herbeizufiihren. Die Vorgeschichte der schließlich am 13. Mai 1996 ergangenen Entscheidung des Großen Strafsenats 136 ist derart illustrativ, daß die Darstellung vom Vorlagebeschluß des 5. Senats 137 ausgehen soll. Der Sachverhalt des sog. "Hörfallen-Falles" stellte sich dem 5. Senat wie folgt dar: Im Zuge der Ermittlungen wegen eines Raubüberfalls wurde A aufgrund von Angaben des Zeugen E verdächtigt. E hatte bei der Polizei ausgesagt, daß A ihm bei einem Telefonat die Täterschaft eingeräumt habe. Daraufhin veranlaßte die Polizei ein weiteres Telefonat zwischen A und E. Dabei wurde ein Dolmetscher hinzugezogen, um das Gespräch an einem Zweithörer mitzuhören, welcher dann als Zeuge in der Hauptverhandlung vernommen wurde. In dem Telefonat machte A die gewünschten belastenden Angaben. Im Anschluß daran wurde A wegen schweren Raubes verurteilt. Der 5. Strafsenat legte dem Großen Senat folgende Fragestellung vor: "Dürfen Erkenntnisse im Zeugenbeweis verwertet werden, die dadurch erlangt wurden, daß auf Veranlassung der Ennittlungsbehörden eine Privatperson die gezielte Befragung des Beschuldigten durch eine V-Person über eine abgeschlossene Straftat mitgehört hat?"
Der 5. Senat hat diese Ausgangsfrage verneint. Bei der Begründung dieses Ergebnisses bewegt sich der Senat auf nicht weniger als sechs Argumentationsebenen l38 :
l. 2. 3. 4. 5.
Verstoß gegen die Belehrungspflichten aus §§ 136 12, l63a IV2 StPO Täuschung als verbotene Vernehmungsmethode i.S.d. §§ 136a, 163a III StPO Verstoß gegen einen möglichen Grundsatz der Offenheit staatlichen HandeIns Verstoß gegen das Verfassungsprinzip "Nemo tenetur se ipsum accusare,,139 Verstoß gegen Art. 10 I GG I40
'3. BGHSt GS in:
StV 1996,465-469. BGH in: NStZ 1995,410 ff. '3' Vgl. dazu Lesch in: JA 1997, 15 ff. '39 Vgl. die Besprechung des Vorlagebeschlusses von Fezer in: NStZ 1996, 289, der im Ergebnis dem 5. Senat zustimmt. 140 Ein Eingriff in Art. 10 I GG ist in den speziellen Fällen der "Hörfalle" nicht gegeben. 137
72
2. Abschnitt: Verdeckte Ermittlungen im .. Lichte der Verfassung"
6. Verstoß gegen das infonnationelle Selbstbestimmungsrecht aus Art. 2 Abs. I i.V.m. I Abs. I GG oder das Rechts am eigenen Wort 141 • Der 5. Senat stellt ausdrücklich fest, daß der Vorlagebeschluß sich nur mit einem Teilaspekt verdeckter Ennittlungen befaßt. Anhand der eben dargestellten Argumentationslinien ist in der Literatur '42 jedoch zutreffend darauf hingewiesen worden, daß es hier um grundsätzliche Fragen im Zusammenhang mit verdeckter Ennittlungsarbeit geht. Roxin '43 hat die Situation bildhaft als ..Rechtsprechung am Scheideweg" umschrieben. Dies erkennt offenbar auch der vorlegende 5. Strafsenat, wenn er ausführt: bei einem solchen Vorgehen "stünde es jedem Polizeibeamten ohne Folgen für die Verwertbarkeit der so erlangten Erkenntnisse frei, entweder eine fönnliche Vernehmung unter Einhaltung der für eine solche Vernehmung durch §§ 163a, 136 StPO vorgesehenen Belehrungspftichten durchzuführen oder, ohne an solche Pflichten gebunden zu sein, den Beschuldigten als Privatmann auszuhorchen". Dementsprechend meint Roxin '44 : "Die Polizei brauchte sich kaum noch mit umständlichen und wenig erfolgversprechenden offenen Vernehmungen abzumühen. Sie könnte vielmehr mit weit größeren Überführungschancen die Möglichkeit verdeckter Befragung perfektionieren und den Beschuldigten mit Horchern umgeben, die ihm unter der Maske des privaten Freundes oder Sympathisanten die begehrte Infonnation entlocken. Es würde sich empfehlen, am Tatort nicht sogleich in polizeilicher Eigenschaft, sondern als Passant in Erscheinung zu treten, der den Beschuldigten dem Zugriff Der Schutzbereich des Art. 10 I GG umfaßt die von der Post beherrschte Übermittlungs phase. Art. 10 I GG soll als formalisierter