Verausgabung: Die Ästhetik der Anti-Ökonomie im Theater 9783839438824

What do practical esthetics that create freedom look like? The esthetics of exhaustion open a new discourse about the sp

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German Pages 274 [275] Year 2017

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Verausgabung: Die Ästhetik der Anti-Ökonomie im Theater
 9783839438824

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Asma Diakité Verausgabung

Theater | Band 99

Asma Diakité, geb. 1982, ist als Referentin in der Abteilung Kultur des GoetheInstituts in München tätig. Sie hat u.a. zur Entwicklung der szenischen Kunst nach der ägyptischen Revolution geforscht.

Asma Diakité

Verausgabung Die Ästhetik der Anti-Ökonomie im Theater

Die vorliegende Arbeit ist als Dissertationsschrift am Institut für Theaterwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt entstanden, wo sie 2014 mit dem Titel »Exuberanz: Über die Ästhetik der Verausgabung in der szenischen Kunst« eingereicht wurde. D.30 Die vorliegende Publikation ist entstanden mit Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Geschäftszeichen: DI 2350/1-1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld, unter Verwendung einer Abbildung von © kalagrafik, Kai Gläser und Laura Drechsler, Hannover 2012 (Web: kalagrafik.com) Lektorat: Monika Diakité Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3882-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3882-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Vorwort | 7 I. Exuberantes Spiel: Eine Einführung | 9 Überblick: Methode und Auf bau | 24 II. Die Verausgabung | 31 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Souveränität | 41 Jenseits des Nutzens | 44 Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie | 47 Die Verausgabung als kosmologisches Prinzip | 49 Der Potlatsch | 51 Die Intimität des Opfers | 58 Die Soziologie des Sakralen | 64

III. Alltag im Tempel | 79 1. Vom Denken der Verausgabung zur Verausgabung des Denkens | 87 2. Fraktal: Fragmente und andere Textpraktiken der Verausgabung | 89 2.1 Die Herren B. – Fatzer und Madame Edwarda | 95 2.2 »Vor allem wissen« | 96 2.3 Furchtzentrum Sexualität | 101 3. Verausgabung als tragische Erfahrung | 106 3.1 Pathos | 108 3.2 Kidd Pivot: Dark Matters | 112 3.3 Souveräne Ästhetik: Tragödie und non-savoir | 130

4. Das Opfer: Die Preisgabe | 136 4.1 Janez Janša – der andere Name | 140 4.2 Rabih Mroué – Three Posters: Die Inszenierung des Todes | 151 4.3 Körperopfer/Opferkörper | 155 5. Das Politische Spielen – Gemeinschaft als Dreierverhältnis | 166

IV. Tahrir – Versuch zur Souveränität | 187 1. Streets of Cairo | 195 2. Shaware3na | 198 3. Marwa Adel: The Journey | 214 4. Ezzat Ismail: »Waiting?!« | 218 5. Ekstase statt Handeln – die innere Erfahrung der Ästhetik der Verausgabung | 227

V. Schluss: Die Kraft der Verausgabung und die Ästhetik des Widerstands | 235 VI. Ausblick | 249 Literaturverzeichnis | 257 Filme/Videos | 269 Internetquellen | 270 Inszenierungen/Ausstellungen | 272

Vorwort

»Denken mit zerbrochenem Kopf«, so lässt sich der hier unternommene Versuch formulieren. In der Auseinandersetzung mit Georges Batailles Œuvre ist eine Erschöpfung fast zwangsläufige Konsequenz und so ist auch dieses Experiment nicht davon unangetastet geblieben. Die vorliegende Arbeit ist der Versuch die Spur eines sich verausgabenden Denkens und einer exuberanten ästhetischen Praxis im Theater zu suchen. Ihren Anfang hat diese »erschöpfende« Untersuchung in meiner theaterwissenschaftlichen Magisterarbeit. Das Ausmaß der Relevanz des Verausgabungsbegriffs für die zeitgenössische szenische Kunst hat sich hier gezeigt und gewissermaßen das Vertiefen des Denkens mit zerbrochenem Kopf motiviert. In der interdisziplinären Herangehensweise, nämlich einen Diskurs angesiedelt zwischen Philosophie und Theaterwissenschaft voranzutreiben, sehe ich die wertvolle Chance mit meiner Spurensuche einen wissenschaftlichen und politischen Beitrag zu leisten. Abseits von dem, was harmlos und beruhigend ist, oder etwa Sicherheit verspricht, ist dieser philosophisch-theaterwissenschaftliche Diskurs sowie sein Anschauungsobjekt verortet. Nicht zuletzt hat die zeitgenössische ägyptische Kunst des UmBruchs eine besondere Stellung in der vorliegenden Arbeit. Insbesondere für die Möglichkeit einer unorthodoxen Betrachtungsweise der künstlerischen und wissenschaftlichen Ränder möchte ich mich bei Hans-Thies Lehmann bedanken. Er hat mit großem Interesse meine Arbeit betreut und vor allem den Begriff der Verausgabung auf seine zurückhaltende Weise als »mein Thema« ausfindig gemacht. Die Gespräche und der Austausch haben die vorliegende Arbeit maßgeblich geprägt und das Promotionsprojekt zu mehr als einem akademischen Ziel gemacht.

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Verausgabung. Die Ästhetik der Anti-Ökonomie im Theater

Ebenso gilt Christoph von Wolzogen mein persönlicher Dank für die inspirierenden und unerschöpflichen Ideen, weit über das Akademische hinaus. Insbesondere mein Interesse an einem interdisziplinären Diskurs ernst zu nehmen, habe ich als große Unterstützung empfunden. Der Austausch über Ländergrenzen hinweg zu philosophischen, politischen und kulturellen Themen hat in vielfacher Hinsicht wichtige Impulse gegeben. Danken möchte ich zudem der Studienstiftung des deutschen Volkes für ein Promotionsstipendium, das mir eine intensive und unabhängige wissenschaftliche Arbeitsweise ermöglicht und die Relevanz des Promotionsprojektes anerkannt hat. Den Künstlern und Künstlerinnen, über deren Arbeiten ich geschrieben habe, danke ich für ihre bereitwillige Unterstützung, Gespräche und Materialien. In besonderem Maße danke ich Monika Diakité für ihr geduldiges und gründliches Lektorat der Arbeit und ihren unermüdlichen Blick von Außen. Meinen Freunden und dem »Frankfurter Kollektiv« spreche ich meinen größten Dank für den jahrelangen und freundschaftlichen Diskurs, die Inspiration und das unermüdliche Engagement aus. Wobei ich insbesondere David Dilmaghani, Adrian Giacomelli und Martin Herrnstadt für die Anregungen und die konstruktive Kritik danken möchte. Meiner Familie gilt der größte Dank für ihre grenzenlose Unterstützung – insbesondere meinen Eltern, die mich die heterogenen Ränder erst haben sehen lassen. Bakary Diakité danke ich zutiefst für seinen geduldigen Zuspruch, seinen Glauben, wenn bei mir der Zweifel herrschte und sein Ausharren, wenn ich nicht teilen konnte. Ihnen widme ich diese Arbeit.

I. Exuberantes Spiel: Eine Einführung

Präzis geformte dunkle Augen blicken in langen Großaufnahmen von der Leinwand. Kamele und Esel traben an Schnüren geführt durch handgezeichnete Landschaften und historische Orte. Die Musik setzt ein, die Kreuzzüge beginnen. Wael Shawkys Film erzählt mit seinen handgearbeiteten Puppen die Geschichte der Kreuzzüge aus arabischer Perspektive. Inspiriert von Amin Maaloufs historischem Roman »The Crusades Through Arab Eyes« inszeniert Shawky die Geschichte der Kreuzzüge in dem MarionettenspielFilm »Cabaret Crusades. The Horror Show File«1: Eine epische Erzählung von Gewalt, Machtkämpfen, Rassismus und Religion. Beginnend bei der Verkündung des ersten Kreuzzuges durch Papst Urban II. und endend mit der Eroberung Jerusalems durch die Kreuzritter, zeigt der Film die »heiligen Kriege« als mythisches Puppenspiel. Gleichwohl besteht das Politische in »Cabaret Crusades« – was der paradoxe Titel bereits andeutet – nicht etwa in der historischen Aufarbeitung der Kreuzzüge. Zwischen dem unheimlichen Antlitz der Puppen und ihrer Dinghaftigkeit tut sich eine Lücke auf, in der die Darstellungsebenen, also die Erzählung nicht zum »handgemachten« Material passen wollen: Das Gemetzel im Film, die Grausamkeit, das Unrecht, der Horror – die ethische und historische Ebene – all das kollidiert mit der Künstlichkeit der Puppen, denn stets sehen wir die Schnüre, an denen die Puppen geführt werden. Das Politische erfährt hier keine Dramatisierung im Sinne einer illusionistischen Inszenierung historischer Konflikte. Das Dargestellte wird vielmehr unterbrochen, wenn nicht sogar gestört durch das frenetische Antlitz der Puppen. Die kantig geschnitzten Gesichter fordern in den Closeups immer wie1 | Wael Shawky: Cabaret Crusades. The Horror Show File, 2010. Der Film wurde am 05.05.2013 in der Studiengalerie der Goethe-Universität Frankfurt gezeigt.

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der eine gesteigerte Aufmerksamkeit. Gerade durch ihre offensichtliche »Subjektlosigkeit« lösen die Puppen eine Verunsicherung über den ethischen Gehalt des Dargestellten aus. Empathie oder Mitleid ist hier nicht möglich – Furcht und Schrecken hingegen schon. Die Eindringlichkeit, die von der Materialität der Puppen ausgeht, ist verstörend und faszinierend zugleich. Dieses Faszinosum wirkt auf die Rezeption wie eine Fragmentierung. Die theatralen Mittel liegen alle entblößt da – die gemalten und gebastelten Szenerien, die Filmmusik, die ausstaffierten Puppen, sie alle brechen mit einer homogenen Präsenz, in der der dramatische Inhalt zu seiner dramatischen Form passt. Das aufund-zu schnappende Mundwerk lässt keine Synchronität zum gesprochenen Text zu. Die hektischen und abrupten Bewegungen sind unmenschlich und deshalb fremd. Wir sind ganz auf die Materialität der Puppen zurückgeworfen. Die Erzählung der Kreuzzüge wird durch die Fremdartigkeit der Puppen immer wieder zersetzt. Der hinter der Erzählung operierende Schrecken jedoch entfaltet sich in seiner vollen Wirkkraft. Diese Kraft zeigt sich gerade in der Unterbrechung des Politischen, Moralischen, Eindeutigen, Homogenen, Haltbaren, Dramatischen etc. und bringt auf diese Weise die ethische Dimension erst hervor. Indem die Geschichte nicht als unversehrtes Ganzes präsentiert wird, zeigt sich der Schrecken auf der erfahrungsästhetischen Ebene in der Unheimlichkeit der Erscheinung, dem Sinnentzug, der Leere – viel mehr als am historischen Stoff. Deshalb ist »Cabaret Crusades« kein harmloses Puppentheater, sondern vielmehr emblematisch für eine ästhetische Praxis, in der das Politische durch seine Unterbrechung erscheint. Shawky selbst – dessen Werke stets historisches Material verarbeiten und somit immer auch eine politische Dimension bergen – grenzt seine Kunst explizit von politischem Aktivismus ab. Indem er jedoch eine andere Form der Wahrnehmung erzeugt, ist sein Puppenspiel politisch. Denn durch das Marionetten gestützte Schauspiel entsteht eine konkrete und doch surreale Erzählung, die einerseits von der historischen Narration abweicht, – indem sie keine abstrakten historisch-politischen Akteure bzw. Konstellationen beschreibt – und andererseits im unheimlich Spielerischen der Puppen die Macht der (westlichen) Geschichtsschreibung unterläuft oder zumindest ad absurdum führt. Der blutrünstige historische Stoff erfährt somit in der Fremdartigkeit bzw. Verfremdung – d.h. im Antlitz der Marionetten – eine komplexe aber verspielte Wendung.

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Ausgerechnet dem Puppenspiel hier paradigmatisch eine ethische Funktion zuzusprechen, mag nicht sofort einleuchten. Sehr viel eindeutiger mag man das Politische in Laila Solimans dokumentarischer Performance »No Time For Art 0«2 ausmachen, wenn jeder Zuschauer ein Papier erhält auf dem steht: I demand a trial for those responsible for the killing of [z.B.] Hadeer Adel Soliman age 14 she died in Maadi, Cairo on January 28th 2011 by a gunshot 3

Jedem Zuschauer bleibt es nun selbst überlassen, das Mikrofon zu ergreifen und eine Klage vor dem Kriegsverbrechertribunal für »seinen« Toten zu fordern. Viele entscheiden sich, dies zu tun. Auf den ersten Blick ließe sich diese Form der Aktivierung des Publikums im Zeichen eines »Partizipationstheaters« deuten, das es auf eine Transformation der Zuschauer in aktiv Handelnde anlegt. Diese Einschätzung übersieht jedoch ein entscheidendes Moment: In der Polyphonie der Toten, die aus den Stimmen der Zuschauer klingt, macht sich eine Erfahrung bemerkbar, die den Implikationen eines handlungstheoretischen bzw. partizipatorischen Paradigmas entgehen, es ist die Uneindeutigkeit der Situation, die eine Unsicherheit über das Wahrgenommene auslöst. Gemeint ist die Vermischung von theatraler und juridischer Anklage in der gemeinsamen Herauf beschwörung der Toten – also die Situation einer symbolischen Anklage, die, da mit Fakten operiert wird, zugleich in eine juridisch legitime Anklage umschwingt. Für den Zu2  |  Die Fortsetzung bzw. den dritten Teil von »No time for art« hat die Verfasserin am 22.12.2012 in der Townhouse Gallery in Kairo gesehen. Für die hier besprochene Performance wurde eine Videoaufzeichnung hinzugezogen. www.youtube.com/watch? v=azR6peyDJzo, zuletzt aufgerufen 22.05.2014. 3 | Im Februar 2011 wurden bei Demonstrationen in Ägypten zahlreiche Menschen getötet. Jedes in der Performance verteilte Papier enthielt reale Daten zu jeweils einem der getöteten Demonstranten. Mit Hilfe von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen konnten die Daten der getöteten Menschen ermittelt werden. http://notimeforart.com/ntfa-0/, vom 22.05.2014.

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schauer bleibt unklar anhand welcher Kriterien hier eine Entscheidung darüber getroffen werden kann, ob es in die Inszenierung einzugreifen gilt? Die Namen und die Daten der Toten sind echt. Das Kriegsverbrechertribunal existiert – doch der Rahmen der Anklage bleibt das Theater. Mit jedem vorgelesenen Namen wird ein Ort auf der Karte Ägyptens markiert – ein reales Koordinatensystem der Toten entsteht. In dieser Spannung von Politik und Kunst, Fiktion und Wirklichkeit wird eine Reflexion in Gang gebracht, die unsere Verantwortung berührt. Will man von einer »Ästhetik der Verantwortung«4 sprechen, so unter Berücksichtigung der Lücke, die sich hier auftut. In »No Time for Art 0« gibt es kein sichtbares Opfer, kein zu rettendes Subjekt. Der Zuschauerin werden – jedenfalls während des geschilderten Vorgangs – keine Bilder der Ermordeten gezeigt – es gibt keine visuelle Präsenz. Der Tod zeigt sich hier vielmehr in der Nüchternheit der Inszenierung, den schwarzen Lettern auf weißem Papier. Die Konfrontation mit der Verantwortung kann sich deshalb nur als ein Zurückgeworfensein auf die eigene soziale Ordnung zeigen. Wir werden in einer ganz konkreten Situation, die jeglicher Dramatisierung politischer Kontexte entbehrt, mit einer Frage konfrontiert, die uns in einen sofortigen Prozess des Betroffenseins einbindet. Jeder Einzelne wird durch diese verunsichernde »confusion of politics and art«5 – wie Soliman selbst sagt – mit seiner eigenen Geschichte und seinen Werten konfrontiert und erfährt, wie abseits medialer Auf bereitung konkrete Zusammenhänge direkt wahrnehmbar werden und sich im Moment des Vorlesens die eigene Erfahrung unmittelbar einlöst. Anstelle der trügerisch beruhigenden Dualität von Hier und Dort, Innen und Außen kann es [das Theater, Anm. d. Verf.] die beunruhigende wechselseitige Implikation von Akteuren und Zuschauern in der theatralen Bilderzeugung in den Mittelpunkt rücken und so den zerrissenen Faden zwischen Wahrnehmung und eigener Erfahrung sichtbar werden lassen. 6

4 | Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt 1999, S. 469f. 5 | Laila Soliman in einem Vortrag über »No Time for Art« am 24.09.2012 im Rahmen der »Truth is concrete«-Konferenz in Graz. Eine Videoaufzeichnung des Vortrags wurde ebenfalls herangezogen: www.youtube.com/watch?v=mfDvJsBhtZw, zuletzt eingesehen am 22.05.2014. 6 | Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 471.

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Die Thematisierung der Verantwortung wird demgemäß auf die denkbar unspektakulärste Weise vorangetrieben – nämlich in der Kontingenz der Situation, der Möglichkeit interpretierender, reflexiver Wahrnehmung, ausgelöst durch einen Namen, der in jedem Einzelnen unterschiedliche Bilder erzeugt, die ihrerseits auf jeweils verschiedene persönliche Erfahrung referieren. So unterschiedlich Shawkys und Solimans Arbeiten sind – denn sie beide nähern sich dem Politischen von zwei diametral entgegengesetzten Enden: Shawky grenzt seine Kunst deutlich von politischem Aktivismus ab, Soliman hingegen stellt die Legitimität von Kunst in Zeiten politischen Handlungsbedarfs nicht nur ihrem Titel nach zur Disposition – beide sind politisch in der Weise, wie sie Wahrnehmung erzeugen bzw. politisieren. Gerade in dieser methodischen Differenz zeigt sich auch, dass es um das ethische und subversive Potential des Theaters nicht so simpel steht, wie man annehmen mag. Blicken wir auf das Gegenwartstheater, so lässt sich nicht übersehen, dass wir seit Ende der 1990er Jahre einem »Revival« des Politischen gegenüberstehen, das in der Finanzkrise seinen »vorläufigen Höhepunkt« 7 hat. Angesichts der unausweichlichen Ökonomisierung aller Lebensbereiche, der Instabilität der Finanzmärkte und dem gleichzeitigen Voranschreiten der Subjektivierung von Arbeitskraft, ist es zu etlichen künstlerischen Aufarbeitungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit gekommen. Dass Theater nicht mehr nur Wirklichkeit beschreibt, sondern in je unterschiedlicher Gestalt diese hervorbringt, ist spätestens mit der Entstehung der Performance Art deutlich geworden. Der Paradigmenwechsel hin zu einem postdramatischen Theater8 hat die Verknüpfung von Wirklichkeit und Theater weiter forciert. Diese Verknüpfung geht nicht nur aus der Realität im Theater hervor, sie fußt gleichermaßen auf der zunehmenden Theatralisierung der Wirklichkeit. […] gefragt sind Teamgeist, kommunikative Kompetenzen, Netzwerke, Kreativität, kurzfristige Zusammenschlüsse und Flexibilität, wie sie eben auch die Theaterarbeit, zumal die gegenwärtige, verlangt. Die Arbeitssoziologie und Betriebswirtschaft entdecken das Theater wohl auch deshalb als zukunftsweisende Institution 7 | Katharina Pewny: Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance, Bielefeld 2011, S. 12. 8 | Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 11ff.

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im Kontext der Creative Industries […] weil die aktuelle Produktivitätsdoktrin auf die Integration von Kreativität in die kapitalistischen Arbeitsprozesse setzt und die projektförmige Arbeit am Theater als vorbildlich gelten kann. 9

Diese Relation – nämlich, dass das Theater nicht nur der Wirklichkeit folgt, sondern theatrale Strategien zunehmend in der Arbeitswelt, der sogenannten Kreativwirtschaft, aber auch in sozialen Beziehungen (bspw. in sozialen Netzwerken) eingebunden werden – ist der Stoff einer Vielzahl von Theaterarbeiten. Katharina Pewny spricht deshalb sogar von einem Ethical Turn der szenischen Kunst, der »[…] eine präsente Sehnsucht nach Ethiken«10 indiziert. Im Zentrum dieser Kunst steht die Beschäftigung mit Krieg, Religion, Klimawandel, ökologischen Katastrophen, dem Bildungswesen, dem politischen Umbruch in den arabischen Ländern, Arbeitsbedingungen und Arbeitslosigkeit. Vor allem der Einbruch der Finanzmärkte wird von der szenischen Kunst intensiv bearbeitet. Die Spielzeiten der letzten Jahre standen unübersehbar im Zeichen der Finanzkrise.11 Diese haben zahlreiche »Dramaturgien der Ökonomie«12 hervorgebracht, die oftmals das »Leistungssubjekt« in den Fokus ihrer Inszenierung rückten. Es geht hierbei um die Reflexion der gesellschaftlichen Verschiebung zu einem 9 | Franziska Schössler, Christine Bähr: Die Entdeckung der »Wirklichkeit«. Ökonomie, Politik und Soziales im zeitgenössischen Theater, in: dies. (Hg.), Ökonomie im Theater der Gegenwart: Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009, S. 11. 10 | Pewny, Drama des Prekären, S. 13. 11 | Zu nennen sind hier beispielsweise Elfriede Jelineks »Die Kontrakte des Kaufmanns«, uraufgeführt am 2.10.2009 im Thalia Theater, außerdem »Money – it came from outer space« von Chris Kondek und Christiane Kühl, uraufgeführt am 13.11.2010 im Hebbel am Ufer in Berlin oder »Ein Pfund Fleisch« von Albert Ostermaier, das am 14.09.2012 im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg Premiere feierte. Das Mainzer Staatstheater stellte sogar seine gesamte Spielzeit 2010/2011 unter das Motto »Krise als Chance«. Auch das Schauspiel Frankfurt arbeitete in der Spielzeit 2012/2013 mit seinem Schwerpunkt »Faust I und II« intensiv die Themen Kapitalismus, Fortschritt und Krise auf. 12 | Vgl. Katharina Pewny: Theatrum Europaeum Precarium. Rimini Protokolls Dramaturgie der Ökonomie, in: Ökonomie im Theater der Gegenwart: Ästhetik, Produktion, Institution, S. 39-56. Pewny führt hier Rimini Prortokolls Inszenierung »Das Kapital« als beispielhaft für solche »Dramaturgien der Ökonomie« an.

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»kollektiven Handlungsbegriff«13, der das Subjekt als autonomes, selbstverantwortliches, kreativ-schöpferisches begreift. Dieser neue Menschentyp zeigt, dass das Paradigma der Disziplin von einem Paradigma der Leistung abgelöst wurde: »In einer disziplinarisch organisierten Gesellschaft lautete die Frage noch: ›Darf ich das?‹ Wenn Autonomie zum beherrschenden Zug der Gesellschaft wird, lautet sie dagegen: ›Kann ich das?‹«14 Das Paradigma der Autonomie – sprich die Erweiterung von Handlungsspielräumen15 – hat zugleich zu einem Imperativ der Selbstinszenierung geführt. Wer frei ist, selbstverantwortlich Entscheidungen zu treffen, sich selbst zu erfinden, sein eigenes Schicksal zu bestimmen, hat schließlich auch diese Aufgabe der »Selbstwerdung« auf allen Ebenen zu leisten. »Personality«, Authentizität, Kreativität, Individualismus, Flexibilität, Selbstbestimmung, Kommunikation, Initiative – dies sind die angestrebten Charakteristika auf dem Weg zu einem »exzeptionellen« Selbst. »Und an dieser Stelle stehen wir heutzutage alle, denn die zeitgenössische Form des Individualismus hat die Vorstellung des Ausnahmemenschen demokratisiert: Jeder kann exzeptionell sein.«16 Begleitet wird diese Verschiebung von einer Ökonomisierung des Subjektes – schließlich sind die Werte des subjektivistischen Paradigmas solche, die den Gesetzen des Neoliberalismus zu Gute kommen, zumal mit den neuen Formen der Wertschöpfung, der Produktion und der Dienstleistung die Forderung nach Autonomie und Selbstbestimmung einfach in das kapitalistische System übergegangen ist. Diese Vereinnahmung der sozialen Kritik17, die sich gegen die »[…] Normierung des Subjektes nach gesellschaftlich vorgegebenen Rollenbildern […]«18 richte13 | Alain Ehrenberg: Depression: Unbehagen in der Kultur oder neue Formen der Sozialität, in: Christoph Menke, Juliane Rebentisch (Hg.), Kreativität und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2010, S. 52-62, hier S. 60. 14 | Ebd., S. 55. 15 | Ebd. 16 | Ebd., S. 54. 17 | Vgl. Luc Boltanski, Ève Chiapello: Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel, in: Kreativität und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, S. 18-37. 18 | Christoph Menke, Juliane Rebentisch: Vorwort: Zum Stand ästhetischer Freiheit, in: Kreativität und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, S. 7-8, hier S. 7.

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te, hat stattdessen ein Primat der permanenten Selbstperformance – des ständigen Neuerfindens des Selbst – und somit das »Wirtschaftssubjekt« hervorgebracht. Das Subjekt wird zur Ich-AG, zum Unternehmer seiner selbst, der seine Arbeitskraft eigenständig kontrolliert und sich selbst vermarktet, um seine employability zu wahren. Der Arbeitskraftunternehmer, der teamfähig, flexibel und mobil agiert, dessen psychische, physische wie geschlechtliche Dispositionen vollständig durch ökonomische Leistungsanforderungen reglementiert sind, avanciert zu einer prototypischen Subjektivierungsform im postfordistischen Zeitalter.19

Dass sich hier ein Pendant zur szenischen Kunst auftut, gemeint ist eine schizophrene Verbindung von kapitalistischen Strukturen einerseits und dem subversivem Anspruch der Performance-Kunst andererseits, die auf die Entgrenzung von Kunst und Realität – auf reale, wirklichkeitskonstituierende körperliche Prozesse – abzielt, ist vermehrt Reflexionsgegenstand des Gegenwartstheaters. Ausgangspunkt hierfür ist die sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts zeigende Dominanz des Performativen in Kultur und Gesellschaft als Folge unterschiedlicher gesellschaftlicher Transformationen wie etwa: […] Globalisierung und gleichzeitige kulturelle und soziale Fragmentierungen, durch Informatisierung, Virtualisierung und Medialisierung und gleichzeitige Eventisierung, Theatralisierung und Musealisierung des Sozialen, durch neoliberale, postkoloniale Politiken und eine gleichzeitige Reaktualisierung nationalstaatlicher Politik, durch neue Formen von Wissensproduktion, eine neue symbolische Macht der Bilder, Codes und Zeichen und das gleichzeitige, Implodieren von Bedeutungen‹, durch Vorbehalte gegen Metaerzählungen (Lyotard) und das gleichzeitige Wiedererstarken von Machtachsen, durch den Kollaps kultureller Hierarchien und neue Distinktionslinien zwischen kulturellen Praktiken. 20

19 | Schössler, Bähr, Die Entdeckung der »Wirklichkeit«. Ökonomie, Politik und Soziales im zeitgenössischen Theater, S. 9. 20 | Gabriele Klein, Wolfgang Sting: Performance als soziale und ästhetische Praxis. Zur Einführung, in: dies./ders. (Hg.), Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst, Bielefeld 2005, S. 8.

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Die Performance des Alltäglichen im Theater sieht sich demnach mit der Allgegenwart der theatralen »Alltagsperformance« konfrontiert. Ob privat oder öffentlich, der Zwang des alltäglichen Performens in sozialen Beziehungen, aber insbesondere die Verschiebung vom Leistungsprinzip zu einer »performativen Normativität«21 auf der ökonomischen Ebene, ist der Grund für diese schizophrene Verbindung von Marktgesetzen und Performativität. Darauf fußt die Tatsache, dass Leistung nicht mehr nur objektiven Kriterien unterliegt, sondern immer auch dargestellt bzw. theatralisiert werden muss, um Anerkennung zu finden. Insofern haben die Gesetze der Performance jeden gesellschaftlichen Bereich für sich eingenommen, ob Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft oder Politik. Das Kreativsubjekt definiert sich und wird definiert über seine Performance – die Vermarktung seines Selbst. Wobei diese »Selbst«-Darbietung nur als authentisch erscheinende glückt. Es geht darum, »echt« zu sein, und alles von sich jederzeit zu geben – ein »unternehmerisches Selbst« auf allen Ebenen jederzeit zu sein. Insofern sieht Ulrich Böckling die Entwicklung der ständigen Selbstoptimierung bis ins private Sein als direkte Konsequenz des Selbstverwirklichungsanspruchs der politischen Bewegung nach 1968.22 21 | Bei Juliane Rebentisch ist die Rede von der Abschaffung des »Disziplinarmodells« zu Gunsten einer Flexibilitätsforderung und dem Zwang permanenter Selbstverwirklichung. »Eigenverantwortung, Initiative, Flexibilität, Beweglichkeit werden so zu Forderungen, die zwar das alte Disziplinarmodell der Gesellschaft verdrängt haben, ohne dabei jedoch die Einzelnen von der Selbstdisziplin zu befreien. An die Stelle der Normierung des Subjektes nach gesellschaftlich vorgeschriebenen Rollen ist die Erwartung der kreativen Selbstverwirklichung getreten« (Juliane Rebentisch: Hegels Missverständnis der ästhetischen Freiheit, in: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, S. 172-190, hier S. 172). 22 | »Im Rückblick betrachtet erweisen sich die verschiedenen Ausfaltungen der Gegenkultur nach 1968 trotz ihrer antikapitalistischen Stoßrichtung als Labors unternehmerischer Verhaltensorientierung. Die Versöhnung von Leben und Arbeiten, welche die Alternativbewegung proklamierte realisiert sich für die neuen Selbstständigen als Ausgreifen der Arbeit in allen Lebensbereiche« (Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt 2007, S. 58).

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Die szenische Praxis der letzten Jahre (René Pollesch, Rimini Protokoll, Gob Squad, Jan Fabre etc.) lässt diese schizophrene Allianz von Professionalität und Selbstverwirklichung, Autonomie und Selbstdisziplin nicht unangetastet. Der Zwang des Tuns, des Performativen und der Selbstproduktion sowie die gesellschaftliche Rolle der Performance werden selbstreflexiv bearbeitet. Es geht nicht mehr darum, Alltagsperformance bzw. eine angeblich authentische Präsenz im Theater bloß zu affirmieren. […] das Ver-Rücken und Ent-Setzen, die politische und ästhetische Provokation, die Suche nach Utopien, nach heterotopischen Räumen, das Zeigen des Abwesenden und das Aufspüren des Verdrängten, Vergessenen, das Ausgraben des Verschütteten – aus welcher Perspektive man auch immer Motive, Methoden und Effekte der Performance-Kunst beleuchten möchte, sie ist aufgefordert, eine ästhetische Strategie zu finden, die die immer subtiler gewordenen Grenzen zwischen Spiel und Ernst, Schein und Sein, Imaginärem und Realem auszuloten und sich als das Andere, das Ver-Störende, das Be-Fremdliche zu zeigen […] [und, Anm. d. Verf.] das die Inszenierungsstrategien des alltäglichen zu unterlaufen vermag. 23

Diese Prozesse der Überarbeitung betreffen auch die Theoretisierung der performativen Künste. Hier lässt sich insbesondere eine Verschiebung zu einem erfahrungstheoretischen Paradigma konstatieren. Angesichts der ins System übergegangenen und vereinnahmten performativen Strukturen wird die Frage nach der Spezifik ästhetischer Erfahrung drängend. Nehmen wir zwei aktuelle Arbeiten, die sich mit der Veränderung der ästhetischen Praxis und ihrem subversiven Potential beschäftigen: Juliane Rebentisch untersucht die Installationskunst, um zu einer Neufassung ästhetischer Autonomie jenseits dichotomischer Gattungsdefinitionen zu gelangen. André Eiermann entwickelt den Begriff des postspektakulären Theaters, das […] nicht mehr der Debordschen Forderung nach Unmittelbarkeit verpflichtet ist, sondern vielmehr reflektiert, dass diese Forderung unter den veränderten, permissiven Bedingungen des Spektakels, unter denen wir – so Slavoj Žižek – von 23 | Klein, Sting, Performance als soziale und ästhetische Praxis. Zur Einführung, S. 15.

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allen Seiten mit den verschiedenen Formen des Überich-Befehls ›Genieße!‹ bombardiert werden‹, gerade zur Stütze des Spektakels geworden ist. 24

Trotz ihrer Unterschiede führen sowohl Rebentisch als auch Eiermann ein erfahrungstheoretisches Paradigma in die Ästhetik ein. Rebentisch will ästhetische Autonomie aus ihrer produktionsästhetischen Definition herauslösen und sie erfahrungstheoretisch bestimmen, Eiermann sieht die Alterität der Aufführung in einer spezifischen ästhetischen Erfahrung, die er in Anlehnung an Žižek als »symbolisches Sich-Einlassen« versteht. Die deutlichste Überschneidung der beiden Ansätze liegt in der selbstreflexiv-performativen Struktur von ästhetischer Erfahrung. Wenn bei Rebentisch von einem selbstreflexiv-performativen Objektbezug, in dem das erfahrende Subjekt auf die eigene Tätigkeit bzw. Anstrengung der Zusammenhangbildung reflektiert, die Rede ist, so kann man bei Eiermann ganz ähnlich von einer Fähigkeit des Sich-Einlassens und des Hinzutuns lesen, die für die »Lücke der Wahrnehmung« steht. Sowohl Rebentisch als auch Eiermann beschreiben diesen Prozess als einen, der erstens spürbar für das erfahrende Subjekt wird, zweitens einen Bezug zur eigenen performativen Leistung herstellt und drittens als Fehlen eines kohärenten Ganzen bemerkbar wird. Mit den beiden Arbeiten lässt sich ein Bedürfnis formulieren, das subversive Potential des Theaters und der Kunst im Allgemeinen neu zu bestimmen – es vielleicht sogar zu revitalisieren. Gerade weil die performativen Strukturen ins bürgerlich-neoliberale System übergegangen sind, von ihm angeeignet wurden und die Performance inzwischen ein ökonomisches Prinzip geworden ist, muss es zu einer neuen Bestimmung dessen kommen, was eigentlich noch subversive Kraft hat. Auch Gabriele Klein und Sting formulieren dieses Problem: Entgegen der Annahme, dass Performance widerständig wirken kann, ließe sich auch der Schluss ziehen, dass in einer Gesellschaft, in der Körper und Präsenz, persönliche Aura und Authentizität zum Imperativ der Selbstinszenierung geworden sind, in der die globalen Gesetze des Neoliberalismus die Produktion des immer Neuen befördern, aufgrund ihrer Nicht-Reproduzierbarkeit gerade nicht widerständig wirken kann. Sie kann auch als kulturelles Pendant der Ökonomie angesehen 24 | André Eiermann: Postspektakuläres Theater. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste, Bielefeld 2009, S. 15.

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werden, ist sie doch eine kulturelle Praxis, bei der die Werte der globalisierten Welt wie Beweglichkeit, Flüchtigkeit, Ortlosigkeit, Flexibilität und das permanente Neuerfinden des Selbst sich im Tun in die Akteure einschreiben. Damit Performance und Tanz als gegenwärtige, weil flüchtige Kunstform ihre analytische Kraft entfalten oder künstlerische Visionen entwickeln können, sind folglich Strategien gefragt, die es erlauben, sich von der Gesellschaft des Spektakels abzusetzen […].25 Im Hinblick auf die diagnostizierten Entwicklungen stellt sich die Frage »[…] wie das Gegenwartstheater seine politischen und sozialen Kontexte performt.«26 Schließlich ist eines deutlich geworden: Um sich nicht an der »konstanten Deformation des Politischen zum Drama«, an »pseudo-politischen Konflikten«27 und somit am Spektakel zu beteiligen, muss die kritische Funktion des Theaters sowie sein Paradigma zwangsläufig Prozesse der Überarbeitung durchlaufen. Wie also zeigt sich das Politische oder besser, auf welche Weise wird das Politische, das Ethische, das Soziale im Theater der Gegenwart erfahrbar? Blicken wir auf neuere Arbeiten der szenischen Künste, so wird eines deutlich: Strategien der Störung, der Verunsicherung, des Zerfalls, des Sinnentzugs, der Fragmentierung, aber auch der Transgression, der Wiederholung sowie der Singularität eröffnen einen neuen Diskurs um die Spezifik ästhetischer Erfahrung und das heterogene Potential der szenischen Künste. An diesen Strategien zeigt sich in der Tat, dass das Theater »[…] die Bühne einer um sich greifenden Verunsicherung, die das traditionelle Publikum der so genannten Hochkultur zunehmend betrifft«28, ist. Um die heterogenen Formationen dieser Bühne und vor allem die Rückkehr des Ethischen in den ästhetischen Verfahrensweisen zu fassen, schlägt

25 | Klein, Sting, Performance als soziale und ästhetische Praxis. Zur Einführung, S. 16-17. 26 | Pewny, Drama des Prekären, S. 19-20. 27 | Hans-Thies Lehmann in einem Vortrag mit dem Titel »Ästhetik des Aufstands? Grenzgänge zwischen Politik und Kunst in den neuen sozialen Bewegungen« im Haus der Berliner Festspiele am 10.10.2012. Ein Video des Vortrages wurde hinzugezogen: www.youtube.com/watch?v=X2KeX-Jp0Ug, zuletzt eingesehen am 10.03.2014. 28 | Pewny, Drama des Prekären, S. 12.

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Pewny die Kategorie des Prekären vor.29 Im Theater des Prekären wird das Heikle, Ungesicherte, Schwierige etc. nicht nur thematisiert, sondern in der Inszenierung hervorgebracht, verändert und somit erfahrbar. Insofern verbindet, laut Pewny, die Kategorie des Prekären die Ebene des Diskurses mit der Ebene des Seins und eröffnet eine theaterwissenschaftliche Kategorie, die den »Schwellenbereich von Kunst und Politik« markiert.30 In diesem liminalen Bereich wollen wir Georges Batailles »Begriff der Verausgabung« verorten. Mit seinen Überlegungen zur Verausgabung sucht Bataille eine Möglichkeit solche Phänomene zu beschreiben, die sich der Vernunft, dem Rationalen, dem zweckmäßigen Handeln entziehen – also an der Grenze der Wissenschaft und des Denkbaren operieren. Insofern stellt die Theorie der Verausgabung eine »Wissenschaft« der Grenze dar. Auf der Suche nach dem souveränen Sein stößt Bataille auf Formen der »Überschreitung«, die jegliche Ausübung von Macht unterbinden. Die Verausgabung wird so bei Bataille zur Operation der Überschreitung – eine Operation, die sich in jeder Hinsicht von der Tat unterscheidet. Das heißt, dass die exuberanten Phänomene nicht etwa ein adrenalingesteuertes Dasein, einen leistungsgetriebenen Marathon oder etwa eine vordergründige Perversion meinen. Im Gegenteil, dies würde die dem Begriff der Verausgabung inhärente Gewalt sogleich wieder austreiben. Stattdessen ist die Verausgabung als transformatorischer Prozess – ein Zustand, in dem der Mensch ganz Außer-sich ist – zu verstehen. Wie sonst kann bei Bataille von einer »inneren Erfahrung« die Rede sein, lassen sich die verausgabenden Handlungen als Kommunikation begreifen? An dieser Stelle können wir eines vorwegnehmen: Es gibt keinen Ort, an den die Verausgabung nicht reicht. Zu glauben, dass das Denken und der Diskurs bei Bataille auf einem Blatt und die verausgabenden Handlungen auf einem ganz anderen stehen, verfehlt den Kern seiner Theorie. Die Überschreitung betrifft immer zuerst das Denken, die Sprache, den Sinn. Deshalb drehen sich Batailles Überlegungen unentwegt um das Paradox, die Verausgabung zu sagen – ohne sie an die Kohärenz der Sprache, an den Sinn zu verraten. Dabei darf man nicht vergessen, dass seine Infragestellung der Repräsentation mit Mitteln der Sprache ausge29 | Vgl. ebd., S. 13. 30 | Ebd., S. 14.

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führt wird. Auch oder gerade deshalb bringen Batailles Überlegungen im performativen Modus seiner Sprache – im Durchstreichen des Möglichen und Aufzeigen des Unmöglichen – die Liminalität, das Ungesicherte, die Friktion auf der Ebene der Theorie hervor. Haben wir eine Tendenz der Störung, der Unterbrechung und Fragmentierung im Gegenwartstheater ausgemacht, so wollen wir diese Strategien nun im Gegenlicht von Batailles Texten lesen, geht es doch darum, zu verstehen, wie »Empörung und Engagement, lange verpönt im Zeitalter des Postheroischen […]«31 in das Theater zurückkehren konnten. In der vorliegenden Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, wie angesichts der fortwährenden Dramatisierung der Politik, der Medialisierung der Gesellschaft und des allgegenwärtigen Diktats der »Selbstwerdung« eine ästhetische Praxis jenseits des Modells der Handlung möglich ist. Anders gefragt: Wie sieht eine ästhetische Praxis aus, die Freiheit schafft? Die Verausgabung wird sich im Folgenden als jene Spur erweisen, die uns zu dieser (Un-)Möglichkeit hinführt. Sie wird hier als ästhetische Kategorie vorgeschlagen. Was sie als solche leisten kann, ist das Aufzeigen einer Erfahrung der Unterbrechung. Als ein Begriff, der Subjektivität als etwas höchst Zweifelhaftes begreift und somit Konzepte der Selbstverwirklichung ins Leere laufen lässt, erweist sich die Verausgabung als Modus der Unterbrechung des Tuns, aber auch der Konstitution des Subjektes selbst. Sie ist die Erfahrung des »Nicht-Seins«32, eines über sich hinausgetriebenen dissoziierten Denkens und insofern souverän. »Die Subordination unter Zecke schwindet zugunsten der Souveränität des Nicht-Vermögens, des Nicht-Seins. Was Bataille Erfahrung nennt, ist das Gegenteil von Handlung, nichts sonst […].«33 Die Erfahrbarkeit der »Wunde« des Seins, des Ungesicherten und Prekären als conditio humana des modernen Menschen, zeigt sich in dieser Spur als Ausweg aus

31 | Ralf Fücks: Kunst als politische Intervention, 2010, www.boell.de/de/bildungkultur/aesthetik-politik-kunst-als-politische-intervention-ralf-fuecks-15634.html, 10.10.2012, zuletzt eingesehen am 10.06.2014. 32 | Hans-Thies Lehmann: Ökonomie der Verausgabung. Georges Bataille, in: ders., Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2002, S. 75-92, hier S. 77. 33 | Ebd.

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dem, was Eiermann das Spektakel und Bataille das System des rationalen Kalküls nennen. Der aktuellen Debatte um das erfahrungstheoretische Paradigma des Theaters kann der Begriff der Verausgabung sowohl aus philosophischer Sicht – nämlich als antiökonomische Kategorie, die der »beschränkten Ökonomie« ihre Grenzen weist – als auch aus kunstwissenschaftlicher Sicht – als Theorie einer ästhetischen Überschreitung – eine neue Perspektive bieten, sofern er das Spektakuläre um den Begriff des Profanen, die Kontingenz um den Begriff der Wunde und die Autonomie um das Konzept der Souveränität erweitert bzw. präzisiert. Mit Batailles Theorie der Verausgabung als Wahrnehmungshilfe soll es um Arbeiten gehen, die eine »Kunst des Unterlassens« kultivieren, die die sogenannte »Liveness« des Theaters hinterfragen und die zunehmend problematisch gewordenen Partizipationsansätze reflektieren und so einen neuen Zusammenhang von Wirklichkeit, Kunst und Sozialem schaffen. Die hier verfolgte Ästhetik der Verausgabung ist die Beschreibung einer heterogenen ästhetischen Praxis, die eine Erfahrung der Dezentrierung des Subjektes, des Schocks der Wahrnehmung und der Destabilisierung in einem Spiel der Überschreitung erzeugt. Der »Unzulänglichkeit homogener Theorien«34 derartige transgressive Erfahrungen als Diskurs der Grenze zu begreifen, ohne sie einer populären vordergründigen Lesart bzw. einem Irrationalitätsverdacht zu überlassen, soll eine Ästhetik der Verausgabung, die »[…] die Nachtseite, die frenetische, unkontrollierbare Seite des Spiels aufgedeckt«35, Abhilfe schaffen. Indem sie die verfemten, destruktiven ästhetischen Praktiken aufspürt und sie im Hinblick auf gesellschaftliche Konstellationen betrachtet, weist sie ihnen einen »Denk- und Gefühlsraum«36 zu, innerhalb dessen die Verquickung des Ästhetischen, Sozialen und des Ökonomischen37 34 | Elisabeth Lenk: Vorwort, in: Rita Bischof, Souveränität und Subversion, München 1984, S. 7-9, S. 7. 35 | Knut Ebeling: ilinx. Zur Physik der Sensation in der surrealistischen Spieltheorie, in: ilinx. Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft, Heft 1, Wirbel, Ströme, Turbulenzen, Hamburg 2010, S. 141-178, hier S. 149. 36 | Fücks, a.a.O. 37 | Pewny, Theatrum Europaeum Precarium. Rimini Protokolls Dramaturgie der Ökonomie, S. 41.

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möglich wird, – auf diese Weise eröffnet sie einen Diskurs um das, was vom neoliberalen System ausgeschlossen und vereinnahmt wurde. Dies ist eine »Rückkehr in Flammen«: Die evolutionistische Maschinerie, die auf die optimale Existenz zuläuft und Glück für alle verspricht, absoluten Komfort, totale Sicherheit, eine globale Weltordnung, das ist doch das Gute, um den Preis der Eliminierung der Einzelheiten, der unterschiedlichen Kulturen. Alles, was nicht zu den herrschenden Werten zählt, ist das Böse, nicht im moralischen Sinn, sondern insofern es geopfert wird und verschwinden muss […] Vom Standpunkt des Systems aus. Es ist sein verfemter Teil, im Sinne Batailles. Aber wer Bataille kennt, weiß: Was verschwunden ist, kehrt in einem bestimmten Augenblick zurück, eine Rückkehr in Flammen. 38

Ü berblick : M e thode und A ufbau Die Schwierigkeit, Batailles vielschichtige Texte zu lesen, ihnen verpflichtet zu bleiben und sie trotzdem in einem wissenschaftlichen Diskurs anzusiedeln, ohne sie gleichsam in ein stabiles Theoriegebäude umzuwandeln, zeigt sich unentwegt im Verlauf der vorliegenden Arbeit, aber auch an der deutschsprachigen Rezeption des Bataille’schen Œuvres. Trotz seines Einflusses auf die dekonstruktivistischen Denker39 – auf Foucault, Blanchot, Baudrillard und vor allem Derrida – hat Batailles »Werk«, insbesondere das literarische, wenig Anerkennung in der deutschsprachigen Rezeption gefunden. Dabei birgt gerade das methodisch Problematische, also das Gleiten zwischen Theorie und Literatur, zwischen Wissenschaft 38 | Jean Baudrillard: Interview – Demokratie, Menschenrechte, Markt, Liberalismus – das geht mich nichts mehr an, Frankfurter Rundschau 28.11.2002, www.egs. edu/faculty/jean-baudrillard/articles/interview-demokratie-menschenrechtemarkt-liberalismus-das-geht-mich-nichts-mehr-an/, zuletzt eingesehen am 23. 04.2014. 39 | Zwar kritisiert Jürgen Habermas Batailles Eingrenzung des Vernunftbegriffs auf zweckrationales Handeln sowie aus seiner Sicht eine in Batailles Texten angelegte innere Paradoxie. Dennoch zählt er ihn zu jenen Denkern, die den philosophischen Diskurs der Moderne maßgeblich geprägt haben (vgl. Jürgen Habermas: Zwischen Erotismus und Allgemeiner Ökonomie, in: ders, Der Diskurs der Moderne, Frankfurt 1998, S. 248-278).

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der Transgression und Transgression der Wissenschaft Potentialität insbesondere für kunstwissenschaftliche Analysen – zumal die »[…] sich überschreitenden Strategien der Darstellung«40 in Batailles Texten selbst ein permanentes Scheitern performen und so die ästhetische Überschreitung selbst in ihnen angelegt ist. Hier zeigt sich eine deutliche Lücke in der deutschsprachigen Kunstwissenschaft.41 Diese Lücke hat sich für die vorliegende Arbeit als Chance erwiesen, den Blick Batailles auf Abseitiges und Groteskes ins Theater zu lenken, um die Verausgabung als theaterwissenschaftliche Kategorie auszumachen. Der Begriff der Verausgabung greift die Idee der »Unproduktivität« auf und erweitert den häufig beliebig gebrauchten Begriff des Performativen, welcher meist nicht mehr erlaubt als eine Ahnung von dem, was er bedeuten könnte, um die Dimension des Unterlassens und der Zäsur, aber auch der Simulation an Stelle des Live-events oder das »Fake« anstelle des Authentischen. Das heterogene Material des Theaters wird in dieser sich interdisziplinär begreifenden Arbeit beim Wort genommen. Verortet zwischen der Philosophie und der Theaterwissenschaft nimmt diese Untersuchung nicht nur inhaltlich aus zwei Perspektiven ihre Arbeit auf, sie ist darüber hinaus theoretische Reflexion eines philosophischen Begriffs – nämlich der Verausgabung – und Studie ästhetischer Praxis zugleich. Insofern gleicht der Blick auf das Theater einem Objektiv, das seine Linse immer wieder aufs Neue korrigiert. Wenn wir also das heterogene Material des Theaters auf seine verausgabende Qualität hin beleuchten, so kann es nicht darum gehen, ein 40 | Vgl. Andres Hetzel, Peter Wiechens: Eine erste Vorrede zur Überschreitung in: dies. (Hg.), Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, Würzburg 1999. S. 7-11, hier S. 10. 41 | Als Ausnahmen sind hier insbesondere Hans-Thies Lehmanns Aufsatz zur Ökonomie der Verausgabung (vgl. Lehmann, Ökonmie der Verausgabung. Georges Bataille), Helga Finters Aufsatz zu Poesie, Komödie und Tragödie (vgl. Helga Finter: Poesie, Komödie, Tragödie oder die Masken des Unmöglichen. Georges Bataille und das Theater des Buches, in: Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, S. 259-273) und vor allem Knut Ebelings bemerkenswerte Studie zu Batailles literarischem Werk zu nennen. Ebelings Überlegungen haben die vorliegende Arbeit maßgeblich geprägt (vgl. Knut Ebeling: Die Falle. Zwei Lektüren zu Georges Batailles »Madame Edwarda«, Wien 2000, im Folgenden als »Die Falle« zitiert).

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Theater der Verausgabung als Genre auszumachen. Die Spur der Ästhetik der Verausgabung zeigt mithin die Eigentümlichkeit einer verschwendenden Praxis – nämlich Verausgabung im Thematisieren, Darstellen und Denken – also Verausgabung nach Innen wie nach Außen – zu sein. Entscheidend an dieser eigentümlichen Kraft der Verausgabung – und das macht sie interessant für eine theaterwissenschaftliche Betrachtung – ist die mit ihr verknüpfte Erfahrung. Insofern wird das erfahrungstheoretische Paradigma der Verausgabung eine zentrale Rolle – auch für die Konstruktion von Subjektivität – spielen. Auch wenn es im Folgenden nicht um eine stringent philosophische Erörterung der Bataille’schen Begriffe gehen kann, so müssen die theoretischen Ansätze trotz ihrer »Para-Wissenschaftlichkeit«42 einen wissenschaftlichen Umgang zulassen. Deshalb dient der erste Teil dieser Arbeit einer Einführung in das theoretische Werk Batailles. Hier gilt es vor allem den Begriff der Verausgabung, wie er in Batailles Die Auf hebung der Ökonomie und in Die Theorie der Religion vorzufinden ist, nachzuvollziehen. Zuvor wird Batailles Bezug zu Hegels Dialektik von Herr und Knecht erörtert, da sie den Zusammenhang für alle weiteren Begriffe Batailles bildet. Auch die darauf folgende Einführung in die Sakralsoziologie sowie die Theorie des Opfers und des Potlatsch werden von diesem Axiom aus gedacht. Auf den theoretischen Teil folgen die Inszenierungsanalysen des zweiten Kapitels, in denen anhand bestimmter Phänomene – der Eros, das Opfer, die Gabe, die Gemeinschaft, der Tod – eine Ästhetik der Verausgabung ins Feld geführt wird. Um eine spektakulären Lesart der Verausgabung vorweg zu unterbinden, wird das Kapitel mit einer Textanalyse des Fatzer-Fragments von Bertolt Brecht und Batailles obszönem Werk Madame Edwarda eingeführt. Hier steht die sich in einer fragmentarischen Textpraxis zeigende narrative Verausgabung im Zentrum. Darauf folgt eine Betrachtung der tragischen Pathosformeln eleos und phobos am Beispiel von Kidd Pivots »Dark Matters«. Angst und Schrecken der Tragödie werden als mentale und körperliche Verausgabung verstanden – das heißt als Affekte, die ihre Kraft auf der Ebene des Denkens wie der Emotion zeigen. Insbesondere Karl Heinz Bohrers Überlegungen zum Tragischen haben sich in diesem Zusammenhang als produktiv erwiesen. 42 | Vgl. Ebeling, Die Falle, S. 28.

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Mit Janez Janšas »Namensänderungs-Performance« und Rabih Mroués Arbeit »Three Posters« geht es um die Möglichkeit des Opfers, das wir mit Bataille’schen Begriffen zu fassen suchen. Im Vordergrund steht die Opferung des Sinns anstelle des Körpers, die Mit-Teilung anstelle der Präsenz und die Kommunikation anstelle einer sogenannten »autopoietischen Feedbackschleife«43. In den hier angeführten Kategorien des Todes, des Opfers und der Mit-Teilung schwingt bereits die Frage nach der Möglichkeitsbedingung von Gemeinschaft mit. Deshalb schließt das Kapitel mit der Frage, wie und ob Gemeinschaft im Theater entstehen kann ab. Am Beispiel von Gob Squads »Revolution Now!« wird sich zeigen, wie im ironischen Modus Partizipation und kreative Interaktionsmodelle im Theater selbst fragwürdig werden. Unter dem Gesichtspunkt grundsätzlich veränderter Bedingungen von Arbeit, Globalisierung und Kollektivität muss sich das Gemeinschaftsideal den Vorwurf der Regression gefallen lassen bzw. einer Prüfung unterziehen. In »Revolution Now!« geschieht genau dies, indem die Möglichkeit einer Gemeinschaft experimentell auf die Probe gestellt wird. Mit Nancy wird Batailles Gemeinschaftsbegriff als ein gleitender rekonstruiert, der entgegen einer Einswerdung die Problematik der neoliberalen Desintegration in sich aufnimmt und insofern aktueller den je ist. Er bietet eine für unsere Zeit adäquatere Einschätzung von Gemeinschaftlichkeit und zeigt auf, dass die Forderung nach sozialen Beziehungen nicht arbiträr geworden ist. Batailles Überlegungen eröffnen eine Möglichkeit Gemeinschaft jenseits überholter Vorstellungen von Einheit, Nation, kultureller oder ideologischer Übereinstimmung zu denken, so dass sich Vergemeinschaftungsprozesse im Theater neu erproben lassen. Der Frage, wie die Kategorien der Forderungen nach Gemeinschaft, des Opfers, des Todes usw. dazu dienen können politisches bzw. ethisches Handeln hervorzubringen, soll im dritten Kapitel nachgegangen werden. Dass sich sowohl die Ästhetik als auch die Verausgabung im Feld des 43 | Die »leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern« beschreibt Erika Fischer-Lichte als autopietische Feedbackschleife: »Was immer die Akteure tun, es hat Auswirkungen auf die Zuschauer, und was immer die Zuschauer tun, es hat Auswirkungen auf die Akteure und die anderen Zuschauer. In diesem Sinne läßt sich behaupten, daß die Aufführung von einer selbstbezüglichen feedback-Schleife hervorgebracht und gesteuert wird« (Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt 2004, S. 59).

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»Heterologen« befinden, sie sich somit als Gestus der Unterbrechung und zugleich als Kommunikation auszeichnen, wird hier Gegenstand der Betrachtung sein. Es geht um die Möglichkeit, einen deskriptiven Begriff wie den der Performativität (durch den ekstatischen der Verausgabung) zu sprengen und die »Revolte« – die Radikalität des Bataille’schen Denkens – für eine Ästhetik der Verausgabung produktiv zu machen. Mit dem Blick auf Produktionen, die unter radikalen Bedingungen – unter Bedingungen des sozialen und politischen Umbruchs – entstanden sind, wird im vierten Kapitel ein Theaterdiskurs jenseits bürgerlicher Theaterformen Europas inauguriert. Es geht um die ästhetische Praxis nach der ägyptischen Revolte. In der Unterbrechung von Machtstrukturen, d.h. in der Kunst der dysfunktionalen Gesellschaft des Ausnahmezustands zeigt sich eine ästhetische Kraft, die auf eigentümliche Weise eine affektive Wirkung mit politischen Effekten verwebt. Dass »Theater […] ebenso ein Kontext der Politik und Politik ein Kontext des Theaters ist«44, wird hier an Beispielen der ägyptischen Streetart deutlich – wobei das in Europa geläufige Verständnis von Streetart insbesondere durch den Bezug auf die sozio-politischen Kontexte der ägyptischen Gesellschaft ebenfalls unterwandert werden. Dass die Revolte nicht (nur) als politische Bewegung zu verstehen ist, dass sie das Ästhetische ebenso betrifft oder sogar im Ästhetischen durch das Aussetzen des Politischen erst hervorgebracht wird, soll hier als These vorgeschlagen werden. Die Frage in diesem Kapitel wird also lauten: Wie verändert sich das Politische im Theater, wenn wir die Verausgabung als ästhetische bzw. theatrale Kategorie verstehen?45 Um diese Frage abschließend aufzugreifen, werden im Schlussteil der vorliegenden Arbeit die besprochenen Inszenierungen und ihre widerständische Kraft in Anlehnung an Christoph Menkes Kraftbegriff und Hans-Thies Lehmanns Überlegungen zu einer Ästhetik des Aufstands resümiert. Die Ästhetik der Verausgabung als Ästhetik des Widerstands führt zu einem ethischen oder wenn man so will, politischen Ausblick, der jedoch keine Vollständigkeit bzw. Beantwortung liefert. Stattdessen wird die Verausgabung als offene Spur und als Möglichkeit einer spezifisch ästhetischen Erfahrung – eine Erinnerung an eine in uns wirksame

44 | Pewny, Das Drama des Prekären, S. 16. 45 | Vgl. ebd., S. 267.

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Kraft, aus der politisches Handeln hervorgehen kann – den Ausblick dieser Arbeit stellen. Drei formale Bemerkungen sollen hier noch Erwähnung finden: »Verausgabung«, »Verschwendung«, »Exuberanz«, »Verzehrung«, »Verlust« etc. sind in der vorliegenden Studie synonym gebrauchte Begriffe. Im Französischen sind die vielen Nuancen bzw. Termini für die Verausgabung – im Sinne von Zerstörung, unproduktiver Verschwendung, Opferung, Erschöpfung, Aufgabe, Preisgabe, Freigebigkeit – der verschwendungsfreudigen feudalen Kultur Frankreichs geschuldet.46 Batailles nuancierte Verwendung verschiedener Begriffe (insbesondere dépense, perte, consumation) versuchen wir mit den genannten Termini möglichst nahe zu kommen. Zweitens wurde in der Arbeit im Sinne der Heterogenität verschiedenartig »gegendert«, d.h. wenn vom Zuschauer die Rede ist, dann ist auch die Zuschauerin gemeint, ebenso wie Darsteller eingeschlossen sind, wenn von Darstellerinnen gesprochen wird. Drittens sind alle Hervorhebungen in Zitaten, wenn nicht anders vermerkt, aus den Originalquellen übernommen.

46 | »Die Franzosen verfügen über einen außerordentlichen Reichtum an Ausdrücken für die Verschwendung, was offensichtlich damit zusammenhängt, daß Frankreich das klassische Land einer feudalen Kultur ist. Bei Bataille treten außer den aufgeführten [dépense, perte, consumation, Anm. d. Verf.] noch mindestens vier weitere Termini auf, die alle den Sinn von Verschwendung haben. Es sind dies: la dilapidation als Verschwendung im engeren Sinne, la gaspillage als Vergeudung, la dissipation als Verflüchtigung, Zerstreuung, la prodigalité als Verschwendungssucht und Freigebigkeit. Es handelt sich hier zwar nicht um Grundbegriffe, wie es Verausgabung, Verzehrung, Verlust sind, aber immerhin um wichtige Nuancen« (Gerd Bergfleth: Theorie der Verschwendung: Einführung in Georges Batailles Antiökonomie, München 1985, S. 9).

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II. Die Verausgabung

Das theoretische Werk Georges Batailles – wenn angesichts seiner Fragmentiertheit überhaupt von einem Werk die Rede sein kann – nähert sich von verschiedenen theoretischen Rändern einem Zentrum. Ob nun im Kontext einer Theorie der Religion, aus der Perspektive einer ökonomisch-soziologischen Analyse oder in der Untersuchung des Begriffs der Souveränität, Bataille skizziert in den unterschiedlichen Denkfiguren (Tod, Opfer, Erotik, Exzess, Gemeinschaft, Verausgabung etc.) eine Bewegung des Denkens, deren heterogene Momente ein glühendes Zentrum umstellen. In diesem Zentrum steht die Frage nach der Möglichkeit der Überschreitung des Denkens, deren Voraussetzung ihre Unmöglichkeit ist. Das Undenkbare zu denken, ohne es seiner exzessiven Kraft zu berauben, so ließe sich Batailles »Projekt« beschreiben. Dieses Undenkbare bezeichnet die Bereiche der Gesellschaft, die von ihr verfemt und ausgeschlossen sind, also jene Praktiken und Phänomene, die sich »heterolog« zu unserem Denken verhalten, also nicht in der Reflexion aufgehen, sondern störend und exzessiv das Denken durchkreuzen. Im Entwurf einer »Heterologie« unternimmt Bataille den Versuch, jene von der Repräsentation ausgeschlossenen Bereiche zu untersuchen, ohne sie der sprachlichen Kohärenz preiszugeben. In der Tat entkommt Bataille hierbei nicht der Paradoxie jenes sagen und denken zu wollen, das sich der Sprache und dem Denken entzieht. Knut Ebeling findet für diese »[…] Unvereinbarkeit von Sprache und Unmittelbarkeit«47 den Begriff der »Falle«. In Anlehnung an Jacques Der-

47 | Ebeling, Die Falle, S. 73.

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rida48 deutet er Batailles Denken als Versuch, Hegels System der Negativität aufzuheben bzw. es zu »unterbieten«49: Hegel versucht diese Unvereinbarkeit in seiner ›Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft‹ zu vermitteln. Aus der sonderbar martialischen Dialektik, über die Bataille sein gesamtes Leben meditierte, ergibt sich der weitere Dialog der beiden Autoren […]. 50

Batailles Denken ist demnach nur als solches zu verstehen, welches sich in Absetzung von Hegel bestimmt. Folgen wir diesem Gedankengang, der im Übrigen maßgeblich von Derrida vorgeprägt wurde und dessen Lesart wir ebenfalls zu Wort kommen lassen, für einen Augenblick. Der Kampf zwischen Herr und Knecht markiert bei Ebeling den Ausgangspunkt, von dem aus Batailles Kritik der Negation des sinnlichen Seins erst nachvollzogen werden kann. Die Konfrontation des begehrenden Subjekts mit dem Anderen, in der es zu einem Kampf um Leben und Tod bzw. Anerkennung51 und Unterwerfung kommt, aus dem gewissermaßen erst das Bewusstsein und das Primat der Vernunft hervorgeht, bildet die Grundlage für Batailles Entwurf einer Heterologie, in der die Begriffe Souveränität, Verausgabung, Erotik, Ekstase etc. zusammenlaufen. Die zwei sich opponierenden Seinsweisen, das für-sich-Sein des Herren und das für-andere-Sein des Knechts, können beispielhaft für die Position Batailles und Hegels gelesen werden.52 Während Bataille für den 48 | Jacques Derrida: Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie – Ein rückhaltloser Hegelianismus, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt 1976, S. 380-421. 49 | Ebeling, Die Falle, S. 23. 50 | Ebeling, Die Falle, S. 73. 51 | Batailles Hegelkritik kommt nicht ohne einen Hinweis auf Kojève aus. Seine Hegel-Vorlesungen in den 1930er Jahren haben Batailles Verständnis maßgeblich geprägt. Insbesondere Kojèves Anerkennungsdialektik und sein Herausarbeiten der Herr-Knecht-Beziehung sind in Batailles Hegel-Rezeption wiederzufinden. 52 | Bataille über Hegel: »Hegel gewann zu seiner Lebzeit das Heil, tötete das inständige Flehen und verstümmelte sich. Es blieb von ihm nur ein Spatenstiel übrig, ein moderner Mensch. Aber bevor er sich verstümmelte, hat er freilich das Extrem berührt und das inständige Flehen erfahren: seine Erinnerung führt ihn an den wahrgenommenen Abgrund zurück, um ich zu annullieren. Das System ist die

Die Verausgabung

Herrn votiert, löst Hegel die Gleichung zugunsten des Knechts auf. Der Herr ist im Kampf um die Anerkennung bereit, sein Leben aufs Spiel zu setzen, der Knecht hingegen unterwirft sich im Angesicht des Todes dem Herrn. Um dem Tod zu entkommen, entscheidet er sich, dem Herrn zu dienen und sein Leben der Arbeit zu geben. In diesem Moment, in dem der Knecht sich für das Leben und die Knechtschaft entscheidet und dem Herrn der Sieg der Anerkennung zuteil wird, setzt die Dialektik von Herr und Knecht ein. In seinem Sein-für-den-Herrn ist der Knecht zwar dem Herrn unterworfen, doch – und das macht das dialektische Moment aus – kann der Herr nicht ganz und gar auf das für-sich-Sein beharren, er kann den Knecht nicht töten, denn er ist von seiner Anerkennung abhängig. Darin, dass Hegel, die »Wahrheit des selbständigen Bewußtseins«53 letztlich dem Knecht zuschreibt, liegt die Pointe dieser Abhängigkeit. Denn auch wenn mit der dem Herrn zuteilwerdenden Anerkennung sein »reines Bewußtsein«54 entsteht, so bleibt dieses immer vermittelt durch den Knecht. Der Herr ist das für sich seiende Bewußtsein, aber nicht mehr nur der Begriff desselben, sondern für sich seiendes Bewußtsein, welches durch ein anderes Bewußtsein mit sich vermittelt ist, nämlich durch ein solches zu dessen Wesen es gehört, dass es mit selbständigem Sein oder der Dingheit überhaupt synthetisiert.« 55

Erst durch die Arbeit des Knechts, welcher durch sie das Ding bearbeitet, es aber nicht aufheben kann, ist es dem Herrn möglich, sich »mittelbar durch den Knecht auf das Ding«56 zu beziehen. Die Konsequenz lautet folgendermaßen: [D]er Herr aber, der den Knecht zwischen es [das Ding, Anm. d. Verf.] und sich eingeschoben, schließt sich dadurch nur mit der Unselbständigkeit des Dinges zu-

Annullierung« (Bataille, L’expérience intérieure, Paris 1967, S. 71, zit.n. Derrida, a.a.O., S. 383). 53 | Georg W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke in 20 Bänden, Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel (Hg.), Band 3, Frankfurt 1989, S. 152. 54 | Ebd., S. 167. 55 | Ebd., S. 150. 56 | Ebd., S. 151.

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sammen, und genießt es rein; die Seite der Selbständigkeit aber überlässt er dem Knechte, der es bearbeitet. 57

Das unmittelbare Genießen des Herrn bleibt mithin vermittelt durch den Knecht. Daraus ergeben sich – wie wir gesehen – haben zwei Konsequenzen: In der Konstellation der Abhängigkeit von Herr und Knecht erweist sich die unmittelbare Erfahrung als dialektisch vermittelte, d.h. der Bezug zur Welt und zu den Dingen in ihr und somit auch der Genuss, das Erleben des Augenblicks, des Todes, des Opfers usw. können nur über die Vermittlung des knechtischen Bewusstseins erfahrbar werden. Daraus ergibt sich die Verschiebung vom Herrn zum Knecht. Gelangt der Knecht bei Hegel in der Entscheidung, das Leben zu bewahren, und durch seine Arbeit zu sich selbst – zum selbstständigen Bewusstsein – so ist es das Selbstbewusstsein des Herrn, welches vormals »reines Selbstbewußtsein«58 war, das in der Passivität verharrt und gegenüber der »bildungsfähigen gehemmten Begierde«59 des Knechtes nur »sinnlose« Begierde kennt. Das Vorantreiben der Weltgeschichte wird zum knechtischen Attribut, vor allem, weil der Knecht niemals von der Gegenwart bestimmt wird, sondern sein Dasein immer ein in die Zukunft gerichtetes ist. Bei Bataille verkehrt sich dieses Verhältnis: Für ihn besteht in der Unterwerfung des Knechts seine Selbstverleugnung und zugleich die Negation des sinnlichen Lebens durch die Unterordnung unter das Projekt der Arbeit. Der Herr hingegen »[…] ist derjenige, der die Kraft hatte, die Todesangst zu ertragen und ihrem Werk stand zu halten. Das wäre Bataille zufolge das Zentrum des Hegelianismus.«60 In der Rolle des Herrn sieht Derrida Batailles Über- bzw. Unterschreiten des Hegel’schen Systems angelegt. Der Herr ist bei Bataille diejenige Figur, mit der die List der Negativität umgangen wird. Im Zentrum dieses Hegel’schen Systems ist die Arbeit dem Verhältnis von Herr und Knecht abkünftig, sie ist der Weg aus dem vulgären Bewusstsein der Begierde. Dieses Zentrum sprengt Bataille, wenn er die Kausalität dieses Verhältnisses umkehrt und die Hierarchie zwischen Herr und Knecht als Resultat der Arbeit behauptet. 57 | Ebd. 58 | Ebd., S. 150. 59 | Ebeling, Die Falle, S. 85. 60 | Derrida, a.a.O., S. 385.

Die Verausgabung

Die Arbeit – sprich die Negation des Bewusstseins der Begierde – ist in Batailles Konzeption nicht »der Ausstieg aus der abstrakten Andersheit des Bewußtseins«61, nicht der Weg in die Freiheit. Sie ist das Gegenteil. Doch wo Hegel die Erlösung von diesem Bewußtsein in einer weiteren dialektischen Verschränkung von Herr und Knecht sucht, versucht Bataille den dialektischen Trug zu vermeiden und zu einer Wirklichkeit (der Schrift) vorzudringen, die nicht die der Repräsentation ist. 62

Sehr treffend bemerkt Ebeling hier, dass es für Bataille demnach keine dialektische Vermittlung zwischen absoluter Zerrissenheit und Anerkennung geben kann. Das Leben und mit ihm der Sinn muss rückhaltlos aufs Spiel gesetzt werden – ohne Hintertür. Diese bleibt bei Hegel jedoch einen Spalt weit geöffnet und durch sie schafft es die Negation des Bewusstseins, das Leben so aufzuheben, »[…] daß es das Aufgehobene aufbewahrt und erhält, und hiermit sein Aufgehobenwerden überlebt.«63 Wir können mit Derrida und Ebeling sehen, wie aus der Perspektive Hegels die sprachliche Negation der Unmittelbarkeit zur Hilfe kommt, um sie vor dem Nichtsein zu bewahren. Hierin drückt sich ganz deutlich Hegels Einschätzung der Sinnlichkeit als minderwertig aus. In ihrer Partikularität ist die sinnliche Welt auf die Abstraktion der Sprache angewiesen, um nicht zu verschwinden.64 Das gegenständliche Wissen ist bei Hegel Resultat einer Reduktion: Das Bewußtsein erreicht seine Gegenständlichkeit durch die Unterordnung oder Reduktion des Gesehenen und Erfahrenen unter das bereits Gesehene und Erfahrene […]. Die transzendierende Tätigkeit zerstört das Ding als sinnliches und erschafft es als abstraktes, d.h. für das Bewußtsein greifbares. 65

Um der »sinnlichen Gewissheit«, der Angst und ihrem Mangel an Wirklichkeit sowie ihrer für das Subjekt unerträglichen Fülle, zu entkommen und zu einem gegenständlichen Wissen zu gelangen, erschafft Hegel das 61 | Ebeling, Die Falle, S. 87. 62 | Ebd., S. 88. 63 | Derrida, a.a.O., S. 387. 64 | Vgl. Ebeling, Die Falle, S. 41. 65 | Ebd., S. 53.

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Bewusstsein des Knechts bzw. die Negation, welche als Bewusstsein das unmittelbar Sinnliche aufhebt und somit das Sein gibt. Das Unmittelbare wird in der Negation als vermitteltes erwiesen und somit zerstört. Es ist dieses Projekt der Aufhebung, gegen das Bataille andenkt und welches Derrida als List bezeichnet: Hier bricht Bataille in schallendes Gelächter aus, denn durch eine List des Lebens, d.h. der Vernunft, blieb das Leben am Leben. Heimlich ist ein anderer Begriff des Lebens an die Stelle gesetzt worden, um dort zu bleiben und dort sowenig wie die Vernunft je einen Exzeß zu erfahren […] Durch diese Zuflucht zur Aufhebung, die den Einsatz bewahrt, die Herr über das Spiel bleibt die es begrenzt und bearbeitet, in dem sie ihm Sinn und Form verleiht […] beschränkt sich die Ökonomie des Lebens auf die Erhaltung, die Zirkulation und die Reproduktion des Selbst, wie auch des Sinns. 66

Während bei Hegel erst aus der Negation des sinnlichen Seins – aus der Trennung von Materie und Geist – das Bewusstsein entstehen kann, bedeutet für Bataille die Negation – also die sprachliche Transzendenz – den Tod der Begierde. Denn für ihn kann es kein Wissen vom Unmittelbaren geben, es ist dem Wissen nicht zugänglich. An die Stelle des absoluten Wissens Hegels tritt bei Bataille das »non-savoir«. Es markiert den Bereich des Unsagbaren. Die Erfahrbarkeit, d.h. Offenbarung des Todes kann als paradigmatisches Beispiel dieses Bereiches gelten: Damit sich der Mensch schließlich selber offenbarte, müßte er sterben, er müßte es aber tun, indem er am Leben bleibt – indem er sich zusieht, wie er aufhört zu sein. In anderen Worten, der Tod selbst müßte (Selbst-)Bewußtsein werden, in genau dem Augenblick, wo er das bewußte Wesen vernichtet. 67

Dies, so könnte man mit Derrida sagen, wäre Batailles Ziel. Hier findet eine Verschiebung vom Hegel’schen Bewusstsein des Todes zu einer Erfahrung desselben – d.h. vom Subjekt der Erkenntnis zum Subjekt der Erfahrung – statt. Der Bereich des »non-savoir« kündigt sich dort an, wo das diskursive Wissen seine Grenze erfährt, dort wo sich die Phäno66 | Derrida, a.a.O., S. 387. 67 | Georges Bataille: Hegel, la mort et le sacrifice, S. 32-33, in: Deucalion, 5, Neuchâtel 1955, zit.n. Derrida, a.a.O., hier S. 390.

