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German Pages 376 [378] Year 2023
Jan-Dirk Müller Varianz – die Nibelungenfragmente
Deutsche Literatur Studien und Quellen
Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger
Band 47
Jan-Dirk Müller
Varianz – die Nibelungenfragmente
Überlieferung und Poetik des Nibelungenliedes im Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit
ISBN 978-3-11-099490-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-098310-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-098316-6 ISSN 2198-932X Library of Congress Control Number: 2023932408 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Ausschnitt aus lateinischem Inkunabelbuch (1501), David Avery / iStock / Getty Images Plus Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorbemerkung zur Benutzung dieses Buchs Das vorliegende Buch ist ein Versuch. Es schlägt eine andere als die bisher übliche Betrachtung der Nibelungenüberlieferung vor, ein anderes Modell der Textgeschichte als das bisher von der Forschung unterstellte einer linearen Folge von Abschriften. Es geht nicht von den seit langem favorisierten Haupthandschriften des Nibelungenliedes aus, sondern sucht die ganze Breite der Überlieferung, näherhin ihre Varianz, in den Blick zu nehmen. Dabei kehrt es sich programmatisch von den Dogmen bisheriger Forschung ab. Wenn es auf manche Ergebnisse der Forschung nicht eingeht, dann aus der Überzeugung, dass sie von Prämissen abhängig sind, die überprüft werden müssen und nur unter bestimmten Voraussetzungen Geltung haben. Demgegenüber strebt es einen Wechsel der Fragerichtung an. Unter dem neuen Paradigma gewinnen die alten Fragen der Philologie eine neue Gestalt. Das kann bei diesem ersten Versuch oft nur angedeutet werden. Nicht alle Rätsel kann die vorliegende Arbeit lösen, vielleicht aber anregen, dass man die Lösung auf anderen Wegen als den bisherigen sucht. Gegenstand dieses Buches sind die Fragmente der Nibelungenüberlieferung. Das Buch basiert auf einem anfangs von der Thyssenstiftung geförderten Projekt, das die Edition und überlieferungsgeschichtliche Auswertung der Fragmente des Nibelungenliedes zum Gegenstand hatte. In diesem Rahmen wurden die Texte von Nadine Popst transkribiert, für die Edition vorbereitet und mit den Haupthandschriften verglichen. Rasch stellte sich heraus, dass die Bedeutung der Fragmente für die Textgeschichte des Nibelungenliedes bisher noch nicht annähernd gewürdigt worden war. Konsequenterweise verschob sich der Schwerpunkt des Projektes auf diesen letzteren Aspekt, zumal als sich herausstellte, dass Walter Kofler, auf den schon die ‚Wiener Nibelungenwerkstatt‘ im Internet zurückging, gleichfalls eine Ausgabe der Fragmente vorbereitete, die kurz vor der Drucklegung stand und inzwischen erschienen ist.¹ Für zwei Ausgaben der Fragmente, die nicht einmal in Kenntnis voneinander entstanden sein würden und nicht aufeinander aufbauten, ist auf dem Buchmarkt kein Platz. Daher wurde das Projekt gegenüber dem ursprünglichen Plan modifiziert: eine vollständige Edition der Fragmente war nicht mehr das Ziel. Die Erkenntnisse, die die Vorbereitung der Ausgabe für die Überlieferungsgeschichte des Nibelungenliedes generell erbracht hatte, rückten ins Zentrum. Koflers Ausgabe (2020) bedeutete zunächst einmal eine erhebliche Erleichterung des Zitierens. Das Material ist durch Koflers Ausgabe allen Lesern leicht auffindbar, kontrollierbar und allgemein zugänglich. Durch Kofler, der die Fragmente jeweils vor den Hintergrund einer der vollständigen Handschriften stellt, kann die Stellung der Fragmente in der Überlieferung insgesamt erörtert werden. Meine Untersuchungen hatten zunächst auf den Transkriptionen, die Nadine Popst anfertigte, basiert. Um die Überprüfung der Argumentation aber allgemein zu erleichtern, habe ich nach Er-
Ich danke Walter Kofler, dass er sie mir schon vor dem offiziellen Erscheinungstermin zugänglich machte, sodass sich meine Untersuchungen auf sie beziehen konnten. https://doi.org/10.1515/9783110983104-001
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scheinen von Koflers Ausgabe die Belege auf diese Ausgabe umgestellt. Meine eigenen Transkriptionen werden nur selten ergänzend herangezogen. Bei ihnen wurden manchmal kleinere Abweichungen von Koflers Lesungen festgestellt, doch sind sie im Allgemeinen zu unbedeutend, um generell gegen Koflers Ausgabe geltend gemacht zu werden. Ausnahmen bestätigen aber die Regel. Abweichungen von Kofler sind vermerkt. Davon abgesehen, würde die Auseinandersetzung um einzelne Lesarten die Diskussion in eine andere Richtung lenken als die nachfolgenden Überlegungen zur mutmaßlichen Geschichte der Überlieferung. Die Überprüfung der Lesarten ist besser in kritischen Anmerkungen zu Koflers Ausgabe aufgehoben. Angesichts des Zustands mancher Fragmente wird die Auseinandersetzung über den Wortlaut gewiss noch lange Zeit kontrovers sein. Ein Teil der Fragmente ist in einem Zustand, der die wissenschaftliche Auseinandersetzung notwendig zunächst auf die Korrektheit oder mindestens Plausibilität einzelner Lesungen lenken würde statt auf die Praxis der Überlieferung, die sich in den Fragmenten abzeichnet. In einer Ausgabe würde man sich gerade auf die schwer lesbaren Bruchstücke konzentrieren müssen, denen man z.T. mit Essenzen zu Leibe gerückt ist, die zunächst die Lesbarkeit erhöhen sollten, sie jedoch auf Dauer ruinierten. Der Akzent der wissenschaftlichen Diskussion würde sich auf Fragen, wie einzelne Buchstabenreste zu deuten seien, verschieben. Das würde den Absichten des vorliegenden Buchs widersprechen, denn Textrekonstruktion ist nicht ihr Ziel, sondern die Praxis des Umgangs mit dem Text. Einige sehr kurze oder sehr schlecht lesbare Fragmente sind außerdem für meine Untersuchung weniger ergiebig als andere. Die Textbasis mancher Bruchstücke ist zu schmal oder zu unsicher, um valide Aussagen über die Textvarianz zuzulassen. Naturgemäß wird das Hauptgewicht der folgenden Überlegungen auf den eindeutig lesbaren Fragmenten liegen. Aussagen über die Reproduktionspraxis sind nur möglich, wenn sie sich auf sichere Textbefunde stützen können. Das sieht wie eine Flucht vor den Mühen der Textphilologie aus, soll aber den Blick auf die Hauptsache ermöglichen. Das neue Vorhaben – den Beitrag der Fragmente zur Überlieferungsgeschichte des Nibelungenliedes zu beschreiben – muss auf sicheren Fundamenten ruhen, d. h. auf einer Textgestalt, an der kein Zweifel möglich ist. Bevorzugt sind deshalb Fragmente, die diese Bedingung erfüllen. Das Unternehmen bekennt also von vorneherein seine Begrenztheit ein. Da andererseits in Koflers Ausgabe alle Transkriptionen vorliegen, kann die Gefahr des willkürlich selektierten Materials ausgeschlossen werden. Bei der Auswertung ist nicht Vollständigkeit das Ziel, sondern nur Exemplarität der Nachweise. Es steht zu hoffen, dass eine digitale Ausgabe der gesamten Überlieferung jedem Leser künftig erlauben wird, die Nachweise zu ergänzen. Koflers Versuchen in einigen Fragmenten, den Umfang des verlorenen Textes zu berechnen, bin ich nicht gefolgt. Andere Aspekte werden nur am Rande betrachtet, die Einrichtungsweise der Handschrift, das Layout, die mutmaßliche Länge des verlorenen Textes usw. Meine Überlegungen weichen nur in einem Punkt von Kofler ab: Aus meiner Sicht ist die Zuordnung der Fragmente zu sog. Referenzhandschriften und deren Repräsentanz für einzelne ‚Redaktionen‘ in vielen Fällen problematisch.
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Grundlage der Untersuchung ist der Vergleich der Überlieferungsträger. Im Vordergrund werden dabei die Fragmente des Nibelungenliedes stehen. Da sie in der Forschung unterschiedlichen Redaktionen zugeordnet werden, die ihre Namen nach vollständigen Handschriften tragen, ist es unumgänglich, auch diese zu untersuchen. An eine vollständige Dokumentation und Analyse der Varianten ist nicht gedacht. Sie setzt die erwähnte digitale Ausgabe der gesamten Überlieferung voraus, die Verlinkung der einzelnen Überlieferungsträger und ein noch zu entwickelndes Erschließungsinstrumentarium. Das ist ein Projekt, das den digital humanities der nächsten Jahrzehnte aufgegeben ist.² Schon jetzt aber ist möglich, in exemplarischen Betrachtungen den Grundtypus dieser Überlieferung zu beschreiben. Er wurzelt in einer literarischen Situation, die bezüglich volkssprachiger Texte auf breiter Front durch den Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit geprägt ist. Hier ist der signifikante Einzelfall oft aussagekräftiger als der statistische Durchschnitt oder die Vollständigkeit der Belege. Das Buch will also an exemplarischen Fällen die gesamte Überlieferung des Nibelungenliedes vergleichend analysieren. Verglichen wird die Textgestalt, die konkrete Versprachlichung der Erzählung, das ‚wording‘. Viele Untersuchungsgegenstände der Nibelungenphilologie der letzten Jahre – Schreiberhände, Schreibtraditionen, Einrichtung und Anordnung des Textes, die Herkunft der Handschriften, diastratische und sprachhistorische Daten usw. – werden ausgeklammert. Indem sich die Forschung auf Themen dieser Art konzentriert hat, scheint mir die genaue Beobachtung der sprachlich-semantischen Struktur gelegentlich ins Hintertreffen geraten zu sein. Insofern will die folgende Untersuchung eine Lücke neuerer Forschung schließen. Die Untersuchung erfordert eine breite, auch Kleinigkeiten berücksichtigende Dokumentation der Varianz der Überlieferung. Da die Arbeit auf eine Revision des traditionellen Modells der Textgeschichte zielt, muss sie genau belegt werden. Die Aufzählung der Varianten scheint manchmal ermüdend. An eine Untersuchung, die so fundamental den Konsens der Forschung stört, sind jedoch besonders hohe Anforderungen, was die Nachweise betrifft, zu stellen. Aber die Pedanterie hat auch einen inhaltlichen Grund: Gerade die unscheinbarsten Varianten belegen, dass die Gestaltung der Textoberfläche nicht Gegenstand besonderer Sorgfalt ist. Das unterscheidet ein Werk aus der Phase des Übergangs von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Das Nibelungenlied als sprachliches Kunstwerk ist anders definiert als ein literarischer Text der Moderne. Um trotzdem die Lektüre nicht allzu mühsam zu machen und die großen Linien der Argumentation erkennbar zu halten, wurden besonders sprechende, ausführlich kommentierte Belege exemplarisch ausgewählt und weitere Nachweise z.T. auch in die Fußnoten oder manchmal in petit gesetzte Passagen verbannt. Diese Passagen sind im Unterschied zu Zitaten aus der Forschungsliteratur nicht eingerückt. Angesichts des Umfangs der Varianz dieser Überlieferung von der Graphie bis zur Textgestaltung ist eine Dokumentation nur um den Preis einer Reihe von Kompromissen möglich. Um Lesbarkeit und Vergleichbarkeit zu sichern, waren einige Vereinfachungen
Ein solches Projekt plant die Mitarbeiterin bei den Transkriptionen, Nadine Popst.
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in der Wiedergabe der Graphie nötig. Unterschiedliche Formen der Buchstaben r und s werden nicht berücksichtig. Kürzel und Ligaturen werden aufgelöst; Zweifelsfälle werden in den Anmerkungen genannt. Nicht berücksichtigt werden Längezeichen. Die Schreibung u/v oder i/j erfolgt um der Vergleichbarkeit der handschriftlichen Texte willen nach dem Lautwert. Eigennamen und Strophenanfänge werden grundsätzlich groß geschrieben.³ Ansonsten werden die Texte buchstabengetreu dargeboten, und zwar in der Form, in der die einzelnen Handschriften sie bieten. Die auch von Bumke bevorzugte, auf Lachmanns Autorität sich berufende Rekonstruktion eines Normalmittelhochdeutsch beseitigt schon eine Erscheinungsform von Varianz, die Graphie. Mir ist bewusst, dass die Vereinfachungen der Orthographie bei einer derart auf kleine und kleinste Varianten ausgerichteten Untersuchung problematisch sind. Für den Typus von Varianz, der im Zentrum der Untersuchung steht und dessen Ursachen in der Phase des Übergangs von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit liegen, sind die genannten Vereinfachungen der Graphie jedoch ohne Belang. Sie werden vom Usus bestimmter Schreiber oder Schreibstuben gesteuert. Nur dort, wo sie Auswirkungen auf die Semantik des Textes haben, werden sie einbezogen. Um die Untersuchung nicht unnötig aufzublähen, wurde die Schreibung der jeweils an erster Stelle genannten Handschrift übernommen, dagegen orthographische und sonstige kleinere Abweichungen in den ähnlich formulierenden Handschriften nicht zitiert, sondern nur die Siglen dieser Handschriften aufgeführt. Abweichungen von der erstgenannten Handschrift wurden mit dem Zeichen ~ (+ Sigle der jeweiligen Handschrift) versehen; es zeigt Übereinstimmung der besprochenen Lesart an, aber nur Ähnlichkeit in deren konkreten graphischen Gestalt. Damit sollte vermieden werden, dass von dem jeweils in Rede stehenden Phänomen abgelenkt wird. In der Textgestalt folge ich, wenn nicht anders angegeben, der Synopse von Batts (1971), für die Fragmente Koflers Ausgabe (2020). Auch Getrennt- und Zusammenschreibung, deren Beurteilung in vielen Fällen schwierig ist, folgt den Ausgaben von Batts und Kofler. Die Abgrenzung von Vers- oder Halbvers durch besondere Zeichen in den Handschriften wird grundsätzlich nicht übernommen, da sie sehr unterschiedlich erfolgt. Die Abgrenzung von Versen erfolgt durch das Zeichen |. Das Lay-out der Fragmente (einspaltig? mehrspaltig? Verse abgesetzt? Strophen?) wird zwar erwähnt, ist aber nicht Gegenstand der Untersuchung. Bei der Datierung folge ich der Forschung.⁴ Die Datierung der drei Haupthandschriften liegt eng beieinander; ebenfalls alt sind die Fragmente S, W und Z, sodass bei den Unsicherheiten in der Bestimmung des Alters der Schrift die Datierung der Handschrift nur mit einiger Vorsicht argumentativ eingesetzt werden kann.⁵ Die Textzeugen werden in folgender Reihenfolge geboten: zuerst vollständige Pergament-, dann vollständige Papierhandschriften, die Fragmente schließen sich an, Das empfiehlt sich wegen des ungleichmäßigen Verfahrens in den Handschriften, vor allem auch in den Editionen, außerdem wegen der manchmal schwierigen Entscheidung zwischen Majuskel und Minuskel. Zu den Problemen des Verhältnisses von Schriftform und Ausstattung Heinzle 2004, S. 12– 18. Schneider 1987; vgl. 2003; Kofler 2020.
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ebenfalls nach Pergament und Papier geordnet (z. B. BDbdKl). Anders als Kofler halte ich an der Sigle J/*J fest, da optisch bei der Sigle I eine Verwechslung mit l droht. Ein großes Problem ist die Strophenzählung. Sinnvoll wäre es, mindestens für alle vollständigen Handschriften ebenso wie für die Fragmente eine eigene Zählung einzufügen und sie in einer Konkordanz aufeinander zu beziehen. Eine solche Konkordanz existiert nicht. Ich folge der Zählung der drei Haupthandschriften A, B und C. Für B lege ich allerdings nicht die Zählung der häufigsten Ausgabe des Nibelungenliedes, der ‚kritischen‘ von de Boor/Wisniewski, zugrunde, sondern die der Handschrift nach Batts. Heinzle (2013) folgt der verbreiteten Zählung von de Boor/Wisniewski, gibt aber die Zählung der Handschrift B in Klammern an. Die Auffindbarkeit ist dadurch gesichert. Schulze (2010)⁶ und Reichert (2017) legen die Zählung der Handschrift ihren neuen Ausgaben zugrunde. Da künftig die bereinigten Ausgaben nach B, und nicht die Hybridfassung von Bartsch/de Boor/Wisniewski, auch in der Interpretationspraxis Verwendung finden sollten, ist die Zählung nach der Handschrift der traditionellen Zählung vorzuziehen. Auch bei C wird der Zählung der Handschrift der Vorzug gegeben, vor der von Hennigs kritischer Ausgabe. Schwieriger ist die Zählung der kontaminierten Handschriften Db, Jh und d sowie der Fragmente. Ich habe mich zu einem Kompromiss entschlossen, der die Überlieferungslage zwar ungenau wiedergibt, jedoch die Auffindbarkeit und Vergleichbarkeit der zitierten Textstellen erleichtert. Er ist durch Koflers Ausgaben von J und Db vorbereitet, die sich an der Zählung von B bzw. C orientieren. Für Db bedeutet das, dass er in den Strophen 1– 268/270, die der *C-Bearbeitung folgen, die Strophen nach C gezählt werden, jedoch mit Sternchen * (D *1, D *2, D *3 usw. = C 1– 3). Die in C fehlende Strophe A 3, die in D vorhanden ist, zählt Kofler als D *2A. Wenn die Handschriften D und b nach Str. *270 dann B folgen, lässt er das Sternchen weg (D 268, D 269 usw.) und legt die Zählung von B zugrunde; auf D *270 folgt also D 268. Auch wo Strophen zusammengezogen sind, ist die Zählung von B maßgeblich (D 1454/1455). J zählt Kofler gleichfalls nach B und versieht die Zusatzstrophen (wie bei der gegenüber C zusätzlichen Strophe *2A) ebenfalls mit A (J 1258A usw.). Im Ganzen ist also in Db die C- und B-Zählung, in J die B-Zählung gewahrt. Auch bei d folge ich diesem Prinzip, gebe die Strophen also nach der Zählung von B an, die Zusatzstrophen dann wie bei J mit einem Zusatz, also d 1580A – C (= C 1621– 1623).⁷ Die Zählung der Ausgabe von Pritz, die wegen der großen Lücken in d völlig von der der übrigen Handschriften abweicht, gebe ich zusätzlich in Klammern an, wenn sonst Verwechslungen möglich sind. Dagegen habe ich die B-Zählung, die Pritz in Klammen verzeichnet, als einen sinnvollen Notbehelf, übernommen, um so den direkten Vergleich mit den übrigen not-Handschriften, auf den es hier ankommt, zu erleichtern. Nur so ist leichte Auffindbarkeit einander entsprechender Strophen gewährleistet, obwohl die Zahl der Strophen in DJbdh insgesamt nicht mit B übereinstimmt.
Ihrer Ausgabe von 2010 ist die Übersetzung von Siegfried Grosse beigegeben, die ursprünglich die Ausgabe von Bartsch/de Boor/Wisniewski begleitete. In der eigenen Zählung von d sind das die Str. 899 – 902.
X
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Für die Fragmente hatte ich in meinen Transkriptionen zunächst eine eigene Zählung eingeführt. Kofler ordnet sie den „Referenzhandschriften“ A, B, C, D, J und d zu und kann folglich deren Zählung übernehmen. Dieser Zählung bin ich wieder der leichteren Auffindbarkeit und Vergleichbarkeit wegen gefolgt und habe die interne Strophenzählung der Fragmente aufgegeben. Eine Ausnahme ist Fr. l: da hier der Strophenbeginn verschoben ist, die Strophen des Fragments also verschiedenen Strophen der restlichen Überlieferung zugeordnet werden müssen, benutze ich bei l zusätzlich die fragmentinterne Strophenzählung. Abweichend von Kofler ist auch der zur Redaktion A gezählte Fragmentkomplex L gezählt, bei dem Kofler unverständlicherweise die Zählung nach B übernimmt, obwohl er A als ‚Referenzhandschrift‘ angibt. Ich folge der A-Zählung. Ich habe vielfältigen Dank abzustatten, in erster Linie Nadine Popst, die mir half, die Grundlagen zu erarbeiten, die Texte transkribierte, die Abbildungen kontrollierte und am Register mitwirkte. Ihr verdanke ich auch die über Kofler hinausgehenden Beschreibungen der Fragmente. In zahlreichen Diskussionen haben wir die Befunde diskutiert. Madlen Hiereth, die sich an dieser Diskussion beteiligte, las nicht nur Korrektur, sondern übernahm auch die unangenehme Aufgabe der Überprüfung der Belege. Die Reaktion vieler Kollegen auf die vorbereitenden Aufsätze von 2016, 2020 und 2022, vor allem auch die kritische Lektüre von Kristina Freienhagen-Baumgardt, ermutigte mich und half mir, meine Thesen zu schärfen und besser zu begründen. Eine Münchner Runde von Kollegen, das sogen. ‚Kränzchen‘, prüfte Zwischenergebnisse. Besonderer Dank ist Beate Kellner abzustatten, die durch ihr Interesse mich immer wieder veranlasste, die oft mühsame Arbeit fortzusetzen, und die die Untersuchung in die von ihr herausgegebene Reihe im Verlag De Gruyter aufnahm. Für die sorgfältige Betreuung durch den Verlag danke ich Marcus Böhm, Jessica Bartz und Florian Ruppenstein. Widmen möchte ich die Arbeit meinen Schülerinnen und Schülern, die mit ihren eigenen Arbeiten die Lebendigkeit der Mediävistik beweisen.
Inhalt
Die Ausgangslage 1 Abschied von Original und Archetyp 1 Nibelungenphilologie nach Brackert 5 Die Passauer Nibelungenwerkstatt und der angebliche Vorrang von *C Die Fragmente 12 17 Aporien und Inkonsequenzen der ‚genealogischen‘ Methode Offener vs. geschlossener Text 27 30 Traditioneller Text? Kollektiverinnerung? 37 39 Das Projekt Am Schreibtisch 46 46 Schrift und Gedächtnis ‚Buchepos‘ oder ‚Gedächtnistext‘ zwischen Mündlichkeit und 52 Schriftlichkeit 55 Gedächtnis und variante Schriftlichkeit Abschreibevarianten 63 72 Formulierungslizenz Schriftlichkeit und nicht-schriftbasierte Formen der Reproduktion
Allgemeine Bedingungen von Varianz Bumkes Varianzbegriff 83 87 Variantentypen und Fehler Auswahl der Varianten? 91 Graphie und Morphologie 95 Übergänge 103
82
Lust am Ändern? 109 Varianz im nominalen Bereich 113 Singular und Plural 117 Varianten im Bereich der Pronomina und Synsemantica 119 121 Füllwörter Varianten im Verbalbereich 122 Syntaktische Varianten 124 Routinemäßige Kombinationen des Wortmaterials 126 Sinndifferenzierende Varianz 131
Varianten und Fehler 140 Ersetzen von Unverständlichem und schwer Verständlichem Fehler erzeugende Varianten 147
142
77
9
XII
Inhalt
Zweifelhafter Austausch von Namen: Fehler oder Variante? 149 Ähnlichkeit des Klangs und des Schriftbildes als Ursprung von Varianz Diffusion der Lesarten 160 Erinnerungsfehler oder Varianten? 162
Die Fragmente und ihre ‚Referenzhandschriften‘ 165 Die zur Redaktion *A gehörigen Fragmente L und g 167 Redaktion *B 171 172 Fragment M Redaktion *D 173 Fragmentkomplex S 175 176 Fragment N Fragment V 181 183 Fragmente der Redaktion *J 184 Fragment W Fragmentkomplex K 185 Fragmentkomplex Q 187 Fragment Y 191 192 Der Sonderfall Fragment l Fragmente der Redaktion *d 194 Fragment O 194 195 Fragment H Fragment i, c 196 197 Die zur Bearbeitung *C gehörigen Fragmente 198 Fragment S1 Fragment Z 199 200 Fragment E Fragment X 201 Fragment F 201 203 Fragment R Fragment U 204 Fazit 206
Fassungen 207 208 Bumkes Fassungsbegriff Fassungen und Redaktionen des Nibelungenliedes 216 222 Redaktion und Layout 224 Redaktion *A und Redaktion *B Redaktion *C 227 228 Fassungen durch Textmischung? Redaktion *D Die angebliche Fassung *Jd und die Zusatzstrophen 230 Redaktion *d 233 Redaktion *J 234
153
Inhalt
Erweiterung des Textes und Fassung: Handschrift b Fassungen? 239
238
Auslassungen, Ergänzungen, Ausgestaltung, Anlagerungen Auslassungen 242 Die Zusatzstrophen in *J und *d 247 Retuschen des not-Textes in *J 255 Die Bearbeitung *C 262 268 Die ‚Klage‘ – letzte Aventiure des Epos?
Das Nibelungenlied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit 273 273 Exkurs: Ilias und Nibelungenlied Die Liedertheorie und die ‚Einheit‘ des Nibelungenliedes 280 Der Werkcharakter des Nibelungenliedes zwischen individualistischer und 284 traditionalistischer Lektüre Der „Grundbestand“ und „der fehlende Urtext“ 290 Singen und Sagen 295 Vortrag und Buchform 303
241
Zur Poetik des Epos zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Die Nibelungenstrophe zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit 315 Anpassungen der Schrift Komposition und Kohäsion 321 328 Die Poetik der Schaubilder und die Grenzen der Varianz 333 Varianz und Poetik der Oberfläche Hat das Nibelungenlied einen Autor? 338 343 Gattungstransformation? Die Ablösung der not-Fassung Epilog 348 Verzeichnis der zitierten Literatur Texte 351 Forschungsliteratur 352 Handschriftenregister
361
351
309 309
XIII
1 Die Ausgangslage Abschied von Original und Archetyp Ein Buch über die Nibelungenfragmente? Das scheint eine der letzten Nischen im sonst überforschten Bereich der Nibelungenphilologie zu sein. Die Auseinandersetzung mit den Fragmenten war lange Zeit auf punktuelle Einzeluntersuchungen beschränkt und ist erst jetzt durch das Erscheinen von Walter Koflers Ausgabe der Nibelungenfragmente in größerem Maßstab möglich geworden. Aber nicht die günstigen äußeren Umstände sind der Anlass, sondern ein Forschungsdesiderat, dessen Hindernisse jetzt endlich beseitigt sind. Es gilt nicht, einen der letzten claims der Nibelungenforschung zu sichern, sondern eine Quellengattung zu erschließen, die die Überlieferungsgeschichte des Nibelungenliedes verändern könnte. Die Fragmente zu erforschen, war ein lange gehegtes Lieblingsprojekt, das zunächst in die Vorbereitung einer Edition der Fragmente mündete – der Kofler mit seiner Ausgabe zuvorgekommen ist –, das dann als zweiten Schritt die Untersuchung der Bedeutung der Fragmente für die Überlieferungsgeschichte und die Poetik des Nibelungenliedes vorsah. Dieser zweite Schritt wurde dann das Hauptanliegen. Der Blick auf die Fragmente lässt viele Urteile über die Überlieferung als revisionsbedürftig erscheinen. Die Überlieferungsgeschichte war zweihundert Jahre auf die drei ältesten vollständigen Handschriften A, B und C fixiert, auf ihr Verhältnis zueinander und ihre Bedeutung für ‚den‘ Text des Nibelungenliedes. Die Forschung ist zu einem gewissen Abschluss in der Bewertung des Verhältnisses von not- und liet-Fassungen gekommen, von ihrem ursprünglichen Ziel, zum ‚Original‘-Text des Nibelungenliedes oder wenigstens dem ‚Archetyp‘ zu gelangen, aber weiter entfernt als zuvor. Es hat den Anschein, als seien die Möglichkeiten, weiterzukommen, ausgereizt. Deshalb soll hier versucht werden, die Überlieferung des Nibelungenliedes, aus anderer Perspektive, gewissermaßen ‚von unten‘ zu betrachten, nicht von den vollständigen ‚Haupthandschriften‘ her, die 200 Jahre lang im Zentrum der Diskussion standen und um die sämtliche Konstruktionen und Spekulationen über Entstehung, Entwicklung und Rezeption des Textes kreisten, sondern von der konkreten Gestalt des handschriftlich Überlieferten in seiner ganzen Breite, also unter Einbeziehung der Fragmente, die in Teilen ebenso alt, vielleicht sogar älter als die Haupthandschriften sind, die aber immer nur im Blick auf diese Beachtung fanden. Dabei bezeugen erst die Fragmente die Besonderheit der Nibelungenüberlieferung. Das Ziel dieses Buches ist, durch Untersuchung der Fragmente Zugang zu einer literarischen Praxis und einer mit ihr verbundenen Poetologie zu finden, die uns nur noch in Umrissen bekannt sind und die sehr weit von der literarischen Praxis und Poetologie entfernt sind, die seit der Durchsetzung von Schriftlichkeit dominiert. Diese prägt seitdem die literaturwissenschaftliche Theoriebildung, angefangen von Textkritik und Editionswissenschaft. Deshalb wird zunächst ein Schwerpunkt auf der Auseinandersetzung mit der traditionellen Editionsphilologie liegen, doch zielt das Buch darüber https://doi.org/10.1515/9783110983104-002
2
1 Die Ausgangslage
hinaus: auf die Rekonstruktion der Poetik eines Epos, das aus einer andersartigen literarischen Praxis hervorgeht, einer Praxis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Mündlichkeit und Schriftlichkeit sind dabei keine kontradiktorischen Gegensätze, sondern durchdringen sich gegenseitig. Die Textualität des Nibelungenliedes ist – so die These – nicht zu verstehen, wenn man von der modernen Dichotomie von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ausgeht. Das Buch kann auf einer 200-jährigen Nibelungen-Philologie aufbauen. Manche Untersuchungen, die an sie anschließen – etwa die von Brackert, Bumke, Heinzle und Haferland –, kommen in die Nähe der hier vorgetragenen Thesen. In Abgrenzung von ihnen wird es aber notwendig sein, einige der nie problematisierten Annahmen der Nibelungen-Philologie in Frage zu stellen. Die folgenträchtigste ist, dass es eine ‚originale‘ Gestalt des Epos gegeben hat, die für die nachfolgende Gestalt des Epos verbindlich war und auf die, vermittelt durch den Archetyp, die gesamte Überlieferung zurückgeht. Die Überlegungen Pauls, Zarnckes, Wackernagels, Zwierzinas, Bartschs, Michels’ usw., die auf dieser Annahme beruhen, müssen deshalb vorläufig suspendiert werden. Sie bleiben letztlich abhängig vom überlieferungsgeschichtlichen Modell der NibelungenPhilologie seit Lachmann, das die überlieferten Textgestalten aus der schriftlichen Transmission eines ursprünglichen Textes ableitet und auf ihn zurückbeziehen will, wenn sich auch die Versuche der Einlösung dieses Vorhabens sehr unterscheiden. Dieses Ziel gilt nach Brackerts Kritik¹ an den Versuchen, die ursprüngliche Gestalt des Nibelungenliedes zu rekonstruieren, als unerreichbar. Auch die Kritiker der älteren Editionsphilologie ziehen jedoch noch nicht die Konsequenz, die Prämisse, dass es einen solchen ‚Urtext‘ gegeben hat, zu hinterfragen. Die hier vorgeschlagene Gegenthese lautet: Das Nibelungenlied ist von Anfang an in varianter Form überliefert. Das ist eine weitgehende Behauptung, die der bisherigen Nibelungen-Forschung widerspricht. Sie kann sich jedoch auf einen Vorläufer berufen: Joachim Bumkes Arbeit zu den ‚vier Fassungen der Nibelungenklage‘.² Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind freilich nicht einfach auf das Epos übertragbar, weil die Voraussetzungen bei der ‚Klage‘, wie noch näher auszuführen, gänzlich andere sind und sich auch Bumkes Varianz-Begriff als revisionsbedürftig erweisen wird. Trotzdem ermutigt Bumkes Untersuchung dazu, ein paralleles Unternehmen in Bezug auf das Epos in Angriff zu nehmen. Die These von der anfänglichen Varianz des Nibelungenliedes hat nichts zu tun mit der im 19. Jahrhundert auch erwogenen These, dass das Nibelungenlied ein unfestes Konglomerat jahrhundertealter, mehr oder minder schlecht verleimter Erzähltraditionen ist, vielleicht sogar auf kürzere Erzähllieder (Liedertheorie) zurückgeht. Karl Lachmann hatte noch diesem Modell zugeneigt; die nachfolgende Forschung hatte es, von stoffgeschichtlichen Überlegungen abgesehen, verworfen. Hinter diese Position darf man nicht zurückfallen. Vielmehr soll der eigenartige Status des Nibelungenliedes
Brackert 1963. Bumke 1996a.
Abschied von Original und Archetyp
3
herausgearbeitet werden, das auf der einen Seite in der gesamten Überlieferung eine feste Architektur hat, die sich klar von der Tradition absetzt, das aber auf der anderen vor dem Hintergrund dieser festen Architektur eine exzessive Lizenz zur Varianz aufweist. Diese Polarität ergibt sich aus der Übergangssituation zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die Untersuchung stellt das bisherige Ziel der Nibelungenphilologie in Frage, das Karl Lachmann am Anfang der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Text so umschrieben hatte: Man müsse „aus einer hinreichenden Menge von guten Handschriften einen allen diesen zum Grunde liegenden Text darstellen, der entweder der ursprüngliche selbst seyn oder ihm doch sehr nahe kommen muss“.³ Seit Lachmanns Zeit war über die Wege, die zu diesem Ziel führen könnten, viel gestritten worden, doch es stand unverrückbar fest: möglichst bis in die Nähe des Originals, dann – in Revision des ursprünglichen Ziels – des Archetyps vorzudringen und, nachdem sich auch dies als unmöglich erwiesen hatte, möglichst viel von der ursprünglichen Gestalt des Epos zu retten. Ihm stellt das Buch die These entgegen, dass das Nibelungenlied von dem Augenblick an, in dem es im Medium der Schrift auftaucht, variant ist. Dies wird durch die Fragmente nahegelegt, die in ganz anderem Umfang als die bisher vor allem untersuchten ‚Haupthandschriften‘ variant sind. Braune (1900) hatte die Handschriftenverhältnisse geordnet und ein Stemma der gesamten Nibelungenüberlieferung entworfen, in dem jede Handschrift ihren Platz in ihrer Abhängigkeit vom Archetyp fand. In der Form, die in Hs. B bezeugt war, glaubte er die beste und dem Archetyp nächste identifizieren zu können.⁴ Braunes Ergebnisse erhielten nahezu kanonische Geltung; sie wurden zwar in einigen Punkten ergänzt, korrigiert und modifiziert,⁵ aber galten lange Zeit als Forschungsstand.⁶ Das Gewicht der einzelnen Variante in der Überlieferung bemaß sich daran, welchen Platz die jeweilige Handschrift im Stemma einnahm und mit welcher Veränderung des ursprünglichen Wortlauts man folglich rechnen musste. Die Varianten waren Zeugen unterschiedlich weit fortgeschrittener Textveränderung, die in der Regel als Textverderbnis aufgefasst wurde. Mit Erscheinen von Brackerts Handschriftenkritik (1963) wurde diese Sicherheit nachhaltig erschüttert. Die Voraussetzungen für den Umgang mit der Varianz der Überlieferung haben sich seitdem fundamental geändert. Brackert wies Braunes Beweisführung für sein Stemma in vielen Einzelheiten als unzureichend nach, sodass auch die privilegierte Stellung der Handschrift B als archetypnächste Handschrift des Nibelungenliedes nicht mehr selbstverständlich vorausgesetzt werden konnte. Es war nicht mehr möglich, die Varianz der Überlieferung an B zu messen und von ihr aus zu beurteilen. Als Brackert das Gebäude der Überlieferungsgeschichte Braunes mit Hs. B an der Spitze zum Einsturz brachte, da wurde der „Donnerschlag“, der die Nibelungen
Lachmann 1816/1869, S. 82. Braune 1900. Etwa durch Michels 1928; Kochendörfer 1973. Panzer 1955, S. 69 – 71.
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1 Die Ausgangslage
philologie erschütterte, zwar erkannt,⁷ aber darüber, dass damit nicht nur B entthront war, sondern Brackert die Grundlagen der bisherigen Textkritik unterminiert hatte, gab man sich keine Rechenschaft. Brackert selbst scheint sich über die Konsequenzen seiner verstreuten Bemerkungen zur anfänglichen Unfestigkeit des Textes⁸ nicht klar gewesen zu sein, denn er zweifelte zwar Braunes Ergebnisse an, nicht aber die Validität von dessen Überlieferungsmodell. An der Frage nach dem ursprünglichen Text hielt er letztlich fest, auch wenn er sie nicht mehr für beantwortbar hielt und die Fragwürdigkeit des Begriffs ‚ursprünglich‘ unaufhörlich betonte. Symptomatisch für die unentschiedene Reaktion der Forschung auf Brackerts Buch war schon Joachim Bumkes große Rezension (1964), die ebenso souverän wie eingehend Brackerts Ergebnisse diskutierte, aber vollständig in den alten Bahnen textkritischer Überlegungen blieb. Wenn Bumke „den weitgehend negativen Charakter des Buches manchmal etwas bedrückend empfindet“, fragt er nicht, ob im bisherigen Rahmen nicht notwendig nur ‚bedrückende‘ Ergebnisse zu erwarten seien.⁹ Dass der vermeintlich gefundene Archetyp verloren war und die Suche nach einem Ersatz ins Leere ging, bedeutete nicht, dass es solch einen Ersatz nicht irgendwie gegeben haben musste, wenn er auch de facto unerreichbar war. Auch die Beiträger eines literaturwissenschaftlichen Kolloquiums, das die Irritation durch Brackerts Buch verarbeiten sollte, waren sich letztlich einig, dass sich am Status des Werks und seines Dichters nicht allzu viel geändert hatte.¹⁰ Konsequenzen hatte Brackerts Kritik auf einem anderen Gebiet: Nachdem Braunes Versuch, ein Handschriftenstemma mit Hs. B an der Spitze zu erstellen, gescheitert war, begann man intensiver damit, Textzeugen neben der bislang kanonisch geltenden Hs. B zu erschließen; man suchte, ein Modell der Textgeschichte zu entwerfen, das insbesondere die Weiterentwicklung des not-Textes in der liet-Bearbeitung darstellte. Aber in der Editionsgeschichte des Nibelungenliedes dominierte B weiterhin.¹¹ Der Vorrang von B gegenüber A und auch C hatte schon seit den textkritischen Untersuchungen von Bartsch als gesichert gegolten. Die Weiterentwicklung der Ausgabe von Bartsch, die auf B basiert,¹² durch de Boor und Wisniewski galt als maßgebliche Gestalt des Textes. Die Editionen folgten grosso modo dem B-Text, suchten ihn aber nach der restlichen Überlieferung zu ‚verbessern‘. Da B, wie schon Bartsch nachwies und auch Braune zu-
Bumke 1964, S. 428. Dagegen sieht Kofler 2014, S. 359 – 360 die „dominante Position“ von B „nicht nachhaltig erschüttert“. Brackert 1963, S. 24; 40; 60 u. ö. Bumke 1964, S. 428. I Nibelunghi 1971. So auch das Fazit von St. Müller 2013b, S. 167. – Dies meinte meine Bemerkung (Müller 1998, S. 71), Brackerts Kritik an Braunes Auffassung von B als archetypnahe Handschrift habe „an der Bedeutung dieser Handschrift nichts geändert“, eine Bemerkung, die Heinzle 2000, S. 206 so verstand, als wolle ich hinter Brackerts Ergebnisse zurück: Tatsächlich dominiert B nach wie vor die meisten Ausgaben (Schulze, Reichert, selbst des Kritikers Heinzle); die editionstheoretische Gleichrangigkeit von A etwa hat zu keinen Konsequenzen geführt. Bartsch 1870 – 1880.
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gestand, Fehler hatte, musste auch im B-Text konjiziert werden, was mit Hilfe der übrigen Überlieferung geschah. So entstand die Konstruktion eines hybriden Textes nach der angeblich archetypnächsten Handschrift, die nach vielen anderen Überlieferungsträgern korrigiert wurde.¹³ Bis heute ist die verbreitetste Ausgabe diejenige von de Boor/Wisniewski; sie liegt den meisten literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zugrunde. Auch Brackerts eigene Lesefassung des Nibelungenliedes folgt – ohne kritischen Anspruch – der BVersion, bedient sich aber im Zweifelsfall bei der übrigen Überlieferung, dabei dem Prinzip der häufigsten Bezeugung, dem der lectio difficilior, metrischen Überlegungen, gelegentlich auch dem Urteil, was der bessere Text zu sein scheint, folgend. Brackert beansprucht nicht mehr, den ‚richtigen Text‘ vorzulegen, nur eine gute, durch die Überlieferung gedeckte lesbare Fassung, aber er folgt de facto dem alten Modell.¹⁴
Nibelungenphilologie nach Brackert In der Folgezeit wurde der Glaube, in der Ausgabe von Bartsch/de Boor/Wisniewski dem ursprünglichen Text ‚des‘ Nibelungenliedes nahezukommen, mehr als durch Brackerts Kritik an Braune durch die allgemeine mediävistische Kritik an den Editionsgrundsätzen der traditionellen ‚kritischen‘ Ausgaben erschüttert. Kritisiert wurde die eklektische Benutzung der gesamten Überlieferung zwecks Erstellung eines ‚verbesserten‘ (wenn auch nirgends überlieferten) Textes. Dagegen wurde die Forderung erhoben, dass Editionen mittelalterlicher Texte handschriftennah sein sollen. Nach Brackerts Kritik war zwar die Rückkehr zu Braunes Stemma mit B an der Spitze – trotz einiger Gegenstimmen¹⁵ – verbaut. Das Hauptinteresse der Forschung konzentrierte sich aber bis ins letzte Drittel des vorigen Jahrhunderts weiterhin auf die drei bzw. zwei Haupthandschriften, über deren Nähe zum Archetyp des Nibelungenliedes seit den Tagen Karl Lachmanns gestritten worden war. Besonderen Rang hatten Hs. B für die not-Fassung, Hs. C für die liet-Fassung, während Hs. A in den Hintergrund trat.¹⁶ Allmählich jedoch verschob sich der Blick auf die Gesamtüberlieferung, deren Ordnung durch Braune nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. In Reaktion darauf legte Batts eine Synopse sämtlicher Überlieferungszeugen vor.¹⁷ Sie verzeichnet neutral nebeneinander den Text von C, A und B und die Varianten der übrigen Handschriften und Fragmente, ohne sie nach Braunes Überlieferungsfamilien zusammenzufassen.
Bartsch/de Boor/Wisniewski zuletzt 1996. Vgl. die Editionsprinzipien Brackert 1970, Bd. 1, S. 267. Pretzel 1973, S. 14 kritisiert das als „resignierende Auffassung […], daß man auf die Herstellung eines Originals verzichten müsse“. A wurde meist als z.T. fehlerhafte Variante des not-Textes gesehen, gegen die Annahme der ‚Ursprünglichkeit‘ von A durch Lachmann (vgl. Zusammenfassung der älteren Diskussion bei Paul 1876, S. 375 – 387). Batts 1971.
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1 Die Ausgangslage
Allerdings folgt Batts immer noch insofern der Suggestion des Brauneschen Modells, als er nur A und C als selbstständige Textzeugen abdruckt, alle Abweichungen der übrigen Handschriften aber allein auf Hs. B bezieht. Batts‘ monumentale Ausgabe folgt einem Trend in der mediävistischen Editionsphilologie, die Überlieferung, wie sie ist, gegen die Konstitution eines sog. ‚kritischen‘ Textes, konstituiert durch Auswahl und Kombination von Lesarten aus den besten und ältesten Handschriften, aufzuwerten. Solche ‚kritischen‘ Texte gelten jetzt als Hybridfassungen, da sie keine Stütze in der tatsächlichen Überlieferung haben; sie sollen durch überlieferungsnahe Ausgaben ersetzt werden. Damit setzte sich das Leithandschriftprinzip durch, das zunächst in den ‚Deutschen Texten des Mittelalters‘ als pragmatische Lösung für die Edition vor allem spätmittelalterlicher Texte erprobt worden war. Es wurde zunehmend zum vorherrschenden Editionsmodell. Der faktisch überlieferte Text musste Vorrang gegenüber einem Konglomerat aus verschiedenen Textzeugen haben, das in dieser Form im Mittelalter nirgends überliefert war und sich den subjektiven Entscheidungen des Editors verdankte. Die Überlegungen Joseph Bédiers, die Würzburger Überlieferungsgeschichtliche Methode und die New Philology haben diese Neuorientierung der Editionspraxis an der faktisch vorhandenen Überlieferung theoretisch begründet. Zahlreiche Editionen haben sich seitdem von der traditionellen Erstellung ‚kritischer‘ Ausgaben abgewandt. Angesichts dieser Entwicklung war die nach wie vor den akademischen Unterricht ebenso wie die interpretatorischen Bemühungen dominierende Ausgabe des Nibelungenliedes von de Boor/Wisniewski nicht mehr zeitgemäß. Dies wirkte mit Verspätung auch auf die Editionen des Nibelungenliedes in den bereinigten Ausgaben der Handschriften B und C, die nicht mehr auf der Basis von B und C einen hybriden Text aus der Überlieferung insgesamt kompilieren wollten, sondern sich an den Handschriften orientierten. An der Bedeutung von Hs. B änderte sich weiterhin nicht allzu viel. Auch die handschriftennäheren Ausgaben von Heinzle, Reichert und Schulze,¹⁸ die den Hybridtext von Bartsch/de Boor/Wisniewski ersetzen wollen, legen B zugrunde. Sie machen die meisten Korrekturen, die von Bartsch/de Boor/Wisniewski vorgenommen worden waren, rückgängig und beschränken ihre Eingriffe auf offenkundige Fehler. Damit folgen sie, obwohl das meist nicht explizit gesagt wird, de facto dem Leithandschriftenprinzip. Die Suche nach einem Stemma, das die gesamte Überlieferung des Nibelungenliedes auf einen Ausgangspunkt bezieht, war zwar in Misskredit geraten,¹⁹ aber B wurde als der relativ beste Text weiter bevorzugt. B wird jedoch nicht mehr im Blick auf ein angebliches Original, dessen Spuren auch in anderen Handschriften bewahrt sein können, nach diesem korrigiert und ‚verbessert‘. Insofern beherrscht B bis in die Gegenwart die Editionspraxis weiterhin. Nimmt man Hennigs und Schulzes kritische Ausgaben nach C²⁰ hinzu, dann stehen nach wie vor
Schulze 2010; Heinzle 2013; Reichert 22017. Stackmann 1964/1993, S. 9. Hennig 1977; Schulze 2005.
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die Haupthandschriften im Zentrum. A wurde nach der Lachmannschen Ausgabe von 1878 im Jahre 1960 noch einmal von Pretzel herausgegeben und 1973 nach den alten Editionsprinzipien kritisch bearbeitet.²¹ Pretzel bekennt sich ausdrücklich zum „eklektischen Verfahren“ gegenüber der Überlieferung.²² Eine mit B und C vergleichbare Bedeutung hat aber A nie erlangt. Heinzle hat immerhin erwogen, ob A für seine Ausgabe von 2013 nicht ebenso gut wie B die not-Fassung, die Fassung „*AB“, als „erste Weiterentwicklung des Grundtextes“ repräsentieren könne.²³ Aber der dadurch erzeugte Eindruck relativer Übersichtlichkeit der Nibelungenüberlieferung verliert sich rasch, sobald man die sog. kontaminierten Handschriften, d. h. die Texte von DJbdh hinzunimmt. Sie liegen inzwischen gedruckt bzw. im Netz vor.²⁴ Diese Ausweitung der Nibelungenphilologie auf die übrigen vollständigen Handschriften war das zweite bleibende Ergebnis von Brackerts Kritik. Bis dahin konnten diese ‚kontaminierten‘ Handschriften als bloß sekundär, nur als ‚Mischungen‘ aus den beiden dominanten Fassungen *AB und *C, mithin aus deren Perspektive, betrachtet werden. Die Sammelbezeichnung ‚kontaminierte‘ bzw. ‚Mischhandschriften‘ schließt Heterogenes zusammen. D und b addieren zu einem (kürzeren) Abschnitt aus liet-Text einen (längeren) aus einem not-Text. Man vermutet mechanische Gründe: einen erzwungenen Wechsel der Vorlage, nämlich dass die ursprünglich abzuschreibende Handschrift (nach *C) nicht mehr zur Verfügung stand und durch eine Handschrift des not-Textes ersetzt wurde. Das ist aber eine gänzlich andere Konstellation als bei den Hss. J (von der eine recht genaue Kopie in h existiert),²⁵ und d, die beide einige Zusatzstrophen enthalten, die auch, wenn auch teils variiert, in Hs. C überliefert sind und die man deshalb als Entlehnungen aus *C betrachtet. Es ist allerdings nur eine kleine Auswahl von Zusatzstrophen, die im Übrigen in einen Text eingefügt sind, der (wie D und b ab ca. Str. 268/ 270) mit der üblichen Varianz dem not-Text und nicht dem liet-Text folgen. Anlass und Umfang der Textmischung ist also höchst unterschiedlich. ‚Kontamination‘ ist ein viel zu undifferenziertes Modell, um die Eigenart dieser Handschriften zu beschreiben. Beide Typen von Mischhandschriften sind keineswegs einfach aus Texten der beiden Haupthandschriften zusammengesetzt.²⁶ Die Teile von D und b weisen im Wortlaut z.T. erhebliche Differenzen zu den Handschriften C bzw. A und B auf; Teile aus den Handschriften C und A/B sind nicht einfach addiert. Es gab offenbar eine andere Textgestalt der *C-Bearbeitung, wie sie in Hs. C vorliegt, bzw. der Pretzel 1960; 1973; die Zählung nach A liegt immerhin noch Brackerts Untersuchungen zugrunde. Pretzel 1973, S. 14: „Damit ist keineswegs der subjektiven Willkür die Tür geöffnet. […] Durch viele Handschriften leuchtet, soweit es den gesicherten Bestand betrifft, diese Einheitlichkeit von Form und Stil hindurch; sie gibt uns auch die Gewähr bei unserem Bemühen, die vom Dichter geprägte oder gewählte Strophe in ihrer zwischen Gesetz und Freiheit gerecht ausgleichenden Gestalt bei unserer Textherstellung sorgsam zu erhalten“. Heinzle 2013a, S. 1002. Kofler 2011; 2012; Pritz 2009. Hinzukommen die spätmittelalterlichen Bearbeitungen k (Springeth 2007) und n (Göhler 1999; Vorderstemann 2000). Textkritisch spielt h keine Rolle, da sie eine genaue, wenn auch fehlerhafte Kopie von J ist. Müller 2016.
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not-Fassung, wie sie in Hs. A und Hs. B – und zwar wieder divergent – überliefert ist. Diese anderen Textgestalten sind in D und b auch mit Lesarten aus dem jeweils anderen Überlieferungszweig kombiniert; sie existierten möglicherweise auch unabhängig von der Textmischung in D und b. Auch die Mischhandschriften Jh und d lassen sich keineswegs als ‚Mischung‘ aus dem Text von A oder B und einzelnen Strophen von C interpretieren. Sie enthalten gegenüber den not-Handschriften einen mehr (Jh) oder minder (d) selbständigen Text. Der Grad der Selbständigkeit von Jh ist höher als der der enger mit Hs. B verwandten Hs. d. Außerdem unterscheiden sich die nach allgemeinem Forschungskonsens aus *C entlehnten Zusatzstrophen sowohl untereinander als auch von Hs. C. Für den not-Text wie den liet-Text bezeugen die Mischhandschriften also mehrere variante Textredaktionen. Weil diese Differenzen nicht beachtet wurden, wurde der Text der Mischhandschriften gegenüber dem Text von A/B und C als nachrangig behandelt, sodass die Chance, mit seiner Hilfe die Varianz in der Nibelungenüberlieferung auf breiterer Basis zu untersuchen, bisher kaum genutzt wurde. Als Mischhandschriften abqualifiziert, wurden sie zu Epiphänomenen von A, B und C. Dabei lässt sich jene abweichende Textgestalt nicht als sekundär qualifizieren; mindestens die Textredaktion der mit D und b verwandten Frr. S1 und S2 reicht in die Frühzeit der Nibelungenüberlieferung zurück und hat durch ihr Alter keine geringere Autorität als die Haupthandschriften. Im traditionellen Modell der Kontamination war die Nibelungenüberlieferung weiterhin auf zwei (drei) Handschriften reduziert, die auf verschiedene Weise in einigen Handschriften vermischt wurden. Bumke meint, man müsse sich mit der Feststellung begnügen, „daß die gesamte Überlieferung auf zwei Fassungen zurückgeht, die nicht auseinander ableitbar sind, von denen die eine vom *C-Redaktor in bestimmter Weise bearbeitet wurde“.²⁷ Damit wird zwar der Gedanke des einen Ausgangspunktes aufgegeben, aber das Problem nur auf zwei ‚Originale‘ verschoben. Überdies lässt sich eine klare Trennung zwischen den beiden Überlieferungssträngen nicht aufrechterhalten. In den beiden Teilen von D und b und in J gibt es „Lesartenübereinstimmungen“ hin- und herüber, die – nach älterer Interpretation – auf „Kontamination zwischen den Hss. schließen lassen“.²⁸
Bumke 1996a, S. 258; vgl. Bartsch 1865, S. 378 – 379 glaubte zwar auch, dass am Anfang der Überlieferung zwei auseinander nicht ableitbare Bearbeitungen (*B und *C) standen. Es sind zwei gleichursprüngliche Texte statt einem Originaltext vorausgesetzt, die mit den traditionellen textkritischen Methoden zu behandeln sind. Die Varianz innerhalb der Fassungen selbst berücksichtigte er nicht. Brackert 1963, S. 161.
Die Passauer Nibelungenwerkstatt und der angebliche Vorrang von *C
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Die Passauer Nibelungenwerkstatt und der angebliche Vorrang von *C Durch die Konzentration auf die Haupthandschriften wird die Textgeschichte des Nibelungenliedes extrem vereinfacht. Diese Vereinfachung geht noch weiter, indem die Haupthandschriften noch enger aufeinander bezogen und in einen einzigen Überlieferungsprozess integriert werden. A wie B (gelegentlich zusammengefasst als *AB-Redaktion) gelten als Zeugnis für eine anfängliche, noch unvollkommene Verschriftlichung des Nibelungenliedes. Diese sei als bloß vorläufig bearbeitet worden. Die Bearbeitung liegt in den *C-Handschriften, der liet-Fassung, vor. Hier kommt das Phantasma der ‚Passauer Nibelungenwerkstatt‘ ins Spiel. In ihr soll diese Arbeit an der unzulänglichen Verschriftlichung der not-Fassung erfolgt sein.²⁹ *AB und *C konkurrieren nicht mehr als gleichwertig miteinander (wie in der älteren Nibelungenphilologie), sondern stehen in einem Folgeverhältnis (Vorstufe – Vollendung) zueinander, wobei der not-Text gegenüber dem liet-Text herabgestuft ist. Der Redaktionsprozess ist zwar nicht zwingend an nur eine Person gebunden,³⁰ wohl aber an eine Institution und eine Personengruppe. Die ‚Passauer Nibelungenwerkstatt‘ soll der zentrale Ort sein, an dem unter der „Leitung eines ‚Meisters‘ – eben des ‚Nibelungendichters‘“³¹ – am Epos weitergearbeitet wurde, um ihm seine gültige Gestalt in der *C-Bearbeitung zu geben, die dann auf alle späteren Reproduktionen des Texts gewirkt haben soll. Diese Nibelungenwerkstatt ist nirgends bezeugt und die Organisation der Arbeit, die ihr zugeschrieben wird, reine Vermutung.³² Den Einwand, dass es sich um eine bloße, überdies unwahrscheinliche Hypothese handle, weist Heinzle zurück,³³ was in gewisser Hinsicht konsequent ist, denn die Nibelungenwerkstatt passt zu dem editionsphilologischen Modell, das Überlieferung als lineare Abhängigkeit zwischen Überlieferungsträgern begreift. Die Nibelungenwerkstatt ist argumentationslogisch eine naheliegende Hypothese im Rahmen des traditionellen Überlieferungsmodells. Sie ist gewissermaßen die Schrumpfform der Vorstellung vom Ursprung eines literarischen Textes von einem Punkt aus, normalerweise von einem Urheber (in der Regel dem Autor). Die ‚Leitung eines Meisters‘ soll den Autor ersetzen. Durch die Hintertür wird durch den ‚Meister‘ die Autorinstanz eingeführt, wobei dem Gedanken der ‚Weiterentwicklung‘ eines unvollkommenen ‚Grundtextes‘ die Vorstellung zugrunde liegt, es handle sich beim Verhältnis von A und B zu C
Bumke 1996a, S. 590 – 594; Heinzle 2003a, S. 194– 197; 2013a, S. 2001. Das nimmt Haferland (2019a+b) an; der *B-Verfasser entwickelt ihm zufolge seinen Text in der *CBearbeitung weiter. Heinzle 2003a, S. 197. Knapp 2015, S. 44: „Nichts nötigt uns zur Annahme einer zeitlich und räumlich eng benachbarten Notund Liedfassung“. Heinzle 2009, S. 64 bemerkt zu Ursula Schulzes Hinweis, dass es in Passau (wie auch sonstwo) keine Indizien für eine „besonders ausgeprägte deutschsprachige Handschriftenproduktion“ gebe: „Der Einwand hat Gewicht, doch macht der Überlieferungsbefund die Annahme unabweichlich“. Welcher Überlieferungsbefund soll das sein? Darüber verlautet nichts.
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um ein Verhältnis analog dem zwischen Urfaust und der vollendeten Tragödie Faust I und II. In der Bearbeitung *C, so nimmt man an, sei der Verschriftlichungsprozess weiter fortgeschritten, weshalb sich *C in der gesamten folgenden Überlieferung durchgesetzt habe. Erst C habe eine „buchgemäße Motivationsstruktur“ und beseitigte „Ungereimtheiten und Widersprüche“, „Unstimmigkeiten und Motivationsdefizite“ und Divergenzen des Bildes der Protagonisten Hagen und Kriemhild im ersten und zweiten Teil des Epos.³⁴ Die not-Fassung sei „nicht akzeptiert“ worden,³⁵ sei ein „Mißerfolg“ gewesen, „beim mittelalterlichen Publikum durchgefallen“.³⁶ Als Grund werden angebliche Mängel der not-Fassung angegeben. *AB mit „seinen Motivationsdefiziten und handlungslogischen Widersprüchen, mit dem weitgehenden Fehlen einer moralischen Perspektive, mit dem Mangel an Reflexion auf die Traditionalität und Historizität des Stoffes“ konnte „einem literarisch gebildeten Publikum nicht genügen“.³⁷ Diese Einschätzung findet in der Überlieferung keine Stütze. Dass das Nibelungenlied in *C seine „modernste Form“ gefunden habe, indem die Widersprüche der notFassung beseitigt wurden,³⁸ hat keineswegs die größere Verbreitung von *C zur Folge, geschweige hat *C die Überlieferung „in geradezu in erdrückender Weise dominiert“.³⁹ Trotzdem wurde diese wiederholt vorgetragene Ansicht von anderen aufgenommen⁴⁰ und als selbstverständlich behandelt. Sie hält einer Überprüfung nicht einmal stand, was die Zahl der Handschriften betrifft. Die Überlieferungsverhältnisse sprechen eine andere Sprache. Es ist unverständlich, wie die liet-Version als die verbreitetste, die Vulgatfassung des Nibelungenliedes, gelten kann.⁴¹ Gewiss, sechs Fragmente (EFRUXZ) folgen der *C-Bearbeitung, wenn auch keineswegs „so gut wie wörtlich“.⁴² Im Gegenteil weisen sie die üblichen teils iterierenden, teils Präsumtiv-Varianten auf und haben sogar
Heinzle 2003a, S. 195 – 196. Heinzle 1995, S. 94. Heinzle 2000, S. 207. Dass in den not-Handschriften die ‚Klage‘ „regelmäßig dem Lied beigegeben ist“, wird als Indiz gedeutet, „daß die Not-Fassung ‚in ihrer ursprünglichen Form‘ [also ohne die ‚Klage‘] für unzulänglich gehalten wurde“ (S. 208). Das müsste dann aber ebenso für die angeblich dem Publikumsgeschmack entsprechenden liet-Handschriften gelten, der regelmäßig die ‚Klage‘ ebenfalls beigegeben ist. Heinzle 2000, S. 208. Diese Meinung verkennt die eigene Poetologie des Nibelungenliedes. ‚Moralisierung‘ (die im Übrigen nicht ganz gelingt) transformiert die Gattung Heldenepik. In diesem Punkt ‚verbessert‘ *C die not-Fassung weniger, als dass sie sie liquidiert. Diese Einschätzung wird keineswegs von allen geteilt. Ursula Hennig, die Herausgeberin von C, urteilt über die Bearbeitung: „inkonsequent wie auch sonst“ (1980, S. 181). Heinzle 2000, S. 209. Dem „Modernisierungsdruck von *C“ (S. 214) hat die Konzeption der not-Fassung recht gut standgehalten. Etwa Henkel 2003, S. 125 u. ö. Heinzle 2008, S. 329 – 331; 2014, S. 119 – 121. Heinzle 2000, S. 209; 2003a, S. 198; Fr. G stammt aus der *C-Klage‘, dürfte also, wie Heinzle bemerkt, auch aus einer *C-Handschrift stammen.
Die Passauer Nibelungenwerkstatt und der angebliche Vorrang von *C
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– gegen C – einige Übereinstimmungen mit der not-Fassung.⁴³ C enthält also keineswegs den endgültigen, sakrosankten Text. Aber auch die sog. Mischhandschriften J, h und d und die zahlreichen ihnen zugeordneten Fragmente (H, K, O, Q, Y und l) basieren nicht auf einem liet-, sondern ganz überwiegend auf einem not-Text und lassen sich daher nicht für den Erfolg von *C vereinnahmen.⁴⁴ Die wenigen Zusatzstrophen, die Jdh aufweisen, berechtigen, selbst wenn sie aus *C entlehnt sein sollten, nicht, diese Handschriften insgesamt auf den Erfolg der *C-Bearbeitung zurückzuführen, da der Text im Übrigen dem not-Text folgt und die Bearbeitungstendenzen von *C nicht teilt. In den Zusatzstrophen fehlen, wie zu sehen sein wird, gerade die entscheidenden Korrekturen von *C gegenüber *AB.⁴⁵ In den Fragmenten von *J sind nicht einmal die mit *C verwandten Zusatzstrophen bezeugt, in einem Fall sogar ausgeschlossen. In den Hss. D und b folgt der bei weitem überwiegende Teil des Nibelungenliedes der not-Fassung (wie *A und *B); nur das erste Zehntel mit dem Anfang, in dem die konzeptionellen Tendenzen von *C noch kaum auftreten, folgt der liet-Fassung. Die not- und liet-Handschriften sind bis ins Spätmittelalter gleichermaßen überliefert, mit Übergewicht der not-Fassung, wenn man *D zu beiden zählt und die Mischtypen *J und *d nicht für *C vereinnahmt.⁴⁶ Diese liegt in AB und, abgesehen von den Zusatzstrophen, in Jdh vor, dazu im bei weitem größten Teil von D und b, außerdem in den Fragmenten MHKNOQS2VWY. Erst recht beweist die Bearbeitung in Lienhard Scheubels Heldenbuch (k) nicht die ‚erdrückende‘ Dominanz von C, sondern allenfalls dass dem Bearbeiter von k eine weitere *C-Handschrift zur Verfügung stand, neben einem not-Text. Das Gleiche gilt für n. Besonders Lienhard Scheubels Heldenbuch ist keine Fassung des Nibelungenliedes, sondern benutzet dessen Stoff und Teile von dessen Text nur als Material.⁴⁷ Die überwältigende Mehrzahl enthält also die ‚beim mittelalterlichen Publikum durchgefallene‘ not-Fassung. Auf ihr beruhende Texte wurden bis ins 16. Jahrhundert weiterverbreitet (d, c?), und das lässt sich nicht nur mit dem kontingenten Umstand begründen, dass gerade keine *C-Bearbeitung zur Verfügung stand. Indem das Konstrukt der Nibelungenwerkstatt die Abweichungen der Textgestalt, die jenseits der konzeptionellen Eingriffe durchweg zwischen den Hss. B und C beste-
Vgl. S. 198 – 205. Heinzle 2000, S. 211– 213. Vgl. S. 247– 250. Heinzle rechnet anders. Er kommt (ohne die ‚kontaminierten‘ Handschriften) auf 10 Handschriften von*C, denn er zählt *D insgesamt (mit den Hss. D und b und Fr. S1) und die Bearbeitung im Heldenbuch Lienhard Scheubels (k) hinzu; k ist allerdings nicht einfach als Text des Nibelungenliedes aufzufassen und nicht umstandslos der *C-Fassung zuzuschlagen, wenn k auch überwiegend auf ihr basiert. Vielmehr bezeugt k wie n für das Spätmittelalter ein Nebeneinander von not- und liet-Fassungen (vgl. Göhler 1995, S. 77; Heinzle 2000, S. 219). Mehr als „die Präsenz von *C in der Spätphase der Überlieferung“ beweisen k und n nicht. Ohne k decken die Handschriften mit *C-Text nicht 90 %, sondern nur ein knappes Fünftel des Textes von C/a ab (Heinzle 2008, S. 330; 2014, S. 120); zur Berücksichtigung von k und n vgl. S. 40 – 41. Vgl. S. 41, Anm. 163.
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hen, als Differenz zwischen vorläufiger und endgültiger Textgestalt interpretiert, bleibt offen, wie sich eine solche zentralisierte Bearbeitung mit der Varianz in den restlichen not- wie den liet-Handschriften verträgt. Auch die Varianz von A und B wird bei der Rekonstruktion des Bearbeitungsprozesses vernachlässigt und letztlich eskamotiert. Was nicht auf dem Weg von B nach C liegt, fällt weg. Haferlands in eine andere Richtung gehenden These, dass Abweichungen zwischen den Handschriften durch Gedächtnisdefizite und durch deren improvisierte Reparaturen, also durch verformte Wiedergabe des ursprünglichen Textes, entstehen, ist solchen Überlegungen verwandt. Varianz wird in einem einzigen Überlieferungsprozess zwischen nur zwei Überlieferungsträgern kanalisiert.⁴⁸ Die Hypothese einer Nibelungenwerkstatt krankt daran, dass gar nicht klar ist, welcher Text als vorläufige erste Verschriftlichung dort eigentlich bearbeitet wurde, ob A oder B oder ein anderer not-Text: „Welche der Fassungen dem vorauszusetzenden Grundtext näher steht, muß grundsätzlich offen bleiben“.⁴⁹ Der ‚vorläufige‘ Text wird ebenso gut durch B wie durch A repräsentiert. Eine Ausgabe der not-Fassung hätte grundsätzlich statt der Hs. B auch A zugrunde legen können.⁵⁰ Damit kommt selbst hier in den ‚vertikal‘ vorgestellten Überlieferungsprozess ein ‚horizontales‘ Moment: Als Ausgangssituation hat man nicht das vom genealogischen Textmodell stets unterstellte Hintereinander zweier Überlieferungsträger sich vorzustellen, bei denen der eine vom anderen abhängig ist, sondern ein Nebeneinander, bei dem eine Entscheidung zwischen ‚primär‘ oder ‚sekundär‘, ‚ursprünglich‘ oder ‚nicht‘, nicht möglich ist. Die Handschrift A, die etwa bei Braune nur in ihrem Verhältnis zu B (archetypnäher oder nicht?) wahrgenommen wurde, bezeugt eine Textgestalt neben, nicht nach B. Ihr Status ist unsicher.⁵¹ Das bedeutet, dass selbst der Versuch der Reduktion der Varianz in einem Bearbeitungsprozess durch eine Nibelungen-Werkstatt mit einem Nebeneinander gleichwertiger Texte rechnen muss.
Die Fragmente Schon wenn man die sog. kontaminierten Handschriften in die Untersuchung einbezieht, ist ein Nebeneinander gleichwertiger, nicht auseinander ableitbarer Varianten kein Einzelfall. Das Nebeneinander von A und B setzt sich in den Varianten von Db, Jh
Haferland 2019a+b; 2006. Heinzle 2008, S. 310. Heinzle 2013a, S. 1002. Dass A fehlerhafter als B ist, ist für diese Überlegung von zweitrangiger Bedeutung. Bumke 1964, S. 429 betont, dass das Verhältnis von *A und *B ungeklärt sei. „Denn in beiden Gruppen finden sich widersprüchliche Bearbeitungstendenzen, in beiden steht Ursprüngliches und Sekundäres nebeneinander“. Wie man beides trennen soll, sagt Bumke nicht. Haferland 2006, S. 185 rechnet mit „Kontaminationen aus dem Gedächtnis“ des Sängers, der Lesarten anderer Handschriften als „Reflexe vorhergehender Fassungen“ einmischte (S. 193).
Die Fragmente
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und d fort. Die Sachlage wird nun erst recht kompliziert, wenn man die Fragmente berücksichtigt, denn die Fragmente potenzieren den Umfang der Varianz noch einmal gegenüber den vollständigen Handschriften. Die Fragmente spielten bisher in der Überlieferungsgeschichte eine untergeordnete Rolle. Sie stützten durch einzelne Lesarten die Haupthandschriften, sie wurden ihnen oder einer der vollständigen Handschriften zugeordnet, ihr Layout wurde verglichen; sie konnten auch einmal für eine ungewöhnliche Lesart eintreten. Indem die Frage ihres Verhältnisses zu den vollständigen Handschriften im Vordergrund stand, wurde die Varianz, die sie bezeugen, von vorneherein als sekundäres Phänomen zurückgestuft. Nur selten wurde in Erwägung gezogen, dass die Handschriften, aus denen die Fragmente stammen, einen selbständigen Stand der Überlieferungsgeschichte repräsentieren könnten und dass sie in der Summe andere Überlieferungsverhältnisse nahelegen als die traditionelle Textkritik. Solange man sich auf die Haupthandschriften konzentrierte, konnte man versuchen, die Varianten als Folge der stemmatologischen Verhältnisse oder als Ausdruck von Kontaminationen wegzuerklären. Die Fragmente dagegen zeigen, dass solche Varianz ubiquitär ist und dass die traditionellen Erklärungsmodelle bei ihnen versagen. Sie führen zu uneindeutigen Verwandtschaftsverhältnissen zwischen Handschriftengruppen.⁵² Wenn man diese auf Kontamination zurückführen will, muss man das umstrittene Modell der Kontamination⁵³ exponentiell oft einsetzen. Bisher fehlte ein Überblick über die Überlieferung, der erst das ganze Ausmaß der Varianz sichtbar gemacht und zu Konsequenzen für die Editionsphilologie geführt hätte. Solch ein Überblick ist jetzt durch Walter Koflers Ausgabe der Fragmente möglich.⁵⁴ Wer den Zustand eines Teils der Fragmente kennt, kann Koflers großartige Leistung nur bewundern. Seine Ausgabe ist ein Meilenstein der Nibelungenphilologie, selbst wenn man über einige Details diskutieren kann. Kofler hat, wo die Fragmente wegen unsachgemäßer Behandlung gelitten haben, gelegentlich auf Lesungen zurückgreifen müssen, die von Vorgängern stammen, die die Fragmente in einem besseren Zustand sahen. Das ist alles genau nachgewiesen. Seine Ausgabe repräsentiert so den derzeitig möglichen Überblick über die Überlieferung. Betrachtet man die Überlieferung insgesamt, unter Einschluss der Fragmente, dann hat man es mit einem kaum übersehbaren Nebeneinander von kleinsten bis zu größeren Abweichungen zwischen den Handschriften zu tun, die z.T. den gleichen Anspruch auf Richtigkeit haben und nicht voneinander abgeleitet werden können. Die schiere Zahl der Varianten sprengt die traditionellen Textvergleiche, die Basis stemmatologischer Entscheidungen waren. Das Verhältnis der Fragmente zu den vollständigen Handschriften, ihre Verwandtschaften und Abhängigkeiten untereinander sind im Allgemeinen uneindeutig, da in verschiedene Richtungen weisend. Nicht nur korrigieren die Fragmente einige Annahmen über die vollständigen Handschriften, sie proble Vgl. die Kapitel ‚Die Fragmente‘ und ‚Fassungen‘. Zu dessen Kritik Heinzle 2008, S. 322. Gewiss darf man es nicht pauschal verwerfen, aber es auch nicht als Passepartout für alle Schwierigkeiten der Überlieferung benutzen. Kofler 2020.
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matisieren vor allem ihre dominierende Position als Richtmaße für ‚richtig‘ und ‚falsch‘ und für ‚ursprünglich‘ oder ‚sekundär‘. Sie werfen Fragen auf nach dem Status von ‚Redaktionen‘ und ‚Fassungen‘, und sie relativieren einige vermeintliche Selbstverständlichkeiten, an denen die Nibelungenphilologie trotz Brackert weiterhin festhielt und die notfalls durch einige spekulative Hilfskonstruktionen wie die Passauer Nibelungenwerkstatt gestützt werden sollen. Die Fragmente bezeugen ein andere Textualität des Nibelungenliedes, die sich von der Textualität einer modernen Dichtung fundamental unterscheidet. Um das nachzuweisen, ist der langwierige und anstrengende Weg durch die Niederungen der Lesarten erforderlich. Ich habe mich entschlossen, diesen Weg in der vorliegenden Untersuchung zu gehen. Vollständigkeit kann nicht das Ziel sein, sondern nur Exemplarität und Repräsentativität. Unvermeidlich ähneln einige Abschnitte dieses Buchs den Belegkumulationen traditioneller Nibelungenphilologie; sie sind notwendig als Reaktion auf die Aporien älterer Textphilologie. Sie visieren aber ein anderes Ziel der Überlieferungsgeschichte an. Was dank Koflers Ausgabe in extenso auch für die not-Texte nachgewiesen werden kann, das hat, noch unter den Prämissen der traditionellen Textkritik und ihren Versuchen einer genealogischen Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte bereits vor fünfzig Jahren Ursula Hennig für die *C-Bearbeitung gezeigt. Ihre gründliche Musterung der *C-Überlieferung kann keine einzige direkte Abhängigkeit zwischen zwei Überlieferungsträgern (vollständige Handschriften und Fragmenten) nachweisen, und sie hält eine Einordnung der Fragmente „in die Form eines Handschriftenstammbaums auf einen gemeinsamen Urtext *C1 oder gar C“ zurückzuführen, für unmöglich“.⁵⁵ Das Ergebnis ihrer Untersuchung, das die Überlieferung der *C-Bearbeitung in ihrer ganzen Breite berücksichtigt, ist ernüchternd: Hennig konzentriert sich auf Varianten, die für die lineare Ableitung einer Handschrift aus einer anderen relevant sein könnten. Zunächst wertet sie die relativ junge Hs. a auf, in der besonders der zweite Schreiber ab a 1584,2 sich recht genau an den Text der Vorlage hält. Doch widerlegt sie durch wechselseitige Korrektur von Fehlern, aber auch durch Formulierungsalternativen eine direkte Abhängigkeit der Hs. C von a, aber auch der Hs. a von C. Für C und a vermutet Hennig ausweislich der gemeinsamen Fehler eine gemeinsame Vorlage, wobei unklar ist, wie diese Vorlage aussah und welche Vermittlungsstufen anzusetzen sind.⁵⁶ Diese Erkenntnis überprüft sie an den Fragmenten. Auch das mit C eng verwandte Fr. E hat Varianten, ohne dass eine Entscheidung möglich ist.⁵⁷ Fr. R „konkurriert mit C und a“,⁵⁸ lässt sich also nicht einem Überlieferungszweig *Ra zuordnen. Die Sichtung der übrigen Fragmente, vor allem F und Z, führt zu ähnlichen Schwierigkeiten und Widersprüchen. Über F schreibt Hennig: „Die Durchsicht der kurzen Textpartie, die in C, F und a erhalten ist, ergibt daß jeder der Textzeugen innerhalb der liet-Fassung die für die Fassung *C1 wahrscheinliche Lesung bieten kann“
Hennig 1972, S. 132; vgl. S. 124– 131. Hennig 1972, S. 122– 124. Braune 1900, S. 17; Hennig 1972, S. 125: Zwischen „Alternativvarianten in C und E“ wäre eine Entscheidung nur „aufgrund von metrischen oder stilistischen Erwägungen möglich.“ „Andererseits reichen die wenigen Lesarten, in denen E mit einem Teil oder gesamten übrigen Überlieferung gegen C steht, nicht aus, um eine größere Selbständigkeit von E gegenüber C nachzuweisen“. Hennig 1972, S. 125.
Die Fragmente
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und überdies „für sich allein Lesarten […], die ihre Parallele innerhalb der Überlieferung außerhalb der liet-Gruppe haben“.⁵⁹ Auch Z erlaubt nicht „jeweils die Lesart von *C1 sicher herzustellen“.⁶⁰
Das Fazit ist, dass in Bezug auf die „Großstruktur“ alle Textzeugen das deutliche Profil der liet-Bearbeitung bestätigen. „Dagegen weist sie in der textlichen Feinstruktur Unterschiede auf, die sich nicht in der Form eines Handschriftenstammbaumes auf einen gemeinsamen Urtext *C1 oder *C zurückführen lassen“.⁶¹ Hennigs genaue Untersuchung dokumentiert das Scheitern der genealogischen Textkritik. Natürlich könnte man versuchen, durch Ansetzen sehr vieler erschlossener Zwischenstufen und die Vermutung zahlreicher Kontaminationen genealogische Abhängigkeiten zwischen den erhaltenen Überlieferungsträgern wahrscheinlich zu machen und in einem Stemma darzustellen. Bei den Zufälligkeiten der Überlieferung ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass gemeinsame Vorlagen oder Zwischenglieder verloren gingen. Die Zahl erschlossener Handschriften und die Zahl von Kontaminationsvorgängen würde aber so unwahrscheinlich hoch, dass das traditionelle Modell der Überlieferungsgeschichte nur um den Preis zahlloser hypothetischer Voraussetzungen gerettet werden könnte. Es würde zu ähnlich komplizierten Lösungen führen wie die mittelalterlichen Erklärungen der Planetenbahnen im Rahmen des geozentrischen Weltbildes. Wahrscheinlicher ist, dass das genealogische Textmodell selbst korrekturbedürftig ist. Anstelle des Kartenhauses nicht belegbarer Hypothesen nötigt Hennigs ehrlicher Befund, die Varianz der Überlieferung anders zu erklären. Die traditionelle Nibelungenphilologie suchte mit Hilfe der Überlieferungsvarianten bis hin zu Braune (1900) den Vorrang einzelner Überlieferungsträger vor anderen und ihre sekundäre Beeinflussung durch andere nachzuweisen, dann, indem sich das seit Brackert (1963) als illusorisch erwies, wenigstens die genealogische Verwandtschaft zwischen einzelnen Überlieferungsträgern zu ermitteln, alles mit Hilfe von linearen, ‚genealogischen‘ Abhängigkeiten jüngerer Handschriften von älteren. Das Ziel war, die Verzweigung der Überlieferung auf einen Ausgangspunkt zurückzuführen, der dann seinerseits zu anderen Verzweigungspunkten in Beziehung gesetzt wurde, mit dem Fernziel eines Stammbaums der wichtigsten Überlieferungsträger. Das Ziel, die Überlieferung auf diese Weise zu ordnen, wurde nach Brackerts Nachweis, dass Braune seine Absicht verfehlt hatte, nicht grundsätzlich aufgegeben, sondern nur resigniert seine Erreichbarkeit grundsätzlich verneint. Von Fall zu Fall aber spukt das Ziel noch im Hintergrund. Brackert verzichtet zwar darauf, Braunes Stemma durch ein besseres zu ersetzen, aber er fragt, ob diese oder jene Lesart auch einer jüngeren Handschrift nicht doch ‚ursprünglich‘ sei,⁶² d. h. auf verschlungenen, nicht mehr rekonstruierbaren Wegen in
Hennig 1972, S. 130. Hennig 1972, S. 131– 132 Hennig 1972, S. 132. So übernimmt Brackert in seiner Ausgabe (1971, S. 252) die Lesart eine gegen die restliche Überlieferung aus J 2324,4; vgl. Brackert 1963, S. 171 und S. 257.
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eine spätere Handschrift gelangt sei. Auch die bereinigten Ausgaben nach Hs. B fragen bei schwierigen Lesarten oder dem B entgegenstehenden Zeugnis der restlichen Überlieferung, was wohl als ‚ursprünglich‘ anzusehen sei und ob die in B bezeugte Lesart fehlerhaft sei oder nicht doch der ursprünglichen Gestalt dem entsprochen haben könnte.⁶³ Dieses Modell einer Rückführung auf einen ursprünglichen Text geben die folgenden Überlegungen probeweise auf. Sie nehmen, wie gesagt, eine anfängliche Varianz der Nibelungenüberlieferung an. Damit wird die Suche nach dem einen Ausgangspunkt der Überlieferung überflüssig. Doch zielt die Untersuchung über eine bloß editionsgeschichtliche Dokumentation hinaus, indem die Varianz als Konsequenz einer besonderen Poetik des Nibelungenliedes nachgewiesen werden soll, die das Epos nicht nur von literarischen Kunstwerken der Moderne, sondern auch von den ungefähr gleichzeitigen Autortexten der höfischen Epik unterscheidet. Bumke hat allgemein an vielen Beispielen die Varianz früher volkssprachiger Epenüberlieferung betont. Die Texte waren nicht „erst fixiert und dann nachträglich verändert“, sondern treten von vorneherein variant auf.⁶⁴ Aber Folgerungen daraus wurden nur selten gezogen.⁶⁵ Bumke hatte selbst betont, dass die Überlieferungsverhältnisse in ihrer Besonderheit für jede Gattung untersucht werden müssen und hatte Beispiele aus der mittelalterlichen Lyrik, der geistlichen Dichtung und seiner eigenen Forschungen zu höfischen Romanen dafür zitiert, dass in der Frühzeit volkssprachiger Schriftlichkeit deren Aufzeichnung variant ist. Gattungsspezifische Unterschiede sind bei der Untersuchung prinzipiell in Rechnung zu stellen. Er selbst hatte in seinen Arbeiten zur Nibelungenklage (1996a und 1999) die gattungsspezifische Varianz eines Textes aus dem Umkreis der Heldenepik untersucht. Für die höfischen Romane hatte er Parallelfassungen – u.U. auf den Autor selbst zurückgehend – erwogen. Wenn auch die Überlieferung der Werke Hartmanns oder Wolframs variant ist, so besteht doch kein Zweifel, dass sie an ein Autorsubjekt zurückgebunden werden und von ihm her beurteilt werden muss und dass es eine oder vielleicht auch mehrere Fassungen des Autors gegeben hat, die insofern als authentisch gelten können. Davon abzusetzen wären spätere Bearbeitungen des Autortextes. Die höfische Lyrik scheint anfangs weniger fest mit einem Autor verbunden gewesen zu sein, wie Doppelzuweisungen von Texten nahelegen, vor allem wenn der Unterschied zwischen dem Vortragenden und dem Verfasser verwischt ist. Die einzelnen Bauelemente eines Liedes scheinen variabel und in wechselnder Zahl kombinierbar gewesen zu sein. Hier dürfte die Vortragssituation sich auf Auswahl, Anordnung und Gestalt des vorzutragenden Textes ausgewirkt haben. Heldenepische Texte stehen unter besonderen Bedingungen. Sie sind nicht für alle Heldenepen gleich. Diese Besonderheit der Gattung wurde bei der Nibelungenüberlie-
Beispiele aus der Ausgabe von Heinzle 2013a habe ich in Müller 2020 besprochen. Bumke 1996b, S. 125. U. a. in Michael Stolz‘ Projekt einer Untersuchung sämtlicher ‚Parzival‘-Handschriften.
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ferung bisher kaum erwogen, wobei nicht nur zwischen Dietrichepik und Nibelungenlied, sondern auch zwischen dem Epos und der ‚Klage‘ noch einmal zu unterscheiden wäre. Die Chancen und die theoretischen Schwierigkeiten von Bumkes Ansatz, auf die Peter Strohschneider in zwei ausführlichen Rezensionen des ‚Klage‘-Buchs und der Ausgabe hingewiesen hatte,⁶⁶ wurden nicht weiter diskutiert, geschweige ihre Applikation auf das Nibelungenlied selbst geprüft. Eine Übertragung seiner Überlegungen zur ‚Klage‘ auf das Nibelungenlied nahm Bumke aus gutem Grunde nicht vor, denn das Epos ist nicht ohne weiteres analog zu behandeln, weil, wie zu sehen sein wird, der Typus der Varianz andere Erscheinungsformen hat als die ‚Klage‘. Diesem Typus ist die folgende Untersuchung gewidmet. Sie wendet sich vom bisherigen Modell der Textkritik ab, das auf der Annahme einer und nur einer originalen Textfassung beruht, auf der die Überlieferung basiert. Sie schlägt ein anderes Modell vor. Dabei beansprucht sie nicht, für Epik um 1200 generell zu gelten, nicht einmal für die Heldenepik. Sie will für das Nibelungenlied das modifizieren, was Joachim Bumke unter anderen Bedingungen für die Nibelungenklage geleistet hat. Sie gehen von der besonderen, nicht textkritisch reduzierbaren Varianz der Überlieferung des Nibelungenliedes aus.
Aporien und Inkonsequenzen der ‚genealogischen‘ Methode Die traditionelle Textkritik beruht auf der von Karl Lachmann entwickelten ‚genealogischen‘ Methode. Die Überlieferung eines Textes soll über Zwischenstufen möglichst nahe an die ursprüngliche Gestalt des Textes heranführen oder, wenn das Original (etwa das Autograph eines Dichters) unerreichbar ist, wenigstens aber an den Archetyp, von dem alle Überlieferung ausgeht. Die Überlieferungsträger sind durch lineare ‚Abstammung‘ verbunden, die sich im Lauf der Überlieferungsgeschichte verzweigt, weil sich Fehler oder sonstige Veränderungen (in Bezug auf Original/Archetyp: ebenfalls als Fehler zu werten) einschleichen; diese setzen sich in der weiteren Reproduktion des Textes fort. Die Abstammungsverhältnisse sind in einem Stammbaum (Stemma) darstellbar. An diesem Überlieferungsmodell hat ein Jahr nach Erscheinen von Brackerts Nibelungen-Buch Karl Stackmann ganz grundsätzlich Kritik geübt. Die ‚genealogische‘ Methode der Textkritik setzt eine lineare Transmission von einem Überlieferungsträger auf den anderen voraus. Als die wesentlichen Bedingungen für ihre Anwendbarkeit nennt Stackmann: 1. Die Überlieferung muß geschlossen sein, d. h. am Anfangspunkt der uns überschaubaren Tradition muß ein einziger, fest umrissener Archetyp stehen. 2. Die Überlieferung muß ausschließlich vertikal verlaufen, jeder Abschreiber darf nur den Text einer einzigen Vorlage wiedergeben.
Strohschneider 1998 und 2001; vgl. S. 210 – 211.
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3. Die Verwandtschaft der an der Überlieferung beteiligten Handschriften muß auf Grund einwandfrei erkannter Fehler bestimmt sein. 4. Die an der Überlieferung beteiligten Schreiber müssen mit dem Vorsatz gearbeitet haben, den Wortlaut ihrer Quelle getreu wiederzugeben. Es darf keine unberechenbaren Sprünge zwischen Vorlage und Abschrift geben.⁶⁷
„Dieser Fall ist bei Texten aus dem deutschen Mittelalter nirgends gegeben“.⁶⁸ Damit entfällt die Grundlage dieses Überlieferungsmodells. In einem späteren Beitrag hat Stackmann deshalb „eine radikale Erneuerung der editorischen Fundamente“ gefordert: verbesserte Einsicht in die Bedingungen, die uns mit der Überlieferung gegeben sind, erzwingt allenthalben eine Revision traditioneller Anschauungen. Ganz allgemein gilt es Abschied zu nehmen von einer Zielvorstellung, die dem Editor die Rekonstruktion eines bis in die Einzelheiten festgelegten Originaltextes vorschreibt.⁶⁹
Nach Brackert ist beim Nibelungenlied bereits die erste Bedingung nicht erfüllt. Die zweite setzen die meisten Arbeiten zur Editionsphilologie a priori voraus, die sich bemühen, eine lineare Abfolge der an der Textkonstitution beteiligten Handschriften herzustellen; nachweisbar ist sie nicht. Sie soll garantieren, dass, indem die Abweichungen der Überlieferungsträger hintereinandergeschaltet werden, diese als auseinander hervorgehend erklärt werden können. Diese Voraussetzung steht hinter Braunes editionsphilologischen Untersuchungen: Wenn es für die entstehung mittelalterlicher hss. als die regel betrachtet werden darf, dass die eine aus der anderen einfach abgeschrieben worden ist, so muss auch an die beurteilung einer weit verzweigten überlieferung zunächst die forderung gestellt werden, die abstammungs- und verwantschaftsverhältnisse unter substituierung der nötigen zwischenglieder genau zu reconstruieren.⁷⁰
Dabei wird der Text im Laufe der Überlieferungsgeschichte zunehmend entstellt; gemeinsame Fehler (Voraussetzung 3) unter den Überlieferungsträgern erlauben die Stationen dieser Entstellung zurückzuverfolgen und gleichzeitig Elemente des gemeinsam Bewahrten auszumachen. Der genealogische Zusammenhang soll „in lückenloser schriftlicher Tradition“ nachgewiesen werden.⁷¹ Alle Handschriften sind jeweils von einer bestimmen Vorlage abhängig. Bei Abweichungen zwischen zwei Handschriften erschließt Braune eine „Stammhandschrift“, die vor dem Verzweigungspunkt der
Stackmann 1964/1993, S. 6 – 7; zum genealogischen Modell der Textkritik allgemein Maas 1957. Stackmann 1994/1998, S. 31. Es handelt sich um einen „sehr speziellen Fall einer Überlieferung, die von einem festen, mit dem Original identischen oder ihm zumindest sehr ähnlichen Archetypus ausgeht; ausschließlich vertikal verläuft, mit Hilfe von Fehlern geordnet werden kann und nicht durch willkürliche Eingriffe von Bearbeitern gestört ist“. Stackmann 1994/1998, S. 33. Braune 1900, S. 3. Brackert 1963, S. 7.
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Überlieferung liegt und von der die eine Handschrift die richtige Lesart hat und die andere die Abweichung. Handschriften mit verwandten Lesarten gehen auf eine „Stammhandschrift“ (auch „grundhs.“) zurück.⁷² Die Prämissen implizieren, dass die Überlieferungsträger des Nibelungenliedes in einem lückenlosen Zusammenhang zueinander stehen und dass dieser Zusammenhang zugleich immer wieder durch Fehler, zufällige Übereinstimmungen und Eingriffe, nur ausnahmsweise auch durch Kontamination, gestört wird. Diese Grundannahmen wurden immer weiter verfeinert, doch blieben sie im Ganzen intakt, obwohl immer kompliziertere Rekonstruktionen und immer zahlreichere Zwischenglieder erforderlich waren, um die Bedingungen zu erfüllen. Aber die Konsequenz zu ziehen und zu fragen, ob denn die Prämissen selbst zu halten sind, hat niemand sich – übrigens auch nach Brackerts Kritik – getraut. Um Lückenlosigkeit der Abhängigkeitsverhältnisse zu garantieren, ist bei Braune die Annahme von immer zahlreicheren erschlossenen Zwischenstufen erforderlich. Mit Hilfe der erschlossenen Handschriften scheint es ihm möglich, die gesamte Überlieferung genealogisch zu ordnen und in einem Stemma abzubilden. Das Verfahren bezieht sich also nicht nur auf die tatsächlich überlieferten Handschriften, sondern setzt zwischen ihnen „zwischenhs(s)“ an. Den überlieferten Handschriften gehen jeweils mit einem Asterisk (*) gekennzeichnete, erschlossene „stammhs(s).“ voraus. Die erschlossenen Stammhandschriften werden wie wirklich vorhandene Texte behandelt, aus denen die überlieferten Textzeugen abgeleitet werden können. Das Verfahren ist zirkulär, indem die aus den Varianten erschlossenen ‚Vorstufen‘ das So-und-nicht anders eben dieser Varianten erklären sollen. Die Proliferation der erschlossenen Zwischenstufen ist atemberaubend. Das Braunesche Stemma, das Michels seiner Abhandlung vorausschickt (und im Folgenden kritisiert),⁷³ rechnet immerhin mit drei hypothetische Bearbeitungsstufen, die den ersten tatsächlich überlieferten Handschriften oder Fragmenten vorausgegangen sein müssen. Das setzt sich fort in den vielen hypothetischen Zwischengliedern, die Braune ansetzt, um die überlieferten Handschriften miteinander zu verbinden. Auch für die spätere Überlieferung, z. B. für das Verhältnis der Fragmente von *J zu Hs. J, ist die Annahme von zahlreichen Zwischenstufen erforderlich. Abeling zählt insgesamt immerhin 20 erschlossene Zwischenstufen.⁷⁴ Die Forschung nach Braune vergrößerte diese Zahl noch, ohne Konsens zu erreichen. Zusätzlich ergeben sich Schwierigkeiten bei Übereinstimmungen in gemeinsamen Lesarten von solchen Handschriften, die den Analysen zufolge stemmatologisch getrennten Überlieferungszweigen angehören. Wenn man solche Übereinstimmungen nicht auf Zufall zurückführt, muss man Kontamination zwischen diesen Strängen der Braune 1900, S. 5; 11 u. ö. Michels 1928, S. 1: „Da meine Ausführungen unmittelbar an Braunes Stammbaum anknüpfen, wie sie Braunes Darlegungen in allen Stücken voraussetzen, sei er hier wiederholt“; vgl. S. 2. Abeling 1920, S. 160; er stellt Braunes Annahme einer ausschließlich literarischen Überlieferung in Frage.
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Überlieferung annehmen. Grundsätzlich schließt Braune zwar Kontamination aus,⁷⁵ konkret spielt Kontamination im Überblick über die Gesamtüberlieferung jedoch eine wichtige Rolle. So rechnet man von Beginn der Überlieferung an mit einem Einfluss der liet-Bearbeitung auf die not-Überlieferung. In diesem Fall hat man exzessiv und gegen jede Wahrscheinlichkeit von der Vermutung der Kontamination Gebrauch gemacht. Das setzt die Konzentration der Überlieferung an einem Ort voraus und von Anfang an einen Textvergleich zwischen mehreren Überlieferungsträgern. Das ist im Einzelfall zwar nicht ausgeschlossen, für das Spätmittelalter sogar vielfach bezeugt, doch dürfte es angesichts der Knappheit von Handschriften um 1200 kaum die Regel gewesen sein. Kontamination setzt voraus, dass Überlieferungsträger aus unterschiedlichen Zweigen gleichzeitig und in beträchtlicher Zahl dem Schreiber verfügbar waren, sodass sie bei der Entstehung einer neuen Handschrift benutzt werden konnten, der Schreiber also auf „Nebenquellen“ zurückgreifen konnte und Querverbindungen zwischen den Überlieferungszweigen entstanden.⁷⁶ Der Begriff der„Nebenquelle“ unterstellt übrigens die Arbeit eines Historikers,⁷⁷ der alles, was er über seinen Gegenstand finden kann, zusammenträgt. Solch eine Verfahren ist erst im Spätmittelalter – bei Entstehung von n und auch von k – bezeugt. Kontamination ist deshalb nur in besonderen Fällen eine Lösung des Problems. Es gibt andere, näher liegende Möglichkeiten, durch die Varianz entstehen konnte. Wenn man die Benutzung mehrerer Handschriften als Regel ausschließen will, muss man glaubhaft machen, dass die Übereinstimmung in einer Textabweichung mit einem anderen Überlieferungszweig auf „zufall“ beruht,⁷⁸ auf „zufällige[m] zusammentreffen unverwanter hss. in derselben änderung“, nicht auf „mischung der über-
Vgl. Brackert 1963, S. 7, wo die Ausnahmen notiert sind. Heinzle rechnet damit, „dass in den Schreibstuben verschiedene Fassungen des betreffenden Werks verfügbar waren (2008, S. 322). Das ist weder durch die Mischtexte noch das Fr. E (wenn es wirklich von einem der Schreiber des Sangallensis 857 stammt), eindeutig bewiesen. „Zu Unrecht“ habe man daran gezweifelt, „dass man in einem und demselben Skriptorium mit verschiedenen Fassungen eines Textes umgegangen sein soll“; „an der Tagesordnung“ sogar soll dergleichen gewesen sein (Heinzle 2013b, S. 10 gegen Nellmann 2009, S. 126). Die Beispiele, die Heinzle dafür anführt, sind nicht überzeugend. Die *DHandschriften, die aus liet- und not-Teilen zusammengesetzt sind, zeigen im Gegenteil, dass ein Vorlagenwechsel erzwungen wurde, weil die ursprünglich gewählte Handschrift nicht mehr verfügbar war. Dass die Zusatzstrophen von *J und *d aus einer im Skriptorium zuhandenen *C-Handschrift in eine ebenfalls dort verfügbare *B- Handschrift abgeschrieben wurde, ist bloße Vermutung, die außerdem die unterschiedliche Textgestalt erklären müsste. Von einer Sammlung von Nibelungenhandschriften ist nichts bekannt. Von dieser Ansicht hat sich die neuere Forschung abgekehrt. Paul 1876, S. 465 verstieg sich noch zu einer Ansicht, die mehr am modernen Historiker und Philologen als am mittelalterlichen Schreiber abgelesen ist: „Nicht selten ist es vorgekommen, dass aus einer hs. der vordere, aus einer andern der hintere teil abgeschrieben ist; auch dass aus verschiedenen hss. bald eine partie aus dieser, bald aus jener genommen ist, lässt sich nachweisen. Denkbar wäre es auch, dass zwei hss. fortlaufend neben einander gebraucht und mit einer art von kritik bald die lesart dieser, bald die jener ausgewählt wäre“. Braune 1900, S. 7.
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lieferung“.⁷⁹ ‚Zufall‘ ist aber eine Verlegenheitskategorie, wenn man die Abhängigkeit nicht nachweisen kann bzw. wenn man sie auf Grund von anderen Annahmen über die stemmatologischen Verhältnisse ausgeschlossen hat. Man bemüht den Zufall daher möglichst selten. Braunes Arbeit wird meist auf die Haltbarkeit seines Stemmas befragt, doch die eigentlichen Probleme liegen in den Detailuntersuchungen zu einzelnen Stellen und ihren impliziten Voraussetzungen. Übergeordnete Frage bei allem, was Braune untersucht, ist: Welche Lesart ist primär, welche sekundär, welche könnte auf das ‚Original‘ verweisen? Er trifft Entscheidungen, was „echt“, die „originalere form“, der „älteste() text“, die „ältere fassung“, „das echtere“ o. ä. ist.⁸⁰ Dabei gesteht er zu: Auch die „urhs.“ könnte „einige fehler“ gehabt haben⁸¹ – Fehler in Bezug auf was? Auf das, was der Editor oder Interpret für den ‚richtigen‘ Text, für logisch oder widerspruchsfrei hält? Die Beweisführung erfolgt im Übrigen sehr kleinteilig, d. h. von einer Lesart der Einzelstelle zur nächsten. Sie ist auf den Einzelfall zugeschnitten und beruht auf sehr heterogenen, untereinander nicht abgestimmten Argumenten. Dabei gerät Stackmanns vierte Bedingung völlig aus dem Blick, dass die Schreiber „den Wortlaut ihrer Quelle getreu“ wiedergeben wollten.⁸² Braune nimmt unablässig an, dass die Abschreiber des Nibelungenliedes immer wieder in den Text eingriffen, weil sie ihn nicht verstanden, seine Formulierungen ihnen veraltet vorkamen, ihnen fehlerhaft erschienen, der Text von ihnen verbessert werden sollte usw., und dass auf diesem Wege die Entfernung vom ‚Ursprünglichen‘ sich potenzierte. Braune unterstellt bei der Reproduktion des Nibelungenliedes mithin zwei Prozeduren, die sich im Kern widersprechen. Auf der einen Seite rechnet er mit der Norm strenger Orientierung der Abschrift an einem Vorlagentext, denn nur dann kann man von Überlieferungsfehlern sprechen. Diese Norm konnte der Abschreiber verfehlen, doch grundsätzlich war er ihr verpflichtet. Auf der anderen nimmt er eine unbekümmerte Bereitschaft des Kopisten an, in den Vorlagentext einzugreifen und ihn zu ändern. Die Orientierung an der Vorlage kann durch „nachlässigkeit“, aber auch durch „bewusste[] änderungen“ misslingen.⁸³ Die „bewussten änderungen“ wecken aber Zweifel daran, dass Vorlagentreue überhaupt das Ziel war. Die Gründe für Abweichungen lassen sich nur stellenspezifisch vermuten. Braune unterscheidet durchaus zwischen auffälligen und habituell unterlaufenden, zwischen intentionalen und nicht-intentionalen, zwischen kollektiv bedingten und individuellen Eingriffen. Ihre Konsequenzen für die Entscheidung zwischen ‚primär‘ und ‚sekundär‘ sind aber höchst unterschiedliche. So stellt er fest, dass „vertauschungen“ wie die „zwischen edele und Etzele in den hss. sehr häufig sind“,⁸⁴ eine häufige Fehlerquelle also.
Braune 1900, S. 3. Braune 1900, S. 6; 20; 22; 23 et passim. Braune 1900, S. 29. Stackmann 1964/1993, S. 7. Braune 1900, S. 104– 105. Braune 1900, S. 60.
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Aber was heißt das für die Richtung der Textveränderung? Sprechen solche habitualisierten „vertauschungen“ nicht dafür, dass die Schreiber neutral gegenüber solch einer Alternativformulierung waren und die Frage nach dem ‚richtigen‘ Text falsch gestellt ist? Wie verhält es sich mit anderen Varianten, etwa der Berechnung von Zeiträumen nach „Tag-“ oder „Nachtzählung“, also ob etwas in siben tagen oder in siben nahten erfolgt. Beides findet sich nebeneinander in den Handschriften, beides ist nebeneinander verbreitet.⁸⁵ Auf Grund welcher Kriterien entscheidet man sich für die Ursprünglichkeit der einen oder anderen Lesart? Folgen die Handschriften – gegen den Text ihrer Vorlage – dann einem regionalen oder in ihrer Sprachgemeinschaft verbreiteten Usus? Vor allem aber muss man fragen: Wieso fühlt sich der Schreiber überhaupt zum Eingriff berechtigt? Braune sieht differente Formen der literarischen Produktion. Er betrachtet sie aber nur als Epiphänomen einer misslingenden Re-Produktion. Die normative Geltung des Vorlagentextes wäre also der Schreiberwillkür zum Opfer gefallen, aber gibt es diese normative Geltung überhaupt? Einige Formulierungen lassen daran zweifeln. Braune sieht in den Handschriften leichte Veränderungen des Sinns: „so spielt hier leicht der subjective geschmack eine grosse rolle, indem dem einen die, dem anderen jene Lesart besser gefällt“. Das kann in individuellen Vorlieben oder einer kollektiven Praxis begründet sein. Was als Aussage über den literarischen Schaffensprozess legitim wäre, ist als Aussage über die Behandlung des ‚richtigen‘, ‚ursprünglichen‘ Textes illegitim. Das führt zu paradoxen Aussagen: „Nun kommt es ja freilich nicht darauf an zu zeigen, ob die lesart A dem gedanken nach eigenartiger, schöner, individueller gefärbt erscheine als die von B*, sondern welche von beiden ursprünglicher sei“.⁸⁶ Der auf der einen Seite auratisierte Ursprungstext kann auf der anderen Seite der minder gelungene sein. Braune stellt in seinem Lesartenvergleich unterschiedliche Qualität des Textes fest, aber er versucht sie immer nach dem Schema ‚ursprünglicher‘ – ‚sekundär‘ zu sortieren. Dabei haben stilistische und – allgemeiner – ästhetische Argumente einen eigenartigen Status. Einerseits ist ein weniger gelungener Vers ein Argument für einen Fehler und folglich die Vermeidung dieses Fehlers ein Argument für die Ursprünglichkeit einer anderen Lesart, andererseits ist das „vom ästhetischen standpunkte“ betrachtet Bessere oft „vom kritischen standpunkte als jünger“ einzuschätzen. Die Basis der ästhetischen Urteile ist schwankend. Es sind ja sehr vielfältige Phänomene, die Braune nennt; sie liegen auf recht verschiedenen Ebenen und ihre Beurteilung hängt sehr vom subjektiven Geschmack ab. Handelt es sich in allen Fällen um einen „verfeinerten und individualisierenden ausdruck“? Lässt sich ein Urteil „entschieden allzu geistreich“ operationalisieren? Worauf gründet sich die Einschätzung „höfisch“?⁸⁷ Aber weisen diese Überlegungen nicht vor allem darauf hin, dass nebeneinander verschiedene Formulierungen miteinander konkurrieren, die keineswegs in einem genealogischen Nacheinander Braune 1900, S. 99 – 101. Braune 1900, S. 106. Braune 1900, S. 112; 114. Hier werden unter der Hand literaturgeschichtliche Entwicklungen, basierend auf bestreitbaren ästhetischen Urteilen unterstellt.
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stehen müssen (ganz abgesehen davon, dass in den meisten Fällen selbst Braune die Folge mal in dieser, mal in jener Richtung sieht)? Wenn man den „moderneren charakter“, also etwa die „höfische“ Färbung der einen oder anderen Handschriften (‐gruppe) konstatiert,⁸⁸ wenn (wie in A) öfter „allgemeine formeln, allgemeine hindeutungen auf die zukunft, typische oder farblose redensarten und worte ersetzt sind durch besonderes, durch wendungen, die mehr auf den specielleren fall eingehen oder modischen und lyrisch-minniglichen inhalt hineinbringen“,⁸⁹ dann müsste als entscheidender Befund gewertet werden, dass offensichtlich die Kopisten oder die, auf die sie sich beriefen, von solchen Bearbeitungsmöglichkeiten selbstverständlich Gebrauch machten und für die Schreiber des Nibelungenliedes die fundamentale Prämisse der genealogischen Textkritik nicht galt: die Verbindlichkeit der Vorlage. Die Frage nach dem Ursprünglichen ist a limine falsch gestellt. Die traditionelle Überlieferungsgeschichte sucht bis ins Einzelne zwischen den Lesarten zu entscheiden und ihre mutmaßliche Entstehung über hypothetisch erschlossene Handschriften zu erklären. Auch Michels‘ Versuch, das Braune’sche Stemma in Teilen zu entkräften, diskutiert den Vorzug oder die Angemessenheit jeder Lesart und will mit Argumenten der Metrik, der Wortgeschichte, der Stilistik, des decorum, aber oft auch auf Grund von Geschmacksurteilen zwischen ihnen entscheiden.⁹⁰ Auch Michels prüft sehr sorgfältig die einzelnen Varianten und sucht wahrscheinlich zu machen, in welche Richtung eine Änderung erfolgte und warum ein Schreiber sie vornahm. Es frage sich nicht, welche Lesart „ansprechender“, welche „weniger ansprechend“ ist, welche „kraftvoller“, welche „wohltemperiert“ ist, sondern welche „sich leichter zum Ausgangspunkt für eine an der betreffenden Stelle vorgenommenen Änderung nehmen“ lässt.⁹¹ „Denn es muß doch bei eingreifenderen und bewußten Änderungen als ein Grundsatz festgehalten werden, daß kein Schreiber seinen Text bewußt verschlechtert, daß er aber bei einem augenscheinlich schlechten Texte das Bestreben haben wird, ihn zu verbessern, mag auch die Absicht unserer Beurteilung nicht als geglückt scheinen“.⁹² Dabei stellt er sich nicht die weit näher liegende Frage, warum überhaupt ein Schreiber sich zu einem Eingriff nicht nur veranlasst, sondern dazu berechtigt glaubte. Mit dem Vorsatz der wortgetreuen Wiedergabe scheint es nicht allzu weit her gewesen zu sein, und auf den originalen Text scheint man sich weniger verpflichtet gefühlt zu haben als auf die eigene Intuition. In der Regel scheint der Kopist vor dem – schriftlich oder mündlich vorgegebenen – Text keine Ehrfurcht empfunden zu haben. Selbst wenn man sich Michels‘ Überlegungen – vor allem, wenn er sich für eine „kraftvolle‘“ ge-
Braune 1900, S. 107– 111. Braune 1900, S. 112. Michels 1928: Überlastung des Verses, matter Ausdruck, veraltetes Wort, schlichtere und natürlichere Ausdrucksweise, obszöner Nebensinn usw.; vgl. etwa S. 16 – 17; 41; 55; 76 usw. Michels 1928, S. 6; vgl. S. 76: Was er„augenscheinlich schlechter []“ findet, basiert auf Werturteilen, wie in der vorigen Anmerkung aufgeführten. Michels 1928, S. 6.
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genüber einer „wohltemperierte(n)“ Wendung starkmacht oder eine Lesart als „jämmerlich“ verwirft,⁹³ – anschließen will, stellen seine Beobachtungen doch das hier dominierende textkritische Modell in Frage. Michels rechnet mit einer kontinuierlichen Arbeit am Text, die sich in den Varianten der verschiedenen Handschriften niederschlägt. Die Tatsache, dass er in *A den dem Original nächsten Text bewahrt glaubt und damit einen anderen Überlieferungsverlauf mit anderen erschlossenen Zwischenstufen als Braune vorschlägt, hat geringere Bedeutung als der Umstand, dass er selbst das Modell, auf dem seine Untersuchungen beruhen, subvertiert. Die Varianten, die er vertikal auf einem – in diesem Bereich überwiegend hypothetischen – Stemma anordnet, lassen sich plausibler horizontal, d. h. als nebeneinander verfügbare Formulierungsalternativen denken. Ungewollt bestätigen die genealogischen Untersuchungen Braunes, Michels‘ u. a. die im Folgenden zu begründenden Thesen einer‚horizontalen‘ nicht ‚vertikalen‘ Varianz. Es ist also notwendig, die Beobachtungen der traditionellen Textkritik, soweit sie der Überprüfung standhalten, im Kontext einer anders strukturierten Überlieferungsgeschichte zu reformulieren. Dass die unterschiedliche Textgestalt im Detail als gleichursprünglich erscheint, deutet sich selbst bei Haferland in seiner Analyse der Bearbeitung *C an, obwohl seine Begründung für Abweichungen zwischen zwei Handschriften das Nacheinander von Gedächtnisfehler und dessen Reparatur voraussetzt. Haferland gesteht nämlich zu, dass zwischen den Varianten oft nicht entschieden werden kann, „ob sie den Erzählinhalt und -verlauf besser vermitteln oder ob sie in irgendeinem anderen Sinne ‚besser‘ sind als der ersetzte Text“. Das Gedächtnis scheint in vielen Fällen gar nicht entscheidend gewesen zu sein. Es kann, muss aber nicht die Veränderungen motiviert haben. Haferland glaubt mit Brackert, dass oft die Abweichungen zwischen den Handschriften „den gleichen Anspruch auf Originalität erheben können“, man sie also „gleichursprünglich nennen“ könnte.⁹⁴ Da „ein Motiv für eine Änderung kaum je zu entdecken ist“,⁹⁵ bezeichnet er sie als „aleatorische Abweichungen“; der „aleatorische Charakter“ spreche gegen die Annahme eines „schreibenden Bearbeiters oder Redaktors der Fassung *C“.⁹⁶ Warum sollen „aleatorische“ Varianten nur durch Erinnerungsfehler verursacht sein? Haferland sieht nicht, dass das, was er „aleatorisch“ nennt, die gesamte Nibelungenüberlieferung bis etwa 1300 kennzeichnet, also nicht nur das Verhältnis zweier ‚Fassungen‘. Das Ausmaß von Varianz scheint zur Resignation zu zwingen, aber Resignation ist nur angebracht, angesichts des ursprünglichen Forschungsinteresses, zum ‚Original‘ durchzudringen. Wenn die Prämisse aufgegeben ist, dass in der Überlieferung der Schreiber sich ausschließlich am schriftlich vorgegebenen Text orientierte, wenn bei dessen Wiedergabe im Gegenteil zahlreiche Lizenzen zur Varianz bestanden, dann kann
Michels 1928, S. 76. Haferland 2003, S. 100. Haferland 2003, S. 101. Haferland 2003, S. 101; vgl. Brackert 1963, S. 144.