Persönlichkeitsschutz die Unbefangenheit der nichtöffentlichen Kommunikation sichern. Der grundrechtliche Schutz soll die Gefahren kompensieren, die dem Kommunikationsvorgang gerade durch die Vermittlung als solche und den hierbei verstärkt bestehenden Zugriffsmöglichkeiten drohen. Diese Schutzvorgaben des Art. 10 I GG korrespondieren mit den strafprozessualen Vorschriften §§ 99, 100a und 100b StPO. Auch dort wird der Schutz auf den Nachrichtenweg beschränkt. Ist aber die gegenständliche Herrschaftssphäre der Post verlassen, dann scheidet der Kommunikationsinhalt aus dem Anwendungsbereich des Art. 10 I GG aus. Durch das Abhören eines Telefongesprächs am Empfangshörer ist der Schutzbereich des Art. 10 I GG also nicht beruhrt. Zum ganzen: Welp in: NStZ 1994, 294 f.; Sternberg-Lieben in: JURA 1995, 299 (302). 141 Problematisch ist, ob in den Fällen der "Hörfalle" ein Eingriff in das Recht am eigenen Wort als besondere Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gegeben ist. Denn das Recht am eigenen Wort soll das Bestimmungsrecht daruber sichern, wer Adressat der Worte sein soll, ob also die Äußerungen einzig seinem direkten Gesprächspartner oder aber auch anderen Personen zugänglich sein sollen (BVerfGE 54, 148 [155]; BGHZ 27, 284 [286]). Das Verhalten der Strafverfolgungsbehörden beruhrt somit den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechs in dieser Ausprägung. Dennoch soll das Recht am eigenen Wort in dieser Arbeit deshalb unberucksichtigt bleiben, weil das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten durch speziellere Ausprägungen, etwa in den §§ 136a, 136 StPO und dem Grundrecht auf Privatsphäre, geschützt ist. Das Recht am eigenen Wort gehe in diesem speziellen Schutzbereich auf und brauchte daher nicht gesondert diskutiert zu werden.
143
Seitz in: NStZ 1995,519: Sternberg-Lieben in: JZ 1995,844; ders. in: JURA 1995,299. Roxin in: NStZ 1995, 465.
144
Roxin, a.a.O.
142
§ 4 Verdeckte Ennittlungen und Grundrechtsschutz des Beschuldigten
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der Strafverfolgung entziehen will und ihn zu diesem Zweck über das begangene Delikt ausfragt." In der Sache geht es im Vorlagebeschluß des 5. Senats demnach um folgendes: a) Verwertbarkeit von Beweismaterial des Beschuldigten, welches durch heimliche Veranlassung der Strafverfolgungsbehörden gewonnen wurde; b) Zulässigkeit verdeckter Ausfragungen zeugnisverweigerungsberechtigter Personen. Dabei stellt die Problematik einer möglichen Verletzung des informationellen Selbstbestimmungsrechts ein Sonderproblem dar, das an späterer Stelle detailliert erörtert l45 werden wird. Bezüglich eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Offenheit staatlichen Handeins ist bereits festgestellt worden '46 , daß es zwar keinen uneingeschränkten Grundsatz der Offenheit staatlichen Handeins im Ermittlungsverfahren gibt, daß aber der Personalbeweis grundsätzlich offen erlangt werden muß. Ausgehend von diesem Grundsatz soll im weiteren Verlauf der Untersuchung auf die vom 5. Senat aufgeworfenen Schwierigkeiten eingegangen werden. b) Direkte Anwendung der
§§ 136a, 136, 163a Abs. 4, 163a Abs. 3 StPO Die Antwort auf die Frage, ob die Vorschriften der §§ 136a, 136, 163a Abs. 4, 163a Abs. 3 StPO unmittelbar Anwendung finden, hängt davon ab, in welchem Sinne man das Tatbestandsmerkmal "Vernehmung" interpretiert '47 • Es werden dazu im wesentlichen zwei Auffassungen vertreten. Die herrschende Auffassung l48 versteht unter "Vernehmung", daß der Vernehmende der Auskunftsperson (dem Beschuldigten, Zeugen oder Sachverständigen) in amtlicher Funktion gegenübertritt und in dieser Eigenschaft von ihr Auskunft verlangt. Demgegenüber wird von einem Teil der Literatur'49 ein "funktionaler Verneh145
Siehe unten S. 94 ff.