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mene ihrer Gegenständlichkeit verweigern und nur in ihrer Erfahrung aufgehen. Sie weisen keinen Zweck aus, insofern sind sie »Differenz des Sinns«68 und entziehen sich dem tautologischen System der Negation, in dem man ohnehin nur das bereits Bekannte kennt bzw. wissen kann. Selbst im Innern des vollendeten (unaufhörlichen) Kreises ist das Nichtwissen Zweck und das Wissen Mittel. In dem Maße, in dem dieses sich für den Zweck hält, versinkt es im blinden Fleck. Doch Poesie, Lachen, Ekstase sind keine Mittel für etwas anderes. Im »System« sind Poesie, Lachen, Ekstase nichts. Hegel entledigt sich ihrer in Eile: Er kennt nur das Wissen als Zweck. Seine immense Müdigkeit ist in meinen Augen verbunden mit dem Horror vor dem blinden Fleck. 69

Der blinde Fleck der Philosophie, des Diskurses und der Phänomenologie kann als das Zentrum beschrieben werden, von dem wir eingehend sprachen – jenes Zentrum, um das sich Batailles Begriffe anordnen ohne zu ordnen. Zu diesem Fleck findet das Bewusstsein sprachlich, d.h. auf der Ebene der begrifflichen Erkenntnis keinen Zugang, weshalb Bataille die Erfahrbarkeit dieses Flecks in die Nacht verortet. Auch diese Geste Batailles »die Präsenz eines Bewußtseins als Nicht-Wissen« 70 in die Nacht zu verlegen, lässt sich als Gegenentwurf zum »erhellenden« absoluten Wissen Hegels verstehen. Seither wird die Nacht, das Nichtwissen, jedes Mal der Weg sein, auf dem ich mich in der Ekstase verliere […] Wenn ich die Nacht betrachte, sehe ich nichts, liebe nichts. Ich bleibe unbeweglich, erstarrt, versunken in IHR. Ich kann mir eine erhabene Schreckenslandschaft vorstellen, die Erde aufgetan im Vulkan […] so schön und erschütternd sie auch sein mag, die Nacht überragt dieses begrenzte Mögliche und doch ist Sie nichts […] In IHR kommuniziere ich mit dem Unbekannten […].71

An diesem Punkt sind wir an dem zentralen Begriff der Kommunikation angelangt, sie verläuft im Modus des Nichtwissens – als Öffnung 68 | Vgl. Derrida, a.a.O., S. 390. 69 | Georges Bataille: Die innere Erfahrung, München 1999, S. 155, von nun an unter der Abkürzung IE. 70 | Ebeling, Die Falle, S. 252. 71 | Bataille, IE, S. 173-175.

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hin zum Unbekannten. Wenn die Nacht erst die Kommunikation ermöglicht, so ist sie das Schweigen, welches die Rede erlaubt oder besser, die Kommunikation ist die Rede, »die das Schweigen wahrt« 72 . Warum aber verknüpft Bataille die Kommunikation mit dem Schweigen? Bataille sucht den Zustand auf, innerhalb dessen es zu einer Art heiligen73 Kommunikation und schließlich zu einer inneren Erfahrung kommt. In ihr spricht sich ein »ekstatischer Verlust der Erkenntnis« 74 aus. Die Kommunikation ist der ekstatische Zustand, welchen man als Außer-sich-Sein bezeichnen kann, in den das Subjekt gerät, wenn es den Bereich der Erkenntnis übertritt und sich im Opfer, der Erotik, dem Lachen, dem Tod etc. verausgabt, also in die Immanenz begibt. Insofern ist die Kommunikation ein Aussetzen der intelligiblen Sprache und ein Eintritt in einen materiellen Zustand der Immanenz, welche wiederum als ein Zustand des Außer-sich-Seins und Bei-sich-Seins zugleich beschrieben werden kann. Der Ausweg aus dem knechtischen – also dinghaften – Bewusstsein ist der Eintritt in diese körperliche Erfahrung, in der die Verständigung nicht eine über die Dinge, sondern eine ekstatische ist. In dem Moment, in dem das kommunizierende Subjekt im Opfer, im Spiel mit dem Tod oder der Erotik kein Ding mehr vermittelt, bricht es mit der Gegenständlichkeit der intelligiblen Welt und befreit sich so selbst von seiner Dinghaftigkeit. Dieser Zustand entzieht sich der kohärenten Rede, das was von ihm gesagt werden kann, muss notwendiger Weise seinen Sinn opfern. Deshalb drückt sich »Das Problem, die Welt der Kontinuität nicht in die Sprache des diskontinuierlichen Diskurses hineinverlängern zu können […].« 75 bei Bataille im Motiv des Schweigens aus – was als sein bewusstes Spiel mit der Paradoxie, jenes sagen zu wollen, was außerhalb der Sprache operiert, verstanden werden kann.

72 | Derrida, a.a.O., S 397. 73 | Der Begriff der Heiligen bzw. Sakralen wird in Zusammenhang mit Batailles Sakralsoziologie systematisch eingeführt. Hierzu siehe S. 62f. Hier soll heilig nicht im religiösen jedoch im vergemeinschaftenden Sinne verstanden werden. Es geht um Elemente, die vom rationalen Repräsentationssystem ausgeschlossen sind. 74 | Maurice Blanchot: Nachwort – Die innere Erfahrung, in: IE, S. 277-284, hier S. 280. 75 | Ebeling, Die Falle, S. 88.

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Wenn das Wort Schweigen »unter allen Wörtern« »das verdorbenste oder poetischste« ist, so kommt das daher, dass es den Nicht-Sinn sagt, wenn es vorgibt, den Sinn zu verschweigen; es gleitet und löscht sich selbst aus, es erhält sich nicht, es schweigt selbst, nicht als Schweigen jedoch, sondern als Rede.76

Worauf Derrida hier anspielt, lässt sich als Verrat der Sprache formulieren. Das Schweigen tritt dem Verrat der Sprache – welche immer das zu verraten droht, was sie bewahren will – mit dem Überfluss entgegen und vermittelt keinen anderen Sinn, als vielmehr eine »Differenz des Sinns« 77 selbst. Wenn Bataille spricht, dann nur, um das Unvermögen der Sprache zu sagen. Ebeling spürt an dieser Stelle den Begriff der »Wunde« auf. Sie ist gewissermaßen das Bild für eine Sprache, die ins Wanken gerät, eine Sprache, die nicht mehr präzise zu beschreiben sucht, sondern den Überfluss in sich aufnimmt und aushält. Die Wunde ist das, was eine intime Kommunikation in Gang hält, denn sie reißt den sinnvollen Fluss der kohärenten Sprache auf und setzt ihrem Mangel eine absolute Fülle entgegen.78 Den Begriffen Tod, Opfer, Ekstase etc. haftet diese Fülle trotz ihrer Versprachlichung noch an. Sie tragen einen Rest in sich, der auf ihre Unmöglichkeit hindeutet und den Trug der Sprache entlarvt. Der (Be-)Trug, beginnend an der Stelle, an der die Erfahrung des Todes liegt, dort wo der Tod dem Knecht die Sprache gibt, um dann von ihr aufgehoben, um von ihr »gelebt« 79 zu werden, ist eine undankbare Sache. Doch der Tod bleibt insofern machtvoll, als er immer auf die Unwirklichkeit der Sprache und ihr Problem der Repräsentation und somit auf ihren Trug hindeutet. Analog zum Sieg des Knechts fällt die Entscheidung zwischen Leben und Tod bei Hegel immer auf das Leben. Auch wenn der Knecht in seiner Arbeit mit dem Werkzeug der Sprache die Unmittelbarkeit der sinnlichen Erfahrung transzendiert, um den Tod aufzuheben und das Leben zu bewahren, so reißen der Tod, das Opfer, die Ekstase, also all jene hetero-

76 | Derrida, a.a.O., S. 398. 77 | Derrida, a.a.O., S. 386. 78 | Ebeling, Die Falle, S. 252. 79 | Vgl. Ebeling, Die Falle, S. 258.

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logen bzw. »sakralen« 80 Elemente, die sich der Repräsentation entziehen, eine offene Wunde in die Sprache, ein Loch in das System. Die Nacht als Ort des »non-savoir« entspricht dem Bild der Wunde, weil sie in den Tag einfällt, wie das obszöne Wort in die Sprache oder der Herr in den knechtischen Zustand. Dieser Einfall macht sich als Krise im knechtischen Bewusstsein und seiner Sprache bemerkbar. Die Krise und das Loch sind die Spur eines vormals herrischen – eines heterologen – Zustands, der trotz der Arbeit der Negation nicht ganz zerstört werden konnte. Die verfemten sakralen Praktiken, Objekte und Begriffe sind die Öffnung zu diesem Zustand oder besser die Erinnerung an ihn. Es zeigt sich, […] daß die Sprache gewisse Spuren des zerstörten Unmittelbaren aufweist […]. Der Herr ist im Knecht noch enthalten. Das obszöne Wort beispielsweise ist eine der Stellen, die im negativen Bereich der Sprache auf eine negierte Positivität hinweisen, indem sie sie kaschieren. Im obszönen Begriff hält der Herr die Verbindung zum Negierten aufrecht. 81

Dieser Spur folgend, unterläuft Bataille die Dialektik bzw. die Negation Hegels. Ihr stellt Bataille die Affirmation des »non-savoir«, dem Knecht der Arbeit einen Herrn, der ganz Verausgabung ist, gegenüber. Die zwei Seinsweisen (je und ipse, Knecht und Herr, Vernunft und Verausgabung, Tag und Nacht etc.) erfahren bei Bataille keine Vermittlung. Letzteres kann immer nur als Loch oder als Krise in ersteres einfallen. Dieser Einbruch macht bei Bataille die souveräne Tat aus.

80 | Das »Sakrale« steht für diejenigen an den Rand der Gesellschaft verdrängten und mit einem Berührungsverbot belegten Bereiche und Praktiken, die wir als wahnsinnig, pervertiert, ekelerregend, gefährlich, unrein usw. klassifizieren. Dies Stigma betrifft ebenso »[…] alle Arten von gewalttätigen oder renitenten Individuen (Verrückte, Aufrührer, Dichter etc.)« (Georges Bataille: Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, Elisabeth Lenk (Hg.), München 1978, S. 17). Zum Begriff des Sakralen siehe außerdem Kapitel I, Abschnitt 5. 81 | Ebeling, Die Falle, S. 99.

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1. S ouver änität Das ist der Unterschied von der bloß negativen Tat, die verändert – und damit in der Logik von positiv/negativ, Regel/Verletzung verbleibt – zur souveränen Tat Batailles, die diese Opposition überschreitet und auf diese Weise das Blatt leerschreibt, um in der Willkür eines Begriffes die Exaltation der Selbstüberschreitung der Sprache zu feiern. 82

Innerhalb der Souveränität gibt es weder Herr noch Knecht, denn Hegels Herr übt noch Herrschaft, während Bataille von einem Souverän spricht, der ganz Verausgabung ist und gleichsam auf die Herrschaft verzichtet. In der Tat kreist Batailles gesamtes theoretisches Werk um die Souveränität. Mit ihr ist seine Sakralsoziologie und Heterologie verwoben. Batailles Souveränitätsbegriff bildet sozusagen den Untergrund seines theoretischen Werkes, weshalb Derrida zu Recht die Dialektik von Herr und Knecht als Batailles Erbe gesehen hat. Maßgeblich für das Verständnis der Souveränität scheint bei Bataille, dass die Arbeit erst das Verhältnis von Unterordnung und Verdinglichung schafft, während sie bei Hegel gerade den Ausgangspunkt der dialektischen Versöhnung der hierarchisch aufeinander bezogenen Seinsweisen und des Weges zur Selbstbestimmung des Knechts ausmacht. Erst die Arbeit verdinglicht den Menschen und trennt ihn von seiner Immanenz. Sie ist das Gegenteil von Freiheit und Souveränität. Deshalb ist die Souveränität nur dort anzutreffen, wo es zum Verlust kommt. Die soziale Funktion der unproduktiven Verausgabung liegt darin, dass sie über der objektiven Welt der Arbeit, der Produktion und der Erhaltung, eine subjektive Welt der Souveränität errichtet […]. Das Verhältnis von objektiver Welt der Arbeit und subjektiver Welt der Souveränität gleicht also dem von Gesetz und Überschreitung, von Reaktivität und Aktivität. 83

82 | Ebd., S. 185. 83 | Rita Bischof: Über den Gesichtspunkt, von dem aus gedacht wird, in: Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, S. 87-120, hier S. 92.

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Wie können wir uns diese subjektive Welt der Souveränität vorstellen? Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass Bataille zwei Bereiche, den des Sakralen und des Ästhetischen, als Orte souveräner Praxis ausweist. Aber das Sakrale ist nicht die einzige und nicht die höchste Form der Souveränität, die aus dem Verlust entspringt. Bataille erinnert daran, daß Poesie gleichbedeutend mit Schöpfung durch Verlust ist, und darin neben das Opfer tritt. 84

Neben der Welt des Sakralen gehört demnach auch die souveräne Kunst zu den zwei authentischen Formen der Souveränität, wobei es in beiden Bereichen auf den Verlust anstelle einer politischen, beherrschenden oder kontrollierenden Praxis ankommt. Christoph Menke hat in seinem Beitrag zur Ästhetischen Souveränität bei Bataille ganz treffend beschrieben, wie es gewissermaßen gerade durch die Suspension des Politischen in Batailles Theorie zur Souveränität kommt. Hierzu verweist Menke auf Batailles souveränitätstheoretische Kritik der Avantgarde und ihrer politischen Emanzipationsgeschichte. Die Kunst jedoch ermöglicht wofür Bataille politisch kein Äquivalent zu sehen vermag: Souveränität ohne Herrschaft […] Entgegen der Avantgardebestimmung des Verhältnisses von Kunst und Leben (oder Politik) ist die politische Freiheit eine halbierte ästhetische. 85

Was also das Souveränitätskonzept Batailles vom avantgardistischen Autonomiebegriff unterscheidet, ist die Idee von Freiheit. Menke sieht hierin den fundamentalen Unterschied der beiden Modelle verortet. Denn im Gegensatz zum Autonomiebegriff, welcher auf politische und gesellschaftliche Selbstbestimmung abzielt, sieht Batailles Begriff von Souveränität etwas »rückhaltloses« vor, nämlich eine heterogene Bestimmung der Gesellschaft, oder in Menkes Worten »[…] die Freiheit der Suspension und Transgression von Ordnung.«86 Bataille geht es mit seinem Souveränitätsbegriff vielmehr um die »[…] Geschichte des Ausgeschlossenen, des

84 | Ebd., S. 94. 85 | Christoph Menke: Ästhetische Souveränität. Nach dem Scheitern der Avantgarde, in: Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, S. 301-309, hier S. 304. 86 | Ebd., S. 305.

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radikal Anderen, Heterogenen oder Nichtidentischen […].«87 im Gegensatz zur Selbstbestimmung, wie sie der Autonomiebegriff vorsieht. Deshalb hat Menke ganz Recht, wenn er den Akzent auf die Unterbrechung und somit auf eine Unterschreitung anstelle einer Veränderung der Ordnung setzt. Es geht um die souveräne Kunst als Kräftefeld. Bataille sucht demnach nicht einen Ort außerhalb der symbolischen Ordnung. Vielmehr geht es darum, dass diese Kräfte und ihr Wirken unterhalb dieser Ordnung liegen und deshalb durch den Verlust, die Zäsur und die verausgabenden Handlungen erreicht werden können.88 Wobei diese Selbstüberschreitung und Entgrenzung nichts mit einer Ästhetisierung des Lebens zu tun hat. Souveränität der Kunst heißt nicht, dass die Kunst unser Leben (im Ganzen) beherrscht, sondern daß die Kunst die souveräne Freiheit als eine Macht in unserem Leben geltend macht, die wir nicht beherrschen können. 89

Es gibt also einen grundlegenden Unterschied zwischen einer autonomen Selbstbestimmung, die ja gewissermaßen ein bestimmendes und kontrollierendes Moment impliziert, und einer ästhetischen Souveränität als Selbstinfragestellung – als »radikale Verweigerung der Macht«. Die Souveränität hat nämlich keine Identität, sie ist kein Selbst, kein Für-sich, kein Auf-sich und kein Bei-sich. Um nicht zu herrschen, das heißt um sich nicht zu unterwerfen, darf sie nichts unterordnen […] das heißt sich nichts oder niemanden unterordnen […] sie muß sich rückhaltlos verausgaben, verlieren, das

87 | Bischof, Über den Gesichtspunkt, von dem aus gedacht wird, S. 97. 88 | Menke sieht gerade in dieser Definition der Souveränität die Entgrenzung der Kunst festgeschrieben. Es kann in der Frage nach der ästhetischen Souveränität nicht um eine gattungsspezifische Zuordnung oder Unterscheidung gehen, denn ästhetische Souveränität definiert sich ihm zufolge nicht über souveräne Inhalte als vielmehr über eine souveräne Form, d.h. über das Stattgeben einer ästhetischen Erfahrung der Selbstüberschreitung. Insofern entgrenzt sich die Kunst selbst durch die Erfahrung, die sie ermöglicht (Menke, Ästhetische Souveränität, S. 307). 89 | Menke, Ästhetische Souveränität, S. 307.

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Bewußtsein, ihre Erinnerung an sich selbst, wie auch ihre Innerlichkeit verlieren; gegen die Erinnerung, gegen den Geiz, der sich den Sinn aneignet […]. 90

Derrida gibt hier gewissermaßen eine Formel vor: In dem Maße, in dem die Souveränität bei Bataille auf den Verlust setzt, ist sie Großzügigkeit und untrennbar vom Begriff der Verausgabung. Die Verausgabung steht als sakrale wie ästhetische Praxis – als verbindendes Element zwischen dem Heiligen und der Kunst und markiert die subjektive Welt der Souveränität.

2. J enseits des N ut zens Der Tod ist das einzige Moment im Leben des Geistes, das nicht dient. Indem der Tod die Grenze des produzierenden Wesens bezeichnet, beschreibt Bataille auch den Übergang in einen Seinsmodus, in dem aus Rechnung Verausgabung und aus Selbstreflexion Angst wird. 91

Dies beschreibt sehr präzise, wie Batailles Denken das Hegel’sche System, aus dem es hervorgeht, umkehrt. Das Moment des Todes – welches den Ausgangspunkt der Hegel’schen Dialektik ausmacht – wird zur zentralen Figur der Souveränität und markiert die Öffnung zur heterologen Welt und ihrem verfemten Bereich. Die Verschiebung von der Arbeit zur Verausgabung, von der Selbstreflexion zur Angst ist keine einfache Verschiebung der Grenzen, sondern ein Exzedieren ums Ganze. In dem Maße, in dem Bataille den Sinn radikal aufzehrt, anstatt ihm einen anderen Sinn entgegen zu setzen, und das absolute Wissen in ein Verhältnis zum Nicht-Wissen setzt, sucht er das Hierarchische selbst zu zerstören und die »Reduktion dieser Reduktion [der Phänomenologie des Geistes, Anm. die Verf.]«92 zu vollbringen. Demnach ist das »[…] von der Souveränität Exzedierte nicht nur das ›Subjekt‹, sondern die Geschichte selbst.«93 Und insofern die Geschichte des Heterogenen einem erkennt90 | Derrida, a.a.O., S. 402. 91 | Ebeling, Die Falle, S. 306. 92 | Vgl. Derrida, a.a.O., S. 406. 93 | Ebd., S. 408.

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nistheoretischen Ansatz entgleitet – weil sie der Arbeit des Erkennens entgegensteht – ist die allgemeine Ökonomie der wissenschaftliche Bezug zum Verlust des Sinns, was ihr ein Sprechen über die »Wirkungen«94 des Heterogenen ermöglicht. Das heißt, die allgemeine Ökonomie stellt verschiedene Ebenen des für Bataille zentralen Axioms dar, welches »[…] die Überschreitung einer Sphäre des Nützlichen und der Berechenbarkeit, eines der sozialen und politischen Ökonomie anheimfallenden Bereichs«95 und somit das souveräne Tun ist. Wenn Bataille das Begehren und die Erotik vom Primat des Nützlichen und somit vom reinen Fortpflanzungstrieb trennen will, um ihnen eine qualitative Größe zuzuordnen, wenn er all jenen Praktiken (Opfer, Potlatsch, Poesie, Erotik etc.), die nicht auf der Seite des Nutzens stehen und sich durch den Verlust erst hervorbringen, einen souveränen Status zuweist, ist dies im Kontext einer allgemeinen Ökonomie zu verstehen. Hierzu schreibt Hans-Thies Lehmann: Das Prinzip des reinen Verlusts kehrt das egoistische Streben nach Lust-Gewinn um. Eine ersehnte Ohnmacht zielt auf den Tod im Selbst, will sagen auf die Verabschiedung jeder Absicht und ego-bezogenen Gewinnerwartung zugunsten des radikal ausgefüllten Augenblicks, der verschwenderischen Verausgabung der Kräfte, ohne sich der Sorge unterzuordnen, die in die Zukunft sieht und die Selbsterhaltung verlangt. 96

Im reinen Verlust liegt die Erfahrung eines »unverfügbaren Innersten« – von dem man in der profanen Welt getrennt ist – einer heiligen Kommunikation, welche diese Erfahrung des Schmerzes und des Todes ermöglicht und den Wert des Subjekts und seine Intimität restituiert, indem sie ihn von seiner Erniedrigung als Ding befreit, weil sie jenseits von Produktion und Erwerb operiert. Aus der Arbeit und der Entstehung des Werkzeugs – sprich mit der Einführung des Unterschieds zwischen dem Menschen und dem Gegenstand – resultiert die Hierarchie zwischen

94 | Vgl. Derrida, a.a.O., S. 410. 95 | Hans-Dieter Gondek: Azephalische Subjektivität. Gabe, Gesetz und Überschreitung bei Bataille und Lacan, in: Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, S. 157-184, hier S. 183. 96 | Lehmann, Ökonomie der Verausgabung. Georges Bataille, S. 77.

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Herr und Knecht. Sie ist für Bataille der Beginn dieser Verdinglichung und der Profanisierung des Sakralen. Durch die Einführung der Arbeit trat an die Stelle der Intimität, der Tiefe der Begierde und ihrer freien Entfesselung von Anfang an die rationale Verkettung, bei der es nicht mehr auf die Wahrheit des Augenblicks ankommt, sondern auf das Endresultat der Operationen. 97

Dem Verlust des Selbstzwecks durch die Operation der Dauer setzt Bataille die Operation der Erfahrung des Todes entgegen. Die heterologen Phänomene (Opfer, Potlatsch, Erotik, Lachen, Poesie) unterbrechen die Dauer durch ihre Augenblicklichkeit, d.h. ihren sofortigen Vollzug. In ihnen ist kein anderer zukünftiger Zweck angelegt. Sie sind absolute Verausgabung ohne die Aussicht auf jeglichen Gewinn. Insofern sind die heterologen Handlungen anti-ökonomisch, souverän und transgressiv. Sie sind gewissermaßen »Todesspiel« und die einzige mündige Erfahrung der Angst zugleich. Mit den Begriffen der Verausgabung, des Abfalls, des Ausgeschlossenen und Verfemten inauguriert Bataille im Rahmen einer allgemeinen Ökonomie einen Diskurs der Abweichung, welcher die Bedingungen einer heterogenen Praxis untersucht und indem er dies tut, die Bewegung des Denkens gleichsam modifiziert. Deshalb ist die allgemeine Ökonomie der wissenschaftliche Rahmen, innerhalb dessen sich die Bataille’schen Begriffe der Souveränität, der Heterologie, der Verausgabung, der Erotik usw. mit dem Tod als blinden Fleck verbinden. Die allgemeine Ökonomie integriert diese heterologen Kategorien in einen ökonomischen Diskurs, der sie nicht nur als archaisches Überbleibsel oder mystische Animalität begreift, sondern die unterschiedlichsten Referenzlinien aufzeigt, ausgehend vom Eintritt des Menschen in die Welt der Arbeit (zu der Hegels Herr-Knecht-Dialektik die Negativfolie bildet), über einen ökonomischen, religiösen, sozialwissenschaftlichen und ästhetischen Kontext bis hin zur Kategorie des Unbewussten, der inneren Erfahrung und der Subjektivität. Auch das macht die allgemeine Ökonomie in all ihren wissenschaftlichen Bezugspunkten zu einem Diskurs der Sprengung.

97 | Georges Bataille: Die Aufhebung der Ökonomie, Gerd Bergfleth (Hg.), München 2001, S. 87, im Folgenden zit. als »Aufhebung«.

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Inwiefern es zulässig ist, Batailles gesamtes ›Werk‹ als Antwort auf Hegels Phänomenologie und insbesondere auf die Dialektik von Herr und Knecht zu lesen oder ihm aber einen »rückhaltlosen Hegelianismus« zu unterstellen, soll hier nicht zur Diskussion stehen, ebenso wenig, ob Bataille Kojève folgend im Recht ist. Es soll trotzdem gesagt sein, dass Derrida als Erster Batailles Denken auf seinen hegelianischen Ursprung derart konsequent geprüft hat. Insofern ist es Derrida zu verdanken, dass Batailles Dekonstruktion der Hegel’schen Aufhebung entschlüsselt wird und so das dichotomische Verhältnis von Diskurs und Erfahrung durch die Bataille’sche Dynamik ins Wanken gerät. Was sich aus der Deutung Ebelings und Derridas ergibt, ist eine Spur, die Bataille von einer Kritik der Herr-Knecht-Dialektik über eine ökonomische Theorie des Überschusses hin zu einem Begriff der Verausgabung führt.

3. V on der beschr änk ten zur allgemeinen Ö konomie Die Verausgabung ist jener Modus, in dem die beschränkte Ökonomie aufgehoben, der heilige Eros entfesselt und Souveränität erfahrbar wird. Mit dem Begriff der Verausgabung verbindet sich Batailles Theorie der allgemeinen Ökonomie, der Souveränität sowie des Heiligen Eros. Anders gesagt, Bataille denkt die Ökonomie von der Seite der Verausgabung her. Die allgemeine Ökonomie ist eine Ökonomie des Nichtökonomischen, die das Meßbare aufgreift, um des Unmeßbaren willen. Daß es sich um eine grundsätzlich andere Dimension handelt, erkennt man spätestens, wenn man die Phänomene selbst betrachtet: Opfer, Potlatsch, Revolte, Erotik und Exzeß […]. 98

Die Verausgabung ist das, was eine beschränkte Ökonomie und Lebensform von der allgemeinen Ökonomie und einem unwürdigen Leben unterscheidet. Sie markiert den Bereich der Verfemung, der Ausgrenzung und der Abwesenheit. In diesen Bereich fallen all jene Praktiken und Phänomene, die jenseits von Sinn und Nützlichkeit liegen und die nicht im Erwerb, der Produktion, der Effizienz, der Akkumulation etc. 98 | Bergfleth, Theorie der Verschwendung: Einführung in Georges Batailles Antiökonomie, S. 51.

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aufgehen. Bataille geht es um eine Auffassung von Existenz, die sich nicht auf Produktion und Erhaltung reduzieren lässt, sondern den Überschwang, das Spiel, den Tod, das Opfer respektive all jene Handlungen, die nichts als Exuberanz sind und keinem anderen Zweck dienen, ins Leben einschließt. Wenn Bataille gegen eine Ökonomie andenkt, die sich auf das Messbare und Nützliche beschränkt, so betrifft dies auch das Primat der Nützlichkeit im Diskurs. Es wäre vereinfacht, seinen Gestus der Ablehnung dessen, was von der Gesellschaft als nützlich oder sinnvoll erachtet wird, als bloße Ablehnung von Produktion und Arbeit zu verstehen. Vielmehr steht das »Allgemeine« in Batailles Ökonomie für seinen Anspruch, die Totalität derselben zu erfassen. Es geht mithin darum, eine Perspektive zu schaffen, die über ökonomistische Rationalitäts- und Akkumulationsprinzipien – kapitalistisch wie marxistisch – hinausgeht. Der Diskurs ist also nicht wissenschaftlich, sondern er ist einer, der die Wissenschaft und ihre Überschreitung zugleich zu fassen sucht. Es ist ein Diskurs der Sprengung: ein Diskurs, der zerreißen will, aber im Augenblick des Zerreißens innehält. Man könnte ihn auch Diskurs der absoluten Grenze nennen, denn Bataille hält sich genau auf dieser Scheitelhöhe, von der aus er beides überblickt […]. 99

Deshalb ist die allgemeine Ökonomie nicht auf die Analyse geltender Bereiche einer politischen Ökonomie, bestimmt von Kategorien der Nützlichkeit, Produktion und des Mehrwerts, beschränkt. Weil es Bataille um elementare gesellschaftliche Probleme geht, betrachtet er es als zwingend notwendig, auch solche bzw. gerade solche Phänomene im Kontext einer allgemeinen Ökonomie zu besprechen, die außerhalb ökonomischer Prinzipien operieren. Es stellt mithin kein Paradox dar, wenn wir in Batailles ökonomischer Analyse Beispiele wie die des Potlatsch finden, die in den Bereich sakraler Handlungen fallen. Vielmehr ist das Sakrale eben jener Bereich, von dem eine Allgemeine Ökonomie ausgeht – den sie in den Diskurs re-integriert. Beide, die Konzeption der Allgemeinen Ökonomie und die des Heiligen, folgen derselben Bewegung, denn sowohl die Konstruktion einer Allgemeinen Ökonomie und die ihr inhärente Kritik am wissenschaftlichen Diskurs, als auch Batailles Sakralsoziologie beziehen sich auf das Ausgeschlossene. Diesem Ausgeschlossenen haftet ein 99 | Ebd., S. 48.

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Stigma oder besser eine »gefährliche Kraft« an, welche ihm durch seinen Abfallcharakter und sein Berührungsverbot zukommt. An diesem Punkt – dem blinden Fleck bzw. der Verfemung – treffen sich die verschiedenen Perspektiven Batailles, die ökonomische, die sakrale, die ästhetische, die politische usw. Sie bilden ein Netz, in dem sie alle mit demselben Gedanken verwebt sind, nämlich der Unmöglichkeit ihrer Vermittlung, will heißen, all diese Aspekte beziehen sich auf die Abweichung, an jenem Punkt berühren sie sich und bilden so einen stringenten Zusammenhang. Die Theorie der Verausgabung bringt nicht nur eine Praxis der Verschwendung zur Anschauung, sie selbst ist als Abweichung (von der Wissenschaft) zu denken. In diesem Sinne ist sie heterolog. Wir können sagen, daß es sich um die Theorie der Abweichung handelt, wenn wir den besonderen Status, den die Theorie hier einnimmt, bezeichnen wollen: eine Theorie, die sich so auf die Abweichung bezieht, daß sie sich zersetzt und selbst zur Abweichung wird.100

4. D ie V er ausgabung als kosmologisches P rinzip Die Vorrangstellung der Verausgabung hat nichts mit einer abstrakten Negation der Produktion oder der Arbeit zu tun, vielmehr will Bataille die Verschwendung nicht mehr als bloßes Zugeständnis der Produktion definiert sehen. Bataille führt die Vorrangstellung der Verschwendung auf ein kosmologisches Prinzip zurück, das als Grundlage für das Verständnis einer allgemeinen Ökonomie dient und indes die Verausgabung als Prinzip begründet. Die ökonomischen Probleme, die wie in der klassischen Ökonomie auf das Profitstreben beschränkt bleiben, sind isolierte und begrenzte Probleme: im Rahmen des allgemeinen Problems aber taucht immer wieder die Bestimmung der lebenden Substanz auf, die unermüdlich einen Energieüberschuß vernichten (verzehren) muß.101

100 | Bergfleth, Theorie der Verschwendung: Einführung in Georges Batailles Antiökonomie, S. 23. 101 | Bataille, Aufhebung, S. 223.

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Trotz des Vorhabens, die Ökonomie als isolierte Tätigkeit zu klassifizieren, kommt eine Kategorie zum Vorschein, die darauf hindeutet, dass »[…] das System der menschlichen Produktion und Konsumtion im Rahmen eines viel größeren Komplexes erforscht werden […]«102 muss. Dieser Komplex, den die klassische Ökonomie lieber unerwähnt lässt, drückt sich bei Bataille in einer Komplizenschaft mit der Natur aus. Das kosmologische Prinzip, auf dem die Verausgabung fußt, ist der einzigartige Charakter der Sonne, sich ohne Gegenleistung zu verschwenden. Der Sonnenstrahl, der wir sind, findet am Ende die Natur und den Sinn der Sonne wieder: er muss sich verschenken, sich ohne Berechnung verlieren. Ein lebendes System wächst, oder es verschenkt sich grundlos.103

Die Analogie zwischen dem Sonnenstrahl und dem Menschen belegt bei Bataille das kosmologische Prinzip der Verausgabung und bildet den Ausgangspunkt seiner allgemeinen Ökonomie. Der Mensch, verstanden als Sonnenstrahl, verschwendet sich nutzlos und erst in dieser Verschwendung erfährt das Dasein seinen Wert. Gerade weil die Verausgabung in dieser Argumentation einer kosmologischen Ursprünglichkeit entspringt, bleibt sie der Zweckmäßigkeit vorrangig. So erschreckend das menschliche Elend auch ist, niemals hat es die Gesellschaft soweit beherrschen können, dass das Streben nach Selbsterhaltung, das der Produktion den Anschein eines Zweckes gibt, das Streben nach unproduktiver Verausgabung überwogen hätte.104

Die Verkehrung dieser Vorrangstellung, nämlich der Akkumulation anstelle der Verschwendung den Vorrang zu erteilen, führt zu der von Bataille kritisierten beschränkten Ökonomie. Weil aber der Drang der Energieüberschüsse, sich zu verausgaben, laut Bataille nie dauerhaft beherrscht werden kann, muss die stetige Anhäufung fatal enden. Verschwendet eine Gesellschaft nicht ihre Überschüsse, so die These Batailles, wird sie sich katastrophal im Krieg verschwenden.

102 | Bataille, Aufhebung, S. 43. 103 | Ebd., S. 291. 104 | Ebd., S. 16.

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5. D er P otl atsch Der Potlatsch steht exemplarisch für solch einen »positiven« Umgang mit den Überschüssen einer Gesellschaft. Er erlaubt Bataille […] die Ökonomie als ›Gesamtphänomen‹ zu betrachten […], so daß sie nicht als beschränkte Ökonomie der Wirtschaftswissenschaften, sondern als allgemeine Ökonomie formulierbar wird.105

Der Potlatsch wird unter den Gesichtspunkten der Verschwendung von Bataille untersucht, weil er einerseits aufzeigt, wie die menschlichen Handlungen analog zum kosmologischen Prinzip in einer allgemeinen Bewegung der Verschwendung operieren und andererseits, weil er als Praxis die vereinfachenden Dichotomien von Erwerb/Verlust, Gabe/ Gegengabe, Produktion/Verschwendung usw. unterläuft. »Potlatsch« ist das chinook-indianische Wort für »Geben« und beschreibt ein archaisches Rivalitätsgeschenk, wobei Herrscher durch ostentative Schenkungen an den Rivalen oder Feind diesen erniedrigen und ihre Macht demonstrieren. So wurden beispielsweise in Anwesenheit des Rivalen eine große Anzahl der eigenen Sklaven getötet oder gar ganze Dörfer vernichtet. Bei dieser Praxis kam es sowohl im Fall der Schenkung als auch im Fall der Vernichtung von Reichtümern auf den Verlust an. Erst durch die als Verlust empfundene und demonstrierte Verschwendung bewies der Opfernde seine Macht. In dieser Herausforderung des Rivalen und der Verpflichtung auf die Herausforderung mit einem noch größeren Verlust zu antworten besteht der agonale Charakter des Potlatsch. Die Macht kommt dem Opfernden jedoch nicht im Akt der Tötung zu, sondern einzig in der Verschwendung bzw. dem Verlust der eigenen Reichtümer. Somit besteht der Machtbeweis vielmehr im Verzicht auf Macht, denn in ihrer Ausübung.

105 | Heike Kämpf: Die Lust der Verschwendung. Batailles Untersuchung des Potlatsch als Beitrag zur Ethnologie, in: Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, S. 211-222, hier S. 216.

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Reichtum ist ein Erwerb, insofern der Reiche Macht erwirbt, aber er ist vollständig für den Verlust bestimmt, insofern diese Macht eine Macht des Verlustes ist. Nur durch den Verlust sind Ruhm und Ehre mit ihm verbunden.106

Mit seiner Analyse des Potlatsch folgt Bataille Marcel Mauss, der in seiner 1925 erschienenen Arbeit zum Gabentausch in archaischen Gesellschaften107 den Potlatsch unter soziologischen Gesichtspunkten untersucht hat. Im Anschluss an die ethnografischen Arbeiten von Bronislav Malinowski, Robert Hertz und Franz Boas entwickelt Mauss eine Theorie der Gabe, welche insbesondere das Verhältnis von Reziprozität innerhalb des Gabentauschs herausarbeitet. Jede Gabe bringt eine weitere Verpflichtung zur Gegengabe und zur Annahme der Gabe mit sich. Insofern ist der Gabe das Moment des Gebens, des Nehmens und des Erwiderns inhärent. Diese drei Motive bilden das Fundament der Mausschen Gabenmoral. Obwohl in Mauss dreigliedriger Gabenmoral Verpflichtung, Großzügigkeit und Ehre angelegt sind, macht der Potlatsch als exzessive und zerstörerische Gabe paradoxerweise das dominanteste und wohl auch prominenteste Beispiel aus. Auch Stephan Moebius bemerkt, dass ausgerechnet der Potlatsch »[…] eine Institution, die man nach Mauss als totale Leistung von agonistischem Typ bezeichnen könnte«108 und die alles andere als eine harmonisch-reziproke Form des Gabentausches darstellt, Mauss besonders beschäftigt. Das antagonistische Rivalitätsgeschenk, in dem sich die Beteiligten gegenseitig herausforderten, ist für Bataille gerade wegen seiner Asymmetrie und bedingungslosen Verausgabung bis hin zur Zerstörung von Interesse. Auch wenn Mauss’ Gabenmoral und die in ihr angelegte Erwiderungspflicht sich laut Moebius nicht mit Batailles Ausführungen zum

106 | Bataille, Aufhebung, S. 19. 107 | Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, in: Wolf Lepenies, Henning Ritter (Hg.), Soziologie und Anthropologie, Band II. Gabentausch, Todesvorstellung, Körpertechniken, München 1978, S. 9-144. Im Folgenden zitiert als »Die Gabe«. 108 | Stephan Moebius: Die sozialen Funktionen des Sakralen, Marcel Mauss und das Collège de Sociologie, Revue du MAUSS permanente, 16. März 2008 [en ligne]. www.journaldumauss.net/spip.php?article301, vom 02.10.2011.

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Potlatsch decken109, so bleibt das Moment des Exzesses und der Zerstörung sowie der Fakt, dass das Ideal in einem nicht erwiderten Potlatsch, also einer einseitigen Gabe bestand, trotzdem virulent. Batailles Analyse des Potlatsch unter dem Gesichtspunkt der absoluten Verausgabung und das Verluststreben ist im Kontext einer allgemeinen Ökonomie zu lesen, worauf Bataille selbst hinweist, wenn er zu Mauss’ Essay über die Gabe sagt, er sei »[…] von grundsätzlicher Bedeutung für jedes Verständnis der Ökonomie, das ermessen will, inwieweit mit ihr Zerstörungsformen des Überschusses der produktiven Tätigkeit verbunden sind.«110 Die antagonistischen Tauschzeremonien stehen der Stabilität des Besitzes entgegen und beweisen, dass es Gesellschaftsformen geben kann und gegeben hat, in denen die Verausgabung primär und die Produktion sekundär ist. Der Potlatsch stellt mithin eine Umkehrung der klassischen ökonomischen Kategorien dar und deutet auf etwas hin, was bereits Mauss formuliert hat: Erst unsere westlichen Gesellschaften haben, vor relativ kurzer Zeit, den Menschen zu einem »ökonomischen Tier« gemacht […] sowohl in den unteren wie in den höheren Klassen ist die reine, irrationale Ausgabe eine geläufige Praxis; […] Der homo oeconomicus steht nicht hinter uns, sondern vor uns – wie der moralische Mensch, der wissenschaftliche Mensch und der vernünftige Mensch. Lange Zeit war der Mensch etwas anderes und es ist noch nicht sehr lange her, daß er eine Maschine geworden ist – und gar eine Rechenmaschine.111

Auch wenn Mauss das Prinzip der Gabe letztlich in seiner Reziprozität verortet sieht, so weist er in seinen Ausführungen unmissverständlich darauf hin, dass die archaische Praxis des Potlatsch nationalökonomische 109 | »Batailles Begriff der Verausgabung folgt einem Gabe-Begriff, der auf absolute Freigebigkeit, bis zum Zerstörungspotlatsch gehende Maßlosigkeit und reine Selbstlosigkeit des Gebens abzielt. Diese Sichtweise auf die Gabe deckt sich jedoch nicht mit Mauss’ methodologischer Bevorzugung der Erwiderungspflicht und damit auch kaum mit seiner Logik der Gabe« (vgl. Moebius: Die sozialen Funktionen des Sakralen, Marcel Mauss und das Collège de Sociologie, Revue du MAUSS permanente, 16. März 2008 [en ligne], www.journaldumauss.net/spip. php?article301). 110 | Georges Bataille: Theorie der Religion, München 1997, S. 101. 111 | Mauss, Die Gabe, S. 135.

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Kategorien unterläuft. Nicht nur weil der Potlatsch jeden Versuch, den primitiven112 Tausch als Tauschhandel zu charakterisieren, widerlegt, sondern weil er bereits auf sprachlicher Ebene beginnt, dichotomische Kategorien von Gewinn/Verlust, Großzügigkeit/Egoismus, Freiheit/Verpflichtung zu durchkreuzen. Hier inspiriert ein komplexer Begriff alle ökonomischen Handlungen, die wir beschrieben haben, und dieser Begriff ist weder der einer ausschließlich freien und kostenlosen Leistung noch des ausschließlich eigennützigen und utilitaristischen Produzierens und Austauschens. Es ist eine Art Hybride aufgeblüht.113

Diese Bruchstellen, die sich in der Auseinandersetzung mit dem Potlatsch ergeben, sind für Bataille der Einstieg in die Formulierung einer allgemeinen Ökonomie. Da die Bewegung, die er reguliert, von unserer abweicht, ist er in unseren Augen um so fremdartiger und somit umso geeigneter deutlich zu machen, was uns sonst entgeht. Er lehrt uns unsere grundlegende Ambiguität.114

Wenn Bataille den Potlatsch über seine Funktion als Tauschzeremonie hinaus untersucht und in den Diskurs der Gabe das Begehren einführt, dann folgt er der Spur dieser Ambiguität und entlarvt die menschlichen Handlungen und ihr Streben nach Rang und Prestige im Potlatsch als Komödie. Der absolute Verlust wird demnach in den Tauschhandlungen unter dem Deckmantel des Machterwerbs und des Prestige verschleiert. Das Paradox des Potlatsch, Verlust und Erwerb zugleich zu sein, löst 112 | Der Begriff primitiv wird von Bataille verwendet, um archaische Gesellschaften zu beschreiben. Diese Bezeichnung soll keine Wertung vornehmen, vielmehr geht es um eine Beschreibung der Kultur, der Rituale und Praktiken indigener Völker. »Diese Annäherung ist in dem Frankreich der zwanziger Jahre mit der Entdeckung der »art nègre« und später mit dem Surrealismus und der Negrophilie der Zwischenkriegszeit, wie in keinem anderen europäischen Land aufzufinden« (Asma Hegazi: Der Begriff der Verausgabung nach Georges Bataille in Performance Art und Theater, unveröffentlichte Magisterarbeit, Goethe-Universität Frankfurt 2008, S. 13). 113 | Mauss, Die Gabe, S. 131. 114 | Bataille, Aufhebung, S. 104.

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Bataille mit dieser Entlarvung auf. Denn letztlich ist der Machterwerb für ihn nichts anderes als ein Trug. Der Rang, bei dem der Verlust in Erwerb verwandelt wird, entspricht der Verständigkeit, die die Gegenstände des Denkens auf Dinge reduziert. Der Widerspruch des Potlatsch offenbart sich nämlich nicht nur in der ganzen Geschichte, sondern auch, und noch deutlicher, in den Denkvorgängen. Ganz allgemein suchen wir im Opfer oder im Potlatsch, in der Aktion (in der Geschichte) oder der Kontemplation (im Denken) immer jenen Schatten – den wir per definitionem nicht greifen können –, den wir hilflos Poesie, Tiefe oder Intimität der Leidenschaft nennen. Wir werden zwangsläufig getäuscht, weil wir diesen Schatten greifen wollen.115

Bataille liefert hier eine Betrachtung des Potlatsch, die die Dimension des Begehrens als Ur-Grund dieser Tauschhandlungen erstmals zum Ausdruck bringt und sich auf diese Weise sehr nah an Mauss’ Einschätzung der Gabe als Träger einer Kraft bewegt. In Mauss’ Gaben-Theorem stoßen wir auf eine Verknüpfung, die bei Bataille an anderer Stelle zentral ist, in seiner Betrachtung des Potlatsch aber nur implizit bleibt. Mauss’ Favorisierung der Reziprozität innerhalb des Gabentausches lässt sich bei genauer Betrachtung auf diese »Kraft« der Gabe zurückführen. Anstelle einer moralisch definierten Auslegung des Gabentausches und seiner »Großzügigkeit« scheint die »intime« Begegnung, die Mauss zwischen dem Geber, der Gabe und dem Empfänger beobachtet, viel präziser von fundamentaler Bedeutung für Batailles Theorie der Verausgabung und seinem Verständnis sakraler Handlungen. Mauss geht davon aus, dass sich mit der Über-Gabe des Dinges eine Kraft auf den Empfänger überträgt. Dies führt er darauf zurück, dass jede Gabe einen Teil des Gebers in sich trägt. Demnach gibt es keine klare Trennung zwischen Gabe und Geber bzw. zwischen Ding und Person. Wenn also jedes Ding einen Charakter bzw. etwas »persönliches« in sich trägt, empfängt der Beschenkte immer einen Teil, um nicht zu sagen, ein Stück des Menschen – der gewissermaßen sich selbst gibt. Im Grund sind es Mischungen. Man mischt die Seelen unter die Dinge, man mischt die Dinge unter die Seelen. Man mischt die Leben und siehe da: jede der mitein-

115 | Bataille, Aufhebung, S. 106.

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ander vermischten Personen und Sachen tritt aus ihrer Sphäre heraus und mischt sich von neuem: dies ist genau der Vertrag und der Austausch.116

Erst diese mélanges von Personen und Sachen erklären die Erwiderungspflicht der Gabe und verleihen ihr einen tieferen Sinn. Moebius weist darauf hin, dass Mauss sogar von einem – bisher kaum rezipierten – Zustand der »Besessenheit« spricht: »[…] dass in der Rezeption des GabeTheorems die für das Verständnis der Gabe konstitutive Fremderfahrung der Besessenheit, der Ergriffenheit und Selbsttranszendenz kaum Erwähnung findet.«117 Die Annahme der Gabe lässt sich auch als Aufnahme des Anderen beschreiben. Diese intime Situation des Austauschs, oder um bei Moebius zu bleiben, diese ekstatische Ergriffenheit wirft nicht nur ein weiteres Licht auf Batailles Verständnis von sozialen Beziehungen bzw. von Gemeinschaft im Kontext sakraler Handlungen – hierzu kommen wir zu einem späteren Zeitpunkt – sondern es ruft fast unweigerlich jene Reflexionen zur Herr/Knecht-Dialektik auf den Plan, die quasi das Fundament zu Batailles Theorie bilden. Wir erinnern uns: Aus der Einführung des Unterschieds zwischen dem Menschen und dem Gegenstand resultiert die Hierarchie zwischen Herr und Knecht. Sie ist für Bataille der Beginn dieser Verdinglichung und der Profanierung des Sakralen. Wenn Mauss nun den »siegreichen Potlatsch« und seine »geglückte Besessenheit«118 auf eine Vermischung von Person und Sache zurückführt bzw. davon ausgeht, dass in den primitiven Gesellschaften es noch nicht zu Trennung von Mensch und Ding gekommen ist und erst dadurch eine »ansteckende« Kraft auf den Empfänger übertragbar wird, verdeutlicht dies, was Bataille mit dem versteckten Begehren innerhalb der Komödie des Potlatsch ausdrücken wollte. 116 | Marcel Mauss: Sociologie et anthropologie, Paris 1950, S. 173, zit.n. Moebius, Die sozialen Funktionen des Sakralen, Marcel Mauss und das Collège de Sociologie, www.journaldumauss.net/spip.php?article301, vom 02.03.2014. 117 | Stephan Moebius: Die elementaren Diskurse der Gabe. Marcel Mauss’ paradigmatische Wirkung auf die gegenwärtigen Sozial- und Kulturtheorien, www. marcelmauss.de/ProjekteMauss.html, vom 02.03.2014. 118 | Marcel Mauss: Der Begriff der Person und des Ich, in: Soziologie und Anthropologie. Band II, Gabentausch, Todesvorstellung, Körpertechniken, S. 221-252, hier S. 233.

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Es ist der Entschluss, als ein verfügbares und benutzbares Ding zu behandeln, was seinem Wesen nach heilig, der profanen Sphäre des nützlichen völlig fremd ist, in der die Hand ohne Skrupel zu dienstbaren Zwecken den Hammer hebt und den Nagel ins Holz schlägt. Aber diese Zweideutigkeit belastet die Notwendigkeit der profanen Handlung ebenso sehr, wie sie die Heftigkeit des Begehrens ihres Sinns entkleidet und in eine offene Komödie verwandelt.119

Berücksichtigen wir nun Mauss’ Prämisse der Vermischung von Sache und Person, wird einerseits deutlich, worin das Begehren besteht – nämlich in der ekstatischen Fremderfahrung, bzw. der heiligen Kommunikation – dem nichtgreif baren Schatten. Der von Bataille diagnostizierte Trug liegt in der Verhüllung des sakralen Austausches im Sinne einer Selbsttranszendenz, die sich aus dieser Über-Gabe eines nicht-Dings ergibt. Hierin liegt die profundeste Spur zu Batailles Theorie der Verausgabung und den von ihm untersuchten sakralen Handlungen des Potlatsch und der Opfer. Es zeigt sich mithin, wie wesentlich Mauss Batailles Theorie der Verausgabung inspiriert hat, und vielleicht ließe sich anhand dieser bemerkenswerten und bisher gänzlich unerwähnten Parallele zwischen Mauss und Bataille auch behaupten, dass Bataille Mauss’ aufmerksamster Leser war, welcher sich dem Problem der Gabe am konsequentesten gestellt hat. Dies zeigt sich insbesondere am Beispiel des religiösen Opfers. Wenn Bataille den Potlatsch in seiner Untersuchung zum Begriff der Verausgabung vor allem noch als Argument gegen eine beschränkte Ökonomie verwendet, kommt dem Potlatsch bereits im »Verfemten Teil« über die Funktion eines Tauschhandels – auf den nationalökonomische Kategorien nicht anwendbar sind – hinaus eine bedeutendere Rolle zu. Hier ist er soziales, sakrales und heterologes Phänomen der Verausgabung. Der Potlatsch wird somit nicht in einer ökonomischen Deutung auf eine Vergeudungssucht reduziert, stattdessen wird er von Bataille in einen neuen Kontext sakraler Handlungen eingeführt. Deutlicher noch werden die Begriffe der Intimität, der Kommunikation und der Zusammenhang von Verdinglichung, Profanem und Sakralem anhand des Opfers.

119 | Bataille, Aufhebung, S. 106.

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6. D ie I ntimität des O pfers Bataille schickt seiner Opfertheorie eine Betrachtung von Intimität und Verdinglichung voraus. Die verlorene Intimität des Menschen bildet gewissermaßen den Ausgangspunkt für die Theorie des Opfers, welche sich bei Bataille in diversen Auszügen – angefangen bei den Documents von 1928 – immer wieder findet, um dann in der Theorie der Religion zu ihrer finalen Ausarbeitung zu gelangen. Bataille nähert sich dem Opfer ausgehend von der Entdeckung des Nicht-Identischen. Er denkt hier eine Diskontinuität, die den Menschen mit seinem Eintritt in die Arbeit erfasst und einen Riss in seine Immanenz treibt. Der Mensch transzendiert sich gewissermaßen selbst als Subjekt und definiert sich von nun an als vom Objekt – dies kann ein Tier, ein Gegenstand oder auch ein anderer Mensch sein – unterschieden. Hierin lässt sich erneut die Spur Kojèves lesen. Nicht umsonst leitet Bataille seine Theorie der Religion mit Kojèves Inrtoduction à la lecture de Hegel ein, wo wir außerdem lesen können: Der Mensch ist das einzige Wesen in der Welt, das weiß, daß es sterben muß, und man kann sagen, daß er das Bewußtsein seines Todes ist: wahrhaft menschliche Existenz ist existierendes Todesbewußtsein oder seiner selbst bewußter Tod.120

Diese Deutung Kojèves bildet den Ausgangspunkt für Batailles Opfertheorie, denn mit dem Todesbewusstsein entsteht die knechtische Welt der Arbeit, in der der Tod transzendiert werden kann und der Mensch sich im absoluten Wissen selbst anschaut. Erst jetzt kommt es zur Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, zur Verdinglichung des NichtIdentischen. Das, was in dieser Situation die Diskontinuität ausmacht, ist die Selbsterkenntnis des Subjekts bzw. die Selbstbeobachtung, in der sich das Subjekt außerhalb der nicht-menschlichen Immanenz begreift und somit mit dem Kontinuum der Welt bricht. Batailles Bildnis vom Tier in der Welt wie das Wasser im Wasser veranschaulicht den Zustand der Immanenz auf prägnanteste Weise.

120 | Alexandre Kojève: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens, Iring Fetscher (Hg.), Frankfurt 1988, S. 265.

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Zwischen gefressenem und fressendem Tier existiert kein Verhältnis der Unterordnung [Hervorhebung im Original], das dem gleichkäme, durch das ein Gegenstand oder ein Ding an den Menschen gebunden ist […] Für das Tier ist nichts die ganze Zeit hindurch gegeben […] es wird verzehrt und vernichtet, ist bloß ein Verschwinden in einer Welt, in der nichts außerhalb des jetzigen Zeitpunkts gesetzt ist […] Der Löwe ist nicht der König der Tiere: Er ist nur eine im bewegten Wasser höher schlagende Welle, die die schwächeren unter sich begräbt.121

Weil in dieser Welt der Immanenz der Tod lediglich eine höher schlagende Welle ist, wird das Kontinuum von Leben und Tod gerade mit dem Aufschub des Todes gebrochen. In der Welt der Arbeit und Produktion jedoch kommt dem Tod eine problematische, eine verfemte Bedeutung zu. Weil er als unkontrollierbares Ereignis in die Kontinuität der Dauer einfällt und das Jetzt anstelle des Morgen belegt, muss er in der Welt der Dinge, in der nur die zukünftige Zeit gilt, verfemt sein. Anders gesagt, erst der Knecht weist dem Tod seine problematische Bedeutung zu. Dies ist der Grund, warum nach Bataille der Mensch über sein Bewusstsein keinen Zugang zur animalischen Immanenz findet. Deshalb wird bei Bataille ausgerechnet der Tod zu der Operation, die die Trennung von Subjekt und Objekt, von Bewusstsein und Materie wieder aufheben soll. Der Tod, könnte man sagen, ist der blinde Fleck der stabilen Welt der Dinge. »Ausgerechnet der Tod als die in das Leben eingebrochene Kluft soll sich als der Modus entpuppen, durch den die in das Leben seine eingebrochene Ununterbrochenheit paradox bestätigt.«122 Mit anderen Worten, wenn es, wie Bürger sagt, Bataille darum geht »[…] einen Ort auszumachen, den Hegels Denken nicht bereits vorher bestimmt hat«123, dann ist dieser Ort der Opferritus. [D]enn gegenüber Hegels Opfer der Unmittelbarkeit, das den Menschen in den Käfig seines werdenden und keinen Verlust duldenden Bewußtseins sperrt, hat

121 | Bataille, Theorie der Religion, S. 20. 122 | Stefano Cochetti: Die Aporie des Heiligen. Der Opferbegriff bei Bataille und Girard, in: Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, S. 243-256, hier S. 246. 123 | Peter Bürger: Die Souveränität und der Tod. Batailles Einspruch gegen Hegel, in: Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, S. 29-40, hier S. 32.

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das Opfer Batailles die Aufgabe, den Opfernden aus seiner Abgetrenntheit zu befreien und eine communication zwischen Opfer und Opferndem zu ermöglichen.124

In der Welt der Dinge, in der Subjekte durch die Unterordnung unter das Prinzip der Nützlichkeit zu Objekten werden und die qualitative Bestimmung nur noch quantitativen Zwecken gilt, d.h. das zum Ding gewordene Subjekt wird lediglich von seinem Gebrauch her bestimmt, besteht die Funktion des Opfers in der Zerstörung des verdinglichenden Bewusstseins. Mit der Opferung soll das Ding von seiner Dinglichkeit befreit und der intimen Immanenz zurückgegeben werden. Die Funktion des Opfers ist die Vernichtung – jedoch nicht die Vernichtung des Geopferten selbst, sondern die des Dinges im Geopferten. Das Opfer zerstört also nicht nur das Ding, sondern auch jene Ordnung, die es zum Ding gemacht hat. In dem irrationalen Akt der Opferung, also der sinnlosen Verschwendung, wird die Opfergabe schließlich der realen rationalen Welt der Nützlichkeit entrissen und in die Welt der Intimität zurückgeführt. Die Erniedrigung des Tieres oder des Menschen als Konsequenz ihrer Verdinglichung zum Gebrauchsgegenstand wird durch das Opferritual und seine profitlose Verschwendung wieder aufgehoben und in der Identifikation des Opfernden mit dem Opfer entsteht eine intime Situation zwischen den beiden. Und wenn ich so ohne jedes Maß verzehre, offenbare ich meinesgleichen, was ich intimerweise bin: die Verzehrung ist der Weg auf dem die getrennten Wesen miteinander kommunizieren.« 125 Und weiter: »Sobald es (das Opfer) geweiht ist und während der Zeit, die die Weihe vom Tode trennt, tritt es in die Intimität der Opfernden ein und nimmt an deren Verzehrung teil: es gehört zu ihnen, und bei dem Fest, bei dem es umkommen wird, singt und tanzt es und genießt mit ihnen alle Freuden.126

In der gegenseitigen Anerkennung jenseits von Herrschaft, Macht und Nutzen entsteht eine intime Kommunikation zwischen Opfer und Opferndem. Entscheidend scheint hier, dass das Opfer von den Beteiligten nicht transzendiert werden kann und somit seinen eigenen Sinn opfert. Das Opfer lässt sich nicht in die Reihe sinnvoller Handlungen einordnen, 124 | Ebeling, Die Falle, S. 276. 125 | Bataille, Aufhebung, S. 89. 126 | Ebd., S. 90-91.

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es entzieht sich jeglicher Zweckgebundenheit. Was das Opfer verkehrt, ist die Selbstwahrnehmung der Beteiligten. Denn diese ist im wahrsten Sinne gestört. Das Opfer Batailles ist rückhaltlos, weil der Opfernde in der Identifikation mit dem Geopferten sein eigenes Bewußtsein verliert, das sich dem Tod als Objekt nicht mehr gegenüberstellen kann. Das heißt, das Bewußtsein sieht sich nicht im Moment des Todes.127

Mit Ebeling kommen wir an unseren Ausgangspunkt zurück, an dem das Todesbewusstsein zur Gegenständlichkeit des Geistes führte und das Nicht-Ich entsteht. Das Opfer fällt nun in diesen Zustand ein und macht den Tod und mit ihm das Kontinuum erfahrbar. Der Kern des Opfers besteht in einer immanenten Erfahrung des Todes, die jedoch nichts oder besser das Nichts offenbart. Was der Tod nämlich aufdeckt, ist der Betrug der Realität, und das nicht bloß, weil die Abwesenheit von Dauer uns deren Lüge ins Gedächtnis zurückruft, sondern vor allem weil er die große Bejahung und gleichsam der verzückte Aufschrei des Lebens ist.128

Hier zeigt sich, dass es bei Bataille keineswegs um eine morbide Fixierung des Todes geht. Der Tod besetzt in der intimen Welt paradoxerweise jene Stelle, die das Leben bejaht, gerade weil er keinen Sinn (er)gibt, er keine andere Bedeutung als das »Nichts« hat. Mit dem Zerbrechen der Dauer, das der Tod evoziert, aktualisiert und affirmiert er das Leben – ebenso wie die Entgrenzung, die Überschreitung, der Rausch und die Verschwendung. Darin – nämlich den Betrug des Lebens aufzuzeigen – stellt der Tod die größte Gefahr für die Stabilität einer »realen Ordnung« dar. […] aber es ist gerade das Verschwinden der Dauer und damit das der mit ihr verbundenen neutralen Verhaltensweisen, das einen Grund der Dinge von blendendem Glanz enthüllt (worin sich mit anderen Worten zeigt, daß das Bedürfnis nach

127 | Ebeling, Die Falle, S. 277-278. 128 | Bataille, Theorie der Religion, S. 42.

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Dauer uns des Lebens beraubt und daß grundsätzlich allein die Unmöglichkeit der Dauer uns befreit).129

Insofern sind der Potlatsch und das Opfer, auch wenn sie nicht zwingend im Tod enden müssen, Indiz für die Abwesenheit einer totalen Wahrheit in der Welt. Als Todes-Praxis machen sie die Annullierung des Lebens rückgängig. Der Potlatsch, das Opfer und der Tod sind somit Modifikationen desselben Prinzips; nämlich der konkreten Erfahrung von Intimität. Gewissermaßen als Erinnerung an eine verlorengegangene Intimität operiert das Opfer gegen das klare Bewusstsein, welches nur durch dessen Exklusion entstehen konnte. Das Bewußtsein hätte nicht mit der Zeit zu einem klaren werden können, wenn es sich nicht von störenden Inhalten abgewandt hätte, aber das klare Bewußtsein ist nun selber auf der Suche nach dem, was es verloren gehen ließ und was es, je mehr es sich ihm nähert, erneut verlorengehen lassen muss.130

Hier artikuliert sich sowohl der Strukturwandel jener Formen der Transgression, die den Eintritt in die Immanenz ermöglichen, als auch die Problematik um die Restitution der Intimität.131 Denn Bataille geht es nicht um eine Rückkehr zu einem Ur-Zustand oder um die Einführung archaischer Rituale in die Moderne, sondern um eine Übersetzbarkeit dieser Rituale bzw. Augenblicke, die aus der profanen, zweckgebundenen Welt heraus führen und die Möglichkeit einer sakralen und souveränen Erfahrung schaffen. Bataille weiß also um den Strukturwandel, den die archaischen Riten in der Moderne durchlaufen haben. Gerade deshalb zeigt er auf, dass ih129 | Ebd., S. 43. 130 | Ebd., S. 49-50. 131 | Am Beispiel des Fests zeigt Bataille die Ambivalenz der Restitution von Intimität in der Moderne auf. Denn obwohl das Fest bis zu einem gewissen Grad die Zeit der Verausgabung in Form von Tanz, Musik, Rausch etc. ist, bleibt die totale Entfesselung aus. Das Fest bleibt letztlich an die Regeln der Vernunft bzw. des klaren Bewusstseins gebunden und operiert deshalb lediglich innerhalb der Grenzen des Möglichen. »Das Fest ist keine echte Rückkehr zur Immanenz, sondern eine freundliche und angsterfüllte Versöhnung unvereinbarer Erfordernisse« (Bataille, Theorie der Religion, S. 4).

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nen in der Moderne immer noch eine Bedeutung zukommt. Auch wenn sie sich mitunter in ihrer Form und ihrem Ausdruck unterscheiden, referieren sie immer noch auf dasselbe, nämlich die Erfahrbarkeit des Kontinuums und des Todes. […] zu jeder realistischen Deutung des Opfers ist Bataille dort am originellsten, wo er von der fingierten archaischen Welt des Opfers ablässt und auf die aktualisierende Wiederholung der archaischen Riten verweist […].132

Wir müssen uns ins Gedächtnis rufen, dass erst in den modernen Gesellschaften die Kontinuität ganz und gar zur Diskontinuität zerfällt. Es kommt gewissermaßen zur Umkehrung dieses Verhältnisses. Die Diskontinuität der diskursiven Vernunft und der Arbeit verdichtet sich nun gleichsam zu einem neuen Kontinuitätszusammenhang, welchen Bataille mit dem Begriff der ›Homogenität‹ belegt. Wirkliche Kontinuität wird dagegen nur noch an den Rändern der Moderne als ein ›Heterogenes‹ erfahrbar, um das Batailles heterologische Soziologie kreist.133

Diese Verkehrung erklärt, warum paradoxerweise der Tod jenen Modus darstellt, durch den die Kontinuität wieder erfahrbar wird. Die wirkliche Kontinuität hat mithin nichts mit der Dauer gemein, die in der Welt der Arbeit und der Vernunft herrscht. Dauer und Kontinuität sind vielmehr entgegengesetzte Modi. Während erstere auf Seiten der Diskontinuität und des Homogenen operiert, lässt sich letztere nur durch eine heterogene bzw. sakrale Praxis erfahrbar machen. Batailles Opfertheorie und die mit ihr einhergehende Betrachtung einer Erfahrbarkeit von Kontinuität, Intimität und Kommunikation berühren und aktualisieren eine weitere Sphäre – die Sphäre des Heiligen. Nicht nur vor dem Hintergrund des sakralen Opferrituals erfährt der Begriff bei Bataille seine Bedeutung, vielmehr ist das Heilige die Schnittstelle zwischen einer souveränen Anti-Ökonomie, einer rituellen Überschreitung, dem Auf brechen von Ordnungen und einer souveränen Kunst – zusammengefasst in einer Soziologie des Sakralen. 132 | Ebeling, Die Falle, S. 273. 133 | Andres Hetzel: Denken der Kontinuität. Schelling und Bataille, in: Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, S. 57-91, hier S. 72.

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Wenn wir begreifen wollen, inwiefern die Verausgabung und die Kunst besondere Kategorien des Sakralen darstellen, also wie eine Praxis der Verausgabung in der ästhetischen Praxis angelegt sein kann und worin diese Verwandtschaft mit dem Heiligen besteht, müssen wir einen genauen Blick auf Batailles Sakralsoziologie werfen.

7. D ie S oziologie des S akr alen Mit seinem Entwurf einer Heterologie schafft Bataille dieses Repräsentationssystem für eine heterologe Praxis – all jene heterologen Elemente, die aus der homogenen Gesellschaft aufgrund ihres entsetzenden, gefährlichen, abstoßenden oder verschwendenden Charakters marginalisiert bzw. mit einem Tabu belegt wurden. Hierbei handelt es sich auch um, jene vom Collège de Sociologie134 als sakral definierten Praktiken und Bereiche. […] es handelt sich um die Idee, ein Repräsentationssystem für all das zu entwickeln, was seit langem schon – aus der Welt der Darstellung ausgeschlossen worden ist, was aber erst unter den Bedingungen der Moderne, in der diese Praxis des Ausschlusses ihre Vollendung findet, die Chance erhält, ins Bewußtsein zu treten.135

In der gemeinsam mit Michel Leiris und Roger Caillois begründeten Soziologie des Sakralen geht es Bataille um eine Umdeutung und Erweiterung der klassischen Soziologie auf jene »sakralen« Elemente und Praktiken moderner Mais ils (die wissenschaftlichen Studien sozialer Strukturen, S.M.) demeurent timides et incomplets, d’une part parce que la science s’est trop limité à l’analyse des structures des sociétés dites primitives, laissent de côte les sociétés moder-

134 | Das Collège de Sociologie wurde 1937 von Georges Bataille, Roger Caillois und Michel Leiris gegründet. Diese wollten vor allem eine Restitution der sakralen Phänomene durch die Analyse kultureller und ästhetischer Praktiken erreichen, um als vergemeinschaftlichte Gesellschaft dem Faschismus standzuhalten (vgl. Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge: Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937-1939), Konstanz 2006). 135 | Bischof, Souveränität und Subversion, S. 112.

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nes, d’autre part parce que les découvertes réalisées n’ont pas modifié aussi profondément qu’on pouvait s’y attendre les postulats et l’esprit de la recherche.136

Das Collège geht demnach von einer Transformation des Sakralen in der modernen Gesellschaft aus. Man könnte sagen, dass der »profane« Zustand des post sacrée 137 der modernen bürgerlichen Gesellschaft – gemeint ist die geschichtliche Bewegung der Moderne hin zu einer fortschreitenden Abstraktion, Rationalisierung und Entzauberung – gewissermaßen erst durchlaufen werden musste, um nun zu einer Restitution des Sakralen zu gelangen, in der das Heilige nicht mehr über seinen religiösen, sondern seinen vergemeinschaftenden Modus sowie seine Ambiguität definiert wird. La sociologie sacrée peut être considérée comme l’étude non seulement institutions religieuses de l’ensemble du movement communiel de la société: c’est ainsi qu’elle regarde entre autres comme son objet propre le pouvoir et l’armée et qu’elle envisage toutes les activités humaines – sciences, arts et techniques – en tant qu’elles on une valeur communielle au sens actif du mot, c’est-a-dire en tant qu’elles sont creatices d’unité.138

Verortet in den irrationalen Randbereichen der Gesellschaft, steht das Sakrale für jene Praktiken, 136 | Roger Caillois: Introduction, in: Denis Hollier: Le Collège de Sociologie (1937-1939). Textes de Bataille, Caillois, Guastalla, Klossowski, Kojève, Leiris, Lewitzki, Mayer, Paulhan, Wahl etc. présentés par Denis Hollier, Paris 1979, S. 31-35, hier S. 33, zit.n. Moebius, Die Zauberlehrlinge: Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie, S. 135. 137 | Georges Bataille: Attraction et répulsion. I. Tropismes, sexualité, rire et larmes, in: Denis Hollier (Hg.), Le Collège de Sociologie: 1937-1939, Textes de Bataille, Caillois, Guastalla, Klossowski, Kojève, Leiris, Lewitzki, Mayer, Paulhan, Wahl etc. présentés par Denis Hollier Paris 1995, S. 120-142, hier S. 190. 138 | Georges Bataille: La sociologie sacrée les rapports entre »société«, »organisme«, »être«, in: Denis Hollier (Hg.), Le Collège de Sociologie (1937-1939). Textes de Bataille, Caillois, Guastalla, Klossowski, Kojève, Leiris, Lewitzki, Mayer, Paulhan, Wahl etc. présentés par Denis Hollier, Paris 1995, S. 31-60, hier S. 36, zit.n. Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge: Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937-1939), S. 136.

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[…] mit denen die Menschen neben den rationalen Bereichen ihre sozialen Beziehungen vorstellen, systematisieren und erfinden, wie die Symbolisierung des Todes oder der Träume, Mythen, die Verschwendung und Verausgabung in Festen, Gefühle, Erotik oder irrationale Handlungen.139

Die Sakralsoziologie löst die Untersuchung des Sakralen aus einer klassisch soziologischen Betrachtungsweise, die es lediglich im Kontext rational gebildeter Übereinkünfte analysiert, heraus und interessiert sich stattdessen für Alltagspraxis und ihren vergemeinschaftenden Charakter sowie jene […] außerordentlichen Bereiche des Wahnsinns, der Perversion, Sexualität, A-Normalität, der Gewalt, der vitalen Energien oder für das Außer-sich-Sein des Subjekts; allgemein also für diejenigen Dinge und Bereiche, mit deren Exklusion sich in den Augen des College Gesellschaften für gewöhnlich ihrer Ordnung versichern.140

Die soziale Funktion der sakralen Praktiken besteht somit in ihrem vergemeinschaftenden Charakter – ihrem kommuniellen Wert. Dies ist, was die Collègiens mit mouvement communiel bezeichnen – eine andere, nämlich über sakrale Praktiken sich formende Gemeinschaft. Entscheidend an diesen Bindungen scheint zu sein, dass sie »[…] sich von profanen oder rational gebildeten gesellschaftlichen Ordnungen unterscheiden […]«141, weil sie außerhalb rationaler und teleologischer Kategorien entstehen. So zum Beispiel die Beziehung zwischen Opfer und Opferndem. Dass dem Sakralen jene Charakteristika, nämlich irrational, maßlos und exzessiv zu sein, zukommen, ist der Grund für seine Verbannung. Die Formen des Sakralen (der Tod, das Opfer, die Erotik, die Poesie) sind in genau dieser Hinsicht – fremdartig und nicht subsumierbar zu sein – heterolog. In ihrer Verfemung liegt die Verbindung zum Heterologen. Man kann sagen, daß die Welt des Heterogenen zu ihrem größten Teil durch die sakrale Welt konstituiert wird und daß die heterogenen Dinge analoge Reaktionen

139 | Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 136. 140 | Ebd. 141 | Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 141.

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wie die sakralen Dinge hervorrufen, obwohl sie nicht im eigentlichen Sinne als sakral angesehen werden.142

Die Überschneidung zwischen dem Sakralen und dem Heterogenen liegt in ihrer Attributierung als »gefährlich« und »ansteckend«. Dem Heterogenen wie dem Sakralen kommt ein Berührungsverbot zu, das auf seinen fäkalen Charakter hinweist. Damit sind die aus der homogenen Welt ausgeschiedenen Dinge, auch solche, die durch die sinnlose Verschwendung hervorgebracht worden sind, und jene Handlungen, Prozesse, und Praktiken, die wir als ekelerregenden, schmutzigen, ansteckenden und gefährlichen Abfall degradieren, gemeint. Es sind dies die Ausscheidungen des menschlichen Körpers oder analoge Stoffe (Abfall, Gewürm etc.); Körperteile, Personen, Worte oder Handlungen, die einen ansteckenden erotischen Wert haben; diverse unbewußte Prozesse wie Träume, Neurosen; die zahlreichen sozialen Elemente oder Formen, die von der homogenen Seite nicht assimiliert werden können […].143

An dieser Stelle ließe sich die Aufzählung all jener »heterogenen« Formen und Abfälle der Gesellschaft um den Schrecken, die Gewalt, Blut, aber auch psychische Prozesse, wie den Wahnsinn, Halluzinationen, Psychosen und Neurosen erweitern. Die Rede ist von Prozessen, Handlungen und Formen, die nicht assimiliert werden können und zum Schock oder zumindest zur Unterbrechung des Verstehens führen.144 Dem Heterogenen wie dem Sakralen scheint außerdem eine Doppelstruktur inhärent, die sich sprachlich erkennen lässt: »sacer« hat sowohl die Bedeutung »heilig« als auch »verflucht«145. Diese Ambivalenz des Heiligen, »rein« und 142 | Bataille, Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, S. 16. 143 | Ebd., S. 17. 144 | Blicken wir ins Theater sind es eben jene anziehenden und zugleich abschreckenden Formen des Grotesken, Erotischen, Ekelhaften, Diskontinuierlichen, Perversen, Krankhaften usw., deren »gefährliche Kraft« dort ihr Spiel treibt. 145 | Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt 2002. Agamben weist hier anhand der Figur des »homo sacer« – dem im römischen Recht vogelfreien Menschen, der zwar straffrei getötet, aber aufgrund seiner Heiligkeit nicht geopfert werden durfte – auf die oszillierende Be-

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»unrein« oder »hoch« und »niedrig« zugleich zu sein, hat Bataille auch für das Heterogene konstatiert. Diese Aufteilung ist mit Robert Hertz zu erläutern. Seine Untersuchung über Die Vorherrschaft der rechten Hand146, die gegenüber der unreinen und mit einem Tabu versehenen linken Hand, die Hand des Ehrenwortes, der Schwüre und der Verträge ist, wurde von Bataille u.a. auf den Tod bzw. den Toten übertragen. Denn in vielen Gesellschaften gilt der Tote bis zu seiner Verwesung als unrein und ist mit einem Berührungsverbot belegt. So lange repräsentiert der Leichnam symbolisch die linke und unreine Seite. Nach der Verwesung jedoch, kann das Skelett als Reliquie zur rechten Seite »übergehen« und ist vom Berührungsverbot befreit. Beide Seiten jedoch sind Seiten des Sakralen bzw. Heterogenen. [E]s besteht in gewissem Sinn eine Koinzidenz der Gegensätze zwischen dem Ruhm und der Erniedrigung, zwischen den erhabenen, imperativen (höheren) und den elenden (niederen) Formen. Dieser Gegensatz durchzieht das Ganze der heterogenen Welt […].147

Die Collègiens, insbesondere Bataille, interessierte vor allem die linke Seite des Sakralen und das mit ihr einhergehende Tabu. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der reine bzw. hohe Teil des Sakralen noch eine Verbindung mit dem Homogenen eingeht bis hin zur Vereinnahmung. So zum Beispiel das Göttliche, welches sich in Batailles Perspektive vom

deutung des Begriff »sacer« als verflucht und heilig zugleich hin. Am Beispiel der römischen Rechtsfigur und ihrer Doppelbedeutung entwirft Agamben das Bild des modernen Menschen, der Verfemung und Inklusion zugleich ist und somit die rechtsfreie Zone als Kehrseite des Rechts markiert. Als Beispiel für den modernen »homo sacer«, der den Ausschluss aus dem Rechtssystem belegt, führt Agamben den KZ-Insassen, den Staatenlosen, den Flüchtling an. 146 | Robert Hertz: Die Vorherrschaft der rechten Hand. Eine Studie über religiöse Polarität, in: ders., Das Sakrale, die Sünde und der Tod. Religions-, kultur- und wissenssoziologische Untersuchungen, Stephan Moebius und Christian Papilloud (Hg.), Konstanz 2007, S. 181-217. 147 | Bataille, Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, S. 20-21.