Aporien und Inkonsequenzen der ‚genealogischen‘ Methode
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jeder Wiedergabeakt in engen Grenzen zu anderen Ergebnissen führen, vielleicht auch ein Quäntchen von Kreativität erfordern. Durch die Fragmente ist ein realistischerer Blick auf die Überlieferungsgeschichte möglich. Die traditionelle Textkritik krankt daran, dass auf der einen Seite die Norm buchstaben- oder wenigstens wortgetreuer Kopie unterstellt wird, auf der anderen Seite für die tatsächliche Reproduktionspraxis aber angenommen wird, dass eine Lizenz zum Eingreifen bestand. Für die Fehler, die durch einen verlesenen oder verhörten Text entstehen, oder für unverstandene, weil veraltete, daher korrigierte oder verballhornte Wendungen ist die genealogische Textkritik zuständig. Solche Fälle gib es in der Nibelungenüberlieferung natürlich zuhauf: ein entstellter Ortsname, ein unbekanntes Jagdtier, ein exotischer Stoff.⁹⁷ Besonders Hans Rieds Abschrift im Ambraser Heldenbuch (d) enthält solche Missverständnisse. Das ist aber nicht der Regelfall. Die Lizenz zum Eingreifen geht weit darüber hinaus. Wenn man Braunes und Michels‘ Analysen abgelöst von ihrem permanenten Beweisziel betrachtet, dann untersuchen sie eben die Varianz, die auch Gegenstand dieser Untersuchung ist. Der Sachverhalt ist angemessen beschrieben; der Versuch aber, die Varianz in einem Stemma zu ordnen, muss scheitern. Um die These, dass die Nibelungenüberlieferung von Anfang an variant ist, wahrscheinlich zu machen, sollen probeweise einmal all jene Überlegungen eingeklammert werden, die die ältere Textkritik zu den vertikalen Abhängigkeiten und – sie ergänzend – Kontaminationen angestellt hat. Die Frage nach dem einen Text ist nicht nur nicht zu beantworten, sondern dem Texttypus unangemessen, da am Anfang der Überlieferung mehrere Gestaltungen des Textes stehen. Es ist ein Versuch, einige der Aporien von 200 Jahren Nibelungenphilologie zu überwinden. Dazu werde ich mich bewusst von einigen Wegen, die die editionskritische Forschung bisher gegangen ist, abwenden. So interessiert mich nicht oder nur am Rande die Abhängigkeit der Handschriften voneinander, ihre Einrichtung, ihr Schriftgebrauch, ihre Provenienz, ihre dialektale Prägung, Themen, zu denen die Forschung der letzten 200 Jahre Wesentliches erarbeitet hat. Das geschieht nicht, weil ich die Ergebnisse dieser Forschungen nicht anerkennen würde, sondern weil ich überzeugt bin, dass nur ein in dieser Radikalität bisher unerprobter Ansatz die Chance bietet, in der Diskussion weiterzukommen und einige neue Beobachtungen zu gewinnen, die das bisher von der Forschung Erreichte in neuem Licht erscheinen lassen. Die radikal geänderte Blickrichtung besteht darin, dass als Ausgangspunkt der Überlegungen nicht ein fest geformter Text unterstellt wird, wie man ihn durch eine der Haupthandschriften repräsentiert sah, sondern seine variante Textgestalt in der gesamten Überlieferung. Die traditionelle Textphilologie betrachtet diese Varianz als Ergebnis von Überlieferungsprozessen, denen der ursprüngliche Text ausgesetzt war und in dem er sich immer weiter von seinem Ursprung entfernte, ein Prozess, in dem Fehler unterliefen, die sich fortschleppten, aber auch nachträgliche Korrekturversuche un-
Vgl. S. 143 – 144.
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1 Die Ausgangslage
ternommen wurden, die mal zur ursprünglichen Gestalt zurückführen konnten, meistens aber nicht, in denen Verbesserungen erprobt wurden, aber auch Missverstandenes und Verderbtes weiter tradiert wurde. Die Editionsphilologie suchte die Prozesse, die zu den jeweiligen Ergebnissen in den Handschriften führten, transparent zu machen, indem sie ihre Entwicklung zurückzuverfolgen, ihre Abhängigkeiten voneinander aufzuklären und Elemente des Ursprünglichen aufzuspüren versuchte. Stattdessen werde ich von der elementaren Tatsache der Varianz der gesamten Überlieferung des Nibelungenliedes ausgehen. Das macht ernst mit Bernard Cerquiglinis Thesen über die Varianz volkssprachiger Texte im Mittelalter. Sie wurden von der germanistischen Mediävistik im Allgemeinen ungnädig aufgenommen. Wenn die Thesen inzwischen einiges von ihrer Kraft zur Provokation verloren haben, wenn ihre grundsätzlichen Einsichten nicht mehr bestritten werden, sie in ihrem Anregungspotential für die ‚Material Philology‘ erkannt sind und mit der deutschen Forschungsgeschichte (den DTM, der überlieferungsgeschichtlichen Methode der Ruh-Schule usw.) abgeglichen wurden, so störten sie doch kaum die etablierte Forschungspraxis. Eine Ausnahme sind, wie gesagt, Joachim Bumkes Arbeiten über die Nibelungenklage,⁹⁸ die das laut Cerquiglini universelle Prinzip der variance volkssprachiger Schriftlichkeit schon für die Entstehungsgeschichte dieses Textes reklamierten. Auf Cerquiglinis Begriff der variance wird zurückzukommen sein. Die Diskussion über sie sollte von nationalphilologischen Stereotypen befreit werden. Cerquiglinis Borussophobie, der die französische Philologie als Folge des verlorenen deutsch-französischen Kriegs von 1870/71 unter dem verhängnisvollen Einfluss Lachmanns & Co. sah, könnte vielleicht als wahren Kern enthalten, dass die Philologie des 19. Jahrhunderts unter den Vorgaben des zeitgenössischen Literaturbegriffs stand, der auch ihre editionsphilologischen und textkritischen Maximen beeinflusste. Es ist die Vorstellung des auratischen und sakrosankten Textes, den es – hindurch durch seine überlieferungsbedingte Verderbnis – wiederzugewinnen gilt. Die Kritik daran könnte dann dazu beitragen, dass die Nibelungenforschung sich aus der Sackgasse befreit, in die sie sich ‚nach Brackert‘ trotz grandiosen Errungenschaften (Erschließung der gesamten Überlieferung, Erarbeitung neuer, philologisch gesicherter Ausgaben, deren Kommentierung vor dem Hintergrund der Tradition, Kritik der ‚hybriden‘ Ausgaben des Textes usw.) hineinmanövriert hat. Diese Einsicht bedeutet nicht Verzicht auf eine philologisch verantwortete Herstellung des Textes, so wenig die klassische Philologie bei „einer starken Einschränkung ihres Geltungsbereichs“ auf Elemente der Lachmannschen Methode, also etwa auf Recensio und Emendatio verzichtet hat.⁹⁹ Nur müssen die besonderen Bedingungen der Textproduktion und -reproduktion beachtet werden, die das Nibelungenlied z. B. von Autortexten unterscheidet. In allen den von Stackmann genannten Punkten nimmt die
Bumke 1996a und 1999. Stackmann 1964/1993, S. 7.
Offener vs. geschlossener Text
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Nibelungenüberlieferung eine Sonderstellung ein. Diese Sonderstellung ist auf die besondere Textualität des Nibelungenliedes zurückzuführen. Varianz ist dabei nur eine Seite der Medaille.
Offener vs. geschlossener Text Als erstes ist zu klären, was Gegenstand von Varianz ist und ob bestimmte Parameter des Textes sich der Varianz widersetzen. Handelt es sich beim Nibelungenlied um einen ‚offenen‘ Text in Sinne der Oral formulaic theory? Einen volatilen Text, der sich in jeder neuen Aneignung im mündlichen Vortrag neu formt? Betrachtet man die Formulierungsvarianten der Überlieferung, dann könnte solch ein Eindruck entstehen. Er ist gleichwohl falsch. Ihm steht entgegen, dass das Nibelungenlied in seiner Architektur ein extrem fester Text ist, der ungeachtet der verschiedenen Textgestalt an der Oberfläche von not- und liet-Handschriften bis ins Spätmittelalter nicht die einer oralen Überlieferung zugeschriebene Unfestigkeit aufweist. Das ist eine oft verdrängte Einsicht, die fundamental für die Erkenntnis der Textualität des Nibelungenliedes ist und die das Werk trotz seiner Varianz in Bezug auf bestimmte Parameter und trotz seiner Prägung durch eine jahrhundertealte Erzähltradition scharf von der Oral formulaic epic absetzt. Die Behauptung textueller Festigkeit des Nibelungenliedes scheint einigermaßen kühn, angesichts von 112 Zusatzstrophen und 45 Fehlstrophen in Hs. C, angesichts der Übernahme von Zusatzstrophen in den sog. Mischhandschriften Jdh sowie angesichts von 23 + 3 anderen Zusatzstrophen in Hs. b, schließlich angesichts von zahlreichen Fehlstrophen in Hs. A. In welcher Hinsicht kann ein Text mit so vielen Anlagerungen und Auslassungen als fest bezeichnet werden? Die Antwort ist: Es handelt sich dabei immer um Additionen oder Subtraktionen zu bzw. von einem in seiner Struktur und Abfolge völlig festen Text mit identischem Strophenbestand und einer völlig stabilen Architektur. Die Zusätze und Lücken sind in ein festes Strophengerüst eingebunden, in das sie präzise eingepasst werden. Wenn eine die Erzählung verdoppelnd unterstreichende Strophe ausgelassen (A), wenn eine folgenlose Schleife der Handlung getilgt wird (C), wenn ein Zwischenglied eingefügt oder eine Lücke der Handlung gefüllt wird (CJadh) oder eine zusätzliche Szene eingeschaltet wird (Cab), wenn über Gefühle oder innere Motive der Akteure zusätzlich Auskunft gegeben wird (Ca), dann führt das niemals zur Veränderung des übergreifenden Handlungszusammenhangs. Die Erzählung fährt exakt an der Stelle in derselben Weise fort, an der der Zusatz oder die Auslassung einsetzte. Das gilt sogar für die am weitesten gehende *C-Bearbeitung, die auch die Erzählung an manchen Stellen neu akzentuiert. Auch sie kehrt nach Einschüben und Auslassungen stets zu diesem Gerüst zurück und tastet es nicht an. Diese stabile Architektur unterscheidet das Nibelungenlied fundamental von mündlicher Epik.
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1 Die Ausgangslage
Die Festigkeit des Textes wurde zwar schon verschiedentlich bemerkt und von der Varianz des Wortlauts abgesetzt,¹⁰⁰ aber die überlieferungsgeschichtliche Konsequenz kaum je bedacht. Es kann nicht genug betont werden: Das Nibelungenlied erzählt eine völlig geschlossene Geschichte von A bis Z, vom Falkentraum der jungen Kriemhild bis zur blutigen Vernichtung der Burgonden und Hagens und Kriemhilds Tod. Es ist die lückenlos erzählte Geschichte des Umschlagens von liebe in leit (A 2315,4; B 2375,4; C 2437,4), mit immer derselben Geschehensfolge und immer denselben Peripetien. Es gibt einige Schleifen der Handlung, die hinzugefügt oder weggelassen werden können, es gibt unterschiedliche Bewertungen. Am Gesamtverlauf ändert sich nichts. Die Reihenfolge des Auftritts der Personen, die Reihenfolge ihrer Handlungen und Reden, die Abfolge der Begebenheiten und der Situationen sind stets dieselben.¹⁰¹ Der Beitrag, den die einzelnen Wormser Helden im Kampf gegen Liudeger und Liudegast leisten, wird immer in derselben Abfolge gewürdigt, ebenso der Aufzug von Etzels Völkern; die Namen sind in den einzelnen Handschriften manchmal verschrieben, die Reihenfolge aber ist dieselbe.¹⁰² Irings planlose Kämpfe gegen verschiedene burgondische Helden laufen immer gleich ab. Nie sind die Aristien der Helden vertauscht. Es wird immer in derselben Reihenfolge gestorben, wie etwa der Untergang der Amelungen zeigt, von denen jeder an der ‚richtigen‘ Stelle seinen Auftritt erhält.¹⁰³ Selten wird ein Name durch einen anderen ersetzt, z. B. der eines burgondischen Vasallen durch Siegfried, aber das erfolgt dann gezielt und mit Absicht.¹⁰⁴ Wo Namen vertauscht oder verwechselt werden, sind es im Allgemeinen Namen von Figuren, die zur gleichen Personengruppe gehören, etwa zu den Wormser Königen, die also für einander eintreten können. Ungeachtet der Varianz im Wortlaut, ungeachtet der Anlagerung oder dem Weglassen einzelner Strophen,¹⁰⁵ gibt es keine Variation des Gesamtbaus, keine wechselnde Reihenfolge von Textpassagen, keine Vertauschung der Elemente, keine wechselnde Kombination und freie Auswahl, wie dies bei mündlicher Epik zu erwarten wäre. Die Geschichte vom Nibelungenuntergang kann um Details verkürzt oder ergänzt erzählt
So auch von Haferland 2003, S. 117; 2019a, S. 4. Wo es um bloße Aufzählungen geht, kann die Reihenfolge der Namen schon einmal vertauscht sein (Haferland 2003, S. 108). So heißt es von den Amelungen einmal Ritschart und Gerbart, Helpfrich und Wichart (B 2278,1), einmal Gerbart unde Wichart Helpfrich unde Rischart (C 2309,1), aber es sind dieselben Namen. In J 2278,1 heißt Gerbart Gerhart, die Walachen in J 1336,2 oder 1340,1 die Valwen, aber sie treten da auf, wo sie hingehören, nach den Polen und vor den Leuten aus Kiew. Der Schreiber musste einen Namen, den er nicht verstand bzw. nicht wiedergeben konnte, durch einen klanglich oder graphisch ähnlichen ersetzen, aber er blieb am Platz. Nadine Popst machte mich auf diesen Umstand aufmerksam. Siegfried war aber schon vorher in der Reihe der burgondischen Krieger.Wenn er einen der Vasallen Gunthers in einer Aufzählung ersetzt, wird sein Anteil am Sachsenkrieg nur zusätzlich hervorgehoben. Hier handelt es sich um eine bewusste Korrektur von *J, die die Einbindung Siegfrieds in den burgondischen Herrschaftsverband unterstreichen soll (vgl. S. 258 – 259). Die Bedingungen dafür werden im Folgenden zu untersuchen sein.
Offener vs. geschlossener Text
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werden, aber niemals anders. Dieser Befund wird von allen vollständigen Handschriften und allen Fragmenten bestätigt. Wenn die Wiedergabe des Textes vom Gedächtnis abhing: Warum sollte das Gedächtnis ausgerechnet diese Daten exakt behalten? Warum sollte es ausgerechnet hier keine Erinnerungsfehler und Reparaturen geben? Ist nicht eher wahrscheinlich, dass diese Elemente nicht ins Belieben gestellt waren, sondern als fest vorgeprägt übernommen werden mussten? An der Architektur des Nibelungenliedes ändert die Hinzufügung oder das Auslassen von Strophen nicht das geringste. In dieser Hinsicht ist das Nibelungenlied eine geschlossene, überlegt gebaute Dichtung. Diese Aussage bezieht sich auf das Nibelungenlied in seiner überlieferten Gestalt, nicht auf die Geschichte literarischer Fassungen der Sage. In ihr haben Überlegungen der Forschung zur Aufschwellung einzelner Passagen oder zu Anlagerungen einzelner Episoden durchaus ihren Platz. Die Gestaltung beispielsweise des Raumes oder die ‚Szenenregie‘ (H. Kuhn) dürfte unter dem Einfluss der Form, in der die Sage mündlich erzählt wurde, stehen.¹⁰⁶ Die Sage hat im Nibelungenlied ihre Spuren hinterlassen. Nur, als das Nibelungenepos geformt wurde, war das alles bloß noch Material, unter dem ausgewählt werden und das in das feste Gefüge der Handlung eingepasst werden musste. Änderungen daran waren im Lauf der Rezeptionsgeschichte nur noch in engen Grenzen möglich; die Gesamtarchitektur ließ sie nicht zu. Zwischen der Vorgeschichte des Nibelungenstoffes und der Geschichte, die das Nibelungenepos erzählt, muss scharf unterschieden werden. Die Verwischung der Grenzen wird beiden nicht gerecht. Die Festigkeit der Epenstruktur unterscheidet das Nibelungenlied durchaus von der Varianz der Dietrichepik, aber auch der Textgestalt der‚Klage‘ und ihren – nach Bumke – vier Fassungen. Es gibt kaum Umstellungen von ganzen Strophen, auch selten die Umstellung einzelner Verse. Bei solchen Umstellungen bleibt das Material der Strophe meist dasselbe; es wird nur anders angeordnet. Hier könnte man an eine längere Textstrecke denken, die der Kopist memorierte, aber auch an bewusste Eingriffe, stets im Dienste der Gesamtaussage.¹⁰⁷ Was Bumke zur Grundlage seines Konzepts der vier Fassungen der‚Nibelungenklage‘ macht, ist im Nibelungenlied die Ausnahme: die Vertauschung von Einzelversen und Versfolgen, die Umstellung von Informationen. Die Vertauschung einzelner Wortfolgen geht in den not-Handschriften kaum über den einzelnen Vers, geschweige die einzelne Strophe hinaus. Nur *C geht etwas weiter, aber *C ist eine explizite Bearbeitung, und selbst sie lässt die Erzählung in ihrem Grundgerüst intakt. Wenn schon einmal ein Name verwechselt oder ersetzt wird, dann durchweg vor dem Hintergrund, dass in über 90 % der Fälle die Akteure dieselben sind. Der eingesetzte
Haferland 2004, S. 126 – 130. Das Beispiel, das Heinzle 2008, S. 325 bringt, bei dem die Verse, die die Reaktion beim Abschied der Burgonden von Bechelaren erzählen, in C 1750,3 – 1751,2 gegenüber B 1708,3 – 1709,2 vertauscht sind, ist ein Sonderfall. Die Umstellung ist mit Umformulierungen verbunden; Heinzle selbst macht darauf aufmerksam: „Die Änderung hat mithin konzeptionelle und stilistische Qualität“, was sie von der „nicht zielgerichtet[en]“ Umstellung mündlicher Epik unterscheidet, jedenfalls operiert sie mit dem gleichen Material zu dem gleichen Zweck.
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1 Die Ausgangslage
Name, der nicht passt oder nicht zu passen scheint, signalisiert nie einen anderen Verlauf der Handlung, gibt ihm vielleicht aber einen neuen Akzent.¹⁰⁸ Dieses Phänomen übergreift not- und liet-Handschriften, ist also unabhängig von Bearbeitungstendenzen, wie sie ja deutlich in *C nachweisbar sind. Es wird zu zeigen sein, dass das Fehlen von Strophen in der 6.–10. Aventiure der Hs. A die Anordnung der Geschehensfolge überhaupt nicht tangiert. Sie können ohne Schaden fehlen oder hinzugesetzt sein. Ähnlich fehlen in C Strophen, die einen Umweg erzählen, der für das Geschehen insgesamt folgenlos bleiben. Sie lassen sich nicht als performanzbedingte Fehlleistungen interpretieren, sondern sind passgenau aus dem Text herausgeschnitten und hinterlassen keine erkennbare Narbe, sodass die Handlung ohne die temporäre Störung weitergeht. Das Gleiche gilt von den Zusatzstrophen, die einen Vorgang detaillieren, ausschmücken oder die ihm zugrundeliegenden Absichten enthüllen.¹⁰⁹ Die übrige Strophenfolge bleibt identisch. Alle substantiellen Änderungen, wie sie Fassung *C oder die sog. kontaminierten Handschriften aufweisen, stehen vor dem Hintergrund dieser festen Struktur, und zwar sowohl die Auslassungen wie die Ergänzungen. Sogar einige unterschiedliche Platzierungen der Zusatzstrophen in den kontaminierten Handschriften bestätigen das Prinzip: Man sucht für die Ergänzung den Platz, an dem sie sich am unauffälligsten der vorgegebenen Gesamtstruktur einfügt, ohne den Ablauf zu beschädigen. Manchmal fällt die Entscheidung verschieden aus; in einem Fall bleibt der Kopist unentschieden und bringt den Zusatz zweimal. Diese relative Festigkeit ist bei der Textualität des Nibelungenliedes zu berücksichtigen. Sie ist relativ, weil sie Hinzufügungen und Auslassungen zulässt, solange sie die Gesamtarchitektur intakt lassen, und weil sie in der sprachlichen Gestaltung erhebliche Varianz zulässt. Der Bau des Nibelungenliedes insgesamt wird aber als gegeben und autoritativ akzeptiert. Dadurch hat das Epos im Unterschied zur ‚Klage‘ einige typischen Merkmale mündlicher Überlieferung nicht.
Traditioneller Text? Der Begriff des ‚unfesten‘, ‚offenen‘ Textes ist also zu differenzieren. Wenn damit gemeint ist, dass das Nibelungenlied ‚offen‘ ist für variante schriftliche Wiedergabe, trifft das – wie allgemein für die volkssprachige Schriftlichkeit im Mittelalter – gewiss zu.¹¹⁰ Wenn aber gemeint ist, dass seine Struktur alle möglichen Varianten zulässt, so trifft das nicht zu. Insbesondere ist es nicht offen für die „vielen Erzähllieder, die den Nibelungenstoff tradierten“ und zu einer „amorphe(n) Erzählmasse“ verschmolzen waren.¹¹¹ Vgl. S. 152– 153 zum Ersetzen des König Etzel durch Rüdiger bei der Botschaft Kriemhilds nach Worms in ABM und zur Möglichkeit, dass die Ersetzung sinnträchtig ist. Vgl. S. 256 – 257. Kühnel 1976; vgl. Stackmann 1993/1998, S. 10. Haferland 2003, S. 131.
Traditioneller Text?
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Das Nibelungenlied weist nichts von dieser Gestaltlosigkeit der Sage auf, und seine Überlieferung ist alles andere als amorph. In diesem Sinne ist das Nibelungenlied kein „traditioneller“ Text im Sinne Heinzles.¹¹² Am Vergleich mit der aventiurehaften Dietrichsepik ist der Unterschied zwischen traditionsbasiertem Erzählen und traditionellem Erzählen ablesbar. Stoffgeschichtlich sind das Nibelungenlied und die spätmittelalterliche Dietrichepik verwandt, erzählstrukturell sind sie diametral entgegengesetzt.¹¹³ Was für Heldensage allgemein gilt, gilt nicht für alle Heldenepen, auch nicht für das Nibelungenlied, wie immer wieder unterstellt wird: „Wie alle Heldensage kennt auch die Nibelungen-Sage nicht nur eine Version der Geschehensabläufe, sondern mehrere, die in Detail wie in zentralen Zügen der Fabel teilweise weit auseinandergehen“.¹¹⁴ Das trifft für die Sage zu, nicht aber für das Epos, das keine Alternativen kennt. Die Überlieferung, die dem Nibelungenlied vorausging, war – wie alle Heldensage – vielgestaltig, d. h. sie kannte nicht nur eine Version der Geschehensabläufe, sondern mehrere, die in Details wie in zentralen Zügen teilweise weit auseinandergingen. […] In der mündlichen Tradition ist die Existenz konkurrierender Erzählvarianten tolerabel, da es immer nur den je aktuellen Vortrag gibt.¹¹⁵
Diese Sätze charakterisieren zutreffend einen traditionellen Text, passen aber nicht für das Nibelungenlied selbst, in dem es keine Varianz in der Auswahl, Anordnung und Verknüpfung des Geschehens gibt, keine Abweichungen „der Geschehensabläufe […] in Details wie in zentralen Zügen“, sondern allenfalls Anlagerungen und Kürzungen, die den Ablauf nicht verändern. Es mag sein, dass der Verfasser von anderen Versionen Kenntnis hatte, sie vielleicht sogar, wie man glaubt, – nicht immer glücklich – zu berücksichtigen suchte. Auch das Publikum kannte vermutlich Alternativen.¹¹⁶ Der Verfasser schuf gewiss kein „Originalwerk in dem Sinne, dass sein Verfasser die Geschichten erfunden hätte“.¹¹⁷ Aber das gilt für die meisten literarischen Werke, dass sie einen vorgefundenen Stoff oder wenigstens vorgefundene Motive aufgreifen und bearbeiten; man denke nur an die zahllosen Adaptationen antiker Dramen. Jedoch schuf er eine bestimmte, eine und nur eine Version, die nur ihm gehörte, die keineswegs offen war für beliebige Veränderungen und die nicht nur im „je aktuellen Vortrag“ existierte, wie das für Oral formulaic epic üblich
Unter diesem Titel hat Heinzle seine Studien zum Nibelungenlied zusammengefasst (2014). In einem Aufsatz gleichen Titels (2009) hat er die Unselbständigkeit des Nibelungenliedes gegenüber der Sagentradition behauptet; vgl. auch S. 287– 290. Deshalb geht ein Vergleich der Varianz des Nibelungenliedes mit der der unfesten Gestalt der aventiurehaften Dietrichsepik ins Leere. Heinzle 1998, S. 57. Heinzle 2003a, S. 195. Heinzle 2005; 2008, S. 321; 2009, S. 65. Heinzle 1998, S. 52.
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1 Die Ausgangslage
ist.¹¹⁸ Wo ist denn vor den Kompilationen 15. Jahrhunderts das ‚Sondergut‘, das angeblich in der Überlieferung des Nibelungenliedes ‚zusammensintert‘?¹¹⁹ Natürlich ist der Dichter von Sagentraditionen abhängig, insofern als das, was er erzählt, nicht seine Erfindung ist, aber er gestaltet die Tradition in besonderer Weise. Einige Grundvoraussetzungen (z. B. über Siegfrieds Tod und Kriemhilds grausame Rache) entnahm er wohl der Tradition.¹²⁰ Aber er benutzte sie für seine besondere Geschichte. Er sucht auch keineswegs möglichst viele Elemente der Sage, eine Art „Summe“, in die Geschichte, die er erzählt, zu integrieren; das geschieht erst in spätmittelalterlichen Bearbeitungen des Stoffes. Er integriert nur solche, die in seinem Erzählzusammenhang eine besondere Funktion haben.¹²¹ Manche Elemente sind im neuen Zusammenhang des Epos auch unkenntlich. Sie können einer neuen Deutung unterworfen werden, sodass Unstimmigkeiten nur dem auffallen, der die Tradition kennt. Es ist in der Regel der nachgeborene Philologe. Der Epiker bedient sich aus der Sage, greift bestimmte Aspekte heraus, wählt aus, stellt Zusammenhänge her und begründet sie, entnimmt der Sage wohl auch einige vorgeprägte Formulierungen,¹²² doch schmilzt er sie in den Kosmos seines Werks ein, das in seiner Grundstruktur fest und geschlossen ist. Insofern ist das Nibelungenlied kein „traditioneller Text“, ein unfestes, ständigem Wechsel unterworfenes Konglomerat von Elementen der Tradition, von ihnen abhängig und sie mehr oder weniger frei kombinierend und unzulänglich verändernd, dabei konkurrierende Traditionen oft nur schlecht verknüpfend. Die angeblichen Widersprüche des Epos sollen die Traditionsabhängigkeit des Nibelungenliedes beweisen. „Sie kommen gewiß nicht nur, aber doch auch in signifikanter Weise dadurch zustande, daß konkurrierende Varianten handlungslogisch nicht voll integriert sind“.¹²³ Erst der Philologe glaubt in manchen Versen ein Sagenelement wiederzuerkennen, das im Nibe-
Heinzle 1998, S. 57 zur „mündlichen Tradition“; vgl. seine Untersuchung (1978) zur spätmittelalterlichen Heldenepik. Der Begriff des ‚Sondergut‘ sollte auf inhaltlich relevante, sagengeschichtlich nachweisbare Zusätze beschränkt werden und nicht alle Formulierungsalternativen einschließen. Brackert bezeichnet demgegenüber den „gesamte(n) seiner Herkunft wie seinem Alter nach vielschichtige(n) Komplex der Sonderlesarten mit dem Begriff ‚Sondergut‘“ (S. 167). Seine Analysen zeigen aber, dass sich kaum Varianten als ‚altertümliche‘ „Sonderlesarten“ identifizieren lassen. Auch Haferland 2006, S. 191 scheint ‚Sondergut‘ mit differentem Wortlaut zu identifizieren. Sie sind für seine Konzeption unerlässlich; vgl. Henkel 2003, S. 116. Heinzle 2009, S. 67; 2014, S. 130; 133 meint, dass der Erzähler manche Züge nur aufnahm, weil sie in der Sagentradition vorgegeben waren. Gewiss ist in der Sage z. B. Siegfried als Drachentöter und Hortbesitzer bekannt. Der Erzähler nimmt beides aber nicht nur auf, weil die Sagentradition davon erzählt, sondern weil beide für seine Handlungsverknüpfung unerlässlich sind; zu weiteren Motiven vgl. S. 344. Beispiele bei Heinzle 1995, S. 82– 84; 87. Bevor man Ähnlichkeiten in einzelnen Formulierungen zu Einflüssen hochrechnet und zum „Echo“ weithergeholter Sagentraditionen erklärt, sollte man allerdings überprüfen, ob in der formelhaften Sprache bestimmte Situationen nicht bestimmte Formulierungen hervorrufen und gelungene Wendungen nicht in einen anderen Kontext integriert werden können, ohne dass der alte Kontext aufgerufen wird. Heinzle 2009, S. 67; vgl. 2014, S. 130.
Traditioneller Text?
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lungenlied nicht vorkommt, so etwa in Vers B 1909,1, der den Ausbruch des Kampfes der Hunnen mit den burgondischen Gästen betrifft. Ein informierter Hörer mag sich hier an eine Szene erinnert haben, wie sie das Nibelungenlied gerade nicht erzählt; für einen weniger informierten fügte sich der Vers problemlos in den Erzählzusammenhang ein.¹²⁴ Die Festigkeit erlaubt nicht, dass Bruchstücke der Sage in einigen Handschriften nachträglich integriert werden. Die jahrhundertelange Sagentradition, in der das Lied unstreitig steht, betrifft die stoffgeschichtliche Herkunft des Erzählten, nicht die Erzählstruktur. Diese beiden Aspekte dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Die Sagentradition fächert sich in viele, untereinander nicht unbedingt abgestimmte Geschichten auf. Diese perspektivieren und motivieren die Geschehnisse auf verschiedene Weise. Diese überwiegend mündliche Überlieferung ist bis ins Spätmittelalter lebendig,¹²⁵ ohne auf die schriftliche Überlieferung des Nibelungenliedes einzuwirken. Etwas ganz anderes und systematisch davon zu trennen ist die Frage, dass sie die spätmittelalterlichen Bearbeitungen des Stoffes beeinflussten. Im Nibelungenlied wird die Geschichte gültig und einen anderen Verlauf ausschließend geformt. Die Benutzung der Stoffgeschichte, die zweifellos auf die Auswahl gewirkt hat, impliziert noch nicht traditionelles Erzählen. Ein ‚traditioneller‘ Text hätte wenigstens anspielungshaft aufgenommen, was gewöhnlich erzählt wird, und sei es in der Form: ‚manche sagen, ich aber sage…‘. Wie das aussieht, zeigt die ‚Klage‘, wenn sie verschiedene Versionen vom Ende des König Etzel bietet, eine absurder als die andere, oder auch wenn sie auf Sagen anspielt, die für den Nibelungenuntergang keine Bedeutung haben. Ein ‚traditioneller‘ Text spricht als Teil eines größeren Ganzen, das anspielungshaft präsent ist. Selbstverständlich steht „das ‚Nibelungenlied‘ bis zum Ende seiner Tradierung im Horizont der Sage“,¹²⁶ wie Anspielungen auf die Walthersage, auf die Iringsage, auf Hagens Aufenthalt am Etzelhof zeigen; möglicherweise beruht es auf einer Vorgängerdichtung. Aber Elemente der Tradition erscheinen im Text als eingeschmolzen in die gemeinsame Struktur. Die Iringsage ist im Nibelungenlied um ihren Kern gebracht, indem plötzlich Iring mit Irnfried vereint ist, den er doch der Sage nach ermordete, weshalb er zu Etzel ins Exil ging. Von Irings Geschichte bleibt die Tatsache des Exils und seiner Teilnahme am Kampf gegen die Burgonden. Nichts von der Empörersage, nichts von der Lothringersage, die zu dieser Geschichte gehören, findet Eingang ins Nibelungenlied, während sie in der‚Klage‘ im Hintergrund präsent sind.¹²⁷ Nie stört die Sage den Motivationszusammenhang des Epos. Die anderwärts überlieferte Provokation Hagens durch Kriemhilds Sohn, die den Ausbruch von Gewalt auslöst, wird durch einen anderen Handlungszusammenhang ersetzt. Es wird durch keine Textvariante nahegelegt, dass auf sie angespielt wird. Aufs Ganze gesehen – und abgesehen von den späten Adapta Zu den ‚Widersprüchen‘ und speziell dieser Szene vgl. S. 252– 253. Heinzle 1998, S. 49; 2003a, S. 194 u. ö. Heinzle 2009, S. 66. Bumke 1996a S. 479 – 482; Weddige 1989; Henkel 2003, S. 118 betont, dass die ‚Klage‘ über einen weiteren Sagenhorizont verfügte.
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1 Die Ausgangslage
tionen m, n und k und der rasch korrigierten Einwirkung einer anderen Tradition im Text bis zur 6. Aventiure von a¹²⁸ – ‚sintert‘‘ überhaupt kein ‚Sondergut‘ zusammen, sondern es bleibt bei den einmal von Verfasser ausgewählten Handlungselementen, die natürlich präzisiert, erklärt oder ergänzt werden können. Summenbildung ist erst der Fall in den spätmittelalterlichen Nibelungen-Adaptationen m, n und k. Das Nibelungenlied ist ein fest strukturierter Text, und es gibt keinen Hinweis darauf, dass verschiedene Sänger durch ein je eigenes Nibelungenlied miteinander konkurrierten.¹²⁹ Es ist kein „Erzählen mit der Tradition“,¹³⁰ sondern ein Erzählen gegen die Tradition, wenn der Erzähler explizit einen anderen Motivationszusammenhang als die Tradition aufbaut. Es mag sein, dass ihm das nicht immer gelingt – das ist m. E. nicht der Fall¹³¹ – aber damit richtet er sich trotzdem ‚gegen‘ die Tradition. Die Frage des direkten oder indirekten stoffgeschichtlichen Einflusses ist von der der Poetik des Nibelungenliedes zu trennen. Millet hat daran erinnert, dass die Geschichte der übelen Kriemhild und ihres Festes, bei dem sie ihre Verwandten opfert, geradezu sprichwörtlich und, obwohl einige Textzeugen aus späterer Zeit datieren, „bereits vor 1200 in Deutschland verbreitet war“.¹³² Das war die Sage, die man kannte. Der Autor des Nibelungenliedes habe ihr gegenüber einen „Perspektivenwechsel“ vollzogen, indem er den Untergang der Burgonden nicht allein auf Kriemhilds perfidia zurückführt, sondern auf ein komplexes Motivationsgeflecht, das von der ersten Vorstellung der Protagonisten am Wormser Hof zielstrebig aufgebaut wird. Kriemhild ist im Nibelungenlied nicht eine „beispiellose Verräterin“,¹³³ sondern zuerst ein höfisches junges Mädchen, das wegen ihrer Gefahren auf Minne verzichten will, dann die Minnedame des besten Ritters, dann nach dem Verlust ihres Mannes durch eine Mordintrige eine hilflos trauernde Witwe, die schließlich dann auch ihres Besitzes beraubt wird. Erst als Hunnenkönigin verfügt sie wieder über die Mittel, die ihr erlauben, an Rache zu denken und diese blutig ins Werk zu setzen. Das Nibelungenlied widerspricht dem ‚Sagenwissen‘ von Kriemhilds perfidia, dem, was man von Kriemhild oder dem Motivationszusammenhang des Untergangs der Nibelungen zu wissen glaubte. Das Epos gestaltet nicht die Sage, wie man sie kennt, sondern verändert sie. Millet hält für „wahrscheinlich, dass das vorgeprägte Wissen des Publikums um die Bosheit der Frau das Verständnis des um Ausgleich bemühten ‚Nibelungenliedes‘ in einer Vortragssituation beeinträchtigt hat“.¹³⁴ Unterstellt, es gibt dieses Vorwissen all-
Vgl. Hennig 1972, S. 117– 119. Die zitierten Texte stammen allesamt aus dem 15. Jahrhundert. Haferlands 2003, S. 98 Überlegung, „wie sollten sich verschiedene Sänger miteinander arrangieren, ihr jeweiliges Sondergut zusammenzutragen“, entbehrt jeder Grundlage. Heinzle 2003b, S. 24. In Müller 1998 habe ich versucht, vieles, was dem modernen Leser befremdlich ist, aus einem anderen Welt- und Gesellschaftsverständnis und einer anderen Poetik zu erklären; vgl. Müller 2015. Millet 2007, S. 60 – 65; Zitat S. 62; vgl. zur Bekanntheit des Stoffes Grimm 1957. Millet 2007, S. 64. Millet 2007, S. 64. Damit ist nicht gesagt, dass die neue Version dieses Wissen voraussetzt.
Traditioneller Text?
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gemein, warum soll man nicht in der Vortragssituation, die die „Kenntnis der Sage wachrief“,¹³⁵ die abweichende Version des bekannten Stoffes goutiert haben können, ohne dieses Vorwissen als Korrektiv einzusetzen und sich immer vor Augen zu halten, dass die Geschichte ‚eigentlich‘ anders ablief? Zwar dürfte das Nibelungenlied bei einer allgemein bekannten Sage auch auf ein Vorwissen vieler Hörer gestoßen sein,¹³⁶ vielleicht erkannten sie die Abweichungen dieses besonderen Textes, von dem, was sie sonst wussten. Heißt das, dass das Nibelungenlied „sich als Text nicht selbst“ genügte? „Im Hinblick auf konkurrierende Versionen entworfen, war es darauf berechnet, vor deren Hintergrund wahrgenommen zu werden“?¹³⁷ Musste sich ein Rezipient der ‚Ilias‘ in der Antike alle im Umlauf befindlichen Erzählungen vom Trojanerkrieg vergegenwärtigen? Wird ein Zuschauer einer griechischen Tragödie über das Atridengeschlecht eine andere Version des Mythos oder eine andere Dichtung aufrufen, um das Bild Elektras oder Orests oder der anderen in der vor seinen Augen spielenden Tragödie durch eine andere Version zu ersetzen? Wird ein solcher Rezipient nicht eher die Besonderheit und Eigenständigkeit schätzen? Ist nicht die Ausbeutung der gesamten antiken Mythologie in den Schauspielen und Opern der Frühen Neuzeit ein schlagendes Gegenbeispiel? Ist Torquato Tassos Deutung in ‚Gerusalemme liberata‘ verbindlich für sämtliche ArmidaOpern? Warum sollte das Publikum dazu neigen, „die Erzählung im Prinzip aus der von der Tradition vorgegebenen Perspektive zu verstehen“?¹³⁸ Wie hätte man sich eine solche Rezeption denn konkret vorzustellen? Die Literatur- wie die Geschichtsüberlieferung ist voll von konkurrierenden Versionen, Deutungen und Wertungen der gleichen Geschichten. Vergils Darstellung des pius Aeneas konnte keineswegs verhindern, dass Aeneas in anderen Texten ein Schurke ist. Hat dies die Rezeption der ‚Aeneis‘ beeinflusst? Das Nibelungenlied erzählt eine ganz andere Geschichte als etwa das Atlilied,¹³⁹ und wenn das Publikum wirklich Kenntnis einer Sagenversion hatte, in der Siegfried Brünhild schon einmal begegnet war, dann wurde ihm eine dezidiert andere Geschichte erzählt.¹⁴⁰ Was auch die fama behaupten mag, es ist seit je das Geschäft der Literatur, neuen Perspektivierungen Überzeugungskraft zu verschaffen. Durch Vergleich herauszufinden, welche Version ‚richtig‘ ist, wäre eine Aufgabe für einen Historiker, nicht für den Interpreten eines literarischen Textes.
Millet 2007, S. 65. Millet 2007, S. 59. Heinzle 2009, S. 66. Millet 2007, S. 65. Das Bild Etzels, Gunthers und Hagens ist unvereinbar mit dem, was man aus der Edda weiß. Natürlich ist das Epos an die Tradition gebunden, aber einmal ist nicht sicher, was von ihr verfügbar war (es muss nicht einmal so viel sein, wie die ‚Thidrekssaga‘ weiß), und dann hat es die Sage in bestimmter Weise konfiguriert. Das kann aus der Sage bekannt gewesen sein (Heinzle 2009, S. 72). Von der Sagenversion macht der Dichter aber dezidiert keinen Gebrauch. Ähnlich erklärt er nicht Hagens Sagenwissen über Siegfrieds Jugendtaten. Das ist auch bei diesem Erzähltypus nicht nötig. Jemanden zu ‚kennen‘ hat in mittelalterlichen Dichtungen ganz andere Voraussetzungen als im modernen realistischen Roman. Vgl. Müller 1992; Schulz 2008.
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1 Die Ausgangslage
Millets Beobachtungen zeigen, dass das Nibelungenlied sich gerade nicht aus den Vorgaben der Tradition ableiten lässt, sondern dass es sich mit einer konsistenten Motivation dieser Tradition entgegenstellt. Diese Tendenz des Nibelungenliedes in der not-Fassung wird denn auch durch die Bearbeitung *C und erst recht durch die Nibelungenklage keineswegs korrigiert, sondern sogar noch verstärkt, indem beide Dichtungen im Gegenteil die von der Sage abweichenden Züge noch entschiedener herausarbeiten und die Figur der Kriemhild des Nibelungenliedes der Figur Kriemhilds in der Sage noch schärfer entgegensetzen.¹⁴¹ Wenn er die „Macht und Präsenz der Sage“ anerkannte, dann hat schon der Verfasser des Epos ihr nicht nur „entgegengearbeitet“, sondern sie in der Verknüpfung von erstem und zweiten Teil des Epos auszulöschen versucht, verstärkt in *C durch die Entlastung Kriemhilds, eindeutig dann in der ‚Klage‘.¹⁴² Was Lienert die „Standpunktlosigkeit“ des not-Texte genannt hat,¹⁴³ wird nicht durch den „klaren Standpunkt der Sage“ in der mündlichen Überlieferung korrigiert,¹⁴⁴ ganz im Gegenteil: Die Version der Sage wird durch den entgegengesetzten, ebenso klaren Standpunkt der Bearbeitung *C und der ‚Klage‘ noch mehr in Zweifel gezogen. Die Lektüre des Nibelungenliedes darf nicht die Sage als Joker der Interpretation benutzen. Das Nibelungenlied ist nicht Zeugnis der Sage, sondern deren Umgestaltung. Die Tradition steht durchaus im Hintergrund – der Erzähler ist in seinen Wahlmöglichkeiten eingeschränkt –, aber die Tradition wird von ihm – ob von einem oder mehreren – in bestimmter Weise angeeignet. Das Epos setzt sich als so und so gestaltetes Werk von der diffusen Tradition ab. Das bedeutet, dass die Tradition der Sage nicht Maßstab des Erzählten sein kann. Was von der Sage dem Publikum oder auch den Redaktoren des Nibelungenliedes bekannt war, ist ohnehin nicht mehr festzustellen. Der Horizont moderner Philologen, die alle im Norden, auf den britischen Inseln und dem Kontinent nachweisbaren Trümmer der Sage zusammengetragen haben, darf ohnehin nicht mit dem Horizont des Epikers und seines Publikums verwechselt werden, auch wenn manche Philologen das suggerieren. Das Epos fügt alles dem eigenen Sinnentwurf ein. Ob das gelingt oder nicht, ist eine andere Frage. Es wäre gewiss ein Irrtum „zu glauben, das Nibelungenlied könne ‚aus sich selbst heraus‘ verstanden werden“.¹⁴⁵ Allein, ‚aus sich heraus‘ kann kein literarisches Werk verstanden werden. Immer muss man die Kontexte beachten. Die Sagentradition gehört zum Kontext des Nibelungenliedes. Aus dem hermeneutischen Grundsatz, dass jedes Werk in seinem Kontext verstanden werden muss, ist aber nicht zu schließen, dass einer dieser Kontexte das Werk determiniert und der Maßstab seiner Interpretation ist. So ist es eine unzulässige Vermischung der Ebenen, die diffuse Tradition der Nibelungensage gegen explizite Angaben des Nibelungenliedes aufzubieten. Meist steht dahinter die
Millet 2007, S. 66 – 68. Kropik (2008, S. 34) hat dies als ‚Emanzipation‘ von der Sage bezeichnet; dagegen Heinzle 2009, S. 67. Millet 2007, S. 68 – 69. Lienert 2003, S. 108. Millet 2007, S. 65. Heinzle 2003b, S. 25.
Kollektiverinnerung?
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Auffassung, dass das Epos ‚porös‘ gegen die Tradition ist und der Dichter seinen Stoff nicht vollständig beherrscht, sondern in vieler Hinsicht bloßes Sprachrohr der Tradition ist, dass er von dem Reservoir an Motiven abhängt, die man mit dem Burgondenuntergang in Verbindung bringt, dass, was der Dichter nicht sagt, durch die Tradition zu ergänzen ist. Das Nibelungenlied ist keineswegs offen für die Sage. Das ist erst im Spätmittelalter der Fall.¹⁴⁶ Das Darmstädter Aventiurenverzeichnis lässt die Umrisse einer anderen Gestalt der Geschichte Siegfrieds, seiner Brautwerbung und des Drachen erkennen, wie sie später ungefähr dem ‚Hürnen Seifried‘ zugrunde liegt. Die Heldenbuchprosa erzählt den Ausbruch des Kampfes an Etzels Hof, partiell dem Nibelungenlied folgend, jedoch motiviert durch die Provokation Hagens durch Ortlieb, nicht durch Blödelins Überfall auf den Tross. Auch die späte Hs. a sucht das in der Sage verschieden interpretierte Verhältnis Siegfrieds und Brünhilds zu klären (und verheddert sich in der Zuweisung der Namen).¹⁴⁷ Die Bearbeitung n kompiliert aus not- und liet-Fassung einen eigenen Text, der Elemente der Sage, wie sie die ‚Thidreksaga‘ erzählt, aufnimmt.¹⁴⁸ In all dem ist die Tendenz am Werk, eine Synthese aus der Tradition zu schaffen, um den Preis der Auflösung der Gestalt des Epos. Es die Tendenz des Historikers. Dazu gehört eine historische Einleitung in a und n. Sie datieren wie m, n und k erst im 15. Jahrhundert. Das Epos des 12./13. Jahrhunderts kennt solche Auflösungserscheinungen nicht.
Kollektiverinnerung? Wo das Nibelungenlied als traditioneller Text behandelt wird, schreibt man ihm die typischen Funktionen eines traditionellen Textes zu.¹⁴⁹ In der mündlichen Überlieferung hat Heldensage die Funktion gegenwärtige Verhältnisse zu begründen und zu legitimieren, und die Nibelungensage scheint im frühen Mittelalter auch so verstanden worden zu sein.¹⁵⁰ Aber gilt das auch noch für das Epos? Das Nibelungenlied legitimiert nicht durch Tradition eine Dynastie (die in ihm durch einen Spitzenahn gefeiert würde) oder ein Reich (dessen Gründung sich auf es berufen könnte), nicht das Selbstbild einer Gruppe (die in ihm ihre Vorbilder hätte), eine Identität (deren Leitbild es wäre), eine Institution (die auf die Geschichten, die es erzählt, zurückginge) – oder was Jan Assmann sonst als Leistung des kulturellen Gedächtnisses beschrieben hat.¹⁵¹ Ein über längere
Heinzle 1995, S. 97; 2005, S. 158 zeigt er, dass die spätmittelalterliche Bearbeitung n das Geschehen „in sagengeschichtliche Zusammenhänge jenseits des alten ‚Nibelungenliedes‘“ rückt und das Geschehen „aus diesen Zusammenhängen“ interpretiert. Dieser Hintergrund fehlt dem Nibelungenlied. Hennig 1972, S. 117– 118. Heinzle 2003b, S. 27– 29; 2003a, S. 206; möglicherweise steht auch k unter Einfluss der Sage (Heinzle 2003a, S. 207). So Heinzle 1995, S. 88 – 92. Störmer 1973; 1987. Assmann 1992.
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1 Die Ausgangslage
Zeit in der Kollektiverinnerung tradierter Stoff kann auf diese Weise das ‚Herkommen‘ stützen, wie es in oralen Gesellschaften das kulturelle Gedächtnis für Stammesverbände, Gemeinschaften, Adelsgeschlechter, Orte, Institutionen bewahrt. Das kulturelle Gedächtnis kann sich zwar auch in Epen verdichten und in Geschichtswerken gültige Gestalt annehmen, ist aber prinzipiell von ihnen unabhängig, da es in kollektiver memoria bewahrt wird. Das Nibelungenlied erinnert aber nur sehr allgemein an außerordentliche Taten (wunder, A 1,4; ~ C) in der Vergangenheit. Im Gegensatz zur Heldenbuchprosa handelt es nicht von der Vorzeit eines ‚Heldenzeitalters‘, das endgültig vergangen ist und als Urgeschichte des Adels gelten soll.¹⁵² Mit dem Burgondenuntergang ist nicht wie dort der Untergang eines Zeitalters verknüpft. Im Gegenteil sucht die ‚Klage‘ die Verbindung mit der gewöhnlichen Feudalgeschichte wiederherzustellen. Das Nibelungenlied begründet nicht ‚Herkommen‘,¹⁵³ denn welches Herkommen soll das sein? Kurt Ruh hat daran erinnert, dass um 1200 das Nibelungenlied und „die Heldengeschichten der Völkerwanderungszeit nicht weniger fern und fremd waren als uns“.¹⁵⁴ Es kann an das Nibelungenlied kein Adelsgeschlecht, keine politische Konstellation anschließen, wie das im Frühmittelalter bei der Nibelungensage möglicherweise der Fall war.¹⁵⁵ Das heißt, es fundiert nicht im Sinne Jan Assmanns gegenwärtige Verhältnisse, so wenig wie die spätmittelalterliche Heldenepik sonst. Die Geschichte, die es erzählt, wird ihrer verhängnisvollen Verkettung, ihrer Ungeheuerlichkeit, der fragwürdigen Größe ihrer Protagonisten wegen über Jahrhunderte bewahrt,¹⁵⁶ nicht als lebendige Erinnerung an eine Welt, von der man sich herleitet.¹⁵⁷ Seine Fremdheit musste bewältigt werden; dies ist Aufgabe der ‚Klage‘, die Unverständliches verständlich – oder wenigsten verständlicher – macht „mittels zeitgemäßer Wertkategorien, d. h. christlicher Ethik“.¹⁵⁸ Das schließt einzelne Ansippungen und Lokalsagen nicht aus. Am deutlichsten ist die Ansippung in der Gestalt des Passauer Bischof Pilgrim, dessen Andenken im Pilgrimskult des späten 12. Jahrhunderts erneuert worden war und der als Verwandter der Wormser Könige eine Randfigur der ungeheuerlichen Geschichte des Nibelungenuntergangs ist. In ihm konnte sich der gegenwärtige Bischof von Passau,Wolfger von Erlau, spiegeln, zumal wenn Pilgrim der Mäzen des Nibelungendichters gewesen sein sollte wie
Müller 2012. Klaus Grafs unglücklicher Begriff „heroisches Herkommen“ (1993) verknüpft eine sozialhistorische Kategorie mit einer literaturwissenschaftlichen, schreibt nämlich einer Gattung generell eine genau definierte Funktion zu. Es geht bei dem Begriff ‚Herkommen‘ aber immer um bestimmte Träger und bestimmte Ereignisse/Personengruppen etc., nicht um Heroik im Allgemeinen. Ruh 1979, S. 16 unter Rückgriff auf Heinz Rupp, der betont, dass das Nibelungenlied nicht ‚germanisch‘, sondern ‚zeitgemäß‘ gelesen wurde; ähnlich Lienert 2003, S. 95. Störmer 1973, S. 491– 496; Störmer 1987. Von See 1993; vgl. unten S. 343. Das Problem der ‚strukturellen Amnesie‘ hätte sonst erwarten lassen, dass die um 1200 längst nicht mehr bestehenden politischen Konstellationen ‚vergessen‘ worden wären. Ruh 1979, S. 21; vgl. S. 271– 272.
Das Projekt
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in der ‚Klage‘. Pilgrim hat Interesse, an das eigene Geschlecht zu erinnern (was für Wolfger nicht gilt). Ein kollektives Gedächtnis stiftet das nicht. Pilgrim und Passau sind viel zu marginal, um die kollektive memoria an Siegfried und Brünhild, das Wormser Königtum und dessen Untergang am Hof König Etzels getragen zu haben. Eher ist es wahrscheinlich, dass auf Pilgrim und das Bistum Passau etwas vom Glanz der berühmten Geschichte über die nibelungischen Helden fallen sollte. Ansippungen sind sekundär; mit legitimitätstiftendem Herkommen haben sie wenig zu tun. Sie verankern das, was Menschenmaß übersteigt, das Fremdartige, das Monströse in der eigenen Welt. Im Gegensatz zum Identität fundierenden kollektiven Gedächtnis setzen sie an marginalen Begleitumständen an. Das kann vielerlei sein. Ansippungen sind deshalb vermehrbar, sie stehen einander nicht im Weg, weil sie den Kern der Geschichte nicht betreffen.Wie sie vermehrt wurden, zeigt die Bearbeitung *C; sie stellt mit Siegfrieds Grab in Lorsch offenbar die Verbindung zu einer Lokaltradition her.¹⁵⁹ Das ist grundsätzlich nicht vom Interesse gegenwärtiger Lokalpolitiker zu unterscheiden, den Ort, an dem die Nibelungen die Donau überquerten, in der eigenen Gemarkung zu verorten.¹⁶⁰ Solche punktuellen Ansippungen sind vor allem im Spätmittelalter verbreitet; sie sind aber nur eine Schwundform von Tradition in oralen Gesellschaften. Sie knüpfen sich an außerordentliche historische Gestalten, einzelne Monumente wie Riesengräber, Sagenfiguren wie Laurin, Wesen der niederen Mythologie. Bei der Verpflanzung eines Texts in einen anderen sozialen Kontext – Elisabeths von Nassau-Saarbrücken Übersetzung eines Chanson-de-geste-Zyklus – werden neue Ansippungen erfunden: Unter den Chanson-de-geste-Heroen kämpft in der deutschen Version auch ein Graf von Saarbrücken, ein Verwandter Elisabeths. Ansippungen können nicht das leisten, was Assmann dem kulturellen Gedächtnis zuschreibt, nämlich den „Jetzt-Zustand“ mittels Herkommen zu begründen. Wo macht das Nibelungenlied denn wenigstens den Versuch dazu? Das Nibelungenlied erzählt weder vom Herkommen der Burgonden (wer sollen sie sein?) noch von Worms. Das literarische Werk hat sich vom Herkommen emanzipiert. Im literarischen Werk tritt das Magma des kollektiven Gedächtnisses in einen anderen Aggregatzustand.
Das Projekt Die vorangegangenen Überlegungen haben vielfältige Verknüpfungen von Überlieferungsgeschichte und Poetik des Nibelungenliedes berührt. Beim gegenwärtigen Stand der Nibelungenforschung stellt sich die doppelte Aufgabe, die paradoxe Einheit von Festigkeit und Varianz und von Traditionsbindung und literarischer Gestaltung zu untersuchen und die in ihnen sich abzeichnende Poetik zu beschreiben. Diese Verknüp-
Heinzle 1995, S. 91; 99. So die Anfrage eines bayerischen Kommunalpolitikers an den Verfasser.
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1 Die Ausgangslage
fung ist notwendig, weil sie textphilologische Daten erst in einheitlicher Perspektive interpretierbar macht. Die Poetologie erlaubt, das Nibelungenlied in der Geschichte der volkssprachigen Literatur seit dem 12. Jahrhundert zu verankern. Damit zusammen hängt der Vorschlag einer Revision des Überlieferungsmodells, das Überlieferung von einem Punkt ausgehend denkt, als kontinuierliche Folge von aufeinander aufbauenden Abschriften. Stattdessen wird sie als Zeugnis varianter mündlich-schriftlicher Wiedergabe eines in seiner Grundstruktur festen Textes betrachtet. Das vorgeschlagene Überlieferungsmodell muss zwar hypothetisch bleiben, es kann aber besser als das bisherige, an neuzeitlicher literarischer Praxis und neuzeitlicher Vorstellungen vom literarischen Werk orientierte Modelle den Überlieferungsbefund interpretieren. Es kann helfen, einige Probleme der Textkritik zwar nicht zu lösen, aber ihren Stellenwert zu relativieren und Bedingungen ihrer Lösung zu formulieren. Das Buch kritisiert sehr grundsätzlich einige gegenwärtig geltende Annahmen der Nibelungenphilologie. Trotzdem will es nicht mehr als Vorarbeiten zu einer Geschichte der Überlieferung bieten und die Verdienste von 200 Jahren Nibelungenforschung nicht verdunkeln, die Erhellendes über Buchstabenformen, Schreiberhände, Einrichtungsprinzipien, Kopierpraxis, die Entstehung einzelner Lesarten herausgefunden hat. Es darf nicht auf die unbekümmerte Direktheit spontanen Zugriffs zurückfallen, wie sie vielleicht den ersten Jahrzehnten der Nibelungenphilologie nachzusehen war. Es will die Prämissen hinterfragen, auf denen zweihundert Jahre die in vielem erfolgreiche und immer detailliertere Nibelungenphilologie beruhte und unter denen sie ihre Ergebnisse gewann. Ihre Geschichte ist reich an spektakulären Wendungen, die das bisher Geleistete grundsätzlich in Frage stellten, angefangen von Karl Lachmanns vernichtender Kritik an von der Hagens Ausgabe des Nibelungenliedes. Die radikale Kritik hat neue Erkenntnisse hervorgetrieben und gelehrt, den Wert der alten einzuschätzen. Heute würde man auch von der Hagens Verdienste um den Text anerkennen, ebenso wie den Wert der zahlreichen Beweise zugunsten des Vorrangs einer der drei Haupthandschriften. Sie haben alle dazu geführt, dass man den Wortlaut des Textes durchleuchtet hat wie keinen zweiten des deutschen Mittelalters. Die späten Handschriften k und n sind in meinen Überlegungen nur ausnahmsweise berücksichtigt. Für die traditionelle Textkritik haben sie Bedeutung, weil sie teils wörtlich auf älteren Überlieferungen basieren und damit Spuren enthalten könnten, die in die Nähe von deren Ziel, dem ursprünglichen Text, führen könnten.¹⁶¹ Für mein Vorhaben sind sie ungeeignet, da ich die Frage nach dem ‚Original‘ für falsch gestellt halte, vor allem aber weil k und n typische Beispiele spätmittelalterlicher Bearbeitung und Summenbildung sind, die auf dem Text des Epos aufbauen, aber ihn fundamental verändern. Lienhard Scheubels Heldenbuch dokumentiert breit das Fortleben der not- und vor allem der lietFassung des Nibelungenliedes im Spätmittelalter, trotzdem handelt es sich bei k nicht um einen Text des
Hoffmann 1979; Springeth 2007, S. 7– 11 über die Forschungsgeschichte von k; Göhler 1999 zu n.
Das Projekt
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Nibelungenliedes.¹⁶² Es folgt abwechselnd dem not- und den liet-Text¹⁶³ und lehnt sich insofern genau an den Handlungsverlauf und die Motive, in manchen Passagen auch an das Sprache des Nibelungenliedes an, benutzt sie aber bloß als Material, mischt sie mit eigenen Zutaten und verändert durchgängig den Wortlaut. Statt in der Nibelungenstrophe ist es im einfacheren Hildebrandston verfasst, die für das Nibelungenlied konstitutive Metrik also weicht ab. Diese war streng geregelt (Silbenzahl, Auftakt, Wechsel von Hebungen and Senkungen). Auch ist die feste Textstruktur des Nibelungenlieds aufgelöst. Strophen und Strophenteile sind umgestellt, Informationen werden vorgezogen, Erweiterungen (z. B. zum höfischen Leben) werden ergänzt, Motivationen vertauscht. Indem mithin jene Merkmale, auf denen die Poetik des Nibelungenliedes beruht, durchgehend verändert sind, handelt es sich um einen anderen Text. Erst recht gehört das ‚Darmstädter Aventiureverzeichnis‘, das die Untergangsfabel für andere Sagenelemente öffnet, nur unter stoffgeschichtlichem Aspekt in die weitere Rezeptionsgeschichte des Textes. Diese Öffnung zur Sage verweigert das Nibelungenlied gerade. Aus Verzeichnis sind keine Schlüsse auf den Anteil des Nibelungenliedes am Text und seine Abstimmung mit den neu hinzukommenden Sagenelementen möglich. Nicht einmal über die poetische Gestalt des zugrundeliegenden Epos lässt sich Sicheres sagen. Die der Darmstädter Hs. n¹⁶⁴ streicht den ersten Teil und ersetzt ihn durch eine Zusammenfassung in 14 Strophen. Sie zerstört damit die für das Nibelungenlied typische Komposition. Nach einer kurzen Überleitung schwenkt n mit Str. 20 zum Aufbruch der Burgonden zu Etzels Hof ein. Sie ist aus not- und lietTextteilen zusammengesetzt, arbeitet sie ineinander und bringt manchmal nacheinander „textverdoppelnd“¹⁶⁵ die Lesart beider Fassungen, dazu eigenständigen Text. Die Motivation folgt teils der ‚Thidrekssaga‘, teils anderen mündlichen Sagenversionen.¹⁶⁶ Der Text entfernt sich teils stark vom Nibelungenlied und dessen eindeutiger Motivation. Auch in n sind die charakteristischen Merkmale des Nibelungenliedes aufgegeben.
Vor allem die Handschriften k und n verdienen Interesse als späte Umformungen und Zeugnisse für die Rezeption des Nibelungenliedes. Sie gestalten den Text durch erhebliche Eingriffe inhaltlich und formal um und entwickeln dabei ein eigenes Profil. Sie benutzen den Text des Nibelungenliedes, lösen aber seine feste Textstruktur – den einen Pol seiner Überlieferung – auf und schaffen ein neues Ganzes. Sie können Auskunft geben über die Transformation der Textgestalt und ihre Überführung in eine neue Form. Sie sagen jedoch nichts aus über die Varianz der Überlieferung des Nibelungenliedes selbst. Sie werden im Folgenden daher nicht als Fassungen des Nibelungenliedes behandelt.
Zur Bedeutung von C für k Heinzle 2003a, S. 207; 2008, S. 331 macht er darauf aufmerksam, dass k die „mit Abstand umfangreichste Parallelüberlieferung zu C/a“ liefert. Trotzdem ist es gerechtfertigt, dass Batts (1971) und Hennig (1972 u. 1977) k nicht berücksichtigen: Es handelt sich um einen anderen Text, nicht mehr das Nibelungenlied (anders Voetz 2003, S. 285): k baut aus Bausteinen des Nibelungenliedes eine andere Dichtung. Die Zusammensetzung in k „aus Teilen der Not- und Liedfassung“ wurde zu Unrecht auf eine Ebene gestellt mit der mechanischen Addition eines liet-Textes und eines not-Textes in *Db.Wenn k ebenfalls auf einem erzwungenen Vorlagenwechsel beruht (Heinzle 2003a, S. 207), so ist dieser überdies mit einer „tiefgreifenden Umformung unterzogen“ (Heinzle 2014, S. 95; vgl. Springeth 1999; 2007, S. 555), die daraus einen neuen Text macht. Göhler 1995; 1999; Vorderstemann 1976; 2000; Heinzle 2005; vgl. 2003a, S. 206; 2008, S. 331– 335. Göhler 1995, S. 74. Heinzle 2005, S. 143 – 149.
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1 Die Ausgangslage
Vorbereitet ist diese Untersuchung durch drei kürzere Artikel,¹⁶⁷ von denen der erste sich den sog. kontaminierten Handschriften widmete; der zweite wollte die Vielfalt der Varianz in der Nibelungenüberlieferung beschreiben und typisieren, der dritte die Aporien der genealogischen Methode Lachmanns in der Auseinandersetzung mit dem Nibelungenlied aufzeigen. Diese Artikel benutzen z.T. dasselbe Material, das auch diesem Buch zugrunde liegt. Es wird sich daher nicht vermeiden lassen, dass sich einige Beobachtungen aus diesen Artikeln wiederholen. Allerdings sucht das Buch sie aufeinander zu beziehen und in ein konsistentes Modell einer Überlieferungsgeschichte des Nibelungenliedes zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu integrieren. Manchmal werden die älteren Überlegungen, um sie untereinander abzustimmen, auch korrigiert werden müssen. Sie weisen insgesamt auf einen Überlieferungsprozess, der wesentlich komplexer ist als das der älteren Textkritik zugrunde liegende Modell der linearen Abhängigkeit einzelner Handschriften von einzelnen Handschriften, die sie mehr oder weniger treu reproduzieren. Die Untersuchung gliedert sich in drei Teile. Der erste ‚Die Ausgangslage‘ und ‚Am Schreibtisch‘ (Kapitel 1 und 2) wird den Forschungsstand und die Entstehung des Nibelungenliedes unter den Bedingungen früher volkssprachiger Schriftlichkeit erörtern. Der zweite (‚Materialien zur Überlieferung‘) stellt die verschiedenen Typen von Varianz (Kapitel 3 – 5) und die Gruppierung der Fragmente zu Redaktionen und Fassungen vor (Kapitel 6 u. 7). Der dritte (‚Poetik‘) untersucht den Spielraum der Gestaltungsmöglichkeiten des Epos und seine Abhängigkeit von der Übergangsphase zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit und will die von moderner Literatur abweichende Textualität des Nibelungenliedes bestimmen (Kapitel 8 – 10). Im ersten Kapitel ging es um das Modell der Lachmann‘schen Textkritik, das durch die Studie von Brackert erschüttert wurde. Der Verzicht auf die Beantwortung der 150 Jahre forschungsleitenden Frage nach der ursprünglichen Gestalt des Nibelungenliedes und dem Archetyp des Textes, auf den alle folgende Überlieferung zurückgeht, erfordert, das herkömmliche Modell der Textkritik zu überdenken. In Kapitel 2 untersuche ich die Metapher, das Nibelungenlied sei ‚am Schreibtisch‘ entstanden, d. h. die Form der schriftlichen Reproduktion in der frühen Überlieferung, die in erstaunlichem Maß Varianz zulässt. Im Anschluss daran (Kapitel 3 – 5) werde ich zunächst noch einmal auf die Typen von Varianz im Nibelungenlied zurückgreifen und sie näher ausführen und systematisieren, wie ich sie in den beiden zitierten Aufsätzen 2020 und 2022 beschrieben habe. Das hat einige Wiederholungen zur Folge. Ich werde erstens den Zusammenhang der Varianz mit dem Stand volkssprachiger Schriftlichkeit zeigen, die in Orthographie und Morphologie ein breites Spektrum an meist bedeutungsneutralen Alternativen kennt, die einen in der Editionsphilologie vorausgesetzten wort- und buchstabengetreuen Prozess des Abschreibens ausschließen (Kapitel 3). Ich werde dann zweitens einen Typus
Müller 2016, 2020 und 2022a.
Das Projekt
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von Varianten vorstellen, den ich Ad-libitum-Varianten¹⁶⁸ genannt habe, Varianten vor allem der Lexik und Syntax. Er lässt sich nicht wie der erste Typus aus der Orthographie und Morphologie der überlieferten Texte ableiten, produziert aber gleichfalls meist keine oder nur schwache inhaltliche Bedeutungsdifferenzen, verändert aber mehr oder minder einschneidend die sprachliche Darbietung der Inhalte. Bei der sprachlichen Wiedergabe des Nibelungenliedes scheint es in dieser Hinsicht erhebliche Freiheiten gegeben zu haben. Diese Varianten sind deshalb nur mit Einschränkungen textkritisch belastbar (Kapitel 4). Drittens werde ich auf den Übergang zwischen Fehlern und Varianten verweisen und Varianten untersuchen, die einen optischen oder akustischen Übermittlungsfehler voraussetzen, sich aber gleichwohl im Spektrum der übrigen Varianten bewegen und Lesarten produzieren, die den Rahmen der übergreifenden Struktur nicht sprengen (Kapitel 5). Danach werde ich das Profil der einzelnen Fragmente vorstellen und die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen ihnen und den vollständigen Handschriften zu klären versuchen. Dabei wird insbesondere die Zuordnung der Fragmente zu „Referenzhandschriften“ in Koflers Ausgabe zu erörtern sein (6), die einen Zusammenhalt der Redaktionen vorspiegelt, der dem Überlieferungsbefund nicht entspricht. Die Familienähnlichkeiten und Differenzen zwischen den Handschriften einerseits und die Festigkeit der Architektur des Nibelungenliedes anderseits zwingen dazu, den Fassungsbegriff noch einmal zu überdenken (7). Lässt das Nibelungenlied – von der Bearbeitung *C abgesehen – ‚Fassungen‘ zu? In diesem Zusammenhang wird der Bumkesche Fassungsbegriff in seinem ‚Klage‘-Buch und der leichtfertige Umgang mit dem Fassungsbegriff in der Nibelungenphilologie zu diskutieren sein. Diese fünf Kapitel sind sehr materialintensiv. Nur durch die exemplarische, nicht vollständige, aber ins Einzelne gehende Darstellung von Variantentypen, durch den Einzelnachweis der Varianz im Verhältnis zu den vollständigen Handschriften und durch Erörterung der Schwierigkeiten, Handschriftengruppen zu Fassungen zusammenzufassen, wird sichtbar, warum man an eine Revision der herkömmlichen Fragestellungen denken muss. In den letzten drei Kapiteln folgt eine zusammenfassende Betrachtung der Textgeschichte sowie der Poetik des Nibelungenliedes. In ihnen ist von den Fragmenten selbst weniger die Rede als von den Konsequenzen, die die Ausweitung der Untersuchung auf die Fragmente auch für die restliche Überlieferung nahelegen. Zuerst werden noch einmal vor dem Hintergrund der festen Architektur des Nibelungenliedes die Lizenzen der Überlieferung in Bezug auf den Textbestand untersucht: Es werden die Auslassungen und Einfügungen von Strophen betrachtet, dann die Sonderstellung der Zusatzstrophen in den sog. kontaminierten Handschriften und die Varianz der Textgestalt in *J, schließlich die Prinzipien der *C-Bearbeitung. Auslassungen, Anlagerungen und Formulierungsvarianten akzentuieren den Text jeweils anders, ohne seine Grundstruktur zu tangieren. Erst die scheinbar als ‚letzte Aventiure‘ angehängte ‚Klage‘ bemüht sich um eine Neudeutung (8).
Zum Begriff S. 85 – 86.
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1 Die Ausgangslage
Die Varianz der Textgestalt erfordert eine Revision der Überlieferungsgeschichte. Hierzu soll auf andere Beispiele früher Schriftlichkeit zurückgegriffen werden, Schriften mit „fehlendem Urtext“ und frühen, in einer breiten mündlichen Überlieferung wurzelnden Texten wie Homers ‚Ilias‘. ‚Homer‘ schafft wie das Nibelungenlied aus einer breiten und vielfältigen Erzähltradition eine epische Dichtung, die bei aller Varianz festgeformt sich von der diffusen Erzähltradition der Sage absetzt. Beide entstehen in einer Phase des Übergangs von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Bei ihrer Konstitution und Tradierung ist mit dem Ineinandergreifen von mündlichen und schriftlichen Formen der Textsicherung zu rechnen. Die spärlichen Zeugnisse zur Verbreitung von Heldenepik scheinen jenes Ineinandergreifen zu stützen (9). Am Schluss wird der Versuch stehen, aus der Kombination von Varianz und Festigkeit der Überlieferung die besondere Poetik und Textualität des Nibelungenliedes abzuleiten und sowohl gegen einen modernen Textbegriff wie gegenüber dem Textbegriff der zeitgenössischen mittelalterlichen Epik zu profilieren. Aufbau und Verfugung des Textes setzen ihn von der diffusen Sagentradition ab. Trotzdem macht er keinen Anspruch auf die sakrosankte Gestalthaftigkeit einer modernen Dichtung, und er verweigert in der not-Fassung das Sinnversprechen mittelalterlicher Epik. Die Bearbeitung *C und die ‚Klage‘ werden als Stationen der Transformation der Gattung Heldenepik interpretiert. Es gilt den literaturgeschichtlichen Ort des Heldenepos in der christlich geprägten Laienkultur des Hochmittelalters zu bestimmen (10). Das Buch ist, wenn man seinen Einzelanalysen folgt, oft mühsam zu lesen. Dabei sind seine Thesen einfach, gewissermaßen wie die Bierdeckelversion der Pläne für eine Steuerreform. Aber die Thesen müssen belegt werden, und das bedingt einen ausführlichen Fußnotenapparat. Andererseits soll das Buch noch lesbar sein. Ziel war es, die Argumentationslinien klar hervortreten zu lassen und nicht in der Fülle des Materials zu ertränken, trotzdem aber die Überprüfbarkeit zu sichern. Das hat sicherlich auch schlechte Kompromisse zur Folge. Vieles kommt über den Status der Hypothesen nicht hinaus. Doch besteht der Anspruch, dass die Hypothesen plausibel sind, plausibler jedenfalls als viele der Voraussetzungen, die die traditionelle Textkritik zur Stützung ihrer Argumente beanspruchte. Wo die ältere Textphilologie den Wirrwarr des Überlieferten durch erschlossene Zwischenstufen oder Kontaminationen zu ordnen versuchte, kann nach deren Kritik häufig keine andere Lösung an ihre Stelle gesetzt werden. Ich meine aber, dass es einer Wissenschaft besser ansteht, die Grenzen ihrer Erklärungsmodelle einzubekennen als durch immer neue Zusatzannahmen ihr Nicht-Wissen zu verschleiern und eine Sicherheit vorzutäuschen, wo diese nicht erreicht werden kann. Insofern will dieses Buch auch mit vielen selbstverständlich von Untersuchung zu Untersuchung fortgeschleppten Meinungen aufräumen. Die Untersuchung wird einige Selbstverständlichkeiten der Nibelungenphilologie in Frage stellen, sie erlaubt aber noch kein neues, in sich geschlossenes, konsistentes Bild der Überlieferung. Sie will Vorarbeit zur Vorbereitung eines solchen Bildes sein. Es gilt ‚Altlasten‘ der älteren Forschung, die trotz der Neuorientierung ‚nach Brackert‘ und durch die bereinigten überlieferungsnahen Ausgaben immer noch mitgeschleppt wer-
Das Projekt
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den, in Frage zu stellen. Ein weiteres Eingeständnis ist nötig: Es handelt sich um eine ‚altmodische‘ Untersuchung, die ihre Aussagen auf die Analyse exemplarischer Fälle richtet, nicht das vollständige Überlieferungsmaterial zugrunde legt. Das wäre im Zeitalter der Digital humanities prinzipiell möglich. Ich bin allerdings überzeugt, dass der signifikante Einzelfall die Erkenntnis oft mehr fördert als der statistisch relevante Durchschnitt, und sei es nur, dass er die Fragen zu formulieren erlaubt, die an das gesamte Material zu stellen wären.
2 Am Schreibtisch Die ubiquitäre Varianz in der konkreten Gestalt des Textes auf der einen Seite und die Festigkeit der Architektur des Epos auf der anderen scheinen auf gegensätzliche Entstehungsursachen zu verweisen. Mindestens die letztere lässt sich nicht ohne weiteres aus der Mündlichkeit erklären, während die erste auch bei schriftlicher Reproduktion möglich ist. In den letzten Jahrzehnten bildete sich ein Konsens heraus, dass in der Überlieferung des Nibelungenliedes Mündlichkeit und Schriftlichkeit ineinandergreifen, in jedem Fall aber das Nibelungenlied Schrift voraussetze: Das Nibelungenlied sei ‚am Schreibtisch entstanden‘. „Der einzige Ort der Veränderung von Texten, den wir qualifiziert wahrnehmen können, ist die Schreibstube“,¹ denn wahrnehmbar ist die Varianz nur im Vergleich zweier Handschriften. Insofern können wir sicher nur mit den geschrieben überlieferten Texten argumentieren.² Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht auch jenseits der schriftlichen Überlieferung – wenn auch hypothetisch – „(plausible) Möglichkeiten des Lesartenflusses“ wahrscheinlich machen können, die mit einem streng an der Vorlage orientierten Abschreibprozess nicht zu erklären sind.³ Wenn das Modell der ‚genealogischen‘ Überlieferung, das damit rechnet, dass Texte möglichst genau von einer Handschrift in die andere übertragen wurden, nur unter erheblichen Zusatzannahmen die Varianz dieser Überlieferung erklären kann, aber ohne die Annahme von Schrift oder schriftanaloger Praktiken deren relative Festigkeit unverständlich bleibt, dann ist die Ursache in der Eigenart volkssprachiger Schriftlichkeit im Mittelalter zu suchen, die noch lange Zeit mit mündlichen Praktiken interferiert. Deren Eigenart ist zu beschreiben. Was besagt die Metapher ‚am Schreibtisch entstanden‘? Welche Praktiken und Gewohnheiten sind darunter zusammengefasst? Es muss zunächst geklärt werden, was schriftliche Aufzeichnung und Abschrift eines volkssprachigen Epentextes in der Mitte des 13. Jahrhundert bedeuten. Vor allem gilt es, gegenwärtige Vorstellungen von Schriftlichkeit nicht auf die Zeit zu übertragen, in der die volkssprachige Literatur auf breiter Front der Mündlichkeit entwächst.
Schrift und Gedächtnis Der schriftsprachliche Charakter des Nibelungenliedes wurde gegen die These herausgearbeitet, dass das Nibelungenlied als spätes Produkt der Oral formulaic epic ein genuin mündliches Epos sei.⁴ Michael Curschmann hat die entsprechenden Überlegungen
Heinzle 2008, S. 318 et passim in seinen zahlreichen Veröffentlichungen. In meinem Aufsatz von 2020 rekurriere ich zwangsläufig deshalb auf „skripturale[] Erklärungsmuster“ (Heinzle 2022, S. 204). Ich bin allerdings der Ansicht, dass wir für den Schreibprozess interferierende Praktiken der Mündlichkeit annehmen müssen. Heinzle 2008, S. 322. Heinzle selbst hat auf diese Möglichkeit hingewiesen, zuletzt 2014, S. 111– 112. Haymes 1977; 1986; Bäuml 1980; 1981; 1986. https://doi.org/10.1515/9783110983104-003
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überprüft; er betont, dass das Nibelungenlied zwar stilistische Züge mit der Oral formulaic epic teilt, aber diese stilistischen Züge in einem schriftliterarischen Werk adaptiert. Zwar gibt es zahlreiche Verwandtschaften mit einem mündlichen Epos, aber auch unübersehbare Differenzen. Vor allem die Formelhaftigkeit des Erzählens, die die These der genuinen Mündlichkeit des Nibelungenliedes begründen soll, erweist sich als unterschieden vom Formelgebrauch mündlicher Epik.⁵ Davon unabhängig strebt aber das Nibelungenlied Ähnlichkeit mit deren Stil an. Es ist in einer Sprache verfasst, die man mit Curschmann als „Nibelungisch“ bezeichnen kann. „Nibelungisch“ heißt das poetische Idiom, dessen sich der Erzähler bedient.⁶ Curschmann prägte deshalb den Begriff der „fingierten Mündlichkeit“ des Nibelungenliedes. Das Nibelungenlied sei ein schriftlich konzipierter Text, der wie ein mündlicher aussehen soll. Vielleicht darf man die Formulierung so übersetzen, dass die Nähe (nicht Identität) zu mündlicher Dichtung auch in einem verschriftlichten Text (also nicht bloß in einer Verschriftung eines ursprünglich mündlichen Textes) möglich ist, d. h. in einem Text, der die Konsistenz- und Kohärenzbedingungen eines schriftsprachlichen Textes erfüllt.⁷ Der Gebrauch von Formeln und formelähnlichen Wendungen und die Tendenz zur Stereotypik verbindet ihn mit mündlicher Dichtung, die weiträumige und strukturierte Disposition mit schriftlicher. „Fingierte Mündlichkeit“ geht mit schriftlicher Entstehung und Übermittlung des Epos zusammen.⁸ Damit ist nicht gemeint, dass man nach Art Viollet-le-Ducs bewusst im ‚alten Stil‘ dichtete, sondern dass man eine literarische Tradition, in die man eingeübt war, auch dann noch fortsetzte, als deren mediale Voraussetzungen nicht mehr durchweg gegeben waren. ‚Fingierte Mündlichkeit‘ meint also nicht „einen in einen (Vor‐)lesetext eingeschriebene Mündlichkeit“, eine ‚gespielte‘ Mündlichkeit,⁹ sondern einen eingeübten Stilgestus, der im Medium der Schrift bewahrt wurde. „Künstlich imitiert“ muss da nichts sein.¹⁰ Curschmanns These wurde als „Dogma“ bestritten.¹¹ Das ist zweifellos richtig, wenn damit der Einfluss nicht schriftgebundener Überlieferungsgestalt auf die Textvarianz bestritten wird.¹² Aber mit ‚fingierter Mündlichkeit‘ ist ein poetisches Idiom ursprünglich mündlicher Dichtung gemeint, in dem sich der Sänger frei bewegen konnte, auch wo
Curschmann 1977; 1987. Curschmann 1967; 1979, S. 100; vgl. 1987. Zu diesen Koch/Oesterreicher 1985. Vgl. auch Curschmann, 1992; Lienert 2003, S. 94 „inszenierte Mündlichkeit“; Heinzle 2008, S. 321: die „schriftliche Nachbildung des mündlichen Stils“ sei ‚Ilias‘ und Nibelungenlied gemeinsam. Haferland 2019a, S. 82. Haferland 2019a, S. 83. So der Titel des Aufsatzes von Knapp 2008. Knapp 2008, S. 76 – 77; 79. Knapp kritisiert besonders, dass mit dem Begriff fortwirkende Einflüsse mündlicher Überlieferung auf den schriftlichen Text ausgeschlossen werden; das ist in der Tat nicht zu halten. Knapp hat aber, dem Thema der Tagung gemäß, für die sein Beitrag bestimmt war, Heldenepik insgesamt im Blick. Das ist insofern problematisch, als das Nibelungenlied sich in manchen Punkten von der übrigen mittelalterlichen Heldenepik unterscheidet.
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er sich bereits der Schrift bediente und sein Werk schriftlich tradiert wurde, wenn man seinen Text bewahren wollte. Auch wenn Curschmanns These viele Fragen zu Entstehung und Gestalt des Epos offenlässt, die hier nicht diskutiert werden können, so hat sich doch ein Konsens herausgebildet, dass ohne frühe Beteiligung der Schrift weder die Konzeption, Konstitution noch Reproduktion des Textes denkbar ist:¹³ Das Nibelungenlied ist die schriftliche Gestaltung der jahrhundertelang in alten mæren erzählten Geschichten vom Burgondenuntergang in strophisch gebundener Form. Das ist die Grundbedeutung der Rede, dass das Nibelungenlied ‚am Schreibtisch‘ entstanden sei und ‚am Schreibtisch‘ – d. h. mit Hilfe der Schrift – vervielfältigt wurde. Dieser Rede hat vor allem Haferland entschieden widersprochen und die Varianz der Textzeugen auf die unvollständig memorierenden und ihr Gedächtnis beim Vortrag korrigierenden Sänger zurückgeführt.¹⁴ Haferland positioniert das Nibelungenlied im „Zwischenbereich von Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ – so der Titel eines Aufsatzes¹⁵ –, sieht jedoch diesen Zwischenbereich als von der Mündlichkeit dominiert und nimmt bei der Produktion wie der Reproduktion Dominanz nicht-schriftsprachlicher Praktiken an. Während er die Entstehung und Verbreitung des Nibelungenliedes ‚am Schreibtisch‘ bestreitet, bleibt er, wie zu zeigen ist, auf das alte Textmodell verpflichtet. Wenn seine Thesen am Eingang eines Kapitels ‚am Schreibtisch‘ diskutiert werden sollen, dann weil sie von Annahmen abhängig bleiben, die auch die schriftorientierte Textkritik unterstellt, und weil sie insoweit mit den herkömmlichen Überlegungen übereinstimmen. Während Haferland 2003 ein „schriftlich fixierte[s] Original“ nicht ausschließt, es aber als Produkt mündlicher Textkonstitution ansieht, verlegt er vor allem in den nachfolgenden Arbeiten die Überlieferung des Epos überwiegend in den Bereich der Mündlichkeit und leitet die Varianz des Textes aus der dominant mündlichen Übermittlung eines auswendig gelernten Textes ab. Vielleicht benutzte der Dichter eine schriftliche Aufzeichnung als „Gedächtnisstütze“ bei der Wiedergabe oder Weiterentwicklung des Textes oder schaute in sie „beim Diktat der Fassung *C“ dann und wann hinein.¹⁶ Insgesamt aber dekretiert Haferland: „Das ‚Nibelungenlied‘ ist ein aufgezeichneter Gedächtnistext und kein Buchepos“. Damit meint er nicht nur, dass der (mündliche) Vortrag des Textes, „aus dem Gedächtnis abgerufen“ wurde (was möglich ist), sondern dass auch die Herstellung und Reproduktion des Textes weithin ohne Schrift und seine schriftliche Aufzeichnung nach Diktat „aus dem Kopf“ erfolgte.¹⁷
Vgl. Haustein 1993, S. 377. Haferland 2001, 2003; 2004; 2006; 2019a; 2019b. Heinzle hat in einer Reihe von Publikationen Haferlands Thesen einer kritischen Prüfung unterzogen, auf die ich mich im Folgenden beziehe. Haferland 2019a. Haferland 2003, S. 126; vgl. 127. Unklar ist, in welchem Umfang auch die Entstehung des Epos Schrift voraussetzt; 2019a, S. 30 sagt er über die Strophenform: „schriftgeboren taucht sie wieder in die Mündlichkeit ein“. Haferland 2019a, S. 29; vgl. 2006, S. 208.
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Die Begriffe ‚Gedächtnistext‘ und ‚Buchepos‘ betonen einen Gegensatz, der nach neueren Forschungen eigentlich im ‚Zwischenbereich zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit‘ aufgehoben sein sollte.¹⁸ Sie vermischen außerdem unterschiedliche Aspekte, die nicht unbedingt zusammengehören. Der eine Aspekt ist die Speicherung und Vermittlung des Textes, der andere die von mündlicher Dichtung unterschiedene Textstruktur. Aus der Beteiligung des Gedächtnisses an der Konstitution des reproduzierten Textes wird auf dessen Gestalt geschlossen. Haferland nimmt an, dass das Nibelungenlied im Gedächtnis gespeichert wurde und die Veränderungen des Textes nicht über eine schriftliche Vorlage erfolgte, sondern mittels des Gedächtnisses und eines mündlichen Vortrags, indem „der/die Dichter es ohne kontinuierliche Rückkopplung mit einer Aufzeichnung entwarf[en] und aus dem Kopf diktierte[n]“.¹⁹ Tatsächlich kann er nachweisen, dass Abweichungen zwischen zwei Handschriften oft auf Fehlinterpretation des Klanges (Klanghülsen) oder Lücken des Gedächtnisses zurückgeführt werden können. So kann er an zahlreichen Beispielen, wie sie die Handschriften dokumentieren, Regeln der Transmission herausarbeiten. Er fragt, welche Gedächtnisfehler/Hörfehler wahrscheinlich sind und welche improvisierten Reparaturversuche darauf reagieren. Die Schwächen des Gedächtnisses und die Fehlbarkeit des Gehörs erklären die Varianz. Haferland hat den Begriff der„Lauthülsen“ eingeführt,²⁰ die das Memorieren des Textes auf falsche Fährten locken und zur Ersetzung des ursprünglichen Wortlauts führen. Die Fehler, die auf schriftsprachlicher Übermittlung basieren, sind geringer an Zahl und betreffen vor allem die späte Überlieferung. Allerdings sind es immer nur zwei Gestalten des Textes, die miteinander verglichen werden können und bei denen der Weg von a nach a‘ auf diese Weise plausibel gemacht werden soll. In den beiden jüngsten Publikationen (2019a+b) sind das die not-Handschrift B und die liet-Handschrift C. Der Verfasser von *C, der das Nibelungenlied in der Gestalt des not-Textes von B entweder selbst gedichtet oder auswendig gelernt hatte, diktierte einem Schreiber einen daraus weiterentwickelten Text auswendig, wobei das Gedächtnis ihn manchmal bei der Wiedergabe des *B-Textes im Stich ließ. Hs. C ist das Produkt dieses Diktats, „die Verschriftung eines Gedächtnistextes“.²¹ Auf diese Weise soll die Varianz der Textgestalt im Mikrobereich erklärt werden. Das ist zur Erhellung einiger Transmissionsprozesse unter der Bedingung von Mündlichkeit von heuristischem Wert, doch betrifft es nur einen Bruchteil der Überlieferung. Indem er sich auf B und C konzentriert, blendet Haferland den größeren Teil der Überlieferung aus und lässt die breite Masse der Varianz unberücksichtigt. Er rechtfertigt die Konzentration auf B und C mit dem unzutreffenden Satz: „Fast alle weiteren vollständigen Hss. – D, I [J], b, d – folgen oft B, rücken aber bei Änderungen und Zusätzen
Vgl. Heinzle 2008, S. 321. Haferland 2019a, S. 29. Haferland 2019b, S. 474– 478 u. 498 – 508. Haferland 2019a, S. 49.
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in die Nähe der Fassung *C“.²² Damit betreffen seine Überlegungen nur einen schmalen Ausschnitt aus der Überlieferungsgeschichte des Nibelungenliedes, indem dessen vielfältige Varianz doch wieder auf das Verhältnis zweier Haupthandschriften reduziert wird. Das ist die erste Konzession an die traditionelle Textkritik. Die Gedächtnisleistungen und -defizite werden damit von vorneherein auf einen bestimmten Fall eingeschränkt. Es bleibt außerdem unerörtert, welchen Status die Vorlage hat, die durch die Arbeit des Gedächtnisses verändert wird. Ist sie selbst Produkt ähnlicher Gedächtnisarbeit? War sie selbst schon ähnlich durch unzulängliche Erinnerung entstanden? Und ihr Vorgängertext? Damit wird unklar, welchen Status der Ausgangstext hat, der dann den Unzulänglichkeiten des Gedächtnisses ausgesetzt ist. Ist es der ‚originale‘, der ‚richtige‘ Text oder doch schon ein verderbter? ‚Repariert‘ kann nur werden, was vorher intakt war. Hat der Vorgängertext normative Geltung?²³ Wie genau das zuvor Intakte aussah, kann Haferland natürlich auch nicht sagen. Aber er setzt implizit einen solchen ‚ursprünglichen‘ Text voraus. Haferland muss bei seinen Untersuchungen der Fehlleistungen des Gedächtnisses und dessen Reparaturversuchen unterstellen, dass der Vergleichstext der maßgebliche ist. Das suggeriert, ohne dass er das sagt, dass am Anfang der Überlieferung ein fester, geschlossener, in allen Parametern ausformulierter und gültig gestalteter Text steht, der durch die Bedingungen gedächtnismäßiger Reproduktion verändert und nach bestimmten Regularitäten umgestaltet wurde. Nur deshalb kann Haferland von „fehlerhafte(m) Neufassen von vergessenem Text“ sprechen: „Man könnte sämtliche Stellen aus *B, die abweichend formuliert oder ersetzt worden sind, zu Stellen erklären, die dem Vergessen anheimgefallen und deshalb neugefaßt worden sind“.²⁴ Das ist die zweite Konzession an die traditionelle Textkritik: Es gibt einen maßgeblichen Ausgangspunkt der Überlieferung, von dem sie sich durch Gedächtnisfehler sukzessive entfernte. Aus diesem Grund sind Varianten des Textes nur als ‚Fehler‘, als Aussetzer des Gedächtnisses mit anschließender Reparatur, zu werten. Das mag, solange man nur zwei Formen des Textes vor Augen hat, noch ein gewisses Maß an Plausibilität haben, obwohl die mentalen Prozesse, die lt. Haferlands Beschreibung vom ursprünglichen zum neuen Text führen, manchmal recht gesucht und voraussetzungsreich sind. Das Verfahren gerät aber sogleich in Schwierigkeiten, sobald man statt einer ein halbes Dutzend von Minimalvarianten – minimalen ‚Gedächtnisfehlern‘ – auf diese Weise zu erklären hat. Dann hat man ganze Serien fehlgeleiteter Erinnerungsprozesse mit immer anderem Ausgang zu erklären. Haferland erwägt nicht, ob seine klanggestützten (oder sonstwie
Haferland 2019b, S. 454. Haferland 2019a, S. 50. – Wird nicht auch ‚Falsches‘ repariert? Etwa eine unzutreffende Ortsangabe? Dann aber ist nicht das Gedächtnis im Spiel. Mit der Einsicht, dass ein ‚richtiger‘ Text nicht unbedingt der ‚ursprüngliche‘ Text sein muss, kommt Haferland allerdings der im Folgenden auszuführenden Skizze der Rezeptionsgeschichte schon sehr nahe (Haferland 2003, S. 104). Haferland 2003, S. 122.
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veranlassten) Abweichungen andere Ursachen haben könnten. Das Gedächtnis ist am Überlieferungsprozess gewiss beteiligt, aber nur als einer der Faktoren. Er nimmt einen „zielgerichtete(n) Arbeitsprozess“ an, der „angesichts der relativen Konstanz des Wortlauts und der kontinuierlich voranschreitenden Varianz sowie des Strophenzuwachses“ am ehesten einer und derselben Person zugschrieben werden kann.²⁵ Die Einheit des Textes basiert auf der Identität des Dichter/Sängers, der sich „immer gerade den Text vornahm, den er als letzten erarbeitet hatte, um mit ihm zu arbeiten“.²⁶ Die Personalunion von Autor, Bearbeiter und Vermittler soll die Einheit des Textes garantieren. Der Text wurde vorgetragen und als Diktat verschriftlicht. Für das Diktat ist er auswendig zu lernen und wird bei der mündlichen Wiedergabe (statt wie in traditioneller Textkritik beim Abschreiben) durch Hör- und Gedächtnisfehler und improvisierte Reparaturversuche beschädigt. Das Problem der Depravation des ‚Originals‘ wird also vom Abschreiben auf fehlerhafte Erinnerung beim Diktieren und den fehlerhaften Vortrag verschoben. Beides erfolgt durch eine einzige Instanz. Diese Reduktion der Instanzen ist notwendig, weil Haferland auch in dieser Hinsicht der traditionellen Textkritik folgt und er – drittens – damit am Modell des einen und nur einen Textes, des ‚originalen‘ Nibelungenliedes, festhalten kann.²⁷ Weil es ursprünglich einen festen Text gab, er aber schriftliche Speicherung zum Ausnahmefall erklärt, muss Haferland, wie gesagt, annehmen, dass er auswendig gelernt wurde. „Ein wiederholt vortragender Sänger, der das ‚Nibelungenlied‘ in der Fassung *B weitgehend auswendig beherrschte, diktierte sich oder wahrscheinlicher einem Schreiber den Text aus dem Gedächtnis“.²⁸ Die tendenziell ‚offene‘ Produktionssituation, bei der der Text auf das individuelle Gedächtnis jedes Sängers angewiesen ist und jedem Sänger mögliche Verantwortung für Textabweichungen in den verschiedenen Handschriften zugewiesen werden kann, verengt sich²⁹ auf eine einzige Person, den Dichter/ Sänger, den bei der Weiterentwicklung seines Werks in der Gestalt von B in Richtung auf C und beim Vortrag des Ergebnisses zwecks erneuter Niederschrift sein Gedächtnis manchmal im Stich lässt, sodass er selbst Varianten produziert. Die bei mündlicher Wiedergabe des Textes entstehenden Varianten werden so wieder an die eine Autorinstanz, den Dichter/Sänger, zurückgebunden und die ebenfalls erwogene Möglichkeit³⁰ beiseitegelassen, dass verschiedene Sänger wegen ihres unzuverlässigen Gedächtnisses den auswendig gelernten Text verschieden wiedergeben. Haferland kassiert also die bei der Annahme mündlicher Verbreitung gegebene Möglichkeit einer Pluralisierung der Textgestalten, die seine Überlegungen eröffnen, zu-
Haferland 2006, S. 196 – 197; 2019a, S. 43 u. ö. Haferland 2006, S. 198; vgl. S. 207; 210. Er erwägt immerhin Alternativen („Zweiwegeverbindung durch Handschriftenkontamination“), doch verwirft er sie letztlich (S. 198). Knapp 2008, S. 74: Er setzt „ausschließlich wortwörtlich festgelegte und auswendig gelernte Texte voraus“. Haferland 2003, S. 99. Vor allem in den beiden Publikationen 2019a und 2019b. Besonders in der Publikation von 2003.
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gunsten des – allerdings varianten – Autortextes und stellt damit auch in dieser Hinsicht die Situation, von der die traditionelle Textkritik ausging, wieder her. An die Stelle des einen ‚originalen‘, schriftlich fixierten Textes ist nun der eine im Gedächtnis des Dichters/Sängers gespeicherte Text getreten. Damit wird eine Möglichkeit, die seine Überlegungen bieten, verbaut. Das durch die frühen Fragmente dokumentierte Nebeneinander von varianten Lesarten lässt keinen Raum für ein Diktat nur eines Textes durch den Autor. Eher ist anzunehmen, dass bei der Verbreitung des Nibelungenliedes viele Kopisten/Sänger ihre Beherrschung der ‚nibelungischen‘ Sprache demonstrierten und ihre Fähigkeit, den ‚richtigen‘ Text wiederzugeben und zu gestalten, beweisen mussten. Trotz der entschiedenen Ablehnung der älteren Textphilologie bleibt Haferland insofern in der Reduktion auf die ‚Haupthandschriften‘ und in der Kanalisierung der Überlieferungsgeschichte auf das alte Textmodell verpflichtet. Der Überlieferungsprozess muss aber wesentlich vielgestaltiger gewesen sein und die Probleme der Umsetzung mündlicher Texte in Schriftform und umgekehrt die Probleme der Repräsentanz des geschriebenen Textes für erneute mündliche Realisation wesentlich komplexer.
‚Buchepos‘ oder ‚Gedächtnistext‘ zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Abgesehen von den hochspekulativen Annahmen über die Form der Transmission und Aufzeichnung des Nibelungenliedes und die Identität der daran beteiligten Personen entfernt sich Haferland nicht von Prämissen der traditionellen Textkritik. Wenn er damit die variante Oberfläche der Textgestalt zu erklären sucht, dann wird daraus noch kein ‚Gedächtnistext‘. Das geschieht erst, indem er seine These auf die Makrostruktur des Nibelungenliedes ausdehnt und ihm den Charakter eines ‚Buchepos‘ abspricht.³¹ Haferland betrachtet den Buchcharakter allenfalls als sekundäres Phänomen, bezieht ihn vornehmlich auf die Aufmachung in der handschriftlichen Überlieferung: „Des Eindrucks buchmäßiger Aufmachung kann man sich dabei kaum erwehren“. Es gebe die Aufnahme von Motiven und Verfahren „aus einer parallel laufenden Schriftliteratur“. „Einsprengsel aus der Buchdichtung“.³² Sie zeigen, nebenbei bemerkt, dass für die Zeitgenossen ein Kontinuum der Erzählliteratur bestand, indem die mediale Realisation nachrangig war. Schließlich wurden ja auch höfische Romane hörend rezipiert. Handschriften wie der Sangallensis 857 zeigen, dass man Mitte des 13. Jahrhunderts in Bezug auf Buchmäßigkeit keinen Unterschied machte. Die Buchmäßigkeit ist aber nicht erst ein Rezeptionsphänomen, so als würde der ‚Gedächtnistext‘ zum ‚Buchepos‘. Haferland blendet aus, dass das Nibelungenlied die für ein Buchepos typischen weiträumigen Dispositionen aufweist; er blendet die Festigkeit
Haferland zuerst 2001. Haferland 2019a, S. 39.
‚Buchepos‘ oder ‚Gedächtnistext‘ zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
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der Architektur aus und sucht typische Kennzeichen mündlicher Epik in strukturellen Besonderheiten des Nibelungenliedes. Ein ‚Gedächtnistext‘ ist durch „mnemonische Faktur“ und „gedächtnismäßige Kodierung“ gekennzeichnet.³³ In der Tat verwendet das Nibelungenlied viele Mittel, mit denen mündliche Texte ihre Überlieferung – gegenüber der Flüchtigkeit mündlicher Rede – immunisieren. Diese Mittel der Textsicherung unterscheiden sich zwar fundamental von der Textsicherung durch Schrift, garantieren aber gleichfalls ein hohes Maß an Stabilität.³⁴ Die Strophenform mit ihren Wiederholungsstrukturen gewährleistet eine leichte Memorierbarkeit des Textes.³⁵ Solche nichtschriftlichen Mittel der Textsicherung überdauern aber den Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit.³⁶ Mnemonische Mittel der Textsicherung sind also kein Beweis für Mündlichkeit. Haferland selbst betont diesen Zwischenstatus: Die Strophe ist eine „schriftliterarisch angestoßene Prägung“, „berechnet indes auf einen intakten Transport im Gedächtnis“.³⁷ Damit rücken in der Übergangssituation des Verschriftlichungsprozesses scheinbar konträre Darstellungsformen nahe aneinander. Das Gleiche gilt für andere Formen der Darstellung, die Haferland für die Mündlichkeit des Gedächtnistextes veranschlagt: „Visualität, Raum und Figurenaffekte“.³⁸ Die beschriebenen Mittel gehören zu einer eingeübten poetischen Praxis, sind Bestandteil des Idioms, in dem das Nibelungenlied verfasst ist. Sie sind zwar mündlichkeitsaffin, aber nicht auf Mündlichkeit eingeschränkt. Sie sind unabhängig von der medialen Realisation, können also auch in verschriftlichten Texten auftreten. Das gilt erst recht für ein weiteres Kriterium, das Haferland als Indiz für die genuin mündliche Gestalt des Nibelungenliedes anführt: „Textmerkmale“ wie „charakteristische Unstimmigkeiten“, „[k]leinere und größere Risse, Brüche, Lücken und Fehlstellen“.³⁹ Meist werden sie vor dem Hintergrund der Erzählweise des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts identifiziert und an diesem Maßstab gemessen. Wenn nicht sämtliche Umstände der erzählten Handlung ausspekuliert sind, wenn Zwischenglieder der Handlung stillschweigend vorausgesetzt werden und wenn stattdessen das Erzählen Motivationslücken aufweist, wird das ohne weiteres der „Verfertigung mündlicher Dichtung“ zugeschlagen; so gehen sie auf das Konto der Oralität.⁴⁰ Diese Mängel taugen nicht zur Abgrenzung zwischen mündlichen und schriftlichen Texten. Beleg dafür ist, dass sie auch von Anhängern einer dominant schriftlichen Überlieferung des Nibelungenliedes moniert und als Zeichen mangelnder Integration Haferland 2019a, S. 40; 60. Ehlich 2007c, S. 545 – 546. Haferland 2019a, S. 57. Vgl. unten S. 77– 78; 294– 295. Haferland 2019a, S. 60. Haferland 2019a, S. 61– 74. Haferland 2019a, S. 40; 72. Haferland 2019a, S. 74 vgl. die Überlegungen S. 75 – 79 zu den vielen Fragen, die der Text des Nibelungenliedes für den tatortverwöhnten Rezipienten aufwerfen. Die Lücken oder Risse müssen keineswegs „intentional bedingt sein“ (Haferland 2019a, S. 77), um akzeptiert zu werden; es genügt, dass der Rezipient auf sie nicht achtete; vgl. unten S. 286 – 288.
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2 Am Schreibtisch
der Sagentradition gewertet werden.⁴¹ Sie sind offenbar charakteristisch für die Erzählweise des Nibelungenliedes und wären als Phänomene einer‚nibelungischen‘ Poetik zu analysieren. Vor allem aber sind viele der angeblichen Widersprüche und Unstimmigkeiten gleichfalls in schriftsprachlichen Texten des Mittelalters anzutreffen. Wenn kritisiert wird, daß das Erzählgefüge des ‚Nibelungenliedes‘ gerade auch im Vergleich mit Texten defizient wirkt, die den Zeitgenossen vertraut waren: mit den höfischen Romanen und mit dem Werk, das irgendwie hinter aller Großepik im Mittelalter steht, der ‚Aeneis‘,⁴²
dann hätte ein Blick auf die Unglaubwürdigkeiten des (schriftsprachlichen!) höfischen Romans,⁴³ ja noch der Prosaromane der Frühen Neuzeit⁴⁴ genügt, um ähnliche Widersprüche und Unstimmigkeiten auch in schriftsprachlichen Texten des Mittelalters zu diagnostizieren. Die mediävistische Forschung der letzten Jahrzehnte hat an vielen Beispielen die andersartigen Erzähllogiken des 12./13. Jahrhunderts herausgearbeitet, die sie von traditionellen Wahrscheinlichkeitserwägungen entfernen und andersartige Erzählstrukturen generieren. Das gilt ebenso für den höfischen Roman wie den frühneuzeitlichen Prosaroman.⁴⁵ Es handelt sich um Phänomene mittelalterlicher und spätmittelalterlicher Schriftlichkeit, deren Buchmäßigkeit nicht in Frage gestellt wurde. Das Nibelungenlied ist noch einmal von der Poetik dieser Texte unterschieden, macht aber von analogen Lizenzen Gebrauch.⁴⁶ In der Fiktion sind bestimmte alltagsweltliche Wahrscheinlichkeitsregeln suspendiert; sie wird ‚geglaubt‘. Die Lücken und Widersprüche im Text, die man zu konstatieren glaubt, schließen also nicht aus, dass das Nibelungenlied ein Buchepos ist, das eine schriftsprachliche Konzeption voraussetzt. Entscheidend ist, dass das Nibelungenlied nicht die Eigenheiten mündlicher Dichtung aufweist: Austauschbarkeit der Teile, deren variables Verhältnis zueinander, die variable Verknüpfung, die variable Reihenfolge der Elemente usw. Erklärungsbedürftig ist die feste Komposition, die eine vom Gedächtnis unabhängige Texthaftigkeit durch Verschriftlichung oder eine andere Form der Textsicherung voraussetzt. Insofern gilt Heinzles Kritik an Haferland zurecht, dass das Nibelungenlied kein in der oralen Tradition wurzelnder ‚Gedächtnistext‘ sei, sondern ein ‚Buchepos‘,
Heinzle 2009, S. 67– 69. Heinzle 2009, S. 69. Der Mustercharakter Vergils für die volkssprachige Epik wird überschätzt. So hat man sich verwundert, dass z. B. Sigune schon am nächsten Morgen weiß, dass Parzival auf der Gralsburg versagt hat und dass Lunete von den Flammen nicht erfasst wird, bis Iwein rechtzeitig eingreifen kann; die Handlung ‚gefriert‘ gewissermaßen. Was in der Alltagswelt schwerlich möglich wäre, wird unter den Bedingungen des Fiktionskontraktes akzeptiert. Lugowski 1932/1976; vgl. Müller 1976, S. 92– 95. Ich erwähne aus einer Fülle von Publikationen nur für die höfische Epik Störmer-Caysa 2007 und Schulz 2015; für die Heldenepik den Sammelband von Kragl/Schneider (Erzähllogiken 2013), darin besonders Knapp 2013. Das habe ich in Müller 1998 nachgewiesen; vgl. Müller 1992.
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‚am Schreibtisch‘ entstanden, nicht ein Produkt memorierter und improvisierter Mündlichkeit.⁴⁷ Aber was bedeutet ‚am Schreibtisch‘ entstanden?