146
Siehe oben S. 51 ff.
Die Beschuldigteneigenschaft ist hingegen evident. So stellt der 5. Senat des BGH die Beschuldigteneigenschaft apodiktisch fest, indem er ausführt: "Der Bf. war im Zeitpunkt des Telefongesprächs bereits Beschuldigter i.S.d. §§ 136, 136a, 163a StPO." Als Beschuldigter gilt derjenige, gegen den das Verfahren erkennbar als Beschuldigten betrieben wird, vgl. BGHSt 10, 8 (12). 147
14R BGHSt GS in: StV 1996,465; BGH in: NStZ 1995,557; BGH in: NStZ 1995,410; BGH in: StV 1994,521; Kudlich in: JuS 1997,696 (698); Sternberg-Lieben in: JURA 1995, 299 (305, 308); Schlüchter / Radbruch in: NStZ 1995, 354; Schneider in: JR 1996, 401 f.; Hanack in: Löwe/Rosenberg, § 136a Rn. 1.; Kramer, Grundbegriffe des Strafverfahrens, Rn. 28 a; Neuhaus in: Kriminalistik 1995,787; König in: Kriminalistik 1997, 17. 149 Seebode in: JR 1988,427; G. Schäfer, Praxis des Strafverfahrens, Rn. 299; Kühl in: StV 1986, 188 ff.; speziell für die "Hörfalle": Boujong in: KK, § 136a Rn. 7.
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2. Abschnitt: Verdeckte Ermittlungen im "Lichte der Verfassung"
mungsbegriff' verwendet. Danach gilt als Vernehmung jede Äußerung des Beschuldigten, wenn sie nur von staatlicher Seite veranlaßt wurde. Richtigerweise wird man damuf abzustellen haben, ob die Vernehmung offen erfolgt ist, das heißt durch Offenlegung der amtlichen Funktion, weil dies auch dem Grundgedanken der Stmfprozeßordnung für die Erlangung des Personalbeweises entspricht l50 . Ferner spricht für den formellen Vernehmungsbegriff der systematische Zusammenhang, in welchem die Vorschriften in der StPO stehen i51 . Die §§ 136, 136a StPO finden sich im 10. Abschnitt des 1. Buches der StPO, der die amtliche Vernehmung zum Inhalt hat. Ebenfalls bezieht sich das Verwertungsverbot des § 136a StPO ausschließlich auf Aussagen. Aussagen sind aber nichts anderes als Äußerungen zur Beschuldigung, die in Wahrnehmung des rechtlichen Gehörs vor einem staatlichen Organ bei einer Vernehmung gemacht werden. Überdies widerspricht es den Grundsätzen der StPO, daß jede kausal veranlaßte Äußerung als Vernehmung zu bezeichnen ist l52 , weil der Personalbeweis grundsätzlich offen zu erfolgen hat. Im Rahmen verdeckter Ermittlungen geschieht dies per se gleichwohl nicht, so daß eine direkte Anwendung der Vernehmungsvorschriften in der Tat nicht angebracht erscheint. Teilweise l53 wird eine Entscheidung dieser Frage ausdrücklich dahingestellt, weil immerhin eine analoge Anwendung in Betracht zu ziehen sei l54 . c) §§ 136a, 163a Abs. 3 StPO analog aufgrund " vernehmungsähnlicher Situation "?