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schreckenerregenden »[…] zum einfach (väterlichen) Zeichen der universellen Homogenität«148 gewandelt hat. Hingegen widersteht der […] unreine Teil des Sakralen […] aufgrund seiner irreduziblen Heterogenität allen Anstrengungen der Assimilierung, wird aber durch die Abspaltung vom höheren reinen Teil des Sakralen von jeder Ausdrucksmöglichkeit abgeschnitten.149

In diesem Ausschluss liegt gleichzeitig die Souveränität der verfemten Bereiche. Deshalb sieht Bischof im Entwurf der Heterologie die Anfänge einer Theorie der Souveränität verortet: Zur Bezeichnung dessen, was Bataille später die authentische Sphäre der Souveränität nennen wird, dienen ihm zu dieser Zeit die Begriffe des Sakralen und des Wunderbaren, die er auch später noch zur Umschreibung der Souveränität heranziehen wird.150

Es zeigt sich ein Prozess im Denken Batailles, der uns von der Bestimmung des Sakralen über eine Theorie der Heterologie hin zur Souveränität führt. Für unsere Betrachtung theatraler Praxis wird dies von Bedeutung sein, denn wenn wir uns vor Augen führen, dass die sakralen Formen nicht im eigentlichen Sinn religiöse Praktiken, sondern verfemte Ausdrucksformen oder körperliche, künstlerische, exzessive und erotische Handlungen sind, denen deshalb Souveränität zukommt, weil sie die Ordnung des Homogenen unterlaufen, dann tut sich hier die Möglichkeit einer originären Kunstbetrachtung auf, die die Kraft der künstlerischen Praxis über ihren verausgabenden und störenden Charakter bestimmt. Auch wenn Bataille dem Mausschen Theorem die Grundbestimmung des Sakralen als vergemeinschaftend, ambivalent, gefährlich, transgressiv usw. entnimmt, so will er das Sakrale im Gegensatz zur sozialen Anthropologie positiv bestimmen. Während Durkheim Bataille zufolge das Sakrale lediglich im Kontext des Sozialen zu sehen vermochte und deshalb das Sakrale bei ihm in stringenter Opposition zum Homogenen 148 | Georges Bataille: La Valeur d’usage de D.A.F. de Sade, in: ders., Œuvres complètes, Vol II, Paris 1970, S. 54-69, hier S. 61, zit.n. Bischof, Souveränität und Subversion, S. 189. 149 | Bischof, Souveränität und Subversion, S. 189. 150 | Ebd., S. 193.

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negativ bestimmt sei151, erfährt das Sakrale durch die ihm eigentümliche Souveränität bei Bataille eine positive Bestimmung. Die Souveränität des Sakralen, respektive Heterogenen, liegt in der Daseinserfahrung, die sie ermöglicht – eine exzessive Erfahrung des Verlusts, die nicht rational oder wissenschaftlich zu erfassen ist und die sich den Kategorien von Nutzen, Sinn und Herrschaft entzieht. Die heterogene Existenz kann also in Bezug auf das gewöhnliche (Alltags-)Leben als das ganz Andere bezeichnet werden; als inkommensurabel, wenn man diese Worte mit dem positiven Wert auflädt, den sie in der affektiven Lebenserfahrung haben.152

Als das »ganz Andere« lassen sich die sakralen bzw. heterogenen Praktiken, das Opfer, die Erotik, die Ekstase das Lachen usw. nicht vom Kalkül vereinnahmen. Als »innere Erfahrung« – und das macht ihre Souveränität aus – sind sie das Unmögliche. Das Unmögliche dieser Erfahrung besteht in der Situation des Subjektes, das Erlebte nicht versprachlichen bzw. ihm keinen kohärenten Sinn geben zu können. »Dem sprechenden Ich bleibt die Erfahrung verschlossen und dem souveränen Selbst die Rede.«153 Insofern ist die Kommunikation, von der Bataille spricht, die er auch als souveräne Kommunikation oder innere Erfahrung bezeichnet, wie wir bereits gesehen haben, eine ganz andere Kommunikation, innerhalb derer sich der Mensch jenseits seiner Subjektivität erfährt.154 Am Beispiel des Opfers haben wir bereits gezeigt, wie sich diese innere Erfahrung beschreiben ließe: Mit dem Sacrifizium (die Konnotation des Heiligen geht dem Opfer sprachlich voraus) verlässt das Opfer sowie der Opfernde die homogene Ordnung. Der Schock tritt an die Stelle des überlegten Kalküls, die Ekstase an die Stelle des rationalen Denkens. Mit der Aktualisierung des Todes werden die Regeln der profanen Welt, bestimmt 151 | »Durkheim sah sich vor der Unmöglichkeit, eine positive wissenschaftliche Definition des Sakralen zu geben: er hat sich damit begnügt, die sakrale Welt negativ als absolut heterogen in Beziehung zur profanen Welt zu bestimmen« (Bataille, Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, S. 16). 152 | Ebd., S. 18. 153 | Peter Bürger: Das Denken des Herrn. Bataille zwischen Hegel und dem Surrealismus, Frankfurt 1992, S. 60, zit.n. Moebius, Die Zauberlehrlinge, S. 347. 154 | Vgl. Kapitel I Verausgabung, Punkt 6.

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durch die Dauer und die Arbeit, überschritten und die »Würde« des Subjektes wird wieder hergestellt. Das Opfer und der Opfernde geraten in eine intime Kommunikation, in der sie sich als Menschen anerkennen. Diese Erfahrung ist weder der Ebene des Diskursiven noch der Erkenntnis zugänglich ist, da sie gerade den Verlust der Erkenntnis als Öffnung hin zum Unbekannten darstellt. Insofern hüllt sie sich ganz ins Schweigen. Diese Erfahrung des Außer-sich-Seins, in die das Subjekt gerät, wenn es den Bereich der Erkenntnis übertritt und welche sich auch als ein Zustand totaler Innerlichkeit beschreiben ließe, sieht Bataille auch durch die Poesie, die Kunst und die Literatur ermöglicht. Er spricht von einer inneren, souveränen Erfahrung, die nichts mit dem Willen zur Macht gemein hat. Ich nenne die Erfahrung eine Reise ans Ende des dem Menschen Möglichen. Jeder kann diese Reise auch nicht machen, aber wenn er sie macht, so setzt das voraus, daß die bestehenden Autoritäten und Werte negiert sind, die das Mögliche begrenzen […] Stets hatte die innere Erfahrung anderes als sich selbst zum Ziel, in das man Wert und Autorität verlegte.155

Das verbindende Moment der Kunst und des Sakralen liegt im Stattgeben dieser intimen Erfahrung des Unbekannten bzw. Unmöglichen sowie ihrem Fremd-Sein und ihrer Souveränität. Die souveräne Kunst entschlüsselt jedoch keine ungekannte Ordnung, sondern sie überschreitet das Bekannte und zeigt auf das Fremde. Sie ist die einzige Erinnerung an das bereits Vergessene, das einmal magische Funktion hatte und heute nur noch sinnlos anmutet. Indem sie die ständige Verhandlung über die Vorrangstellung des Sinns bietet und so dem Irrationalen Raum schafft, indem sie an das Fremde erinnern kann, ist sie souverän. Die Kunst kontrastiert mit einer Welt, die durch die Unterwerfung unter das Prinzip der Nützlichkeit zusammengehalten wird und setzt ihr eine andere sakrale Welt, eine Welt des Spiels entgegen […] Es scheint als verdanke sich die Kunst dem Bewußtsein, dass die Gewaltsamkeit des Erotischen in letzter Instanz mit der Gewaltsamkeit des Todes identisch ist […].156

155 | Bataille, IE, S. 18. 156 | Bischof, Souveränität und Subversion, S. 53.

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Dies zeigt sich bei Bataille in folgendem Bild: »Lachen, Trunkenheit, Opfer oder Poesie, die Erotik selber überdauern in einem Reservat, autonom, eingeordnet in die Sphäre wie Kinder im Haus. Sie sind in ihren Grenzen minderjährige Souveräne […].«157 Wie Kinder im Haus tobt die Kunst souverän und ermöglicht eine »unmögliche« Erfahrung, die der Gewaltsamkeit des Todes nahekommt. Dies macht bei Bataille ihre Souveränität und gleichzeitig ihre eingestandene Grenze aus. Wenn Bataille also von authentischer Kunst spricht, dann von einer solchen, die die verdrängten Bilder wieder an die Oberfläche bringt. Nicht umsonst konstatiert Bataille eine besondere Verbindung zwischen der Höhlenmalerei und der Kunst der Moderne.158 Die Kunst vermag auf eine Wahrheit zu verweisen, die in der Analyse der Gesellschaft, der Philosophie etc. unausgesprochen bleibt. Sie spricht das gesellschaftlich Unwahre aus, sie »praktiziert« den Tod, die Gewalt, die Angst, das Göttliche und die in der profanen Welt verbotenen Dinge, weil sich in ihr das Verbot performativ überschreiten lässt. Im Lachen, im Opfer oder in der Poesie, zum Teil sogar in der Erotik wird die Ergießung erreicht durch eine Modifikation, eine freiwillige und unfreiwillige, in der Ordnung der Objekte: die Poesie verfügt über Veränderungen auf der Ebene der Bilder, das Opfer tötet im allgemeinen Lebewesen, das Lachen resultiert aus verschiedenartigen Veränderungen.159

Indem die Menschen ästhetische und sakrale Ausdrucksformen schaffen, »sich-selbst-verschwenden«, finden sie eine Praxis der Veräußerlichung, die den verlorenen Rest und das Fremde in ihrem Leben reintegriert. Insofern ermöglicht die Kunst eine Erfahrungsdimension des Heiligen durch ihre Transgression. Das Ästhetische erweist sich – wenn auch nicht in begrifflicher Formulierung, so doch in der symbolischen Bilderwelt, die Bataille immer wieder heranzieht – als grundlegende Kategorie seines Denkens. Die Annahme, die Sphäre der Souveränität löse sich auf, da so157 | Bataille, IE, S. 261. 158 | »Es scheint eine geheime Kommunikation zwischen der ältesten Kunst und der Kunst der Moderne zu geben, die Bataille fasziniert. Was ihn an den zahlreichen Äquivalenzen zwischen Vorwelt und Moderne fesselt, ist die Wiederkehr dessen, was das klassische Ideal verdrängte« (Bischof, Souveränität und Subversion, S. 51). 159 | Bataille, IE, S. 259.

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wohl die Kunst als auch das Heilige, bedingt durch die Säkularisierung der Sphären, nur noch Gestaltungsphänomen und somit Fortführung des Alltags zu sein scheinen, ist demnach falsch. Ihre Souveränität können sie durch das ihnen immanente Moment der Irrationalität und Inkommensurabilität verteidigen. Doch was indiziert diese besondere Stellung des Ästhetischen bei Bataille und inwiefern kann es als Modifikation oder Ausdruck einer Heterologie bzw. des Sakralen verstanden werden? Bischof weist auf die sich gegenseitig bedingenden Modi von theoretischer und praktischer Heterologie hin. Die Methode, die Bataille inauguriert, ist auf die Notwendigkeit begründet, einen Wechsel der Erkenntnisebenen zu vollziehen. Sie impliziert, da es immer um die Erkenntnis des Heterogenen geht, also um das Paradox einer Erkenntnis dessen, was sich der Erkenntnis in gewisser Weise immer schon entzieht, einen Sprung von der objektiven Ebene der Analyse der objektiven Gegebenheiten heterogener Phänomene zur subjektiven Ebene, die mit der inneren Erfahrung identisch ist. Batailles Methode besteht darin, die wissenschaftliche Analyse der objektiven Gegebenheiten unter denen heterogene Phänomene in Erscheinung treten, so weit zu treiben, bis die Grenzen der objektiven Erkenntnis […] erreicht sind.160

Um das Wesentliche des heterogenen Seins nämlich »[…] jenes ansteckende Potential, das nur durch subjektive poetische Formen auszudrücken ist«161, aufzuspüren, treibt Bataille den Diskurs bis an die Grenzen des Sagbaren und der Kohärenz. Im Moment der Transgression springt der Diskurs bei Bataille über zur Ausführung. Dies lässt sich exemplarisch und in doppelter Hinsicht an seinen symbolischen Bildern des L’Anus solaire oder des L’Œeil pinéal darstellen: Der L’Anus solaire (Sonnenanus) und das L’Œeil pinéal (Himmelsauge) sind symbolische Bilder Batailles, die beide eine Verbindung zwischen dem hohen erhabenen Himmel bzw. dem Kopf und den Exkrementen herstellen. »L’anneau solaire est l’anus intact de son corps à dix-huit ans auquel rien d’aussi aveuglant ne peut être comparé à l’exception du soleil, bien

160 | Bischof, Souveränität und Subversion, S. 138. 161 | Ebd., S. 138.

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que l’anus soit la nuit.«162 In dem postum erschienenen Text Dossier de l’oeil pinéal163 entwickelt Bataille das Bild des Schädelauges164, das durch einen explosionsartigen Ausstoß der Exkremente, welche den Kopf zersprengen, entsteht und aus dem Schädel tritt. Dieses Schädelauge kann im Gegensatz zur gewöhnlichen horizontalen Sehkraft durch seine Aufrichtung ins Vertikale direkt ins Sonnenlicht blicken. Die auf der horizontalen Achse stattfindende Bewegung der Aneignung begründet die profane Sphäre der Arbeit und der Vernunft, während die vertikale Bewegung, die an die Bedingungen der Verausgabung und des Verlustes gebunden ist, eine ständige Öffnung darstellt, die nach oben und nach unten hin aus den Bedingungen der Profanen Welt herausführt.165

In dieser vertikalen Bewegung schafft das Schädelauge eine Öffnung zu den unreinen und verfemten Bereichen und ermöglicht es, diese zu sehen.166 162 | Georges Bataille: L’Anus solaire, in: ders., Œuvres complètes, Vol I, Premiers Ecrits 1922-1940, Presentation de Michel Foucault, Paris 1970, S. 79-86, hier S. 86. 163 | Georges Bataille: Dossier le l’oeil pinéal, in: ders., Œuvres complètes, Vol II, Ecrits posthumes 1922-1940, Paris 1996, S. 11-47. 164 | Bataille spielt hier auf die Zirbeldrüse (glande pinéal) an, »die an der unzugänglichsten Stelle der menschlichen Anatomie verborgen liegt und von den Biologen nicht selten mit einem unentwickelten Auge verglichen worden ist. Auch wenn ihre Funktion heute noch nicht vollständig erklärt worden ist, so ist doch ihre Bedeutung für »[…] viele psycho-physischen Prozesse, insbesondere für die, die mit der Sexualität zusammenhängen, unbestritten« (Bischof, Souveränität und Subversion, S. 120). 165 | Bischof, Souveränität und Subversion, S. 116. 166 | Auf die Figur der blendenden Sonne als für den Menschen unerträgliche (göttliche) Kraft und Symbol einer »unmöglichen« Erkenntnis, stoßen wir auch bei Goethe. Im Eröffnungsmonolog zu Beginn von Goethes Faust II muss sich der aus seinem Erholungsschlaf erwachte und zu neuer Vitalität erstarkte Faust vom blendenden Sonnenlicht abwenden. Er erblickt dann einen Regenbogen. Erst in dessen Brechung wird der Anblick des Sonnenlichtes erträglich. Faust kommt zur Erkenntnis: »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben« (J.W. Goethe, Faust. Der Tragödie Zweiter Teil, Stuttgart 1986, S. 8). Während im Abglanz der Sonne sich für Faust das Leben zeigt, sucht Bataille mit dem Sonnenauge ein »Werkzeug«, um

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Die beiden literarischen exkrementellen Körperöffnungen exponieren den Teil des Körpers, der laut Bataille, seit der Aufrichtung des Menschen das körperliche Tabu markiert. Sowohl der Sonnenanus als auch das Schädelauge bringen diese Öffnung wieder an die Oberfläche. Insbesondere im Phantasma des Sonnenauges führt Bataille den Diskurs des Heterogenen in einem doppelten Modus als heterogenen Diskurs durch. Hier kommt es einerseits zur Zersprengung des symbolisch reinen und rationalen Schädels und gleichzeitig dringt das Schmutzige an die Oberfläche. Die Verbindung von Anus und Schädel, Ratio und Exkrementen weist auf etwas hin, das sich bei Bataille immer wieder findet: Es ist der denkende Körper. Es geht nicht darum das Denken zu liquidieren, sondern darum, die Vorherrschaft des Kopfes, also des Symbols für Reinheit und Ratio zu beenden und den gesamten Körper als »Denk-Organ« einzuführen. Deshalb fragt Lehmann: »Aber warum sollte Bataille érotisme als ›innere Erfahrung‹ definieren, wenn es [nur, Anm. d. Verf.] um den Körper ginge, um die Rettung einer Natur vor der Erörterung durch Logos und Geschichte?«167 Vielmehr führt Bataille einen Diskurs über das Heterogene auf der Ebene eines Phantasmas und überschreitet somit die Grenze des Diskurses selbst hin zum Ästhetischen, Symbolischen und Unbewussten. Batailles bedingungslose Konnexion von Diskurs und Erfahrung, »[…] den Nexus zwischen sprachloser Erfahrung und signifizierender Rede, zwischen der verausgabenden abgründigen Lust und der Maschinerie des Bedeutens […]«168 inszeniert er in einem poetischen Bildnis – als würde die ästhetische Form den Rahmen bzw. das Skelett seines Denkens bilden – und bleibt so dem Paradox »das heterogene Sein« mit einer »homogenen Sprache«169 beschreiben zu müssen bzw. der Unsagbarkeit des Heterogenen treu. Diese doppelte Ebene zu schaffen, die Möglichkeit, die Theorie praktisch zu exerzieren, scheint Bataille in der ästhetischen Praxis angelegt zu sehen. Schließlich hat er die Auseinandersetzung mit dem Sakralen nicht einfach das »Feuermeer« zu sehen, von dem Faust sich abwendet. Der direkte Anblick des Sonnenlichtes ist im Faust die eingestandene Grenze, welche Bataille zu übertreten sucht. Faust geht den appolinischen Kompromiss ein und findet die Erlösung im Schein, Bataille jedoch sucht mit seinen Phantasmen des L’Anus solaire und des L’Œeil pinéal das gewaltvolle und rauschhafte Dionysische zu erfahren. 167 | Lehmann, Ökonomie der Verausgabung, S. 76. 168 | Ebd., S. 81. 169 | Vgl. Ebeling, Die Falle, S. 27.

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einer Geheimgesellschaft170 überlassen, ebenso wenig ist es bei einer Soziologie des Sakralen geblieben. Vielmehr hat er in einem literarischen Projekt seine die Erotik, die Verausgabung, das Opfer der Gabe und die HerrKnecht-Dialektik betreffenden Theorien exerziert. Ob nun im Begriff der Souveränität, des Heterogenen, des Sakralen oder der Kunst, es handelt sich um Varianten des selben Problems, nämlich um die Möglichkeit einer Erfahrung der Angst und des Unbekannten durch Verausgabung – die dann vor allem das Subjekt – außerhalb des sicheren und behüteten Bereichs der Vernunft – zur Disposition stellt. Mit seinem Himmelsauge soll der Mensch das erblicken, wovon er sonst seinen Blick abwendet. Und wir erinnern uns: Die Angst und das Wunderbare sind nur erreichbar in der Welt der Kunst. Diese Welt, die zugleich Angst und Ekstase provoziert, ist eine Welt, in der sich die Gestalten des Wunderbaren, die unverhoffte Gegenwart einer vom Fluch der Nützlichkeit befreiten Existenz, mit dem Tode vermählen.171

Wenn wir nun Batailles Projekt mit dem Theater verbinden und auf seinen katastrophalen, grenzüberschreitenden und verschwenderischen Charakter hin untersuchen, dann um dieser Spur zu folgen, die uns aufzeigen will, wie das Sakrale, die Überschreitung, die Poesie, der Tod, die Erotik und das Lachen als Verausgabung auf ästhetische Weise erfahrbar werden können. Diese Bilder im Theater aufzusuchen und lesbar zu machen wird die Herausforderung der folgenden Kapitel sein. Mit ihr verbindet sich die Frage nach dem Politischen bei Bataille und der Möglichkeit dieses im Theater durchzuspielen. Der Frage, was überhaupt das Politische bei Bataille sei, wollen wir über den erschütternden Gestus seines Schreibens – die Unter-

170 | 1936 gründet Georges Bataille mit anderen Intellektuellen aus dem surrealistischen Kreis die Geheimgesellschaft Acéphale. Ziel war es in geheimen, nächtlichen Treffen im Wald dem verlorenen Sakralen und dem Mythos auf die Spur zu kommen. In orgiastischen Riten und okkulten Inszenierungen sollte es zu extremen Selbstexperimenten kommen. An den Sitzungen nahmen u.a. André Breton, Jacques Lacan und Walter Benjamin teil. Genaueres ist allerdings nicht bekannt (vgl. Rita Bischof: Das tragische Lachen. Die Geschichte von Acéphale, Berlin 2010). 171 | Bischof, Souveränität und Subversion, S. 53.

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brechung, den Mangel, die Abwesenheit, den Entzug usw. – anstelle politischer Themen, nachgehen. Die hier vorgeschlagene These lautet: Dort, wo die Verausgabung im Theater auf der Ebene des Denkens wie des Körpers erfahrbar wird – wo fragmentiert, gebrochen, geöffnet, überschritten, entzogen, gekotzt, geschissen, geekelt, geopfert, gestorben wird – nur dort kann es zu einer Unterbrechung/Unterschreitung einer symbolischen Ordnung kommen. Das Soziale und Politische des Theaters ist tief verwurzelt in jenen Situationen der Sprengung, des Risikos, der Überschreitung und diese wiederum sind mehr oder weniger alle Variationen jener Verausgabung, der Bataille zeitlebens auf der Spur war. Es geht um »den Blick für das, was in aller Regel die Ausnahme bleibt, was nicht aufgeht und darum einen Anspruch darstellt: geschichtlich an die Erinnerung, gegenwärtig an die Abweichung.«172

172 | Hans-Thies Lehmann: Wie politisch ist postdramatisches Theater?, in: ders., Das Politische Schreiben, S. 11-21, hier S. 19.

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III. Alltag im Tempel Die Poesie ist zuerst ein natürlicher Ausdrucksmodus der Tragödie, der Erotik, des Komischen (und sogar vor allem des Heroismus): sie gibt der Ordnung der Wörter die großen Energievergeudungen wieder; sie ist das Vermögen der Wörter, die Ergießung zu beschwören, die unmäßige Verausgabung der eigenen Kräfte: sie fügt derart der bestimmten (komischen, tragischen…) Ergießung nicht nur das Fluten und den Rhythmus der Verse hinzu, sondern die der Unordnung der Bilder eigentümliche Fähigkeit, die Gesamtheit der Zeichen zu vernichten, die die Sphäre der Aktivität ausmachen.173

Templum: das Ausgeschnittene Wenn wir vom Theater als dem »anderen Raum« ausgehen, dem Raum, in dem andere Handlungen möglich sind, ein Ort, der sich von der Normalität und dem Alltag abgrenzt, in dem das Andere, Wunderbare und Schreckliche passieren kann, dann lässt sich das Theater als Tempel, als Ort der Besonderheit, als »sakraler« Ort – jenseits von Produktion und Nutzen – denken. Als das Ausgeschnittene ist der Tempel per definitionem von der profanen Welt getrennt und konstituiert eine sakrale Sphäre der Andersheit. Diese Funktion und Möglichkeit des ausgeschnittenen Raumes – des Theaters als Tempel – wurde nicht zuletzt in Anlehnung an die antike Tragödie von der Performance Art wieder aufgegriffen. Wir denken an Schechners Dionysus in 69. Hier ist der »sacred space« – die sakrale 173 | Bataille, IE, S. 260.

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Funktion des Raumes – eng verknüpft mit den »ritual actions« – dem Inszenierungskonzept des Rituals. Because rituals take place in special, often sequestered places, the very act of entering the »sacred space« has an impact on participants. In such spaces, special behavior is required […] Ordinary secular spaces can be made temporarily special by means of ritual action […] When I lead a performance workshop I insist that participants wear no street clothes, shoes, watches, or jewelry for the duration of the workshop. No one has a watch, so time is defined by our mutual experience. Each session begins with a careful sweeping and mopping of the floor. Such simple actions as sweeping and mopping in silence transport the workshoppers to a different place mentally and emotionally. These ritualized procedures help create a feeling of communitas even before the exercises begin.174

Die in den 1880er Jahren begründete Ritualforschung war im 20. Jahrhundert durch Theoretiker wie Arnold van Gennep und sein 1909 erschienenes Buch Les rites de passages bereits Teil der akademischen Tagesordnung. Theoretiker wie Mauss, Durkheim und van Gennep distanzierten sich von der Annahme, Rituale seien per se Phänomene primitiver Gesellschaften. Sie untersuchten erstmals jene Phänomene, die später vom Collège de Sociologie in der Sakralforschung aufgegriffen wurden. Das Ritual als gesellschaftliche Praxis der Vergemeinschaftung stand von nun an im Fokus. Rituale, indigene Praktiken, aber auch Alltagshandlungen wurden immer näher in das Feld performativer Praktiken gerückt. Hierbei sollte der Körper der Akteure und deren Handlungsfähigkeit jenseits sozialer Institutionen und traditioneller Textmodelle ins Augenmerk genommen werden. Das heißt, dass es die Kultur nicht jenseits ihrer Praktiken gibt, dass sie sich vielmehr »performativ« immer wieder aufs Neue konstituiert – z.B. in Ritualen sog. »primitiver« Völker, die sich ihres kulturellen Zusammenhangs immer wieder aufs neue versichern, indem sie z.B. eine Opferzeremonie vollziehen oder in entsprechenden säkularisierten Ritualen »moderner« Gesellschaften. Cultures are most fully expressed in and made conscious of themselves in their ritual and theatrical performances. […] A performance is a dialectic ›flow‹, that is, 174 | Richard Schechner: Performance studies: An Introduction. London 2002, S. 63.

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spontaneous movement in which action and awareness are one, and ›reflexivity‹, in which the central meanings, values and goals of a culture are seen ›in action‹, as they shape and explain behavior. A performance is declarive of our shared humanity, yet it utters the uniqueness of particular cultures.175

Damit wird eine die Geisteswissenschaften lange Zeit dominierende Vorstellung überholt, der zufolge ein fundamentaler Unterschied zwischen der modernen europäischen Kultur und nicht-westlichen Kulturen, aber auch zwischen der Kunst und dem Alltag bestehe. Die Vorstellung von einer westlichen Kultur, deren Selbstverständnis vor allem auf Texte und fixierte Werke zurückzuführen war, stand der Erkenntnis gegenüber, nicht-westliche Kulturen bezögen ihre identitätsstiftenden Akte über theatrale Prozesse, d.h. über jegliche Formen von »cultural performances«, die man im »zivilisierten« Europa so nicht antreffe. Diese Überzeugung ist durch den cultural turn der Geisteswissenschaften nachhaltig erschüttert worden. Mit dem Kulturanthropologen Victor Turner, dem Theateranthropologen Richard Schechner und dem Ethnologen Milton Stinger wurde vor allem aus kulturwissenschaftlicher Sicht die Bedeutung der »cultural performances« – also kulturelle Praktiken und Rituale – in den Blick genommen. Wie Kleidung getragen, Körperpflege betrieben, Feste gefeiert oder Demonstrationen durchgeführt werden, wie Hochzeiten vollzogen werden oder Beerdigungen stattfinden, schon immer waren Performances ein integraler Bestandteil des alltägliche Lebens und der alltagskulturellen Erfahrung. Performances sind kulturell kontextualisiert und werden in verschiedenen Kulturen unterschiedlich definiert.176

Es geht dabei weniger darum, dass Alltagshandlungen oder kulturelle Rituale nun plötzlich zu Performances werden oder gar »performativer« sind als zuvor. Vielmehr hat eine Betrachtung dieser »cultural performances« unter dem Aspekt von Inszenierung und Performativität neue 175 | Victor Turner in seiner Rede anlässlich der World Conference on Ritual and Performance 1981-1982, zit.n. Schechner, Performance studies: An Introduction, S. 20. 176 | Klein, Sting, Performance als soziale und ästhetische Praxis. Zur Einführung, S. 7.

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Perspektiven für die Entstehung von Verkörperungsprozessen und ihren Bedingungen geschaffen und die klare Trennung zwischen Kunst und Leben, aber auch westlicher und nicht-westlicher Kultur in Frage gestellt, formuliert sich unsere Gegenwartskultur doch mittlerweile weniger in schriftlichen Zeugnissen als vielmehr in theatralen Prozessen der Inszenierung und Darstellung, die erst durch mediale Vermittlung zu kulturellen Ereignissen werden.177 Vorbereitet durch die Ritualforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ihre Betrachtung von Ritualen und Alltagshandlungen als performative Praktiken wurde mit dem »cultural turn« in den Geisteswissenschaften – der zugegebenermaßen sehr unterschiedliche Phänomene zusammenfasst und sich eher als eine Vielzahl von turns formulieren lässt (»linguistic turn«, »performative turn«, »postcolonial turn«), hier aber insbesondere die neue Fokussierung kultureller Alltagspraktiken meint – in den 1960er Jahren jene Wende eingeläutet. Ansätze der Performance als Kunstform lassen sich zwar bereits in den 1920er Jahren erkennen, beispielsweise mit Max Reinhardt178 oder dem Dadaismus179, der tatsächliche Umbruch findet jedoch in den 1970er Jahren statt. Für Gabriele Klein und Wolfgang Sting ist die PerformanceKunst eine »emblematische Kunstform« in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche und fällt insofern nicht zufällig in eine Zeit, »[…] in der SelbstBewusstheit und Reflexivität, Simulation und Theatralität in allen Bereichen des Lebens so wichtig geworden sind.«180 Mit der Performance-Kunst entsteht ein neues Genre der »szenischen Kunst« – wobei diese Definition sogar selbst in Frage steht, da die Performance-Kunst gerade auf ihre Entgrenzung sowohl innerhalb der Künste als auch des Künstlerischen selbst abzielt – das die Restituierung einer »rituellen Wirklichkeit« und mithin die Infragestellung von Repräsenta-

177 | Ebd., S. 8. 178 | Vgl. Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 9-14. 179 | Klein, Sting, Performance als soziale und ästhetische Praxis. Zur Einführung, S. 11. 180 | Ebd.

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tion sucht. Durch den rituellen Vollzug soll es zu bestimmten »Affektwirkungen«181 kommen. Oft außerhalb des traditionellen Theaterrahmens angesiedelt, thematisiert die Performance-Kunst seit den 1970er Jahren alltägliche, soziale Praxis als theatrale Form. Theater: das ist nicht mehr nur Ort bürgerlicher Repräsentation, sondern eine unmittelbar intendierte Erfahrung des Realen, ein Ereignis und eine Selbstrepräsentation des Künstlers, eine Inszenierung von Authentizität. Das theatrale Spiel findet hier statt, ohne eine Begründung in einem Darzustellendem zu finden.182

Auch bei Schechner geht die Wiederbelebung des Ritus in der Performance mit dem Vollzug neuer Körperlichkeit bzw. neuer Körperkonzepte einher. Das Bestehen auf den tatsächlichen Vollzug der körperlichen Handlung anstelle eines so-tun-als-ob rückt das Theater und die Performances gewollt in die Nähe anderer »performativer Praktiken«. Diese Annäherung und die Verweigerung fixier-und tradierbare Artefakte zu schaffen, wirft eine weitere Frage bezüglich klarer Trennlinien auf, nämlich, wie sich andere Genres der »cultural performances« überhaupt von Theater oder Performance-Kunst unterscheiden lassen. Oder aber bringen die performativen Dimensionen von Ritualen, Zeremonien, Wettkämpfen und Festen nicht sogar diese klare Trennung von Kunst und Nicht-Kunst ins Wanken? Schechner plädierte deshalb 1992 dafür, das Spektrum der Performance auch um solche Praktiken wie »[…] Kochen, Heilen, Alltagsverhalten, Rituale, Demonstrationen usw.«183 zu erweitern. Für ihn sind Alltagshandlungen, Rituale oder aber Theater nur durch ihren Kontext unterscheidbar, nicht aber durch ihren strukturellen Charakter.

181 | Vgl. Hans-Thies Lehmann: Tragödie und Performance. Skizzen aus einem work in progress, in: Anton Bierl, Gerald Siegmund (Hg.), Theater der Fragments. Performative Strategien im Theater zwischen Antike und Postmoderne, Bielefeld 2009, S. 165-179, hier S. 174. 182 | Klein, Sting, Performance als soziale und ästhetische Praxis. Zur Einführung, S. 13. 183 | Ebd., S. 166.

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Any ritual can be lifted from its original setting and performed as theatre, just as any everyday event can be. This is possible because context, not fundamental structure, distinguishes ritual, entertainment, and ordinary life from each other.184

Diese Entgrenzung der Kunst bzw. des Theaters durch die Performance Art und ihre Beanspruchung des Alltags eröffnet ein interessantes Spannungsfeld. In diesem Spannungsfeld stoßen wir auf das scheinbare Paradox, dass obwohl es einerseits seit der Neoavantgarde der 60er Jahre um die Schaffung neuer Theatermittel geht, um eine Abkehr vom bürgerlichen Theater zu erreichen – einem Theater, in dem mit seinem Diktat des Textes gerade die Thematisierung des Alltags und die Problematisierung der bürgerlichen Moral, dominierte – es andererseits in der ästhetischen Praxis permanent um die Schaffung alltäglicher Situationen bzw. um eine Intensivierung des Alltags geht. In Kürze: Dem Theater verstanden als »Heterotopos«185 – »als Ort außerhalb aller Orte«186 – kommt eine spezielle Funktion zu, nämlich durch das Stattgeben einer bestimmten weil »ästhetischen Erfahrung« reflexiv, destabilisierend, analytisch und heterolog gegenüber gegebenen Normen zu operieren, diese zu unterlaufen, zu negieren und zu aktualisieren. Die seit der Antike und mit der Performance-Kunst reaktualisierte Möglichkeit des Theaters, kulturelle Rituale zu inszenieren – also 184 | Richard Schechner: Essays on Performance Theory 1970-1976, New York 1977, S. 86. 185 | Mit dem Theater als Heterotopos lehnen wir uns an eine Begrifflichkeit Michel Foucaults an. Michel Foucault entwickelt in seinem Text »Andere Räume« den Begriff der Heterotopie, um Orte zu bezeichnen, in denen eine »andere«, von der Norm abweichende Praxis stattfindet. Hierzu gehören laut Foucault unter anderem Psychiatrien, Gefängnisse und Friedhöfe, aber auch Kinos, Theater und Bordelle. Sie alle sind veränderliche Orte, »[…] wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können« (Michel Foucault: Andere Räume (1967), in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig 1993, S. 34-46, hier S. 39). 186 | Ebd.

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eine ästhetische Erfahrung von Ritualität zu schaffen, die sich als Vollzug von Körperlichkeit, Affekten, Gegenwärtigkeit, Plötzlichkeit, Unwiederholbarkeit und Gemeinschaftlichkeit ereignet – markiert das Theater als heterologen Bereich oder besser als »ausgeschnittenen Raum«. Insofern sich also das Theater durch die Thematisierung des Alltags auszeichnet bzw. Aufführungspraxis von Alltag ist, gleichzeitig durch den rituellen Kontext – wie wir beispielsweise bei Schechner gesehen haben – auf eine Intensivierung desselben abzielt, entsteht ein Spannungsfeld, innerhalb dessen die ästhetische Erfahrung des Alltäglichen als Ritual stattfindet. Diese gewissermaßen gesteigerte Erfahrung alltäglicher und sozialer Praxis als Ritual bricht mit dem traditionellen Theaterrahmen und markiert den Theater-Raum als Ausnahme. Was nun aber, wenn die Ausnahme zur Regel verkommt? Betrachten wir die ästhetische Fokussierung des Alltags als ein Erbe, welches von Epoche zu Epoche die verschiedensten Transformationen durchlaufen hat und heute mit all seinen Facetten – sowohl dem Ziel einer Zerstörung der Kunst als auch ihrer Verwirklichung – so heterogen, genreübergreifend und komplex wie nie war, können wir einerseits fragen, inwiefern wir immer schon in diesem Tempel – dem ausgeschnittenen Raum Theater – sind, wenn wir uns dauerhaft im Alltag befinden. Dies wiederum zieht die Frage nach der Funktion des Theaters nach sich. Was kann überhaupt noch in dem Tempel Besonderes passieren, wenn der Alltag überall zu sein scheint. Oder hat sich das Behaupten eines »anderen Raumes« marginalisiert? Wie wir in der Einleitung gezeigt haben, hat die Beanspruchung und Markierung des Alltäglichen durch die Performance-Kunst in der Tat zu einer scheinbaren »Allianz« mit ganz anderen Bereichen geführt – nämlich der Kreativwirtschaft und mit ihr dem Selbstverwirklichungszwang. Wie kann angesichts dieser »Allianz« noch ein widerständisches Potential performativer Künste angenommen werden, und wie lässt sich die Forderung nach Verausgabung (im Theater) als Widerlager noch aufrechterhalten, ohne sich der Feier des Spektakulären – einer erneuten Wertschöpfung – schuldig zu machen? Das Theater und sein Paradigma haben angesichts der eingangs gestellten Diagnose zwangsläufig Prozesse der Überarbeitung durchlaufen – die Problematik um die schizophrene Verbindung von Ökonomie und Ästhetik gehört inzwischen selbst zur Reflexion der darstellenden Kunst und ist in einer Vielzahl von Inszenierungen aufgearbeitet worden. Deut-

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lich wird, dass sich die Frage nach der »Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus« unentwegt in diesen Überarbeitungsprozessen niederschlägt – es sind Prozesse, die die Möglichkeit der »[…] Wieder-Aneignung des Selbst durch das Selbst, die De-Ökonomisierung der Seele, des Körpers, der Präsenz, der Sexyness; die Re-Politisierung, Re-Objektivierung, ReReifizierung von Fähigkeiten, Skills, Wissen«187 erproben. Es gilt nun zu untersuchen, wie sich diese Prozesse beschreiben bzw. wie sich jene ästhetischen Strategien theoretisieren lassen, die das Kreativsubjekt188 oder vielmehr seine Zerstörung im Auge haben, ohne sie vorschnell auf einen starren Begriff zu bringen. Wenn Bataille in der Poesie, der Tragödie, der Erotik usw. ein zerstörendes Moment ausmacht und in ihnen die Fähigkeit angelegt sieht, die Sphäre der Aktivität durch ihren vergeudenden Modus zu liquidieren, wäre dies ein erster Wegweiser zu einem Raum anderer Möglichkeiten – dem Templum. Die Beschwörung der Verausgabung eigener Kräfte jenseits produktiven Handelns soll sich an diesem Ort zeigen. Die Beschreibung einer heterogenen ästhetischen Praxis als dépense sucht die Möglichkeiten dieses Raums auszuloten. Immer – und dies lässt sich konsequent für die gesamte Untersuchung sagen – geht es mit dem Begriff der Verausgabung darum, eine Erfahrung des Ausnahmezustands, des Außersich-seins zu machen. Dieser Zustand wäre das Gegenteil einer kreativen Selbstverwirklichung, eines mit sich selbstidentischen Subjektes »[…] ohne kognitive Dissonanzen«189. Indem die Verausgabung die Vernichtung der Zeichen der Aktivität, die Erfahrung der Dezentrierung des Subjektes, den Schock der Wahrnehmung und der Destabilisierung freilegt, trifft sie den Kern unserer Modernitätsbestimmung und seines Subjekts. Es ist der ihr inhärente katastrophale Charakter, der für die Betrachtung 187 | Diedrich Diedrichsen: Kreative Arbeit und Selbstverwirklichung, in: Kreation und Depression, S. 118-128, hier S. 127-128. 188 | Diedrichsen beschreibt einen neuen Typus des Kreativarbeiters, der den »Selbstverwirklicher dieser ersten Nach-68-Generation« abgelöst hat und auf totale Ganzheitlichkeit bzw. »Einheit von Leben, Praxis, Alltag« setzt, sehr treffend: »Auf den Hippie der 70er, der mit wilden Haaren und endlosen Gitarrenläufen Selbstverwirklichung lediglich symbolisch verkörperte, ist nun der gepiercte, tätowierte, in Ernährung und Drogenkonsum ohne kognitive Dissonanzen lebende Trance- und Techno-Esoteriker als Modell getreten« (Diedrichsen, a.a.O., S. 126). 189 | Ebd. S. 126.

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des Theaters im Kontext sozialer, politischer und ethischer Fragestellungen fruchtbar gemacht wird. Das Spiel der ästhetischen Überschreitung kann dann als jener Modus bestimmt werden, dem eine Kraft immanent ist, die dem »Geist des Kapitalismus«190 standhält – gar sein Gegengift ist. Eine Ästhetik der Verausgabung zeigt mithin auf, dass das Prekäre unserer Zeit, dass all jene um sich greifenden Katastrophen Folgen einer Ausgrenzung bzw. Verfemung sind: des Grotesken, Irrationalen, des Wahnsinns, des Eros, des Todes. Sie ist der Indikator einer Rückkehr in Flammen191. Zur Beschreibung einer heterogenen ästhetischen Praxis wird sie als heterogene Theorie einen Diskurs der Grenze vermitteln. Es geht darum, die ästhetische Abweichung, das Unkontrollierte und Frenetische im Theater in eine theaterwissenschaftliche Theorie zu tragen – ohne es gleichsam begrifflich zu bändigen. Dies soll die hier verfolgte Ästhetik der Verausgabung leisten.

1. V om D enken der V er ausgabung zur V er ausgabung des D enkens Zu allererst sei gesagt, dass es bei Bataille um mehr geht als um einen Totenkult, ein esoterisches Manifest oder eine obszöne Körper-Praxis. Für Dietmar Kamper liegt das »Vermächtnis Georges Batailles« im »Denken mit zerbrochenem Kopf«.192 Es ist »[…] die Spur des Nichtwissens und der Ungewissheit«. Kamper spielt hier auf Batailles fundamentalstes Projekt an, nämlich die Liquidierung des Totalitarismus des Denkens, des Willens zur Wahrheit und einer Ordnung des Diskurses, welche »[…] jene gewaltige Ausschließungsmaschinerie«193 ist. Wenn wir also Ba-

190 | Vgl. Luc Boltanski, Ève Chiapello, a.a.O., S. 18ff. 191 | Baudrillard, Interview – Demokratie, Menschenrechte, Markt, Liberalismus – das geht mich nichts mehr an, a.a.O. Hierzu siehe auch S. 24. 192 | Dietmar Kamper: Denken mit zerbrochenem Kopf. Das Vermächtnis Georges Batailles, in: Vorreden zur Überschreitung, S. 295-299. 193 | Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses – Inauguralsitzung am Collège de France 2. Dezember 1970, Wolf Lepenies und Henning Ritter (Hg.), München 1974, S. 15.

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tailles Begriff der Verausgabung nachvollziehen wollen, dann müssen wir ihn zuallererst als Verausgabung des Diskurses verstehen. Michel Foucault reiht Bataille neben Nietzsche und Artaud in die Reihe derer ein, die »[…] in unserer Geschichte immer wieder versucht haben, diesen Willen zur Wahrheit umzubiegen und ihn gegen die Wahrheit zu wenden, gerade dort, wo die Wahrheit es unternimmt, das Verbot zu rechtfertigen und den Wahnsinn zu definieren […].«194 Wo es bei Bataille um das Opfer, den Tod, den Wahnsinn, den Potlatsch usw. geht, geht es immer erst darum, ihrer Spur im Denken zu folgen, allerdings nicht nach den Regeln jenes Diskurses der Ausschließung, von der Foucault spricht, sondern im Sinne des Fraktalen und Fragmenthaften, des Heterogenen und Paradoxen. In diesem Sinne lässt sich auch Batailles Forderung nach Intimität als Annäherung an sich selbst, als ekstatisches Denken – gegenüber einem selbstfremden Denken, welches das eigene Begehren ausblendet – nachvollziehen. Es stellt sich nunmehr die Frage, an welchem Punkt die verfemte Praxis, also die verausgabenden Handlungen – wie die Opferhandlungen, der Potlatsch, die Kommunikation etc. – mit dem verfemten Diskurs zusammenkommen. Derrida weist uns eine Spur: Die Dekonstruktion des Diskurses ist überdies keine einfache Neutralisierung in der Art der Ausstreichung. Sie vermehrt die Wörter, sie schleudert sie gegeneinander und reißt sie in den Abgrund einer endlosen und grundlosen Substitution, deren einzige Regel die souveräne Behauptung des dem Sinn enthobenen Spiels ist. Sie ist kein Rückhalt […] sondern eine Art von Zeichenpotlatsch, der die Wörter in der fröhlichen Affirmation des Todes verbrennt, aufzehrt und verschwendet: ein Opfer und eine Herausforderung.195

Derrida beschreibt hier den doppelten Modus, in dem der ekstatische Zeichenpotlatsch und ein ekstatisches Handeln zugleich im Aufsuchen einer heterogenen Sprache und in der Zerstörung »des Kult des Ganzen«196 stattfindet. Batailles Begriff der Verausgabung verbindet sich unentwegt mit einem verausgabenden Denken als Denken der Veraus-

194 | Ebd. 195 | Derrida, a.a.O., S. 417. 196 | Vgl. Kamper, a.a.O., S. 297.

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gabung, in dem der Begriff der Souveränität und mit ihm die ästhetische und sakrale Praxis als Untergrund dienen. Ohne Sprache keine Überschreitung, ohne Diskurs keine Erfahrung. Für alle Kategorien Batailles (das Lachen, das Heterogene, die Souveränität, der verfemte Teil, die Verausgabung…) gilt mutatis mutandis die gleiche Logik; sie definiert den Diskurs als Ort der Erfahrung, die dennoch nicht mit dem Diskurs identisch wird, sondern ihn durchquert.197

Am Beispiel des »Fragments« soll nun exemplarisch gezeigt werden, wie die Überschreitung bzw. Verausgabung des Denkens auf der Ebene der Sprache erfahrbar werden kann.

2. F r ak tal : F r agmente und andere Te x tpr ak tiken der V er ausgabung Erst Fragmente und Fraktale halten jene Leere des verschwundenen Menschen offen, in der es wieder möglich sein wird zu denken. Das ist die Spur des Nichtwissens und der Ungewissheit.198

Die folgenden Überlegungen zur Rolle des Fragments, Fragmentarischen und Fraktalen haben ihren Ausgangspunkt in Jean-Luc Nancys Betrachtung »Die Kunst – Ein Fragment«199, welche Batailles Spuren in Nancys Denken erkennen lässt. Es gibt laut Nancy zwei Arten von Fragmenten. Die erste Kategorie beschreibt das Fragment als Teil von einem Ganzen bzw. Abgebrochenes – wie der Teil einer antiken Büste. Er ist in sich absolut und referiert auf seinen Werkcharakter. Insofern ist diese erste Art von Fragmenten geschichtlich terminiert bzw. endlich. Solche Fragmente, die der zweiten Kategorie angehören, sind in ihrer ewigen Wiederkehr gewissermaßen zeitlos. Als immer schon Geteiltes 197 | Lehmann, Ökonomie der Verausgabung, S. 78. 198 | Kamper, a.a.O., S. 297. 199  |  Jean-Luc Nancy: Die Kunst – Ein Fragment, in: Jean-Pierre Dubost (Hg.), Bildstörung – Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung, Leipzig 1994, S. 170-184.

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gehören sie keinem Ganzen an und verweisen somit auch auf keinen anderen Bedeutungszusammenhang oder ein externes Absolutes. Vielmehr oszillieren sie als Ereignis zwischen »Ankommen und Stattfinden«, ohne dass je eine Präsenz vollendet würde. Worum es in diesem zweiten Fragmentbegriff geht, ist die Unterscheidung von einem transzendental gegebenen bzw. intelligiblen Sinn. An seiner Stelle schlägt Nancy einen sinnlichen Sinn vor, der sich im »Geteiltsein« bzw. dem »Auseinanderklaffen« der Sinneswahrnehmung erst hervorbringt. Insofern ist der sinnliche Sinn die Fragmentierung selbst. Diese Fragmentierung und mit ihr die Darstellung des abwesenden Sinns ist das Projekt der Kunst. Indem uns die Kunst auf den verschiedenen Ebenen der Sinneswahrnehmung, dem Sehen, Hören, Fühlen, Riechen usw. affiziert, lässt sie uns einen geteilten bzw. abwesenden Sinn zukommen, »[…] der ursprünglicher und verborgener als jede Bedeutung«200 ist. Dies will heißen, dass der Sinn der Existenz gerade in seiner Fraktalität besteht und sich auch nur in dieser zeigt. Nur das fragmentierte Sinnliche – also die Kunst – kann den Sinn der Existenz aussagen. Dieser jedoch kommt nicht als der Existenz Äußeres zu dieser hinzu, sondern ist vielmehr in sie involviert. »[D]ie Existenz ist ihr eigener Sinn«201 und insofern spricht Nancy von einem abwesenden Sinn, aus dessen Abwesenheit keine Fülle oder anderer Sinn ableitbar wäre. Die Unmöglichkeit, diesen abwesenden Sinn darzustellen, ohne »ihn in eine momentan abwesende Präsenz umzumünzen […]«202, ist, worum es im Fragment oder der Kunst – was bei Nancy das gleiche ist – geht.203

200 | Ebd., S. 180. 201 | Ebd., S. 174. 202 | Ebd., S. 177. 203 | Roland Barthes’ »stumpfer Sinn« entspräche einem solchen abwesenden Sinn. Der »stumpfe Sinn« entzieht sich der theoretischen Erkenntnis, weil er über die Handlung hinausschießt. Es ist ein Signifikant ohne Signifikat. Als Beispiel führt Barthes die übertriebene Schminke des Schauspielers an. Sie wird zwar bemerkt, entzieht sich aber einem rationalen Sinn. Man könnte sagen, dem stumpfen Sinn kommt Sinnlichkeit zu. Wie Nancy, der von einem Mehr bzw. einem Überschuss an Sinn spricht, ist der »stumpfe Sinn« bei Barthes ein Extra an Sinn, das sich nicht versprachlichen lässt. »Der stumpfe Sinn erstreckt sich über die Kultur,

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»Und die Kunst ist selbst immer die Kunst, es nicht zu sagen, die Kunst das Unsagbare im Darstellungsprozess selbst zu Ex-Position zu bringen.«204 An dieser Stelle ruft Nancy fast buchstäblich Bataille ins Gedächtnis zurück. Denn was anderes verfolgt die Kunst bei Bataille, als das Unmögliche? Steht nicht das »non-savoir« für diese Unsagbarkeit des Sinns und die Unmöglichkeit seiner Rede? Wir erinnern uns, für Bataille bedeutet die Hegel’sche Negation des sinnlichen Seins – an dieser Stelle könnte man sagen des sinnlichen Sinns – den Tod der Begierde. Denn für ihn kann es kein Wissen vom Unmittelbaren geben, es ist dem Wissen nicht zugänglich. An die Stelle des absoluten Wissens Hegels tritt bei Bataille das »non-savoir«. Es markiert den Bereich des Unsagbaren. Das, was Nancy mit dem Fragment, der Kunst bzw. einem abwesenden Sinn umkreist, ist der von Bataille immer wieder aufgeworfene blinde Fleck der Philosophie, welcher sich erst dort zeigt, wo das diskursive Wissen seine Grenze erfährt, dort, wo sich die Phänomene ihrer Gegenständlichkeit verweigern und nur in ihrer Erfahrung aufgehen. Das Fragment als Geschehenes, als Ereignis oder zugefallenes Stück, welches uns zu-teil wird und uns zu-kommt, bringt die Begegnung ins Spiel. Das Emotionale, Schockierende und Vergnügende dieser Begegnung ist die Stelle, an der Nancy sich als treuer Leser Batailles zeigt. Denn dort, wo das Fragment auftaucht bzw. uns begegnet, konstatiert Nancy eine Unterbrechung des Symbolischen. In seiner fraktalen Struktur zeigt das Fragment die Kontingenz bzw. das Geteilt-sein des Symbolischen auf – einem Symbolischen, an dem wir alle beteiligt sind – und unterbricht als Splitter oder Fetzen die kohärente Kontinuität des Sinns. Das »Mehran-Sinn« ist, was die Kunst als Fragment freilegt. Und die Lust an diesem »Mehr« ist, was uns in der Begegnung mit dem Fragment affiziert. Die Spur dieser Lust am »Mehr« bzw. am Überschuss des Sinns lässt sich bei Bataille aufspüren, wenn er über die Poesie spricht: Zu wirklicher Poesie konnte meines Erachtens nur der Haß vorstoßen. Die Poesie verdankte ihrer überwältigenden Bedeutung einzig und allein der Heftigkeit ihrer

das Wissen und die Information hinaus« (Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt 1990, S. 50). 204 | Nancy, Die Kunst – Ein Fragment, S. 177.

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Revolte. Doch nur durch Beschwörung des Unmöglichen gelangt die Poesie zu dieser Heftigkeit. 205

In einem Dyptichon206 beschreibt Bataille den Hass auf die Poesie auch als Hass der Poesie und zeigt mit diesem doppelten Bild, dass eben nur solche Poesie zu ihrer Heftigkeit gelangt, die die Unmöglichkeit aufsucht, den Hass, den Schrecken, das Heterogene, das Leid, den Schmerz und den Eros zu sagen, ohne sich an die Wiedergutmachung der schönen Form und das Darstellbare zu verraten. Deshalb ist dieser Hass auf die Poesie auch als Hass auf die Sprache zu verstehen. Nur ein Hass, der die »Kausalitäten streicht« und das Abgeschlossene verhindert – der sowohl auf der Ebene des Inhalts wie der Form das Heterogene exerziert – kann den Überschuss eines Textes produzieren. Dies wird in Batailles eigenen literarischen, poetischen, aber auch wissenschaftlichen Texten erfahrbar: All diese Texte sind nicht eindeutig einer einzigen Textgattung zuzuordnen. Bataille experimentiert mit heterogenen Formen, verbindet Dichtung und Prosa, Bild und Text, dramatische Szene, Lied, Tagebucheintragung und philosophische Reflexion […] All diese Texte kreisen um ein traumatisches Zentrum, das durch die Verbindung […] von hohem und niedrigem Heterogenen eine Theatralität textuell zu generieren sucht […] Bis in die Letter wird Theatralität über Textstrategien, die die Sinne und das Begehren ansprechen, generiert. 207

Wenn Finter von einer heterologen Textpraxis spricht, die die körperliche Beteiligung der Rezipienten fordert und gleichzeitig auf deren Begehren rekurriert 208, dann ließe sich dies mit Nancy als Lust an der Brechung formulieren. Der Hass, den Bataille quasi als Motor nutzt, um zu diesen Bruchstellen des Textes vorzudringen, ist nichts anderes als eine fragmentarische Schreibweise, die sich als Geste der Selbstzerstörung gegen den eigenen

205 | Georges Bataille: Das Unmögliche, München 1987, S. 7. 206 | Vgl. Finter, Poesie, Komödie, Tragödie oder die Masken des Unmöglichen, S. 261. 207 | Ebd., S. 267. 208 | Vgl. ebd., S. 269.

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Schreibprozess richtet. Nur so kann der Hass auf die Poesie produktiv als Hass der Poesie gelesen werden. Patrick Primavesi weist in seinem Aufsatz »Tragödie, Fragment und Theater« darauf hin, dass sich im Fragment ein weiterer Aspekt manifestiert: der Tod des Autors. Das Krisenhafte, das sich in den Rissen, Abbrüchen und Unterbrechungen des Fragments zeigt, wird lesbar als Rückzug des Autors, im Sinne eines »sich aufspaltenden Sprechens«209 und einer Selbstunterbrechung. Diese Krise im Sprechen und Schreiben des Autors exponiert einerseits die Fragmentierung des Subjektes selbst und andererseits zeigt es im Gegensatz zur Geschlossenheit des dramatischen Textes, dass mit der Produktion und Rezeption des Fragments ein Moment von Performanz einhergeht. Das Fragment lässt die Verausgabung zu, indem es sich der Ganzheit des Werkes entzieht und gleichsam den Gestus der Selbstzerstörung performativ ausstellt. Es verausgabt sich selbst und führt im selben Moment zu dieser Erfahrung eines »Denkens mit zerbrochenem Kopf«, in dem der Mensch als fraktales bzw. geteiltes Subjekt wieder auf den Plan gerufen wird. Mit Primavesi ließe sich dies »Denken mit zerbrochenem Kopf« so formulieren, dass mit dem Fragment als rhizomatisches, enthierarchisierendes Wuchern des Textes eine spezifische Form von Erfahrung stattgegeben wird, die sich bereits im Lesen des Fragmentes zeigt. Auf der Ebene der Inszenierung des Textes führt dieses Nebeneinander verschiedener gleichrangiger Versatzstücke des Textes zu einem Demokratisierungsprozess, denn das Fragment fordert durch das Fehlen eindeutiger Anordnungen neue szenische Situationen und Inszenierungsformen, die eine »[…] Praxis der Aus-Legung vor und mit Zuschauern«210 verlangt. Neben Goethes Faust-Fragmenten und Büchners Woyzeck-Fragmenten nennt Primavesi vor allem Brechts Fatzer-Material als Zeugnis einer »[…] den Schreibakt durchstreichenden und auf paradoxe Weise fortsetzenden Performance.«211 Ein Hinweis Primavesis zu Brecht fällt an dieser Stelle besonders ins Auge, da er auf konkrete Weise ebenso auf Bataille zutrifft:

209 | Vgl. Patrick Primavesi: Tragödie, Fragment und Theater, in: Theater des Fragments, S. 147-163, hier S. 149. 210 | Primavesi, a.a.O., S. 161. 211 | Ebd., S. 162.

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Ein »[…] Einbruch der Theorie ins Spiel, eine mit den Szenen eng verknüpfte Ebene der Reflexion […]«212, die durchaus auch im Widerspruch zueinanderstehen können, machen laut Primavesi das Fatzer-Material zu einer Performance, vor allem deshalb, weil das Oszillieren zwischen Spiel und Theorie, Fabel und Reflexion die Auslegung dem Zuschauer überlässt, der den Text wie eine »offene Wunde«213 vorfindet. Wir sind erneut beim Bild der »offenen Wunde« angelangt, so hatte Ebeling Batailles literarische Arbeiten beschrieben. Auch in ihnen manifestiert sich der Entzug des Subjekts – die Zerrissenheit des Menschen – durch eine »aufs heftigste gesteigerte Subjektivität«214 bzw. höchst subjektive Sprache. Die »offene Wunde« des Bataille’schen Textes liegt ebenfalls in den Rissen und Spalten, die sich aus der Verstricktheit einer subjektiven, erotischen Sprache und der theoretischen Reflexion ergeben. Madame Edwarda befindet sich präzis an dem Scheitelpunkt von Sprache, an dem sich ein Schreibender gegen die Konsequenzen seines eigenen Schreibens auflehnt: Er weigert sich, sein unmittelbares Erleben der Vermittlung der Sprache zu opfern. 215

Eine den Schreibakt und gleichsam den Autor durchstreichende Textpraxis, in der sich Theorie und Praxis auf heterogene Weise verbinden und so den Text nicht nur zu einem kontingenten Feld der Auslegung, sondern zu einem verwundbaren und sensiblen Material macht, bestimmt Batailles literarischen Gestus. Das, was der Begriff der »Wunde« sowohl bei Brecht als auch bei Bataille impliziert, ist einerseits das Resultat einer Verletzung oder Überschreitung und andererseits der daraus entstehende Zustand des Schmerzes und der Vulnerabilität. Dem Text wird so paradoxerweise eine sinnliche Eigenschaft bzw. eine Sinnlichkeit zugesprochen, die über ein Thematisieren der Sinnlichkeit hinausgeht – dieses vielleicht sogar liquidiert oder zumindest in Frage stellt. Die »Unlesbarkeit« der Bataille’schen und Brecht’schen Texte – hier ist vor allem von den Lehrstücken Brechts und den Fatzer-Fragmenten die Rede – lassen den Leser in eine Falle tappen. Die Falle – so bezeichnet 212 | Ebd., S. 162. 213 | Ebd., S. 162. 214 | Ebeling, Die Falle, S. 18. 215 | Ebd., S. 19.

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Ebeling Batailles literarische Operation der Unmöglichkeit der eigenen Rede – zeigt sich bei Brecht als »Erkundungsfeld, voll von Halbzerfallenem«.216 Dem anderen Brecht217 auf der Spur, macht sich Lehmann für eine Relektüre stark, die Brecht zwischen Nietzsche und Artaud ansiedelt. Finden wir nicht Bataille auf diesem Posten wieder? Wenn wir einerseits die Brecht’schen Begriffe und Kategorien betrachten – das Einverständnis, das Sterben-Lernen, die Schuld, die Gabe, das Schweigen, die Gemeinschaft etc. und andererseits das berücksichtigen, was wir mit Nancy und Finter heterologe Textpraxis genannt haben – dann wird immer deutlicher, worin eine Verbindung zwischen Brecht und Bataille bestehen könnte. Folgen wir Lehmanns Hinweis, so ließe sich eine andere Brecht/ Bataille-Lektüre ermöglichen – vielleicht sogar eine, die ihre Komplizenschaft aufspürt, um Licht in jenes Dunkel zu bringen, was das Politische, das Ästhetische, das Souveräne, das Theatrale dieser Autoren miteinander verbindet.

2.1 Die Herren B. – Fatzer und Madame Edwarda Die Form, nämlich keiner eindeutigen Form zu folgen, führt bei Batailles Texten in ein Zwischen von Literatur und Philosophie. In »Madame Edwarda«218 scheint diese Genreüberschreitung exemplarisch. Ebeling sieht in der Erzählung die »Grundzüge des Bataille’schen Werkes« gebündelt, gerade weil hier die Praxis am deutlichsten in die Theorie einfällt und diesen Unterschied unterläuft. In seinem erotischen Werk geht es Bataille um die Möglichkeit einer erotischen Erfahrung, in der die Wahrheit der Erotik als eine »tragische« gefasst ist. Die Tragik der Erotik besteht in doppelter Weise: einerseits in ihrer Verfemung und andererseits in jenem Prinzip, auf das diese Verfemung hindeutet, nämlich, dass Freude bzw. Lust untrennbar von Schmerz und Tod ist. 216 | Hans-Thies Lehmann: Der andere Brecht, in: Das Politische Schreiben, S. 202-281, hier S. 207. 217 | Mit »Der andere Brecht« plädiert Lehmann vielmehr für eine andere Lektüre Brechts als für eine andere Aufarbeitung seiner Biografie (ebd., S. 236). 218 | Georges Bataille: Madame Edwarda, in: ders., Das öbszöne Werk, S. 56-78, Hamburg 2007.

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Brechts Fatzer wiederum – ein Un-Text, weil keinem Genre zuweisbar und eher ein Stück im Sinne eines »Fetzen«219 – ist zweifach das Thema des Versuchs und des Scheiterns, sowohl textimmanent – »Fatzer bringt die Versuche zum Scheitern«220 – als auch was Brechts Schreibprozess betrifft. Bei Fatzer »[…] hat Brecht gerade die Krise seines Schreibprozesses hier zur theatralen und öffentlichen Angelegenheit erklärt […]«221 Beide Texte nehmen einerseits die Unmöglichkeit ihrer eigenen Rede, ihrer Umsetzbarkeit oder Lesbarkeit und andererseits die Möglichkeit ihres Scheiterns in sich auf und sind insofern ein rücksichtsloses Schreiben bzw. ein Schreiben ohne Rücksicht auf das Mögliche. Brecht selbst liefert den Hinweis auf das Unmögliche: »Das ganze stück, da ja unmöglich, einfach zerschmeißen für experiment ohne realität! zur »selbstverständigung«.222 Die Dramaturgie des Zwischen, gemeint ist die reflexive Problematik von ästhetischer Praxis und Kommentar, sowie die Schrift als Handlung anstelle der Repräsentation macht die Destruktivität und die Komplexität sowohl der Madame Edwarda als auch der Fatzer-Fragmente aus. Was Primavesi über den performativen Gestus des Fatzer sagt, ist auf Batailles Erzählung übertragbar: Es geht um ein öffentliches Experiment und nicht um eine Fertigstellung. Die performative Natur des Experiments – das Aus-probieren erfordert eine »[…] Praxis der Aus-Legung vor und mit Zuschauern«223 bzw. Lesern.

2.2 »Vor allem wissen« Fatzer beginnt vor allem Wissen. So ließe sich die erste Aus-Legung des Lesers formulieren. Der Einstieg in das Fatzer-Fragment als Öffnung zu einem vor-wissentlichen Zustand ist auch der Einstieg in einen Versuch 219 | Vgl. Lehmann, Der andere Brecht, S. 250 220 | Bertolt Brecht: Fatzer, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Stücke 10. Stückfragmente und Stückprojekte. Teil 1, Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei (Hg.), Band 10, Berlin und Weimar, Frankfurt 1997, S. 506. 221 | Primavesi, a.a.O., S. 162. 222 | Bertolt Brecht in einer Notiz zu Fatzer, in: Reiner Steinweg (Hg.), Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen, Frankfurt 1976, S. 77. 223 | Primavesi, a.a.O., S. 161.

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– den Versuch Fatzers, Essen zu beschaffen und die »Versuche« Brechts, einen Ur-Fatzer zu schaffen – welcher ja gewissermaßen aus der Situation des Nicht-Wissens, des fehlenden eindeutigen Beweises resultiert. Der Versuch ergibt sich erst aus dem non-savoir – um beim Bataille’schen Vokabular zu bleiben – und ist deshalb die performative Ausführung desselben hin zu einem nicht absehbaren Ergebnis. Fatzer markiert somit direkt zu Beginn seinen souveränen Bereich sowie den des Textes, nämlich als Text außerhalb der wissenschaftlichen Diskursivität und als Person Fatzer und Deserteur außerhalb der gesellschaftlichen und moralischen Spiel-Regeln zu operieren. Bei »Madame Edwarda« wiederum setzt der Text laut Ebeling dort an, wo der philosophische Diskurs als Signifikanz endet. Madame Edwarda markiert als Hure ganz ähnlich wie Fatzer den verfemten Bereich der Gesellschaft. Doch dies bleibt nicht ihre einzige Funktion. Wenn Brechts Huren nichts »von der dämonisch-revoltierenden Aura, die ihnen etwa bei Baudelaire eignet […]« haben, dann kommt sein Egoist Fatzer der Bataille’schen Hure Edwarda näher als die Brecht’schen Huren etwa. Doch blicken wir kurz auf das, was Brechts Huren sind: Sie sind nicht Träger eines höheren oder tieferen Wissens, sind aber umgekehrt erst recht nicht realistisch gezeichnet, sondern allegorische und zeichenhafte Gestaltungen für den Verrat an der Liebe, den die Gesellschaft in sich trägt – Verrat, der sie sogar begründet, weil nur er die Sachlichkeit der Tauschverhältnisse begründen kann. Darum nicht einfach als Inkarnation der Ware, sondern als Verkörperung der im Verkehr der Prostitution virulenten Verkehrung von Affekt in Tausch können sie Figur des bürgerlichen Subjekt sein […] so steht die käufliche Liebe ein für eine komplexe Realität und gesellschaftliche Struktur menschlicher Kommunikation unter Bedingungen der Warengesellschaft […] so sind die Träger des gesellschaftlichen Ganzen gerade aufgrund einer gewissen Auswechselbarkeit imstande, sich zu vereinen. 224

Eben diese Verkörperung des bürgerlichen Subjektes der Brecht’schen Huren ist der Punkt, von dem Edwarda aus gedacht werden kann – jedoch als ihr Negativ. Edwarda ist nicht einfach nur dämonisch-revoltierend, sondern dem bürgerlichen Subjekt ganz und gar entgegengesetzt. Sie ist Trägerin des Erotismus, nicht eines gesellschaftlichen Ganzen, insofern 224 | Lehmann, Der andere Brecht, S. 246.

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hat sie keine Ware zu tauschen, sondern steht auf profundeste Weise für die rückhaltlose Gabe. Das, was sie gibt, ist die Erfahrung der Verausgabung indem sie den Schrecken, den Schmerz, den Ekel, den Wahnsinn und den Tod darstellt und somit das Bewusstsein in einem Exzess an seine Grenzen führt. Edwarda ist eine Falle im doppelten Sinn: als Hure und als Text! Als Hure, die immer wieder von ihrer Falle spricht, so als locke sie den Betrachter im Text aber auch den Leser auf ein ungewisses, gefährliches Feld. Willst du meine Falle sehen? Das Obszöne wird hier lesbar als der Bruch eines Verbots. Das Obszöne bedeutet an dieser Stelle nichts anderes als die Infragestellung einer Sprache. Sie geht in ihre Falle, sobald sie nach dem Obszönen fragt […] Mit der Entblößung ihrer Falle lockt Edwarda ihren Betrachter (und damit der Autor den Leser) in eine Falle. 225

Warum spricht Edwarda von einer Falle? Worin besteht die Gefahr dieser Falle und inwiefern ist der Leser davon bedroht? Lassen wir diese Fragen zunächst in der Schwebe und blicken zum Fatzer. Auch hier finden wir die Falle wieder, allerdings als Loch: Das Vaterland auf der Landkarte ist gut, aber da/ Ist jetzt ein Loch, wo wir herauskommen 226 Vom vorigen Monat an/ Hab ich keine Lust mehr und schaue/ Wo ein Loch ist, daß ich herauskomme 227

Oder: Alles geht weiter. Freilich das kriecht Noch mit zermalmter Kniescheib Auf ein behaartes Loch zu. 228

225 | Ebeling, Die Falle, S. 100-102. 226 | Brecht, Fatzer, S. 401. 227 | Ebd., S. 400. 228 | Ebd., S. 501.

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Beim Fatzer zeigt sich der doppelte Sinn des Loch-Bildes bereits textimmanent. Hier ist einmal vom Loch als einem Ort oder Punkt des Ausweges die Rede und an anderen Stellen vom »behaarten Loch«. Während man zunächst das Loch auf der Landkarte völlig getrennt vom Geschlechtsteil lesen könnte, entsteht die doppelte Metapher spätestens in einem anderen Fragmentteil, welches nicht einmal das Loch explizit nennt, es aber bildlich darstellt als Ort, an dem Vor allem wissen alles begann: An welchem Punkt der Landkart wir Aus der blutbeschmierten, undeutlichen, verdammten Erdkruste Herausgekrochen sind 229

An dieser Stelle des Herauskriechens muss es ein Loch geben. Das Bild einer Geburt liegt nah. In diesem doppelten Bild eines Erdlochs, eines Verstecks, eines Auswegs einerseits und andererseits einer blutigen Wunde, dem weiblichen Loch, aus dem wir vor allem Wissen kommen, liegt die Falle »Fatzer«. In eben der Weise, wie Brecht mit Fatzer keine vorläufigen Gewissheiten liefert, sondern er sich vielmehr »[…] in solcher Radikalität über die eigenen politischen und theatralen Selbstwiderspruche […]«230 verständigt, kann Edwarda als selbstreflexiver Text gelesen werden. Die Frage: »Was ist zu tun in einer Welt, in der es nach dem Ende der Geschichte der Vernunft nichts Sinnvolles zu tun gibt? Was soll dieser, letzte Mensch‹ unternehmen, der erkannt hat, dass alles Menschsein Handeln, aber alles Handeln Zertstörung bedeutet?«231 ist in beiden Texten virulent und gerät durch den Zerfall – nicht nur der Akteure – sondern der Sprache selbst an die Oberfläche. Die Gewalt der Akteure zeigt sich immer auch als Gewalt (an) der Sprache. Diese Gewalt könnte man als Einbruch bezeichnen. Was da in die Sprache einbricht, ist das Obszöne. Sowohl Fatzer als auch Edwarda sprechen obszön. Das ist die erste Ebene der Falle. Die zweite Ebene ist der doppelte Modus, in dem beide Texte »[…] durch ihre Übersetzung des

229 | Ebd., S. 499. 230 | Lehmann, Der andere Brecht, S. 250. 231 | Ebeling, Die Falle, S. 26.

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Mentalen ins Gestische […]«232 operieren. Dies bezeichnet, was wir zuvor den performativen Gestus der Texte genannt haben. Er zeigt sich insbesondere in den irreduziblen Stellen der Texte, wo der Sinn überschritten und der Text vielmehr durchgeführt wird: »So schaute mich Edwardas Falle an […] voller Leben wie ein abstoßender Krake.«233 Nichts an diesem grotesken Bild folgt einer sinnerfüllten, kausalen Darstellung. Es ist die Überschreitung der Repräsentation hin zu einer »Entgleitung«234 der Sprache. Der »Entzug der Thesis«235 – die Unmöglichkeit der eigenen Rede bzw. das Scheitern des Verlangens das Unmögliche sagen zu wollen, ohne den Grenzen der Sprache zu erliegen, also ein Denken an der Grenze – führt beide Autoren dazu, Texte des Zerfalls oder besser zerfallene Texte zu verfassen. FATZER handelt von einer antizipierten Revolution. Es fällt aber auf, dass Brecht, der die Revolution wünschte und für denkbar hielt, diese Revolution als Bild nicht gestalten mochte. Es stellte sich ihm der Vorgang der Umwälzung vielmehr in der Figur der Desertion dar, als buchstäbliches Sich-Absetzen, als Ablassen, Nichtmehr-Machen, Unterlassen […] das eigentliche Thema des Theaters wird der Zerfall […]. 236

Auch Bataille wünschte sich die Revolution und dachte so intensiv wie kein anderer die Möglichkeit der souveränen Gemeinschaft. Wir werden später bei Jean-Luc Nancy lesen, dass Bataille den Gedanken der Gemeinschaft gegen Ende seines Schreibens zunehmend aufgab und die Souveränität den Liebenden und dem Künstler vorbehielt, so dass auch für ihn die Souveränität der Gemeinschaft weniger in der Aktion als im »NichtTun« bestand. Dieses »Nicht-Tun« ist als Unterbrechung zu verstehen – quasi ein aktiver Zerfall bzw. etwas Aktivisches, was aber der Aktion im Sinne eines Voranschreitens entgegengesetzt ist. Herbeigeführt wird diese Unterbrechung durch das grotesk Obszöne. Mit den Namen der beiden Protagonisten Fatzer und Edwarda beginnt die Tragik der beiden Texte, die in der 232 | Lehmann, Der andere Brecht, S. 252. 233 | Bataille, Edwarda, S. 67. 234 | Vgl. Ebeling, Die Falle, S. 29. 235 | Vgl. Lehmann, Der andere Brecht, S. 254. 236 | Ebd., S. 253-254.

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problematischen Verknüpfung von Lust, Obszönität, Selbst-Auflösung und Passivität liegt. Edwarda. Was für ein merkwürdiger Name. Handelt es sich bei dem abweichenden Gebrauch einer weiblichen Form von Edward dem Königlichen, um einen Hinweis auf eine gewisse […] Souveränität? Oder ist Edwarda einfach nur ein unmöglicher Name?237

»FATZER bleibt ein Fetzen.«238 Der zerfetzte Name »Fatzer« an einem Ende und der unmögliche Name »Edwarda« am anderen sind die beiden Pole, von denen wir uns dem Zentrum dieser Texte nähern. Brecht selbst nannte dieses ein »Furchtzentrum«, für Bataille war es die »Perspektive des Todes«.