Gedächtnis und variante Schriftlichkeit Haferland verortet die Einwirkungen des Gedächtnisses überwiegend in der Oralität. Er erwähnt nur am Rande, dass auch bei schriftlicher Reproduktion, auch bei einem Text, der „am Schreibpult entstanden und gewiß von einer Handschrift in die andere umgesetzt“ worden ist, Gedächtnisleistungen zu erbringen sind, die ganz ähnliche Resultate zeitigen wie die von Haferland analysierten. Darauf hat besonders Christoph Gerhardt verwiesen. Die volkssprachige Schriftlichkeit noch des Spätmittelalters „weist alle Merkmale auf, die man im gemeinhin mit der ‚theory of oral-formulaic composition‘ erklärt hat“.⁴⁸ Stephan Müller und Heinzle haben diese Einsicht für die Nibelungenüberlieferung fruchtbar gemacht und auf den Einfluss nicht-schriftlicher Praktiken, insbesondere der memoria, beim Abschreibprozess hingewiesen. St. Müller spricht von ‚Reminiszenzlesarten‘, die beim Abschreiben eines Textes auftreten können.⁴⁹ Heinzle hat ebenfalls solche Möglichkeiten bei der Beschreibung der Produktions- und Reproduktionsprozesse ‚am Schreibtisch‘ erwogen.⁵⁰ Ich selbst habe in mehreren Aufsätzen ‚Reminiszenzlesarten‘ untersucht, die z.T. klanggeneriert sind, wobei offen bleiben kann, ob das Klangbild tatsächlich akustisch realisiert wurde oder nur als Vorstellungsbild existierte.⁵¹ Dass auch beim Schreiben nicht die genaue Buchstabenfolge, sondern ein als Ganzes memoriertes Syntagma die Abschrift bestimmt, ist der Mediävistik grundsätzlich seit langem bekannt, wurde aber nur selten bei der Debatte um Mündlichkeit oder Schriftlichkeit beachtet. Ein mehr oder minder umfangreicher Text wird beim Abschreiben in Portionen memoriert und aus dem Gedächtnis niedergeschrieben.⁵² Der Umfang der memorierten Textmenge ist verschieden; der Einfluss des Gedächtnisses variiert mithin. Damit wird der Gegensatz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit entschärft. Die Interferenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit geht über den Abschreibprozess hinaus. Dass aus der Oralitätsforschung bekannte Phänomene auch bei schriftlicher Transmission auftreten, heißt nicht, dass sie in jedem Fall auf schriftliche Transmission zurückgeführt werden und jede Verbindung mit Mündlichkeit ausschlie-
Heinzle 2008, S. 317 u. ö. Gerhardt 1991, S. 108. Gerhardts Beispiele S. 109 zeigen, dass „in jede schriftliche Überlieferung auch ein gerüttelt Maß an Mündlichkeit einfließt“, also – mit Anton E. Schönbach – in manchen Fällen eine ‚prinzipielle Differenz‘ von mündlicher und schriftlicher Überlieferung“ nicht besteht. St. Müller 2013, S. 169. Heinzle 2008, S. 321– 325; 2014, S. 114; zuletzt 2022, S. 204 Müller 2016, S. 256 – 259; 261; 2020, S. 385. So Heinzle 2008, S. 324– 325; vgl. Brackert 1963, S. 83. Heinzle erinnert an Edward Schröders Beobachtungen an Konrad von Würzburg (Schröder 1924, S. IX).
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ßen müssen, nur weil sie in Handschriften dokumentiert sind und wir nichts anderes als Handschriften haben. Überlegungen zur Interferenz schriftbezogener und nichtschriftbezogener Überlieferungspraktiken stehen noch am Anfang. Aber die Fronten zwischen rein schriftbasierter Wiedergabe und rein nicht-schriftbasierter sind aufgeweicht. Auch beim Vorgang der schriftlichen Reproduktion eines schriftlichen Textes ist mit intermittierendem Gedächtnis zu rechnen.⁵³ Alle Varianzphänomene der schriftlichen Reproduktion zuzuweisen aber reicht nicht aus. Mündlichkeit muss einen weitaus höheren Einfluss auf Konstitution und Transmission des Textes gehabt haben, auch wenn dieser nur empirisch nachweisbar wäre, wenn er seine Spuren in der Schrift hinterlassen hätte. Heinzle glaubt, dass die Überlieferungsgeschichte, weil nur die Handschriften eine sichere Basis schaffen, allein durch den Abschreibprozess erklärt werden kann.⁵⁴ Nur weil sie nicht mit gleicher Sicherheit dokumentiert sind, dürfen aber andere mögliche Szenarien nicht vernachlässigt werden, zumal wenn viele Indizien indirekt auf sie verweisen und manche Phänomene ohne sie nicht verstehbar sind. Das Gegenteil würde bedeuten, dass Erkenntnisse in der Astrophysik voraussetzten, dass sie sich in den Teleskopen abbildeten. Das geschah oft erst lange nachher. Es ist Haferlands Verdienst, dass er gegenüber der auf Schriftlichkeit fixierten Nibelungenphilologie mündliche Übermittlung und die Rolle des Gedächtnisses dabei ins Spiel gebracht hat. Deren Anteil ist auch bei der mittelalterlichen Schriftlichkeit in Rechnung zu stellen. Haferland selbst gesteht bei „klein- und kleinstformatigen iterierenden Varianten“, den vielen „Ersetzungen von Wörtern und kleinen Wortgruppen“, die Anfälligkeit des Kurzzeitgedächtnisses für Veränderungen zu.⁵⁵ Aber es sind, wie zu sehen sein wird, nicht nur Varianten dieser Art, sondern scheinbar willkürliche Änderungen des Wortlauts.⁵⁶ Bei mündlichen wie schriftlichen Reproduktionen wird man einen hohen Anteil nicht-schriftgestützter Vorgänge veranschlagen müssen. Beim Abschreiben eines schriftlich vorliegenden Textes können ähnliche Prozesse auftreten wie bei Wiedergabe eines ohne Stütze der Schrift memorierten. Abschriften volkssprachiger Texte erbringen um 1200 offenbar noch nicht die Leistungen, die man der Schrift und der Verschriftlichung im Allgemeinen zuschreibt. Die komplizierten Hilfskonstruktionen, die Haferland braucht, um seine These von der (fehlerhaften) mündlichen Übermittlung zu stützen, sind also überflüssig, da auch bei schriftlicher Reproduktion ähnliche Prozesse möglich sind. Die Dichotomie mündlicher vs. schriftliche Verbreitung löst sich auf. Der Satz ‚Das Nibelungenlied ist am Schreibtisch entstanden‘ fasst deshalb vielerlei Vorgänge zusammen. Er bezieht sich sowohl auf die Konstitution des Textes wie auf seine reproduzierende Wiedergabe. Beide sind ohne den Gebrauch von Schrift oder Bumke 1996a, S. 76 erinnert an Alphonse Dains Begriff des „inneren Diktats“; der Schreiber merkt sich den Text und diktiert ihn sich selbst; Mazal 1986, S. 78. Heinzle 2022, S. 204. Haferland 2003, S. 97. Dieses Phänomen übergreift den Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit.
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schriftanaloger Praktiken (für die wir allerdings keine Belege haben) nicht zu verstehen. Zu unterscheiden ist zwischen „Verschriftung“, der bloßen Umsetzung eines mündlichen Textes in ein graphisches System, und „Verschriftlichung“, der Herstellung „konzeptioneller Schriftlichkeit“, d. h. der Herstellung eines situationsabstrakten Textes, in dem alle zum Verständnis notwendigen Informationen in der Schrift selbst gegeben werden.⁵⁷ Beim Übergang von Mündlichkeit in Schriftlichkeit gibt es zahlreiche Übergangsformen, in denen die Schrift mündliche Rede in unterschiedlichem Grade modellieren kann und mündliche Rede die Schriftform beeinflusst. Die Verklammerung von schriftlichen und vorschriftlichen Praktiken ist der Sprachgeschichte seit langem bekannt. Kennzeichen beider Kommunikationsformen finden sich nebeneinander. Das Nibelungenlied ist nicht durch ‚Verschriftung‘ eines mündlichen, zuvor teils memorierten, teils improvisierten Textes entstanden, denn dann müsste auch seine Erzählstruktur Spuren mündlicher Komposition zeigen; es beruht auf einer ‚verschriftlichten‘ Dichtung, d. h. einer Dichtung, die nach den Erfordernissen eines schriftsprachlichen Textes gearbeitet ist. Es sind viele Szenarien denkbar, zwischen Niederschrift nach Gehör und auf Grund einer schriftlichen Vorlage. Mündlicher Vortrag bedeutet nicht notwendig, dass der Text in der Performanz verändert wurde; anders als für Lyrik spielt Performanz eine untergeordnete Rolle.⁵⁸ Mündlichkeit bedeutet auch nicht Improvisation. Ein auswendiger Vortrag eines memorierten Textes kommt z. B. einer schriftlichen Aufzeichnung nahe. Der Anteil, den Mündlichkeit an der schriftlichen Reproduktion eines überlieferten Textes hat, wird konkret nie mehr festzustellen sein. Doch sind zahlreiche Übergangsformen zwischen beiden möglich: z. B. mündlicher Vortrag von schriftlich fixierten Texten, in der Form des Vorlesens oder des Rezitierens des auswendig Gelernten oder als freies Reproduzieren eines schriftlich fixierten oder auf andere Weise ‚verdauerten‘ Textes. Auch die Arbeit am Schreibtisch, die man als Voraussetzung der Überlieferung des Nibelungenliedes postuliert hat, schließt also vorschriftliche und schriftsprachliche Prozeduren ein, mehr oder weniger genaues Schreiben nach dem Gehör, Schreiben nach einer mehr oder weniger genau beobachteten schriftlichen Vorlage, Schreiben nach der Erinnerung eines zuvor gehörten oder gelesenen Textes, mehr oder minder starke Anpassung des Textes an Regeln mündlicher oder schriftlicher Kommunikation. Nur unter dieser Voraussetzung hat der Satz, das Nibelungenlied sei am Schreibtisch entstanden, allgemeine Gültigkeit. Jedenfalls impliziert der Satz keineswegs die Vorstellung eines Schreibpults, auf dem zwei Handschriften nebeneinander liegen und der Schreiber sorgfältig Zeichen für Zeichen von der einen Handschrift in die andere überträgt. Die Form der Übertragung liegt im Dunkeln. Kontingenzen, die in der Person des Schreibers liegen, können oh-
Zu dem Gegensatz ‚Verschriftung‘/‚Verschriftlichung‘ Koch/Oesterreicher 1985. Heinzle 2008, S. 321 hält es für ausgeschlossen, „daß die Variantenbildung in nennenswertem Umfang auf solche Vortragspraxis zurückgeht“.
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nehin nicht mehr rekonstruiert, allenfalls vermutet werden.⁵⁹ Schon die Evidenz der Handschriften wird zeigen, dass in keinem Fall die Abschrift der Vorlage in allen Punkten glich. Wie auch immer mündliche und schriftliche Übertragung bei der Reproduktion eines Textes ineinandergreifen, in keinem einzigen Fall führen sie zu einem auf allen Ebenen identischen Text. Der Grad der Abweichung ist verschieden, und es stimmt immer nur ein Teil der Parameter zwischen zwei Handschriften überein, aber nie alle. Es fehlt die letzte Bedingung in Stackmanns Katalog der Voraussetzungen ‚genealogischer‘ Textkritik, dass die Schreiber „mit dem Vorsatz gearbeitet haben, den Wortlaut ihrer Quelle getreu wiederzugeben“.⁶⁰ Es ist eben dieses Phänomen, das vor allem Bernard Cerquiglini unter dem Stichwort der variance volkssprachiger Schriftlichkeit ins Bewusstsein der Mediävistik gerückt hat, das aber in seinen Folgen für die Textkritik und Editionsphilologie noch nicht ansatzweise ausgeschöpft ist. Cerquiglini belegt seinen berühmt-berüchtigten Satz, dass der mittelalterliche Text nicht Varianten hat, sondern variance ist,⁶¹ mit dem Erscheinungsbild volkssprachiger Handschriften. Es ist zu betonen, dass die Varianz, die er konstatiert, ein Phänomen mittelalterlicher Schriftlichkeit, deshalb grundsätzlich von der Unfestigkeit mündlich tradierter volkssprachiger Texte zu trennen ist. Sie reicht von der Graphie über die Morphologie bis hin zu Formulierungsvarianten in Lexik und Syntax und lässt meist keine klare Entscheidung zwischen mehreren Überlieferungsträgern zu. Variante Schriftlichkeit hat sehr unterschiedliche Erscheinungsformen und sehr unterschiedliche Ursachen. Dies nicht berücksichtigt zu haben, macht Cerquiglinis These anfechtbar. So gibt er z. B. den Fehlerbegriff auf. Nicht in jedem Fall hat aber die Positivität der Überlieferung Vorrang; die Überlieferung kann durchaus Fehler enthalten und insofern korrekturbedürftig sein. Es gibt alle möglichen Fehler, angefangen von ausgelassenen, verlesenen, fälschlich hinzugefügten Buchstaben bis hin zu Lücken, Verwechslungen von Namen, Personen, Handlungen, unpassenden Verben und Nomina, erratischen Ergänzungen und dgl. Die Schwäche von Cerquiglinis These ist, dass er alle Typen von Abweichungen innerhalb einer Textüberlieferung in einen Topf wirft, fehlerhafte Lesarten, graphische Nachlässigkeiten, Unterschiede des Schreibsystems und der Morphologie ebenso wie Abweichungen im Wortlaut. Sie alle werden zu Varianten nivelliert, die gleichwertig sind und nicht zugunsten eines ‚kritischen‘ Textes abgewertet werden dürfen. So entsteht der Eindruck, dass variance etwas Statisches ist, eine unhintergehbare Grundbedingung jedweder mittelalterlicher Schriftlichkeit, nicht aber ein Resultat unterschiedlicher Prozesse. Cerquiglini vernachlässigt die medialen und institutionellen Bedingungen volkssprachiger Schriftlichkeit, die Formen der Reproduktion von Texten, den Grad der Schwankungen ergeben sich aus der Individualität und institutionellen Einbindung des Schreibers (Wolf 2008, S. 321), seiner Ausdauer, Ermüdung, besonderen Umständen usw. (vgl. Gerhardt 1991, S. 112; 118; 120). Stackmann 1964/1997, S. 7. Cerquiglini 1989, S. 111.
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Standardisierung der Graphie und Morphologie der Volkssprache. Unter diesen Bedingungen ist die Vermeidung bestimmter Formen von Varianz gar nicht möglich. Er hat bei den Beispielen für die „altérité manuscrite“ die Formen der Varianz und ihre mögliche Erklärung unzulässig vermischt.⁶² Er vernachlässigt des Weiteren die Untersuchung der mittelalterlichen Vorstellung von genauer Wiedergabe eines Textes: von dem, was seine ‚richtige‘ Gestalt ausmacht, und von dem, was dabei keine Rolle spielt. Dies ist unterschiedlich bei verschiedenen Gattungen und Texttypen, beim Nibelungenlied jedenfalls besonders spektakulär. Trotz dieser Einwände: Cerquiglinis Generalisierungen haben nicht seine Bemerkungen zur mittelalterlichen Textualität entwertet. Gewiss, seine Verabsolutierung der variance-These hat Heinzle zufolge in eine „Sackgasse“ geführt, in der „philologische Vernunft in aphilologischen Unsinn umzuschlagen droht“.⁶³ Cerquiglinis Foucault entlehnten poststrukturalistischen Thesen zum ‚Autor‘ und ‚Werk‘,⁶⁴ sein Überlieferungspositivismus, der noch die fehlerhafteste Lesart rechtfertigt, wenn eine Handschrift sie verzeichnet, sind aber nur die unsinnigen Beigaben seiner insgesamt zutreffenden Beobachtungen. Aus diesen Beobachtungen ist, wie viele Kritiker es tun, nicht zu schließen, dass die Schreiber volkssprachiger Texte überhaupt nichts auf die ‚richtige‘ Gestalt ihrer Texte gaben, dass jeder Schreiber sich als Autor fühlte und nach Gusto änderte und Varianz deshalb eine Art fröhlicher postmoderner Beliebigkeit⁶⁵ war. Es gibt Zeugnisse, „daß mittelalterliche Autoren auf wortgetreuer Reproduktion ihrer Texte insistiert haben, es läßt sich ein ausgeprägtes Bewußtsein für die Textidentität im Abschreibeprozeß feststellen“.⁶⁶ Aber davon unabhängig ist die Frage, bei welchen Gelegenheiten die Sorgfalt in der Textwiedergabe eingeklagt wurde und bei welchen nicht und worauf sie sich bezog. Stackmann, dem eine differenzierte Auseinandersetzung mit Cerquiglini zu verdanken ist, hat das Notwendige zu den Fehlschlüssen gesagt.⁶⁷ Er hat aber auch gesehen, dass Cerquiglinis Beobachtungen dazu zwingen, die Grundlagen der Überlieferungsphilologie und Editionswissenschaft neu zu denken. Der Befund der Handschriften scheint insgesamt Cerquiglinis Thesen recht zu geben. Schon die ältere Philologie war sich über die Untauglichkeit des modernen Autor-Werk-Modells einig. Stackmann hat darauf verwiesen, dass „ein mittelalterlicher Autor selbst seinen Text als ‚offen‘ be Cerquiglini 1989, S. 43 – 54; Cerquiglini ist sich offenbar der verschiedenen Gründe für variance bewusst, hält sie aber besonders in seinen Beispielreihen (etwa S. 45; 51; 86; 92– 93) nicht hinreichend auseinander. Heinzle 2004, S. 24. Cerquiglini löst wie der Poststrukturalismus die Kategorien Autor und Werk zugunsten von Diskurs auf. In der Mediävistik wird allerdings das Etikett ‚poststrukturalistisch‘ nicht terminologisch gebraucht, sondern um eine These als absurd zu diskreditieren. Dem leistet Cerquiglinis Formulierung (1989, S. 114) von der „mobilité incessante et joyeuse de l’écriture médiévale“ Vorschub. Heinzle 2008, S. 323. Stackmann 1993/1998, S. 6 – 9; 1994/1998, S. 22– 24; 33.
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handelt, ihn also im Laufe der Zeit verändert hat und daß die Überlieferung von verschiedenen Stadien des Textes ausgegangen sein kann“.⁶⁸ „Es ist in keiner Weise ausgemacht, daß volksprachliche Autoren des Mittelalters ihre ‚Werke‘ stets in einer als abgeschlossen, sozusagen ‚letztwilligen‘ Fassung in den Umlauf“ brachten.⁶⁹ Beim Reproduktionsprozess wurde der Text eines Werks nicht in allen seinen Parametern als sakrosankt betrachtet, wie die moderne Editionsphilologie implizit voraussetzt. Auch eine zweite Voraussetzung der Editionsphilologie – eine Standardisierung der Grammatik – hat sich erst in Ansätzen ausgebildet.⁷⁰ Die These der New Philology, dass im Mittelalter das Verhältnis Autor – Werk nicht mit dem in der Moderne gleichgesetzt werden dürfe und das Werk als „frei verfügbar“ gegolten habe, ist freilich von Fall zu Fall, zeitlich und nach Gattungen zu differenzieren.⁷¹ Hier ist das anonyme Nibelungenlied ein besonderer Fall. Es gilt also Cerquiglinis Beobachtungen zur Varianz volkssprachiger Schriftlichkeit im Mittelalter in den beschriebenen Hinsichten zu differenzieren und von ihren dogmatischen Voraussetzungen und Schlussfolgerungen zu befreien, um die Besonderheit volkssprachiger Textualität im Mittelalter zu erkennen. Es besteht eine andere Vorstellung von der Korrektheit, der Integrität und Identität eines Textes. Es ist deshalb nicht so, dass es im Mittelalter keine Kontrollen von Abschriften gegeben hätte, vor allem bei bestimmten Textsorten. Die Sorgfalt war bei lateinischen Texten erheblich höher als bei volkssprachigen. Zumal bei religiösen und wissenschaftlichen Texten auf Latein kann Buchstäblichkeit gefordert sein.⁷² Auch bei bestimmten religiösen Texten in der Volkssprache ist die Genauigkeit der Wiedergabe erheblich höher als bei profanen. Jedoch auch bei letzteren bezeugen häufig die Handschriften, dass der Schreiber seinen Text an einer Vorlage kontrollierte und durch nachträgliche Einfügung vergessener Wörter, durch Rasuren, sonstige Korrekturen verbesserte, und zwar desto mehr sich die mittelalterliche Schreibpraxis professionalisierte. Allerdings sprechen diese Korrekturen nicht gegen Cerquiglinis variance-These. Die Frage ist nämlich, worauf sich die Korrekturen überwiegend beziehen und was unkorrigiert bleibt. Es gibt viele Beispiele sorgfältiger Korrektur auch volkssprachiger Texte. Zumal seit dem 13. Jahrhundert gibt es ein Bemühen der Autoren um sorgfältige Wiedergabe der von ihnen verfassten Texte.⁷³ Die unablässige Wiederholung der Polemik gegen unwillkürliche und willkürliche Eingriffe der Schreiber in den Text zeigt andererseits aber auch, dass dieses Bemühen nicht allzu erfolgreich war und sich gegen eine gänzlich anders programmierte Schreibpraxis durchsetzen musste. Diese Schreibpraxis ist zäh – sonst wäre die wiederholte Polemik gegen die Nachlässigkeit oder auch über die Eigenwilligkeit der Schreiber nicht nötig. In den Protesten artikuliert sich ein mehr oder
Stackmann 1993/1998, S. 12. Stackmann 1994/1998, S. 24. Stackmann 1994/1998, S. 29. Stackmann 1994/1998, S. 22. Stackmann bringt S. 24 Gegenbeispiele. Quast 2001, S. 36. Grubmüller 2001; Quast 2001.
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minder rudimentäres, manchmal auch ‚emphatisches‘ Autorbewusstsein.⁷⁴ Es stützt sich auf unterschiedliche Argumente: die auctoritas materiae,⁷⁵ die nicht durch Änderungen, Zusätze, Auslassungen verfälscht werden darf, aber auch die sprachliche Gestalt, bestimmte Aspekte der künstlerischen Formgebung, etwa die Reinheit der Reime.⁷⁶ Die Vorstellung vom festen Text kann die Sorgfalt bei Auswahl der Quellen betreffen, es kann sich auf Gott als Inspirationsquelle berufen, aber auch auf die Einhaltung von Kunstregeln. Es schließt jedoch Verbesserungen des Inhalts und der Form nicht aus (wenn auch manche Autoren die Kontrolle über diese Verbesserungen lieber sich selber vorbehalten wollen⁷⁷). Aber dass es „auch in der Überlieferung volkssprachiger Texte eine sorgsame Pflege des festen Buchstaben gibt“,⁷⁸ spricht nicht gegen die Lizenz zur Varianz, und dass gelegentlich mittelalterliche Autoren „auf wortgetreuer Wiedergabe ihrer Texte insistiert“ haben,⁷⁹ ändert nichts daran, dass Abschriften in der Regel nicht wortgleich sind. Ebenso interessant wie das, was korrigiert wird, ist, was nicht korrigiert wird. Die Tatsache mehr oder minder sorgfältiger Schreiberkorrekturen schließt variance nicht aus, sondern ist vor ihrem Hintergrund zu sehen. Die Korrektur verfährt selektiv, wie man gerade an der Überlieferung des Nibelungenliedes sehen kann. Wo es auch in volkssprachigen Handschriften nachweislich Korrekturen gibt, der Schreiber also offenbar seinen Text nachträglich kontrolliert und, wo er Abweichungen vom Vorgegebenen feststellt, korrigiert, ist aber das eigentliche Problem, warum er dies in der Mehrzahl der Fälle nicht tut, warum der niedergeschriebene Text ihm in diesen Fällen genügt. Das lässt sich nicht mit der ‚Schlampigkeit‘ der Schreiber und ihrer bekanntermaßen mangelnden Konsequenz erklären, die ‚vergessen‘, was sie sich vorgenommen haben, sodass sie z. B. Ansätze zur Normalisierung der Metrik nach kurzer Zeit aufgeben. Dem Schreiber mag im einen oder anderen Fall Korrekturwürdiges entgehen. Insgesamt hat sein Verzicht auf Korrekturen bestimmter Art aber systematische Gründe. Die Korrekturversuche beziehen sich auf bestimmte Parameter des Textes und sparen andere aus. Manche Textsorten sind für Varianz im Wortlaut besonders anfällig. Ursula Schulze hat für Rechtstexte nachgewiesen, dass es „Umsetzungsspielräume für die Wortwahl, die Wortfolge und die Graphie“ gegeben hat, „ohne dass im Gebrauchsvorgang das Vermittlungsergebnis als verändert angesehen wurde“.⁸⁰ Sie rechnet mit einer mentalen Verarbeitung des schriftlich oder mündlich aufgenommenen Textes in kleineren Informationspaketen.
Grubmüller 2001, S. 33. Quast 2001, S. 43. Grubmüller 2001, S. 12– 13; 32. Grubmüller 2001, S. 8. Heinzle 2008, S. 323. Heinzle 2008, S. 324. Schulze 2001, S. 58.
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Der Abschreibende bildet den Text dann nicht Buchstaben für Buchstaben, auch nicht isoliert Wort für Wort nach, sondern reproduziert wiederum untergliederte zusammenhängende Informationen. Innerhalb dieser größeren oder kleineren Teile des Ganzen treten bei der Wiedergabe Verschiebungen auf der Textoberfläche auf, ohne dass sich der Sinn dessen, was reproduziert wird, im Bewusstsein des Schreibers verändert.⁸¹
Es gab „Umsetzungsspielräume für die Wortwahl, die Wortfolge und die Graphie“, sofern sie den rechtlichen Gehalt nicht veränderten.⁸² Schulze hat den Prozess der Reproduktion von Sinneinheiten über mehrere Stufen beschrieben und vermutet, dass erst mit der Erfindung des Buchdrucks diese Praxis außer Gebrauch gerät.⁸³ Zwar ist schon lange vorher bei bestimmten Texten ein anderes Bewusstsein für Textidentität nachweisbar. Heinzle hat insofern zurecht die „Reichweite“ dieser Beobachtung „begrenzt“ genannt. Aber dass auch mittelalterliche Autoren manchmal auf Wiedergabegenauigkeit beharrten,⁸⁴ dass sich auch in Handschriften des Nibelungenliedes (was Obhof für C nachgewiesen hat⁸⁵) Korrekturen finden,⁸⁶ wo der Schreiber glaubte, den Text nicht richtig wiedergegeben zu haben, ist unbestritten und spricht nicht gegen Schulzes Thesen. Es ist offensichtlich, dass das Bild in der Überlieferung des Nibelungenliedes generell ähnlich ist wie das von Schulze beschriebene. Die Varianz zeigt sich vor allem in Bereichen, in denen sich eine Sprachnorm in der Volkssprache allererst ausbildet. Anders ist nämlich ein gewisser Typus von Varianz volkssprachiger Schriftlichkeit nicht zu verstehen: die scheinbar völlig entfesselte Varianz in Schreibung und Morphologie. Sie ist kein Produkt der Willkür und der Planlosigkeit, sondern Folge der sich im Fluss befindlichen Grammatikalisierung der Volkssprache. Schreibnormen bilden sich für volkssprachige Texte allererst aus und verfestigen sich nur allmählich.⁸⁷ Im frühen Mittelalter sind sie oft noch Gegenstand von Experimenten. Wenn sich seit dem 12. Jahrhundert gewisse Regularitäten durchsetzen, wenn sich vor allem lokale oder sogar schreibstubengebundene Gewohnheiten verfestigen, so bleibt doch bis ins Spätmittelalter die Varianz der Schreibung groß, ganz abgesehen von regionalen und diastratischen Unterschieden. Das betrifft die Wiedergabe einzelner Laute oder den Lautwert einzelner Buchstaben, den Umlaut, Diphthonge, den Murmellaut Schwa, um nur diese zu nennen. Es betrifft die Flexionsendungen, Getrennt- und Zusammenschreibungen, die Wiedergabe von Kontraktionen usw. usw. Die Schreibung des Nibelungenliedes, auch eng verwandter Handschriften, enthält zahllose Beispiele. Die Kontrollen erfolgten also nicht vor dem Hintergrund einer standardisierten Schreibpraxis, und die Korrekturen erstreckten sich nicht auf Einzelheiten der gra
Schulze 2001, S. 69 – 70. Schulze 2001, S. 58. Schulze 2001, S. 69 – 71. Heinzle 2008, S. 323. Obhof 2003b, S. 242. So z. B. in Fr. O (Schmidt 1913, S. 96 – 97). Schneider 1987; für das Nibelungenlied Haferland 2019b, S. 461.
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phischen Gestaltung, nicht einmal auf Einzelheiten der Morphologie. Die Gestalt, die etwa ein Schreiber einem Wort gab, war für Abschreiber nicht maßgeblich. Sie konnte von Abschrift zu Abschrift wechseln, ja musste nicht einmal bei einem Autor oder in einem Text einheitlich sein.⁸⁸ Zwar lassen sich in den einzelnen Handschriften durchaus Ansätze zu einer Regelung beobachten. Grundsätzlich aber bringt jede Abschrift ihren eigenen Schreibusus gegenüber anderen Handschriften desselben Textes aus anderen Schreibstuben zur Geltung. Die Herkunft des Schreibers, seine Ausbildung der Gebrauch der Schreibstube, die anvisierte Leserschaft usw. usw. bedingen die unterschiedliche Gestalt des Ergebnisses. Auf ihm basieren Studien zu Schreibstubentraditionen, Herkunftsanalysen, dialektalen Prägungen der Überlieferung, und dgl. Selbst beim Abschreiben derselben Handschrift kann jeder Schreiber seinen eigenen Schreibusus und sein eigenes Schriftsystem zur Geltung bringen, wie bei Schreiberwechsel zu erkennen ist.⁸⁹ Das ist bekannt, aber nur eine Quelle der Varianz. Offensichtlich ist die Reproduktion eines Textes nicht nur nicht auf das graphische und morphologische System des Vorgängertextes verpflichtet, sondern auch nicht auf den Wortlaut. Hinzutreten also beim Nibelungenlied, wie zu sehen sein wird, Varianten der Semantik und der Syntax.
Abschreibevarianten Es ist uns im Zeitalter der Fotokopie oder erst recht des Copy-and-Paste schwer vorstellbar, dass die Abschrift eines Textes keineswegs das Doppel des abgeschriebenen Textes ist. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis sich dies als Norm beim Reproduzieren eines Textes durchsetzte. Als man nach Erfindung des Buchdrucks ein Missale drucken ließ und jedes Druckexemplar mit der Vorlage einzeln genau verglich, konnte man kaum begreifen, dass jedes Exemplar nicht nur mit dieser Vorlage identisch war, sondern auch jedem anderen Exemplar der Serie aufs Haar glich: Das musste ein göttliches Wunder sein!⁹⁰ Das Resultat der neuen Technik war unverständlich. Dabei setzte das Bemühen um genaue Wiedergabe eines sakralen Textes bereits im Vordruckzeitalter ein. Die Achtung des Wortlauts ist auch in mittelalterlichen Handschriften anzutreffen; sie garantiert in vielen Fällen eine hohe Stabilität der überlieferten Texte. Man war natürlich nicht vor Fehlern beim Abschreiben geschützt, suchte sie jedoch maximal zu reduzieren. Vollständig gelingen konnte das erst durch das neue Medium. Ein sorgfältig ausgeführter Druck eliminierte auf einen Schlag die Fehler, die bei massenhafter Reproduktion einer Vorlage in der Vielzahl der Exemplare unterlaufen können. Dagegen ist jede manuelle und nicht mechanische Reproduktion an sich schon fehlerträchtig. Selbst aber in der
Gerhardt 1991, S. 115 – 117. Ein Beispiel aus der Nibelungenüberlieferung in Fragment g auf Bl. 143r/v; vgl. Müller 2020, S. 372. Geldner 1961, S. 104; zu der Standardisierung von Texten im Spätmittelalter im Gefolge des Buchdrucks vgl. Müller 1988, S. 212– 213.
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Druckpraxis⁹¹ setzt sich erst allmählich der Gedanke durch, dass der Druck einen Text genau wiederzugeben habe. Die humanistische Philologie entwickelt die Vorstellung von ‚einem‘, authentischen Text, dessen Konstituierung Ergebnis mühevoller Arbeit ist, aber zunächst – von religiösen Schriften abgesehen – nur für die Texte der römischen und griechischen Klassiker maßgeblich war. Der Frühdruck volkssprachiger Texte ist nicht nur extrem druckfehlerträchtig, sondern ändert den Text, je nach Textgattung, etwa um ihn dem Papierformat, dem Druckspiegel, den Konventionen der Druckerei anzupassen. Besonders bei den sog. ‚Volksbüchern‘ wie dem ‚Eulenspiegel‘ sind höchst variante Ausgaben die Folge. Doch selbst bei Klassikertexten ist solche Varianz möglich, extrem in der Anpassung an die Adressaten in den Ausgaben ad usum Delphini. Die Geschichte der frühneuzeitlichen Philologie unter diesem Aspekt ist noch zu schreiben. Erst allmählich bildet sich das Ideal einer geregelten Kopierpraxis aus, für die es besondere Spezialisten gibt, die die Identität von Vorlage und Abschrift garantieren und durch umständliche Praktiken zu sichern suchen. In seinem ‚Bartleby‘ hat Hermann Melville diesem Typus, freilich schon ironisch gebrochen, ein Denkmal gesetzt. Die Geschichte zeigt selbst für das 19. Jahrhundert noch den Abstand zu gegenwärtiger Kopierpraxis: Natürlich besteht ein unentbehrlicher Anteil der Arbeit eines Schreibers darin, die Genauigkeit seiner Abschrift Wort für Wort nachzuprüfen. Befinden sich in einem Büro zwei oder mehr Schreiber, so helfen sie sich gegenseitig bei der Nachprüfung, wobei der eine die Abschrift liest und der andere das Original in der Hand hat.⁹²
Es handelt sich um rechtlich relevante Texte; diese müssen genau kontrolliert werden. In der Rechtsordnung der modernen Staaten und Gesellschaften kommt wirklich alles darauf an, dass die Dokumente genau kopiert werden. Bartleby und seine Kollegen müssen deshalb jedes Schriftstück genau überprüfen. Die Weigerung des Helden, dies zu tun („I would prefer not…“) macht die Skurrilität dieser Gestalt aus. Die moderne Vorstellung von Vorlagentreue, wie sie von Bartleby erwartet wird, ist eine völlig anachronistische Annahme für das Mittelalter. Der mittelalterliche Kopist hätte möglicherweise Bartlebys Weigerung, den Wortlaut seines Werks einer kollektiven Kontrolle durch dafür ausgebildete Fachleute zu unterwerfen, verstanden. Das Zitat aus Melville zeigt, dass selbst im 19. Jahrhundert noch die Stimme an der Konstitution des ‚richtigen‘ Textes beteiligt ist. In diesem Fall ist die Mündlichkeit der Schrift klar untergeordnet. Was der eine Schreiber vorliest, wird an dem kontrolliert, was der andere Schreiber als Original schriftlich vor Augen hat. Die Kontrolle ist durch das Ohr vermittelt, Abweichungen des Wortlauts sind nicht mehr möglich, aber selbst sie lässt, was die sprachliche Gestalt betrifft, je nach Sprecher, Abschreiber oder Kontrolleur durchaus noch Varianten zu. Allerdings ist im 19. Jahrhundert die Schriftsprache schon so weit standardisiert, dass für Varianten nur ein schmaler Spielraum von Mög-
Sie ist lt. Schulze 2001, S. 71 konstitutiv für ein neues Verhältnis zum Text. Melville 1967, S. 698.
Abschreibevarianten
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lichkeiten bleibt. Dass im Fall ‚Bartleby‘ die akustische Kontrolle bei rechtlich relevanten Texten ausreichte, setzt voraus, dass das Verhältnis von gesprochenem und geschriebenem Text geregelt ist und es eine verbindliche Orthographie gibt. Allographen sind noch möglich, Aussprachedifferenzen wahrscheinlich, aber alles nur in einem Spektrum, in dem die Form und Aussage des Textes und sein Verständnis nicht tangiert sind. Inzwischen ist die Reproduktionspraxis weiter perfektioniert. Zuverlässiger als die Kontrolle durch Vorlesen ist der Schriftvergleich nach dem Abschreiben eines Textes, der Spezialisten übertragen wird, deren Beglaubigung evtl. durch weitere Spezialisten erfolgt. Die fehlerträchtige menschliche Mitwirkung wird erst durch technische Reproduktion ausgeschaltet, durch Faksimile, Fotokopie oder Digitalisat. Im Mittelalter fehlen diese technischen und institutionellen Möglichkeiten der Reproduktion, um Vorlagentreue zu sichern. Der Übergang zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist ein jahrhundertelanger Prozess. Er bestimmt nicht nur die relativ kurze Phase der Alphabetisierung der Laiengesellschaft im Mittelalter. Das Bild vom sorgfältigen Kopisten, das die moderne Editionsphilologie unterstellt, darf nicht auf die mittelalterliche Herstellung von Handschriften übertragen werden. Die Zuverlässigkeit einer Abschrift ist eine historische Variable, verschieden je nach Textsorte. Genauigkeit in der Reproduktion eines Textes hat sich seit der Frühen Neuzeit über heilige und normative Texte und Texte in den klassischen Sprachen hinaus auf alle literarischen Gattungen ausgedehnt. Die Ansprüche an exakte Wiedergabe werden immer höher, bei historisch-kritischen Klassiker-Ausgaben nicht nur an den Wortlaut, sondern an dessen historische Gestalt einschließlich der Orthographie, ja selbst des Layouts. Die moderne Editionsphilologie hat die Genauigkeit der Wiedergabe auf alle Parameter eines Textes ausgedehnt und weit subtilere Möglichkeiten der Überprüfung dieser Genauigkeit entwickelt als die Schreibstube, in der Bartleby arbeitet. In copy and paste erst hat sich die Schrift von allen Relikten der Speicherung durch menschliche Tätigkeit befreit. Dadurch unterscheidet sich die mittelalterliche Reproduktionspraxis von der modernen. Genauigkeit der Wiedergabe eines Textes in all seinen Elementen ist gar nicht das Ziel mittelalterlicher Abschriften. Der literaturwissenschaftliche Standard, dass eine Abschrift sich genau an der Vorlage zu orientieren habe, bildet sich erst langsam heraus. Das ist eine Einsicht, die schon oft artikuliert wurde, nicht zuletzt in Panzers Abhandlung über mittelalterliches Zitieren, das nach Panzer nur eine ungefähre, paraphrasierende Wiedergabe des Zitierten anstrebt.⁹³ Unterhalb dieser Ebene sind selbst beim Bemühen, den Text einer Vorlage exakt wiederzugeben, erhebliche Abstriche an Genauigkeit zu machen. In der Textkritik wird dieser Umstand durchweg bagatellisiert, indem nicht nur die Graphie und z.T. auch die Morphologie im Allgemeinen ausgeblendet wird und darüber hinaus die überlieferten Texte normalisiert werden. Da gelten dann Handschriften als eng verwandt, ungeachtet ihrer orthographischen und mor-
Panzer 1950, S. 5.
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phologischen Gestaltung. Dabei ist bereits auf dieser Ebene die Varianz unübersehbar. Sie setzt sich auf anderen Ebenen fort. Es gibt Stufen der Vorlagentreue. Was im Mittelalter eine genaue Abschrift eines literarischen Textes bedeutet, ist am Verhältnis der Hs. h des Nibelungenliedes (Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 681) aus dem 15. Jahrhundert und der um 1300 entstandenen Hs. J (Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 474) ablesbar. Hs. h ist eine ungewöhnlich genaue Abschrift von J; ihr wird aus diesem Grund keine eigene textkritische Relevanz zugebilligt.⁹⁴ Der Abschreiber hat sich eng an den Vorlagentext in J gehalten. Tatsächlich folgt h dem Wortlaut von J genau, sogar unter Einschluss von Fehlern in J;⁹⁵ h vermehrt allenfalls die Fehler durch zahlreiche zusätzliche Fehllesungen. In den folgenden Überlegungen soll h daher als a-typisch für die Überlieferungsgeschichte nur am Rande genutzt werden. Für die Abschreibpraxis allerdings ist die Handschrift interessant, denn, abgesehen von den neu hinzukommenden Fehlern, weicht h durchweg von der Schreibung von J ab. Ich belasse es bei einigen kursorischen Beobachtungen. Als Vorlage ist J gesichert. Dabei ist h eine wohleingerichtete Handschrift, mit abgesetzten Versen und roten Initialen am Beginn jeder Strophe. Im Grunde ist sie eine der wenigen Handschriften des Nibelungenliedes, auf die die Charakterisierung ‚am Schreibtisch entstanden‘ genau zu passen scheint und die neuzeitlichen Vorstellungen von einer Abschrift nahekommt. Sie folgt dem Wortlaut von J genau, interpretiert ihn allenfalls falsch⁹⁶ oder lässt Wörter weg. Kofler nennt h „eine dilettantische, vor Fehlern strotzende Abschreibearbeit“.⁹⁷ Es finden sich gegenüber J kaum Varianten – ein mohte an der Stelle von wolte (J 336,3) bestätigt nur die Regel.⁹⁸ Auf den ersten Blick scheinen viele Strophen in J und h völlig identisch (Abb. 1a-b):
Zusammenstellung und Layout der Handschrift differieren allerdings. In h folgt dem Nibelungenlied und der‚Klage‘ ohne Absatz ein puech mit weltlich rát, Ratschlägen eines Vaters an seinen Sohn, des Sohns an den Vater, einer Mutter an ihre Tochter und umgekehrt, religiöse Bitten etc. Etwa J 1872,3, wo in den sal geriten mit Hilfe der Parallelüberlieferung (Fragment Q) in fuͤ r den sal verbessert werden kann; h enthält den Fehler von J gleichfalls; oder in 1873,3 das unverständliche saet sinen helden statt sagte. J 393,2 wird sit (Sitte) falsch diphthongiert (seit); h 399,4 wird Brünhild eine erliche statt herliche meit genannt (Auslassen eines Buchstabens?); wenn Gunther J 390,3 die welent miniu ougen über Brünhild sagt, dann könnte die Schreibung in h (wellent) auch das Hilfsverb meinen. Kofler 2013, S. 23. Weitere zufällig herausgegriffene Fälle, die z.T. aber schon die Fehlerhaftigkeit streifen: J 415,1 Brunhilt … wart schier wol bicleit statt so becleit; J 1871,2 dem herren Dietriche dem wart daz geseit fehlt in h das anaphorisch aufgenommene, syntaktisch überflüssige dem. Auch Flexionsendungen fehlen gelegentlich.
Abschreibevarianten
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Abb. 1a: J 398; Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 474, 10va. J 398
Ir sætel wol gesteint ir furbuͤ g smal si riten herliche fur Brunhilde sal daran hiengen schellen von liehtem golde rot si komen zuͦ dem lande als ez ir ellen gibot.
Abb. 1b: h 398; Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 681, 25rb/25va. h 398
Ir setel wol gesteint ir furbug smal Si riten herlichen fur brunhilden sal Daran hiengen schellen von liechtem golde rot Si komen zu dem lande als es ir ellen gebot.
Allerdings ist selbst bei solcher Textnähe die Graphie gegenüber J verändert (Schreibung des Umlauts, diakritische Zeichen, Schreibung der dentalen Spirans, des Murmellauts), die Morphologie in einigen Punkten (Adverb; Genitiv von Brunhild). Diese Genauigkeit beim Abschreiben ist aber nicht die Regel. Die Handschrift sucht sich dem Schreibusus von J anzupassen, weicht aber immer wieder von ihm ab. Die frühneuhochdeutsche Diphthongierung ist, wenn auch nicht mit völliger Konsequenz, durchgeführt; außer Gebrauch gekommene Wörter (wie das verallgemeinernde swa, swie, swer usw.) sind durchweg ersetzt. Die Namen sind konsequenter als in J geschrieben.⁹⁹ Vor allem verwendet der Schreiber sein eigenes Schreibsystem, das in einer Reihe von Einzelheiten, wenn auch nicht so oft, wie in anderen Handschriften üblich, von J abweicht. Da es hier nicht auf eine Analyse der Schreibsprache ankommt, zähle ich ganz ungeordnet und ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige besonders ins Auge fallende Abweichungen auf: Einige obd. Merkmale sind verstärkt: p statt b im Anlaut, die Schreibung der gutturalen Tenuis variiert statt einfachem k
J 1629,1 hat Eckwart, 1630,1 Eggewart; h hat beide Male Eggwart.
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oder c, manchmal wird sie durch die Affrikata ersetzt; die Schreibung der dentalen Affrikata ist tz anstelle von z, die Schreibung der dentalen Spirans im Auslaut ist teils (wie meist in J) z, teils aber auch s; die gutturale Spirans ch statt h. Gelegentlich steht b für w; häufig findet sich Doppelkonsonanz (allgeliche, h 383,2); häufig steht y für i, in Nebensilben wechseln i und e für Schwa; i ist überwiegend diphthongiert, u gelegentlich, iu meist; ei erscheint in der Regel als ai. Groß- und Kleinschreibung differiert. Aber auch die Morphologie weicht in Kleinigkeiten ab. In den obliquen Formen des Eigennamens im Adverb; es gibt Unterschiede in der Verbflexion usw.
Dabei sind die beobachteten Abweichungen durchaus nicht konsequent durchgeführt. Nicht einmal bei einer Handschrift, die sich in Wortwahl und Syntax eng an ihre Vorlage anlehnen will und ihr in der Morphologie meist folgt (es aber nicht schafft), kann also von einer genauen Kopie die Rede sein. ‚Am Schreibtisch‘ bedeutet nicht buchstabengetreue Übertragung. Das ist erst recht bei anderen eng verwandten Handschriften der Fall. Die fragmentarische Hs. g ist eine Abschrift von L. Die Partien, in denen g sich mit Fragment L überschneidet, wertet Kofler als „eine penible Kopierarbeit“.¹⁰⁰ Aber auch sie ist keineswegs „fast buchstabengetreu“.¹⁰¹ Es lassen sich unter den 28 gemeinsamen Strophen einige feststellen, die ähnlich nahe verwandt sind wie J und h,¹⁰² aber g geht gegenüber L in der selbständigen Graphie und Morphologie weiter als h gegenüber J.¹⁰³ Natürlich gibt es Abweichungen, die wie Abschreibfehler aussehen,¹⁰⁴ aber auch Varianten des Wortlauts, wenn es auch nur wenige und geringfügige sind (vor allem Füllwörter, Abb. 2a-b).¹⁰⁵ Es ist richtig, dass Fr. g eine „bewahrend-beharrende“ Abschreibpraxis voraussetzt, in der nur noch selten Varianten jenseits der Graphie auftreten,¹⁰⁶ und dass sich insofern im 15. Jahrhundert die Abschreibpraxis geändert zu haben scheint. Aber kleinere Abweichungen gibt es eben doch. Es stellt sich die Frage, wann man eigentlich von einer exakten Abschrift sprechen kann. Genügt es, wenn – von Fehlern abgesehen – das Wortmaterial und die Wortfolge genau übereinstimmt? Hs. h und Fr. g suchen sich offensichtlich auch in Graphie und Morphologie an ihrer Vorlage zu orientieren. Trotzdem lassen sie Abweichungen zu, die nicht ‚unterlaufen‘, sondern auf planvolle Eingriffe schließen lassen. Es sind im Wesentlichen, aber nicht nur, Differenzen der Schreibung. Darüber hinaus enthält h we-
Kofler 2014, S. 361: „eine durchweg getreue Abschrift von L“; nur „vereinzelt geringfügige Abweichungen zwischen L und g“; ähnlich schon Klein 2004, S. 34. Klein 2004a, S. 34. So z. B. Lg 1565; 1567; 1570; 1572; 1576; 1585; 1587 (Zählung nach B). Ein paar Beispiele: g 1563,1 intphiengen statt inphingen; g 1563,3 wonden statt wunden; g 1568,1 kumen statt komen; g 1572,4 godis statt gotes; g 1574,3 dede statt dete; g 1578, 2 waz statt swaz; g 1579,1 zware statt zwor; g 1580,3 wolle statt welle; g 1583,3 begúnde statt begonde; g 1586,3 queme statt kome usw. Fehlerhaftes Tempus: g 1563,2 sehens gegen L sahens; fehlerhaftes Fragepronomen statt Verb: g 1564,4 wer gegen wen; g 1567,1 falsches Verb: ligit gegen legit; Zerstörung des Reims: g 1575, 3 – 4 genuͦ g/guͦ t gegenüber gemuͦ t/guͦ t in L. L 1573,3 zuͤ rnen er iz began gegen g zuͤ rnen er do began; L 1575, 2 do gegen g 1575,1 da; L 1574, 4 dot gegen das klangverwandte, semantisch an die Stelle passende not in g (Abb. 2a-b). Klein 2004a, S. 34.
Abschreibevarianten
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Abb. 2a: L 207 – 209 (B 1573 – 1575); Bibl. Jagiellońska, Berol. Ms. germ. Quart 635, L1 9v.
Abb. 2b: g 123 – 125 (B 1573 – 1575); Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 844, 8r.
nige, g mehr Formulierungsalternativen, die offenbar nicht als Fehler, sondern als zulässige Varianten anzusehen sind. Beide Handschriften stammen aus dem 15. Jahrhundert und sind in ihrer Kopiergenauigkeit für die Handschriften des 13. (und noch des 14.) Jahrhunderts atypisch. In
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allen übrigen Nibelungenhandschriften sind die Lizenzen wesentlich größer, und dies vom Anfang der Überlieferung im 13. Jahrhundert an. Hier lässt die Arbeit ‚am Schreibtisch‘ erheblich mehr Abweichungen zu, die offensichtlich nicht als ‚Fehler‘ aufgefasst werden. Aus dieser Zeit gibt es keine Beispiele von genauen Abschriften wie g und h, allenfalls bei einigen eine relativ enge Orientierung des Wortlauts einer Handschrift an einer anderen (wobei die Frage der Priorität zunächst offenbleiben kann). Beispiele für engen Anschluss zweier Handschriften im 13. Jahrhundert sind die Fragmente E und M in Bezug auf die Hss. C bzw. B. Beide Fragmente weisen allerdings auch Varianten auf, die über den orthographischen und morphologischen Bereich hinausweisen und zu den in g seltenen Sonderfällen einer Varianz in anderen Parametern gehören. Sie dokumentieren also schon den Übergang zwischen den verschiedenen Varianten-Typen.¹⁰⁷ Das Fragment E stimmt bis in den Wortlaut hinein weitgehend mit Hs. C überein, so sehr, dass schon diskutiert wurde, ob es eine Abschrift von C sei.¹⁰⁸ Natürlich weicht wieder die Orthographie durchgängig ab. Eine umfassende Orthographieanalyse ist für den hier vorgesehenen Zweck unnötig. Ich beschränke mich auf einige Auffälligkeiten, die zeigen sollen, dass der Schreiber durchaus selbständig seinem eigenen Usus folgt. Er setzt den gehörten oder gelesenen Text in sein Schriftsystem um. Die häufigsten Typen sind: Es gibt in E zusätzliche diakritische Zeichen; der Umlaut ist in C oft nicht gekennzeichnet. E hat mehr Getrenntschreibungen. In Nebensilben findet sich für den Murmellaut Schwa in E häufig e statt i (kunec statt kunic; maneger statt maniger); es gibt Sprossvokale (Buregonden statt Burgonden). Die labiale Spirans wird durchgängig als f statt v geschrieben (frowe statt vrouwe); die dentale Affrikata als z statt c (zite, hochkezit statt cite, hochgecit); sch erscheint als sc. Ohne Konsequenz werden obd. Merkmale verstärkt, z. B. bei der gutturalen Affrikata ch anstelle der Tenuis k (scanchte; chunde, pflach, gechleidt; jedoch auch schon in C: werchen), auch im Silbenauslaut (minnechliche statt minnekliche: unmuzech statt vnmuzzic). Obd. auch die gelegentliche Ersetzung der Media durch die Tenuis (purgen statt burgen; hochkecit statt hochgezit). Abweichend ist auch die Schreibung der Diphthonge iu/iw und ov/eu.
Dabei ist die Ähnlichkeit der Morphologie gegenüber der sonstigen Nibelungenüberlieferung frappierend. So stimmen Substantiv- und Verbflexion, Artikel und Pronomina zwischen C und E überein. Das Adverb wird auf gleiche Weise gebildet. Es gibt verhältnismäßig wenige Abweichungen; von Lizenzen macht der Schreiber selten Gebrauch, etwa wenn er in E 258,4 für das Prädikativum die flektierte Form wnder wählt anstelle von C 258,4 wnd. Beides ist möglich. Selbst hier, bei einem Sonderfall der Überlieferung, ist also die Abschrift nicht die genaue Wiedergabe der Vorlage. Wieder sind die orthographischen oder morphologischen Abweichungen keineswegs konsequent; sie machen aber eine Übertragung von Manuskript zu Manuskript, von einem Buchstaben zum anderen, ohne interferierendes Gedächtnis, unwahrscheinlich. Allerdings scheint das Gedächtnis in diesem Fall nur kurze Strecken des
Müller 2020. Ich muss einige Daten aus diesem Aufsatz 2020 wiederholen. Braune 1900, S. 16 – 17 schließt das aus.
Abschreibevarianten
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Textes überbrückt zu haben, sodass der Wortlaut von C und E weitestgehend derselbe ist. Immerhin scheint der Schreiber von E¹⁰⁹ ‚am Schreibtisch‘ gewisse Lizenzen bei der Behandlung seiner Vorlage gehabt zu haben. Es gibt einige Varianten, bei denen die Entscheidung für eine Lesart schwer fällt. Sie sind von den orthographischen und morphologischen Abweichungen zu unterscheiden. Doch zeigt sich schon hier, dass zwischen beiden Variantentypen ein Kontinuum besteht. E 256,3 müsste nach Auflösung der Abbreviatur nach der strites not heißen, gegenüber C 256,3 nach des strites not. Möglich ist beides, wenn auch E die geläufigere Version hat. In C 264,1 ist in E eines der beliebten Füllwörter da eingeschoben: daz si da solden tragen. Es lassen sich metrische Gründe anführen, die diese zusätzliche Silbe nahelegen; zwingend sind sie nicht. Daher ist sie weder als nachträgliche Änderung zu identifizieren noch ihr Fehlen als korrekturbedürftig zu erweisen. Auch bei der Umstellung der Satzglieder nie so waetlichen sach (E) gegen C 288,4 so waetlichen nie (gesach) gibt es keine zwingenden Gründe gegen die eine oder die andere Lesart. Die eine Wortfolge stimmt mit der in B überein (E), die andere mit der in A (C), nicht aber die Lexik: Sie weicht in C und E (waetlichen) von A und B (schoͤ nen) ab. C 292,3 hat der wirt hat iu erloubet, E dagegen der wirt iu hat erloubet; hier stimmt E gegen C mit allen übrigen Handschriften überein. Kriemhild nimmt in E Siegfried bihende, während C 295,1 bihenden hat. Es trifft einerseits zu, dass E und C sehr eng beieinander stehen, sodass man vermuten könnte, sie gingen auf eine gemeinsame Vorlage zurück, andererseits unterscheiden sie sich in wichtigen Punkten. E teilt vier Fehler (darunter drei Auslassungen) nicht mit C und könnte insofern als besserer Repräsentant von *C gelten; jedenfalls ist undenkbar, dass E aus C abgeschrieben ist; das Umgekehrte wäre schon eher möglich, würde aber der Sorgfalt des Schreibers von C ein schlechtes Zeugnis ausstellen.¹¹⁰ Das Fragment M ist besonders interessant, weil es teils in die Nähe von *A gerückt wird, teils in die Nähe von *B.¹¹¹ Es weist Varianten gegenüber den Hss. A und B auf und spiegelt insofern die ungerichtete Varianz der Überlieferung insgesamt. Mir kommt es hier auf die Tatsache an, dass der Text in vielen Kleinigkeiten variiert wird. Ich nenne nur kursorisch einige Beispiele von Differenzen von M zu A und B. Es finden sich die üblichen orthographischen und morphologischen Varianten, wenn auch nicht in großer Zahl; am auffälligsten sind die Verwendung von Kürzeln und die Bezeichnungen des
Oder der von C. Die ausgelassenen Wörter stehen in E: man fehlt C 247,4; er fehlt C 262,2; man fehlt C 286,1; daz zuͦ lautet in E korrekt dar zuͦ ; E 262,4 zuͦ der [mit Abbreviatur] Buregonden lant an Stelle von C 262,4 den Burgonden lant. Braune 1900, S. 56; Klein 2003, S. 214; M teilt als einzige Handschrift das Layout mit A (Bumke 1996b, S. 143). Dagegen betont Kofler 2011, S. 9; 2020, S. XVII die häufigeren Übereinstimmungen der Lesarten mit B. Kofler 2020, S. 79 – 81 führt deshalb B als Referenzhandschrift an, aber er weist auch Abweichungen gegenüber B nach. M steht zwischen A und B; Abweichungen gegenüber A würden andere Beispiele ergeben; der Typus der Abweichungen bliebe jedoch derselbe.
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Umlauts. Im Verhältnis zu A und/oder B gibt es Unterschiede der Konstruktion,¹¹² der Bezeichnung des Adverbs,¹¹³ im Stammvokal von Verben und der Endung¹¹⁴ und dgl. mehr. A, B und M unterscheiden sich manchmal durch zusätzliche Füllwörter wie vil oder ouch, oder sie tauschen Füllwörter gegeneinander aus.¹¹⁵ Das Grundwort ist gelegentlich verschieden, einmal mit Präfix, einmal ohne.¹¹⁶ Es würde zu weit führen, all die winzigen Abweichungen aufzuzählen, doch gibt es auch größere Unterschiede, wie sie in den folgenden Kapiteln systematisch verzeichnet werden sollen: Umstellungen von Satzgliedern,¹¹⁷ Austausch von sinnähnlichen Formulierungen,¹¹⁸ präzisierende Zusätze,¹¹⁹ syntaktische Varianten.¹²⁰ Wenn in vielen Fällen M mit A übereinstimmt, so gibt es auch Abweichungen der Schreibung, Morphologie, Lexik, Wortbildung, der syntaktischen Gestalt, kleinere Zusätze gegenüber A.¹²¹ Das gleiche gilt für B. Insgesamt aber entsteht der Eindruck, dass M sich um eine zuverlässige Wiedergabe des nach *B oder *A erzählten Nibelungenliedes bemüht. Diese schließt aber wieder völlige Textgenauigkeit in allen Parametern nicht ein. Es gibt hier mehr Varianten jenseits von Orthographie und Morphologie als in E. Die Varianz greift auf Lexik und Syntax über. Die Entscheidung zwischen unterschiedlichen Lesarten ist in manchen Fällen unmöglich, jedenfalls äußerst schwierig.
Formulierungslizenz Für den Versuch, einen Sachverhalt auszudrücken, stehen immer mehrere gleichzeitige Möglichkeiten zur Verfügung, und zwar auch dann, wenn man sich eng an einem vorgegebenen Text orientieren will. Das Phänomen ist von Veränderung des Wortlauts bei ungenau memorierten Gedichten bekannt. Bei der Varianz der Nibelungenhandschriften scheint die wortgetreu-genaue Wiedergabe gar nicht das Ziel. Varianz entsteht bei gleichzeitig verfügbaren Möglichkeiten, von denen gleichgültig ist, welche früher, welche
Etwa B 1387,2 ein kuͤ neges lant gegen M 1387,2 eines chúnges lant; A 1330,2 kuniges lant. Etwa B 1386,4 Adverb auf -e gegen A 1329,4 und M 1386,4 auf -en. A 1334,4 begond, B 1391,4 begonde gegen M 1391,4 begund. B 1389,2 da fehlt in AM; A 1357,3 u. M 1414,3 her fehlt B 1414,3; M 1388,4 vil gegen A 1331,4 u. B 1388,4 ouch. M 1406,4 gesprechen gegen A 1349,4 u. B 1406,4 sprechen. M 1398,3 daz ier mich sehen liezet gegen B 1398,3 daz ir mich liezet sehen (~ A 1341,3); B 1408,1 wellen iht began (~ A 1351,1) gegen M 1408,1 iht wellen began. Etzel formuliert die Einladung einmal so luͤ de ich uͤ ber Rin (B 1401,2; ~ A 1344,2), einmal so sand ich (M 1401,2). M 1401,3 varn her in miniu lant gegenüber A 1344,3 varn her in min lantgegenüber B 1401,3 (ohne Verb) her in miniu lant. M 1387,2 beseze eines chunges lant gegen A 1330,2 beseze kuniges lant u. B 1387,2 ein küneges lant. Ich führe nur pauschal auf: M 1386,4 gegen A 1329,4; M 1387,1 gegen A 1330,1; M 1388,1 gegen A 1331,1; M 1389,1 gegen A 1332,1; M 1390,1 gegen A 1333,1; M 1395,3 gegen A 1338,3; M 1395,4 gegen A 1338,4; M 1397,4 gegen A 1340,4 usw.
Formulierungslizenz
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später ergriffen wird. Sie ist Folge nicht eines Gedächtnisfehlers, sondern einer Formulierungslizenz, die u. a. auch auf Klangähnlichkeit aufbauen kann. Dieser Typus von Varianten ist den Schreibern offenbar unanstößig. Sie scheinen den Vorgang sorgfältigen Abschreibens nicht beeinträchtigt zu haben. Die Varianz geht in anderen Handschriften erheblich weiter als in E und M und scheint insgesamt charakteristisch für die Nibelungenüberlieferung. In E und M sind es noch nicht allzu viele Abweichungen. Vermehrt treten sie zwischen den Handschriftengruppen (*A, *B, *C, *D, *J) auf, doch finden sie sich auch zwischen Handschriften derselben Gruppe, also in den Fragmenten der Bearbeitung *C ebenso wie in den zu den not-Texten gehörigen Fragmenten. Sie finden sich bereits in der ältesten Überlieferung. Die Varianz der Ausgestaltung en détail lässt sich schon an den Haupthandschriften ablesen, vor allem den Hss. A und B, wenn sie einmal nicht im Hinblick auf die Frage, was original ist, was ursprünglicher, geprüft werden. Nachdem der Versuch, B als archetypnah, A dagegen als sekundär zu erweisen, gescheitert ist, spricht nichts mehr gegen die Gleichwertigkeit der Lesarten von A und B. Damit ist bereits für die früheste uns greifbare Stufe der Überlieferung eine textkritisch nicht auflösbare Varianz nachgewiesen. Die Fragmente bestätigen den Befund. Das Gleiche gilt für den liet-Text. Schon von Menhardt wurden die Abweichungen von Fr. Z gegenüber Hs. C vermerkt, und es wurde die Frage gestellt, ob Fr. Z nicht älter als Hs. C ist.¹²² Nachdem diese Frage verneint wurde, bleibt der Tatbestand, dass das sehr alte Fragment Z einen varianten Text von *C enthält. Ebenso bezeugt das alte Fragment S1 die frühe Varianz von *C. Das Gleiche gilt für das evtl. aus derselben Handschrift stammende Fragment S2 gegenüber A bzw. B. Diese Varianz setzt sich in den jüngeren Handschriften D und b fort. Der Text der not-Fassung, den die Handschriften D und b ab ca. Strophe 268/270 bieten, muss deshalb ursprünglich nicht geringerwertig gewesen sein als der Text in A und B, denn Fragment S2 repräsentiert diese Handschriftengruppe viel früher als die vollständigen Handschriften D und b aus dem 14. bzw. 15. Jahrhundert. Das lässt erheblich daran zweifeln, dass diese Varianz nur späte Folge einer Schritt für Schritt depravierten schriftlichen Rezeption ist. Sie findet sich übrigens auch in deutlicher profilierten Handschriftengruppen wie *J, für die kein so alter Text überliefert ist. Im Blick auf die Überlieferung insgesamt wird das immense Ausmaß von Varianz deutlich. Vergleicht man beliebige Strophen in den einzelnen Handschriften miteinander, dann unterscheiden sie sich nicht nur in solchen Details, ob Siegfried in herlichem (B 914,1; ~ DJ), erlichem (A) oder vrolichem site (C) reitet, sondern auch in Wortbildung, Wortfolge und Syntax. Diese Varianz betrifft vor allem belanglose, aber auch weniger belanglose Details auf engstem Raum, angefangen von der Graphie.
Menhardt 1927, S. 218. Das ist nach den Forschungen von Karin Schneider unwahrscheinlich (1987, S. 142). Aber das Alter des Überlieferungsträgers besagt nicht allzu viel, zumal wenn die mutmaßlichen Entstehungsdaten eng beieinander liegen; der ältere Text kann in einer jüngeren Handschrift überliefert sein. Einige Fragmente dürften älter sein als die Haupthandschriften. Es ist in vielen Fällen nicht mehr feststellbar, was Vorlage, was Kopie ist.
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Ich bringe einige Beispiele, zunächst aus einer Strophe: Heißt es beim Vorschlag Siegfrieds, wer mit zur Werbung um Brünhild fahren solle, Der gesellen bin ich einer der (daz) ander soltu wesen (A 339,1; B 340,1) oder Der gesellen sit ir einer der ander sold ich wesen (C 350,1)? Und im dritten Vers der Strophe der vierde daz si Danchwart (B 340,3; ~ A) oder Danchwart si der vierde (C 350,3)? Und im vierten uns endurfe andr tuͦ sent mit strite nimmer bestan (B 340,4; ~ C) oder tusent man mit strite geturren nimmer uns bestan (A 335,4) oder uns endurffen anderr tousnt recken nimmer bestan (D 340,4)? Beliebig aus einem anderen Textzusammenhang gegriffen: Heißt es A 865,4 mit triuwen rat ich iu daz, B 919,4 mit rehten triwen rat ich daz, b 919,4 in trewen rat ich ew das oder S2 919,4 entriuwen rat ich iu daz? Mal fehlt rehten (ACDJS2abdh), mal das Dativobjekt iu/ew (BDJadh). Oder A 867,4 daz tuot mir innerclichen we, B 921,4 an dem herzen we, J 921,4 minem herzzen we, S2 921,4 in dem hercen (~ Dbd) oder a 932,4 innechleich.
In der überwiegenden Zahl der Fälle ist das Wortmaterial gleich oder ähnlich, doch kann auch schon einmal ein Wort ersetzt werden oder ein Wort hinzutreten. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren; andere Stellen aus anderen Handschriften wären hinzuzuziehen. Diese Varianten lassen sich im Abschreibprozess offenbar nur erklären, wenn nicht die genaue visuelle Wahrnehmung der schriftlichen Vorlage und ihre Übertragung in die Kopie für die Reproduktion maßgeblich war, sondern ihr vermeinter Sinn, der in einer bestimmten Form versprachlicht war und der, im Akt des Abschreibens memoriert, leicht variierend wiedergegeben werden konnte. Für diesen Vorgang spielt es keine Rolle, ob dieser Sinn mündlich oder schriftlich vermittelt wurde. Ein auswendig gelernter Text wie ein geschrieben vorliegender lässt diese Varianten zu, ohne dass er für das Bewusstsein des Rezipienten verändert scheint. Ein Aussetzen des Gedächtnisses würde man nur feststellen, wenn man den Reproduktionsprozess der Norm wortwörtlicher Wiedergabe unterwürfe, was offenbar nicht geschieht und auch nicht gefordert ist. Das Bild der Überlieferung des Nibelungenliedes ist insofern ähnlich dem Bild, das Schulze an der Überlieferung von Rechtstexten herausgearbeitet hat.¹²³ Dagegen sprechen nicht vereinzelte Korrekturen im Text; sie lassen nicht darauf schließen, dass die Kopisten generell an der wort-, geschweige buchstabengetreuen Wiedergabe einer Vorlage interessiert waren, sondern dass sie es in diesem Fall waren, aus welchen Gründen auch immer, in anderen, parallel gelagerten Fällen aber nicht.¹²⁴ Es gab Parameter des Textes, auf deren exakte Wiedergabe die Schreiber möglichst genau achteten – neben dem Handlungsverlauf u. a. auf die Reimordnung, auch auf manche Schaubilder¹²⁵ – und andere, die sie vernachlässigten und großzügig variierten. Insofern ist das Nibelungenlied nur in bestimmter Hinsicht ein ‚relativ fester‘ Text. Wenn Heinzle glaubt, C bezeuge „auf jeder Seite, wie besorgt man auch in der Handschriftenkultur war, den richtigen Text zu bewahren: Eine Fülle akribischer Korrektu-
Schulze 2001; vgl. oben S. 61– 62. Heinzles „beliebig herausgegriffenes Beispiel“ (2008, S. 326) zeigt, wie das Ambraser Heldenbuch d gelegentlich zwei Varianten aus älterer Überlieferung hintereinander schaltet; der Fall ist a-typisch außerhalb der spätmittelalterlichen Kompilationen; als Korrekturversuch lässt er sich allein schon wegen seiner ungrammatischen Form, die nicht korrigiert wird, schwerlich auffassen. Das wird unten S. 328 – 333 genauer dargestellt.
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ren zeigt, daß die Abschrift systematisch revidiert worden ist“,¹²⁶ wie ist dann die Varianz der *C-Fragmente erklärbar? Wie die Fehler in C? Die Korrekturen betreffen überhaupt nicht die unten beschriebenen Varianzphänomene; der Schreiber verbessert Fehler, die ihm in ‚seinem‘, für richtig erachteten Text unterlaufen sind, aber um die meisten Abweichungen kümmert er sich gar nicht. Die Korrekturen beziehen sich nur auf bestimmte Details des Textes, die dem Schreiber wichtig erschienen und die er deshalb verbesserte, während er andere aussparte. Die Tatsache nachträglicher Korrekturen weist auf die Sorgfalt eines Schreibers in den für ihn relevanten Punkten, nicht aber auf die Norm buchstabengetreuer Wiedergabe, die in der Moderne bei der Reproduktion von Texten selbstverständlich ist. Jürgen Wolf stellt fest: Textvervielfältigung im Mittelalter ist weder per se als einfacher Kopierakt noch als fortwährender Akt der Neuschöpfung zu begreifen. Beide Momente fließen in je unterschiedlicher Intensität, jeweils abhängig von so verschiedenen Faktoren wie Textsorte, Intentionalität, Auftraggeberwille, Schreiberintelligenz und Mode zusammen.¹²⁷
Deshalb sind diese Faktoren im Einzelnen zu berücksichtigen. Wolf stellt seiner Übersicht die „Schreiberindividualität“, die individuellen Fähigkeiten und zufälligen Dispositionen des Kopisten, voran. Sie sind allerdings nicht nur in der Regel nicht zu fassen, sondern vermutlich auch nicht der primäre Grund für Varianz. Wichtiger dürften die „institutionellen Kontexte“ sein, die allerdings noch umfassender und elementarer zu beschreiben wären. Die Einbindung in ein bestimmtes Skriptorium ist nur eine der Bedingungen. Es gehören dazu auch der Stand des grammatischen Wissens, die Ausbildungspraktiken, die Schreibpraxis oder konkurrierende Routinen. Überhaupt stehen bei den übrigen von Wolf genannten Faktoren die normativen Vorgaben professioneller Schriftlichkeit im Vordergrund („‘Fürsorgliches‘ Skriptorium“, „Auftraggeberinteressen“, „Die Vorlage als mediales Vorbild“, „Buchtechnische Komplexität der Vorlage“, die „Autorität der Vorlage vs. Arbeitsökonomie“ …).¹²⁸ Sie beeinflussen die Schreibpraxis in der Tat, und Wolf belegt das mit zahlreichen Beispielen. Die Norm aber setzt sich in keinem Fall vollständig durch. Es gibt Bereiche, die nicht geregelt sind oder jedenfalls nicht fest geregelt und die mehrere Alternativen zulassen. Hinzu kommen außerdem Gewohnheiten, die sich ohne individuelle Intention einschleichen, oder Schreiberroutinen, die sich an einem bestimmten Ort ausgebildet haben. In Antwort auf die New Philology und einen schrankenlosen Überlieferungspositivismus ist es grundsätzlich sinnvoll, wieder an die Geregeltheit mittelalterlicher Schriftlichkeit zu erinnern, die natürlich besonders dort ausgebildet ist, wo der Output eines Skriptoriums relativ hoch ist. Aber es gibt auch die Gegenrechnung von Phänomenen, die in jüngster Zeit etwas unterbewertet wurden. Diese Unterbewertung ist
Heinzle 2004, S. 24. Wolf 2008, S. 321. Wolf 2008, S. 321– 326.
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Reaktion auf den Versuch der New Philology, die Regellosigkeit als Regel zu etablieren. In „Offener Text und Buchkörper“ polemisiert Wolf zurecht gegen einen „ewigen Veränderungs- bzw. Entwicklungsprozeß“ und betont die Tendenz zu „feste[n] Einheiten“, „konstant[er]“ Überlieferung.¹²⁹ Aber von dieser Tendenz sind manche Parameter des Textes zunächst ausgenommen; sie werden erst allmählich – zu unterschiedlichen Zeiten – von ihr erfasst. Diese Tendenz widerspricht nicht Cerquiglinis These permanenter variance, sondern ist ihr notwendiges Korrektiv: der andere Pol mittelalterlicher Schriftlichkeit in der Volkssprache. Es wird zu zeigen sein, dass ein Kontinuum zwischen den Varianten, die meist in der Editionsphilologie keine Aufmerksamkeit fanden, also vornehmlich Varianten der Graphie und Morphologie, und substantielleren Varianten, z. B. des Numerus, des Tempus, des Modus, der Semantik, der Syntax besteht. Varianten sind auch hier in gewissem Rahmen austauschbar, indem sie im Text gleichberechtigt nebeneinander treten. Sie bleiben in den meisten Fällen unterhalb der Schwelle von Fehlern einerseits, von Bearbeitungsalternativen andererseits. In M und E waren es, verglichen mit der sonstigen Überlieferung, verhältnismäßig wenige Abweichungen im Wortbestand und der Anordnung der Worte. Dass die Handschriften ‚am Schreibtisch‘ entstanden sind, lässt aber zu, dass ein anderer Schreibusus, eine andere Morphologie, eine andere dialektale Färbung einerseits, andere Formulierungsroutinen und Gestaltungsinteressen andererseits die Kopie beeinflussten. Wie stark das der Fall ist, ist unterschiedlich. Zwischen einer Abschrift wie h und freieren Adaptationen gibt es ein breites Spektrum von Möglichkeiten. E und M stehen dazwischen. Schwieriger ist die Beurteilung von Varianten, die, ohne etwas Neues zu bringen, den ‚Ton‘, die Modalität, die Perspektive der Darstellung und überhaupt die Ausgestaltung des Textes verändern. Diese Tendenz, den Text zu ‚verbessern‘, eine Szene plastischer zu gestalten, evtl. einzelne Aspekte hervorzuheben, etwa die Erzählung deutlicher ‚höfisch‘ zu färben, ist, anders als in der älteren Textphilologie, nicht in Hinsicht auf ihre Ursprünglichkeit zu prüfen, sondern als Lizenz aufzufassen, die jeder, der das Nibelungenlied aufführte oder aufschrieb, nutzen konnte. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts tritt dieser Typus von Texteingriffen allerdings zurück; die Handschriften aus dem 15. und 16. Jahrhundert (bghd) sind in vielem konservativer als ihre älteren Vorgänger bei der Reproduktion des Textes und bewahren eine ältere Textgestalt als diese.¹³⁰ Das geht zusammen mit der seit dem 13. Jahrhundert zu beobachtenden Herausbildung eines Bewusstseins von der Gestalthaftigkeit und Geschlossenheit poetischer Gebilde, der Zunahme des Formbewusstseins etwa in der Minnelyrik oder in der Konkurrenzsituation der Sangspruchdichtung. Je mehr sich in poetischen Texten der Akzent auf die Artistik der Darbietung verschiebt, desto entschiedener die Versuche, auch die Form zu schützen. Das Nibelungenlied scheint zu
Wolf 2008, S. 324. Vgl. unten über das Verhältnis von b zu D Bumke 1996a, S. 83.
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Anfang keinen – oder jedenfalls einen geringeren – Teil an dieser Tendenz gehabt zu haben.
Schriftlichkeit und nicht-schriftbasierte Formen der Reproduktion Damit sind die wichtigsten Thesen der folgenden Untersuchungen vorbereitet: Eine schriftliche Vorlage ist im Überlieferungsprozess des Nibelungenliedes nur eine – die zweifellos wichtigste – Vorgabe für den reproduzierten Text, eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für dessen Gestalt. Insofern gilt: Das Nibelungenlied ist am Schreibtisch gedichtet. Doch wirken andere Faktoren auf das Ergebnis ein. Diese anderen Faktoren bedeuten keineswegs beliebige Veränderung der Textgestalt. Es muss Praktiken gegeben haben, die die Stabilität des Rahmens ohne Zuhilfenahme der Schrift garantierten. Wenn die anfängliche Varianz des Nibelungenliedes im Folgenden dargestellt werden soll, dann ist die Frage der mündlichen oder schriftlichen Reproduktion des Textes zunächst neutralisiert. Es ist möglich, dass die Varianz der Überlieferung den uns verfügbaren Überlieferungszeugen schon vorausging und dass sie z.T. auf mündlicher Basis erfolgte. Doch dies ist Gegenstand der Spekulation. Sicherheit ist nur über die Handschriften zu gewinnen. Die gleiche Tendenz zur Varianz findet sich aber auch in den schriftlichen Reproduktionsprozessen, auf die die überlieferten Handschriften zurückgehen; auch an ihnen war das Gedächtnis noch beteiligt. Auch bei Kopie einer schriftlichen Vorlage ist nicht die buchstabengetreue Übertragung von einem Manuskript in das andere vorauszusetzen, sondern die erinnerungsgestützte Übertragung mehr oder minder großer Texteinheiten. Die Verschriftlichung des Nibelungenliedes fällt in die Epoche des Vordringens von Schriftlichkeit. Schriftgebrauch in der Überlieferung hat eher die Verfestigung von Texten zur Folge, während mündliche Übermittlung eher offene Texte produziert. Die Schrift bleibt auch in der Wiederholung dieselbe, die Rede variiert. Aber dieser Gegensatz gilt nicht absolut. Textualität wird zu Unrecht im Allgemeinen mit Schriftlichkeit assoziiert.¹³¹ Demgegenüber hat Ehlich im Rahmen einer Theorie sprachlichen Handelns die Textualität auch mündlicher Äußerungen herausgearbeitet. Zu ihnen zählt u. a. der mündliche Vortrag eines Epentextes. Das setzt voraus, dass es Techniken gibt, die Flüchtigkeit der gesprochenen Äußerung durch Speicherung zu stabilisieren. Eine aus ihrer primären Sprechsituation in eine andere Sprechsituation übertragene „Sprechhandlung“ nennt Ehlich „Text“.¹³² Texte sind „zerdehnte Sprechhandlungen“. Der Text überbrückt den Bruch zwischen nicht mehr in einer Sprechsituation kopräsentem Sender und Empfänger durch Überlieferung.¹³³ „Text ist nicht auf Schriftlichkeit ein-
Ehlich 2007b, S. 483; Müller 2005, S. 163 – 164. Ehlich 2007b, S. 493. Ehlich 2007c, S. 530; 541– 542; 2007d, S. 571– 572.
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zuschränken, sondern Text ist auch mündlich“.¹³⁴ Auch mündliche Sprechhandlungen werden ‚überliefert‘. „Texte sind also durch situationsüberdauernde Stabilität gekennzeichnet“.¹³⁵ Es gibt vielfältige Speicherungsmöglichkeiten, und beim Übergang der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit kommen einige der Speicherung durch Schrift nahe oder sind sogar mit dieser verbunden. Schriftliche und nicht-schriftliche Speicherungsmöglichkeiten können sich in der Übergangszeit überlagern. Es gibt Fälle, wo das neue Medium der Textherstellung [die Schrift] sich der vordem mündlich überlieferten Formen annimmt; in der geschichtlichen Wirklichkeit zieht sich der Ablöseprozeß der beiden Arten von Tradition und der beiden Typen von Texten, die sich daraus ergeben, über Jahrtausende hin.¹³⁶
Die Schrift steigert die Reichweite und Zuverlässigkeit der Speicherung exponentiell. Sie dehnt sich, wie zu sehen war, anfangs aber keineswegs auf alle Parameter des Textes aus. Wenn er abgeschrieben wird, dann ist nicht Buchstabentreue, nicht einmal Wortwörtlichkeit das Ziel. Insofern können die Ergebnisse mündlicher und schriftlicher Speicherung in der Übergangszone zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ähnlich sein. À la longue setzt sich die Schrift durch, doch keineswegs mit dem Automatismus und der Selbstverständlichkeit, wie man aus Perspektive der Schriftkultur annimmt.¹³⁷ Das Nibelungenlied wiese demnach Merkmale von Schriftlichkeit und solche von Mündlichkeit auf. Dies passt zur Zeit seiner mutmaßlichen Entstehung. Zwar gibt es schon seit Jahrhunderten Schriftgebrauch in der Volkssprache, aber erst seit dem 12. Jahrhundert wird die profane Laienkultur auf breiter Front verschriftlicht, sodass man geradezu von einer ‚Explosion‘ von Schriftlichkeit im Spätmittelalter sprechen konnte.¹³⁸ Bis ins 12. Jahrhundert ist die Laienkultur – zumal außerhalb des Einflussbereichs der Kirche – überwiegend oral und – von einzelnen Textzeugen abgesehen – nur aus schriftlich überlieferten Spuren indirekt erschließbar. Die Schrift erfasst allmählich die orale Laienüberlieferung, die parallel noch einige Zeit fortgesetzt wurde. Die Rezeption volkssprachiger Literatur, auch der Buchepik des höfischen Romans, erfolgt ohnehin noch lange danach dominant mündlich. Das Nibelungenlied schließt im Versbau, Formelgebrauch, vor allem aber Varianz an die orale Laienkultur an, in manchen Hinsichten weist es aber schon die Festigkeit eines Schrifttextes auf. Es ist ein typisches Produkt einer Zeit des Übergangs von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Wenn deshalb nachgewiesen werden soll, dass der Text des Nibelungenliedes von Anfang an variant ist, dann bedeutet das nicht, wie die latent poststrukturalistische Literaturtheorie annimmt (und wie Cerquiglinis Bild der volkssprachigen Literatur im
Ehlich 2007c, S. 543. Ehlich 2007b, S. 493. Ehlich 2007c, S. 546. Ehlich 2007b, S. 501. Kuhn 1980, S. 78.
Schriftlichkeit und nicht-schriftbasierte Formen der Reproduktion
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Mittelalter generell unterstellt wird),¹³⁹ völlige Beliebigkeit, völlige Gleichwertigkeit aller Gestalten, die ein Text in der Überlieferung annimmt. Es bedeutet im Fall des Nibelungenliedes eher das Gegenteil. Das Nibelungenlied hat nicht mehr teil an der genuinen Volatilität mündlicher Dichtung. Anders als diese hat die Varianz einen genau begrenzten Rahmen. Es heißt nur, dass bestimmte Parameter des Textes nicht festgelegt sind, andere aber durchaus; diese letzteren können zwar geändert, ergänzt oder verkürzt werden, aber nur durch Eingriffe, die die Struktur insgesamt unverletzt lassen. Das Nibelungenlied ist also von der Volatilität verschrifteter, nicht schriftanalog konzipierter mündlicher Epik grundsätzlich unterschieden, d. h. auch von den meisten spätmittelalterlichen Heldenepen um Dietrich von Bern, von den schriftlichen Adaptationen der Chanson-de-geste,¹⁴⁰ aber auch von einem literarischen Typus wie der Nibelungenklage, deren Verschiebungen von Versfolgen, Reden, ganzen Episoden Grundlage von Bumkes vier Fassungen ist. Die Überlieferung des Nibelungenliedes ist mit der des ‚Laurin‘, des ‚Eckenliedes‘ oder der ‚Virginal‘ nicht zu vergleichen, die Umstellungen der Reihenfolge, hinzugefügte oder weggelassene Episoden, wechselndes Personal, Wiederholungen und dgl. aufweisen. Der Vergleich zwischen ‚Virginal‘ und Nibelungenlied ist daher nicht einschlägig, weil es die Textvarianten, Umstellungen, Wiederholungen usw. in der ‚Virginal‘ im Nibelungenlied schlechterdings nicht gibt.¹⁴¹ Wenn das Epos – wie übrigens die mittelalterliche Epik meistens – mündlich vorgetragen wurde, dann war der Vortrag dennoch auf ein festes Textgerüst bezogen. Der„je aktuelle[n] Vortrag“ verändert vielleicht den Wortlaut, nicht aber den Handlungszusammenhang, bietet ihn nicht einmal in dieser, einmal in jener Form, sondern in der gültigen, der ‚richtigen‘ Gestalt.¹⁴² Schon Braune sah: Die „grösseren änderungen der lesart, welche auch den gedanken abbeugen“, seien selten.¹⁴³ Das ist das Gegenteil von postmoderner Beliebigkeit, der jeder Text gleich gilt, der Text volatil bei jeder neuen Aneignung ist – wie die Forschungskritik den Thesen von Cerquiglini unterstellt hat. Der variante Wortlaut steht vor dem Hintergrund der erwähnten durchaus festen Textstruktur im Makrobereich; er dient ja der Wiedergabe einer und derselben Geschichte mit einem und demselben festgelegten Verlauf. In ihr ist nichts beliebig, sondern genau festgelegt. Nur in diesem Rahmen findet Varianz der beschriebenen Art statt; sie ‚unterläuft‘ nicht die Reproduktion, etwa durch momentane Gedächtnisschwäche.
Heinzle 2004, S. 23. Vgl. Knapp 2008: Diese enthalten Varianten, die einem „Schriftredaktor aber keinesfalls zuzutrauen“ sind (S. 82). Dieser Vergleich bei Haferland 2019b, S. 478 – 493. Haferland betrachtet die Unterschiede als bloß graduell; sie sind aber fundamental. Für das Nibelungenlied gilt nicht, was Haferland über die Heldenepik sagt, „daß Heldendichtung einfach heruntergedichtet und -diktiert wurden“ (2006, S. 175); es ist in der *B- wie der *C-Gestalt ein wohlkomponierter Text. Braune 1900, S. 115.
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Damit ist deutlich geworden, was ‚am Schreibtisch‘ konkret bedeutet. Der überlieferungsgeschichtliche Befund zeigt, dass Abweichungen auf der Ebene des ‚wording‘ toleriert werden, dass sie bei der Konstitution eines ‚richtigen‘ Nibelungenliedes einfach keine Rolle spielen, dass sie grundsätzlich nicht nach einer Vorlage korrigiert werden und dass sich auf sie gar nicht die Aufmerksamkeit des Schreibers richtet, der einen ‚guten‘ Text kopieren will. Schon Bumke hat das Bild des faulen und schlampigen Abschreibers, unter dessen Händen sich die Kopie immer weiter vom ursprünglichen Text entfernt und der abgeschriebene Text notwendig der schlechtere ist, korrigiert.¹⁴⁴ Er stellt textkritisch gleichwertige Varianz bereits in „kleinste[n] Unterschiede[n] in der Morphologie, der Syntax und der Semantik“ – hinzuzufügen wäre Schreibung – fest. Er hat erstmals auf die Möglichkeit hingewiesen, dass die Überlieferungsgeschichte sich nicht allein in der Schriftlichkeit abspielt. Das Nibelungenlied gehört zu den Texten, „die sich verändern können, ohne dass diese Veränderungen als Störungen zu begreifen wären. […] [D]ie Veränderbarkeit war ihnen von Anfang an mitgegeben“.¹⁴⁵ Gerade weil man oft keinen Grund für eine Änderung erkennen kann, dürfte sie nicht ihren Grund nur in der Person des Schreibers haben,¹⁴⁶ sondern im habituellen Umgang mit der Vorlage im Abschreibprozess wurzeln, der nicht verlangt, den Text, wie vorgefunden, exakt und in allen Einzelheiten wiederzugeben. Das aber ist nach dem Befund der Varianz zu bezweifeln. Besteht dieser Anspruch aber nicht, dann gibt es auch Raum für andere als routinemäßige Veränderungen. Von besonderem Interesse sind daher vornehmlich Eingriffe, die offenbar nicht durch die Vorlage veranlasst waren, sondern scheinbar ohne Anlass erfolgten. In der konkreten Ausgestaltung innerhalb eines begrenzten Rahmens dürfte genau die Leistung derer gelegen haben, die das Nibelungenlied erneuerten. Am meisten machte der Bearbeiter von *C von dieser Lizenz Gebrauch, aber sie ist über weite Strecken nicht grundsätzlich unterschieden von der Varianz in den not-Handschriften, zumal in *J. Besonders an der Bearbeitung *C kann man, zusätzlich zu den konzeptionellen Änderungen, die der Bearbeiter vornimmt, diese Kreativität am Werk sehen, und zwar sowohl in der Ergänzung von Details, wie in der Neuformulierung des Textes, den er in anderen Versionen – handschriftlich oder mündlich – vorfindet. Ein Minimum an Kreativität war aber bei jeder Ausgestaltung des Textes gefordert, auch bei den vielen semantisch neutralen Varianten. Die Überzeugung, dass die Entstehung des Nibelungenliedes kein „einmaliger Akt“ ist, sondern „ein Prozeß, der über mehrere Stufen gelaufen ist“,¹⁴⁷ wird damit in einem entscheidenden Punkt revidiert: Anstelle des Nacheinanders von Abschriften tritt ein
Bumke 1996a, S. 53. Bumke 1996a, S. 54. Panzer 1955, S. 97. Bumke 1996a, S. 560.
Schriftlichkeit und nicht-schriftbasierte Formen der Reproduktion
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Nebeneinander von gleichzeitig verfügbaren Varianten.¹⁴⁸ Es soll nicht gezeigt werden, wie sukzessive der Text des Nibelungenliedes zusammenwuchs, sondern wie jeder neuer Aneignung Möglichkeiten zu minimaler Veränderung offenstanden. Die folgenden Untersuchungen der Varianten haben, von der bisherigen Forschung abweichend, gerade die Parameter des Textes im Visier, in denen die Überlieferung nicht normativ gewirkt hat und in denen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts das Nibelungenlied verschieden realisiert wird. Jene ‚horizontalen‘ Varianten sind zwar textkritisch relevant, freilich auf andere Weise als in der traditionellen Textphilologie. Es muss nicht erklärt werden, warum diese Variante älter ist als jene; warum und wie diese aus einer anderen hervorgegangen ist (und nicht umgekehrt), wie sich die Abweichungen erklären, was sie über die Abfolge der Überlieferungszeugen aussagen. Vielmehr zeigen die Varianten an, welche sprachlichen Mittel im Idiom ‚Nibelungisch‘ gleichzeitig verfügbar waren; welchen Spielraum die Lizenzen dem nachschaffenden Künstler ließen, wenn er einen korrekten Text des Nibelungenliedes reproduzieren wollte, aber auch welche Bedingungen bei seinem Schreiben nicht zur Disposition standen. Ich möchte die folgenden Überlegungen ausdrücklich auf das Nibelungenlied einschränken. Variance ist zwar ein Phänomen, das für die volkssprachige Schriftlichkeit bis ins Spätmittelalter insgesamt typisch ist. Differenzen der Graphie und der Morphologie finden sich in der Überlieferung des höfischen Romans wie der Kleinepik oder anderen Gattungen. Das Gleiche gilt von Präsumtivvarianten aller Art. Trotzdem ist die Überlieferung des Nibelungenliedes etwas Besonderes, das mit seinem Gattungscharakter und dessen Poetik zusammenhängt. Das Nibelungenlied steht auf der Schwelle zur Schriftlichkeit. Es setzt bereits Schriftgebrauch oder schriftanaloge Speicherung voraus, doch durchsetzt mit nicht-schriftlichen Praktiken. ‚Am Schreibtisch‘ ist nicht nur eine sklavisch textgetreue, sondern auch kreative Reproduktion möglich. Braune will zum Archetyp zurückfinden, doch beschreibt er, wenn er die Lesarten gegeneinander abwägt, hier genau die Situation, in der sich ein geübter Sänger/Schreiber bei der Realisation des Nibelungenlieds befand. Er wollte nicht einen bis in die kleinsten Einzelheiten auratisierten Dichtertext bloß wiederholen, sondern seine Professionalität, manchmal auch seine Kreativität in dessen Wiedergabe unter Beweis stellen.
Der Satz „Jede Variante variiert etwas, geht als ein Späteres aus einem Früheren hervor“ (Heinzle 2004, S. 24) gilt nicht, wenn Varianten gleichzeitig verfügbar sind und der Ausgangspunkt auch nur eine von vielen nebeneinander bestehenden Möglichkeiten ist.
3 Allgemeine Bedingungen von Varianz Um diese Thesen zu stützen sollen im Folgenden Typen und Funktionen von Varianz beschrieben werden. Ausgangspunkt der folgenden Typologie ist die ubiquitäre Varianz der Nibelungenüberlieferung, die ein Pendant in der Varianz der Nibelungenklage hat, von ihr sich allerdings durch die Festigkeit des tragenden Erzählgerüsts unterscheidet. In jedem Fall dokumentiert der Überlieferungsbefund, dass eine Handschrift offenbar den Zeitgenossen als getreue Wiedergabe einer Vorlage auch dann galt, wenn sie ihren Wortlaut veränderte, doch ihr im Kern entsprach. Im Folgenden sollen an ausgewählten Beispielen die Formulierungsvarianten der gesamten Überlieferung betrachtet werden. Die Untersuchung darf sich nicht auf die drei Haupthandschriften beschränken und auch nicht auf die (annähernd) vollständigen Handschriften. Gerade nämlich die Fragmente machen das Ausmaß an Varianz sichtbar und zeigen, dass diese Varianz auch vor enger verwandten Handschriftengruppen nicht Halt macht. Das Alter der Handschrift erlaubt nur begrenzt zuverlässige Aussagen. Die ältere Nibelungenphilologie hatte mit der Tatsache fertig zu werden, dass die am weitesten fortentwickelte Fassung des Nibelungenliedes in einem vermutlich älteren Textzeugen überliefert war als die not-Version in Hs. B, die den meisten Ausgaben des Nibelungenlieds zugrunde gelegt wurde. Inzwischen geht man von ihrer Entstehung im annähernd gleichen Zeitraum aus. Die bislang allein im Zentrum stehenden Hss. A, B und C sind nicht unbedingt die ältesten Textzeugen. Einzelne Fragmente sind ebenfalls sehr alt, vielleicht älter oder könnten auf älterer Überlieferung beruhen. Da wir nicht sicher wissen, welche Überlieferung den uns bekannten Handschriften vorausging und diese prägte, empfiehlt es sich, die Überlieferung versuchsweise einmal als Gesamtheit zu behandeln, wenn man das Spektrum der Varianz betrachtet. Wenn B nicht mehr als archetypnächste Handschrift besonderes Prestige hat, haben B-Lesarten nicht vor jeder Prüfung Gewicht. Es ist nicht ausgemacht, dass eine Lesart in *D gegenüber A und B jünger ist, denn sie könnte auf die sehr alte Hs. S, die nur in Fragmenten übeliefert ist, zurückgehen.Wenn man Hs. J und die verwandten Fragmente gewöhnlich etwas später ansetzt als die drei Haupthandschriften, dann könnten ihre Lesarten, zumal solche, die mit *C übereinstimmen, ebenfalls aus einem älteren Überlieferungsstadium stammen. In der jüngsten Handschrift d aus dem Ambraser Heldenbuch rechnet man, gestützt durch die Fragmente H und vor allem O, ohnehin mit einer alten Vorlage. Für die meisten der von der Forschung identifizierten Handschriftengruppen gibt es Textzeugen, die in die Frühzeit der Überlieferungsgeschichte zurückreichen. Deren Varianten bestehen nebeneinander; ihr Alter ist deshalb kein Grund, die eine der anderen vorzuziehen.
https://doi.org/10.1515/9783110983104-004
Bumkes Varianzbegriff
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Bumkes Varianzbegriff Am Text der Nibelungenklage hat Bumke das Ausmaß der Varianz dargestellt. Eine Übertragung der Bumkeschen Vorgehensweise – die Auflistung sämtlicher Varianten – auf die gesamte Nibelungenüberlieferung wäre ein monströses Unterfangen, das nur mit Hilfe elektronischer Datenverarbeitung zu bewältigen wäre. Die Auswertung in nachvollziehbaren Thesen über den Verlauf der Überlieferungsgeschichte bliebe dann noch zu leisten. Hier können daher nur exemplarisch bestimmte Typen von Varianz vorgestellt werden, die die Überlieferung des Nibelungenliedes bestimmen und für die Poetik des Textes charakteristisch sind. Für das Epos ist die Sachlage allein deshalb komplizierter als für die ‚Klage‘, weil es wesentlich mehr handschriftliche Zeugnisse gibt. Bumke dokumentiert die Varianz von insgesamt 3000 Versen in den Fassungen B und C der ‚Nibelungenklage‘ vollständig.¹ Das ist ein repräsentativer Textausschnitt. Der Vorteil der vollständigen Dokumentation von Varianten in diesem Abschnitt hat freilich den Nachteil, dass Art, Ursachen und Konsequenzen der Variantenbildung keine Rolle spielten. Für Bumke liegen alle Abweichungen auf einer Ebene, wie er in einer einleitenden Bemerkung schreibt: Der Begriff Variation steht hier für sämtliche Textunterschiede zwischen zwei (oder mehreren) Fassungen eines Epos; deswegen kann alles als Variation beschrieben werden. Das Beschreibungsmodell geht davon aus, daß für jede Variation angegeben werden kann, welche Form der Variation vorliegt und welchen Umfang die Variation hat. Das Modell soll gerade dazu dienen, die ganze Palette der verschiedenen Phänomene, die als epische Variation begegnen, sichtbar zu machen.²
Bewusst verzichtet er auf Differenzierung: Es wäre falsch, irgendwo einen Trennstrich zu ziehen und die Formen der Variation, die sich bei der Abschrift epischer Texte wie von selbst einzustellen scheinen, von den schwerer wiegenden Formen der Variation, die einen eigenen Formulierungswillen erkennen lassen, abzutrennen. […] Kennzeichen für Parallelfassungen ist vielmehr, daß der gesamte Text, vom einzelnen Buchstaben bis zur Großgestaltung, dem Prinzip der Variation ausgesetzt ist.³
Jede Abweichung, ob einzelner Buchstabe, einzelnes Morphem oder Lexem, Wortstellung, syntaktische Konstruktion oder Austausch ganzer Verse ist Element von Variation. Es kommt Bumke nicht darauf an, wie variiert wird, sondern dass. Nicht ein ursprünglich eindeutig intakter Text wird im Zuge der Reproduktion verändert, sondern es gibt diesen Text von Anfang an nur in verschiedener Form. Die Varianten, die Grundlage der Unterscheidung von vier Fassungen der Nibelungenklage sind, sind allerdings sehr verschiedenen Charakters und sind in sehr un-
Bumke 1996a, S. 397– 455. Bumke 1996a, S. 395 – 396. Bumke 1996a, S. 53.
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3 Allgemeine Bedingungen von Varianz
terschiedlichem Grad konstitutiv für Fassungen. Das wird an Bumkes nicht hinreichend differenziertem Begriff der Fassung zu diskutieren sein.⁴ Varianz auf der Satzebene, der Lexik, der Wortformen und dgl. und Varianz der transphrastischen Merkmale (unterschiedliche Auswahl, Anordnung und Konzeption des Textes) sind nicht Phänomene gleicher Ordnung, wenn sie natürlich auch miteinander zusammenhängen. In diesem Punkt unterscheiden sich Nibelungenlied und ‚Klage‘.⁵ Um der Vielfalt der Varianten des ersten Typs Herr zu werden, ordnet Bumke sie unter quantitativen Gesichtspunkten. Es sind im Wesentlichen formale Differenzen, die er unterscheidet: „Variation im Einzelvers“, „Variation im Verspaar“, „Variation in größeren Textgruppen“, dann – die Argumentationsebene wechselnd – „Morphologische und syntaktische Varianten“. Unter dem ersten Punkt verzeichnet er „Variation des Textbestands“, „Variation der Textfolge“, „Variation der Textformulierung“, „Variation der Textformulierung mit Variation des Textbestandes und/oder der Textfolge“, „Variation des ganzen Verses“. Es schließen sich „Variation in größeren Versgruppen“ und „Morphologische und syntaktische Variation“ an. „Variation des Textbestands“ ist gegliedert in „Ein Wort/Wortteil mehr/weniger“ und „Mehrere Wörter/Wortteile mehr/weniger“.⁶ „Variation der Textformulierung mit Variation des Textbestands und/ oder der Textfolge“ zerfällt in [Variation der Textformulierung] „Mit Variation des Textbestands“ bzw. „Mit Variation der Textfolge“ bzw. „Mit Variation des Textbestands und der Textfolge“.⁷ Bei „Ein Wort/Wortteil mehr/weniger“ gibt es „Negationspartikel“, „Präfix“, „Kompositionsteil“, „Pronomen“ (unter Einschluss hinzugefügter Artikel), „Konjunktion“ (unter Hinweis auf den Abschnitt syntaktische Varianten), verschiedene Wortarten.⁸ Bei der Auswertung der letzten tausend Verse tritt noch „Diminutivsuffix“ hinzu. Manchmal formuliert Bumke Zusatzbedingungen, unterscheidet Varianten „in derselben Versposition“, „mit verschiedenen Reimwörtern“, „mit denselben Reimwörtern“, mit und ohne „Veränderung des Umfangs der Versgruppen“.⁹
Es liegt auf der Hand, dass die Kategorien auf unterschiedlichen Ebenen liegen und sich teils überschneiden;¹⁰ auch die grammatischen Bezeichnungen sind nicht einheitlich. Ist der Austausch von Wörtern etwa keine Änderung der Textformulierung? Vollends aus der Ordnung heraus fallen die Beispiele für „(m)orphologische und syntaktische Variation“.¹¹ Bumkes Kategorisierung vermisst zwar die Ausdehnung der Varianz, fördert aber keine Erkenntnisse über ihre Anlässe zutage. Die Belegsammlung ist eindrucksvoll. Niemand wird künftig an der Varianz der ‚Klage‘-Überlieferung zweifeln, aber mehr als dass die Varianz chaotisierend wirkt, wird man der Aufzählung kaum entnehmen können. Bumke hält es zu recht für unmöglich, Varianten, die auf den „Formulierungs- und Gestaltungswillen“ des jeweiligen Schreibers zurückgehen, die evtl. einem „Bearbei-
S. 208 – 215. Im Nibelungenlied gibt es nicht die unterschiedliche Positionierung ganzer Textpartien. Bumke 1996a, S. 398 – 403. Bumke 1996a, S. 412– 418. Bumke 1996a, S. 398 – 403. Vgl. die Zusammenstellung Bumke 1996a, S. 431– 447. Das gesteht Bumke 1996a, S. 411 selbst ein. Bumke 1996a, S. 447– 455.
Bumkes Varianzbegriff
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tungswillen“ sich verdanken, von solchen zu unterscheiden, die einfach unterlaufen.¹² Das ist richtig. Dennoch muss man sehen, dass die einen wie die anderen nicht durchweg auf gleichen Voraussetzungen beruhen und nicht durchweg die gleichen Wirkungen erzielen. Wenn es unmöglich ist, sie trennscharf voneinander abzuheben, so müssen die Typen von Varianz in ihrer unterschiedlichen Tendenz doch beschrieben werden. Sie alle bewegen sich in einem Spielraum, der sich dem Schreiber des Nibelungenliedes bei der Wiedergabe des Textes öffnet. Sie haben ihre Ursache in dem Grad der Institutionalisierung volkssprachiger Schriftlichkeit im Allgemeinen, in den besonderen Bedingungen, unter denen der Schreiber arbeitet, in seinen Gewohnheiten und Präferenzen, aber auch in den Lizenzen der Gattung. Insofern ist es notwendig, zunächst einen Überblick über Art und Reichweite der Varianz im Nibelungenlied zu geben. Dazu muss ich an meine Aufsätze über die Typen der Varianz im Nibelungenlied anknüpfen und einige Ergebnisse wiederholen.¹³ Die in den Vorstufen dieses Buchs zusammengestellten Varianten sollen nicht nur aufgezählt und typisiert, sondern in ihrem unterschiedlichen Beitrag zur Überlieferung und Poetik des Nibelungenliedes gewürdigt werden. Das unterscheidet den Ansatz dieses Buches von meinen älteren Versuchen der Auswertung. Wenn bei der Beschreibung des ‚unfesten‘ Textes vieles scheinbar längst Bekanntes zur Sprache kommt, so halte ich doch den Versuch für lohnend, gewissermaßen die Regel der Regellosigkeit und die Festigkeit des Unfesten zu dokumentieren, anstatt sich mit der pauschalen Kennzeichnung ‚Varianz‘ zufrieden zu geben. Varianz ist nicht gleich Beliebigkeit. Im Folgenden sollen drei Typen von Varianten unterschieden werden, erstens solche Varianten, die ihre Ursache in der Orthographie und Morphologie haben oder auf sprachgeschichtlich oder dialektale Differenzen zurückgehen; sie werden in der Regel in der Textkritik wenig beachtet (außer natürlich, um die zeitliche und räumliche Verortung des Schreibers zu bestimmen), haben aber, wie zu zeigen, auch Auswirkungen auf die Bedeutung des Textes. Außerdem machen sie auf Usancen mittelalterlicher Abschreibprozesse aufmerksam. Zweitens geht es um Varianten, die sich den Formulierungsroutinen und dem Gestaltungswillen des jeweiligen Schreibers verdanken; sie räumen ihm eng definierte Lizenzen der Textveränderung ein, die den Sinn des Textes nicht oder nur unwesentlich tangieren. Ich versuche diesen Sachverhalt mit dem Begriff Ad-libitum-Varianten zu fassen. Den Begriff entlehne ich der Musikpraxis des 17. und 18. Jahrhunderts. Dem Spieler werden dabei auf der Grundlage eines festen metrischen und harmonischen Modells freie, aber keineswegs beliebige Gestaltungsmöglichkeiten eingeräumt. Die Ausgestaltung eines in seinen Grundstrukturen (Tonart, Harmonie, Bassfundament, Melodieführung, Metrum) festgelegten Musikstücks wird in bestimmten Parametern (Auszierung) dem Interpreten ad libitum überlassen. Ad libitum bedeutet nicht Beliebigkeit, sondern Varianz in einem wohldefinierten Rahmen. Georg Philipp Telemann hat
Bumke 1996a, S. 32 u. 53. Müller 2020 u. 2022a.
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3 Allgemeine Bedingungen von Varianz
in seinen ‚Methodischen Sonaten‘ für Flöte und Basso continuo Beispiele für eine regelgerechte Auszierung gegeben. Der Spieler kann sich an diesen Beispielen orientieren, aber auch andere Auszierungen an ihre Stelle setzen. Das vorgetragene Musikstück ist also Resultat der Erfindung des Komponisten und deren Adaptation durch den Ausführenden, der in eine bestimmte Musikpraxis eingeübt ist (oder heute: sie zu rekonstruieren sucht). Natürlich trägt der Vergleich nur begrenzt weit. Vergleichbar ist die feste Grundstruktur und die variante Ausführung. Diese dürfte sich überwiegend den Routinen der Ausführenden verdanken (also entgegen der Musikpraxis der Frühen Neuzeit kaum ‚methodisch‘ diszipliniert sein), also den alltagsweltlich verfügbaren Spielraum varianter Versprachlichung eines Sachverhalts nutzen. Die Ad-libitum-Varianten gehen jedoch über in Varianten, die einen Gestaltungswillen des Schreibers erkennen lassen. Bei diesen geht es nicht um neutralen Austausch von Worten/Wortformen, um Veränderung der Wortfolge und dgl., sondern um andere Perspektivierung, Akzentuierung und Nuancierung des Erzählten. Der darin sich äußernde Gestaltungswille ist besonders beim dritten Typus von Varianten gefordert. Es sind Varianten, die z.T. aus der Ausbesserung von tatsächlichen oder vermeintlichen Fehlern der Vorlage oder dem Missverstehen des Gehörten bzw. Gelesenen hervorgehen, dann auch solche, die im Rahmen der Gesamtaussage produktiv mit dem überlieferten Text umgehen und insofern zwar als sekundär gelten müssen, aber gleichfalls nicht als ‚Fehler‘ im Sinne der älteren Textkritik zu werten sind. Von dieser Varianz sind bearbeitende Eingriffe durch gezielte Änderungen der Aussage, durch Textergänzungen und Auslassungen zu unterscheiden, die gesondert beschrieben werden sollen: die Auslassungen in *A und *C, die punktuellen mit *C verwandten Zusätze in den sog. kontaminierten Handschriften d, J und h und den zugehörigen Fragmenten, die Bearbeitungstendenzen in der gesamten Gruppe der *JHandschriften und zuletzt die Bearbeitung *C. Im Gegensatz zu den Ad-libitum-Varianten betreffen sie nicht nur die Oberfläche des Textes, jedoch lassen sie gleichfalls das Textgerüst des Nibelungenliedes intakt. Der erste Typus von Varianz betrifft überwiegend die kollektiven Bedingungen volkssprachiger Schriftlichkeit um 1200. Der zweite Typus ist der poetologisch interessanteste, weil er den Gestaltungsspielraum bei einem Text wie dem Nibelungenlied dokumentiert, bei dem bestimmte Parameter ad libitum freigegeben werden. Der dritte zeigt, wie diese Lizenzen produktiv bei Textverderbnis eingesetzt werden können. In der geringen Standardisierung der Graphie und der Morphologie liegt eine erste Quelle für Varianz. Eine zweite ist der Umstand, dass die Sprache des Nibelungenliedes, das ‚Nibelungische‘, Formulierungsalternativen und in engem Rahmen auch Gestaltungsalternativen zulässt, ohne dass der Text damit postmoderner Beliebigkeit ausgesetzt wäre. Eine dritte untersucht den produktiven Umgang mit Fehler/Lücken der Überlieferung. Meine Beispiele sind vorwiegend aus der älteren Textüberlieferung übernommen, um zu demonstrieren, dass die Nibelungenüberlieferung von Anfang an variant ist. Doch wird die übrige Überlieferung einbezogen, denn die Lizenzen zur Varianz gelten für sie insgesamt, mindestens im 13. und zu Anfang des 14. Jahrhunderts. Die Lizenzen
Variantentypen und Fehler
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werden allmählich seltener genutzt. Vielleicht kann man mit Bumke¹⁴ von einer gewissen Stabilisierung der Textüberlieferung sprechen, die in the long run sinnmodifizierende Varianten ausschließt. Eine gewisse Ausnahme ist die Bearbeitung *C. Es kann zwar keine Rede davon sein, dass die *C-Fragmente „so gut wie wörtlich zu C bzw. a“ stimmen,¹⁵ aber sie weichen untereinander und von der Handschrift C in geringerem Maße ab. Das könnte daran liegen, dass die Bearbeitung *C deutlicher schriftsprachliche Kohärenz anstrebt, die Lizenzen mündlicher Adaptationen also sich geringer auswirken. Dennoch finden sich auch hier die üblichen Varianten. Für Fr. E und seine Varianten gegenüber C wurde das oben ausgeführt. Fr. Z ist in Schreibung und Morphologie der Hs. C relativ ähnlich, wenn auch nicht gleich. Es gibt alle üblichen Varianten: Füllwörter sind ausgetauscht, ebenso Quasi-Synonyma, Präpositionen, Präsens/Präteritum, Demonstrativ-/Personalpronomen und Singular/Plural, Umstellungen von Satzgliedern, kleine syntaktische Abweichungen. Die Negationspartikel ne-/en- kann fehlen. Diese Eigenarten hat *C mit den not-Handschriften gemein.¹⁶ Das spricht für eine Überlieferungsstränge übergreifende Varianz, die von Anfang an im Lizenzbereich der älteren handschriftlichen Überlieferung lag.