Der 5. Senat des BGH l55 vertritt die Auffassung, daß auch dann bezüglich der Verwertbarkeit von Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden die Grundsätze des § 136a StPO herangezogen werden müssen, wenn die Erkenntnisse nicht in einer förmlichen Vernehmung gewonnen wurden, wenn aber eine "vernehmungsähnliche Situation"156 vorgelegen hat. Der Senat fUhrt dazu aus: "Andererseits wird man der Rechtsprechung ebenso eindeutig entnehmen können, daß die Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden in einer "vernehmungsähnlichen Situation" auch nicht bei einem Einsatz von V-Leuten, Informanten oder sonstigen von den Ermittlungsbehörden auf einen Beschuldigten angesetzten Privatperson hinzunehmen ist."157 Dementsprechend weist der 2. Senat des BGH l58 150
Vgl. S. 51 f.
151
Kudlich in: JuS 1997,696 (698); Sternberg-Lieben in: JURA 1996,299 (306).
152 153 154
155
15~ 157
Siehe S. 52 ff. und auch BGHSt GS in: StV 1996, 465 ff. Roxin in: NStZ 1995, 465. Roxin, a.a.O.
BGH in: NStZ 1995,410. Vgl. dazu Rogall in: SK-StPO, § 136a Rn. 21. BGH, a.a.O.
§ 4 Verdeckte Ennittlungen und Grundrechtsschutz des Beschuldigten
75
in einer Entscheidung vom 8. Oktober 1993 darauf hin, daß die Grenze strafprozessualen und rechtsstaatiichen Handeins dort überschritten sei, wo zu der Heimlichkeit des Vorgehens der Gebrauch unlauterer Mittel kumulativ hinzukomme. Insgesamt dürfte in Literatur 159 und Rechtsprechung 160 die Meinung vorherrschend sein, die eine analoge Anwendung des § 136a StPO jedenfalls dann anerkennt, wenn die Äußerungen zwar außerhalb einer formellen Vernehmung, aber mittels einer Täuschung i.S.d. § 136a StPO herbeigefiihrt wurden. Dies ist schon deshalb schlüssig, weil im Hinblick auf den Schutzzweck der Vorschriften und unter Beachtung der verfassungsrechtiichen Grundlagen eine Einengung dieser Kernvorschriften nicht sachgerecht wäre l61 • Der Große Senat 162 bezieht in seiner Grundsatzentscheidung nicht eindeutig Stellung zu dieser Frage. Es ist nicht deutlich, ob das Gericht die Anwendung des § 136a StPO auf vernehmungsähnliche Situationen insgesamt ablehnt oder ob nur die Voraussetzungen des § 136a StPO im konkret zu beurteilenden Sachverhalt nicht erfiillt waren. Im Ergebnis ist der Große Senat jedenfalls der Ansicht, daß ein Verstoß gegen § 136a StP0 163 schlechthin nicht in Frage komme, weil schon gar keine beachtliche Täuschung vorliege l64 • Denn nach überwiegender Ansicht 165 sei das 15M
BGHSt 39, 335 (347).
Kleinknecht / Meyer-Goßner, § 136a Rn. 4a; Beulke in: StV 1990, 184; Weßlau, Vorfeldennitt1ungen, S. 214 (215); Kühl in: StV 1986, 188; Schumann in: JZ 1986,67; Lammer, Verdeckte Ennitt1ungen, S. 163; Sternberg-Lieben in: JURA 1995, 306; Kramer in: JURA 1988,520 ff.; Kudlich in: JuS 1997,696 (698); Hanack in: Löwe/Rosenberg, § 136a Rn. 13. IMl BGHSt 31, 304; BGHSt 33, 317; BGHSt 24,362; BGH in: NJW 1994,2904. 159
161
162
Lüderssen in: FS rur Peters, S. 361; Hanack in: Löwe/Rosenberg, § 136a Rn. 4. BGHSt GS in: StV 1996,465 (466).