2.3 Furchtzentrum Sexualität Hast du Angst vor allem, so lies dies Buch, aber zuvor hör zu, was ich dir sage: wenn du lachst, so nur, weil du Angst hast. 239

Die Erzählung der »Madame Edwarda« beginnt mit Angst: »An einer Straßenecke befiel mich die Angst, eine schmutzige und rauschende Angst begann mich zu zersetzen […]«.240 Dies ist der erste Schritt des Zerfalls. Er beginnt mit der Angst, welche durch Lust ausgelöst wird. Bei Brecht stellt sich die Furcht, die das besagte Zentrum seines Fatzers ausmacht, anders dar; nämlich lächerlich. Fatzer fürchtet den Sexus nicht, er lacht vielmehr darüber: »[…] ich sag’s offen: ich tu’s mitunter, ich weiß auch du, s’ ist natürlich und rasch vorbei, nur fast zum Lachen […]«.241 Lehmann stellt fest, dass das sexuelle Begehren bei Brecht ein »NichtThema« ist.242 Als solches ist es nicht einfach abwesend, sondern operiert vielmehr als das Komische. Dies wird an den Stellen des Fatzers evident, 237 | Ebeling, Die Falle, S. 74. 238 | Lehmann, Der andere Brecht, S. 250. 239 | Bataille, Edwarda, S. 65. 240 | Ebd, S. 66. 241 | Brecht, Fatzer, S. 472. 242 | Vgl. Lehmann, Der andere Brecht, S. 241.

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in denen der Sexus im Hintergrund operiert, vordergründig aber darüber gelacht wird. Die häufig auftretende Ununterscheidbarkeit von Mensch und Tier kann in diesem Sinn gelesen werden: Der Soldat zum Schlachter: »Der ganze Zug ist ein Proviantzug […] Samstag früh geht’s los«, »Aha! Dann werdet ihr geschlachtet!« antwortet der Schlachter. Daraufhin Fatzer: »Dieser blutige Geruch von fünf Ochsen wird mich führen.«243 Der Hunger des Krieges und das kannibalistische sich-gegenseitige Auffressen ist hier vordergründig Thema, auf den zweiten Blick aber verbindet sich mit dem Gefressenwerden eine animalische Perspektive, die sich auch auf den Sex bezieht, beispielsweise wenn Fatzer auf die Frage einer Frau, ob er soviel wie vier Männer sei, antwortet: »Probieren geht über studieren.«244 Diese kannibalistische Verbindung von Fressen und Sex bleibt im Fatzer immer ins Komische eingebettet und endet im Lachen über den Sexus. Bei Bataille bedeutet über die Erotik zu lachen, den Schmerz und den Schrecken des Eros nicht aushalten zu können. Weshalb Bataille in seinem Vorwort die Ernsthaftigkeit seiner erotischen Schriften explizit macht. Aber dieses Lachen, das den Gegensatz von Lust und Schmerz betont (Schmerz und Tod sind ehrfurchtgebietend, während die Lust lächerlich, verächtlich ist), enthüllt auch ihre tiefe Verwandtschaft. Das Lachen ist nicht mehr ehrfurchtsvoll es ist Zeichen des Schreckens. Das Lachen ist Ausdruck der Kompromißhaltung, die der Mensch gegenüber dem einnimmt, was ihn abstößt, wenn dieses ihm nicht mehr ernst erscheint. 245

Bevor wir aber vorschnell die Kontroverse herauf beschwören, werfen wir einen genaueren Blick auf das Lachen: Beide, Brecht wie Bataille, sprechen vom Lachen über die Geschlechtsorgane. Für Brecht ist dies die Art »[…] das Geschlechtliche zu lehren«246, während es für Bataille Ausdruck von Heuchelei bedeutet. An dieser Stelle ist es unabdingbar, die Nuancen freizulegen, um die schon verloren geglaubte Spur eines Kreuzweges aufzuspüren. Spricht 243 | Brecht, Fatzer, S. 499-500. 244 | Ebd., S. 499. 245 | Bataille, Edwarda, S. 57. 246 | Brecht, Fatzer, S. 527, zit.n. Lehmann, Der andere Brecht, S. 248.

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Brecht von den über den Sex lachenden Knaben, dann spricht er auch vom Schrecken. »Aber nicht um den Lernenden von der Liebe abzuhalten, soll man ihm die Liebe so schmutzig oder unnatürlich schildern, sondern allein um ihm die Wahrheit zu sagen.«247 Das Lachen wird also ausgelöst angesichts des Schreckens und des Grauenhaften des Sexus. Und hierin liegt die Wendung hin zu Bataille – denn dieses erhitzte Lachen der Knaben finden wir auch bei ihm wieder: Über diese Wahrheit (nämlich dass die Erotik Schrecken und Tod bedeutet, Anm. d. Verf.) können wir am Ende sicherlich lachen, doch diesmal mit einem vollständigen Lachen, das nicht haltmacht bei der Verachtung für das, was abstoßend sein kann, wo der Abscheu uns versinken lässt. 248

Die Wahrheit des Sexus liegt somit für beide im Schrecken und im Tod. Ein Lachen, das sich angesichts dieser Wahrheit verausgabt und insofern als Freude »[…] das gleiche ist wie der Schmerz […] und der Tod […]«249 darum geht es beiden. In Edwarda und Fatzer zeigt sich dieser Schrecken insbesondere dort, wo der Genuss mit dem Bösen und dem Wahnsinn symbiotisch wird. Edwarda und Fatzer genießen rückhaltlos und darin sind sie böse und darüber lachen sie. Dies wird auch zur Schreckens- und Lusterfahrung für den Leser und um diese Erfahrung – dies scheint bei beiden Autoren evident – soll es gehen. Wenn nun zuvor vom Lachen die Rede war, können wir an dieser Stelle sagen, dass es die Tragik dieser Texte ist, die diese Erfahrung bestimmt. Lehmann zeigt die verschiedenen Verweise auf die Antike Tragödie im Fatzer auf, unter anderem das »aischileische pathei mathos (durch Leiden Lernen)«250. »Fürchte Dich!«251 können wir dort als Zitation der tragischen Formel von »Furcht und Mitleid« lesen. Bataille wiederum macht die Tragik seiner Edwarda sogar explizit: 247 | Ebd. 248 | Bataille, Edwarda, S. 58. 249 | Ebd., S. 58. 250 | Lehmann, Der andere Brecht, S. 255. 251 | Brecht, Stücke 10. Stückfragmente und Stückprojekte. Teil 1, im Bruchstück Fatzer, Komm, ohne Seitenangabe, zit.n. Lehmann, Der andere Brecht, S. 255.

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Das Gelächter führt uns auf jenen Weg, wo das Prinzip eines Verbotes, das Prinzip notwendigen, unvermeidlichen Anstands sich in verständnislose Heuchelei verwandelt, in ein Unverständnis dessen, was auf dem Spiele steht. Die vom Spott begleitete, äußerste Zügellosigkeit geht Hand in Hand mit der Weigerung, die Wahrheit der Erotik ernst – ich meine: tragisch – zu nehmen. 252

Wir haben somit auf der einen Seite die Angst und auf der anderen Seite die Lust. Dies ist der tiefere Sinn der Sexualität als Furchtzentrum und dies macht die Tragik aus. Während sich bei Brecht diese Furcht im Fatzer vor allem auf das Kollektiv bezieht und der Sexus zu dessen Spaltung führt, ist es bei Bataille gerade die im Exzess erlebte Angst und die Lust daran, die zur Souveränität führt. »Meine Angst ist endlich absolut und souverän.«253 Auch wenn für Bataille gerade in der Erfahrung dieser Verbindung die Möglichkeit der Gemeinschaft liegt, sie für Brecht aber zur Spaltung des Kollektivs führt, lässt sich trotzdem konstatieren, dass bei beiden Autoren Furcht und Sexualität unlöslich miteinander verbunden sind und dies in beiden Protagonisten (Edwarda und Fatzer) angelegt ist. Zudem könnte als vorsichtiger Hinweis geltend gemacht werden, dass selbst der Egoist Fatzer nicht restlos a-sozial ist: Und das ist etwas, was ich nicht Gern sag, wie du dir denken kannst: Ich bin nicht gern allein. 254

Bleiben wir kurz bei diesem Gedanken eines sozial-asozialen Fatzers. In der vierten Arbeitsphase der Fatzer-Fragmente, dort, wo die Fatzer Monologe länger werden und die chorische Darstellung zunimmt, ist ein Fatzer zu finden, der geradewegs Batailles Schriften entspringen könnte: Ich bin gegen eure mechanische Art Denn der Mensch ist kein Hebel. Auch ich habe starke Unlust, einzig zu tun Von vielen Taten die, welche mir nützlich. Aber Lust 252 | Bataille, Edwarda, S. 58. 253 | Bataille, Edwarda, S. 66. 254 | Brecht, Fatzer, S. 401.

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Zu vergraben das gute Fleisch und zu spucken In das trinkbare Wasser. Dies ist nicht einfach. Ihr aber rechnet auf den Bruchteil aus Was mir zu tun bleibt, und setzt’s in die Rechnung. Aber ich tu’s nicht! Rechnet! Rechnet mit Fatzers Zehngroschen-Ausdauer Und Fatzers täglichem Einfall! Schätzt ab meinen Abgrund Setzt für Unvorhergesehenes fünf Behaltet von allem, was an mir ist Nur das euch nützliche. Der Rest ist Fatzer. 255

Die mit den Chören zunehmende Dominanz der Polylogie von Stimmen256 gegen Ende der Fatzer-Fragmente könnte man auch als zunehmende Intensivierung der Brecht’schen Selbstwidersprüche verstehen. Zumindest wird der Fatzer nicht mehr nur aus der Perspektive des Kollektiv-Spalters betrachtbar, sondern selbst als gespaltenes Dividuum – nämlich als ein Fatzer, der sich nicht aufrechnen lässt bzw. in der Rechnung des Kollektivs nicht aufgeht. Als nutzloser Fatzer, der die Versuche zum Scheitern bringt, muss die Gesellschaft und ihre mechanische Art ihre Rechnung ohne ihn machen. Im Sinne Batailles wäre er ein Fatzer der Verausgabung. Deshalb bleibt das Urteil über den Fatzer bis zum Ende unklar und der gespaltene Fatzer bloß ein Fetzen.

255 | Brecht, Fatzer, S. 495. 256 | Vgl. Lehmann, Der andere Brecht, S. 257.

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3. V er ausgabung als tr agische E rfahrung Lautrémont comme bible de l’inconscient, en reálité cette bible est encore la tragédie antique, poésie faite par tous. 257 Um bis ans Ende der Ekstase zu gehen, wo wir uns im Sinnengenuß verlieren, müssen wir ihm immer die unmittelbare Grenze ziehen: diese Grenze ist der Schrecken. 258

Die Verausgabung als tragische Erfahrung zu betrachten, bedeutet, die Verausgabung als Merkmal der Tragödie zu bestimmen. Nun gehen wir diesen Schritt nicht ganz ohne Umwege: H.T. Lehmann bringt in seinem Aufsatz zu Tragödie und Performance eben diese beiden Genres über eine bestimmte Erfahrung – nämlich eine tragische – zusammen. Hierzu geht Lehmann hinter starre Demarkationslinien zurück, die die Tragödie als »geschriebenes Drama« und die Performance als ihr Gegenteil voneinander trennen. Sieht man von dieser problematischen Festlegung ab, lassen sich laut Lehmann sowohl die Tragödie als auch die Performance durch ihre Erfahrung, die sie ermöglichen, reflektieren. Diese Erfahrung spiegelt sich auch in jenen Affekten wider, die »[…] das antike Denken mit der Tragödie verbunden hat: eleos und phobos, Jammern und Schaudern, Furcht und Mitleid.«259 Die mentale, affektgeladene Erfahrung ist demnach Hauptintention und maßgebliches Charakteristikum der Tragödie – noch vor ihrer formalen Gestaltung. Deshalb plädiert Lehmann für eine Abkopplung der Affektwirkung der Tragödie von der aristotelischen Theatertheorie, die das Erreichen dieser Affekte in einer bestimmten dramaturgischen Gestaltungsweise vorsieht. 257 | Georges Bataille: Œuvre comlètes, Band III, Paris 1971, S. 537, zit.n. Finter, Poesie, Komödie, Tragödie oder die Masken des Unmöglichen, in: Vorreden zur Überschreitung, S. 273. 258 | Bataille, Edwarda, S. 59. 259 | Lehmann, Tragödie und Performance. Skizzen aus einem work in progress, S. 171.

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Bei einer solchen Trennung von Zweck und Gestaltungsmittel wird sogleich klar, dass die aristotelische Zweckbestimmung der Tragödie, die Erregung von eleos und phobos, sodann deren katharsis zwar in der Tradition stets mit der Dramaturgie unauflöslich verbunden waren, dies jedoch von Natur keineswegs sein müssen. 260

Mit der Favorisierung der ästhetischen Erfahrung gegenüber der Form bzw. in der Auflösung der Einheit von Wirkungsweise und Gestaltung lässt sich sodann die tragische Erfahrung auch in jenen Künsten verorten, die unabhängig von ihrer Form, auf ein Erleben der Affekte, also eine Transformation aus sind: In diesem Fall ist die Rede von der Performance. Die eingangs dargelegte Rückbesinnung der Performance Art auf das Ritual bzw. den Ritus kommt an dieser Stelle bei Lehmann zum Tragen: Die Performance sucht also Ansätze einer rituellen Wirklichkeit, sprich: performativen Wirksamkeit zu erhalten oder wieder zu finden: Man kann übrigens sagen, dass das antike Theater, das sich bekanntlich vom Kult emanzipiert hatte zu einem ästhetisch genossenen Ereignis, dennoch mit tausend Fäden an das Ritual rückgebunden blieb, aus dem es hervorgegangen war (das macht übrigens den Gebrauch der zwischen religiös-rituellem und ästhetisch-psychologischem Sinn schwebenden Vokabel katharsis erneut plausibel). 261

Insofern die Performance gerade die von Lehmann propagierte Trennung der Affektwirkung von einer festgelegten dramaturgischen Gestaltungsweise vollzieht und sich ganz auf die transformierende Erfahrung konzentriert, ist sie – folgt man Lehmann – der Tragödie weitaus näher als es das bürgerliche Drama je war. Sogleich wird das Verhältnis von Drama und Tragödie – gedacht als sich bedingendes – gesprengt. Dieses Verhältnis ist u.a. dem Verständnis geschuldet, die Tragödie sei vor allem Thematisierung und Darstellung ethischer, politischer und gesellschaftlicher Konflikte. Lehmann erkennt in dieser Traditionslinie – nämlich die Tragödie als Konfliktmodell zu denken – eine gewisse Treue gegenüber dem Drama als Gestaltungsform der Tragödie wieder. Wohingegen er in der »Nietzsche-Linie« der Tragödiendeutung die Tragödie »[…] als eine Artikula260 | Ebd., S. 171. 261 | Ebd., S. 174.

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tionsweise, in der sich die menschliche Existenz quer durch verschiedene Epochen und per se als in einer Weise verfasst erfahren lässt, die man als wesentlich riskant, gefährdet, selbst-destruktiv benennen kann […]«262 verstanden sieht. Die Tragödie auf diese Weise zu denken, birgt für Lehmann die einzige noch freilegbare Spur einer tragischen Erfahrung. Diese Deutung, die den Menschen stets im Nexus der Überschreitung denkt, treibt die Form bzw. den Rahmen, innerhalb dessen eine tragische Erfahrung möglich sein kann, in die Breite und relativiert sodann das dramatische Paradigma, gedacht als Konfliktualität. Setzen wir also das Überschreitungsmodell an die Stelle des Konflikts, öffnet sich die Tragödie ihrer Bestimmung nach anderen Formen der Darstellung. Hier – und nicht umsonst kommt auch an dieser Stelle bei Lehmann Bataille zur Sprache – taucht die Verausgabung in der Tragödientheorie auf. Positionieren wir das Paradigma des Tragischen neu – nämlich im Sinne der Überschreitung – lässt sich mit Bataille eine Theorie ins Feld führen, die das Tragische als Erfahrung der Exuberanz – also als tragische Erfahrung der Transgression – denkt. Anders gesagt: Wenn wir uns laut Lehmann auf die Suche nach »Ausdrucksformen für das Tragische« begeben sollen, anstatt Formen der Konfliktualität zu diskutieren, dann können wir die von Bataille angeführten Formen der Verausgabung exemplarisch zu Wegpfeilern dieser Suche machen, da sie gerade für die tragische Erfahrung des modernen Menschen stehen. Somit schiebt sich die Verausgabung als Spezifikum der tragischen Erfahrung zwischen Tragödie und Performance und dient als das theoretische Verbindungsglied zweier Genres. Bevor wir darüber sprechen, auf welche Weise sich die Verausgabung als tragische Erfahrung zeigt – wie sie also zwischen Tragödie und Performance operiert, wollen wir zunächst einen Blick auf diese Pathosformen der Tragödie werfen.

3.1 Pathos Aus der ideologiekritischen Perspektive und ihrem Verdacht, die Tragödie sei konservativ und reaktionär, könnte man zunächst annehmen, Batailles Theorie sei einer Ästhetik des Tragischen ganz und gar entgegengesetzt. 262 | Ebd., S. 176.

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Folgen wir aber einer Lesart, die ihr Augenmerk auf die tragische Erfahrung der Überschreitung richtet, anstatt das Tragische philosophisch, moralisch oder psychologisch zu lesen, dann kommen wir dem Ästhetischen der Tragödie näher und gelangen so in das Feld einer Modernitätsbestimmung, die das grausame, exzessive, dunkle Sein entgegen Vernunfts- und Fortschrittsgläubigkeit, entgegen den Kategorien von Mäßigkeit und Vermittlung als Stimmung der Moderne aufspürt und somit auch Bataille auf den Plan ruft. In Karl-Heinz Bohrers Theorie des Tragischen263 wird eine Modernitätsbestimmung ohne das Tragische als unhaltbar erklärt. Wobei hier die ästhetische Form bzw. Wirkung des Tragischen und nicht moralische, anthropologische oder historische Implikationen interessieren. Denn erst durch die ästhetische Fokussierung, abgesehen von philosophischen oder moralischen Ideen, lässt sich die dialektische Vermittlung des Schreckens (phobos) durch die sinnstiftende Aufhebung im Mitleid, wie sie z.B. Hegel vorsah, umgehen. Nur, wenn der ästhetisch epiphane Impuls der Tragödie – sprich ihr Erscheinungsschrecken, ihre Gewalt und die Angst – als ihr Kern angesehen werden und somit das Böse der Tragödie nicht mehr dem Tabu unterliegt, objektiv betrachtet zu werden, wird man, so Bohrer, dem Ästhetischen der Tragödie als autonome Kategorie gerecht und nur dann lässt sich die Verbindung zwischen dem antiken und dem modernen Tragischen freilegen. Das Böse, die Gewalt und das Horrende als Medium ästhetischen Ausdrucks sind erkennbares Zentrum bei Bohrer. Bataille wird von ihm als Kronzeuge einer bösen Literatur ins Feld geführt.264 Worin Bohrer Bataille folgt, ist die Irrationalität und den Entzug des Verstehens, den die 263 | Karl Heinz Bohrer: Das Tragische. Erscheinung, Pathos und Klage, München 2009. Im Folgenden als »Das Tragische« zitiert. 264 | Bataille hat der Frage nach der Kunst und dem Bösen laut Bohrer wichtige Einsichten gegeben: »[…] so schließt Bataille die Dramen des Aischylos und Sophokles doch mit ein, weil die tragische Intensität aus eben dem gleichen poetischen Ziel herrühre, nämlich qua Darstellung des Bösen Leidenschaft darstellen zu können« (Bohrer, Das Tragische, S. 265). Trotzdem kritisiert er, dass sich Bataille nicht für das Ästhetische der Tragödie, sondern lediglich für die Gewalt im Rahmen seiner Theorie der Transgression interessiere (ebd., S. 265. Vgl. außerdem Karl Heinz Bohrer: Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie, München/Wen 2004, S. 175ff.)

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Tragödie schafft, als ihren Schrecken zu lesen und sie im Sinne Batailles als heterolog oder sogar böse zu bestimmen: Die Erscheinung und der Gestus aber zeigen noch immer einen Widerspruch, das Chaotische des Factum brutum, in sich. Das gibt ihnen etwas Abstoßendes und Anziehendes in einem, die Möglichkeit des die Phantasie anregenden Verbotenen. Diesem Amalgam aus Verbot und Attraktion entspringt das ästhetisch Böse. Es ist nicht nur eine Eigenschaft am Wahrgenommenen, sondern am Wahrnehmen selbst. 265

Hier zeigt sich eine Lesart, die erstens das Heterogene – wie es Bataille definiert, nämlich als Verfemtes, das anziehend und abstoßend zugleich wirkt – als Merkmal der Tragödie bestimmt und zweitens die Tragödie nicht als kontemplative, sondern als Kunst, die eine ästhetische Erfahrung der tragischen Affekte ermöglicht, bestimmt. Entscheidend dabei ist, dass es bei den Erregungszuständen nicht um eine Reinigungsform ähnlich der »Katharsis« geht, die den Schrecken der Tragödie sogleich wieder austreibt, sondern um eine »wahrnehmungsästhetische Erfahrung«266 der Intensität, die sich viel eher noch als Leere, Ungewissheit oder Nicht-Wissen ausdrückt. Hierin distanziert Bohrer sich ganz deutlich von einer Aristotelischen und Hegel’schen Tragödienbestimmung. Es lassen sich aus der Betrachtung des Tragischen für eine, sagen wir »tragische«, Theorie der Verausgabung zwei ausschlaggebende Argumente Bohrers hervorheben: Erstens, das Tragische ist nicht notwendig an die Tragödie gebunden und zweitens, eine Modernitätsbestimmung, die sich nur über Kategorien der Vernunft und des Fortschritts bildet, ist verfehlt 267. Nur weil das Pathos also transsubjektives Anregungsotential bereithält – seinen tragischen Effekt nicht über den Inhalt, sondern über eine das Subjektive transzendierende Form generiert – kann die Tragödie trotz ihrer Modifikationen auch in der Moderne noch eine Erfahrung des Tragischen leisten.

265 | Bohrer, Das Tragische, S. 277. 266 | Ebd., S. 181. 267 | Ebd., S. 385.

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Die neue Möglichkeit, das Tragödienpathos ästhetik- und paradoxietheoretisch zu begründen oder unmittelbar zu erfahren, steht nämlich im prinzipiellen Gegensatz zu anthropologischen oder kulturhistorischen Begründungen, die als neue Weltanschauung praktizierbar sind. 268

Erst die gesteigerte Bereitschaft, das Tragische unabhängig von Moral und Sittlichkeit zu verstehen, ist gewissermaßen Voraussetzung für den tragischen Paradigmenwechsel. Dies bringt Konsequenzen für den hier diskutierten Zusammenhang von Verausgabung und tragischem Pathos bzw. Tragödie und Performance mit sich, die über Bohrers Theorie hinausgehen und gleichsam die Grenze derselben aufzeigen. Diese Grenze zeigt sich auch an Bohrers Kritik, Bataille interessiere sich nicht für das Ästhetische der Tragödie, sondern lediglich für die Gewalt im Rahmen seiner Theorie der Transgression.269 Versteht man aber, so wie Bataille, die Erfahrung der Überschreitung als den Kern der tragischen Erfahrung und somit des Tragischen selbst, dann rückt dies all jene exzessiven Motive der Tragödie – den Wahnsinn, den Tod, das Opfer, die Rache – die sich ganz dem Sinn entziehen, ins Zentrum der tragischen Ästhetik ohne sie vordergründigen Gesten zu überlassen. Anders gesagt: Batailles Lesart der Überschreitung als eine tragische, trifft den Kern der Tragödie, in der sich das Subjekt stetig selbst überschreitet. Bohrer übersieht bei seiner Kritik, dass Batailles Verständnis der tragischen Transgression, gerade auf jene Erfahrung abzielt, die den Punkt aufsucht, an dem es zu einer Unterbrechung der Ordnung kommt – ein Moment der Erschütterung. Die tragische Erfahrung ist also eine ästhetische Annäherung an dieses Moment. 268 | Ebd., S. 403. Interessanterweise sieht Bohrer die Renaissance der Tragödie nicht allein in der Autonomie des poetischen Wortes – eingeläutet durch die dekonstruktivistische Schule – verstanden als wiedergewonnenes Interesse an der Ästhetik, begründet. Es kommt darüber hinaus so etwas wie ein »Zeitgeist des Katastrophalen« oder wie Bohrer in Anlehnung an Baudelaire sagt: ein »auf Katastrophen eingestelltes Bewusstsein« als Rahmenbedingung für ein Verstehen des Tragischen hinzu (vgl. Bohrer, Das Tragische, S. 35). Man könnte statt von einem spezifisch modernen Bewusstsein auszugehen an dieser Stelle auch von einem immer schon existenten Motiv sprechen. 269 | Ebd., S. 265. Vgl. außerdem Karl Heinz Bohrer: Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie, München/Wen 2004, S. 175ff.

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Dass Batailles Bezug zum Tragischen nicht allein dort hervorgeht, wo er explizit vom Tragischen spricht, sondern vielmehr gerade dort ausgeführt wird, wo es nicht mehr um Theorie geht – nämlich in seinen literarischen Werken – ist ein weiterer Beleg dafür, dass das Ästhetische bei Bataille unlöslich mit seinem Denken der Überschreitung verwoben ist.270 Auch wenn Bohrer das Tragische nicht an die Tragödie gebunden sieht, liefert er lediglich literarische bzw. an den Text gebundene Beispiele des Tragischen. Insofern blendet Bohrer gerade jene ästhetische Praxis aus, die unter Vorzeichen der Moderne maßgeblich zu so etwas wie einem »Modell der Überschreitung« im Sinne einer ästhetischen Erfahrung von Schrecken, Gewalt, Exzess etc. – sprich einer Erfahrung der tragischen Affekte – geführt und somit großen Anteil am »Revival« des tragischen Paradigmas hat: die Performance. Mit Bataille, so die hier vorgeschlagene These, lässt sich dieser fehlende Teil ergänzen, der es uns ermöglicht, eine Theorie des Tragischen auch auf solche Kunst anzuwenden, die auch oder gerade jenseits von Text und Sprache operiert. Am Beispiel von Dark Matters soll im Folgenden gezeigt werden, wie sich die tragischen Kategorien mit denen der Verausgabung verbinden lassen.

3.2 Kidd Pivot: Dark Matters Dies zunächst vorab: In Dark Matters zeigt sich exemplarisch, wie das Tragische von der Erzählung einer Geschichte hin zu einem Tanzstück ohne Narration als Schrecken entfaltet wird. Das Stück beginnt mit einer stummen Erzählung, die von einer Puppe handelt. Die fast märchenhaft anmutende Kulisse liegt zunächst im Dunkeln bis auf einen Scheinwerfer, der vorsichtig die Bühne abtastet, um bei einem Tisch halt zu machen. Dort sehen wir in mehreren Auf-

270 | Auch Ebeling weist in seinem Vorwort auf die »Unterschätzung der theoretischen Relevanz des literarischen Œuvres Batailles – derjenigen Schriften, die unter dem Titel eines Obszönen Werkes herausgegeben wurden […]« hin (Ebeling, Die Falle, S. 15). Auch für ihn liegt die Kraft der Bataille’schen Theorie gerade in seinem Denken zwischen Literatur und Philosophie.

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und Abblendungen einen Puppenbauer bei seiner Schöpfung zu: einer Puppe aus Holz und Pappe, die dann zum Leben erwacht. Dem japanischen Bunraku-Theater gleich wird die Puppe von verhüllten Puppenspielern an langen Stangen geführt. Diese im Bunraku »Kagezukai« genannten Puppenspieler, deren Gesichter nicht zu sehen sind, führen die Puppe aus der Dunkelheit so, dass zunächst nicht zu sehen ist, wer die Puppe lenkt. Während die Puppe vorsichtig ihre ersten Schritte macht, zeigt sich zwischen ihr und ihrem Erschaffer ein fast liebevolles Herantasten, welches schon bald in einem Blutbad endet. Die Puppe tötet ihren Schöpfer und wird selbst leblos. Zurück bleiben die Puppenspieler ohne Puppe. Mit abnehmender Narration nehmen nun die Tanzeinheiten zu. Nach einem dämonischen Schattenspiel, in dem die schwarzen Gestalten verschiedene Schreckensbilder, tierähnliche Figuren und monströse Gestalten tänzerisch kreieren, ist das Ende des ersten Akts der kompletten Zerstörung geweiht. Das gesamte Bühnenbild nebst Theaterbeleuchtung bricht über den sich bekämpfenden Puppenspielern zusammen. Erneut tastet sich der Scheinwerfer nun durch die Trümmerlandschaft der Bühne, begleitet von einer Stimme aus dem Off: Man is a stranger to his own research; He knows not whence he comes, nor whither goes. Tormented atoms in a bed of mud, Devoured by death, a mockery of fate. But thinking atoms, whose far-seeing eyes, Guided by thought, have measured the faint stars, Our being mingles with the infinite; Ourselves we never see, or come to know. This world, this theatre of pride and wrong This frail construction of quick nerves and bones Cannot sustain the shock of elements; This temporary blend of blood and dust Was put together only to dissolve; What ist the verdict of the vastest mind? Silence: The book of fate is closed to us. 271 271 | Niederschrift aus der Performance »Dark Matters« von Kidd Pivot Frankfurt RM, die Aufführung wurde am 06.05.2010 im Mousonturm Frankfurt gesehen. Zu-

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Analog zu Voltaires Beschreibung des verschwindenden Körpers erblicken wir die Trümmer der Bühne, die einen leblosen Körper begraben. Wenn uns der Puppenspieler nun noch einen Moment der Hoffnung schenkt, indem er den leblosen Körper, welcher sich als Körper des Puppenbauers erweist, aus den Trümmern zieht und im Tanz re-animiert, so folgt darauf sogleich das brutale Ende des ersten Teils: Die liebevolle Rettung eines weiteren Körpers gerinnt zum Schock. Der Puppenspieler wirft den leblosen Körper brutal zu Boden und das Licht erlischt. Dem Kollaps der Illusion und Narration folgt im zweiten Teil ein realistisches Setting. Die »märchenhaft-magische« Bühnenkulisse ist einem weißen Würfel in kühler, blauer Beleuchtung gewichen. Auf ihm beginnt der Tanz des einzig noch anwesenden Puppenspielers, der sich nun viel deutlicher als zuvor als Schattentanz bzw. als Tanz eines Schattens zeigt. In den fließenden, morphenden, fast körperlosen Bewegungen zeigt sich eine organlose Materie, die überall zu sein scheint. Die Choreographin Chrystal Pite beschreibt dies so: In my past three creations, I’ve worked with a characterization of the shadow itself - selecting this as an image of anonymity and mystery and finding a movement language for it. The shadow personifies both absence and presence; it is an echo of us, distorted and intangible. It is fixed, finite, yet runs over terrain like water. A shadow does not walk; it slides silently with us in perfect unison, dimensionally translated, effortless, and benign. Our instincts and intuition - our shadows - seem wiser and faster than us. In looking for a movement language that suits the shadow character, we’re working on a combination of edges, energy, and fluidity. Sharp shapes, distorted and defined, are combined with pure flow and punctuated with sparks of glitchy muscularity that connote unrest. 272

Die Figur des Schattens als »Dark Matter« – die unheimliche, weil unbekannte Kraft – ist im ersten wie im zweiten Teil permanent anwesend.

sätzlich wurde eine Videoaufzeichnung des Stücks herangezogen. Bei dem Zitat handelt es sich um einen Auszug aus Voltaires Poem on the Lisbon Disaster, im Original: Voltaire: Poème sur le désastre de Lisbonne. Les œuvres complètes de Voltaire, Nicholas Cronk (Hg.), Teil 45A und 45B, Oxford 2010. 272 | Crystal Pite: Dark Matters: Artistic Statement and Notes, www.ejassoci ates.org/pdf/pr_Peak_KiddPivot2010.pdf, S. 1, vom 26.05.2014.

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Während im ersten Teil die Kraft durch die »shaded manipulators« die Kagezukai operiert, wird sie im zweiten Teil im Schatten figuriert. Jedoch ist eigentlich mehr als ein Schatten im Sinne eines Alter Egos gemeint. Es ist vielmehr eine dunkle unbekannte Kraft, die immer wieder wie ein dritter Agent die Beziehungen und Bewegungen im Raum lenkt. Dies ist die Narration, die sich in verschiedenen Formationen durch beide Teile des Stückes zieht und den ersten mit dem zweiten Teil verbindet. In den zwischen Kraft und Schwäche, Präzision und Fluss, Souveränität und Kontrollverlust changierenden Bewegungen der Tänzer ist die unbekannte Kraft immer Thema. In ihren komplexen Bewegungen, vom Isolieren der Gliedmaßen zum Zusammenfalten, Hinwerfen, Verknoten und gegenseitigem Ausrichten der Gelenke folgen und umgehen sie imaginäre Linien im Raum und machen das Unbekannte so fühlbar. Während sich in den Gruppensequenzen des zweiten Teils die Dominanz der Körper als kollektiver Kampf gegen diese äußere Kraft in technisierten und fast geometrisch anmutenden Bewegungen darstellt, sind es in den Pas de deux fließende und organische Formen, die mythologische Bilder schaffen. So malen die Tanzpartner ein archaisches Bild, wenn die Tänzerin angeleitet von der dunklen Kraft vorsichtig auf den Handflächen ihres Tanzpartners geht und dieser sie sprichwörtlich auf seinen Händen trägt, um sie dann auf einen Thron zu heben. Hierbei verlieren die beiden nie den Körperkontakt, so als ob ihre Verbindung sie erst am Leben hält. Dies macht die Intimität des Pas de deux aus, welcher eigentlich nie ein Tanz zu zweit ist, sondern immer die Anwesenheit des Dritten mitzeigt. Die Rolle des Unbekannten gerade in dieser – zwischen zwei Menschen sich entwickelnden – Beziehung ist immer spürbar. Da bleibt immer etwas Fremdes, Unbekanntes, in den intimen Sequenzen beider Tänzer, das lenkend, störend, vereinend und trennend wirkt. Dass die Bedrohung durch das im Dunkeln liegende Unbekannte immer anwesend ist, wird uns vor allem dann in Erinnerung gerufen, wenn unser Blick gerade nicht auf die Schattengestalt fällt, sondern von den faszinierenden Bewegungen und der Tanzsprache gelenkt wird, so dass wir die immer sichtbar bleibende dunkle Kraft schon nicht mehr wahrnehmen. Just in diesem Moment werden die Schnüre, an denen die Tänzer gewissermaßen hängen, wieder in den Fokus gerückt und entlarven unsere Illusion als solche. Das Spürbarwerden der ästhetischen Erfahrung – nämlich dem bewussten Genießen der offensichtlichen Illusion

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– ist auch jener Teil der Faszination des Künstlichen im Bunraku-Theater, für den Pite sich interessiert. As a puppeteer, he is the shadow and the soul of that which he manipulates. Not necessarily invisible, he is unseen: as viewers, we are meant to block him out so that we might be entranced by the trick […] Too, I will try to show that the work itself is self-conscious and aware of its own artifice. It subverts its own theatricality in order to try to understand something more powerful. I would like to see the show pulling itself apart in an attempt to expose something real, to discover what it’s made of. 273

Die Annahme, der erste Teil des Stücks sei klassisches Autorentheater und insofern nicht nur in seiner Ästhetik, sondern auch der Form nach dem Bunraku mit seinem vorgesungenen Text als Autorentheater gleich, übersieht, dass es im Bunraku trotz der Erzählung um ein Ausstellen der Künstlichkeit durch die Puppenspieler kommt. Chrystal Pite selbst gibt den Hinweis im ersten Teil des Stücks, wenn sich die Letter des Schattenspiels von This is fate zu This is fake verwandeln und damit die Faszination der Künstlichkeit als offene Demonstration der Manipulation freilegen. Es gibt aber auch einen weiteren, subtileren Kontext, der im Widerspruch zu einer Tradition des Erzähl- und Texttheaters steht und die Position des Autors selbst zur Disposition stellt – die Figur des Kagezukai. Der Kagezukai als dunkle Macht, die dann auch später die Tänzer lenkt, hat sich aus der Erzählung des ersten Teils in die klare und märchenfreie Welt des zweiten Teils retten können und ist gewissermaßen mythologischer Rest. Auch wenn die Tänzer an keinen Stangen geführt werden, korrelieren sie immer wieder mit der Figur der Puppe – die ihre Unheimlichkeit gerade aus ihrer Lebendigkeit erfährt. Besonders in den Solos, die unmittelbar aus dem Zerfall der Gruppe hervorgehen, zeigt sich die Bedrohung, die aus dem Dunkeln kommt. In den dämonischen Bildern der sich zwischen Wahnsinn und Kontrolle, Furcht und Mut bewegenden Körper wird der Schrecken des Unbekannten spürbar.

273 | Crystal Pite: Dark Matters: Artistic Statement and Notes, www.ejassociates. org/pdf/pr_Peak_KiddPivot2010.pdf, S. 2, vom 26.05.2014.

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Als würden Bilder des Unterbewusstseins getanzt werden, beschwören die Solomomente die Ausgesetztheit des Einzelnen. Wenn die Körper mit denen sich im Hintergrund bewegenden riesigen Schattenspielen wie Tintenfleckmuster verschmelzen und so Faltbilder oder »Klecksographien« zeichnen, wird der Schrecken im Solotanz vor allem als Schrecken vor dem unbekannten Unbewussten assoziiert. Verstärkt wird diese Anspannung durch die Klangwelt des Stücks, die sich wie ein Puls bzw. Herzschlag tönend fortwährend vorantreibt. Mit der Entwicklung des Pulsschlags von einem zunächst atmosphärischen und organischen Geräusch zu einem immer gehetzteren und fast maschinellen Ton wird zweierlei spürbar: Einerseits zeigt sich die zunehmende körperliche Anstrengung der Tänzer gegen die äußere Manipulation und andererseits wird die Anwesenheit eines fremdartigen Anderen immer deutlicher. Insofern spitzt sich der Schrecken auch hörbar zu: In der ersten Szene des zweiten Teils setzt sich durch die absolute Stille des Raumes eine Bedrohung fest. Mit dem plötzlichen Auftritt der fünf Tänzer ertönt ein monströser Klang. Der gesamte Raum wird von den metallischen, wetzenden Geräuschen eingenommen und die Tänzer beginnen nun gegen diese Klangwelt anzutanzen. Diese Akustik des Schreckens bestimmt den Rhythmus des Tanzes, treibt die Tänzer zur völligen Verausgabung und zerberst ebenso plötzlich, wie sie einsetzte. Erst jetzt sind die Tänzer freigegeben. In dieser Sequenz entsteht eine räumliche wie tonale Sphäre, die nur in den Körpern der Tänzer visuell wird. Die Herkunft bzw. Richtung dieser klanglichen Bedrohung bleibt ungewiss. Die Ursache des Schreckens liegt bei Dark Matters sprichwörtlich im (die Bühne umgebenden) Dunkeln. Insofern ist in dieser Szene die Erscheinung des Schreckens eine akustische, die erst durch die von Schrecken und Angst gezeichneten Körper der Tänzer abgebildet und somit visuell wird. Dass Angst, Einsamkeit und Dunkelheit eine Trias bilden, zeigt sich vor allem darin, dass die Dunkelheit in Dark Matters selbst zum Protagonisten wird. Aus ihr schälen sich die schwarz maskierten Schattengestalten ohne Vorankündigung und morphen sich ebenso wieder in sie zurück. Aber nicht nur in der Figur des Kagezukai operiert die Dunkelheit als Schöpferin des Schreckens und als Quelle der Angst. Ihre Gewalt zeigt sich auch im Spiel von Licht und Dunkel, welches sie immer dominiert. So wird das dunkle, die Bühne umgebende Nichts gerade durch die stetig auftauchenden Blitzlichter in seiner Macht bestätigt, während die Tänzer

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fortlaufend im Lichtkegel gegen die Bedrohung der Dunkelheit, den Zerfall, die Angst und die Einsamkeit antanzen. Das Thema des Unbekannten, Unerklärlichen, außerhalb jeglichen Sinns und Logik liegenden, aber auch der grundlosen Zerstörung wird hier durchgespielt – nun aber außerhalb einer kohärenten Erzählung. Wir verfolgen Stück für Stück, wie die Körper der Tänzer mit immer größer werdenden Anstrengungen gegen die unerklärliche von außen drohende Zerstörung ankämpfen, um letztendlich doch zu verschwinden. In diesem Zusammenhang ist eine Erinnerung an Voltaires Gedicht 274 einen Hinweis wert. Auch wenn dies aus dem sich wiederholenden Auszug nicht gleich ersichtlich wird, so richtet sich Voltaire nach der totalen Zerstörung Lissabons durch ein Erdbeben mit seinem Gedicht gegen den philosophischen Optimismus der Aufklärung und fragt nach dem Sinn bzw. Un-Sinn des Leids und dem unbekannten, weil unergründlichen Übel der Welt. Insofern ist der Rahmen des Tanzstücks mit einem zu kommenden unheilvollen Unbekannten durch Voltaires Worte gesetzt. Das, was im ersten Teil mit dem Gedicht inhaltlich die Erzählung entfaltet, wird im zweiten Teil mithin zur ästhetischen Struktur des Tanzes. Wenn sich am Ende der letzte Puppenspieler entkleidet und ebenfalls verschwindet, ist dies nur die konsequente Auflösung jeglicher Narration hin zu einem tragischen Ende. Denn auch das letzte Element und Symbol der Erzählung bzw. der Illusion gewinnt in seiner Entkleidung eine Form. Vom quasi grenzenlosen und schemenhaften Schwarz verwandelt sich der Schatten in leibliches Fleisch und gerinnt zur Form. Mit der Tänzerin Sandra Marin nimmt das Unbekannte einen Körper an, verschwindet aber nicht. Vielmehr wird es konkret und bleibt doch komplex. In ihrer fleischfarbenen Unterwäsche und ihrem kraftvollen Körper ist sie dem formlosen schwarzen Schatten ganz entgegengesetzt. In diesem Anblick wird die Faszination des Körpers meta-physisch. Der Schrecken jedoch bleibt. Was sich aber auflöst, ist der Rahmen bzw. die einzige uns bekannte Struktur des Stücks – die Figur des »shaded manipulator«. Mit einem Mal wird der Konflikt des Fremden in den Körper verlegt und spielt sich nicht mehr zwischen einem unbekannten Außerhalb und dem Körper ab.

274 | Siehe Fußnote 271.

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Im letzten Pas de deux findet dieser Konflikt des Unbekannten in der Fragilität, im Zweifel und der Angst als intimer Moment seine Entsprechung. Auf der Suche nach den körperlichen Möglichkeiten des Unbekannten oder besser der Frage, auf welche Weise das Unbekannte dem Körper zustößt, sehen wir Körpertransformationen, die, einzelne Glieder isolierend, der Marionette gleichen, um dann in ihren zarten und vulnerablen Bewegungen wieder ganz Mensch zu sein. Diese starken Momente werden stetig mit teriomorphen Bewegungen gebrochen, so dass in den entstehenden Tableaux nie klar sein kann, ob sich das Unbekannte am deutlichsten in Tier- oder Menschengestalt zeigt. Gerade im sicher geglaubten Moment kippt die Balance der Tänzer erneut und sie geraten in einen Zustand des Schocks. Dieser Schock manifestiert sich in den zitternden, zuckenden, steifen und teils unkontrollierten Formationen. Nachdem Sandra Marin ihre schwarze »Maske« abgelegt hat, in ihre eigene Dunkelheit, man könnte auch sagen Fremdheit, blickt und sich so in ihrer ganzen Verletzlichkeit zeigt, sehen wir einen Körper, der sich gelähmt vor Angst allmählich in einen Todesrausch tanzt. Hier ist der Überschreitung förmlich zuzusehen: Die Erhabenheit des körperlichen Ausdrucks gepaart mit der unbestimmbaren Angst wird zur ästhetischen Darstellung der Leidenschaft, des Taumels und der Trunkenheit. Doch gibt es hier keine freudige oder glückerfüllte Ekstasis. Der Tanz ließe sich vielmehr als Todestanz lesen. So, als ob der Schrecken zu einem Erschrecken über die eigene Endlichkeit geführt hat, der Blick auf die dunklen Stellen des Bewusstseins, das Nichts bzw. den Tod gezeigt hat. Dieses Erschrecken spricht sich in zweideutigen Gebärden von Rausch und Klage aus: Die einzelnen Körperteile Marins werden vom ihrem Tanzpartner wie fragmentierte Glieder gezogen, gestreckt, geschwungen und immer wieder in konträre Haltungen gebracht, so als ob sie erst belebt werden müsse. Beginnend mit einem zitternden, unkontrolliert zuckenden Fuß tanzt sich Marins Körper nun wie von Innen heraus. An der äußersten Stelle des Körpers, am Gelenk beginnend, wird der Körper gelenkt. Das Zucken transformiert sich jetzt in ein Fließen und der gesamte Körper wird vom Tanz erfasst. Nach einer Einheit oder Harmonie des Körpers sucht man hier aber vergebens. Vielmehr wird in dem gemeinsamen Tanz eine Kommunikation geschaffen, die immer nur Teile des Körpers betrifft und diesen als

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Zersetzten, Zerstückelten oder sogar Zerrissenen zeigt. Mal rückt eine Hand in den Fokus, mal eine Schulter. Ein anderes Mal scheint sich die Drehung beider Körper um die Achse eines Knies zu vollziehen. Niemals jedoch haben wir ganzheitlich vollendete Körper vor Augen, die in virtuoser Manier Sprünge, Spagate oder Drehungen ausführen, wie man es aus dem klassischen Ballett kennt. Die Erhabenheit des Tanzes resultiert hier vielmehr aus der komplexen Tanzsprache, in der das Bewegungs- und Ausdruckspotential des Körpers an seine Grenzen getrieben wird. Weniger als Choreografie, sondern vielmehr als improvisiertes Ausprobieren zeigt sich die Kommunikation der Tänzer, die imaginären Linien im Raum folgend, Dynamiken von Anziehung und Abstoßung, Kraft und Schwäche, Für und Wider, Hell und Dunkel entwickeln. Gemeinsam zeigt sich zwar zwischen den Körpern eine intuitive Verbindung, trotzdem bleiben die Körper – wie aufgebrochen – einer unbekannten Kraft ausgesetzt. Das Unbekannte schiebt sich immer wieder zwischen die Glieder und lässt keine Harmonie zwischen den Tänzern, aber ebenso wenig innerhalb des einzelnen Organismus zu. Hierin liegt das Schreckliche und zugleich Ambivalente der Tanzstimmung; Plötzlichkeit, Fragmentiertheit und permanente Wechsel werden von technisch hoch komplexen Bewegungsabläufen, Verrenkungen, Verknotungen und absoluter Präzision unterlaufen. Diese Kollision bietet eine Leere dar, die aus ihrer Fremdartigkeit und Flüchtigkeit heraus, also durch ihre radikale Abweichung, den Zuschauer an die Grenzen der Sehgewohnheiten treibt, immer wieder mit dem Unbekannten konfrontiert und sich beständig dem Verstehen entzieht. Gerade in diesen Momenten des Nicht-Verstehens, an diesen dunklen Stellen des Tanzes, blitzt die Erotik als furchterregende Erinnerung auf. Aus flüchtigen, nicht fassbaren Bewegungen heraus entsteht in der Wahrnehmung des Zuschauers eine Situation des Erinnerns, die erotisch und ängstigend zugleich ist. Die Zweideutigkeit der erotischen Geste resultiert aus ihrer Flüchtigkeit, hierzu wird im Tanz kein konkreter Akt geliefert. Es ist die kurze Spannung beider Körper, eine Handbewegung oder ein Blick, der eine Erinnerung weckt und sogleich wieder verschwindet, um eine beunruhigende, weil nichtfassbare Stimmung zurückzulassen. Auf eine intime Umarmung, ein intensives Verknoten und Wälzen, folgt immer eine technisierte Zerstücklung des Körpers und eine brutale Distanzierung

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– leblose Gliedmaßen werden in unglaublicher Geschwindigkeit zurecht geschoben, gelenkt, gesetzt, gedreht oder geworfen. Sobald das Bild einer erotischen, intimen Erinnerung wirksam wird, schiebt sich durch eine unvorhersehbare Geste und die Intensität des Ausdrucks ein furchterregender Zerfall, eine unheimliche, nicht fassbare Leere dazwischen und der Zuschauer bleibt orientierungslos zwischen Traum, Illusion, Erinnerung. Wie im Rausch steigert sich die Geschwindigkeit der beiden Tänzer jetzt bis zur totalen Verausgabung und endet im plötzlichen Tod und der Dunkelheit. Dieser letzte Tanz ist auch deshalb Todestanz, weil es in ihm nur die Gegenwart gibt. Das Fehlen einer sinnstiftenden Zeitstruktur, narrativer Abfolge von Ursache und Wirkung oder eines Außen schafft eine radikale Gegenwärtigkeit. Es entsteht eine nicht nachvollziehbare Zeitrechnung, eine andere Zeit, die keine Dauer kennt. In diesem Sinne operiert auch die Entkleidung zu Beginn der letzten Szene als Zerstörung des Erzählrahmens des Tanzstücks. Hier wendet sich der Tanz gegen seine eigene Erzählung und verlässt somit jegliche verbalisierbare Ebene der Darstellung. Der Tanz aktualisiert die Sterblichkeit der Tänzer und den Tod nicht dem Inhalt oder der Erzählung nach, sondern gerade durch dessen Abwesenheit und die daraus folgende gesteigerte Gegenwärtigkeit. Mit dem Ablegen des schwarzen Anzugs entledigt sich der Tanz der Erzählung, die uns im ersten Teil zumindest eine Zeit lang begleitet hat und schafft in der Abkehr von einer »dramatischen Zeit« – im Sinne einer Kontinuität – eine »andere Zeit«. Diese Zeitlosigkeit und der Verlust einer klaren Abgrenzung von Traum, Illusion, Erinnerung vergegenwärtigt die Sterblichkeit durch ein gewaltvolles Einbrechen der Gegenwart. In diesem Moment der radikalen Gegenwart gerät der Körper der Tänzerin in einen Zustand des Schocks und der Ekstase, welcher im Zittern, der Ohnmacht, dem Kontrollverlust einerseits und der Geschwindigkeit und der Kraft andererseits erfahrbar wird. Am Ende des körperlichen Abtastens des Unbekannten steht der Untergang. Am Schluss bleibt nur die Klage. Das letzte Bild einer über dem leblosen Körper des Partners Klagenden ist surreal und mythologisch zugleich. Die zum Himmel erhobenen flehenden Hände sinken zuckend wieder zu Boden, es kommt zum letzten Flügelschlag und dann ist sie plötzlich da, die tragische Pathosformel der Klage, die, laut Bohrer, Medium des ästhetischen Ausdruck des Todes

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ist. So kommt es auch, dass sich die klagende Tänzerin zum Toten legt, als das Licht erlischt. Nehmen wir dies letzte Bild zum Anlass, erneut auf die Implikationen des Tragischen, die hier virulent werden, zu blicken: Wir erinnern uns, den Erscheinungsschrecken, verstanden als plötzliche und intensive Erscheinung, die über einen psychologischen Zustand hinausgeht, exemplifiziert Bohrer an den plötzlichen und furchterregenden Auftritten und Reden von Klytämnestra, Kassandra und Oedipus, die sich als Erscheinung präsentieren. Der Schrecken als Epiphanie, jenseits von Verstandesbegriffen, welcher sich über die ästhetische Form und nicht den dramatischen Inhalt ausdrückt, ist erstes Pathos des Tragischen. In der Verbindung von Plötzlichkeit und Erhabenheit der Erscheinung wird eine phänomenale Erfahrung von Intensität 275 hergestellt, die über das Verstehen hinausgeht und durch ihren »theatralischen Exzess« als überwältigender Schrecken sich darstellt. Nun wird dieser Schrecken in Dark Matters auf verschiedene Weise erfahrbar. Die plötzlichen unvorhergesehenen Auf- und Abtritte der Tänzer und der shaded manipulators, die als Erschrecken spürbar werden, verbinden sich in ihren gewaltvollen Erscheinungen mit einem aufs höchste stilisierten Tanz. In Anlehnung an Bohrer kann man sagen, dass die Spannung von Plötzlichkeit und Erhabenheit den Schrecken hervorruft. Im Spiel mit Licht und Dunkel oder auch mit Stille und Ton entsteht die Stimmung einer zu erwartenden Bedrohung, die dann im Tanz ihren Schrecken, gerade durch die Erhabenheit der Tanzsprache, den Wechsel von Kraft und Fragilität, Beschleunigung und Stillstand, Simultanität und Zerfall, vollendet. Wenn die tragische Sprache als Ausdruck anstelle von Benennung operiert, dann soll hier von einer Tanzsprache die Rede sein, in der sich umso deutlicher die Wirkmacht von Plötzlichkeit und erhabenem Ausdruck des Schreckens als Sinn-Leere zeigt. Die Tänzer stellen nichts Schreckliches dar, das zu erklären oder zu deuten wäre. Es geht vielmehr um die Intensität und Rätselhaftigkeit der Erscheinung. Wenn plötzlich im Blitzlicht gefolgt von einem Donnerschlag, die Silhouette eines Kagezukai erscheint, dieser Auftritt dann aber von einer Poesie des Tanzes gefolgt wird, wird durch die absolute Körperbeherrschtheit und intensive Körperlichkeit eine rätselhafte Unheimlichkeit, sogar Angst geweckt. Und weil der Inhalt der Erzählung 275 | Vgl. Bohrer, Das Tragische, S. 181.

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nicht preisgibt, woher die Bedrohung kommt, uns die logische Erklärung fehlt, es gewissermaßen keinerlei Kohärenz gibt, zeigt sich die Angst vor allem als Angst vor der Abwesenheit eines Grundes. Bei Bohrer ist die tragische Pathosformel der Angst ein irrationaler Zustand, dessen Grund unbekannt ist. »Es ist eine Gefahr, die im Dunkeln lauert.«276 Dass die Angst der Tragödie aus einer im Dunkeln lauernden Gefahr hervorgeht, ist an dieser Stelle mehr als nur eine sprachliche Übereinstimmung. Das Dunkel operiert in Dark Matters nicht nur dem Titel nach als Ursache. Vielmehr zeichnet sich von Szene zu Szene ein immer dichter werdender Zusammenhang von Angst und Dunkelheit ab, in dem es zu einem Überschuss kommt, der sich im ekstatischen Tanz manifestiert. Bataille liefert in diesem Zusammenhang eine Perspektive, die die Angst als innere Erfahrung, als Intensität des Moments und als Überschreitung liest. Der Angst kommt als Moment der Verausgabung bei Bataille eine zentrale Rolle zu. In seinem Vorwort zu Madame Edwarda schreibt er: »Hast du Angst vor allem, so lies dies Buch […].«277 Batailles Aufforderung zu Lesen, ist gleichsam die Aufforderung einen extremen Bewusstseinszustand herbeizuführen, das Risiko und die Überschreitung zu wagen. Die Angst ist als Teil des heterologen Bereichs anziehend und abstoßend zugleich. Sie ist Quelle der Lust wie der Furcht und insofern ambivalent. Batailles Geschichte von Madame Edwarda setzt mit einer Angstbeschreibung ein: »An einer Straßenecke befiel mich die Angst, eine schmutzige und berauschende Angst begann mich zu zersetzen.«278 Auch bei Bataille bleibt der Grund der Angst im Unklaren, aber gerade das erscheint hier als auschlaggebend. Denn tatsächlich geht die Angst aus ihrem Ungrund oder besser ihrer Dunkelheit hervor: »Einsamkeit und Dunkelheit vollendeten meinen Rausch […] Die Nacht in den verlassenen Straßen war nackt, und ich wollte nackt sein wie sie […]«.279 So wie die Vernunft auf der Seite des Tages und des Lichts operiert, so steht die Angst auf Seiten der Nacht und der Dunkelheit. Diese Allitera276 | Bohrer, Das Tragische, S. 270. 277 | Bataille, Edwarda, S. 64. 278 | Ebd., S. 66. 279 | Ebd. S. 66.

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tion280 von »Nacht« und »nackt« (im Französischen nu und nuit), auf die Ebeling hinweist, ist eine weitere Referenz auf die Verbindung von Angst und Dunkelheit. Die Nacktheit der Nacht ließe sich auch als Ausgesetztheit reformulieren. In diese Ausgesetztheit will sich der Sprechende begeben. Mit anderen Worten: Es geht hier darum, eine extreme Bewusstseinserfahrung zu machen, die beängstigend und anziehend zugleich ist. Dieser Zustand jedoch ist eng mit der Dunkelheit verbunden und kann gewissermaßen nur in ihr erreicht werden. Sich selbst zur Nacht zu machen, sich selbst nackt machen, sich ängstigen, dies alles sind Formulierungen desselben Gedankens. Insofern stellt die Angst bei Bataille einen Antrieb dar, nämlich nichts zu wissen bzw. das Nichts zu wissen und die dunklen Stellen des Bewusstseins aufzuzeigen. »Mit der Figur der Angst hält Bataille dem Geist eine irreduzible Größe entgegen, etwas, das er nicht aufzulösen vermag.«281 Die Angst und die Erotik sind als Bereiche der Differenz eine komplementäre Einheit, weil sie eine irreduzible Größe bilden und von der Vernunft ganz und gar verschieden sind. Wenn die Angst jene Stelle beschreibt, an der man nichts weiß, liefert sie zugleich die Beschreibung für jenen Antrieb der Souveränität. Wir erinnern uns an das Negativbeispiel: Der Knecht ist derjenige, der sich, laut Bataille, vor seiner Angst in die Arbeit rettet. Die Erfahrung der Angst eröffnet gewissermaßen erst die Möglichkeit zur Souveränität, weil sie das non-savoir ist und an dieser Stelle den Mensch der Gegenständlichkeit entzieht. Das macht das Moment der Souveränität aus. »Meine Angst ist endlich absolut und souverän.«282 Zusammenfassend können wir sagen, dass die Angst aus der Nacht, also aus dem Nichts hervorgeht, auf welches sie gleichzeitig wieder zurückverweist, wenn sie an jener Stelle operiert, an der das Bewusstsein keinen Gegenstand hat. Sie ist der Zustand des Ausgesetztseins und insofern ist sie emotionaler Exzess und Überschreitung. In dieser Überschreitung liegt ihre verlockende Ambivalenz, nämlich abstoßend und anziehend zugleich zu sein.

280 | Vgl. Ebeling, Die Falle, S. 61. 281 | Ebd., S. 55. 282 | Bataille, Edwarda, S. 64.

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Als »[…] eine fremde Sphäre jenseits des Subjekts«283 ist die Angst in der Tragödie angelegt. Die Dunkelheit steht für diese Sphäre der Angst, von der eine Ambivalenz zwischen Gewaltakt und Ekstasis ausgeht. Besonders im letzten Pas de deux – im Todestanz – zeigt sich diese ambivalente Verbindung von Angst und Erotik, Schrecken und Rausch. Das tragische Todesmotiv drückt sich hier durch seine radikale Rätselhaftigkeit der Gewalt und nicht durch seinen Inhalt aus. Während wir anhand der shaded manipulators noch einen Orientierungspunkt bzw. einen Hinweis auf eine Ursache, ein Thema und gewissermaßen eine Dauer zur Verfügung hatten, gibt es jetzt nur die Anwesenheit zweier Tänzer, die in Echtzeit tanzen und weder deren Vergangenheit noch Zukunft wir kennen. So zeigt Dark Matters durch die gewaltvolle Intensität des Ausdrucks anstelle einer Narration auf, wie in der Entwicklung von der Erzählung hin zur freien Performance eine Steigerung des tragischen Pathos funktionieren kann, während am Ende selbst der Rahmen bzw. die Struktur der Erzählung von der Zerstörung betroffen ist. I would like to give the theater itself a role to play, a cameo that reminds us of its nature. Too, I will try to show that the work itself is self-conscious and aware of its own artifice. It subverts its own theatricality in order to try to understand something more powerful. I would like to see the show pulling itself apart in an attempt to expose something real, to discover what it’s made of. The thing is, I don’t know what it’s made of. I want to portray something that cannot be portrayed – something that by its very nature demands that it be unknown. What the audience will see onstage is just my impression of what working with the unknown looks like, feels like, to me. It is a ›passionate exercise‹ of doubt. 284

Pite hat, wie sie selbst sagt, das Motiv der Rätselhaftigkeit, des Unbekannten und des Zweifels vor Augen, wenn sie tänzerisch eine Spur verfolgt, die sich zwischen Erinnerung und Realität gräbt und keine Sicherheiten zurücklässt. Ihre »leidenschaftliche Übung des Zweifels« zeigt sich in Dark Matters als Qualität des Unerklärbaren und beschwört in ihrer frenetischen Form Varianten des ästhetisch Bösen,285 sprich das Irrationale, 283 | Bohrer, Das Tragische, S. 283. 284 | Crystal Pite: Dark Matters: Artistic Statement and Notes, www.ejassoci ates.org/pdf/pr_Peak_KiddPivot2010.pdf, S. 2, vom 26.05.2014. 285 | Bohrer, Das Tragische, S. 266.

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Grausame, Unbekannte, das der Mäßigung opponierende und Ani-Teleologische, herauf. Der Zuschauer ist an dieser Übung und somit auch an dem Bösen beteiligt, da er, durch das vom Tanz geschaffene Feld von Leer-Stellen wandernd, imaginative Objekte konstruieren muss, die sich aber nie ganz unter Kontrolle bringen lassen und vielmehr – wie Bataille sagen würde – die Grenze des Wissens aufzeigen. Tanz scheint für diese Annäherung an die Grenze des Wissbaren über ein gesteigertes Potential zu verfügen: Tanz vermag in besonderer Weise jenen Moment der Bezauberung, der Begeisterung oder des Schocks, der in gewisser Weise »stumm« macht, zu evozieren; wobei eben diese Erfahrung der Sprachlosigkeit wiederum häufig das Vorurteil, hier könne es nicht um Wissen gehen, stützt. Es geht jedoch um ein anderes Wissen: sensuell, erotisch und instabil – und selbstverständlich auch kognitiv; ein Wissen, das Grenzen des Wissens und Zonen des Nicht-Wissens (auch und gerade des »Sich-selbst-nicht-Wissens«) auslotet. 286

Gabriele Brandstetter formuliert hier eine Qualität des Tanzes, die einerseits den Kern von Dark Matters – nämlich dessen Evokation der Sprachlosigkeit – trifft, andererseits den Tanz als nichtbegrifflichen Zugang zum Wissen geradewegs mit Batailles Sprachdilemma verbindet. Der Problematik der Sprache, das Sinnliche im Moment seiner Formulierung auszuschließen, kommt, wie wir bereits sahen, bei Bataille eine zentrale Rolle zu. Von diesem Axiom aus denkt er alles weitere. »[L]e langage trouble tout ce qu’il touche, il l’altère, le corrompt, l’entache d’un procédé que ne convient qu’aux opérations vulgaires, comme de raboter une planche ou de labourer un champ.«287 Die Tatsache, dass die Sprache nichts über die sinnlichen Zustände, die Erotik, die Angst, also die Überschreitung im Allgemeinen zu sagen vermag, bedeutet für Bataille Verzweiflung und Zerrissenheit. 286 | Gabriele Brandstetter: Tanz als Wissenskultur. Körpergedächtnis und wissenstheoretische Herausforderung, in: Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke (Hg.), Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz, Bielefeld 2007, S. 37- 48, hier S. 43f. 287 | Bataille, Œuvres complètes, Vol. VIII, Paris 1970-1988, S. 207, zit.n. Ebeling, Die Falle, S. 49

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Es geht nicht darum, die Sprache aufzugeben, schließlich bedient sich auch Bataille eines Textes, sondern sich von der Autorität der Sprache zu verabschieden. Mit anderen Worten, Bataille weist auf die Krise der Sprache hin, um nach einer Sprache der Krise, des Bruchs, des Nicht-Wissens zu suchen. Diese aber kann niemals eine Sprache des Ganzen, der Kontinuität oder der Wahrheit sein, sondern muss der »Sprachlosigkeit des ›Äußersten‹«288 – was nichts anderes als die Operation der Überschreitung selbst ist – entsprechen. Dies wäre demnach eine Sprache, die ihre eigene Verzweiflung und Zerrissenheit ausdrückt. Blicken wir auf die Beschreibung der Tanzsprache in Dark Matters, dann können wir dort durchaus eine Sprache erkennen, die in Brüchen und Zweideutigkeiten operiert und sich mithin deutlich näher an diffusen Zuständen der Erinnerung, des Traums und der Illusion orientiert als an einer Darbietung bestimmter Konflikte. Es ist eine Sprache des Außer-sich-Seins und der Abweichung, die bei Bataille, weil sie eben nicht ontologischen Kriterien entspricht, als Sprachlosigkeit Erwähnung findet. In der selben Weise, wie das andere Wissen – also jenes sensuelle, erotische und instabile Wissen,289 das Wissen um die »sinnlichen Gewissheiten« – bei Bataille als non-savoir bezeichnet wird, entspricht die andere Sprache bei Bataille dem Begriff der Sprachlosigkeit. Dabei geht es also um einen bestimmten Modus der Sprache, eine bestimmte Form. In Dark Matters zeigt sich dieser Modus im Zusammenspiel von komplexen physischen Bewegungen, dem Licht, dem Ton, der Geschwindigkeit und den Auf- und Abtritten der Tänzer. Hier entsteht eine Dichte von Eindrücken, die zwangsläufig eine wahrnehmungsästhetische Erfahrung«290 der Intensität hervorbringt, die sich als Leere, Ungewissheit oder Nicht-Wissen und Sprachlosigkeit ausdrückt. Ein zuckender Fuß beispielsweise, der mit dem Rhythmuswechsel der Musik seine Achse verändert und sogleich darauf einen neuen Schatten in den Raum wirft, welcher seinerseits wiederum plötzlich als endlos erscheint, kann ein ganzes Solo dominieren und eine Verunsicherung hervorrufen, die, weil sie keine Erklärung liefert, einen Zustand des Schocks verursacht. Dieser Modus, in dem ein Fuß, eine Hand, ein Schatten oder 288 | Ebeling, Die Falle, S. 127. 289 | Vgl. S. 94. 290 | Bohrer, Das Tragische, S. 181.

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ein Ton, oder eben alle gemeinsam, einen Zustand der Verunsicherung, der Leere etc. hervorbringen, ist der Modus des ästhetisch Bösen: Das müsste ein Modus sein, der das Vertrauen in unverzichtbare Sicherheiten der moralischen Verabredungen mit uns selbst und anderen verletzt. Und da zeigt sich, daß in der Ästhetik des Schreckens und der Angst eben auch eine solche Verunsicherung des moralischen Kategoriensystems stattfindet, ohne das Verunsicherung selbst als solche benannt und dadurch quasi wieder unter die moralische Kontrolle gebracht wird. 291

Gerade weil der Tanz eine nichtbegriffliche Form des Denkens darstellt, der Zuschauer antizipierend tätig sein muss, und das Pathos in diesem Hinzutun umso fühlbarer wird, lässt er sich als ästhetische Praxis der Überschreitung, als Ausübung der »Sprachlosigkeit des Äußersten« – oder als Sprachlosigkeit im äußersten Zustand – mit der Tragödie und ihrem Pathos verbinden. Das ästhetisch Böse als Modus der Überschreitung ist hier verbindendes Element zwischen Tragödie und Tanz. Hierin spiegelt sich auch das Denken Batailles wider, das auf ganz konkrete Weise in Dark Matters auf den Plan gerufen wird: Wir erinnern uns an Voltaires Gedicht im ersten Teil der Performance, in dem der Optimismus der Aufklärung angesichts der Katastrophe, die Portugal heimgesucht hatte, fundamental in Frage gestellt wird. Die von Voltaire aufgeworfene Frage und der mit ihr einhergehende Zweifel an den positivistischen Fundamenten der Moderne liefert einen Kommentar zu Dark Matters, den Bohrer als »Zeitgeist des Katastrophalen« bzw. ein »[…] auf Katastrophen eingestelltes Bewusstsein«292 bezeichnet hat. Diese Modernitätsbestimmung, die das grausame, exzessive, dunkle Sein – also das Böse – entgegen Vernunft- und Fortschrittsgläubigkeit, entgegen den Kategorien von Mäßigkeit und Vermittlung als Stimmung der Moderne aufspürt, dient in Dark Matters als Subtext und legt somit auch seinen eigenen Antrieb frei, nämlich die Faszination für das Absurde, das Dunkle, das Kontingente, die Verunsicherung und die Verfemung im Allgemeinen. Es ist eine Spur, die uns zu Bataille führt. Wobei Bataille anstelle von einer spezifisch modernen eher von einer immer schon existenten und in der moderne wiederkehrenden Faszination 291 | Ebd., S. 264. 292 | Ebd., S. 35.

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ausgeht.293 Für ihn ist es eben diese Faszination für die von der modernen Gesellschaft durch das Dogma der Vernunft, verfemten Bereiche, die den Menschen und mit ihm seine Zerrissenheit, seine Überschreitung und Ambivalenz ausmacht. Und gerade weil diese »[…] Faszination am Absurden und Ekelhaften, die in der modernen Literatur bewusst hergestellt wird, in der griechischen Tragödie aber schon unbewusst auftritt«294, hat Bataille sie als das ästhetisch Böse eingestuft und somit die Gegenwart der Tragödie über das Moment der Verausgabung gedacht. Insofern hängt vom Erkennen des Charakters der Moderne – nämlich des paradoxen und bösen Charakters – auch das Verstehen des Tragischen in der Moderne ab. Und weil sich bei Bataille das Tragische mit seinen Begriffen der Überschreitung, der Verausgabung, dem Tod, des Opfers, der Angst, der Intensität, dem non-savoir etc. verbindet, lassen sich auch dort Erscheinungen des Tragischen finden, wo es keine tragische Handlung per se gibt, sondern wo die Verausgabung den Exzess und das Maßlose vorantreibt und den Sinn verausgabt. Wenn also die Tragödie – und darin folgen wir Bohrer – grundsätzlich »Formen des Außer-sich-Geratens«295 thematisiert und diese Formen als Gesten der Überschreitung übersetzt werden können, dann – so haben wir hier zu zeigen versucht – lässt sich mit Bataille die Erfahrung des Tragischen als Verausgabung bezeichnen. Pointiert gesagt: Das Tragische ist ästhetisch tragischer Ausdruck der Verausgabung. Mit dieser paradoxietheoretischen Bestimmung des Tragischen und der Verknüpfung zu einer Theorie der Verausgabung lassen sich viele weitere Arbeiten ins Feld führen, die einer modernen Tragödie gerecht würden. Zu nennen wären hier zahlreiche Performancekünstler, aber insbesondere Arbeiten von Jan Fabre, William Forsythe, Meg Stuart, Rabih Mroué, Marina Abramović, Sidi Larbi Cherkaoui, Walid Raad, Jérôme Bel, Laurent Chétouane, Sophie Calle, Cindy Sherman u.a.

293 | In »Die Tränen des Eros« untersucht Bataille diese Faszination und ihre Wandlung am Beispiel prähistorischer Höhlenmalereien bis hin zur Kunst des 20. Jahrhunderts (vgl. Georges Bataille, Die Tränen des Eros, Berlin 2005). 294 | Ebd., S. 268. 295 | Ebd., S. 243.

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3.3 Souveräne Ästhetik: Tragödie und non-savoir Das Tragische unter dem Gesichtspunkt der Verausgabung zu betrachten, bedeutet für die Bestimmung der Moderne, dass die Konsequenzen des Tragischen sehr viel weitreichender sind, sprich das Tragische nicht nur in der Tragödie bzw. in der Kunst im Allgemeinen zu verorten ist, sondern sein Wirkfeld jenseits moralischer Kategorien auch über ästhetische Bereiche hinausgeht. Auch hierin hat Bataille bereits Vorarbeit geleistet, wenn er durch sein Denken zwischen Philosophie, der Anthropologie, der Literatur und der Kunst die Spur der Verausgabung und ihre »Formen des Außer-sichGeratens« zu lesen versucht hat. Und weil sich bei dieser Lesart zeigt, dass alle normativen Gewissheiten dahin sind, oder zumindest nicht ausreichen, »[…] um Wirklichkeit und Sittlichkeit in Übereinstimmung zu bringen«296, kann das Tragische bei Bataille »als eine diskursive Voraussetzung«297 der Moderne verstanden werden. So, wie er die Erotik als tragisch fasst, kommt auch den anderen verfemten Momenten, dem Wahnsinn, dem Opfer, dem Tod dieses »Stigma« zu. Sie alle sind Momente der tragischen Moderne und des tragischen Menschen in ihr. Tragisch sind sie auch oder gerade deshalb, weil sie sich der Erkenntnis immer schon entziehen und der Ebene des Diskursiven nicht oder zumindest nicht ohne ihre Negation zugänglich sind.298 296 | Ebd., S. 403. 297 | Ebd., S. 403. 298 | Das Tragische bei Bataille kommt nicht ohne einen Hinweis auf Nietzsche aus. Besonders deutlich wird dies in seinem dreiteiligen Band »Somme Athéologique«, in dem er gewissermaßen in eine intime Kommunikation mit Nietzsche tritt: »Mein Leben in der Begleitung Nietzsches ist eine Gemeinschaft, mein Buch ist diese Gemeinschaft« (Bataille, Nietzsche und der Wille zur Chance, Gerd Bergfleth (Hg.), Berlin 2005). Gerd Bergfleth spricht sogar von einer Geistesverwandtschaft, die »[…] in einigen grundlegenden Institutionen, wie der Selbstverschwendung, der Souveränität als Abkehr vom Zweckdenken und vom Nutzenkalkül, dem Extremismus als der Leidenschaft, in allen entscheidenden Dingen bis zum Äußersten zu gehen, und nicht zuletzt in der Atheologie [liegt, Anm. d. Verf.]« (Gerd Bergfleth, Batailles atheologische Mystik, in: Nietzsche und der Wille zu Chance, S. 337-389, hier S. 349). Diese Institutionen, die Bataille mit Nietzsche teilt, umfassen im Prinzip sein gesamtes Denken. Man kann sagen, Nietzsches Spur

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Weil Bataille aber den Grenzen des Sagbaren auf der Spur ist, er das Paradox, das Unsagbare sagen zu wollen, als »tragische Wunde«299 der Moderne versteht, spürt er in einer doppelten Bewegung die verfemten Momente als Außerhalb der Diskursivität auf, um in der nächsten Bewegung durch seinen exerzierten Diskurs des Außerhalb eine Öffnung an der Grenze des Möglichen bzw. der wissenschaftlichen Analyse zu schaffen, jedoch nie ohne die heterogenen Phänomene erfahrungstheoretisch zu fassen, sprich ihre Erfahrbarkeit vor ihre Erkenntnis zu setzen. Beispiele für diesen doppelten Modus, in dem die Sprache zur Ausführung kommt, welche bereits Erwähnung fanden, sind der L’Anus solaire und das L’Œeil pinéal300. Mit dem Bild des Sonnenanus bzw. Schädelauges zeigt sich wie Bataille das Tragische als Bestimmung der Moderne – als ihr Riss – diskursiv voraussetzt, und die ausschließende Funktion der Sprache kritisiert, um von der Ebene des Diskurses auf die Ebene der Erfahrung zu gelangen. Indem er nach Bildern sucht, die von der Erfahrung des Unmöglichen sprechen, bzw. das Unmögliche sagen, schafft er eine wissenschaftliche Grenzüberschreitung hin zum Ästhetischen, Symbolischen, Erotischen. Was also in der Sprache des wissenschaftlichen respektive philosophischen Diskurses nicht möglich zu sein scheint, wird in Form von Figurationen, Phantasmen, dem Obszönen in der Literatur oder anhand heterogener Phänomene, wie dem Potlatsch oder dem Opfer versucht. An dieser Grenze, an der die philosophische Erkenntnis endet, setzt eine »souveräne Disziplin der Ästhetik« ein: Die souveräne Disziplin der Ästhetik – eine Disziplin, die ihre Potenz aus der Zerschlagung einer Utopie der Aufhebung der Entfremdung bezieht, d.h. aus ihrem Gegensatz zu einer klassischen Ästhetik – hätte als zerschellter Traum der Wissenschaft ihren Ort an dieser Grenze. 301

Ebelings Begriff einer souveränen Ästhetik in Anlehnung an Batailles »Wissenschaft der Souveränität« steht für eine souveräne, man könnte durchquert Batailles Œuvre. Nicht zuletzt entnimmt er ihm die Bestimmung des Tragischen als böse. 299 | Zum Begriff der Wunde siehe Kapitel II. 300 | Vgl. Kapitel II Abschnitt 7. 301 | Ebeling, Die Falle, S. 22.