Variantentypen und Fehler Schwierigkeiten macht die trennscharfe Unterscheidung von Varianten und Fehlern. Ist das Fehlen eines Kasusmorphems, der Ausgleich von Nominativ und Akkusativ in der Flexion des Femininum Singulars oder von Dativ und Akkusativ im Deklinationsparadigma von Personalpronomina, ist die Nicht-Markierung von Kasus, unabhängig von ihrer syntaktischen Funktion, ein Fehler oder ein Usus der Handschrift? Wie steht es mit den Konjugationsregeln? Vor allem bei Formen der Präteritopräsentia? Ist ein fehlendes Satzglied in jedem Fall ein Fehler? Was ist das Kriterium dafür? Manifeste Fehler gibt es selbstverständlich auch, Wörter, die auf Grund ähnlicher Klanggestalt ‚verhört‘ werden oder auf Grund ähnlicher Buchstabengestalt verlesen,¹⁷ Lücken, evtl. durch einen Defekt in der Vorlage verursacht. Insofern hat das „Instrumentarium der klassischen Textkritik“¹⁸ nicht ausgedient. Solche Fehler sind nach wie vor mit den erprobten Mitteln für die Textkritik zu bearbeiten. Sie können Auskunft geben über Abhängigkeiten von Handschriften und über Zusammengehörigkeit von Handschriftengruppen. Die Zahl der hinzugekommenen Handschriften und die Überkreuzung von Verwandtschaftsverhältnissen, wie sie sich bei der Analyse der Fragmente abzeichnen wird, erfordert allerdings eine nochmalige Überprüfung dieser Abhängigkeiten. Dies kann im Folgenden nicht geleistet werden.
Bumke 1996a, S. 80 – 84. Heinzle 2003a, S. 198. Genau dargestellt bei Hennig 1972. Vgl. S. 140 – 142. Strohschneider 1999, S. 116.
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3 Allgemeine Bedingungen von Varianz
Die Ähnlichkeit oder Uneindeutigkeit der lautlichen oder graphischen Gestalt mag manchmal Ursache der Variantenbildung gewesen sein, zumal wenn die Abweichung sich im gleichen Bedeutungsspektrum bewegte. Fehler sind leichter bestimmbar, wenn dieser Kontext verlassen wird. Ein Beispiel: Der Priester, den Hagen töten will, um den Wahrheitsgehalt dessen, was die Wasserfeen ihm prophezeiten, zu überprüfen, kann sich aus dem Wasser der Donau retten, ohne schwimmen zu können. Wenn A 1520,1 erzählt, dass der Pfaffe sein Gewand suͦ chte statt dass er das Wasser ausschüttelte (schutte, B 1577,1), liegt ein Schreibfehler nahe, eine Verdrehung der Buchstabenfolge.¹⁹ Es gibt die Lesart von A in keiner der übrigen Handschriften, selbst nicht im der AFassung zugerechneten Fr. g. Sie gibt keinen Sinn und steht in Widerspruch zur Situation. Im Gegensatz zum Fehler sprengt Varianz nicht den Rahmen der Textaussage. Anders das folgende Beispiel: Der durchgängige Austausch von schade und schande, der seine Ursache in einem hinzugesetzten oder übersehenen Nasalstrich haben kann, bewegt sich im Spektrum der Textaussage und kann deshalb als Variante wahrgenommen werden. In einer Gesellschaft, in der ere einer der höchsten Werte ist, ist schande immer auch ein schade und ein schade kann auch in einer schande bestehen. Wenn durch ein Schreibversehen das eine durch das andere ersetzt wird, entsteht eine mögliche Variante. Es ist nicht einmal sicher, dass ein solches Schreibversehen (oder auch ein Hörfehler) die Ursache für den Austausch ist oder die semantische Nachbarschaft der beiden Wörter. Die Typen von Varianz, die in der Überlieferungsgeschichte des Nibelungenliedes zusammenwirken, sind in sehr unterschiedlichem Maße ins Belieben des Schreibers gestellt. Die Abgrenzung zwischen ‚iterierende Varianten‘, die sich mehr oder minder routinemäßig einstellen und ‚Präsumtivvarianten‘, die ein Minimum an semanischer Veränderung voraussetzen, ist schwer möglich. Die von mir sog. Ad-libitum-Varianten schließen beide Typen ein. Oft ist es eine Ermessensfrage, was eine iterierende, was eine Präsumtivvariante ist, zumal bei abweichendem Wortmaterial und abweichender Syntax. Ich fasse beide Typen deshalb zusammen und schlage eine andere Typisierung vor, die einerseits auf der Schreibung und der Morphologie beruht, mithin Varianten, die nicht oder nicht überwiegend ins Belieben des Kopisten gestellt sind. Sie unterscheiden sich von Varianten, die Lexeme, Wortklassen Wortverbindungen verändern, also eine andere Auswahl aus dem Repertoire des ‚Nibelungischen‘ voraussetzen. Sie können sowohl routinemäßig einstellen wie auf das Bemühen um eine Formulierungsalternative zurückgehen,²⁰ ohne dass zwischen ihnen entschieden werden könnte. Unter den letzteren lassen einige eine andere Gestaltungsintention erkennen; die Variante zielt in eine neue Bedeutungsdimension. Auch zwischen diesen Typen ist die Abgrenzung schwierig. Die Varianten bewegen sich in einem Spielraum, der von Differenzen der
Hinweis von Kristine Freienhagen-Baumgardt: das u ist statt hinter das h hinter das s geraten. Wie schon in Müller 2020, S. 361. – Nach Kofler (2021, S. 390) haben Präsumtivvarianten „in der Regel“ „eine höhere semantische Relevanz“.
Variantentypen und Fehler
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Schreibung über Lizenzen zu alternativen Formulierungen bis zu eigenständiger Gestaltung reicht. Die Varianten, die zuerst zu beschreiben sind, werden von der Textkritik im Allgemeinen kaum beachtet. Sie sind auf die relativ geringe Standardisierung der Grammatik der Volkssprache um 1200 im Bereich der Graphie und der Morphologie zurückzuführen.²¹ Es besteht ein Zusammenhang zwischen den beiden Phänomenen, der meist übersehen wird. Hinzukommt die Ungenauigkeit und Großzügigkeit mittelalterlicher Abschriften in der Wiedergabe ihrer Vorlagen in Bezug auf die exakte Bezeichnung der grammatischen Funktion. Ein abzuschreibender Text kann keinerlei Verbindlichkeit in Bezug auf seine orthographische Gestalt beanspruchen, und es besteht daher kein Interesse, sie genau zu kopieren. In geringerem Maße gilt das auch für die Morphologie und die Eindeutigkeit der grammatikalischen Struktur. Schon ein flüchtiger Blick auf die Überlieferung bestätigt die Vielfalt der alternativen Schreibungen und Formen. Die Orientierung an der jeweiligen Vorlage wird überlagert durch die Anpassung der Schreiber an den jeweiligen Schreibusus (z. B. ihres Skriptoriums), den Sprachgebrauch der Gruppe, der sie angehören, die Sprachentwicklung, die Sprachlandschaft usw. Aber diese Anpassung wird gestört durch alternativen Sprachgebrauch der Vorlage. Bei der Wiedergabe eines schriftlich vorliegenden Textes ist mit der Interferenz zweier oder mehrerer Usus zu rechnen. Bloße Differenzen im Schreibusus sind „textkritisch wertlos“, „texthistorisch unwesentlich“.²² Sie können zwar Auskunft geben über Herkunftsraum und Datierung zweier Handschriften, aber sie sind nicht für die Entstehungsgeschichte des Textes signifikant. Der Versuch, von der handschriftlichen Gestalt auf die der Vorlage zu schließen, ist nicht möglich. Er beweist ein neuzeitliches Textverständnis, denn damit wird die Auratisierung der Vorlage in ihrer schriftlich vorliegenden Gestalt vorausgesetzt. Natürlich wird jeder geschriebene Text unter den „vertauschbaren oder benachbarten Schreibungen, Lauten, Formen, Wortteilen, Wörtern, Phrasen“²³ immer schon eine bestimmte Auswahl getroffen haben, aber die ist nicht maßgeblich gegenüber Alternativen, die ein späterer Schreiber wählt. Um ‚Fehler‘ könnte es sich nur vor dem Hintergrund einer gültigen Sprachnorm und einem dieser Norm folgenden wohlgeformten Text handeln, wie er uns in neuzeitlicher Dichtung begegnet. Die Veränderungen eines abzuschreibenden Textes in der Graphie gehören zu den Eingriffen, die Schubert als „Überführungen“ bezeichnet hat:²⁴ Anpassungen an den dem Schreiber bekannten Usus. Das Gleiche gilt von Änderungen der Morphologie (z. B. in der Deklination von Eigennamen, von Pronomina, der Bildung des Adverbs, der Konjugation). Dabei ist zu bedenken, dass das Werk vorgetragen wurde. Die Schrift ist vornehmlich Stütze mündlicher Realisation bzw. die konservierende Aufzeichnung eines mündlich zu realisierenden Textes. Ihre variante Wiedergabe ist also daran zu messen,
Vgl. Haferland 2019b, S. 461. Schubert 2002, S. 128. Stackmann 1964/1997, S. 16. Schubert 2002, S. 131– 132.
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3 Allgemeine Bedingungen von Varianz
ob diese Wiedergabe geeignet ist, den Vortrag zu vertreten. Die Graphie ist der Lautgestalt untergeordnet. Es gibt noch keine eindeutig geregelte Zuordnung von Laut und Schriftzeichen, sodass die Wiedergabe eines Lauts mehrere Alternativen zulässt, die institutionellen Konventionen (z. B. einer Schreibstube) folgen, doch individuelle Abweichungen zulassen. Außerdem wird die Zuordnung nicht einmal bei einem einzelnen Schreiber, in einer einzelnen Handschrift konsequent gehandhabt. Aufzeichnungen eines für den mündlichen Vortrag bestimmten Textes sind deshalb eo ipso variant, ohne dass das den mündlichen Vortrag tangieren und in ihm auffallen muss. Wird ein Kasus‚fehler‘ im schriftlichen Text, den die Grammatiker verzeichnen würden (etwa das Fehlen der Unterscheidung zwischen diu und die im Nominativ und Akkusativ des Femininums oder die Verwechslung von in und im, u.U. wegen falscher Auflösung eines Nasalstrichs) im mündlichen Vortrag überhaupt als Fehler wahrgenommen? Oder wird die Form, wenn mündlich realisiert, spontan richtig verstanden? Ist beispielsweise der Unterschied zwischen des und daz überhaupt hörbar? Weil die Schrift den mündlichen Vortrag nicht abbildet, sondern ihm nur zur Stütze oder Konservierung dienen will, kann der Schrifttext auch nicht als fehlerhaft in Bezug auf die Metrik beurteilt werden.²⁵ Die schriftliche Aufzeichnung impliziert weder die genaue Übertragung von Schriftzeichen noch die vollständige und eindeutige Repräsentation der Laute. Bei der Rezitation besteht eine ungefähre Erwartung einer rekurrenten metrischen Struktur, die sich bei neu hinzutretenden Strophen ganz selbstverständlich durchsetzt. Auf die genaue Wiedergabe im schriftlichen Text kommt es nicht an. Deshalb scheint die schriftsprachliche Varianz in den verschiedenen Handschriften den mündlichen Vortrag nicht nachhaltig gestört zu haben. Von einem Fehler könnte man nur sprechen, wenn die Abbildung der lautlichen Struktur das Ziel war und Entsprechung von Schriftzeichen und Laut verbindlich geregelt war. Weil das nicht der Fall ist, kann die schriftliche Gestalt für den Schreiber nicht maßgeblich sein. Der im Schriftbild abweichende, kopierte Text muss ebenso wie seine Vorlage geeignet sein, den vorzutragenden Text angemessen zu realisieren. Er wird das auf möglichst ähnliche Weise wie der Ausgangstext tun. Er wird aber die Textgestalt nicht nur dort anpassen, wo der Ausgangtext einem anderen Schreibusus folgt, sondern auch, wo das Ziel, einen Vortragstext zu konservieren, durch eine Änderung ebenso gut (z. B. durch Vereinfachung der metrischen Struktur) erreichbar ist. Ist angesichts dieses Ziels die Nicht-Berücksichtigung der vorgeschriebenen Silbenzahl ein Fehler? Der Fehlerbegriff wäre angesichts des Ineinandergreifens von mündlicher und schriftlicher Realisation also noch einmal zu überprüfen.
Vgl. S. 310 – 311.
Auswahl der Varianten?
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Auswahl der Varianten? Differenzen der Graphie und Morphologie grenzt die traditionelle Textkritik von eindeutigen Fehlern ab wie Verschreibungen, Augensprung, Hörfehler, Auslassungen, Doppelschreibungen und dgl.,²⁶ die die Kohärenz des Sinns stören. Jene Differenzen werden in der älteren Textkritik im Allgemeinen nicht beachtet. Stackmann schlägt vor: Die iterierenden Varianten brauchen im kritischen Apparat nicht von Stelle zu Stelle angeführt zu werden. Es interessiert nicht der Einzelfall, sondern die Gesamtheit. Daher sollten sie mit der erforderlichen Genauigkeit an einem Ort dargestellt werden, wo es möglich ist, die Häufigkeit und die Verteilung der Typen über die Handschriften anzugeben, etwa im Rechenschaftsbericht des Herausgebers.²⁷
Hennig schließt sie bei ihrer textkritischen Untersuchung über *C ausdrücklich aus. Sie schreibt in ihrer Untersuchung über die Handschriftenverhältnisse der *C-Fassung in Bezug auf Hs. a „alle orthographischen, grammatischen und lexikalischen Abweichungen von mhd. Normen, die man in einer Hs. des 15. Jahrhunderts erwarten kann“, habe sie nicht berücksichtigt, und beim Überblick über die *C-Handschriften und -Fragmente, sie habe „leichtere orthographische und grammatische Abweichungen nicht aufgenommen“.²⁸ Hier sollen sie gleichwohl kursorisch wie andere Abweichungen vom ursprünglichen Text behandelt werden. Sie zeigen zum einen, dass an einer buchstabengenauen Übereinstimmung der Abschrift mit der Vorlage weniger Interesse besteht als an einer getreuen Wiedergabe des vorzutragenden, d. h. akustisch zu realisierenden Textes. Zum anderen können Varianten dieses Typs²⁹ inhaltlich relevantere Abweichungen nach sich ziehen. Manche Schriftzeichen lassen mehrere Deutungen zu. Die Veränderung der Graphie kann einen Wechsel oder eine Vereindeutigung des Modus bedeuten. Dadurch kann eine graphische Variante Ausgangspunkt einer inhaltlich differierenden Lesart sein. Oder der Wechsel oder die Uneindeutigkeit eines Morphems kann einen syntaktischen Umbau veranlassen. Insofern sind Graphie und Morphologie Teil jener umfassenden Variationspraxis, die die Nibelungenüberlieferung insgesamt kennzeichnet. Auch Stackmann hat daher graphemische und morphologische Varianten mit sonstigen iterierenden Varianten in eine Reihe gestellt:
Schubert 2002, S. 130 – 131. Stackmann 1964/1993, S. 17. Hennig 1972, S. 120 bzw. 124. Das Argument, dass ihre Zahl unüberschaubar und nicht zu bewältigen ist, sodass schon aus pragmatischen Gründen diese Selbstbeschränkung der älteren Philologie notwendig war, entfällt inzwischen. Dank EDV wären die Textmengen zu bewältigen. Eine Gesamdokumentation würde statistisch valide Aussagen über die differenten Schreibgewohnheiten erlauben Das ist eine Aufgabe zukünftiger Forschung. Hier aber kommt es nur auf den Übergang zwischen diesem Variantentypus und anderen Typen Varianten an.
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3 Allgemeine Bedingungen von Varianz
Die allermeisten Varianten sind nicht sogleich als fehlerhaft, d. h. nicht dem Archetypus gehörig, zu erkennen. Darunter wird sich gewöhnlich eine ganze Anzahl finden, die bei wechselnder Verteilung über die Handschriften ein Schwanken zwischen vertauschbaren oder benachbarten Schreibungen, Lauten, Formen,Wortteilen, Wörtern, Phrasen zeigen […]: da/do; sus/sust/so; maget/meit; dirre/diser; dicke/oft; vröude/liebe; liebe/minne; schade/schande usw. Auch Präpositionen und Präfixe können hier auftauchen, wenn es Überschneidungen zwischen ihren Anwendungsbereichen gibt.³⁰
Diese Varianten sind alle von zweifelsfreien Fehlern abzusetzen, die es natürlich auch gibt, wie z. B. ein entstellter Name, ein verwechseltes Nomen oder Verb, eine fehlerhafte Flexion, ein fehlgedeuterer Buchstabe, ein ausgefallenes Satzglied, eine Textlücke und dgl. mehr. Für die traditionelle Textkritik sind sie wie bisher Indizien. In Stackmanns Liste finden sich auch scheinbar beliebig eingefügte Füllwörter, Synonyma und in einem Fall auch Ähnlichkeiten der Schreibung, die zur Verwechslung lautlich naher, semantisch unterschiedener Begriffe führen. Mit vröude/liebe und liebe/ minne verzichtet Stackmann sogar auf ‚benachbarte‘ Schreibung oder Lautung, die durch ‚Nähe der Bedeutung‘ ersetzt werden. Das Variationsprinzip, das gleichwertige Texte produziert, greift also in verschiedene Bereiche aus. Schon in dieser Liste ist der Übergang zwischen ‚iterierenden‘ Varianten und ‚Präsumtivvarianten‘ fließend. In Stackmanns Reihe sind sie gemischt. Differenzen der Schreibung können semantische Verschiebungen zur Folge haben, morphologische Abweichungen oder Ambiguitäten die Richtung eines Satzes verändern, die austauschbaren Füllwörter weitere Änderungen nach sich ziehen, synonyme oder bedeutungsverwandte Wörter können füreinander eintreten, selbst zwischen klangverwandten, aber bedeutungsdifferenten ist Austausch möglich. Varianten, „die bei wechselnder Verteilung über die Handschriften ein Schwanken zwischen vertauschbaren oder benachbarten Schreibungen, Lauten, Formen, Wortteilen,Wörtern, Phrasen“ aufweisen,³¹ zeigen auf der einen Seite „eine zeitgenössische und lebende Überlieferung an“, spiegeln aber zugleich, wie die „Urheber unserer Handschriften […] mit ihren Vorlagen recht willkürlich in herzlicher Unbefangenheit gegen das überlieferte Wort“ verfahren.³² Diese ‚Unbefangenheit‘ erklärt die Unübersichtlichkeit der Überlieferung, die sich nicht genealogisch ordnen lässt. Etwas anderes ist die Berücksichtigung solcher Varianten in Textausgaben (nicht nur Leseausgaben mit geringerem textkrtischen Anspruch). Sie ist ohnehin eine Sache des Augenmaßes, wobei keine abstrakte Regel für die Abgrenzung zwischen den einzelnen Variantentypen angegeben werden kann. Hier sollte pragmatisch entschieden werden, über die Normalisierung und ihren Umfang wäre allerdings präzise zu informieren. Massiv hat Kofler dafür geworben, auch die iterierenden Varianten in überlieferungsgeschichtlichen Untersuchungen vollständig zu verzeichnen. Für die Erhebung des
Stackmann 1964/1993, S. 16. Ebd.; Heinzle 2008, S. 323 nennt sie „analoge“ Varianten. Stackmann 1964/1993, S. 17; 11.
Auswahl der Varianten?
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Materials ist dem unbedingt zuzustimmen. Selbstverständlich dürfen Lesarten nicht unterdrückt werden, auch wenn sich nach meinen Ergebnissen Zweifel erheben, ob sie eine „genetisch zusammengehörigen Gruppe“ begründen können,³³ denn Übereinstimmungen gehen teils „über Redaktionsgrenzen hinweg“, während Differenzen zwischen Handschriften bestehen, die derselben Redaktion zugewiesen werden.³⁴ Graphische Varianten können ebenso über Usancen des Schreibers / der Schreibstube Auskunft geben wie die Schreibgewohnheiten in einem (oder mehreren) Vorlagentexten reproduzieren. Nachweise im Einzelnen sind kaum zu führen. Für die Zusammengehörigkeit von Handschriftengruppen haben diese aber geringere Relevanz. Kofler hat minutiös 2014 die Varianz von *A anhand von Hs. A und den Fragmenten L und g untersucht. Sein Untersuchungsgegenstand ist nicht eine Handschrift, sondern eine Handschriftengruppe, *A. Er stellt, nach allgemeinen Bemerkungen zum Stellenwert von *A, dem Layout der *A-Handschriften und dem Strophenbestand zunächst „gemeinsame Lesarten von A und Lg“ gegen Hs. B zusammen,³⁵ die von der Schreibung, Einfügen von Füllwörtern und kleinen Wortumstellungen bis zu Varianten der Lexik und Syntax, ja selbst Schreibfehlern gehen. Er vergleicht den Befund jeweils mit den übrigen Handschriften. Es gibt auf beiden Seiten Übereinstimmungen u. a. mit D, J und b. Er rechnet mit der Möglichkeit, dass vor allem Übereinstimmungen der Fragmente mit d gegen B „näher am Grundtext“ sind als B.³⁶ Es folgen Abweichungen zwischen A und Lg, die in 24 Fällen ‚exklusiv‘, d. h. ohne Stütze durch andere Handschriften sind, in anderen aber von einer, zwei oder drei anderen not-Handschriften unterstützt werden. Dann werden gesondert die Übereinstimmungen von nur A bzw. nur Lg mit B dargestellt, wobei unterschieden wird, wo die nicht übereinstimmende Handschrift isoliert ist und wo sie mit einer, zwei oder drei der übrigen not-Handschriften zusammengeht. Eine solche rein statistische Zusammenstellung der Änderungen führt zu zwar differenzierten, aber uneindeutigen Ergebnissen. Die Zuweisung einer Handschrift zu einer Textgruppe kann immer nur mit prozentualen Wahrscheinlichkeiten begründet werden.³⁷ Die graphemischen und morphologischen Abweichungen haben andere Vorausssetzungen als die sonstigen Varianten, nämlich in institutionellen Bedingungen, unter denen der Schreiber arbeitet, in denen interne (Vorlage!) und externe Faktoren (individeller und kollektiver Schreibusus usw.) zusamenwirken. Sie mit anderen Varianten zusammenzubringen, setzt Absicht und Möglichkeiten einer buchstabengetreuen Kopie voraus, die in der volkssprachigen Reproduktionspraxis des 12./13. Jahrhunderts nur ausnahmsweise gegeben sind.
Kofler 2021, S. 412– 413; vgl. zur Auseinandersetzung mit Stackmann und mir S. 391. Ich hatte aber nicht für ihre Aussonderung plädiert, sondern nur ihre textgenealogische Relevanz bezweifelt. Kofler 2021, S. 405. Kofler 2014, S. 369 – 370. Kofler 2014, S. 370. Kofler 2014, S. 371– 383; vgl. das Kapitel Fassungen S. 224– 238.
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3 Allgemeine Bedingungen von Varianz
Ein ähnliches Verfahren hat Kofler 2021 für andere Textstellen wiederholt. Der Befund ist entsprechend. Die Zahlen der Übereinstimmung werden miteinander verglichen, wobei sich zwar unterschiedlich gewichtige Übereinstimmungen und Differenzen abzeichnen, nie aber ein völlig eindeutiges Ergebnis. Er stellt fest: Für die Feststellung der Redaktionsverhältnisse ist zunächst ein lückenloser Vergleich aller Lesarten unerlässlich, wobei man allerdings zwischen Varianten und eindeutigen Fehlern unterscheiden sollte. […] Eine Trennung der Varianten in relevante und iterierende ist meiner Meinung nach nicht zielführend, weil es bei der Feststellung genetischer Beziehungen auf kleinste Details ankommt.³⁸
Richtig ist, angeblich „relevante“ Varianten nicht von „iterierende[n]“ isolieren zu wollen, aber die Zusammenstellungen graphischer und selbst kleiner morphologischer Varianten können im Allgemeinen „genetische[] Beziehungen“ nicht aufdecken, weil andere Faktoren, die direkt mit dem konkreten Abschreibprozess nichts zu tun haben, diesem aber vorgeordnet sind, ausgeblendet werden. Das Ergebnis ist verwirrend und unübersichtlich – im Falle von *A: mehrere Gruppen von bis zu 297 Varianten –; wohl trifft zu, dass damit „viele Setzungen ins Wanken geraten“, aber neue Strukturen sind nicht erkennbar. Die Interpretation des Befundes nach dem alten Überlieferungsmodell setzt voraus, was sie beweisen will. Kofler glaubt: „Wo A-Lg zusammenstehen, ist die ursprüngliche *A-Lesart gesichert“.³⁹ Aber gab es die überhaupt? Lg und A basieren auf einer „gemeinsamen Vorlage“.⁴⁰ Wie verhält sich diese zu den übrigen not-Handschriften? Handschrift A kann nicht für Redaktion *A stehen, da mit Lg zwei weitere Textzeugen vorliegen, die mehr Übereinstimmungen mit anderen not-Handschriften haben als A.⁴¹ Kofler spricht von einer „Unzuverlässigkeit der Leithandschrift“. Aber wieso rückt A überhaupt auf den Platz einer Leithandschrift? Kofler bemerkt selbst einschränkend: „Es scheint, als habe *A noch nicht den rechten Platz in der Nibelungenforschung gefunden“.⁴² Die vollständige Auflistung solcher Abweichungen und Übereinstimmungen führt in die Aporie. Die Einbeziehung der restlichen Überlieferung zeigt, dass Abhängigkeiten, wenn es denn welche sind, kreuz und quer durch die Handschriftenfamilien gehen. Der Titel einer anderen Untersuchung Koflers⁴³ beschreibt die Überlieferung zutreffender. Er spricht von „Töchtern – Schwestern – Basen“, um das Verhältnis der Handschriften untereinander zu bestimmen. Hier geht es nicht um die Abkunft, sondern um die durch Abkunft gestifteten Verwandtschaftsbeziehungen. Am Beispiel des Verhältnisses des Fr. O zu der Fassung des Ambraser Heldenbuchs (d) diskutiert Kofler die konträren Posi-
Kofler 2021, S. 413. Kofler 2014, S. 383. Kofler 2014, S. 383. Kofler 2014, S. 384. Kofler 2014, S. 385. Kofler 2013.
Graphie und Morphologie
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tionen: Handelt es sich um direkte Abhängigkeit oder bloß um Verwandtschaft. Hierzu führt er „exklusive Übereinstimmungen“ auf und dagegen „neben sprachentwicklungsbedingten Neuerungen und glatten Versehen auch eine Reihe von Abweichungen, die nicht ohne Weiteres auf O zurückzuführen sind“,⁴⁴ wohl aber mit anderen Handschriften übereinstimmen. Die Abweichungen, wieder zusammengefasst in langen Listen, lassen ein Geflecht an Verwandtschaften erkennen, das genealogisch nicht auflösbar ist. Dasselbe weist Kofler im Verhältnis der Frr. Q und W zur Hs. J⁴⁵ und der Frr. K und Y ebenfalls zu J nach; „vorherrschend sind wechselnde Allianzen“, sowohl zwischen den Handschriften der *J-Gruppe wie auch mit A und B und anderen Handschriften der *BGruppe.⁴⁶ Um das vorherrschende genealogische Modell zu retten, müsste es „weitere Handschriften“ gegeben haben,⁴⁷ eine Spekulation, auf die Kofler sich nicht einlässt. Seine Ergebnisse legen nahe, das Modell zu wechseln. Die vollständige Aufnahme sämtlicher Varianten ist zwar gerechtfertigt, um die Reichweite der durchgängigen Varianz zu dokumentieren, vor allem aber, weil zwischen den verschiedenen Typen von Varianten zahlreiche Übergänge bestehen. Die Vollständigkeit ist deshalb nicht Selbstzweck, sondern erlaubt, das ganze Spektrum von Varianz darzustellen. Gerade die im Sinne der älteren Textkritik belanglosen Varianten beweisen, mit welcher Selbstverständlichkeit in den Text eingegriffen wurde, und ihr Übergang zu anderen Eingriffen belegen, dass einige von denen, die das Nibelungenlied schriftlich oder mündlich adaptierten, es auf allen Ebenen der Textgestaltung dem eigenen Sprachgebrauch anpassten.
Graphie und Morphologie Es ist hier nicht die Absicht, Graphie und Morphologie der einzelnen Überlieferungsträger in ihren eigenen Bedingungsverhältnissen (Sprachlandschaft, sprachgeschichtliche Entwicklung, regionale Schreibtraditionen, Gebrauch bestimmter Skriptorien usw. usw.) zu untersuchen, sondern die schlichte Tatsache ihrer Varianz darzustellen. Wenn Schreibung und Morphologie in den Hss. A, B und C relativ eng beieinander liegen, so könnte das vielleicht Entstehung im gleichen oder einem ähnlichen Kontext anzeigen, doch nicht das interessiert hier, sondern dass die Überlieferungsträger insgesamt bedenkenlos Graphie und Morphologie variieren. Sie beweisen damit, dass es sich für die Textidentität bei diesem Typus von Differenz um vernachlässigungswerte Größen handelt. Die Übereinstimmung/Abweichung der Handschriften ist durchgängig sehr selektiv. Sprachgeschichtliche Entwicklungen wie z. B. die Diphthongierung werden in einem Vers berücksichtigt, im nächsten nicht. Es ist nicht einmal sicher, dass Schreibung und
Kofler 2013, S. 22– 23 Kofler 2013, S. 25 – 26. Kofler 2013, S. 27– 29; Zitat S. 28. Kofler 2013, S. 29.
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3 Allgemeine Bedingungen von Varianz
Morphologie in jüngeren Handschriften nicht auf älteren Vorlagen beruhen, und selbst dann zeigte das nur, dass Graphie und Morphologie eines Textes nur von Fall zu Fall als verbindliche Vorgabe bei der Wiedergabe angesehen wurden. Offenbar hat der Schreiber kein Interesse, das Dichterwort in allen Einzelheiten getreu wiederzugeben. Die tatsächliche Behandlung des Textes beim Abschreiben lässt eher vermuten, dass es dem Schreiber auf dergleichen Details nicht ankommt. Der jeweilige Schreibusus und die jeweilige Morphologie folgen wechselnden Modellen, können ebenso von einer schriftlichen Vorlage abhängig sein wie sich von ihr emanzipieren, und sie scheinen mal das eine, mal das andere zu tun. Deshalb ist in einer Handschrift nicht Konsequenz zu erwarten, weder was dialektale Eigentümlichkeiten betrifft noch was einen bestimmten historischen Sprachstand oder die graphische Wiedergabe eines bestimmten Lautes angeht. Jeder neue Schreiber scheint sich frei zu fühlen, mit kleinen Änderungen einzugreifen. Der Schreiber übersetzt, was er liest, von Fall zu Fall mental in sein eigenes grammatisches System. Er memoriert, was er vor sich sieht und überträgt das Memorierte aufs Pergament. Es hat den Anschein, als ob es ihm auf Abweichungen vom Gelesenen nicht ankommt, und zwar abnehmend von der graphischen Ebene bis zu einem Austausch der Lexik bei Synonymen oder Fast-Synonymen und Veränderungen der Syntax, vorausgesetzt, die Verständlichkeit ist nicht gefährdet. Es gibt zahlreiche Lizenzen der Graphie, angefangen von der Wiedergabe des einzelnen Lautes, über diakritische Zeichen, die Wiedergabe von Diphthongen bis zur Bezeichnung der Flexion. Aus diesem Grunde lässt sich die Varianz der Schreibung von der Varianz der Morphologie nicht trennscharf abgrenzen. Zwischen graphemischen und phonetischen Varianten, den Schreibungen einzelner Laute, konnte ohne Schwierigkeit gewechselt werden. Dabei konnte jeder der Schreiber seinem (oder seiner Schule) besonderen Schreibusus folgen oder sich von einem anderen beeinflussen lassen. Das lässt sich selbst dort beobachten, wo nachweislich eine Handschrift die unselbständige Abschrift einer anderen Handschrift war wie bei Hs. h in Verhältnis zu Hs. J. Im Folgenden zähle ich einige besonders häufige Varianten der Graphie auf, die quer durch die Nibelungenüberlieferung gehen. Die Varianz ist hier so groß, dass unmöglich alle Fälle aufgeführt werden können und ich mich bei den Einzelnachweisen auf wenige typische oder herausragende Fälle beschränke. Zwar lässt sich ein graphemisches Profil einzelner Handschriften erstellen, das jedoch immer nur näherungsweise gilt. Stets ist mit schwankendem Gebrauch und Übernahmen aus einer anderen Handschrift zu rechnen. Auch wo der graphemische und morphologische Gebrauch einer Vorlage übernommen werden soll, wie dies z. B. in Fr. g, einer Abschrift aus Fr. L aus dem 15. Jahrhundert, offenbar beabsichtigt ist, sind Inkonsequenzen häufig, die den Widerstand des eigenen Schreibusus gegen den fremden bezeugen. Die Varianz betrifft die Wiedergabe einzelner Laute (c/ch/k; f/v; s/sz/z), die Schreibung von Vokalen und Konsonanten (i/j; u/v), die – dialektal beeinflusste – Wiedergabe von Spiranten und Affrikaten, Tenues und Media; die schwachtonigen Nebensilbenvokale (meist e/i, gelegentlich -o). Sie betrifft Doppelkonsonanz, die Wiedergabe von Diphthongen oder auch einzelne Vokale wie i/e oder o/u.
Graphie und Morphologie
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Einen Sonderfall stellen Veränderungen auf Grund sprachgeschichtlicher Entwicklung (wie eben die Diphthongierung) dar, die offenbar problemlos umgesetzt werden. Konsequenz ist jedoch auch hierbei nicht zu erwarten. Manchmal bleiben die älteren Formen stehen. Auch geht die Diphthongierung unterschiedlich weit, am weitesten beim langen i-Laut. Das Gleiche gilt für diastratische Differenzen (z. B. Vermehrung oder Beseitigung obd. Merkmale). In manchen Fällen lassen sich daraus präzise dialektgeographische Schlüsse ziehen (wie in den fränkischen Hss. L und g), oft aber ist der Befund zu diffus, weshalb man sich mit ungenauen Angaben wie ‚bairisch‘ begnügen muss. Die Schreibung und der Formenbestand einiger Wörter ist besonders variabel (zweisilbig/dreisilbig; Bezeichnung des Murmellauts; Palatalisierung des Gutturals); es alternieren maniger, maneger, manger, manich, manicher usw. in verschiedenen syntaktischen Positionen. Das Gleiche gilt für einzelne Substantive (vro, vrou, vrowe, vrouwe oder Formen mit f ). Manche Wortformen alternieren, wie z. B. deste mit dester. Es ist einsilbige und zweisilbige Schreibung von Wörtern wie kunic möglich (kunic/ kunc); die Flexionsendungen variieren (B 1420,3 edeln kuͤ negen oder A 1363,3 edelen kunigen). Manche Fälle scheinen metrisch begründet, viele aber nicht; an der zitierten Stelle ist die Variante metrisch irrelevant. Das bedeutet, dass die Entscheidung für die eine oder andere Schreibung anderen als metrischen Gründen folgte. Auf die metrische Relevanz zwei- oder dreisilbiger Formen wird durchweg nicht geachtet. Von den Parametern des Textes ist die Graphie am ehesten vernachlässigenswert; unterschiedliche Graphie ändert nur oberflächlich die Textgestalt. Das gilt schon weniger für die Morphologie. Die Schreibung hat Einfluss auf die Morphologie, und die Schreibung kann, muss aber nicht morphologische Ursachen haben. Im Einzelfall ist zu prüfen, wann eine Schreibvariante, wann eine morphologische Variante vorliegt. Die Abgrenzung ist schwierig, in vielen Fällen unmöglich. Mir kommt es hier ebenfalls nur auf den Typus der Austauschbarkeit an, der durch zahllose Einzelnachweise zu belegen wäre. Im Ganzen ist, besonders zwischen den Haupthandschriften, die Morphologie wesentlich konsistenter als die Graphie. Im Blick auf das Ganze der Überlieferung fällt jedoch die große Sorglosigkeit auf. Morphologische Abweichungen verändern die Textgestalt schon nachhaltiger als graphische. Aber auch die Grenze zu semantisch relevanten Varianten ist fließend. Neben gleichwertigen Möglichkeiten der Kasus-, Numerus-, Tempus- oder Modusbildung und anderen Formen der Bezeichnung des grammatischen Status stehen grammatisch ambige Formen oder auch unscheinbare grammatische Verschiebungen. Am ehesten in Häufigkeit mit Varianten der Schreibung vergleichbar ist der variable Formbestand der Präteritopräsentien, besonders ihre Flexion in Präsens und Präteritum (z. B.mac/mag/mach; muse/muͦ se/muste; chonde/chunde; wesse/weste usw.). Die Paradigmen der Präteritopräsentien werden dem je eigenen Usus folgend wiedergegeben. Das betrifft insbesondere auch die Kennzeichnung des Präsens oder Präteritums. Das Gleiche gilt für das Verb wollen/wellen.
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3 Allgemeine Bedingungen von Varianz
Die Varianz in der Formbildung kann auf die Wortbildung übergreifen. Die Grundformen der Verben variieren, z. B. ob das Verb mit Präfixen wie er-, be- oder gegebildet wird.⁴⁸ Verben mit Präfixen und solche ohne stehen ohne erkennbare Ordnung auch in einer einzigen Handschrift nebeneinander.⁴⁹ Ebenso alternieren die Grundformen von Adjektiven und Substantiven (z. B. zwischen groz und grozlich, meinlichen und meinechlichen usw.).⁵⁰ Auch das Paradigma der Verben kann variieren.Vom Verb komen gibt es Formen mit k-, c-, ch- oder qu-; der Stammvokal kann o, u oder e sein. Die Verben gen/sten stehen neben gan/stan. Von ihnen gibt es Formen mit und ohne erweiterten Stamm (gie/giengen), wobei die Handschriften durchaus inkonsequent verfahren.⁵¹ Ebenso vielfältig ist der Formenbestand bei haben/han/hete/habete. Es sind wenige, zufällig herausgehobene Beispiele. Erst eine digitale Erfassung würde das Ausmaß von Varianz in diesem Punkte sichtbar machen, vor allem aber ihre scheinbar aleatorische Verteilung auf die Handschriften und Handschriftengruppen, die lineare Abhängigkeiten unwahrscheinlich macht. Variant ist auch der Umgang mit Kontraktionen. Die Kontraktion über Media ist teils durchgeführt, teils nicht (geklagit/geklait).⁵² Variabel ist die Kontraktion von Satzgliedern überhaupt, etwa zwischen Präposition und Artikel (zer/zu der usw.), wobei manchmal die volltonige, manchmal die schwachtonige Form der Präposition zugrunde gelegt wird.⁵³ Präpositionen erscheinen manchmal ohne Hinzutreten des Artikels und manchmal mit (ggfs. mit Kontraktion von Präposition und Artikel).⁵⁴ Das Negationsadverb kann die Form nit/niht oder nicht haben. Die Ergänzung von zusätzlichen Negationspartikeln durch das enklitische -n(e)-/-(e)n ist fakultativ. Schon die Haupthandschriften weichen da voneinander ab; es lassen sich allenfalls Tendenzen
Solche Varianten finden sich fast in jeder Handschrift bis in die jüngeren hinein. Ein Beispiel: Hs. A 1230,2 und B 1287,2 unterscheiden sich durch die Wahl des Verbs: gefuor vs. fuere. Der Wortbildung mit Präfix (ge‐) in Hs. A folgen Dbg, während die übrige Überlieferung wie B kein Präfix hat. Die Präfixe sind unfest: A 1399,4 wie getorsten wir geriten gegen B 1456,4 (~ l) wie getorste wir riten gegen J 1456,4 wie toͤ rsten wir geriten (~ bN). Statt B 2326,4 eine bestan (~ A [æine] ~ CD) hat JhK ane gestan; b ane stan. B 1210,2 (~ C) gegen A 1153,2 (~ D). A 1166,1 gie (wie C) gegen B 1223,1 giench; in derselben Strophe ist die Verteilung von Kurz- und Langform zwischen den Handschriften entgegengesetzt: A 1166,2 (wie J), enpfiench, B 1223,2 enpfie (wie C). Vgl. A 1150,3 getreit gegen B 1207,3 getragt, C 1243,1 getraget; A 1899,2 dem meitzogen gegen B 1959,2 dem magtzogen gegen C 2015,2 magetzogen; oder zwischen ‚Referenzhandschrift‘ und Fragment: A 1514,3 seiten gegen Lg 1514/1571 sag(e)ten. A 1143, 2 zuo gegen B 1200,2 ce; B 1289,1 cer swester gegen DabdVg zu der swester; J 1289,1 zer; h 1289,1 ze; BJ 1419,1 zu dem gegen Q 1419,1 zem; B 1473,4 zen; D 1473,4 zen; b 1473,4 zuͦ den; J 1473,4 zen K 1473,4 zeden. B 1417,4 ze grimmem tode gegen A 1360,4 zem grimmen tode (~ C) gegen zu dem Db 1417,4 (~ a) gegen K 1417,4 ze dem. C 1448,4 zem grimmem tode führt die durch Aufnahme des Artikels notwendige Änderung der Adjektivendung nicht durch.
Graphie und Morphologie
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ausmachen; die Handschriften sind in sich nicht konsequent und schließen sich zu unterschiedlichen Gruppen zusammen.⁵⁵ Das Adverb erscheint manchmal mit Endung ‐en (z. B. A 1233,2), manchmal mit -e (z. B. B 1290,2), manchmal endungslos (z. B. J 1473,3), ohne dass man einen Grund angeben könnte oder die einzelnen Handschriften konsequent in der Bevorzugung einer bestimmten Bildungsweise wären. Auch kann das Adverb durch eine andere syntaktische Konstruktion ersetzt werden, an der angegebenen Stelle in den Hss. DJabhV etwa durch attributives minnichlichez (D 1290,2). Die Flexion der Nomina, Artikel und Pronomina variiert. Der Vokativ kann z. B. edel knehte (A 1867,2), in B 1927,2 dagegen edeln chnehte (so auch C) heißen; aber im nächsten Vers wird dieselbe Personengruppe in A mit ellenden angeredet; der Vokativ ist also auch hier wie in B und C mit Endung gebildet. Häufig fehlen die Flexionsendungen. Es wechseln volle Flexionsendungen und Kurzformen.⁵⁶ Die Kasusmerkmale sind nachlässig behandelt. Es gibt endungslose Formen, Formen mit eindeutigen Kasusmerkmalen und Formen mit uneindeutigen Kasus- und Numerusmerkmalen. Das betrifft auch Fälle, wo die Flexionsendungen der mhd. Grammatik entsprechend distinktiv sind. Kasusdifferenzen können abgeschliffen werden. Es gibt Handschriften, die relativ sorgfältig auf die grammatisch korrekte – im Sinne der Paulschen Grammatik – Schreibung achten und solche, die darauf keinen Wert zu legen scheinen. Es gibt konkurrierende Bildungen der obliquen Kasus. Es gibt explizit falsche Kasusendungen,⁵⁷ den Verzicht auf eine eindeutige Endung, vor allem aber Kurzformen, die eine Entscheidung nach Kasus, Numerus oder Genus unmöglich machen. So ist in Schreibungen wie si/-s oder di z. B. die Opposition -ie und -iu, also etwa zwischen Nominativ und Akkusativ Singular Femininum oder diejenige zwischen Maskulinum/Femininum und Neutrum im Nominativ/Akkusativ Plural entmarkiert: graphemische Varianz oder Ausgleichstendenz? In der Schreibung der Handschrift kann nicht mehr korrekt zwischen der Endung -iu und -ie unterschieden werden: si ist die swester min (A 1144,3) gegen diu swester (B 1201,3). Fr. Z verwechselt sogar die Kasus: Z 2326,4 hat (Nominativ Femininum) die rede duhte […] (gegen C diu rede), aber Z 2307,3 (Akkusativ Femininum) tuͦ n diu widervart (gegen C die widervart). Durch die Bezeichnung der Endung kann deshalb ein Wechsel des Kasus angedeutet werden, aber
Willkürlich herausgegriffen: A 1364,2, B 1421,2 en- fehlt CDJabdKl; A 1365,1, B 1422,1, C 1453,1 –ne, fehlt JbKl; C 1457,2 en- fehlt A 1369,2, B 1426,2; C 1457,3, A 1369,3 (~ DabKl) en- fehlt B 1426,3 (~ JQ); -n hat nur K 1430,2 gegen die ganze restliche Überlieferung usw. A 1046 hat in der cit, B 1103,2 in der cite; A 1047,2 ce friunt, B 1104,2 ce friunde. Gunther sagt, Siegfried, Siegmund und Kriemhild seien ihm willkommen und al den friunden min (A 732,3; so die restliche Überlieferung), B 786,3 hat di vriunde min. An einer anderen Stelle ist in B 1418,4 von guter wæte die Rede; A 1361,4 hat von guͦ ten wæte – zweifellos ein grammatischer Fehler, den die Ausgaben korrigieren, aber auf dgl. achten die Kopisten oft nicht. B 977,1 fehlt die Genitivendung Do engalt er sine zuͤ hte gegen die ganze restliche Überlieferung inkl. C), wohl nicht eine andere Rektion des Verbs engelten, sondern ein vergessener Buchstabe.
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3 Allgemeine Bedingungen von Varianz
manchmal geschieht das auch nicht. Etzel wirft Kriemhilds Verwandten vor, dass sie sine lant (A 1389,4) bzw. siniu lant (B 1446,1) meiden.⁵⁸ In den Handschriften stehen Formen wie si, siu, sie oder bloßes s und Formen wie di, die, diu nebeneinander und können füreinander eintreten; si kann Nominativ und Akkusativ Plural sein; in A 1372,3 ist si Objekt, einen Vers später A 1372,4 / B 1429,4 Subjekt. Der Nominativ Singular diu gir (A 1494,2) wird in D 1551,1 mit die gir wiedergegeben, in b mit Diphthongierung des -iu: dew. ⁵⁹ (Scheinbar) unflektierte Formen wechseln mit flektierten Formen, schwache Flexion wechselt mit starker. Die Opposition zwischen dem Akkusativ und Dativ des Personalpronomen 2. Pers. Pl. wird in A nicht beachtet (beide Male iu), in B wohl (z. B. B 1202,3; 1453,3 gegen A 1145,3 bzw. 1396,3); aber sie ist auch in anderen Handschriften abgeschliffen.⁶⁰ Gerade bei Pronomina treten gerne Ungenauigkeiten auf, so etwa die Verwechslung von Personalpronomen ir/im/in und dgl. Ein Beispiel: Kriemhild erinnert daran, dass Hagen von ihr erfahren hat, wie man Siegfried (in) töten kann (B 1108,2), doch A 1051,2 hat das verderbt zu (ir), Kriemhild. Das lässt sich auf andere Pronomina ausdehnen: Gernot und Giselher bedauern Siegmunds Verlust, doch während C 1107,3 richtig sagt in was sin schade leit, haben A 1056,3 und B 1093,3 im was sin schade leit, was auf Siegmund zu beziehen wäre. Manchmal ist die Abgrenzung zwischen Fehler und Variante nicht möglich: Kriemhild wünscht Giselher zu sehen durch die grozen triwe sin (B 1415,4; ähnlich C); A 1358,4 hat durch die grozen triwe min; in der Tat besteht eine engere triweBindung Kriemhilds zu Giselher, die Grund ist, dass sie ihn besonders vermisst und sehen will. Hier hat der Austausch der Pronomina semantische Funktion; beide Formulierungen sind möglich, wenn auch eher Giselhers triuwe Anlass für Kriemhilds Wunsch sein dürfte, dieser Wunsch nicht ihre eigene triuwe bestätigt. In anderen Fällen sind beide Möglichkeiten gleichwertig: Wenn Rüdiger bei Kriemhild ist, stehen dann die beiden Markgrafen vor ir (A 1167,2; B 1224,2: sie gehören zu ihrem Gefolge) oder vor in (C 1251,2), vor den Anwesenden. Gerade solche Unsicherheiten belegen, dass die Schreiber diesem Bereich nicht allzu viel Aufmerksamkeit schenkten. Starke Unterschiede treten insbesondere auch in der Flexion von Eigennamen auf; der Akkusativ z. B. wird einmal auf -e, einmal auf -en gebildet; der Dativ einmal mit Nullmorphem, einmal auf -e, einmal auf -en, der Genitiv auf -en oder -(e)s. ⁶¹ Die Kasusmarkierung variiert. Neben des chunich Ezeln (A 2060,4; ~ B 2120,4) steht des chuniges Etzelines (D) oder des kunigs Etzel (b) oder des kuniges Ezeles (N). In einigen Fällen
Ähnlich A 1397,4 gegen B 1454,4. Vgl. Paul/Wiehl/Grosse § 218, Anm. 2 (bes. Md). Vgl. Paul/Wiehl/Grosse § 213. A 1248,3 Gotelinde (auch CJbh) gegen B 1305,3 Gotelinden (auch Ddb); B 1414,1 Gernot gegen A 1357,1, C 1445,1 Gernote; B 1420,4 si solden chomen Ecele gegen A 1363,4, C 1451,4 Ecelen; der ungewöhnliche Dativ wird in D 1420,4 durch zu Etzeln ersetzt; A 1143,2 zu Gunther, B 1200,2 ce Gunther, C 1247,2 ze Gunthere; hättet ihr Kenntnis von Etzel (wie ich) heißt A 1144, 2 Ecelen kunde (~ C), B 1202,2 Eceln chuͤ nde (~ d), D 1202,2 Etzelz, b 1202,2 Etzeles.
Graphie und Morphologie
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wechseln die Deklinationsklassen; so kann etwa der Dativ niftel (A 1238,1) lauten, aber auch nifteln (B 1295,1); die restliche Überlieferung DJbh stimmt mit A überein.⁶² Man darf also nicht mit einem nach schriftsprachlichen Kriterien grammatisch wohlgeformten Text rechnen. Was ein Fehler zu sein scheint, kann nur auf einer Achtlosigkeit beruhen. Die Nachlässigkeit bei der Wiedergabe der Pronomina produziert Verständnisschwierigkeiten, die in der Forschung komplizierte Lösungsvorschläge hervorgerufen haben. In Str. 1180 (B; ~ DJbdhQW) war vom freundlichen Empfang Rüdigers, des voget von Bechelaren, durch Hagen die Rede gewesen. B 1181,1– 2 (~ ADbd) schließt an Des chuͤ niges nehesten mage die giengen da man sach, ohne dass gesagt wird, wohin die nehesten mage Gunthers gehen. Man vermisst ein Objekt (‚sie‘, ‚die Fremden sah‘). Im folgenden Vers B 1181,2 (~ ADbd) scheinen sie jedenfalls am Ziel, und Ortwin, den man zu den engsten Verwandten des Königs rechnen darf, richtet das Wort an Rüdiger und seine Leute: Ortwin von Mezze zu Ruͤ dgeren sprach. Die Modalitäten der Zusammenkunft sind unklar. Wohin gehen Gunthers Leute? Was konnte man dort sehen? Die Forschung hat im ersten Vers ein Akkusativobjekt vermisst, etwa sie gingen dahin, wo man si, d. h. die Leute Rüdigers sah. In der *C-Bearbeitung heißt es entsprechend: Die nächsten Verwandten des Königs gehen zu ihnen (d. h. Rüdiger und seinen Leuten: da man si sach, C 1208,1).⁶³ Die nachlässige Behandlung der Pronomina produziert hier einen Fehler, von dem nicht klar ist, ob er bei mündlichem Vortrag bzw. seiner Rezeption nicht spontan korrigiert wird, indem ein enklitisches -s mitgehört wird. Für die Verkürzung des Personalpronomens zum enklitischen -s gibt es Dutzende von Beispielen; sein Fehlen wäre nur auffällig in einem genuin schriftsprachlichen Text; beim mündlichen Vortrag könnte es überhört (bzw. spontan ergänzt) worden sein.⁶⁴ Angesichts dieser Praxis ist es unnötig, komplizierte Ergänzungen der Handlung zu interpolieren, von denen nichts im Text steht, um das Fehlen des Personalpronomens in einem Teil der not-Überlieferung zu retten.⁶⁵ Die Abschreibpraxis legt eher eine andere Lösung nahe. Auch die Rektion mancher Verben schwankt; ein Genitivobjekt kann durch ein Akkusativobjekt ersetzt werden. Dahinter können sprachgeschichtliche Entwicklungen
Hs. d hat die Stelle verlesen: infeln. *J formuliert etwas um, zielt jedoch in die gleiche Richtung; Dez kunges næhsten maͮ g man gen in komen sach, J 1181,1; ~ QW), zur Variante auch S. 133; 184– 185. Brackert 1971, Bd. 2, S. 280: „Das s in mans auszulassen, lag durch das folgende s in sach nahe“. Vorgetragen, ist gar nicht hörbar, ob ein -s vorausging ( … giengen da mans sah, ‚gingen zu ihnen‘). Heinzle (2013a, S. 1300) hat sich um eine komplizierte Lösung bemüht; er schlägt vor, Ortwin apo koinou aufzufassen, nämlich als Objekt des ersten Verses und Subjekt des zweiten, d. h. als Ziel der Bewegung der Verwandten des Königs (sie gingen dorthin, wo man Ortwin sah) und als Urheber der Rede, die folgt (Ortwin spricht zu Rüdiger). „Man kann annehmen, daß Ortwin unter denen war, die mit Hagen vorausgeeilt sind (1182,1 [= B 1179,1]) und eben im Gespräch mit Rüdiger ist, als die Verwandten des Königs dazukommen“. Davon steht nichts im Text, nicht einmal, dass Hagen vorausgegangen ist, lässt sich der Stelle zweifelsfrei entnehmen. Die Erklärung gibt keineswegs einen „guten Sinn“. Der Übergang zwischen 1181,1 und 1181,2 bleibt hart. Das Bestehen auf einem schriftsprachlich wohlgeformten Text, erfordert Verrenkungen, während sich der Wortlaut aus der Schreibpraxis leicht erklärt.
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3 Allgemeine Bedingungen von Varianz
oder auch dialektale Besonderheiten stehen, aber das muss nicht der Fall sein. Ebenso wohl kann die Differenz dem Schreiber/Hörer entgangen sein. Die Verbflexion variiert: Die 3. Person Plural Präsenz kann auf -en oder -ent gebildet werden, etwa A 1382,2 gehabent (~ BDJdh) gegen b 1439,2 gehaben (~ N). Die 1. Person Plural lautet A 1399,4 wie getorsten wir gegen B 1456,4 wie getorste wir gegen b wie dorst wir. In B 1258,2 wold ich gerne chomen (auch C) ist das Verb chomen ein Infinitiv; in A 1201,2 wer ich gerne komen dagegen Partizip Perfekt (auch DJbh). Gelegentlich alternieren starke und schwache Verbflexion;⁶⁶ manchmal sind sie kontaminiert.⁶⁷ Man kennt ruofen als starkes Verb der 7. Verbklasse. Doch trifft man vereinzelt auch auf schwache Flexion.⁶⁸ Kein Wunder also, dass man in der Nibelungenüberlieferung beide Flexionen antrifft. Auffällig aber ist, dass die einzelnen Handschriften zwischen ihnen schwanken und einige Formen bilden, die sowohl stark wie schwach sind: Einmal hat A 2049,1 riefen (stark), B 2109,1 rufften (schwach). Die übrigen Handschriften verteilen sich auf diese beiden Möglichkeiten: D 2109,1 rieffen (~ JN), b rúfften. Das andere Mal heißt es in A 1830,1 und B 1890,1 rief(f )en, in D 1890,1 dagegen rufften, im zur D-Gruppe gezählten Fr. N 1890,1 jedoch rifen, in b – beide Flexionsweisen kombinierend – sogar riefften. Weder verfahren die einzelnen Handschriften konsequent noch die Handschriften einer Gruppe (DN) einheitlich. Dabei wechselt die Schreibung von Handschrift zu Handschrift das Flexionsparadigma, und Hs. b probiert sogar eine Hybridform zwischen starker und schwacher Konjugation aus. Auch sonst werden gelegentlich Merkmale starker und schwacher Konjugation vermischt. Die Stellen sind zufällig herausgegriffene Beispiele, wie unsicher die Schreiber über die Flexion des Verbs ruͦ fen sind und wie sie sich, vor die gleiche Entscheidung gestellt, unterschiedlich entscheiden. Es ist nicht immer leicht zu klären, ob hinter einer Abweichung eine morphologische Differenz steht. Viele Abweichungen beruhen bloß auf Nachlässigkeit. Oft sind sie eindeutig als Fehler zu qualifizieren. Ihre Ursache kann die falsche Auflösung eines Nasalstrichs⁶⁹ oder eines Kürzels sein, aber oft ist auch kein derartiger Anlass auszumachen. Ungeachtet der Sorgfalt, die einige Korrekturversuche durchaus erkennen lassen, gilt dem Bereich der Graphie und der Morphologie geringe Aufmerksamkeit. Solche Ungenauigkeiten sind in der volkssprachigen handschriftlichen Überlieferung des Mittelalters auch sonst weit verbreitet, aber die Häufigkeit im Nibelungenlied ist auffallend. Sie mag mit der Nähe des Epos zur Mündlichkeit zusammenhängen. Die Handschriften enthalten neben einer Fülle von graphemischen und morphologischen Varianten auch zahlreiche Lesarten, die als ungrammatisch einzustufen sind und in anderen Handschriften korrigiert werden (z. B. ein Subjekt im Singular und ein Prädikat im Plural). Aber die Abgrenzung ist oft schwierig. Die Editoren sahen sich meist ver B 2098,3 ladestes (A 2038,3 ladeste) gegen Db luͦ dest. M 1387,2 iahten gegen B iahen. Zur Vermischung starker und schwacher Flexion in der VII. Klasse Paul/Wiehl/Grosse § 268, A. 3. So etwa Q 1181,1, wo die Leute Gunthers im entgegenkommen statt in, d. h. Rüdiger und seinem Gefolge wie in J 1181,1.
Übergänge
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anlasst, hier korrigierend einzugreifen. Damit geben sie dem Text schriftsprachliche Eindeutigkeit und Korrektheit. Mindestens bei der dezidiert falschen Flexion ist das notwendig, doch auch bei unspezifischen Kasuskennzeichnungen oft sinnvoll. Das steht jedoch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass viele mittelalterliche Schreiber auf grammatisch eindeutige Differenzierung offenbar keinen Wert legten oder unsicher waren, wie sie auszusehen hatte. Im Schreibprozess wurde oftmals auf Genauigkeit verzichtet, zumal wenn das richtige Verständnis durch solche Nachlässigkeiten beim mündlichen Vortrag nicht behindert wurde.
Übergänge Für das literaturgeschichtliche Problem der Varianz scheinen die meisten dieser Varianten von untergeordneter Bedeutung zu sein, aber sie sind ein Indiz, dass die Handschriften auf manche sprachliche Details keinen Wert legen und ohne Schwierigkeit zwischen ihnen wechseln. Das betrifft nicht nur die Bezeichnungen der Laute, ihre Anordnung und Kombination, sondern auch Einsilbigkeit oder Mehrsilbigkeit, Klang und Rhythmus, auch Flexionsformen, selbst grammatische Kategorien. Die moderne Literaturwissenschaft ist gewohnt, im ‚sprachlichen Kunstwerk‘ alle Parameter zu beachten und als konstitutiv für das poetische Gebilde anzusehen.⁷⁰ Der Klang des Verses wird durch den Stammvokal des Verbs beeinflusst, der Rhythmus durch die Anzahl der Silben, sodass es keineswegs gleichgültig ist, welche Form z. B. von komen zugrunde gelegt wird oder ob maniger/manger drei- oder zweisilbig ist, es begunde oder begonde heißt. Numerus und Kasus, Modus und Tempus eines Satzes sind eindeutig festgelegt und lassen keinen Variationsspielraum offen. Wenn nun aber weder durch die Graphie noch die Morphologie eine eindeutige Festlegung erfolgt, wenn Schreibungen oder Formen ambig sind, wenn sie ausgetauscht werden können, dann ändert sich die Gestalt des poetischen Gebildes auch in anderen Hinsichten. Insofern greifen graphische und morphologische Varianten, zumal wenn sie gleichzeitig auftreten, auf andere Variantentypen über. Es sind weit mehr als Äußerlichkeiten, die von der Varianz betroffen sind. Graphische Varianten hängen oft mit semantisch relevanten Varianten zusammen, indem die Schreibung Ambiguitäten hervorruft, die in der Überlieferung unterschiedlich aufgenommen werden. Manchmal ist das Verhältnis von graphischem Zeichen und Lautwert unfest. Die Bezeichnung des Umlauts variiert: kuniginne, kuͤ niginne, chueniginne; die diakritischen Zeichen sind nicht standardisiert. Das hat Folgen für die Interpretation mancher Verbformen. Der a-Umlaut wird mal mit e, mal mit æ bezeichnet; damit werden in der Schreibung Unterschiede des Lautwerts und seiner Beziehung zum Modus eingeebnet. Klare Fälle stehen neben unklaren.
Vgl. S. 334– 335.
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3 Allgemeine Bedingungen von Varianz
So heißt es (über die Möglichkeit Kriemhilds, sich doch noch an Hagen zu rächen) in B Daz geschæhe ob ich in moͤ hte bringen in daz lant (B 1390,1); A 1333,1 hat geschehe (auch M). Hier ist der Modus klar (‚das würde geschehen, wenn es mir gelänge, sie hierher ins Land zu holen‘): eine belanglose Varianz der Schreibung; mit -e ist der Umlaut gemeint. Aber das muss nicht der Fall sein, z. B. im Partizip Praeteriti: Ute sagt, sie habe lange nicht so willkommene Boten wie Etzels Fiedler gesehen (B 1453,3 han gesæhen; A 1396,3 han gesehen).⁷¹ Hier ist – in derselben Handschrift! – -e nicht a-Umlaut. Auch in diesem Fall ist die grammatische Kategorie klar. Aber wie ist es im folgenden Fall mit sehe/sæhe? Etzel bietet Kriemhild an, die Verwandten einzuladen, swel ir da gerne sehet (A 1344,3) bzw. swelhe ir da gerne sæhet (B 1401,3). Die Schreibung in A lässt offen, ob der Indikativ gemeint ist oder der Konjunktiv wie in B; die Hss. C, D und J folgen B, die Hss. b und Fr. l dagegen scheinen die A-Lesung als Indikativ zu interpretieren (sehent bzw. secht).⁷² Die Varianz der Schreibung zwischen sehe und saͤ he/sæhe kann allein dem graphischen Usus geschuldet sein, oder sie kann, das entsprechende syntaktische Umfeld vorausgesetzt, den Wechsel vom Indikativ zum Konjunktiv (Irrealis) anzeigen. Die Unsicherheit der Modi scheint aber die korrekte Wiedergabe des Geschehens nicht zu stören. So ist in einigen Fällen die Unterscheidung zwischen Konjunktiv und Indikativ erschwert. Grundsätzlich ist der Wechsel zwischen den Modi durchaus möglich. Kriemhild sagt, sie wolle den Heiden Etzel keinesfalls heiraten, auch nicht unter der Bedingung, git er mir alle riche (A 1188,4), während B die Unwahrscheinlichkeit der Bedingung formuliert: gæbe er mir auch alle Länder (B 1245,4).⁷³ Die Aussage ist also anders nuanciert. Ein Beispiel, wie die Schreibung einen Wechsel des Modus anregen kann, liegt in B 2102,2– 4 vor. Giselher weist Kriemhilds Angebot, bei Auslieferung Hagens sich für die Schonung der übrigen Burgonden einzusetzen, zurück, indem er das Ethos des Personenverbandes formuliert: ob unser tusent wæren wir lægen alle tot | […] e wir dir einen man | gæben hie ce gisel: das erörtert eine Möglichkeit, die selbst unter unrealistischen Bedingungen nicht eintreten kann (Irrealis). A 2042,2– 4 schreibt: ob unser tusent weren wir legen alle tot | […] e wir den einen man geben hie ze gisel; der Lautwert von -e und folglich der Modus ist mindestens in den ersten beiden Fällen derselbe wie in B, also vermutlich bezeichnet auch der dritte Fall geben den Konjunktiv (Irrealis); aber ganz sicher ist das nicht, geben könnte auch den Indikativ meinen (‚bevor wir einen herausgeben‘): Die Möglichkeit wird nicht eintreten, selbst wenn die beiden ersten Bedingungen erfüllt wären (was sie nicht sind). Diesen möglichen Wechsel des Modus greift D 2102,2– 4 auf, dehnt ihn aber bereits auf den zweiten Fall aus: ob unser tousent wern wir ligen e alle tot | […] e wir dir einen man | gebn hie ze gysel. D geht also bereits in dem auf den Konditionalsatz antwortenden Hauptsatz vom Konjunktiv zum Indikativ über, wodurch D 2102,4 gebn wohl entsprechend als Indikativ zu interpretieren wäre. In b
Heinzle (2013a, S. 464) korrigiert die Schreibung in B. Ähnlich A 1355,3 u. B 1412,3, wo sich die Form mit æ durchsetzt. Weitere eindeutige Fälle des Austauschs vgl. S. 123 – 124; 135.
Übergänge
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steht wieder statt dem Indikativ ligen der Konjunktiv legen (auch N); dagegen könnte gegeben hie ze geisel (b) auch Indikativ des Intensivums (‚ausliefern‘) sein. Auffällig ist d, das in der unterschiedlichen Schreibung zwischen den ersten beiden Fällen und dem dritten eine Differenz des Modus auszudrücken scheint: weͣ ren und leͣ gen gegen geben – ein Zeichen, dass im dritten Fall nicht der Umlaut, also der Irrealis, vielmehr der Indikativ gemeint ist? Der Sinn wird durch den Wechsel kaum tangiert, aber die ambige Schreibweise legt den Kopisten offenbar verschiedene Deutungen nahe, zwischen denen sie sich verschieden entscheiden. Differenzen der Graphie und der Morphologie schaffen manchmal Ambiguität und gehen mit Wechsel der grammatischen Kategorie einher; hinzukommt, dass die Schreiber nicht immer um grammatische Eindeutigkeit bemüht sind. Volkers Aufforderung an Hagen, vor Kriemhild aufzustehen, schwankt in den Handschriften zwischen der 1. Person Plural Konjunktiv und dem Imperativ. In B sagt Volker: nu ste wir von dem sedele […] lat sie fur gan – bietet ir die ere (B 1777,1– 3), einmal Konjunktiv (Adhortativ) zweimal Imperativ. Jedes der drei Glieder wird in den übrigen Handschriften variiert. Der Konjunktiv heißt in A 1718,1 (auch Db) ebenso wie in B nu ste wir (‚lasst uns aufstehen‘). C 1821,1 und J 1777,1 dagegen haben eine andere Form: sten wir (auch Fr. K). Einer der Imperative oder beide werden ersetzt. A 1718,2 hat wie B den Imperativ lat, doch im nächsten Vers A 1718,3 statt des Imperativs bieten (bieten ir die ere), was den Konjunktiv (,wir wollen bieten‘), aber auch einen von lat abhängigen Infinitiv meinen könnte (so auch Jd). C 1821,2 hat statt lat: lan, wobei lan wohl wieder den Konjunktiv meint; im folgenden Vers (1821,3) steht bieten, was wie in J von lan (lasst uns …) abhängiger Infinitiv sein könnte, aber auch paralleler Konjunktiv (‚wir wollen bieten‘). Db 1777,2 hat (wie B) lat; dann aber D 1777,3 statt des Imperativs den Konjunktiv biet wir ir die ere; b 1777,3 belässt es beim Imperativ, doch in der Form bietent. Fr. K ersetzt 1777,2 den Imperativ lat durch das als Konjunktiv aufzufassende lan, belässt es aber 1777,3 beim Imperativ bietet. Gemeinsam ist den Handschriften die Aufforderung; deren Form aber wechselt (‚lasst uns …‘; ‚lass‘). Die Aufforderung wird verschieden versprachlicht, wobei zur wechselnden grammatischen Kategorie die Variation der Morphologie kommt. Auf die exakte Bestimmung der grammatischen Kategorie durch eindeutige und distinktive Formen (bieten ist durchaus ambig) kommt es den Schreibern nicht an; es reicht ihnen, den Tenor der Aussage angemessen wiederzugeben. Das mag wie haarspalterische Kleinigkeiten scheinen, deren Unterscheidung keine Aufmerksamkeit verdient. Sie belegen aber, dass an der einen, eindeutigen und gültigen Modellierung des Wortlauts kein Interesse besteht. Die Situation ist klar; die Reaktion der beteiligten Figuren auch. Was kommt es da darauf an, wie Volker seinen Vorschlag versprachlicht? Die Schreibung kann Doppeldeutigkeiten provozieren: Hagen rät den Burgonden, wenn sie schon Etzels Einladung annehmen, dann sollen sie doch bitte wenigstens werlichen (A 1411,4) fahren. B 1468,4 hat dagegen die Schreibung gewærliche (wie ebenfalls C und J), von d als gewarlichen vereindeutigt. Heinzle schreibt gewerliche (wie auch sonst bei Wiedergabe der Bezeichnung des Umlauts in B) und übersetzt – vermutlich auf Grund von d und der Nähe des Stammvokals zu ‚gewahren‘? – ‚mit aller
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Vorsicht‘.⁷⁴ Die Schreibung in A, der ein Teil der Überlieferung folgt (DKN gewerliche[n]), lässt aber auch eine andere Deutung zu, nämlich ‚wehrhaft‘; b 1468,4 hat das offenbar so verstanden und interpretiert das Adverb als gewalltiklichen. Diese Deutung entspricht genauer der Handlung. Die unmittelbar folgenden Strophen erzählen nämlich vom militärischen Aufgebot bei der Vorbereitung der Fahrt, wozu der Rat passt die Fahrt gerüstet zu unternehmen. Liegt also in B nur ein Allograph vor?⁷⁵ Vorsicht betrifft allerdings auch das Handeln der Burgonden. Die Schreibung in A und B ist uneindeutig; beide Varianten sind sinnvoll. Sie verteilen sich nicht eindeutig auf Handschriftengruppen. Hs. J folgt B, doch das zur *J-Gruppe gehörige Fragment K schreibt, wie nach dem Kontext eher zu erwarten, gewerliche. Manche Varianten greifen über die Morphologie hinaus. Mehrere Variationsmöglichkeiten werden kombiniert. Diese Fälle gehen bereits in die Ad-libitum-Variantenbildung über, die im nächsten Abschnitt ausführlich erläutert werden soll. Ein Übergangsfall ist der folgende: Im Syntagma Artikel + Substantiv im Genitiv + Substantiv in einem anderen Kasus (Typus in daz Gunthers lant, C 1508,4) steht im Allgemeinen der Artikel im selben Kasus wie das zweite Substantiv, aber gelegentlich auch im Genitiv wie das erste. In der Überlieferung, und zwar auch zwischen verwandten Handschriften, alternieren beide Typen; sie übergreifen verschiedene Überlieferungszweige. Solche Fälle sind Legion: daz Etzelen lant (C 1349,4; ~ JhH) oder des Etzeln landt (d 1323,4) bzw. des kuneg Ezlen lant (R 1349,4). Der Gegensatz übergreift not- und liet-Texte. Aus in daz Guntheres lant (B 1472,4; ~ AC et rell.) wird in des Gunthers landt, und zwar sowohl in einer Handschrift des not-Textes (d 1472,4) wie auch in zwei Handschriften des liet-Textes (aR 1508,4); der Artikel wird also auf den Eigennamen bezogen. Das ist eher ungewöhnlich und spricht gegen die zweite Version. Aber wie ist es in folgenden Fällen, heißt es da ein kuͤ niges lant (B 1387,2) oder eines chunges lant (M 1387,2); der chuͤ n Guͤ ntheres man (B 1609,4) oder des kúnen Gunthors man (b); den Genitiv präferieren an derselben Stelle – bei zusätzlicher Ersetzung des Epitheton durch den Titel (des kunich) – A, C und D; in Fr. l kann das Epitheton/der Königstitel fehlen: der Guntherz man. ⁷⁶ Graphemische, morphologische und derartige kleinere syntaktische Abweichungen können kombiniert werden: Schlug diu Hagenen hant (B 1108,1; ~ C) Siegfried zu Tode oder die Hagen hant (D), Hagnen hant, (A 1051,1), des Hagene hant (d) des Hagens hant (b) oder auch diu Hagen hant (J)? Die handschriftliche Überlieferung des Nibelungenliedes zeigt, dass Parameter dieser Art für den Schreiber keine oder jedenfalls keine bedeutende Relevanz besaßen und deshalb nach gusto variieren können. Das hängt, wie bemerkt, mit dem Stellenwert der Schrift in der Überlieferung zusammen. Die Schrift hält den Text für die mündliche Rezitation fest, in der grammatisch distinktive Oppositionen nicht unbedingt auffallen und daher abgeschliffen werden können. Vielfach war die grammatisch genaue
Heinzle 2013a, S. 468 – 469. Wechsel zwischen e und æ findet sich z. B. auch bei Bezeichnung von wetlich. Hier ist der Vers aus metrischen Gründen gekürzt: vgl. S. 320.
Übergänge
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Schreibung – so sie dem Kopisten denn bekannt war – für die richtige Aufnahme des Textes gar nicht erforderlich. Diese Form der Varianz ist ein typisches Merkmal der Textualität des Nibelungenliedes zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In der Mündlichkeit entfallen manche Oppositionen, auf die ein schriftsprachlich wohlgeformter Text im Interesse der Klarheit und der Eindeutigkeit der Aussage achten muss. Die Schrift bildet deshalb nur begrenzt den vorzutragenden Text ab. Wo sie den Vortrag stören könnte, muss allerdings eingegriffen werden. Es gibt daher in den Handschriften durchaus Korrekturen; z. B. wird in A 2059,1 die ungrammatische Stellung des Artikels hinter dem Bezugswort (kint daz) durch Umstellungszeichen korrigiert. An dieser Stelle hat der Schreiber offenbar den Eindruck, dass ein Vortragender der Stütze durch die korrigierte Schrift bedürfe. Solche Fälle beweisen, dass der Schreiber in ihm wichtig scheinenden Punkten eine Vorlage – sei sie nun schriftlich oder mündlich – bewahren und keinen ungrammatischen Text produzieren will. Aber sie zeigen umgekehrt auch, dass bei den übrigen Veränderungen die Gefahr nicht besteht, dass sie ihren Zweck durchaus auch so erfüllen. Auch dort, wo man eine genaue Kopie einer Vorlage (h, g) annimmt oder wo man wenigstens enge Anlehnung an sie feststellt (E, Z, auch M) besteht an einer exakten Wiedergabe der Graphie, der Phonetik und der Morphologie kein Interesse. Was von einem späterem Standpunkt Schlamperei scheint, sind also Lizenzen einer Reproduktionspraxis, wobei in vielen Fällen nicht einzusehen ist, warum gerade hier und nicht an anderer Stelle der Schreiber korrigierend eingreift. Korrekturen beweisen aber auch, dass Abweichungen dieser Art nicht beliebig sind; auf die ‚Richtigkeit‘ der Textwiedergabe wird durchaus geachtet, aber ‚Richtigkeit‘ ist anders definiert. Zumindest bei orthographischen und morphologischen Varianten ist unwahrscheinlich, dass sie sich bei allen folgenden Reproduktionen durchhalten, d. h. alle Handschriften, mit denen die jeweils vorliegende Handschrift verwandt ist, mit ihnen übereinstimmen müssen. Wo sie aber in diesem Punkt übereinstimmen, muss kein Abhängigkeitsverhältnis bestehen. Weil hier keine gültigen Festlegungen existieren, können Übereinstimmungen durchaus in Überlieferungsträgern ohne genealogischen Zusammenhang auftreten, Differenzen durchaus in verwandten Handschriften. Dieser Typus von Varianz spielt für die Textkritik daher nur eine untergeordnete Rolle, sie ‚unterläuft‘ bei jeder Wiedergabe des handschriftlichen Textes. Sie ist jedoch Teil einer viel weitergehenden Varianz, die typisch für die Poetik des Nibelungenliedes ist. Der Übergang zwischen den einzelnen Typen von Varianz ist fließend, insofern eine Schreibung einen morphologischen Wandel voraussetzen kann, eine morphologische Variante wiederum semantische und syntaktische Konsequenzen hat. Wenn neben der Schreibung auch die Morphologie erhebliche Lizenzen offenhält, dann ist mit einem geringeren Aufmerksamkeitsgrad auch bei semantischer oder syntaktischer Differenzierung (z. B. zwischen einzelnen Lexemen, Proformen, Singular und Plural, Indikativ und Konjunktiv usw. usw.) zu rechnen. Der Aufmerksamkeitsgrad schwankt zwar in verschiedenen Handschriften; er ist grundsätzlich im Nibelungenlied bei bestimmten Parametern des Textes (etwa der Wortfolge) geringer als bei anderen (etwa dem Austausch der Lexik). Die Lizenz zur Varianz ist aber auch in der Lexik und in
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den syntaktischen Konstruktionen größer, als wir es heute einem literarischen Werk zugestehen würden. Offenbar gefährdeten Formulierungsvarianten bestimmter Art die Identität der Dichtung nicht.
4 Lust am Ändern? Die bisher beschriebenen Variantentypen gehen zum geringsten Teil auf eine besondere Initiative des Schreibers zurück. Das ist anders beim zweiten Typus. Doch beides hängt zusammen. Die Lizenzen des Schreibusus und der Morphologie ziehen weitere Typen von Varianten nach sich, die nicht auf die graphemische und morphologische Ebene beschränkt sind, indem sie etwa aus deren Lizenzen oder Ambiguitäten resultieren. Sie betreffen ganz allgemein das ‚wording‘, die semantische oder syntaktische Wiedergabe eines Sachverhaltes. Es handelt sich um ‚vollkommen gleichwertige Lesarten‘, zwischen denen keine Entscheidung möglich ist.¹ Sie lassen sich nicht aus Parallelfassungen eines Autors erklären, sondern als Formulierungsalternativen, die bei der Reproduktion des Nibelungenliedes zur Verfügung standen und aus einem weitgehend stereotypisierten Repertoire schöpfen. Die in diesem Kapitel zu beschreibende Varianz ist nicht erst Ergebnis einer langen Überlieferungsgeschichte, in deren Verlauf sich der Text immer weiter vom Original entfernt, sondern gehört von Anfang an dazu, wie sich am Verhältnis der ältesten Handschriften zeigen lässt. Das hat Konsequenzen für die Poetik des Nibelungenliedes, die in dieser Hinsicht von der Poetik nicht nur moderner, sondern auch anderer volkssprachiger Texte im Mittelalter abweicht. Es handelt sich um Varianten, die in der Reproduktionspraxis angelegt sind. Im Folgenden werden einige Typen von Varianten, die sich beliebig vermehren ließen, exemplarisch vorgestellt. Vollständigkeit würde das Bild nur verunklären. Es handelt sich um Varianten, zwischen denen eine semantische Beziehung besteht. Ich habe deshalb oben für sie den Terminus Ad-libitum-Varianten vorgeschlagen.² Er ist nicht vom Rezipienten aus (also etwa von dem zwischen Lesarten auswählenden Editor) gedacht, sondern vom Produzenten des Textes. Der Terminus ‚Produzent‘ ist bewusst neutral gewählt. Er schließt den Dichter, den reproduzierenden Sänger, Redaktor, in gewissem Umfang selbst den Abschreiber ein. Ihnen allen steht bei der narrativen Gestaltung eines Vorgangs neben dem vorgegebenen Text ein Repertoire an Formulierungen zur Verfügung, unter denen sie eine Auswahl treffen können, um einen Sachverhalt in einer dem Nibelungenlied angemessenen Form zu versprachlichen. Der vorgegebene Wortlaut kann variiert werden, wenn die Varianten sich der komplexen Struktur des Nibelungenliedes aus Metrik, poetischen Formeln, festgelegten Personenkonstellationen und Handlungszügen einfügten. Unter dieser Bedingung bestehen offenbar bei der Wiedergabe des Textes erhebliche Lizenzen: ad libitum. Der Vergleich mit der Musikpraxis des 17./18. Jahrhunderts sollte nicht überstrapaziert werden, doch scheinen die Überlieferungsträger des Nibelungenliedes Beispiele für solche Ad-libitum-Ausführungen zu geben, nicht als ‚methodische‘ Beispiele, wie sie zu erfolgen hat, sondern als tatsächlich überlieferte Formen, wie sie erfolgt ist. Ad-lib-
Stackmann 1964/1993, S. 21. Vgl. S. 85 – 86. https://doi.org/10.1515/9783110983104-005
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itum-Varianten wurden bisher vornehmlich auf der Lexemebene, der hauptsächlich die Aufmerksamkeit galt, beschrieben. Dies ist aber nur ein Beispiel für diesen Typus von Varianz. Sie erstreckt sich auch auf den Kasus, Numerus, Modus, das Tempus, die Wortklasse, die Wortwahl, die Wortstellung, die Reihenfolge, verbale oder nominale Formulierung, die Entscheidung zwischen Haupt- und Nebensatz, den Nebensatztypus bis hin zu Periphrasen. In den not-Handschriften wurden divergierende Lesarten immer im Blick auf einen ‚ursprünglichen‘ Text gewertet, als ‚richtig‘ oder ‚fehlerhaft‘ bzw. als ‚primär‘ und ‚sekundär‘ beurteilt und demgemäß verworfen oder nicht.³ Dagegen wurde in der Bearbeitung *C die Abweichungen vom not-Text als Teil einer bewussten Änderungstendenz angesehen.⁴ Dabei sind dort die Abweichungen vom not-Text in vielen Passagen (also nicht in den Zusätzen oder in den umgeformten Strophen) kategorial kaum andere als in der gesamten Nibelungenüberlieferung sonst. Eine dezidierte Bearbeitungsabsicht ist nicht in allen Fällen zu erkennen. Über sie und ihren Urheber schreibt Panzer: Er hat buchstäblich viel hundertmal eingegriffen mit kleinen, kaum merkbaren, wie mit großen und tiefgehenden Abänderungen, mit Weglassen und Zufügen. […] Gewiß ist manche Änderung, die er brachte, der bloßen Lust am Ändern überhaupt entsprungen; der Lust eines Mannes, der nicht mit Unrecht die Fähigkeit in sich fühlte, daß er auch etwas hervorzubringen vermöchte, das sich sehen lassen dürfte⁵.
Der Verfasser der Bearbeitung hat zwar „in der überwiegenden Zahl der Fälle“ „durchaus diskutable Gründe für seine Beanstandungen gehabt“⁶ – in der Besprechung von *C wird davon die Rede sein – aber gerade die Inkonsequenz bei seinen sprachlichstilistischen Änderungen zeigt, dass das Prinzip der Variation weiter reicht und von intentionalen Erwägungen unabhängig ist. Panzer hat wie andere vor ihm diese „Lust am Ändern“ erkannt, die wohl besser als die gesamte Nibelungenüberlieferung bestimmte Lizenz zur Varianz zu charakterisieren wäre. Dagegen sieht Haferland die „Lust am Ändern“ als unzulänglichen Grund der Abweichungen zwischen B und C an: „Zu erwarten wäre, daß die Lust, immer aufs neue Gleiches anders zu sagen, irgendwann auch einmal erlahmt, was aber nicht geschieht. So scheint es eher, daß die Prämissen der Erklärung hier falsch sind“.⁷ Das verkennt das poetologische Prinzip des Nibelungenlieds, das nicht auf die Einmaligkeit und Unver Die Gegensatzpaare decken sich nicht; eine Lesart kann das ursprünglich Richtige enthalten oder die nachträgliche Korrektur eines Fehlers. Welche Änderungsrichtung die wahrscheinlichere ist, muss im Einzelfall geprüft werden, wobei Braune 1900 eher zu einer Verschlechterungstendenz, Michels 1928 zu einer Verbesserungstendenz neigt (vgl. Brackert 1963, S. 33). Eine Ausnahme sind die Arbeiten von Haferland (bes. 2019a+b), der die *C-Version als ungenaue, auf dem Gedächtnis beruhende Wiedergabe von B ansieht, also eine ähnliche Textentwicklung voraussetzt, wie man sie auch für die not-Handschriften annehmen muss. Panzer 1955, S. 97. Panzer 1955, S. 97. Haferland 2003, S. 94 Haferland beachtet nicht die Bedingungen der Überlieferung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Was er „Aleatorik der Textproduktion“ nennt (S. 96) weist den Weg.
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wechselbarkeit des dichterischen Worts setzt, sondern auf die Übereinstimmung mit einer kollektiv verfügbaren Sprache. Haferland übersieht außerdem, indem er die Untersuchungsperspektive auf das Verhältnis von Hs. C zu Hs. B einschränkt, dass es die scheinbar unmotivierten Abweichungen in der Nibelungenüberlieferung insgesamt gibt; der Text des Nibelungenliedes scheint auf Variation angelegt, bei der der, der den Text erneuerte, sein Können demonstrieren konnte. Falsch ist es jedenfalls, wie Panzer gegenüber *C vermerkt, wie es sich aber in der gesamten not-Überlieferung andeutet, jede Änderung vor dem Hintergrund eines ‚Urtextes‘ zu betrachten, als dessen Verschlechterung oder Verbesserung.⁸ Im diesem Kapitel werden daher die Varianten in *C, die der Bearbeitung keine neue Richtung geben, sondern variierend den not-Text wiederholen, in die Untersuchung einbezogen. Die folgenden Beispiele sollen vor allem belegen, dass die Veränderung nahezu jede grammatische Position betreffen konnte und die Überlieferung des Nibelungenliedes generell kennzeichnet. Dieser Typus von Varianz ist nicht auf einzelne Handschriftenfiliationen beschränkt und übergreift alle Redaktionen, die die Forschung in der Überlieferung des Nibelungenliedes ausgemacht hat. Sie ist nur erklärbar mit dem Umstand, dass von den konkreten Details der sprachlichen Gestaltung nicht die Authentizität des Nibelungenliedes abhängt und manche Einzelheiten der Textgestaltung dem Erneuerer des Textes überlassen blieben. Für die Mehrzahl der Varianten fällt es schwer, einen ‚Gestaltungswillen‘ (Bumke) auszumachen. Eher ist an Formulierungsroutinen zu denken, die jedem Erneuerer des Nibelungenliedes zur Verfügung stehen. Unter diesen gibt es zu Formeln geronnene Formulierungsmuster, die im Fundus der Tradition angelegt sind und die dem Dichter, aber auch dem Schreiber bekannt sind. Sie gehören zum Repertoire der Rhapsoden; sie sind aus der Oral formulaic epic bekannt. Nach den Forschungen von Curschmann hat man es beim Nibelungenlied zwar nicht mehr mit einem festen Formelapparat zu tun, aber mit formelanalogen Sprachmustern, die unterschiedlich besetzt werden können.⁹ Dazu gibt es Formulierungsroutinen, die nicht zu Formeln gerinnen, gleichwohl eine gewisse Regelmäßigkeit der Varianten bei der Versprachlichung eines Sachverhaltes implizieren. Trotzdem lässt sich die „Lust am Ändern“ nicht allein auf die Mündlichkeit zurückführen. Gewiss, für mündliche Literatur sind die Spielräume für Formulierungsalternativen größer. Es ist daran zu erinnern, dass bei der Stabreimdichtung es nur auf das korrekte Memorieren der Stäbe ankam, ihre Umgebung aber frei gestaltet werden konnte. Bei einem bereits schriftbasierten oder schriftanalog gesicherten Text wie dem Nibelungenlied ist der Bereich dessen, was feststeht und den ‚richtigen‘ Text ausmacht, gegenüber genuin mündlicher Dichtung immens ausgedehnt und der Bereich, der ver Über den Bearbeiter *C sagt Panzer: „Er teilt darin aber nur die Haltung eines Zeitalters, dem Folgerichtigkeit in solchen Dingen ein unbekannter Begriff war. Seine Änderungen durchweg als die besseren, ursprünglicheren Lesarten zu erklären, war freilich ein Mißverständnis, das Holtzmann und Zarncke zu einer unrichtigen Auffassung des Handschriftenverhältnisses verleitet hat“ (Panzer 1955, S. 97). Curschmann 1977; 1979; 1985.
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schiedenen Formulierungsroutinen offensteht, entsprechend viel kleiner. Für die poetische Gestalt des Epos sind aber noch nicht sämtliche Parameter konstitutiv, die seit Beginn der neuzeitlichen Philologie im Humanismus die Identität und Authentizität eines Textes ausmachen. Die mangelnde Verbindlichkeit des orthographischen und grammatischen Systems bot auch eine Chance: Jeder Abschreiber war gefordert, den schriftlich oder mündlich vermittelten Text regelgerecht wiederzugeben, ohne in allen Einzelheiten auf die konkrete Gestalt der Vorlage verpflichtet zu sein. Wo die graphische und morphologische Form sein Werk ist, das sich u.U. von der Vorlage signifikant unterscheidet, ist er auch bei anderen grammatikalischen Phänomenen gefordert. Wenn nicht mehr die Suche nach dem Original im Vordergrund steht, sondern die Überlieferung als offener Prozess gesehen wird, der die Arbeit am Text fortsetzt, können Varianten als Versuche betrachtet werden, einerseits an der Autorität der alten maeren in der überlieferten Form festzuhalten, andererseits die sprachliche Gestalt dieses Textes in engem Rahmen selbst zu bestimmen. Varianz ist nicht Folge eines immer mehr vom ‚Original‘ entfernenden Rezeptionsprozesses. Sie gehört zu der Poetik des Textes. Dabei geht es mir in diesem Abschnitt nicht um die Weiterentwicklung des Textes, wie er sich am klarsten in der Bearbeitung *C zeigt, oder um gezielte Eingriff wie in *J die die Aussage des Textes verändern, sondern um scheinbar belanglose Varianten, die den Inhalt oder den Gang der Erzählung nicht in Frage stellen. Bei den im Folgenden aufgeführten Varianten handelt es sich also nicht um konzeptionelle Differenzen. Wie kommen solche Varianten zustande? Der Kopist orientiert sich an einer schriftlichen Vorlage, fühlt sich aber nicht nur bei der Orthographie und der Morphologie frei, sondern auch bei anderen Phänomenen, die er selbständig wiedergeben will.¹⁰ Auf jeden Fall ist das Gedächtnis mehr oder minder beteiligt. Der Tradent memoriert den ihm vorgegebenen Text. Je nachdem, wie umfangreiche Einheiten beim Abschreiben memoriert werden mussten, ist die Selbständigkeit der Abschrift größer oder geringer. Bei den dutzendfach belegten Umstellungen von Satzteilen liegt die Annahme nahe, dem Reproduktionsprozess hätten (mindestens) ganze Verse zugrunde gelegen. In anderen Fällen ist eher an Halbverse oder einzelne Syntagmen zu denken. Gelegentlich gibt es Indizien für das eine oder andere, doch sind sie die Ausnahme. Die in der gesamten Überlieferung nachweisbare Austauschbarkeit von Lexemen, Wortfolgen, syntaktischen Konstruktionen soll nicht vorweg nach (vermutlich) jung und (vermutlich) alt sortiert werden. Natürlich gibt es in ihr, vor allem in den Handschriften des 15. Jahrhunderts, Varianten, die eindeutig sekundär sind und daher von der Textkritik als nachrangig angesehen werden. Das ist aber nur für einen geringen Teil der Varianten glaubhaft zu machen.
Heinzle kritisiert zurecht „moderne Vorstellungen von der Unantastbarkeit des Dichterworts im Literaturbetrieb des Mittelalters“ (2004, S. 26). Man könnte sagen, dass die unten vorzustellenden Fälle gar nicht als konstitutive Bestandteile des Textes gesehen wurden.
Varianz im nominalen Bereich
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Es sollen Ad-libitum-Varianten aus der gesamten Nibelungenüberlieferung dokumentiert werden, denn schon die ältesten vollständig und fragmentarischen Handschriften zeigen, dass die Varianz ubiquitär ist. Da die Bearbeitungen k und n aus der Untersuchung ausgeschlossen wurden, weil sie den festen Rahmen, der dem Epos zugrunde liegt, sprengen, um alles ihnen zur Verfügung stehende Material zu verarbeiten, deckt die untersuchte Überlieferung vor allem das 13. und 14. Jahrhundert ab, dazu die ‚Hundshagensche‘ Handschrift b aus der Mitte, die späte Hs. a vom Ende des 15. Jahrhunderts und schließlich die Hs. d aus dem Ambraser Heldenbuch vom Anfang des 16. Jahrhunderts. Seit langem ist bekannt, dass synonyme oder quasi-synonyme Lexeme ausgetauscht werden können. Die Diskussion um Präsumtivvarianten hat sich lange Zeit auf diesen Typus konzentriert. Austauschbar sind Nomina einer Wortklasse, Substantive wie Adjektive, ebenso wie Verben und Synsemantica. Sie treten in wechselnden Kombinationen, kombiniert auch mit anderen Varianten auf. Austauschbar sind nicht nur Synonyme, sondern auch bedeutungsverwandte Wörter, dazu Wörter die demselben Bezeichnungstypus angehören (z. B. Personenbezeichnungen, Ausdrücke für Kampf etc.). Ausgetauschte Wörter mit verwandter Bedeutung können eine zusätzliche Bedeutungskomponente fokussieren (z. B. eine Funktion wie kunic); sie können sich auch in einer oder mehreren Bedeutungskomponenten (z. B. männlich/weiblich) unterscheiden. Das gilt alles unter der Bedingung, dass der Rahmen der Aussage gewahrt wird. Unter dieser Bedingung können selbst Wörter, die Gegenteiliges bezeichnen, gegeneinander ausgetauscht werden (z. B. Tag/Nacht).¹¹ Die auszutauschenden Lexeme können sich im Grad der Allgemeinheit und Spezifizierung unterscheiden (bei Personenbezeichnungen z. B. Mann – Krieger – Eigenname; das Gefolge – die Frauen – bestimmte Figuren). Austauschbar sind deshalb Namen und Appellativ. Varianten können durch den Grad der Intensität differieren (z. B. eines Gefühls), durch die Form (z. B. einer Bewegung), einer Richtung (z. B. gehen oder kommen; hin zu oder von weg). Klangliche Ähnlichkeit und semantische Verwandtschaft kann den Austausch fördern. Die Varianten können auf eine Handschrift beschränkt sein oder auch die Überlieferung in zwei und mehr Gruppen spalten. Sie können in der frühen Überlieferung auftreten ebenso wie in späten Handschriften.
Varianz im nominalen Bereich Im Folgenden soll an ausgewählten Beispielen zunächst aus dem nominalen Bereich gezeigt werden, wie diese Varianz quer durch die Überlieferung geht. Es kommt mir auf den Übergang zwischen verschiedenen Variantentypen an. Dabei werden auch schein-
Vgl. S. 115.
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4 Lust am Ändern?
bar marginale Details zur Sprache kommen. Nur wenn auch diese minutiös nachgewiesen werden, kann ein zuverlässiges Bild der Überlieferung entstehen. Ich greife Personenbezeichnungen heraus: helt, recke, degen, ritter sind gleichwertig. Der semantische Kern (‚waffenfähiger Mann‘) kann aber auch durch passende Rang- oder Funktionsbezeichnungen wie kunig oder fürste ersetzt werden. Auch Verwandtschaftsbezeichnungen (bruoder) können für diese Personenkennzeichnungen eintreten. Bei den die Handlung dominierenden männlichen Protagonisten ist das naheliegenderweise besonders häufig, doch gilt es auch für andere Figuren (frouwe, maget, kuneginne, swester) oder auch Gruppen (man, (in)gesinde, magen, liute). Gleiches gilt für Tiere, Gegenstände, Raumbezeichnungen oder dgl. Epitheta dienen meist als Paradebeispiele für Präsumtivvarianten.¹² Qualifikationen der Figuren als guͦ t, edel, riche und dgl., von Kriegern als kuͤ n, snel, stark etc., von Kämpfen als stark, scharpf, hertlich usw., von Aktionen als getzogenlich, minneclich, friuntlich, flizeclich sind gleichwertig und können füreinander eintreten. Sie können schon in A und B differieren. Sie stellen sich manchmal wie automatisch ein, auch wenn sie an einer Stelle nicht sonderlich passen: Wenn Kriemhild Gunther hinrichten lässt (nemen da den lip, A 2306,2) ergänzt B 2366,2 nemen den shonen lip. Die Gestalt eines Königs ruft automatisch die Qualifikation ‚schön‘ herauf. Ein Epitheton und eine Rangbezeichnung können ausgetauscht werden A 1728,4 daz diu vrowe Kriemhilt die schoͤ nen Prunhilden schalt ist genauso gut wie B 1787,4 daz diu schoͤ ne Criemhilt die vroun Prunhilden shalt. Die übrigen Handschriften folgen einmal A, einmal B, ohne dass die von der Forschung zugewiesene Redaktion eine Rolle spielt. Die Bezeichnungen können weiter abgewandelt und unterschiedlich kombiniert werden: A 1381,1 heißt es von Gunther, sprach der furste riche (~ CDabdNl); in B 1438,1 dagegen der kúnech (~ JhK). Diese Gruppierung von Handschriften gilt schon nicht mehr im folgenden Vers; hier verteilen sich die Varianten anders; die Bezeichnung des Subjekts wird ausgetauscht (chunich/degen) und außerdem mit verschiedenen Verben gekoppelt (vragt/sprach), wobei sich eine andere Gruppierung der Handschriften als im ersten Vers ergibt. Das sieht so aus: In B 1438,2 vragt der degen (diesmal übereinstimmend mit A und d); in C 1469,2 sprach der chunich (diesmal übereinstimmend mit DJabhKN); in Fragment l heißt es, die Alternativen kombinierend, sprach der degen. Auch der Austausch von Name und Appellativ kann in der Überlieferung hin und her gehen. Schon AB und C unterscheiden sich hierin gelegentlich; C 2019,3 der kunige spileman heißt in B 1963,3 Guntheres spilman (auch A 1903,3, ~ Db); J hat Volker der spilman; in Fragment F 2019,3 (zur *C-Bearbeitung gehörig) wird der kunige durch das klangähnliche der chune ersetzt. Wenn Hagen sagt, er habe Siegfried getötet, kann die Qualifikation Siegfrieds als ‚richtiger Held‘ (helt ze sinen handen, A 1728,3; ~ BC) in DJhK durch die Herkunftsbezeichnung ersetzt werden (der helt uz Niderlanden).
Brackert 1963, S. 85 – 97 stellt in Frage, dass sich bei der Ersetzung von Epitheta, wie Braune glaubt, in den Handschriften eine bestimmte Tendenz abzeichne.
Varianz im nominalen Bereich
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Verschiedene Personenbezeichnungen können kombiniert werden. Kriemhild setzt sich zuͦ Eceln dem richen (A 1807,2; ~ Bbd), zu Etzeln dem chunige richen (D 1866,2), ohne Epitheton: zuͦ Etzeln dem recken (J 1866,2; ~ h) oder zu Etzeln dem chunge (Q 1866,2). Zum Namen gehört hier ein Epitheton (ABbd); der Rang / eine andere Personenbezeichnung kann hinzutreten (D) oder das Epitheton verdrängen (JQ). Eigenschaften und Rangbezeichnungen sind austauschbar: der fürste Gernot (B 1459,1; ~ ADabdNl) kann durch der kuͤ n Gernot (JhK) ersetzt werden, der fuͤ rste Giselher (B 1460,1 et rell.) durch herre (a 1491,1). Auch Name und Funktion können füreinander eintreten: die Ruͤ degeres man (B 2167, 2; ~ DJah) können durch des margraven man (A 2107,2; ~ Cb) ersetzt werden.¹³ Demonstrativa können konkretisiert, durch Namen ergänzt werden, die Namen können gegeneinander ausgetauscht werden: Nie ist kostbareres gewant in diz lant gekommen B 1319,4; ähnlich A 1262,4 in daz lant: das Land, von dem eben die Rede ist. Die übrige Überlieferung spaltet sich, wenn sie angibt, welches Land gemeint ist: in Etzels Land (CJdhH), zu Bechelaren in daz lant (D) oder das Land Rüdigers (bg). Dem Sinn nach trifft alles zu. Der Wechsel zwischen den Epitheta – etwa vrolich und herlich – kann mit unterschiedlichen verstärkenden Floskeln kombiniert werden oder auch nicht: vil vrolichen (A 1641,4); vil harte herliche (B 1700,4; ~ Jdh); vil herlichen (C 1742,4); harte vrolichen (D); frolichen (b). Die Varianten sind belanglos; umso schlagender belegen sie das aleatorische Prinzip bei der Verteilung von Varianten. Ein Zeitraum kann unterschiedlich angegeben werden. In Bezug auf ihn sind sogar Tag und Nacht äquivalent. Einmal rät Hagen, sieben Tage später als die Boten zu Etzel aufzubrechen (B 1477.3; ~ CDabR), dagegen in anderen Handschriften sieben Nächte danach (A 1420,3; ~ JdhK). Braune hat die Verteilung von Tag- und Nachtzählung in der Überlieferung und im zeitgenössischen Sprachgebrauch untersucht, um Auskunft über die Echtheit der einen oder anderen Lesart zu gewinnen; primäres Faktum aber ist, dass beide Formulierungen geläufig waren und deshalb alternativ verwendet werden konnten, je nach dem, welche der Schreiber kannte.¹⁴ Bei Ersetzung kann sich auch die syntaktische Struktur ändern: unervo(r)hte(n) (A 1723,4; ~ B¹⁵CDK; d unvorhtsam) ist gleich ane forht (J 1782,4; ~ bh). Bewertende Ausdrücke sind gleichwertig. Rüdiger zeigt vil wol (B 1654,2; ~ Jdgh), dass er dienstbereit gegenüber Gunther und seinen Leuten ist, wobei das verstärkende vil fehlen kann (A 1597,2). Db 1654,2 drücken an der gleichen Stelle Rüdigers Dienstbereitschaft durch mit treuwen aus. Funktionsgleiche Elemente können einander ersetzen. Für Zusammenfassungen von Personengruppen steht ein reiches Repertoire zur Verfügung: gedigene, gesinde, man, mage und man, das austauschbar ist. Darüber hinaus ist variabel, wie Konklusionsformeln gebildet werden. Utes Worte an die hunnischen Boten schließen mit einem Segensspruch für Etzel und Kriemhild: nu sin [Plural!] immer Über diese und vergleichbare, nicht entscheidbare Stellen Brackert 1963, S. 21 (der jedoch nach A zählt). Braune 1900, S. 99 – 101. B 1782,4 hat undervorhte von Bartsch in unervorhte korrigiert.
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selich ir und Ecelen lip (A 1395,4; ~ B 1452,4). Jh stimmt damit grundsätzlich überein, ergänzt aber das Subjekt im Anvers und ersetzt ir lip durch si: nu sien si immer selig si und Etzeln lip (J 1452,4); Fr. l hat im Anvers statt des Plurals den Singular (jetzt bezogen allein auf Kriemhild), stimmt aber im Abvers mit J überein: nu si iemer saͤ lig si und Ezzelen lip (l 1452,4). In D 1452,4 ist der Wunsch syntaktisch anders ausgedrückt: daz si immer selic si und ouch Etzelines lip; b konstruiert ebenso; N 1452,4, obwohl sonst mit der *Db-Gruppe verwandt, hat die Konstruktion von A und B und stimmt – außer dem Verb im Singular – mit J überein, Nu si immer selic sie und Ezeles lip. In Fr. K 1452,4 entspricht der zusammenfassenden Formel (ir/si und Ecelen lip) die Formulierung ir beider edeler lip; das stimmt mit der hier durch Hs. a vertretenen Formulierung in *C überein. An der Aussage: ‚Ute kann Kriemhild nicht, wie sie gerne würde, besuchen; es ist zu weit; sie wünscht ihr und Etzel alles Gute‘ ändert sich nicht das Geringste, doch in den überlieferten Handschriften ist die triviale Formel – bis in die grammatische Struktur – jedes Mal variiert. Adverb + Verb und Adjektiv + substantiviertes Verb, z. B. minnecliches scheiden (CDJabhV) und minnecliche(n) scheiden (AB) sind äquivalent. Ein Partizip kann durch ein Adjektiv ersetzt werden: beim Hochzeitsfest Siegfrieds und Gunthers sieht man diesen trurende (B; ~ACJadh) einhergehen oder traurigen (Db). Allerdings kann die Variation auch einen Sachverhalt mehr oder weniger genau beleuchten. Es gibt unterschiedliche Aspekte, die hervorgehoben werden. Vor dem Empfang Brünhilds in Worms stehen auf dem Hof diu vrowenpferht bereit (B 568,1), also Zelter. Jh spricht nur von pfaert, bezeichnet die Art der Pferde also nicht. Db hat der vrouwen pfert, weist die Pferde also nur den Frauen zu. Epitheta müssen nicht völlig synonym sein, ihr Wechsel kann unterschiedliche Akzente setzen. Die Wasserfrauen, die Hagen befragt, verfügen über ein Wissen über die Zukunft, dessen Zuverlässigkeit Hagen durch das Attentat auf den Kaplan zuerst erprobt und das er dann zur Leitlinie seines Handelns macht. Aber dieses Wissen ist unheimlich, die Frauen sind Angehörige einer dämonischen Welt. Sie sind folglich zugleich wisiu und wildiu. Diese beiden Bezeichnungen wechseln sich, auf unterschiedliche Handschriften verteilt, ab. In B 1530,3 heißt es wie in A und den übrigen Handschriften wisiu, nur Hs. D 1530,3 schert aus, die schon hier wildeu hat. Auch in A 1529,1, heißen die Wasserfrauen wieder die wisen merwip (~ DbdHLg); dagegen hat B 1586,1 die wilden merwip wie schon in B 1571,3 (wildiu) und in der ganzen restlichen Überlieferung. Beide Möglichkeiten standen nebeneinander zur Verfügung und wurden von den Schreibern zur Kennzeichnung der dubiosen Gestalten benutzt. Die Frage ist nicht, was ursprünglicher ist, auch nicht, was in der Situation jeweils passender. Es kam darauf an, die Ambivalenz durch den Wechsel der Epitheta auszudrücken. Aufschlussreich ist ein Vers aus Dietrichs Endkampf mit Gunther. B 2355,3 erklärt die Erbitterung dieses Kampfes so: wand er nach starchem leide sin hercevient was. Auch C 2417,3 (~ Db) bringt den Vers in dieser Form. Schlüsselwörter sind leit und vient; starch und herze sollen die Aussage verstärken. Die doppelte Verstärkung ist offenbar alternativ. In A 2295,3 lautet der entsprechende Vers A 2293,3 wan er nach starchem leide | do sin[t] feint was. A verzichtet also auf eines der verstärkenden Elemente – was zur Folge
Singular und Plural
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hat, dass der Abvers unterfüllt ist. In J 2355,3 und den Fragmenten K und Y (mit Diphthongierung) sind dagegen die beiden verstärkenden Elemente gegenüber B vertauscht und die Präposition geändert (wan er von herzen leide sin starker vint was). An der Aussage ändert sich nichts, wohl an der Intensität des Ausdrucks. Präsumtivvarianten sind synonym oder quasi-synonym. Manchmal aber reicht schon die Zugehörigkeit zur gleichen Wortklasse zur Austauschbarkeit. Der Zusammenhang: Gernot erzwingt die Herausgabe von Kriemhilds restlichem Gold, das Hagen zurückhalten will: Mit gewalt des chuͤ neges den sluͤ zzel stiez er an di tuͤ r (B 1274,1; ~ rell.). In B 1273,1 und DabU ist es die Tür zu Kriemhilds kemenate, während A 1216,1 und C 1299,4, ebenso wie Jdgh die Tür zer kameren nennen. Heinzle übernimmt in seiner Ausgabe zwar die Lesart von B, kritisiert sie im Kommentar aber: Besser sei die Lesart kameren, weil das Gold „gewiß nicht in der Kemenate aufbewahrt worden“ sei, sondern in der Schatzkammer (zu der die Könige den Schlüssel haben).¹⁶ Das leuchtet ein; auch dürfte Kriemhilds Kemenate kaum mit gewalt der chuͤ neges geöffnet werden müssen. Andererseits betont kemenate die Zugehörigkeit des Horts zu Kriemhild. So sind kamer/ kemenate nahezu gleichmäßig in der Überlieferung verteilt. Offenbar war kamer/kemenate – trotz Heinzles Bedenken – austauschbar als Bezeichnung für eine bestimmte Klasse von Räumen, die nicht allgemein zugänglich sind, zu denen man sich notfalls gewaltsam Zugang verschaffen muss. Auf dieses Merkmal kommt es im Handlungszusammenhang an; das Kriterium ‚Aufbewahrungsort für einen Schatz‘ tritt demgegenüber zurück. In dieser Hinsicht äquivalent, gehörte die Alternative offenbar in den Toleranzbereich von Varianz. Welcher Raum passender ist, mag die Auswahl gelenkt haben, aber hindert offenbar nicht, dass beide Möglichkeiten zur Verfügung standen. Im Allgemeinen gibt es wenig semantische Unterschiede. Es ist ein bekanntes Phänomen auch von Alltagsrede, dass, um einen Sachverhalt auszudrücken, mehrere Alternativen zur Verfügung stehen. Es sind meist verhältnismäßig belanglose Situationen, in denen solche Varianz auftritt, denn hier ist die konkrete Versprachlichung gleichgültig. An den pathetischen Höhepunkten der Handlung setzt sich dagegen eine bildkräftige Formulierung in der gesamten Überlieferung eher durch.¹⁷
Singular und Plural Syntaktische Varianz geht mit der Lexik zusammen. Singular und Plural alternieren. A 1508,3 findet Hagen das Schiff, mit dem er über die Donau setzen will, bi einer wilten widen, dagegen in B 1565,2 bi den wilden weiden; Db und das Fragment H haben die AVariante. Manchmal legt die Verteilung der Varianten nahe, eine Lesart zu bevorzugen: Um zum Quell zu gelangen, an der Siegfried ermordet wird, muss man B 969, 1 zu den linden gehen statt zu der Linde (~ rell.); auch in B 974,3 lehnt Siegfried dann wenig später
Heinzle 2013a, S. 1315. Vgl. S. 128 – 129; 328 – 329.