16) Die Vorschrift des § 136a StPO wurde 1950 aufgrund des sog. Reichsvereinheitlichungsgesetzes vom 12.9.1950 (BGB\. I S. 455) in die StPO eingefügt. Historischer Anlaß dafür waren einerseits die Erfahrungen mit den unmenschlichen Vernehmungsmethoden der NS-Zeit und andererseits die in der frühen Nachkriegszeit aktuelle Diskussion um die Ausnutzung technischer medizinischer Fortschritte. Ziel des Gesetzgebers war es jedenfalls, die Freiheit des Beschuldigten, ob und wie er sich zu dem Tatvorwurf äußert, weitgehend zu schützen. Vg\. Degener in: GA 1992, S. 453. IM Gegen das Vorliegen einer Täuschung bei heimlicher Befragung neuerdings Schneider in: JR 1996, 40 I (406). Er meint, daß eine Täuschung weder durch aktives Tun noch durch aufklärungswidriges Unterlassen vorliege. Hinsichtlich einer aktiven Täuschung sei zu sagen, daß die V-Person keine ausdrückliche wahrheitswidrige Erklärung über ihren Status gegenüber dem Beschuldigten abgebe. Genausowenig sei eine konkludente Täuschung im Verhalten der V-Person zu erkennen, weil dem Auftreten der V-Person nicht der unausgesprochene, sachgedanklich Mitschwingende und also nonnativ erwartbare Erklärungswert der Geheimhaltung des Gesprächsinhalts vor der Polizei beizumessen sei. Und schließlich sei auch keine garantenpftichtwidrige passive Täuschung zu erkennen, weil keine Rechtspfticht zur Offenbarung bestehe. - Das entscheidende letzte Argument ist nicht überzeugend. Dagegen ist nämlich zu sagen, daß Personalbeweis vom Beschuldigten stets offen zu erheben ist. Ist dies aber der Fall, so hat die Strafverfolgungsbehörde sehr wohl eine Rechtspfticht zur Aufklärung, wenn eine
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2. Abschnitt: Verdeckte Ermittlungen im "Lichte der Verfassung"
Tatbestandsmerkmal Täuschung eng auszulegen. Die Täuschung müsse im Zusammenhang mit den anderen in § 136a StPO genannten verbotenen Vernehmungsmethoden interpretiert werden. Dazu sei es aber erforderlich, daß die Irreführung Einfluß auf die Freiheit der Willensentschließung oder Willensbetätigung des Beschuldigten habe. Eine solche Suggestion liege demgegenüber bei der bloßen Irreflihrung über die Rolle der von Ermittlungsbehörden eingesetzten Privatperson nicht vor l66 • Lammer l67 und Roxin '68 sind der Ansicht, daß der Einsatz verdeckter Ermittlungen zwar grundsätzlich eine Täuschung im Zusammenhang mit dem kommunikativen Kontakt zum Betroffenen darstelle, diese jedoch deshalb unerheblich sei, weil sie nicht zur Beeinträchtigung der Willensfreiheit führe. Dies geIte jedenfalls so lange, wie die V-Person oder der Verdeckte Ermittier nicht über seine Funktion als Ermittlungsorgan hinaus täusche. Ähnlich argumentiert Weßlau '69 , wenn sie der Ansicht ist, daß das passive Aufnehmen von Informationen schon keine Täuschung sei, jedenfalls keine solche, die kausal zu einer Willensentschließungsbeeinträchtigung führe. Ganz in diesem Sinne meinen auch Schumann l70 und Sternberg-Lieben l7l , daß das bloße Verschleiern der wahren Rolle von V-Personen lediglich zu einem Motivirrtum des Beschuldigten führe, der jedoch keinesfalls unter § I36a StPO subsumiert werden könne. Im Ergebnis verneinen die genannten Stimmen in Literatur172 und die Rechtsprechung 173 zu Recht das Vorliegen einer beachtlichen Täuschung 174 im Falle Vernehmung ohne erkennbare amtliche Funktion stattfindet. Beispielsweise muß auch ein Kripo-Beamter, der in Zivilkleidung auftritt, einen Beschuldigten belehren, wenn er diesen als Beschuldigten vernehmen möchte. Das Problem im Zusammenhang mit einer Täuschung bei § 136a StPO ist meines Erachtens also nicht die Täuschung als solche, sondern die Intensität der Täuschung. Gerade daran wird es regelmäßig bei V-Personen fehlen, so daß im Ergebnis zu Recht der § 136a StPO keine Anwendung findet. 165 K/einknechtIMeyer-Goßner, § 136a Rn. 12; Hanack in: LöwelRosenherg, § 136a Rn. 33; Boujong in: KK, § 136a Rn. 19; Baumann in: GA 1959,34; Ouo in: GA 1970,294; Kudlich in: JuS 1997, 696 (698); a.A.: Lagodny in: StV 1996, 167 (172). 166 BGH in: NStZ 1995,4\1; BGHSt GS in: StV 1996,465 ff.; BGHSt 39, 335 (348 f.); König in: Kriminalistik 1997, 181. 167 Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 169. 16. Roxin in: NStZ 1995,465 (466). 169
Weft/au, Vorfeldermittlungen, S. 219 (220).