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auch sagen großzügige Wissenschaft, die jene verfemten Bereiche in sich aufnimmt, die sonst von der Wissenschaft ausgeschlossen sind, und somit die Überschreitung nicht nur zu ihrem Objekt hat, sondern vielmehr selbst durchführt. Es geht um eine Kontingenz der Begriffe, die eine großzügige Lektüre insofern voraussetzt, als sie ihren eigenen Sinn aufs Spiel setzt. »Die allgemeine Ökonomie der souveränen Wissenschaft funktioniert wie die dépense als unbegrenzte Verschwendung einer prinzipiell nicht begrenzbaren Sinnproduktion.«302 Die allgemeine Ökonomie bezieht sich somit nicht nur auf, sagen wir wirtschaftliche Ressourcen, sondern auf das Denken selbst. In ihr käme einer souveränen Ästhetik die Aufgabe zu, die inkommensurable Erfahrung der Sinnlichkeit als Zäsur oder Riss in sich zu tragen ohne sie unter Begriffe der Vernunft unterzuordnen und derart wieder aufzuheben. C’est la souveraineté de l’esthétique que je pose […] La souveraineté de l’esthétique subordonne la philosophie […] mais elle est cette fois subordonnée non plus à l’objet intellectuellement et dogmatiquement défini de l’expérience, mais directement à l’expérience se faisant, n’acceptant plus limite et al.lant toujours à l’extrême du possible. 303

Am extremsten Punkt des Möglichen zu denken, um über jenes hinauszugehen, was sich im Rahmen des Bekannten, der Wahrheit, des Sicheren, des Lichts usw. bewegt – an dieser Grenze angelangt, beginnt das exzessive Denken und der Bereich der Ästhetik als Bereich des Genusses. Selbst das Denken (die Reflexion) vollendet sich in uns nur im Exzeß. Was bedeutet Wahrheit außerhalb der Vorstellung des Exzesses, wenn wir nicht das sehen, was über die Möglichkeit des Sehens hinausgeht, das zu sehen unerträglich ist, wie in der Ekstase der Genuß unerträglich ist? Wenn wir das nicht zu denken vermögen, was die Möglichkeit, zu denken, übersteigt […]?304

Diese souveräne Ästhetik erlaubt somit keine Opposition zwischen der Sinnlichkeit, dem Exzess, dem Rausch etc. und dem Denken bzw. der 302 | Ebd., S. 352. 303 | Bataille, Œuvres complètes, Vol. VIII, S. 578f. zit.n. Ebeling, Die Falle, S. 367. 304 | Bataille, Edwarda, S. 60

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Reflexion – so als ob der Körper getrennt vom Kopf funktioniere. Auch dies drückt sich im Phantasma des Sonnenauges als denkender Körper aus. Es geht wie wir bereits sahen, nicht darum das Denken und mit ihm die Sprache zu liquidieren, sondern einen anderen Ort der Sprache hinzuzuziehen – nämlich den Körper. Analog zu den Öffnungen des Körpers, die Bataille immer wieder in seinen Texten – ob nun im Bild des Sonnenanus oder der Falle Edwardas – zelebriert, muss das Denken und die Sprache ihre eigenen Öffnungen, Risse und Fallen eingestehen und offenhalten. Die souveräne Ästhetik Batailles richtet ihr Augenmerk auf genau dieses Dunkel, das vom Licht der Wissenschaft verdeckt wird, auf die Diskontinuitäten, die seine Kontinuität kaschiert, auf die Sprünge, Lücken und Fallen der Wissenschaft und des Bewußtseins – mit einem Wort, auf die Ungeheuer […]. 305

An dieser Stelle kommt die Tragödie erneut ins Bild. Lehmann findet in der Antigone eine Entsprechung für die »Bildlichkeit des Ungewissen«306. Antigones Tat geschah also in dem Moment, als der Wind die Erde hoch aufwirbelt. Die Sphären der unteren Erdgötter und der Himmelsgötter […] vermischen sich, die Erde, der gefährliche dunkle Schoß kommt hoch, das Himmelslicht wird trüb, der Staub lässt die Wächter blinzeln, sie können nicht richtig sehen. Zwischen den entgegengesetzten Sphären kommt es zu einer Verwischung und Vermischung, eine dritte, unklare Wirklichkeit der Übergänge und Unentscheidbarkeit wird mit Antigones Tat verknüpft. 307

Lehmanns Interpretation der zweiten Rede des Wächters könnte einer Szenenbeschreibung von Dark Matters entspringen. Es ist die Poesie und Metaphorik von Licht und Dunkel, von Erscheinung und Abwesenheit von Hoch und Niedrig, Himmel und Erde, Klarheit und Trübung, die bei Dark Matters zur Sprachlosigkeit führen und die Lehmann in der Antigone als »Sphäre der Undeutlichkeit« ausmacht. Es ist bezeichnend, dass genau jene Sphäre bei Lehmann ein »Verweis auf ein Nichtwissen, 305 | Ebeling, Die Falle, S. 370. 306 | Hans-Thies Lehmann: Erschütterte Ordnung. Das Modell Antigone, in: Das Politische Schreiben, S. 22-37, hier S. 29. 307 | Ebd., S. 30.

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ein Nicht-zu-Wissendes, ein Ungewusstes, eine Dimension jenseits und außerhalb von Setzung und Satzung, weniger eine Gegen-Position als eine Geste wider alle Position, eine De-Position«308 darstellt. Bohrers Argument, der Schrecken der Tragödie entspringe dem Unbekannten ließe sich mit Lehmann um eine bemerkenswerte Deutung erweitern. Es findet gewissermaßen eine Umkehrung der Argumentationskette statt; das Pathos entspringt nicht nur der Sphäre des Unbekannten und ist deshalb schrecklich, sondern die Tragödie selbst ist Thematisierung dieser Grenze von Wissen und Nicht-Wissen und darin zeigt sich ihr Pathos als eines des Schreckens. Am Beispiel der Antigone zeigt Lehmann, dass es nicht um einen Rechtsdisput, eine Auseinandersetzung kollidierender Interessen geht, sondern um die Grenze dieses Rechts, der Vernunft, des Rationalen selbst. Anstelle eines Gegeneinanders verschiedener Meinungen, geht es um eine »andere Art des Meinens«. Auch hier unterläuft die Form des Gesagten die Sprache bzw. den Inhalt selbst. Antigones Sprache ist eine andere Sprache, eine Sprache des Anderen und der Abweichung, »[…] in welcher das Motiv des Unwissens, der Unsicherheit, des Ungewissen immer wieder zum Zuge kommt und sich gegen das ›vorgeschriebene‹ Gesetz richtet […]«.309 Insofern ließe sich mit Lehmann behaupten, dass die Tragödie die Überschreitung auf der Ebene der theatralen Artikulation durchführt. Sie so zu lesen, nämlich als Text der Verunsicherung, der Überschreitung des Wissbaren und der Gewissheiten – sprich der Ordnung – ermöglicht eine Öffnung der Sprache hin zu ihren offenen Stellen. An diesen eröffnet sich »[…] ein weiterer Spielraum für Versuche […]«310 das Tragische im Sinne einer souveränen Ästhetik als Verausgabung zu denken. Um erneut Bataille zu Wort kommen zu lassen: »Il s’agit, du moins dans la tragédie, de nous identifier à quelque personnage qui meurt et de croire mourir alors que nous sommes en vie […]«311 Für Bataille verbindet sich mit der Tragödie ein Aufreißen des Bewusstseins – nämlich als Konzentration auf die Sinnlichkeit, die sich nicht im rationalen Kalkül aufrechnen lässt und somit außerhalb einer zweckrationalen Ökonomie 308 | Ebd., S. 31. 309 | Lehmann, Erschütterte Ordnung. Das Modell Antigone, S. 30. 310 | Ebd., S. 35. 311 | Bataille, Œuvres complètes, Vol. XII, S. 337, zit.n. Ebeling, Die Falle, S. 445.

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operiert. Auch die Tragödie ist demnach Teil einer allgemeinen Ökonomie und verweist auf die Differenz anstelle der Wahrheit. Die Poesie ist zuerst ein natürlicher Ausdrucksmodus der Tragödie, der Erotik, des Komischen (und sogar vor allem des Heroismus): sie gibt der Ordnung der Wörter die großen Energievergeudungen wieder; sie ist das Vermögen der Wörter, die Ergießung zu beschwören, die unmäßige Verausgabung der eigenen Kräfte: sie fügt derart der bestimmten (komischen, tragischen…) Ergießung nicht nur das Fluten und den Rhythmus der Verse hinzu, sondern die der Unordnung der Bilder eigentümliche Fähigkeit, die Gesamtheit der Zeichen zu vernichten, die die Sphäre der Aktivität ausmachen. 312

Insofern löst die Tragödie den Anspruch einer souveränen Ästhetik ein, dem wissenschaftlichen Diskurs die Grenze entgegen zu halten. In seinem Vorwort zu Madame Edwarda fordert Bataille »[…] die Wahrheit der Erotik […] tragisch – zu nehmen.«313 Tragisch ist hier nicht im geläufigen Sinne als »traurig« zu verstehen, denn von der Trauer hält Bataille wenig314, es geht ihm um das Unbekannte, Verstörende, das Fremde der Erotik. Diese Identität des Erotischen sieht Bataille im Begriff des Tragischen realisiert. Das Tragische wird mithin zur Identität heterogener Phänomene. Auch Ebeling erkennt diese Verbindung wenn es bei ihm heißt: »Das Opfer bei Bataille ist – wie die Erotik, die Tragödie und, um es vorweg zu nehmen, auch die Literatur – ein Mittel, um seinem Bewußtsein den Tod beizubringen […]«.315 Den Tod in der Tragödie beigebracht zu bekommen – oder wie sich in Anlehnung an Brecht sagen lässt: Sterben-lernen macht die verstörende Erfahrung des Tragischen aus. Wie sich in Dark Matters gezeigt hat, geht die Imagination des Todes nicht zwangsläufig mit sterbenden Körpern einher. Vielmehr ist es die Erfahrung sinnferner epiphanischer Momente, des Schreckens, der 312 | Bataille, IE, S. 260. 313 | Bataille, Edwarda, S. 58. 314 | Für Bataille steht die Trauer im Dienste jenes Betruges der Realität, der uns Glauben lassen will, das Leben sei von unendlicher Dauer bzw. der Tod sei aufschiebbar. Die Traurigkeit über den Tod ist das Gegenteil der Bejahung des Lebens (vgl. Bataille, Theorie der Religion, S. 42f). 315 | Ebeling, Die Falle, S. 273.

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Plötzlichkeit, des Unbekannten etc. die sich als Krise oder Sprachlosigkeit bemerkbar machen. In einer vom tragischen Pathos geprägten Tanzsprache, im Spiel mit der Undeutlichkeit, der Trübung, der Plötzlichkeit im Wechsel von Licht und Dunkel offenbart sich in Dark Matters exemplarisch eine souveräne Ästhetik des Ungewissen als Angst und Ausgesetztheit, als Jammern und Schaudern. Dies ist der Moment, in dem das Bewusstsein seine Sprache verliert, seine Grenze weiß und den Tod lernt. Diesen Bereich der Differenz, der die Angst, den Tod, die Erotik usw. beschreibt, will Bataille mit Hilfe jener Figuren, die als tragisch gekennzeichnet sind, erreichen.

4. D as O pfer : D ie P reisgabe Es ist gerade der paradoxe, »unmögliche« Charakter dieser Umfunktionierung des Todes in das Leben, der die Ambivalenz des Opfers ausmacht. Das Opfer ist gleichzeitig die Norm und ihre Verletzung, die Einhaltung einer Grenze und die Grenzüberschreitung, kurz gesagt, die anthropologische Verkörperung eines Oxymorons: eine transgressive Institution. 316

Die rückhaltloseste jener Figuren Batailles, in der der Exzess und das Ästhetische als Überschreitung sich verbinden, ist das Opfer. In ihm kommen die innere Erfahrung, der Modus der Gabe, der Tod und die Tragödie zusammen. Wenn die Tragödie für Bataille die Bibel des Unbewussten317 und somit der »Versuch der Kommunikation des Unmöglichen«318 ist, dann ist das Opfer eben jener heterogene Akt der Kommunikation innerhalb der Tragödie. Um jenes Opfer, das dem Bewusstsein den Tod beibringt, soll es im Folgenden gehen. 316 | Ebd., S. 246. 317 | »Lautréamont comme bible l’inconscient, en réalité cette bible est encore la tragédie antique, poésie par tous.« (Bataille, Œuvres complètes, Band III, S. 537, zit.n. Finter, Poesie, Komödie, Tragödie, in: Vorreden zur Überschreitung, S. 273). 318 | Finter, Poesie, Komödie, Tragödie, in: Vorreden zur Überschreitung, S. 273.

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Das Opfer lediglich als Tötung oder Zerstörung zu verstehen, unterschlägt, dass es als das ganz Andere, Inkommensurable eben nicht in jene Bereiche des Kalküls und des Sinns zu verorten ist. Schließlich geht es, sprechen wir von heterologen Praktiken, immer erst darum, die Ordnung des Homogenen zu unterlaufen. Insofern bleibt das Opfer bei Bataille immer eingebettet in sein Denken einer allgemeinen Ökonomie und ihrer Verausgabung einerseits und die Formulierung der Möglichkeit einer »inneren Erfahrung«, einer Rückkehr in die Immanenz sowie einer sakralen Überschreitung andererseits. Das ökonomische und politische Denken Batailles ist von seiner Soziologie des Sakralen und der Erotik nicht zu trennen. Am Opfer zeigt sich exemplarisch, wie die Bataille’schen Begriffe der Gemeinschaft, des Todes, der Verausgabung, des Eros, der Kontinuität, der Akkumulation usw. zusammenlaufen und sich gegenseitig bedingen. Doch wie sollen wir nun diesen paradoxen Charakter des Opfers als Preisgabe verstehen? Es gilt die Bataille’schen Begriffe umzudeuten, ihnen eine andere Lektüre zukommen zu lassen, um aufzuspüren, auf welche Weise sie auf das Andere hinzeigen. Wie wir bereits gezeigt haben, geht Batailles Opfertheorie aus seiner Auseinandersetzung mit Hegel hervor. Entgegen der Figur der Aufhebung, interveniert das Opfer gegen die Verdinglichung des Nicht-Identischen. Statt den Tod durch seine Repräsentation zu ersetzen, lässt das Opfer keine Zähmung seiner Fremdheit bzw. der Alterität zu. Vielmehr widersteht das Opfer jeglicher Umdeutung in eine Ordnung der Arbeit. Als ganz und gar unsinnig markiert das Opfer seinen souveränen Bereich, indem es anstelle des Todesbewusstseins – mit dem die knechtische Welt der Arbeit erst entstehen kann und der Mensch sich im absoluten Wissen selbst anschaut – den Mensch mit seiner eigenen Alterität in Berührung bringt, jedoch ohne phänomenologische Selbstbetrachtung. Die Selbstbeobachtung, in der sich das Subjekt außerhalb der nicht-menschlichen Immanenz begreift und somit mit dem Kontinuum der Welt bricht, in dem es einen Unterschied zwischen Subjekt und Objekt inauguriert und das Nicht-Identische verdinglicht, wird hier außer Kraft gesetzt.319 Inwiefern ist diese Funktion des Opfers relevant für das Theater und die darstellenden Künste? Zunächst einmal zieht die Frage nach dem Op319 | Vgl. insbesondere Kapitel II Abschnitt 6.

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fer immer auch die Frage nach dem Körper nach sich. Ist es nicht der Körper der im Opfer zu allererst betroffen – gar zerstört wird? Ist es das, was Bataille fordert, wenn er die Trennung von Subjekt und Objekt aufhebt und durch den Selbstkonsum des Opfers alle Gegenständlichkeit beseitigt sehen will? Die Antwort hierauf mag überraschen: Was Bataille eigentlich mit seiner Opfertheorie zerstört sehen will, ist die Dominanz des Verstandes. Wir erinnern uns, der Knecht flieht vor dem Tod aus Angst vor dem Schmerz in die Arbeit und wird zum Objekt. Sein Körper wird zum Ding. Die Trennung von Subjekt und Objekt und die mit ihr einhergehende Verdinglichung soll durch das Opfer rückgängig gemacht werden. Was aber an diesem Vorgang hebt die Trennung wieder auf? Dass ein Körper seinen Zustand verändert, indem er zerstört wird, kann keine ausreichende Erklärung sein. Bataille selbst spricht, wie wir wissen, von einer Identifikation zwischen Opfer und Opferndem. Entscheidend an dieser Identifikation jedoch scheint, dass es keine spiegelbildliche Anschauung ist, die im Opfervorgang stattfindet. Ganz im Gegenteil: Es geht gerade um den Verlust des Bewusstseins, welches sich im Angesicht des Todes nicht zum Selbstbewusstsein transzendieren und somit auch nicht innerhalb einer Selbstbetrachtung anerkennen kann. Das Opfer setzt jede bewusstseinsmäßige Betrachtung aus und opfert jeglichen Sinn. Der Tod, den das Opfer darstellt offenbart somit nichts – keine verborgene Wahrheit und keinen anderen Sinn. An dieser Stelle klafft lediglich eine Wunde, die nichts anderes als eine Leerstelle zu sein scheint. Dies ist laut Ebeling Batailles zweite Opfertheorie, die gewissermaßen das archaische Opfer ablöst und anstelle des Opfer(-körpers) den Sinn setzt.320 Anhand der Bataille’schen Figur der supplice (Qual, Folter, Schmerz) zeigt Ebeling inwiefern das, was das Opfer eigentlich opfert, vielmehr den Verstand als den Körper betrifft.

320 | Das zweite »Bataille’sche Opfer« hebt das erste Opfer, nämlich die Hegel’sche Aufhebung der Sinnlichkeit auf. Indem Bataille das Opfer auf den Sinn bezieht, macht er die Hegel’sche Opferung der »sinnlichen Gewißheiten« rückgängig. Gerade in dieser Geste zeigt sich, dass das Opfer in erster Linie auf den zerstörenden Sinn, die Negation, sprich die transzendierende Tätigkeit, die die Trennung von Geist und Materie erst hervorbringt, abzielt (vgl. Ebeling, Die Falle, S. 45 ff).

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Weil man dem Schmerz keinen gegenständlichen Charakter zu geben vermag – er ist, was die Gegenständlichkeit zerstört –, ist der Mensch im Schmerz unfähig, sich sein eigenes Objekt zu sein, das er dem Streben nach einem zukünftigen Ziel unterwerfen könnte […] Der Augenblick des Schmerzes ist für die Vernunft nicht erreichbar. 321

Interessant an Ebelings Darstellung ist die Verschiebung von einem körperlichen Schmerz zu einem Schmerz des Verstandes. Denn der Körper offenbart gerade in der Unmittelbarkeit seiner Empfindung – der Irreduzibilität des Schmerzes – das non-savoir, zu dem der Verstand keinen Zugang hat, da er von der körperlichen Erfahrung abgetrennt ist. Dieses Verwehrtsein – dieses nicht-wissen – quält die Vernunft, denn im Schmerz wie im Opfer erfährt sie die Unmöglichkeit sich selbst zu betrachten, »[…] was schmerzt, überschreitet das eingrenzende Feld, das dem Bewußtsein erscheint.«322 Dass der Schmerz hier die körperliche Erfahrung übersteigt, bzw. vielmehr auf eine »Folter des Geistes« abzielt, lässt sich in gleichem Maße für das Opfer sagen. Die Gewalt des Opfers trifft bei Bataille das Bewusstsein noch vor dem Körper. Wie das Opfer sagt »[…] der Begriff der Gewalt nicht, was Gewalt eigentlich ist. Er sagt lediglich, dass die Gewalt dasjenige ist, was sich nicht auf die Grenzen der Vernunft beschränkt.«323 Insofern ist die Überschreitung, die das Opfer und ihr Schmerz, vollziehen eine, die das Nicht-Verstehen in vollem Maße praktizieren. Die supplice ist die Wunde des nicht durch das projektile Bewußtsein geschützten Menschen. Die Wunde schließt den Leidenden an das an, was das Bewußtsein auszuschließen trachtete. 324

Dieses Außer-sich-Sein, als Erfahrung der radikalen Alterität ist, was das Opfer zu einer inneren Erfahrung bei Bataille macht. Und als innere Erfahrung des Ausgesetzt-Seins, so wie man seinem Schmerz ausgesetzt ist und dies aber auf intimste Weise erfährt, führt das Opfer zu einer Kommunikation, welche die Grenze des Sagbaren weitertreibt. 321 | Ebeling, Die Falle, S. 225. 322 | Ebd., S. 228. 323 | Ebeling, Die Falle, S. 234. 324 | Ebd., S. 227.

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Gerade weil das Opfer bei Bataille nicht auf den Körper zu reduzieren ist und zu allererst die Herrschaft der Vernunft und des Sinns opfern will, steht es exemplarisch für eine Praxis der Überschreitung, die bei Bataille an anderer Stelle explizit die Kunst, die Poesie und die Literatur betreffen. Die Poesie führt zu demselben Punkt, zu dem jede Form der Erotik führt – zur Ununterscheidbarkeit, zur Verschmelzung der unterschiedlichen Gegenstände. Sie führt uns zur Ewigkeit, sie führt uns zum Tod, und durch den Tod zur Kontinuität: Die Poesie ist Ewigkeit. 325

Die Arbeiten, die wir im Folgenden besprechen, erbringen ihr Opfer auf unterschiedlichste Weise und zeigen wie das moderne Opfer als »Sterbelehre« aussehen kann. Im heterogenen Umgang mit dem Opfer und seiner vielseitigen Interpretation, zeigen folgende Beispiele, dass ein Opfer auch durch die Abwesenheit von Körpern oder ihre Fragmentiertheit gegeben sein kann und dass die Thematik des Opfers in der Moderne keineswegs obsolet geworden ist.

4.1 Janez Janša – der andere Name Bei Janez Janša handelt es sich um drei Performancekünstler, die sich 2007 nach dem slowenischen Premierminister Janez Janša umbenannt haben. Ihre Geburts-Namen Emil Hrvatin, Žiga Karižin und Davide Grassi legten sie offiziell ab. Der Akt der realen kollektiven Namensänderung steht noch vor dem politischen Kontext für einen Schock. Die offizielle Aufgabe des Geburtsnamens evoziert diesen Schock in allen Bereichen des Lebens – dem öffentlichen wie den privaten. Der Name, der zur Identifizierung dient – für sich selbst wie für andere – ist nicht mehr gültig und somit sind die Parameter, die zur Identität führen, selbst betroffen. Der Name einer Person ist, obwohl es ihn meist vielfach gibt, aufs Engste mit ihrer Identität – insbesondere der von außen projizierten Identität – verwoben. Der Mensch der man ist, ist man für andere immer in Verbindung mit dem Namen. Ändert man diesen Namen, ändert sich auch eines der fundamentalsten äußeren Charakteristika. Weshalb Janez Janša die Namensänderung

325 | Georges Bataille: Der heilige Eros (L’Èrotisme), Frankfurt [u.a.] 1974, S. 24.

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auch als Sterben beschreibt. Der Tod des Namens ist der Tod der Person für andere. What happens is a shock to the system of perception, for others must distinguish you from others by using a new name. But the new name means that they must also distinguish you from yourself. In this sense, it is perhaps possible to talk about the change of projection, the change of the projected part of identity, that is, the part which is projected onto you by the others – they call you neither »Žiga Kariž« nor »Janez Janša« but rather »the guy who’s changed his name«. In my view, the act of changing one’s name is akin to the act of dying: the change of name affects others, that is, the people who actually use my name, far more than it affects me – or us. It is the same with death – one always dies for the others; you have died and you have nothing to do with it, as you are dead, but the others have to deal with it. 326

Ganz im Sinne Batailles, beschreibt Janša wie der Tod und die Unmöglichkeit seiner Erfahrbarkeit im Akt der Namensänderung performativ wiederholt wird. Der Hegel’sche Kontext von Todesbewusstsein und Verdinglichung, der grundlegend für Batailles Opfertheorie ist, taucht hier auf. Das Todesbewusstsein ist, wie wir wissen, für die Verdinglichung des Menschen verantwortlich, weshalb Bataille dieses mit dem Opferritus liquidieren will. Er will den Tod mit Hilfe des Opfers erfahrbar machen, um die Verdinglichung des Nicht-Identischen zu brechen. Anstelle dieser Verdinglichung tritt die Intimität zwischen Opfer und Opferndem. Nun kommt Janša im Interview mit Lev Kreft auf die verdinglichende Funktion des Namens zu sprechen, wenn er ihn als Unterscheidungsmerkmal des Nicht-Identischen bezeichnet.327 Der Name operiert ihm zufolge auf verschiedenen Ebenen als Differenzierungsmerkmal: sowohl auf administrativer bzw. juridischer Ebene, wo er als Er-Kennungsmerkmal dient und Kontrollfunktion hat, als auch auf psychologischer Ebene, wo der Name als Identifizierung bzw. Projektion operiert. Im Zeitalter sozialer Netzwerke kommt dem Namen eine weitere Funktion zu; er wird als »username« gewissermaßen der Schlüssel zum Eintritt in die Privat326 | Lev Kreft: The Name as a Readymade, An interview with Janez Janša, Janez Janša and Janez Janša, www.aksioma.org/interview_kreft.html vom 25.05.2014. 327 | Lev Kreft: The Name as a Readymade, An interview with Janez Janša, Janez Janša and Janez Janša, www.aksioma.org/interview_kreft.html, vom 25.05.2014.

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sphäre, denn nur mit diesem Namen wird man Teil einer Internetcommunity und nur über ihn ist man identifizierbar. Diese Funktion ist eng verknüpft mit dem Namen als Markenzeichen. Hier dient der Name innerhalb einer Vermarktungsstrategie zur Etablierung einer bestimmten Positionierung. Im Fall Janez Janša – hier ist die Rede vom tatsächlichen Premierminister, welcher seinen Vornamen Ivan in den »slowenischer« klingenden Namen Janez hat ändern lassen – dient der Name der Etablierung eines nationalistischen Images.328 In diesem Sinne versteht Janša auch das Sprichwort »Sich einen Namen machen«, es bedeutet im neoliberalen System nichts anderes als sich als Marke zu verstehen. Insofern bedeutet die kollektive Namensänderung zu Janez Janša auch auf allen Namens-Ebenen einen »Crash«, denn sie durchkreuzt durch ihren heterologen Kontext – sprich real zu sein, Name des Premierministers zu sein und gleichzeitig von drei unterschiedlichen Personen initiiert zu sein – sämtliche gesellschaftliche Übereinkünfte, die direkt oder auch indirekt mit dem Namen eines Menschen zusammenhängen. Auf der administrativen Ebene beispielsweise wird der Name als Kennung innerhalb des Sicherheits- und Kontrollsystems geknackt und eine Art Anonymisierung ist die Folge. In diesem administrativen System ist die Anonymität der Mitglieder fatal, weshalb die Namensänderung auch in den meisten Ländern gesetzlich verboten ist. Insofern lässt sich die Na328 | In dem Trailer zum Film »My Name is Janez Janša« wird die Parallele zu Hitlers Namensänderung gezogen: »And finally, would Hitler have become Hitler, Dolar wonders, if Hitler’s father Alois had not changed the family name Schicklgruber into Hitler? Would he have had such a sadistic relation to the nation if his last name had been Schicklgruber? Surely, exclaiming Heil Schicklgruber! would not have had the same effect as Heil Hitler! But then again, even Janez Janša – yep, Primer Minister Janez Janša – has changed his name, according to Ilinka Todorovski; would he have gotten this far if he had kept his original name, Ivan Janša? Could he have done to the nation what he is doing to his wife if he had remained Ivan Janša? Janez Janša sounds more harmonious, more pleasant, more folksy, more Pan-Slovenian, more seductive – it slips into Slovenian hearts more easily« (Marcel Štefančič: I am Janez Jansa, An exclusive insight into the documentary that has stirred up Slovenia without anyone having even seen it, www. janezjansa.si/pdf/2012_05_18_mladina_stefancic_ jaz-sem-janez-jansa_eng.pdf, vom 25.05.2014).

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mensänderung durchaus als souveräner Akt bezeichnen, denn sie setzen sich über die gesellschaftliche Übereinkunft hinweg zuverlässig einen bestimmten Namen zu tragen und so identifizierbar zu bleiben. »My name is a contract between myself and the society, says Caronia; you cannot change the society if you do not break this contract. The artists who changed their names to Janez Janša have done precisely this.«329 Dass die Namensänderung auch auf der sozialen Ebene die gesellschaftliche Ordnung unterläuft, ist für die drei Performancekünstler deutlich. Hier kommt etwas ins Spiel, das laut Janša »Unheimlichkeit« erzeugt. Die Verunsicherung über die Identifizierung der Drei schafft so etwas wie eine Aura der Unheimlichkeit. Diese äußert sich in einer »Berührungsangst« gegenüber dem neuen Namen. »This uncanniness is obvious. At the beginning, people avoided addressing us with our old names as well as with our new ones – they refrained from using any names at all when they addressed us.«330 Man könnte diese Hemmung oder Berührungsangst als Folge einer Entfremdung beschreiben, die sich mit dem neuen Namen wie das Antlitz einer fremden Person über das Bekannte stülpt. Der mir bekannte Mensch ist mir plötzlich fremd und die Kollision der mir bekannten Person mit dem fremden Namen – dieses Paradox – ist was die Unheimlichkeit auslöst. Wir werden später noch zeigen, inwiefern gerade diese Fremdartigkeit Intimität im Bataille’schen Sinne bedeutet. Deshalb erfassen Janez Janša, Janez Janša und Janez Janša den Kern der Namensopferung, wenn sie sich eine der vermeintlich intimsten Situationen als Re-enactment ihrer Namensänderung aussuchen: die Trauung. In der Ehelichung treiben die drei Performancekünstler den Namens-Kollaps auf die Spitze. Als Janez Janša heiratet, nimmt er, ebenso wie seine zukünftige Frau, jeweils einen der anderen beiden Janšas zum Trauzeugen. Die Trauung, die ja gerade ihren emotionalen Höhepunkt in der Beantwortung der Frage: »Willst du (Name 1) den hier anwesenden (Name 2) zu deinem Ehemann nehmen?« erreicht, lässt jegliche Ro329 | Marcel Štefančič, I am Janez Janša! An exclusive insight into the documentary that has stirred up Slovenia without anyone having even seen it. http:// ebookbrowse.com/2012-05-18-mladina-stefancic-jaz-sem-janez-jansa-engpdf-d353766482, vom 25.05.2014. 330 | Kreft, The Name as a Readymade, An interview with Janez Janša, Janez Janša and Janez Janša, www.aksioma.org/interview_kreft.html, vom 25.05.2014.

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mantik kollabieren und wird zur Verwechslungskomödie. Da die Trauung aber nicht gespielt, sondern echt ist, schlägt die vermeintliche Komik darüber, wer jetzt eigentlich gemeint ist, in Absurdität um. Unheimlich ist in diesem Fall nicht, dass hier eventuell das falsche Paar vermählt werden könnte, sondern vielmehr, dass dieser Akt, der ja gewissermaßen ein einschneidendes Übergangsritual bedeutet, real ist und die teilnehmenden Personen »offiziell« den selben Namen tragen und mit diesem auch getraut werden. Die Trauung – die ja im Normalfall die einzige Gelegenheit der offiziellen Namensänderung bietet – belegt hier in ihrer Symbolträchtigkeit die Realität der Namensänderung der drei Künstler. Sie zeigt quasi performativ in nuce all die Ebenen, die diese Namensänderung betrifft. Hierzu gehört erstens der Umstand, dass alle drei den selben Namen tragen, zweitens die Referenz auf das Staatsoberhaupt und drittens und dies scheint hier die dramatische Zuspitzung auszumachen, die Tatsache, dass die Namen offiziell gültig sind. Im Gegensatz zu dem Pseudonym »Luther Blisset«, welches zahlreiche Künstler seit 1994 als kollektive Identität angenommen haben, um unter dem Namen ihre Arbeiten zu veröffentlichen, fand bei Emil Hrvatin, Žiga Karižin und Davide Grassi die Namensänderung tatsächlich statt und betrifft drei konkrete und öffentlich bekannte Personen. Gerade deshalb sind alle Sphären von der Absurdität dieser Umbenennung betroffen, die private wie die öffentliche, die politische wie die alltägliche. What we are dealing with here is the fact that this gesture actually intervenes into the relationship between art and life; it locates itself at the intersections of the public, the private, the political, the artistic, the administrative, the judicial, the mediated […] You cannot avoid the consequences of changing your name in any of these spheres. 331

Insofern ist der Akt auch ein Aufs-Spiel-Setzen oder zumindest Erproben der zwischenmenschlichen Beziehungen. Gleichzeitig stellt es das Bekannte, den erarbeiteten Ruf bzw. »sich-gemachten« Namen in Frage und entlarvt in gewisser Weise den Umgang mit Identität in der Moderne. Im Kontext des Bataille’schen Opferbegriffs lässt sich die sinnlose Namensverschwendung auch als Verausgabung, welche den Mensch durch den 331 | Kreft, The Name as a Readymade, An interview with Janez Janša, Janez Janša and Janez Janša, a.a.O.

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Verlust seines Namens der rationalen Welt der Nützlichkeit entzieht, deuten. Ob diese nun den Entzug aus dem rationalen administrativen System meint – welches ja gleichzeitig die Rechte eines Bürgers sichert – oder aber den generelle Entzug aus dem System der Unterscheidbarkeit oder gar der Individualität, immer bedeutet diese sinnlose Geste sich ununterscheidbar zu machen. Sich diesem Risiko der Ununterscheidbarkeit auszusetzen, bedeutet sich selbst zu verausgaben. [I]f the public is experiencing a certain uncanniness, the authors are living a certain uncertainty. Yet again, this uncertainty is something conscious. If we were to talk about how much is lost […] This is the uncertainty that follows you: Where is this whole thing going? What can I anticipate?332

Dass diese Ununterscheidbarkeit in einem System der Kontrolle tatsächlich Risiken birgt, zeigt das Beispiel der Iranerin Neda Soltani: Während der Proteste der grünen Bewegung gegen das iranische Regime wird im Juni 2009 die iranische Studentin Neda Agha Soltani erschossen. Daraufhin veröffentlichen sämtliche internationale Medien das vermeintliche Foto der Märtyrerin und machten Sie zur tragischen Heldin einer Bewegung. Tatsächlich zeigte das Foto eine andere Neda Soltani, welche ihr eigenes Bild auf Facebook veröffentlicht hatte. Von nun an nahm die Verwechselung ihren lauf und endete mit der Flucht der noch lebenden Neda Soltani vor dem iranischen Regime.333 Im Fall Neda Soltani führte das gestohlene Gesicht, wie sie selbst sagt, zu einer gestohlenen Identität. Hier zeigt sich so deutlich wie nur möglich, welche Gefahr die Ununterscheidbarkeit birgt. Dass die Namensänderung auch für die drei Performancekünstler mit Unsicherheiten verbunden ist, zeigt sich unter anderem in der medialen Kampagne der Konservativen gegen den Dokumentarfilm »My name is Janez Janša«, der die Namensänderung der drei Performancekünstler zum Thema hat. Die Propaganda, der Film sei pornografisch, führte sogar dazu, dass das Filmmaterial auf unerklärliche Weise aus dem Produktionsstudio verschwand.

332 | Ebd. 333 | Vgl. Neda Soltani: Mein gestohlenes Gesicht. Die Geschichte einer dramatischen Verwechslung. München 2012.

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Was ist der Kern dieser vermeintlichen Provokation und was daran ist pornografisch? Der slowenische Kolumnist Marcel Štefančič fasst die Bedrohung des Filmes für die neoliberale Rechte in Slowenien weniger in seiner Pornografie, sondern vielmehr in der Subversivität und in der Irrationalität die von der Namensänderung ausgeht. »For the documentary My Name Is Janez Janša is worse than pornography; namely, it is a plan of how to get rid of Janez Janša – peacefully, without violence […].«334 Diese »silent, slow, peaceful, permanent revolution«, wie Štefančič das Projekt Janez Janša nennt, bezieht sich auf die Instabilität, die plötzlich vom Namen Janez Janša ausgeht. Denn die drei Künstler beließen es nicht nur bei der Umbenennung. Gleichzeitig traten sie in die »Slovenska demokratska stranka«, kurz SDS, die neoliberal-konservative Partei des Präsidenten ein. Sie nahmen an Parteitreffen teil, picknickten mit anderen Parteimitgliedern und mischten sich aktiv ins Parteigeschehen ein. Plötzlich gab es vier aktive Janez Janšas in der regierenden SDS-Partei. Und der Premierminister wurde unwillentlich zum Teil eines Kollektivs. Sein Name wurde unweigerlich in ganz anderen Kontexten genannt bspw. in der Schlagzeile: »Janša tanzt in Berlin!«335 Die Instabilität, die plötzlich den politischen, künstlerischen und innerparteilichen Diskurs durchzieht, da nie wirklich klar sein kann, wer gemeint ist, ist ausgesprochenes Ziel der Künstler und die wahre Provokation dieser »Performance«. It needs to be stated, once and for all, what this is all about: this is about the difference between traditional and contemporary art. Ivan Janša, the Prime Minister, is a traditional artist, that is, he takes the name as a metaphor and assumes the name Janez to underscore his »Slovenian-ness« in a certain public segment of his life. He does not want to hurt his parents, who have given him his name, he does not want to give the original name up, but he uses Janez, and not Ivan for his public

334 | Štefančič, I am Janez Janša! An exclusive insight into the documentary that has stirred up Slovenia without anyone having even seen it, a.a.O. 335 | Die Schlagzeile wird im Trailer zum Film »My name is Janez Janša« gezeigt. Der Trailer ist unter folgendem Link zu sehen: www.mynameisjanezjansa. com/?page_id=154.

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function. In this case, he is the traditional artist who understands art as the field of representation and metaphor. 336

Hierin zeigt sich der Modus der Verausgabung der performativen Umbenennung. Denn es geht im Gegensatz zu einer strategischen Umbenennung – »[…] revolutionary renaming to assume a new symbolic mandate«337 – gerade darum, die Strategie der Repräsentation und die Frage nach Identität kollabieren zu lassen. Janša selbst bezeichnet den Akt als »withdrawal as a political strategy«338, der Entzug, auf den Janša hier anspielt lässt sich mit Bataille als Sinnentzug bestimmen. Es geht nicht darum irgendein symbolisches Mandat anzunehmen oder eine neue Identität zu stiften. Dass drei Personen den selben Namen annehmen, unterläuft an sich schon jegliche Sinnhaftigkeit. Sich dem System von Identifikation zu entziehen, bzw. Identität als Verunsicherung zu evozieren, läuft entgegen jeder Strategie individuell, identifizierbar, markant, oder besonders und somit erst wertvoll für dieses System zu sein. Dies macht etwas mit der Wahrnehmung und der Selbstverständlichkeit von Identität. Es evoziert einen Schock. What interests me within contemporary art is the question of how to produce a gesture which, in some way, cuts into the regime of comprehension, looking, perception etc. Such a gesture puts the spectator in a position where he needs to negotiate – above all, with himself – his relationship to this gesture, how to understand it. 339

Dass die drei auch noch den Namen des Premierministers annehmen, sprengt zusätzlich jede Möglichkeit diese vermeintlich neue Identität als 336 | Kreft, The Name as a Readymade, An interview with Janez Janša, Janez Janša and Janez Janša, a.a.O. 337 | Im Interview zum Film »My name is Janez Janša« wird die Tradition des »revolutionary renamings« vom slowenischen Philosophieprofessor Mladen Dolar als gängige politische Strategie besprochen. Als Beispiele führt er Trotsky, Stalin, Tito und nicht zu letzt Hitler an. https://www.youtube.com/watch?v=OCgDDYDDxj0, vom 25.03.2014. 338 | Janez Janša im Interview mit Lev Kreft: The Name as a Readymade, An interview with Janez Janša, Janez Janša and Janez Janša, a.a.O. 339 | Ebd.

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glaubwürdig einzuordnen. Denn die Absicht des Premiers Ivan Janšas seinen Namen in Janez zu ändern, um einem slowenisch-nationalistischen Image gerechter zu werden, wird im Re-enactment der Namensänderung durch die drei Performancekünstler völlig verquert. Es tut sich an der Stelle des Namens und seiner Bedeutung vielmehr eine Leere auf, die jegliche Repräsentation opfert und den Sinn hindert sich den Namen anzueignen. Dies ist das eigentlich »Pornografische« der Geste oder zumindest, was als pornografisch wahrgenommen wird. Eine treffendere Bezeichnung hierfür – nämlich die Vernunft zu opfern und sich so der Anerkennung zu versagen – wäre heterogen. Anstatt ein neues Subjekt zu kreieren, nehmen die drei Performancekünstler den Slogan des Premierministers wörtlich und schaffen ein Kollektiv. The goal of Janez Janša is the ultimate money shot – the disappearance of Janez Janša. Erasure. Even if it is self-erasure. This, of course, anticipates – and apocalyptically perverts – Janša’s slogan ›The more of us there are, the faster we can achieve our goal‹. 340

Wir fühlen uns an Brecht erinnert: Sorge, wenn du zu sterben gedenkst Daß kein Grabmal steht und verrät, wo du liegst Mit einer deutlichen Schrift, die dich anzeigt Und dem Jahr deines Todes, das dich überführt! Noch einmal: Verwisch die Spuren!341

340 | Štefančič, I am Janez Janša! An exclusive insight into the documentary that has stirred up Slovenia without anyone having even seen it. http:// ebookbrowse.com/2012-05-18-mladina-stefancic-jaz-sem-janez-jansa-engpdf-d353766482. 341 | Bertolt Brecht: Lesebuch für Städtebewohner, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Gedichte I. Sammlungen 1918 -1938, Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei (Hg.), Band 11, Berlin und Weimar, Frankfurt 1991, S. 157-165, hier S. 157, zit.n. Lehmann, Der andere Brecht, S. 215.

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Im Sinne der Brecht’schen Sterbelehre kann »self-erasure« als »Einnehmen der kleinsten Größe«342, als »Selbst-Verschwindung«343, »SelbstÜberwindung« umgedeutet werden. Was Brecht im Badener Lehrstück vom Einverständnis als »Einnehmen der kleinsten Größe« durchspielt, ist die Aufgabe des eigenen Namens, wie sie im Fatzer auch als Neuordnung explizit wird. Zu sterben bzw. die kleinste Größe einzunehmen, heißt hier nicht einfach das Kollektiv über den Einzelnen zu stellen, sondern die Identität oder wie Janša sagt die Obsession von Identität zu zerstören. Das Geopferte – sei es ein Lebewesen oder nicht – gilt somit aus der Sicht Batailles nicht nur als Anlass zur »Entgrenzung« bzw. zur Unterminierung seiner Bestimmtheit, sondern wirkt der besitzergreifenden Ich-Zentrierung auch des Opfernden entgegen. 344

Sie legen ihren Namen ab und inszenieren im weitesten Sinne ihren eigenen Tod. Diese Geste öffnet eine neue Ebene der Wahrnehmung und dies stellt den bedeutsamen Hinweis zur Opferthematik her. Denn das, was Janša zuvor als Unheimlichkeit beschrieben hat, ist die intime Fremdartigkeit des namenlosen Antlitz’ des Anderen. Genau dies Motiv finden wir laut Lehmann bei Brecht wieder: »Es geht um ein Ich als Du.«345 Mit dem Ablegen der Geburts-Namen zerstören die drei gewissermaßen ihre Dinghaftigkeit oder laut Lehmann, die mit dem Namen implizierte Beschuldigung – sprich jene Konnotationen (Herkunft, Stand, Kultur etc.), die der Name mit sich bringt. Von der Taufe bis zum Grabstein haftet am Zeichen der Individuierung eine offenbar nicht weiter abgeleitete Schuld […] Schuld ist Schuldigkeit: etwas wurde genommen, angenommen, eine Rechnung offen gelassen. Und in der Tat: Das heim-

342 | Vgl. Bertolt Brecht: Das Badener Lehrstück vom Einverständnis, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Stücke 3, Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei (Hg.), Band 3, Berlin und Weimar, Frankfurt 1988, S. 23-46, hier S. 38. 343 | Lehmann, Der andere Brecht, S. 216. 344 | Stefano Cochetti, Die Aporie des Heiligen, S. 248. 345 | Lehmann, Der andere Brecht, S. 215.

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liche Null-Zentrum des Textes ist der Umstand, dass dieses verdächtige Subjekt, das nur nimmt, von Anfang an etwas genommen hat – von den Eltern […]. 346

Auch Janša weist auf den Zusammenhang der elterlichen Gabe hin, wenn er davon spricht, dass sein Vater zutiefst über die Namensänderung gekränkt war und diese in der Tat als Spuren-Verwischen empfunden hat. Diese zurückgewiesene Gabe ermöglicht aber auch eine Situation der Intimität: Wenn es nun zu einer Hemmung kommt, die drei bei ihren neuen Namen zu nennen, dann deshalb, weil es der Name eines Anderen ist. Da der alte Name auch nicht mehr gültig ist, sind die drei folglich namenlos. Diese fremdartige Situation schafft jedoch gleichzeitig eine Nähe, denn es ermöglicht anstelle der Betrachtung eines Dinges, die Person zu sehen. Dies ist, was Bataille Intimität nennt und was die Unheimlichkeit der Situation ausmacht, nämlich fremd und nah zugleich zu sein. Nah ist mir die Person in ihrer Unverhülltheit und fremd in ihrer Unidentifizierbarkeit. Es zeigt sich wie viel Opferung in der Namensänderung steckt, wenn wir uns folgendes verdeutlichen: Das Opfer ist Operation der Intimität, es hebt sich von jeglicher zweckgebundenen Tätigkeit ab, es restituiert die Gemeinschaft, opfert Vernunft und Sinn und nimmt sich so das Recht nichts zu bedeuten. Die Namensänderung lässt sich nun als weitere Schraubendrehung verstehen oder aber genau als das bezeichnen, was Bataille meint, wenn er von einer Transformation archaischer Rituale spricht. Was sich auch zeigt, ist, dass der Opferbegriff weitaus komplexer und vielschichtiger ist, als es geläufige Interpretationen zulassen. Das Opfer geht nicht in Kategorien von Präsenz, Körperlichkeit, Gewalt etc. auf, vielmehr treibt es einen Riss in das Bekannte und macht das Nicht-Identische spürbar. Zuallererst ist das Opfer souveräne Verausgabung von Sinn. In diesem Sinne zeigt sich die Spur des Opfers in der Namensgebung am deutlichsten dort, wo sie jeglichen Sinn durchquert und nichts bedeutet.

346 | Ebd., S. 216-217.

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4.2 Rabih Mroué – Three Posters: Die Inszenierung des Todes 1985 überquert Jamal Sati, Aktivist der libanesischen Befreiungsfront – einer militärischen Ausprägung der Libanesisch-Kommunistischen-Partei (LCP), mit einem Esel die südlibanesische Grenze und sprengt sich und den mit Dynamit beladenen Esel im Israelischen Militärstützpunkt in die Luft. Sati hinterließ eine Videobotschaft, in der er sein Selbstmordattentat ankündigte. Das Video wurde am Abend des Attentats im Libanesischen Fernsehsender Tele-Liban in den Abendnachrichten ausgestrahlt. Das finale Video, aber insbesondere seine drei abweichenden Versionen sind Gegenstand der Performance Three Posters, die Rabih Mroué und Elias Khoury im Jahr 2000 zum ersten Mal in Beirut präsentierten. In einem abgedunkelten Aufführungsraum erscheint auf einem von der Decke hängenden Monitor ein Mann in Militärkleidung. Hinter ihm ist die Flagge der kommunistischen Partei Libanons zu sehen, sowie Portraits verschiedener Männer, vermutlich Märtyrer – zumindest entsprechen die Bilder Märtyrer-Ikonografien wie sie im Libanon oder Palästina auf Häuserwänden, Mauern etc. zu sehen sind. Der Mann stellt sich mit den Worten »Ich bin der Märtyrer Khaled Rahal« vor und kündigt dann ein Selbstmordattentat an. Er erzählt weiter von seiner Familie, seinem Leben und seiner Funktion in der kommunistischen Partei. Daraufhin verdunkelt sich der Bildschirm und der Mann ist anschließend erneut zu sehen. Er stellt sich wieder als Märtyrer Khaled Rahal vor, um dann erneut das Attentat anzukündigen. Wieder berichtet er von seinem Leben, seiner Familie, seiner Motivation als Märtyrer zu sterben ohne dabei von dem zuvor Gesagten maßgeblich abzuweichen. Das Bild verdunkelt sich ein weiteres Mal, während die Stimme noch zu hören ist. Als der Mann erneut auf dem Bildschirm erscheint, bereitet er sich kurz auf seine Botschaft vor, um sich dann zum dritten mal als Märtyrer Khaled Rahal vorzustellen und seinen Plan, sich in die Luft zu sprengen, zu verkünden. Nachdem der Monitor kurz aus und wieder an geht, ist nun zu sehen, wie sich der Mann seine Militärjacke und Mütze auszieht, um dann in einem gewöhnlichen T-Shirt dazustehen. Währenddessen öffnet sich die Tür unterhalb des Monitors und hinter ihr zeigt sich das Videosetting der Übertragung: Der Mann und das zuvor auf dem Bildschirm erschienene

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Zimmer sowie eine Kamera sind zu sehen. Er stellt sich nun ein weiteres Mal vor. Diesmal allerdings mit seinem richtigen Namen: Rabih Mroué. Mroué spricht nun direkt zum Publikum. Nachdem er den im Befreiungskrieg gefallenen Khaled Rahal würdigt, kündigt er ein weiteres Video an, diesmal jedoch das tatsächliche Video des Märtyrers Jamal Sati. Im Folgenden wird ein ungeschnittenes Video gezeigt, in dem drei Einstellungen der Ankündigung Jamal Satis zu sehen sind. Die drei »Takes« unterscheiden sich inhaltlich kaum. Sie zeigen jedoch die drei Versuche die bestmögliche Ankündigung des eigenen Todes zu formulieren. Nun wird auch deutlich, dass das Szenario, welches Mroué für seine Darstellung von Khaled Rahal genutzt hat, dem Video Satis entlehnt ist. »We fell under the spell of Jamal Sati’s repetitions and decided to present these repetitions to the public by making them the subject of a theatrical performance.«347 Abschließend zeigen Mroué und Khoury ein Interview mit Elias Atallah, dem damaligen Führer der Nationalen Befreiungsfront Libanon unter dessen Anleitung Satis Attentat stattfand. Auch in diesem letzten Video findet gewissermaßen eine Todesankündigung statt, wenn das Gesicht Atallahs zunächst nur schemenhaft zu sehen ist, dann aber am Ende vom Licht völlig ausgelöscht und unkenntlich gemacht wird: »We wanted to burn out his image with light, metaphorically killing him with the camera.«348 Die Videos erzählen nicht nur die Geschichte Satis. Was sie neben den biografischen Bildern liefern, ist gewissermaßen eine Nahaufnahme der Inszenierung des Todes. In seinem Re-enactment des Märtyrer-Videos erzeugt Mroué durch die Redundanz eine Fokussierung auf den Moment der Todesankündigung. In dieser Fokussierung wird die Unheimlichkeit des Moments der eigenen Ankündigung des Todes als etwas Zukünftiges deutlich. Gleichzeitig – und das macht das Paradoxe der Videobotschaften aus – bedeutet der Augenblick, in dem uns die Botschaft erreicht, dass die Aufnahme in der Vergangenheit liegt. Die Person auf dem Video befindet sich zwischen Leben und Tod. Es ist ein Zustand in der Schwebe.

347 | Ilyas Khuri, Rabih Mroué, Mona Abou Rayyan: Three Posters: A Performance/ Video, http://.jhu.edu/journals/tdr/summary/v050/50.3khoury.html, vom 06. 03.2014. 348 | Ebd., S. 185.

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Over the course of the performance, we hoped to convince an audience that recognized the »actor« through the use of repetition – especially of the sentence »I am the martyr« – that the performer could eventually be the martyr. Because we have been conditioned to believe that a video is a recording of a moment in the past, a dead moment, the medium represents the recovery of such moments – moments that by definition have already passed. This is exactly what used to happen: one day, suddenly, we would see the poster of a friend hung on the walls of Beirut, or a photograph or video on the TV announcing his or her death. The redundancy, created in the performance, helped the audience accept this idea. 349

Erst in der Wiederholung der Worte »Ich bin der Märtyrer« wie sie Mroué und auch Sati drei Mal sprechen, zeigt sich dieses Wandeln zwischen Leben und Tod als Zögern, Verunsicherung oder, wie Bataille sagen würde, als »innere Gewalt«. Dies wird vor allem in Satis Video deutlich: In the tape, Jamal Sati repeats his testimony three times before deciding on the best version to be presented to the public. The difference between the three is minimal, even unimportant. The public was supposed to see only one of these versions – an incontestable, unequivocal presentation. 350

Worauf Mroué hier hinweist, ist der Zustand der »inneren Gewalt«, in dem sich das Opfer befindet. Die Ansteckung der Gewalt des Opfers überträgt sich immer auch auf den Opfernden351. Im Fall des Selbstmordattentats sind Opfer und Opfernder jedoch identisch, der Opfernde ist hier also in besonderem Maße von diesem Zustand affiziert. Until Jamal Sati’s video, all we had ever seen, were the ›final cuts‹ – clear statements made without any hesitation, errors, or stuttering. This video revealed the moment of hesitation. The instant we saw the »stuttering« of the martyr, we reali-

349 | Ilyas Khuri, Rabih Mroué, Mona Abou Rayyan: Three Posters: A Performance/Video, http://muse.jhu.edu/journals/tdr/summary/v050/50.3khoury. html, S. 184. 350 | Ebd., S. 183. 351 | Siehe Kapitel II Abschnitt 6 sowie Kapitel III Abschnitt 4.

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zed something simple, so simple that it was obvious – the martyr is not a hero but a human being. 352

Beim Selbstopfer intensiviert sich der Zustand der »inneren Gewalt« aufgrund der Irrationalität sich selbst einer Gewalt auszusetzen, die man nicht wollen kann. Das Selbstopfer sprengt mithin die Matrix des erzwungenen Zustandes des Opfers, und macht es somit zum Gewaltakt schlechthin. Die Menschlichkeit zeigt sich erst in den drei Versuchen den eigenen Tod anzukündigen und die »innere Gewalt« zu überwinden und deckt somit die Ambiguität des Opfers außerhalb der Kategorien von Ehre, Stolz und Vaterlandsliebe auf.353 Die Wiederholung der Botschaft enthüllt aber ein Weiteres, nämlich die Inszenierung der Todesbotschaft. Indem Mroué Satis Botschaft zum Gegenstand seiner Performance macht und indem er alle drei Versionen von Satis Botschaft zeigt, macht er deutlich, dass auch Satis Videobotschaft »subject of theatrical performance« und somit inszeniert ist. Es geht dabei nicht darum, Satis Botschaft als unauthentisch zu entlarven. Vielmehr bespricht Mroué die Rolle des medialen Todes und seiner Realität. Das Opfer wird als Schauspieler reflektiert, gleichzeitig wird der Schauspieler für die Zeit seiner Performance zum Märtyrer. Abgesehen von der tatsächlichen Ausführung des Opfers, wird durch die pro-

352 | Ilyas Khuri, Rabih Mroué, Mona Abou Rayyan: Three Posters: A Performance/Video, http://muse.jhu.edu/journals/tdr/summary/v050/50.3khoury. html, S. 183. 353 | Gerade diese Ambiguität soll in der finalen Version des Videos nicht zur Geltung kommen, wenn Sati seinen Entschluss zu sterben wie folgt verkündet: »My happiness was supreme when I was informed that I was to fulfill a suicide operation. I send my heartfelt greetings to the martyrs who were killed in this holy resistance, sacrificing their noble blood to enlighten us on our path toward freedom and dignity, such as Yasar Mrouch, Bilal Fahs, Wajdi Sayegh, Sanaa‹ Mohaidly, Lola Abboud, Wafaa‹ Noureddeen, Muhamad Younis, Mohamad Mahmoud, and others […] May others soon follow my example in more suicide operations that will surely lead to victory. Greetings to those who would not rest until they expel the last soldier of the Israeli Occupation forces.« (Ilyas Khuri, Rabih Mroué, Mona Abou Rayyan: Three Posters: A Performance/Video, http://muse.jhu.edu/journals/tdr/summary/v050/ 50.3khoury.html, S. 184).

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phetische Ankündigung des Todes ein Sterben bereits im Video vollzogen und die Grenzen von Realität und Fiktion durchlässig. At this moment in the performance, fiction intermingled with reality; from this moment on, the audience was led to question everything that followed […] At that instant, the fabrication of the false moment was made apparent; it was as if the martyr had come to life before them. 354

Erst als sich die Tür öffnet und Mroué erscheint, wird klar, dass es sich nicht um eine vorproduzierte Videoaufnahme, sondern eine live-Übertragung handelt. Ebenso wird deutlich, dass es sich bei dem Video Mroués nicht wirklich um eine Märtyrer-Botschaft, sondern ein Schauspiel handelt. Indem Mroué die Situation der Übertragung auflöst, exponiert er die Durchlässigkeit der Grenze, die Realität von Fiktion trennt und in diesem Fall bildlich lediglich in einer Tür besteht. Gerade im Erscheinen reflektiert er die »Täuschung als Täuschung«355 und weist auf die Vermitteltheit der zuvor stattgefundenen Performance hin. Gleichzeitig zeigt Mroué durch den Wechsel von Übertragung – sprich körperlicher Abwesenheit – zur Anwesenheit auf der Bühne, dass es nicht um den Körper geht, auch wenn das Zentrum der Performance das Opfer bildet: »But often, the end is sad, and brings with it crime and death. Yes death. Although the death that matters to me is the death of thoughts, not the death of the body.«356

4.3 Körperopfer/Opferkörper In Three Posters geht es nicht darum, die Gewalt des Selbstmordattentates zu verharmlosen,357 ebenso wenig um Schuld und Unschuld, selbst wenn 354 | Ilyas Khuri, Rabih Mroué, Mona Abou Rayyan: Three Posters: A Performance/Video, http://muse.jhu.edu/journals/tdr/summary/v050/50.3khoury. html, S. 184. 355 | Vgl. Eiermann, Postspektakuläres Theater, S. 95. 356 | Rabih Mroué: Looking for a missing employee, 2003 (unveröffentlichte Textfassung) zit.n. Eiermann, Postspektakuläres Theater, S. 98. 357 | An dieser Stelle soll ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass es hier nicht darum geht, Selbstmordattentate in irgendeiner Weise zu legitimieren. Es steht außer Frage, dass der Akt des Selbstmordattentats uneingeschränkt grau-

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die Performance einen Diskurs um die Praxis des »suicide bombings« als säkularen Akt des Widerstands aktualisiert. Vielmehr kommt es der Performance darauf an, das volle Potential der Gewalt des Opfers zur Geltung zu bringen. Dasselbe lässt sich auch entgegen des weitverbreiteten Missverständnisses der Bataille-Rezeption für Bataille sagen: Die archaischen Opferpraktiken, die er anführt, sind für ihn keine verharmlosten Beispiele einer geglückten Praxis der Verausgabung und insofern in unserer Gesellschaft zu restituieren, sondern ebenso gescheiterte Versuche. Dennoch sieht Bataille in ihnen eine Spur angelegt, die auf etwas hinweist, das über das Vordergründige des Opfers hinausgeht: eine »innere Erfahrung«. Was Bataille am Opfer und all den Praktiken der Verzehrung interessiert, ist die Transformation der Gewalt von Außen nach Innen. Diese Gewalt operiert auf verschiedenen Ebenen, wie auch in Mroués Performance deutlich wird. Zunächst überschreitet das Opfer als souveräner Akt – als Akt der Befreiung aus der Knechtschaft – das Verbot das nach Hegel die Arbeit des Knechts garantiert. Denn der Knecht muss am Leben bleiben, um dem Herren zu dienen, weshalb Bataille auch sagt, dass der wahre Souverän sich selbst als Opfer darbietet anstelle eines Opfertiers.358 Deshalb ist es

sam ist. Das »suicide-bombing« innerhalb eines kunstwissenschaftlichen Diskurs jenseits von moralischen Kategorien zu betrachten, stellt einen Grenzgang dar, der hier in Anlehnung an Mroué gewagt werden soll. Jedoch impliziert dieser Versuch keine Stellungnahme zu den Aspekten von Menschlichkeit, Menschenrechten und politischer Rationalität oder Legitimität solcher Selbstmordattentate. 358 | Jean Baudrillard hat auf den Selbstmord als eine von vielen möglichen subversiven Praktiken hingewiesen. »Unter ihnen hat der Selbstmord in unseren Gesellschaften ein Ausmaß und eine differente Definition erhalten, so daß er im Rahmen der offensiven Reversibilität des Todes zur Form von Subversion selber wurde […] durch den Selbstmord richtet das Individuum über seine Gesellschaft und verurteilt sie auf seine eigene Weise, indem es die Instanzen umkehrt – es stellt die Reversibilität dort wieder her, wo sie völlig verschwunden war, und gebraucht sie zugleich zu seinem Vorteil…denn für ein System bedeutet es völlige Niederlage, nicht zu totaler Perfektion gelange zu können – es genügt, daß die geringste Sache seiner Rationalität entgeht.« (Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, S. 278).

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zuallererst das Ding, das der Gewalt des Opfers ausgeliefert ist. In Three Posters gibt es eine interessante Korrelation zu dieser Dinglichkeit. Jamal Satis Opfer reiht sich in eine Opferpraxis des »suicide bombings«, in der die völlige Destruktion des Körpers mit seiner Funktion als Maschine einhergeht. Die Hybridisierung des Körpers vom Mensch zur Maschine ließe sich analog zum Verlust der Menschlichkeit als Resultat der Unterdrückung lesen. Nicht mehr Mensch sein, bzw. jeglicher Menschlichkeit genommen beraubt zu sein und lediglich als Ding gesehen zu werden, wird in der Selbsthybridisierung auf die Spitze getrieben. Sich erst zur Maschine machen, um dann dieser Dinglichkeit ein fatales Ende zu setzen, so ließe sich dieses Opfer lesen. The martyr, in these instances, is both the vehicle of the explosives and the explosive device. By uniting their organic body with the inorganic explosives they, the martyrs, become cyborgs. The body of the suicide bomber morphs into a mechanized entity of warfare; no longer is their identity contained to their humanity or to the theoretical collective that they belong to, now they have become a mechanized cog in the warfare machine. They, the body of the martyr and the explosives combined, are as much a weapon as the explosives are on their own. They have adopted the identity of the weapon and hybridized it with their own identity as a participant in their coalition. 359

Dieser Prozess der Mechanisierung beginnt bereits mit der Aufzeichnung des Videos – dem maschinellen Medium der Todesbotschaft, weshalb für Mroué auch hier das Sterben seinen Anfang hat.Dieses Sterben ist für Mroué gewissermaßen der Preis den man für seine Souveränität zahlt: Does this mean that the disappeared is a sign of modernity? No answer. But it seems to me, that in order to achieve our individuality, there is a heavy price to pay. Such as, being kidnapped, disappearing, getting murdered, or becoming a martyr. And frankly I’m not sure that all of these are nearly enough. 360

359 | Mashrabiyya ist ein anonym geführter Blog mit Beiträgen zu Kunst und Kultur im Nahen Osten: http://mashrabiyya.wordpress.com/2011/03/16/body-asweapon-the-mediated-body-of-the-suicide-bomber/#_edn18, vom 12.03.2014. 360 | Rabih Mroué: Looking for a missing employee, a.a.O., zit.n. Eiermann, Postspektakuläres Theater, S. 97.

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Es ist bemerkenswert, dass sich bei Mroué die Thematik des Opfers und des Todes als Weg zur Individuation mit der Frage nach der Moderne verbindet. So als ob das eine die Kehrseite des anderen sei. Anders formuliert: Der Preis der Moderne ist der gewaltvolle Tod. Erstaunlicherweise ist das Ziel oder besser die Gabe bei Mroué hier die Individualität. Bataille würde an dieser Stelle von Souveränität sprechen. Es lässt sich jedoch erahnen, dass Mroué hier nicht weit von Bataille entfernt liegt. Denn betrachten wir die Selbst-Opferung unter diesem Aspekt, fällt ins Auge, dass Sati sich einer Gemeinschaft übergibt – er fügt sich in die Reihe derer, die vor ihm als Märtyrer gestorben sind – und macht sich somit selbst zum Teil einer Gemeinschaft, die nur über den Weg der Gewalt erreichbar ist. Er erzählt ein letztes Mal seine Geschichte und die seiner Eltern, um sich dann von diesem Teil seiner Identität zu verabschieden und seine Spuren zu verwischen. Dies ist der Brecht’sche Hut: Wenn du deinen Eltern begegnest in der Stadt Hamburg oder sonst wo Gehe an ihnen fremd vorbei, biege um die Ecke, erkenne sie nicht Zieh den Hut ins Gesicht, den sie dir schenkten Zeige, o zeige dein Gesicht nicht Sondern Verwisch die Spuren!361

Gerade am Selbstopfer zeigt sich auf profundeste Weise, dass es bei dieser Transgression nicht um eine blinde Einreihung oder Unterordnung unter ein Parteikollektiv geht. Der Preis des Entzugs und der Trennung ist hierfür zu hoch. Die Erfahrung des Opfers, des Verschwindens, des Sterbens ist vielmehr zutiefst subjektiv und gewissermaßen unteilbar. Insofern verbindet sich der Eintritt in die Gemeinschaft bzw. das, was Bataille gemeinschaftlich nennt mit einer Erfahrung von Subjektivität, die das Individuum übersteigt. Es geht in der Gewalt der supplice um die Ausführung und Vollendung der Operation der Transgression, um die Sprengung der diskontinuierlichen Ausprägung der 361 | Brecht, Lesebuch für Städtebewohner, S. 157, zit.n. Lehmann, Der andere Brecht, S. 271. Lehmann sagt hier zu Brecht: »Die Freiheit ist bezahlt mit Entzug und Trennung […]« (Lehmann, Der andere Brecht, S. 271).

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Individualität, die den Menschen […] offensichtlich einkerkert und fesselt […] Kurz der Mensch bleibt Knecht, macht er nicht die Gewalt seines Bewußtseins durch die Gewalt der supplice ungeschehen. 362

Das Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft im Opfer gleicht dem von Gabe und Gegengabe. Gewissermaßen muss sich das Subjekt erst verlieren, um etwas zurück zu bekommen, dessen es zuvor beraubt wurde. Diese Rückerstattung der Intimität übersteigt aber das zuvor Dagewesene – die Subjektivität. Weshalb die gesicherte Zone des Knechts verlassen und etwas aufs Spiel setzen, um einen Zustand der Angst und der Überwältigung durch Gewalt, zu erfahren? Erst hier, wo sich das Subjekt im Opfer verschwendet, es sich ganz und gar loslässt, wird es souverän. Wir können die Individualität von der Mroué spricht, mit Bataille als Intimität verstehen, so dass die Intimität auf der Seite der Gemeinschaft zu verorten ist. Das Paradox, dass erst der Selbstentzug zur Intimität, erst die Selbst-Verschwindung zur Souveränität führt und erst hier eine Gemeinschaft entsteht, lässt sich nicht auflösen, sondern lediglich im Sinne einer Maßlosigkeit denken. »Die Geburt der Erfahrung […] aus dem Geiste der Überschreitung.«363 Mit Erfahrung ist hier die Erfahrung der Kommunität und mit Überschreitung, die Überschreitung des Maß gemeint. Dies bedeutet, Gemeinschaft ist nur im Akt der Überschreitung möglich – Überschreitung des Selbst aus der sicheren Zone, die das Maß einhält. Auch wenn wir nur erahnen, was dies bedeuten könnte, ließe sich am Selbstopfer Satis der Selbst-Verlust als intimer Akt der Vergemeinschaftlichung formulieren: »It is in this vein that I believe we can call ›suicide bombing‹ a relational art practice.«364 Die äußerst gewagte und politisch höchst problematische These weist dennoch auf eine Verbindung hin, die sich zwischen der Selbst-Opferung als »relationalem Akt« und der Stärkung einer Gemeinschaft ergibt. Das »suicide bombing« in Anlehnung an Nicolas Bourriaud als relationale Kunstpraxis auszuweisen, soll darauf hindeuten, dass das Selbstmordattentat nicht in dem weitverbreiteten Diskurs über religiösen Fundamentalismus, Rache oder aber göttlichen Lohn aufgeht. Vielmehr weist es ihm 362 | Ebeling, Die Falle, S. 235-236. 363 | Lehmann: Der andere Brecht, S. 273. 364 | Vgl. Fußnote 360.

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eine beziehungsschaffende Komponente zu, die die Gemeinschaft in diesem Akt mitdenkt. »Relational Art is an art that takes as its theoretical horizon the sphere of human interactions and its social context, rather than the assertion of an autonomous and private symbolic sphere.«365 Wenn Mroué den Märtyrer als Menschen sehen will, dann weist er geradezu auf das altruistische im Selbst-Opfer hin, ohne dabei die Grausamkeit, den Hass und die Zerstörungswut, die sich damit verbinden, zu mindern, vielmehr gewinnt das Böse hier abseits moralischer Kategorien eine ästhetische Qualität. Und weil sich hier zeigt, was Bataille bereits als »non-savoir« beschreibt, nämlich dass die Erfahrung nicht in den Diskurs übertragbar ist, weil sie eine »innere Erfahrung« ist – eine Erfahrung, die die Irrationalität und die Gewalt nach innen überträgt – und im Moment der Versprachlichung bereits entgleitet – vollzieht Mroué das Opfer in der Performance ein weiteres Mal. Die Realisierung des Opfers erfolgt in der Performance als buchstäbliches Opfer des Körpers, nämlich indem uns kein Körper geliefert wird. Die Geschichte des Opfers wird uns als inneres Opfer dargeboten, ohne dabei den Körper und somit auch den Märtyrer zum Fetisch zu erheben. So wie der Körper Satis nach der Opferung durch die völlige Destruktion verschwindet und nur noch sein technisiertes Bild als Video bleibt, so zeigt sich Mroué ebenfalls lediglich als mediale Übertragung eines Opfers. Ein Körper ist nicht nötig, das Video allein ist bereits die grausame Imagination des Todes und steht für diese Wunde, die das Opfer in das Bewusstsein reißt. Gerade weil es um die Ermöglichung dieser unmöglichen Erfahrung der Gewalt geht – weil das Opfer in den Diskurs nicht übertragbar ist, realisiert Mroué das Opfer, indem er uns keinen Opfer-Körper bietet. Er macht die Leere, die das Opfer hinterlässt, spürbar, wenn er uns einen »Untoten« in der medialen Übertragung zeigt. Dass ausgerechnet die Abwesenheit des Körpers die Erfahrung des Opfers spürbar macht, zeigt sich auf doppelte Weise, wenn Mroué ein weiteres Mal opfert und ganz und gar auf jegliche körperlich Anwesenheit von Darstellern in seiner Lecture-Performance verzichtet. Hier öffnet sich keine Tür hinter der sich ein Schauspieler zeigt – alles Körperliche bleibt 365 | Nicolas Bourriaud: Relational Aesthetics, in: Participation, Claire Bishop (Hg.), London 2006, S. 160-171.

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reine Projektion. Indem er dieselbe Performance als erzählte Videobotschaft wiedergibt, schafft er eine Metaebene, die das Opfer, erneut opfert. In seiner Lecture-Performance366 von Three Postersberichtet Mroué von der zurückliegenden Performance – dies tut er durch ein vorher aufgezeichnetes Video. In dieser Form des dokumentarischen Theaters kommt es nicht allein zur Wiedergabe der bereits geschehenen Performance, sondern auch zu ihrer Reflektion. Die Reflektion bezieht sich hier weniger oder zumindest nicht nur auf das Analysieren der Opferthematik. Vielmehr liest Mroué die Transgression des Opfers ästhetisch statt moralisch, indem er nicht das Opfer als politischen oder religiösen Akt in den Vordergrund stellt, sondern insbesondere dessen Darstellungsweise thematisiert. Wenn Mroué auf dieselbe Weise zum Publikum spricht, wie dies Sati tut, schafft er somit den Raum das Opfer zu denken und zu fühlen. This absence of the actor’s flesh and bone body, and this man who ›hides‹ and delegates his presence to his image, is in an organic relation both to the subject and to the theme of his play. In this new creation, Rabih Mroué works on the poetry of the phenomenon of disappearance, in its symbolic dimension, as possibly being the only means or the only access to freedom for individuals that are trapped by a society of confessional, tribal, parental, or regional communities […]. 367

In diesem Sinn ist Eiermann zuzustimmen, wenn er Mroués »Theater der Aufzeichnung« zu jenen »postspektakulären« Künsten zählt, die auf die leibliche Anwesenheit verzichten, um anstelle von spektakulärem Körpereinsatz eine Erfahrung des Unbewussten zu ermöglichen. Was Mroué hier metaphorisch anspricht, ist eine Sehnsucht nach der ›leiblichen Rückkehr der Schauspieler‹, nach jenem ›happy end‹ einer ›Feier der leiblichen Anwesenheit‹ […] doch erzählt Mroué nicht die Geschichte einer Castorf Inszenie-

366 | Die Lecture-Performance zu Three Posters lief am 30.03.2012 im Rahmen des Symposiums »Heimspiel- Wem gehört die Bühne« im Schauspiel Köln. 367 | Pierre Abi Saab: »Missing Employee«: the thin line that lies between lies and the truth, Mai 2004, www.pagesmagazine.net/2006/article.php?ma_id= 2025782, zuletzt aufgerufen am 07.03.2014, zit.n. Eiermann, Postspektakuläres Theater, S. 97.

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rung, sondern eine Geschichte aus dem Libanon. Entsprechend stellt sich auch die Angelegenheit des ›happy end‹ komplizierter dar. 368

Das »happy end« gestaltet sich in der Tat komplexer als dies eine leibliche Rückkehr des Körpers vermitteln würde. Vielmehr würde sie der Gewalt des Opfers nicht gerecht werden – auch Satis Körper kehrt nicht zurück – sie würde das Opfer in ihrer Feier der Leiblichkeit vielmehr fetischisieren und zu einem Spektakel erheben. Durch sein doppeltes Re-enactment aber – sprich durch das Nachstellen des Sati-Videos und die spätere Dokumentation der Performance in der aufgezeichneten Lecture-Performance – ermöglicht Mroué eine Erfahrung des Opfers, gerade im Absehen von der Rückkehr des Körpers. Indem Mroué das Verschwinden des Körpers durch Selbstverschwindung bzw. Selbstobjektivierung »re-präsentiert« erfasst er den Kern des Opfers: Das Opfer als Selbst-Verschwindung des Körpers und die Selbstverschwindung als Opfer des Sinns und der Logik. The absence is thereby an aesthetic choice, a political and existential metaphor, the touchstone in the work of Rabih Mroué. The absence or disappearance of the actor, the author, the text; the absence or disappearance of the hero, the character, and the subject (do we need to add: the absence of the State, of the legal institutions, of justice and of logic? However, Rabih Mroué’s work is far from being charged with any ideological pretence), and finally, the absence or the disappearance of »the play« itself, which we came to watch. 369

Was Eiermann als Akt des Verschwindens, der sich der imaginären Schließung und Verkennung des Symbolischen widersetzt, anführt, ließe sich mit Ebeling als »Geste, mit der Bataille einem Bewußtsein den ausgeschlossenen blinden Fleck […] vorhält«370, bezeichnen. »Das Opfer ist der Wahnsinn, der Verzicht auf alles Wissen, der Sturz ins Leere, und nichts wird offenbart, weder im Sturz noch in der Leere, denn die Offenbarung der Leere ist nur ein Mittel, tiefer in die Abwesen-

368 | Eiermann, Postspektakuläres Theater, S. 98. 369 | Pierre Abi Saab: »Missing Employee«: the thin line that lies between lies and the truth, a.a.O. 370 | Vgl. Ebeling, Die Falle, S. 235.