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wie in der Restüberlieferung seinen Speer an der linden ast; aber die Diskrepanz (die ja nicht unmöglich ist), ist dem Schreiber nicht aufgefallen. Kriemhild grüßt Siegfried; bi der hende si in vie (B 291,1; ~ DJb(h)), bihende (E 295,1), bi henden C 295,1. Das zu *C gehörende Fr. E hat wie die not-Handschriften den Singular. – Hagen bricht beim Versuch, das Schiff auf der Donau zu manövrieren, das Ruder an siner hant (A1504,2), in der hende (B 1561,2), in sinen handen D, an der hende b (~ Hd und – mit Possessivpronomen – g). Der Vorgang ist klar, und deshalb können die Präpositionen wechseln; ob beide Hände beteiligt sind, ist gleichgültig. Ebenso gleichgültig, ob Etzel die Burgunden in sein Land (A 1344,3 in min lant) oder seine Länder (B 1401,3 her in miniu lant) laden will,¹⁸ oder ob er ihnen vorwirft, sine lant (A 1389,4) / siniu lant (B 1446,1; ~ CJbdhKl) zu meiden oder sin lant (DaN).Wird gesagt, dass bewaffnete Männer Kriemhild begleiten oder Kriemhild und ihr weibliches Gefolge: A 1234,3 fuͦ rte man bi der vrowen oder B 1291,3 furt man bi den vrowen (~ CDJabdh)? Hier ist die A-Version deutlich schwächer belegt. Vom Sinn her aber ist eine Entscheidung nicht möglich. Natürlich kann man oft Gründe für diese Ungenauigkeit angeben. Häufig, aber nicht immer scheint die Fehlinterpretation eines Nasalstriches die Ursache für den Austausch von Singular und Plural hier wäre eine schriftliche Vorlage vorauszusetzen; in anderen Fällen erfolgt der Austausch ohne diesen Hintergrund. Der erste Typus: Gernot und Giselher drücken Siegmund ihr Bedauern über das aus, was ihm in Worms widerfahren ist; C 1107,3 – 4 lautet in was sin schade leit | des brahten in wol innen die helde kun und gemeit. A 1036,3 und B 1093,3 beziehen das Bedauern fehlerhaft auf Siegmund (im was sin schade leit) statt auf sie beide (in); das gibt keinen Sinn. Auch DJabdhV haben richtig in. Hier ist der Fehler klar. Doch Wechsel zwischen Singular und Plural kann auch eine sinnvolle Bedeutungsvariante ergeben. In den Handschriften DbV bedauern Gernot und Giselher den Verlust, den die Nibelungen insgesamt erlitten haben, nicht Siegmund allein (in was ir [statt sin] schade leit | des brahten si wol innen die helde kuͤ n unde gemeit, D 1093,3 – 4). Das hat seine Wurzel in der sorglosen Behandlung der Personalpronomen, die im mündlichen Vortrag nicht einmal auffallen musste. Aber die Variante hat auch einen Perspektivenwechsel zur Folge, von der Einzelperson auf die Gruppe. Nach Kriemhilds Aufenthalt in Bechelaren reitet der Zug weiter nach Osten: hey waz do guter degene mit ir von Bechelaren reit (B 1318,4). A 1261,4 hat stattdessen mit in. Das ist ebenfalls möglich: Kriemhild (‚sie‘ Singular) und ihr Gefolge (‚sie‘ Plural) reiten weiter. B wird von den Hss. CdH gestützt; die Lesart von A auch in DJabhRg. Beide Lesarten finden sich sowohl in not-Handschriften (ir in BdH; in ADJbhg) wie in Handschriften der Bearbeitung *C (ir in C; in in aR). Der Sachverhalt ist derselbe: ‚Kriemhild reitet mit großem Gefolge von degene weiter‘; da kommt es auf die Einzelheiten, wer mit wem reitet, nicht an. Das auszugestalten ist dem Sänger/Kopisten überlassen. Wer die Geschichte von Kriemhilds Reise zu Etzel ‚richtig‘ erzählen wollte, hatte beide Möglichkeiten. Um den
Den Singular haben auch DJbh (J in ditze lant), den Plural Cal.
Varianten im Bereich der Pronomina und Synsemantica
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Wechsel zu erklären, muss man nicht komplizierte Kontaminationsprozesse zwischen den not- und den liet-Handschriften annehmen. Es scheinen manchmal belanglose Änderungen, die kaum auffallen, die aber zeigen, dass der Text nicht den Anspruch erhebt, in allen Details durchorganisiert und widerspruchsfrei zu sein. Das wird auch an der Darstellung des Raumes und räumlicher Details sichtbar. Man erhebt sich bei der Hochzeit Gunthers mit Brünhild und Siegfrieds mit Kriemhild von den tische (A 578,2 – auch hier ein falsch interpretierter Nasalstrich, also Singular?) – bzw. von dem tische (DbQ). C 629,2 hat von den tisschen; dem folgen Jh und (die mit B eng verwandte Hs.) d.¹⁹ Dankwart sitzt mit dem Tross A 1858,3 ob den tischen, B 1918,3 ob dem thisse; Hs. DJQ hat den Singular, C 1973,3 wie b und Fr. N den Plural.
Manchmal ist die Verteilung der Lesarten noch divergenter, die Aussagen unabgestimmt: Wo landet der Kopf von Ortliebs magezoge? Vor dem Tisch oder vor den Tischen? B 1959,3 hat vor dem thisse (so auch Jb), A 1899,3 vor tische (auch D); C 2015,3 vor tischen. Der Plural in C (grammatisch schwierig, da ohne Artikel) ist in Hs. a und Fr. F 2015,3, obwohl zur *C-Fassung gehörig, in den Singular korrigiert.²⁰ Kurz darauf ist in C 2020,1 von mehreren Tischen die Rede: von den tischen (auch F), während B 1964,1 wieder den Singular hat (so auch DJ; A 1904,1 spricht – Fehlinterpretation eines Nasalstriches? – unklar von dem tischen); b 1964,1 dagegen folgt der C-Version.²¹
Der Text bemüht sich nicht um genaue Erfassung der Gegenständlichkeit. Hintergrund ist, dass die konkrete räumliche Situation der Szene nur ungefähr dargestellt ist. Der Text begnügt sich mit dem wichtigen Detail – der Kopf fällt auf den Boden – auf die übrigen Einzelheiten achtet er – achten die Kopisten – nicht besonders. Deshalb können hier Varianten auftreten. Dieses Ungefähr charakterisiert das Nibelungenlied nicht nur in diesem marginalen Detail, sondern in der Gestaltung vieler Umstände. Es ist Eigenart der Poetik des Textes.
Varianten im Bereich der Pronomina und Synsemantica Im Bereich der Pronomina und Synsemantica ist der Wortlaut besonders wenig festgelegt. Die Folge sind oft minimale Änderungen der Perspektive. Funktionsähnliche Wörter können für einander eintreten: der bestimmte Artikel, Demonstrativpronomina, Personalpronomina, Possessivpronomina. Am Ende des Siegesfestes verteilt der König reiche Gaben sinen friunden (A 316,2; ~ b) oder den vriwenden sin (B 315,2; ~ CD). Das ist nicht mehr als eine grammatische Variante. Etwas weiter geht die folgende Variante: Bevor sie zu Rüdiger gelangen, suchen die Burgonden einen Gastgeber, der mit ihnen daz B 621,2 hat von den rossen – eine andere Situation, wohl weil im nächsten Vers vom Buhurt die Rede ist, von dem die ritter sich eilends erheben. Die Stelle fehlt in d. Ein weiteres Beispiel: Es gibt keinen besseren Dienst als den, den ein Freund seinem Freund (friunde) nach dem Tod tut (C 2322,2), oder friunden (Z 2232,2).
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brot (A 1577,4) teilt oder sin brot (B 1634,4). Hss. D, J und d stimmen mit B überein, Hs. b²² und die Fragmente g und l dagegen mit A. Angebliche Handschriftengruppen werden dadurch auseinandergerissen, denn D und b gehören zusammen, g wird als zu *A gehörig angesehen, l dagegen *J zugehörig. Häufig werden auch die grammatischen Kategorien ausgetauscht, so der bestimmte Artikel und das Demonstrativpronomen. A 1371,2 in daz lant (~ BCJabdhl) wird ersetzt durch K 1428,2 in ditzelant oder D in unser. Die Unterschiede sind marginal. Es ist immer dasselbe lant, von dem Gunther spricht. Ein Personalpronomen kann anstelle eines Demonstrativums stehen: J 1773,4 den (~ ABCDabdh) steht gegen das mit J verwandte Fr. K in. A 1239,2 hat das Pronomen daz (~ zu *J gerechnete Fr. Q), dagegen B 1296,2 es (~ DJabd). – In A 669,1 will Brünhild herausfinden, ob daz mohte geschehen, dass Kriemhild und Siegfried nach Worms kommen (~ JhQ); B 723,1 hat iz statt daz (so auch Dbd). – Man will Kriemhilds Wunsch, Siegfried einzusargen erfüllen: daz si getan (A 976,4) bzw. daz sol werden getan (B 1032,4; ~ DJbd); Fr. Q hat stattdessen ez. Der Genitiv des Personalpronomens kann gegen das flektierte Possessivpronomen ausgetauscht werden. B 708,3²³ bi allen ir tagen (~ J) heißt in Dbd und dem zur *J-Redaktion gezählten Q bi allen irn tage, ähnlich bei den übrigen Personalpronomina, etwa sin gegen siner/-s, sinem/sime. Der Genitiv des Personalpronomens (mit ir handen A 2310,3; ~ CDabK) kann auch an die Stelle des bestimmten Artikels oder eines Demonstrativums treten: J 2370,3 mit den handen (~ hY). Ein Personal- oder Demonstrativpronomen kann verdeutlichend einem Nominalsyntagma eingefügt werden (Typus: die Ezlen videlære die hiez man do ze hove gan R 1515,4 gegen C 1515,4 wo die fehlt). Konjunktionen sind austauschbar. Rüdiger will Kriemhild selbst sagen, war nach er nach Worms gekommen ist (A 1166,4; B 1226,4; ~ bdV); D 1226,4 schreibt war umme, J durch waz. Präpositionen können wechseln. C 259,1 der helt von Niderlant (~AB) kann auch uz Niderlant heißen (Db). Siegfrieds Gefolgsleute heten do zuͦ strite wan (A 987,4) oder gegen strite (B1043,4); der (ge‐)gen-Form folgen DJbd, zu (ze) dagegen Q. Hagen strauchelt an siniu knie (A 1500,3; B 1557,3; ~ Hl) oder uf (Dbd). Niemand ist Kriemhild, wie sie den Boten einschärft, ce der werlde (A 1357,2), zer werlde (B 1414,2), zu dirr werlde (D 1414,2), zuͦ diser welt (b 1414,2) oder in der welde (JdK) lieber als Gernot. Beim Kampf Wolfharts gegen Giselher spritzt das Blut vor fuzen (C 2353,3) bis über den Kopf; in B 2291,4 under fuͦ zen (~ A 2231,4, aber auch das zur *C-Bearbeitung gehörige Fr. Z 2353,4). Die Variante kann die Präposition selbst, das Hinzusetzen eines Artikels, eines Personal- oder Possessivpronomens betreffen und die Verschmelzung oder Nicht-Verschmelzung der Präposition mit dem folgenden Wort. Nebeneinander steht B 1970,1 do wolden di dar uz zir friunde sin dar in, A 1910,1 zuͦ irn, Db zu iren, Jh zuͦ den friunden, C 2026,1 mit friunden sin darin; das zur *C-Gruppe gehörige Fragment F 2026,1 folgt der BGruppe (zir). Wieder ist die Aussage eindeutig, die Versprachlichung aber variiert.
In b sind Str. 1633 und 1634 zusammengezogen. In A fehlt die Strophe.
Füllwörter
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Die Lesarten müssen nicht gleichwertig sein. Es gibt eindeutig bessere Lesarten B 1295,2 heißt: die burgæren von der stat (so auch ADbg) gegen JhH die burgere […] in der stat; d hat fehlerhaft in die stat. Das belegt wieder die geringe Aufmerksamkeit, die diese Seite des ‚wording‘ erfährt. Insgesamt aber zeigt sich an solch marginalen Varianten, dass die sprachliche Oberfläche des Textes gleichgültig ist.
Füllwörter Aufschlussreich ist die Verteilung von Füllwörtern. Als Füllwörter definiere ich die kurzen Wörter, die für den Gesamtsinn eines Satzes entbehrlich sind, ihn aber lokal (da, hie) oder temporal (do) präzisieren, seinen Sinn verstärken (vil, harte), abschwächen (lutzel), abtönen (leider) oder zu anderen Sätzen in Beziehung setzen (ouch) und dgl. Diese Füllwörter werden scheinbar beliebig eingeschoben, weggelassen oder ausgetauscht. Manchmal haben diese Operationen eine befriedigendere Erfüllung der metrischen Struktur zur Folge, manchmal verstoßen sie aber auch gerade gegen den metrischen Idealtypus. Die Inkonsequenz des Austauschs verbietet es, ihm einen Richtungssinn zu unterstellen. Auf sie genealogische Abhängigkeiten zu gründen, ist schon bei den vollständigen Handschriften unmöglich, weil die Befunde widersprüchlich sind. Bezieht man die Fragmente in die Betrachtung ein, dann wird die Überlieferung erst recht unübersichtlich. Im Kampf Hagens mit dem Fährmann resümiert B 1558,4 da von der Elsen verge grozen schaden da gewan; in A 1501,4 fehlt das zweite da (~ a); die Formulierung ohne Füllwort wie in A findet sich in Dbd, diejenige von B (mit da) in g 1558,4. D ersetzt das erste da durch do. – Ein anderer Fall: Weder A 1505,2 noch B 1562,2 haben ein Füllwort da, aber Hs. b fügt es ein, ebenso Hs. a und Fr. g; Hs. D hat stattdessen so, d schreibt de und Fr. H hat do. Die Bedeutungsdifferenzen zwischen da (lokal) und do (temporal) wird in den Handschriften nicht beachtet, vermutlich weil sie abgeschliffen ist, schon früh scheint sie gleichgültig geworden zu sein: A 1506,4 und B 1563,4 haben beide die zeitliche Bestimmung do; D folgt ihnen darin, doch Hs. b hat da, ebenso Fr. g. – Statt der temporalen Bestimmung A 1617,3 sid hat B 1676,3 do; Dbd folgen B; in J fehlt das Zeitwort (daz truͦ gen an […]). An der alternativen Einleitung des Kampfausbruchs an Etzels Hof zeigt sich, dass do und da als austauschbar sowohl in kausaler wie temporaler Bedeutung behandelt werden. Eng verwandte Handschriften wie B und M unterscheiden sich hauptsächlich durch die Füllwörter, fehlende oder zusätzliche oder ausgetauschte.²⁴ Der Blick auf die übrigen Fragmente bestätigt das Bild. Austauschbar sind auch die jeweiligen Funktionen von Füllwörtern (Lokalisierung, zeitliche Fixierung, Emphase etc.). B 1653,2 liest Ruͦ dger der snelle vil vroͤ liche sprach; A 1596,2 hat einen anderen Anvers, im Abvers dann ein do
B 1389,4 da fehlt M; B 1445,1 ouch fehlt M; M 1412,3 her fehlt B 1414,3. Anstelle von M 1388,4 vil steht in B 1388,4 ouch; anstelle von B 1419,4 da in M 1419,4 do.
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eingeschoben, dafür auf das verstärkende vil verzichtet: vrolichen er do sprach (diese Formulierung hat auch g); D 1653,2 stimmt in An- und Abvers mit B überein, tauscht aber das Adverb aus (Rudeger der snelle vil gutlich er sprach); Hss. J, b und d dagegen haben wie vrolich er sprach, doch ohne dass Füllwort da. Das sind marginale Varianten. Sie demonstrieren aber wieder, dass es auf die sprachliche Oberfläche in solchen Details nicht ankommt. Die Nuancierung der Aussage bleibt dem jeweiligen Erneuerer des Nibelungenliedes überlassen. Füllwörter dienen der Kontextualisierung, Präzisierung und Bewertung des Erzählten. Diese ist variabel. Dem Erzähler kommt es einmal auf die Emphase an (harte, vil, wol), einmal um die Abtönung (leider), einmal um die nähere räumliche Angabe (da, hie, her), einmal um die zeitliche Bestimmung (do, nu), manchmal auch nur um die syntaktische Verknüpfung (ouch, aber, doch, noch, so). Welche Alternative er wählt, scheint ihm freigestellt zu sein. Wie die Stimme beim Vortrag des Textes durch Intonation diesen je anders nuancieren kann, kann auch in der Schrift mittels der Füllwörter eine Nuancierung erfolgen, ohne dass sich an der Aussage Grundsätzliches ändert. Die Nuancierung des mündlichen Vortrags hat ihr Pendant in der Abtönung des aufgeschriebenen Textes. Diese Abtönung ist beide Male nicht festgelegt; sie ist Leistung der einzelnen Adaptionen.
Varianten im Verbalbereich Synonyme Verben oder quasi-synonyme Verben können ebenso wie Nomina ausgetauscht werden. Ist es nicht gleich, ob man Kriemhilds Heirat mit Etzel zulässt oder sogar begrüßt (beliben A 1148,4; gelieben Db 1205,4) oder ihr keinen Widerstand entgegensetzt (ungevehet lässt B 1205,4; ~ CJaQ)? Verbreitet ist erst recht der Austausch von (Quasi‐)Synonymen. Helche ist (d)erstorben (A 1109,2; ~ CDJabdhQ) oder verdorben (B 1166,2). Weitere Beispiele gibt es zuhauf. Die verbale Konstruktion kann in Bezug auf denselben Sachverhalt schon zwischen den ältesten Handschriften variieren. Oft wurzelt das in der Sorglosigkeit, mit der in den Handschriften die Morphologie behandelt wird. Wenn auf distinktive Merkmale bei Kasus und Numerus nicht geachtet wird, können beide leicht vertauscht werden. Wer küsst wen beim Abschied Kriemhilds von Worms und wer wird von wem geküsst? Einmal küsst Kriemhild die Verwandten (B 1290,1), einmal die Verwandten Kriemhild (A 1233,1). Subjekt und Objekt sind vertauscht, sodass das Verb einmal im Singular, einmal im Plural steht: A 1233,1 hat die ir mage waren | chustens an den munt; B 1290,1 dagegen die ir mage waren die chustes an den munt. Der Singular-Version folgen CDJahHVg, der Pluralversion Abd. Die Alternative steht wieder quer zu sonstigen Textverwandtschaften (wie der zwischen a und C; d und B; b und D, Lg und A).²⁵ Dahinter steht kaum eine Absicht, und die Alternative ist unentscheidbar. Aber sie impliziert einen Wechsel der Perspektive. Sie wirft aber auch ein Schlaglicht auf die Nachlässigkeit,
In d ist der Vers verderbt.
Varianten im Verbalbereich
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mit der Endungen, sonstige Morpheme, enklitische Pronomina oder weitere kleine Textelemente behandelt werden, wie schon bei nicht-distinktiver Schreibung von Pronomina festgestellt wurde. Die Überlieferung hat fast übereinstimmend, dass Giselher zu dem degene (= Hagen) sagt, er könne ja, wenn er sich schuldig wisse, zuhause bleiben und nicht mit zu Etzel ziehen (B 1460,1): Do sprach der fuͤ rste Giselher zu dem degene. Nur Hs. D nutzt die Möglichkeit zu einer Variante, indem nicht der Adressat der Aussage angegeben wird, sondern der Sprecher durch eine Apposition näher charakterisiert: Do sprach Gyselher der furste der uzerwelte degen (D 1460,1). Hier kann man die Entstehung der Variante vermuten: degen wurde in neuen syntaktischen Zusammenhang eingefügt.Wo man nach dem ursprünglichen Text sucht, liegt die Entscheidung gegen D nahe; nicht einmal die mit D verwandten Handschriften b und N folgen D. Wo man aber nach Lizenzen zu Varianten der Textgestaltung fragt, ist die Lesart grammatisch und semantisch möglich. Auch das Tempus ist variabel. Präsens und Präteritum können wechseln, und zwar wieder fassungsübergreifend. Dietrich sagt vorwurfsvoll, den Amelungen sei recht geschehen, weil sie Streit mit den Burgonden gesucht haben, obwohl er sie als Freunde bezeichnet habe (do ir mich friuntschepfte den recken hortet gehen, B 2309,2; auch DJb). A 2249,2 hat dagegen horet jehen, das Präsens also. C 2371,2 hat ebenfalls das Präteritum, doch das Fr. Z, das zu *C gehört, wie A das Präsens. Der Rückbezug auf Dietrichs explizites Verbot (B 2235,4) mag für das Präteritum sprechen, doch das Präsens – Dietrichs Versicherung der Freundschaft mit den Burgonden gilt aus seiner Perspektive immer noch – ist von den frühsten Textzeugen an eine plausible Alternative.²⁶ – Swämmel klagt, wenn Hagen ihm die Hand abschlägt, in A 1901,2 waz han ich iu getan (~ a); in B 1961,2 waz het ich iu getan (~ CJbhFQ), hette D. Die Mehrzahl der Handschriften gibt B den Vorzug, aber die not-Fassung kennt beide Formen. Die Modalität einer Aussage kann abgewandelt werden. Zwischen Indikativ und Konjunktiv kann gewechselt werden – soweit der Sinn nicht tangiert wird –, je nachdem, ob man eine Möglichkeit erwägt oder ob man imaginiert, dass sie eigetreten ist. Gunther sagt, er fürchte nichts von Kriemhild, sollte sie Etzel heiraten. Das wird verschieden ausgedrückt: und wurde si sin wip (A 1146,3; ~ CDbV), und wære [si] sin wip (B 1203,3), und wirt si halt sin wip (J 1203,3; ~ Q). Der Wechsel des Modus bzw. Tempus geht hier mit einem Wechsel des Verbs einher. Ob die Verbindung mit Etzel eine Möglichkeit ist, ob eine Tatsache, die man sich vorstellt, ob etwas, das sich erst in der Zukunft realisieren könnte, ist gleichgültig für Gunthers Aussage: ‚Ich besorge nichts von dieser Heirat‘. Dafür stehen unterschiedliche Formulierungsmöglichkeiten zur Verfügung. Auf Volkers Hilfszusage hin ist Hagen beruhigt: was braucht er mehr, wenn ein Kampf droht, als solch ein Versprechen (ob si mit mir stritent wez bedarf ich danne mer A 1717,2; ~ BDd). C wechselt den Modus bedorft (C 1820,2; ~ b), J hat noch deutlicher doͤ rft: (wenn es nötig sein sollte) ‚was bräuchte ich dann noch?‘ Das mit J verwandte K hat
Vgl. Müller 2020, S. 367.
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wieder bedarf. Die Aussage ist dieselbe: Wenn die Möglichkeit eintritt, braucht Hagen keine weitere Hilfe – oder würde er keine weitere Hilfe brauchen. Bedingungen können verschieden formuliert werden: Kriemhild warnt vor den Folgen, wenn die Hunnen zuließen, dass ihre Brüder aus dem Saal herauskommen. Das ist einmal im Präsens formuliert (A 2037,2 chomens; so auch B 2097,2; ~ CbdNQ²⁷). Doch Kriemhild erwägt nur eine Möglichkeit (die sich nicht realisieren wird), weshalb D 2097,2 (und Jah) den Irrealis ausdrückenden Konjunktiv hat (quemens (koͤ mens) an den wint). Im folgenden Vers sind die Modi anders verteilt; Indikativ haben A 2037,3 / B 2097,3 erchuͦ len (~ bdNQ), aber jetzt auch Jh, nicht aber C 2156,3 (~Da): erchulten. Wieder steht die Alternative quer zu den Handschriftengruppierungen (C gegen a; bN gegen D; J gegen Q); Jh geht im zweiten Fall mit der Mehrzahl der Handschriften, im ersten nicht. Auch die oben erwähnte ambige Gestalt des a-Umlauts begünstigt den Wechsel zwischen Indikativ und Konjunktiv.
Syntaktische Varianten Zahlreich sind auch syntaktische Varianten. Sie sind zwar viel weniger häufig als Austausch nominaler und verbaler Lexeme, aber sind doch nicht notwendig ‚Fehler‘. Besprochen wurde schon, dass in Konstruktionen Artikel + Genitiv + anderer Kasus der Artikel dem Genitiv oder dem anderen Kasus folgen (des gegen der strites not) kann.²⁸ Die Bedeutung wird dadurch nur minimal verschoben. Wenn zu Genitivkonstruktionen wie kuniges kint ein Adjektiv tritt, kann es sowohl vom Genitiv wie vom Bezugswort attrahiert werden: A 1169,1 vil edel kuniges kint kann B 1226,1 durch vil edeles chuniges kint ersetzt werden, und die Überlieferung kann der einen oder anderen Lesart folgen (der ersten CJdh), der zweiten DbW).²⁹ Ein vergleichbar verbreitetes Variationsphänomen ist die Umstellung von Satzteilen. Begünstigt wird sie durch die Ausdehnung des Langverses, sodass sie in der Überlieferung des Epos wesentlich häufiger ist als in Reimpaardichtungen. Bei metrisch identischer – oder nach Meinung der Schreiber wenigstens ähnlicher – Struktur kann die Reihenfolge von Satzteilen vertauscht werden, wenn der Sinn dadurch keinen Schaden nimmt. Von diesem Typ (wie E 288,4 nie so waetlichen sach gegen C 288,4 so waetlichen nie gesach) gibt es von Anfang an zahllose Beispiele. Die in der Überlieferung ubiquitäre Umstellung von Satzteilen findet sich schon im Verhältnis der Handschrift A zu B. Zieht Kriemhild und ihre Begleitung balde dannen (A 1235,1), oder dannen balde
Das Fragment Q ist an dieser Stelle defekt und schwer leserlich. Die Form Q 2097,2 chómen (so Koflers Apparat der Ausgabe von J) könnte auch den Konjunktiv meinen. Dagegen transkribiert Kofler in seiner Ausgabe des Fragments chomen. Ich lese im Fragment gleichfalls chomen, doch der Irrealis ist gleichfalls möglich. Vgl. oben S. 106; Müller 2020, S. 379. Dass diese Variante sich nahezu automatisch einstellt, habe ich an B 1210,1 der schoenen Uoten sun gegenüber dem vermutlich fehlerhaften A 1153,1 der schoene Uoten sun erläutert (Müller 2020, S. 379).
Syntaktische Varianten
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(B 1292,1; so auch Jdh) oder nider balde dannen (Db). – Rüdiger ist gesund aus Worms zurückgekehrt: A 1249,3 von Rine was komen (so auch Db) oder B 1306,3 was von Rine chomen (so auch CJdh). – A 2217,3 lautet swaz er da vor in strite hete getan, so auch in J, dagegen in B 2277,2 swaz er da vor hete in strite ie getan; so auch in Db (ohne ie) und in Fr. g. Diese Umstellungen sind wieder nicht unbedingt an eine zusammengehörige Handschriftengruppe gebunden: In der oben zitierten Umstellung E 288,4 nie so waetlichen sach gegen C 288,4 so waetlichen nie sach stimmt E mit B, C dagegen mit A überein. In E 292,3 der wirt iu hat erloubet ist die Wortfolge dieselbe wie in allen übrigen Handschriften von *C, dagegen ist die Lesart von C 292,3 der wirt hat iu erloubet isoliert. Solche Veränderungen erfolgen nicht fassungsgebunden, weil sie im Lizenzbereich von Varianz liegen. Ein Satzglied kann vor oder hinter die Zäsur im Vers platziert werden. Wenn nur ausnahmsweise eine buchstabengetreue Kopie erfolgt und man annehmen muss, dass in der Regel größere Texteinheiten reproduziert wurden, die – u.U. mit Hilfe eines schriftlich vorliegenden Textes – kurzzeitig memoriert werden mussten, dann liegt die Umstellung von Satzgliedern nahe. Die Vertauschung zwischen An- und Abvers ist ein Indiz, dass vermutlich der ganze Vers die memorierte Einheit war. Doch gibt es Gegenbeispiele. Gerade dieser Typus von Umstellungen kleinerer Syntagmen zeigt aber den Unterschied zur Volatilität mündlicher Dichtung. Zwar sind auch größere Umstellungen möglich, nicht aber wie in Oral formulaic epic von Versgruppen, kaum von einzelnen Versen, geschweige von ganzen Episoden oder sonstigen Erzählkomplexen. Allenfalls bei Zusatzstrophen kann der Platz variieren.³⁰ Größere Abweichungen gibt es vor allem in der Bearbeitung *C. Auch hier ist allerdings die Regel, dass das Wortmaterial erhalten bleibt. Die Beispiele für den Austausch von Versen und Halbversen zwischen B und C, die Haferland als Beleg für Erinnerungsvarianten anführt,³¹ lassen sich ebenso wohl als Produkte eines gezielten Neuarrangements des Erzählmaterials verstehen, das eine linear schlüssige Handlungsfolge anstrebt. Nur wenn man den Text in B als Norm ansetzt, lassen sich die Varianten als Fehlleistungen des Gedächtnisses interpretieren. Das Wortmaterial kann auch syntaktisch anders geordnet werden, indem das Material für Subjekt und Verb die Position tauscht, aber die Aussage die gleiche bleibt. Der Lärm beim Kampf der Burgonden gegen die Bayern ist ein Beispiel dafür; die Auffassung von Nomen und Verb scheint zu differieren: A 1550,1 Von ir ingesinde des chrafth der schefte schal; B 1607,1 der crach der sheffte shal (~ CJh); D crach der schefte erschal; l der crach der scheft erhal. Dagegen hat Fr. N Von ir ingesinde chrachte der schefte schal (~b): d erprach der schefte schal. Subjekt und Prädikat werden also vertauscht. Manchmal sind unterschiedliche syntaktische Alternativen miteinander kombiniert. Einen solchen Fall untersucht Brackert. A 1491,1 hat (Der verge was so riche) daz er niht dienen zam; B 1548,1 (~ ad) stattdessen daz im niht dienen zam; D 1548,1 (~ b: ze) daz
Vgl. unten S. 247– 248. Haferland 2019b, S. 498.
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er niht zu dinen zam; l 1548,1 daz im dienst nit enzam. Angefangen von der unterschiedlichen Negation (ohne oder mit enklitischen en‐), der Rektion von zemen,³² dem erweiterten Infinitiv (mit oder ohne zu/ze) bis zur Ersetzung des Verbs durch ein Substantiv (dienen/dienst) schreibt jede Handschrift etwas anders.³³
Routinemäßige Kombinationen des Wortmaterials Das wahre Ausmaß der Varianz erkennt man erst, wenn man sich in die Details der Textgestaltung versenkt. Es mag pedantisch erscheinen, die vielen kleinen und kleinsten Differenzen zu notieren. Man sollte den folgenden Abschnitt überschlagen, wenn man sie für vernachlässigungswert hält. Ich werde im Folgenden trotzdem einige Fälle bringen, um einen Eindruck davon zu geben, wie wenig der genaue Wortlaut in den Handschriften feststeht und wie unterschiedliche Formulierungsroutinen die Textgestaltung in den einzelnen Handschriften bestimmen. Ich habe bewusst Beispiele ausgewählt, in denen die Differenzen kaum wahrnehmbar sind (und vielleicht im mündlichen Vortrag kaum wahrgenommen werden). Es gibt einige Handschriften, die stärker abweichen, so die der Bearbeitung *C oder die Handschriften der *J-Gruppe, aber Minimalvarianten finden sich auch in diesen Handschriftengruppen. Die hier künstlich voneinander isolierten Variantentypen treten im Verbund auf, was die Anordnung nach Überlieferungszusammenhängen oder gar Fassungen zusätzlich erschwert. Viele der Varianten werden überlesen, weil sie so unbedeutend scheinen. Aber nahezu in jedem Überlieferungsträger ist der Text des Nibelungenliedes ein klein wenig verschieden. Im Bemühen, sich dem originalen Text wenigstens anzunähern, musste die Nibelungenphilologie über solche Minimaldifferenzen hinwegsehen, zumal sie insgesamt für die volkssprachige Überlieferung häufig sind. Zusammen mit den übrigen Adlibitum-Varianten prägen sie jedoch die Textualität des Epos, die eben in keiner gültigen Form überliefert ist und trotzdem den gemeinsamen Kern erkennen lässt. Gerade an den Minimalvarianten ist die Eigenart der Textualität ablesbar. Die beliebige Kombinierbarkeit von Varianten sieht manchmal wie Kontamination aus, doch ist das ein Irrtum: Hagen, der alles weiß, erkennt bei der ersten Gesandtschaft Etzels nach Worms den guten Rudegeren (B 1178,4; ~ A 1121,4; C 1205,4 sowie bd und V). Dagegen hat Hs. D 1178,4 den milden marcraven. Eine Kombination von beidem findet sich in J 1178,4 den milten Ruͤ gern. Das sieht aus, als habe J aus verschiedenen Handschriften geschöpft. Wenn man freilich als häufigen Variantentypus 1) die Ersetzbarkeit von Namen und Appellativen und 2) die Ersetzbarkeit von Epitheta mit ähnlicher Be-
Braune 1900, S. 50: „Diese stelle in ADb wäre der einzige fall persönlicher construction von zemen im Nl“. Brackert 1963, S. 38. Ihm standen noch nicht alle Handschriften zur Verfügung; er orientiert sich an Bartsch; b geht tatsächlich mit D; die bei Brackert fälschlich für b ausgewiesene Lesart findet sich in Wirklichkeit in Fr. l. C hat an dieser Stelle eine Lücke. Die Stelle gehört in den in Jh ausgefallenen Bayernteil.
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deutung unterstellt, dann werden in diesem Fall nur zwei Regeln der Variantenbildung miteinander kombiniert. Über weite Strecken wird mit minimalen Änderungen stets dasselbe Wortmaterial variiert; es ist offenbar vorgegeben, doch kann frei über es verfügt werden. Die Differenzen können ganz unauffällige Kleinigkeiten sein, auf die es bei der Reproduktion des Textes nicht ankommt. Die harmlosen Verse die boten nine wessen wa von daz was getan | daz si von Trony Hagnen niht beliben solten lan | dort bi dem Rine (A 1360,1– 3) variieren in den übrigen Handschriften in der Verbform (BD 1417,1 westen), in der Reihenfolge der Satzglieder (BDM 1417,2), in dem Zusatz einer oder zweier enklitischer Negationspartikeln (Jbl bzw. D 1471,1 u.2), in der Namensform von Tronege (ABDJbMl), dem Ersatz der Konjunktion (D 1417,1 von we) und einem zusätzlichen Füllwort (JdhK 1417,2 da). Variabel ist auch die metrische Füllung. Man muss genau hinsehen, um die Varianz überhaupt zu bemerken. Jedenfalls entsteht der Eindruck, dass bei maximaler Festigkeit der Elemente große Lizenzen bei ihrer Anordnung bestehen. Die Variation kann auch stärker in den Text eingreifen, den Sachverhalt anders ausdrücken, ohne ihn zu ändern: Dass niemand die Boten Etzels beraubte, wird begründet. Man fürchtete Etzels Zorn, denn: so was vil gewaltich der edele kunic hoch geborn (A 1369,4); B 1426,4 stimmtmt annähernd überein, drückt aber die Emphase weniger stark aus: ia was gewaltech der edele chunech wol geborn. Hss. D und d haben das in B (und b) fehlende, metrisch glattere Füllwort vil und alternieren zwischen hoch (bd) und wol geborn (D); edele fehlt in l. Wieder weicht J ab: der het gwalt vil grozen und was von adel hochgiborn (ebenso Fr. Q). Zwischen diesen beiden Formulierungen steht Fr. K: der herre was gewaltic der chunic also hochgeborn.
Es ist dasselbe Wortmaterial gewalt/gewaltic, edel/adel, hoch/wol geborn, das JhKQ neu kombinieren und zu einer neuen Aussage umformulieren, die allerdings von der Bedeutung her sich mit der der übrigen Handschriften deckt. Es gibt quasi einen Rahmen der Aussage, der mit einer begrenzten Zahl von Elementen beliebig gefüllt werden kann. Einzelne Elemente des Wortmaterials können umgestellt, ausgetauscht, auch hinzugefügt oder weggelassen werden. Gelegentlich erzeugen die Handschriften ein kaum überschaubares Bild von Alternativen, wie folgenden Variante von Wortstellung und Füllwörtern zeigt: A 1247,4 da wart wol ze prise vor den vrowen geriten; B 1304,4 ergänzt nach vrowen ein do. Hs. d und Fr. H folgen B. Die Hs. D und das Fragment V kombinieren einen Austausch des ersten Füllworts (da in do) mit einer Umstellung do wart vor den vrouwen wol zu prise geriten; Hs. b folgt ihnen, behält aber das Füllwort da bei. Die Hs. J und Fr. Q erwähnen statt des Publikums der Reiterkünste (die Frauen) die Akteure selbst: da wart wol ze prise von cuͦ nen helden geriten. Jede dieser Lesarten ist sinnvoll; bei den häufigen Abweichungen der *J-Gruppe mag man ihrer Lesart weniger Kredit geben; sinnlos ist sie nicht. In B wird der Ortsbestimmung (da) noch die Zeitbestimmung (do) hinzugefügt. Ihr Austausch in DV – wenn beides überhaupt unterschieden wird – ist möglich.
Besonders die resümierenden Schlussverse der Strophen scheinen zu Variationen dieser Art einzuladen, bei der manchmal mehrere Varianten kombiniert sind und manchmal auch Nuancen der Bedeutungsverschiebung möglich sind.
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Ihre Verteilung erfolgt scheinbar willkürlich: In A 1246,4 heißt es: ez was der kuniginne der riter dienst niht leit; das entspricht J 1303,4, doch wird ez durch da ersetzt und zi eingefügt: da waz der kunginne der ritter dienst nit zi leit (auch Q). B 1303,4 stellt die Satzglieder um und hat ein anderes Füllwort: ouch was der ritter dienest niht der kuniginne leit (~ d); D setzt nicht hinter chuniginne und fügt zu/ze ein (~ bVg); in d ist außerdem die Reihenfolge von kuniginne und nicht vertauscht. C hat das gleiche Füllwort wie B ouch und die gleiche Wortstellung, doch ersetzt die Handschrift ritter durch helede und der kuniginne durch den schonen frowen. Der Blick ist also statt auf Kriemhild auf die Hofgesellschaft insgesamt gerichtet. Auch tritt an die Stelle von was […] leit (AB) – wie in J – was […] zi leit. Diese Form findet sich, leicht variiert (zi, zu) auch in DQVbg.³⁴
Die Bearbeitung in C geht also in Bezug auf das Füllwort und die Wortstellung mit einigen not-Handschriften zusammen, nicht aber in der Lexik (helede, den schonen frowen). Die Lexik isoliert C gegenüber den not-Handschriften. Diese unterscheiden sich untereinander bzw. stimmen je nach Variante in verschiedener Kombination miteinander überein. Je nach Variante ergeben sich unterschiedliche Gruppierungen, manchmal unter Einschluss von C. Die Reihenfolge von B findet sich in den meisten Handschriften, von denen ein Teil mit C und J jedoch zi (ze, zu) zu lait hinzusetzen. Nach welchen Kriterien könnte hier für die originale Lesart entschieden werden? Wodurch sind solche Varianten veranlasst, wenn nicht durch Routinen der Formulierung, ohne den Sinn zu ändern? Der Reformulierungsdrang zeigt sich gerade an Aventiuren, die für den zentralen Konflikt weniger wichtig sind. Das Bedürfnis, den Text genau wiederzugeben, ist hier offensichtlich geringer, während an den Knotenpunkten der Handlung bis in die einzelne Formulierung hinein, der Text einigermaßen stabil ist. Bei den zentralen Auftritten – der Königinnen vor dem Münster, Siegfrieds an der Quelle, Hagens vor Kriemhild usw. – fühlte man sich an die Prägungen des Dichters gebunden.Wo die Gestaltung der Szene weniger prägnant war, behandelte man den Text nachlässiger. An den großen Schaubildern setzen die Sänger/Kopisten nur ausnahmsweise variierend an.³⁵ Als erste der weniger wichtigen Szenen wähle ich einen Abschnitt B 1287– 1307:³⁶ Kriemhilds Fahrt mit Rüdiger ins Hunnenland. Die Strophen sind tlws. auch in den Fragmenten H, Q, V und g überliefert. Auf der einen Seite ist auch diese belanglose Episode als ganze von erstaunlicher Festigkeit. Man sollte meinen, solche Passagen lüden als ganze grundsätzlich besonders zu Abweichungen ein, weil es auf sie nicht ankommt, doch das Gegenteil ist der Fall. Kriemhilds Ritt mit Rüdiger, der Abschied von den Brüdern, der Aufenthalt in Passau und die Begegnung mit Gotelind werden in der gleichen Folge von Strophen erzählt; nur die Bearbeitung *C hat eine zusätzliche Station, einen Aufenthalt in Plattling, eingeschoben (C 1324), die in der übrigen Überlieferung fehlt, aber den Weg nach Ungarn nur vervollständigt. Im Übrigen ist die Reihenfolge, obwohl nicht immer leicht zu verstehen (und aus diesem Grunde ist sie in Hs. C geglättet)
In d ist an dieser Stelle der Vers verstümmelt: auch was der Ritter dienste nicht der kuniginne. Vgl. S. 328 – 329. Die Auswahl der Strophen ist zufällig; am Ende gibt es einen Einschnitt: B hat nach 1307 eine größere Initiale.
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in allen anderen Hss. gewahrt. Unterhalb dieser Ebene aber herrscht Varianz; ich beschränke mich auf einige ausgewählte Beispiele. Ohne Abschiedstränen von guoten vriunden geht es nicht ab (B 1288,4; auch AJdhHg); von lieben vriunden heißt es in C 1317,4; an den vreunden in D; zwischen frunden in b. Ein verstärkendes Personalpronomen (du) kann in der folgenden Strophe eingeschoben werden (B 1289,3 daz tuo du mir bechant, ebenfalls JdHg) oder auch nicht (daz tuͦ mir bechant ACDb). Fr. g steht hier also gegen Hs. A, mit der Frr. Lg sonst verwandt sind. Von der Vertauschung von Subjekt und Objekt beim Abschiedskuss in der nächsten Strophe war schon die Rede: Kriemhild kann die Verwandten (mage) zum Abschied küssen (BCDHJhg) oder diese sie (Abd).³⁷ C 1319,1 hat wieder abweichende Lexik (sippe statt mage). B 1290,2 charakterisiert den Abschied durch ein Adverb (vil minnecliche sheiden), so auch A 1233,2, allerdings in der Form minneclichen; sie findet sich auch in Hs. d und Fr. H. Dagegen wählen C und a anstelle des Adverbs ein Adjektiv (minneclichez scheiden). Dieser Lesart der liet-Handschriften folgen auch die not-Handschriften DJbh und Fr. V; scheiden ist hier als substantiviertes Verb behandelt.
Beim Abschiedskuss gehen, wie gesagt, die sonst eng verwandten Hss. B und d, D und b sowie Hs. A und Fr. g auseinander; beim scheiden stimmt in der Syntax ein Teil der not-Handschriften mit *C zusammen. Auch für Substantiv, Adjektiv und Füllwort ergeben sich in diesen Passagen unterschiedliche Gruppierungen, die den Gruppierungen bei anderen Varianten widersprechen. Als Beispiel diene Str. B 1294, wobei Schreibung und Morphologie unberücksichtigt bleiben: Den recken von dem lande was do niht ce leit do si ir volgen sahen so manige schone meit do trute man mit ougen der edeln ritter chint gute herberge gap man den gesten sint. Vers 1: C 1323,1 ersetzt die recken des Bischofs durch Sinem ingesinde und lässt die Herkunftsbezeichnung (von dem lande) weg; von ist in H durch in ersetzt; do in B 1294,1 (~ AD) ändert b in da (hier wohl nicht lokale Bedeutung anzeigend); CJadhH verwandeln im zweiten Vers die syntaktische Funktion von do, indem sie es durch die Konjunktion daz ersetzen. Das hat zur Folge, dass in Vers 2 aus dem Temporalsatz in AB (do) oder dem Kausalsatz in bdH (da) in CJah ein Objektsatz wird (daz statt do oder da). Hs. D missversteht das Verb (ir volgen) als Adverb (envollen, Lesefehler?), was zur Not vom Sinn her möglich ist: ‚als sie den vollen Blick auf so manches schöne Mädchen hatten‘. Vers 3: Jgh da statt do. In Hs. d ist der Artikel (der) statt durch das Bestimmungswort (ritter), den Genitiv, durch das bestimmte Wort chint (die) attrahiert: da trawtet man mit augen die edlen Ritter kindt; a hat den Singular riters chint an Stelle des Plurals (riter). Db ersetzen das Verb; sie haben statt ‚liebkoste‘ (trute) ‚berührte‘ mit den Augen ruͦ rte).³⁸ Vers 4: C 1323,4 variiert das Epitheton (gute) durch vil riche herberge (~ a); Dg ergänzen gegenüber B (~ AJhQ) ein Füllwort: vil gut; b schiebt hinter man ein da ein; den unterfüllten Halbvers 4b ergänzen JhQ durch lieben gesten; CD durch edeln gesten; Ag durch gesten allen zum reelgerecht verlängerten Schlussvers der Strophe.
Vgl. oben S. 122 zu den Differenzen zwischen A 1233,1 und B 1290,1 und die Verteilung in den übrigen Handschriften. Das könnte ein Lese- oder Hörfehler sein, doch wird der Sinn der gesuchten Formulierung (‚da liebkoste mit den Augen‘) nur marginal verändert.
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Eine ganz und gar durchschnittliche Strophe, und trotzdem ein in viele Kleinigkeiten abweichender Text, ohne inhaltliche Varianten, mit stereotypem Wortmaterial, syntaktisch schlicht, mit Einfügen, Fehlen oder Austausch von Füllwörtern und allenfalls zwei auffälligeren Ausdrucksvarianten, von denen die eine vermutlich auf einen Wahrnehmungsirrtum (ruͦ rte) zurückgeht, der aber Sinn macht, und nur die zweite ein eindeutiger Fehler ist (fehlendes Reimwort sint in a). Der Text ist gewissermaßen freigegeben für Formulierungsroutinen, die hier ohne Anspruch auf unterschiedliche Gestaltung füreinander eintreten. Welche von ihnen in einer Vorlage aufgerufen wurde, spielt keine Rolle. Man konnte offenbar frei unter ihnen auswählen. Durch manche Varianten kann der Ton der Erzählung verändert werden. Die Konsequenzen von Kriemhilds Unterredung mit den Boten nach Worms sind klar, für ihre Versprachlichung stehen ironische oder direkt sich aussprechende Alternativen zur Verfügung: da von vil manigem degene sit wenich liebes gesach (recte: geschach) (B 1410,4; ~ A 1353,4; dM). In D lautet das inhaltsgleich do von vil manigem degen sint vil leide geschach (so auch b und Q); J 1410,4 hat da von mangem degen vil lutzil liebes. Fr. l 1410,4 hat davon maͤ ngem rekken wenig liebes geschach. Von der unterschiedlichen Schreibung abgesehen, sind in den Handschriften unterschiedliche Variantentypen kombiniert: Austausch von ‚wenig Liebes‘ durch ‚viel Leid‘, von ‚wenig‘ durch lutzil, von degen durch rekken, mal zeitlich bestimmt (sit), mal nicht; mal emphatisch verstärkt durch vil, mal nicht. Die Aussage ist dieselbe. Wie semantische und syntaktische Varianz ineinandergreifen, soll ein letztes Beispiel illustrieren. Es geht um das Aufgebot bei der Fahrt ins Hunnenland. A 1418,1 Hagne welte tusent | die het er wol bekant (so auch d); B 1475,1 weicht, abgesehen von der Schreibung des Namens, nur durch erkant ab (so auch DJbh); in J ist jedoch die Wortstellung vertauscht: die er wol het. Der 2. Vers unterscheidet sich stärker: waz in starken sturmen | hete gefruͦ met ir hant (A) gegen und swaz in starchn striten gefruͤ mt het ir hant (B): Rhythmus, syntaktischer Anschluss an den vorausgehenden Vers, Lexik und Wortstellung sind anders. Db stimmen mit B überein, bis auf sturmen statt striten; Db folgen A in der Lexik, in der Wortstellung aber B. Wieder anders J 1475,2 und wez starker sturme gefrumet het ir hant, J folgt B im syntaktischen Anschluss und der Wortstellung, doch in der Lexik stimmt J zu A; statt des Akkusativobjekts (waz in starken sturmen) ein Genitivobjekt und ein Genitivus partitivus (swez starker sturme); im mit J verwandten Fr. Q bleibt es beim Akkusativobjekt (swaz); Fr. K stimmt mit B überein, bis auf stuͤ rmen starchen. In Vers 3 und 4 sind A und B wieder eng beieinander (bis auf das fehlende Subjekt in A 1418,3), und auch die übrigen Überlieferungsträger weichen kaum ab, bis auf J und Q, die statt begiengen bigu(o) nden haben und im 4. Vers ein och einschieben.
Es sind nahezu alles belanglose Änderungen. Gerade dadurch zeigen sie die Macht des Variationsprinzips. Verschiedene Variationstypen – abweichende Form der Grundwörter, Wechsel zwischen Singular und Plural, Austausch von Synonymen, Wortumstellung – können kombiniert sein.Varianten können dabei Fehler generieren, der Austausch eines Lexems zu Missverständnissen führen. Im Ganzen ist, bei dergleichen Änderungen von ‚Gestaltungswillen‘ zu sprechen, einiges zu hoch gegriffen, eher handelt es sich um For-
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mulierungsroutinen, auf die die Schreiber zurückgreifen und die offenbar als gleichwertig angesehen werden.
Sinndifferenzierende Varianz Es gibt allerdings einen Übergang zur varianten Bedeutungsnuancierung, bei der man eher Absicht vermuten kann. Manchmal hat eine einzelne Handschrift eine Variante, die den Vorgang in anderem Licht scheinen lässt. Vor allem in *J-Handschriften trifft man auf solche Stellen, sodass man Konsequenz vermuten kann. Diese einen Gestaltungswillen anzeigende Varianz soll in einem besonderen Kapitel behandelt werden,³⁹ Aber auch andere Handschriften greifen punktuell verdeutlichend oder verschärfend ein. Für eine Reihe von Varianten lassen sich Darstellungsintentionen plausibel machen, die zwar den Gesamtverlauf intakt lassen, aber Implikationen der erzählten Geschichte verdeutlichen. In der Diskussion von Braunes textkritischen Entscheidungen, vor allem gegen *ADb, hat Brackert auf zahlreiche Varianten der Überlieferung verwiesen, die einen Vorgang etwas anders akzentuieren oder perspektivieren, mit anderen Details anreichern, stilistisch anders fassen, ohne dass eine Entscheidung zwischen den Varianten möglich wäre.⁴⁰ Entscheidend ist immer, dass sich an der Grundaussage nichts ändert. Nur kann derselbe Sachverhalt positiv oder negativ ausgedrückt werden, die Sicht auf ihn verändert, Ironie verstärkt oder abgeschwächt. Auf der Suche nach dem ‚ursprünglichen‘ Text hat man stärker „formelhafte[ ]“ und „farbigere, individualisierende“ Wendungen gegeneinander aufgeboten, ohne dass man einer bestimmten Handschriftengruppe den einen oder anderen Typus klar zuordnen konnte.⁴¹ Die Varianten nuancieren Vorgänge, Entschlüsse, Wahrnehmungen und dgl. auf unterschiedliche Weise. Nicht immer ist es leicht, eine Variante auf Kosten der anderen als die bessere zu bestimmen, geschweige als ursprüngliche. Abgesehen davon, dass solche Charakterisierungen auf sehr subjektiven Kriterien beruhen, ist kein Richtungssinn erkennbar: Ist die ‚formelhaft‘ erscheinende Wendung die ältere, die ‚individualisierende‘ die jüngere oder umgekehrt? Gibt es in den einzelnen Überlieferungsträgern eine Tendenz in die eine oder die andere Richtung? Klar jedenfalls ist, dass die Aneignung des Textes Formulierungsalternativen zuließ, von denen unterschiedlich Gebrauch gemacht wurde, sodass „in lebendigen und freien Wechsel von Neuerfindung und Rückgriff auf Vorgefundenes jeweils eine neue Version entstehen konnte“.⁴² Von der Lizenz zur Varianz wird ad hoc Gebrauch gemacht, einmal so, einmal so. Solche Stellen müssen unter dem Aspekt der ihnen immanenten Formulierungstendenz betrachtet werden. „Nur wenn man die Freiheit zur ständigen Neugestaltung in beiden Fassungen anerkennt, wird man diesen Widerspruch [dass die Handschriften Teil an wider
Vgl. S. 255 – 262. Brackert 1963, S. 126. Brackert 1963, S. 94. Brackert 1963, S. 95.
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sprüchlichen Tendenzen haben] auflösen können. […] Mit dem Schatz an epischen Formeln, den der Dichter bereitgestellt hat, kann in uns vorliegenden Texten frei geschaltet werden, es können ‚seine‘ Formeln eintreten, es können aber auch individuelle Wendungen gebraucht werden“.⁴³ Unter diesem Aspekt ist ein Teil der Varianten zu durchmustern. Stilistisch motiviert könnte z. B. die Einstellung zum Formelgebrauch sein: der Austausch zwischen einer stereotypen Formel und einer weniger stereotypen Wendung. Giselher heißt üblicherweise der junge oder daz kint, so auch A 1606,2 (Giselher der junge; ~ J). B 1664,1 aber nennt Giselher einmal den recken, und die Hss. Dbd und Fr. g folgen dem: auch hier eine jederzeit verfügbare Alternative, die dem Schreiber in der Tradition, in der er sich bewegte, vorgegeben war. Hier scheint die Differenz stilistisch begründet. In anderen Fällen dürfte hinter ihr eine Darstellungsabsicht stehen. Die Sänger/Kopisten machen sich einen unterschiedlichen Reim auf das, was ihnen zu erzählen vorgegeben ist, wollen seinen Kern erfassen, stellen es aus unterschiedlicher Perspektive dar, suchen Widersprüche einer ungeklärten Situation zu erfassen, ihren ungewissen Status herauszuarbeiten. Ein impliziter Schluss kann explizit gemacht werden: Die Boten, die Kriemhilds Einladung zu Etzel überbringen sollen, wissen nicht, sagt der Erzähler, warum Kriemhild an Hagen so besonders interessiert ist (B 1497,1– 3 et rell.). Aber erst das späte Fragment l zieht den Schluss wan in froͧ w Criemhilt diu rehten maͤ re nit gesait (l 1417,4) und ersetzt durch diesen Vers eine der düsteren Vorausdeutungen, die dem Erzähler des Nibelungenliedes zu Dutzenden zu Gebote stehen. Diese Variante fügt der Geschichte nichts hinzu, zieht aber für den Hörer das Fazit aus dem, was er soeben gehört hat. Selbst der Verfertiger einer späten Handschrift (oder seiner Vorlage) fühlt sich zu einem solchen Eingriff berechtigt. Der Antrieb für eine Handlung wird anders gedeutet. In Siegmunds Wunsch, Siegfried nach Worms zu begleiten, wirken Verstand und Wille zusammen, das, was er tun will, und das, was er zu tun für richtig hält. Die Handschriften nuancieren diese Konstellation je anders durch die Kombination der Verben wollen und sollen und der Substantive sinne und wille. Schon zwischen A und B wird zwischen solde und wolde gewechselt. A 733,3 sagt Siegmund do rieten mine sinne daz ich iu wolde sehen. B 787,3 hat stattdessen solde (so auch CDabd), also der Verstand riet ihm, was zu tun sei. Auch J hat solt, doch ist es hier der wille, der ihm, das Richtige zu tun, eingibt, nicht die sinne: do riet mir al min wille ich solt iuch gern sehen (J 787,3; ~ h). Das zu *J-Redaktion gehörende Fragment Q folgt im Verb A, aber kombiniert wille mit wolt: do riet mir alle mein wille ich wolt euch gerne sehen (Q 787,3). Man würde leicht wille in J und Q als sekundär einstufen können, enthielte nicht schon Hs. A wolde. Die Handschriften kombinieren unterschiedlich das Zusammenspiel von Wunsch (was Siegmund will) und Einsicht (was sein Verstand als richtig zeigt). Der Sachverhalt wird in den Handschriften von verschiedenen Seiten beleuchtet.
Brackert 1963, S. 96.
Sinndifferenzierende Varianz
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Die Varianz deutet das Geschehen unterschiedlich. Hagen weist die Kritik an der Ermordung Siegfrieds zurück und rühmt sich, die Burgonden hätten jetzt keine Gegner mehr zu fürchten, da er des heldes han ze rate getan (A 934,4). B 990,4 (~ CDb) sagt er, er habe durch die Beseitigung Siegfrieds siner herschaft ce rate han getan. J 990,4 sagt, dass Siegfrieds herschaft nun zu Ende ist: daz ich siner herschaft ein ende nu gilebt han. In A bekräftigt Hagen nur die Beseitigung des Störenfrieds. Die übrige Überlieferung spricht in unterschiedlicher Form von dem Ende seiner herschaft. Siegfried hat nie in Worms geherrscht, aber er hat einige Male die Rolle des Königs erfüllt, zuletzt im Betrug in der Hochzeitsnacht, die, publik geworden und falsch interpretiert, die Legitimität von Gunthers Königtum gefährdet. Es geht nicht um die Beseitigung einer Person, eines lästigen Rivalen, sondern die Beendigung seiner Präpotenz, die auf Dauer eine Gefahr für Worms darstellt. Die Person steht für ein Prinzip, und deshalb tritt an die Stelle des konkreten helt (A) das Prinzip herschaft, das er verkörpert und das Hagen beendet oder deren Ende er erlebt. Das Geschehen kann aus unterschiedlicher Perspektive erzählt werden. Die Begegnung der Burgonden mit der Gesandtschaft Rüdigers kann aus Sicht der Burgonden und der Hunnen erzählt werden. Ich komme auf eine oben interpretierte Stelle zurück: B 1181,1– 2 (~ ADbd) hatte gesagt Des chuͤ niges nehesten mage die giengen da man sach, ohne dass gesagt wurde, wohin die nehesten mage Gunthers gehen. Nach dem Zusammenhang muss das zu Rüdiger und seinen Leuten sein. In C 1208,1 lautet dagegen die Stelle: Des kuniges nehsten mage chomen da man si sach (‚die nächsten Verwandten des Königs kamen dorthin, wo man sie [d. h. Rüdiger und seine Leute] sah‘, ‚wo die Hunnen sich befanden‘⁴⁴). In JhQW 1181,1 lautet der Vers Dez kunges næhsten muag man gen in (Q: im) comen sach (‚Die nächsten Verwandten des Königs sah man zu ihnen [ihm = Rüdiger] kommen‘). Im letzten Vers der vorausgehenden Strophe war von der Gesandtschaft und ihrem ehrenvollen Empfang durch die Burgonden die Rede gewesen. Daran schließt sich in der einen Formulierungsvariante deren Bewegung ‚zu ihnen‘ und die ‚an sie [= die Leute Rüdigers] gerichtete‘ Rede Ortwins bruchlos an. Das andere Mal sieht man dieselbe Bewegung von Rüdiger und seinen Leuten aus. ‚Gehen‘ und ‚kommen‘ gehören derselben Bedeutungsklasse an, damit sind sie gegeneinander austauschbar; einmal ist die Bewegung vom Ziel, einmal vom Ausgangspunkt aus gedacht. So können minimale Änderungen einen Perspektivenwechsel bedingen. Beim Kirchgang der Burgonden an Etzels Hof Do gi vil [die D] groziu menege mit der chuͤ neginne dan (B 1863,1; ~ ADbd) oder Do gie diu kuniginne mit grozer menege dan (C 1911,1; ~ J⁴⁵ahQ). Diese große Menge oder die Königin mit ihrem Gefolge ‚bedrängt‘ Volker und Hagen; doch diese weichen keinen Fußbreit zurück; das missfällt Kriemhild und den Hunnen. A 1804,4 hat ia muͦ se si [Kriemhild] sich dringen mit den helden vil gemeit
Zu textkritischen Problemen dieser Strophe vgl. S. 101. In ABDbV fehlt das Objekt (si) zu sach. J vertauscht die Reihenfolge mit grozzer mengin diu kungin von dan.
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(~ C 1911,4 [degenen]; so auch DJahdQ). In B 1863,4 (~ b) heißt es: ia musen ⁴⁶ si [= die Hunnen] sich dringen mit den helden gemeit. Das ist auf die Hunnen im voraufgehenden Vers (oder die Menge im ersten) bezogen; si könnte aber auch, wenig wahrscheinlich, Hagen und Volker meinen, die helden wären dann die Hunnen. Entscheidend ist, einmal stoßen Hagen und Volker mit Kriemhild zusammen, einmal mit der Menge der Hunnen. Der Gegensatz ist also anders akzentuiert, schon hier als mühsam unterdrückte Spannung zwischen Hunnen und Burgonden oder als latent gewaltsame Konfrontation der eigentlichen Gegner Hagen und Kriemhild. Noch ist nichts entschieden; erst durch die folgenden Geschehnisse werden Kriemhilds und der Hunnen Ziele identisch.⁴⁷ Beide Lesarten sind möglich, die Verteilung in den Handschriften scheint eher zufällig. Es bleibt bei der Aussage, dass ‚sie‘ – Hagen und Volker – mit ‚ihr‘ oder ‚ihnen‘ – Kriemhild oder den Hunnen – dringen müssen oder aber‚sie‘ – Kriemhild – mit ‚ihnen‘ – Hagen und Volker –; das ist eine Frage der Perspektive, und die ist ad libitum. Vorgänge können aus der Perspektive verschiedener Figuren betrachtet werden. Siegmund kann anbieten, für Kriemhild zu sorgen, durch mines suns liebe (B 1071,4; ~ CJadh) oder durch iwers [= Kriemhilds] mannes liebe (A 1014,4). Er kann noch zusätzlich begründen: wegen des edelen kindes sin (A 1014,4) oder – von Kriemhild aus gedacht – des edeln chindes din (D 1071,4; ~ bV). Siegfried wird einmal in Beziehung gesetzt zu Siegmund, einmal zu Kriemhild, das Kind einmal zu seinem Vater, einmal zu seiner Mutter. Es ist jedes Mal dieselbe Person gemeint. Solche Wechsel mögen nicht allzu viel Bedeutung haben, aber sie verändern den narrativen Progress. Dessen Implikationen zeigen sich oft an Kleinigkeiten. So dürfte es Intention sein, wenn bei Blödelins Attacke auf den Tross zwischen Ihrzen und Duzen alterniert wird, obwohl sich nicht immer eine Bedeutungsdifferenzierung nachweisen lässt:⁴⁸ Blödelin eröffnet seinen Überfall mit den Worten: ja darftu mich niht gruͤ zen (A 1860,1). Er weist Dancwarts höflichen Willkommensgruß (min her Bloͤ delin A 1859,3) zurück, indem er ihn duzt, und CDJbahN bestätigen diese Lesart. Dagegen antwortet er B 1920,1 im gleichen Ton Jane duͤ rfet ir mich niht gruͤ zen. Auch im zur Redaktion *J zählenden Fr. Q eröffnet Blödelin mit der korrekten Anrede Ihr, geht dann aber zum du über. Blödelins du zeigt, dass förmlicher Umgang jetzt der Aggression weicht, während Dancwart zunächst noch bei der höflichen Form bleibt (min herre, ir). Auch in B und Q geht Blödelin im weiteren Verlauf der Szene zum Du über, und auch Dancwart gibt die Höflichkeit auf (A 1864,3;
Das Plural -n ist offenbar nachgetragen, d. h. der Schreiber von B wendet sich bewusst gegen die andere Tradition, wie sie in A erhalten ist, und entscheidet sich offenbart bewusst für den Plural, also die Konfrontation mit den Hunnen. Auch Heinzle 2013, S. 1416 hält beide für möglich, zieht aber offenbar die A-Version mit dem Singular vor, weil sie auf eine frühere Stelle (B 1856,3 – 4) anspiele, wo Hagen die Absicht äußert mit ‚der Königin zu dringen‘, wozu Kriemhild jetzt gezwungen würde. Das wäre bei genuin schriftliterarischen Texten ein gutes Argument, doch sind solche Anspielungen über weite Strecken hier möglich? Die Divergenz jedenfalls zeigt, dass ein Perspektivenwechsel erfolgt. Heinzle 2013, S. 1427 schreibt, „daß man am Wechsel der Anredeform nicht zwingend Anstoß nehmen mußte“. Hier aber scheint der Wechsel bewusst eingesetzt worden zu sein.
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B 1924,3; C 1979,3: din). Vielleicht wollen B und Q den Zeitpunkt, zu dem die üblichen Umgangsformen zusammenbrechen, etwas später ansetzen. Jedenfalls scheint der Wechsel im Verhältnis zwischen Blödelin und Dancwart und der Übergang zur Gewalt im Wechsel von Ihr zum Du in den verschiedenen Handschriften Gegenstand unterschiedlicher Modellierung gewesen zu sein. Die vorerst ungeklärte Beziehung zwischen Hunnen und Burgonden kann mit einem Wechsel zwischen Indikativ und Konjunktiv ausgedrückt werden.⁴⁹ Die einzelnen Handschriften schwanken zwischen der Verteilung von Indikativ- und Konjunktivformen. Erst die mikroskopische Betrachtung des Modus fördert erstaunliche Divergenzen zwischen den Handschriften zutage. A 1385,1 formuliert das Willkommen der Wormser für Etzels Boten im Indikativ: Ir boten sult uns groz willekomen sin, setzt aber den folgenden abhängigen Bedingungssatz in den Konjunktiv: ob ir diker woltet her riten an den Rin, und fährt fort: ir fundet ⁵⁰ hie die vriunde die ir gerne moͤ chtet sehen. Auch der letzte Vers der Strophe (A 1385,4) wird im Konjunktiv formuliert: iu solte hie zelande vil wenich leides geschehen.
Dieser Wechsel des Modus ist gut nachvollziehbar; er sagt, was der Fall ist (dass die Boten willkommen sind), macht aber die Fortsetzung des Einvernehmens von bestimmten Bedingungen abhängig. Die Verbindung müsste regelmäßig gepflegt werden, dann sollte den Hunnnen nichts Schlimmes widerfahren. Diese Konstellation nun wird in den Handschriften verschieden ausgedrückt. B 1442 bringt die ganze Strophe im Konjunktiv: Ir boten soldet [!] uns groze willechome sin.| ob ir dicher woldet her riten an den rin.| ir fuͤ ndet hie die friunde die ir gerne moͤ htet sehen. | iu solde hie ce lande vil wenich leides geschehen (~ C) – hier scheint auch das Willkommen an Bedingungen geknüpft: wenn die Boten nur häufiger an den Rhein kämen. D 1442,1– 3 hat zunächst durchweg den Indikativ (sult, wollet, vindet, muget, soldet) ‚ihr sollt willkommen sein; wenn ihr öfter hierher kommen wollt, dann findet ihr Freunde, die ihr gern besuchen könnt‘ und wechselt dann in den Konjunktiv: deshalb sollte euch hier kein Leid geschehen. Fr. N ist gleich (sult, wellet, vindet, solde), bis auf den Konjunktiv mohtet, der den Indikativ muget ersetzt. Hs b hat im 2.Vers den Konjunktiv (ob ir dicker wolltent), im 3. jedoch wie DN den Indikativ (ir vindent hie die frunde die ir mugt gerne sehen). Hs. d hat in 1442,1 und 4 den Indikativ (solt),V. 2– 3 dagegen den Konjunktiv (woldet, fundet, mohtet); J hat den Konjunktiv in V. 1– 3 (soltet, woltent, fundet), doch abweichend in V. 4 den Indikativ (sol): ‚euch wird (soll) hier nichts geschehen‘); der Indikativ findet sich auch in Fr. l 1442,4 (sol), das jedoch, anders als J den Indikativ auch in V. 1 hat (suͤ lt).⁵¹
Die Verteilung der Varianten zeigt, wie das komplexe Verhältnis der Burgonden zu den Hunnen – Einvernehmen und Freundschaft, bei bisher fehlenden Gelegenheiten, sie zu zeigen – ausgedrückt werden kann. Der Wechsel zwischen Indikativ und Konjunktiv sucht die Aussage zu nuancieren, doch wird er auf verschiedene Art realisiert, wobei jedes Mal die Unsicherheit des Verhältnisses ausgedrückt ist. Es kommt nicht auf die Bestimmung des Modus im Einzelnen an, sondern auf die unsichere Situation, die durch Dabei setzt die folgende Analyse voraus, dass die Formen im Sinne der mhd. Grammatik zu deuten sind (Paul/Wiehl/Grosse § 237 ff.); die Beobachtungen des vorigen Kapitels lassen Zweifel daran zu. Die Form ist wohl als Konjunktiv zu deuten. Andererseits haben D und b eindeutig den Indikativ. V. 3 funden (l 1442,3) ist ungrammatisch. Der Streifen von Fr. K lässt keine Entscheidung zu.
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4 Lust am Ändern?
Moduswechsel angezeigt ist. In ihr unterscheiden sich die verschiedenen Handschriften nicht. Nicht in jedem Fall ist dieser Wechsel im schriftlich aufgezeichneten Text (dessen Formen überdies nicht immer eindeutig sind) bei mündlichem Vortrag überhaupt wahrnehmbar. Ist also die Analyse entsprechend der Grammatik des Mittelhochdeutschen überhaupt angemessen? Die Formulierungen kreisen alle um den unsicheren Status der Beziehungen zu den Hunnen, der künftig gebessert werden soll. Vor dem Hintergrund dieser Aussage sind die Details der Handschriften ad libitum. Besonders bei Formulierung irrealer Bedingungen wechseln Indikativ und Konjunktiv: Kriemhild ist entschlossen, den Heiden Etzel nicht zu heiraten, auch wenn er ihr alle Reiche gæbe (B 1245,4) – was kaum eintreten wird –,⁵² doch A 1188,4 hat den Indikativ git; die Bedeutung ändert sich dadurch nicht. Später sagt sie A 1201,2: hätte sie von Etzel gehört, daz er niht were ein heiden so wer ich gerne comen. Das klingt definitiv: ‚Hätte ich gehört, dass er kein Heide ist, dann wäre ich gekommen‘. Doch das konnte ihr niemand versichern (Irrealis). B 1258,2 zieht einen anderen Schluss: Hätte sie gehört, dass er kein Heide ist, so wold ich gerne chomen ‚dann würde ich bereitwillig kommen‘ (so auch C); unter dieser Bedingung stellt sie die Möglichkeit einer Zustimmung in der Zukunft in Aussicht. Die Syntax von A haben die Hss. DJbh, aber keineswegs die zur A-Gruppe gezählte Hs. g, die wie B (und d) formuliert. Aber es handelt sich immer um die gleiche durch die Situation vorgegebene Alternative. Brackert hat bei Prüfung der Handschriftengruppe ADb einige Fälle genannt, wo A oder ADb gegen die Restüberlieferung stehen.⁵³ Sie sollen noch einmal aufgegriffen werden, weil sie das Spektrum und die Grenzen inhaltlicher Varianten aufzeigen. Es gibt Fälle, in denen die Handschriften auf unterschiedliche Bräuche anspielen. Werden am Ende eines Festes die Gehrenden entlohnt oder aber die vornehmen Gäste? In B 684,3 werden Kleider, Pferde, Silber und Gold an manigen vremden man gegeben, die da gabe gerten, in Db an manchen werden man, in C 696,3 – 4 (~ Jadh) an manchen varnden man | die gabe nehmen wolden, in A 634,3 – 4 dagegen an manchen kuͤ enen man. A fährt fort die herren die dar komen die schieden frolichen dan (~ Db 684,4). Schon Braune⁵⁴ machte darauf aufmerksam, dass beide Formen des Schenkens an anderer Stelle im Nibelungenlied vorkommen (A 42 / B 39) bzw. A 316 / B315). Zum epischen Repertoire typischer Situationen gehörte offenbar das Schenken am Ende eines Festes, einmal das Beschenken der Fahrenden, einmal das Beschenken der Gäste oder Freunde. Den Sängern standen beide Möglichkeiten offen; sie entschieden sich unterschiedlich; beide Möglichkeiten fanden den Weg in die Schrift. Eine Personenkonstellation kann anders akzentuiert werden. Weil der junge Hagen am Hof König Etzels getriu war, genoss er die Gunst Etzels, wie dieser selber sagt (ich) (A 1693,4; ~ Db), oder aber Helche diu getriwe was im innechlichen holt (B 1752,4; ~ CJh).
Die Form geb in DJabdgh und gêb in C 1272,4 folgt, die Schreibung des Umlauts variierend, B. Brackert 1963, S. 41– 46. Braune 1900, S. 47; vgl. Brackert 1963, S. 43.
Sinndifferenzierende Varianz
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Beides wirft Licht auf den Hauptkonflikt. Die Ergebenheit gegenüber der Königin Brünhild ist Ursprung des Verrats Siegfrieds. Die Ergebenheit gegenüber den Königen Gunther, Gernot und Giselher zwingt ihn, die gefährliche Reise zu Etzel mitzumachen. Es steht also offen, die eine oder andere Seite seines Verhältnisses zur Spitze des Herrschaftsverbandes herauszustreichen. Entscheidend ist die Aussage: Hagen war am hunnischen Hof angesehen, ob beim König oder der Königin, ist gleichgültig. Brackert hält die beiden Lesarten für gleichwertig, wobei er zurecht die Frage, welche wohl die ursprüngliche ist, von der Frage, welche besser passt, trennt.⁵⁵ Unklare Situationen regen zu Varianten an. Die Frage, wie Gunther wohl bei der suone mit Kriemhild aufgetreten sei, scheint die Kopisten gereizt zu haben. So wird Gunthers Befangenheit bei dem suone-Schwur gegenüber Kriemhild unterschiedlich interpretiert: Ohne das Bewusstsein seiner Schuld wäre er unzwivellichen (B 1111,4), vreveliche (A 1014,4; ~ DdO), freylichen (b)⁵⁶, friuntlich (J) vor Kriemhild erschienen: nicht ‚in einer zweideutigen Position‘, sondern „erhobenen Hauptes“,⁵⁷ selbstbewusst, wie ein Freund. In der not-Fassung wird seine ambivalente Haltung (zwivel) zur suone unterschiedlich ausgedrückt. Erst die Bearbeitung *C verändert die Stelle: C 1127,3 – 4 sagt, nach suͦ ne strebt Gunther nur durch des hordes liebe. Gunthers zweifelhafte Haltung stellt die Schreiber vor Probleme. Die Lösungen, die die Kopisten vorfanden, scheint sie, angeregt durch den Klang oder die Schreibung einer Vorlage, zu verschiedenen Formulierungen veranlasst zu haben, bis der Bearbeiter von *C einen radikalen Schnitt versucht. Die zuletzt zusammengestellten Typen von Varianten machen nur einen Teil der Varianz aus. Die meisten liegen aber ganz auf der Linie der graphemischen und morphologischen Varianten, der Nachlässigkeiten in Schreibung und Morphologie und der mehr oder weniger belanglosen Ad-libitum-Varianten. Die zuletzt kommentierten erweitern das Spektrum der Lizenzen auf stilistische und inhaltliche Differenzen. Es sind verhältnismäßig wenige Stellen, die einladen, den Text anders zu akzentuieren. Sie arbeiten einige im Text angelegte Tendenzen schärfer heraus, ändern den Ablauf aber nicht. Das unterstreicht die Autorität des Textes, dessen Setzungen trotz aller Varianz in bestimmten Parametern festgelegt sind. Brackert bringt diese und andere Beispiele, um Braunes Abwertung von ADb gegenüber B zurückzuweisen: Nach der Qualität lässt sich vielleicht zwischen ihnen entscheiden, nach der Ursprünglichkeit aber nicht. Doch treffen diese Überlegungen nicht nur auf die Konkurrenz zwischen diesen Handschriftengruppen zu, sondern betreffen die frühe Überlieferung insgesamt. Bei festgelegtem Rahmen bot sich die Möglichkeit, in der sprachlichen Gestalt eigene Vorstellungen zur Geltung zu bringen.
Brackert 1963, S. 41. Evt. durch falsche Interpretation der Schreibung in *D. Heinzles Übersetzung (2013a, S. 357); er beruft sich S. 1278 auf BMZ „zuversichtlich“, paraphrasiert in „selbstbewußt“.
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Das könnte dann aber heißen: Ein fester endgültig vorgeschriebener Wortlaut hat nicht bestanden; vielmehr können an jedem Punkt der Überlieferung Umformungen auftreten, die nicht als Schreibermache abzutun sind, sondern stilistisch dem weiteren oder engerem Bereich der Heldenepik entstammen.⁵⁸
Der Rahmen steht also der Gestaltungsmöglichkeit offen. Der Spielraum an Varianten in der Überlieferung des Nibelungenliedes ist groß und nicht schlüssig auf genealogische Abhängigkeiten reduzierbar. Sie ist von Anfang an durch das Nebeneinander gleichwertiger Varianten charakterisiert. Es kam mir darauf an, den Übergang zwischen den verschiedenen Variantentypen darzustellen. Sieht man von den Varianten ab, die sich aus den Bedingungen volkssprachiger Schriftpraxis ergeben, die im vorigen Kapitel dargestellt wurden, dann zeigt die Varianz in der Überlieferung des Nibelungenliedes, dass die sprachliche Oberfläche des Textes nicht festliegt. Das heißt, dass ein und derselbe Sachverhalt wie in Alltagsrede durch mehrere Routineformulierungen wiedergegeben werden kann, dass er aber auch im Interesse der Deutlichkeit verändert wird. Er ist freilich an das Idiom gebunden. Aber auch so legt der überlieferte Text nur den Tenor fest. Die Lizenz, die sprachliche Oberfläche selbständig zu gestalten, erlaubt auch unterschiedliche Nuancierungen, Akzentuierungen und Perspektivierungen. Dies geschieht durch Wechsel der Blickrichtung, aus der etwas dargeboten wird, durch den Modus oder das Tempus, in dem erzählt wird, durch die Zahl der beteiligten Personen u. ä. Der Spielraum dafür ist unterschiedlich groß. Er erlaubt aber auch prägnantere, pointiertere, bildkräftigere Formulierungen. Darin kann der Verfasser der einzelnen Handschrift seine eigene Sichtweise zur Geltung bringen und seine Kunstfertigkeit unter Beweis stellen.Vielleicht sind noch isolierte Lesarten wie die Anspielung von Hs. B auf die Hochzeit des Fährmanns oder die Verschärfung der Auseinandersetzung um Siegfrieds Status in *J⁵⁹ Versuche einzelner Sänger/Schreiber des Nibelungenliedes, ihre eigene Kreativität einzubringen. Bei der Mehrzahl der Varianten scheint die Länge des zu kopierenden Textes mehr oder minder große Lizenzen zur Variation zu eröffnen und Formulierungsroutinen aufzurufen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Kopist sich ein Schriftbild oder ein Lautbild einprägte, eher, wieviel Text er memorierte. Vor allem die zahllosen Umstellungen von Satzgliedern (Typus woldet sehen oder sehen woldet oder do zu in oder tzu in do) lassen sich am einfachsten mit Erinnerungsvarianten erklären. Was als maßgeblich für den Text gilt, schließt nicht nur eine exakte Silbenzahl nicht ein, nicht nur eine bestimmte Graphie und Morphologie, sondern auch Einzelheiten des Wortlauts, soweit sie für den Gesamtsinn irrelevant sind. Einzelheiten konnten bei der Übertragung des Textes ‚vergessen‘ oder variiert werden. Der Überblick über den Überlieferungsbestand insgesamt erlaubt zwischen unterschiedlichen Weisen der Textaneignung zu differenzieren. Es gibt Handschriften, die sehr sorgfältig mit dem Formbestand anderer Handschriften übereinstimmen und auch
Brackert 1963, S. 40; vgl. S. 24, 46 u. ö. Vgl. S. 257– 261.
Sinndifferenzierende Varianz
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in der Schreibung sehr ähnlich sind (wie durchweg C und die Fragmente E und X dieser Redaktion), während in manchen Überlieferungsträgern (wie den Fragmenten N und g) die Lizenz zur Variantenbildung unkontrolliert scheint. Entscheidend ist: ganz ohne sie geht es nicht. Noch einmal von den beschriebenen Ad-libitum-Varianten zu unterscheiden sind Eingriffe in den Text, die der Erzählung einen neuen Akzent geben. Es gibt Schlüsselstellen, die die Kreativität herausfordern. Einige sollen herausgehoben werden, doch wäre es lohnend, derartige Stellen aus der gesamten Überlieferung zusammenzutragen. Sie verdanken sich einem entschiedenen Gestaltungswillen voraus und setzen an zentralen Knotenpunkten der Handlung an, an Stellen, die keine Ad-libitum-Varianz dulden. Sie sollen an späterer Stelle beschrieben werden.⁶⁰
Vgl. das Kapitel „Poetik“.
5 Varianten und Fehler Die bisherigen Varianten verdanken sich einer Reproduktionspraxis, die dem Schreiber gewisse Lizenzen einräumte. Für einen Teil von ihnen lassen sich inhaltliche Gründe geltend machen, für den überwiegenden Teil jedoch nicht. Die von Bumke und anderen betonte Varianz der Überlieferung ist zum einen ein Nebeneffekt unterschiedlicher Schreibtraditionen und einer nicht verbindlich geregelten Morphologie, zum anderen einer Poetik zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die in der Wiedergabe eines Textes der sprachlichen Ausgestaltung Lizenzen bei bestimmten Parametern einräumte. Wenn sich bei der Arbeit ‚am Schreibtisch‘ Formen schriftorientierter und nichtschriftorientierter (z. B. memorialer) Reproduktion verbinden und diese nicht in allen Punkten einen vorgegebenen Text exakt wiedergeben, können auch Abweichungen, die bei exakter Reproduktion als ‚Fehler‘ gelten, in Varianten übergehen. Ein akustischer oder optischer Übermittlungsfehler, ein missverstandenes oder fehlinterpretiertes Element oder auch ein erläuterungsbedürftiger oder zu weiterer Gestaltung herausfordernder Text ist dann Ursache der Variation. Während der erste und der zweite Typus von Varianten, die bisher beschrieben wurden, Varianten sind, die prinzipiell nebeneinander möglich sind, bei denen nicht angegeben werden kann, was ursprünglich ist, was nachträglich und was im Blick auf die Überlieferung insgesamt als nicht korrekturbedürftig einzuschätzen ist, kann bei Varianten des zuletzt beschriebenen Typs der Ursprung der Variante erkennbar sein, in einem Defekt, einem Missverständnis oder einer sonstigen Anregung durch den Ausgangstext. Hierbei ist auf Überlegungen der traditionellen Textkritik zur Entstehung der Fehler durch einen falsch interpretierten Klang oder ein falsch interpretiertes Schriftbild zurückzugreifen. Haferland¹ hat an einer Fülle von ‚Lauthülsen‘ und Klangähnlichkeiten gezeigt, wie die Erinnerung bei der Reproduktion des Textes gelenkt oder angeregt werden kann. Dabei muss nicht einmal vorausgesetzt werden, dass der Text akustisch realisiert wird. Klangbilder können auch beim Schreibprozess imaginiert worden und dann falsch umgesetzt worden sein. Hinzu kommen Irrtümer, die bei Kopie eines geschriebenen Textes entstehen, sei es, dass das Schriftbild undeutlich ist oder falsch wiedergeben wird. Wenn es den einen ‚richtigen‘ Text gibt, dann ist die Abweichung ein Fehler. Wenn aber der Ausgangstext variant ist, dann ist der Fehler nicht mehr so eindeutig zu bestimmen. Die klang- oder schriftbasierte Abweichung scheint, wenn sie Sinn macht, eher als Variante. Die auf diese Weise angeregte Lesart muss nicht schlechter sein. Insofern dürfen diese Varianten mit Varianten der Orthographie, der Morphologie und den von mir sogenannten Ad-libitum-Varianten zusammengesehen werden. Der Übergang zwischen Fehler und Variante ist fließend.
Diesen Fall dehnt Haferland in seinen verschiedenen Publikationen auf die Varianz der Überlieferung des Nibelungenliedes insgesamt aus, indem er die Varianz des Textes auf solche ‚Fehler‘ zurückführt. https://doi.org/10.1515/9783110983104-006
5 Varianten und Fehler
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Varianten, die durch eine defiziente Überlieferungspraxis verursacht werden, belegen die Kreativität der Sänger oder Schreiber, die das Nibelungenlied erneuerten. Ursache der Varianz kann ein unverstandenes Wort, ein inzwischen veralteter Sachverhalt, eine missverstandene Wendung, ein kompliziert formulierter Satz, eine metrische Unebenheit sein, die der Sänger/Kopist durch eine vertrautere Formulierung zu bessern sucht. Die ‚Reparatur‘ des defizienten Textes versucht in den meisten Fällen wie die Ad-libitum-Varianz den Rahmen der Aussage zu erhalten und nur anders zu füllen. Die Variationspraxis kann ihrerseits Fehler produzieren, indem die grundsätzliche Austauschbarkeit gleicher oder ähnlicher Elemente den Kopisten schon einmal danebengreifen lässt. Das geschieht besonders häufig bei Namen. Bei der Übernahme einer Variante können neue Fehler auftreten. Es gibt also Fehler, die Folgen der Varianz sind. Varianten können dabei durch optische oder akustische Fehlinterpretationen angeregt werden. Was Haferland als Aussetzer des Gedächtnisses und dessen anschließende Reparatur erklärt,² kann auch klang- (oder schrift‐)induzierte, jedoch fehlerhafte Nutzung der Lizenz zur Variation sein. Varianz kann dadurch bedingt sein, dass die Vorgabe der Überlieferung nicht eindeutig ist, sodass jeder, der das Epos erneuert, gezwungen ist, eine Entscheidung zu treffen. An solchen Stellen geht die Überlieferung besonders weit auseinander; die Handschriften präsentieren unterschiedliche Lösungen für die Lücke. Die auffällige Divergenz der Lesarten zeigt, dass keine eindeutige Vorgabe existierte und die Sänger/ Schreiber sich, jeder für sich, einen Reim drauf machen mussten, wie die Stelle zu füllen war. Auch diese Fälle erzeugen Varianz, die, oberflächlich betrachtet, von der Ad-libitumVarianz nicht zu unterscheiden ist. In all diesen Fällen handelt es sich manchmal um isolierte Lesarten, gegen die die gesamte Restüberlieferung steht. Daher wurden diese Lesarten, wenn sie nicht in der als archetypnah geltenden Hs. B auftraten, von der Textkritik nicht weiter beachtet. Wenn sie aber in B bezeugt waren, wurde versucht, sie gegen die übrige Tradition zu rechtfertigen, auch wenn sie zunächst kontraintuitiv schienen. Bei der Annahme umfassender Varianz des Nibelungenliedes erhalten sie einen anderen Status. Sie werden als zwar sekundär, aber innerhalb der Varianzpraxis im Rezeptionsprozess möglich aufgewertet. Für sie spricht zwar nicht mehr das Prestige von B, doch die eindrucksvollen Versuche der Auseinandersetzung der traditionellen Textkritik mit B, sie – wie B insgesamt – als ursprungsnah zu rechtfertigen. Diese Versuche lassen sich jetzt als Plädoyer für eine mögliche Variante lesen. Der Fehlerbegriff der traditionellen Textkritik ist, wenn man mit Varianz rechnet, nicht obsolet, aber er muss enger gefasst werden und ist von verwandten Phänomenen abzugrenzen. Dabei wird die scharfe Abgrenzung zwischen Fehler und Variante in Frage gestellt. Als Fehler fallen nur solche Lesarten auf, die den Handlungs- und Situationskontext stören.
Haferland 2003; 2006; 2019a; 2019b.
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5 Varianten und Fehler
Natürlich gibt es in der Überlieferung des Nibelungenliedes Fehler: Hörfehler, Sehfehler, Überlieferungsfehler, die einen unsinnigen Text produzieren. Ihr Ursprung in einer fehlgedeuteten oder defekten Schrift oder in einem verhörten oder falsch imaginierten Klang ist manchmal schwer zu auszumachen. Vor allem manche spätmittelalterlichen Handschriften (z. B. Hs. a oder Frr. L und g) sind sehr fehlerträchtig. Besonders die Ambraser Handschrift d enthält zahlreiche Beispiele für die üblichen Verwechslungen von Buchstabenformen, aber auch von den übrigen Überlieferungsträgern ist keiner frei von Fehlern. Das werden die Beispiele des Kapitels 6 „Fragmente“ überreich belegen. Es gibt Missverständnisse und Verballhornungen einzelner Wörter und unsinnige Ersetzungen. Häufig sind Auslassungen von Satzgliedern, die von der restlichen Überlieferung korrigiert werden. Von diesen Fehlern ist im Folgenden nicht die Rede. Es wird aber eine Aufgabe künftiger Forschung sein, den Fehlerbegriff näher zu bestimmen und von anderen Textabweichungen zu trennen.Vieles, was die ältere Textkritik als Fehler diagnostizierte, kann man, wenn man das Ideal des verbindlichen, originalen Wortlauts aufgibt, als Variante verstehen. Eine bereinigte Fehleranalyse, die die ältere Textkritik berücksichtigt, ist für die Bestimmung von Abhängigkeiten zwischen den Überlieferungsträgern unverzichtbar. Aber in vielen Fällen werden die Abweichungen von der angeblich archetypnahen Handschrift besser unter Varianten verbucht. Ebenfalls nicht behandelt werden sollen hier Ausbesserungen, die den Rahmen des Textes nicht mit Hilfe neuer, aber sinngleicher oder -verwandter Formulierungen aus dem Repertoire des ‚Nibelungischen‘ auszufüllen suchen, sondern in denen der Schreiber sich mit belanglosen Füllversen oder Füllwörtern, mit Formeln wie als uns ist geseit o. ä. behilft. Diese mechanischen Ausbesserungen haben mit der im Übrigen vorherrschenden variierenden Ausgestaltung nichts zu tun und bleiben daher im Folgenden außer Betracht. Aber sie dokumentieren gleichfalls, dass der Erzählrahmen stabil ist und nicht beliebig geändert werden kann.
Ersetzen von Unverständlichem und schwer Verständlichem Im Folgenden sollen diese besonderen Typen von Varianten vorgestellt werden. Es sind erstens Varianten, die auf Unverstandenes oder auf Lücken im überlieferten Text zurückgehen. Bei diesen Varianten ist meist die Priorität klar, die Nachträglichkeit der jüngeren Überlieferung gegenüber der älteren, eindeutig. Sie sind – tlws. misslingende – Versuche den Text konsistent und kohärent zu präsentieren. Sie nutzen also Lizenzen dort aus, wo Schreiber mit dem Text nicht zurechtzukommen scheinen, aber sie setzen die Überlieferungspraxis fort, wie sie durch Ad-libitum-Varianten bei fester Gesamtarchitektur charakterisiert wird. Der eng definierte Rahmen der‚richtigen‘ Erzählung vom Nibelungenuntergang grenzt auch die Besserungsversuche bei Korrektur eines wirklichen oder vermeintlichen Defektes ein. Er darf die Handlungs- und Episodenabfolge, aber auch den ‚Sound‘ des ‚Nibelungischen‘ nicht verletzen.
Ersetzen von Unverständlichem und schwer Verständlichem
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Als die Textkritik sich noch bemühte, möglichst nah über den Archetyp ans Original heranzukommen, waren solche als sekundär identifizierbare Lesarten eindeutig als ‚Fehler‘ auszuscheiden, denn sie entfernen sich ja vom ursprünglichen Text. Wenn aber die Überlieferung von Anfang an variant ist und für bestimmte Parameter Lizenzen für Formulierungsalternativen bestehen, ist die Einstufung als ‚Fehler‘ nicht mehr so selbstverständlich. Wenn sie sich nämlich im Toleranzrahmen für Varianz bewegen, sind die abweichenden Lesarten in ihrer Funktion von sonstigen Varianten nicht immer zu unterscheiden. Unbekannte Details laden zur Änderung ein. Die Änderung will den Text dem Publikum, evtl. einer späteren Zeit, verständlich machen. Die kostbare Bekleidung von Kriemhilds weiblichem Gefolge mit Gewändern von gemalt richen pfellen (A 1234,2; ~ BDbg) oder von genagelten richen pfellen (C 1320,2; ~ adH) ist ein Sonderfall. Die Charakteristik des feinen Stoffes war offenbar schon einigen Schreibern unverständlich. Hier ist als Ursache der Abweichung des Textes eine modische Besonderheit zu vermuten, die ein anderer Schreiber durch eine andere, ebenfalls nicht allgemein bekannte modische Besonderheit ersetzte, die sich nicht nur in *C, sondern auch in zwei notHandschriften (dH) findet.³ Beide Formulierungen stifteten in der Überlieferungsgeschichte Tradition, wie die jeweils übereinstimmenden Handschriften zeigen. An ihre Stelle trat in *J, genauer in JhQ das unspezifische, aber leichter verständliche von tiuren liehten pfellen, das keine Spezialkenntnisse in Kleidermoden verlangt. Diese Variante ist gewiss sekundär. Doch macht sie von einer Lizenz Gebrauch, die auf anspruchsvollere Weise auch die beiden anderen Handschriftengruppen ausnutzen. Manchmal sind Gegenstände außer Gebrauch gekommen oder Sachverhalte unbekannt. Der Ausdruck pfertkleit (nu heizet iu bereiten iwer pfertkleit, A 1207,1; ~ BCJb) wird in jüngeren Handschriften nicht verstanden. Schon D 1264 schreibt Nu heizzet euch bereiten euwer pfert gereit, bezieht die Aussage also auf die Vorbereitung der Pferde. Eine andere Deutung des unbekannten Ausdrucks versuchen im 15. Jahrhundert Fr. g 1207,1 / 1264,1 und Hs. a 1290,1; sie lösen die Zusammensetzung auf pert unde kleit bzw. pfärft und klaider. Das rätselhafte Fell, aus dem Siegfrieds Gewand bei der verhängnisvollen Jagd besteht (B 951,1: Von einem ludemes hute ACJb[ludens]h) ist nur in D 951,1 – gegen die restliche Überlieferung – durch eine luchses heute, ein Luchsfell also ersetzt, statt dem Fell eines unbekannten Tiers (ludem).⁴ Hier wird nicht die Aussage variiert, sondern ein unverständliches Wort wird durch ein besser verständliches ersetzt. In anderen Fällen kann man kaum von Varianz sprechen, sondern von Versuchen, schwierige Formulierungen zu erklären: Etzels Boten wollen ihre Reisekleider in Worms
Braune 1900, S. 136 u. 196 erläutert die Alternative nicht; er zitiert Paul 1876, S. 473, der die B-Variante verwirft. Die Forschung bevorzugt die erste Lesart, doch ist ihre Deutung umstritten ebenso wie die ihrer Alternative. Heinzle 2013a, S. 1319 plädiert – mit Fragezeichen – für gemalet, „gefärbt“ (Brüggen) oder „buntverziert“ (Bartsch). Zu den Vermutungen, um welches Tier es sich handelt Heinzle 2013a, S. 1250. Es gib auch die Ansicht, dass ludem verderbt ist, D die richtige Lesart wiederherstellt; aber D ist an dieser Stelle völlig isoliert.
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5 Varianten und Fehler
verschenken ob ir ieman geruͦ hte (A 1374,4); ruchte (B 1431,4; ~ Jdhl:⁵ ‚sie haben wollte, zu behalten geruhte‘). In der not-Fassung der Hss. Db 1431,4 steht anstelle des schwerer verständlichen (ge)ruͦ chen das leichter verständliche gerte; Ca 1462,4 vereinfachen noch weiter: obs iemen nemen wolde. Entscheidend ist wieder der Vorgang: jeder, der will, kann die Kleider nehmen. Auf die Weise der Versprachlichung ist der Text nicht festgelegt. Dietrich wirft Gunther und Hagen vor: nu habet ir mir erbunnen aller miner man (B 2327,3; ~ ACDJ). Die Bedeutung ist klar: die Burgonden haben Dietrichs Gefolge vernichtet. Dagegen die Wahl des Verbs (eigentlich ‚missgönnen‘) ungewöhnlich und erklärungsbedürftig,⁶ offenbar auch für einige Kopisten. So ersetzt die späte Hs. b 2327,3 das Verb durch benumen (alle meine man), aber auch das Fr. K 2327,3 der *J-Redaktion hat habet ir mich entanet (beraubt) aller miner man, während die mit K verwandte Hs. J bei erbunnen bleibt. Das sind punktuelle, überdies späte Änderungen. Das Verb macht offenbar einigen Kopisten Schwierigkeiten; sie formulieren selbständig sinngemäß um. Schwer verständliche Stellen beschäftigen die Schreiber, wobei sie manchmal einen Ausweg in einer neuen Formulierung desselben Sinns suchen, manchmal auch sich von Klangähnlichkeit leiten lassen; diese kann sie dabei auf falsche Fährten locken: Die hunnischen Boten versprechen Kriemhild, dass sie an der Seite Etzels immer Freude haben wird: daz ez iuch immer wune (A 1179,3); Db hat den Indikativ: immer wunnet. ⁷ Die Boten versprechen Kriemhild, ihr werde es an Etzels Seite gut gehen. Das gesuchte Wort wunnet scheint zu Alternativen einzuladen. Die Lesart in B 1236,3 lautet, dem Klang folgend oder die Schreibung interpretierend: daz iuch immer wndert ist daz ez ergat. Das ist eine seltsame Folge der Heirat mit Etzel, die man Kriemhild hier in Aussicht stellt. Der durch Klang oder Schreibung angeregte Mechanismus der Änderung ist klar. Sie generiert eine mögliche, allerdings schwierige Deutung des Schrift- oder Klangbildes.⁸ Es ist möglich, an der Lesart von B festzuhalten, wenn man unbedingt den Wortlaut von B rechtfertigen will, außerdem nach dem Leithandschriftprinzip konsequent. Wahrscheinlicher ist eine Fehllesung. Blickt man auf die übrige Überlieferung und die Mechanismen der Variantenbildung insgesamt, dann scheint für den Sänger/Abschreiber das Verb wunnen interpretationsbedürftig gewesen zu sein, und er hat es klangbasiert ersetzt. Andere Handschriften suchen ein inhaltliches Äquivalent. Jh und C ersetzen nicht das unverständliche Wort, sondern drücken den Sachverhalt variierend aus: daz ir lebt mit frauden (Jh 1236,3) bzw. daz ir des wol vergesset (C 1263,3; ~ a). So reicht in diesem Fall das Spektrum der Lesarten vom (mutmaßlichen) Fehler bis zur Variante.
Fr. K ist an dieser Stelle verstümmelt. Heinzle 2013a, S. 1498 gibt ‚missgönnt‘ als Bedeutung an und erklärt es an vergleichbarer Stelle als „floskelhaft für ‚genommen‘“ (S. 1495). Wenn Pritz (wimet) richtig liest, scheint d das Wort nicht zu verstehen. Batts hat dieselbe Lesart (wunnet) wie Db. Heinzle paraphrasiert in der Übersetzung „daß Ihr immer staunen werdet“ (S. 395), im Kommentar – näher am Wortlaut – „in Verwunderung seid“ (S. 1307). Daher sei „der B-Text nicht zu beanstanden“ (2013a, S. 395 bzw. S. 1307), trotzdem eine merkwürdige Aussicht für Kriemhild.
Ersetzen von Unverständlichem und schwer Verständlichem
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Besonders *J ist um eine Klärung schwieriger Stellen in den not-Handschriften bemüht. Statt der gestelzt-komplizierten Formulierung, mit der Blödelin Dancwart auf den Kampf mit seinen Leuten vorbereitet: wan diz chomen daz mine daz muz din ende sin (B 1920,2)⁹ steht stattdessen in J 1920,2 (~ hQ) wan daz ich her comen bin daz muͦ z din ende sin. Unterschiedliche Formulierungen kämpfen mit einer fehlerhaften Grammatik. Dabei scheinen in der Variation aber bestimmte Wörter oder Wortverbindungen vorgegeben; sie müssen nur neu arrangiert und z.T. ausgetauscht werden. In A 1726,4 beantwortet Hagen Kriemhilds Frage, wieso er bei der Einladung zu ihrem Fest mitgekommen sei: Er sei bisher bei keiner hovereise seiner Herren zurückgeblieben: deheiner hovereise bin ich selden hinder in gestan. Die Kombination des Genitivs mit dem Verb scheint gesucht: (hinder in gestan, wohl im Sinne von abestan: ‚zurückgeblieben, abgestanden von …‘), wobei der Bezug des Genitivs undeutlich ist; wurde eine Präposition ausgelassen? B 1785,4 ergänzt sie, verändert damit die syntaktische Funktion von deheiner hovereise und klärt so das Verständnis: in deheiner hovereise bin ich selten hinder in bestan. Man könnte an eine Auslassung von in in A denken, wenn die Präposition nicht auch sonst in der Überlieferung fehlte. D 1785,4 ändert den Kasus von hovereise: kein hove reise bin ich selden hinder in bestan. Den Genitiv haben dagegen auch b und d; b hat aber ein anderes Verb: dehainer hofraise bin ich sellten an sy bestan (b 1785,4); d schreibt (verstümmelt?) dhainer hofraise bin ich ir selten bestan (d 1785,4; ‚ferngeblieben‘?). C 1829,4 hat ähnlich deheiner hove reise bin ich vil selten ir bestan, wobei Kasus und Bezug von ir unklar sind. In Fr. K und Hs. a steht statt des Personalpronomens ir (i. e. die burgondischen Könige?) der Dativ: deheiner houe reise bin ich in selten ab gegan bzw. gestan (‚nie habe ich ihnen auf einer Hofreise gefehlt‘). J spricht statt aus der Sicht Hagens aus der der Könige: deheiner hofreise hant sie mich selten erlan (‚sie haben mir nie eine Hofreise erlassen‘; ~ h). Was gemeint ist, ist klar, die syntaktische Umsetzung dagegen nicht. Die verschiedenen Formulierungen stimmen darin überein, dass Hagen, die burgondischen Könige und die Hofreise zueinander in Beziehung gesetzt werden: ‚Bei keiner Hofreise habe ich, Hagen, die Könige nicht begleitet‘. Dieses Verhältnis drücken die Handschriften verschieden aus, aus der Perspektive der Könige oder der Hagens, durch die Verben abestan, bestan, gestan, teils mit Präpositionalkonstruktion (hinder in; an sy) oder erlan; hovereise steht in verschiedenen grammatischen Positionen, ebenso ‚sie‘ (d. h. die Könige). Die Überlieferung scheint unsicher nach einer grammatisch befriedigenden Lösung zu tasten, die alle Komponenten miteinander verbindet. Sie lädt die Schreiber ein, verschiedene Möglichkeiten zu erproben. Eine gelungene Vorgabe scheint es an dieser Stelle nicht gegeben zu haben. Es gibt verschiedene Versuche, eine unklare Syntax zu klären. Angeregt sind sie offenbar durch eine grammatisch schwierige Konstruktion. Eine schwierige Konstruktion kann auch zu eindeutigen Fehlern führen: Hagen wünscht nicht, dass Gunther und seine Leute durch jemand anderen als ihn auf der
So auch die restliche Überlieferung einschließlich der *C-Bearbeitung; leichte Variante in A.
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gefährlichen Fahrt zu Etzel begleitet werden: in wil nicht daz ir fuͦ ret iemen uf den wegen | der geturre riten mit iu ze hove baz (A 1404,2– 3;~ rell.): ‚Ich will nicht, dass ihr jemanden auf der Reise (mit Euch) führt, der besser (als ich) mit euch an den Hof Etzels zu reiten wagt‘.¹⁰ Die Konstruktion, die A mit dem Großteil der übrigen Überlieferung teilt, ist schwierig. Sie verknüpft Hagens Wunsch, dass kein anderer an seine Stelle tritt, mit der Feststellung, dass er selbst am besten die Könige geleiten würde. Immerhin in drei Handschriften ist sie entstellt, ohne dass das zu einer sinnvollen Variante führte. In Hs. d fehlt das Verb, sodass der Vers unvollständig ist. Fr. l 1461,2 hat ich wais daz ir nicht fuͤ rent iemen auf den wegen, hier bricht das Fragment ab; eine Fortsetzung wie in A würde den Gedanken nicht sinnvoll ergänzen. B 1461,2 hat anstelle von fuͦ ret das klangähnliche, aber unsinnige fuͤ rhtet: ine wil daz ir ieman fuͤ rhtet uf den wegen | der getuͤ rre riten mit iu ce hove baz (B 1461,2– 3). Der erste Vers könnte Hagens Rede sinnvoll fortführen: Hagen will nicht, dass die Burgonden auf der Fahrt jemanden zu fürchten haben. Aber dazu passt der folgende Halbvers nicht (der getuͤ rre riten mit iu ce hove baz): jemand fürchten, der sie zu Etzels Fest begleitet? Indem Vers 1461,3 unverändert ist, wird die Aussage unsinnig. Hier scheint das Wort füren durch das zunächst ähnliche, scheinbar passendere, in Wirklichkeit sinnlose fürhten ersetzt worden zu sein, vielleicht angeregt durch die schwierige Konstruktion. Auch eine nicht mehr verständliche Anspielung auf die Sage kann Variantenbildung auslösen. Einzig B 1551,1 weiß, dass der Fährmann, der die Burgonden über die Donau setzen soll niulich gehit (‚frisch verheiratet‘) ist: Ouch was der selbe verge niulich gehit | diu guf ¹¹ nach grozem gute vil boͤ se ende git. Diese Nachricht wird gestützt durch eine Bemerkung der ‚Thidrekssaga‘, dass der frisch verheiratete Fährmann wegen seiner jungen Frau Gold haben will, das er ihr ‚schenken kann.¹² Von seiner verhängnisvollen Goldgier wissen auch die übrigen Handschriften im zweiten Vers zu berichten, nur fehlt das Motiv. Den Zusammenhang mit seiner kürzlichen Heirat stiftet nur B 1551,1– 2. Andererseits ist diese Bemerkung, ohne Begründung des Zusammenhangs, recht elliptisch; dass der Fährmann frisch verheiratet ist, ist ein blindes Motiv, das keineswegs exklusiv Goldgier begründet. Wenn man also mit guten Gründen annimmt, dass hinter der Bemerkung in B eine Sagentradition steht, die auch die ‚Thidrekssaga‘ kennt,¹³ dann war sie offenbar der restlichen Überlieferung unbekannt. Die Textkritik folgerte daraus, dass dieses Motiv ursprünglich ist, sekundär aber schon in *A und *C und in allen späteren Handschriften ersetzt wurde. Aber die Stelle reiht sich auch in die Versuche der Beseitigung von Unverständlichem. Der Versuch der Ersetzung ist klanggesteuert:¹⁴
In Heinzles Übersetzung geglättet zu. „Ich will nicht, daß ihr Leute mitnehmt, die mutiger sind, mit Euch an Etzels Hof zu reiten“ (2013a, S. 467). Heinzle ersetzt das in der Bedeutung ‚Gier‘ nicht belegte Wort guf nach den anderen Handschriften durch gir (2013a, S. 492; 1366). ‚ Thidreksage‘ II, S. 287. Heinzle 2013a, S. 1366. Selbst noch die verderbte Formulierung in d lehnt sich klanglich an B an: Ich waÿss derselbe Schefman newlich geschicht.
Fehler erzeugende Varianten
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Ouch was derselbe schifman muͦ lich gesit | diu gir nach grozem guͦ te vil boser ende git (A 1494,1– 2 (~ rell.), ‚auch war der Schiffer von unangenehmen Sitten; die Gier nach großem Gut endet schlimm‘. Allerdings ist der Reim verdorben (kurzes gegen langes i¹⁵); andererseits ist der Zusammenhang zwischen erstem und zweitem Vers nicht elliptisch wie in B.¹⁶ Möglicherweise sollte auch das anstößige¹⁷ niulich gehit ersetzt werden.Wenn man hier eine nachträgliche Änderung annimmt, dann sind deren Bedingungen klar: Erhalten des Sinns, Anpassung an den Klang und Übernahme eines Teils des Wortmaterials.
Fehler erzeugende Varianten Das Variationsverfahren ist auch selbst fehlerträchtig; es kann fehlerhafte Varianten produzieren. Es sind erstens Varianten, die durch fehlerhafte Anwendung der Regeln des beschriebenen Variationsprinzips und durch fehlerhaftes Nutzen von dessen Lizenzen produziert werden, dazu Varianten, die durch ungenaues Hören oder Lesen angeregt sind, schließlich Ad-libitum-Varianten, die Fehler auslösen. Das variante ‚wording‘ kennt bestimmte Regularitäten. Wenn ohne Schwierigkeiten Namen untereinander, Namen gegen Appellativ, Singular gegen Plural, Kasus oder Modus oder bedeutungsverwandte Wörter ausgetauscht werden können, geschieht das auch schon einmal, wenn der Austausch in eine falsche Richtung geht. Das lässt sich am ziemlich häufigen Austausch von Namen zeigen. In manchen Fällen ist der ausgetauschte Name eindeutig fehlerhaft. Wenn Gunther Etzels Boten gesagt hat, er wolle Rüdiger in drei Tagen die Antwort auf seine Werbung für Etzel geben, muss Rüdiger sich drei Tage gedulden. Dagegen schreibt B 1199,1 Alsus beleip do Gunther bis zum dritten Tag. Hier ist der Fehler offensichtlich; es müsste Rüdiger heißen, der von Gunther auf diesen Termin vertröstet wurde, wie A 1142,1 richtig hat, und tatsächlich haben wieder DJbdh und die Frr. Q und V den richtigen Namen, der in B vertauscht ist. Wenn nach dem Variationsprinzip Wörter aus einem bestimmten Vorstellungsbereich, in verwandten syntaktischen Funktionen, mit ähnlichem Klang oder von gleicher Klasse von Bezeichnungen füreinander eintreten können, dann geschieht das auch in sachlich ganz unangemessen Fällen. Das ist z. B. der Fall mit furste und kunig, die beide Gunther und seinen Rang bezeichnen können, obwohl kunic die spezifischere Be-
Hs. b setzt das vom Reim geforderte lange i voraus, diphthongiert es falsch und schreibt mulich gesait. Hs. a 1590,1 hat statt der kontrahierten Form (git) die unkontrahierte (gibt); zerstört den Reim dadurch vollends. Die *J-Redaktion fällt für diese Stelle aus, da Hs. J an dieser Stelle eine Lücke hat, auch keines der *JFragmente die Stelle überliefert, außer l, dessen Zugehörigkeit zu *J allerdings zweifelhaft ist. Es folgt an dieser Stelle A. Braune 1900, S. 194: gehien sei nur noch im 11. und 12. Jahrhundert gebräuchlich. „Das wort ist mit dem anfang des 13. Jh.‘s aus dem edeln gebrauch verschwunden und hat obscöne bedeutung angenommen“. Braune nimmt deshalb „das hohe alter dieser lesart“ an.