170
Schumann in: JZ 1986, 67.
171
Sternberg-Lieben in: JZ 1995,844 (848).
Sternberg-Lieben in: JURA 1995,306; Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 165. Teilweise wird bereits das Vorliegen einer Täuschung verneint, vgl. Sternberg-Lieben, a.a.O.; Günther in: StV 1988, 423. 173 BGH in: NStZ 1995,411. 172
174 Kritisch gegenüber der restriktiven Auslegung dieses Merkmals: Degener in: GA 1992, S. 454. Allerdings ist der Aufsatz von Degener vor der "Belehrungsentscheidung" des BGH
§ 4 Verdeckte Ennittlungen und Grundrechtsschutz des Beschuldigten
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des bloßen Verschweigens der wahren Rolle der V-Person, so daß an dieser Stelle noch nicht entschieden werden muß, ob eine analoge Anwendung der Vernehmungsvorschriften auf die sogenannte vernehmungsähnliche Situation rechtsdogmatisch überhaupt zulässig ist. Die materiellen Voraussetzungen des § 136a StPO analog liegen jedenfalls nicht vor. Dies ergibt sich aus folgender Überlegung: In § 136a StPO ist der Kernbereich des Persönlichkeitsrechts ausdrücklich rur das Strafverfahren positiviert, § 136a StPO ist die Konkretisierung der Menschenwürde rur das Strafprozeßrecht 175 • Das heißt, daß der Sinn des § 136a StPO auch ohne explizite Einrugung in die StPO Geltung beanspruchen würde 176. Der Anwendungsbereich des § 136a StPO ist rur die öffentliche Gewalt unverrugbar. Erkennt man in der bloßen Täuschung über die wahre Rolle der V-Person eine Täuschung im Sinne des § 136a StPO, dann wäre damit gleichzeitig klargestellt, daß verdeckte Ennittlungen per se unzulässig sind, weil der Gesetzgeber gar keine Regelungsbefugnis zur Beeinträchtigung des § 136a StPO hat 177 • Dies entspricht letztlich dem Ergebnis, welches im Zusammenhang mit der Behandlung der Frage eines Eingriffs in die Menschenwürde durch verdeckte Ermittlungen gefunden wurde 178 • Auch hier muß berücksichtigt werden, daß verdeckte Ermittlungen notwendig sind, um den staatlichen Auftrag zur Gewährleistung einer effektiven Strafrechtspflege zu errullen, insbesondere im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität. Eine Grenze des Effizienzdenkens bei der Strafverfolgung ist aber in § 136a StPO aufgezeigt, weil der Beschuldigte Beteiligter des Strafverfahrens und nicht dessen bloßer Gegenstand 179 sein darf. Gegenstand des Verfahrens wird der Beschuldigte aber erst dann, wenn die Täuschung den anderen verbotenen Vernehmungsmethoden in Art und Intensität gleichkommt l80 • Bei einem bloßen Verschleiern der wahren Absichten der V-Person ist das noch nicht der Fall, so daß man sagen kann, daß ihr Verhalten nicht schon von sich aus dem unantastbaren Bereich des § 136a StPO unterliegt. Dies gilt jedenfalls so lange, wie der Ermittlungsgegenstand eine Tat im Sinne der §§ lOOa, IlOa StPO darstellt und keine erschwerenden Umstände wie die vom 27.02.1992 erschienen und in der Tat war vor dieser Grundsatzentscheidung die Täuschung in beweisrechtlicher Hinsicht mit dem restriktiven Täuschungsbegriff kaum zu erfassen. m Benda in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 20, S. 171; Nipperdey in: Die Grundrechte, Bd. 11, S. I; Hanack in: LöwelRosenberg, § 136a Rn. 3; Kleinknecht in: NJW 1964, 2185; Rogall in: SK-StPO, § 136a Rn. 3; Grundlach in: AK, § 136a Rn. I; anderer Ansicht bezüglich des Tatbestandsmerkmals der Täuschung: Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 136a Rn. 12. 17_ Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 52 m.w.N. 177 Insoweit ist es anerkannt, daß der Verdeckte Ermittier auch im Rahmen der §§ II0a StPO ff. die Regelung in § 136a StPO beachten muß, s. Kleinknecht I Mayer-Großner, § II0c Rn.2. 17M Ernst, Verarbeitung und Zweckbindung von Informationen im Strafprozeß, S. 114 (115). 179 BGHSt 5, 332. IMO
BGHSt GS in: StV 1996,465 (466).