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heit zu fallen.«371 Diese Gewalt des Opfers – nichts zu offenbaren – zeigt sich nicht nur in der und durch die Geschichte Satis, sondern wird auch als Sinnentzug, als Irrationalität und Unbegreiflichkeit in dem Moment spürbar, in dem das Opfer durch die leibliche Abwesenheit irreversibel wird. Die Differenz zwischen dem realen Video, das seine Verausgabung sozusagen durch die propagandistische und politische Sinnsetzung wieder ausstreicht und der ästhetischen Aufnahme, die diesseits solcher Sinnsetzung mindestens zu bleiben versucht (natürlich aber durch die Rahmung als Kunst-Aktion auch daran teilhat) ist nicht zu vernachlässigen, doch beiden Videos – dem realen vor allem durch die wiederholten Versuche Satis – haftet die Leere des Todes an. Es kommt bei Mroué und das macht das Bataille’sche Moment aus – zu keiner Versöhnung. Stattdessen bleiben die Bilder und ihre Narration des Todes einziger Bezugspunkt. Statt der Versöhnung mit der Positivität erwartet uns eine ›unausweichliche Enttäuschung‹, von der Bataille spricht: ›Au fond, cette déception est celle de l’homme cherchent dans la mort le secret de l’être et ne trouvant rien‹ […] Der Mensch, der im Tod das Geheimnis seines Seins sucht, findet nichts, denn der Tod repräsentiert allein dieses Nichts. Die Offenbarung in der Sprache geschieht nicht, denn der Text kann nicht opfern, in ihm fließt kein Blut. 372

Die Problematik das Opfer zum Thema der Performance zu machen, es erfahrbar zu machen, ohne es in die Kohärenz der Sprache zu bringen, seinen irrationalen Charakter zu bändigen und ihm so einen Sinn zu verleihen, bleibt auch Mroués Falle. Was Ebeling hier auf die Sprache bezieht, ließe sich mit Mroué auf das Theater umformulieren: Wie kommt das Theater zur Präsenz des Opfers? Die Eigen-Artigkeit des Opfers, seine »sakrifizielle Paradoxie«373 inszeniert – d.h. künstlich und wirklich zugleich zu sein – spielt hier eine entscheidende Rolle. Diesen Modus greift Mroué in seiner dokumentarischen Inszenierungsweise auf, und lässt das Opfer – sowie Sati es tat – an der Grenze operieren. Das dokumentarische Material belegt nicht die Authentizität oder Wirklichkeit des Opfers. Vielmehr durchquert Mroué 371 | Bataille, IE, S. 76. 372 | Ebeling, Die Falle, S. 280. 373 | Cochetti, Die Aporie des Heiligen, S. 256.

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vom rohen Material hin zur gesteigerten Nachahmung theatrale Genres374 und folgt somit dem Charakter des Opfers inszenierte Wirklichkeit – oder besser inszeniertes Ritual – zu sein, das in die Wirklichkeit einfällt. Das Opfer steht genau an dieser Grenze zwischen Wirklichkeit und Künstlichkeit. Die Erprobung des dokumentarischen Materials innerhalb der Performance ermöglicht das Opfer eben an dieser Grenze aufzuspüren und weist zugleich auf die Konstruiertheit, die Fragwürdigkeit und Fragilität von Wahrheit und Wirklichkeit hin. Insofern operiert das Opfer als Exzess von Wirklichkeit, weil es über diese hinausgeht. Die Realität des Opfers wird somit zum Theater und das Theater schafft im selben Zug seine eigene Realität des Opfers. Mroué works on the archives that form the raw material of his works. His art lies in the montage and in the way he presents, manipulates, and re-synthesizes documentary material. The actor-artist is always present in his personal capacity which deviates left and right within the context of narration. In a magical moment, he moves from recording to composition, dismantling the image and then reproducing it using different elements, to reveal the discourse and mechanisms of fabricating ›the truth‹ that lie behind it. 375

Das Opfer opponiert hier nicht als authentische Realität dem Hergestellten und der Künstlichkeit. Vielmehr zeigt sich, dass erst in dem Bruch – also dem Moment, in dem Mroués Nachahmung sich als solche erweist – die Erfahrung des Opfers als wirkliche Erfahrung möglich wird, ohne aber Repräsentation von Wirklichkeit zu sein. Stattdessen bringt die Nachahmung Mroués auch die Wirklichkeit des »authentischen« Videos ins Wanken. Der anfängliche Zweifel an dem von Mroué gespielten Märtyrer bestätigt sich, wenn sich kurz danach die Tür öffnet, hinter der Mroué zum Vorschein kommt. Doch der ersten Beruhigung folgt mit dem zweiten Video sogleich eine unheimliche Verunsicherung – denn Sati erscheint hinterher nicht. In der Wiederholung der drei Sequenzen von Satis Bekennervideo zeigt sich dann deren Probencharakter, so dass 374 | Hier ist vor allem vom dokumentarischen Theater, dem »verbatim theatre« und der Lecture-Performance die Rede. 375 | Pierre Abi Saab: Rabih Mroue. Manipulating Present Myths, vom 13.03.2012, http://english.al-akhbar.com/content/rabih-mroue-manipulating-present-myths, zuletzt eingesehen 01.02.2014.

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die Grenze zwischen Fiktivem und Realem – d.h. zwischen dem ersten und dem zweiten Video – durchlässig wird, sodass sich auch die zuvor künstlich geglaubte Performance der Realität annähert, und Mroué selbst zum Opfer wird. Mouré zwingt uns geradewegs dazu den Glauben an die abgebildete Wirklichkeit zu hinterfragen, was sich im Umkehrschluss ebenso auch auf die Realität der Fiktion auswirkt. Mroué könnte zu jedem Zeitpunkt der Performance seine Ankündigung wahr werden lassen und sich selbst opfern. Wenn das Opfer laut Bataille dem Bewusstsein seinen blinden Fleck vorhält, dann folgt Mroué dem Opfer und überträgt diesen souveränen Modus auf seine Performance, indem er den Abgrund unter der Wirklichkeit auftauchen lässt und diese somit durchlässig wird. Mroué greift das Opfer auf, um es in seiner Performance zu wiederholen. Nicht aber die Nachstellung des Sati-Videos bildet die Opferung, sondern die Vernichtung der Repräsentation in der heterogenen Struktur der Performance. Auf der Suche nach dem Sinn des Opfers geht der Zuschauer leer aus. Nicht einmal die Fiktion des Todes bleibt etwas Gesichertes, wenn Mroué nach seinem Video erscheint – oder Sati nach seinem Video fern bleibt. Der »Fiktion des Todes den Tod geben«, bedeutet bei Bataille die repräsentative Sprache zu vernichten. Diese Theater-Sprache zerstört Mroué wenn er das zutiefst erschütternde Thema des Selbst-Opfers zu einem Nicht-Thema macht, nichts als die Leere des Opfers anbietet und so das Opfer konsequent als Operation der Zerstörung auf den Plan ruft.

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5. D as P olitische S pielen – G emeinschaf t als D reierverhältnis Die Gemeinschaft oder das Ekstatisch-Sein des Seins selbst? Das wäre die Frage 376 Das ergreifende Moment, welches der gemeinschaftlichen Existenz einen obsessionellen Wert verleiht, ist der Tod. 377

Eine Arbeit, die die Bildung revolutionärer Kräfte und die Möglichkeit der Gemeinschaft durchspielt, ist die von Gob Squad am 04. Februar an der Volksbühne Berlin uraufgeführte Performance Revolution Now!378 Während das Publikum die Volksbühne betritt, befinden sich die PerformerInnen bereits im Foyer und mischen sich unters »Volk«. Das Publikum wird von den PerformerInnen in den Saal begleitet und dabei gefilmt. Die Zuschauer können sich also beim Betreten des Saals selbst über die Projektion auf der Videoleinwand beobachten. »We are in! We are in!« schreien die Performer. Die Assoziation der Erstürmung wird sich wiederholen. Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ist besetzt, keiner kommt mehr raus, zumindest nicht, bis das Ziel erreicht ist: Revolution Now! Per Live-Schaltung nach draußen sollen die Volksmassen vor der Volksbühne erreicht und für den gesellschaftlichen Umbruch gewonnen werden. »Das Volk« soll teilhaben und dafür werden allerlei Verbrüderungs-Aktionen in der Volksbühne vorgenommen. Immer wieder wird hierfür das Publikum zur Hilfe gebeten. Doch es zeigt sich schnell, die Massen vor der Volksbühne sind eine Utopie. Auf der Suche nach dem »Volk« begeben sich zwei der PerformerInnen nach »draußen«379 vor das Gebäude, um Passanten für die Teilhabe 376 | Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988. 377 | Bataille, Œuvres complètes Band I, S. 489, zit.n. Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 45. 378 | Die Performance hat die Verfasserin am 18.10.2010 an der Volksbühne in Berlin gesehen. 379 | Der Begriff »draußen« fällt nicht zufällig so frequentiert in der Performance. Er ließe sich auch als Anspielung auf eine im Kontext von Realityshows (Big Bro-

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an der Revolution zu gewinnen. »Volk wie heißt du, wohin gehst du, bist du bereit für die Revolution?«, werden einzelne Passanten vor laufender Kamera befragt, was wiederum für die Zuschauer im Theatersaal über Videoleinwände mitzuverfolgen ist. Bereits der Titel Revolution Now! indiziert die Anspielung auf die Living Theatre-Inszenierung Paradise Now, die im Kontext der Avantgarde der 1968er- Bewegung die Frage nach der Revolution und der Befreiung der Gesellschaft aufwarf. Als Improvisations-Stück versuchte Paradise Now, die Zuschauer an einer erotisch-rituellen Leiblichkeit teilhaben zu lassen. Es kam zu einem körperlichen Austausch zwischen Darstellern und Publikum, in dem sich eine politische Gemeinschaft einschwor und ihre anarchisch-pazifistische Weltanschauung mit einer orgiastischen Körperverwendung verband. Anstelle eines unvermittelten Austausches zwischen Darsteller und Zuschauer findet bei Gob Squad die Teilhabe des Publikums als ambivalente, ja paradoxe Strategie statt. Einerseits wird das Publikum in den Publikumsreihen, aber auch auf der Bühne in den Ablauf integriert (es werden Bilder von einzelnen Zuschauern geschossen, Texte von Zuschauern verlesen, das Publikum wird als Rock-Band inszeniert etc.), es kommt also zu einer Involvierung der Zuschauer im Theatersaal. Andererseits wird gleichzeitig zwischen den vermeintlich unvermittelten Austausch von Darstellern und Zuschauern die Ebene der Video-Übertragung geschoben, so dass die Ko-Präsenz von Darsteller und Zuschauer im Sinne einer spezifischen Körperlichkeit, wie sie die Inszenierung von Paradise Now vorsieht, in Gob Squad’s Inszenierung unterlaufen und als Projektion oder gar Simulation entlarvt wird. Jede Aktion, ob auf der Bühne oder im Zuschauerraum, wird in unterschiedlicher Weise zur Video-Übertragung und somit zur Simulation. Das angenommen per se Politische am Austausch (also das Menschliche, Konkrete, Unvermittelte, Authentische) wird hier durch den popkulturellen Kontext auf verschiedenen Ebenen paradox. Ob nun durch den Zuschauer-Casting-Charakter, die verschiedenen popkulturellen Referenzen auf Gil Scott-Heron, Elvis Costello oder auch Rudi Dutschke, Gob Squad reflektieren das, was Theater oder aber auch das, was politisch zu sein hat, im Moment ihres Spiels als Teilhabe am Pop. ther, Jungle Camp etc.) und ihren Videobotschaften permanent auftauchende Vokabel lesen.

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Dies zeigt sich auch, wenn der Zuschauer als solcher inszeniert wird. In großen Sitzsäcken in den ersten Reihen liegend, erlaubt bereits die körperliche Haltung keine aktive politische Haltung. Das »Chillen« im Sitzsack, völlig »laid-back« entspricht dem Zeitgeist und macht den Zuschauer zum Spectateur seiner Zeitgeschichte. Auf diese Weise wird die Revolution gespickt mit Revolutions-Clichées als TV-Spektakel inszeniert und der Zuschauer kann der Produktion eines reproduzierbaren Medienspektakels beiwohnen. Nun ließen sich Gob Squads Verwendung der Medien bzw. die spektakuläre Inszenierung der Revolution, die überspitzten Referenzen historischer Bilder usw. als zynische oder zumindest ironische Distanzierung gegenüber der Möglichkeit der Revolution interpretieren. Schließlich scheint die künstlich hochgetriebene Euphorie der Darsteller und ihr hysterisches Engagement immer wieder zu kollabieren, wenn der menschenleere Rosa-Luxemburg-Platz auf der Videoleinwand erscheint oder die Passanten einfach weitergehen und sich dem revolutionären Spiel entziehen. Die Pseudo-Gemeinschaft wird hier vorgeführt. Doch macht dies die Frage nach der Gemeinschaft, dem Kollektiv und der politischen Intervention obsolet? Gob Squad selbst formulieren es so: Was uns letztendlich verbinden und für einen Aufstand mobilisieren kann, was hier gestürzt oder gewonnen werden soll, was die bestehende Ordnung genau ausmacht, die im Sinne einer neuen verworfen und hinterfragt werden muss und wie man sich überhaupt in diesem Chaos aus Wünschen und Angeboten, Anspruch und gegebenen Gesetzmäßigkeiten positionieren kann – das sind die Dinge und Fragen, die ins Zentrum rücken von REVOLUTION NOW! und vor laufenden Kameras mit Passanten und Zuschauern diskutiert und verhandelt werden. Um auf diese Weise Orientierung und Handlungsspielraum zurückzugewinnen und vielleicht Antworten auf die Fragen zu finden: Wer sind wir? Was wollen wir? Und was sind wir bereit dafür zu tun?380

Angesichts der momentan tatsächlich stattfindenden Revolutionen, in denen gerade die mediale Guerilla-Strategie, ob auf Facebook, Twitter usw. zum Erfolg führte, zeigt sich die Aktualität der Fragen ›Wer sind wir?‹, ›Was wollen wir?‹, ›Und was sind wir bereit dafür zu tun?‹ viru380 | Gob Squad: Description: Revolution now presspack, S. 5, www.gobsquad. com/projects/revolution-now-presspack, vom 10.03.2014.

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lenter denn je. Gleichzeitig erscheinen die von Gob Squad produzierten Bilder und geschaffenen Situationen, alle revolutionäre Referenzen, die aus der Geschichte der Revolution ausgegraben wurden, in vollem Ernst, wenn wir Youtube-Videos der Erstürmung der ägyptischen Regierungsgebäude sehen und die aufgebrachte Masse »Wir sind drin, wir sind drin!« schreien hören. Was Gob Squad aufspürt, ist unsere Wahrnehmung medialer Bilder, Slogans und Parolen. Indem sie in unserem mentalen Archiv revolutionärer Bilder rumwühlen und diese in Paradoxien erscheinen lassen (während Gil Scott-Herons Lied »The Revolution will not be televised« im Saal klingt, läuft die »mediale Revolution« auf der Leinwand ab), führen sie uns immer wieder spürbar in die Falle des Fernsehspektakels. Und trotzdem oder gerade deshalb zeichnet sich das kraftvollste Moment der Performance durch seine sehr eigenwillige Gemeinschaftlichkeit aus, welche die Farce der Utopie nicht einfach bei der Lächerlichkeit und dem Zynismus stehen lässt. Vielmehr erreicht die Performance ihre ganze Kraft im selben Moment, in dem das Publikum realisiert, dass es tatsächlich eine Person als Verbündeten gewinnen kann. Hier setzt plötzlich, statt eines in Sitzsäcke versunkenen Konsums, eine euphorische Teilhabe ein. Doch dieses Moment der gemeinschaftlichen Euphorie, welches seinen Höhepunkt dann erreicht, wenn die Verbrüderungsaktion glückt und einer der Passanten sich bereit erklärt, seinen Alltag zu unterbrechen und Teil der Revolte zu werden, ist nicht ohne seine Ambiguität zu verstehen. Zwar zeigt sich die Euphorie am intensivsten im gemeinsamen Zujubeln des »Erlösers« (der Passant, der sich bereiterklärt hat, der Revolution beizutreten und mit ins Theater zu kommen, erscheint plötzlich auf der Bühne im grellen Spotlight mit langem blonden Haar). Dieser tritt auf die Volksbühne und schwenkt die glitzernde Fahne der Revolution und beendet damit die Besetzung des Rosa-Luxemburg-Platzes. Trotzdem scheint der Grund für diese Euphorie nicht ganz so eindeutig wie vielleicht angenommen. André Eiermanns Theorie des postspektakulären Theaters sieht mit der Infragestellung einer unmittelbaren Ko-Präsenz von Akteur und Zuschauer auch das Zustandekommen einer Gemeinschaft im Theater zur Disposition gestellt. »Vielmehr ist in der Gesellschaft des permissiven Hyperspektakels gerade das Spiel mit der buchstäblichen vierten Wand eine Form der […] ›Re-Inszenierung und Re-Flexion medial geprägter Vorbilder und Selbst-

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bilder‹, die ›die Vorstellung der unmittelbaren Gemeinschaftlichkeit, für das Bild der Face-to-Face-Kommunitaktion steht‹, infrage stellt.«381 Die Vorstellung von Gemeinschaftlichkeit im Theater, so argumentiert Eiermann in Anlehnung an Christoph Tholen, bleibe einer Definition verhaftet, die eine Ko-präsenz von Zuschauer und Akteur voraussetze. Gehe man von einem Dreierverhältnis anstelle einer dualistischen Subjekt-Objekt-Ontologie aus, so Eiermann, kann auch nicht mehr davon die Rede sein, dass die Zuschauer in dasselbe Ereignis involviert sind bzw. eine gemeinschaftliche Erfahrung machen. Insofern sich mehrere ästhetisch Erfahrende begegnen, sind sie nicht in ein gemeinsames Ereignis, sondern in eine gemeinsame Situation involviert, in der sich ihre Erfahrung jeweils individuell ereignet. Eine Situation ereignet sich also auf so viele Weisen, wie ästhetische erfahrende in sie involviert sind. Und ereignet sich eine Situation somit schon prinzipiell für jeden Involvierten auf eine andere Weise […]. 382

Die Inkonsistenz der symbolischen Ordnung, also die Tatsache, dass durch die Intervention des Symbolischen unser Gegenüber nie ganz in der Vermittlung aufgehen kann und diese Kontingenz sich für jeden anders ereignet, führt dazu, dass die sogenannten Erfahrungs-Ereignisse »[…] sich nicht unmittelbar teilen lassen, sondern nur aufgrund eines symbolischen Sich-Einlassens – der Deutung wahrnehmbarer Wirkungen anderer Erfahrungen – vermitteln.«383 In der Tat geht es nicht darum, Gemeinschaft als Möglichkeit einer kollektiv einheitlichen oder vereinheitlichenden Erfahrung zu denken. Vielmehr ist die Ambiguität des Moments der Ver-Gemeinschaftung ausschlaggebend für die Erfahrung von Gemeinschaftlichkeit. Hier verabschiedet sich Eiermann vorschnell von der Gemeinschaft, zumal die symbolische Ordnung ja gerade eine kulturell, gesellschaftlich, politisch geprägte Ordnung ist, eine Ordnung, die quasi jeden betrifft und somit unter den Erfahrenden unendliche Schnittstellen bietet. Anstatt die Frage nach Gemeinschaftlichkeit im Kontext einer symbolischen Ordnung bzw. angesichts einer dritten vermittelnden Instanz zu stellen, reduziert er die 381 | Eiermann, a, a.O., S. 23. 382 | Eiermann, a.a.O., S. 361. 383 | Ebd., S. 361.

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Gemeinschaft auf eine duale Beziehung bzw. eine identische oder homogene Erfahrung innerhalb der Theatersituation. Die Erfahrung einer Gemeinschaft ist jedoch laut Bataille gerade nicht von einer unmittelbaren und tröstenden Präsenz des Anderen geprägt. Ganz im Gegenteil: Es ist frappierend, dass Georges Bataille […] das verschmelzende Aufgehen in irgendeiner kollektiven Hypostase ausschließt. Das ist ihm zutiefst zuwider. Man darf niemals vergessen, dass für ihn weniger der Zustand der Verzückung zählt, in dem man alles und sich selber vergisst, als der unerbitterliche Fortgang, der sich bekundet im Aufsspielsetzen und Außersichgeraten der Existenz […] Folglich […] hat die Gemeinschaft nicht in Ekstase zu geraten, noch die Elemente, die sie bilden, in eine überhöhte Einheit aufzulösen, die sich selber aufheben und sich gleichzeitig als Gemeinschaft annullieren würde. 384

Blanchot weist hier im Dialog mit Jean-Luc Nancy auf den zutiefst erschütternden und zugleich heterogenen Charakter des Bataille’schen Gemeinschaftsbegriffs hin. Nancy definiert die Gemeinschaft entgegen einer Einswerdung, Verschmelzung oder Immanenz. Der Irrtum, die Gemeinschaft entstehe wie ein Werk durch seine Einheit, ist laut Nancy dem Totalitätsglauben geschuldet. Eine derartige Inkarnation der Menschheit, ihre Gesamtheit als absolutes Wesen jenseits von Beziehung und Gemeinschaft, stellt jene Bestimmung dar, die das moderne Denken gewollt hat. Jenem »unaufhörlich wütenden Kampf« werden wir solange nicht entgehen, als es uns gelungen ist die Gemeinschaft dieser Bestimmung zu entziehen. 385

Nancy bezieht sich hier explizit auf Bataille, der die Vorstellung einer menschlichen Immanenz in dem Bildnis einer in einem einzigen Wesen inkarnierten Gesamtheit der Menschen beschreibt386. Dieser »Immanentismus«387, wie ihn Nancy bezeichnet und gegen den Bataille andenkt,

384 | Maurice Blanchot: Die uneingestehbare Gemeinschaft, Berlin 2007, S. 1920. 385 | Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 7. 386 | Ebd., S. 7. 387 | Ebd., S. 5.

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konzipiert den Menschen als »immanentes Wesen par excellence«388 – ein Wesen, das sich selbst zur Vollendung bringt und sich in der Gemeinschaft »ins Werk setzt«. Dieses totalitäre Denken, in dem der Mensch als immanentes für-Sich absolutes Subjekt steht und somit das Wesen der Gemeinschaft das Ergebnis seines eigenen Schaffens ist, räumt dem Tod keinen Platz ein. Nun ist aber die Gemeinschaft der menschlichen Immanenz, der Mensch, der sich selbst, oder Gott, der Natur und seinen eigenen Werken gleich geworden ist, eine derartige Todesgemeinschaft – ja, eine Gemeinschaft von Toten […] Das will heißen, daß der Tod hier nicht der unbeherrschbare Exzeß der Endlichkeit, sondern die unendliche Vollendung eines immanenten Lebens ist. 389

Die Gemeinschaft der menschlichen Immanenz ist somit keine Gemeinschaft. Erst dort, wo sich der Mensch als nicht-absolut spürt, d.h. er seine Immanenz »verliert«, bestimmt er sich als Beziehung. Erst in dieser Bestimmung entsteht Gemeinschaft. Dort also, wo die Immanenz suspendiert wird, sie verloren geht, entsteht Gemeinschaft. Dieser Verlust, welcher eigentlich kein solcher ist, entsteht am äußersten Rand der Absolutheit des Seins,390 an dem das Subjekt sich als absolut immanent setzt und in diesem Setzen die Absolutheit selbst auflöst, da dieses Setzen immer eine Relation vorsieht. Denn sich selbst als absolut zu begreifen, ist nur möglich, wenn man sich als absolut allein setzt. Diesem Setzen scheint laut Nancy ein performativer Selbstwiderspruch inhärent, schließlich muss es, damit allein ich allein bin, einen Anderen geben von dem aus ich mich als absolut allein definiere. »Um absolut allein zu sein genügt es nicht, dass ich es bin, es ist vielmehr darüber hinaus notwendig, dass allein ich allein bin. Genau dies ist aber widersprüchlich.«391 Diesen Zustand beschreibt Nancy als einen der Zerrissenheit. Erst durch ihn gelangt das Subjekt dazu, sich als Beziehung zu bestimmen und gewissermaßen seine Immanenz zu verlieren. Deshalb ist für Nancy der Verlust der Immanenz bzw. das Auf brechen des Prinzips der Abso-

388 | Ebd., 389 | Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 17. 390 | Ebd., S. 6. 391 | Ebd., S. 6.

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lutheit konstitutiv für die Entstehung der Gemeinschaft und nicht der Grund ihres Endes. Was von der Gemeinschaft »verloren« [sic!] ging – die Immanenz und die Vertrautheit einer Einswerdung – ist nur insofern verloren, als ein solcher Verlust [sic!] für die »Gemeinschaft« selbst konstitutiv ist. Dies ist jedoch kein Verlust: Die Immanenz ist im Gegenteil genau das, was – wenn es sich ereignen würde – Augenblicklich die Gemeinschaft oder auch die Kommunikation als solche vernichten würde. 392

Deshalb betrachtet Nancy das »Fantasiegebilde« der verlorenen Gemeinschaft als den wohl ältesten Mythos des Abendlandes.393 Mit ihm verbindet sich die Vorstellung vom Menschen, der in die reine Immanenz eintritt. Der Verlust der entschwundenen Immanenz bzw. der Zustand der Zerrissenheit gilt hier als Verlust einer vormals existenten Gemeinschaft. Auf dem Grund dieses Gefühls der Zerrissenheit liegt jedoch die Möglichkeit den Anderen zu spüren. Es zeigt sich, dass von der Gemeinschaft zu sprechen auch bedeutet, von etwas zu sprechen, das einer Einswerdung oder Kommunion ganz und gar entgegengesetzt ist. Paradoxerweise geht die Gemeinschaft aus einer viel fundamentaleren Erfahrung hervor: Was heute in den Köpfen der Leute herumgeistert, wenn von kollektiver Existenz die Rede ist, könnte man sich kaum armseliger denken, und keine Vorstellung mag wohl mehr verwirren als die, den Tod zum grundlegenden Objekt des gemeinsamen Handelns der Menschen zu machen — den Tod eben und nicht die Nahrungsbeschaffung oder die Herstellung von Produktionsmitteln. (…) Das tragisch Religiöse in der Existenz einer Gemeinschaft, das aufs engste mit dem Tod verklammert ist, ist den Menschen äußerst fremd geworden. Niemand denkt mehr daran, daß die Realität eines gemeinsamen Lebens — was soviel heißt wie der menschlichen Existenz — davon abhängt, die nächtlichen Schrecken und jene ekstatischen Schauder, die der Tod um sich verbreitet, gemein zu machen (...). 394

392 | Ebd., S. 16. 393 | Ebd., S. 14. 394 | Bataille, Œuvres complètes Band I, S. 486, Paris 1970-1988, zit.n. Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 45.

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Dies ist Batailles grundlegende Konzeption der Gemeinschaft, von der aus Nancy die Gemeinschaft als eine »entwerkte« denkt. Diese »entwerkte Gemeinschaft«, wie sie Nancy im Sinne Batailles und in Anlehnung an Heidegger konzipiert, entsteht erst durch eine gemeinschaftliche Erfahrung des Todes. Erst der Tod des Anderen teilt mir mein »Sein« und meinen eigenen Tod mit.395 Mein Tod wird somit durch den Tod des Anderen erfahrbar. Insofern bietet einzig die Gemeinschaft die Möglichkeit, den Tod erfahrbar zu machen, sie ist die Gabe des Seins. Die Praxis des gemeinsamen Teilens – genauer des geteilten Todes – gibt die Gemeinschaft. Dies macht die Gabe des Seins aus. Die Endlichkeit des Seins ist somit unlöslich mit der Gemeinschaft verbunden. Es gibt sozusagen eine Interdependenz zwischen dem Tod und der Gemeinschaft. Der Tod kann vom Subjekt nur in der Gemeinschaft bzw. in der Beziehung zum Anderen erfahrbar werden und die Gemeinschaft entsteht erst in dieser Erfahrung der Endlichkeit. Aber der Tod wird in dieser gemeinschaftlichen Erfahrung nicht aufgehoben. Nichts, keine Dialektik (auch oder gerade die von Herr und Knecht) und keine Kommunion können die Leere, die der Tod dem Sein gibt, mit Sinn füllen. Dies ist, ganz im Sinne der Bataille’schen Heterologie der Grund für den heterologen Charakter des Todes und der Ursprung seiner untrennbaren Verbindung mit der Gemeinschaft. Der Abwesenheit seines Sinns (des Todes) setzt sich die Gemeinschaft aus und teilt ihre eigene Endlichkeit, die alle betrifft, mit. Anstelle der Kommunion tritt die Gemeinschaft der Differenz, sprich eine Gemeinschaft, in der durch ein »Mit-sein oder Miteinandersein durch den Tod« gerade keine Einswerdung, sondern vielmehr eine Selbstüberschreitung stattfindet, da sie die Unmöglichkeit, dem Tod einen Sinn oder einen Wert 395 | Nancys Begriff der »Mit-Teilung« referiert auf Martin Heideggers Begriff des »Mitsein«, welcher das in die Welt geworfene Dasein als immer schon mit-Anderen-sein beschreibt. Die Welt, in die das Dasein geworfen wird, ist immer eine mit Anderen geteilte und insofern gibt es kein isoliertes Ich ohne die Anderen. »Das »Mit« ist ein Daseinsmäßiges, das »Auch« meint die Gleichheit des Seins als umsichtig-besorgendes In-der-Welt-sein. »Mit« und »Auch« sind existenzial und nicht kategorial zu verstehen. Auf dem Grunde dieses mithaften In-der-Welt-seins ist die Welt je schon immer die, die ich mit den Anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mit-welt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein« (Martin Heidegger: Sein und Zeit, Berlin 2007, S. 118).

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zu verleihen, aushält, oder wie Bataille sagt: »Wenn ein Lebender seinesgleichen sterben sieht, kann er nur noch außer sich weiter existieren.«396 Die Gemeinschaft hebt die Endlichkeit, die sie exponiert, nicht auf. Die Gemeinschaft ist selbst letztlich nur dieses Exponieren, dieses Aussetzen. Sie ist die Gemeinschaft der endlichen Wesen und als solche ist sie selbst endliche Gemeinschaft. Also nicht eine begrenzte Gemeinschaft im Verhältnis zu einer unendlichen oder absoluten Gemeinschaft, sondern eine Gemeinschaft der Endlichkeit, denn die Endlichkeit »ist« gemeinschaftlich, und nur sie ist gemeinschaftlich, nichts anders. 397

Nancy beschreibt hier die moderne Erfahrung der Gemeinschaft jenseits der Immanenz oder fundamentaler gesprochen: Er zeigt, dass für Bataille keine Erfahrung ohne die Gemeinschaft möglich ist. Und wenn Bataille die innere Erfahrung paradoxerweise an die Gemeinschaft gebunden sieht, dann meint er gerade keine Innerlichkeit, sondern diese Erfahrung des Außer-sich-Seins oder der Ekstase, in die das Subjekt gerät, wenn es seine Endlichkeit (in) der Gemeinschaft (mit)teilt. Nancy betont nicht zuletzt das Unmögliche dieser Situation oder besser dieser Kommunikation. Denn nichts anderes ist die Mit-Teilung, von der er spricht. Unmöglich deshalb, weil in dieser Mit-Teilung kein Sinn oder keine Wahrheit übermittelt wird bzw. sie sich ja gerade gegen diese richtet. Weil diese Kommunikation – dieses Mit-Teilen der Endlichkeit – über das Subjekt hinaus geht, ist die Erfahrung der Gemeinschaft eine ekstatische. Es ist gewissermaßen eine Kommunikation an der Grenze des Bewusstseins, an der sich die eigene Fremdheit nicht mehr in der Vertrautheit der Immanenz aufheben lässt und stattdessen in ein Außersich-Sein mündet. Dieses Bewußtsein — oder diese Kommunikation — ist die Ekstase: das bedeutet, daß ich nie ein solches Bewußtsein als mein Bewußtsein besitze, und daß ich es im Gegenteil überhaupt nur in der Gemeinschaft und durch sie besitze. Es ähnelt fast zum Verwechseln dem, was man in einem anderen Zusammenhang ein »kollektives Unbewußtes« nennen könnte, und vielleicht gleicht es sogar noch stärker dem, was 396 | Bataille, Œuvres complètes Band VII, 245-246, Paris 1970-1988, zit.n. Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 21. 397 | Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 35.

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man mit Freud als letztlich kollektive Substanz des — von ihm so bezeichneten — Unbewußten ausmachen kann. Aber dies ist kein Unbewußtes — es ist weder die Kehrseite eines Subjektes noch seine Spaltung. Es ist nichts, was mit der Struktur des Selbst des Subjektes zu tun hätte: Es ist vielmehr das klare Bewußtsein an der äußersten Grenze seiner Klarheit, wo Selbstbewußtsein (Bewußtsein von sich) zu sein sich erweist als Sein außerhalb des Selbst des Bewußtseins.398

Dieses klare Bewusstsein ist mithin kein Selbst-Bewusstsein (im Sinne Hegels), wo »[…] sein ganzes Draußen, alle seine Formen der ›Entäußerung‹ und ›Entfremdung‹ [sic!] letztendlich von ihm selbst beseitigt und in ihm aufgehoben sind […]«,399 sondern vielmehr dessen Suspendierung – der Moment, in dem klar wird, dass es keine Immanenz gibt. Mit anderen Worten: Dies Außerhalb des Selbst des Bewusstseins ist genau die Stelle, an der sich der Raum der Erfahrung des Draußen eröffnet,400 d.h. der Mensch kein Subjekt mehr, sondern Außer-sich ist. Das, was die Gemeinschaft mitteilt bzw. was sich in der Gemeinschaft mitteilt, ist die Endlichkeit, die Fremdheit, die »Unterbrechung des Selbst-Bewußtseins«, sprich die Ausgesetztheit des Seins. Diese Mit-Teilung konstituiert singuläre Seiende statt Individuen. Nancy führt hier den Begriff der »singulären Seienden« ein, um den Zustand zu bestimmen, in dem der Mensch kein Subjekt und auch kein Individuum mehr ist, ein Zustand, der von der Dinghaftigkeit des Subjektbegriffs bzw. von der Subjekt-Objekt-Relation weg will und sich gegen den Werkcharakter der Individuation richtet. […] wobei die Daseine singuläre Existenzen sind und keine Subjekte, und ihre Beziehung – die Mit-Teilung selbst – weder eine Einswerdung noch eine Aneignung von Objekten ist, auch keine Anerkennung des Selbst, ja nicht einmal eine Kommunikation unter Subjekten, wie sie gemeinhin verstanden wird. 401

Das heißt, singuläre Seiende werden durch nichts geschaffen oder hervorgebracht, sie sind nicht das Resultat irgendeines Werkes, sondern lediglich endliche Wesen, deren Endlichkeit erst in der Gemeinschaft erscheint. Dies »Zusammen-erscheinen« macht ihre Kommunikation aus, 398 | Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 26. 399 | Ebd., S. 32. 400 | Ebd., S. 25. 401 | Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 33.

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die nichts mit der Kommunikation zwischen Subjekten gemein hat, dies betont Nancy ausdrücklich. Das Subjekt kann nicht außer sich sein: schließlich wird es ja sogar gerade dadurch definiert, daß sein ganzes Draußen, […] in ihm aufgehoben sind. Das Sein der Kommunikation dagegen, das Mitteilend-Sein (und nicht das vorstellende Subjekt) oder – wenn man so weit gehen will – die Kommunikation als prädikative Bestimmung des Seins, als »Transzendentales« [sic!], ist vor allem Außer-Sich-Sein. 402

Es geht Nancy um eine Kommunikation, in der die Andersheit des Anderen und des Selbst gleichermaßen nicht in einer Objektvorstellung aufgehoben werden kann. Vielmehr bleiben sie als »singuläre Seiende« immer für einander Andere und ihre Kommunikation führt zu keiner Aufhebung (des anderen im Gegenstand/Objekt) oder Verschmelzung, sondern lediglich zur Exposition des Todes. Außer-sich ist das singuläre Seiende hier in der extremen Erfahrung des Zwischen bzw. Zwischen-uns – eine Erfahrung, die sich insofern als Zerrissenheit oder auch als Ausgesetztsein beschreiben lässt, als dass sie »[…] ohne Band und ohne Eins-sein zugleich […]«403 die Beziehung zwischen mir und dem anderen beschreibt. Das, was also zwischen mir und dem immer ganz Anderen zusammen-erscheint, ist unsere Endlichkeit. Deshalb ist die Singularität auch keine Vereinzelung, sondern die Erfahrung der Grenze des Anderen und meiner selbst und diese ist die Endlichkeit. Dies ist für Nancy der Grund, weshalb keine Gemeinschaft zwischen Individuen entstehen kann, denn diese sind als Ding immer unendlich. Wo das Individuum nichts als ein anderes Individuum kennt, das als mit ihm identisch und zu-gleich wie ein Ding - d.h. als Identität eines Gegenstandes - neben ihm steht, dort kennt das singuläre Wesen seinesgleichen nicht, spürt es aber: »Das Sein bin niemals ich allein; es ist immer ich und meinesgleichen« [sic!] […] Dies ist seine Leidenschaft. Die Singularität ist die Leidenschaft des Seins. 404

402 | Ebd., S. 32. 403 | Ebd., S. 39. 404 | Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 43.

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Diese Unterscheidung markiert für Nancy die Grenze des Bataille’schen Gemeinschaftsbegriffs. An ihr zeigt sich die Gemeinschaft als eine gescheiterte, gerade weil Bataille sich immer noch auf das Subjekt bezieht, bleibt die Souveränität bzw. die Ekstase den Liebenden und dem Künstler vorbehalten. Nancy glaubt der Erfahrung des Faschismus einerseits und des gescheiterten Kommunismus andererseits kann Bataille nur die private Liebe und das künstlerische Schaffen entgegensetzen und gibt mithin das Denken der ekstatischen Gemeinschaft auf. Auch wenn Nancy kritisiert, Bataille habe die Gemeinschaft nicht konsequent genug mit seinem Souveränitätsbegriff zusammen gedacht bzw. der Souveränitätsbegriff habe sich gewissermaßen immer zwischen die beiden Pole Gemeinschaft/Ekstase geschoben, so dass Bataille laut Nancy die Forderung nach Souveränität und Ekstase letztendlich nur in den Liebenden und der künstlerischen Arbeit realisiert sah, nicht aber in der politischen Gemeinschaft und so seine Forderung nach Gemeinschaft immer mehr verblasste – so bleibt er für Nancy trotzdem der Denker, der die »unerhörte Forderung nach Gemeinschaft«405 am weitesten zu denken wagte und somit den Raum aufgesucht hat, in dem der Mensch kein Individuum – also kein Ding mehr ist. Indem er das Denken der Gemeinschaft als Denken an der Grenze – auch der Grenze des Subjektbegriffs – praktizierte, zeigt er uns, dass es nichts anderes als ein sich verausgabendes Denken sein kann. Was in unserem Zusammenhang also bedeutet, daß nur ein Diskurs über die Gemeinschaft, wenn er sich ganz verausgabt, der Gemeinschaft die Souveränität ihrer Mit-Teilung offenbaren kann (was eben heißt, ihr gerade nicht ihre Einswerdung darzustellen oder sie zu bedeuten). 406

Kommen wir nun im Hinblick auf das, was Nancy Gemeinschaft genannt hat, auf Gob Squads Performance zurück, dann können wir zwei Ebenen konstatieren, auf denen die Gemeinschaft zur Disposition steht. Auf der inhaltlichen Ebene führen Gob Squad durch polemische Revolutionsgesten, Verbrüderungsgesänge, pathetische Geschichtsreferenzen usw. dem Zuschauer immer wieder die zynische Lächerlichkeit oder besser die Unmöglichkeit der Gemeinschaft vor Augen. Einzelne Passan405 | Ebd., S. 30. 406 | Ebd., S. 34.

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ten durchweg mit »das Volk« anzusprechen, ist hier nur die offensichtlichste Geste einer Vorführung des Scheiterns der Gemeinschaft. Wenn Gob Squad eine Zuschauerin Brechts Zeilen aus der Dreigroschenoper lesen lassen: »Sorgfältig prüfe ich meinen Plan. Er ist groß genug. Er ist unverwirklichbar«, erscheint das Spiel der Lächerlichkeit in vollem Ernst. Denn tatsächlich überlegt man sich als Zuschauer trotz aller Versuche der Performer Gemeinschaft herzustellen – so überzogen sie auch sein mögen – ob dies überhaupt möglich ist, ob dieser Plan nicht vielleicht zu groß ist. Zu dieser Überlegung drängt die Performance geradezu, denn je mehr Werke in die Performance einbezogen werden bzw. je mehr die Gemeinschaft ins Werk gesetzt wird, desto unverwirklichbarer und ergebnisloser scheint der Plan. Forciert wird die Reflektion über ein mögliches Glücken der Gemeinschaft oder besser ihr Scheitern insbesondere, wenn die technischen Mittel, die Projektion, die Mikroverstärker, das Licht etc. derart in den Vordergrund rücken, dass die Bildung einer Gemeinschaft quasi von ihnen abhängt bzw. sie sich quasi zwischen die Anwesenden schieben. Es wird immer deutlicher: Ohne die Videokamera könnte das Geschehen vor dem Theater, also Draußen, nicht aufgezeichnet und übertragen werden und andersrum. Es gäbe somit keine Kommunikation zwischen den Zuschauern im Theatersaal und dem Draußen – und somit auch keine revolutionäre Gemeinschaft. Nehmen wir Nancys Entwurf wörtlich, dann sehen wir in Gob Squads Performance dem sich im Draußen befindlichen Anderen zu, während wir gleichzeitig unserer eigenen Projektion ins Draußen ausgesetzt sind. Entscheidend an diesem Moment ist, dass sich die Gemeinschaft hier nicht zwischen den Anwesenden im Theatersaal einschwören soll, bspw. als gemeinsam Teilhabende einer körperlichen Erfahrung, schließlich soll jemand von Draußen für die sich im Theater stattfindende Revolution gewonnen werden. Somit scheint es auch nicht ganz dem Zufall überlassen, dass die Mit-Einbeziehung des Publikums und das »bonding« untereinander ganz und gar clichéehaft bleibt, z.B. wenn die Zuschauer ihren Sitznachbarn berühren sollen. Das Band der Theater-Gemeinschaft will oder darf hier einfach nicht glücken – der sich außerhalb der revolutionären Theater-Gemeinschaft im Saal befindliche Andere, der Fremde dort Draußen ist es, der am Ende die Gemeinschaftlichkeit »rettet«. Während uns die Performance immer wieder vorführt, dass jede Anstrengung, eine Gemeinschaft zu bilden,

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ins Leere läuft, entsteht eine Dynamik, in der sich zeigt, dass wir immer schon Gemeinschaft sind, oder wie Nancy sagen würde, nicht anders als zusammen-erscheinen können. Dieses Zusammen-Erscheinen wird in jenem Moment spürbar, in dem der Andere von Draußen auf die Bühne tritt und sich dem lächerlichen Projekt »Revolution zu machen« anschließt. Es ist klar, dass es nicht um die gemeinsame Verwirklichung dieses Ziels gehen kann und dies auch nicht der Grund für die Entstehung dieser Gemeinschaft ist. Doch was macht dieses ekstatische Moment der Performance aus? Wieso erlebt das Publikum diesen Moment der Begegnung auf diese Weise? Nancy sieht in der Mit-Teilung der Endlichkeit den Anlass zur gegenseitigen Anrufung – eine vorsprachliche Anrufung, die Bedingung für jede weitere sprachliche Kommunikation ist, weil sie ihr vorausgeht. Es geht um eine »spezifische Phänomenalität, die wohl ursprünglicher ist als jede andere […]«407 Tatsächlich teilt sich in dem Bühnenauftritt kein anderer Sinn als die Anwesenheit des Anderen mit. Die Verbindung, die sich in diesem Moment herstellt, hat keinen anderen Sinn als den des Teilens der gemeinsamen Zeit. Folgen wir Nancy, kommt es in der Mit-Teilung der Endlichkeit zur gegenseitigen Anrufung – hier verbinden sich die Zeitlichkeit, nämlich das eigene Ende, mit dem Ruf um Gehör. Der Auftritt des Passanten auf der Volksbühne beschreibt dieses Moment in nuce. Weder Kategorien der Unmittelbarkeit, ein Wiedererkennen des Selbst im Anderen noch die Hegel’sche Thematik der Annerkennung sind hier von Bedeutung. Es geht vielmehr um etwas Grundlegenderes – nämlich die Mit-teilung: Ich bin hier, ich bin ein Mensch – geboren wie du und endlich wie du!408 Nun könnte diese Mit-Teilung selbstverständlich Teil jeder Inszenierung sein, in der Menschen auf der Bühne stehen. Im Grunde genommen ist dem beizupflichten. Trotzdem macht bei Gob Squad diese Mit-Teilung in jeder Hinsicht das Kraftzentrum, den Höhepunkt und wenn man so will das Sujet der Performance aus, da es schließlich gerade um das Errei407 | Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 38. 408 | »Weder finde ich mich im anderen wieder, noch erkenne ich mich in ihm: Ich erfahre in oder an ihm die Andersheit und die Alteration, die ›in mir selbst‹ meine Singularität außerhalb meiner setzt, und sie so unendlich enden lässt« (Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 44).

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chen einer Gemeinschaft geht, die unentwegt scheitert. Es entsteht eine Metaebene, auf der es zu einem doppelten Verweis kommt: Durch das Exponieren der Video-Übertragung schaffen die PerformerInnen durch ihre eigene Selbstdistanzierung von diesen Mitteln und der Zurschaustellung ihres offensichtlichen Scheiterns ununterbrochen Situationen, in denen die »unaufhörliche Un-Vollendung der Gemeinschaft« trotz oder gerade durch die Beteiligung der Zuschauer am Handlungsverlauf der Performance stattfindet und gleichzeitig in der Übertragung der Videoleinwand das Zwischen deutlich exponiert. Juliane Rebentisch liefert in ihrer Auseinandersetzung mit Hegels Ironiekritik einen hilfreichen Hinweis zu diesem aus der Ironie entstehenden Spannungsverhältnis. Sie zeigt auf, wie in der Ironie bzw. dem ironischen Bewusstsein ein dialektisches Spiel von Distanznahme und Neubestimmung entstehen kann. Dass das ironische Subjekt in eine Distanz zu sich selbst tritt, was sich beispielsweise im Lachen über sich selbst zeigt, scheint entscheidend für dieses dynamische Spiel der Selbstbestimmung. Gegen die in der Philosophie dominante Tradition, welche Freiheit einseitig mit dem Vermögen zur vernunftsmäßigen Selbstbestimmung gleichsetzt, behauptet sich mit der romantischen Integration von unwillkürlichen, irrationalen, anarchischen Impulsen in den Begriff der Freiheit das, was Adorno »Dialektik der Freiheit« genannt hat: ein im Herzen des Begriffs wirksamer Antagonismus, der das Vermögen zur Selbstbestimmung mit einem ihm gegenläufigen Impuls zusammenspannt. 409

Rebentisch widerspricht hierin Hegels Kritik der romantischen Ironie und weist seine Annahme, die Ironie sei als subjektivistische Tendenz dem Sozialen enthoben, als falsch aus. Für sie macht sich die Ironie als Trägerin des Irrationalen, Willkürlichen, Regellosen als Krise im Sozialen bemerkbar und nicht als ihr Gegenteil. Die ironische Haltung ist mithin Ausdruck einer identitären »Spaltungserfahrung« des Subjekts, die »der Beginn einer Veränderung sein«410 kann – eine Veränderung auch das Soziale betreffend. Aus dieser Verteidigung des ästhetischen Freiheitsbegriffs ergibt sich zweierlei; die Widerlegung der Annahme, das ästhetisierte Verständnis 409 | Juliane Rebentisch: Hegels Missverständnis der ästhetischen Freiheit, S. 184. 410 | Ebd., S. 182.

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von Freiheit sei nicht mit dem Sozialen zusammen zu denken. Außerdem zeigt sich, dass in der ironischen, d.h. ästhetisierten Position die Sicherheiten um die eigene Identität oder die soziale Praxis ins Wanken geraten – eine Dynamisierung beider Seiten, des Sozialen wie des Ästhetischen, findet statt, die eine Distanznahme und Infragestellung ermöglicht, aus welcher wiederum Veränderung erst hervorgehen kann. Beide Seiten dieser dialektischen Spannung – die Seite der sozialen Integration wie die der anarchischen Desintegration – sind vermittelbar nur als Momente in einem Prozess, in dem wir uns und die soziale Praxis, deren Teil wir sind, ändern können. 411

Ohne hier weiter ins Detail von Rebentischs Argumentation zu gehen, ließe sich zumindest für Gob Squad sagen, dass ihre Performance in der ironischen Haltung gerade darauf abzielt, die Möglichkeitsbedingungen der Gemeinschaft in Frage zu stellen, ohne jedoch das Soziale gleichsam zu liquidieren. Wenn Rebentisch für einen Begriff von Selbstbestimmung plädiert, »[…] der dem Moment der Distanz vom Sozialen als einem konstitutiven Moment unserer Freiheit Rechung trägt […]«412 und so insbesondere die Unterminierung des neoliberalen Ideals des flexibilisierten Ichs meint, dann ließe sich dieser Gestus auch bei Revolution Now! ablesen. Immerhin schafft die Performance durch ihre böse413 – die Gemeinschaft belächelnde oder zumindest ins Lächerliche gleitende – Haltung nicht nur eine Distanz zur Gemeinschaftlichkeit, sondern verhindert ge411 | Ebd., S. 186. 412 | Ebd., S. 187. 413 | Rebentisch verteidigt die Ironie gegen Hegels Einschätzung der selben als böse insofern, als dass »[…] die Möglichkeit, dass wir zu unseren Bestimmungen in einen Abstand treten können, selbst schon als Böses zu halten […]« ihr zufolge die darin liegende Chance zur Selbstkritik übersieht. Insofern lässt Rebentisch den Begriff des Bösen für die Ironie nicht gelten (Rebentisch, Hegels Missverständnis der ästhetischen Freiheit, S. 183). Wir hingegen führen an dieser Stelle den Begriff des Bösen gezielt ein, und wollen ihn eher im Sinne Nietzsches verstanden wissen. Es geht hier folglich um jenes Böse, das den Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen selbst betrifft. Die Ironie ist also in jenem Sinne unmoralisch, in dem sie den Bruch zwischen den sozialen Praktiken und dem Selbst herbeiführt. Dieses Unmoralische ist aber kein Schlechtes, welches sich gegen

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radezu ihre Bildung. Den Zuschauer in einen aktiv Handelnden zu transformieren, wird hier zur Strategie der Entwerkung anstelle der Gemeinschaftsbildung. Die Performance belässt es aber nicht bei ihrer asozialen, das Soziale nicht zulassenden Position. Indem sie das plakativ Soziale, die vordergründige, sich in Gesängen und Riten einschwörende Gemeinschaft »bösartig« vorführt, gerät in der Tat ein Prozess in Gang, der die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen einer sozialen Praxis nicht jenseits des Subjekts, doch aber auf eine die Subjektivität übertreffende Weise stellt. Dieser Prozess – bei Rebentisch auch als Ausdruck von Entfremdung bzw. einer Fremderfahrung zu lesen – lässt sich mit Nancy auch als ekstatisch 414 beschreiben. Die Performance führt durch ihre beiden gegenläufigen Strategien, nämlich einerseits die Lächerlichkeit ihres Vorhabens »Revolution zu machen« und gleichzeitig diese Täuschung bzw. Ironie zu unterlaufen, indem am Ende der Performance tatsächlich ein Passant für die Teilhabe gewonnen werden kann, vor, dass es kein Erreichen der Gemeinschaft geben kann, gerade weil Gemeinschaft immer schon gegeben ist. »Es ist dies eine zu erneuernde, mitzuteilende Gabe, kein Werk, das herzustellen wäre.«415 Insofern wird das regressive Gemeinschaftsideal, welches Nancy kritisiert, bei Gob Squad der Zerstörung ausgesetzt und gleichsam nach einer anderen Art der Gemeinschaft gefragt bzw. einem angemesseneren Verständnis von Gemeinschaftlichkeit und Sozialem. Das ekstatische Moment der Performance wäre eine erste Antwort auf die Frage, wie eine solche Gemeinschaft aussehen könnte. Die Ekstase stößt gewissermaßen in Form der entwerkten Gemeinschaft den »singulären Wesen« der Performance zu, nämlich genau in dem Moment, in dem es zur Kommunikation kommt, in der die Grenze des Anderen sich mit-teilt, welche immer auch meine eigene ist. Diese Grenze ist der Tod. Sie macht die Ähnlichkeit meinesgleichen aus und gleichzeitig erfahre ich meine eigene Andersheit bzw. Entrückung angesichts des Todes. Die Ekstase hier als extreme Daseinserfahrung verstanden, von der wir bereits sprachen, nämlich der Zustand, in dem man kein Individuum mehr ist und in den Raum des Gemeinschaftlichen eintritt, bedeutet »[…] das Gute richtet, sondern eben jener Bruch welcher die Unterscheidung von Gut und Böse selbst betrifft. 414 | Siehe S. 175ff. 415 | Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 47.

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keinerlei Gefühlserguss, und noch weniger irgendeine mystische Verzückung. Sie definiert ausschließlich […] die Unmöglichkeit einer Individualität im strengen Sinn wie auch die einer reinen kollektiven Totalität.«416 Insofern ist die Ekstase auch als »Antwort auf die Unmöglichkeit der Immanenz« als Entrückung des selbst durch die Darbietung des Todes und der Geburt durch die Gemeinschaft zu verstehen. In der Performance antwortet das Publikum der Anrufung des Menschen, der auf die Bühne tritt, mit ihrem ekstatischen Zustand. Er ist eine Antwort auf die Darbietung der Existenz außer mir, welche der Tod und die Geburt als unwideruflich geschlossene Grenze sind und welche – wörtlich gesprochen – mit dem Auftritt des Passanten von Draußen nach Drinnen dringt. Die Bildung der Gemeinschaft hat demnach nichts mit einem spiegelhaften oder identitären Wiedererkennen zu tun, sie ist diesem vielmehr entgegengesetzt. Ebensowenig geht es um eine Kollektivbildung bzw. eine Gemeinschaft, die sich über die Erfahrung konkreter Körperlichkeit bestimmt.417 Mit und gegen Eiermanns Argumentation ließe sich die Gemeinschaft also erst recht und vor allem für das Theater neu denken: Dass erst mit der Erfahrung einer symbolischen Ordnung, sprich der dritten Instanz des großen Anderen, die Immanenz des Subjekts zerbricht, die Kontingenz der symbolischen Ordnung sich zeigt und dadurch die Unmöglichkeit der Absolutheit des Absoluten auf eine Beziehung hindeutet, die nicht Kommunion, aber eben gemeinschaftlich ist – wäre hier das entscheidende Argument. Dass der Dritte immer im Spiel ist, müsste deshalb der deutlichste Beleg für die Gemeinschaft sein, weil es bedeutet, dass Erfahrung immer erst durch die Gemeinschaft möglich ist. Denn die […] Erfahrung um ein symbolisches Wissen im Sinne Lacans, ein Wissen also um die primordiale Mittelbarkeit von Selbst- und Fremderfahrung, dem sich die sym416 | Ebd., S. 8. 417 | »Das Spiegeldispositiv (das Wiedererkennen des Selbst im anderen, was das Erkennen des anderen im Selbst und folglich die Instanz des Subjektes voraussetzt) ist hier, wenn ich so sagen darf, fast umgestülpt wie ein Handschuh: Ich erkenne, daß es im Tod des anderen nichts zu erkennen gibt. Und so kann sich die Mit-Teilung - und auch die Endlichkeit - einschreiben« (Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 44).

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bolischen, realen und imaginären Aspekte der Beziehung zum Anderen in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zeigen 418 ,

weist doch gerade auf die Rolle der Gemeinschaft als Bedingung für die Entstehung dieser symbolischen Ordnung hin. Das »Zwischen«, von dem Eiermann spricht und womit er die Instanz des Symbolischen meint, ist bei Nancy gerade der Ort, an dem sich die Souveränität mit-teilt bzw. die Kommunikation zwischen den singulären Seienden stattfindet. Dort wo sich bei Eiermann das Symbolische zeigt und eine ästhetische Erfahrung als Genießen der Inkonsistenz der symbolischen Ordnung möglich wird – sprich der Ort, an dem die ästhetische Erfahrung das Subjekt seine Beziehung zum Symbolischen wissen lässt – ist bei Nancy der Raum, in dem sich eben diese Selbst- und Fremderfahrung, von der bei Eiermann die Rede ist, als Mit-Teilung der Gemeinschaft zeigt. Jedoch hat diese Erfahrung nichts mit Intersubjektivität gemein. Es ist vielmehr eine freudvolle Erfahrung des Zwischen. Die Metapher des »sozialen Bandes« stülpt fatalerweise über irgendwelche »Subjekte« (das heißt: Objekte) eine hypothetische Wirklichkeit (die des »Bandes«), der man verzweifelt eine fragwürdige »intersubjektive« Natur zuzuweisen sucht, die die Gabe besäße, diese Objekte miteinander zu verknüpfen; und dies wäre dann ebenso das ökonomische Band wie auch das Band der Anerkennung. Aber die Komparenz ist von ursprünglicherer Ordnung als das Band. Sie konstituiert sich nicht, bildet sich nicht, noch erscheint sie zwischen bereits gegebenen Subjekten (Objekten). Sie besteht im Erscheinen des Zwischen als solchem: du und ich (das Zwischenuns); in dieser Formulierung hat das und nicht die Funktion des Nebeneinandersetzens, sondern die des Aussetzens. Im Zusammen-Erscheinen wird folgendes exponiert — und dies sollte man in allen denkbaren Kombinationen zu lesen wissen: »du (b(ist)/und) (ganz anders als) ich«; oder einfacher gesagt: du Mit-Teilung ich. 419

Gerade im Hinblick auf die Abwesenheit des Gegenübers wäre der Frage, wie Gemeinschaft entsteht, nachzugehen. Denn in diesem Fall könnte von einer dualen Beziehung keine Rede sein.420 Deutlich wird aber, dass 418 | Eiermann, a.a.O., S. 32. 419 | Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 39. 420 | »Dies kann aber selbstverständlich keine Beziehung zwischen zwei oder mehreren Absoluta ergeben, ebensowenig wie es aus der Beziehung ein Absolu-

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Gemeinschaft nicht einfach verschwindet, wenn von »individuellen Erfahrungen« die Rede ist oder aber der Akteur von der Bühne verschwindet. Gerade Eiermanns Dreierverhältnis bzw. Hinweis auf eine kontingente symbolische Ordnung liefert die Möglichkeit, Gemeinschaft viel weitgehender zu denken, als dies der Begriff des Kollektivs greifen könnte. Die Gemeinschaft als »Exzeß an Theorie«421 zu denken, wäre hier in Anlehnung an Bataille stattdessen der Vorschlag. Nancy sieht diesen Exzess in der aktiven Aufgabe, die Gemeinschaft stetig zu »un-vollenden«. Auch wenn Gemeinschaft gewissermaßen immer schon gegeben ist, so bleibt die Aufgabe eines aktiven Widerstands gegen die Immanenz, die Totalität, oder wie Bataille sagen würde, gegen den Ganzheitswahn bestehen, um die Gemeinschaft stetig zu entwerken und so zu verhindern, dass sie sich in einem einzigen Wesen inkarniert. In dieser Aufgabe besteht das Politische der Gemeinschaft. Entgegen einer Ordnung der Gemeinschaft hin zum Gemeinschaftlichen soll es um eine bewusste Erfahrung der Mit-Teilung, der Ekstase und der Kommunikation gehen. »Politisch« würde bedeuten, daß eine Gemeinschaft sich auf die Entwerkung ihrer Kommunikation hin ausrichtet oder zu dieser Entwerkung bestimmt ist: eine Gemeinschaft also, die ganz bewußt die Erfahrung ihrer Mit-Teilung macht. 422

Insofern gibt es auch keinen Unterschied zwischen einer politischen Gemeinschaft und einer Gemeinschaft der Liebenden. Das Politische ist stets die Entwerkung der Gemeinschaft, diese kennt keinen Unterschied zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, denn sie betrifft immer alle.

tum machen kann. Es löst die Absolutheit des Absoluten auf. Die Beziehung-(die Gemeinschaft) ist, wenn-sie ist, nichts anderes als das, was die Autarkie der absoluten Immanenz in ihrem Prinzip - und am Ort ihrer Eingrenzung oder an ihrer Grenze- auflöst« (Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 7). 421 | Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 34. 422 | Ebd., S. 54.

IV. Tahrir – Versuch zur Souveränität During the Tahrir Square 18-day long sit in, which brought Mubarak down, theatre artists made their presence very much felt. With collectively improvised stories, sketches, songs and dances they helped their fellow revolutionaries keep up their morale, fight off the bitter cold and, in between skirmishes, some of them bloody, mourn the martyrs and while away the long days and nights of the long, long suspenseful wait. 423

Die Avantgarde scheint tot und der Glaube an den Fortschritt ist angesichts der gescheiterten Hoffnungen der Moderne sowie der fortwährend bestehenden politischen und sozialen Probleme äußerst zweifelhaft oder zumindest ambivalent geworden. Dies ist die Situation, von der aus Thierry De Duve aus nach der kritischen Funktion der Kunst und ihrer Ambition, »[…] das Projekt der Emanzipation zu begleiten […]«424, fragt. Für ihn verbindet sich mit der Fortschrittsideologie jene Utopie, die die Kunst in den Dienst der Ethik stellt und sie gleichermaßen mit einem politischen – oder besser kritischen – Anspruch versieht, der zur Emanzipation des Menschen führen soll.

423 | Nehad Selaiha: A year of revolutionary theatre, in: Al-Ahram weekly online, 29.12.2011 – 4.01.2012, Nr. 1078, www.masress.com/en/ahramweekly/28524, vom 02.02.2014. 424 | Thierry De Duve: Die kritische Funktion der Kunst und das Projekt der Emanzipation, in: Christoph Menke, Juliane Rebentisch (Hg.), Kunst, Fortschritt, Geschichte, Berlin 2006, S. 21-39, hier S. 21.

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Mit dem Ableben des Fortschrittsglaubens muss sich für De Duve nun die Frage stellen, wie glaubwürdig sich noch eine kritische Funktion der Kunst behaupten lässt, obwohl sie der Befreiung bzw. der Emanzipation des Menschen keinen Dienst mehr leisten kann. Zunächst stellt De Duve fest, dass »das emanzipatorische Projekt«, dem die kritische Funktion dienen soll, immer auch Implikationen von Macht mit sich bringt. Emanzipation, verstanden als die Bewilligung von Mündigkeit, kann, wie De Duve bemerkt, immer nur von einer bereits mündigen Person ausgesprochen werden. Es handelt sich immer um eine mündige Minderheit, die im Namen und zum Wohle einer unmündigen Mehrheit agiert. Wie der Begriff selbst andeutet, hat die Avantgarde einen Vorsprung. Ihr Vorsprung liegt im Zustand des Erwachsenseins, dessen sie sich früher erfreut als die »Unmündigen«, die es zu emanzipieren gilt. 425

Ein Großteil moderner Kunst hat sich in den Dienst eines solchen Emanzipationsprojektes gestellt und ihre Qualität über jene Verflechtung von Ästhetischem und Ethischem bestimmt. In dieser Konzeption ist »ästhetische Befreiung oder Revolution als Ankündigung […] von ethischer Befreiung […]«426 zu verstehen. Was nun wird aber aus der »kritischen Wachsamkeit« der Kunst oder der Revolution angesichts des Scheiterns des Emanzipationsprojektes der Moderne, das nichts als die Desillusionierung der Postmoderne hervorgebracht hat? Wäre die Konsequenz ein Zurück zur bloß dekorativen Kunst? De Duve bietet eine Alternative, die am Fundament des emanzipatorischen Projekts selbst gräbt. In seinem Verständnis gibt es den emanzipierten Menschen nicht, wenn damit »[…] der vollkommen rationale und autonome Zustand des aufgeklärten Subjekts […]«427 gemeint ist. De Duve sieht dies im biologischen Fakt der Unvollständigkeit der menschlichen Entwicklung – sprich der geistigen Unreife – zum Zeitpunkt der Geburt begründet. Insofern nun das Projekt der Emanzipation ein in die Zukunft gerichtetes ist, d.h. »[…] eine Hoffnung, dass der Fortschritt letztendlich die Wirklichkeit mit

425 | De Duve, a.a.O., S. 23. 426 | Ebd., S. 24. 427 | Ebd., S. 28.

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dem Ideal in Übereinstimmung bringen werde«, bleibt es immer ein aufgeschobenes, uneingelöstes Versprechen. In diesem Aufschub – einer noch nicht erlangten Anerkennung – liegt der Fehler des Emanzipationsprojekts. Durch das Zurückbleiben in der Entwicklung – also »die Diskrepanz zwischen den rationalen Kapazitäten des Gehirns und den instinkthaften Überresten«428 – bleibt es dem Menschen unmöglich, eine transparente und vollkommen rationale Identität zu bilden. Hierin liegt die Wendung von einer in die Zukunft gerichteten Autonomie zu einer Vorwegnahme derselben, denn insofern »[…] die Menschen in gewissem Sinne von Anfang an emanzipiert sind: ihre Geburt schleudert sie mit einem so großen Vorschub gegenüber ihren tatsächlichen Fähigkeiten zur Autonomie in die Welt«429, muss jedem vorzeitig seine Mündigkeit bewilligt werden. In diesem autonomen Als-ob-Zustand tritt die »Maxime«, an die man sich als emanzipiertes Subjekt zu halten vorgibt, an die Stelle des Projekts. Im Projekt der Befreiung heiligt der Zweck die Mittel und die Maxime der Freiheit gerinnt zum Terror: Revolutionen beginnen fehlzuschlagen, wenn Maxime und Projekt durcheinander gebracht werden. Dann ergreift eine Avantgarde von der Emanzipationsmaxime besitz und behauptet […] das Volk im Namen des Volkes zu erziehen und die Heraufkunft der Befreiung zu verschieben […]. 430

Steht aber an Stelle eines Projektes die Maxime, erfährt jeder einen Vorschuss auf Freiheit, der dazu dient, sich als Teil einer menschlichen Gemeinschaft zu spüren. Das Ästhetische hat in dieser Konstellation – und das ist der springende Punkt – keine bewahrende, sondern eine reflexive Funktion. Denn gibt es kein zu verwirklichendes Projekt der Befreiung, fällt auch die bewachende Funktion der Kunst weg – ist auch die transitive Verbindung zwischen der Ethik und der Kunst gekappt. Im Hinblick auf die Maxime wird auf dem Feld des Ästhetischen der Zustand des Als-Ob und damit Teil einer Gemeinschaft zu sein gewahr. Die Verbindung zwischen der Kunst und der Moral basiert somit ledig-

428 | Ebd., S. 29. 429 | Ebd., S. 29. 430 | De Duve, a.a.O., S. 31.

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lich auf einem subjektiven Gefühl, ausgelöst durch eine ästhetische Erfahrung. Keine Kausalverknüpfung, keine logische Implikation bindet auf dem physischen Terrain der Sozialgeschichte die Kunst an die Politik, oder aber auf dem geistigen Terrain der Ideologie die Ästhetik an die Ethik. Es ist nicht wahr, daß sich künstlerische Freiheit von politischer Freiheit herleitet […] oder daß künstlerische Befreiung oder Revolution notwendigerweise die politische Befreiung ankündigt, vorbereitet, herausfordert oder begleitet. Man könnte höchstens sagen, daß künstlerische Freiheit oder ein Mangel an ihr, für die Kunst das ist, was ethische Freiheit oder ein Mangel an ihr, für die Politik ist.431

Ohne ein objektives Kriterium bereitzustellen, bewirkt die Kunst demnach ein In-Gang-Setzen einer Reflexion, in der wir unsere Quasi-Autonomie antizipieren und sie als gemeines Gefühl, »der menschlichen Art anzugehören«432, wahrnehmen. Hierin liegt ihr kritisches Vermächtnis. Diese von De Duve formulierte Kantische Wendung einer Maxime – einer »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«433 – im Unterschied zu einem Befreiungsprojekt führt uns zu einem Unterschied ums Ganze: Bei Bataille steht die Revolution als zweckmäßige, in die Zukunft gerichtete und von politischem Machtinteresse durchsetzte Bewegung auf der Seite des Rationalen. Deshalb ist sie strikt vom Aufstand der Revolte und ihrem plötzlichen Ausbruch von Souveränität zu unterscheiden. Während die Revolution das rationale und autonome Subjekt impliziert, wird die Revolte vom souveränen und irrationalen Menschen, der kein Subjekt mehr ist, angeführt. Insofern liegt die Revolte jenseits jeglicher Zweckmäßigkeit – sie ist die totale und augenblickliche Einlösung von Souveränität ohne jeden weiteren Zweck. Wenn De Duve das Projekt durch die Maxime ersetzt sehen will, dann ließe sich von Bataille sagen, dass sein Schreiben sich grundlegend gegen das Projekt richtet – dies meint das Projekt der Nützlichkeit wie der Aufklärung, der Philosophie wie der Dialektik und der Autonomie wie der Moral. Insofern durchbricht die Revolte die Struktur von Macht, ohne dabei eine weitere Struktur derselben aufkommen zu lassen. Souveränität 431 | Ebd., S. 33. 432 | Ebd., S. 32. 433 | De Duve, a.a.O., S. 33.

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ist in genau diesem – nämlich dem der Macht opponierenden – Sinne das Gegenteil von Autonomie. Die Ebene der Moral ist die Ebene des Projekts. Der Gegensatz des Projekts ist das Opfer. Das Opfer fällt unter die Formen des Projekts, aber nur scheinbar (oder in dem Maße seiner Entartung) […] Und während im Projekt allein das Resultat zählt, ist es der Akt selber, der im Opfer den Wert auf sich konzentriert. Nichts wird im Opfer auf später verschoben, es hat die Macht, im Augenblick, in dem es stattfindet, alles in Frage zu stellen, alles vorzuladen, alles zu vergegenwärtigen […] Das Opfer ist unmoralisch, die Poesie ist unmoralisch. 434

Nun sollte der Einstieg mit De Duve vor allem zeigen, dass eine, die Kunst als Hüterin der Ethik setzende, Perspektive zu allererst weitere Implikationen von Macht mit sich bringt und gleichzeitig die Souveränität fortwährend aufschiebt. Batailles Perspektive auf das Opfer zeigt gleichwohl, dass erstens das Projekt und die Souveränität unvereinbar sind und zweitens, dass das Opfer – welches synonym mit all jenen heterologen Praktiken der Verausgabung gelesen werden kann – und die Poesie, also die Kunst, eine Verwandtschaft aufweisen. Etwas anderes – ein feiner aber fundamentaler Unterschied zwischen Bataille und De Duve – kommt an dieser Stelle ebenfalls zum Vorschein. Während bei Bataille das Opfer zur Souveränität führt, ist es bei De Duve die Maxime – der gemeinsame Glaube an die »Idee der Humanität«.435 In De Duves Konzeption wird demnach »die kritische Funktion der Kunst über das ästhetische Urteil ausgeübt […]«.436 Dies rückt den Verstand und die Erkenntnis in den Mittelpunkt und unterwirft die ästhetische Kraft einer erkenntnistheoretischen Ordnung. Bei Bataille aber kommt dem Ästhetischen gerade dadurch Souveränität zu, außerhalb der Erkenntnis zu operieren und somit keiner Ordnung zu unterliegen. Michael Rutschky fasst dies sehr treffend zusammen, wenn er Batailles Formel von Souveränität klar von einer verstandesmäßigen Entscheidung trennt:

434 | Bataille, Die innere Erfahrung, S. 191. 435 | De Duve, a.a.O., S. 32. 436 | Ebd., S. 37.

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Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet – aus der Perspektive Batailles gelesen, ist diese Formel sinnlos. Souverän ist für Bataille, wer in den Ausnahmezustand – sagen wir: hineingerät. Und der Ausnahmezustand, die Ekstase, das Wunder macht sich gerade dadurch unabweisbar, daß ein wohlkonturiertes Subjekt, das eine Entscheidung fällt, weil es die Lage überblickt – das durch seine Entscheidung eine überblickbare Lage herstellt –, dieser Ausnahmezustand ist eben dann eingetreten, wenn es ein solches Subjekt nicht mehr gibt; dessen Souveränität erweist sich gerade daran, daß es seine eigene Wohlgestalt, die auch seine Grenzen markiert, überschreitet. 437

Wie aber lässt sich dieses Antizipieren beschreiben, diese reflexive Verknüpfung des Ästhetischen als Transgression erklären, ohne sie dem Verstand unterzuordnen? Anders gefragt: Wie drückt sich das Außer-sichSein, sprich die Revolte ästhetisch aus? Am 25. Januar 2011 kommt es zur Zäsur in der ägyptischen Geschichte. Ein Volk stürzt seinen Diktator und weist den scheinbaren Konsens der Unmöglichkeit einer Revolte als Irrtum aus. Was hat zu dieser Revolte geführt, welche Kräfte waren hier im Spiel? Die hier formulierte These soll lauten: Die ägyptische Revolution ist eine Revolte438, die ohne die Verausgabung, die Zerstörung von Akkumulation, Unterbrechung der Produktion, ohne das Risiko, die Gewalt usw. nicht zu Stande gekommen wäre. Gleichzeitig kann man gerade in der Umsetzung der Revolte den engen Zusammenhang von Verausgabung und ästhetischen Prozessen erkennen. Kein Tag verging auf dem Tahrirplatz ohne Gesänge, Erfindung neuer Slogans, Rollenspiele etc. In kaum einem politischen Auf begehren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich der künstlerische Ausdruck des Widerstands so deutlich gezeigt wie in der ägyptischen Revolte. Es ist ein Auf begehren, das gewissermaßen durch seine kreative Form Ausdruck fand. In den achtzehn Tagen der Besetzung des Tahrirplatzes ging es freilich zunächst 437 | Michael Rutschky: Souverän ist, wer außer sich gerät – Über Georges Bataille, anläßlich von Bernd Mattheus’ zweibändiger »Thanatographie«, in: Die Zeit, Ausgabe vom 30.09.1988, www.zeit.de/1988/40/souveraen-ist-wer-ausser-sich-ge raet, vom 20.03.2014. 438 | Wir bevorzugen hier den Begriff der Revolte gegenüber der Revolution insbesondere für die achtzehn Tage der Besetzung des Tahrirplatzes. Wie aber die Nachwirkungen des Aufstands zu nennen sind, steht auf einem anderen Blatt.