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zeichnung ist. Sind die Bezeichnungen bei Gunther austauschbar, so sind sie es in anderen Fällen nicht. Wenn der bischöfliche Hof zu Passau statt – wie fast einhellig in der Überlieferung – des fursten hof in b 1293,2 des kuniges hof genannt wird, dann ist das falsch und müsste, wenn man die Situation bedenkt, sofort korrigiert werden, aber es ist aus der Variationspraxis verstehbar, wo in manchen Fällen furste und kunig austauschbar sind. Die Bedingung semantischer Solidarität ist also erfüllt, wenn auch in diesem Fall unpassend. Die Geschlechterdifferenz steht der Austauschbarkeit entgegen, aber die beiden vertauschten Begriffe gehören wenigstens demselben Bezeichnungstyp an: Rüdiger beauftragt Gotelind mit den Vorbereitungen des Empfangs von Kriemhild; der Empfang soll der chueneginne da mite troste(n) den muot (B 1297,4; ~ AJdh sowie Frr. H und Q). Auch *C stimmt überein. Die Lesart in den Hss. D und b und Fr. V, der Empfang solle dem chunige Trost spenden, ist nach dem Zusammenhang unsinnig, da kein König an diesem Vorgang beteiligt ist. Die Lesart ist eindeutig ein Fehler, der nicht mehr im Toleranzbereich der Varianz liegt. Aber das Prinzip ist bekannt. Angeregt ist dieser Fehler aber durch die andernorts nicht fehlerhafte Ersetzung von Lexemen einer Bezeichnungsklasse oder Austausch von Namen oder Personen eines Typs. Etzels Wertschätzung für Hagen kann z. B. durch die Wertschätzung Helches für Hagen ersetzt werden (A 1639,4; ~ Db vs. B 1724,4; ~ CJh) – eine mögliche Variante. Aber im vorliegenden Fall stimmt die Bedeutungskomponente ‚Geschlecht‘ nicht. Der Tenor der Aussage bleibt trotzdem auch hier erhalten: Gotelinds Zurüstungen sollen ihr die königliche Gunst sichern, des Königs oder der Königin; es geht um die Instanz, nicht das Geschlecht des Amtsträgers, und deshalb unterläuft der Fehler. Auch der übliche Austausch von Namen und Appellativ produziert Fehler aus Nachlässigkeit. So wird erzählt wie der kunich A 1754,4 (~ DJbdh) mit seinen burgondischen Gästen zu Tisch geht; C 1757,3 präzisiert: es ist der Hausherr (wirt). B 1813,4 ersetzt das Appellativ durch den Namen, allerdings den Namen Rüdiger statt Etzel, wie es richtig heißen müsste.¹⁸ Dieser Fall aber ist schon weniger eindeutig als der vorige. In der Tat dürfte Rüdiger auch anwesend sein wie auch beim späteren Mahl, doch spielt er beim ersten Zusammentreffen des Königs mit den Burgonden keine wichtige Rolle. Da kommt es natürlich auf Etzel, nicht Rüdiger an. Solche Verwechslung ‚unterläuft‘ bei der Anwendung eines gängigen Variationsprinzips. Solche Mechanismen der Varianz produzieren gelegentlich Lesarten, die, wenn sie in B stehen, die ältere Forschung zu rechtfertigen suchte, selbst wenn sie schlecht in den Kontext passen. Rüdiger und seine Leute räumen den Saal, in dem der Kampf ausgebrochen ist. A 1935,4 bilanziert: da von der kunich Gunther sit grozen schaden gewan. ¹⁹ So fasst auch die restliche Überlieferung die Folgen der Erlaubnis zusammen, dass die aus Bechelaren unbehelligt abziehen dürfen (~ CDJabh): Die Leute Rüdigers werden Gunther
Von Heinzle 2013a, S. 572– 573 stillschweigend nach ADJbdhK in der künec korrigiert, was sinngemäß von C und a bestätigt wird. A hat fehlerhaft getan, was einen rührenden Reim zu 1935,3 ergibt.
Zweifelhafter Austausch von Namen: Fehler oder Variante?
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noch zu schaffen machen. Nur B schert aus und vertauscht den Namen Gunther mit Rüdiger und setzt Gunthers Titel kunich vom Nominativ in den Dativ: von dem chuͤ nege Ruͤ deger schaden grozen sit gewan (B 1995,4).²⁰ Kasuswechsel und Austausch der Namen sind gängige Variationsverfahren, die aber nicht zur Situation, der Rettung von Rüdigers Leuten, passen, die dadurch gefährliche potentielle Gegner bleiben. Das Subjekt der ganzen Strophe (Rüdiger) wird mechanisch auf den vierten Vers übertragen.²¹ Die Austauschbarkeit besteht also unter gleichen Bezeichnungstypen und Wortklassen, wobei nicht immer auf alle Bedeutungselemente geachtet wird. Ein Grenzfall der Austauschbarkeit ist der oben kommentierte Austausch von kamer gegen kemenate (A 1216,1; ~ CJdgh vs. B 1273,1; ~ DabU), bei dem gleichfalls die Wortklasse und die Kernbedeutung (öffentlich unzugänglicher Raum) gewahrt ist, aber eine Bedeutungskomponente beim Austausch der Lexeme übersehen wird (Raum zur Aufbewahrung von Schätzen vs. Privatraum).²² Es ist möglich, dass das weniger passende kemenate in kamer korrigiert wird, aber denkbar ist auch, dass beide Bezeichnungen in der Situation als äquivalent gelten. Hier ist es zweifelhaft, ob die Variante ein Fehler ist.
Zweifelhafter Austausch von Namen: Fehler oder Variante? Das Prinzip, Namen oder Namen und Appellativ auszutauschen, führt zu zweifelhaften Lesarten. Nachdem nicht mehr selbstverständlich angenommen werden kann, dass Lesarten der archetypnächsten Handschrift B nur in Ausnahmefällen verworfen werden dürfen, stehen isolierte Lesarten von B unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck. Die Varianz kann fehlgehen und gegen den situationsadäquaten Rahmen der Aussage verstoßen. Trotzdem verdienen ältere Versuche, die B-Lesart zu retten, Aufmerksamkeit, denn sie könnten jetzt auf mögliche Varianten deuten. Wenn erzählt werden soll, dass die drei Wormser Könige an einem Vorgang beteiligt sind, werden sie meist der Reihe nach genannt. Wer einzeln als ihr Repräsentant angeführt wird, scheint in vielen Fällen gleichgültig, doch kann es schon einmal sein, dass in den Handschriften ihre Namen vertauscht werden. Es kommt darauf an, dass ‚die Könige‘ alle drei den Gesandten Rüdiger ehrenvoll empfangen. Das verteilt der Erzähler auf mehrere Strophen. A 1126,2 nennt zuerst Gunther und Gernot. B 1183,2 dagegen bringt an der Parallelstelle Gunther und Giselher. Giselher wird B 1185,1 noch einmal genannt (~ A 1128,1). Von der späteren Stelle aus gesehen, läge es näher, Gernot an der ersten Stelle zu nennen, da Giselher in B sonst zweimal erscheint. Das ist störend, zumal Gernot sonst beim ersten Empfang fehlen würde und erst später seinen Auftritt erhielte.
Heinzle verfährt widersprüchlich: Er lässt im Text diese Lesart stehen (2013a, S. 628), erwägt aber S. 1441, welcher künec wohl gemeint ist (Giselher?), entscheidet sich dann jedoch gegen die Lesart von B und für die restliche Überlieferung. Zu dieser Stelle auch Brackert 1963, S. 47, der darauf hinweist, dass der Name Rüdigers gerade genannt wurde. Heinzle hat deshalb für kameren als bessere Lesart plädiert (2013a, S. 1315; vgl. S. 117).
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5 Varianten und Fehler
Die Aufteilung in A ist ausgewogener und auch DJbdh haben Gernot statt Giselher. Aber ist das überhaupt vom Typus her ein Fehler?²³ Kommt es nicht darauf an, dass die drei Könige als eine Einheit handeln, zumal wenn die beiden jüngeren genannt werden; da kann mal der eine, mal der andere im Vordergrund stehen. Konsequenter ist die Version von A und der restlichen Überlieferung. Aber angesichts der Sorglosigkeit der Handschriften im Austausch von Namen oder Namen und Appellativ liegt auch in diesem Fall die Lesart von B im Spektrum möglicher Lizenzen, wenn die Variante auch einen eindeutig schlechteren Text produziert. Besonders der Name Giselher ist anfällig für Vertauschungen, vielleicht weil Giselher Kriemhild am nächsten ist, zuletzt aber das Schicksal seiner Brüder teilt. Seine Position ändert sich also. So kann man im Zusammenhang des Hortraubs hinter dem Austausch seines Namens statt dem Gunthers Absicht vermuten. In B 1131,4 wendet sich Kriemhild schutzsuchend an ihren Bruder Gunther. In A 1074,4 und der ganzen restlichen Überlieferung (inkl. der liet-Fassung) dagegen ist es Giselher, mit dem sie seit dem Tod Siegfrieds ein besonders enges Vertrauensverhältnis verbindet. Gunther ebenso wie Giselher verspricht Abhilfe, doch nicht sofort; zunächst hätten sie ritens wan (B 1135,4). Sie wollen außer Landes reiten. Für den Vorgang ist der Adressat von Kriemhilds Bitte gleichgültig. Sie sucht Rechtsschutz bei den Königen; B geht es mehr um die Institution (der König), A um das persönliche Verhältnis (Giselher). Die Akzentuierung differiert, nicht der Sachverhalt des Aufschubs der Hilfe.²⁴ Die Variante der übrigen Handschriften (Giselher) scheint dadurch motiviert, dass nach der Rückkehr der Könige Kriemhild die Klage offenbar besonders an Giselher richtet (B 1135,4). Der Wechsel zwischen Gunther und Giselher erzeugt keinen Widerspruch zum Fortgang. Wieder erhält Kriemhild (leere) Garantien von Giselher, der auch zuvor immer ihre Interessen wahrgenommen hatte (besonders B 1075; 1077; 1080). War also an der ersten Stelle Gunther ein Fehler? Wohl kaum. Das Verhältnis zu den Brüdern, von denen am Anfang der Szene sich auch Gunther dagegen gewandt hatte, erneut gegen Kriemhild zu handeln (B 1128), beginnt sich zu verschieben, früher in A, später in B. Von diesem Punkt an wird zwischen der Rolle der drei Könige nicht mehr unterschieden. Durch ihre Abwesenheit erlauben sie alle drei, Hagen den Schatz zu rauben. Nicht mehr Gunther steht im Zentrum. Jetzt kommt es auf die ebenfalls halbherzige Einstellung Giselhers an. Der Namenswechsel ist eine sinnvolle Variante, denn er bildet einen Prozess ab, dessen Beginn in A und in B verschieden gesetzt ist.
Die Stelle spiegelt das Dilemma auch der neueren Ausgaben nach dem Leithandschriftenprinzip. Schulze 2010, S. 350 lässt Giselher stehen, die beigegebene Übersetzung von Grosse (nach der alten ‚kritischen‘ Ausgabe) übersetzt ‚Gernot‘. Auch Heinzle behält Giselher an dieser Stelle im Text, privilegiert also B, sagt aber im Kommentar „[w]ahrscheinlich Fehler“ (Heinzle 2013a, S. 378; 1301). Reichert 22017, S. 181 konjiziert nach der restlichen Überlieferung in Gernot und erklärt Giselher für„falsch“. Im Rahmen des Leithandschriftprinzips müsste es Giselher heißen, die Mehrzahl der Handschriften aber folgt A. Heinzle 2013a, S. 1284. Er argumentiert, „daß Kriemhild den Bruder im folgenden als ihren Vormund anspricht (vgl. zu 1132,2). Das paßt besser zu Gunther als zu Giselher“. Auch Schulze und Reichart halten an Gunther fest.
Zweifelhafter Austausch von Namen: Fehler oder Variante?
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Weil von hier an im zweiten Teil des Epos zwischen den Königen nicht mehr nach Schuld oder Unschuld differenziert wird, könnte sogar eine deutlich problematischere Verwechslung der Namen Gunther und Giselher erklärt werden.Vor der Einladung ihrer Verwandten zu Etzel bedenkt Kriemhild die Chancen einer solchen Einladung. Vor allen erinnert sie sich ihrer engen Beziehung zu Giselher. Außer mit Hagen ist sie mit den Burgonden versöhnt. Einerseits wird die suone die Könige veranlassen, ihre Einladung anzunehmen; andererseits wird die Einladung zwecks Rache damit zum Rechtsbruch. A und B machen den Teufel für diesen Zwiespalt verantwortlich: Ich waene der ubel valant Criemhilde daz geriet | daz si sich mit friuntschefte von Giselhere schiet | den si durch sune chuste in Buͤ rgonden lant (B 1391,1– 3; ~ A 1334,1– 3). Die rechtsgültige suone, die sie geschlossen hat, wäre für die Rache ein ernstes Hindernis,²⁵ wie sich später zeigt, wenn die Burgunden auf sie vertrauen. Die Strophe verklammert also zwei gegensätzliche Sachverhalte. Nur, Kriemhild ist zwar von Giselher mit friuntschefte geschieden, aber sie hat sich nicht mit ihm durch einen Kuss versöhnt (durch sune chuste), sondern mit Gunther. Die Hss. DJbdh haben deshalb den erwartbaren Namen Gunther.²⁶ Ein offensichtlicher Fehler? Schulze konjiziert, Heinzle und Reichert halten an Giselher fest.²⁷ Der Name Giselher an dieser Stelle stört die Szene empfindlich; der Sachverhalt passt nur auf Gunther. Eine Versöhnung mit Giselher war nicht nötig, im Gegenteil stand er bei der suone als Mediator auf Kriemhilds Seite (sint ir bi B 1105,1; ~ rell.). Mediatoren auf Seiten Gunthers waren Ortwin und Gere. Eine der gewöhnlichen Unaufmerksamkeiten beim Austausch von Namen? Sodass der kurz zuvor erwähnte Name Giselher anstelle von Gunther versehentlich in den Text gerutscht ist? Weniger durch Übersetzungsversuche der schwierigen Stelle²⁸ ist der Name Giselhers als mit dem gängigen Variationsprinzip zu rechtfertigen, das in diesem Fall darauf verweisen könnte, dass von diesem Punkt an die Differenzierung zwischen den Königen entfällt, deshalb ein Austausch der Namen möglich ist. Heinzle erinnert daran, dass es B 1112,3 heißt si verchos uf si alle wan uf den einen man (Hagen) und dass Gunther 1457,2 sich später darauf beruft, Kriemhild habe ihren zorn aufgegeben und uf uns verchorn. „Man kann daher annehmen, daß hier kontextbedingt (Str. 1393 [=1390]) Giselher stell-
Kriemhild bricht in Tränen aus und verfolgt ihre Pläne erst weiter, als ihr einfällt, dass Gunther und Hagen sie zur Ehe mit einem Heiden genötigt haben (eine not! B 1392,4; A 1335,4); dieser Skandal nämlich geschah nach der suone; ihn hat Kriemhilds nie für gesühnt erklärt. Wieder werden die beiden Hauptschuldigen zusammen genannt. Dass Gunther die Ehe mit einem Heiden stiftet, nach der Versöhnung, ist ein Vorwurf, der Kriemhild just einfällt, wenn sie Rachepläne wieder aufgreift (vgl. Müller 1998, S. 232). In *C ist die Strophe abgewandelt; der Teufel fehlt. Schulze 2010, S. 407; Heinzle 2013a, S. 444; Reichert 22017, S. 206. Schulze 2010, S. 814; Heinzle 2013a, S. 1340 und die Überlegungen der Forschung dort. Heinzles ‚wörtlicher‘ Übersetzungsvorschlag („daß sie in bezug auf Versöhnung von Giselher Abschied genommen hatte“) gibt keinen Sinn, seine Übersetzung mit „daß sie die Versöhnung mit Giselher mißachtete“ (S. 445) ist vom Wortlaut des mhd. Textes nicht gedeckt. Eine Versöhnung mit Giselher gab es nie. Heinzles Erklärung, dass sich die Versöhnung auf alle Brüder bezog, ist deshalb keineswegs plausibel (Haferland 2019a, S. 47), denn ein Bruch mit Gernot und Giselher war nie eingetreten. Trotzdem ist klar, dass Kriemhilds Entscheidung sich gerade auch gegen Giselher richtet.
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vertretend für sie genannt wird“.²⁹ Der Name Giselher in A und B wäre dann eine Variante, die, wie oft, für alle Könige steht und die aufs Ende vorausdeutet. Tatsächlich macht Kriemhild in Verfolgung ihres Racheplans zwischen Giselher und den anderen von da an keinen Unterschied mehr. Giselher geht mit Gunther und Hagen unter. Diesen Umstand nähme die Lesart in A und B vorweg und würde sie durch die Variante andeuten. Der Name ist nicht durch das zu erklären, was passiert ist, sondern durch das, was folgt. Er ist nur zu rechtfertigen, wenn man eine Motivation ‚von hinten‘, vom Ergebnis her, unterstellt.³⁰ Die Ausdehnung der Rache auf Giselher, der immer auf ihrer Seite war – das machen später dessen eigene Worte deutlich –, ist in der Szene der eigentliche Skandal und ein Ergebnis teuflischer Einflüsterung. Der Austausch des Namens wäre in dieser Perspektive eine motivierte Variante, auch wenn nicht mehr die Autorität der Hs. B diese Lesart stützt. Kriemhild weist die Boten nach Worms an, sie sollten ihre Brüder veranlassen, ihrem Vorschlag zu folgen: Bitet daz si leisten, daz der chunig in enpot (nach D 1413,1; ~ JbdhKl), ebenso die Bearbeitung *C. Hs. A und B aber haben stattdessen, sie sollten tun, daz in Ruͤ dger enbot (B 1413,1; ~ A 1356,1) oder nach M bittet daz si leisten daz Ruͦ dgeres inbot (M 1413,1: ‚dem Vorschlag Rüdigers‘, d. h. der Einladung an Etzels Hof Folge zu leisten). Die revidierten Ausgaben nach B übernehmen ausnahmslos diese Lesart.³¹ Braune hielt dies noch für einen „fehler“ schon des Originals, der in der späteren Überlieferung korrigiert worden sei.³² Das Problem ist nämlich:Von Rüdiger war in allen Gesprächen, die der Einladung vorausgingen, nie die Rede, und er konnte folglich nichts entbieten und tut das auch später nicht, wenn die Boten auf dem Weg nach Worms ihn aufsuchen. Die Formulierung der übrigen not-Handschriften ist viel plausibler, denn in der vorausgehenden Szene hat der König tatsächlich die Boten instruiert und Kriemhild mahnt sie, seinen Anweisungen zu folgen. Dass der Titel (kunic) durch den Namen ersetzt wird, ist üblich; hier aber ist es der falsche Name, Rüdiger statt Etzel. Die Variationslizenz würde also fehlerhaft genutzt.
Heinzle 2013a, S. 1340. Das tut Heinzle implizit ebenfalls. Dieser Motivationstyp ist im Nibelungenlied verbreitet (vgl. Müller 1998, S. 46 – 47; Lugowski 1932/1976). Ein weiteres Beispiel: Haferland interpretiert (brieflich) die Weitergabe von Brünhilds Gürtel an Kriemhild auf diese Weise: Vom Königinnenstreit her ist es notwendig, dass der Gürtel sich in Kriemhilds Besitz befindet; dagegen meine Deutung Müller 1998, S. 273 – 274, dass Siegfried die Trophäe Kriemhild gibt, als er under krone geht, dass sie also Herrschaftssymbol ist; beide Deutungen schließen sich nicht aus. Schulze 2010, S. 414; Reichert 22017, S. 208; Heinzle 2008, S. 309 bzw. 2013a, S. 1343 – 1344 „Es ist gut möglich, daß M den ursprünglichen Wortlaut bewahrt“. Heinzles Paraphrase der Lesart in A und B strapaziert allerdings den Wortlaut „man kann gebôt als präteritales Futur auffassen ‚was Rüdiger ihnen entboten haben wird‘“. Braune 1900, S. 62. „Einen solchen fehler, für den in der umgebung keinerlei anlass vorliegt, kann wol eine hs. machen, aber kaum mehrere unabhängig an derselben stelle. Es ist also anzunehmen, dass hier Db das richtige durch conjectur hergestellt hat.“
Ähnlichkeit des Klangs und des Schriftbildes als Ursprung von Varianz
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Da es eine Lesart von B ist, wurde diesem Eindruck widersprochen. Heinzle rechtfertigt sie, sie ergebe „einen guten Sinn, wenn Kriemhild Rüdiger einbezieht“,³³ da die Erwähnung Rüdigers vertrauensbildend wirke, „ein geschickter Schachzug“. Nichts könne einem Verdacht eines Hinterhalts wirkungsvoller vorbauen „als die Mitteilung, daß auch er, dem die Burgunden unbedingt vertrauen, hinter der Einladung steht. […] In keinem Fall ist es nötig, mit Bartsch und de Boor auf die Lesung der anderen Hss. auszuweichen“.³⁴ In B könnte auch eine in der Variationspraxis übliche, hier jedoch überraschende Vertauschung der Namen vorliegen; eine absichtsvolle Ersetzung, vom Ergebnis motiviert. Rüdiger wird bis fast zuletzt die Mittlerfigur zwischen Etzel und den Burgonden sein. Sein Votum ist bei der gefährlichen Entscheidung möglicherweise ausschlaggebend: wieder eine Motivation ‚von hinten‘,³⁵ die auch hier an die Stelle einer linear-vorbereitenden Motivation tritt. Die Formulierung der meisten Handschriften muss nicht unbedingt eine „Trivialisierung“ des Urtextes sein, sondern eine ebenfalls mögliche Variante.³⁶ Wenn man Heinzles Überlegungen akzeptiert, stünden hinter der Variante Ruͤ dger / der kunig zwei verschiedene Motivationstypen, für die sich auch sonst Beispiele in der not-Fassung finden lassen. Namensvarianten in anderen Handschriften als B wurden nicht so ausführlich diskutiert. Sie können aber durch dasselbe Vertauschungsprinzip bedingt sein. Das illustriert das folgende Beispiel. Beim Empfang Rüdigers in Worms wird gesagt, dass die Bewirtung der Gäste zeigt, daz er da vriunde hete under Guntheres man (B 1198,3 et rell.), nur Hs. D weicht ab, indem sie von Freunden under Gyselheres man spricht. Die isolierte Lesart ist verdächtig. Die von Bechelaren sind allen Burgonden willkommen, und dafür steht der König, Gunther. Es besteht kein Grund, die Lesart von B anzuzweifeln.³⁷ Aber eben dieser Umstand erklärt den Austausch: Die Wormser Könige handeln meist gemeinsam; einer steht für sie alle. Deshalb sagt die Lesart in D dasselbe wie die übrige Überlieferung. Auch Giselher könnte für die drei Könige stehen. Wo die übrigen Handschriften zusammenstimmen, ist die Lesart in D isoliert. Sie zeigt aber, dass lebendige Überlieferung des Textes immer weiter ähnliche Varianz erzeugt und dass die Diskussion solcher Fälle nicht auf die ‚Haupthandschriften‘ eingeschränkt werden sollte.
Ähnlichkeit des Klangs und des Schriftbildes als Ursprung von Varianz Bei den meisten der folgenden Beispiele kann man die Wurzel der Varianz in einer Fehlinterpretation des Klang- oder Schriftbildes, besser in seiner Uneindeutigkeit, ver-
Heinzle 2008, S. 309. Heinzle 2013a, S. 1344. Grosses Übersetzung bei Schulze 2010, S. 415 spricht unpräzise vom „Wunsch“ Rüdigers. Vgl. Anm. 30 in diesem Kapitel. So Heinzle 2008, S. 310. Vgl. auch Heinzle 2013a, S. 384– 385.
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muten. Für diese Uneindeutigkeit gibt es zahlreiche Beispiele. Hier liegt eine Grauzone zwischen Fehler und Variante, denn die durchgehende Varianz lässt zu, dass auch unabsichtlich sich ergebende Abweichungen noch in das Toleranzspektrum des Textes passen. Der Grund der Abweichung – akustisch oder visuell – ist für den Typus nicht wichtig. Beide Formen sollen daher nebeneinander behandelt werden. Ob der Text nach Gehör niedergeschrieben wurde oder lesend memoriert wurde, ist ohnehin nicht immer zu klären. Das verwandte Schriftbild kann wie der Klang zu einer weniger passenden, aber noch möglichen Variante führen. In den jüngeren Handschriften ist wohl eher die Schrift verantwortlich. Im Übrigen wird die memoriale Speicherung des Schriftbildes im Abschreibprozess auch von Klangähnlichkeit gesteuert, sodass auch eine klanginduzierte Fehllesung möglich ist. Gleicher und ähnlicher Klang oder ähnliche schriftliche Gestalt können natürlich auch manifeste Fehler produzieren. Sie sollen hier ausgeschlossen werden. Die Verwechslung von molte mit wolde bei Eintreffen der Völker Etzels z. B. gibt keinen Sinn: A 196,3 stiebt diu molte von der Straße (~ B 195,3); daraus mach Fr. L sie woldin von der strazen. – Das Fr. K 1416,4 sagt von Hagen dem sint die wege von chunde zeden Hunnen wol bechant anstelle von von kinde (wie in der gesamten Überlieferung und in den verwandten Handschriften JQl). Die Wege sind Hagen von Kind an bekannt. Die alternative Formulierung (‚von seiner Kenntnis her‘?) lässt sich kaum gewaltsam rechtfertigen. Solche Verlesungen kommen nicht nur in den jüngeren Handschriften vor. B 1277,3 handelt von der Ausstattung von Kriemhilds Gefolge, ihrer megde (~ CDbd; J 1277,3: junkfrawen). A 1220,3 hat das im Schriftbild, doch auch im Klang ähnliche mage, das hier nicht passt. In jedem Fall begünstigen klangliche Verwandtschaft und graphische Ähnlichkeit auch Lesarten, die keinen Sinn ergeben, und zwar auch schon in den frühen Handschriften (A!). Eher auf einer falschen Lesung beruht, dass in A 1520,1 der von Hagen ins Wasser gestoßene Pfaffe seine Kleider suochte statt ausschüttelte wie in B 1577,1 (schutte sine wat).³⁸ So ersetzt die späte Hs. a freude [ane leit], die Rüdiger Kriemhild namens Etzel in C 1256,1 verspricht, durch das klangähnliche freunnde. Das Gleiche gilt von Fehldeutungen der Schrift. Bei der Ankunft Kriemhilds und ihres Gefolges in Passau schreiben d 1292,4 und das mit d verwandte Fr. H gegen alle anderen Hss. (vgl. B 1292,4), dass der Inn dort mit fleisse in die Donau mündet statt mit fluzze (AB). Solche Verschreibungen sind vor allem in jüngeren Handschriften häufig, besonders im Ambraser Heldenbuch (d).³⁹ Manchmal ist die Ähnlichkeit noch geringer: Aus B 2239,2 do sprach einer drunder (~ AJ) wird in b 2239,2 do sprach ainer pruder (~ N), verwandelt also drunder in eine Anrede: offenbar eine mechanische Interpretation eines unleserlichen oder verhörten Wortes. Haferland hat Klangverwandtschaft als Ursache von Varianz untersucht, jedoch die Variante auf das Aussetzen des Gedächtnisses mit anschließender
Vgl. S. 88. B 1295,1 niftel wird z. B. in b jnffel, d infeln, h inftel verschrieben.
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Reparatur zurückgeführt.⁴⁰ Die beiden letzten Beispiele schließen die produktive Einwirkung des Gedächtnisses aus, denn es handelt sich nicht um eine Reparatur, sondern um eine klangerzeugte sinnlose Ersetzung. Interessanter sind die Fälle, in denen Klangähnlichkeit bedeutungsneutrale Varianten produziert. Manche Varianten sind im mündlichen Vortrag schwer unterscheidbar.Wenn Hagen begründet, warum er vor Kriemhild nicht aufsteht, so sagt er A 1720,1 ja zimet ez uns beiden zware lazzen baz; B 1779,2 hat dagegen Ja zimet ez uns beiden zeware lazzen daz;⁴¹ ‚wir wollen es lassen‘ oder ‚besser lassen‘. Der Unterschied zwischen baz und daz ist im Vortrag kaum merkbar, der Sinn marginal verändert. Das in A fehlende Akkusativobjekt wird beim Vortrag wohl spontan ergänzt. In der restlichen Überlieferung sind beide Lesarten produktiv. – Oder: Der Austausch zwischen minneclich und innechlich kann auf einem Hörfehler beruhen oder, bei schriftlicher Überlieferung, auch auf einem geringfügigen Irrtum bei der Übertragung der richtigen Anzahl von Hasten. Jedenfalls wechseln minnecliche und innechlichen in der Überlieferung. Rüdiger drückt Etzels gute Wünsche an Kriemhild aus; sie kommen von Herzen. Er enbiutet iu minnecliche liep ane leit (A 1172,1; ~ DJabhV) gegen B 1229,1 Ern enbiutet iu inneclichen minne ane leit (C 1256,1: freude ane leit). Der Vers kreist um Etzels Liebe (minne) und die Intensität (innecliche) seiner Gefühle. Diese beiden Komponenten werden verschieden auf die grammatischen Positionen verteilt. Selbst wenn hier also ein Fehler vorläge, der in manchen Handschriften eine Wortwiederholung zur Folge hat,⁴² ist die Lesart von A eine unanstößige Variante, die die beiden Aspekte der Botschaft Etzels ausdrückt. Was auf ungenaues Hören oder Abschreiben schließen lassen könnte, erscheint als Varianz, Zeichen für den produktiven Umgang mit dem Text. Der Austausch klangverwandter Wörter hat eine andere Nuancierung des Textes zur Folge. Man kann in diesem Fall weniger von Fehler sprechen, eher von Uneindeutigkeit des schriftlich oder mündlich Überlieferten. Diese Uneindeutigkeit erlaubt alternative Formulierungen. Bei Klangähnlichkeit können auch Adjektive an die Stelle von Substantiven treten, das Epitheton anstelle des Titels (kune /kunig) oder anstelle des Bestimmungsworts einer Zusammensetzung (kune magen / konemagen). Ein solcher Austausch kann den Text anders nuancieren. Während im Fall kune/kunic der Austausch keinen großen Unterschied macht, die Person nur in unterschiedlichen, im ‚Nibelungischen‘ verfügbaren Formeln bezeichnet (Rang oder stereotype Eigenschaft) wird, fügt der rechtlich relevante Terminus konemagen gegenüber kuͤ ne magen eine Bedeutungskomponente hinzu. Der Austausch ist häufig.⁴³ Man wird an jeder einzelnen Stelle prüfen können, was besser passt. Doch konnte offenbar jeder Erneuerer des Textes entscheiden, ob er auf diese Bedeutungs-
Haferland 2003; 2004; 2006; 2019a; 2019b. Braune 1900, S. 143 – 144 sieht in der Verteilung der Lesarten Zufall walten. Wo minne bereits im Adverb vorkommt (A) muss das Nomen durch ein anderes ersetzt werden (A: liep). Das ist in den Handschriften b, d und V 1229,1 nicht der Fall, wo minne nicht durch liep ersetzt wird; Etzel entbietet minneklichen minn ane lait (b 129,1); das macht minneclich verdächtig. Auch zwischen eng verwandten Handschriften, z. B. J 1408,3 gegen Q, das zur *J-Redaktion gehört.
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komponente verzichten wollte. Was ist wichtiger, dass es die kühnen Verwandten sind oder die Verwandten seiner Frau, die Etzel sehen will. Das liegt in Spektrum von Varianz und kann so oder so aktualisiert worden sein. B 1408,4 bekundet Etzel sein Gefallen an seinen chonemagen (~ JdhM). Das entspricht der Bedeutung des Sippenverbandes, der dank der Heiratsallianz zwischen Kriemhild und Etzel auch die Bedeutung von Etzels eigener Sippe steigert. C 1438,4 drückt das lexikalisch variant aus. Etzel freut sich an miner frowen magen (~ a). Das ist eindeutig. A 1352,4 aber hat stattdessen an minen kuͤ nen magen, eine Formulierung, die sich auch in Dbl findet, aber nicht nur dort, sondern auch in Fr. Q, das zur *J-Redaktion gehört, in diesem Punkt aber von Hs. J abweicht. Die Klangähnlichkeit legt den Austausch nahe. Dabei ist die stereotype Formel hier unspezifischer als die Betonung des Verwandtschaftsverhältnisses. Sie unterschlägt ein wichtiges Bedeutungselement; denn auf die Verwandtschaft kommt es an, die Kühnheit der Burgonden versteht sich von selbst. Ob primär oder nicht, konemagen ist die genauere Bezeichnung, aber auch die Adjektivkonstruktion macht Sinn. Die Variante bewegt sich im Rahmen der üblichen Lizenzen. Klangverwandtschaft oder Verwandtschaft der graphischen Gestalt genügen, um die Austauschbarkeit von Begriffen zu fördern, die sich in ihrer Bedeutung nur in Teilbereichen decken. Ein Beispiel ist das häufige Alternieren von schade und schande. Seine Ursache kann in der Klangähnlichkeit, aber auch Weglassen oder Hinzufügen eines Nasalstriches liegen. Die Austauschbarkeit von schade und schande wird gefördert durch das Selbstbild einer Gesellschaft, in der ere ein Höchstwert ist, Ehrverlust (schande) ist immer auch ein schade; es liegt also nahe, die klanglich und auch graphisch ähnlichen, semantisch benachbarten Wörter, deren Bedeutung sich überschneiden, gegeneinander auszuwechseln. Das liegt selbst in Alltagsrede nahe und damit in der Formulierungsroutine dessen, der das Nibelungenlied erneuert. Ein Beispiel: Kriemhild wehrt die Ehe mit einem Heiden ab: des muz ich cer werlde immer schaden han (B 1245,3); A 1188,3 hat schanden, legt den Akzent auf den Ansehensverlust, den Kriemhild durch eine Ehe mit einem Heiden befürchtet. Dieser Verlust des Ansehens ist eine Beeinträchtigung der Person, ein schade. Die Aussagen unterscheiden sich in Nuancen.⁴⁴ Diese mehrfache Nachbarschaft erklärt, dass auch an anderen Stellen schade und schande alternieren. Der Austausch der beiden Wörter ist wieder unabhängig von Handschriftenfamilien. Hs. b hat wie B schaden, ebenso das Fragment Q, das zur *J-Redaktion, und g, das zur A-Redaktion gezählt wird, sodass eigentlich schanden zu erwarten wäre. Dagegen findet sich schanden auch in DJdh; auffällig ist hier besonders die Ambraser Handschrift d, die sonst meist eng mit B zusammengeht. Sonst unterstellte Verwandtschaften (A/g; D/b; B/d, J/Q) werden also durchkreuzt. C 1272,3 (mit a) stützt von der Bedeutung her eher schande, ersetzt sie
Heinzle 2013, S. 398 lässt die Lesart schaden nach B stehen, mit dem Argument (S. 1308), sie sei „nicht als falsch zu erweisen. Die beiden Wörter können leicht verwechselt werden. Deshalb ist aus der Verteilung der Lesarten kein textkritisches Argument zu gewinnen“.
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jedoch durch das Nomen (itewize). Die klanggestützte Variante wird semantisch weiterentwickelt. Klangverwandtschaft ist keine notwendige Bedingung von Varianz. Klangverwandte sinnäquivalente Varianten in der Lexik können in einem weiteren Schritt durch weitere, nicht klangverwandte, aber sinngleiche Lexeme ersetzt werden, wie an den Hss. b und J zu beobachten. Eckewart bringt Rüdiger die Nachricht vom Eintreffen der Burgonden, eine Nachricht, so angenehm, wie Rüdiger lange – in manigen ziten (B 1638,4) bzw. in langen ziten (A 1581,4) – nicht gehört hat, eine klangbasierte Form desselben Gedankens.⁴⁵ Die Variante ist offenbar durch das innere oder äußere Gehör vermittelt. Formulierung in A bewahren D, d und die Frr. N, l und g.⁴⁶ Aber die Alternative wirkt weiter produktiv in den Handschriften b und J und wird dort vereindeutigt. Hs. b 1638,4 variiert in allen zeiten, auf wieder andere Weise Hs. J 1638,4 in aller wile. Der ursprüngliche Gleichklang wird sinnäquivalent ersetzt. Eine klanggenerierte Variante kann weiterentwickelt werden. Siegfrieds Meisterschaft in der Rechtspflege (B 711,2 sit was er ir aller meister die er ce rehte vant; ~ A) deutet J 711,2, geleitet durch den Klang (rehte) oder die Schreibung, in kriegerische Überlegenheit um: Siegfried war überlegen, swa er ze fehten fand. Das passt natürlich erst recht zu Siegfried. Fr. Q nimmt diese Fehllektüre auf, aber ersetzt fehten durch streiten, weicht gegenüber J also durch eine der typischen bedeutungsneutralen Adlibitum-Varianten ab. Hier passt die Variante. Sie kann aber auch einen Fehler generieren. Das Lob Siegfrieds, er sei der beste je auf einem Pferd (Pferden) saß, heißt in A 666,3 der ie uf ors gesaz (~ BCDbd), in Q der ie oͤ rsse uͤ berschrait. Das Lexem ors scheint nun in der Überlieferung irgendwann durch phert ersetzt worden zu sein. Offensichtlich hat es diese Lesart gegeben, denn in J 720,3 wird daraus das Lob, Siegfried sei der beste, der ie uf erd gesaz. Mit Hilfe des Varianzprinzips ist das erklärbar: ros wurde durch phert ersetzt und dann in erd verlesen. Klanggenerierte Varianz kann auch die grammatische Kategorie verändern. Wenn Siegmund Kriemhild die Macht in Aussicht stellt, die ihr Siegfried versprochen hatte (den iu e tæte chunde Sifrit, B 1072,2; ~ACdhN), ist die klangbasierte Variante den euch e tet kunich Sifrit (D 1072,2) zwar nur annähernd bedeutungsäquivalent, aber klangähnlich. Die Ergänzung des Prädikats (taet chunde, ‚zugesprochen‘ o. ä.) wird nicht verstanden und durch Siegfrieds Königstitel ersetzt. Der Sinn wird dadurch nicht gestört. Oft sind die Klangverwandtschaft oder die Verwandtschaft des Schriftbildes nur oberflächlich, die Änderung also durch ihre ungenaue Wiedergabe des Klangs oder des Schriftbildes hervorgerufen. So konnten offenbar mute und munde ausgetauscht werden: Rüdiger begrüßt freudig seine Tochter, mit lachendem mute (B 1163,4; ~ Ad). Die notHandschriften D und b 1163,4 haben dagegen wie C 1189,4 die glattere, weniger „ausgefallene“⁴⁷ Formulierung mit lachendem munde, ‚lachend‘. Die not-Handschrift J ande-
Die Verwandlung in mangen ziten (J 1453,3) zu in langen ziten (A 1396,2 u. BDbdK) ist häufiger. In *C, das hier von a vertreten wird, abweichender Text. Haferland 2003, S. 13 traut *AB eine „so ausgefallene Formulierung“ wie lachenden mut nicht zu.
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rerseits hat wie B muͦ t, das zu *J gehörende Fr. Q aber wieder munde. Die Variante verteilt sich also nicht genau auf not- und liet-Texte, nicht einmal auf Texte mit Familienähnlichkeit. Laut- oder Schriftbild legten offenbar beide Möglichkeiten nahe: die Freude wird einmal körperlich, einmal mental ausgedrückt. Die Entscheidung lag beim jeweiligen Schreiber/Vortragenden, der so seiner Adaptation Profil geben konnte, ohne den Rahmen der Wiedergabe des ‚richtigen‘ Textes zu verlassen. Schwieriger sind die folgenden Fälle zu beurteilen, in denen nicht eine Uneindeutigkeit der Überlieferung alternativ genutzt wird, sondern ein offenkundiger Fehler vorliegt, dessen Beseitigung gleichwohl Sinn macht. Fehlgedeuteter Klang oder ein verlesenes Schriftbild bedürfen nicht unbedingt der semantischen Verwandtschaft: Gunther täuscht einen neuen Krieg vor, und Siegfried bietet ihm seine Hilfe an. Gunther tut so als ob er ernstliche der helffe wære vro (B 884,2; ~ AJ [helf ] bdh).⁴⁸ In D (oder der Vorlage) ist helfe in helt verlesen, also ein f mit einem t verwechselt oder helf in das klangähnlich helt verhört. Das erfordert eine syntaktische Umbildung des Verses: als ob ernstlichen der helt were vro (D 884,2). Indem aus dem Genitiv der helfe der Nominativ der helt wird und in die Subjektposition einrückt, bleibt der Sinn der Aussage erhalten: Der Held Gunther täuscht Freude vor oder Gunther freut sich scheinbar über Siegfrieds Hilfsangebot. Stünde hier nicht das Zeugnis der ganzen restlichen Überlieferung gegen D, dann wäre die Entscheidung gegen diese Lesart allerdings weniger leicht. Hier liegt wohl eine Fehlinterpretation vor; helt ist sekundär. Das Prinzip der Änderung entspricht aber wieder der Variationspraxis: Das vorgegebene Wortmaterial wird kreativ in einer Form gedeutet, durch die der Kern der Aussage gewahrt ist. Die Klangnähe kann auch das Nebeneinander von Varianten erklären, die sonst nicht viel miteinander zu tun haben. B 1293,2 heißt es vor Kriemhilds Ankunft in Passau die berge wurden laere (auch A 1236,2). Gemeint ist vermutlich – mit C 1322,2 – die herberge, die sich entleeren. So schreiben auch die Hss. DJdhH; Hs. b, sonst eng verwandt mit D, dagegen hat die Lesung von AB bewahrt, umgekehrt, die doch sonst AB nahestehende Hs. d herbergen. Der Wortteil -berge hält die Varianten zusammen. Die Aussage: Alle strömen zusammen, um Kriemhild zu sehen, wird verdeutlicht dadurch, dass sie den Ort verlassen, an dem sie sich zuvor aufhielten. Diesen Sachverhalt geben beide Lesarten wieder. Der erste Teil des Wortes herberge könnte daher fehlerhaft übergangen worden sein. Hier wurde möglicherweise der Klang oder der Wortkörper unvollständig erinnert.⁴⁹ Die lückenhafte Übermittlung des Wortes wird nicht als Fehler, sondern als Variante wahrgenommen. Die beiden letzten Fälle erklären zwar die Abweichung, sind aber kaum als gleichwertige Lesarten anzusehen. Doch fügen sie sich, auch wenn sie als sekundär zu
Die Strophe fehlt in *C. Heinzle 2013a, S. 1320 – 1321 konjiziert daher das näher liegende herberge, erwägt aber, ob berge nicht auch eine sinnvolle Lesart ist: Den Text ergänzende spekulative Zusatzannahmen sind nicht nötig „Vielleicht sind die Berge gemeint, auf denen die Burgen der adligen Gefolgschaft des Bischofs lagen, oder die betreffenden Burgställe bzw. die Burgen selbst“. Dem Rezipienten genügt es, dass bei Kriemhilds Ankunft alle zusammenkommen.
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erkennen sind, dem Variationsprinzip, das den Rahmen der Aussage intakt lässt. Insofern ist auch die Abgrenzung von Ad-libitum-Varianten und sekundären Formulierungen in vielen Fällen, wenn auch nicht in allen, schwierig. Ein Schreibfehler, gestützt von Klangähnlichkeit, kann sinnvoll scheinen und so einen Fehler verbergen. Darauf beruht eine Sonderlesart von B 949,3, die A 894,3 und die übrige Überlieferung nicht hat. Ein diakritisches Zeichen ist in B offenbar nicht übertragen worden. Nur in B 949,3 trägt Siegfried bei der Jagd einen Zobelpelz (eine hut von zobele diu riche was genuch); in A 893,3 und der übrigen Überlieferung hat er dagegen einen Zobelhut: (einen huͦ t von zobele der rike was genuͦ ch). Der Schreiber hat den Diphthong übersehen (oder nicht vorgefunden) und das Genus angepasst (eine hut statt ein huͦ t). Der Fehler ist eindeutig, weil in B 949,2 wie in der gesamten Überlieferung gesagt wird, dass Siegfrieds roc von swarcem pfellel war. Aber an der betreffenden Stelle musste dieser Fehler dennoch nicht auffallen, weil zu Siegfrieds prächtigem Auftritt ein Zobelpelz passen würde. Wer immer hut statt huͦ t setzte, er konnte annehmen, ‚richtig‘ zu erzählen. Hier ist der Fehler eindeutig, in anderen Fällen ist das nicht so sicher, wenn nämlich ein offensichtlich verlesenes Wort einen neuen Sinn ergibt. Auf dem Weg durch Bayern bemerken die Burgonden, dass sie verfolgt werden: Si hilten ab ir verte (A 1542,1; ~ BCabd: ‚sie hielten abseits von ihrem Weg an‘); nur N und D haben si ilten ab ir verte (bzw. D 1599,1 eilten): ‚sie kehrten sich eilig von ihrem Weg ab‘; ein Buchstabe wurde übersehen oder ein Laut überhört. Die Variante ist nicht sinnlos: Die Burgonden wählen einen anderen Weg. Die ähnliche Wortform scheint auch im folgenden Fall eine isolierte Lesart angeregt zu haben. B 1619,4 do gerasten unser moͤ re (~ Abd) wird in D 1619,4 da wir gerasten untz morgen. Vermutlich hat der Schreiber von D eine Stelle ‚repariert‘, die ihm verstümmelt vorlag, aber die Angabe der zeitlichen Dauer der Rast anstelle der Aussage, dass die Pferde rasten, liegt noch im Spektrum der Varianz. Manchmal ist der Sinn nur unwesentlich verändert. Hagen warnt die Burgonden, sie sollen sich von den hunnischen Boten nicht betriegen lassen (A 1401,1; auch DJabdhKl) swes si halt iehen (‚täuschen lassen, was sie auch sagen‘). Nur B 1458,1 hat stattdessen das in der Schriftform ähnliche betragen (‚verdrießen‘ o. ä.) swes si jehen. ⁵⁰ Das Verb betragen steht mit dem Genitiv der Sache (swes): ‚ärgert euch nicht darüber, was sie auch sagen‘. Das passt wesentlich schlechter zur Situation; auch die Entstehung der Lesart ist durchsichtig. Nach dem Zeugnis der gesamten übrigen Überlieferung (auch die mit B oft zusammengehende Hs. d!) dürfte sie auf einem Lesefehler beruhen, aber der Schreiber hat ein Wort gewählt, das zur Not einen (schlechteren) Sinn ergibt. In diesen Lesarten scheint der eigentlich gemeinte Sinn durch; sie sind eindeutig schlechter. Die Lizenz zur Varianz erlaubte aber offenbar problemlos die Ersetzung des Wortlauts.
Von Heinzle 2013, S. 464 konjiziert.
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Klangähnliche Verbformen können schließlich zur Verwechslung der Verbstämme und folglich Varianten führen. A 1191,4 und B 1248,4⁵¹ unterscheiden sich kaum in der Vorbereitung des Gesprächs zwischen Rüdiger und Kriemhild über Etzels Werbung: Rüdiger kommt zum Hof. Man will miteinander reden. B 1248,4 drückt das aus: die helde reiten under in (‚besprachen sich miteinander‘, in Heinzles Übersetzung:⁵² ‚kamen überein‘). A hat die weniger passende Präposition wider: die helde reiten wider in (A 1191,1;⁵³ ‚redeten zu ihm, d. h. zu Rüdiger‘). In D ist die Ableitung vom Verbstamm reden noch deutlicher durch Verzicht auf die Kontraktion über Media: sie redten wider in. Was sie beredeten, sagt der erste Vers der folgenden Strophe (Strophensprung!). Das scheint eindeutig. Eine Schreibung wie die in A scheint aber zur Verwechslung geführt zu haben. Jh hat die held riten wider in (‚ritten ihm entgegen‘), leitet das Verb also von riten ab, wodurch die Präposition besser passt; b hat ebenfalls riten ein, leitet das Verb also ebenfalls von ‚reiten‘, nicht ‚reden‘ ab, jedoch kombiniert mit falscher Diphthongierung (wider ein, statt in), sodass das Personalpronomen in als Richtungsangabe (‚hinein‘) verstanden werden kann. Die gleiche Lesart findet sich in Fr. Q (riten wider ein). Ausgehend von einer unterschiedlichen Deutung des Verbstamms, erzählen die Handschriften auf unterschiedliche Weise, wie die Burgonden und die Leute Rüdigers ‚zusammenkommen‘, indem sie miteinander reden oder aufeinandertreffen. Die Form riten ist eine Interpretation späterer Überlieferung (JQb), aber sie illustriert, wie Varianz funktioniert. Ähnlich wird der Verbstamm von A 1147,4 (~ BCDb) interpretiert: noch widerreit ez Hagne und nieman mer. ⁵⁴ Hagen redete (reit von reden) als einziger gegen die Ehe Kriemhilds mit Etzel. Hss. JadhQ haben einen Buchstabendreher und lesen wider riet (J 1204,4), leiten die Form also von raten ab. In diesem Fall setzt der Variante eine schriftliche Vorlage voraus. Jedoch ist sie nicht als Fehler wahrnehmbar; sie ist vom Sinn her ebenso möglich. Auffällig ist nun, dass nicht nur *J (JQh) diese Form präferiert, sondern auch die meist mit B übereinstimmende Hs. d und Hs. a, die zweite nahezu vollständige Handschrift der *C-Bearbeitung. Die Ähnlichkeit der Verbstämme fördert die bedeutungsneutrale Verwechslung, eine Verwechslung, die jedoch Sinn macht.
Diffusion der Lesarten An einigen Stellen gehen die Lesarten der Handschriften besonders weit auseinander. Es scheinen Stellen zu sein, bei denen es keine oder keine eindeutige Vorgabe gibt, sodass unterschiedliche Lösungen vorgeschlagen werden. Unklarheiten können Anlass einer
In C entfällt diese Alternative, indem die ganze Strophe A 1192 / B 1248 dort fehlt. Heinzle 2013a, S. 399. Dies ist vermutlich auch in d gemein (raiten under jn). Das e ist riten übergeschrieben, was zu den Verwechslungen in jüngeren Handschriften geführt haben mag. So auch B 1204,4; C 1231,4; D 1204,4 hat – ohne Kontraktion über Media – widerredt, b widerrett. Das zu *D zählende Fr. V har wider ret.
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ungerichteten Variantenbildung gewesen sein. Die 24. Aventiure beginnt mit einer Strophe, die sowohl von Etzels Botschaft nach Worms erzählt (Do Ecel zu dem Rine sine boten sande, B 1419,1; ~ DbdM; mit Umstellung der Satzglieder A 1362,1) wie auch von Etzels Einladung von Gästen aus seinen eigenen Ländern zur hochgezit (mit boten harte snellen er bat und ouch gebot, B 1419,3⁵⁵; ~ ADbdM). Diese beiden Vorgänge sind nicht klar geschieden und führen zur unschönen Wortwiederholung (boten). Es müssen im zweiten Fall andere Boten sein als die nach Worms. C 1450⁵⁶ beseitigt die Unklarheit, die durch die Wortwiederholung entsteht, und trennt die beiden Vorgänge. Neben den boten zuͦ dem Rine lädt er noch von manigem lande andere rechen zuͦ siner hochgecit (C 1450,2– 3). Die Varianten des not-Textes suchen die Vorgänge auf andere Weise auseinanderzuhalten. In *J (~ KQ) ist die Wortwiederholung korrigiert. J 1419,1 meidet das Wort boten für die Gesandtschaft an den Rhein: Do Etzel zuͦ dem Rine nu het gesant und fährt erst bei der zweiten Gesandtschaft fort: mit boten hart snelle er bat und gibot. Fr. l 1419,1 mildert die Wiederholung auf andere Weise, indem es im ersten Vers boten durch potschaft ersetzt, weshalb im dritten potten keine Wiederholung ist. Es hat sich zwar herausgestellt, dass keine Handschrift durchweg metrisch ‚korrekte‘ Verse anstrebt. Doch eine unbestimmte Vorstellung von einer ‚richtigen‘ Nibelungenstrophe muss es gegeben haben.⁵⁷ Besonders hoch ist die Varianz deshalb an Stellen, in denen ein Teil der Überlieferung metrisch auffällige – etwa unterfüllte oder überfüllte – Verse hat. Hier weist die Parallelüberlieferung oft eine besonders reiche Variantenbildung auf. Offensichtlich war der überlieferte Text unterbestimmt und regte unterschiedliche Formen der Auffüllung an. Ein solcher Vers ist in B 1294,4 erhalten. Der zu kurze Vers lautet gvte herberge gap man den gesten sint. A 1237,4 hat einen Takt mehr: guͦ te herberge gap man den gesten allen sint (so auch g). Einen Takt mehr hat der Vers auch, wenn man ein Epitheton zu gesten setzt: gutes Quartier gab man den edeln gesten (C 1323,4; ~ D), den lieben gesten JhdHQ oder den werden gesten (a). Hs. b fügt zur Verlängerung des Abverses wenigstens ein Füllwort (da) ein.⁵⁸ Solche Verse gibt es häufiger: Nach der erfolgreichen Mission Rüdigers verabschieden sich die Burgonden von seinen Leuten: vil minnecliche sheiden sach man an der stunt | von Ruͤ dgeres des margraven man (B 1290,2– 3). Syntaktisch ist die Formulierung korrekt, doch ist der Anvers des dritten Verses unterfüllt. Die Handschriften haben verschieden darauf reagiert, weshalb anzunehmen ist, dass bereits von Anfang an eine metrische Anomalie vorlag. Im unterfüllten dritten Vers der Strophe hat A 1233,3 Anvers durch vriunden ergänzt und den zweiten Versteil als Apposition dazu aufgefasst: von Ruͤ digers vriunden des marchgrauen man. D 1290,3 hat statt vriunden recken, g heldin. Die metrische Lücke wurde also mit einer typischen Ad-libitum-Variante gefüllt. In Fr. V ist
In B boten verschrieben zu beten. Es ist nicht nachvollziehbar, dass bei Batts nicht C 1450 und B 1419 parallelisiert werden; inhaltlich sind dieselben Vorgänge gemeint. So entsteht der fälschliche Eindruck, als hätten die not- und die lietFassung an dieser Stelle je eine Fehl- und eine Plus-Strophe. Vgl. unten 319 – 321. Ein weiteres Füllwort, das der Verlängerung des vierten Verses dient, hat auch der Anvers in C und D.
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der Vers wenigstens durch eine zusätzliche Silbe im Namen Rüdigers erweitert: von Rudegeren des marcgraven man. ⁵⁹ C 1319,2– 3 (~ Jah) formuliert anders: vil minneklichez scheiden chos man an der stunt | die snellen Burgunde von (Jh und) Ruͤ dgeres man. Es lag eine Störung vor, auf die die Schreiber der Handschriften unterschiedlich reagierten. Braune führt alle Versionen auf einen einzigen Vers zurück, dessen erster Teil in CJah erhalten sei (die snellen Burgonden) und in der restlichen Überlieferung ausgefallen ist.⁶⁰ Die Divergenz lässt sich jedoch auch erklären, wenn das Epos an dieser Stelle auf verschiedene Weise unsicher überliefert war und die Kreativität eines jeden, der es erneuern wollte, herausforderte.⁶¹ Dann wäre auch die Formulierung in *C und *J nur eine unter vielen; ebenso erfolgreich war die Ergänzung eines neuen Substantivs. Andererseits bewegt sich die Divergenz in dem Variationsspielraum, der auch sonst festzustellen ist. Lücken dieser Art konnten offenbar verschieden gefüllt werden, wenn es galt, eine metrische Unebenheit zu beseitigen. Pilgrims Leute eilen Kriemhild auf ihrem Zug zu Etzel entgegen. In A 1236,3 heißt es: si ilten balde uf in beier lant (so auch Db⁶²); g ergänzt den fehlenden Versfuß durch ein Füllwort (sere). In C 1322,3 (~ JadhH) wird die Richtung angegeben: si ilten gegen den gesten uf in Bayerlant. So steht es auch in B 1293,3, wo nur das Nomen gesten ausgelassen ist.⁶³ Offenbar konkurrierten zwei inhaltlich gleichwertige Versprachlichungen des Vorgangs. Die Varianz übergreift wieder not- und lietHandschriften. Beide Verse, der in ADb und in BCJdhH, sind möglich.
Erinnerungsfehler oder Varianten? Haferland hat an vielen Beispielen gezeigt, wie der Klang eines Verses zu falschen Assoziationen führt und wie das Gedächtnis sich an „Lauthülsen“ orientierte, um einen vergessenen Text zu ‚reparieren‘. Anschauungsmaterial war das Verhältnis vom *C zu *B.⁶⁴ Der neue Text gab durch Fehlleistungen des Gedächtnisses einerseits den Ausgangstext verfälscht wieder, andererseits entstand so ein anderer, doch sinnvoller Text. Bereits dieser Vorgang zog den traditionellen Fehlerbegriff in Zweifel. Wenn nun aber der Ausgangstext keine kanonische Geltung hat, wenn er nicht durch eine besonders enge Beziehung zu Archetyp ausgezeichnet ist, wenn nicht zwei Überlieferungsträger
Fr. H hat einen ganzen Versteil ergänzt; Vers 3b wird 3a; 3b ist hinzugedichtet: von Ruͤ degeres [Lücke] die sah man churlichen stan. Dieser hinzugedichtete Versteil fehlt in der mit H verwandten Hs. d, sodass nur ein Halbvers übriggeblieben ist: von Rudegeres man. Braune 1900, S. 198. „Die starke Variantenbildung deutet auf eine frühe Störung, die in den Hss. unterschiedlich korrigiert wurde“ (Heinzle, 2013a, S. 1319). D hat durch Beyer lant. Heinzle 2013a, S. 414 ergänzt gesten nach*C und *J. Haferland insbesondere 2019a u. 2019b.
Erinnerungsfehler oder Varianten?
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miteinander verglichen werden, sondern die Perspektive auf die gesamte Überlieferung ausgeweitet wird, dann erweist sich der Fehlerbegriff vollends als problematisch. Ein Fehler ist eine Abweichung nur dann, wenn sie den Rahmen der Aussage stört. Auch ist zu überprüfen, ob sie wirklich klang- oder schriftgesteuerte Fehlleistungen des Gedächtnisses voraussetzen muss. Das bedeutet, dass das von Haferland eindrucksvoll zusammengetragene Material unter diesem Aspekt noch einmal geprüft werden muss. Auch müssen die Leistungen des Gedächtnisses neu definiert werden. Es ist offenbar nicht auf einen bestimmten ausformulierten Text bezogen, sondern auf eine bestimmte Aussage. Diese ist natürlich in einer gewissen Weise ausformuliert, aber die konkrete Formulierung ist nicht normativ. In der Mehrzahl der Fälle wird sich das Gedächtnis bei der Reproduktion der Aussage an der Formulierung orientieren – so ist verständlich, dass sie im allgemeinen wiedererkennbar bleibt –, aber es gibt die Lizenz sie abzuwandeln, sofern die Aussage intakt bleibt. Das bleibt sie nicht immer, und in diesem Fall liegt ein Fehler vor. Die Überlegungen dieses Kapitels haben die Schwierigkeit textkritischer Entscheidungen aufgezeigt, wenn man bei der sprachlichen Ausgestaltung des Textes die Lizenz zu umfassender Varianz unterstellt. Die Abgrenzung zwischen Fehler und Variante ist oft schwierig. Die einzelne Variante hat vielfältige Ursachen.Was die ältere Textkritik als Fehler verbuchte, kann in vielen Fällen als Lizenz zum Eingreifen in den Text verbucht werden. Die Ergebnisse der älteren Textphilologie sind also noch einmal, eines nach dem anderen, auf den Prüfstand zu stellen. Zwar kann nicht, wie die ältere Textkritik wollte, eklektisch ein Text aus sämtlichen Überlieferungsträgern zusammengestellt werden, aber zur Beurteilung einer Lesart sind die Regularitäten der Varianz in Rechnung zu stellen. Sie sind keineswegs nur vom Gedächtnis abhängig. Das Prinzip der Varianz kann aber auch gleichfalls Fehler produzieren. Die Austauschbarkeit von Personenbezeichnungen, von Namen und Appellativ, von Epitheta usw. fördert Fehlersetzungen. Gerade die problematischen Anwendungen des Variationsprinzips bestätigen ex negativo die umfassende Lizenz zur Varianz. Wenn man von Anfang an Varianz der Nibelungenüberlieferung unterstellt, wird es auch Abweichungen geben, die weniger Sinn machen. Im Einzelfall ist auch dabei die Entscheidung schwierig, welche ungewöhnliche Lesart noch zulässig oder sogar besonders perspektivenreich ist. Insbesondere beim Versuch, den Rang von *B zu erweisen, wurden sehr komplizierte Rechtfertigungen einer Lesart gegen die gesamte restliche Überlieferung erwogen. Die Sicherheit, eine bestimmte Handschrift zum Richtmaß für Fehler zu nehmen – wie sie vielen textkritischen Entscheidungen zugrunde lag und zu gesuchten Erklärungen nötigte – ist nach Brackerts Destruktion von Braunes Modell dahin. Aber was die ältere Textkritik an Rechtfertigungen der Lesart der angeblich archetypnächsten Handschrift erarbeitete, ist jetzt Argument für eine sinnvolle Variante und kann in Ausgaben nach dem Leithandschriftenprinzip übernommen werden. Der Versuch, auch für Abweichungen eine sinnvolle Erklärung zu finden, die offensichtlich sekundär sind und auf vermutlich fehlerhaften Interpretation des Ausgangstextes beruhen, sind als Gedankenspiele zu betrachten, die nicht eine bestimmte
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5 Varianten und Fehler
Lesart rechtfertigen wollen, sondern nur die Schwierigkeit der Abgrenzung von Fehler und Variante illustrieren. Die Edition wird in den meisten Fällen eine andere Entscheidung treffen müssen.
6 Die Fragmente und ihre ‚Referenzhandschriften‘ Im Folgenden sollen die einzelnen Fragmente betrachtet werden, unter der Leitfrage, was sie über die Varianz der Nibelungenüberlieferung und die Herausbildung bestimmter Überlieferungszusammenhänge aussagen. Meine Absicht ist nicht, jedes dieser Fragmente in seiner kodikologischen Gestalt, seinem sprachhistorischen Ort, seiner Behandlung der Metrik, seiner sprachlichen Form zu analysieren. Das ist überwiegend längst geschehen. Mir geht es um die Art und Weise, wie sie das Nibelungenlied wiedergeben. Die angebliche Abhängigkeit der Textgestalt von Redaktionen/Fassungen wird sich als bei weitem komplizierter erweisen, als die Versuche, den Platz der Fragmente im mutmaßlichen Stemma des Nibelungenliedes zu bestimmen, voraussetzen. Kodikologische Beschreibungen, Datierungen und Darstellung der jeweiligen Einrichtung der Handschriften werden aus der Literatur, besonders von Schneider, Klein und Kofler, übernommen.¹ Viele Detailuntersuchungen im Rahmen meines Ansatzes sind aber für die meisten Fragmente noch zu leisten. So wird zu untersuchen sein, ob bestimmte Handschriften/Fragmente einen bestimmten Typus von Varianz bevorzugen, z. B. Singular statt Plural oder Einfügen bestimmter Füllwörter. Der erste Eindruck ist, wie bei der Metrik, dass das nicht der Fall ist. Für die Zusammengehörigkeit von Handschriftengruppen müsste dies jedoch im Einzelnen überprüft werden. Doch muss angesichts der Fülle des Materials die Überprüfung hier zurückgestellt werden, um zunächst gröbere Kriterien der Zuordnung zu beachten. Die Fragmente werden nach den ‚Redaktionen‘ geordnet, denen sie traditionell zugewiesen wurden.² Ich folge in der Reihenfolge der Analyse den Ergebnissen bisheriger Forschung. Mir geht es aber darum, beim Versuch, den Platz der Fragmente in Bezug auf die Redaktionen zu skizzieren, die Selbständigkeit aller Überlieferungszeugen, was die konkrete Textgestalt, das ‚wording‘, betrifft, nachzuweisen, gerade auch bei verwandten Textzeugen. Die Übersicht über die Fragmente soll also die These von der durchgängigen Varianz der Nibelungenüberlieferung stützen. Insofern ist das Erkenntnisziel begrenzt. Die Redaktionen werden in Koflers Ausgabe durch sogenannte „Referenzhandschriften“ repräsentiert.³ Die Referenzhandschriften sind namengebend für die einzelnen Redaktionen (*D, *J, *d usw.). Bei einer Referenzhandschrift handelt es sich um eine vollständige Handschrift der Redaktion, zu der das Fragment gezählt wird. Dass die Redaktionen ihren Namen von vollständigen Handschriften erhalten, ist zwar zu verschmerzen, denn eine Alternative bietet sich nicht an. Man muss sich nur über die Problematik der Namengebung im Klaren sein. Es wird damit suggeriert, die Referenzhandschrift sei repräsentativ für die Redaktion und alle zur Redaktion zählenden Handschriften seien von ihr abhängig. Dies ist nicht der Fall.
Schneider 1987, Klein 2003 und in Koflers Ausgabe der Fragmente 2020. Vgl. Klein 2003; Kofler 2011; 2013. Sie liegen der Ausgabe der Fragmente zugrunde (Kofler 2020). Kofler 2020. https://doi.org/10.1515/9783110983104-007
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6 Die Fragmente und ihre ‚Referenzhandschriften‘
In Koflers Edition der Fragmente werden die einschlägigen Passagen der Referenzhandschrift parallel zum Fragment gedruckt. So sollen Abweichungen des Fragments sofort erkennbar sein. Unbeabsichtigt wird damit eine Hierarchie suggeriert. Ein genauer Vergleich der Überlieferungsträger schließt nämlich solche Abhängigkeit aus. Zwar gibt es Familienähnlichkeiten zwischen den Fragmenten und der jeweiligen Referenzhandschrift, und diese Ähnlichkeiten überwiegen die Ähnlichkeiten mit anderen Handschriften, aber sie sind niemals exklusiv. Das heißt, die Fragmente weisen auch Lesarten auf, die sie mit anderen Handschriften verbinden und von der jeweiligen Referenzhandschrift trennen. Die Ad-libitum-Varianz, wie sie oben beschrieben wurde, übergreift die verschiedenen Redaktionen. Aus diesem Grunde ist sie auch nicht stemmatologisch darstellbar – oder jedenfalls nur mit Hilfe von Annahme sehr vieler inzwischen verlorenen Nibelungenhandschriften, also sehr vieler erschlossener Zwischenschritte, und der Annahme durchgängiger Kontamination im Überlieferungsbestand. Die Referenzhandschrift nimmt manchmal sogar eine Sonderstellung gegenüber den übrigen zur Redaktion gehörigen Texten ein. Heuristisch ist der Vergleich trotzdem aufschlussreich, weil er deutlich macht, welches Ausmaß an Varianz selbst zwischen verwandten Textüberlieferungen herrscht. Auch zwischen den vollständigen und fragmentarischen Handschriften einer Redaktion sind Abweichungen möglich, die in traditioneller Textkritik die Zugehörigkeit zu verschiedenen Zweigen eines Stemmas begründet hätten. Bei der Analyse der einzelnen Fragmente soll diese komplexe Gemengelage herausgearbeitet werden. Die Dichte der Abweichungen und ihr Gewicht variieren. Die Varianz ist so vielfältig, dass an vollständige Registrierung nicht zu denken ist. Die Leitfrage soll sein, auf Grund welcher Merkmale die Referenzhandschriften und die ihnen zugewiesenen Fragmente eine Handschriftengruppe (‚Redaktion‘) konstituieren, die sich trennscharf von anderen Redaktionen abgrenzt. Ich gehe von Ergebnissen bisheriger Forschungen aus. Klein ordnet der „Fassung *A mit der Referenzhandschrift A“ die Fragmente L und g sowie (mit Fragezeichen) M zu; der„Fassung *B“ kein Fragment; der„Fassung *C“ die Frr. EFRUXZ, dazu für die ‚Klage‘ G; der Mischfassung *Db die Frr. NS1+2V, dazu für die ‚Klage‘ N, P und S3; schließlich dem Mischkomplex *J/*d“, vertreten durch die Hss. Jh und d, die Frr. KQWYl (für *J) sowie HOc(?)i (für *d).⁴ Kofler fasst die beiden Mischkomplexe *J und *d nicht zusammen (was angesichts der Differenzen zwischen J und d konsequent ist) und hat entsprechend fünf Redaktionen; er zählt Fr. M zu B und stimmt sonst mit Klein überein.⁵ Ich folge Kofler. Für die Einschätzung der Handschriften und Fragmente gibt ihre Datierung wichtige Hinweise. Allerdings lassen sich nur verhältnismäßig grob die mutmaßlichen Entstehungszeiträume angeben, und sie liegen besonders bei den ältesten Handschriften so dicht beieinander, dass sich für die Priorisierung des einen oder anderen Überlieferungsträgers im Sinne der traditionellen Textkritik keine Argumente ergeben. Die beste
Klein 2003, S. 214; M, H und c jeweils mit Fragezeichen. Kofler 2011, S. 9; 2020, S. XI.
Die zur Redaktion *A gehörigen Fragmente L und g
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Kennerin gotischer Schriften in deutscher Sprache, Karin Schneider, hält es für notwendig, „bei allen Schriftdatierungen den möglichen Spielraum einer Generation stets im Auge zu behalten“.⁶ Auch hat sich die Forschung im Allgemeinen lange Zeit nur für die vollständigen Handschriften interessiert, obwohl für einzelne Fragmente – und damit für die Redaktion, der sie angehören – ein höheres Alter erwogen wurde. In diesem Punkt will ich mich nicht auf Spekulationen einlassen. Schließlich besteht prinzipiell die Möglichkeit, dass eine jüngere Handschrift eine ältere Form des Textes bewahrt. „Es ist zu vermuten, daß in d[]en ältesten Handschriften des Nibelungenlieds B, E und C nur ein Bruchteil der in diesem Raum tatsächlich vorhanden gewesenen Textzeugen erhalten geblieben ist“.⁷ Zusammengenommen, ergibt sich aus diesen Möglichkeiten die Notwendigkeit, die Überlieferung des 13. und frühen 14. Jahrhunderts als ganze in den Blick nehmen. Die in dieser Untersuchung im Zentrum stehende Varianz betrifft diesen gesamten Zeitraum.
Die zur Redaktion *A gehörigen Fragmente L und g Die Fragmente L und g sind eng miteinander verwandt; g ist eine mutmaßliche Abschrift von L.⁸ Klein weist Lg der Redaktion *A zu;⁹ Kofler folgt ihm darin¹⁰ und konfrontiert die beiden Fragmente mit der Referenzhandschrift A, zählt sie jedoch nach Hs. B.¹¹ Der Grund ist, dass sich vor allem im in g überlieferten Text neben Übereinstimmungen mit A zahlreiche von A abweichende Lesarten nach B finden. Lg ist also eine mit A und B verwandte Variante des not-Textes; die Varianz übergreift die Hss. A und B und die beiden Fragmente.
Schneider 1987, S. 138. Schneider 1987, S. 144– 145. Heinzle nennt g ohne Angabe von Gründen eine „umfangreiche Teilabschrift“ (2003a, S. 203). Der ursprüngliche Umfang von g ist unsicher; zu g auch Voetz 2003, S. 284. Klein 2004b, S. 78 – 115. Koflers Ausgabe folgt der Transkription von Klein; er bemerkt aber: „Erst eine Kombination aus Übereinstimmungen in den Lesarten, im Layout und im Strophenbestand lässt sichere Entscheidungen zu“ (Kofler 2014, S. 359). Das ist verwirrend. Dem Text von A (nach A gezählt) fügt Kofler in Klammern die B-Zählung hinzu, der dann die Zählung der beiden Fragmente L und g folgt. Das ist unnötig kompliziert, dient aber der Vereinheitlichung und ist zusätzlich dadurch begründet, dass der Strophenbestand, soweit aus den Fragmenten und den Lücken entnehmbar, von der 12. Aventiure an nicht mehr mit A übereinstimmt, sondern mit B (sicher für Str. B 1656 u. 1673 [vgl. unten], erschlossen für drei weitere Strophen). Schon im Strophenbestand teilt „Lg nicht alle Merkmale von Hs. A“ und das treffe „noch viel deutlicher bei den Lesarten zu“ (Kofler 2020, S. XXIX; vgl. 2014). Daraus ist zu schließen, dass „die Gleichsetzung von *A mit dem Text von Hs. A nicht weiter aufrechterhalten werden“ kann (Kofler 2014, S. 384). Die Textgestalt von *A ist von vorneherein variant. Ich gebe, anders als Kofler, die Zählung von Lg nach der des ‚Referenztextes‘ A an und füge, wo Missverständnisse drohen, die B-Zählung noch hinzu.
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6 Die Fragmente und ihre ‚Referenzhandschriften‘
Handschrift A (Cgm 34) stammt aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts.¹² Sie ist zunächst in abgesetzten Versen geschrieben, dann fortlaufend mit herausgestellten Strophenanfängen. Von Lachmann als älteste Nibelungenhandschrift angesehen, trat sie im 19. Jahrhundert hinter B und C zurück. In den Bemühungen um einen archetypnahen Text spielte sie in Braunes Plädoyer für Hs. B die Rolle einer frühen Veränderung von B. Auch in Heinzles Ausgabe nach B ist ihr Status, besonders das Verhältnis zu B, ungeklärt. Er zieht sie „bei allen Divergenzen“ mit der Handschrift B zur „Fassung *AB“ zusammen, der „Notfassung“: „Ob sie besser durch A oder durch B repräsentiert wird, muß offenbleiben“.¹³ Jedenfalls ist A – von Textkürzungen abgesehen – durch die übliche Ad-libitum-Varianz von B geschieden. Das macht es unmöglich, A auf B zurückzuführen oder zwischen den Varianten als ursprünglich oder sekundär zu entscheiden. A bezeugt die Varianz des Epos schon auf den ältesten uns greifbaren Überlieferungsstufen, und die Fragmente Lg bestätigen das. Die Reste der Fragmente L (Krakau, Biblioteka Jagiellońska., Berol. Ms. germ. qu. 635; Mainz, Martinus-Bibliothek, Fragment aus Ink. 712; Mainz, Gutenberg-Museum, Leimabklatsch aus Stb-Inc. 1634) sind deutlich jünger als Hs. A. Sie stammen aus der Mitte des 14. Jahrhunderts.¹⁴ Von einigen Abschnitten abgesehen, sind sie in äußerst schlechtem Erhaltungszustand.¹⁵ Das Heidelberger Fragment g aus dem 15. Jahrhundert (Heidelberg, Universitätsbibliothek Cpg 844) ist, wie sich in einem schmalen Bereich (A 1505,4– 1532,1; ~ B 1562,4– 1589,1) feststellen lässt, eine ziemlich getreue Abschrift von L.¹⁶ Der sich mit L überschneidende Teil von g weist neben (einigen) orthographischen und (wenigen) morphologischen Varianten sowie kleinen Abweichungen im Ad-libitum-Bereich hohe Übereinstimmung mit L auf.¹⁷ Fr. g ist Zeugnis dafür, dass sich im 15. Jahrhundert bei Abschriften ein höheres Maß an Textgenauigkeit durchgesetzt hat. Klaus Klein hat die Probleme mit den „traurigen Trümmern“, die von Hs. L übrig geblieben sind, dargestellt. Der Zustand der Handschrift und die Schwierigkeiten der Rekonstruktion machen sie, vor allem im Anfangsteil, nur beschränkt zur verlässlichen
Zur Lokalisierung der Schrift und zur Datierung Schneider 1987, S. 231– 233. Heinzle 2013a, S. 1002. Zur Geschichte der Entdeckung der einzelnen Teile des Fragments und zur Provenienz Klein 2004a, S. 32– 33. Klein 2003, S. 221– 222. Bei den „traurigen Trümmern“ (Klein 2004a) handelt sich teils um einen Leimabklatsch, teils um einzelne Streifen; oft sind nur einzelne Buchstaben lesbar. Ausschnitte aus dem Anfangsteil sind nur sehr fragmentarisch rekonstruierbar. Die Einzelblätter, auf denen die vier zusammenhängenden Fragmente überliefert sind, sind in Unordnung geraten; genaue Übersicht bei Kofler 2020, S. XXVI (allerdings auf die Zählung nach B abgestimmt). Fr. g deckt größere Abschnitte aus dem zweiten Teil des Epos ab. Genaue Nachweise Kofler 2014, S. 361– 362. Von der Schreibweise abgesehen (z. B. yn für in; Stammvokal o statt u in konde, begonde; Vokal der Nebensilben -in statt -en; Flexion von wellen, von komen) sind die meisten Abweichungen des Fr. g von L Abschreibfehler; im Übrigen wenige Ad-libitum-Varianten wie g 1511,2 (~ B 1568,2) Possessiv- vs. Demonstrativpronomen (ir gegen der); g 1514,3 (~ B 1571,3); Vertauschung der Reihenfolge die yme da e sageten gegen die ime e da sagten ; g 1518,2 (~ B 1575,2) da gegen do. Es gibt einen gemeinsamen Fehler: L und g 1516,2 (~ B 1573,2): Fehlen des Prädikats.
Die zur Redaktion *A gehörigen Fragmente L und g
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Grundlage überlieferungsgeschichtlicher Überlegungen, aber einige Indizien bestätigen die zentralen Thesen dieses Buchs. Die stark verstümmelten Abschnitte aus dem ersten Teil können zwar zur Konstitution des Textes im Einzelnen nur wenig Sicheres beitragen, sie beweisen aber, dass L der *A-Redaktion zugehört. Zugleich spiegelt das Fragment die Varianz der Überlieferung. Der Text weist nämlich gleichfalls zahlreiche Übereinstimmungen mit B-Lesarten auf. Das deutet auf ein ursprüngliches Nebeneinander varianter Textgestalt, die alle aus einem gemeinsamen Bestand schöpften. Das Gleiche gilt für g.¹⁸ In L und g sind die Langverse abgesetzt, doch die Strophenanfänge nicht gekennzeichnet.¹⁹ Die Einrichtung unterscheidet sich also durchaus von Hs. A. Soweit die Überreste erkennen lassen, stimmt L in der Eingangsaventiure eindeutig mit Hs. A überein. L enthält die Programmstrophe, hat wie A nicht die zweite Strophe von B, bringt dafür die in B fehlende Strophe A 3, hat auch die sinnwidrige Umstellung der Strophen A 18 und 19; sie ziehen die Deutung des Falken vor die fazithafte Schlussstrophe der Aventiure vor, die von Kriemhilds vorbildlichem Leben unter vorläufigem Verzicht auf Liebe erzählt.²⁰ Die Zugehörigkeit zu *A belegen auch die folgenden Aventiuren: L 18 (~ A 21, eine Strophe, die in B fehlt) setzt den Lobpreis Siegfrieds verdoppelnd fort. In der dritten Aventiure fehlen – wie in A – die beiden Strophen, in denen bei Siegfrieds Ankunft in Worms Gunther Hagens Rat aufnimmt und Siegfried ehrenvoll empfangen will und Hagen bestätigt, dass Siegfried dies verdient, da er von königlichem Geschlecht sei (B 100/101 = C 102/103).²¹ Ob L auch die Kürzungen von A, insbesondere die starken Kürzungen in den Brünhildabenteuern (6.–10. Av.) aufwies,²² ist nicht feststellbar, weil dieser Abschnitt in L (und g) fehlt.²³ In jedem Fall ist der Strophenbestand in L und g nicht mit dem in Hs. A identisch. Das legt jedenfalls Fr. g nahe, an dessen engem Zusammenhang mit L kein Zweifel möglich ist, sodass dort, wo L als Vergleichshandschrift ausfällt, mit identischem „Innerhalb der 28 vergleichbaren Strophen weichen Lg an 76 Stellen gemeinsam von A ab. Von diesen Lesarten stimmen 31 mit B überein; in 32 Fällen geht A mit B zusammen“ (Kofler 2013, S. 21). Zur ungewöhnlichen Einrichtung der Handschrift Klein 2004a, S. 33. Das Bezugswort Der im Anvers der Strophe A 18 (Der was der selbe valche) hängt bei der Anordnung von A und Lg in der Luft, statt sich wie in B 17 und C 18 auf den riter (reche) in der voraufgehenden Strophe zu beziehen, den Kriemhild trotzdem später heiraten wird. Durch die Zählung von L nach B ist diese Übereinstimmung mit A nicht leicht zu erkennen. Ein Fehler gegenüber A ist aus Koflers Ausgabe nur schwer zu entnehmen: In Str. L 158 (= A 159; ~ B 158) fehlt ein Vers. Die Strophe ist dreiversig. Das basiert vermutlich auf einem Augensprung. In L 158,2 endete durch den Ausfall eines Wortes (degne fehlt) der Anvers auf tusent. Auf tusent endete auch der dritte Anvers in A 159,3 (und het ich niht wan tusent: ‚auch wenn ich nur tausend hätte, würde ich gegen sie antreten‘). Der Schreiber sah das tusent im dritten Anvers statt im zweiten und schloss daran den 3. Abvers an (A 159,3). Bartsch 1865, S. 304– 306 betrachtet sie als „mechanische Auslassungen“; vgl. Haferland 2006, S. 180. Dass sie durchaus als gezielt angesehen werden können, habe ich in Müller 2017, S. 381– 387 zu zeigen versucht. Kofler (2020, S. XXIX) sucht zu berechnen, wie viele Strophen in der Lücke von L Platz gefunden hätten – was dafür sprechen könnte, dass die Strophen auch in L fehlten.
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6 Die Fragmente und ihre ‚Referenzhandschriften‘
Strophenbestand von L und g zu rechnen ist. In g sind zwei in A fehlende Strophen (zwischen A 1598 und 1599 sowie zwischen A 1614 und A 1615) vorhanden: Sie gehören zum Aufenthalt der Burgonden in Bechelaren. Die erste spricht von Rüdigers Versorgung des Gesindes, die andere formuliert Rüdigers Zweifel, ob die Schönheit seiner Tochter den Mangel aufhebt, dass ihre Eltern Landfremde und nicht ranggleich mit den burgondischen Königen sind, sodass eine Verbindung mit Giselher nicht in Frage kommt. Beide Strophen sind für den Fortgang entbehrlich, doch vervollständigen sie die Szene der Unterbringung der Gäste und die Vorbereitung von Giselhers Verlobung mit Rüdigers Tochter.
Das Fragment g (und mutmaßlich auch L) bezeugt hier einen Textbestand, der nicht durchweg mit Hs. A übereinstimmt, sondern auch in B überlieferte Strophen (B 1656 und 1673) enthält. Sie gehören der not-Fassung insgesamt an. Eine direkte Abhängigkeit der Fragmente L und g von Hs. A ist damit ausgeschlossen. Fehlerhafte Lesarten in A haben meist keine Entsprechung in L und g, die oft mit B (und der restlichen Überlieferung) übereinstimmen.²⁴ Lg repräsentiert also auch hierin eine eigenständige Gestalt von *A, die näher an den übrigen not-Handschriften liegt.²⁵ L hat gegen A besonders viele eigene Fehler und Verschreibungen.²⁶ Fr. g teilt viele Fehler nicht mit A;²⁷ g hat auch eigene Fehler²⁸ und Sonderlesarten.²⁹ Auch der Wortlaut, soweit erkennbar, stimmt nicht durchweg zu A.Wie zu erwarten, finden sich die üblichen Ad-libitum-Varianten, z. B. in der Lexik. Satzteile werden um-
So in L wie in B 1577,1 schutte sine wat gegen suochte (A 1520,1); L und g lauten wie B 1578,1 da sie daz schiff entrugen und gar entlúden dan, während es in A 1521,1 heißt entluͦ den und gar entruͦ gen dan; Volker soll in L die Burgonden die rehten wege weisen (wie B 1583,3) nicht die reken wege (A 1526,3). Das kann auch kleinere Ergänzungen betreffen, z. B. die Burgonden wechseln in L vor leide ihre Gesichtsfarbe (wie B 1587,2); fehlt in A 1530,2. Anstatt von A 196,3, wo diu molte von der Straße stiebt (~ B 195,3) hat L sie woldin von der strazen. – Niemand von den Burgonden wird gesunder zurückkehren (A 1529, 2; B 1586,2) gegen L besunder. Nur einige ausgewählte Beispiele: In g 1208,1/1265,1 ist wie in B 1265,1 und der restlichen Überlieferung (DJbdh) vom Reitzeug die Rede, daz man da vor reit (‚mit dem man einst geritten war‘); A 1208,1 hat dagegen treit, was allein vom Tempus her nicht passt. – Hagen fürchtet nach g 1213,2/1270,2, dass Kriemhild das Nibelungengold uf minen haz verteilt (wie B 1270,2; ~ DJbdh); A 1213,2 verliest haz in hals und zerstört damit den Reim. – Fr. g 1215,4/1272,4 hat (wie B 1272,4 und DJbdh) swerin im Gegensatz zu A 1215,4, wo statt der Bekräftigung durch einen Schwur das sinnlose, wohl auf einem Schreib- oder Hörfehler beruhende weren steht. – A 1218,3 fehlt das finite Verb, nicht aber g 1218,3/1275,3 (wie B 1275,3). – Die Präposition mit (g 1221,4/1278,4; ~ B 1278,4; mit grozen triuwen) ist in A 1221,4 zu min verlesen. -–In A 1223,3 fehlt das Subjekt (ich), nicht jedoch in g 1223,3/1280,3 (~ B1280,3). – A 1225,2 ist friunden mit fröiden verwechselt, nicht in g 1225,2/1282,2 (~ B 1282,2). Es fehlt in g 1226,4/1283,4 der Fehler von A 1226,4 vienden statt freuden (~B 1283,4). – A 1238,2 hat Burgonden anstelle der Bürger von Passau, wie es in g 1238,2/1295,2 heißt (~ B 1295,2), die von Kriemhilds Ankunft erfahren. – Statt der herren frúnde (B 1695,4; ~ g) hat A 1538,4 der herten vriunden usw. In allen diesen Fällen ist der richtige Text auch in B. Fr. g 1251,1/1308,1 marggravinne ist verschrieben; g 1507,4/1564,4 wer verschrieben aus wen; das finite Verb fehlt g 1516,2/1573,2; g 1518,3 – 4/1575,3 – 4 ist der Reim zerstört. Hinzukommen Schreibfehler g 1540,2/ 15972 vocht statt vorht; g 1594,1/1651,1 gefeschet fraüwen varwen statt gefelschet. Lg 1507,1/1564,1 herzebluot gegen heize bluot (AB) oder g 1207,1/1264,1 pert unde kleit statt pfertkleit (A 1207,1; ~ B).
Redaktion *B
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gestellt; Füllwörter können hinzugesetzt sein oder fehlen. Es gibt die Lizenz, Possessivpronomen statt Artikel oder Genitiv des Personalpronomens zu setzen, zusätzliche Artikel einzufügen. Möglich ist eine andere Kasusflexion, wechselnder Stammvokal oder wechselnde Grundform der Verben, unterschiedliche Verbformen (etwa von komen), wechselndes Konjugationsparadigma bei den Präteritopräsentien. Bei diesem Typus Varianten stimmen L und g, wie Kofler nachgewiesen hat, häufig mit B überein.³⁰ Zwar gibt es auch Übereinstimmungen mit dem Wortlaut von A,³¹ doch sehr viele auch mit B.³² Es sind sowohl minimale Abweichungen der Flexion und dgl. wie auch Korrektur von Fehlern und kleine semantische Verschiebungen. Manchmal sind in einem einzigen Vers Merkmale von A und B kombiniert. Die Abweichungen wurden in diesem ersten Fall so ausführlich dokumentiert, weil sie typisch sind für die Unmöglichkeit, eine *A- und eine *B-Redaktion trennscharf voneinander abzugrenzen und für eine solche Redaktion ein Bündel von Merkmalen zu beschreiben, das allen Handschriften, die zu diesen Redaktionen gezählt werden, gemeinsam sind. Es ergeben sich wechselnde Übereinstimmungen und Differenzen sowohl im Strophenbestand wie in den Lesarten. Dass es keine lineare Abhängigkeit von A gibt, zeigt sich, abgesehen von den Fehlern, auch an der Mischung der Lesarten. Will man nicht eine ungeheure Zahl von Kontaminationen annehmen, dann deutet das auf die anfängliche Varianz der Überlieferung insgesamt. Die Unterschiede im Strophenbestand sowohl gegenüber A und B führen auf einen Umstand, der noch häufiger zu beobachten sein wird: Die mutmaßlichen Handschriftengruppen wie *A, *D oder *J sind keineswegs in allem homogen und vor allem sind keineswegs alle Merkmale der für die Gruppe stehenden Referenzhandschriften (in diesem Fall Hs. A) auf die gesamte Gruppe übertragbar.
Redaktion *B Die lange Zeit als besonders archetypnah geltende Handschrift B (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Ms. 857) ist vermutlich jünger als die Handschrift C, die Referenzhandschrift der *C-Bearbeitung. Doch liegen nach den Forschungen von Karin Schneider beide eng beieinander. Beide Handschriften stammen aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhun-
Kofler 2014, S. 357. L 43,1; L 47,4; L 49,3 (Wortstellung!); 102,1 (fehlt jungen); 107,1; 143,4; g 1194,3; 1236,2; 1237,4; Lg 1507,4; 1508,2; 1509,4; 1510,2; 1512,2 [Zählung nach A]. Von Str. L 146 – 161/145 – 160 stimmen die Formulierungen in zehn Strophen (L 146,3; 147,1; 150,4, 152,1; 152,4; 157,1; 157,3; 157,4; 158,3; 161,4) nicht mit A, sondern mit B überein (Zählung nach A). Das gleiche gilt, wo beide Fragmente zusammengehen (Lg 1506 – 1514/1563 – 1571) für 1506,1; 1506,4; 1507,2; 1507,3; 1507,4 (leben); 1508,1; 1509,3; 1510,1; 1510,3; 1511,4; 1512,3; 1512,4; 1513,2 1513,3; 1513, 4, und für Fr. g allein (für die Strecke g 1188 – 1201/1245 – 1258) in den Strophen 1188,3; 1189,3; 1190,4; 1191,1; 1191,2; 1192,4; 1196,3; 1197,1; 1198,3; 1199,2; 1301,2 sowie (für die Strecke g 1234– 1240/B 1291– 1297) in 1234,3; 1235,2; 1238,1; 1238,2; 1239,2; 1239,3; 1240,2 [Zählungen wieder nach A].
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6 Die Fragmente und ihre ‚Referenzhandschriften‘
derts.³³ Die Autorität Braunes ist Ursache, dass B in der Editionsgeschichte des Nibelungenliedes Richtmaß der übrigen Überlieferung – außer C – war und nie beispielsweise die Lesarten von A oder im not-Teil von *D gleiches Gewicht bekamen. B galt nie als eine Handschrift unter anderen, nie als Fassung, selbst nicht nachdem sie als archetypnächste Handschrift entthront worden war. Die Nähe zu anderen Handschriften (vor allem D und d) wurde nur unter dem Aspekt des Fehlers und der Textverderbnis untersucht. Der Sonderstellung von B wurde nur ein einziges Fragment zugeordnet. Allerdings wurde dieses Fragment von einigen Forschern der Redaktion A zugewiesen.
Fragment M Das kurze Fragment M (Oberöstereichisches Landesmuseum, Ms. 122) vom Anfang des 14. Jahrhunderts ist in abgesetzten Langversen, jeder zweite hervorgehoben, jedoch ohne Kennzeichnung der Strophen- und Aventiurengrenzen, wohl aber des Abschnittbeginns, geschrieben. Es weist im Text wie Lg Merkmale von Hs. A und B auf. Braune, Bumke und Klein rechneten es – mit Fragezeichen – zu *A. Dafür spricht, dass die Einrichtung der Handschrift A mit abgesetzten Langversen näher ist, vom Absetzen der Strophen in B ohne Absetzen der Verse aber verschieden.³⁴ Zuletzt wurde es dennoch von Kofler *B zugewiesen, weil die Übereinstimmungen mit Hs. B zahlreicher sind und Hs. A in einer Reihe von Fällen isoliert steht.³⁵ M hat auch gegenüber B Verschreibungen und sonstige Fehler.³⁶ An einer Stelle führt eine Fehllesung zu einer Variante.³⁷ Im Übrigen ist M sowohl mit A und B eng verwandt. Es handelt sich ausschließlich um Ad-libitum-Varianten, in denen das Fragment von diesen Handschriften abweicht: vor allem kleinere Umstellungen von Syntagmen und Austausch von Füllwörtern. Insgesamt ist die Nähe zu B größer, doch lässt der Typus von Varianten Verwandtschaft mit A wie mit B zu. M ist also von A wie B unterschieden (wie auch A und B untereinander variieren) und belegt die Varianz innerhalb dieser Gruppe. Es gibt aber in M zwei auffällige, auch inhaltlich relevante Varianten, die das Fragment zusammen mit A und B von der restlichen Überlieferung abgrenzen und zu einer Gruppe zusammenschließen. Sie sind oben als Fälle von Varianz besprochen
Schneider 1987, S. 121; sie stammen aus dem „alpenländischen“ Raum, zwischen Salzburg und dem Bodensee unter Einschluss Südtirols. Braune 1900, S. 56; Bumke 1996a, S. 143; Klein 2003, S. 214; dagegen Kofler 2011, S. 9; 2012, S. 9; 2020, S. 79 – 81. Die Zählung der Strophen folgt deshalb bei Kofler B. Kofler 2014, S. 385 – 387. Von A kann M nicht abstammen. Einen Fehler von A 1342,3 viende gegenüber B 1399,3 vreude teilt M nicht. M 1389,1 mager gegen maniger (B); M 1391,1 Ach wene der ubel valant gegen Ich wæne (B); M 1394,4 erbite statt erbeite (B); M 1403,4 mit statt mich (B); M 1419,3 beten statt boten (B); umgekehrt B 1410,4 gesach gegen geschach (M); B 1413,1 lesten gegen leisten (M wie A 1356,1). – Überzähliges si (B 1387,4) in M getilgt; ebenso überzähliges hin (B 1421,4); dagegen überzähliges den (M 1407,2) in B getilgt. B 1391,4 heizen trehen wird in M mithilfe des -er-Haken wiedergegeben, sodass es in herzen trehene aufzulösen ist, eine vielleicht gesuchte, doch nicht inakzeptable Variante
Redaktion *D
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worden, die nicht eindeutig von Fehlern zu trennen sind. So heißt es in A, B und M, der Teufel habe Kriemhild geraten, daz si sich mit vriuntschefte von Giselhere schiet | Den si durch suͦ ne chuste in burgon lant (M 1391,2– 3). Der zweite Fall: Kriemhild lässt den Brüdern ausrichten, dem Rat Rüdigers zu folgen. Das sind beides Lesarten, die auf den ersten Blick fehlerhaft scheinen, doch von der Forschung zunächst wegen der Geltung von B, dann im Sinne des Leithandschriftenprinzips als mögliche Varianten erklärt wurden.³⁸ Basis ist das Ad-libitum-Prinzip des Austauschs von Namen und Appellativ, das eine mögliche Variante erzeugt. Ob Variante oder nicht, die beiden Lesarten belegen den engen Zusammenhang von M mit A und B. Sie stehen nicht in *D, nicht in der mit B eng verwandten Hs. d, nicht in *J oder *C, das im ersten Fall den Text ganz ändert.³⁹ Wenn die Überlegung richtig ist, dass es sich um einen anderen Motivationstypus handelt, bei der die künftige Rolle Giselhers bzw. Rüdigers ausschlaggebend ist,⁴⁰ nicht eine vorbereitende Motivation, sondern eine Motivation ‚von hinten‘, dann konkurrierten in der Überlieferung zwei unterschiedliche Motivationstypen. Diese Abweichung ist aber auffällig genug, da kontraintuitiv und der übrigen Überlieferung widersprechend, um eine Zusammengehörigkeit der Gruppe A, B und M nahezulegen. Fehlerverteilung und Varianten schließen zwar eine lineare Abhängigkeit der Hs. M von A und/oder B aus; die Übereinstimmung mit diesen beiden Handschriften in zwei schwierigeren Lesarten deutet aber auf eine engere Verwandtschaft. Von dem kurzen Textstück kann nicht auf eine gemeinsame Fassung geschlossen werden, zumal diesen zwei gemeinsamen Lesarten zahlreiche Varianten gegenüberstehen, durch die sich die drei Handschriften unterscheiden; diese Lesart aber weist auf eine gemeinsame Tradition.
Redaktion *D Zusammen mit Hs. b gehört D dem Mischtypus *D an, der aus der Zusammensetzung des Textes einer *C-Handschrift mit dem einer *B-Handschrift (ab ca. Str. 268/270) entstanden ist. Hs. D (BSB Cgm 31, abgesetzte Strophen, ausgezeichnete Langverse) stammt aus dem ersten Drittel des 14. Jahrhunderts; die ‚Hundshagensche‘ Handschrift b (SB Berlin, Ms. germ. fol. 855, eingerückte Strophen, abgesetzte Langverse) wurde zwischen 1436 und 1442 geschrieben. Der Mischtypus *D wird also durch zwei vollständige, aber auch relativ späte Handschriften repräsentiert. Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit unterscheiden sich D und b sowohl in ihrem *C-Teil wie in ihrem *B-Teil deutlich von anderen Handschriften der liet- bzw. not-Fassung. In Braunes Argumentation nahmen D und b eine prominente Stellung ein, da sie ihm zufolge zusammen mit A eine Sonder-
Ihre Erklärung S. 151– 153. Die Stelle fehlt in den Fragmenten L und g, sodass keine Aussage möglich ist, ob sie der Redaktion *A insgesamt gemeinsam ist. S. 152, Anm. 30.
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gruppe (*ADb) bilden.⁴¹ Nachdem Brackert die Zusammengehörigkeit erschüttert hat,⁴² blieb eine eigene Redaktion *D übrig, der die Hss. D und b sowie die Fragmente S1+2, N und V zugeordnet werden. Der Übergang vom *C- zum *B-Text wird allerdings von keinem der Fragmente abgedeckt; die meisten Fragmente enthalten nur Text aus dem not-Teil. Nur der deutlich ältere Fragmentkomplex S (S1-3) bringt Text aus beiden Teilen, S1 aus der *C-Bearbeitung, S2 aus dem not-Text, dazu kommt das Fragment S3 mit Text aus der ‚Nibelungenklage‘ B. Der Fragmentkomplex S würde das hohe Alter dieser Redaktion als einer Mischfassung bezeugen, wenn S1 und S2 Teile derselben Handschrift sind, die dann Textteile aus *C und *B enthalten hätte.⁴³ Diese Frage wird zwar überwiegend, keineswegs aber einhellig bejaht.⁴⁴ Die Einrichtung von S1 und S2 stimmt weitgehend überein (abgesetzte Strophen, nicht abgesetzte Verse).⁴⁵ Ute Obhof, die zuletzt am eingehendsten die Prager Bruchstücke untersucht hat, kommt zu einem vorsichtigen Ergebnis, das „Äußere der drei Fragmente [spreche] eher dafür als dagegen […], daß sie ursprünglich Bestandteil einer einzigen Handschrift gewesen sind“, wie auch „Einrichtung und Schreibformen“ nahelegen.⁴⁶ Wenn auch ohne letzte Sicherheit, ist von dieser Einschätzung auszugehen. Die Zusammensetzung aus einem liet- und einem not-Teil setzt eine schriftliche Überlieferungsbasis voraus. Die Mischfassung wäre sehr früh entstanden. Sie würde sich im 14. und 15. Jahrhundert in den Hss. D und b fortsetzen. Fiele der S-Komplex aus, dann würden nur zwei in Text und Entstehungszeitpunkt recht weit entfernte, relativ späte vollständige Handschriften sicher diesen Typus von Textmischung für das Nibelungenlied selbst belegen. Die beiden anderen, deutlich jüngeren Fragmente von *D könnten ohnehin aus einer reinen not-Handschrift stammen. Die Zusammengehörigkeit der Redaktion *D mit diesen Fragmenten muss also zusätzlich begründet werden. In Koflers Ausgabe der Fragmente ist D die Referenzhandschrift für die Nibelungenlied-Fragmente N, S und V. Das ist ein Notbehelf. Es geht Kofler um den Vergleich mit der relativ nächsten vollständigen Handschrift. Der Paralleldruck mit der viel jüngeren Hs. b, die, obwohl sie dem Text der Fragmente in manchem näher steht, zusätzliche Fehler und Missverständnisse hat, kommt nicht in Frage. Weil aber D ebenfalls recht fehlerhaft ist, außerdem innerhalb der Redaktion *D eine Sonderstellung einnimmt und zahlreiche Sonderlesarten hat, die vom Grundbestand der *AB-Gruppe, aber auch von b und den Fragmenten abweichen, verzerrt D als Referenzhandschrift für *D das Bild. In
Braune 1900, S. 24– 75. Brackert 1963, S. 25 – 51. Bumke 1996a, S. 299. Braune 1900, S. 5; zweifelnd Bumke 1996a, S. 205; dagegen Heinzle 2003a, S. 199 („Es kann als sicher gelten…“); 2004, S. 12; Kofler 2020, S. XXXII meint, Obhof 2003a habe alle Bedenken ausgeräumt; Klein 2003, S. 225 dagegen nennt die Zusammengehörigkeit noch „umstritten“. Heinzle 2022, S. 206 setzt sie, im Gegensatz zu früheren vorsichtigeren Einschätzungen, als selbstverständlich voraus. Der ‚Klage‘-Text von S3 folgt der *B-Fassung (Bumke 1996a, S. 298). Bumke 1996a, S. 207. Obhof 2003a, S. 181– 182.
Redaktion *D
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Bezug auf die Textgestalt im Einzelnen gehören die Fragmente und Hs. b enger zusammen; ihnen gegenüber steht die Hs. D isoliert.⁴⁷ Das wird bei der Frage nach einer Fassung *D zu berücksichtigen sein.
Fragmentkomplex S Der Fragmentkomplex S, der an zwei verschiedenen Stellen in Prag überliefert ist (S1: Národní knihovna, Cod. XXIV.C.2; S2 u. S3: Národní muzeum, Cod. I E a 1 bzw, Cod. I E a 2), gehört zu den ältesten Überlieferungszeugen. Er stammt wohl noch aus dem 2. Viertel des 13. Jahrhunderts. Er bringt den Text in abgesetzten Strophen. Es handelt sich bei S1 um einen liet-Text, der den Hss. D und b ähnlich ist, aber wie diese Varianten gegenüber C hat. S2 ist ein not-Text, der ebenfalls dem not-Text in den Hss. D und b verwandt ist, ihn aber gleichfalls variiert. S1 und S2 bewegen sich gegenüber den Hss. A und B bzw. C im Spielraum der üblichen Varianz. Sie sind – ob nun zusammengehörig oder nicht – in jedem Fall frühe Zeugnisse einer von diesen Handschriften abweichenden Textgestalt des not- bzw. liet-Textes. Sie bestätigen damit sowohl für die notwie für die liet-Fassung die frühe Varianz der Überlieferung. Wenn man die Frage der Zugehörigkeit der Fragmente S1 und S2 zur gleichen Handschrift verneint, ist die Annahme einer Fassung *D „auf Grund ihrer Lesarten“⁴⁸ nicht ohne Weiteres naheliegend. Anders wenn man die Zusammengehörigkeit von S1 und S2 voraussetzt: Dann belegen die Fragmente die frühe Existenz einer Mischfassung, deren Erbe in D und b bewahrt ist. In dem *C folgenden Teil S1 finden sich Varianten zu C,⁴⁹ die später z.T. auch in D überliefert sind. Für den not-Teil in Fr. S2 gilt das Gleiche. Die durchaus erkennbare Selbständigkeit des not-Teils von D und b gegenüber den Handschriften A und B wurde nie bestimmt, geschweige untersucht, welche Veränderungen aufs Konto der Schreiber der beiden relativ späten Handschriften gehen. Man ist also auf den schmalen Textausschnitt des frühen Fragments S2 aus der 16. Aventiure angewiesen, um die Selbständigkeit dieser Textgestalt zu bestimmen. S2 repräsentiert eine bessere Textgestalt von *D als Hs. D. Sie setzte sich in zwei Überlieferungszweigen fort, deren einer die Hs. D von der Wende des 14. Jahrhunderts, deren anderer die Hs. b aus dem 15. Jahrhundert zusammen mit den Frr. N und V repräsentiert. In D haben sich zahlreiche Fehler eingeschlichen, die S2 nicht hat. S2 stimmt hier zur übrigen not-Überlieferung.⁵⁰ Die Textgestalt des Mischtypus ist also aus Hs. D
Kofler 2020, S. XXXII. Heinzle 2003a, S. 199. Sie sollen im Zusammenhang der *C-Fragmente behandelt werden. D 938,4 scheint ABbdS2 ruͦ re nicht verstanden worden zu sein (D 938,4: tiere). Den Satz vor Siegfrieds Ermordung ‚wäre es gut zu Ende gegangen, hätten sie einen frohen Tag gehabt‘ (S2 957,4: und wær ez wol verendet; ~ Abd) schreibt D sinnwidrig und wer is wold verenden. In D 951,1 ist Siegfried gegen die restliche Überlieferung mit einer luchses heute bekleidet, statt dem Fell eines unbekannten Tiers (ludem); S2 stellt sich an dieser Stelle mit den übrigen Handschriften gegen D.
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nicht ablesbar.Wo nämlich Fr. S2 von Hs. D abweicht – meist in Ad-libitum-Varianten –, da stimmt es häufig mit A und/oder B überein, auch die Hs. b folgt in diesen Fällen meist dieser Lesart.⁵¹ S2 hat Varianten einmal mit Hs. A, häufiger mit Hs. B gemeinsam.⁵² Das Fragment bestätigt also eine die not-Handschriften übergreifende Varianz auf der ältesten uns zugänglichen Stufe. Die Varianten, die DbS2, von Differenzen der Schreibung und Morphologie abgesehen, gemeinsam gegen A und/oder B haben, sind verhältnismäßig unbedeutend; sie bewegen sich gleichfalls überwiegend im Ad-libitum-Bereich.⁵³ Sie belegen aber für D, b und S2 eine gegenüber den übrigen not-Handschriften eigenständige Textgestalt. Diese anfängliche Varianz bestätigen Stellen, an denen DbS2 nur mit A oder nur mit B übereinstimmen.⁵⁴ S2 spiegelt also den Zustand ursprünglicher Varianz. Die Textgestalt, die S2 repräsentiert, wurde, wie auch die Frr. N und V für andere Stellen zeigen werden, offenbar weiter rezipiert. Wie die relativ kurze Textstrecke zeigt, ist die Hs. b näher am Text der älteren Handschrift als D. Im 15. Jahrhundert bemühte man sich offenbar um eine genauere Wiedergabe der Vorlage als um 1300, wo D noch zahlreiche Varianten zuließ.
Fragment N Die Fragmente N1-3 (Würzburg, Universitätsbibl., Dt. Fragmente 2; Nürnberg, German. Nationalmuseum, Hs. 2841a; Hs. 4365a) stammen vom Anfang des 14. Jahrhunderts, sind also etwa gleichzeitig mit Hs. D. Sie sind in abgesetzten Strophen geschrieben und werden gleichfalls der „Mischredaktion“ *D zugerechnet, obwohl die Nahtstelle des Vorlagenwechsels von einer *C-Version zu einer *B-Version hier fehlt und N keinen Text aus *C enthält, sondern nur Text aus dem not-Teil des Epos und der ‚Klage‘ (ab D 1075) bietet.⁵⁵ Das Fragment könnte auch einer not-Handschrift entstammen, die keine Mischfassung war. Sie könnte die Vorlage des jeweils zweiten Teils von D und b gewesen
Einige Beispiele aus dem Fragment: S2 913,1 vile (~ ABb) gegen D harte; 914,3 chalten (~ ABb) gegen D kulen; 923,4 Wortfolge (~ ABb) gegen D; 929,4 zeiagde (~ ABb) gegen D zu jagen; 941,4 fursten edele (~ABb) gegen edeln chunic; 957,3 seilen (~ ABb) gegen D stricken; 965,4 Wortfolge (~ABb) gegen D; 969,1 Wortfolge (~ ABb) gegen D; 970,1 der kuͦ ne Sivrit (~ AB; b der kún herr Seifrid) gegen D der chunic S.; 979,1 im […] er […] (~ABb) gegen D er […] im; ferner: 921,4; 924,1; 931,4; 938,4; 940,4; 940,4; 942,2; 948,1; 959,2; 977,1; 978,2; 978,4. Die in A fehlende Str. B 942 ist in S2 wie auch in Db erhalten. Wie DbS2 914,2 zusätzliches die; 920,4 Wortstellung; 921,4 in dem hercen statt an dem h. (nur B); 922,1 armen (~ A) statt handen (B); 931,3 zusätzliches daz; 950,3 Plural (mit hantwercken) statt Singular; 956,4 in der aschen statt in der aschen ligen; 968,1 Wortstellung usw. DbS2 912,4 (grozzer; ~ A) gegen B sus getaner; 913,4 mohte (~ B) gegen A 859,4 kunde; 933,2 scharpfe (~ A) gegen B starche; der Bär flieht DbS2 959,1 (~ A) vor den hunden gegen B von den hunden; die Jagdgesellschaft geht in DbS2 960 zu tische (~ A) gegen B zen tischen; weitere Beispiele B gegen A 938,2; 939,2; 968,1; 940,1; A gegen B 941,2; 941,3; 959,1; 969,3 usw. Zu korrigieren gegenüber Heinzle 2003a, S. 204 („Lied-Fassung“).
Redaktion *D
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sein und muss nicht unbedingt an die ersten 268/270 Strophen des Nibelungenliedes nach *C angeschlossen haben. Für die Zugehörigkeit von N zur *D-Redaktion sprechen wie in D und b fehlerhaft zusammengezogene Strophen. In Strophe 1454 und 1455⁵⁶ (Abb. 3a – c) handelt es sich um einen Fehler, der durch Augensprung zustande kommt. Auf B 1454,1 (die Boten Etzels in Worms begeben sich in ihr Quartier) folgt in D und b gleich B 1455,2– 4: der Rat der Leute Gunthers, die Einladung Etzels anzunehmen, sowie die Warnung Hagens davor. Das bedingt eine erhebliche Lücke in der Handlung, denn es fehlt Gunthers Frage an seine Leute, was er tun solle; deren Reaktion erfolgt unvermittelt. Diesen Fehler hat auch N. In den im Fragment erhaltenen Textteilen folgt wie in D und b auf N 1454,1 noch der fragmentarische Vers 1455,2; die beiden folgenden Verse sind abgeschnitten. Lesbar ist erst wieder 1456,1. 1454
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Zen herbergen furen di von Hiunen lant do het der kuͤ nech riche nach friunden sin gesant Guͤ nther der edele vragte sine man wi in diu rede geviele vil maniger do sprechen began Daz er wol moͤ hte riten in Eceln lant daz rieten im di besten di er da under vant ane Hagen eine dem was ez grimme leit er sprach zem kuͤ nige tougen ir habt iu selben widerseit.
B 1454– 1455 (nach Batts)
Abb. 3a: D 1454,1; 1455,2 – 4; 1456,1 – 2; Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 31, 89ra. Fehlerhaft zusammengezogene Verse.
V 1454,1 endet in B mit Hiunen lant; V 1455,1 mit Eceln lant. An 1454,1 schien deshalb sich 1455,2 bruchlos anzuschließen.
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Abb. 3b: b 1454,1; 1455,2 – 4; 1456,1; Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 855, 95r. Fehlerhaft zusammengezogene Verse.