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2. Abschnitt: Verdeckte Ermittlungen im "Lichte der Verfassung"
Ausnutzung von engen persönlichen Beziehungen oder der Strafhaft hinzukommen. Insoweit kann die Argumentation von Lagodny181 nicht überzeugen, der meint, daß verdeckte Ermittlungen eine Täuschung i.S.d. § 136a StPO darstellen, aber durch überragende Gemeinschaftsgüter anhand von gesetzlichen Sonderregelungen gerechtfertigt werden könnten, wie dies beispielsweise in den §§ II0a ff. StPO erfolgt sei. Denn eine Abwägung zwischen den Rechten des Beschuldigten und überragenden Gemeinschaftsgütem hat bereits vor der Entscheidung der Frage, ob eine beachtliche Täuschung nach § 136a StPO vorliegt, zu erfolgen. Der Gesetzgeber hat als Ergebnis einer solchen Abwägung in § 136a StPO bestimmt, daß eine verbotene Täuschung nur dann vorliegt, wenn sie dem Zwang in Intensität und Wirkung gleichkommt.
d) §§ 136 Abs. I Satz 2, 163a Abs. 4 StPO analog und die" vernehmungsähnliche Situation "? Wesentlich problematischer ist die Entscheidung der Frage, ob die Täuschung eine Umgehung der Belehrungspflicht nach §§ 136 Abs. I Satz 2, 163a Abs. 4 StPO darstellt. Unleugbar ist jedenfalls, daß die Täuschung gerade dazu dienen soll, den Beschuldigten zur Abgabe von Äußerungen zu veranlassen, ohne ihn belehren zu müssen, weil dieser sonst keine Angaben machen würde l82 . Insoweit ist die Situation nicht anders als bei einer willkürlichen Vorenthaltung der Beschuldigteneigenschaft 183 durch einen sachwidrig hinausgezögerten Inkulpationsakt l84 • Der 5. Senat des Bundesgerichtshofs hat dementsprechend ein Verwertungsverbot 185 aus der unterlassenen Belehrung nach § 136 Abs. I Satz 2 StPO analog hergeleitet. Der Senat ist der Auffassung, daß "die Gerichte und andere Strafverfolgungsbehörden das Verbot, den Beschuldigten zur aktiven Mitwirkung an seiner Überführung zu veranlassen, nicht dadurch umgehen dürfen, daß sie sich den Beweis heimlich verschaffen"186. Der BGH führt weiter aus, daß die Funk1996, 167 (171). 1996, 168. I~) Nach h.M. hängt die Beschuldigteneigenschaft von einem Willensakt der Strafverfolger ab. Der Tatverdacht allein genügt noch nicht. Dies gilt aber dann nicht, wenn die Polizei schon bestimmte Maßnahmen gegen eine ganz bestimmte Person eingeleitet hat. Dann ist die Beschuldigteneigenschaft in jedem Falle gegeben, weil sich die Strafverfolgunsbehörde insoweit widersprüchlich verhält, wenn sie gleichwohl eine Befragung als "informatorische Befragung" bezeichnet. Vgl. Gold in: JA 1995,411 (414). 11