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um politische Forderungen nach Freiheit, Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit usw. Diese Forderungen jedoch haben insbesondere durch ihre Form Gehör gefunden. Die Weltöffentlichkeit konnte einem Aufstand zusehen, dessen Kraft aus seinen kreativen Strategien herrührte, und nicht zuletzt ist der Protest ähnlich heutigen Flashmobs über das Internet verabredet und koordiniert worden. Trotzdem oder gerade weil es aber keine rationale Verknüpfung von Kunst und Politischem gibt, weil die Kunst nicht der Revolution vorausgeht, sie nicht die Hüterin ihrer Ideologie sein darf, sondern jenseits des Nutzens steht, stellt das Rätsel um die zwischen dem Ethischen und dem Ästhetischen verlaufende Spur die hier formulierte Herausforderung dar. Läuft man heute über den »Platz der Befreiung«, zeigt sich ein anderes Ägypten, ein Ägypten, das einerseits einen Teil seines Selbstwertes restituiert, sich bis zu einem gewissen Grad von rigiden Regeln befreit hat, ein heterogeneres Ägypten. Andererseits herrschen durch das seither stattfindende Machtvakuum der Ausnahmezustand und das Chaos. Von der Totalität zur Anarchie wäre hier aber ein vorschnelles Urteil. Während des seit 1981 durch die Notstandsgesetze in Kraft getretenen Ausnahmezustands war das Land in eine völlige Stagnation – moralisch, politisch wie ästhetisch – geraten. Jede Form von Aktion, Selfgovernance, aber auch künstlerischer Organisation wurde vom Mubarak-Regime im Keim erstickt. Insofern trifft Rutschky ins Schwarze, wenn er, Bataille folgend, die zwei Wege zum Ausnahmezustand unterscheidet. Während der vom Mubarak ausgerufene Ausnahmezustand zur totalen Lähmung führte, lässt sich seit Ausbruch der Revolte – seit dem Moment, von dem an es keine überblickbare Lage mehr gibt – eine Explosion künstlerischer Praxis konstatieren. Es formieren sich Künstlerkollektive, abseits des bisher stattfindenden Mainstreams entstehen neue, nicht-staatliche Spielstätten, eine Vielzahl neuer Galerien ist seither eröffnet worden. Die Entgrenzung der Künste hat inzwischen auch Ägypten erreicht und in verschiedenen Projekten nachhaltige Veränderungen der ästhetischen Praxis bewirkt. Es scheint fast, als ob die im Westen lange und von historischen Prozessen begleiteten Entwicklungen nun im Zeitraffer in Ägypten stattfänden. Besonders augenscheinlich sind diese Veränderungen in den Straßen Kairos zu spüren. Heute führt vom Tahrirplatz die neu benannte »Straße der Freiheit der Augen« an einer Mauer entlang, auf der die Gescheh-

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nisse der Revolte von vielen hundert Menschen malerisch wie poetisch verarbeitet wurden. Der Begriff der Freiheit und der Befreiung scheint formelhaft wie ein Mantra im Zentrum vieler Arbeiten zu stehen. Doch wie verhält es sich um die Freiheit im Kontext von Politik und Kunst? Wir kommen nicht umhin, auch eine Vermarktung der Revolte als Strategie der Positionierung auf dem Kunstmarkt festzustellen. Trotzdem darf die nicht zu leugnende Komplizenschaft von Kunst und Markt nicht den Blick auf das neu entstandene Potential der ägyptischen Kunst verstellen. Wenn wir im Folgenden unser Augenmerk darauf richten, inwiefern souveräne Kunst einer Erfahrung von Souveränität stattgibt, soll die Beleuchtung des Ästhetischen, seiner Mittel (Zeit, Rhythmus, Musik, Licht, Raum, Wiederholung, Stillstand, Fragmentierung usw.), Phänomene und Situationen nicht ins Hintertreffen geraten. Die Frage, ob im Kontext eines politischen Auf begehrens künstlerischer Praxis überhaupt noch ästhetische Freiheit zukommt, ließe sich aber auch positiv formulieren. Der Begriff der Souveränität beleuchtet hier die Frage neu, nämlich: Wie vermag nicht explizit politisch motivierte Kunst ein kritisches Potential freizusetzen, ohne sich von politischen Strategien, Marktmechanismen oder Disziplinierungsmaßnahmen vereinnahmen zu lassen? Als besonders vielseitig, heterogen und kraftvoll hat sich in diesem Zusammenhang die ägyptische Streetart erwiesen. Gerade durch die Verbannung der Kunst aus dem öffentlichen Raum kam es dort, wo es keine Kunst geben durfte, zu einem explosionsartigen Ausbruch ästhetischer Praxis. Hier stellt sich die Spannung von ästhetischer Lust und ethischer Forderung auf verstärkt komplexe Weise dar, da die Streetart sich immer unmittelbar dem öffentlichen Diskurs, geltenden Tabus und dem sofortigen Urteil stellt. Dies wird insbesondere im Hinblick auf die ägyptische Gesellschaftsstruktur und dem beschränkten Zugang zu Kunst virulent. Die hier besprochenen Arbeiten stehen als Straßenkünste allesamt für eine Rückeroberung des öffentlichen Raums, als Aufforderung einer öffentlichen Debatte und für einen radikal uneingeschränkten künstlerischen Ausdruck – überall. Sie überschreiten gleichzeitig das überholte Verständnis von Streetart und weisen auf ein neues Selbstverständnis der Ägypter hin. In diesem Verständnis geht es um das Einlösen der eigenen Forderung auf Teilhabe.

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Wie deutlich sich diese Forderung artikuliert, zeigte sich, als eine Protestwelle losschlug, nachdem die Polizei Bilder der in Port Said Gestorbenen rund um den Tahrirplatz übermalte. Hunderte Menschen zogen mit Farben und Sprühdosen los, um die Wände erneut zu bemalen. Die hier angestrebte These ist, dass die besprochenen Arbeiten gerade in ihrer Rohheit, Schnelligkeit und Unvorhersehbarkeit eine Kommunikation schaffen, die sich gegenüber Vereinnahmungsmechanismen als widerständig erweist und den Bruch zwischen Realität und Spiel erfahrbar werden lassen.

1. S tree ts of C airo For many decades the Egyptian streets did not entirely belong to the citizens. Reportedly due to security reasons people were not allowed to gather on the streets on a large scale. A couple of people sitting on a square or underneath a tree meant a threatening crowd. Cultural and artistic events on the streets were challenging. Here and there a concert in a semi-public space, but rarely on the streets, on a square, along the Nile. But the political and social changes after the revolution of 25 January have opened new ›stages‹ for performers and artists: streets, squares, and other public spaces that are under esthetic and artistic transformation. Art is becoming vivid and interactive and has the potential to become an essential part of the daily life of the citizens of Egypt. 439

Der dänische Urban-Art-Künstler Armsrock zeichnet lebensgroße Portraits von Menschen, die er als Poster an ihrem Entstehungsort, sprich im Lebensraum der Personen, die er malt, an Hauswände klebt. Neben Installationskunst sind vor allem die Portrait-Zeichnungen Ausdrucksmittel des Straßenkünstlers, der, wie er selbst sagt, all jene krankhaften, 439 | Das Mahatat-Künstlerkollektiv über ihr Projekt Shaware3na. http://maha tat-collective.tumblr. com/post/16017949222/shaware3na, vom 10.03.2014.

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grotesken, und abstoßenden440 Formen der Gesellschaft verarbeitet, die sonst keinen Platz finden. Im Rahmen des »Streets of Cairo« – Projekts441 hat Armsrock auch in Kairo ein lebensgroßes Portrait gemalt. Es ist die Zeichnung eines ägyptischen Arbeiters, die er an einer Hauswand anbringt. Am Tag nach der Anbringung jedoch wird seine Zeichnung von der Polizei mit weißer Farbe übermalt. Die Zeichnung verschwindet aber nicht, vielmehr sticht ihre weiße Silhouette geradezu von der Hauswand hervor. Die Tatsache, dass die Polizei die Zeichnung nicht entfernt, sondern sich entschließt, sie zu übermalen und ihr so erst einen politischen Gehalt zuspricht, macht die Polizei für Armsrock zu Kollaborateuren seiner Kunst. It was a strange uncontrolled collaboration with the Cairo security forces, and it reminded me of this short poem I once read; something by Brecht […] A left-wing italian soldier was thrown into a prison in San Carlo. While sitting in his cell, he found a pencil and wrote a political slogan on the wall of the cell. High up on the wall, in large letters but hardly visible. But still somebody noticed it and the prison warden commanded one of the guards to go and paint it over. The guard did this with a bucket of white paint anda long brush, but in such a way that he only painted over the letters, leaving the inscription more beaming than before. The warden was furious and commanded a local bricklayer to go get a chisel and scratch the letters our of the wall. The bricklayer did this, but with the result that the inscription was now firmly carved into the concrete wall. There it stood, the unconquerable inscription: »Now«, said the soldier, »Get rid of the wall« […]. 442

440 | Vgl. http://bigod.net/2009/04/23/armsrock-a-horrible-jungle/, vom 13. 05.2014. 441 | Das Streets of Cairo-Projekt wurde 2010 vom Danish Egyptian Dialogue Institute initiiert. Zehn Tage arbeiteten dänische und ägyptische Künstler gemeinsam in den Straßen Kairos. Dazu gehörten u.a. Installationskunst, Photografie, Performancekunst, Musik u.v.m. 442 | Michael Irving, Jensen, Gry Krogager Lund (Hg.): Streets of Cairo – Art in public Space, S. 37, E-book, http://dedi.org.eg/wp-content/uploads/flippage/ book.html#p=36, vom 15.05.2014.

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Armsrock liefert uns mit Brechts Gleichnis von der unbesieglichen Inschrift443 einen interessanten Hinweis darüber, worin die subversive Kraft seiner Kunst sowie der hier besprochenen Streetart besteht. Denn nicht die Inschrift »Heil Lenin!«, die der italienische Soldat in seiner Gefangenschaft in die Wand ritzt, ist unbesieglich – wie sich, will man Brechts Gleichnis lediglich als sozialistische Ideologie lesen, annehmen ließe. Vielmehr ist diese als Chiffre für den Akt der Mit-Teilung austauschbar. Worum – um welches Tabu geht es hier? Um den künstlerischen Akt an sich? Oder aber darum, dass Kunst plötzlich jedem zugänglich – zur öffentlichen Inschrift wird? Eines jedenfalls wird im doppelten Sinn sichtbar, nämlich gerade jenes, was nicht sichtbar werden, was verborgen bleiben soll. Weniger kryptisch formuliert: Das, was gerade durch den Versuch die Schrift verschwinden zu lassen entsteht, ist die Mit-Teilung bzw. die bloße Inschrift und darin liegt ihre Unbesiegbarkeit. The state censor ship had in its attempt to remove a rather innocent piece of artwork made this artwork into a much less innocent statement: namely that this person the portrait of a common worker, looking little weary, a little worn down, was an invisible, an element that the state did not desire to be seen. 444

Indem die Zensurbehörde das Bild des Arbeiters übermalt hat, hat sie die Mit-Teilung und das Tabu erst hervorgebracht. Dies berührt eben jene Besonderheit bzw. Kraft, die die Streetart freisetzt. Denn in gewisser Weise bedeutet Streetart immer eine Kollaboration mit dem System, gegen welche sie sich richtet. Gerade durch ihre Zensur wird ihre Kraft, nämlich das, was die Zensur verbergen will, hervorgebracht. Auch um jenes Spiel von Zensur und Mit-Teilung soll es im Folgenden gehen.

443 | Bertolt Brecht: Die unbesiegliche Inschrift, in: ders., Svendborger Gedichte, Frankfurt 1979, S. 44-45. 444 | Michael Irving, Jensen, Gry Krogager Lund (Hg.): Streets of Cairo – Art in public Space, S. 34, E-book, http://dedi.org.eg/wp-content/uploads/flippage/ book.html#p=36, vom 15.05.2014.

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2. S haware 3 na Shaware3na is […] the Arabic term for ›our streets‹. The very simple and ordinary word ›street‹ is used by people hundredfold on a daily basis. But in combination with the personal pronoun ›our‹ and in the plural form a different and very symbolic meaning emerges. Foremost it indicates an affiliation: The streets belong to us. And then it wakes memories and inspires to dream. ›Our Streets‹ are the streets in which we meet, commute, gather, stop and look, bid farewell, and meet again. 445

Am 17.02.2012, ein Jahr nach der ägyptischen Revolte, stehen Sondos Shabayek und Mona Shimi im Frauenabteil der Kairoer Metro-Linie. Shabayek spricht laut: They tell me make up stories, hide your real self, lie; but I am fed up with all this, the lies, I stopped all the lies, I’m not gonna lie, I’m not gonna make things up, I will not beautify or ornament things […] people don’t want us to tell what happens to us, though this is the reality, I don’t want to make things seem worse, but why should I make the ugly truth look beautiful? I will narrate two situations to you. 446

Sondos Shabayek beschreibt die in den Straßen Kairos täglich stattfindende Erniedrigung, Beleidigung, und sexuelle Belästigung durch Männer. Angelehnt an Eve Enslers The Vagina Monologues führt Shabayek einen intimen Monolog, der ihre Frustration und ihre Gedanken zur Rolle der Frau in der ägyptischen Gesellschaft offenlegt. Selbst wenn Shabayek vermeintlich »anstößige« Worte mit einem Peepton ersetzt, sind die öffentlichen Ausführungen ein – für ägyptische Begriffe – fundamentaler Tabubruch. »Once I was waiting down the road in front of a shopping mall with a friend. A guy passed by in his car and said: ›I want to put my BEEP inside your BEEP‹, ruft Shabayek durch den Wagon und sucht immer wieder intensiv Augenkontakt zu den Mitfahrerinnen. Einige meiden ihren Blick, viele aber schauen und hören gebannt zu.

445 | http://mahatat-collective.tumblr.com/post/16017949222/shaware3na, vom 10.03.2014. 446 | http://mahatatcollective.com/en/view/86#.U-3IES-57UM,  vom  10.03. 2014.

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Dass hier mit der gesellschaftlichen Übereinkunft – in der Öffentlichkeit nicht über die sexuellen Übergriffe auf Frauen geschweige denn über Sexualität zu sprechen – gebrochen wird, zeigt sich spätestens an der Reaktion einer Frau, die entsetzt nach dem Sicherheitsdienst ruft. Mit ihrer Performance »BuSSy« – was auf arabisch den weiblichen Imperativ für »Sieh hin« oder »Schau her« bildet – geht es Shimi und Shabayek um das öffentliche und gemeinsame Hinsehen.447 Was performativ in den Blick genommen wird, sind jene Situationen, die den Alltag der Frauen prägen. Shabayek und Shimi rufen nicht zum Widerstand auf und führen auch keine politischen Debatten im Zugabteil, vielmehr spielen sie Übergriffe, Beleidigungen, ebenso wie Ängste und Zweifel im Selbstgespräch durch. Während die Bussy-Initiative 2006 als Theaterprojekt entstand und als Bühnenstück konzipiert war, wurde die Performance nach der Revolution im Rahmen von »Shaware3na«448 an öffentlichen Orten und insbesondere in der Metro aufgeführt. Während den Monologen auf der Bühne immer noch das Gespielte anhaftet, bzw. den Zuschauern im Theater zumindest eine gewisse Übereinkunft – nämlich Theater zu sehen – als Rahmen dient, bleibt der Zuschauer im Zug ganz auf die Situation zurückgeworfen. »Ich verstehe nicht, was sie dort tut. Ich verstehe es nicht, warum erzählt sie das!«449 hört man eine Frau verzweifelt schreien, um sich an das andere Ende des Abteils zu flüchten. Tatsächlich entzieht sich die Performance dem Verständnis auf verschiedenen Ebenen. Zunächst ist das Motiv für diese öffentlichen Geständnisse, welche in der ägyptischen Kultur Entblößung und Scham bedeuten, völlig unverständlich. Warum sollte sich jemand in der Öffentlichkeit selbst so entblößen? 447 | Zur Beschreibung der Performance wurde eine Videoaufzeichnung aus dem Internet herangezogen: Art of Transit Documentary, Yara Mekawei, Carl Capelle, Doha Salah (Regie), www.youtube.com/watch?v=qqBFQ7j-NXk, vom 10.03.2014. 448 | »Shawre3na« bedeutet im Arabischen »Unsere Straßen«. Es ist der in Lautschrift ge-schriebene Titel einer Reihe von Straßenperformances des Künstlerkollektivs Mahatat. 449 | Die Szene aus der Videoaufzeichnung wurde durch die Verfasserin aus dem Arabischen übersetzt. www.youtube.com/watch?v=qqBFQ7j-NXk, vom 12.03.2014.

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In einer Gesellschaft, in der die Unversehrtheit des Körpers als moralisches Ideal und vor allem als Bereich des Privaten gilt, während der Sexus, insbesondere die mit ihm oftmals einhergehende Gewalt einem strikten Tabu unterliegt, ist dieses öffentliche »Lautwerden« ein tiefe Verletzung. Darüberhinaus aber kommt etwas ins Spiel, das mit dem Verständnis von Theater(Ästhetik) zu tun hat. Trotz einer alten Tradition des Geschichtenerzählens entstand das ägyptische Theater erst Ende des 19. Jahrhunderts anlässlich der Eröffnung des Suezkanals und konnte sich erst sehr spät als Kunstform etablieren. Nach einer kurzen Blütezeit in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das Theater durch die sich rasant entwickelnde Fernseh- und Kinoindustrie wieder verdrängt. Insofern war die Entwicklung der Theaterlandschaft immer von kurzen Phasen des Aufschwungs und längeren Phasen der Stagnation geprägt. Theater bedeutet in Ägypten auch deshalb nach wie vor Drama oder Komödie. Durch das dominierende Volkstheater einerseits und die häufig rezipierten arabischen wie europäischen Dramenstoffe andererseits ist das Theaterverständnis stark von einer dramatischen Tradition geprägt. Experimentelles Theater und Performance Art – sprich eine heterogene Theaterpraxis, die sich in der Entgrenzung der Genres vom Dramatischen absetzt – konnte sich bisher kaum etablieren oder blieb einem avantgardistischen Kreis vorbehalten. Dies hing unter anderem mit den staatlichen Strukturen zusammen: Aufgrund des ägyptischen »Artistic Professions Syndicate Law« müssen Schauspieler, Filmemacher, Musiker etc. zur Veröffentlichung ihrer Kunst Mitglied des staatlichen Künstlersyndikats sein. Dies allerdings dürfen nur Künstler, die an staatlich anerkannten Kunstakademien studiert haben. Alle anderen müssen Abgaben an das Syndikat zahlen, um veröffentlichen zu dürfen. Die Möglichkeiten für Künstler, die keinem staatlichen Theater, dem Ballet oder der Oper angehörten bzw. nicht im Besitz einer Künstlerlizenz waren, waren somit sehr begrenzt. Abgesehen von der massiven Zensur durch die Zensurbehörde und der mangelnden finanziellen Förderung gab es kaum Zugang zu den wenigen Bühnen in Kairo. Theater jenseits der staatlichen Bühnen fand als Nischentheater in kleinen Off-locations oft am Rande der Legalität statt. Dies betraf ebenso die Musik- wie Tanzszene. Bei Kontrollen wurden regelmäßig Veranstaltungen und Konzerte ohne Lizenz von den Behörden aufgelöst.

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Freie Theaterensembles kamen erst Ende des 20. Jahrhunderts auf den Plan und hatten seither – auch wegen ihres politischen Selbstverständnisses – stets gegen staatliche Repression, Mittelknappheit, fehlende Probenmöglichkeiten etc. zu kämpfen. Eine der vielen Konsequenzen sind, dass unter dieser rigorosen staatlichen Kontrolle nur eine sehr homogene, um nicht zu sagen, triviale Theaterlandschaft zugänglich war. Die Vorstellung, Theater sei geschriebenes und auf einer Theaterbühne aufgeführtes Drama, ist hier aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite zeigt, dass der Zugang zur Kunst im Allgemeinen unabdingbar mit der gesellschaftlichen Schicht verknüpft ist. Theaterbesuche, Konzerte oder Ausstellungen bleiben in einer Gesellschaft, in der nur etwa jeder Zweite lesen und schreiben kann, einer kleinen Elite vorbehalten – alle anderen geben sich mit Telenovelas, Kochsendungen und Sport zufrieden. Der Zustand der Marginalisierung der Kunst und der Künstler geht Hand in Hand mit der staatlichen Zensur und Kontrolle, der gesellschaftlichen Verteilung, sowie der Tabuisierung bestimmter kultureller, sozialer und religiöser Themen. Wenn wir dies berücksichtigen, dann wird deutlich, inwiefern die »BuSSy« Performance nicht nur ihrem Inhalt nach, sondern insbesondere in ihrer Form sensible Bereiche der ägyptischen Gesellschaft berührt und gleichzeitig das Verständnis von Kunst unterläuft. Im Fall von »BuSSy« kommt das Theater zu den Menschen – auch zu jenen, die noch nie vorher eine Theatervorstellung oder Ähnliches gesehen haben. Es bricht völlig unerwartet in ihren Alltag ein – an einem Ort der keinen Fluchtweg bietet. Auch deshalb kommt es zur Verunsicherung darüber, ob die Situation nun echt oder gespielt ist. Die Motive der Performerin, die keine Erklärung liefert, bleiben im Dunkeln. Wenn Shabayek und Shimi in ihren Erzählungen zwischen ägyptischer Umgangssprache, Englisch und hocharabischen Reimversen wechseln, entziehen sie sich einer formalen Sprache und öffnen eine Vielfalt an Ausdrucksweisen, die das emotionale Wirrwar widerspiegelt. Gleichzeitig treiben sie ihre Rede im Wechsel von literarischer und volkstümlicher Sprache an die Grenze der Ununterscheidbarkeit von Spiel und Ernst und machen die Situation zur Überschreitung von moralisch Gültigem. Die panische Reaktion der Frau, die nach den Sicherheitskräften ruft, ist ein deutliches Zeichen dafür, wie verstörend der Auftritt der beiden Frauen ist.

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Ob nun echt oder gespielt, ob nun wirklich erfahren oder nur erzählt – die Themen von »BuSSy« berühren eine Sprache jenseits des in der Öffentlichkeit Sagbaren. Trotzdem oder gerade deshalb geht eine Faszination von der Möglichkeit, dieses Unsagbare laut und öffentlich zu artikulieren, aus. Einige Mitfahrerinnen nicken mit dem Kopf, wenn Shabayek von den Übergriffen oder Shimi von ihrem Hass auf Männer spricht. Andere sprechen plötzlich selbst über das, was sie bereits erlebt haben. Das Frauenabteil der Metro wird unerwartet zum Ort des Austausches über eben jene tabuisierten und verfemten Bereiche der Gesellschaft – ohne dass klar wäre, zu welchem Zweck und in welchem Rahmen oder etwa mit wem der Austausch stattfindet. Hierbei muss man sich erneut vor Augen führen, dass das öffentliche Sprechen über Missstände in der Gesellschaft immer mit dem Risiko einer Gefängnisstrafe einherging. Auch dies hat sich über Generationen in das Bewusstsein und den Habitus der Menschen geschrieben. Insofern ist das Moment des Aussprechens auch mit einer existenziellen, lebensbedrohlichen Gefahr verbunden. Deshalb sucht die Performance den Austausch mit jenen Mitgliedern der Gesellschaft, die sonst zum Schweigen verurteilt sind – dies meint sowohl das Geschlecht als auch die gesellschaftliche Schicht. Zwar ließe sich, angesichts der Tatsache, dass die Initiative an der American University Cairo450 entstanden ist, kritisieren, dass »BuSSy« aus dem Dunstkreis einer bestimmten sozialen Schicht kommt und die Performerinnen lediglich eine Perspektive der gesellschaftlichen Verhältnisse bieten – nichtsdestotrotz findet »BuSSy« außerhalb des gesicherten – vielleicht auch elitären – Theaterrahmens statt. Außerdem stellt das gesammelte Material der Bussy-Performances Geschichten von Frauen aller gesellschaftlichen Schichten dar. Und nicht zuletzt ist das Fundament der Performance eben jenes Moment der Unterbrechung, in dem das Ästhetische in den Alltag der Frauen einfällt und vielmehr einen neuen Raum schafft und weniger eine gleichberechtigte politische Debatte. Shabayek und Shimi beleuchten die opake, im Dunkeln der Gesellschaft liegende private Sphäre der Frauen und schaffen mit ihrer Per450 | Die American University Cairo wurde 1919 von Amerikanern in Kairo gegründet und ist eine der ältesten Privatuniversitäten Ägyptens. Sie gilt als führende Eliteuniversität. Die Studierendenschaft gehört überwiegend zur ägyptischen Oberschicht. Die ideologische Ausrichtung der Universität ist stark westlich bzw. amerikanisch geprägt.

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formance einen Ort zwischen Privatheit und Öffentlichkeit – das Frauenabteil ist dieser Raum, in dem es zwar zu öffentlichen Geständnissen kommt, jedoch immer noch einen Schutz vor der »Männerwelt« bietet. »BuSSy« gehört zum Projekt »Art of Transit« und reiht sich somit in eine für Ägypten neue Form von Performances ein, deren erklärtes Ziel es ist, die Frage nach dem Eigentum von öffentlichem Raum aufzuwerfen. Weitere Performances dieser Art sind »Stop and Dance«, »Public Screen«, »Red Tomato« und »The Mime«. Sie alle gehören zur der Reihe Shaware3na. Bei »Stop and Dance« handelt es sich um unangekündigte Tanzperformances von ägyptisch, deutschen und portugiesischen Tänzern in den Metrostationen Kairos. Hier mischen sich Streetdance-Elemente mit Moderndance-Stilen sowie orientalischem und portugiesischem Tanz. »Public Screen« sind Installationen internationaler Videokunst und Kurzfilme in der gesamten Stadt – vor Imbissbuden, auf Verkehrsinseln, großen Kreuzungen und in ärmeren Stadtteilen. Während bei »BuSSy« die Sprache als Mittel der Überschreitung eingesetzt wird, geht es bei dem Projekt »The Mime«, welches ebenfalls als Performance in den Kairoer Metrowagons stattfindet, um die Abwesenheit der Sprache. Pantomime und Clownskunst sind hier subtiles und vor allem körperliches Kommunikationsmittel mit den Fahrgästen. Während die Pantomime mit ihrem Ursprung in der griechischen Antike spätestens seit den Römern zur populären und in Europa weitverbreiteten darstellenden Kunst gehört, ist sie in Ägypten gänzlich unbekannt.451 People haven’t a clue about what a mime is, as in Egypt this art form is virtually unknown. There has been just one famous Egyptian mime, Ahmed Nabil, but he performed a long time ago. Most people think they are clowns but after a while they realize it is something different […] There was one soldier on the metro, for instance, who called the police saying that there was a crazy person in the car. I left the metro and got into another car, where I found another soldier who was

451 | Zur Geschichte der Pantomime vgl. Annete Bercut Lust: From the greek mimes to Marcel Marceau and beyond: mimes, actors, pierrots and clowns; a chronicle of the many visages of mime in the theatre, Lanham 2003.

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actually very amused by the performance and took a picture with me after I went to shake his hand […]. 452

Mit der Commedia dell’arte entwickelten sich im Europa des 16. Jahrhunderts neue Formen der Pantomime, die später auch die »stummen Künste« des 20. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusst haben. An dieser neuen, mit Étienne Decroux entstandenen »mime pur« orientiert sich Amr Abdelaziz’ physisches Theater. Die pure Mime von Decroux verstanden als »[…] performing art that represents through body movement, that could shelter under its vast roof not only that which causes laughter but also that which arouses terror, pity and the waking dream […]«453 ist mithin der stilisierte körperliche Ausdruck, der sich laut Decroux der Repräsentation verweigert. Es geht nicht um die Darstellung eines Plots, sondern um den Ausdruck des Körpers selbst.454 In dieser Konzeption sieht Thomas Leabhart die ersten Anleihen für ein postdramatisches Theater: For Decroux, the confounding of literature, the pernicious interloper, with theatre was an ›evil so deeply rooted that it is revealed in the vocabulary: what we call ›play‹ is the printed text‹ […] An advocat […] of ›postdramatic theatre‹ half century before Hans-Thies Lehmann […] Decroux posed the question: what can an actor do without script, costume, décor, lighting, music and choreography?455

Leabharts Hinweis auf ein Spiel ohne Repräsentation ist bei dem Blick auf Abdelaziz’ Performance hilfreich. Dort stoßen wir zu allererst auf ein Erproben der Beziehungen fremder Körper. An einem Ort, an dem Menschenmassen auf engstem Raum ihren Platz teilen, Strategien suchen, um möglichst jeden Körperkontakt mit dem fremden Gegenüber zu vermeiden und gleichzeitig aber sehr viel mehr Kontakt gewohnt sind, als wir dies in Europa ertragen würden – erprobt Abdelaziz die Möglichkeiten, die sich in diesem Zwischen von Körpern ergeben.

452 | http://mahatat-collective.tumblr.com/, vom 15.03.2014. 453 | Étienne Decroux: Words on mime, in: Thomas Leabhart, Franc Chamberlain (Hg.), The Decroux sourcebook, Oxford 2008, S. 179. 454 | Vgl. Thomas Leabhart: Etienne Decroux, Oxford 2007, S. 55. 455 | Leabhart, Etinenne Decroux, S. 55.

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Beim Imitieren der Fahrgäste lässt sich eine Bandbreite von Emotionen ablesen, manche ärgern sich, fühlen sich respektlos behandelt, andere sind amüsiert und interagieren sogar, wieder andere sind sogar verängstigt – vor allem aber lässt sich eine Unsicherheit und ein Misstrauen gegenüber der stummen Performance spüren. Wo bei »BuSSy« das Unsagbare ausgesprochen wurde und so die Ordnung ins Wanken geriet, scheint hier die Fremdartigkeit der Situation aus dem Fehlen der Sprache zu resultieren. Die Tabus, die Abdelaziz mit einer für unsere Begriffe harmlosen Performance berührt, sind ganz andere als bei »BuSSy« – der Rahmen jedoch, nämlich den öffentlichen Raum zur Bühne zu machen, ist der selbe. Wer in der arabischen Welt aufwächst, dem wird schon frühzeitig beigebracht, sich von den »roten Linien« fernzuhalten; gemeint sind damit Tabus rund um Politik, Religion und Sex, die in Wort oder Tat nicht infrage gestellt werden dürfen. Diese Linien sind freilich keine isolierten Striche. Wie kalligrafische Schriftzüge fließen sie ineinander und vermischen sich; wenn man einen Teil davon entfernt, ändert sich die Bedeutung des Restes. Das »Erwachen Arabiens«, das in diesem Jahrzehnt begann, setzte einen Meißel an die rote Linie der Politik und begann mit dem langwierigen Prozess, altüberkommene Überzeugungen abzutragen […]. 456

Eine dieser Linien betrifft insbesondere den Körper im öffentlichen Raum. Dieses Tabu ist weitaus komplexer, als dies Debatten um das Kopftuch etwa oder die Verschleierung vorgeben. Deutlicher noch als in den westlichen Industriestaaten zeigt sich in der ägyptischen Gesellschaft die soziale Herkunft einer Person an ihrer Kleidung. Auf den ersten Blick scheint diese sich entweder an einem »traditionellen« oder einem westlichen Ideal zu orientieren. Gehört man der Oberschicht an, dominiert der westliche Kleidungsstil – wobei auch dies nur bis zu einem gewissen Grad der Fall ist. Frauen im Minirock oder Männer in kurzen Shorts sind eine kleine Minderheit. Ebenso zeigt sich die »Kleidungsnorm« an der Abwesenheit bestimmter subkultureller Kleidungsstile – Punks, Dark Waver oder starke Aus456 | Shereen El Feki: »Sexuelle Freiheit und Islam sind nichtgrundsätzlich unvereinbar«, im Tagesspiegel vom 23.02.2013, www.tagesspiegel.de/meinung/ arabische-welt-es-wird-zunehmend-akzeptiert-dass-nicht-alle-menschen-denanspruechen-genuegen-koennen/7829530-2.html, vom 18.03.2014.

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prägungen des Hip Hop-Kleidungsstils – ganz abgesehen von einem Cross-gender-Dressing – sind in der ägyptischen Öffentlichkeit kaum zu finden. Dies bedeutet nicht, dass diese Subkulturen in Ägypten nicht vorkommen, aber sie zeigen sich nicht oder zumindest nur vereinzelt in der Öffentlichkeit. Meist werden diese subkulturellen Ausprägungen im Underground auf Parties, Treffen oder anderen Veranstaltungen ausgelebt. Bedingt wird dies vor allem durch eine stark reglementierte Kleidernorm, die ein Abweichen sanktioniert. Diese Sanktionierung erfolgt nicht auf staatlicher Ebene – beispielsweise durch eine Sittenpolizei – sondern vielmehr in Form eines sozialen Drucks, sich konform kleiden zu müssen. Abdelaziz’ geschminktes Gesicht und seine auffällige Aufmachung sind in dieser Hinsicht bereits ein Bruch mit dem gesellschaftlichen Dress Code. Seine weiße Maske, seine schwarzen Lippen und seine Verkleidung wirken befremdlich, fast unheimlich auf die Passanten. Dies ist jedoch keine vordergründige Übertretung eines Verbotes, sondern ein deutlicher Verweis auf eine bereits stattfindende – das normative Regelwerk unterlaufende – Praxis. Diese Praxis mag nicht so deutlich, wie in den westlichen Sub- und Jugendkulturen praktiziert werden, aber sie ist eine subtile kreative Ausdrucksform, die die Unterscheidungen von westlich-traditionell, modern-konservativ, reich-arm unterläuft. Im Gegensatz zu der Bourdieuschen Annahme, die objektiven Umstände (Einkommen/Klassenzugehörigkeit) sozialer Akteure reguliere gänzlich die Art und Weise, wie diese in der Praxis mit Regeln umgehen, schreibt Sally Falk Moore Akteuren weitaus mehr Macht und Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu. »Order never fully takes over, nor could it. The cultural, contractual, and technical imperatives leave gaps, require adjustments and interpretations to be applicable to particular situations.«457 Innerhalb dieser Freiräume, die Sally Moore den Akteuren zuspricht, wenn sie davon ausgeht, dass selbst in Machtgefügen, wie sie in Ägypten herrschen, Ordnungssysteme nie ganz die absolute Kontrolle übernehmen können, wird durch die Alltagspraxis ein eigener und sich dychoto-

457 | Sally Falk Moore: Epilogue: Uncertainties in Situations, Indeterminancies in Culture, in: American Ethnologist. 14/4, 1975, S. 727-736, zit.n. Sabine Hess, Globalisierte Hausarbeit: Au-pair als Migrationsstrategie von Frauen aus Osteuropa, Wiesbaden 2005, S. 23.

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mischen Unterscheidungen von modern-traditionell widersetzender Stil etabliert und Modernität458 neu kontextualisiert. Die Bekleidungspraxis, insbesondere der ägyptischen Jugend, ließe sich hier im Kontext von global verbreiteten und sich verschmelzenden Informationen, Medien, kulturellen Ausdrucksweisen und Technologien, als »cross-cultural-dressing« bezeichnen. Für diese heterogene und sich in den »Cracks und Gaps« der Gesellschaft formierende Form des Ausdrucks ist Abdelaziz ein deutliches – um nicht zu sagen extremes Beispiel. An seinem befremdlichen Äußerem zeigt sich unter anderem, dass die scheinbar festgeschriebenen Demarkationslinien den öffentlichen Körper betreffend zur Disposition stehen und nicht nur Nacktheit, sondern auch die Art der Bekleidung Regeln unterliegen, die stetig Überarbeitungen durchlaufen. Bemerkenswert scheint hier jedoch, dass sich Abdelaziz’ Verkleidung in kein den Ägyptern bekanntes Stereotyp einordnen lässt. Weder erfüllt sie das, was für westlich gehalten wird, noch die traditionelle Kleidung. Sowohl die Maske als auch die Bekleidung verraten keine Herkunft, liefern keinen Anhaltspunkt. Zu dem befremdlichen Äußeren eines geschminkten Mannes in der Öffentlichkeit kommt ein mimetisches Spiel hinzu, das direkten und zwar körperlichen Kontakt sucht. Dies berührt eine weitere Facette der roten Linie, die den Körper als tabuisiertes Feld markiert. Auch dieses Tabu ist kein eindeutiges.

458 | Zur Konstruktion von Modernität im Kontext von Globalisierung vgl. Gisela Welz: Transnational Cultures and Multiple Modernities: Anthropology’s Encouter with Globalization, in: Günter Lenz, Gesa Mackenthun, Holger Rossow (Hg.), ›Between Worlds‹: the Legacy of Edward Said, ZAA Quarterly – Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik, Vol. 52 (4), Würzburg 2004, S. 409-422. Welz stellt hier das von verschiedenen Anthropologen entwickelte Konzept der »Multiple Modernities« vor. Dieses besagt, dass es zunächst verschiedene Versionen von Modernität gibt, je nachdem, wie Modernität von den verschiedenen Gesellschaften bzw. den Akteuren definiert wird. Hierdurch wird die Grenzziehung zwischen dem, was als traditionell und dem, was als modern bezeichnet wird, arbiträr, gleichsam wird eine universelle Lesart abgelehnt. Es gibt also nicht mehr die eine wahre vom Westen vorgelebte Modernität und neben ihr entweder nur Facetten des Modernen oder eben das Feindbild »Tradition«.

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Während körperlicher Kontakt in Ägypten zumindest geschlechterimmannent durchaus stark in die Kultur eingeschrieben ist – zur Begrüßung wird sich auf die Wange geküsst, Männer und Frauen halten untereinander in der Öffentlichkeit die Hand, beim Herumalbern wird sich intensiv auch in der Öffentlichkeit berührt – unterliegt die öffentliche Berührung komplexer gesellschaftlicher Absprachen. Nun tritt Abdelaziz in eine stumme aber körperliche Kommunikation mit den Fahrgästen. Er fordert sie auf, seine Gestik und Mimik zu lesen und mit ihm eine nonverbale Sprache zu sprechen und rückt so nicht nur seinen Körper in den öffentlichen Fokus. Diese Situation, das wird schnell deutlich, schafft eine intime Situation, die ein gegenseitiges Kennenlernen und Zusehen abverlangt. Dass ein Unbehagen aus dieser wortlosen, intimen Sprache und dieser völlig unbekannten Situation resultiert, zeigt sich darin, dass manche Fahrgäste den Wagon verlassen, den Blick meiden oder Abdelaziz angestrengt ignorieren. Dass die Mime ein Verlassen der Konvention, die die verbale Sprache darstellt, ist, zeigt sich umso deutlicher, wenn die Performance von einem Fahrgast für die Tat eines Wahnsinnigen gehalten wird. Die Körpersprache wird hier im Gegensatz zur verbalen Sprache zur augenblicklichen Tat, die als Bild oder als Erlebnis funktioniert und nicht notwendigerweise auf eine soziale Abmachung referiert – so wie dies ein Begriff tut, ohne die ihm keine Bedeutung zukäme. Insofern lockt Abdelaziz durch seine Mime seine »Gesprächspartner« in ein nonverbales Feld und überlässt ihnen die Deutung. Hier werden in immer neuen Konstellationen die Darsteller zu Zuschauern und andersrum. Kinder, Frauen und Männer sehen sich plötzlich mit Abdelaziz’ stummer Anrede konfrontiert, während ihnen andere dabei zusehen. Sie selbst müssen nun mit ihrem Körper sprechen, entweder, indem sie mit Abdelaziz oder gegen ihn kommunizieren – in jedem Fall wird ein Prozess in Gang gebracht, der ein Sich-Einlassen und eine ästhetische Praxis abverlangt, in der der Körper als Akteur in den Mittelpunkt rückt. Gerade in solchen Situationen, in denen ein Fahrgast diese Kommunikation genießt, zeigt sich das Paradoxe des körperlichen Tabus in einer von Körpersprache stark geprägten Kultur. Während einerseits die arabische Erzähltradition eine von Gestik und Mimik durchzogene – dem Körper immer eine große performative Kraft zusprechende – Kommunikationsform ist, scheint der öffentliche Körper von Regeln – vor allem des Maßhaltens – durchzogen zu sein. So aus-

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drucksvoll, emotional und informativ der Körper einerseits ist, so stark unterliegt er komplexer normativer teils kryptischer Regeln. Es scheint, dass gerade die Maßregelung des Körpers aus seiner fundamental performativen Bedeutung hervorgeht. Weil der Körper und sein Ausdruck Genuss schafft – und damit ist vorrangig ein Genießen des körperlichen Ausdrucks, des Gestikulierens, der starken Mimik, der Verausgabung im Erzählen gemeint – berührt diese Verausgabung eine Grenze. Abdelaziz’ Performance schafft eine Durchlässigkeit dieser Grenze nicht etwa durch Nacktheit, Obszönität oder eine vordergründige sexuelle Befreiungstat – seine intime körperliche Kommunikation der Mime ermöglicht ein stummes Sich-Einlassen, ein Experimentieren mit dem Körper, bei dem bereits eine Handbewegung oder ein Schulterzucken ein Gespräch eröffnen kann. Während die »Stumme Kunst« in der Geschichte die Möglichkeit einer Gesellschaftskritik eröffnete, ohne Gefahr zu laufen zensiert zu werden, bedeutet sie hier vor allem eine stille Möglichkeit der zwischenmenschlichen Kommunikation, die eine Art gesteigerte Konzentration fordert und den geräuschvollen Umgang, der das Alltagsleben im überbevölkerten Kairo dominiert, unterbricht. Der Körper als machtvoller Akteur, als Träger von Bedeutung und als Emotion wird hier in aller Öffentlichkeit sichtbar. Auch mit Art of Transit – was nicht nur Art in Transit, sondern auch eine, die Öffentlichkeit durchquerende, Kunst meint – wird die Möglichkeit ästhetischen Handelns und zwar als öffentliche gemeinsame Teilhabe erprobt. Mit Shaware3na realisiert das Künstlerkollektiv Mahatat (Haltestellen) seine Vision, die Kunst im öffentlichen Raum sichtbar und somit dem alltäglichen Leben der Menschen zugänglich zu machen. In einer Gesellschaft, in der die Klassenunterschiede noch sehr viel wesentlicher die Bildung betreffen und somit der Zugang zu Kunst einer wohlhabenden und oftmals westlich-orientierten Elite vorbehalten bleibt, verstehen die Gründer Mahatats ihr Projekt als Demokratisierung der Kunstszene und als Stärkung der Zivilgesellschaft.

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»There are so many people who do stuff on the Metro – some people sell stuff, some read from the Quran and none of these people have permits or is operating under any official capacity«.459 Als Ort der permanenten Performance – ob Verkauf, Rezitation oder dergleichen – nutzen Mahatat die ästhetische Aneignung der Haltestellen (auf arabisch Mahatat) auch als Stellen des Halts, der Konzentration, der Unterbrechung für das, was nicht Alltag ist. Mahatat’s main aim is the freedom of artistic expression in Egypt and beyond. Our projects support the development of a civil society in which all citizens are actively and jointly working towards a socio-political environment that is based on participation, freedom of speech and human rights […] Mahatat in Public Space encourages artists to work in public space and assists street artists in their work. It will work towards a wider acknowledgement of art and music in public space in urban and rural areas in Egypt, the Arab region, and Africa. 460

Zu Mahatat gehören auch jene aktiven Künstler, die den Umbruch der Kunst- und Theaterszene Ägyptens seit der Jahrtausendwende mit eingeläutet haben. Sie haben gewissermaßen vorbereitet, was sich mit dem Sturz Mubaraks als Explosion der Kunstszene verdeutlicht hat. Seither kam es zu zahlreichen Projekten aus verschiedenen Genres. Insbesondere um das Stadtzentrum herum – aber auch an anderen Orten – hat sich eine Art Künstlerviertel mit Bühnen, Galerien, Kulturzentren etc. entwickelt. Diese gab es zwar bereits vereinzelt schon vor der Revolte. Durch neue Initiativen und Festivals, wie bspw. das »Down Town Contemporary Art Festival« im Frühjahr 2012, gibt es nun aber frequentierte Veranstaltungen und einen intensiveren Fokus auf die neuen und alten Spielstätten. Hinzu kommt, dass nach dem Sturz des Regimes neue Künstlersyndikate entstanden sind, um die alten Strukturen zu umgehen. Anstatt der staatlichen Syndikate vertreten Künstler sich nun durch ihre eigenen Syndikate und berufen sich auf internationale Gesetze der UNO. Die Beitrittszahlen der über 180 neu gegründeten Syndikate allein indizieren den massiven Zuwachs an künstlerischer Tätigkeit und das Be459 | Mayada Said – Mitbegründerin der Initiative – im Interview mit dem Internetportal Cairo 360, www.cairo360.com/article/artsandculture/3536/shaware3nalive-art-perfromances-seeping-through-the-streets-of-cairo, vom 20.03.2014. 460 | http://mahatat-.tumblr.com/about_us, vom 10.03.2014.

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dürfnis der Künstler, ihre Arbeiten zu veröffentlichen, ohne Gefahr zu laufen, politisch verfolgt zu werden.461 Viele der neuen Produktionen, ob nun in der Malerei, der Streetart, dem Tanz, der Musik und insbesondere im Theater verarbeiten die Geschehnisse des Auf begehrens, aber auch die Traumata aus der Zeit der Unterdrückung, Lähmung und Stagnation. In diesen Arbeiten zeigt sich nicht nur ein thematischer Wandel, sondern auch ein die Aufführungsästhetik betreffender Paradigmenwechsel. Die Gegenwart der szenischen Künste ist heterogener geworden. Unmittelbar nach der Revolte kam es zu einer intensiven Phase der künstlerischen Dokumentation, des kollektiven Erinnerns, der Feier der Freiheit, aber auch der Trauer über die Opfer. Die Geschehnisse auf dem Tahrirplatz erfuhren ihre künstlerische Aufarbeitung vor allem in einer für Ägypten neuen Form des dokumentarischen Theaters. Viele dieser Arbeiten entsprachen dem Bedürfnis, die achtzehn Tage der Revolution zu beleuchten, zu erinnern, eine Bedeutung zu geben, die nicht in Parolen und Slogans aufgeht, sondern, die die Emotionalität und die Psyche der Menschen reflektiert. Zu nennen sind hier insbesondere »No time for Art« von Laila Soliman, »Solitaire« von Dalia Bassiouny, »Rivo-Loo-Shun« von Zeynab Magdy sowie Sondos Shabayeks »Tahrir Monologues«. Bei den genannten Arbeiten fällt ins Auge, dass sie allesamt freien Theatergruppen entstammen und von Frauen geschrieben sowie größtenteils auch performt wurden. In diesen dokumentarischen, meist monologischen, one-woman Performances zeigt sich nicht nur das Bild der Revolte, sondern einer Gesellschaft, in der insbesondere die Frauen qua Kunst auf ihre Teilhabe drängen. Es ist die weibliche Perspektive dieser Revolte, des Traums von einer radikalen Veränderung, die die Missstände – von politischer Unterdrückung über Bildung, bis hin zu Geschlechterrollen und sexueller Freiheit – freilegt.

461 | Alleine das »Workers for Art Profession Syndicate« hat laut eines Artikels des Discord Magazine in wenigen Monaten neuntausend neue Mitglieder gezählt. Diesem Artikel entstammen auch die Zahlen zu den Neugründungen. http://issuu. com/discordmagazine/docs/discord_3_issuu# vom 28.03.14.

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Natürlich geht es auch um das Pathos der Revolution, die Märtyrer und darum, die Revolte zu konservieren – als ein Momentum der Gemeinschaftlichkeit, des Risikos und der radikalen Verausgabung. Es soll hier erwähnt sein, dass es bei den besprochenen Arbeiten nicht um eine politische Praxis, Revolutionstheater, ein Theater der Unterdrückten oder dergleichen geht. Obgleich die Revolte Ausgangspunkt und theoretischer Rahmen dieses Kapitels ist, geht es in den Beispielen nicht darum, Kunst für oder über die Revolte zu machen, sondern schlichtweg Kunst zu machen! Auch deshalb lässt sich in Ägypten eine neue Phase künstlerischer Arbeiten beobachten, in denen die Revolte implizit und explizit keine Rolle spielen soll. Hierbei fungiert das derzeitige Machtvakuum als Experimentierfeld für Künstler aller Richtungen. In diesem von Chaos gezeichneten und machtfreien Raum, in einer Zeit, in der alles in Frage steht, neu geordnet wird und keine Autorität, Regel oder Übereinkunft mehr gilt, zeigt sich das Ästhetische geradezu als Orientierung, als Ort des Diskurses oder aber als radikales Austesten des Möglichen. Der Ausbruch von Gewalt ist hier deutlich zu verzeichnen, nicht nur weil – bedingt durch die plötzliche Abwesenheit des vorher überpräsenten autoritären Kontrollapparates – die Kriminalität massiv zugenommen hat, sehr viel maßgeblicher setzt die Gewalt in diesem Zustand, in dem nichts mehr gilt, ihren Meißel jedoch an der Sprache an. Es ist ein gewaltvoller Modus des Ausdrucks, der alles betrifft. Der Maler Khaled Hafez beschreibt diesen Zustand als Erlernen einer neuen Sprache: We are programmed that change will never happen. We are a product of this regime […] We are not trained to protest or confront. Not with cencorship, not with this political system. Always expression happened in studios. Before January 2011 I personally taught and trained my younger peers and students to avoid censorship, to do art that is intelligent enough to transcend the commitments and obligations and the constraints of standard egyptian cencorship […] After the revolution there is a new language, that I am learning myself still […] I am decoding my own programming and deprogramming my own beliefs […]. 462 462 | Transkription aus einem Interview mit Khaled Hafez in: Heiko Lange (Regie), The Noise of Cairo – A documentary about Cairo, Art and Revolution, Kairo 2012, scenes from Production Berlin. Eine DVD des Films wurde für die Niederschrift herangezogen.

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Wie sich diese Sprache im Vakuum, im Schweigen der – sagen wir politischen – Pause, der Unterbrechung äußert, stellt das hier zu Untersuchende dar. Das Erlernen eines neuen ästhetischen Ausdrucks, gerade dann, wenn das (politische) System »crasht« und die Sprache ihre nie wirklich dagewesene Unversehrtheit opfert, soll mit Bataille als das Unmögliche gedacht werden. Es geht also um einen ästhetischen Ausdruck, der anstelle der Abbildung des Politischen die Forderung nach dem Unmöglichen in sich trägt und eben darin politisch ist. Die Menschheit hat eine doppelte Perspektive vor sich: einerseits die der heftigen Lust, des Grauens und des Todes – eben dies ist die Perspektive der Poesie und, umgekehrt, die der Wissenschaft beziehungsweise der realen Welt der Nützlichkeit […] Die Wirklichkeit hat Anspruch auf uns. Sie ist sogar im Besitz sämtlicher Ansprüche. Trotzdem können, ja müssen wir auf etwas reagieren, das zwar nicht Gott, aber stärker als alle Ansprüche ist: auf dieses Unmögliche, zu dem wir Zugang finden, wenn wir die Wirklichkeit all dieser Ansprüche vergessen und unseren Untergang bejahen. 463

Es ist diese unmögliche – das Wirkliche vergessende – Perspektive, die Bataille meint, wenn er das Ästhetische denkt. Bei Lehmann lesen wir ganz ähnlich vom »Unmöglichmachen des Wirklichen« des Theaters, dem gerade darin »eine Leerstelle offen zu halten« und der Wirklichkeit ihren Boden zu entziehen seine »reale politische Bedeutung«464 zukommt. Sich im ästhetischen Ausdruck den Ansprüchen der Wirklichkeit zu verweigern, um anstelle politischer Diskursivität eine andere – nämlich das Politische suspendierende – Rede zu eröffnen, die die Grenzen des Möglichen aufzeigt und das Unmögliche will, ist die von Bataille formulierte Perspektive und zugleich die hier zu verfolgende Spur.

463 | Georges Bataille: Das Unmögliche, S. 8. 464 | Vgl. Lehmann, Vorwort, in: Das Politische Schreiben, S. 8.

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3. M arwa A del : The J ourne y Silhouetten von Frauenkörpern drücken sich durch die leinenartige Textur der Fotografien Adels. Straßenkarten und orientalische Straßenszenerien durchdringen subtil die Körper der Fotografierten. Die Haltung der Frauen: stark, verletzlich, dynamisch und still zugleich. Marwa Adels Fotocollagen465 – bestehend aus kalligraphischen Elementen, Photografie, und Computergrafik – weisen eine historische Textur auf, so als seien sie zu verschiedenen Zeiten Schicht für Schicht aufgetragen worden. Die Protagonistinnen ihrer Bilder sind durchweg von Schrift und Raum markiert. Die Haut ist überzogen von persischer und arabischer Kalligraphie, es schimmern immer wieder Straßennamen, Bilder von Orten und Szenerien durch. Die Risse und Lücken in der Textur sowie der sepiafarbene Schimmer der Bilder zeugen von Vergangenheit. Auch wenn die Körper allesamt unverhüllt sind, geht es nicht um Nacktheit. In ihren Posen verweisen die Frauen vielmehr auf eine Innerlichkeit – auf all das, was der Körper nicht preisgibt. Überladen mit Symbolen, Geschichte, Zeit und Ort schreiben sich die Codes und Regeln in ihn ein. Adels Frauen-Körper sind durchsetzt von diesen Prozessen der Geschichte und der Gesellschaft. Das skandalöse in Adels Bildern ist nicht die nackte Haut, sondern der doppelte Modus von Sinnlichkeit, der von den Bildern ausgeht. Insbesondere in ihrer Reihe »The Journey« operiert diese doppelte Sinnlichkeit als antagonistisches Spiel zwischen sanften Körperkonturen – einem zart gebeugten Rückrat beispielsweise – und sich widersetzenden dominanten Haltungen, zwischen Verführung und Kampf. Es ist ein Modus, der die Sinnlichkeit zeigt und zelebriert, im selben Augenblick aber die Schizophrenie um den sinnlichen orientalischen Frauenkörper aufdeckt. Den (westlichen) Blick auf die verführende, sinnliche, aber unschuldige – gar hilflose – Orientalin unterläuft Adel mit ihren Bildern, während sie zugleich auf ästhetischer Ebene eine gesteigerte Sinnlichkeit durch die Formen, die Oberfläche und die Farben ihrer Bilder schafft. Diesen Mythos der Scheherazade, die ihre Kraft und Macht 465 | Die Ausstellung »The Journey« von Marwa Adel wurde von der Verfasserin am 15.12.2012 in der Safar Khan Gallery in Kairo besucht. Die Ausstellung war dort vom 04.12.12 bis 29.12.2012 zu sehen.

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durch ihren Sexus gewinnt – umkreist auch die ägyptische Künstlerin Sarah Rifky in ihrem autobiografischen Text. On a warm August night in Brussels, a curator, Orient, of feminist inclination, dressed up in an Egyptian belly dance costume, swaying her hips and breasts to Umm Kulthum’s epic song of a thousand and one nights. This act of seduction was intended for an audience of One. One was a man, a curator. This highly staged act, of Orient sexualizing herself for One’s gaze, transcended all codes of proper politically correct behavior. As both overcame mediocre intercourse, Orient gently asked One how, despite her intentionally seductive act, he had achieved at best an indefinite arousal. One told her repeatedly that sex didn’t matter so much to him. He enjoyed it, but he was not ruled by it; that in fact, he preferred to have what he curiously dubbed a soft erection than succumb to her desire. It was purposeful; One would not allow his desire to fully blossom around Orient. In fact, he said: in private, call me Soft. To her this felt of dysfunction. 466

In Rifkys Beschreibung kollidiert der Verführungsversuch »Orients« mit der »Softness« ihres europäischen Geliebten »One«. Es ist – das sagt Rifky gleich vorab – der Verführungsversuch einer orientalischen Feministin. Diese begibt sich in das Klischee von Tausend und einer Nacht, zieht sich ein Buchtanzkostüm an und performt den scheiternden Verführungstanz. Dieses Scheitern beschreibt Rifky als Dysfunktion ihres Partners zu begehren – es ist das Scheitern eines aufgeklärten, westlichen, gebildeten Mannes. Während jener sich von dem Begehren und dem damit verbundenen Trieb frei machen will, will sie über ihr Begehrtwerden Macht ausüben. It was both daunting and upsetting to Orient that she could not rule over One - or other men she encountered in love - through her projected desire to be desired. In fact, the more desire and urgency she brought to love, the more she found herself swathed in his cold softness. It was only in Europe that this ambivalence toward sex seemed to be accompanied by an imaginary freedom […] It was women like Luce Irigaray and Hélène Cixous who had set the phallus on fire, a devilish effigy, as part of the struggle for a symbolism less antagonistic to female pleasure; indeed, to 466 | Sarah Rifky: Call me soft, in: Bidoun Magazine, Nr. 26, Soft Power, www. bidoun.org/magazine/26-soft-power/call-me-soft-by-sarah-rifky/, vom 02.04. 2014.

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orgasm, so long ignored, derided, or even pathologized, as in the psychoanalytic diagnosis of hysteria. Had One completely imbibed such theory? Was his softness a form of excessive politeness, a desire not to offend?467

Zwar ließe sich Rifkys Perspektive ein Spiel mit westlichen und orientalischen Klischees unterstellen, aber eben um das Spiel mit jenen Klischees geht es Rifky wie Adel. Rifky trifft mit ihrem Text ins Schwarze der Fotocollagen Adels. Die Klischees tauchen bei beiden auf, durchkreuzen sich aber sogleich. Es sind Perspektivwechsel, die beide Künstlerinnen vollziehen, wenn sie einerseits das Bild der Orientalin aufkommen lassen, so dann aber den Leser in die Falle des westlichen, männlichen, feministischen – wie auch immer gearteten – Blicks tappen lassen. Eine Falle, die dann spürbar wird, wenn die Klischees nicht mehr aufgehen und durch Brüche in der Narration gestört werden. Was Rifky in ihrem Text beschreibt, ist das komplexe Rollenbild einer gebildeten, vermeintlich freien arabischen Frau. Es ist eine komplexe Rolle zwischen archaischem Bauchtanz und feminitischem Gedankengut. In diesem Zwischen zeigt sich die »Reise«, die Adel in ihren Bildern festzuhalten sucht. Heirat, Verhüllung, Blicke, Straßennamen, Mauern und Verwurzelung sind Teil dieser Reise und Assoziationen, die von den Frauenkörpern freigesetzt werden. Diese Narration, die Formen und Farben, die Oberfläche der Bilder, die zarte Haut lockt zunächst in eine schöne und besänftigend sinnliche (Bild)-Sprache – ähnlich einer Erzählung, die mit schwingenden Hüften beginnt. Der Tanz läuft dann aber ins Leere und endet im Versagen des Begehrens. Adels Körper zeigen sich in der Betrachtung ebenfalls als widerspenstig. Erst die Konturen der Haut abtastend, zeigt sich die Reise der Protagonistinnen als verstörend. Der Blick wird geradewegs an den Körperlinien entlang in die Risse und Brüche der Biografien gelenkt. An der runden Wölbung der Brust schimmert ein Käfig durch, entlang der Kurve des Rückens zeigt sich eine Mauer. Manchmal trifft der Blick auch auf übergroße Insekten, Feuermale oder aber Straßennamen, die das kulturelle Erbe, die religiöse wie intellektuelle Herkunft der Frauen zu fixieren suchen. Zwischen den Körpern und den biografischen Haltestellen entsteht eine Spannung, die sich auf den Blick des Betrachters überträgt. Wäh467 | Rifky, a.a.O.

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rend die direkten Blicke der Frauen und ihre zarte Haut eine starke Anziehung ausüben – wobei nicht nur die Haut, sondern auch der direkte Blick einem Tabu unterliegt – widersetzt sich die Körpersprache durch verschränkte Arme, ein herausfordernd gehobenes Kinn oder eine »kalte« Schulter sowohl dem Blick des Betrachters, als auch der im Hintergrund operierenden Symbole und Codes. Es ist eine Haltung der Rebellion anstelle der Repräsentation von Opfern, in der die Körper durch ihre Dynamik eine Art Performance aufzeigen. Die Fragen, die Adel und Rifky aufwerfen, gehen keineswegs in eindeutigen Positionen auf. Es sind Fragen, die sich stetig um die Beziehung von Mann und Frau, Orient und Okzident, Emanzipation und Tradition, Säkularität und Religion drehen – ohne eine eindeutige Antwort zu liefern. Adels Bilder liefern keinen explizit politischen Text, aber es gibt einen Überschuss, etwas, das wie ein falsches Puzzlestück in den Bildern immer wieder den Blick umherirren und nach einer Kohärenz suchen lässt. Die Geschichten ihrer Protagonistinnen scheinen nie ganz aufzugehen, weil sie sich einer linearen Narration, einer Deutungshoheit, politischen Definitionen, klaren Rollenbildern etc. entziehen. Das, was verstört und nicht aufgeht, ist die Ästhetisierung der gesellschaftlichen Tabus, Repressalien und Zwänge, die das geläufige Opferbild unterläuft, die Weiblichkeit in den Vordergrund stellt und doch die Probleme offenlegt. In dieser scheinbar ungeraden Komposition ihrer Collagen entsteht eine Kraft, die den Betrachter mit seinen eigenen Klischees, seinem aneignenden Blick konfrontiert und zugleich eine sinnliche Erfahrung ermöglicht – eine Sinnlichkeit jedoch jenseits von Tausend und einer Nacht.

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4. E z z at I smail : »W aiting ?!« Es ist Sperrstunde in Kairo. Ein nie dagewesenes Bild leerer Straßen zeigt sich auf der Videoaufnahme468 von »Waiting?!«. Es herrscht im wahrsten Sinne der Ausnahmezustand in den Straßen, die von Panzerpatrouillen bewacht werden. Ezzat Ismail sitzt um zwei Uhr morgens zur Sperrstunde auf einer Straßenbank unweit von Panzern und wartet.469 Die Sperrstunde als Stunde Null des postrevolutionären Zustands ist der zeitliche Rahmen dieser Video-Performance, deren Titel sowohl Ausruf als auch Frage ist. Ismail tanzt in einem »moment of suspense« das Warten. In verschiedenen Figuren drückt sich seine Unsicherheit, Angst, Anspannung, aber auch Freude über das unbekannte Kommende aus. Er liegt, sitzt und steht auf der Bank, er denkt nach und streckt sich. Seine Füße zappeln ungeduldig – isoliert vom Rest des Körpers. Es sind starke Posen und Schritte, die immer wieder die Balance auf der Bank ausloten und zu halten versuchen. Auf einen Sprung folgt sofort der Stillstand und die Korrektur der Haltung. Es ist ein wechselhaftes Erörtern der Gefühlslage, wenn sich der Kopf nach rechts dreht und die Hand ihn wieder zurückbiegt. Ein sich verselbstständigender Körper, der alle Figuren des Wartens ausprobiert, in einer Zeit des Wandels und der Veränderung. Es sind Posen, die allesamt eine gesteigerte Zeiterfahrung – nämlich die der Aus-Zeit – widerspiegeln. Es geht um das Auskosten der Unsicherheit, der Spannung, der Ungewissheit – des vibrierenden Inneren, wie Ismail selbst sagt.470 Insofern ist der Tanz eine Performance der Unterbrechung, eine Reflektion des Zeitfühlens, des Umgangs mit der Zeit – jedoch nicht irgend-

468 | Ein Auszug der Videoperformance war im Dokumentarfilm »The Noise of Cairo- A documentary about Cairo, Art and Revolution« zu sehen. Eine DVD des Films wurde für die Sichtung der Performance herangezogen (vgl. The Noise of Cairo – A documentary about Cairo, Art and Revolution (Film), a.a.O.). 469 | Dass die Performance als Video existiert bzw. als Videoperformance konzipiert ist, soll in der weiteren Diskussion keine Rolle spielen. Es ist leider nicht bekannt, ob es außer den anwesenden Soldaten und dem Filmer Zuschauer gab. 470 | Sinngemäße Übersetzung des Interviews mit Ezzat Ismail aus dem Englischen, in: »The Noise of Cairo – A documentary about Cairo, Art and Revolution«, a.a.O.

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einer Zeit, sondern einer Zeit nach der Revolte, einer Zeit, in der die Uhren auf Null gestellt werden und ein Zeitvakuum herrscht. In diesem Austesten der Möglichkeiten, die in der Unterbrechung liegen – eine Unterbrechung, die insbesondere das Politische betrifft – zeigt sich ein Modus des Gebens. Indem nichts als das Warten passiert, gibt Ismail zunächst einmal sich selbst Zeit, sodann aber auch der Veränderung, dem Wandel, dem Kommenden sowie der Langeweile und dem Stillstand. Wenn Lehmann Becketts Zeitästhetik, in der »Vision, Traum, Erinnerung, Hoffnung und reales ›Jetzt‹471 untrennbar ist, als »Dramaturgie des Nullpunkts« bezeichnet, trifft das gleichermaßen auf Ismails Performance zu. Ihr ist eine Dramaturgie eigen, die keine Zeit als Referenzpunkt hat – in der Zeit nicht voranschreitet. Und insofern kreist sie zur Sperrstunde im – wahrsten Sinn um den Nullpunkt – den Nullpunkt der Geschichte, der Politik, aber auch der Zeit. Dass Becketts Zeitästhetik als Hinweis dienlich ist, zeigt sich umso deutlicher, wenn wir bei Lehmann lesen: »Die Dekomposition und Zerstäubung der Zeitdimension manifestiert Zerfall und Tod des Individuums.«472 Lehmanns Hinweis auf den Zusammenhang von Zeit und Tod bzw. die Analogie zwischen dem Zerfall der Zeiteinheit und dem Zerfall des Individuums rückt eine weitere Dimension der Performance in den Fokus – Becketts Stück über das Warten473 als Grenzgang zwischen Leben und Tod bietet hier nicht nur dem Titel nach Parallelen. Denn auf den ersten Blick wählt Ismail für seine Performance einen Ort der Rast – ein seltener Ort in einer Stadt wie Kairo, in der es kaum Parkbänke gibt. Doch verhält es sich mit diesem Ort angesichts des unweit stehenden Panzers etwas schwieriger. Ismail setzt sich selbst einer realen Gefahr aus – vielleicht sogar dem Tod. Das Warten auf den Tod steht mithin ebenso zum Thema wie das Warten auf ein neues Leben. Insofern wird Warten zum bewussten Spürbarmachen des aufgeschobenen Todes. In Anbetracht der politischen Umstände, der vielen gestorbenen Demonstranten wird der Aufschub des Todes umso evidenter, denn Ismail wählt die Sperrstunde als Zeit und die Parkbank unweit der Panzer 471 | Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 326 472 | Ebd. 473 | Samuel Beckett: Warten auf Godot, in: ders., Dramatische Dichtungen, Band I, Frankfurt 1963, S. 9-204.

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als Ort seiner Performance. Beides – Ort und Zeit – sind gewissermaßen das über Ismail schwingende Damokles Schwert, das mit jeder weiteren Minute an diesem Ort die Anwesenheit und den Aufschub des Todes aufzeigt. Mit dem aufgeschobenen Tod rufen wir eine Begrifflichkeit auf den Plan, mit der Jean Baudrillard – ein intensiver Leser Batailles – ein Aquivalenzverhältnis zwischen Zeit und Tod aufdeckt. In diesem Verhältnis steht der gewaltsame Tod der Akkumulation von Zeit entgegen, was gleichermaßen bedeutet, dass er der Dauer und der Produktion opponiert. Seine Plötzlichkeit erschüttert jegliches Kalkül. Und weil er in seiner Unkontrollierbarkeit Fortschritt und Sicherheit unterläuft, steht er ganz und gar auf der Seite der Verausgabung. Der aufgeschobene Tod hingegen ist kalkuliert und insofern ökonomisch – er ist das Leben als langsamer Tod. Immer ist es der Tod, der den Kalkül der Äquivalenz und die Regulierung durch die Indifferenz ermöglicht. Dieser Tod ist nicht gewaltsam und physisch, sondern er ist die gleichgültige Vertauschung von Leben und Tod, die wechselseitige Neutralisierung von Leben und Tod im Überleben, anders gesagt: der aufgeschobene Tod. 474

Baudrillards Analyse greift Batailles Einsicht in die Zusammenhänge von Arbeit und Tod auf und erklärt anhand einer beschränkten Ökonomie, in der der Tod das Stigma eines Mangels trägt – nämlich dem Mangel an Zeit und an Nützlichkeit – die Weigerung bzw. Verfemung des symbolischen Tausches. Diese Weigerung beschreibt jenen Moment, der bei Bataille den Eintritt in die Arbeit markiert. Es ist der Moment, in dem der Knecht sich für die Arbeit entscheidet, um dem Tod zu entkommen. Bei Baudrillard lässt sich dies als Weigerung des symbolischen Tausches des Lebens lesen. Anstelle des Tausches tritt die Akkumulation von Lebenszeit, in der der Tod immer symbolisch anwesend bleibt. Deshalb versteht Baudrillard die Folgen einer Operation des Überlebens als kontinuierliches Sterben. Diese Operation ersetzt in einer beschränkten Ökonomie die symbolische Reziprozität, den Kreislauf von Leben und Tod. Die Akkumulation der Zeit bringt die Idee des Fortschritts hervor, wie die Akkumulation der Wissenschaft die Idee der Wahrheit bringt: in beiden Fällen tauscht 474 | Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, S. 69.

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sich das Akkumulierte nicht mehr symbolisch aus und wird zu einer objektiven Dimension. […] Daher die absolute Sackgasse der politischen Ökonomie: durch Akkumulation will sie den Tod abschaffen – aber die zur Akkumulation benötigte Zeit ist selber eine Zeit des Todes. 475

Aus dieser Perspektive gerinnt der Tod zwangsläufig zu einer allgegenwärtigen Angst, die von einer Idee der Schuld durchwachsen ist. Das Paradox dieser Akkumulation, besteht darin, dass die Lebenszeit durch die Allgegenwart des verhärteten Todes zur Todeszeit wird – einer Zeit die sich in den Nimbus des aufgeschobenen Todes hüllt. Den Tod als Teil eines Gaben- bzw. Tauschsystems zu betrachten, bedeutet, ihm eine soziale Funktion zuzusprechen. Sowohl Bataille, als auch Baudrillard geht es um diese symbolische Kraft des Todes. Für beide ist der reziproke Zyklus von Leben und Tod maßgeblich für das Soziale. Diese Interdependenz von Verausgabung und Gabe wird auch deshalb exponiert, weil der Gabe, wie der Verausgabung bei Bataille, nicht nur eine magische und destruktive Kraft immanent ist, sondern sie (die Gabe und in ihr die Verausgabung) die einzige absolute Subversion ist, die das Prinzip der Hyperrealität – wie Baudrillard die Eliminierung der symbolischen Ordnung zugunsten von Objektivität, Rationalität und Wahrheit nennt – zu überschreiten schafft. Für Baudrillard zählt immer das Verhältnis von materieller und symbolischer Welt. In einem System, in dem die Selbstreferenz des Zeichenwerts jede andere Referenz – selbst die des Gebrauchs und des Tauschwerts – abgeschafft hat und so auf nichts anderes mehr verweist als auf sich selbst, kann allein die Gabe eine symbolische Ordnung wieder herstellen. Das Symbolische ist der Zyklus des Austausches selber, der Zyklus von geben und zurückgeben, eine Ordnung, die aus der Reversibilität selber geboren wird und die der doppelten Rechtsprechung einer verdrängten psychischen Instanz und einer transzendenten gesellschaftlichen Instanz entgeht. 476

Das Symbolische ist mithin eine soziale Kategorie für die, die Reversibilität konstitutiv ist. Demnach ist die Ordnung, die restituiert werden soll, nicht einfach eine Ordnung des Exzesses und des Überschwangs. Das, 475 | Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, S. 231 476 | Ebd., S. 216.

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was Baudrillard mit der Gabe und ihrer Gegenseitigkeit im Auge hat, ist vielmehr die Zerstörung einer einseitigen Macht zu Gunsten einer Gemeinschaft, die sich durch ihre Reziprozität stabilisiert. Baudrillards Gabentheorem verdeutlicht den Zusammenhang zwischen der Verfemung des Todes, einer Zeitökonomie der Akkumulation und einer Ordnung der Destruktion des Symbolischen sowie des Sozialen. Ohne weiter Baudrillards Simulationstheorie zu elaborieren, sollte der kurze Exkurs zeigen, dass dort, wo die symbolische Ordnung – sprich das, was Bataille mit dem Opfer, dem Potlatsch, den verausgabenden Handlungen im Allgemeinen als das Heterogene bezeichnet – zugunsten einer hyperrealen Ordnung des Kalküls und des Nutzens abgeschafft wird, keine Zeit mehr für den Tod bleibt.477 Die ganze Arbeit der Modernität, der Befreiung der Dinge und die technische Operation der Weltveränderung verweist auf die Eliminierung des Symbolischen, auf alles, was uns als Illusion, Mystifizierung, Leugnung der Religion vorkam. Man hält sich an die Objektivität, alles, was zur symbolischen Ordnung gehört hat, muss verschwinden. 478

Dies ist eine Perspektive, die etwa ein halbes Jahrhundert nach Batailles Theorie die Ökonomie des Todes – sprich die zwanghafte Akkumulation von Lebenszeit im Sinne Batailles – als Geiz der Moderne entlarvt. Auch wenn Baudrillard unter Rückgriff auf Mauss die Logik des Tausches reformuliert, die Bataille ja gerade durch seine Theorie der Verausgabung auf brechen wollte479, um dem Tod, dem Opfer, der Erotik etc. – 477 | Vgl. Hegazi, a.a.O., S. 70-75. Baudrillards Analyse des aufgeschobenen Todes wurde hier ebenfalls von der Verfasserin herangezogen, allerdings soll im Folgenden der vorliegenden Studie das Gabentheorem insbesondere mit Nancys Begriff der Mit-Teilung im Kontext der Revolte als Kommunikation verstanden werden. Insofern geht die hier dargelegte Bedeutung des aufgeschobenen Todes deutlich über die damalige Darstellung hinaus. 478 | Jean Baudrillard: »Demokratie, Menschenrechte, Markt, Liberalismus – das geht mich nichts mehr an«, Interview in der Frankfurter Rundschau vom 28.11. 2002, www.egs.edu/faculty/jean-baudrillard/ar ticles/inter view-demokratiemenschenrechte-markt-liberalismus-das-geht-mich-nichts-mehr-an/, vom 23.04. 2014. 479 | Vgl. Kapitel II, Punkt 5.

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sprich all jenen Bereichen, denen ein Moment der Gabe innewohnt – als das ganz Andere eine positive Bestimmung zuteilwerden zu lassen, ohne sie dem Kalkül und der Logik des Tausches zu opfern, taucht auch bei Baudrillard das Bataill’sche Moment der »Todesfreude« auf. Es geht um eine Bereitschaft zum Tod in der das Leben nicht wie ein Besitz akkumuliert, sondern im Angesicht des Todes und des Risikos gelebt wird ohne zur Todeszeit zu gerinnen. Hier – d.h. in der Bejahung der radikalen Endlichkeit – liegt Batailles Denken der Revolte verankert. In der Überschreitung der Vernunft, in der Transgression des Rationalen und nicht im kalkulierten Machtwechsel liegt der Gestus der Revolte. Im Gegensatz zur Revolution drückt sich in der Revolte kein Willen zur Macht aus. Die Revolte richtet sich gleichsam gegen das Selbst bzw. das rationale Subjekt. Batailles souveräne Revolte will dem Hegel’schen Subjektverständnis im Sinne eines erkennenden Subjektes seinen Tod geben und sucht stattdessen ein Subjekt im Ruin. Anders gesagt, der Tod, der bei Hegel das knechtische (Selbst-)Bewusstsein bzw. die Arbeit des Bewusstseins erst hervorbringt und somit das Subjekt konstituiert, fällt bei Bataille in das Bewusstsein ein. Als sein blinder Fleck durchbricht er die Repräsentation. Als extreme Erfahrung des Bewusstseins, die ihm so innerlich ist, dass der Mensch keinen Zugang zu ihr hat, sie nicht begrifflich fassen kann, markiert der Tod jenes Moment, in dem das Subjekt nicht mehr kann. Der Tod bringt dem Bewusstsein seinen Tod. Der Modus der Revolte als extremster Punkt einer dem Menschen möglichen Erfahrung, als Überschreitung der Vernunft, ist, was sie (die Revolte) mit der Kategorie des Todes verbindet. Mit anderen Worten, die Revolte ist die Erfahrung des Todes zu denken und in diesem Denken bis ans Äußerste zu gehen. Deshalb bedeutet die Revolte für Bataille – anstelle der Machtergreifung – das Gegenteil von Handeln. Dies mag eine überraschende Perspektive auf die Revolte sein – so doch Subversion immer mit Aktion und Handlung gleichgesetzt wird. Dieses Nicht-Tun, von dem die Rede ist, ist aber nicht als ein Hinnehmen der Gegebenheiten zu verstehen. Es geht bei Bataille vielmehr um die Subversion des (Hegel’schen) Diktum des Tuns, der Operation, des Handelns, der Arbeit etc. – all jener Kategorien, die eine beschränkte Ökonomie hervorgebracht haben und in denen sich die Weigerung zur Verausgabung, zur Sinnlichkeit usw. ausspricht.