Abb. 3c: N 1454,1;1455,2; Rest von 1455,4; 1456,1 – 2 (= N 21 – 22,1 – 2); Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Hs. 4365a, N1 1rb. Fehlerhaft zusammengezogene Verse. Es fehlt nur ein Querstreifen aus der zusammengezogenen Strophe 1454/1455. Kofler transkribiert: Tzu h’rbergen do furen die von Hvnen lant d riten im die besten di er dar vnd’ vant Nu ist vch doch gewizzen waz wir haben getan …
Eine weitere in D und b zusammengezogene Strophe (Db 1488/1489) fällt in eine Lücke von N.⁵⁷ An einer dritten Stelle gehen D und b auseinander: Die Strophen B 1633 und 1634 sind in b zusammengezogen. Auf 1633,2 folgt gleich 1634,3. N stimmt mit b überein. In der Redaktion *D steht also hier Hs. D gegen b und N (Abb. 4a – c). Auch die beiden folgenden Strophen 1635 und 1636 zieht b zusammen (1635,1 u. 2 + 1636,3 u. 4).⁵⁸ Dem folgen jedoch weder D noch N. Im ersten Fall, in Str. 1633/1634, ist die Lücke wenig spürbar: Von Hagens Sorge um das Nachtquartier, der Ermüdung der Pferde und dem Mangel an Verpflegung bleibt nur das Ergebnis, das D 1634,3 (wie ähnlich b und N) formuliert: Wir finden nichts zu kaufen, uns were wirtes not. Die beiden folgenden Strophen 1635/1636 dagegen bringen in D und N den Namen Rüdigers ins Spiel, der als Gastgeber ausführlicher gerühmt wird, während b durch den Ausfall von 1635,4 Rüdiger hier gar nicht nennt, sondern ihn erst in b 1637,3 unvermittelt erwähnt. Hier ist die Lücke deutlich spürbar.
Wieder ist Augensprung möglich (dan – dan). Auch hier sind die Kontraktionen durch den Abschreibprozess wieder leicht erklärbar, durch einen Augensprung: B 1633,2 und 1634,2 enden beide auf degen(e); B 1635,2 und 1636,2 enden beide auf birt. So konnte in b ein Vers leicht übersprungen werden.
Redaktion *D
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Abb. 4a: D 1633 – 1635,1; Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 31, 99vb.
Abb. 4b: b 1633,1 – 2; 1634,3 – 4; 1635,1; Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 855, 106v.
Abb. 4c: N 1633,1 – 2; 1634,3 – 4; 1635,1 (= N 78 – 79,1); Universitätsbibliothek Würzburg, Dt. Fragm. 2, N3 1vb.
Die drei Stellen mit Strophenkontraktion wiederholen einen ähnlichen Irrtum, doch unterschiedlich oft. Er scheint sich in mehreren Stufen vollzogen zu haben. Fr. N steht zwischen D und b. Diese Fehler beweisen die Zugehörigkeit von N zu *D. Hier ist anders
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als in der frühen Überlieferung ein lineares Abhängigkeitsverhältnis zwischen schriftlich fixierten Texten zu vermuten. N bezeugt aber auch, dass innerhalb der Redaktion *D der Text weiterentwickelt wurde. Die Verwandtschaft ließ die ältere Forschung vermuten, dass N auf derselben „stammhs.“ wie S, D und b beruht.⁵⁹ Das bestätigen zahlreiche gemeinsame, von A und B unterschiedene Lesarten. Sie weisen auf eine selbständige Textgestalt von *D gegenüber den not-Handschriften A und B.⁶⁰ N hat aber auch gegenüber D und b die üblichen Varianten, die z.T. mit A und/oder B übereinstimmen. Gemeinsam sind N Fehler sowohl mit D wie mit b, sodass N sich mal von der einen, mal von der anderen Hs. unterscheidet.⁶¹ Aber N hat auch eigene Fehler, die D und b nicht teilen.⁶² Zusammengenommen belegt das, dass ein unmittelbar lineares Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Hss. D, b und N nicht in Frage kommt, dass sie aber eng verwandt sind, wenn auch im Ad-libitum-Bereich deutlich unterschieden. Häufig ist D isoliert;⁶³ stimmen b und N gegen D, z.T. mit AB;⁶⁴ diese Fälle sprechen für die deutlichere Unabhängigkeit der Hs. D von den anderen not-Handschriften. Aber es gibt auch Beispiele, in denen bN gegen D und AB stehen.⁶⁵ Schließlich können auch D
Braune 1900, S. 5. Etwa DbN 1438,2 sprach statt fragt; 1439,3 gesinde statt gedigene; 1453,2 wendet statt wellet; 1600,2 sin [….] gerant statt haben g.; 1612,2 achtzehen statt 80 tote Bayern; 1905,1 hört Blödelin nicht, was ihm Kriemhild als Lohn verspricht (miete), sondern was sie sagt (mere); nur in DbN 1910,1 tragen vier Hunnen Ortlieb zu Tisch; in DbN 1921,3 verteidigt sich Dankwart damit, er sei bei Siegfrieds Tod ein cleines chindel gewesen (statt wenich); DbN 2096,3 mort recken statt mortræzen; DbN 2106,2 spricht Kriemhild selbst (heiz ich) statt si hiez. N 1613,2 helden statt hellen ist ein gemeinsamer Fehler mit D, den b nicht hat. N hat nicht einige Verschreibungen und ungrammatische Formen und die verderbten Stellen D 1458,1– 2 und D 1624,1– 3 (in b korrekt). -– Ein gemeinsamer Fehler von N und b gegen D ist die Wiederholung von Nb 2107,4 in Nb 2108,4. – Ein weiterer gemeinsamer Fehler liegt in Nb 2239,2 vor: Dietrichs Bote Helferich wird, wenn er nach Rüdiger fragt, unmotiviert von einem der Burgonden als bruder angesprochen, ein Fehler, den weder D 2239,2 noch die restliche Überlieferung teilt. Herausgegriffen: N 1607,4 ist der Einschub (ich) wæn als Konjunktion (wan) interpretiert (anders Db); N 2095,2 fehlt lazen (gegen Db); N 2106,2 fehlt an (gegen Db); statt Der ellenden huote (B 2122,1; ~Db) heißt es N 2122,1 des ezeles hute; N 2212,1 hat einen überzähligen Takt (ein helt); N 2224,1 Sitzen in disen leiden sach man manigen degen statt b den sitzen, diesen leinen und D 2224,1 sitzen unde leinen. Das geht bis zur völligen Umformulierung. Vgl. etwa Str. D 1458,1– 2, die Hagens Warnung vor Kriemhild und den Hunnen ganz neu fasst. So bN 1464,1 (wie AB) samfter statt baz (D); bN 1606,4 brast (wie AB) statt D brach; bN 1621,4 helt (wie AB; b verschrieben in hold) statt D chunich; bN 1883,4 ob (wie AB) gegen D waz; bN 1899,3 kombiniert die Abweichung der Verbform mit einer Erweiterung: chumen in ditz lant (~AB) gegen D quamen […] in der Heunen lant; bN 1914,4 des kuniges Ezeles weib (wie AB), wo D edeln einschiebt; bN 1919,2 fleissiklich (wie AB) statt D minnichlich; bN 2084,1 sorge (wie AB) statt D traurens; bN 2088,1 zwang […] not (wie AB) gegen D gie […] not; bN 2090,4 hab ir (wie AB) gegen D hastu; bN 2094,1 kurtzlich (wie AB) gegen D schir; Nb 2104,3 fride (wie AB) gegen D sun. Es sind teils winzige Abweichungen; weitere weniger spektakuläre Beispiele etwa 1435,2; 1440,2; 1441,3; 1445,1; 1445,3; 1456,4; 1460,4; 1590,1; 1605,3 usw. bN 1624,4 von den ellenden statt D da zu Passouwe (wie AB); bN 1440,2 miner swester gegen D 1440,2 miner liebn swester (wie AB); bN 2218,3 ir selbe(r)s hant statt D 2218,3 ir beider hant (wie AB).
Redaktion *D
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und N eine Variante gegenüber ABb haben.⁶⁶ Doch gibt es auch Übereinstimmungen gegen A und/oder B nur mit Hs. D oder nur mit Hs. b. Manchmal weicht N allein von Db ab, die ihrerseits A und/oder B folgen;⁶⁷ manchmal stimmt N mit A und/oder B auch gegen Db.⁶⁸ Manchmal hat N eine selbständige Lesart.⁶⁹ Der Befund ist verwirrend und wurde bewusst in seiner Verworrenheit dargestellt, denn er ist typisch für die Nibelungenüberlieferung insgesamt. Deutlich gehört die Handschriftengruppe *D zusammen und grenzt sich von A und B ab. Allerdings weisen die zugehörigen Handschriften in unterschiedlichem Maße (d. h. jede andere) Übereinstimmungen mit A und B auf. Die Abweichungen bewegen sich überwiegend im Adlibitum-Bereich. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Sie lassen nur den Schluss zu, dass zwischen verwandten Handschriften innerhalb einer Redaktion das Spiel der Varianzen weitergeht. N macht von der Lizenz der Variation besonders exzessiv Gebrauch. Sein Platz in Bezug auf D und b in der Überlieferung von *D ist deshalb schwer zu bestimmen. Insgesamt bestätigt N die Verwandtschaft der Texte der *D-Gruppe, ohne dass eine eindeutige, distinkte Textgestalt und gemeinsame Merkmale einer Fassung sicher erkennbar wären.
Fragment V Das Fragment V (Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 138), ebenfalls vom Anfang des 14. Jahrhunderts, bestätigt den Befund von S2 und N. Es ist ebenfalls in abgesetzten Strophen geschrieben und wird ebenfalls der Redaktion *D zugerechnet.⁷⁰ Wie N kann es nicht den Vorlagenwechsel von einer *C-Handschrift zu einer *B-Handschrift bezeugen, doch wie bei N legen andere Merkmale die Verwandtschaft mit D und b nahe. Für die Zusammengehörigkeit der Gruppe sprechen selbständige Lesarten in den Hs. D und b und dem Fr. V.⁷¹ Die Zugehörigkeit von V zu *D beweisen auch signifikante Fehler oder Ungenauigkeiten: Rüdiger gibt seiner Frau Anweisungen für den Empfang Kriemhilds, daz sie der chuͤ neginne da mite troste den mut (B 1297,4; ~ AJdh). V 1297,4 hat wie D und b dem kunige. ⁷² Oder: Wenn sich die burgondischen Großen zum Empfang Rüdigers versammeln, kommen Giselher und Gere hinzu (AB); dagegen sind es in DbV 1185,1 Gyselher und Gernot (der in AB schon vorher – in B 1183,2 – als anwesend erwähnt wurde). DN 1601,4 genomen gegen b gewunnen (~ B); DN 1623,3 des gie in […] not statt b 1623,3 des waz im not (~ AB: twanch). N 1436,1 grozlichen gegen Db getzogentlichen (wie AB); N 1896,2 herze gegen Db sere (wie A). N 1442,3 mochtet (~ AB) gegen muget (Db); 1453,4 die knappen (~ AB) gegen si (Db); N 1459,3 richen (wie AB) statt lande (Db); N 1468,3 an den triewen (~AB) gegen mit guͦ ten/gantzen treuwen (Db); N 1600,4 des (wie AB) gegen daz (Db); N 1922,3 ellenden (wie AB) gegen Db edlen; N 2098,3 ladetes (wie AB) gegen Db ludest. N 1605,3 herticlichen gegen b herlichen (~AB) gegen D zu ein ander. Menhardt 1937, S. 149 – 158. Menhardt ging noch von der genealogischen Verwandtschaft von ADb nach Braune aus und stellte genau dar, in welchem Verhältnis in V A- und Db-Verwandtschaft stehen. DbV 1088,2; 1093,3; 1179,1; 1188,2; 1996,1; 1222,1. Vgl. oben S. 148.
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6 Die Fragmente und ihre ‚Referenzhandschriften‘
Im Übrigen ist das Verhältnis des Fragments zu den vollständigen Handschriften ähnlich wie bei N. Es gibt Sonderlesarten von D, die von V und b nicht geteilt werden, wohl aber von A und/oder B. V hat wie b einige Fehler von D nicht, oft Verlesungen wie Syfride (für Everdingen⁷³) oder kunt/chunt (bV 1072,2) zu kunich Sifrit (D 1072,2) oder auch eine wenig passende Namensvarianz, sodass Rüdiger under Gyselheres man (D 1198,3) statt under Guntheres man (A 1141,3; B 1198,3; ~ bV) Freunde hat. Es gibt auch Fehler von bV gegen D.⁷⁴ V bestätigt insofern die Sonderstellung von D innerhalb von *D. V hat auch eigene Fehler.⁷⁵ V enthält wie N einen Text, der sowohl an vielen Stellen gegen b mit D übereinstimmt,⁷⁶ als auch gegen D mit b.⁷⁷ Manchmal hat auch V eigene Lesarten im Ad-libitumBereich.⁷⁸ Dabei gehen bV meist mit AB zusammen gegen D.⁷⁹ Die Abweichungen der zu *D gehörenden Handschriften untereinander bilden manchmal auch die Varianz zwischen A und B ab, indem die einen A, die anderen B folgen. Über Siegmund und seine Leute heißt es D 1073,3 bi ir starcken veinden was in daz wesen leid (~ V; B: ze wesin); b dagegen hat wie A: daz leben lait; die Kombination wechselt, mal wie hier B + DV gegen A + b, mal B + bV gegen D + A, mal A + V gegen B + Db usw.⁸⁰ Die Varianz übergreift also wieder unterschiedliche Handschriftengruppen; sie ist typisch für die Textgestaltung des Nibelungenliedes. Die Handschriften scheinen zwar durch Familienähnlichkeit verbunden und sich insgesamt von A und/oder B abzusetzen. Ihre Verwandtschaft voneinander schließt nicht aus, dass einzelne Handschriften eigene Lesarten und Lesarten aus A und/oder B haben, gewissermaßen aus dem Pool ‚nibelungischer‘ Formulierungen schöpfen.⁸¹ Was aber die einzelne Handschrift von A und B unterscheidet, ist nicht allen *D-Handschriften gemeinsam, sondern wechselt von
Allerdings hat V auch keine korrekte Namensform dafür anzubieten (Fridingen V 1299,1) Statt met wie in D 1184,2 den gesten (~ABCJadh) auszuschenken wird er bV den guten gereicht. – In bV 1303,2 steht ein ungrammatisches daz anstelle von da und zerstört den Satz da (der) was manic degen (DJh bzw. ABCadh). So wenn Gunther sagt, es sei ungefährlich, dass Kriemhild seine, Gunthers (min), Frau werde (V 1203,3), statt wie in der restlichen Überlieferung Etzels [sin] Frau, oder wenn Kriemhild V 1219,2 Rüdiger zu einer kemenaten statt in ihre Kemenate (miner) einlädt. Gegen b z. B. DV 1073,3; 1074,2; 1074,4; 1186,1; 1196,1; 1222,2. Gegen D etwa bV 1072,2; 1184,2; 1185,3; 1187,4; 1180,2; 1190,2; 1191,2 usw. oder auch die Änderung des Reims D 1203,1– 2, die V und b nicht mitmachen. V 1092,2 (herlichen); V 1192,4 (cleine) statt Db (seine); V 1193,3 (Wortstellung); V 1200,3 (rehte) statt (guͦ te). Sie decken die verschiedensten Variantentypen ab: semantische, syntaktische (Modus!), Austausch oder Ergänzung eines Worts, so etwa bV 1082,2 (getriwen, wie AB) gegen D (besten); bV 1087,3 (fehlendes hin, wie AB); bV 1094,3 (die wie B) gegen D (chein); bV 1183,2 (flizclich wie AB) gegen D (minnechlich); bV 1185,3 (dise wie AB) gegen D (vremde); bV 1187,1 (daz wie AB) fehlt D; bV 1187,4 (gern wie AB) gegenD (vil schier); bV 1188,3 (fehlendes Dativobjekt); bV 1190,2 (groz vogt) wie AB gegen D( Etzel); bV 1195,2 (sit ir mir kunic erloubet) gegen D (sit mir ist erloubet); bV 1197,4 (Modus, wie AB); bV 1202,4 (von schulden, wie AB) gegen D (von erste); bV 1204,4 (nimant, wie AB) gegen D (ander nieman mer); bV 1206,1 (mangeu, wie AB) gegen D (grozze) usw. V 1179,1 (eingeschobenes si; ~ A) gegen BDb; Vb 1199,4 (~ B) gegen AD; Vb 1200,2 (~) B gegen AD. Vgl. S. 239 – 240 zu Konsequenzen für das Fassungsproblem.
Fragmente der Redaktion *J
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Handschrift zu Handschrift. Abweichungen und Übereinstimmungen verteilen sich sehr ungleich über die vier Überlieferungsträger. Genealogische Abhängigkeiten lassen sich zwischen D, b und N vermuten, aber sie sind wohl weniger als Abhängigkeit der einzelnen Handschrift von einer einzelnen Vorlage denn als Zugehörigkeit zu einer im Adlibitum-Bereich relativ offenen Überlieferungspraxis zu denken, die nicht auf einen bestimmten Wortlaut verpflichtet war. Der Mischcharakter von *D lässt sich sicher nur für D und b nachweisen, für S wahrscheinlich machen, für N und V aber nur vermuten. Hier muss die relative Ähnlichkeit der Textgestalt einspringen. Im liet- wie im not-Teil beweisen die *D-Fragmente die genuine Varianz der Nibelungenüberlieferung.
Fragmente der Redaktion *J Die Referenzhandschrift der Mischredaktion *J ist Hs. J (Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 474; um 1300). In J sind – wie in *d – einem not-Text einzelne Zusatzstrophen eingefügt, die mit Strophen der Bearbeitung *C teils verwandt sind, teils wörtlich übereinstimmen. Die Forschung nimmt daher Kontamination einer not-Handschrift und einer liet-Handschrift an. Das Problem ist freilich, dass Hs. J den übrigen Bearbeitungstendenzen von *C nicht folgt, vielmehr die für die Konzeption von *C aussagekräftigsten Strophen so wenig übernimmt wie die dieser Konzeption entsprechenden Umformulierungen des not-Textes.⁸² Dabei stimmt J durchaus an zahlreichen, doch weniger aussagekräftigen Stellen mit *C überein und hat generell eine von *A, *B, *D und *d unterschiedene, teils selbständige Textgestalt. In Hs. J fehlt außerdem der not-Text zwischen Str. 1512 und 1625 (d. h. der erste Teil der Fahrt der Burgonden zu Etzel, bis zur Ankunft in Passau). Die Nahtstelle ist sorgfältig cachiert.⁸³ Die Handschrift h aus dem 15. Jahrhundert ist eine genaue, wenn auch fehlerhafte Abschrift von J und textkritisch für die Redaktion nicht relevant. Von den Fragmenten bestätigt keines den Mischcharakter von *J, denn keines enthält die Zusatzstrophen. Eines (Q) enthält sogar eine Passage, in der in Hs. J eine Zusatzstrophe steht, lässt aber für die Zusatzstrophe keinen Raum. Der Mischcharakter von *J ist für die Fragmente also nicht nachweisbar; er ist an der einen Stelle sogar ausgeschlossen. Auch weisen die Fragmente K und l nicht die erwähnte Textlücke am Beginn der Fahrt zu Etzel auf, die charakteristisch für Hs. J ist und manchmal der gesamten Redaktion *J zugesprochen wird. Das bedeutet aber: Wesentliche Merkmale, die *J charakterisieren sollen, finden sich nur in einigen der *J zugewiesenen Handschriften. Dagegen haben J und die der Redaktion *J zugeordneten Fragmente eigentümliche Lesarten gemeinsam, die die Zusammengehörigkeit der *J-Redaktion belegen. Andererseits weichen sie an vielen Stellen jedoch auch voneinander und von Hs. J ab. An der
Vgl. S. 247; 266 – 267. Vgl. S. 234– 237.
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6 Die Fragmente und ihre ‚Referenzhandschriften‘
Redaktion *J ist damit ablesbar, dass die zu einer Redaktion gehörenden Texte nicht alle Merkmale teilen müssen. Differenzen im Textbestand (Zusatzstrophen, Textlücke), gemeinsame Textgestalt in einigen Lesarten und Varianz auf der Ad-libitum-Ebene schließen sich nicht aus.
Fragment W Das Bruchstück W (Melk, Stiftsbibliothek, Fragm. germ. 6) stammt noch vom Ende des 13. Jahrhunderts; es ist also älter als die vollständige Handschrift J. Es hat ein sonst in der Nibelungenüberlieferung ungewöhnliches Layout, indem die Halbverse jeweils untereinander geschrieben sind wie die Kurzverse von Reimpaardichtungen. Es enthält wenig Text. Für die Textgeschichte ist es trotz seines Alters daher wenig ergiebig, außer dass es gewisse Eigenheiten der Redaktion *J noch ins 13. Jahrhundert datiert. Hinweise auf die Zusatzstrophen, die als charakteristisch für *J gelten, hat W nicht, weil das Fragment die einschlägigen Passagen nicht enthält, doch belegt W Gemeinsamkeiten mit Lesarten der *J-Redaktion. Glaßner glaubte, dass W die Vorlage von Fr. Q sei, da W mit Q einige Abweichungen von Hs. J gemeinsam hat.⁸⁴ Einige dieser Abweichungen haben WQ aber auch mit anderen not- oder liet-Handschriften gemeinsam; sie taugen also nicht dazu, exklusive Beziehungen zwischen W und Q herzustellen, sondern bewegen sich im gewöhnlichen Varianzspektrum der Nibelungenüberlieferung.⁸⁵ Daneben gibt es auch Übereinstimmungen von W mit J (z.T. wieder mit anderen Handschriften), die gegen Q stehen.⁸⁶ Statt eine lineare Abhängigkeit⁸⁷ des Fr. Q von W anzunehmen ist wahrscheinlicher, dass es sich um eng verwandte Handschriften mit variantem Wortlaut handelt. Es gibt insignifikante Abweichungen, die im Ad-libitum-Bereich W und Q mit J gegen die restliche Überlieferung verbinden.⁸⁸ Es gibt jedoch auch substantiellere, die die Eigenständigkeit von *J belegen: In JQW 1181,1 wird ähnlich wie in C 1208,1 eine in den übrigen Handschriften der not-Fassung unklare Schilderung des Zusammentreffens der Burgonden mit Rüdigers Leuten korrigiert: Dez kunges næhsten muag man gen in comen sach (‚Man sah die nächsten Verwandten des Königs zu ihnen kommen‘, J 1181,1).⁸⁹ Diese Variante gehört allein *J und belegt die Zugehörigkeit von W zur *J-Gruppe. Innerhalb
Glaßner 1998, S. 383 – 385. Verzeichnet bei Kofler 2013, S. 25. JW 1175,4 (si) gegen fehlerhaftes eu (Q); JW 1180,4 (wart) gegen was (Q); JW 1181,1 (in) gegen im (Q); JW 1185,4 (vor) gegen fehlerhaftes von (Q). Skeptisch auch Heinzle/Klein 1998, S. 380. JQW 1175,4 (muͤ zzen statt sulen); JQW 1176,3 (Wiederholung des Subjekts er); JQW 1176,4 (Füllwort). Manchmal stimmt W und Q auch mit A und/oder B gegen J (QW 1170,4; 1171,4; 1180,2), manchmal verteilt sich eine typische Variante zwischen A und B (B 1226,1 vil edeles chuniges chint gegen A 1169,1 vil edel kuniges kint; ~ C) auf W bzw. J 1226,1. Vgl. S. 101; 133.
Fragmente der Redaktion *J
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der Gruppe JW aber ist wieder die beschriebene Ad-libitum-Varianz möglich, wie z. B. dass man die Burgonden einmal gen in, d. h. zu Rüdiger und seinem Gefolge, kommen sieht (JW 1181,1), in Q dagegen zu im, d. h. zu Rüdiger allein. Auch Fehler sind J und W gemeinsam. In J 1184,3 findet sich eine Fehlstelle von *J gegenüber der übrigen not-Überlieferung, indem die Aussage, dass man den Gästen met den vil guten und den besten win (B 1184,3; ~ ACDbd) ausschenkt, durch die nichtssagende Floskel ersetzt wird (den gesten hiez man schenken …) als man werden fursten (reken QW) nah eren dienen sol (J 1184,3). Die Besserung des Textes (JQW 1181,1) und die Fehlstelle, die durch eine Floskel (JQW 1184,3) ersetzt wird, beweisen die Zugehörigkeit von W zu *J und gleichzeitig die Eigenständigkeit von *J, das von den älteren not-Texten abweicht.
Fragmentkomplex K Der Fragmentkomplex K (K1 + K2 Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 587 + 814; K3 Dülmen, Herzog von Croy’sche Verwaltung, Hausarchiv Nr. 54: K4 Koblenz, Landeshauptarchiv, Best 701 Nr. 759,60 [Klage]), datiert wie Hs. J um 1300. K ist in abgesetzten Strophen geschrieben, mit herausgerückter Lombarde am Strophenbeginn und durch Interpunktion abgesetzten Versen. Es wird ebenfalls der Mischredaktion *J zugerechnet. Unterstützt wird das durch einen gemeinsamen Fehler von J und K: das Auslassen von Str. 1830. Str. 1829 berichtet, wie Hagen und Volker (si) sich an Etzels Hof für die Nachtwache rüsten, Str. 1830, wie Volker seinen Schild an die Wand lehnt und die Fiedel holt, und Str. 1831, wie er sich setzt und auf seiner Fiedel spielt. Die in JK fehlende Strophe ist also für den Zusammenhang der Szene notwendig. Nur in ihr wird Volkers Name genannt; in Str. JK 1831,1 hängt daher er, das sich auf Volker in Str. 1830 bezieht, in der Luft. Dieser Fehler macht schriftliche Reproduktion wahrscheinlich (Überlesen einer Strophe). Fr. K enthält keine Zusatzstrophen, weil es nicht die entsprechenden T extstrecken abdeckt. Es ist also weder ausgeschlossen noch beweisbar, dass die Zusatzstrophen auch zu *J gehörten. Auch teilt K, wie bemerkt, nicht ein charakteristisches Merkmal der Hs. J. K enthält, soweit aus dem Erhaltenen erkennbar, die in J fehlenden Episoden vom Aufbruch der Burgonden nach Osten. Das Fragment reicht bis zur Begegnung mit den Wasserfrauen (K 1531,1). Die Handschrift erzählte vermutlich auch den anschließenden Kampf mit dem Fährmann und den Überfall der bayrischen Herzöge. Das Fr. l enthält andere Abschnitte aus dieser Lücke. Also lässt sich nicht von der Redaktion *J insgesamt behaupten, dass sie diese (von Hs. J sorgfältig camouflierte) Lücke hatte. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass K zu einer Redaktion gehört, die sich durchweg von dem Text der übrigen not-Handschriften unterscheidet und die der Hs. J nahe steht. Das zeigt sich einerseits in den typischen Ad-libitum-Varianten, durch Umstellung von
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6 Die Fragmente und ihre ‚Referenzhandschriften‘
Satzgliedern,⁹⁰ im Austausch von sinnverwandten Wörtern,⁹¹ Ersetzung eines Namens durch ein Appellativ oder umgekehrt,⁹² in kleinen syntaktischen oder semantischen Verschiebungen,⁹³ in kleineren Umformulierungen,⁹⁴ auch schon einmal in der Umformung der Abverse mit einem neuen Reim. Damit setzen sich J und K durchweg vom Text in den übrigen not-Handschriften ab. Jenseits dieser Varianten im Ad-libitum-Bereich zeichnet sich in J und K wie schon in W ein eigenes Profil von *J ab. Häufig folgt K den Präzisierungen und Neuakzentuierungen von J. Statt der farblosen Aufforderung Kriemhilds, die Boten, die die Burgonden zu Etzels Fest einladen sollen, sollten ihren Willen gutlichen erfüllen, hat JK 1411,2 (auch Q) das zu ihrer hinterlistigen Einladung weit passendere taugellichen. Auch weitere Präzisierungen der Formulierung oder zusätzliche Details in Hs. J werden von K bestätigt.⁹⁵ Darüber hinaus stützt K einige Umakzentuierungen, die *J ein eigenes Profil verleihen.⁹⁶ Die für das Nibelungenlied insgesamt typische Varianz setzt sich in K auch gegenüber J und anderen Fragmenten fort: Varianz in Schreibung und Morphologie, ebenso kleine Abweichungen ohne Einfluss auf den Sinn, wie z. B. unterschiedliche Grundformen der Verben oder Substantive,⁹⁷ Einfügen, Weglassen oder Austausch von Füllwörtern,⁹⁸ Wechsel zwischen Singular und Plural,⁹⁹ Austausch von synonymen oder sinnverwandten Wörtern,¹⁰⁰ Umstellungen von Satzgliedern,¹⁰¹ kleinere Bedeutungs-
JK 1817,1; 2328,4; 2355,3 mit Vertauschung der Epitheta wan er von herzenleide sin starker vint was gegen nach starchem leide sin (B: herce) vint was. JK 1471,1 fuͦ ren statt riten; JK 1481,4 disen sunwenden statt naͤ hsten s.; JK 1483,4 wolten statt wanden. JK 1472,1 der degen Hagen gegen von Tronege Hagene; JK 1787.3 den helt von (zu) Niderlande statt der allgemeinen heroischen Formel den helt ce sinen handen; JK 2357,4 der helt gegen her Gunther. Nicht Giselher (er) soll daran denken, dass er nie Kriemhild Leid verursachte, sondern Kriemhild (ich) denkt daran (JK 1415,1); statt Schilde und Sättel und ‚all ihr Gewand‘ (AB) für die Fahrt zu Etzel zu rüsten, haben JK 1479,1 ander ir gewant (‚sonst‘); wenn Volker sein Hilfsangebot macht, wünscht sich Hagen nichts sonst auf der Welt (gert) bzw. braucht (bedarf ) er sonst nichts (JK 1828,4). Bspw. JK 2328,4 tot der Ruͤ dgeres awe wi we mir der tuͦ t gegen B owe wie rehte unsanpfte tot der Ruͤ dgeres tut (~ACDb). JK 1416,3 unkundiu lant (das Epitheton fehlt AB); JK 1467,4 varen welle statt dar welle; K 1523,4 (fehlt J) zeiner linden aste statt zu zeinem boume; JK 1772,3 die Hunnen tragen under siden ihre Brustpanzer; JK 1829,4 Hagen und Volker huͦ ten in ihrer Nachtwache die schlafenden Burgonden nicht – unbestimmter – pflagen. Vgl. S. 237– 238. J 1414,2 gesin gegen K sin; J 1456,4 toͤ rsten gegen K getorsten; J 1783,2 sedel gegenK gesidel; J 2325,1 erhorte gegen K horte; J 2346.4 ercant gegen K bechand. J 1421,2 da gegen K do; J 1458, vil wol gegen K da wol; J 1464,3 wol gegen K (fehlt); umgekehrt J 2319,1 fehlt gegen K vil; J 2330,1 aber gegen fehlt gegen K. J 1470,2 gegen K; J 1477,1 u. 4 gegen K. J 1469,4 can gegen K mage; J 1472,2 ahzik siner degen gegen K ir beider reken ahtzik; J 1789,4 recken gegen K gesellen; der Austausch von Epitheta erfolgt durchaus ohne Konsequenz, einmal in die eine Richtung, einmal in die andere: K 1812,4 herlichen ersetzt z. B. J zierlichen und umgekehrt ersetzt K 1411,1 zierlich J herlich.
Fragmente der Redaktion *J
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varianten.¹⁰² Übereinstimmungen mit und Abweichungen von verschiedenen anderen Überlieferungsträgern wechseln manchmal in einem einzigen Vers. Auch für den in J fehlenden Passus setzt sich K häufig durch Ad-libitum-Varianten von der sonstigen Überlieferung ab.¹⁰³ Die Fehler von K gegenüber J,¹⁰⁴ wie auch J gegenüber K¹⁰⁵ belegen, dass J und K nicht in einem linearen Abhängigkeitsverhältnis stehen. Die Formulierungen von J stimmen häufig mit der Bearbeitung *C überein, doch folgt ihnen K nicht durchweg, manche Lesarten von K stimmen zu A und/oder B oder stehen jedenfalls AB näher als J.¹⁰⁶ Doch auch das Umgekehrte gilt: J geht oft gegen K mit A und/oder B konform.¹⁰⁷ Deutlich repräsentiert *J eine von der restlichen abgehobene Überlieferungstradition. Diese aber ist in sich selbst wieder variant und – in Grenzen – offen für andere Varianten. Variante Textgestaltung ist ein die gesamte Überlieferung betreffender Prozess.
Fragmentkomplex Q Die verstreuten Fragmente (Q1 Freiburg i. Br., Universitätsbibl., Hs. 511; Q2+3 Rosenheim, Stadtarchiv, Hs-g1; Q4 München, Bayerisches Staatsarchiv, Fragmentensammlung A II 1) aus der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts bestätigen den Befund. Sie sind ebenfalls in abgesetzten Strophen geschrieben, mit einer roten Lombarde am Eingang des Verses, und
K gegen J 1464,1; manchmal stimmt die Wortfolge in J (J 1456,1; 1772,2; 1775,2), manchmal in K (K; 1460,4; 1461,2; 1465,2; 1472,2) mit dem Rest der Überlieferung überein; manchmal weichen beide ab (JK 1463,2; 1819,4; 2337,4). K 2330,3 gewaffent wol zenvuͦ zen statt gewappent mit vliz. K 1515,4 (Wortstellung); K 1521,3 wiste gegen leite; K 1522,3 herren gegen helde; K 1522,4 tage gegen morgen usw. Im Folgenden beschränke ich mich auf wenige Beispiele aus unterschiedlichen Teilen des Fragments, denn es kommt nur auf die Tendenz an. Statt von kinde (bicant) (J 1416,4) hat K von chunde; K 1462,2 ich statt ir; K 1462,4 fehlendes Prädikat; K 2319,4 huten statt helfen; statt J 2323,4 verjehen hat K sehen; statt dass Hagen den Hort niemand zeigen will, die wil daz si leben (J 2365,3; d. h. seine Herren) heißt es die wile und ich leben (‚so lange ich lebe‘). J 1420,1 zuͦ der statt K uzer (wie in der Restüberlieferung); J 1462,4 versigelet gegen vergiselet; J 1476,3 taugenlich gegenüber tægelich; J 1789,1 lagent statt lougent. K 1413,3 (~ AB) Plural (friunde) gegen J Singular (friund); K 1470,2 riten (~ AB) gegen J senden; K 1485,4 niht getorsten enphan (~ AB) gegen J torsten niht gefuͤ ren dan; K 1782,4 (~ AB) unervorhte statt J ane forht; K 1784,4 (~ AB) hetet ir guͦ te sinne gegen J weret ir rehter witze; K 1825,4 angest (~ AB) gegen J zwifel; K 2316,1 (~ AB) leit so grozes gegen J so groz herzeleide; K 2314,3 wic gewant (~ AB) gegen J sargewant; K 2373,4 (~ AB) grozlichen gegen J welichen. Auch in der Syntax (Modus) gibt es Differenzen zwischen K und J: Hagen stellt auf Volkers Hilfszusage fest: (jetzt) bedarf ich nihtes mer (K 1828,2; ~ ABDd), wo J den Konjunktiv setzt bidorft ich nihtz mer. J 1772,1: Wortfolge; J 1774,4 mit triwen dienstlichen gegen K mit dienste getriwelichen; J 1775,4 Wechsel des Subjekts; J 2325,3 uzzen vor dem huse statt K uzer halp dem huͦ se; J 2326,4 allez mines trostes des bin ich ane gestan gegen K eine gestan K; J 2327,4 nu habt ir mir erbunnen aller miner man gegen K entanet.
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6 Die Fragmente und ihre ‚Referenzhandschriften‘
werden ebenfalls der Redaktion *J zugerechnet. Der Q-Komplex ist eins der umfangreichsten Fragmente; er ist jünger als J und K. Dass Q allerdings aus einer Mischhandschrift stammt und wie eng, wenn ja, diese mit Hs. J verwandt ist, ist zweifelhaft. Q enthält einen der Abschnitte, in denen J eine der Zusatzstrophen hat, die den Mischcharakter der Handschrift ausmachen. Aber die Zusatzstrophe J 966 A (C 978; auch in Hs. d) fehlt in Q. Der Rest der in der ‚unkontaminierten‘ not-Fassung voraufgehenden Strophe Str. 966 (966,4) findet sich in Q oben am Anfang von fol. 7ra. An diese schließt sich – wie in den übrigen not-Handschriften – unmittelbar Str. 967 an (Q 967). Es ist keinerlei Platz gelassen für eine etwa ausgefallene Strophe – die Zusatzstrophe J 966 A –, die in Hs. J folgt (Abb. 5a – b).¹⁰⁸ Damit fehlt in Q an der einzigen Stelle, an der ein Fragment eine in J mit Zusatzstrophen versehene Textstrecke abdeckt, ein zentrales Merkmal, das der *JRedaktion zugeschrieben wird: der Mischcharakter.¹⁰⁹ *J ist also nicht notwendig insgesamt eine Mischfassung.
Der Raum, den Koflers Ausgabe 2020, S. 118 an der entsprechenden Stelle für die Zusatzstrophe lässt, existiert also gar nicht. Kofler lässt 4 Verse (= eine Strophe) für 966 A frei, die nach Ausweis des Fragments nie da gestanden haben können. Der Überlieferungsbefund ist eindeutig. Missverständlich ist die Bemerkung Q habe die Strophe „ausgelassen“ (Kofler 2020, S. XXXIII), denn man kann nicht voraussetzen, dass sie je vorhanden war. Das stützt sich auf Braune 1900, S. 141, der meinte, es sei „einzig der schluss möglich“, dass die hypothetische Vorlage J3 die Strophe enthielt, die Q dann ausfallen ließ. Braune sucht damit sein Stemma für *J zu retten. Das triviale Füllwort (do – do) soll ihm zufolge die fehlerhafte Auslassung durch Augensprung erklären; das unwichtige do ist schwerlich der Grund für das Abirren des Blicks; kritisch dazu schon Brackert 1963, S. 154. Rosenfeld 1986, S. 81– 82 stellt ebenfalls fest, dass für die Zusatzstrophe kein Platz im Fragment ist, gibt aber zu bedenken, dass diese Strophe in C an einer anderen Stelle steht, die in eine Lücke des Fragments fällt. Er berechnet, dass sie vielleicht in dieser Lücke Platz gefunden hat und also in Q vorhanden gewesen sein könnte. Diese abenteuerliche Spekulation bietet nicht nur, wie Rosenfeld glaubt, „keine volle Sicherheit“, sondern übersieht nebenbei, dass Q dann, selbst wenn es stimmte, nicht ohne weiteres zu *J gerechnet werden könnte. Rosenfeld 1987, S. 50 übernimmt ohne Begründung diese völlig ungesicherte These. Zur Konsequenz für das Fassungsproblem vgl. S. 234.
Fragmente der Redaktion *J
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Abb. 5a: J 966, Zusatzstrophe J 966 A und J 967; Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 474, 24vb/25ra.
Abb. 5b: Q 966,4 – 967,4 (= Q 70,4 – 71,4). Der Pfeil bezeichnet die Stelle, an der die Zusatzstrophe 966 A eingeschoben werden müsste. Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., Hs. 511, Q1 1ra.
Eine lineare Abhängigkeit zwischen J und Q ist auszuschließen, wie die Fehlerverteilung zeigt. Q hat gemeinsame Fehler mit J,¹¹⁰ teilt aber nicht alle Fehler mit dieser Handschrift.¹¹¹ Q hat eigene Fehler und Lesarten.¹¹² Häufig sind in Q Auslassungen einzelner Etwa JQ 1476,3 taugenlich statt tegeliche wollen die Boten Etzels aus Worms abreisen. J 720,3 erd statt Q oͤ rss; J 1301,1 die fehlerhafte Überquerung der Donau statt der Traun (AB) bei Enns wird durch Auslassung des falschen Flussnamens entschärft; J 1420,1 zuͦ der statt Q ausz der (auch K); J 1872,3 in den sal statt Q fuͤ r den sal.
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6 Die Fragmente und ihre ‚Referenzhandschriften‘
Wörter (Artikel, Personalpronomen). Dass Q eine ältere Handschrift von *J voraussetzt, zeigt sich, wenn im Fragment Fehllesungen, die J hat, weiterentwickelt werden: Siegfrieds Meisterschaft swa er ze fehten fand (J 711,2) – statt in der Rechtspflege wie in der übrigen not-Überlieferung – nimmt Q auf, aber ersetzt fehten durch streiten, weicht gegenüber J also durch eine der typischen bedeutungsneutralen Ad-libitum-Varianten ab. Selten sind gegenüber J Verse völlig umformuliert wie z. B. die Ermordung des Königssohns Ortlieb. Diese Strophe scheint in der Vorlage von Q verstümmelt gewesen zu sein. Hagen heißt hier der helt ungut statt – wie üblich u. a. J 1958,1 – guͦ t. In V. 3 und 4 fehlt das grausige Bild, dass Ortliebs Kopf der Königin (oder dem König) in den Schoß springt (woraufhin der Kampf ausbricht). Der Schreiber ersetzt es durch stereotype Formeln und muss deshalb das Reimwort ändern: der swaiz also haizzer. ran dem swert ze tal | da sahen grozzen iamer die chuͤ nen recken uͤ ber al. Das deutet darauf hin, dass gegenüber J hier der Wortlaut von Q verderbt ist.¹¹³ Insgesamt aber ist die Textgestalt von Q derjenigen in der Hs. J und den *J-Fragmenten verwandt, in Orthographie und Morphologie sogar enger als gewöhnlich. Zwar finden sich gegenüber J auch hier die üblichen Ad-libitum-Varianten: Umstellungen,¹¹⁴ Füllwörter,¹¹⁵ Synonyma und sinnverwandten Lexeme usw.¹¹⁶ Aber es gibt wie in W und K zahlreiche mit J gemeinsame Abweichungen, Austausch von Lexemen und kleinere syntaktische Änderungen gegenüber A und B.¹¹⁷ Es gibt mit J gemeinsame Korrekturen von Ungenauigkeiten in A und B. Vor allem aber hat Q wie K und W einige von den übrigen not-Texten abweichende Lesarten von J, die das Geschehen in eine neue Perspektive rücken und *J ein eigenes Profil geben. Sie sollen an späterer Stelle gewürdigt werden.¹¹⁸ Q gehört damit eindeutig zu *J, aber repräsentiert eine von Hs. J nicht direkt abhängige Textgestalt von *J, die gegenüber J manchmal recht eigenwillig verändert ist und tlws. recht nachlässig kopiert scheint. An vielen Stellen, an denen J nicht von A und/oder B abweicht, enthält Q eine Variante.¹¹⁹ Der Text von *J wird also weiterentwickelt und
Q 619,4 iunge statt J winig Sifrides (Geliebte) Q; Q 645,2 Verwechslung des Personalpronomens; Q 715,1 hoͤ ret statt het; Q 720,3 Austausch des Reimworts; Q 1175,4 eu statt JW si; Q 1295,3 Kriemhild als Pilgrims tohter chint bezeichnet statt J swester kint; Q 967,4 rat gemain statt J rat mit mein (Heimtücke). Q 1958,3 – 4; vgl. auch die (seltene Vertauschung) von V. 3 und 4 in Q 701. Q 1163,2; 1167,1; 1174,1; 1921,1; 1927,2; 1935,2 u. ö. Da/do/sere/balde/vil/wol/noch/ie/dran usw. Manchmal ganz dicht wie in Str. 1182– 1184: J 1182,4 herre gegen Q kuͤ nch; J 1183,1 zuhticlichen gegen Q freuntleichen; J 1183,4 Ruͤ dgeren gegen Q margraven; J 1184,3 fursten gegen Q recken (wie W). JQ 1246,4 wurden trucken gegen getruchenten (B; ~ A); JQ 1426,4 der het gwalt vil grozzen und was von adel hohgiboren gegen (mit kleineren Formulierungsvarianten) so was vil gewaltich deredele cunic wol geborn (A 1369,4; B 1426,4; ~ CDab). Vgl. S. 258 – 261. Q 617,4 verswachet gegen J verderbit (~ AB); Q 638,3 reht gegen J starche (~ AB); Q 698,2 mit kusse statt cussende (~ AB); Q 702,2 Silber golt und klaider daz si den poten pot statt J daz waz ir betenbrot (botenbrot; ~ AB); Q 705,1 do man si chomen sach statt J da man die geste sach (~ AB); Gunthers Reaktion auf den
Fragmente der Redaktion *J
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variiert. Manchmal geht die Entwicklung in J auch weiter als in Q: B 644,2 liest si sahen vor in liuhten vil maniges schildes schin; Q 644,2 formt um der schilde lieht blicke den augen gaben schein; J tauscht schin gegen pin aus und nuanciert damit sie Aussage anders: ‚das Blitzen der Schilde schmerzte in den Augen‘. Die Regeln der Variantenbildung setzen sich im *J fort.
Fragment Y Das kurze Fragment Y (Trento, Biblioteca comunale, Cod. 3035) bestätigt dieses Bild. Es stammt aus dem 2. Viertel des 14. Jahrhunderts,¹²⁰ geschrieben in abgesetzten Langversen, weist zwar, im Verhältnis zu der von Kofler gewählten Referenzhandschrift J alle üblichen Typen von Varianten auf, angefangen von Schreibung (z. B. Wiedergabe des Umlauts, Vokalfärbung der Nebensilben, gutturale Tenuis), Phonetik (Diphthongierung¹²¹) Morphologie (Flexion), Wortbildung (Präfixe bei Verben), Füllwörter, Präsumtivvarianten bis hin zu kleineren syntaktischen Umbildungen. Solche Abweichungen gibt es auch, wo dieses Fragment denselben Textbereich wie K abdeckt. Es hat aber den Anschein, dass sich die Reproduktionspraxis zu ändern beginnt und die Überlieferung sich zunehmend konsolidiert. Die Übereinstimmung mit J ist enger als im gleichen Passus diejenige zwischen K und J.¹²² Das bedeutet, dass das jüngere Fragment die Lizenz zur Varianz weniger ausnutzt als die älteren Handschriften J, K, Q und W. An Y hat Kofler gezeigt, in welche Aporien eine ‚genealogische‘ Betrachtung des Überlieferungsbefundes führt. Seine Titelmetapher „Töchter – Schwestern – Basen“ drückt, wie bemerkt, aus, dass ein direktes Abstammungsverhältnis meist nicht nachweisbar ist, und betont ‚horizontale‘ neben ‚vertikalen‘ Verwandtschaftsbeziehungen. Er zeigt, in welche unentwirrbaren Widersprüche man sich begibt, wenn man die Schwestern oder Basen als Töchter behandelt.¹²³ Es ergibt sich kein klares Bild. Mal schlägt die Waage für die eine, mal für die andere Handschrift aus; „vorherrschend sind wechselnde Allianzen“. Zwar kann beispielsweise ausgeschlossen werden, dass Y eine
Vorschlag, Siegfried und Kriemhild einzuladen (J 727,2 ez wær unmugelich; ~ AB) wird durch den Allerweltvers Q die freunde tugentleich ersetzt; Q 989,1 Der ungetriwe Guͤ nther statt J Der kunc von Burgunde (~AB) usw. Kofler 2013, S. 26 – 27. Konsequenter als in J, wenn auch gelegentlich falsch, so Y 2358,3 sei für das Personalpronomen si; oder Y 2357,3 Dietreich mit Zerstörung des Reims (sich). Auf der kurzen Strecke JY 2353 – 2362 mehr als zwanzigmal in größeren oder kleineren Details. Beispiele: K 2357,1 e statt JY vor; K 2358,2 haben statt JY liden; 2359,1 K nam statt JY furt (mit Umbildung des folgenden Verses); K 2360,1 edeliu statt liebiu; K 2360,2 genaedeclicher statt genaedelich(en); K 2361,1 vil edeles chuniges wip gegen JY vil edel kunges wip. Kofler 2013, S. 30. Ein direktes Abstammungsverhältnis liege nur bei h, der „missratene(n) Tochter von I [J]“ vor.
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„direkte Abschrift von I [= J] sein kann“, denn die Lesart von Y ist manchmal besser, aber das Fragment enthält auch Fehler.¹²⁴ Die zu *J gehörigen Handschriften weichen in vielen Merkmalen voneinander ab (Bayernteil, Kontamination mit Zusatzstrophen). Die Fragmente zeigen auch, wie der *JText in Details variierend weiterentwickelt wird. Insgesamt bestätigt die Gruppe also ein weiteres Mal das fortdauernde, wenn auch abnehmende Nebeneinander von gleichwertigen Varianten. Die Fragmente der Redaktion *J und Hs. J weisen insgesamt aber eine Familienähnlichkeit auf, die sich deutlich von der Restüberlieferung absetzt.
Der Sonderfall Fragment l Rätsel gibt das Fragment l (Basel, Universitätsbibliothek, Mscr. N I 1 99a) auf. Es stammt aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. Die Handschrift l ist in abgesetzten Langversen geschrieben. Zusätzlich sind Strophen durch rote Lombarden gekennzeichnet. Wie J und anders als die Fragmente K und Q enthält l Aventiure-Überschriften. Gegenüber der Hs. J hat das Fragment l – wie Fr. K – Passagen aus dem ersten Teil der Fahrt der Burgonden zu Etzels Fest, die in Hs. J fehlen.Wie Fr. K zeigt also auch l, dass diese Lücke nicht zwingend zu *J gehört. Leider enthält l andere Strophen aus diesem Abschnitt als Fr. K. Doch sind es in l Strophen, die das Ende der Textlücke in J übergreifen. Sie entsprechen den übrigen not-Handschriften, übernehmen also nicht den glättenden Übergang, der in Hs. J die Textlücke cachiert, indem 1625,1 gleich an 1512,4 anschließt.¹²⁵ Es ist von der Textgestalt her nicht ohne Weiteres evident, dass die Forschung das Fr. l der *J-Redaktion zugerechnet hat¹²⁶ und dass in Koflers Ausgabe Hs. J als Referenzhandschrift von l parallel abgedruckt ist. Tatsächlich hat zwar l mit J viele Lesarten gemeinsam, die sie von A/B absetzen.¹²⁷ Aber l steht auch häufig gegen J. An diesen Stellen hat das Fragment manchmal eine eigene Lesart, während Hs. J mit A/B übereinstimmt.¹²⁸
Kofler 2013, S. 28 – 29; dagegen die Fehler in Y: Y 2354,4 er statt ein; Y 2371,4 ez fehlt; Y 2373,2 er fehlt. Vgl. S. 234– 237. Braune 1900, S. 148; Heinzle 2000, S. 215 äußert Zweifel daran. Jl 1404,4 hat bat er statt hiez; 1411,2 die Mahnung an die Boten, in Worms ihren Auftrag tougenlichen (auch Ca) statt gutlichen (ABDb) oder tugentlichen (d) auszuführen; 1413,1 der kunic statt des in A und B sperrigen Rüdiger; 1414,3 mit im statt mir; 1439,3 gesinde statt gedigene; 1634,1 langen wegen statt verren bzw. herten; 1689,2 Ruͦ diger der kunde gegen der chuͦ ne. Ich gebe einige Beispiele von den ersten Blättern des Fragments, an denen es gegen ABJ steht: l 1353,2 allez gegen alumbe; l 1156,4 schone gegen vil witen; l 1358,2 in die gegen zuͦ der; l 1362,3 so mangen kuͦ nen gegen wæn so mangen; l 1364,4 herlichú gegen iteniuwe; l 1398,4 mit rehten triuwen gegen inneclichen; l 1399,4 froͤ de gegen friund; l 1404,1 geviele gegen gevalle; l 1405 zierlich gegen herlich; l 1407,4 selten mere gegen harte wenig usw.
Der Sonderfall Fragment l
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An anderen Stellen folgt l der Lesart von AB, während die Lesart von J isoliert ist.¹²⁹ Vor allem enthält das Fragment nicht alle Lesarten von Hs. J, die über den Ad-libitumBereich hinaus Hinweise auf Eigenständigkeit einer Redaktion *J geben. Das liegt überwiegend daran, dass der entsprechende Passus in l fehlt. An einer Stelle aber, an der der Vergleich mit der in J abweichenden Textgestalt möglich wäre, geht l mit der Restüberlieferung. In J 1457,2 wird die Lesart der übrigen not-Handschriften korrigiert; Gunther macht gegen Hagens Warnungen vor der Fahrt zu Etzel geltend, dass Kriemhild ihm gegenüber (uf mich) auf Rache verzichtet hat; die Restüberlieferung hat unpräzise, Kriemhild habe ihren Rachewunsch uf uns, d. h. alle Burgonden aufgegeben. An dieser Stelle folgt l 1457,2 nicht J, sondern der Restüberlieferung (uf uns). Fr. l enthält im Gegensatz zu Hs. J die Strophe 1366, die die milte bei Kriemhilds Hochzeit mit Etzel beleuchtet; sie findet sich auch in der restlichen Überlieferung, mit den üblichen Varianten. Die Strophe dürfte in Hs. J versehentlich übergangen worden sein. Fr. l ist auch sonst recht selbständig sowohl gegenüber Hs. J wie gegenüber der restlichen Überlieferung. Im üblichen Umfang enthält l Fehler¹³⁰ und sonstige Sonderlesarten gegen den Rest der Überlieferung.¹³¹ Da das Fragment nicht den Bereich abdeckt, in dem J Zusatzstrophen enthält, lässt sich nicht einmal sagen, dass l Teil einer Mischfassung war. Die Zugehörigkeit zur Redaktion *J ist also zweifelhaft. Nimmt man sie an, würde l bestätigen, dass die Redaktion *J an den Rändern offen ist und die Textkonstitution aus einem breiten Reservoir von Formulierungsalternativen schöpfen konnte. Die handschriftliche Tradition, auf der l basiert, weicht ausweislich der Lesarten erheblich vom Kernbestand der *J-Handschriften ab. Eine Auffälligkeit von l ist eine Störung der Vers- und Strophenordnung und der Versuch, sie mittels massiver Eingriffe zu beseitigen.¹³² Das weist, ungeachtet der Varianz, zu der der Schreiber sich berechtigt sah, noch im 14. Jahrhundert auf gewisses Formgefühl für die ‚richtige‘ metrisch-strophische Gestalt des Nibelungenliedes. Der
Die Lesart von J wird weder von l noch von AB geteilt: J 1353,4 geleitet statt gewiset (ABl); J 1354,1 nider fehlt; J 1356,4 si gaben gegen man gab; J 1358,2 fuͦ ren gegen ritten J 1361,1 Pern fehlt; J 1361,2 der arbeit mit ruͦ we statt der ruͦ we mit aͤ rbeit; J 1363,2 machet sich cunt statt kunt sich; J 1363,1 golde statt gabe; J 1363,4 Wortstellung; J 1365,2 helde statt rekken; J 1401,3 in ditze lant statt in miniu lant; J 1405,3 botschaft werben statt botten werden; J 1406,4 bitten statt sprechen. Etwa l 1355,1 taͤ t gegen J reit (= redete); 1356,3 Hunen statt hutten; in diesen Fällen dürfte es sich um Verlesungen handeln. 1497,1 antworten Wärbel und Swemmel auf Kriemhilds Frage nach der Reaktion Hagens auf die Einladung fälschlich mit dem, was der kunic gesagt hat, dem also Hagens Worte zugeschrieben werden. Nur l 1417,4 macht explizit, dass Kriemhilds Instruktion für die Boten bewusst lückenhaft war: wan in frouw Criemhilt diu rehte maͤ re nit gesait ; l 1500,4 herze gegen wille; 1626,2 geschlagen gegen gespannen usw.; dazu die Minimalabweichungen durch Füllwörter und kleinere Umformulierungen wie 1491,2; 1494,2; 1638,4; 1701,4; vgl. Reichert 2012b, S. 539; „l hat sehr viele gemeinsame Abweichungen von *B mit J, aber auch einige Lesarten von *B, wo J ändert, vor allem sehr viele Sonderlesarten, die l mit keiner anderen Hs. teilt“. Genauer Nachweis der metrischen Besserungsversuche S. 320.
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Text mochte noch so verwildert sein, man wusste, wie er in manchen Hinsichten auszusehen hatte.
Fragmente der Redaktion *d Die späte Mischhandschrift d ist Teil des sog. Ambraser Heldenbuchs (Wien, ÖNB, Cod. Ser. nova 2663; 16. Jh.). Sie ist dreispaltig geschrieben.Wie *J weist sie Zusatzstrophen auf, die mit der Bearbeitung *C verwandt sind oder aus dieser stammen. Der Hs. d sind die Fragmente O und H zugeordnet, die auch einige dieser Zusatzstrophen enthalten. Sie sind wesentlich älter als die Handschrift d. Die Textgestalt von *d weicht erheblich von *J ab; sie ist *B eng verwandt. Für die Varianz der Nibelungenüberlieferung ist nicht die vielfach verderbte Handschrift d, sondern sind die Fragmente aufschlussreich.
Fragment O Fragment O (Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Berol. Ms. Germ. quart. 792) aus dem letzten Drittel/Viertel des 13. Jahrhunderts ist als dreispaltiger Fließtext geschrieben. Strophen und Verse sind nicht abgesetzt. Der Strophenbeginn ist durch abwechselnd blaue und rote Lombarden ausgezeichnet, der Versbeginn teils durch Interpunktion. Der Annahme, dass d direkt von O abstammt, ist widersprochen worden.¹³³ O enthält gegenüber d kaum Ad-libitum-Varianten, wohl aber zahlreiche Abweichungen der Graphie und Morphologie. Insofern ist die Verwandtschaft zwischen d und O sehr eng. Das Fragment bezeugt, dass die Aufnahme von Zusatzstrophen in einen not-Text schon im 13. Jahrhundert erfolgte. Die Zusatzstrophe O 1109 A, die von Kriemhilds Zögern erzählt, sich mit Gunther zu versöhnen, und O 1109B, die die Antwort der Brüder darauf und Kriemhilds widerwillige Zustimmung enthält, stimmt, abgesehen von der Graphie und der Morphologie, wörtlich mit den entsprechenden Strophen in d überein, die sich von denjenigen in der Bearbeitung *C, aber auch der ebenfalls diese Strophen enthaltenden Hs. J unterscheiden. Str. d 1109 A,4 scheint verderbt, und dieser Fehler geht auf die Textgestalt von O zurück: Ihren Vorbehalt gegen die Versöhnung formuliert Kriemhild in O 1109 A,4 (~ d) min munt in hit (d hiet) der suͦ ne im wiert daz herze nimmer holt anstelle des leicht verständlichen giht der suͦ n in J 1109,4 A und ähnlich in C 1124,4. Die Textgestalt der Zusatzstrophen belegt die enge Verwandtschaft zwischen O und d, die eine Fehlergemeinschaft einschließt. Fr. O zeigt, dass die Entstehung der Mischfassung der Weiterentwicklung der Textgestalt vorausgeht. Schmidt 1913 widerlegt die Ansicht Braunes, O sei die „direkte Quelle von d, mithin ein Stück des berühmten ‚Heldenbuches an der Etsch‘“ (S. 88). Er vermutet demgegenüber eine gemeinsame Vorlage *Od, die jedoch nicht die direkte Vorlage von d gewesen sein kann (S. 89 – 92). Der Vorlage weist er ein sehr hohes Alter zu (S. 97). Mit Schmidt, unterstützt von Pritz (2009, S. 47), scheint die Kontroverse entschieden (über sie Kofler 2013, S. 22– 23); offen jedoch Heinzle 2003a, S. 202.
Fragmente der Redaktion *d
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Ansonsten teilt O mit d nicht alle Fehler,¹³⁴ stimmt aber weithin mit d überein, abgesehen von den üblichen kleinen Varianten. Hs. d folgt den Formulierungen von A und B, manchmal nur von Hs. A oder B. Zusammen mit den Frr. O und H bezeugt d einen mit A und B eng verwandten not-Text, der nur um die Zusatzstrophen erweitert ist. Dagegen sind die Abweichungen von dO von der anderen Mischfassung J, ebenfalls einem not-Text, größer, nicht nur bei Ad-libitum-Varianten wie Umstellungen, Füllwörter, Wortbildung oder quasi synonymer Lexik und dgl. in d,¹³⁵ sondern auch in den vielen selbständigen Formulierungen von *J. Auch von *D und der Textgestalt der dieser zugeordneten Fragmente unterscheidet sich *d. Die weitgehend mit Hs. J übereinstimmende Aufnahme von Zusatzstrophen erfolgte also in not-Handschriften mit unterschiedlicher Textgestalt.
Fragment H Das Bruchstück H,¹³⁶ das im Besitz von Docen war, ist seit langem verschollen. Es existiert nur in einer Abschrift von der Hagens (Berlin Staatsbibliothek, Ms. germ. qu. 825a). Docens Datierung (1. Hälfte 13. Jahrhundert) wird in der neueren Forschung in ‚14. Jahrhundert‘ korrigiert.¹³⁷ In der Erstpublikation ergänzte von der Hagen die Lücken des Fragments aus J, was wegen der Differenzen von *d und *J ein falsches Bild ergibt. Jetzt liegt das Fragment – unter Bezeichnung der Lücken – in Koflers Ausgabe der Fragmente vor. H ist zweispaltig als Fließtext geschrieben, mit roter Lombarde am Strophenbeginn und Punkt am Versende. Die Zugehörigkeit zur Mischfassung wird durch die Aufnahme von vier Zusatzstrophen 1568 A und 1580 A-C bewiesen. Diese Strophen fehlen in der anderen Mischhandschrift J, weil dort der erste Teil der Fahrt der Burgonden zu Etzel insgesamt fehlt. Bemerkenswert ist, dass sie in H an derselben, von Hs. C abweichenden Stelle stehen wie in Hs. d und, abgesehen von einem Fehler in d 1580 A,4,¹³⁸ in der gleichen, ebenfalls von Hs. C abweichenden Formulierung. Das beweist, dass H zur gleichen Handschriftengruppe gehört wie d. Einige Fehler von d waren noch nicht aufgetreten.¹³⁹ Der Wortlaut von H und d stimmt weitestgehend mit dem von A und/oder B überein. Es gibt wenige mit d gemeinsame Sonderlesarten bzw. Fehler, die sich von AB unterscheiden.¹⁴⁰ Umgekehrt hat
So ist, soweit an dem Textschnipsel erkennbar, O 1292,4 der Fluss Inn (daz In) nicht wie in d zu darynne verballhornt, einer der häufigen Lesefehler in d. Etwa J 1110,3; 1112,4; 1113,1; 1115,2; 1115,3; 1192,2; 1193,4; 1195,2; 1195,4. Klein 2003, S. 219 – 220. Kofler hypothetisch 2020, S. XIV. Hs. d 1580 A,4 schreibt ertrechtet statt wie in H richtig ertrenchet. Dazu gehört auch, dass die Str. 1311, die in d fehlt, in H vorhanden ist. So hat dH 1291,1– 2 richiu chleit |von ge]nagelt richen phellen (auch C) statt ABDbg gemalet; über Passau heißt es dH 1292,4, dass dort der Inn mit fleize (ebenso d 1292,4) statt fluzze in die Donau mündet –
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6 Die Fragmente und ihre ‚Referenzhandschriften‘
dH 1293,2 einen mutmaßlichen Fehler oder eine Variante von Hs. A und B nicht, sondern enthält die von CDJah bestätigte Lesart, dass bei Kriemhilds Ankunft die herberge(n) in der Umgebung Passaus sich entleeren und nicht wie in ABbg die berge. ¹⁴¹ Auch sonst teilt H einige Fehler nicht mit d;¹⁴² defekte Halbverse sind ergänzt (H 1290,3; 1585,2). Die meisten Stellen, an denen dH gegen die älteren Handschriften steht, sind aber im Adlibitum-Bereich: Kontraktionen, Umstellungen einzelner Satzglieder, Varianten der Verb-, Substantiv-, Adjektiv- und Pronominalflexion, des Wortstamms, der Lexik,Varianz der Füllwörter, kleine syntaktische Varianten: mithin alle Typen von Varianten ohne Bedeutungsdifferenz. H repräsentiert offenbar ein Stadium, in dem die Überlieferung, in deren Tradition d steht, noch weniger verderbt war. Insofern bestätigt H den Befund von Fr. O. Die Fragmente enthalten einen in seiner Gestalt noch den Handschriften A und B relativ nahestehenden not-Text. H gehörte allerdings einem anderen Überlieferungsstrang an als d, wie das Verhältnis zu A und B zeigt.¹⁴³ Jenseits der üblichen Varianz sind es allein die Zusatzstrophen, die d und die Frr. H und O grundsätzlich von A und B absetzen. Die Aufnahme von Zusatzstrophen scheint von der sonstigen Textentwicklung entkoppelt.¹⁴⁴ Die Varianz der Textoberfläche und die Ergänzung der Architektur des Epos scheinen zwei grundsätzlich getrennte Akte gewesen zu sein und unterschiedliche Gründe zu haben. Im Verhältnis von d zu H und O gibt es verhältnismäßig wenige Ad-libitum-Varianten. Die Überlieferung ist – abgesehen von den zahlreichen Fehllektüren in d – relativ stabil. Für den Schreiber Hans Ried im 16. Jahrhundert gab es offenbar nicht mehr die selbstverständliche Lizenz zu variieren.
Fragment i, c Fr. i (Krakow, Biblioteca Jagiellońskaja, Berol. Ms. germ. quart. 669) ist ein Einzelblatt, geschrieben in abgesetzten Langversen (Str. 222– 237,1). Kofler ordnet es ebenfalls der
wie in der übrigen Überlieferung außer in C. In ersten Fall ist eher an einen Hör-, im zweiten an einen Abschreibfehler zu denken. Zur Diskussion dieser Lesart S. 158 und Heinzle 2013a, S. 1320 – 1321. Die d 1290,1 gegen H Hie; H 1292,4 ist der Fluss Inn (daz In) nicht wie d 1292,4 im Adverb darynne versteckt. Diesen Fehler hatte auch das Fragment O nicht, soweit das Bruchstück erkennen lässt. H 1301,3 hatte vermutlich auch nicht das falsche sedel für (naht)selde (d 1301,3) sowie H 1302,2 wegen statt wagen (d 1302,2); H 1304,2 ze berge gan gegen zeprechen (d 1304,2), d hat noch eine ganze Reihe weiterer Fehler (z. B. Auslassungen von Wörtern 1303,4; 1308,4; 1315,2; 1326,4 usw.). So folgt manchmal H dem B-Text, d dem A-Text. In H 1290,1 ist Kriemhild es, die ihre mage zum Abschied küsst (wie in B), in d 1290,1 sind es die magen, die sie küssen (wie A). Reichert 2012, S. 445.
Fragmente der Redaktion *d
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Fassung d zu, versieht die Zuordnung aber mit einem Fragezeichen.¹⁴⁵ Das Fragezeichen ist angebracht, denn Hs. d ist in dem Bereich, den i abdeckt, recht fehlerhaft, und es ist nicht immer feststellbar, was für eine Variante dem Fehler von d zugrunde lag; i teilt gleich vier durch Klangverwandtschaft oder Schriftähnlichkeit bedingte Fehler von d nicht, und zwar drei in i 222 (222,1; 222,2 u. 222,4) und einen in 224,1.¹⁴⁶ Doch auch i hat Fehler.¹⁴⁷ An einer Anzahl von Stellen, an denen i von d abweicht, stimmt das Fragment mit B überein,¹⁴⁸ an anderen steht d dem Wortlaut in B näher,¹⁴⁹ doch bewegen die Abweichungen sich im Ad-libitum-Bereich.¹⁵⁰ Immerhin ist Fr. i der Hs. d nicht so nah wie die Frr. H und O, sondern repräsentiert einen Text, der durch semantisch unbedeutende Varianten von d wie von A und B abweicht. Für eine Redaktion *d liefert i keine Argumente. Es ist möglich, dass i einen Mischtext enthielt; sicher ist es nicht. Die Zuordnung von i lässt sich daher nicht endgültig entscheiden. Das gleiche gilt für die Bruchstücke, die Wolfgang Lazius in seine Geschichte der Völkerwanderung aufgenommen hat. Es wird im Allgemeinen (wegen der Nähe zum Herrscherhaus der Habsburger?) der Redaktion d zugewiesen; doch ist keine besondere Nähe zu d erkennbar. Hs. d stimmt hier und auch sonst weitestgehend mit B und/oder A überein, und so könnte man das Fragment mit seinen Ad-libitum-Varianten ebenso gut diesen Redaktionen zuordnen.
Die zur Bearbeitung *C gehörigen Fragmente Lange Zeit galt die Referenzhandschrift für *C, die Hs. C (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 63), als älter als die St. Galler Handschrift mit B, doch nach neueren Forschungen lässt „sich keine zeitliche Priorität für eine der beiden Handschriften“ erkennen.¹⁵¹ Beide stammen aus dem 2. Viertel des 13. Jahrhunderts. Eines der Fragmente (Z) wurde zunächst an den Anfang des Jahrhunderts datiert,¹⁵² doch ist es ebenfalls „nicht früher als im 2. Viertel des 13. Jahrhunderts anzusetzen“,¹⁵³
So – im Gegensatz zum Vorwort in seinen älteren Ausgaben von J, D und b (Kofler 2011, S. 9; Kofler 2012, S. 9) – in Kofler 2020, S. 183. „Die Zuordnung von c und i zur Redaktion *d ist eher unsicher, zumal nur sechs […] bzw. 16 Strophen […] mit Hs. d vergleichbar sind“ (Kofler 2014, S. 359); vgl.Voetz 2003, S. 286 – 287. Fr. i 222,1 gelungen gegen d 222,1 gewunnen; i 222,3 torst gegen d troastes; i 222,4 dar under gegen d das wunder und herzen […] traut statt d herzen traut; i 224,1 schiet statt d schier. So teilt d nicht den Fehler i 223,1 (Auslassung der Richtungsangabe) und i 234,2 Ze jungst und zu dem ernsten statt ersten (d et rell.). Fr. i 227,3 hat eine Hauptsatzkonstruktion (Do worhte…), während d 227,3 wie die übrige Überlieferung einen Nebensatz hat (was da worcht); i 232,4 zegagen statt ze sagen; 235,2 Auslassung von lande. Die ganze Str. 222 ist in d, nicht aber in i verderbt; vgl. 225,2; 229,3; 231,1; 232,3. So die Wortstellung 230,1 und 234,1. i 225,3; 228,4; 229,3; 230,4 usw. Schneider 1987, S. 142. Menhardt 1927, S. 216. Schneider 1987, S. 144.
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6 Die Fragmente und ihre ‚Referenzhandschriften‘
sodass die Frage der Priorität offenbleiben muss. Jedenfalls ist die Bearbeitung *C in Handschriften überliefert, die ähnlich alt wie die ältesten not-Handschriften sind. *C basiert auf dem not-Text, stimmt über weite Passagen mit ihm überein, doch formuliert *C ihn in anderen neu, erweitert ihn erheblich, kürzt ihn auch gelegentlich und zeichnet ihm eine neue Konzeption ein. Die Fragmente, die von *C überliefert sind, weisen vergleichbare Formen der Varianz auf wie die Fragmente des not-Textes, wenn auch mit etwas geringerer Häufigkeit. Das könnte mit der deutlicheren Buchmäßigkeit des *CTextes zusammenhängen.¹⁵⁴ Es lässt sich aber nicht sagen, dass sie „so gut wie wörtlich zu C bzw. a“ stimmen „und zwar durchgängig, nicht bloß in einzelnen Lesarten“.¹⁵⁵ Sie weisen z.T. gegen C Übereinstimmungen mit der not-Fassung auf. Die *C-Handschriften haben durchaus teil an der Varianz, die bereits das Verhältnis zwischen den frühen Handschriften A und B kennzeichnet; sie bilden z.T. deren Varianz ab, z.T. bringen sie neue Varianten des gleichen Typs. Hennigs Textvergleich dreier Texte der liet-Fassung stellt fest, „daß jeder der Textzeugen für sich allein Lesarten bieten kann, die ihre Parallele in der Überlieferung außerhalb der liet-Gruppe [d. h. im not-Text] haben“.¹⁵⁶ Alle Varianten von *C, die über die Schreibung hinausgehen, wurden von Hennig präzis aufgezeichnet und für die traditionelle Textkritik ausgewertet.¹⁵⁷ Ich kann mich deshalb auf diejenigen beschränken, die für die anfängliche Varianz auch der *C-Bearbeitung sprechen.
Fragment S1 Fragment S1 stammt, wie bemerkt, vielleicht aus dem ersten Teil einer Handschrift des Mischtypus *Db.¹⁵⁸ Es steht der Textgestalt des ersten, *C folgenden Teils von D und b nahe, und enthält wie *D eine Variante des *C-Textes. Allerdings sind es nur sehr kurze Schnipsel, in denen diese besondere Gestalt von *C überliefert ist.¹⁵⁹ Die Verwandtschaft mit *D ist sehr groß. Die Bruchstücke weichen wie gewöhnlich in Varianten der Schreibung, Morphologie und unbedeutenden Ad-libitum-Varianten ab, jedoch fast in allen signifikanteren Varianten steht S1 mit D gegen C.¹⁶⁰ Die Varianten gegenüber C
Heinzle 2000, S. 209. Heinzle 2000, S. 209. Hennig 1972, S. 130. Hennig 1972. S.o. S. 175. Abweichungen ergeben sich u. a. durch die Diphthongierung in D, einen anderen Schreibusus sowie in Kleinigkeiten S1 *5,1 erborn statt C geborn; S1 *5,3 ze statt C zu; S1*246,3 guͦ tliche statt C guetlichen; S1 *246,4 weicht die Wortstellung von C ab. – Die Kennzeichnung der C-Strophen in den Mischhandschriften DbS1 mit einem * folgt Kofler. DS1 *220,4 führen Gernot und Hagen gevangen wol funf hundert man statt C funf hundert wetlicher man (~ A; werlicher B); DS1 *229,4 ist Siegfried der schonen Sigelinden kint statt C 229,4 des kunic Sigemundes (wie AB); S1 *238,3 heißt es sin bruder Liudeger (wie AB) statt C der chune L. Aber S1 *246,4 stimmt
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stimmen oft mit den not-Texten A und/oder B überein;¹⁶¹ aber in einem Fall ist es auch umgekehrt.¹⁶² Diese Varianten von *C entfernen sich also von den not-Handschriften unterschiedlich weit. S1 bezeugt eine Textgestalt von *C, die an einigen Stellen noch etwas näher beim not-Text ist. Schon auf diesem kleinen Stück stimmen also die Handschriften der *C-Redaktion nicht überein, sondern belegen einen in mehrfacher Hinsicht varianten Text. Angesichts der Kürze des Fragments ist es kaum möglich, allgemeinere Aussagen zu machen. Jedenfalls bezeugt S1 eine andere *C-Handschrift mit einer Textgestalt, die vermutlich auch den Hss. D und b aus dem 14. bzw. 15. Jahrhundert zugrunde lag. S1 weist aber auch Varianten auf, die zu C gegen D stimmen.
Fragment Z Fragment Z (Klagenfurt UB, PE 46; zweites bis drittes Viertel des 13. Jahrhunderts) ist eine der ältesten Nibelungenhandschrift. Es ist als Fließtext geschrieben. Die Lesbarkeit ist stark eingeschränkt.¹⁶³ Wenn auch Menhardts Vermutung, Z sei älter als C,¹⁶⁴ nach Karin Schneider nicht zutrifft, sondern die beiden Handschriften in demselben Zeitraum entstanden sind,¹⁶⁵ so gehört Z zweifellos zur frühesten Überlieferung des Nibelungenliedes, die, auch wenn sie später als C liegt, den Umgang der frühen Überlieferung mit dem Text dokumentiert. Bereits für diese Rezeptionsstufe sind die typischen Adlibitum-Varianten belegt. Die Varianten, besonders in der Graphie und Morphologie, überwiegen, aber es gibt auch größere Abweichungen im Tempus und Numerus, Personal- und Demonstrativpronomen oder in Füllwörtern, die nur schwer eine Entscheidung zwischen C, a und dem Fragment Z zulassen.¹⁶⁶ Z enthält nicht einige Lücken von C¹⁶⁷ und umgekehrt C nicht von Z.¹⁶⁸ Die selbstverständlich vorausgesetzte Priorität von C gegenüber Z ist zu relativieren.¹⁶⁹ Nur in wenigen Fällen stimmen die Varianten von Z ebenfalls gegen D zu C: in sturme heten genomen (~ AB) gegen D heten in den strite genomen (Austausch des Lexems) und b in sturmen heten genomen (Austausch des Numerus). Vgl. die vorige Anm. In C 220,4 fehlt anders als in DS1, dass man 500 Mann gevangen nach Burgund bringt (~ A und B); in *238,3 haben DS1 sin bruder Liudeger (~ AB) statt C 238,3 der chune L.; DS1 *229,3 (was man sonst um der Ehren willen kämpfte) daz was gar ein wint (~ A) gegen ist in C (~ B). DS1 *229,4 heißt Siegfried der schonen Siglinden kint statt wie in C 229,4 (und AB) des kunic Sigemundes kint. Der Zustand des Fragments machte eine eigene Transkription unmöglich. Die folgenden Beobachtungen stützen sich auf den Abdruck bei Kofler, der wiederum von Menhardts (1927) Wiedergabe abhängig ist. Wegen dieser Abhängigkeit wurden nur Beispiele ausgewählt, die auf relativ sicheren Lesungen beruhen. Menhardt 1927, S. 218. Schneider 1987, S. 142– 144. Diesen Einwand hatte ich in Müller 2020 nicht beachtet. Hennig 1972, S. 131; Müller 2020, S. 367– 368. Z 2316,2 degene (fehlt C); C 2384,3 die Verlesung sinne (statt sinem, sime o. ä.) nicht in Z. C 2349,3 in (fehlt Z); C 2378,1 er (fehlt Z); C 2382,4 hus (fehlt Z); C 2392,2 gerten (fehlt Z). Müller 2020, S. 367– 368.
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mit Hs. a überein.¹⁷⁰ Wichtiger als die Entscheidung der Priorität ist die Tatsache der Varianz. Was vom Fragment noch lesbar ist, bestätigt das Bild, dass die älteste Überlieferung des Nibelungenliedes variant ist.
Fragment E Das Fragment E¹⁷¹ (Berlin, Staatsbibliothek, Fragm. 44) aus dem 2. Drittel des 13. Jahrhunderts¹⁷² bringt auf einem Doppelblatt 48 Strophen C 252– 299.¹⁷³ Es ist als Fließtext wie C geschrieben. Die Hand des Schreibers wird mit der eines Schreibers der Hs. B im Codex St. Gallen 857 identifiziert,¹⁷⁴ weshalb Heinzle vermutet, dass beide Fassungen in enger Nachbarschaft entstanden sind und der an B beteiligte Schreiber auch an der Fertigung eines *C-Textes beteiligt war. Er schließt daraus, dass beide Fassungen in einem Skriptorium vorhanden waren. Jedenfalls bedeutet das, dass B und C zeitlich nicht allzu weit auseinanderliegen. E stimmt bis in den Wortlaut hinein weitgehend mit Hs. C überein. Das unterscheidet dieses Fragment deutlich von Z, das selbständiger formuliert und über Graphie und Morphologie hinaus eigene Lesarten hat, aber auch von S1. Die Übereinstimmung betrifft auch die Einrichtung. Allerdings weichen die Orthographie und die Morphologie durchgängig von C ab. E teilt vier Fehler nicht mit C und könnte insofern als besserer Repräsentant von *C gelten.¹⁷⁵ Ob ein *C-Text korrigiert wurde oder E einen Überlieferungsstand vor Auftreten des Fehlers repräsentiert, ist nicht feststellbar. Einzelne Varianten bestätigen den Vorrang von E vor Hs. C, andere sind wenigstens gleichwertig.¹⁷⁶ Nur sehr sparsam – aber immerhin doch – finden sich Ab-libitum-Varianten. Man müsste sich vorstellen, dass die Hs. E vollständig erhalten wäre und C nur als Fragment die Strophen abdeckte, die sich jetzt im Fragment E finden. Dann wäre die Entscheidung für E klar; jetzt ist sie durch einen Zufall der Überlieferung blockiert. Beide Handschriften enthalten eine Version des *C-Textes, die sich von der in Db unterscheidet.¹⁷⁷
Z 2320,3 getan (~ A) statt began; Z 2322,2 friunden statt friunde; Z 2371,2 horet statt hortet; Z 2372,2 greulich statt gremlich; Z 2385,4 getar statt tarr. Hennig 1972, S. 124– 125; Klein 2003, S. 218. Eine genauere Charakteristik oben S. 70 – 71. Schneider 1987, S. 136 datiert die Handschrift ins zweite Viertel des 13. Jahrhunderts; Heinzle 2000, S. 299 hält die Datierung für „zu früh“. Die erste und letzte verstümmelt. Heinzle 2013b, S. 10; Heinzle 2022, S. 205. C 256,2 daz zuͦ lautet in E korrekt dar zuͦ ; man fehlt C 257,2; er fehlt C 261,1; man fehlt C 286,1. E hat korrekt der [mit Abbreviatur] Buregonden lant an Stelle von C 262,4 den Burgonden lant. Anstelle von C 265,4 vil der vremden mit korrektem Genitivus partitivus hat E, dass vil den vremden bereitet herlich gewant wurde. Die Dativkonstruktion ist, wie eine Parallelstelle in B zeigt, auch möglich (vgl. Müller 2020, S. 380); vil ist dann nicht mehr Bezugswort zum Genitivus partitivus, sondern verstärkt dann den Satz insgesamt. Diese beiden Varianten können jedoch auf Versehen beruhen (ein vergessener Nasalstrich, Verwechslung eines Nasalstrichs mit einer der Abbreviatur für er). Heinzle 2013b, S. 10.
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Doch E steht manchmal der übrigen Überlieferung oder einem Teil von ihr näher als C, ohne dass eine Entscheidung für eine Lesart möglich ist.¹⁷⁸ Im Ganzen scheint E eine ungewöhnlich sorgfältige Wiedergabe des Nibelungenliedes.
Fragment X Das Fragment X (Wien, ÖNB Cod. 14281) vermutlich vom Ende des 13. Jahrhunderts weicht nicht sehr von C ab. Es trägt daher relativ wenig zur Erkenntnis der *C-Bearbeitung bei, wohl aber zur Reproduktionspraxis. Das Fragment hat die Strophen mit roten und blauen Majuskeln abgesetzt, die Verse dagegen nicht, doch, soweit erkennbar, durch Interpunktion getrennt. X ist in Schreibung und Morphologie Hs. C sehr ähnlich, trotzdem gibt es auch hier minimale Abweichungen im Ad-libitum-Bereich. Es sind ausnahmslos sehr unauffällige Varianten.¹⁷⁹ „Eine Zuordnung zu C oder a ist ebenso wenig möglich wie der Erweis einer größeren Selbständigkeit des Fragments innerhalb der liet-Gruppe“.¹⁸⁰ X zeigt, dass bei genereller Sorgfalt weiterhin Lizenz zu Varianz bestand, eine genaue, buchstabengetreue Abschrift nicht angestrebt wurde.¹⁸¹ X folgt der Hs. C sehr genau. An allen sicher lesbaren Stellen, an denen die *C-Bearbeitung von A und/oder B abweicht, hat X den bearbeiteten Text, nicht nur Ad-libitumVarianten, sondern auch syntaktische Umformungen, ja sogar den Austausch des Reimworts.¹⁸² X hat also nicht wie einige andere *C-Fragmente gegen C manchmal Lesarten des not-Textes bewahrt. Zwar unterscheidet es sich von C in insignifikanten Details, gibt aber ansonsten die Besonderheiten des *C-Textes genau wieder.
Fragment F Das Fragment F (Trägerband Alba Iulia, Biblioteca Battyaneum, Cod. R III 70),¹⁸³ wohl aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts, enthielt auf einem Einzelblatt 22 Strophen (2009,4– 2030,2). Das Blatt ist verschollen. Erhalten sind zwei Fotografien bei Gustav Könneke (1901) sowie ein Leimabklatsch der Vorderseite im Trägerband. F hat abgesetzte Strophen; das Layout ist also von C unterschieden. Hennig 1972, S. 125. Etwa X 575,2 gevar statt var (farbig); 577,1 Gegurtet statt Begurtet; X 577,3 di moͤ re statt diu more; X 583,2 (in Koflers Lesung) in statt ir; X 595,4 Singular statt Plural (vor der [ku]niginne statt vor den chuniginnen); Auslassung von ze Wormez in der Überschrift der 10. Aventiure; X 586,1 si statt die; X 594,1 Kennzeichnung des Adverbs. Hennig 1972, S. 127. Nicht verstanden wurde in Fr. X offenbar die Kleiderbeschreibung uber roche ferrans und pfelle uz Arabin (C 582,3) und durch das gewöhnlichere vil chostlich siden von phelle uͦ z Arabyn ersetzt; zu der Stelle Heinzle 2013a, S. 1177– 1178; vgl. seine Übersetzung ebd., S. 185. So X 577,2; 578,1; 579,4; 580,1; 580,2; 588,2; 588,3; 589,3; 592,4; 593,2; 593,3; 593,4; 594,4; 587,3; 587,4; 598,1; 599,2. Klein 2003, S. 218 – 219.
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Das Fragment hat gegenüber C eine Reihe von Auslassungen einzelner Wörter.¹⁸⁴ Doch ist der in C verstümmelte Vers 2012,2 in F vollständig (waz nu die Huͤ nen ruͦ nen in disem gademe). F kann deshalb nicht direkt von C abstammen.¹⁸⁵ Unsicher ist Vers 2011,3 (Dancwart sagt, dass er die Treppe verteidigt). F 2013,3 (so) hiu (ich der stigen) basiert auf einer unsicheren Schreibung, die in a in hüt korrigiert ist. In C stand hie, aber wurde vom Schreiber gestrichen, dann aber nicht ersetzt. Einmal ist fälschlich ein Name ausgetauscht: F 2023,4 lobt in einer Giselher gewidmeten Strophe, was des chunich Gunthers hant vollbringt, statt mit C diu Giselheres hant (wie auch in den not-Handschriften).¹⁸⁶ Der Name Gunther ist eine der gewohnten Achtlosigkeiten; sein Kampf war schon C 2021 gerühmt worden; es folgte 2022 Gernot und 2023 der junge suͦ n froun Uten, dem – typisches Achtergewicht – auch noch die folgende Str. 2024 gehört. Die häufig anzutreffende Lizenz, Namen auszutauschen, zerstört hier die überlegte Anordnung des Textes. Insgesamt macht F den Eindruck einer nicht sonderlich sorgfältigen Abschrift, deren Lesarten teils grammatische Härten aufweisen, doch bewegen sich, von den manifesten Fehlern abgesehen, die Varianten im angegebenen Spektrum. Zahlreich sind die üblichen Ad-libitum-Varianten gegenüber C: Schreibung und morphologische Variante sowie Umstellung von Satzgliedern, Füllwörter, Austausch von Präpositionen, Austausch sinnverwandter Wörter; Austausch von Singular und Plural, Ersetzen des Artikels durch ein Possessivpronomen, Änderung des Kasus und dgl.¹⁸⁷ Wenn „jeder der drei Textzeugen innerhalb der liet-Fassung die für die Fassung *C wahrscheinliche Lesung bieten kann“,¹⁸⁸ dann erklärt sich das aus der Lizenz zur Ad-libitum-Varianz. F bringt durchgängig den von den not-Handschriften abweichenden Text der Bearbeitung *C. Doch steht F in Details der Formulierung manchmal näher bei A und/oder B als Hs. C.¹⁸⁹ Einmal entspricht die Abweichung einer Varianz zwischen A und B.¹⁹⁰ Einmal geht C mit B zusammen, während F Hs. A folgt.¹⁹¹
Neben fehlenden Füllwörtern: F 2010,2 einen; 2021,2 wnden; 2027,3 von [swerten uf ] helme; umgekehrt dir fehlt C 2016,4; Volker wird F 2029,1 korrekt als spilman bezeichnet statt man. Hennig 1972, S. 127. A 1907,4 kuͤ nen Gyselhers hant (~ BDJbh); vielleicht metrische Rücksichten, denn in C ist der Vers unterfüllt; a 2023,4 ergänzt mit streit die Geislers hant. Ich greife heraus: F 2010,3; 2012,4; 2014,2; 2014,3; 2015,1; 2015,3; 2016,2; 2019,3; 2022,2; 2022,4; 2026,1; 2026,2; 2029,4. Hennig 1972, S. 130. Bspw. F 2013,4; 2015,3; 2019,1; 2026,1; 2029,2; F 2019,3 hat wie A und B der chune spilman gegen C das klangähnlich der kunige spilman. In CF 2016,3 schlägt Hagen Etzels Spielmann die Hand uf der videlen ab wie in B 1960,3, dagegen in A 1900,3 uf der gigen. Gernot bereitet Etzels Leuten grozlichen ser (C 2022,4; ~ B 1966,4) gegen F 2022,4 grwlichiu ser [so Kofler, mir kaum lesbar; vor dem Wort eine unleserliche Ausbesserung durch den Schreiber] u. A 1906,4 gremlichen ser. Das Beispiel ist typisch für Ad-libitum-Varianz.
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Wieder zeigt sich also, dass manche Abweichungen der liet-Bearbeitung vom notText in einigen *C-Handschriften nicht erfolgt sind.¹⁹² F bestätigt also wie S1, dass auch der *C-Text, vor allem bei Eingriffen in den not-Text, variant ist. Das könnte darauf schließen lassen, dass die Bearbeitung des not-Textes schrittweise erfolgte oder auch dass die Bearbeitung noch offen war für Rückgriffe auf das kollektiv verfügbare Idiom. C ist jedenfalls nicht der allein maßgebliche Repräsentant der *C-Bearbeitung.
Fragment R Fragment R¹⁹³ (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 22066, um 1300) der *CBearbeitung ist in abgesetzten Strophen geschrieben. Der Text des teils beschädigten Doppelblatts¹⁹⁴ fällt z.T. in die Lücke von C, die man mit Hilfe der Hs. a ausfüllen muss. R 1499 – 1503 kann daher nur mit Hs. a verglichen werden. In den übrigen Passagen geht R, meist, aber nicht immer, mit a¹⁹⁵ gegen C zusammen. Einen Fehler a 1502,4 (die sinnlose Wiederholung des Reimworts bewaren) hat R 1502,4 nicht;¹⁹⁶ die Korrektur des Reimworts im Segenswunsch, Gott möge die zu den Hunnen aufbrechenden Burgonden wol gevarn lassen, dürfte die korrekte Lesart von *C sein. R enthält als einziges Fragment einige Zusatzstrophen der Bearbeitung *C, die Zusatzstrophen a 1501– 1503.¹⁹⁷ Es finden sich gegenüber C die üblichen Varianten, nicht nur im Bereich von Graphie und Morphologie, oft übereinstimmend mit a: Umstellung von Satzgliedern, Ergänzung eines Epithetons, eines Titels oder eines Artikels, Fehlen eines Füllworts. Einmal ist ein Lexem ausgetauscht: R 1365,4 (~ a) riten gegen C furen. R hat einige kleinere Varianten gegenüber C mit a oder anderen Handschriften gemeinsam.¹⁹⁸ Auffälligere Abweichungen vom *CText in Hs. a gibt es so gut wie nicht. An drei Stellen ist im 4. Vers ein Takt ergänzt (R 1349,4; 1363,4 und 1500,4).
Das spricht wieder gegen die Nibelungenwerkstatt, in der unter zentraler Aufsicht, die Bearbeitung *C entstand. Hennig 1972, S. 125 – 126. Genauer Nachweis Kofler 2020, S. XX. So 1347,1; 1363,4; 1365,4; 1508,4; 1515,4. Vorausgesetzt dass die Stelle richtig wiedergegeben ist. Sie konnte schon Holtzmann wegen der Behandlung mit Chemikalien nicht mehr lesen, was ihm jedoch „früher“ mit Pfeiffer möglich gewesen war (1859, S. 53, Anm. 4). Nach der damals noch möglichen Lesung, die Kofler, als Konjektur gezeichnet, übernimmt, enthielt R den Fehler nicht. Sie berichten von der Weigerung Rumolts und Ortwins, zu Etzels Fest mitzuziehen, und vom Zorn Gunthers darüber. R 1347,1 bi den henden (~ a) gegen C 1347,1 bi henden; 1348,4 mit in (~ a gegen BC); 1349,4 Ergänzung des kuneg; 1363,4 Ergänzung richen; 1507,2 ouch fehlt; 1508,4 in des Guntheres lant (gegen daz); 1511,1 do ergänzt; 1515,4 die ergänzt.
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In R gibt es fast keine signifikanten Übereinstimmungen mit der not-Fassung gegen *C; R weicht an denselben Stellen vom not-Text ab wie *C.¹⁹⁹ Wohl hat R hat Anteil an der Handschriften verschiedenen Typs übergreifenden Varianz, wie das folgende Beispiel zeigt. Nie sind bessere Kleider in diz (daz) lant gebracht worden (B 1319,4; ~ A). Die gesamte sonstige Überlieferung, not- wie liet-Handschriften, ist genauer. C präzisiert in daz (des) Etzelen lant (C 1349,4; ~ JdhH), R ist noch genauer in des kuneg Ezlen lant; in b 1319,4 wird statt des Königs der Markgraf genannt: in des Rúdigers lant (~ g), in D 1319,4 das Land selbst: ze Bechelaren in daz lant. Alle diese Bezeichnungen sind richtig und bemühen sich, die Aussage schriftsprachlich zu vereindeutigen. Diese Genauigkeit aber ist nicht erst Werk der liet-Fassung. Auch die Sorglosigkeit in der Wiedergabe von Personalpronomina übergreift notund liet-Text. Eine von C abweichende Lesart R 1348,4 erklärt sich auf diese Weise: Wenn man von Bechelaren aufbricht, reiten dann mit ir (Kriemhild) oder mit in (Kriemhilds Gefolge) viele degen? Die Alternative verteilt sich auf BCdH bzw. ADJabhR. Dergleichen ist kaum durch Kontamination begründet, eher durch die gewöhnliche Nachlässigkeit bei der Wiedergabe von Pronomina, Artikeln und dgl.
Fragment U Fragment U (U1: Germanisches Nationalmuseum, Hs. 42567; U2: Brixen, Provinzbibliothek der Kapuziner, ohne Signatur, nur ‚Klage‘), in abgesetzten Langversen geschrieben, mit Auszeichnung des Strophenbeginns durch eine rote Lombarde, stammt aus der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts. Es bestätigt das bisherige Bild der *C-Fragmente: Korrektur einiger Fehler von C,²⁰⁰ ein eigener Fehler,²⁰¹ bedeutungsneutrale Varianten im Ad-libitum-Bereich. Diese in den *C-Fragmenten feststellbare Varianz setzt sich in U fort. Auffällig ist eine bedeutungsrelevante Lesart, die wieder die Grenze zwischen notund liet-Fassungen überschreitet und den lebendigen Austausch von Varianten im Rahmen eines bestimmten Vorstellungsbereichs bezeugt. U 1299,4 enthält gegen Hs. C (aber mit Hs. a) eine Lesart einiger not-Texte. Gernot verschafft sich Zugang zu einem Raum, in dem der Rest des Nibelungen-Horts untergebracht ist. In U 1299,4 kommt er zuͦ der chemenaten Kriemhilds, um es zu holen. Das entspricht der Lesart in B 1273,1 und Dab, während A 1216,1 und C 1299,4, ebenso wie Jdgh kameren haben. U weicht also von C ab. Heinzle hat für kameren als bessere Lesart plädiert.²⁰² Aber offenbar sind beide Raumbezeichnungen unter einem gewissen Aspekt gleichwertig: ‚Raum der nicht allgemein zugänglich ist‘. In dieser Hinsicht äquivalent, gehörte die Alternative offenbar in
Darunter gibt es durchaus gewichtigere Varianten: R 1363,1 (Ortsname); 1364,1; 1364,4; 1365,4; 1506,4; 1508,2 (Zahl der Krieger); 1508,4; 1511,1; 1512,1; 1513,4; 1515,4; 1517,1; 1517,2 (Reim; Umstellung zweier Halbverse); 1517,3 (Umstellung eines Halbverses); 1517,4; 1519,1; 1519,2 (Umformulierung zweier Verse); 1519,3. So C 1303,1+2: zwei Auslassungen (wurden; werlte). U 1305,2 Auslassung von mich. Heinzle 2013a, S. 1315.
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den Toleranzbereich von Varianz. Sie stand offenbar bei der Reproduktion des Nibelungenliedes gleichzeitig zur Verfügung. Noch in einem zweiten Fall stimmt U zu den not-Fassungen. Nach C 1295,4 fürchtet Hagen zu wissen, dass Kriemhild mit dem Hort wnder vollbringt (ich weiz wol daz die frowe wnder mit dem schazze getuͦ t), nämlich ihm schaden will; U 1295,4 lässt wnder weg und hat einfach ich weiz wol was diu vrowe mit dem schaze getuͦ t. Das stimmt mit A 1212,4, B 1269,4 und DJbdh überein.²⁰³ Hier scheint C eine Variante gewählt zu haben, die den Inhalt dessen, was Kriemhild tun wird, füllt und die sich im Toleranzbereich bewegt: ‚ich weiß, was an Erstaunlichem‘ – im Sinne von Unerwartetem, Schlimmem, Monströsem – Kriemhild mit dem Schatz tun wird‘.²⁰⁴ Beide Stellen könnten Spuren einer varianten Textgestalt von *C sein, die teils noch näher an not-Handschriften ist, die in *C einer gründlichen Neuformulierung unterzogen werden. Das bestätigt wieder, dass auch die *C-Bearbeitung kein in allen Parametern festgelegter Text war, sondern die gewöhnlichen Lizenzen mit der übrigen Nibelungenüberlieferung teilte. Hs. C aber erweist sich als nur eine Handschrift unter anderen, die *C vertritt. Die Bearbeitung *C insgesamt ist von größerer textueller Festigkeit als die notHandschriften, aber ihre Überlieferung ist ebenfalls variant. Größere Varianz gibt es in dem – allerdings sehr kurzen – Fr. S1 und dem gleichfalls sehr alten Fr. Z. Aber auch in den späteren Fragmenten finden sich die üblichen Ad-libitum-Varianten, wenn auch verhältnismäßig wenige größere semantische oder syntaktische Eingriffe. Sie machen von Lizenzen kleinerer Textumstellungen, Variabilität der Füllwörter, auch kleineren grammatischen Varianten Gebrauch. Die größere Festigkeit in den Formulierungen könnte daran liegen, dass der Text in *C expliziter nach den Anforderungen der Schriftsprache ausformuliert ist²⁰⁵ und die Reproduktion des *C-Textes schon überwiegend schriftlich erfolgte. Auch die Übertragung aus einer schriftlichen Vorlage, die in *C schon überwogen haben könnte, schließt aber noch die Möglichkeit der Varianz ein. Das Fr. U zeigt aber, dass die in S1 und D sich abzeichnende ursprüngliche Varianz von *C sich in späterer Überlieferung fortsetzt, sogar manchmal dem noch unbearbeiteten Text der not-Handschriften näherbleibt. Auch einige Ad-libitum-Varianten der übrigen Fragmente stehen den Hss. A und B näher als C. Eine selbständige Fassung von *C konstituiert diese Zwischenstufe nicht. Keines der Fragmente stellt die Homogenität der *C-Bearbeitung in Frage, keines die klare Abgrenzbarkeit von den mit *B verwandten Redaktionen, die insgesamt diese Homogenität nicht aufweisen.
Gegenüber A und B ist in U der Name Kriemhild durch diu vrowe ersetzt (wie in C und a), der Relativsatz aber beibehalten (was … getuot, auch AB), während C und a das Objekt in wnder konkretisieren. Damit ergänzt C übrigens einen für den 4. Vers notwendigen Takt. Hs. a ergänzt den Vers ebenfalls um zwei Silben ([mit] dem selben). U macht diese metrische Korrektur nicht mit. Heinzle 2000, S. 209.
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6 Die Fragmente und ihre ‚Referenzhandschriften‘
Fazit Die Fragmente der not-Handschriften lassen sich in Abgrenzung und Profil weit unsicherer einer der genannten Redaktionen zuordnen, als dies mit den Fragmente E, F, R, U, X und Z in Bezug auf die Bearbeitung *C möglich ist. Dort ist der Spielraum der Varianten insgesamt größer. Die Fragmente durchkreuzen aber auch hier die von der Forschung herausgearbeiteten Redaktionen. Kontamination erklärt diese Textmischung nicht. Man müsste in jeder Schreibstube ganze Bibliotheken von Nibelungen-Handschriften annehmen, um den wechselseitigen Einfluss der Redaktionen zu erklären. Näher liegt es, eine zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit oszillierende Überlieferungspraxis anzunehmen, die auch bei einer – wahrscheinlich schriftlich vorliegenden – Vorgabe immer wieder Rückgriffe auf Erlerntes oder Eingeübtes, in den Routinen der Vortragspraxis Angelegtes erlaubte. Insgesamt bestätigen die Fragmente, dass die Nibelungenüberlieferung bis ca. 1400 ein hohes Maß an Varianten aufweist, die ad libitum gestellt waren. Der Wechsel zwischen ihnen scheint im Bewusstsein der Schreiber bei der Wiedergabe des vorgegebenen Textes jederzeit möglich gewesen zu ein. Man scheint auf dieser Ebene Varianz nicht beachtet zu haben. Relevantere Formulierungsvarianten, die die Lizenz zu – im Repertoire der Gattung angelegte oder im Einzelfall auch individuelle – Variationen nutzen, scheinen allerdings abzunehmen.
7 Fassungen Die Übersicht über die Fragmente hatte die Abgrenzbarkeit von Redaktionen in Frage gestellt. Damit ist das Problem der Fassungen aufgeworfen, in die sich die Nibelungenüberlieferung ausdifferenziert. Seit Brackert steht das Fassungsproblem im Zentrum der Forschungsdiskussion. Die Annahme von Fassungen schien nach seiner Kritik an der Kanonisierung von B als der archetypnächsten Handschrift einen Ausweg zu versprechen. Nachdem es als unmöglich galt, ein Stemma der gesamten Nibelungenüberlieferung zu erstellen und dieses auf einen Ausgangstext zurückzuführen, schien es erfolgversprechender, mehrere solcher Ausgangstexte anzunehmen. Schon in seiner Rezension von Brackerts Buch hatte Bumke diese Möglichkeit angedeutet, indem er auf die vielfältigen wechselseitigen Beeinflussungen von not- und liet-Überlieferung (er beließ es bei dieser Alternative) verwies.¹ Auch Hennig zog bei ihrer Übersicht über die *C-Handschriften in Betracht, von Fassungen auszugehen.² Haferland forderte eine stemmatologische Analyse unterschiedlicher Fassungen.³ Auch ich selbst empfahl, die literaturwissenschaftliche Forschung künftig auf Fassungen zu konzentrieren.⁴ Es war möglich, relativ unbefangen von Fassungen zu sprechen, solange sich die Nibelungenforschung auf die drei Haupthandschriften des Nibelungenliedes konzentrierte, die man als Fassungen auffassen konnte. Haferland formulierte z. B.: „Nachdem die drei Fassungen *A, *B und *C aber vorliegen […]“.⁵ Wenn man jedoch andere Handschriften, vollständige und Fragmente, in die Untersuchung einbezieht, sie miteinander vergleicht und wechselnde Verwandtschaften und Differenzen zwischen ihnen feststellt, lösen sich diese Fassungen auf, und die Gruppierung von Handschriften wird zum Problem. Deutlich abgrenzbar ist zwar weiterhin eine Fassung *C, nicht jedoch Fassungen der not-Handschriften. Die Abweichungen zwischen den Hss. A und B sind gar nicht distinktiv für bestimmte Handschriftengruppen, die Lesarten der einen oder anderen Handschrift werden in unterschiedlichen Konstellationen miteinander kombiniert. Unklar wird, welche Merkmale als fassungskonstitutiv gelten sollen. Kontrovers ist also, was als Fassung bezeichnet wird. „Der Ausdruck ‚Fassung‘ ist alles andere als eine konventionelle Formulierung für einen sozusagen ‚reinen‘ oder objektiven überlieferungsgeschichtlichen Befund“.⁶
Bumke 1964, S. 436 – 438. Hennig 1972, S. 113. Haferland 2003, S. 178. Er spricht von „Ausgangsfassungen“ und „ableitbaren Fassungen“, 2004, S. 324– 325. Müller 1999, S. 165 – 166. Haferland 2004, S. 18. Strohschneider 1999, S. 114 zu Bumke 1996a; ähnlich Strohschneider 2001, S. 28 – 29 zu Bumkes Ausgabe der vier Fassungen der Nibelungenklage (Bumke 1999). https://doi.org/10.1515/9783110983104-008
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7 Fassungen
Bumkes Fassungsbegriff Am weitesten ausgearbeitet wurde der Fassungsbegriff in Joachim Bumkes Untersuchung der Nibelungenklage. Die ‚vier Fassungen‘ der Nibelungenklage stehen weder im Verhältnis von Vorstufe und Vollendung noch bilden sie ein Konglomerat von teils übereinstimmenden, teils divergenten Handschriften mit wechselnden Allianzen, das auf einen Ursprung zurückgeht. Sie sind eindeutig gegeneinander profilierte Texte, die nicht aufeinander zurückführbar sind, und nicht in einem Verhältnis ‚vorläufig‘ vs. ‚vollendet‘ stehen. Ausgangspunkt ist das Nebeneinander der in Bestand, Anordnung und Formulierungen erheblich voneinander abweichenden *B- und *C-‚Klage‘. Hinzu kommen einmal der mit der ersten Gruppe verwandte Text der *J-‚Klage‘, der jedoch durchgängig gekürzt ist, dann der im ersten Teil (bis Kl *D 737) mit der *C-‚Klage‘ verwandte Text in den Mischhandschriften D und b.⁷ Die vier Fassungen repräsentieren also jeweils eine Handschriftengruppe der‚Klage‘: erstens *A/*B, die Bumke zusammenfasst, zweitens *C, drittens den gekürzten, grundsätzlich mit *A/*B verwandten Text der *J-‚Klage‘ und viertens die Mischfassung der *D-‚Klage‘. Man kann diese Gruppen, wenn man sie nicht genealogisch betrachtet, als ‚Fassungen‘ definieren.⁸ „Die ‚Nibelungenklage‘ ist in vier Fassungen überliefert, […] von denen jedoch jeweils zwei näher miteinander verwandt sind. Man kann daher von zwei Hauptfassungen und zwei Nebenfassungen sprechen“.⁹ Bumke hat die lange Diskussion um die Priorität der *B- oder *C-‚Klage‘, um ihre Abhängigkeit voneinander und ihren Einfluss auf die not- bzw. liet-Überlieferung des Epos beendet, indem er feststellte, dass sie gleichursprünglich sind, ihre Textgestalt variant, d. h. ihre Lesarten können nicht auseinander abgeleitet werden und sind nebeneinander gültig. Auch die beiden anderen Fassungen (*J und *D) können nicht nur als verderbte Rezeption der Fassungen *B bzw.*C betrachtet werden, sondern als konzeptionell schlüssige Alternativen. Der Text der‚Klage‘ *J kürzt den Strophenbestand von *A/ B auf weniger als ein Viertel – was manchmal zusätzliche neue Überleitungen erfordert – und konzentriert sich dabei auf das Leid der Protagonistinnen Kriemhild, Gotelind und Brünhild.¹⁰ Die *D-‚Klage‘ weicht in dem *C folgenden Teil vor allem in der Textgliederung und im Textbestand ab, wobei ein „eigener Gestaltungswille am Werk war“; „die Lesarten-Divergenzen“ sind „zwar nicht so zahlreich wie zwischen *B und *C“, gehen aber „über das übliche Maß der Variation“ hinaus.¹¹ So kommt es zu den vier Fassungen der Nibelungenklage. Zwar sind *D und *J den beiden anderen Fassungen
Zu dieser Mischfassung werden auf Grund der mit D verwandten Textgestalt die Fragmente N, P und S3 gerechnet, die allerdings keinen Text aus dem C-Teil der ‚Klage‘ enthalten. Bumke 1999, S. 7. Bumke 1999, S. 8. Bumke 1999, S. 12. Bumke 1999, S. 10 – 11.
Bumkes Fassungsbegriff
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„nachgeordnet“,¹² aber sie bezeugen von Anfang an konkurrierende Überlieferungstraditionen. Zwei der vier Fassungen der Klage, *B und*C, können bis in Autornähe zurückverfolgt werden; wann die beiden anderen Fassungen, *D und *J, entstanden sind, läßt sich nicht genau feststellen. Textgeschichtlich scheinen sie den Fassungen *B und *C nachgeordnet zu sein; es gibt jedoch keine Anhaltspunkte dafür, daß sie viel später entstanden sind.¹³
Entscheidend ist für Bumke das annähernd gleichzeitige Auftreten der Fassungen.¹⁴ Dies ist, strenggenommen, keine hinreichende Bedingung, weil es nicht ausschließt, dass die eine dieser Fassungen primär, die andere sekundär ist (z. B. als Kürzung, Erweiterung oder Neuordnung eines vorgegebenen Textes). Aber für das Problem kommt es darauf nicht an, wenn damit gemeint sein soll, dass zu einer gegebenen Zeit am Anfang der Überlieferung nicht ein Text stand, sondern ein Nebeneinander mehrerer gleichwertiger Texte vorlag. Die Unterscheidung der Fassungen stützt sich auf zwei Kriterien: Textbestand und Textgestalt. Hinzukommt in zweiter Linie noch die Anordnung des Textes, durch die sich *AB- und *C-‚Klage‘ unterscheiden. In Fassung *AB und *C sind alle drei Kriterien erfüllt, in *J (das in der Anordnung *AB folgt) und in *D (in Bezug auf *C) das entscheidende erste und zweite. Insgesamt ruht der Fassungsbegriff Bumkes insofern auf zwei Säulen, der unterschiedlichen Makrostruktur des Textbestandes, die überlagert wird durch die unterschiedliche Mikrostruktur der Textgestaltung, die die ‚Klage‘-Texte mit der übrigen volkssprachigen schriftlichen Überlieferung des 12./13. Jahrhunderts teilen. Bumke stellte nämlich den Befund der ‚Klage‘ in den Rahmen allgemeiner Beobachtungen zu volkssprachiger Schriftlichkeit um 1200.¹⁵ Varianz ist letztlich ein die ganze frühe volkssprachige Schriftlichkeit übergreifendes Phänomen. Sie ist allein noch nicht fassungskonstitutiv, es muss etwas hinzukommen. Das ist bei Bumkes theoretischen Überlegungen nicht so deutlich. Er spricht dort von Fassungen, wo „verschiedene Versionen eines Epos“ – man kann hier „Versionen“ durch „Fassungen“ ersetzen¹⁶ – 1. so weit wörtlich übereinstimmen, daß man von ein und demselben Werk sprechen kann, die jedoch andererseits im Textbestand und/oder in den Formulierungen so weit auseinandergehen, daß es die übliche Form der Variation zwischen verschiedenen Handschriften eines Textes deutlich übersteigt und ein je eigener Formulierungswille sichtbar ist; und die
Bumke 1999, S. 12; vgl. S. 11. Bumke 1996a, S. 389. Henkel 2003, S. 115 verfährt konsequenter und nennt *D- und *J-Klage sekundär; er spricht deshalb S. 130 von zwei Fassungen. Bumke 1996b; 1996a, S. 3 – 88. Haferland 2004, S. 324 versuchte eine Abgrenzung, die sich soweit ich sehe, nicht durchgesetzt hat. Er unterscheidet noch einmal Fälle „… wo aus Fassungen Versionen entstehen, d. h. wo Fassungen erheblich erweitert und zu neuen Texten ausgebaut wurden …“. Was sind die Kriterien dafür?