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Ismails Performance verdeutlich, wie gerade im Nicht-Tun, in der gesetzten Zäsur ein Subjekt, das nicht mehr kann, hervorgebracht wird und lässt indes die Frage nach der Konstitution des Subjekts selbst virulent werden. Indem Ismail Posen des Wartens – also der Unfähigkeit zu Handeln – tänzerisch hervorbringt, wird deutlich, dass er sich seinem eigenen Tod aussetzt. Hier findet keine spektakuläre Selbstverletzung oder dergleichen statt. Ismail wartet lediglich tanzend auf einer Parkbank unweit eines Panzers und tut weiter nichts. Kurz gesagt: Es zeigt sich in der Tat, dass der Zerfall der Zeiteinheit in der Performance mit der Thematisierung des Todes, d.h. mit dem Zerfall des Individuums, einhergeht. Ismails Performance verdeutlicht diesen Zusammenhang gerade durch das Fehlen einer linearen Zeitästhetik. Vielmehr wird die Zeit als solche spürbar und nähert sich gleichsam in ihrer Referenzlosigkeit der Erinnerung und dem Traum an. Obwohl die Geste des Wartens eine in die Zukunft gerichtete ist, gibt Ismails Performance das absolute Jetzt. Verstärkt wird die totale Gegenwärtigkeit durch die wissentliche Anwesenheit des Militärs. Es ist ein reales, grenzüberschreitendes Spiel des Nicht-Tuns, das dem »Jetzt« seinen Vorrang verschafft und den Tod in Betracht zieht. Sandra Umathums kürzlich erschienener Aufsatz über »Die Kunst des Abschiednehmens« hat am Beispiel von Christoph Schlingensiefs selbstinszenierten Sterben den Zusammenhang von realem Tod und Subjektkonstitution in der szenischen Kunst sehr treffend beleuchtet. In Erscheinung tritt er vielmehr als jemand, der seinen eigenen Tod thematisch werden lässt – und zwar nicht seinen womöglich in unbestimmter Ferne liegenden Tod, sondern und dies ist entscheidend, seinen Tod als eine Gegebenheit, deren Nähe und baldiges Eintreten Wahrscheinlichkeit beansprucht. Kunst wird hier zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vorbereitung auf den Tod, dem eigenen auf Prozess des Abschiednehmens oder anders gesagt zum Schauplatz des Höchstpersönlichen und gleichsam des existenziellen Bedrohung: dem finalen Selbstverlust und mithin jenem Moment, in dem man als Subjekt aufhört, noch länger Subjekt zu sein. 480

480 | Sandra Umathum: Die Kunst des Abschiednehmens, in: Friedemann Kreuder, Michael Bachmann, Julia Pfahl, Dorothea Volz (Hg.), Theater und Subjekt-

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Umathums Deutung der Schlingensiefschen Sterbelehre als ein Ineinander von »Zentrierung und Dezentrierung« des Subjekts im Sinne eines Annäherns und einer gleichzeitigen Distanznahme zum Tod spürt den Prozess des Loslassens und des Zerfall des Subjekts auf, der angesichts der Todesnähe sichtbar wird. Dies eröffnet eine Perspektive auf die Performance, die Baudrillards Überlegungen zur Gabe und Batailles Theorie als gemeinsames Kraftfeld ausweist. Innerhalb dieses Feldes zeigt sich eine theatrale Praxis, die den Tod als persönliche und existenzielle Bedrohung sichtbar macht und einen Prozess der Fragmentierung und der Überschreitung in Gang bringt. Präzis: In der Überschreitung der Ich-Grenzen liegt die prägnanteste Schnittstelle zwischen Batailles Theorie der Verausgabung, dem Gabenkonzept Baudrillards und »Waiting?!«. Die Überschreitung des Ich als Ankündigung einer Zerbrechlichkeit der Identität, als gegen ein kohärentes Selbst sich widersetzender Gestus, spiegelt genau jene Erfahrung von innerer Immanenz wider, die Bataille im Sinn hat, wenn er scheinbar paradox von der Kontinuität, dem brüchigen Bewusstsein, oder aber der Nacht und der Blindheit spricht. Was Umathum mit Dezentrierung des Selbst meint, beschreibt eben jene Entrückung des Subjekts, in dem es »nicht mehr können«481 kann und insofern auch im Levinasschen Sinn seine »Herrschaft als Subjekt«482 aufgibt. An dieser Stelle wird bei Bataille eine Erfahrung der eigenen Immanenz möglich, die die radikale Endlichkeit des Menschen als seine Kontinuität aufzeigt. Wenn Ismail seinen eigenen Tod »er-wartet«, stellt er sich im doppelten Sinn an den Rand der Welt und lässt los:

konstitution – Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, Bielefeld 2012, S. 253-262, hier S. 253-254. 481 | Emmanuel Levinas: Die Zeit und der Andere, Hamburg 1995, S. 47 (Hervorhebung im Original), zit.n. Umathum, a.a.O., S. 258. 482 | Ebd.

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Für denjenigen […], der den Tod zum Anlass nehmen kann, sich aus dem Zentrum zurückzunehmen, […] verändern sich die Gewichte. Er lässt sich los, indem er sich in die Welt zurück und in dieser an den Rand stellt. 483

In diesem Loslassen, welches sich gleichwohl als »ein sinnfälliges Bild für die im Subjekt angelegte Widersprüchlichkeit von Subjekt-Ich und Objekt-Ich […]«484 darstellt, kommt die Baudrillardsche Reversibilität zum Ausdruck. Es geht zum einen, um die Öffnung des reziproken Zyklus von Leben und Tod – das »An-die-Seite-Treten«485 kann hier auch als Platzmachen für Neues gelesen werden – und zum Anderen um die Restituierung der symbolischen Kraft des Todes. Jeder von uns wird so aus der Enge seiner Person herausgetrieben und verliert sich so weit als irgend möglich in der Gemeinschaft von seinesgleichen. Aus diesem Grunde ist es für ein gemeinsames Leben unabdingbar, sich an der Größe des Todes zu messen. 486

Den Tod als jene Bruchstelle des Systems und zugleich der Subjektkonstitution zu verstehen, bedeutet gleichsam, die Möglichkeit einer Subversion – sowohl der Ordnung des Systems, als auch der das Subjekt betreffenden Normen – aufzuspüren. Sprechen wir von der Hinterfragung eines stabilen Subjektes einerseits und einer subversiven Praxis des Los-Lassens andererseits, lässt sich erneut an die im Fatzer antizipierte Revolution erinnern, die ganz im Sinne Batailles »[…] in der Figur der Desertion […] als buchstäbliches Sich-Absetzen, als Ablassen, Nicht-mehr-Machen, Unterlassen […]«487 ausdrückt. Auch hier geht das Absetzen von einem fragmentierten, zerfetzten, instabilen In-Dividuum aus. Insofern stellt Ismails Performance auch die Frage nach dem revoltierenden Subjekt – bzw. dem Subjekt der Revolte und welche Rolle diese Revolte als Unterbrechung für die Konstitution von Subjektivität spielt. 483 | Ernst Tugendhat: Über den Tod, Frankfurt 2006, S. 51, zit.n. Umathum, a.a.O., S. 258. 484 | Umathum, a.a.O., S. 261. 485 | Ebd. 486 | Bataille: Œeuvres complètes Band VII, Paris 1970-1988, S. 245-246, zit.n. Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 21. 487 | Lehmann, Der andere Brecht, S. 253-254.

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Solch ein »Nicht-Tun« wie Ismail es in »Waiting?!« zelebriert, stellt mithin einen aktiven Zerfall, ein aktivisches Ablassen anstelle einer passiven Stagnation dar. Dieses Ablassen konterkariert als Unterbrechung – und dies ist das Bataille’sche Moment der Souveränität – das Projekt des Fort-Schritts. Ismails Performance sowie die anderen besprochenen ägyptischen Arbeiten umkreisen eben dieses Bataille’sche Moment der Unterbrechung, des Umbruchs, der Erschütterung und ihrer subversiven Kraft. Wie sonst lässt sich das Vorhaben einer Suche nach dem Chaos, dem Opfer, dem Tod, der Überschreitung des Tabus etc. in den Arbeiten erklären, ohne die Berücksichtigung des Potentials und der Kraft, die diese mit sich bringen. Insofern weisen die Kraftlinien, die sich zwischen Batailles Denken und den Performances ergeben, eine Perspektive auf, die über die Inszenierungszeit hinausgeht und die die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen vorantreibt. Die Rede ist von einem ästhetischen Aufbegehren, einer Überschreitung, die das Ästhetische selbst überschreitet und das Politische weniger ihrem Inhalt nach aufspürt, jedoch aber in der Unterbrechung desselben eine andere Form von Aufmerksamkeit, ja Wahrnehmung schafft. Kurz gesagt: Es geht um die ästhetische Verfasstheit der Möglichkeit, das Handeln zu zerstören.488

5. E kstase stat t H andeln – die innere E rfahrung der Ä sthe tik der V er ausgabung Es mag verlockend sein, die im Kontext der ägyptischen Revolte entstandene Kunst, und insbesondere solche, die sich als revolutionäre oder politische Kunst versteht – einerseits als paradigmatische Beispiele für die Bataill’schen Begriffe anzuführen und sie andererseits als gesellschaftsverändernde Maßnahmen zu überhöhen. So simpel steht es aber nicht – wie so oft bei Bataillle – um die Begriffe, weshalb auch bei ihm die Souveränität, die Revolte und die Gemeinschaft im Verlauf seiner Schriften zunehmend komplexere Formen annehmen.

488 | Vgl. Ebeling, Die Falle, S. 26.

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Man muss sich durchaus fragen, ob, vor allem in einer Gesellschaft, in der die Künstler marginalisiert am Rand der Gesellschaft tätig sind, Kunst überhaupt in der Lage istTabus zu brechen. Im Fall von Ismails Performance wissen wir nicht, wie das Ende der Performance aussieht oder aber ob und wie das Publikum reagiert hat. Das Video gibt eben jene Position des Zuschauers, aus der die Frage nach dem Politischen – unter anderem gedacht als Frage nach der Gemeinschaft – gewissermaßen erst hervorgeht, nicht preis. Dies Argument ließe sich aber auch umkehren und die Rolle der Kamera könnte hier als Intensivierung der Zuschauerposition gedeutet werden. Schließlich ist spätestens seit dem arabischen Frühling deutlich geworden, welche Rolle Handyvideos und andere neue Medien sowie ihre Verbreitungsmöglichkeiten über Internetplattformen gespielt haben. Dass sie machtvolle und gefürchtete Mittel der Unterwanderung, der Auflehnung und ihrer Dokumentation sind, lässt sich inzwischen von keinem System mehr ignorieren. Die Frage also, welche Gefahr von einem Tanz auf einer Parkbank ausgeht, erweist sich als sehr viel komplexer als man zunächst annehmen mag. In Rabih Mroués Lecture Performance »The Pixelated Revolution«489 geht es um eben jene Bedeutung der Handyvideos und Aufnahmen im syrischen Aufstand. In der Lecture-Performance zeigt Mroué selbstgedrehte Videoaufnahmen und Bilder der syrischen Aufständischen. In einer der Sequenzen sehen wir, wie ein Rebelle, während er seinem Mörder gewissermaßen durch die Linse ins Auge blickt, seinen eigenen Tod filmt. Plötzlich ändert sich die Perspektive des Videos, nun blickt der Zuschauer durch dieselbe Linse auf den Scharfschützen und wird so selbst zum Todesopfer. Der mit der Kamera anvisierte Scharfschütze sieht die Kamera, hebt sein Gewehr, zielt und drückt ab. Wir sehen unserem eigenen Abschuss zu. Mroués Feststellung »The Syrians are shooting their own death«490 meint deshalb den Todesschuss durch die Waffe und die Kamera gleicher489 | »The Pixelated Revolution«, Rabih Mroué (Regie), 2012. Die Video-Lecture-Performance hat die Verfasserin am 12.09.2012 auf der documenta (13) in Kassel gesehen. 490 | Rabih Mroué, The Pixelated Revolution, a.a.O. Das Zitat ist eine Niederschrift aus der Video-Performance.

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maßen. Indem Mroué dokumentarisches Kriegsmaterial zum Kunstakt macht, legt er die Macht der Bilder und das komplexe Geflecht von Opfer und Zeuge frei. Wenn wir dies nun auf Ismails Performance übertragen und davon ausgehen, dass Ismail sich selbst zum Abschuss freigibt und dies aber gleichzeitig zum »Videoshoot« macht, dann zeigt sich, dass gerade in der Entgrenzung des Politischen – schließlich filmt sich Ismail nicht beim Demonstrieren – hin zum Ästhetischen das subversive Potential der Performance liegt. Das Irrationale der Performance entspringt gerade der Tatsache, dass Ismail nichts weiter tut als auf einer Parkbank zu tanzen. Doch dabei bleibt es nicht. Die Anwesenheit der Kamera – und dies scheint hier evident – impliziert einen Zuschauer. Insofern setzt sich Ismail sowohl dem Abschuss der Militärs als auch dem Schuss der Kamera respektive des Zuschauers aus. Anders gesagt, Ismails Performance wird in ihrer doppelten Struktur des Schießens zur Gemeinschaftssache. Wie ist das zu verstehen? An Mroués Performance wird deutlich, dass die von der Kamera ausgehende Bedrohung ein Äquivalent zur Bedrohung des Gewehrs ist. Dahinter verbirgt sich jedoch eine andere Bedrohung, die wir mit Nancy bereits »Mit-Teilung« genannt haben. Die »Mit-Teilung«, sprich das gemeinsame Teilen der Kommunikation, ist der Antrieb der Gemeinschaft. Erst in ihr und durch sie entsteht Gemeinschaft – »[…] eine Gemeinschaft also, die ganz bewusst die Erfahrung ihrer Mit-Teilung macht.«491 So dies die Aufgabe der Gemeinschaft ist und gerade darin ihre politische Herausforderung liegt, ist Ismails »Mit-Teilung« als Aufforderung zur Kommunikation deutbar. Es ist die konkrete Forderung angeblickt zu werden. Ismail tanzt und sagt damit Seht her ich tanze und alle sollen es sehen. Dies ist keineswegs trivial, denn wir können davon ausgehen, dass zur Sperrstunde kaum Menschen unterwegs waren, die Kamera jedoch garantiert, dass die Performance ihre Zuschauer erreichen wird. Indem Ismail sich der Bedrohung bewusst aussetzt, macht er den Akt des MitTeilens, insbesondere im Kontext einer omnipräsenten Zensur zum essentiellen Thema seiner Performance. In dieser Mit-Teilung wird sich nämlich auch die Gewalt der Ordnung bzw. der Ordnungshüter zeigen. 491 | Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 54.

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Ismails Solo steht exemplarisch für das Bild einer sich mitteilenden, sich entwerkenden Gemeinschaft – es ist das Bild eines Einzelnen, der sich einer »Gemeinschaft im Chaos« mitteilt, die ihre Kraft gerade aus ihrer Unvollendung, ihrem heterogenen Zustand, schöpft. Die Gemeinschaft der Revolte ist deshalb die von Nancy konstatierte entwerkte Gemeinschaft, die Gemeinschaft des Exzesses und nicht die des Konsens. Wenn das Politische laut Nancy stets die Entwerkung der Gemeinschaft ist, dann meint dies insbesondere eine die Theorie übertreffende Praxis – eine Praxis also, die nicht in Form von politischen Parolen, sondern gerade in ihrer Unterminierung funktioniert. Die vorab gestellte Frage nach dem Tabubruch erfährt somit eine andere Reichweite. Es zeigt sich mit Bataille, dass es darum geht, eine Praxis freizulegen, die das Politische unmöglich macht. Der zu setzende (Tabu) Bruch ist schlichtweg nicht am Moralischen, sondern am Handeln selbst zu vollziehen. Und insofern berührt die Performance mehr als nur ein vordergründiges Tabu innerhalb eines Kunstakts. In genau jenem Bruch – sprich in der Distanznahme zur Produktivität, zur aktivischen Kreativität – besteht ein Abgrenzungsmechanismus der Kunst gegenüber dem Ökonomischen. Insofern betrifft die Zäsur nicht zuerst das Sittliche, sondern das Handeln, welches immer zu Gunsten des Sittlichen und nicht des Sinnlichen ausfällt. Dieter Thomä elaboriert dies sehr treffend in seiner Betrachtung der ästhetischen Freiheit.492 Wenn Thomä hier die Seite der Rezeption und der Passivität stärkt, so tut er dies, um den Begriff der ästhetischen Freiheit neu zu fassen und ihn zu rehabilitieren. Er geht damit geradewegs gegen das Missverständnis vor, ästhetische Freiheit und Praxis seien notwendigerweise Handlungen bzw. produktionistisch. In dieser Neufassung des Freiheitsbegriffs tritt die Rezeption – sprich die Seite der Empfänglichkeit – in den Vordergrund. Für die rezeptive Seite der Kreativität wählt Thomä den Begriff der Ekstase. Die Ekstase ist hier nicht nur eine sich vom Aktivischen der Handlung abgrenzende Kategorie, sondern zu allererst ein Zustand des »Außer-sichsein«, den wir zuvor mit Bataille und Nancy als absolute Innerlichkeit

492 | Dieter Thomä: Ästhetische Freiheit zwischen Kreativität und Ekstase. Überlegungen zum Spannungsverhältnis zwischen Ästhetik und Ökonomik, in: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, S. 149-171.

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bzw. als Bei-sich-Sein beschrieben haben.493 Bei Bataille finden wir dieses »Eins-Sein« mit der Welt als Restitution der Kontinuität wieder. Thomä beschreibt diesen Zustand als Kontemplation, die keine »natürliche Ordnung« mehr kennt und sich stattdessen über eine Situation des ekstatischen Kontrollverlusts auszeichnet. Ebenso wie Bataille geht es ihm um jenen Punkt, an dem das Subjekt sich nicht mehr bei einer »einzusehenden Ordnung der Welt« rückversichern494 – es sich selbst als Subjekt nicht mehr klar abgrenzen kann. Dieser Zustand der Hingabe – im wörtlichen Sinne ein sich Hingeben, ein Hineingeraten – widersetzt sich dem Paradigma von kreativer Produktivität. Mit Thomä präzisiert sich mithin das vom Bruch betroffene Tabu, die kritische Funktion des Ästhetischen sowie die damit implizierte MitTeilung einer Gemeinschaft. Spannen wir nun den Bogen zwischen den Begriffen, so zeigt sich, dass die eingangs unter anderem mit De Duve formulierte kritische Funktion des Ästhetischen mit Thomä um die Situation der Ekstase – sprich das Nicht-Tun präzisiert wird. Sie (die kritische Funktion) grenzt sich – wie wir bereits mit Bataille gesehen haben – auch bei Thomä von Prozessen der Erkenntnis ab und zeigt gleichzeitig auf – und hier kommen wir zum Zentrum der Bataille’schen Theorie – inwiefern sich das Ästhetische dem Ökonomischen widersetzt. Die ästhetische Freiheit über den Zustand der Ekstase – als einem der Handlung opponierenden – herzuleiten, gewährt der Ästhetik einen souveränen Bereich, der ganz im Sinne Batailles außerhalb einer beschränkten Ökonomie liegt. »Umgekehrt enthält die ästhetische Freiheit in dem Maße, wie sie sich an die Ekstase hält, ein Gegengift gegen jene Ökonomisierung.«495 In »Waiting?!« kulminieren die aufgeworfenen Fragen um die ästhetische Freiheit und die kritische Funktion, da sich dort in besonderem Maße die Performance einer gesteigerten Kontemplation aussetzt – gesteigert vor allem deshalb, weil das Geschehen in »Waiting?!« nicht nur dem Titel nach jegliche Form von Produktivität unterläuft. Sie widersetzt sich sowohl dem Primat der Nützlichkeit wie der Vernunft, gleichsam unterläuft sie jede Möglichkeit einer ideologischen Vereinnahmung.

493 | Vgl. Kapitel II insbesondere Abschnitt 1 sowie Kapitel III Punkt 5. 494 | Thomä, a.a.O., S. 165. 495 | Thomä, a.a.O., S. 168.

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Dass sich »Waiting?!« um die Situation des Sehens und Gesehenwerdens dreht, haben wir bereits gezeigt, auch dass die Performance dadurch auf eine Mit-Teilung abzielt, die auf eine Gemeinschaft referiert. Was allerdings neu ist, ist die Wendung zur Ekstase. Sie stellt hier die Revolte dar. Gemeint ist damit das Abstecken eines irrationalen Bereichs, in dem das Subjekt Außer-sich – ohne natürliche Ordnung – und in diesem Sinne souverän ist. Anstelle einer Mündigkeits- oder Autonomieerklärung geht es um die »Erfahrung« eines ausnahmslos machtfreien Zustands, der sich gerade durch die Distanznahme zur Produktion und somit auch zum politischen Projekt zeigt. Weil Ismails Performance aber real ist, sie zur Sperrstunde stattfindet und dem Zuschauer eine ästhetische Erfahrung des Ausnahmezustands ermöglicht, entfaltet sie auch ein ethisches, oder wenn man so will, kritisches Potential. Dies ist, was wir Eingangs als Revolte beschrieben haben und was eine Teilhabe, oder besser Mit-Teilung einer Gemeinschaft – ausgelöst durch einen Ausbruch an Souveränität – meint. Die hier beschriebenen Arbeiten fordern und fördern alle Situationen einer gesteigerten Kontemplation. Indem sie einerseits als Streetart die geläufigen Regeln des »Kunstkonsums« – positiv formuliert, der Teilhabe an Kunst – durchkreuzen, andererseits keine strikten oder eindeutigen Handlungsabläufe anbieten, verlangen sie ihrem Zuschauer eine andere – eine gesteigerte, vielleicht auch eine gestörte – Rezeptivität ab. Es ist eine Kontemplation, die über das Gekannte hinausgeht und darin, das Theoretische zu exerzieren und eine bewusste Erfahrung dieses Exzesses als Ereignis zu ermöglichen, besteht ihre Kraft – eine Kraft, die auch der Revolte eigen ist. Es ist diese Kraft, die das Spiel mit der Revolte verbindet, die jedem Spiel etwas Revoltierendes und jeder Revolte ein Spiel zu Grunde legt. Eine ästhetische Praxis, in der die Revolte und das Spiel eine gemeinsame Kraftquelle teilen und damit füreinander durchlässig sind, erweist sich gerade darin als verfemt, als sie die Sicherheiten und Gewissheiten um das was gut, richtig, falsch oder wahr zu sein scheint erschüttern, sie das Subjekt in einen Zustand jenseits der natürlichen Ordnung führen und ihm keine Handlungsvorlage mehr bieten. In genau diesem Sinn ist die Ästhetik bei Bataille als »[…] der letzte Schrei der Philosophie […]«496

496 | Vgl. Ebeling, Die Falle, S. 21.

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zu verstehen. Sie setzt an jenem Punkt ein, an dem die Philosophie in ihre Grenzen verwiesen bleibt: der Erfahrung. »[…] die ästhetische Lebensführung entfaltet auf diesem Wege ethische Potentiale, die etwa unter den Vorgaben der Kreativiät verschlossen bleiben würden.«497

497 | Thomä, a.a.O., S. 167.

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V. Schluss: Die Kraft der Verausgabung und die Ästhetik des Widerstands

[…] es würde pfeifen und dröhnen von den Fabriken, Werften und Bergwerken, Tresortüren würden schlagen, Gefängnistüren poltern, ein immerwährendes Lärmen von eisenbeschlagenen Stiefeln würde um sie sein, ein Knattern von Salven aus Maschinenpistolen, Steine würden durch die Luft fliegen, Feuer und Blut würden aufschießen, bärtige Gesichter, zerfurchte Gesichter, mit kleinen Lampen über der Stirn, schwarze Gesichter, mit glitzernden Zähnen, gelbliche Gesichter unterm Helm aus geflochtnem Bast, junge Gesichter, fast kindlich noch, würden anstürmen und wieder untertauchen im Dampf, und blind geworden vom langen Kampf würden sie, die sich auflehnten nach oben, auch herfallen übereinander, einander würgen und zerstampfen, wie sie oben, die schweren Waffen schleppend, einander überrollten und zerfleischten […] und ein Platz im Gemenge würde frei sein, die Löwenpranke würde dort hängen, greifbar für jeden, und solange sie unten nicht abließen voneinander, würden sie die Pranke des Löwenfells nicht sehn, und es würde kein Kenntlicher kommen, den leeren Platz zu füllen, sie müßten selber mächtig werden dieses einzigen Griffs, dieser weit ausholenden und schwingenden Bewegung, mit der sie den furchtbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen könnten. 498

Peter Weiss’ letztes Bild seiner Ästhetik des Widerstands beschreibt nahezu wirklichkeitsgetreu die Entwicklung der ägyptischen Revolution.499 498 | Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands, Dritter Band, Frankfurt 1981, S. 267-268. 499 | Am 04. Juli 2013 wurde der erste demokratisch gewählte Präsident Ägyptens Mohamed Mursi nach einem Jahr Regierungszeit vom Militär gestürzt und unter Arrest gestellt. Der Militärputsch wurde als legitime Entmachtung und als

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Verausgabung. Die Ästhetik der Anti-Ökonomie im Theater

Das Blatt hat sich gewendet und dort, wo bei Weiss der erfolgreiche Widerstand und die Freiheit im Konjunktiv stehen, haben die Menschen in Ägypten, »blind geworden vom langen Kampf«, in der Tat die Löwenpranke übersehen. Was nun aber bedeutet diese Entwicklung der Revolution für die von uns hier besprochene ästhetische Praxis? Widerlegt es Batailles Theorie von der Kraft der Revolte und weist die angeführten künstlerischen Arbeiten als Utopien aus? Zunächst einmal und dies haben wir zu zeigen versucht, geht es nicht darum, ein Theater der Revolution oder der Verausgabung und erst recht nicht irgendeiner Ideologie zu beschreiben. Die vorliegende Arbeit ist einem Theater auf der Spur, das sich kritisch an Ideologien abarbeitet, während es gleichsam die Kritik gegen sich selbst richtet, das heißt, ein Theater, das immer auch seine eigene Produktionsweise, das eigene Zurschaustellen hinterfragt. Auch Bataille weiß, dass die Bestreitung der bestehenden Ordnung durch die Kunst nicht ganz unproblematisch ist: Das Gefühl der Poesie ist gebunden an die Sehnsucht, nicht nur die Ordnung der Wörter zu verändern, sondern die bestehende Ordnung. Doch die Idee einer Revolution im Ausgang von der Poesie führt zu einer Poesie im Dienst der Revolution. 500

Das Verhältnis der Kunst zur Politik lässt sich demnach weder als symbiotisch noch als völlig isoliert denken. Die Rolle der Kunst im Zusammenhang des Widerstands ist weitaus komplexer, als es ein solcher Dualismus greifen könnte. Mit De Duve haben wir deshalb gefragt, wie sich die kritische Funktion der Kunst noch formulieren lässt, ohne weitere Strukturen von Macht zu etablieren. Denn wir wissen, dass in einer Zeit, in der die Dramatisierung der Gesellschaft, der öffentlichen, politischen und ethischen Diskurse unaufhörlich voranschreitet, »das Neomanagement ästhetische Züge«501 hat, die Kunst mehr denn je ihren eigenen Bereich, nämlich äsResultat der massiven Demonstrationen der Bevölkerung gegen die Regierung gerechtfertigt. Die Beschreibungen der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Veränderungen im vorangehenden Kapitel dieser Arbeit sind vor den jüngsten Entwicklungen, der Entmachtung und den mit ihr einhergehenden Machtkämpfen entstanden. 500 | Bataille, IE, S. 261. 501 | Thomä, a.a.O., S. 150.

Schluss: Die Kraf t der Verausgabung und die Ästhetik des Widerstands

thetisch und nicht funktional oder zweckmäßig zu sein, gegen andere Bereiche verteidigen muss, um nicht am Spiel »kreativer Produktivität« teilzunemen. Erst so wird die Auseinandersetzung mit den anderen Bereichen und Handlungsweisen – also dem Politischen usw. – bedeutungsvoll und erst so kann die Reflexion über diese Handlungsweisen von Bedeutung sein. Um die Kunst bzw. das Theater als souveräne – sprich vom Politischen unterscheidbare aber nicht getrennte – Praxis denken zu können, lautete die, mit Bataille formulierte Formel mithin: Ekstase statt Handeln. Denn eines ist schließlich deutlich geworden: Die Verausgabung betrifft das Handeln ebenso wie die Erkenntnis, der Gestus der Revolte betrifft die Praxis ebenso wie das rationale Subjekt. Die Ekstase wurde deshalb als jener Zustand des Außer-sich-Seins bezeichnet, in dem das vernünftige Subjekt sich als von seiner Vernunft getrennt erfährt, das zweckgerichtete Handeln aussetzt, der Primat der Nützlichkeit ausbleibt und sich eine Öffnung hin zum Vergessenen, Unbewußten, Schmerzhaften auftut. Insofern ging es in der vorliegenden Untersuchung darum, Arbeiten ins Feld zu führen, die sich gerade über ihren Modus der Unterbrechung, ihren verstörenden, ekelerregenden, beängstigenden, erotischen, berührenden, vergemeinschaftenden und transgressiven Charakter auszeichnen. Anders gesagt: Am Opfermotiv in Mroués Arbeit, am Schrecken in »Dark Matters«, am Aufzeigen einer Möglichkeit der Gemeinschaft in »Revolution Now«, am Modus der Gabe und der Unterbrechung in »Waiting?!«, am Fragmentarischen bei Brecht zeigt sich eine Verausgabungspraxis, die das Theater bzw. seine ästhetische Kraft über seine Dysfunktionalität bestimmt – will heißen, dass sich mit der Infragestellung des rationalen Subjekts, der Logik und der Vernunft, die sich in der Erfahrung der Ekstase auftut, eine ästhetische Kraft zeigt, die sich durch ihre Souveränität, ihre Unkontrollierbarkeit auszeichnet. In Christoph Menkes Ästhetik der Kraft finden wir diese Bestimmung wieder: Die ästhetische Kraft des Menschen erscheint; sie erscheint als Unterbrechung des vernünftigen Subjekts und seiner Praktiken. Wir wissen von unserer ästheti-

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schen Natur, weil wir die Erfahrung solcher ästhetischer Ereignisse ihres Erscheinens gemacht haben. 502

Die Natur des Menschen als Spiel dunkler Kräfte und dieses Spiel als ästhetisches zu begreifen macht – kurz gefasst – Christoph Menkes Grundbestimmung einer Ästhetik der Kraft aus. Bei Baumgartens Ästhetik angefangen, über Herders Kritik derselben hin zu Kant und letztlich Nietzsche entfaltet Menke seine Theorie vom Wirken »dunkler Kräfte« ohne Regeln und Zweck, das sich als Prozess der Ästhetisierung des Subjekts und seiner Vermögen zeigt. Das Ästhetische ist ein als Wirken einer »dunklen« Kraft ein Vollzug ohne Allgemeinheit, jenseits von Norm, Gesetz und Zweck – ein Spiel. Und das Ästhetische ist als Lust der Selbstreflexion ein Prozeß der Verwandlung des Subjekts, seiner Vermögen, seiner Praktiken – ein Prozeß der Ästhetisierung. 503

Der mit Herder eingeführte Begriff der »dunklen Kraft« fasst das Subjekt nicht von Seiten seiner erworbenen Vermögen und ihrer Reflexion, als unbewusstes Wirken ist sie (die Kraft) vielmehr jenes Merkmal, das den Menschen vom Subjekt unterscheidet. Als »andere Ästhetik« tritt die Ästhetik der Kraft einer Theorie, die die Vermögen des Subjekts untersucht, gegenüber und trifft stattdessen ihre Aussage über die Natur des Menschen – »[…] seiner ästhetischen Natur in Differenz zur übend erworbenen Kultur seiner Praktiken«.504 Insofern Menke in der Ästhetik die Differenz von Mensch und Subjekt aufspürt – eine Differenz, die dann auch das Wissen um diese dunkle Kraft tangiert – bewegt er sich auf dem Boden ästhetischer Anthropologie, die sich von eben jener philosophischen Artikulation eines vernünftigen und seiner Vermögen bewussten Subjekts distanziert, um die dunkle Kraft – also das Ästhetische – als Beginn der Genese des Menschen zu bestimmen. Das Ästhetische ist aber nicht nur eine anfängliche und vergrabene Natur des Menschen, das scheint hier entscheidend. Denn an dieser Stelle 502 | Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt 2008, S. 68. Im folgenden als »Kraft« zitiert. 503 | Menke, Kraft, S. 9. 504 | Ebd.

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zeigt sich der Vollzug und die Wirkmacht der dunklen Kraft: In der ästhetischen Situation, so Menke, fällt das Spiel dunkler Kräfte als Regression in den Zustand »vernünftiger Subjektivität« ein und transformiert nicht nur das Subjekt, sondern auch seine Praxis.505 In diesem Prozess erscheint also das Ästhetische als Transformation, d.h. das Ästhetische wirkt verändernd auf das Subjekt und seinen Selbstbezug, indem es als Ereignis ins Praktische einfällt und die übend erworbenen Vermögen zu ästhetischen macht. Dieser Prozess wird als ästhetische Selbstreflexion spürbar. In dieser Reflexion zeigen sich die Vermögen als Kräfte ohne Zweck oder normativen Gehalt, es geht nicht mehr um ihr Gelingen oder die Hervorbringung eines Guten. Vermögen und Zweck sind demnach im ästhetischen Ereignis voneinander getrennt. Die praktischen Vermögen sind mithin ästhetische geworden und das zeigt sich in der ästhetischen Selbstreflexion, die keine Reflexion im eigentlichen Sinne darstellt. Wenn Menke von ästhetischer Selbstreflexion spricht, grenzt er diese nämlich ganz deutlich von einer subjektiven Selbsterkenntnis im Sinne eines sich selbst vergewissernden Subjekts ab. Es geht demgegenüber um jenen Prozess, in dem es keine Vergewisserung mehr gibt, sprich eine Verwandlung, in der das Subjekt erfährt, dass die dunklen Kräfte nicht mehr die eigenen und somit auch nicht mehr unter Kontrolle sind. Es sind aber jemandes Kräfte – nicht in dem Sinn, daß sie wie Vermögen von einem Subjekt bewußt und gezielt ausgeübt werden, aber daß ich ihre Entfaltung als meine eigene erfahre; denn sie verändert, »belebt« mich. Im Prozeß der Ästhetisierung geschieht eine Selbstverwandlung: vom Subjekt, dem Teilnehmer und Ausübenden sozialer Praktiken, zum Selbst als Instanz dunkel spielender Kräfte. 506

Das Ästhetische ist demnach kein Zustand, sondern vielmehr ein Prozess bzw. eine Verwandlung. Der Übergang des Praktischen ins Ästhetische, der nur möglich ist, weil das Ästhetische gewissermaßen am Anfang bzw. vor allen Vermögen liegt, in der (Aus-)Bildung der Vermögen jedoch unterdrückt wurde, ist deshalb ein Akt der Regression. Diese Regression betrifft das Subjekt ebenso wie seine Selbstwahrnehmung, da es sich selbst – wie wir gesehen haben – nicht mehr als Subjekt, sondern als Instanz oder Medium dunkler Kräfte wahrnimmt und in diesem Sinne eine 505 | Vgl. Menke, Kraft, S. 73. 506 | Ebd., S. 83.

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Erfahrung der Getrenntheit von sich selbst als Subjekt macht. Denn in der sinnlichen Situation offenbart sich kein Können, sondern vielmehr, dass es eine dem Subjekt äußerliche Kraft gibt, die seine Vermögen belebt – sie zu spielen beginnen lässt. Es ist mithin eine der Subjektivierung entgegengesetzte Erfahrung: »[…] die Infragestellung des Subjekts im Namen der Kraft.«507 Diese Infragestellung – sprich der andere Zugang zu unseren praktischen Vermögen – wird in der ästhetischen Situation als lustvoll erlebt, weil das Spiel der Kräfte keiner Regel oder Bestimmung unterliegt. Dies bedeutet für die ästhetische Erfahrung gleichermaßen, dass sie keinen Zweck verfolgt und sich in ihr auch keine Erkenntnis offenbart – nicht einmal die von Kant propagierte Erkenntnis508, dass wir erfahren können. Diese Erkenntnis wäre für Menke zu Recht als Resultat einer philosophischen »[…] Selbstreflexion des Subjekts: seiner Erkenntnis als Subjekt, seiner Gelingen ermöglichenden Vermögen«509 zu verstehen, wovon sich die ästhetische Reflexion als zweckfreie doch gerade unterscheidet. Die Befreiung von dieser Zweckmäßigkeit, die Loslösung von der Logik, der Vernunft und der Erkenntnis, das freie und unbestimmbare Spiel macht schließlich das Lustvolle der ästhetischen Erfahrung aus. Somit kommt den Vermögen – also der das Subjekt bestimmenden Praxis – immer etwas zu, das außerhalb der philosophischen Erkenntnis liegt – eine dunkle und unbestimmbare Kraft. Dies bedeutet in letzter Konsequenz eine Trennung von Vermögen und Kraft, denn die Kraft ist das, woraus die Praxis hervorgeht und trotzdem bleibt sie unbestimmt. In diesem Umstand formuliert sich auch die Trennung von Subjekt und Mensch – bzw. die Infragestellung von Subjektivität. Liegt die Kraft unserer Vermögen im Dunkeln – d.h. dass wir nicht einfach nach den Möglichkeitsbedingungen des Gelingens unserer Praxis fragen können – dann betrifft dies ebenso unsere Erkenntnis von uns als Subjekt. Anders gesagt, die ästhetische Situation und die Erfahrung der sich im Spiel dunkler Kräfte gesteigerten Vermögen trübt oder besser verändert auch den Selbstbezug – also die Reflexion unseres Selbst.

507 | Menke, Kraft, S. 84. 508 | Vgl. S. 184. 509 | Menke, Kraft, S. 100.

Schluss: Die Kraf t der Verausgabung und die Ästhetik des Widerstands

Aus einer philosophischen Reflexion wird mithin eine ästhetische, d.h. die Infragestellung des Subjekts geht unweigerlich mit der Infragestellung des philosophischen Denkens einher. Ästhetische Ereignisse können aber nicht so gedacht werden, wie die Philosophie praktische Vollzüge denkt; die Verwandlung von praktischen Vermögen in dunkle Kräfte geschieht nicht wiederum durch die Ausübung eines praktischen Vermögens: Der Prozeß der Ästhetisierung der Praxis ist keine Praxis. Deshalb kann die Philosophie hier auch nicht nach gelingensverbürgenden Vermögen fragen. Indem die Philosophie Ästhetik wird und sich auf das Ästhetische richtet, richtet sie sich mithin auf etwas, das die Form des philosophischen Denkens selbst in Frage stellt. 510

Hier tut sich nun der Kreuzweg zu Bataille auf und Nietzsche tritt ins Bild. Er hat – wie Menke treffend feststellt – die Trennung von Vermögen und Kraft am konsequentesten gedacht und gleichsam einen autonomieästhetischen Anspruch sowie die ethisch-politische Bedeutung jener autonomen Kunst formuliert. »Er betont den kategorialen Unterschied des Ästhetischen gegenüber den kognitiven und moralischen Praktiken und sieht im Ästhetischen zugleich die entscheidende Macht ihrer Veränderung.«511 Diesen Doppelzug schafft Nietzsche, indem er die Kunst fundamental vom zweckgeleiteten Handeln trennt. »Das Können des Künstlers besteht in einem Nichtkönnen: Sie können ›nicht-zu-wissen‹ […]«512 Dieses Nichtkönnen erreicht der Künstler im Zustand eines Rausches, den Nietzsche in der »Geburt der Tragödie« auch als dionysischen Zustand beschreibt. Es ist der gesteigerte und sich ohne Kontrolle entladende Ausbruch von Kräften respektive ästhetischen Ausdrucks. In diesem Ausnahmezustand teilt sich der Künstler als berauschter in seiner Empfindsamkeit, seiner darstellenden Kraft mit. Aus der Enge des Subjekts herausgetrieben vollzieht sich eine Verwandlung, die sich in der Unfähigkeit einer bewussten Tätigkeit und ihrer Reflexion bestimmt. »Deshalb ist der Mensch im Zustand rauschhaft gesteigerter Kräfte durch eine wesentliche Unfähigkeit

510 | Menke, Kraft, S. 104. 511 | Ebd., S. 108. 512 | Ebd., S. 110.

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definiert […] die Unfähigkeit zum Handeln als die zum ästhetischen Reagieren-, Sichausdrückenmüssen.«513 In dieser von Menke rekonstruierten Handlungskritik Nietzsches liegt nun die Möglichkeit, die Verkettung der Bataille’schen Begriffe in zweierlei Hinsicht und in Anbetracht der geleisteten Untersuchung theatraler Praxis zu resümieren. Es geht um die Übersetzung des Bataille’schen Diskurses zwischen ästhetischer Theorie einerseits und der Formulierung ihrer ethischen bzw. politischen Bedeutung andererseits. Die Kraft der Kunst über ihre Dysfunktionalität zu bestimmen und sie so vom Denken der zweckgeleiteten Tätigkeit – dem Primat des Tuns – zu befreien, d.h. ihr einen irrationalen Bereich zuzuweisen, in dem sie sich frei bewegt, bedeutet jene Bataille’schen Begriffe in nuce auf den Plan zu rufen, die wir im Verlauf der Arbeit an den verschiedenen künstlerischen Beispielen zu veranschaulichen suchten. Mit Menke ließe sich nun präzisieren, wie also die von Bataille gesuchte Erfahrung – auf deren Suche er sich von Nietzsche inspiriert begeben hat – aussieht. Diese innere Erfahrung ist charakterisiert als Erfahrung des Unbekannten, die im Zustand der Ekstase, des Rausches, des Außer-sichSeins gemacht wird. Sie bedeutet die Möglichkeit, »alles rastlos in Frage zu stellen«514 auch oder vor allen Dingen sich selbst. Hier zeigen sich nun bereits die Berührungspunkte zu Menkes Ästhetik der Kraft, die in der ästhetischen Situation ebenfalls von einer Infragestellung des Subjekts ausgeht. Im gesteigerten Spiel dunkler Kräfte erfährt sich der Mensch als Mensch und nicht als Subjekt. Bei Bataille entspricht dies genau jener ekstatischen Erfahrung der Kontinuität des Menschen, die er durch seinen Eintritt in die Welt der Arbeit und seine Bestimmung als Zweck verloren hat. Präzis an diesem Punkt liefert Bataille aber eine Beschreibung bestimmter Formen und Situationen, die eine solche Erfahrung ermöglichen. Es sind all jene Formen der Verausgabung, das Lachen, das Opfer, die Poesie, die Ekstase, die Erotik usw., die sich der diskursiven Erkenntnis verschließen und den Selbstverlust des Subjekts hervorrufen. Wenn Menke in der Trennung von Kraft und Vermögen und in der Befreiung vom Können – sprich dem Primat der Handlung – die Bestimmung der ästhetischen Erfahrung begründet sieht, so tut er dies ganz im 513 | Ebd., S. 113. 514 | Bataille, IE, S. 13.

Schluss: Die Kraf t der Verausgabung und die Ästhetik des Widerstands

Sinne Batailles. Bataille aber präzisiert jene Situationen, die eine ästhetische Verwandlung ermöglichen um die Verausgabung und ihre exuberanten Phänomene. Die Spur jener Verausgabungsformen im Theater zu suchen, entspricht auch der Suche nach einer Öffnung, einer Lücke oder besser einer Bewegung, die dieses Spiel dunkler Kräfte in Gang setzt und mithin eine andere – nämlich spezifisch ästhetische – Erfahrung vorantreibt. Warum nun aber sollten ausgerechnet die Formen der Verausgabung, das Opfer, die Erotik, die Poesie, der Tod, das Risiko, das Lachen usw. jene Erfahrung ermöglichen? Was zeigt sich in dieser Spur der Verausgabung anderes, was bringt sie anderes an den untersuchten Arbeiten hervor? Die vorliegende Arbeit ging von dieser Fragestellung aus. An den untersuchten Arbeiten sowie in Bezug auf Batailles Theorie wurde gezeigt, inwiefern das Opfer bei Mroué, der Schrecken in »Dark Matters«, die Gemeinschaft bei Gob Squad oder die Mit-Teilung bei Ismail den Unterschied zu einer – sagen wir – »handllungsorientierten« Ästhetik ausmachen bzw. eine ästhetische Kraft entfalten, die sich durch »[…] ihre eigentümliche Fähigkeit, die Gesamtheit der Zeichen zu vernichten, die die Sphäre der Aktivität ausmachen«515 dem Tun widersetzt. Welche Konsequenzen ergeben sich nun daraus für eine Betrachtung des Theaters bzw. einen theaterwissenschaftlichen Diskurs, der danach fragt, wie sich das Ethische im Hinblick auf eine Ästhetik der Verausgabung zeigt? Führen wir uns eines noch einmal vor Augen: Bataille geht es letztendlich immer um die Freiheit: die Freiheit vom Handlungszwang, der Knechtschaft, dem Primat der Nützlichkeit, der beschränkten Ökonomie, dem Moralismus, der Vernunft usw. Sein ganzes Denken umkreist die Möglichkeitsbedingungen eines freien Menschen, der nicht mehr vernünftiges Subjekt ist. Die Verausgabungsformen sind gewissermaßen Reste einer vormals freien Kraft, sie sind der Spalt, die Öffnung oder der Katalysator, der die Kräfte zumindest für eine gewisse Zeit wieder zum Spielen bringt und das Subjekt in den Zustand der Ekstase versetzt. In diesem Zustand, den Menke als ästhetischen beschreibt, ist das Subjekt frei – also kein Subjekt mehr. Diesen Spalt bzw. diese Falle stellt das Theater uns gerade dann, wenn es ein anderes Spiel als das der Produktivität, des Nutzens, der Logik usw. 515 | Bataille, IE, S. 260.

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in Gang setzt. Oder andersherum, weil das Theater das Böse, das Verfemte und Verstoßene, die Exuberanz zulässt, bietet es die Möglichkeit einer anderen – nämlich ästhetischen oder wie Bataille sagen würde, inneren Erfahrung. Diese Erfahrung bzw. die sie hervorbringende Ästhetik im Kontext einer Theorie der Verausgabung zu lesen, ihre Verbindung und Wirksamkeit zu untersuchen, eröffnet ein Feld, auf dem sich zwei Freiheitsbegriffe verknüpfen lassen – die ästhetische Freiheit und die Freiheit des Menschen. Die Stärke einer Theorie der Verausgabung ist, dass sie die Gewalt der ästhetischen Erfahrung ästhetisch fasst und nicht psychologisch. Deshalb lässt sich die ästhetische Freiheit in Verknüpfung mit den Formen der Verausgabung als Erfahrung von Freiheit formulieren. Wir erinnern uns, bei Rebentisch geht es um einen Begriff von Souveränität, »[…] der dem Moment der Distanz vom Sozialen als einem konstitutiven Moment unserer Freiheit Rechung trägt.«516 Anders gesagt, dort wo die Spur der Verausgabung in der ästhetischen Praxis zu lesen ist, also gerade dort, wo die Arbeiten in der radikalen Abweichung (der Sprache, des Körpers, der Zeichen) sich selbst als Repräsentation sowie das vernuftsmäßige Subjekt in Frage stellen und in diesem Sinne souverän sind, wird das Politische hervorgebracht. Die ästhetische Freiheit und das Soziale bzw. Politische werden hier zusammengebracht und als gegenseitige Dynamisierung gedacht. Wie wir gesehen haben, zeigt sich dies am Beispiel der Gemeinschaft auf profunde Weise: Die Möglichkeit der Gemeinschaft besteht nur in ihrer Entwerkung, wie wir mit Nancy gezeigt haben. Sie ist nur als entwerkte, also als Gemeinschaft ohne Werk zu denken – in der der Einzelne gerade keine Innerlichkeit erfahren, jedoch diese Erfahrung des »Außersich-Seins« oder der Ekstase machen kann. Eine Ekstase, in die das Subjekt gerät, wenn es seine Endlichkeit (in) der Gemeinschaft (mit)teilt. Das Paradoxe daran ist das Unmögliche dieses »Zusammenseins«. Unmöglich deshalb, weil sich in dieser Mit-Teilung kein Sinn und keine Wahrheit offenbart bzw. ihr Zustandekommen gerade auf ihrer Entwerkung – also dem Gegenteil von Einheit und Wahrheit – fußt. Insofern ist die entwerkte Gemeinschaft immer eine schwindende und zugleich unmögliche. An der zeitweiligen und paradoxen Gemeinschaft, wie sie beispielsweise bei Gob Squad zustande kommt, zeigt sich jener Antagonismus, der die »un-

516 | Rebentisch, Hegels Missverständnis der ästhetischen Freiheit, S. 187.

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willkürlichen, irrationalen, anarchischen«517 Impulse in einen Begriff von Freiheit integriert, der jenseits vernunftsmäßiger Subjektivität operiert.518 Diesen antagonistischen Modus, der alle die Verausgabung betreffenden Formen affiziert, können wir als Grundbestimmung für die hier behauptete Verbindung von ästhetischer Autonomie und Freiheit festmachen. Es ist ein Modus der Störung – ein Schritt fort519, eine Sabotage520, »[…] die gegen die Gesetzmäßigkeiten der Bewegung des Denkens aufgeboten wird«521 um so das Unmögliche zu erfahren – oder besser eine andere Art der Erfahrung zu ermöglichen. Dieser Modus ist konstitutiv für Batailles Denken, »[…] als Agent einer Unaussprechlichkeit«522 exerziert seine Sprache diesen performativen Modus, in dem die begriffliche Repräsentation fortwährend unterbrochen wird. Es geht darum, eine Ebene der Erfahrung des Unbekannten, des Sinnlichen zu schaffen, in der die vernunftsmäßige Selbstbestimmung gestört ist. Während für Bataille jedoch immer das Paradox bestehen blieb, im Moment der Versprachlichung die Zerstörung des Sinnlichen voranzutreiben – gemeint ist die Problematik über eine innere Erfahrung, die Erotik usw. zu schreiben, ohne sie der Zerstörung preiszugeben – zeigt sich auf der Ebene des Spiels, im Stattgeben einer ästhetischen Erfahrung, die Möglichkeit einer Ahnung oder einer Spur dessen, was das Sinnliche oder das Unbekannte, der Schrecken oder das Opfer, die Gemeinschaft oder der Tod sein kann – selbst wenn diese Ahnung sogleich wieder entgleitet. 517 | Ebd., S. 184. 518 | Ebd. 519 | Lehmann sieht in seinem Aufsatz »Ein Schritt fort von der Kunst (des Theaters)« gerade in der Erfahrung des Bruch des Ästhetischen – im Schritt fort von der Kunst – das heißt in der Verunsicherung über das, was rein ästhetisch bzw. ethisch ist, die Möglichkeit einer ethischen Erfahrung auf der Ebene ästhetischer Wahrnehmung. Auf diese Weise unterläuft Lehmann die strikte Trennung der Kunst vom Politischen bzw. Ethischen (vgl. Hans-Thies Lehmann: Ein Schritt fort von der Kunst (des Theaters). Überlegungen zum postdramatischen Theater, in: Kunst, Fortschritt, Geschichte, S. 169-177). 520 | Vgl. Ebeling, Die Falle, S. 23 521 | Ebd. 522 | Ebd., S. 28.

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An den besprochenen Arbeiten haben wir diesen Moment eines Aufblitzens der ästhetischen Kraft herausgearbeitet. Es sind solche Arbeiten, die durch ihr Auf brechen, ihr Fragmentieren, ihre Sprache, den Klang, ihre Körperverwendung, ihre Widersinnigkeit, ihre Mit-Teilung, ihre Gesten, ihre Zeit – also ihre ganzes Verausgabungsmaterial eine ästhetische Situation schaffen, die gleichsam ein Risiko und einen Widerstand hervorbringen. Und genau an diesem Punkt kommt die ethische Dimension ins Spiel: Der hier beschriebene Antagonismus, der in der ästhetisierten Position eine Unterbrechung und Infragestellung ermöglicht, führt einen Stachel tief in die Sicherheiten um die eigene Identität ein. In diesem Ereignis wird eine Kraft freigesetzt, die wir mit Menke und Bataille als rauschhafte Handlungsunfähigkeit im Sinne einer Regression bestimmt haben. Diese Erfahrung des Bruchs, die wir nun Widerstand nennen werden, entspricht einer Bewegung, »[…] in deren Verlauf die Vernunft sich aufgibt und dann durch ihre Beurlaubung verworfen wird […]«.523 In solchen künstlerischen Arbeiten, die das Risiko eingehen zu verstören, zu entblößen, zu beängstigen, schmerzhaft, ekelerregend, unverständlich, zersetzt, verlangsamt zu sein – also eine Spur der Verausgabung in sich tragen, […] geraten [wir, Anm. d. Verf.] durch einen Sprung in eine Situation, die nicht mehr durch nützliche Verfahren definiert ist oder durch das Wissen, selbst verstanden als Entzug des Wissens, sondern die sich einem Verlust der Erkenntnis öffnet, der Möglichkeit, sich zu verlieren ohne möglichen Kontakt mit der Erkenntis. Dieser Zustand, ein Zustand der Gewaltsamkeit, der Entreißung, der Beraubung, der Verzückung, wäre in allem der mystischen Ekstase vergleichbar […]. 524

Es ist dieser Sprung, der ein Hineingeworfensein ins Ethische bedeutet. Und es ist jene Verfasstheit der hier untersuchten »Spielweisen« – nicht auf der diskursiven Ebene oder der Ebene der Handlung, jedoch durch die ästhetische Erfahrung, die sie ermöglichen – eine »positive Kollision« zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen zu bewirken. Durch das Aussetzen der Erkenntnis und weil das Theater sich in seiner Materialität

523 | Blanchot, Die innere Erfahrung, S. 280. 524 | Ebd.

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immer auch als Reales ereignet525, führt es uns unweigerlich in die Nähe eines »realen Spiels«526, in dem das Selbst riskiert wird – in einen Ausnahmezustand. Die Rede ist hier von einem Moment radikaler Unsicherheit, in der wir mit einer ethischen Situation durch den Kollaps unserer normativen und moralischen Gewissheiten konfrontiert werden. Eine Ästhetik der Verausgabung ist die Beschreibung einer solchen ästhetischen Praxis des Risikos, in ihr verbinden sich die ästhetischen und ethischen Begriffe aufs engste. Wenn wir eingangs angesichts der krisenhaften Lage unseres Zeitalters nach einer Möglichkeit gefragt haben, eine theoriegeleitete Analyse für jene ästhetische Praxis der Unterbrechung, des Risikos, der Exuberanz und ihrer politischen Konsequenzen zu formulieren – so kann die hier vorgeschlagene Ästhetik der Verausgabung dies liefern. Ohne das Theater zur Hüterin der Ethik zu erklären, formuliert sich hier dennoch ein politischer Anspruch der Ausnahme. Es kann nicht darum gehen zu behaupten, das Theater oder die szenische Kunst liefere Antworten auf die Krisen unserer Zeit – oder gar das Schicksal bzw. die Verfasstheit des Menschen. Im Gegenteil: Es geht der Verausgabung als theaterwissenschaftliche Kategorie gerade darum, keine Antwort zu liefern, die die Dinge klarstellt oder zumindest keine solche Antwort, die die In-Frage-Stellung wieder aufheben würde. Dies ist der hier behauptete Widerstand, der Stachel, den das Theater versetzt – verstanden als eine Weigerung, die Wogen zu glätten, die Widersprüche auszutreiben, um Licht ins Dunkel zu bringen.

525 | Für Lehmann besteht gerade in der Tatsache, dass die Theatermittel »[…] niemals rein ästhetisch fungieren können, weil sie die ethische Dimension des realen (nicht des dramatisch fingierten) Anderen stets ganz materiell und praktisch in die theatrale Kommunikation hineintragen« die Verbindung der beiden Sphären. (Lehmann, Ein Schritt fort von der Kunst (des Theaters). Überlegungen zum postdramatischen Theater, S. 176). 526 | Blanchot findet für diese Situation des »realen Spiels« »in dem ich alles Risiko voll ausschöpfe« das Bild des Würfelwurfs: »Es ist der glückliche (Würfel-) Wurf, der mir erlaubt, nicht zu gewinnen, sondern bis zum Ende zu spielen, das, was ich bin, aufs Spiel zu setzen in einem extremen Gefühl, in dem ich alles Risiko ausschöpfe […] Man setzt sich nur aufs Spiel, d.h., man setzt nur auf den Tod, in der Chance des Spiels.« (Blanchot, Die innere Erfahrung, S. 283.)

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»Das entschlossene Subjekt sucht sich selber, verabredet sich mit sich selber in einer günstigen Dunkelheit. Es setzt sich selbst aufs Spiel, keine Objekte, und vollständiger als durch Rauschgift.«527

527 | Bataille, IE, S. 260.

VI. Ausblick

Zweifellos um sie besser zu ruinieren, habe ich die Erkenntnis weiter vorangetrieben als sonst jemand, und ebenso ist die Forderung, zu der mich die Perhorreszierung der Moral führt nur eine Hypertrophie der Moral. 528 Was im Lachen verborgen ist, muß verborgen bleiben. Wenn unsere Erkenntnis weitergeht und wir dieses Verborgene, das Unbekannte, das die Erkenntnis zerstört, erkennen, dann muß diese neue Erkenntnis, die uns blind macht, im dunkel (in dem wir uns befinden) gelassen werden, so dass die anderen auf naive Weise blind bleiben können. 529

Die ethische und ästhetische Freiheit über den Begriff der Verausgabung zusammenzubringen und die szenische Kunst als den Ort dieser Zusammenkunft auszumachen, war das erklärte Ziel dieser Arbeit. Ausgegangen sind wir von einer katastrophischen und krisenhaften Situation der Moderne, die in der szenischen Kunst vielfältig reflektiert wird. Eine Modernitätsbestimmung, die das Prekäre530 zur ihrer Grundkategorie erklärt, wird zur Schablone zahlreicher Inszenierungen. Die doppelte Bewegung der zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensbe-

528 | Bataille, IE, S. 191. 529 | Ebd., S. 220. 530 | Vgl. Pewny, Drama des Prekären, S. 297.

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reiche einerseits – die Kunst eingeschlossen – sowie die Ästhetisierung der Ökonomie andererseits, liegt dem zu Grunde. »Das Eindringen ökonomischer Strukturen in das Subjekt«531 hat, wie Byung-Chul Han zeigt, das Leistungssubjekt – jenen »[…] Menschentyp, der im Begriff steht en masse Wirklichkeit zu werden, kein souveräner Übermensch, sondern der letzte Mensch […] der nur noch arbeitet«532, hervorgebracht. Dieses krankende Subjekt, dem jede Souveränität fehlt, steht im Mittelpunkt vieler »Dramaturgien der Ökonomie«. Angesichts dieser Diagnose und der mit ihr einhergehenden Problematik eines sich politisch verstehenden Theaters und seiner Vereinnahmung durch die »ästhetischen Strategien« und »kreativen Potentiale« des Kapitalismus533 haben wir die Frage aufgeworfen, welche Möglichkeiten der ästhetischen Praxis es jenseits des Modells der Handlung geben kann. Wie ist ästhetische Praxis denkbar, ohne dem Spektakel und dem Primat der Kreativität, der Selbsterfindung, der Produktivität, der Rentabilität etc. anheim zu fallen. Anders gesagt: Welche ästhetischen Phänomene bringen Freiheit hervor – Freiheit in der sozialen Praxis und der Ästhetik? Mit Bataille – einem Denker, der aufs intensivste das souveräne Sein gedacht hat – haben wir uns auf die Suche nach jener Praxis der Verausgabung gemacht, die der Ökonomie das Gegengift sein soll. Batailles Freiheitsdiskurs beginnt bei Hegels Dialektik von Herr und Knecht – wir haben gezeigt, wie die Bataille’schen Begriffe der Souveränität, des Opfers, der Subversion, des Sinnlichen etc. mit der Dialektik verwebt sind bzw. diese »unterbieten«.534 Die Dialektik über den Begriff des Tuns in Frage zu stellen535, bedeutet aus Batailles Perspektive den Freiheitsbegriff neu – nämlich im Sinne einer »Unterwanderung« anstelle der »Ausübung von Macht«536 – zu denken. In diesem Denken zeigt sich, dass selbst der Herr innerhalb der Dialektik Knecht bleibt. Dies ist der Betrug des Herren : »La tricherie du Maître est clair dès l’abord. Car le

531 | Pewny, Theatricum Europeum Precarium, S. 17. 532 | Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2012, S. 23. 533 | Vgl. Pewny, Theatricum Europeum Precarium, S. 15. 534 | Vgl. Ebeling, Die Falle, S. 23. 535 | Ebd. 536 | Bischof, Souveränität und Subversion, S. 11.

Ausblick

Maître commande l’Esclave, et dans cette méssure, il agit au lieu d’être souverainement, dans l’instant«.537 Lange bevor es den Diskurs über das »Leistungssubjekt« der »Müdigkeitsgesellschaft« gab, zeigt uns Batailles Analyse, ein Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft, dessen Rang ihm nicht mehr über die Verausgabung, zu der es fähig ist, sondern lediglich über sein Tätigsein, also seine Arbeitskraft, zukommt. Hans aktuelle Diagnose der »Müdigkeitsgesellschaft« lässt sich geradewegs mit Batailles Kritik der beschränkten Ökonomie verbinden. Dass der Herr in dieser Diagnose sich selbst zum Knecht macht, also die Herschaftsinstanz sich in das Subjekt verlegt, lässt sich als eben jenen Betrug des Herren im Sinne Batailles ausmachen. Die Dialektik von Herr und Knecht führt am Ende nicht zu jener Gesellschaft, in der jeder ein Freier ist, der auch zur Muße fähig wäre. Sie führt vielmehr zu einer Arbeitsgesellschaft, in der der Herr selbst ein Arbeitsknecht geworden ist. In dieser Zwangsgesellschaft führt jeder sein Arbeitslager mit sich. 538

Deshalb stellt die authentische Souveränität, die jenseits des Begriffs des Tuns operiert, für Bataille den einzigen Weg aus aus der Knechtschaft der Herrschaft – dem »dialektischen Teufelskreis« – dar. Dies ist der Spalt, den Batailles Theorie einer Kritik öffnet, die widerständisch zur Vereinnahmung durch das Kapital steht. Die notion de dépense ist der Keil, der diesen Spalt offen hält. Unsere vorangegangene Frage – wie ästhetische Praxis jenseits der Kreativwirtschaft denkbar wäre – erfuhr mit der Verausgabung als einem Begriff, der das Ästhetische und das Ethische über eine spezifische Erfahrung zusammenbringt, eine erste Spur. Dies war der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. In der Studie dieser Spuren der Verausgabung hat sich an den konkreten Beispielen ein elementares Merkmal gezeigt, das hier Anlass zum Ausblick gibt: die »transformatorische«539 Erfahrung der Verausgabung. 537 | Bataille, Œuvre complètes, Band XII, S. 447, zit.n. Ebeling, Die Falle, S. 444. 538 | Han, a.a.O., S. 37. 539 | Der Begriff des transformatorischen Theaters wird bezugnehmend auf Katharina Pewny verwendet, die sich mit ihrer Begriffswahl an Diana Taylors Definition des Performatorischen (performatic) anlehnt. Taylor bezeichnet hiermit »[…] kulturelle Erinnerungen, die im Körper wohnen und nicht notwendig in Kulturen der

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Lassen wir die Beispiele kurz Revue passieren: In Dark Matters zeigt sich das transformatorische Potential in der tragischen Erfahrung von eleos und phobos. Die Zuschauerin macht hier in der Konfrontation mit den Schreckensbildern der Angst, des Unbekannten, des Bösen etc. eine wahrnehmungsästhetische Erfahrung der Intensität. Die Transformation betrifft hier zuallererst die Wahrnehmung. Bei Janša und Mroué geht das Transformatorische aus dem Motiv des Opfers hervor. In beiden Performances geht es um das restlose AufsSpiel-Setzen – um die Auf-Gabe. Die Verwandlung attackiert hier in erster Linie die Performer, die ihre Identität opfern, affiziert aber auf der Ebene der Reflexion ebenso den Zuschauer. Das Irrationale und die Unbegreiflichkeit dieses körperlosen Opfers, der Exzess von Wirklichkeit und Künstlichkeit führen zu verstandesmäßigen Leerstellen. In Gob Squads Revolution Now! zielt die Verwandlung erklärtermaßen auf die Entwerkung der Gemeinschaft ab. Damit einher geht die Beantwortung der Frage welche Art von Gemeinschaft im Kontext allgegenwärtiger Globalisierungs-, Partizipations- und Medialisierungsprozesse überhaupt erstrebenswert ist. Dass in der Performance eine paradoxe Gemeinschaft getrennter Singularitäten, die die Erfahrung ihrer Endlichkeit teilen, zustande kommt und dies eine Überarbeitung des Gemeinschaftsbegriffs nach sich zieht, haben wir gezeigt. Die ironische Inszenierung der Zuschauerpartizipation wirft in Revolution Now! ein neues Licht auf das Verhältnis von Partizipation und Gemeinschaft in der ästhetischen Praxis und weist Begriffe der Einswerdung wie »Volk«, »Nation«, »Einheit« usw. als überholt aus. An den Arbeiten der ägyptischen Künstlerinnen hat sich das transformatorische Potential am komplexesten erwiesen. Die ungesicherte und »prekäre« Ausgangslage bzw. das politische, soziale und moralische Vakuum schien hier als besondere Intensivierung transformatorischer Prozesse zu wirken. Wo in »BuSSy« die Transformation von Privatheit und Öffentlichkeit auf der sprachlichen Ebene stattfand, hat sich bei »Waiting?!« die Transformation als radikale Zäsur gezeigt. Das Nicht-könnenKönnen in »Waiting?!« offenbart sich angesichts der Sterblichkeit, der

Schriftlichkeit fixiert sind.« Transformatorische Aspekte des Theaters verstehen sich in diesem Sinne ebenfalls als kulturelle Erinnerungen (vgl. Pewny, Das Drama des Prekären, S. 179).

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sich Ismail aussetzt, als radikale Zäsur des Politischen. Die Transformation haben wir hier als Revolte beschrieben. Kurz gefasst: Die vielfältige und heterogene Praxis der Verausgabung im Theater bringt ein transformatorisches Potential hervor, das sowohl die Performer, die Zuschauerinnen, als auch das Material selbst (Sprache, Körper, Zeichen, Raum, Zeit etc.) betrifft. Die Rede ist von einem Verwandlungsprozess, der dem Zuschauer, wie den Performerinnen die Möglichkeit einer gesteigerten Wahrnehmung eröffnet. In dieser Situation – auch wenn sie möglicherweise nur auf die Aufführungszeit beschränkt bleibt – existiert die Chance einer Veränderung der (Selbst-) Wahrnehmung. Diese Verwandlung fußt auf einem imaginativen Prozess – oder besser, einer Erinnerung an eine vormals existente heterogene Wirklichkeit. Es ist eine grundlegende Kraft der Verausgabung, in der Konfrontation mit dem Tod, der Sterblichkeit, dem Eros, dem Wahnsinn, dem Opfer, der Gabe usw. diese Erinnerung hervorzubringen. Das heißt, dass diese wirkungsästhetischen Prozesse insbesondere dort zum Tragen kommen, wo Formen der Verausgabung ein Spiel gesteigerter Kräfte in Gang setzen. Wenn die »Transformation […] seit Jahrhunderten als zentraler Mechanismus des Theaters angesehen«540 wird, so lässt sich – angesichts der voranschreitenden Ökonomisierung des Subjekts und der scheinbar unmöglich gewordenen Kritik an derselben – die Ästhetik der Verausgabung im Theater als Erinnerung an einen Widerstand – nämlich gegen das Handeln – denken. In diesem Widerstand artikuliert sich zweierlei, nämlich dass es einen Bereich jenseits des Handelns und dem Primat der Nützlichkeit gibt – einen irrationalen Rest, der trotz der Ökonomisierung der Gesellschaft zurückbleibt – und dass dieser Rest mit Formen der Verausgabung verknüpft ist, die ihrerseits eine subversive Praxis, ein gleitendes Zersetzen unserer (Selbst-)Gewissheit und Erkenntnis sind. Ein Theater, das dem Verfemten und Exuberanten einen Raum gewährt, das den störenden Stachel, von dem zuvor die Rede war, so tief eintreibt, dass die Erinnerung an unsere ästhetische Kraft »körperlich« wird, kann so zu einem Refugium der Zukunft werden – nicht nur, indem es langsam ist, aber vor allem, indem es sich verausgabt. In diesem Refugium wird die Ästhetik der Verausgabung gleichsam zu einer Ästhetik des Widerstands. Nur als eine solche »Erinnerung an eine Zukunft 540 | Pewny, Das Drama des Prekären, S. 180.

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der Vergangenheit«541 sieht Lehmann eine Ästhetik des Widerstands im Sinne Peter Weiss’ ermöglicht. Es ist jene Kraft der Verausgabung, die in der dunklen Vergangenheit liegt, die sich der Erkenntnis entzieht, im ästhetischen Spiel jedoch plötzlich als Erinnerung an eine mögliche Zukunft hervorbricht. Dass dieser Widerstand, die Revolte nur als Erinnerung möglich ist – sich als Spiel dunkler Kräfte und nicht in verstandesmäßigen Begriffen zeigt – macht mehr denn je die Stärke einer Ästhetik des Widerstands aus. Die diffuse politische Wirklichkeit, der Entzug klarer Anschauungen politischer Konflikte, der in alle Sparten reichende Lobbyismus, sprich »[…] die Verwandlung des kapitalistischen Kosmos in eine Welt, die mit den herkömmlichen Mitteln der Sozialkritik […] nicht mehr interpretierbar […]«542 ist und die sich die Künstlerkritik so einverleibt hat, dass sie die Forderung nach Autonomie erneut in eine »Ausbeutung innovativer und kreativer Ressourcen« ummünzen konnte, hat dazu geführt, dass es zu neuen Strategien der Unterwanderung – einer anderen Art der Kritik kommen muss. Gerade weil die Kritik heute zweifellos an Glaubwürdigkeit verloren hat, zeigt sich im Theater ein Widerstandspotential (im Ausstellen des Trügerischen der kausalen Handlung, in der Dekonstruktion des Diskurses, im Kollaps des Politischen), das das Heterogene der Wirklichkeit, des Seins, der Beziehungen nicht verrät. [Es] ist das Aussetzen der normierten, rechtlichen politischen Verhaltensweisen selbst, das schlechthin Unpolitische also: Terror, Anarchie, Wahn, Verzweiflung, Gelächter, Aufstand, das Asoziale – und, darin schon latent mitgesetzt, die fanatische oder fundamentalistische Verneinung immanent weltlicher rational begründeter Kriterien des Handelns insgesamt 543,

das die ästhetische Praxis des Theaters auf der Ebene der Erfahrung zu einer widerständischen macht. Auch Bataille wusste, dass seine Repräsentationskritik dem Problem der Zerstörung des Sinnlichen – sprich der Vereinnahmung der Kohä541 | Hans-Thies Lehmann in einem Vortrag mit dem Titel »Ästhetik des Aufstands? Grenzgänge zwischen Politik und Kunst in den neuen sozialen Bewegungen« im Haus der Berliner Festspiele am 10.10.2012. 542 | Boltanski, Chiapello, Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel, S. 31. 543 | Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 450.

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renz – gegenübersteht, deshalb bestand seine ganze Anstrengung darin, die Erkenntnis zu ruinieren, um das Unbekannte zu erfahren, in dieser Erfahrung aber blind zu bleiben. Aus diesem Grund verknüpfte er seine Theorie eines alternativen ökonomischen Systems mit Kategorien des Heiligen, Irrationalen, Rituellen und nicht zuletzt der inneren Erfahrung. Das Blind-Bleiben entspricht also der Forderung, den Menschen als Frage zu verstehen und diese Frage unentwegt zu stellen. Politisches bzw. ethisches Theater treibt diese Infragestellung des Subjektes voran – nicht indem es politische Thesen diskutiert, was erneut Repräsentation bedeuten würde, jedoch durch eine vertiefte Situation, einen Moment der Intensität oder wenn man so will eine Inversion. Auf diese – intervenierende – Weise schafft die szenische Kunst ein Refugium für das Soziale, Ethische, die Verantwortung, den Widerstand und zeigt auf, dass in der ästhetischen Verausgabung – im irrationalen Spiel – eine Kraft ausbricht, die das Ästhetische mit dem Politischen verbindet. Wir denken hier an das Reservat, von dem Bataille spricht, in dem » Lachen, Trunkenheit, Opfer oder Poesie, die Erotik selber überdauern […] autonom […] wie Kinder im Haus.«544 Auf erfahrungsästhetischer Ebene bedeutet das, dass uns die Verausgabung im Theater rücksichtslos einer affektiven Wirklichkeit aussetzt, diese Erfahrung aber immer nur eine Spur sein kann, sich sofort wieder verabschieden muss – weil sie ihre ganze Kraft daraus schöpft, nicht fixierbar zu sein, um nicht »[…] die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.«545 Die notion de dépense formuliert sich bei Bataille auch deshalb als Ahnung 546, weil sie gegen jede Haltbarkeit angeht und im Dunkel der Erkenntnis und der Wissenschaft operiert. Zu verstehen, dass die Antwort auf das Rätsel, das Batailles Denken umstellt, eine Frage bleibt, macht die Schwierigkeit dieser wissenschaftlichen Betrachtung aus. Gleichwohl liegt darin das performative Poten544 | Bataille, IE, S. 261. 545 | Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 7. 546 | »La notion de dépense« ist im Deutschen als »Begriff« der Verausgabung übersetzt. Allerdings kann »notion« auch »Ahnung« bedeuten. Die Ahnung würde hier entgegen dem »greifenden« Begriff, der auf eine semantische Einheit abzielt, einen offenen und nicht zu fixierenden Gedanken oder auch eine Erfahrung meinen.

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tial seiner Theorie und die Möglichkeit diese Theorie für die Theaterwissenschaft fruchtbar zu machen. Das Theater hat sich mithin als der Ort erwiesen, an dem die Dynamik dieses Denkens zum Ausdruck kommt – das Ungeheuerliche der Verausgabung über uns einbricht und unsere Wahrnehmung verändert, ohne uns mit einer beruhigenden Antwort zu entlassen.

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I nszenierungen /A usstellungen »BuySSy«, Performance von Mahatat, Regie: Mona El Shimi, Sondos Shabayek, Kairo 2006. »Kidd Pivot: Dark Matters«, Tanzperformance von Christal Pite (Regie), Premiere am 24.04.2009 National Arts Centre, Ottawa/Kanada, hier Aufführung vom 06.05.2010 Mousonturm Frankfurt. »No Time For Art/3«, Performance von Laila Soliman (Regie), Kairo 2012, hier Aufführung vom 22.12.2012 Townhouse Gallery Kairo/Ägypten. »The Journey«, Fotocollagen von Marwa Adel, Kairo 2012, hier gesehen am 15.12.2012 in der Safar Khan Gallery in Kairo. »The Mime«, Performance von Mahatat, Performer: Amr Abdel Aziz, Kairo 2012. »The Pixelated Revolution«, Video-Lecture-Performance von Rabih Mroué (Regie), 2012. Hier Aufführung am 12.09.2012 auf der documenta (13) in Kassel. »Revolution Now!«, Performance von Gob Squad, Premiere am 04.02.2010 Volksbühne Berlin, hier Aufführung vom 21.10.2010 Volksbühne Berlin.«Three Posters«, Lecture-Performance von Rabih Mroué in Zusammenarbeit mit Elias Khoury, 2000, hier die Aufführung am 30.03.2012 im Rahmen des Symposiums »Heimspiel – Wem gehört die Bühne« im Schauspiel Köln. »Waiting?!« Video-Tanzperformance von Ezzat Ismail (Regie und Performance), Kairo 2011.

Theater- und Tanzwissenschaft Marc Wagenbach, Pina Bausch Foundation (Hg.) Tanz erben Pina lädt ein 2014, 192 S., kart., zahlr. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2771-8 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2771-2

Marc Wagenbach, Pina Bausch Foundation (eds.) Inheriting Dance An Invitation from Pina 2014, 192 p., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2785-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2785-9

Gabriele Klein (Hg.) Choreografischer Baukasten. Das Buch 2015, 280 S., kart., zahlr. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3186-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3186-3

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Theater- und Tanzwissenschaft Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer (Hg.) Episteme des Theaters Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit (unter Mitarbeit von Sarah Wessels) Oktober 2016, 664 S., kart., zahlr. Abb., 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3603-1 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3603-5

Katharina Kelter, Timo Skrandies (Hg.) Bewegungsmaterial Produktion und Materialität in Tanz und Performance Juni 2016, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3420-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3420-8

Tania Meyer Gegenstimmbildung Strategien rassismuskritischer Theaterarbeit April 2016, 414 S., kart., zahlr. Abb., 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3520-1 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3520-5

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