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7 Fassungen
2. nicht in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen.¹⁷
Die Definition enthält im Gegensatz zu seinen Untersuchungen eine Reihe von Unklarheiten. Hier setzt er nicht wie in den Untersuchungen zur ‚Klage‘ ein Zusammenwirken von Textbestand und Textgestalt voraus, sondern behandelt sie alternativ („und/ oder“).Was ist außerdem „die übliche Form der Variation“? Zählt z. B. der Austausch von Epitheta oder Personenbezeichnungen dazu? Wo liegt die Grenze zum „je eigenen Formulierungswillen“? Die blinden Stellen der Definition wirken sich auch in Bumkes Untersuchungspraxis aus. Das Phänomen der Varianz ist in unterschiedliche Erscheinungsformen auseinanderzulegen. Bumke selbst betont, dass man bei Einschätzung der Varianz die unterschiedlichen Gattungen beachten müsse. Man muss also zwischen unterschiedlichen Typen von Varianz unterscheiden: performanzbedingter, autorbedingter, überlieferungsbedingter usw. Sie in jedem Fall trennscharf voneinander abzuheben, ist zwar unmöglich, aber die unterschiedlichen Implikationen, die sie haben, sind doch auseinanderzuhalten und nicht für jeden Einzelfall gleichermaßen zu unterstellen. Bei höfischer Lyrik z. B. erzeugt die jeweilige Performanz eine anlassgebundene Varianz. Auch die ersten Aufzeichnungen des höfischen Romans existieren variant, hier aber nicht anlassgebunden, sondern möglicherweise als Mehrfachfassungen des Autors.¹⁸ Hier liegt der Fassungsbegriff nahe, indem die unterschiedliche Textgestalt ihren Ursprung im Autor selbst hat, der sein Werk umarbeitete und u.U. verschiedene Ausgaben seines work in progress sukzessive veranstaltete.¹⁹ Auch muss nach Art und Umfang der Varianz unterschieden werden: die zwei ‚Iwein‘-Schlüsse, die Umstellung oder das Fehlen einer Strophe in einem Minnelied, die Vertauschung von Episoden oder überhaupt ganzen Textteilen einerseits und die Ersetzung einzelner Textelemente (Formulierungen etc.) andererseits haben sehr verschiedene Anlässe und setzen sehr verschiedene Operationen voraus. Betreffs der ‚Klage‘ fordert Bumke – in Abgrenzung vom höfischen Roman –, „den Begriff der ‚Fassung‘ von der Autoranbindung freizuhalten“.²⁰ Die Position des Autors soll also gelöscht sein. Das gelingt ihm nicht vollständig. Indem der letzte erreichbare Punkt textkritischen Bemühens die Fassung ist, tritt die Fassung an die Stelle, die früher der – inzwischen als unzugänglich erkannte – Archetyp einnahm. Die „begrenzte Anzahl von ‚Fassungen‘“ hat bei Bumke eine „Vermittlungsposition“ „zwischen der offenen Vielzahl je einzelner Handschriften“, wie sie die New Philology ins Zentrum rückt, und dem Original/Archetyp der ‚traditionellen‘ Philologie.²¹ Die Fassungen grenzen sich voneinander so ab, dass „in ihnen ein unterschiedlicher Formulierungs- und Gestal-
Bumke 1999, S. 7– 8. Bumke 1996a, S. 30 – 60. Bumke 1996a, S. 30 – 42; vgl. S. 5 – 11. Bumke 1996a, S. 45. Das hat Strohschneider 1999, S. 114 herausgearbeitet.
Bumkes Fassungsbegriff
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tungswille sichtbar wird“.²² Mit dem Begriff „Gestaltungswille“²³ wird für die Fassung eine dem Autor analoge Position geschaffen. Strohschneider stellt fest: „Der Ausdruck ‚Gestaltungswille‘ bindet zunächst Fassungsgenese und Fassungsidentität an eine Subjektposition, die er [Bumke] mit dem Kriterium der Intentionalität versieht“.²⁴ Es gibt also auch beim anonymen Text der Nibelungenklage eine implizite Autorposition, die den Fassungen zugrunde liegt. Die Fassungen gehen jeweils auf einen Urheber zurück, der eine autorgleiche Position hat. Die Geltung von Autorschaft ist gleichzeitig verdoppelt (es gibt zwei und mehr Textgestalten, die alle auf einen oder mehrere Autoren rückführbar sind) und herabgestuft (der einzelne Autor ist nur noch für die fassungsspezifische Varianz des Textes verantwortlich). Bumke kann deshalb „die frühe Existenz ‚autornaher‘ gleichwertiger Parallelversionen“, die er „für höfische Epen und Romane“ ansetzt,²⁵ nicht scharf genug vom Fassungsproblem der Nibelungenklage abgrenzen, indem er beide Male die Varianz auf einen ‚Willen‘ eines oder mehrerer Subjekte bezieht. Damit werden die Unterschiede des Nibelungenkomplexes zu einem Autortext eingeebnet. Die Fassungen der ‚Klage‘ sollten deshalb von möglichen Parallelfassungen höfischer Romane getrennt werden, und der Begriff ‚Parallelfassung‘ Autortexten vorbehalten bleiben.²⁶ Zumal was die Textgestalt betrifft, so lässt sich ein „Gestaltungswille“ in den seltensten Fällen ausmachen. Anders als das Nibelungenlied ist der Text der ‚Klage‘ unfest nicht nur im Wortlaut, sondern auch in der Auswahl, Anordnung und Kombination der Teile. Was eine Fassung ausmacht, hat deshalb für die ‚Klage‘ eine andere Bedeutung als für das Nibelungenlied. Sie ist jedenfalls nicht nur durch Varianz der Textoberfläche zu definieren. Die Fassung ist auf der mittleren Ebene zwischen ursprünglichem Text und einzelner Handschrift angesiedelt. Die vier Fassungen der ‚Klage‘ sind nicht nur auf Grund der besonderen Textgestalt (einer Sache der einzelnen Handschriften), sondern durch besonderen Textbestand und besondere Textanordnung charakterisiert, durch die sich die ‚Klage‘Handschriften AB, C, D und J unterscheiden. Die Textgestalt ist nur eines der Kriterien. Damit stellt sich das Problem: Wie ist das Verhältnis der Fassung zu den einzelnen Handschriften zu denken? Bumke hält es bei der ‚Klage‘ für lösbar: Der Schwerpunkt verschiebt sich von der ursprünglichen Textgestalt auf die überlieferten Texte selbst. Zwar sind auch die Stammhandschriften der verschiedenen Fassungen in der Regel nicht
Bumke 1996a, S. 32; von Strohschneider 1999, S. 114– 115 zitiert und analysiert. Die darunter subsumierten Phänomene sind nur sehr ungefähr voneinander abgegrenzt; für ‚Gestaltungswille‘ treten auch Alternativbezeichnungen ein, die allesamt den uneingestandenen Rest von Intentionalität umkreisen; z. B. bei Trennung nach Variantentypen lasse sich „der Formulierungswille […] leicht als Bearbeitungswille deuten“ (Bumke 1996a, S. 53). Strohschneider 1999, S. 115. Formulierung von Strohschneider 1999, S. 102. Schmid 2018 hat den Bumkeschen Fassungsbegriff modifiziert. Fassungen sind nicht „intentional gegeneinander gesetzte Konkurrenzformen“, es gibt kein „Original“ von Fassungen; „die einzelnen Textzeugen [scheinen] nach mittelalterlichem Verständnis ‚den‘ Nibelungenkomplex zu repräsentieren“ (S. 43).
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erhalten; aber die Herstellung von kritischen Fassungstexten ist fast überall mit den Methoden der traditionellen Textkritik möglich. […]. In gewissem Sinne nehmen die Fassungen, aus dieser Sicht, den Platz ein, den in der alten Textkritik das Original innehatte.²⁷
Wie Bumke zu dieser optimistischen Einschätzung kommt, sagt er nicht; er identifiziert nämlich die vier Fassungen mit den vier namengebenden Handschriften B, C, D und J.²⁸ Wenn aber „kritische Fassungstexte“ „mit den Methoden der traditionellen Textkritik“ erst hergestellt werden müssen, dann ist das Problem der Textkritik nur verschoben. Während die Fassungen nach dieser Auffassung variant sein dürften, wäre die Varianz der Handschriften zwecks Herstellung eines „kritischen Fassungstextes“ zu vernachlässigen bzw. dem Fassungstext unterzuordnen; die Handschriften selbst blieben bloßes Material textkritischer Rekonstruktion, mit dem Ziel der Reduktion von Varianz. Der Varianz, die andere Überlieferungsträger einer Fassung, jenseits von Fehlern, aufweisen, müsste dann weiter keine Aufmerksamkeit geschenkt werden. Damit würde aber das Prinzip der unhintergehbaren Varianz volkssprachiger Texte im 13. Jahrhundert ausgehebelt. Indem Bumke Cerquiglinis Beobachtung der Varianz auf der Ebene der Fassung eliminiert, bringt er sie um ihre Pointe, denn der Fassung schreibt er die Konsistenz, Einheitlichkeit und Endgültigkeit zu, die die variance der Textgestalt gerade in Frage stellt. Variance ist aber zunächst ein Phänomen auf der Ebene der Handschrift und muss zuerst auf dieser gesondert betrachtet werden. Die Fassung und das Fassungsprofil wäre das Ergebnis der Beseitigung eines Teils der Varianten verschiedener Überlieferungsträger, denn diese stören deren Geschlossenheit und Abgrenzbarkeit. Die Varianz der Überlieferung würde sich in einzelnen Fassungen auskristallisieren und zum Stillstand kommen. In dem Modell der vier Fassungen der ‚Klage‘ steckt das Problem, was eine Fassung von der besonderen Textgestalt einer Handschrift unterscheidet. Eine Fassung setzt eine relative Geschlossenheit und Abgrenzbarkeit gegenüber anderen Fassungen voraus. Bis zu welchem Punkt darf die variance der handschriftlichen Überlieferung gehen, ohne die Identität der Fassung in Frage zu stellen? Diese Schwierigkeit fällt bei der ‚Klage‘ weniger auf, denn es gibt in ihrem Umkreis viel weniger Überlieferungsträger mit varianten Texten als in der Überlieferung des Epos. Für die vier Fassungen der ‚Klage‘, die Bumke unterscheidet, sind die Fragmente wenig aussagekräftig. Die Fragmente der *B‚Klage‘ (P) bzw. *C-‚Klage‘ (GU) weisen die übliche Ad-libitum-Varianz auf. Kein Fragment von *J überliefert Abschnitte aus der ‚Klage‘. Von der ‚Klage‘ überliefern die zu der Textmischung *D gehörigen Fragmente (NS3AA) nur Abschnitte aus dem *B-Teil der ‚Klage‘, dem Bumke offenbar keinen eigenen Fassungscharakter zuschreibt.
Bumke 1996a, S. 48. Außer für die Fassung *B: Hier müsste das Verhältnis von Hs. A der ‚Klage‘, die nicht als Ausformung einer eigenen Fassung betrachtet wird, zu Hs. B analysiert werden. Den Fragmenten der‚Klage‘ schenkt er keine Aufmerksamkeit.
Bumkes Fassungsbegriff
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Bumke bezieht zwar die Fragmente als Textzeugen der ‚Klage‘ in seine Untersuchung ein;²⁹ er weist ihnen in seiner Ausgabe den üblichen Platz im Kritischen Apparat des nach der Leithandschrift hergestellten Textes zu. Er kann damit das Problem des Verhältnisses Fassung/Handschrift umgehen, indem er den ‚Klage‘-Text der verschiedenen Haupthandschriften umstandslos zum Fassungstext erklärt, also die *AB-, die *C-, die *D- und die *J-Fassung der Nibelungenklage unterscheidet, die dem mit der gleichen Sigle bezeichneten Epos jeweils angehängt ist, und ihm die Fragmente unterordnet. Für das Nibelungenlied aber ist die Überlieferungssituation eine gänzlich andere. Die Textgestalt der vollständigen Handschriften und Fragmente divergiert in der Überlieferung des Nibelungenliedes so erheblich, dass die Varianz der Handschriften, die zu einer Gruppe zusammengefasst werden, die Einheit von Fassungen auflöst. Um gleichwohl die relative Geschlossenheit und Abgrenzbarkeit einer Fassung zu gewährleisten, müsste diese Divergenz vernachlässigt werden. Die Varianz, die volksprachige Schriftlichkeit nach Bumke grundsätzlich auszeichnet, würde also durch Bumkes Begriff der Fassung limitiert.³⁰ Man muss also den Fassungsbegriff für das Epos anders definieren. Fassung liegt bei Bumke auf einer hierarchisch höheren Ebene als variance. Sie ist primär durch Eigenschaften im Makrobereich gekennzeichnet. Anders als das Nibelungenlied wählen die vier Fassungen der ‚Klage‘ eine unterschiedliche Auswahl des Erzählten, ordnen es unterschiedlich an, heben unterschiedliche Sachverhalte (Sagenelemente, Nebenhandlungen usw.) hervor, geben unterschiedliche Details, ohne dass gesagt werden kann, das eine sei ursprünglicher oder aus der anderen abgeleitet. Die Beobachtung der Varianz aber, dass zusätzlich der Wortlaut in Einzelheiten der sprachlichen Formung variant ist, ist von solchen fassungskonstitutiven Differenzen abzuheben. Varianz auf der Satzebene einerseits – die vielen unterschiedlichen sprachlichen Formulierungen im Einzelnen, wie sie Bumke in dem Buch von 1996a detailliert nachweist – und andererseits die Variabilität, die transphrastische Merkmale betreffen, sind nicht Phänomene gleicher Ordnung, wenn sie auch natürlich zusammenhängen. Diese Unterscheidung wird in Bumkes Untersuchung verwischt, weil beide Phänomene in dieselbe Richtung weisen. Die Vermischung der beiden Aspekte wird deutlich, wenn Bumke seine Fassungen in seiner langen Liste „variierender Epenüberlieferung“ auf Varianz auf der Satzebene zu gründen sucht.³¹ Nach Bumke entstehen Fassungen durch die schiere Differenz von Varianten unterschiedlicher Art. Die Differenz der Konzeption wird ausdrücklich ausgeschlossen: Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Fassungen sind nicht in erster Linie Unterschiede der Auffassung des Stoffes oder der künstlerischen Konzeption, sondern es sind im wesentlichen Va-
Bumke 1996a, S. 195 – 212. Bumke 1996a, S. 42– 53; Schmid 2018, S. 41– 44. Bumke 1996a, S. 397– 455.
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rianten eines grundsätzlich gleichgerichteten Erzählinteresses; es sind Zeugnisse eines frühen Zustands volkssprachlicher Schriftlichkeit, als die Texte noch prinzipiell variabel waren.³²
Damit wird der Begriff der Varianz der Fassung mit dem der Varianz auf der Handschriftenebene vermischt. Diese beiden Aspekte müssen aber systematisch getrennt werden. Man kann zwar den Text einer jeden Handschrift, der sich in irgendeiner Hinsicht vom Text einer anderen Handschrift unterscheidet, eine Fassung nennen, aber dann ist der Fassungsbegriff leer. Die Varianz der Textgestalt konstituiert von sich aus noch keine Fassung. Varianz betrifft grundsätzlich jede einzelne Handschrift. Von einer Fassung könnte man erst dann sprechen, wenn sich mehrere Handschriften durch ein Bündel gemeinsame Merkmale von einer anderen Gruppe von Handschriften abgrenzen lassen. Es zeigte sich aber an den Fragmenten, dass die Varianz auf der Handschriftenebene solche Bündel gemeinsamer Merkmale auflöste, indem die Handschriften einerseits keineswegs alle Merkmale, die einer Fassung zugeschrieben wurden, teilten und andererseits Merkmale, die verschiedenen Fassungen zugeschrieben wurden, vereinigten. Gilt Bumkes Satz: „Sachlich sind die Fassungen zum größten Teil identisch mit den Handschriftengruppen, die die traditionelle Textkritik nachgewiesen hat“?³³ Lassen sich für diese Handschriftengruppen eindeutige Fassungsmerkmale beschreiben? Fassungen [ …] sind eindeutig gekennzeichnet durch ihre Reimtechnik, ihren Wortschatz ihre Phraseologie und ihre Erzählhaltung. Wo keine eindeutige Definition möglich ist, sollte man nicht von verschiedenen Fassungen sprechen.³⁴
Diese Bedingung ist in der not-Überlieferung des Epos nirgends erfüllt. Wenn sich aber die Grenzen zwischen den Handschriftengruppen auflösen, indem sich gemeinsame Merkmale mit Merkmalen anderer Handschriftengruppen mischen, und wenn verwandte Handschriften untereinander variant sind, dann verliert der Fassungsbegriff seine Trennschärfe. Natürlich ist als Grenzfall denkbar, dass eine Fassung durch eine einzige Handschrift repräsentiert wird, die sie durch eine Reihe von signifikanten Merkmalen exklusiv von allen anderen Handschriften(‐gruppen) abgrenzt. Sie dürfte dann aber nicht einen Teil dieser Merkmale mit einzelnen dieser Handschriften(‐gruppen) in wechselnden Allianzen gemeinsam haben. Fassung setzt ein gewisses Maß an Geschlossenheit voraus, nicht aber die Durchlässigkeit der Textgestalt für wechselnde Übereinstimmungen mit und Abweichungen von anderen Handschriftengruppen. Das, was eine Fassung ausmacht, nämlich das Bündel gemeinsamer Merkmale, grenzt Bumke von „Unterschiede[n] der Auffassung des Stoffes oder der künstlerischen
Bumke 1996a, S. 389. Bumke 1996a, S. 49. Bumke 1996a, S. 50.
Bumkes Fassungsbegriff
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Konzeption“³⁵ ab, um so die Fassung von der Bearbeitung abzuheben. Dies macht von einer anderen Seite auf die Problematik des Fassungsbegriffs aufmerksam. Bumkes Versuche der Definition von Bearbeitung sind unentschieden und tautologisch: Unter einer Bearbeitung verstehe ich eine Textfassung [schon hier eine unglückliche Vermengung der Begriffe], die eine andere Version [ein weiterer Begriff?] desselben Textes voraussetzt und sich diesem gegenüber deutlich als sekundär zu erkennen gibt. Für Fassungen dagegen ist bezeichnend, daß sie keine Bearbeitungen [!] sind, das heißt gegenüber anderen Versionen [?] nicht als sekundär zu erweisen, sondern Merkmale der Originalität aufweisen. […] Die *C-Bearbeitung [!] des Nibelungenliedes trägt alle Merkmale einer Fassung [!]. Es ist nicht gelungen, mit den Methoden der Textkritik den sekundären Charakter dieser Version [!] nachzuweisen. […] Trotzdem ist deutlich, daß der *C-Bearbeiter [!] bereits einen Text des ‚Nibelungenlieds‘ vor sich hatte, den er in charakteristischer Weise bearbeitet hat.³⁶
Aus der verworrenen Argumentation geht hervor, dass der Spielraum von Fassungen enger begrenzt ist als der von Bearbeitungen. Die Bearbeitung enthält nicht nur Abweichungen, sondern erzeugt bei Beibehaltung der Grundstrukturen des Textes einen neuen Sinn mit konzeptionellen Differenzen. Bumkes Formulierungsschwierigkeiten zeigen aber, dass zwischen Bearbeitungen und Fassungen Übergänge zu erwarten sind. Abgrenzungen zwischen ihnen basieren eher auf Daumenregeln. Das spricht nicht gegen die Notwendigkeit einer kategorialen Trennung der Formen von Varianz, macht aber den unzureichend von Varianten auf der Satzebene, transphrastischen Varianten und konzeptionell differenten Bearbeitungen abgegrenzten Fassungsbegriff Bumkes problematisch. Charakteristisch für Fassungsunterschiede sind die stärkeren Formen der Variation, die von der unterschiedlichen Formulierung derselben Aussage über die sogenannten ‚Präsumptivvarianten‘ bis zur selbständigen Ausgestaltung des Textes durch neue Erzählelemente reichen. Die Textabweichungen sind nicht überall gleich groß. Es gibt epische Fassungen, die sich hauptsächlich im Textbestand unterscheiden; und andere, die in den Formulierungen weit auseinandergehen, während sie im Textbestand nur wenig voneinander abweichen.³⁷
Die beiden letztgenannten Typen von Textabweichungen gehen bei der ‚Klage‘ zusammen. Sie betreffen gleichwohl verschiedene Aspekte von Varianz, die Bumke nicht trennt. Bumkes Buch ‚Die vier Fassungen der Nibelungenklage‘ ist trotz dieser Unklarheiten ein Meilenstein in der Erforschung volkssprachiger Schriftlichkeit des 12. und 13. Jahrhunderts. Seine terminologischen Schwierigkeiten und die blinden Stellen seines Fassungsbegriffs weisen aber darauf hin, dass die Überlieferungsgeschichte volkssprachiger Dichtung komplizierter ist als angenommen. Sie ist neu zu denken, wenn das ‚genealogische‘ Überlieferungsmodell Lachmanns überwunden werden soll.
Bumke 1996a, S. 389. Bumke 1996a, S. 45 – 46. Bumke 1996a, S. 53.
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Fassungen und Redaktionen des Nibelungenliedes Wenn auch sich Bumkes Ergebnisse in Bezug auf die ‚Klage‘ nicht eins zu eins auf das Epos übertragen lassen, ist ihr Anregungspotential schwerlich zu überschätzen. Einen vergleichbar differenzierten Fassungsbegriff wie bei Bumke gibt es in der Nibelungenphilologie sonst nicht. Im Allgemeinen operiert die Forschung mit dem Fassungsbegriff, ohne ihn näher zu explizieren. Haferland will den „traditionellen Fassungsbegriff“ verwenden – was immer darunter zu verstehen ist –, „ohne ihn zu problematisieren“.³⁸ Die Folge ist, dass unter Fassung sehr Ungleichartiges verstanden und meist nicht gesagt wird, welche Fassungen gemeint sind und wie sie sich zu den überlieferten Handschriften verhalten.³⁹ Selten wird ein systematisch übergeordneter Fassungsbegriff gebraucht, unter dem mehrere verwandte Handschriften subsumiert werden, die sich in relevanten Merkmalen von anderen Handschriften abheben. Das Problem des Verhältnisses handschriftlicher Varianz zum Profil einzelner Fassungen wird meist überspielt. Die Beobachtungen zu Typen von Varianten in Nibelungenlied stießen in den seltensten Fällen auf einen ‚Gestaltungswillen‘.Vielmehr verdankten sie sich verschiedenen Routinen, angefangen von Praktiken des Skriptoriums und der Sprachgemeinschaft, der der Kopist angehört, bis hin zu Formulierungsroutinen innerhalb der Gattung. Es lag eine aus nur z.T. intentionalen Gründen variierte Realisation desselben Textes vor. Der ‚Gestaltungswille‘ eines Autors war auf die Lizenz eines jeden Tradierenden begrenzt, im Rezeptionsprozess in bestimmten Grenzen den Text zu verändern. Eine Fassung erfordert mehr. Dass Fassungen „eindeutig erkannt und definiert werden“⁴⁰ können, erweist sich bei näherem Zusehen als Wunschdenken. Fassungen setzen eine Kumulation von Varianten voraus. Die Betrachtung der Fragmente des Nibelungenliedes hatte gezeigt, dass solche Kumulation nur näherungsweise und relativ in Bezug auf andere Beobachtungen gilt. Sie wird konterkariert von Varianten, die der Tendenz der Kumulation widersprechen. Außerdem weisen Varianz im „Textbestand“ und Varianz in den „Formulierungen“ manchmal in unterschiedliche Richtungen. Der Überblick über die Fragmente hatte ergeben, dass es – mit Ausnahme der Bearbeitung *C – klar gegeneinander profilierte Textgruppen nicht gibt, sondern nur Familienähnlichkeiten auf Grund wechselnder Allianzen zwischen den Handschriften. Insofern sind angebliche Fassungen des Nibelungenliedes an den Rändern unscharf. Was bisher als Fassung des Nibelungenliedes bezeichnet wurde, divergiert stark. Einerseits basiert Fassung auf der Textgestalt einzelner Handschriften, andererseits auf
Haferland 2019b, S. 454. Die Schwierigkeiten, mit dem Fassungsbegriff zu operieren, spiegelt sich in der Proliferation der Begriffsbildung: „*A und *B [stellten] nur zwei Durchdringungszustände vorgängiger Fassungen dar und *Db bildete einen weiteren Durchdringungszustand“, Haferland 2006, S. 185; vgl. 2003, S. 104. Was ist mit „Durchdringungszustand“ gemeint? Bumke 1996a, S. 49.
Fassungen und Redaktionen des Nibelungenliedes
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dem Textbestand. Insofern rechnete man mit drei Fassungen (A, B und C), darunter zwei eng miteinander verwandt (A und B).⁴¹ Zwischen ihnen waren Mischfassungen möglich (DJdbh). Die Vielfalt der Fassungen reduzierte sich also letztlich auf zwei (drei). Überdies repräsentierten A/B und C „Stadien oder Textzustände im Prozeß der Verschriftlichung des Nibelungenstoffs“ und standen im Verhältnis Vorläufigkeit – Endgültigkeit.⁴² Die Handschriften A und B unterschieden sich zwar durch viele selbständige Lesarten, durch starke Abweichungen im Eingangsbereich, durch unterschiedliche Strophenzahl und viele abweichende Formulierungen, wären als vorläufige Fassungen aber gleich. Ihre Abweichung von *C wäre dann ein Durchgangsstadium auf dem Weg zum eigentlichen Text. Sie hätte keinen Eigenwert, denn sie würde im fertigen Text getilgt und in eine gültige Textgestalt überführt. Die übrigen Redaktionen waren in Bezug auf diese ‚Hauptredaktionen‘ definiert: a) die Mischredaktion *D durch Zusammensetzung eines liet-Teils und eines not-Teils, die „eigentlich nicht gewünscht“ war,⁴³ b) die Mischredaktion *J und die Mischredaktion *d. Sie sind gekennzeichnet durch Aufnahme einzelner der Strophen, die sich auch in *C finden, in einen not-Text. Dabei wurde suggeriert, dass es sich um die bloße Addition von Texten aus den Hauptfassungen handelt. Jedoch liegt in allen Fällen keine mechanische Addition vor, sondern die entsprechenden Teile unterscheiden sich durchweg in der Textgestalt.⁴⁴ Diese Textgestalt ist mal mit der einen, mal mit der anderen Haupthandschrift verwandt, mal gegenüber beiden selbständig. Dieser Umstand potenziert sich in den Fragmenten. Varianz des Strophenbestandes und Familienähnlichkeit der Textgestalt sind nicht in allen Handschriften zwingend miteinander in derselben Weise verknüpft. Textbestand und Textgestalt müssten also bei der Frage der Fassungen einerseits berücksichtigt, andererseits auseinandergehalten werden. Die Aufnahme zusätzlicher Strophen ist von Familienähnlichkeit in der Textgestalt durchaus zu trennen. Handschriften, die auf Grund des Textbestandes, der Zusätze oder Kürzungen, zusammenzugehören scheinen (z. B. J und d), können in der Textgestalt voneinander abweichen. Umgekehrt kann eine verwandte Textgestalt Handschriften gemeinsam sein, über deren Strophenbestand keine Gewissheit zu erlangen ist (z. B. in den Fragmenten von *D und *J). Bei Fassung muss man Textbestand und Textgestalt zusammensehen. Die Mischfassungen sind für das Fassungsproblem besonders interessant. Kofler weist darauf hin, dass mindestens eine der Mischfassungen, die Addition eines *B-Teils zu einem *C-Teil (vollständig überliefert in Hss. D und b), wahrscheinlich fast so früh wie *A/*B und *C bezeugt ist, und zwar im Fragmentkomplex S; er bezeuge, „dass schon kurz nach der Ausformung der beiden Hauptfassungen erste Mischtexte entstanden“, die in
Für Heinzle sind auch die Hss. A und B Fassungen (im Gegensatz zur ‚Klage‘); sie sind gleichberechtigt und nicht auseinander ableitbar (Heinzle 2008, S. 306). Er folgt damit Bumke, nach dem A und B „als zwei selbständige Fassungen zu betrachten“ sind (Bumke 1996a, S. 260). Heinzle 2003a, S. 195. Heinzle 2000, S. 211. Müller 2016.
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der Überlieferungsgeschichte sich als eigene Fassung stabilisierten.⁴⁵ Auch einige Fragmente von *J und *d stammen noch aus dem 13. Jahrhundert und belegen eine frühe Entstehungszeit dieser Mischredaktion wie auch die unterschiedliche Gestalt des Textes nur wenig später als die Hauptfassungen. Früh also bilden sich gewisse Gruppierungen von Handschriften aus, die in der Überlieferung Tradition stiften. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts⁴⁶ kann man von der Tendenz zu verfestigten Textgruppen sprechen, die sich auf Grund der anfänglichen Varianz abzeichnen. Das scheint mit der allmählichen Dominanz schriftlicher Transmission zusammenzuhängen. Deutlich konturiert haben sich zu dieser Zeit nicht nur ein *A-, *B- und *C-Typus, sondern ein Typus, der aus einem *C- und einem *B-Teil zusammengesetzt ist und zwei Typen, die einzelne Zusatzstrophen aus dem Umkreis von *C in einen not-Text inseriert haben, und zwar das eine Mal in einer wesentlich *A bzw. *B folgenden Redaktion (*d), das andere Mal in einem bearbeiteten not-Text (*J). In der Textgestalt unterscheiden sich aber die diesen Typen zugeordneten Handschriften und Fragmente noch einmal erheblich, sodass es schwierig ist, sie zu Fassungen zusammenzufassen. Der Fassungsbegriff ist anspruchsvoll. Von Fassung sollte nur gesprochen werden, wenn in einem Cluster von Varianten mehrerer Handschriften ein gemeinsamer Richtungssinn zu entdecken ist und die Andersartigkeit sich als Bündel distinktiver Merkmale beschreiben lässt, die verschiedene Textgruppen exklusiv und signifikant gegeneinander profilieren und die allen Handschriften der Fassung gemeinsam sind. Diese Bedingung ist nicht gegeben. Fassung setzt ein gewisses Maß an Konvergenz der Merkmale voraus und eine gewisse Stabilität des Merkmalbündels. Die Konvergenz muss nicht im letzten konsequent sein, aber die Merkmale dürfen nicht einander widersprechen. Varianten müssen mehrheitlich eine bestimmte Tendenz aufweisen. Nicht jede Handschrift, die von einer anderen Handschrift des gleichen Textes abweicht, bietet eine Fassung, aber jede gehört zu einer Gruppe, die mehrere verwandte, wenn auch in mancher Hinsicht unterschiedliche Handschriften vereint. Kofler spricht deshalb statt von ‚Fassungen‘ neutraler von ‚Redaktionen‘, was den Fassungsbegriff von einigen Assoziationen, insbesondere relativer Geschlossenheit und eindeutiger Abgrenzbarkeit entlastet. Wie verhalten sich diese Redaktionen zu Fassungen? In Redaktionen sind ebenfalls zwei Kriterien kombiniert: Textbestand und Textgestalt. In Bumkes Untersuchung zu den vier Fassungen der Nibelungenklage wiesen sie in dieselbe Richtung. Die Textgestalt war in allen Fassungen variant, doch unterschieden die Fassungen sich auch im Textbestand, Kl *J z. B. von Kl *B durch Kürzungen und die dadurch notwendigen Veränderungen der Textgestalt. Diese Übereinstimmung der Kriterien ist beim Nibelungenlied nicht gegeben. Die Varianz der Textgestalt und einzelne Varianten des Strophenbestandes sind für sich allein nicht Kofler 2020, S. XXXII. Bumke hat für die epische Überlieferung insgesamt festgestellt, dass „die jüngeren Handschriften sich unproblematisch zu Gruppen ordnen lassen, während über die Zuordnung der ältere Textzeugen zueinander vielfach große Unsicherheit besteht“ (Bumke 1996b, S. 127).
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fassungskonstitutiv. Die widersprüchlichen Tendenzen bei Textbestand und Ad-libitumVarianz der Textgestalt, die in der Forschung oft übersehen wurden, lassen Fassung allenfalls als Zielform von Varianz erscheinen. Man kann nur von einer Tendenz zur Ausbildung von Fassungen sprechen. Erst in der Rezeption bilden sich Traditionen aus, in denen beides verknüpft ist. Die Redaktionen dagegen vereinen Gruppen von Handschriften mit nicht in allem identischen Merkmalen, doch mit einem Kernbestand gemeinsamer Eigenschaften. An den Rändern sind Redaktionen weniger scharf abgegrenzt als Fassungen. Das Verhältnis der einzelnen Handschrift zur Gesamtüberlieferung bleibt damit offener. Als Redaktionen sollen Handschriftengruppen bezeichnet werden, die eine gewisse Zahl gemeinsamer Merkmale aufweisen, in anderen sich unterscheiden. Redaktionen sollen durch eine Kombination von Merkmalen der Textgestalt und des Textbestandes bestimmt werden. Die Textgestalt kann variant sein, muss jedoch in einer Reihe von Merkmalen übereinstimmen. Das Gleiche gilt für den Textbestand. Bei den Fragmenten ist Übereinstimmung im Textbestand nur in seltenen Fällen nachweisbar. Hier kann Übereinstimmung in der Textgestalt als Argument für die Zusammengehörigkeit von Handschriftengruppen dienen. Für Redaktionen reichen Familienähnlichkeiten zwischen den zu einer Redaktion zählenden Handschriften aus. ‚Familienähnlichkeit‘ ist ein weicherer Begriff als Fassung.⁴⁷ Ein Glied der Familie muss nicht sämtliche Merkmale mit einem anderen Familienmitglied teilen. Es genügt, dass eine Kette von unterschiedlichen Ähnlichkeiten alle Familienmitglieder miteinander verbindet, aber jedes für sich nur einen Teil dieser Ähnlichkeiten aufweist. Familienähnlichkeit lassen Formulierungsvarianten bei Handschriften zu, aber auch einzelne Differenzen im Strophenbestand. Auf dieser Basis haben Klein und Kofler die Überlieferung des Nibelungenliedes geordnet.⁴⁸ Kofler fasst den Forschungsstand folgendermaßen zusammen: Die Suche „nach direkte[n] Verbindungen zwischen den Textzeugen“ wurde aufgegeben. „An ihre Stelle trat die Einteilung in Handschriftengruppen, in denen die Textzeugen weitgehend gleichberechtigt nebeneinanderstehen“. Diese haben „Teile des vorauszusetzenden Grundtextes getreulich bewahrt“. Doch „eine zweifelsfreie Zuordnung von Textzeugen [ist] nicht möglich“, und man „kann die Entwicklung der Textgestalt vom Grundtext des ‚Nibelungenliedes‘ bis zu den Textausformungen von ‚Nibelungenlied‘ und ‚Klage‘ in den erhaltenen Handschriften im Einzelnen nicht nachzeichnen“, da „sklavisch genaue[] Übereinstimmungen“ und eine „Lesartenvielfalt nebeneinanderstehen, die viele ‚Verwandtschaften‘ wieder in Frage stellt“.⁴⁹
Er geht auf Hans Robert Jauß zurück und hat sich insbesondere in der Gattungstheorie bewährt. Vgl. auch die Metaphorik im Titel von Walter Koflers Aufsatz von 2013: „Töchter – Schwestern – Basen. Konkrete Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Handschriften des ‚Nibelungenliedes‘“. Der Titel spiegelt exakt die Überlieferungsverhältnisse. Klein 2003; Kofler in seinen Ausgaben von J, D und der Fragmente. Kofler 2020, S. XXVIII.
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Kofler unterscheidet nicht weniger als zehn Redaktionen,⁵⁰ die drei Hauptredaktionen, vertreten durch die Fassungen *A, *B und *C, drei Mischredaktionen *D, *J und *d und vier Sonderredaktionen in den Handschriften T, k, m und n. Es stellt sich also die Frage, wie viele und welche Merkmale für die Annahme einer Redaktion hinreichend sind. Dies ist letztlich eine Entscheidung des Interpreten. Wenn im Folgenden von Redaktionen gesprochen wird, dann im Bewusstsein, dass es sich im angegebenen Sinn um eine Konstruktion der Forschung handelt, die bestimmte Kriterien gegenüber anderen heraushebt, um eine genauere Klassifikation der Überlieferung zu ermöglichen. Unter dieser Prämisse schließe ich die Sonderredaktionen aus, denn ihre Merkmale sind anders definiert.⁵¹ Es handelt sich einmal um eine Übersetzung (T), dann ein Inhaltsverzeichnis (das Darmstädter Aventiurenverzeichnis m) zu einem Text über einen eng verwandten Stoff unter Berücksichtigung anderer Stofftraditionen, dann eine spätmittelalterliche Bearbeitung (k), und schließlich eine selbständige Zusammenfassung des ersten Teil des Nibelungenliedes plus eine Kompilation des zweiten aus notund liet-Vorlagen (n). Eine Übersetzung ist ohnehin keine Fassung (T). Die Ähnlichkeit des Stoffes lässt nicht erkennen, ob eine gemeinsame Textgrundlage besteht (m). Die Hs. k und n greifen massiv in den Text des Nibelungenliedes und basieren nicht auf der gemeinsamen Struktur, die sich in der Überlieferung sonst durchhält. Sie sind keine Fassungen des Nibelungenliedes, sondern gehören eher in den Zusammenhang spätmittelalterlicher Kompilationen. Sie schaffen einen neuen Text. Bearbeitung, Zusammenfassung und Kompilation sind von der sorgfältig kalkulierten Architektur des Epos fundamental unterschiedene Texttypen. Ein Zwischentypus ist die Handschrift a „aus dem 15. Jh. oder um 1500“.⁵² Sie steht auf der Schwelle einer selbständigen Adaptation des Nibelungenliedes und der Benutzung seines stofflichen Materials für einen an das Nibelungenlied angelehnten Text. In ihrem ersten Teil zeigt schon ihre historische Einleitung des aus *C ausgewählten Textes⁵³ und der freie Umgang mit Vers- und Strophenbau,⁵⁴ dass es ihr vor allen um die
Kofler 2011, S. 9 Einen Überblick über andere Gliederung der Überlieferung seit von der Hagen gibt Kofler 2021, S. 393 – 394. S.o. S. 40 – 41. Hennig 1972, S. 114. Zum Textbestand Hennig 1972, S. 114. „Der Zustand der Hs. a ist sicherlich das Ergebnis einer späten Kürzung eines vollständigeren Textes; doch scheint es mir nicht sicher, daß der (erste) Schreiber sich des fragmentarischen Charakters seiner Vorlage bewußt war“. Die ersten fünf Aventiuren fehlen; sie sind durch eine Prosavorrede ersetzt (eine historische Einleitung, die das Folgende, wenn auch fehlerhaft, in den Kontext der lateinischen Chronistik um Theoderich d.Gr. [Dietrich von Bern] stellt); a setzt mit der 6. Aventiure (Str. C 329) ein. Nach einer Lücke nach Str. C 351 setzt a wieder mit Str. 402 aus der 7. Aventiure (Str. 702,2), dem Island-Abenteuer, ein, folgt dem C-Text bis Ende der 11. Aventiure; die 12. fehlt (die Einladung Siegfrieds und Kriemhilds nach Worms und die Vorbereitungen dazu). „Erst von der 13. Aventiure an […] bietet die Hs. a einen durchgehenden Paralleltext zur Hs. C“. Ab da stimmt a mit C überein. Hennig 1972, S. 120: „Er vernachlässigt Reim und Metrum, teilweise bis zur Auflösung von Vers und Strophe in Prosa, er verändert selbständig kleinere oder größere Satzabschnitte und Sätze […]. Der zweite Schreiber dagegen (ab 1584,2 bis zum Schluß hat sich im ganzen sehr genau an den Text der Vorlage
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inhaltlich genaue Wiedergabe der im Nibelungenlied erzählten Geschichte und die lockere Anlehnung an dessen Form geht. Dieser erste Teil von a ist eine andere Gestaltung des Nibelungenstoffes, während der zweite Teil sich eng an das Nibelungenlied *C anschließt. Der Anfang steht außerdem unter dem Einfluss einer anderen Sagentradition, indem nicht Kriemhild, sondern Brünhild die Frau ist, die Siegfried begehrt. Erst ab der 7. Aventiure ist der Name Brünhilds durch den Kriemhilds ersetzt.⁵⁵ Erst der zweite Teil von a ist eine Variante der Bearbeitung *C. Von den Sonderredaktionen abgesehen, sind es also bei Kofler sechs Redaktionen des Nibelungenliedes, drei Hauptredaktionen – *A, *B, *C – und drei „Mischredaktionen“ – *D, *J und *d.⁵⁶ Gegenüber Klein, der *J und *d als „Mischkomplex“ zusammengefasst hatte,⁵⁷ was wegen der erheblichen Differenzen dieser Redaktionen in der Textgestalt untunlich ist, trennt Kofler *J und *d als selbständige Redaktionen. Jede Redaktion ist bei Kofler durch eine der vollständigen Handschriften repräsentiert, der sich jeweils einige Fragmente zuordnen. Diese der Redaktion namengebenden Handschriften weichen allerdings, wie zu sehen war, in vielen Hinsichten von den gleichfalls zur Redaktion zählenden Fragmenten ab. Auf Grund der genannten Kriterien zeichnen sich folgende Gruppierungen ab: – Die Redaktion *B, ein not-Text, der nach wie vor in Strophenbestand und Textgestalt als Standard angesehen wird, vor dessen Hintergrund die gesamte übrige Überlieferung sich abhebt. – Die Redaktion *A, ebenfalls ein not-Text, der einmal durch geringeren Strophenbestand und zum anderen durch teils abweichende Textgestalt sich von* B unterscheidet, *B aber noch verhältnismäßig nahesteht. – Die Redaktion *D, ein im Epos und in der ‚Klage‘ aus einem (kürzeren) liet-Teil und einem (längeren) not-Teil zusammengesetzter Text; diese Zusammensetzung wird durch die Hss. D, b und wahrscheinlich auch durch den Fragmentkomplex S bestätigt, durch die übrigen Fragmente N und V nicht. Doch weisen diese Handschriften eine sowohl vom not-Text in A und B wie vom liet-Text in C unterschiedene Textgestalt auf. Diese Textgestalt ist unter den zu *D zählenden Handschriften wieder variant. – Die Redaktion *d, wieder ein not-Text, in den einige teils mit der Bearbeitung *C übereinstimmende Zusatzstrophen inseriert sind. Die Textgestalt ist eng verwandt mit A und vor allem B, weist aber die üblichen Varianten auf; die Zusatzstrophen werden durch die Fragmente H und O bestätigt.
gehalten“; erst ab da kann „der Wortlaut der Hs. a mit dem der Hs. C mit einiger Sicherheit verglichen werden“. Das basiert, wie Hennig glaubhaft macht, auf einer konkurrierenden Überlieferung, die eine Parallele im Darmstädter Aventiurenverzeichnis hat und die der (erste) Schreiber in der 7. Aventiure korrigiert (Hennig 1972, S. 119). Kofler 2020, S. XI; 2011, S. 9; 2012, S. 9; etwas anders Klein 2003, S. 214, der das Fragment M zur Redaktion A zählt. Klein 2003, S. 214; ähnlich Voetz 2003, S. 285; 288.
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Die Redaktion *J, ein not-Text, in den ebenfalls wie in *d Zusatzstrophen, die überwiegend mit denen in *d übereinstimmen, inseriert sind, jedoch von keinem der Fragmente bestätigt, von einem sogar explizit ausgeschlossen werden. Auch ist eine auffällige Textlücke in Hs. J keineswegs der Redaktion*J insgesamt gemeinsam; zwei Fragmente haben Text aus diesem Bereich. Doch weisen diese Fragmente eine mit Hs. J verwandte, von A und B deutlich unterschiedene, manchmal mit der Bearbeitung *C übereinstimmende, in manchem auch eigenständige Textgestalt auf. *J ist eine Redaktion, die in sich besonders vielgestaltig ist. Die Bearbeitung *C, die gleichfalls in varianter Textgestalt vorliegt, die auf dem notText basiert, diesen aber durchgreifend umgestaltet und ergänzt, ausweislich der Fragmente aber eine geringere Amplitude an Varianz aufweist.
Da die Redaktionen Koflers immer mehrere Merkmalbündel zusammenfassen, gehen die folgenden Überlegungen von seinen (und Kleins) Übersicht über die Nibelungenüberlieferung aus, auch wenn sie im Detail gelegentlich von ihr abweichen. Grundlage dieser Gruppierung ist primär der Textbestand. In einigen Fällen sind den Gruppen jedoch Handschriften zugeordnet, die diesen Textbestand entweder nicht bestätigen (die Fragmente N,V in Bezug auf *D, die Fragmente K, Y und l in Bezug auf *J) oder sogar von ihm explizit abweichen (das Fragmente Q, in Bezug auf *J). In diesen Fällen wird stattdessen die Zugehörigkeit zu den entsprechenden Redaktionen durch die Textgestalt nahegelegt.
Redaktion und Layout Ein Merkmal, das in der Diskussion über Fassungen zunehmend Bedeutung gewonnen hat,⁵⁸ die mise en page der einzelnen Handschriften, die Verwandtschaften wahrscheinlich macht, wird im Folgenden nur hilfsweise herangezogenen. Es ist zweifellos für den Zusammenhang der Überlieferung wichtig, wenn auch weniger eindeutig als die Zusammenstellungen glauben machen wollen.⁵⁹ Gewiss ist das gleiche oder ähnliche Layout eine wichtige Information, wo die Zugehörigkeit von Textzeugen zur gleichen Gruppe geprüft oder vor allem die direkte Abhängigkeit einer Handschrift von einer anderen nachgewiesen werden soll. Die Beobachtungen hierzu betreffen aber sehr verschiedenen Phänomene: Aventiurengliederung, Markieren von Strophen- und Versbeginn, Art der Markierung (durch Auszeichnung im Fließtext oder durch Absetzen), Vers- und Halbvers-Segmentierung, Gliederung durch Spalten, Gliederung durch Initialen usw.
Grundsätzlich Wolf 2008, S. 323. Die mise en page ist wesentliches Untersuchungsfeld der New Philology. Vgl. die Übersichten bei Bumke 1996a, S. 215 – 221; Kofler 2014, S. 362– 365.
Redaktion und Layout
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„Einrichtungstypen und Initialenprogramme“ der Handschriften können manchmal Ähnlichkeiten der Textgestalt stützen, sodass „textlich verwandte Handschriften vielfach auch im Einrichtungstyp übereinstimmen“.⁶⁰ Die Beispiele hierfür sind freilich spärlich. Auch ist zu bedenken, dass beim Einrichtungstyp auch Praxis der Schreibstube und das Vorbild anderer Texte eine Rolle spielen können. Es gibt viele Beispiele widersprüchlicher Tendenzen. Die einzelnen Parameter der Auszeichnung weisen durchaus nicht immer in dieselbe Richtung und stimmen häufig nicht mit Beobachtungen zur Textgestalt überein. Schlagend beweist das das Verhältnis von Hs. h zu Hs. J: Die Handschrift J ist zweispaltig geschrieben, setzt die Langverse ab und bezeichnet die Strophenanfänge durch farbige Initialen. Die direkte Abschrift (h) aus der Mitte des 15. Jahrhunderts setzt ebenfalls die Langverse ab und zeichnet den Strophenbeginn aus, ist jedoch im Gegensatz zu J einspaltig. Dadurch verschiebt sich der Textaufbau.⁶¹ Jede Seite von h enthält deshalb weniger Strophen. Die Fragmente bieten gleichfalls „ein uneinheitliches Bild“;⁶² sie sind mit den Referenzhandschriften nicht durch eine gemeinsame Einrichtung verbunden. Redaktion *J kann das illustrieren. W (2-spaltig) fällt durch sein auffälliges Layout auf, das sich sonst nicht in der Nibelungenüberlieferung findet: Die Halbverse sind jeweils abgesetzt und untereinander angeordnet. K und Q haben abgesetzte Strophen, nicht aber abgesetzte Langverse wie in J und Y. Anders als in J gibt es in K und Q keine Überschriften der Aventiuren. Zwar weicht das Initialenprogramm von J und h von allen übrigen not-Handschriften ab,⁶³ aber ein gemeinsames Layout lässt sich für *J nicht beschreiben. Auch sonst variiert das Layout vielfältig. Die Handschriften der Bearbeitung *C weisen unterschiedliche Typen des Layouts auf. C ist einspaltig als Fließtext geschrieben, doch der Strophenbeginn ist ausgezeichnet, die Verse durch Interpunktion getrennt. Hs. a zeichnet gegen C nicht den Strophenbeginn aus und trennt die Halb- und Langverse nicht durch Punkte. Die Fragmente haben teils eine ähnliche Einrichtung wie C; sie weichen vor allem in der Ausgestaltung der Initialen voneinander ab. Fr. F hat abgesetzte Strophen, keine abgesetzten Verse, ist aber zweispaltig; die Majuskel am Beginn jeder Strophe ist ausgespart, wohl wegen späterer ornamentaler Ausgestaltung; die Verse sind überwiegend durch Interpunktionszeichen abgesetzt. R ist ebenfalls zweispaltig, die Strophen gleichfalls abgesetzt, nicht aber die Verse, doch durch Interpunktion getrennt; hier ist der Strophenbeginn abwechselnd mit roter und blauer Tinte gekennzeichnet. Auch S1 und X sind zweispaltig mit abgesetzten Strophen, die Verse durch Interpunktion getrennt. S1 setzt die Anfangsmajuskel jeder Strophe heraus. In X beginnt jede Strophe abwechselnd mit rot oder blau. Fr. U hat dagegen wie C keine Spalten, setzt aber im Gegensatz zu C Verse und Strophen ab. Die Anfangsbuchstaben der Langverse sind rot durchstrichen; der Strophenbeginn ist durch größere Anfangsbuchstaben in roter Tinte kenntlich gemacht.
Bumke 1996a, S. 214. Bumke 1996a, S. 193 betont dagegen die Ähnlichkeit. Kofler 2011, S. 19. Bumke 1996a, S. 227.
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Auch die *D-Handschriften mahnen zur Vorsicht gegen die Überbewertung der Einrichtung. Bumke glaubte noch: Keine andere Handschriftengruppe der Nibelungenüberlieferung weist eine so große Übereinstimmung in der Texteinrichtung auf: im Liedteil sind in allen *D-Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts die Strophen abgesetzt, die Verse nicht.⁶⁴
Das trifft nur z.T. zu. Nicht beachtet wird dabei die Ein- oder Zweispaltigkeit des Schriftspiegels (b gegen D). Im not-Teil sind die Handschriften von *D sehr verschieden. Die Strophen können abgesetzt sein durch Herausrücken des ersten Buchstabens (S2V) oder durch eine große, nicht ganz zweizeilige, ebenfalls ausgerückte Majuskel (N). Die Langverse können durch Interpunktion markiert sein (D und V) oder abgesetzt (b und N), ganz abgesehen von der Gestaltung der Strophen- oder Abschnittsinitialen und der Überschriften. Eine Familienähnlichkeit ist nicht zu bestreiten, eine fassungsdefinierende Form aber schon. Das Layout kann in die Irre führen. Die Handschrift A ist zweispaltig geschrieben mit einzeln abgesetzten Langversen. Dieser Typus findet sich noch in Fr. M, das Bumke als „auch in der Textgestalt eng mit Averwandt“ bezeichnet,⁶⁵ das aber textlich enger mit B verwandt ist, wie Kofler gezeigt hat.⁶⁶ B hat aber ein anderes Layout; hier sind die Verse fortlaufend geschrieben, die Strophen abgesetzt, in zwei Spalten. Die Art der Einrichtung variiert; das Bild ist sehr vielfältig und müsste systematisch mit anderen, zuerst zu analysierenden Textphänomenen in Beziehung gesetzt werden. In der Einrichtung der Nibelungenhandschriften werden unterschiedliche Typen erprobt, wobei Differenzen in der einen Hinsicht mit Übereinstimmungen in der anderen zusammengehen. Es scheint daher sinnvoll, diese Kriterien nur ergänzend hinzuzuziehen und sich auf die textliche Zusammengehörigkeit zu konzentrieren, wie sie im Verhältnis der vollständigen Handschriften zu den Fragmenten festgestellt wurden.
Redaktion *A und Redaktion *B Im Folgenden betrachte ich die Überlieferung unter dem Aspekt, ob sich in ihr die Ausbildung von Fassungen abzeichnet. Die Redaktionen *A und *B sind reine notHandschriften. Es könnte naheliegen, *A und *B zu einer einzigen Fassung zusammenzufassen, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie bestimmte Merkmale der übrigen Handschriften nicht teilt, nicht die Bearbeitungstendenzen von *C, nicht die Zusammensetzung aus *C und *B (*D), nicht die Einfügung einzelner Strophen aus dem Umkreis der Bearbeitung *C (*J, *d). Dagegen sprechen allerdings die vielen Abweichungen zwischen B und A, überwiegend im Ad-libitum-Bereich, aber nicht nur dort. Die Hss. A
Bumke 1996a, S. 302; vgl. Kofler 2014, S. 363 – 364. Bumke 1996a, S. 143 ähnlich Braune 1900, S. 56 – 58. Kofler 2011, S. 9; 2014, S. 385 – 387; 2020, S. XI; XXX.
Redaktion *A und Redaktion *B
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und B divergieren so stark, dass man sie nicht zu einer Fassung zusammenfassen kann. Sie setzen sich in einigen Punkten gemeinsam von der übrigen not-Überlieferung ab. Weder Übereinstimmungen noch Divergenzen verdichten sich zu einem eigenen Fassungsprofil. Verlegenheit bereitet auch die Existenz einer Fassung *A. *A wird hauptsächlich vertreten durch die Hs. A, die in den ersten Aventiuren einen von B deutlich unterschiedenen Text enthält, vor allem eine anders gestaltete Eingangsaventiure. Darüber hinaus weist A eine Reihe von Kürzungen, vor allem in der 6.–10. Aventiure. Dies könnte durchaus als Fassungsprofil aufgefasst werden, wäre es nicht das Profil nur einer einzigen Handschrift. Zwar glaubt man in dem, was von Fr. L gelesen werden kann, die Redaktion *A wiederzuerkennen. Indiz sind vor allem Übereinstimmungen in der 1.–3. Aventiure, einige Ergänzungen, Kürzungen und eine Umstellung,⁶⁷ die, soweit erkennbar, ihr Pendant im Fr. L haben. So scheint sich für die Anfangsaventiuren eine Fassung *A abzuzeichnen. Die Kürzungen in der 6.–10. Aventiure in A werden allerdings durch L nicht gestützt, das hier eine Lücke hat. Sie aber verleihen A gerade einen deutlich von den übrigen not-Handschriften unterschiedenen Charakter.⁶⁸ Da gerade für diese Aventiuren die Parallelüberlieferung fehlt, kann weder die Kürzung noch die damit verbundene Erzähltendenz⁶⁹ (die möglicherweise fassungskonstitutiv wäre) für *A insgesamt nachgewiesen werden. Eng zu Fr. L gehört Fr. g, das eine ziemlich genaue Abschrift von L ist, was sich allerdings nur an einem kleinen Textausschnitt überprüfen lässt. Überträgt man die Beobachtungen dort auf das gesamte Fragment, dann haben wir also eine weitere Parallelhandschrift, die die Redaktion *A gleichfalls bestätigen müsste. Fr. g bringt einen größeren Abschnitt aus dem zweiten Teil des Epos, in dem L abbricht. In dem in L nicht erhaltenen Passus nun weicht g vom Strophenbestand in A ab. So sind die in Hs. A fehlenden Strophen B 1656 und 1673 durchaus in g enthalten, und man darf wegen der engen Verwandtschaft der beiden Fragmente annehmen, dass sie sich auch in der Vorlage L befanden. Diese beiden Strophen stimmen wörtlich mit Hs. B überein. Das würde bedeuten, dass Hs. A nicht zuverlässig über den Strophenbestand einer Fassung *A Auskunft geben kann oder umgekehrt, dass der Strophenbestand von *A variabel ist. Jedenfalls weist die Stelle auf eine Varianz, die *A und *B übergreift. Das bestätigt sich, indem L und g eine Textgestalt bieten, die zwar zahlreiche Lesarten mit Hs. A teilt, aber ebenfalls zahlreiche Lesarten mit Hs. B, dazu einige selbstständige Lesarten hat. Sie bewegen sich, von manifesten Fehlern abgesehen, im Adlibitum-Bereich. Lg weist also Familienähnlichkeit mit A und B auf. Für die Zusammengehörigkeit der Hs. A mit L und g spricht die Verwandtschaft in – relativ raren – Fehlern und Auslassungen, doch die prägenden Eigenarten der Hs. A, mithin gerade das, Vgl. oben S. 169 – 170. Diese Kürzungen beruhen auf einem anderen Erzählkonzept; vgl. Müller 2017, S. 381– 387. Kofler 2020, S. XXIX macht in einer Umfangsberechnung der verlorenen Seiten wahrscheinlich, dass der gekürzte Text in der Lücke des Fragments wohl Platz gefunden hätte, betont aber, dass die Berechnung mit Unsicherheiten belastet ist.
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was eine selbständige Fassung ausmachen müsste, werden von den Fragmenten nur z.T. bestätigt.⁷⁰ Das Profil von Hs. A lässt sich nicht zum Fassungsprofil hochrechnen. Die Fragmente, die *A zugeordnet werden (Lg) schleifen in der Textgestalt die Eigenheiten der Hss. A und B überdies weiter ab, indem sie zwar der einen oder der anderen Handschrift näherstehen, aber Merkmale der jeweils anderen übernehmen. Sie können also nur die Tradition eines varianten not-Textes bezeugen, dessen Fassungsprofil allerdings unscharf wäre, indem er Merkmale von A und B mit weiteren Varianten kombinierte. Es gibt also eine Verwandtschaft der zur Redaktion *A zählenden Handschriften, aber sie gilt im Textbestand nur tendenziell und wird in der Textgestalt von der für alle not-Handschriften typischen Varianz überlagert. Der in Hs. A überlieferte Text kann allein keine Fassung *A vertreten. Dieses Problem wird sich für sämtliche ‚Referenzhandschriften‘ der Fragmente wiederholen. Die vielen Abweichungen der Frr. L und g von A, vor allem im von g abgedeckten Bereich, und umgekehrt die zahlreichen Differenzen zu B entsprechen dem Befund von Varianz des Wortlauts, wie sie auch zwischen den Handschriften A und B besteht. Wie eine Fassung *A aussah und ob es eine solche Fassung gab, ist mit Hilfe der zu *A gezählten Handschriften nicht feststellbar. Eine Fassung *B stellt vor ähnliche Probleme. B wurde nie als Fassung betrachtet, sondern als Derivat des ursprünglichen Textes, von dem eventuelle Fassungen abgeleitet werden konnten. Nach Brackerts Arbeiten sind die Lesarten von B zu Varianten des notTextes herabgestuft, die allerdings ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten mit den übrigen Überlieferungsträgern des not-Textes haben. Einige dieser Lesarten finden sich nur in B, einige nur in A und B, dazu in der Redaktion *d (d und in den Frr. H und O), die mit der Textgestalt von B eng verwandt ist. Deutlich ist diese Textgestalt vom not-Teil der Redaktion *D unterschieden, noch deutlicher von der Redaktion *J. Es gibt Sonderlesarten von B, die die Restüberlieferung nicht teilt. Die spektakulärste von ihnen ist eine Anspielung auf eine Sage, die im Nibelungenlied nicht erzählt wird, nämlich über den Fährmann, der die Burgonden über die Donau setzen soll.⁷¹ Die Anspielung findet auch in B sonst kein Echo, etwa in weiteren Anspielungen auf die Sage. Sie bleibt punktuell und steht nicht im Zusammenhang mit anderen Lesarten, durch die eine Fassung *B insgesamt durch eine größere Nähe zur außernibelungischen Sagenüberlieferung charakterisiert wäre. Sie belegt allerdings die – selten genutzte – Möglichkeit, auf die Sagenüberlieferung zu blicken.⁷² Es gibt auffällige, doch ebenso punktuelle Gemeinsamkeiten zwischen A und B, die auf eine engere Verwandtschaft deuten, so die in beiden fehlerhaft ausgelassene Str. C
„In der ‚Klage‘ ist dagegen der Eigencharakter von *A weit weniger ausgeprägt. A teilt hier alle Kennzeichen der *B-Fassung, nimmt allerdings innerhalb dieser Fassung eine selbständige Position ein“ (Bumke 1996a, S. 260). Er sei jung verheiratet (niulich gehit, B 1551,1) und daher gierig nach Hagens Gold. So etwa auf die Walthersage, aus Hagens Aufenthalt am Hunnenhof, auf die Iringsage. Wenn die Anspielung auf den verge früh Bestandteil des Textes wurde, haben sie andere Bearbeiter nicht verstanden.
Redaktion *C
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532, die in den übrigen not-Handschriften vorhanden ist (= Db 521A; Jh 521A; d 516).⁷³ In dieselbe Richtung zeigen zwei Lesarten (B 1391,2 / A 1334,2 und B 1413,4 / A 1356,4), die A und B im ersten Fall von der gesamten restlichen not-Überlieferung, im zweiten Fall sogar von allen übrigen not- und liet-Handschriften und -fragmenten absetzen, mit Ausnahme von Fragment M. Sie fielen auf, weil sie lange Zeit als fehlerhaft galten, dann aber als schwierige, doch mögliche Formulierung des Originals gewertet wurden.⁷⁴ Sie betreffen die schwer zu deutende Ersetzung des Namens Gunther durch Giselher bzw. des König Etzel durch Rüdiger. Sind sie Kennzeichen einer besonderen Fassung? Diese müsste sich dann auch in anderen Merkmalen zeigen. Die beiden Lesarten belegen die enge Verwandtschaft der drei Handschriften. Ob sie auch darüber hinaus galt, muss offenbleiben, da die Textstrecke von M zu kurz ist. Die Beleglage ist zu schmal, um darauf eine Fassung zugründen. Der Befund ist exemplarisch für das Fassungsproblem im Nibelungenlied. *A und *B unterscheiden sich in der Textgestalt hinreichend, um sie als selbstständige Redaktionen aufzufassen, die von anderen not-Redaktionen differiert. Fr. M folgt mal der einen, mal der anderen Textgestalt. Die Kriterien für eine Fassung stehen sich offenbar im Wege. Übereinstimmungen und Abweichungen übergreifen die Redaktionen. Der Fassungsbegriff ist offensichtlich ungeeignet, die Eigenart von *A und *B und der ihnen zugehörigen Texte zu erfassen. Die Grenzen der Fassung, das, was sie im Unterschied zu anderen Fassungen ausmacht, lösen sich in vielen Einzelbeobachtungen auf, weil je nach Vergleichsebene andere Verwandtschaften den Zusammenhalt der Fassung stören. Die Ebene, auf der sich die irreduzible Varianz der Nibelungenüberlieferung zeigt, ist die einzelne Handschrift, nicht die Fassung.
Redaktion *C Die Bearbeitung *C ist ein Sonderfall, indem sie Wertung und Gehalt des not-Textes einschneidend ändert. Ihre Konzeption soll im nächsten Kapitel ausführlich behandelt werden. Ich ziehe den Begriff der Bearbeitung dem der Fassung vor, doch, weil über weite Strecken nicht der Sinn, sondern nur der Wortlaut des not-Textes geändert ist, ist es ebenso möglich, *C als zweite Hauptfassung zu bezeichnen.⁷⁵ Andererseits liegt bei den vielen konzeptionellen Eingriffe in den not-Text die Bezeichnung Bearbeitung näher. Die diese Bearbeitung enthaltenden Handschriften gehören enger zusammen als die Redaktionen der not-Handschriften. Das Prinzip der Ad-libitum-Varianz, die allein nicht fassungskonstitutiv ist, gilt allerdings auch für die *C repräsentierenden Handschriften. *C ist hinreichend profiliert durch die Handschriften C und a. Keines der *C
Die Fragmente L und g fallen an allen folgenden Stellen aus, da diese in Lücken der Fragmente fallen. Heinzle 2013, S. 1340 bzw. 1343 – 1344; vgl. S. 151– 153. So Bumke 1996a, S. 46; Heinzle 2003a, S. 192– 194.
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zugeordneten Fragmente (F, G, R, S1, U, X, Z) ist konzeptionell eigenständig oder lässt Züge einer eigenständigen Fassung erkennen. Wohl aber variieren auch sie an vielen Stellen den Wortlaut von C, wenn auch nicht so stark wie das mit den not-Handschriften geschieht. Einige Fragmente weichen durchweg von C ab, so schon das sehr alte Fr. Z.⁷⁶ Auch Varianten der Fragmente R und U könnten auf die anfängliche Varianz zurückgehen, die sich in den Differenzen von C und a fortsetzte. Diese aber verdankt sich der allgemeinen Tendenz zur Varianz. Auch die Textgestalt der Strophen aus dem *C-Teil, die in dem alten Fr. S1 und den Hs. D und b überliefert ist, weicht von Hs. C durch die üblichen Ad-libitum-Varianten ab. Nach Zeugnis der kurzen Textstrecke, die die Handschriften D und b mit dem Fragment S1 gemeinsam haben, ist der von C abweichende Wortlaut von *D mindestens in Teilen alt. In der Sprache des genealogischen Modells der Textkritik schreibt Heinzle: „Die LiedFassung hat sich schon früh in (mindestens) zwei Versionen aufgespalten“.⁷⁷ Im Sinne des hier vorgeschlagenen Überlieferungsmodells müsste man umformulieren: Die frühen Repräsentanten der *C-Redaktion weisen – trotz schmaler Textbasis – denselben Typus von Varianz auf, der auch die not-Handschriften kennzeichnet. Die Varianten verteilen sich nicht auf nur zwei Stränge der Überlieferung. Nicht immer ist die Grenze zwischen liet- und not-Handschriften gewahrt. Das Fragment U z. B. enthält einen Text, der sich zwar eindeutig an *C orientiert und an dem Züge einer eigenständigen Fassung nicht zu entdecken sind, der aber an einer Stelle sich weniger als C und a vom Text der not-Handschriften insgesamt absetzt, an einer anderen die Spaltung des not-Textes spiegelt.⁷⁸ Ähnlich komplizierte Überkreuzungen finden sich auch in den Fragmenten F und R. Obwohl sich in *C eine selbständige Bearbeitung des Nibelungenliedes auskristallisiert, die sowohl einen eigenständigen Textbestand als auch eine eigenständige Textgestalt aufweist, sprechen solche punktuellen Übereinstimmungen wieder gegen eine völlige Geschlossenheit der Fassung.
Fassungen durch Textmischung? Redaktion *D Bei der mechanischen Addition eines liet- und eines not-Teils handelt es sich nicht um eine Mischung im eigentlichen Sinne, sondern um die Zusammenfügung zweier selbständiger Textteile. Wenn sie schon in den Fragmenten S1+2 vorliegt, dann würde die Hybride von den Anfängen der schriftlichen Überlieferung des Nibelungenliedes stammen; man könnte sie mit Bumke „in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts“ ansetzen.⁷⁹ Die Zusammensetzung aus zwei Teilen unterschiedlicher Provenienz wäre in der Tat ein hinreichendes Merkmal einer Fassung *D.
Menhardt 1927; Müller 2020, S. 367. Heinzle 2013b, S. 10. Vgl. S. 204– 205. Bumke 1996a, S. 21; auch Kofler 2020, S. XXXII unterstützt diese Auffassung; vgl. S. 217– 218.
Fassungen durch Textmischung? Redaktion *D
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Das ist mit letzter Sicherheit nicht für S1+2 zu erweisen, überhaupt nicht aber für die *D zugeordneten Fragmente N und V. Sie könnten auch aus einer reinen not-Handschrift stammen. Hier kommt das zweite Kriterium ins Spiel, die Textgestalt. Die Textgestalt von S, D und b bietet in beiden Teilen variante Gestalten der liet- bzw. der not-Version. Schon das winzige Textstück, das S1 überliefert, gehört zweifellos der Variante des *C-Textes an, auf die auch D und b zurückgehen. D unterscheidet sich auch an den nicht von S1 überlieferten Stellen häufig von C.⁸⁰ Der Hybridfassung *D entspräche eine gegenüber C teilweise eigenständige Textgestalt. Im besser bezeugten not-Teil ist das Bild nicht anders; die Textgestalten von D und b sind Varianten des not-Texts. Diese Varianten finden sich z.T. in den Fragmenten N und V wieder, allerdings wieder zusammen mit anderen Varianten. Diese Verwandtschaft der Fragmente mit D und b könnte Indiz dafür sein, dass sie auch in den fehlenden Teilen zur Mischfassung gehörten. Sie würden dann eine Fassung *D stützen. Das Profil einer Fassung *D ist, was die Textgestalt betrifft, allerdings schwer zu bestimmen. D ist unter den *D-Handschriften isoliert; es hat eine Anzahl von Sonderlesarten sowohl gegenüber b und wie gegenüber den Fragmenten, aber auch gegenüber A und B. Auffällig sind im not-Teil, d. h. nach dem Vorlagenwechsel, gemeinsame Lesarten von D mit Ca, aber auch von J. Dieser Umstand wäre nur mit vielen Kontaminationen und der gleichzeitigen Verfügbarkeit mehrerer Handschriften beim Abfassen von D zu erklären;⁸¹ darunter müsste auch eine *C-Handschrift gewesen sein (die doch angeblich für die Fortsetzung des Anfangs des Epos nach *C nicht mehr zur Verfügung stand). Wahrscheinlicher ist, dass der Redaktor von D (oder dessen Vorgänger) wieder aus einem Pool von Formulierungsalternativen schöpfen konnte, der auch den Verfassern jener Handschriften zur Verfügung stand. Hs. b, die zweite ebenfalls aus einem *C- und einem *B-Teil zusammengesetzte Handschrift, enthält zwar gegenüber D einige Fehler und als sekundär einzustufende Eingriffe in den Text, dort aber, wo die Fragmente N und V von der Referenzhandschrift D abweichen, werden die Abweichungen nicht selten von b gestützt.⁸² Hs. b scheint also eine ältere Textgestalt, wie sie in den Fragmenten bezeugt ist, zu bewahren. Die Tendenz zur Varianz, die sich noch in zahlreichen Sonderlesarten von D finden, nimmt also ab. Wenn der Textbestand von *D nicht sicher anzugeben ist, so ist auch die Textgestalt an den Rändern unscharf; ein konsistenter Fassungscharakter ist kaum ausgeprägt. Zwar entfernen sich die Handschriften D, b, N, S und V sehr deutlich von A und B, und zwar in dieselbe Richtung,⁸³ aber im Detail gibt es auch immer wieder Übereinstim-
Etwa *D 256,1 ertzen gegen erznie; *D 256,2 dar zu rotes golt statt daz liehte golt; *D 259,2 sinen willen gegen den willer sin; D *261,1 wold er gegen gedaht er; *D 261,3 sinem willen gegen sinem muͦ te; *D 265,3 guten statt jungen recken; *D 266,4 den gap man sumelichen gegen man gap da genuͦ gen. Zu Übereinstimmungen im zweiten Teil von D mit *C Brackert 1963, S. 161; Haferland 2006, S. 185. Es trifft deshalb nicht zu, dass „(g)egenüber D […] b eine überarbeitete Fassung“ bietet (Heinzle 2003a, S. 204). Eher steht D abseits. Bedeutsam vor allem, dass D und b einen gemeinsamen Fehler von A und B nicht haben. Str. Db 521A (die Auswahl des militärischen Gefolges von Brünhild beim Zug nach Worms), auf die kaum verzichtet
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mungen mit diesen älteren not-Texten, und aus den Einzelbeobachtungen zur Textgestalt lässt sich nur schwer ein gemeinsames Fassungsprofil ableiten, das alle *D-Handschriften verbindet. Jede der Handschriften weist Merkmale auf, die nur ihr zugehören oder die sie mindestens in dieser Kombination nicht mit anderen Handschriften der gleichen Gruppe teilt, u.U. wohl aber mit einer Handschrift aus einer anderen Gruppe. Die Zusammengehörigkeit auf Grund des Textbestandes und die Zusammengehörigkeit auf Grund der Textgestalt ergeben also kein eindeutiges Ergebnis für eine Fassung *D.
Die angebliche Fassung *Jd und die Zusatzstrophen Die Redaktionen *J und *d werden wegen gemeinsamer Zusatzstrophen häufig zu einer Gruppe *Jd der Mischhandschriften zusammengefasst.⁸⁴ Sie sind aber unterschiedlich zu beurteilen, weil sie sich in Bezug auf die Textgestalt – die Varianz des Wortlauts – erheblich unterscheiden. Der näherungsweise übereinstimmende Strophenbestand, d. h. die Tatsache, dass sie ähnliche Zusatzstrophen aufnehmen, ist von der Untersuchung des Wortlauts zu trennen.⁸⁵ Die Textgestalt von *d ist von der in *J so unterschieden, dass beide nicht als eine Fassung hingehen können. Während *J einen relativ eigenständigen Text hat, folgt Hs. d mit den Fragmenten O und H überwiegend den aus dem zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts stammenden Handschriften A und B; *d bietet also gegenüber *J den ‚konservativeren‘ Text der not-Fassung. Die gemeinsamen Zusatzstrophen sind vom Rest des Textes zu trennen. Auch Reichert glaubt, dass die Einfügung der Zusatzstrophen ein besonderer Schritt der Bearbeitung war und unabhängig von den „Verwandtschaftsverhältnissen im Grundbestand“ betrachtet werden muss.⁸⁶ Forschungskonsens ist, dass die Zusatzstrophen der Mischhandschriften aus *C stammen, in einen not-Text am Rand eingetragen und bei erneuter Abschrift in den Fließtext eingefügt wurden; dabei seien sie z.T. an eine ‚falsche‘ Stelle gerückt.⁸⁷ Wenn *J und *d in den Zusatzstrophen von C abweichen, ist das bei dieser Annahme nur auf Textverderbnis zurückzuführen. Die Handschrift C ist der Maßstab der Beurteilung des Zusatzstrophen, sowohl, was ihre ‚richtigen‘ Wortlaut betrifft wie ihre Position und Funktion im Text.⁸⁸ *J und *d sind angeblich nach *C modelliert. Bei näherer Betrachtung jedoch ist diese Ansicht zu einfach. Zwar ist der Zusammenhang der Zusatzstrophen mit der Bearbeitung *C wahrscheinlich, doch ist zweifelhaft, ob die Textgestalt der mehr als 2000 Strophen not-Text durch die eingeschobenen
werden konnte, weil das Gefolge ihren Status als Königin spiegelte. Sie findet sich neben Db auch in Ca sowie in den Mischhandschriften Jdh. S.o. Klein 2003, S. 214; ähnlich Voetz 2003, S. 285; 288. Davon unabhängig hat d Textlücken, für deren nachträgliche Füllung Hans Ried in der Handschrift Platz ließ. Reichert 2012, S. 445. Heinzle 2000, S. 212– 213; 2003a, S. 202; 2008, S. 311. Heinzle 2004, S. 28; 2008, S. 311; 322; ähnlich Reichert 2012, S. 444; schon Brackert 1963, S. 113.
Die angebliche Fassung *Jd und die Zusatzstrophen
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Strophen eine neue, der Bearbeitung *C analoge Fassung generieren. Dafür spricht auch ihre Platzierung im not-Text, die nicht nur manchmal von der in C abweicht, sondern auch J und d differieren darin.⁸⁹ Nur wenn ungeprüft ihre Herkunft aus *C vorausgesetzt ist, ist ihre Textgestalt und Platzierung in Hs. C maßgeblich. Außerdem unterscheiden sich *J und *d in den Zusatzstrophen. Sie stimmen zwar weitgehend, aber nicht völlig überein, und nicht alle von ihnen haben Entsprechungen in *C. So fügt J nach Str. 108 eine zusätzliche Strophe (Str. 108A) ein, die sich sonst in der Überlieferung nicht findet (also weder in d noch in C). Sie ist aus Teilen der Strophen B 107 und 108 plus Füllversen zusammengesetzt.⁹⁰ Eine andere Erweiterung findet sich nur in *d. Eingefügt sind nach B 328 drei Strophen, die in J fehlen. Zwei von ihnen sind mit Zusatzstrophen in C verwandt, eine kennt auch C nicht. Die Szene: Siegfried rät von der Werbung um Brünhild ab, Hagen rät zu. In d 328A-C (= d 321– 323) bekräftigt Gunther noch einmal seine Entschlossenheit, um Brünhild zu werben (d 328A = d 321 = C 335), Siegfried wiederholt seine Warnung (d 328B = d 322 = C 336), worauf Gunther erneut seine Werbungsabsicht betont (d 328C = d 323 = k 329). Die beiden ersten Strophen entsprechen C 335/336, die dritte steht auch in der späten Bearbeitung k (Str. 329), in Lienhard Scheubels Heldenbuch, jedoch in abweichender Form.⁹¹ Es ist unwahrscheinlich, dass sie direkt von dort entlehnt ist. Der abweichende Wortlaut spricht dafür, dass sie vermutlich aus einer älteren Nibelungenhandschrift stammt. Aus Hs. C jedenfalls kommt sie nicht. Es gab also jenseits der Bearbeitung *C Einschübe, die, wie hier, die herrschende Tendenz des not-Textes stützten. Die Einschübe sollten zunächst einmal unabhängig von *C betrachtet werden. Die genannten Differenzen im Strophenbestand legen nahe, dass die Textmischung in *J und *d nicht auf Basis des uns bekannten Textbestandes von Hs. C erfolgte. Im Übrigen haben *J und *d überwiegend dieselben Zusatzstrophen. Die nächsten Einschübe in d hat auch J.⁹² Zwei weitere sowohl in J als auch in d nach B 1109 bezeugte Strophen (J 1109A+B; d 1109A+B = d 1112/1113) werden durch Fr. O gestützt. Die Übereinstimmungen sind also beträchtlich. Die sonstigen Differenzen in der Zahl der Zusatzstrophen haben mechanische Gründe. Einige Zusatzstrophen fallen in Lücken von Hs. J (B 1513 – 1624) bzw. d (B 1815 – 1845).Von den Zusatzstrophen im ersten Teil der Fahrt der Burgonden zu Etzel, die in J fehlen, sind d 1568A (= d 1573 = C 1609) sowie d 1580A-C (= d 1586 – 1588 = C 1621– 23) vier auch in Fr. H bezeugt. Die Zusatzstrophe J 1834A fehlt
Vgl. S. 247– 249. Zu dieser Strophe S. 258. Springeth 2007, S. 92; der Text in d weicht in den Formulierungen in der üblichen Weise, d. h. ohne Veränderung des Sinns, von k ab: Nu seÿ wie starch sy welle ich las der rayse nicht | hin ze Praūnhilde was halt mir geschiht | durch Ir unmassen schōne mus es gewagt sein | was ob mir got gefuͦ get daz sy mir volget an den Reyn (d 323 = 322C). In k lautet sie in typischer Varianz: Nun sey wy starck si welle ich las der reyse nicht | Ich wil es mit ir wagen waz mir dar umb geschiht |Durch jr vil grosse schone wag ich daz leben mein | Ich hoff ich woll si bringenn czu uns her an den Rein (k 329). Nach B 810 (2 Str.); nach B 902; nach B 1109 (2 Str.); nach B 1121; nach B 1258; nach B 1897; nach B 1897.
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umgekehrt in d, weil sie in eine größere Lücke dieser Handschrift fällt, für deren Text Hans Ried Platz ließ. Es lässt sich wegen der Auslassung in J und der Lücke in d weder ausschließen noch beweisen, dass insoweit der Bestand an Zusatzstrophen in d derselbe wie in J geplant war. Der Wortlaut der Zusatzstrophen in den Hs. J und dHO weist im Verhältnis zu C die üblichen Varianten auf. Allerdings sind sie überwiegend von Lizenzen im Ad-libitumBereich gedeckt. Außerdem sind die zahlreichen Missverständnisse und Fehldeutungen der recht verderbten Fassung d auszuschließen. Es gibt – von den üblichen graphischen und morphologischen Varianten abgesehen⁹³ – auch kleinere Umakzentuierungen.⁹⁴ Die Hss. J und dHO stehen in wechselnder Nähe zu *C. J ist insgesamt näher an *C als dHO. Es gibt Fälle, in denen J und d mit Hs. C übereinstimmen (C 1138), solche, in denen sie gemeinsam gegen C stehen (C 821; 913; 1124), solche, in denen J gegen C und d (C 973) oder d gegen J und C (C 1947) formuliert, solche, in denen d teils mit C, teils mit J übereinstimmt (C 923) oder beide nur in Einzelheiten von C abweichen (C 1013), und schließlich Fälle, in denen alle drei Handschriften variieren (C 1284) oder – besonders häufig – Lesarten der einen oder anderen Version mischen. Es sind überwiegend Kleinigkeiten, in denen C, J und d sich unterscheiden, aber nicht nur.⁹⁵ Sie lassen auch als möglich erscheinen, dass die Zusätze nicht direkt aus Hs. C stammen, sondern sich C aus vagierenden Zusatzstrophen bediente. Die Differenzen im Strophenbestand (von den Textlücken abgesehen) und in der Textgestalt legen nahe, dass die Textmischung in *J und *d nicht auf einen einzigen gemeinsamen Akt zurückgeht. Wenn man auf die Zusatzstrophen eine Fassung gründet, die *J und *d übergreift, wiese diese Fassung eine divergente Textgestalt auf. Erweiterung des Textbestands und Bearbeitung der Textgestalt waren also zwei voneinander unabhängige Akte. Die Abweichungen von C in den Lesarten der Zusatzstrophen und ihre Platzierung in einem not-Text, unabhängig von den sonstigen Veränderungen von *C, machen überdies zweifelhaft, ob die Erweiterung des Textes aus der Perspektive von *C betrachtet werden
Kleinere Varianten gibt es sogar zwischen der in d versehentlich zweimal eingefügten Strophe C 923 (einmal zwischen B 902 und 903, einmal zwischen B 912 und B 913). J 966A,1 liste gegen C 973,1 sinne; C 1013,2 rehten maere gegen J 995A,2 rehten warheit (~ d); C 1124,2 habt groze sunde (~ d) gegen J 1109A,2 tuot groz sunde. Etzels erneuter Abfall vom Christentum wird C 1284,3 vernogieret, J 1258A,3 verkert, d 1258A,3 (= d 1263,3; ~ B 1258,3) vernewert genannt. Einige Abweichungen sind durchaus einschneidend. Wenn Hagen von Kriemhild erfahren hat, wo Siegfried verwundbar ist und das Gunther mitteilt, fragt er diesen muget ir die reise wenden (C 913,2), d. h. den geplanten Kriegszug durch eine Jagd ersetzen; in J 902A sagt er da wil ich die reise wenden (~ d). In J und d liegt also die Verantwortung für die Intrige stärker bei Hagen. – Beim Festmahl, bei dem der Kampf ausbricht, sagt J 1908A, 2– 3 Kriemhild (die kuniginne) trage Krone vor den anwesenden Fürsten (vor in, d. h. den im nächsten Vers erwähnten hohen fursten); in C 1960,2– 3 tragen kunige riche Krone vor ir; d 1908A,2– 3 (= d 1890,2– 3) vermischt beide Lesarten: die kuanigin trägt Krone vor jr | und manigen hohen Fürsten). In Hs. d ist also die zeremoniöse Szene etwas verderbt, indem nicht klar wird, ob Kriemhild selbst gekrönt zur Tafel geht oder die Festkrönung die untergebenen Fürsten betrifft (vgl. Heinzle 2008, S. 328).
Redaktion *d
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darf und die Tendenzen der Bearbeitung *C auf die Mischfassung übertragen werden dürfen.
Redaktion *d Da trotz der Zusatzstrophen *d stark von *J differiert, lässt sich nicht von einer Fassung *Jd sprechen. Es liegt also nahe, *d getrennt zu betrachten. Hs. d aus dem Ambraser Heldenbuch ist die späteste der vollständigen Nibelungenhandschriften. Ihr Text ist an vielen Stellen verderbt, doch basiert sie auf Vorlagen, die bis in die Anfänge der Verschriftlichung des Nibelungenliedes hinaufreichen und die durch die Frr. H und O bezeugt werden. Nur durch die Zusatzstrophen kann *d als besondere Redaktion aufgefasst werden, nicht jedoch auf Grund der Textgestalt, die sich wenig von den übrigen notHandschriften unterscheidet und kein eigenes Profil erkennen lässt. Eine Redaktion wäre also allein durch das Kriterium Strophenbestand definiert. In Bezug auf die Textgestalt gibt es, in der Formulierung Strohschneiders, keine „fassungsdefinierende Variation“,⁹⁶ denn fassungsrelevante Merkmale hat d gegenüber A und B nicht. Am ehesten eigenes Profil gegenüber B hat noch die besonders unfeste Eingangsaventiure. Sie ist stark verkürzt und wählt im Strophenbestand von A und B aus. Die erste Aventiure ist mit der zweiten zusammengeschlossen zur Jugendgeschichte der beiden Protagonisten. Die Strophenfolge in d ist A 1, B 1, A 3, B 2– 4; es fehlen die Strophen über den Wormser Hof (B 5 – 10) und im Gespräch Kriemhilds mit ihrer Mutter Kriemhilds Einwand gegen die Traumdeutung der Mutter (B 14– 15). Ebenso fehlt die Abgrenzung der ersten von der zweiten Aventiure durch eine Überschrift. Im Übrigen folgt d mit zahlreichen Verlesungen und sonstigen Fehlern sowie den üblichen Varianten dem Text von *B, doch bestätigt d den Befund, dass zwischen den not-Handschriften umfassende Lizenz zu Ad-libitum-Varianz besteht. Es gibt deshalb Lesarten, in denen d mit A gegen B geht.⁹⁷ Anders als B kennt d Aventiureüberschriften. Der Strophenbestand stimmt meist zu B; so enthält d etwa gegen A den Stratorendienst (B 394– 396) und die Beschreibung der Begleiter Siegfrieds in Isenstein (B 410 – 413).Wie in A und der übrigen Überlieferung ist in d eine Sonderlesart von B 1131,4 ersetzt: Kriemhild wendet sich nach dem Raub des Hortes schutzsuchend an ihren Bruder Giselher statt wie in B an Gunther. Dagegen hat d nicht die auffällige Lesart von A und B (A 1334,2 und B 1391,2), dass Kriemhild sich erinnert, sich mit Giselher (statt mit Gunther) versöhnt zu haben. Varianten des not- Textes sind in d unterschiedlich verteilt. Relevante Abweichungen betreffen entweder – nicht fassungskonstitutive – Fehler in d oder umgekehrt die Strohschneider 1999, S. 115. Bei einzelnen Lesarten steht d mit A 30,4 gegen B 27,4; A 792,2 gegen B 846,2; A 823,2 gegen B 877,2; A 1054,4 gegen B 1111,4; A 1074,3 gegen B 1131,3; Korrektur von B 844,3 nach A 790,3. Es fehlen wie in A die Strophen B 100/101 (Hagen bestätigt Siegfrieds Rang, der einen besonders ehrenvollen Empfang rechtfertigt).
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Korrektur eines Fehlers in A oder B.⁹⁸ Die beiden Fragmente H und O bestätigen diese Nähe von *d zu A und B gleichfalls. Davon unabhängig hat d viele Fehler; z. B. sind die Strophen B 379/380 in einer fünfversigen Strophe zusammengezogen; Grund ist ein Augensprung. Mehrfach sind Verse übersprungen.⁹⁹ Diese gewöhnlichen Abweichungen einer fehlerhaften Handschrift begründen keine besondere Fassung des not-Textes. Wieder stellt sich heraus, dass Fassung nicht die angemessene Ebene ist, auf der die Varianz des Nibelungenliedes beschrieben werden kann, sondern die Handschrift.
Redaktion *J J entstand um 1300 „im Grenzraum zwischen dem Bairischen und dem Alemannischen“.¹⁰⁰ In J und den *J-Handschriften lassen sich am ehesten Merkmale isolieren, die zu einer Fassung zusammenschießen, doch sind diese Merkmale ungleichmäßig über die Handschriften verteilt. Der Mischcharakter der Redaktion *J wird ausschließlich von den Hss. J und h bezeugt, wobei der Hs. h als unselbständiger, wenn auch fehlerhafter Abschrift von J kein textkritischer Wert zugebilligt wird. Die Zusatzstrophen von J und h werden durch die Fragmente K, W, Y und l nicht belegt, da in ihnen die entsprechende Textstrecke fehlt; in Fr. Q aber, das eine derartige Textstrecke abdeckt und die Spuren einer Zusatzstrophe enthalten müsste, fehlen diese (J 966A).¹⁰¹ Das Charakteristikum einer Fassung *J, die Kontamination mit Zusatzstrophen, ist also schwach belegt. Auch ein anderes Merkmal von J teilen die Handschriften, die man zu *J zählt, nicht. J lässt eine Passage – den ersten Teil des Zuges der Burgonden durch Bayern bis zur Ankunft in Passau – aus. Ist er „gestrichen“¹⁰² oder fehlte der Text in der Vorlage? Ist die Lücke Kennzeichen einer selbständigen Fassung oder einfach Textverlust. Jedenfalls hat sie der Schreiber von J (oder sein Vorgänger) bemerkt und sorgfältig kaschiert. Seine Handschrift trägt keinerlei Zeichen einer Lücke. Auf Strophe J 1512, die B 1512 entspricht und die mit der ersten Spalte fol. 38va endet, folgt bruchlos in der zweiten Spalte (fol. 38vb) die Strophe B 1625 (J 1625) (Abb. 6a-b). Str. 1512,4 endet mit dez nachtes vor dem Aufbruch zu Etzel, 1625,1 setzt (d)es morgens in Passau ein. Der Abschied von Worms schließt mit der Nachricht, dass Gunther dez nahtes zuvor noch mit der Königin zusammen ist (~ B). Die Erzählung wird mit J 1625,1 fortgesetzt: Des morgens do ez taget gen Passau si do riten. Der Schreiber sucht also Kohärenz herzustellen, indem er J 1625,1 – und zwar gegen die übrigen not-Handschriften – einen zeitlichen Zusammenhang (Nacht/Tagesanbruch) zwischen beiden
Einen Fehler von A und B hat d – wie die restliche Überlieferung – nicht: die fehlerhafte Kontraktion zweier Strophen (A 491; B 521), durch die ein wichtiges Handlungselement übergangen wird. Str. B 1250 fehlt (Rüdiger bittet Kriemhild um eine Entscheidung); B 1311 fehlt (Kriemhild versichert Gotelind ihrer Gunst); aus B 1063 wird eine dreiversige Strophe. Schneider 1987, S. 253. Vgl. S. 188 – 189. Reichert 2012, S. 444.
Redaktion *J
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Abb. 6a: Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 474, 38v. Mit Pfeilen gekennzeichnet sind jeweils die Anfänge der Strophen, zwischen denen (Spaltenwechsel) die Lücke besteht ( J 1624 – 1625).
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Abb. 6b: Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 681, 95v. Mit Pfeil markiert ist die Stelle, an der Text übersprungen wird. Im Layout ist die Lücke unkenntlich.
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Strophen herstellte. Zu diesem Zweck ist der Beginn der Passau-Episode verändert.¹⁰³ Dazwischen liegen 113 Strophen, plus vier Zusatzstrophen (falls J dieselben wie d hat), plus eine Kapitelüberschrift.¹⁰⁴ Das bedeutet, dass die ganze Reise zwischen Worms und Passau, mit den weissagenden Wasserfrauen, dem Streit mit dem Fährmann, dem Übersetzen über die Donau und den nächtlichen Kämpfen mit den bayerischen Herzögen in J und h fehlt. Die in J überspielte Lücke des Aufbruchs zu den Hunnen fällt in h nicht mit einem Spaltenwechsel zusammen wie in J, sondern steht mitten auf der Seite. Das könnte Hinweis auf eine Fassung sein, die die ‚bayernfeindliche‘ Episode tilgte: den gewalttätigen Fährmann, das erzwungene Übersetzen über die Donau und die die Fremden attackierenden Bayernherzöge. Die Episode fehlt nun aber keineswegs in *J insgesamt. Fr. K und (falls man es zu dieser Redaktion rechnet) Fr. l enthalten durchaus Teile dieser Episode, sodass ihre vollständige Wiedergabe auch für die Handschriften, aus denen die Fragmente stammen, anzunehmen ist.¹⁰⁵ Das Fehlen des Bayernteils in Hs. J kann folglich nicht für eine Fassung *J insgesamt geltend gemacht werden; es könnte sich auf J und die Abschrift h beschränkt haben. Gelegentlich vermutete konzeptionelle Rücksichten von *J insgesamt (das negative Bild von den Bayern!) sind angesichts der Fragmente unplausibel. Mithin lassen sich nicht alle der *J-Redaktion zugeschriebenen Merkmale, und zwar ausgerechnet diejenigen, die einer Fassung scharfes Profil verleihen würden, aus der Hs. J extrapolieren. Repräsentiert das Fr. Q einen Text, der der Einfügung der Zusatzstrophen vorauslag? Die Frr. K und l dagegen einen Text, der noch den Bayernteil enthielt? Was wäre dann aber das Charakteristikum der Fassung *J? Es geht nicht an, den Fassungscharakter allein auf Hs. J zu stützen. Sicher lässt sich nur sagen, dass man die Textlücke bzw. die Kontaminationen in Hs. J von der übrigen Textgestalt der *J-Redaktion trennen muss. Doch es gibt andere Argumente für die Familienähnlichkeit der Handschriften der Redaktion *J, nämlich Tendenzen zu einer besonderen Textgestalt. In Hs. J und den der Redaktion *J zugeordneten Fragmenten K, Q, W und Y ist nämlich deutlich ein eigenständiger Formulierungswille erkennbar. Die Varianten von J und der Fragmente gegenüber den übrigen not-Handschriften sind nicht nur auf Schreibweise, Phonetik, Morphologie und Ad-libitum-Varianten beschränkt. Sie weisen zahlreiche Sonderlesarten auf, die über Ad-libitum-Varianz erheblich hinausgehen. Sie verleihen *J ein ge-
B 1624,4 (fehlt in J) handelte dagegen schon vorher von der Ankunft in Passau; B 1625,1 setzte das fort: Der edeln chuͤ nige oͤ hem der bisschoff Pilgrim […] (~ A). Oder hat der Schreiber drei Blätter übersprungen? Die Spalte hat in J in der Regel 10 Strophen, so dass der Raum von ca. 120 Strophen, die übersprungen wurden (unter Berücksichtigung der Unsicherheit, die Zahl der Zusatzstrophen betreffend), sechs Seiten zu zwei Spalten (= 3 Blätter) umfasst hätte. Wie der Korrekturversuch beweist, ist die Auslassung dem Schreiber nicht „irrtümlich“ unterlaufen (Heinzle 2000, S. 213). Dass sie ihm bewusst war, wird durch das sorgfältige Kaschieren der Lücke bestätigt; nicht bestätigt wird, dass der Schreiber die Strophen bewusst übergangen hat. Während in K der Anfang überliefert ist, enthält l einen Abschnitt aus der Auseinandersetzung mit dem Fährmann und den Kampf mit Gelpfrat bis zur Ankunft in Passau.
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meinsames Profil.¹⁰⁶ Wieder sind allerdings diese Abweichungen von Ad-libitum-Varianten überlagert, die sich über die verschiedenen Handschriften verteilen. Sie finden sich zu unterschiedlichen Gruppierungen zusammen, mal JK,¹⁰⁷ mal JQ,¹⁰⁸ mal die Fragmente gegen J.¹⁰⁹ In *J wiederholt sich das an anderen Redaktionen beobachtete Phänomen einer gruppenübergreifenden Varianz. *J hat in der Textgestalt einen eigenen Kern, der einigermaßen fest scheint, an den Rändern aber ausfranst. *J bildet einen Komplex verwandter Handschriften, die den not-Text in einer bestimmen Weise weiterentwickeln. Unabhängig von den charakteristischen Merkmalen der Hs. J (Zusatzstrophen und Eliminierung der Bayernepisode) tendiert die Redaktion *J dazu, den Text an einzelnen Stellen zu ‚verbessern‘. Insofern kann man in *J die Tendenz zu einer eigenen Fassung beobachten, wie sie Bumke auch für die J-‚Klage‘ annimmt. Das allgemeine Varianzprinzip, das die Nibelungenüberlieferung insgesamt kennzeichnet, überlagert aber die Tendenz zu einer von der Restüberlieferung durch gemeinsame Merkmale abgrenzbaren Fassung.
Erweiterung des Textes und Fassung: Handschrift b Der Text des Epos war offen für Varianten, die die Handlungs- und Sinnstruktur nicht veränderten. Er konnte auch unter Wahrung der Handlungsstruktur neu gedeutet werden, wie das konsistent erst in der Bearbeitung *C geschieht. Veränderung der Architektur weisen erst die späten Handschriften des 15. Jahrhunderts k, m und n auf, in denen sich das Epos auf die sonstige Nibelungentradition öffnet. Der Text der not- bzw. liet-Handschriften tat das nicht. Die kleinen Erweiterungen in Hs. b sprechen nicht dagegen. Sie haben nichts mit der Sagentradition zu tun. Sie konnten als ‚Nummern‘ aufgenommen werden (wie auch schon in der Bearbeitung *C die Erweiterung der Komik von ‚Rumolts Rat‘).¹¹⁰ Hs. b fügt eine erste Begegnung der Burgonden mit den Leuten von Dietrich von Bern ein (Str. b 1715A – W). Die Passage erinnert noch einmal an Kriemhilds Verlust (1715A – E), berichtet von Kriemhilds Versuch, Hildebrand für ihre Rache an Hagen einzusetzen und von dessen Zurückweisung durch Dietrich (b 1715H – J), fügt eine Warnung Hildebrands vor einer Falle in Etzels Palast ein (b 1715K – P) und erzählt von der Reaktion der Burgonden
Diese werden S. 255 – 262 gesondert betrachtet. Einige Beispiele aus dem Ad-libitum-Bereich: JK 1417,2 da niht solten lan gegen Q da solten nicht enlan; JK 1418,4 vil gegen Q (fehlt); JK 1424,1 durch daz gegen Q in daz; 1425,1 fehlendes daz gegen Q; JK 1474,2 zusätzliches daz gegen Q; JK 1480,4 und och die bruͤ der min gegen Q und die lieben bruͤ der men usw. JQl 1411,4 herlich gegen K zierlich; JQl 1412,3 betruͤ bt gegen K getrubet; JQ 1414,3 daz er bring mit im gegen K daz er mit im bringe; JQl in daz lant gegen K her in ditze lant; JQl 1416,1 wie vil ich eren han gegen K die ere die ich han; JQ l1475,2 wez starker sturme gegen K waz in stuͦ rmen starchen usw. KQ 412,3 ie gegen Jl nie; KQl 1413,2 Plural gegen J Singular; KQ 1476,2 harte gegen J also usw. Wachinger 1960, S. 37; 148.
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darauf (b 1715Q – W). Die Episode amplifiziert nur die Szenen des Empfangs an Etzels Hof und einen späteren Dialog Kriemhilds mit den Amelungen; sie bereichert sie um ein Detail: daz newe haus bey der Tuͦ naw (b 1715O,2) sei zu meiden, weil dort aus hohlen Säulen erstickender Qualm dringen und die Anwesenden beim Mahl töten würde (b 1715O – P). Der Zusatz ist rein additiv.¹¹¹ Das ist eine ähnliche, das Ganze nicht störende ‚Nummer‘ wie die Strophen b 2373A +B bei der Hinrichtung Kriemhilds durch Hildebrand. Dort wird der bekannte Witz eingefügt, dass Hildebrands Schwert Kriemhild so perfekt durchschneidet, dass man am zerteilten Körper kein Zeichen einer Wunde sieht und Kriemhild nichts spürt, bis sie sich bückt; dann aber fällt sie auseinander (‚nicken Sie mal‘).¹¹² Angesichts des Pathos der Situation ist der Scherz recht geschmacklos, aber der Redaktor wollte auf den beliebten Gag nicht verzichten. Auch diese groteske Szene ist gewissermaßen eine ‚Zugabe‘, die an der Grässlichkeit der Situation nichts ändert. Ungerührt fährt b fort: Dietrich und Etzel ser wainen da began | sy clagten inneklichen baide weib unde man (b 2374,3 – 4). Die Aussage des not-Textes wird dadurch nicht gestört.
Fassungen? Der Ausweg aus Brackerts Ergebnissen, statt von einem originalnahen Grundtext auszugehen, Fassungen an dessen Stelle zu setzen und die Überlieferungsgeschichte auf Fassungen zurückzuführen, hat sich als nicht gangbar erwiesen. Abgesehen von der notund liet-Fassung lässt sich allenfalls in *J eine hinreichend abgrenzbare, durch exklusive Lesarten und (vielleicht) erweiterten Textbestand profilierte Handschriftengruppe ausmachen, die sich zur Fassung konsolidiert. Allerdings ist an dieser Gruppe die Problematik des Fassungsbegriffs besonders evident. *J bildet ein besonderes Profil der Textgestalt in der Hs. J und vor allem in den Fragmenten K, Q und W aus. Andererseits weist, was den Strophenbestand betrifft, *J die größte Divergenz zwischen den sie repräsentierenden Handschriften auf. Der Mischcharakter von *J durch die Zusätze wird durch die Parallelüberlieferung in den Fragmenten nicht bestätigt, in einem Fall sogar widerlegt. Die Lücke in Hs. J wird durch zwei Fragmente partiell geschlossen. Auch die Konturen einer Fassung *J sind also unsicher. Ansätze zu einer besonderen Fassung gibt es auch in *D, setzt man den Mischcharakter aller dazu gehörender Handschriften voraus und beachtet man die Verwandtschaft der Textgestalt der Fragmente mit den vollständigen Handschriften. Die Tendenzen zur Fassungsbildung (Strophenbestand, Einzelheiten der Textgestalt) werden allerdings von Affinitäten der Textgestalt generell zu anderen Handschriftengruppen durchkreuzt, die *D ebenso mit diesen zusammenschließt.
Ähnliches erzählt auch Hs. n. Man sollte diesen Joke nicht allzu sehr belasten; kaum handelt es sich um die „völlige Vernichtung der Teufelin Kriemhild, die noch im Tod lächerlich gemacht werden soll“ (Heinzle 2005, S. 156).
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A und B weisen durch einige Merkmale Familienähnlichkeit auf und grenzen sich durch zahlreiche Ad-libitum-Varianten von anderen Handschriften der not-Fassung (besonders *D) ab, mit denen sie an anderen Stellen, und zwar jede für sich, übereinstimmen. Sie weisen auf der anderen Seite untereinander so zahlreiche Differenzen auf, dass sie sich nicht zu einer Fassung zusammenfassen lassen. Nur die Bearbeitung *C hat in Bezug auf Textgestalt und Textbestand ein deutlich ausgeprägtes Fassungsprofil. Aber auch die *C-Handschriften variieren, wenn auch in geringerem Maße, den Wortlaut und schließen sich zu wechselnden Handschriftengruppen zusammen, wobei einige Handschriften noch Lesarten des not-Text bewahren. Die als maßgeblich für *C geltende Handschrift C repräsentiert also nur eine Variante der Bearbeitung. Trotzdem besteht im Ganzen auch bei den Fragmenten nie ein Zweifel an der Zugehörigkeit zu *C. Eine vergleichbar konsolidierte Fassung lässt sich unter den not-Handschriften nicht ausmachen. Einer Fassung am nächsten kommt *J, eine Mischhandschrift mit erweitertem Textbestand und eigenwilligen Lesarten. Der Fassungsbegriff ist also nur in sehr eingeschränkter Hinsicht geeignet, die Varianz des Nibelungenlieds zu beschreiben. Die feste Architektur des Textes lässt Anlagerungen und Auslassungen zu, sofern die Architektur des Epos unbeschädigt bleibt. Am ehesten könnten die dabei entstehenden Differenzen des Strophenbestandes als Basis von Fassungen dienen, aber sie sind in den Redaktionen nicht sicher nachweisbar (oder ausgeschlossen) und werden überdies durch die variante Textgestalt konterkariert. Merkmale der Textgestalt und Merkmale des Strophenbestandes sind, wie besonders *J und *d, aber auch *A und *D zeigen, nicht deckungsgleich. Textgestalt und Strophenbestand sind entkoppelt. Varianz der Textgestalt ist vornehmlich ein Phänomen der Handschriften, nicht der Fassungen oder Redaktionen. So lassen sich die Umrisse von Fassungen nur näherungsweise beschreiben; sie werden durchkreuzt von der Varianz der Handschriften. Diese konstituiert wechselnde Verwandtschaften zwischen Handschriften, die auf Grund anderer Kriterien unterschiedlichen Redaktionen zugewiesen werden. Sie gehen vermutlich nicht auf Kontaminationen zurück (von denen man eine exorbitant hohe Zahl ansetzen müsste), sondern auf den Umstand, dass man bei Wiedergabe des Nibelungenliedes auf einen Pool gleichzeitig verfügbarer Formulierungsvarianten zurückgreifen konnte, auf die im Idiom ‚Nibelungisch‘ angelegten Varianten. Ein zuverlässiges Bild würde allerdings erst die vollständige Erfassung der Varianten durch EDV bieten, die die Häufigkeit bestimmter Variantentypen, ihre Verteilung auf die Handschriften, ihr prozentualer Anteil an den einzelnen Handschriftengruppen präzise bestimmen würde. Diese Aufgabe ist von künftiger Forschung zu leisten.
8 Auslassungen, Ergänzungen, Ausgestaltung, Anlagerungen Wenn es nicht möglich ist, trennscharf Fassungen zu unterscheiden, so zeichnen sich doch Handschriftengruppen ab, die gewisse Familienähnlichkeiten aufweisen, die sie von anderen Handschriftengruppen unterscheiden. Sie weisen Auslassungen, Ergänzungen, Ausgestaltungen und Anlagerungen auf und setzen in dem Geschehensablauf des Epos bestimmte Akzente, verschieben in der Bewertung der Figuren den Schwerpunkt, ergänzen und gestalten die Handlung in bestimmten Hinsichten aus, dies alles aber ohne Veränderung der Grundstruktur. Die ‚Klage‘ fügt ihr eine Fortsetzung und einen Kommentar an. Die ‚Klage‘ gehört ans Ende dieser Reihe, insofern sie in nahezu der gesamten Nibelungenüberlieferung den Nibelungenkomplex abschließt, manchmal maskiert als ‚letzte Aventiure‘ des Nibelungenliedes. Im Folgenden sollen Handschriften(‐gruppen) beschrieben werden, die entweder auf Grund des Textbestandes oder auf Grund der Textgestalt das Nibelungenlied besonders akzentuieren. In der festen Gesamtarchitektur eröffnen sich Spielräume, die verschieden genutzt werden können. Diese verschieden genutzten Spielräume sind von der Ad-libitum-Varianz der Textgestalt im Mikrobereich zu unterscheiden. Es handelt sich um Spielräume der Kürzung, der Erweiterung, der Ausgestaltung und der Kommentierung des Textbestandes, die die Architektur des Nibelungenliedes als ganze intakt lassen. In ihnen können Strophen angelagert (Zusatzstrophen) oder weggelassen werden – ohne Schaden für das Ganze. Ohne dass sich diese Gruppen zu Fassungen verdichten, zeichnen sich Tendenzen unterschiedlicher Gestaltung ab, die dann am entschiedensten in der Bearbeitung *C gebündelt werden. Die Gestalten, die das Nibelungenlied in der Überlieferung annimmt, bauen nicht aufeinander auf, sind nicht als ‚Stufen der Bearbeitung‘ in einen linearen Zusammenhang zu bringen, mit dem Ziel des gültigen Textes. Sie sind deutlich voneinander unterschieden und erlauben keine Gesamtinterpretation des ‚Nibelungenkomplexes‘. Wenn deshalb im Folgenden scheinbar konventionell an bekannte Ergebnisse der Interpretation des Nibelungenliedes erinnert werden soll, dann sind sie als ‚nebeneinander‘ bestehende Möglichkeiten aufzufassen, mit dem festgelegten Plan des Epos, seiner Handlungsverknüpfung, einer Personenkonstellation, seinem Motivationszusammenhang umzugehen. Es geht deshalb nicht an, die deutlichen Akzentuierungen des Geschehens in *C oder der ‚Klage‘ als maßgeblichen Schlüssel zum Verständnis auch der übrigen unterschiedlichen Gestaltungen anzusehen. Das gilt besonders für die den notFassungen wie den liet Fassungen stets angehängte ‚Klage‘. Die ‚Klage‘ bietet eine Interpretationsanleitung, die nachliefert, was das Epos nicht enthält, die das Erzählte nachträglich auf allgemein akzeptierte Normen bezieht und insofern den Erwartungen der Zeit weiter entgegenkam. Im Nibelungenlied zeichnen sich vier Typen der Veränderung ab, die über die Adlibitum-Varianz, bei der man meist keine Intention der Textänderung angeben kann, hinausgehen. Ein erster Typus sind gezielte Auslassungen von Strophen(‐gruppen). Er https://doi.org/10.1515/9783110983104-009
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verbindet die Hss. A und C. Ihre Absicht scheint einerseits, intensivierende Doppelungen zu vermeiden, andererseits folgenlose Umwege der Handlung zu eliminieren und den Handlungsverlauf zu begradigen. Hier geht es um den Textbestand. Ein zweiter sind Erweiterungen mit dem Ziel, Zwischenglieder der Handlung einzufügen, offene Fragen zu klären, Motivationen zu präzisieren und dgl. So fügen die Mischfassungen *d und *J zusätzliche Strophen ein, halten Konzept des not-Textes fest, wie es auch die Hss. ABDdb samt Fragmenten entwerfen. Hier handelt es sich um Erweiterungen des Textbestandes, die jedoch entscheidende Züge der Textgestalt jedoch nicht verändert. Ein dritter sind punktuelle Varianten ausschließlich der Textgestalt bei Beibehaltung des erweiterten Textbestandes, die den not-Text schärfer akzentuieren, Implikationen explizit machen, die Handlungselemente präziser aufeinander abstimmen. Sie finden sich vornehmlich in *J (Hss. J und h samt Fragmenten). Die Bearbeitung *C weitet die ersten drei Möglichkeiten aus und kombiniert sie, formuliert den not-Text, auf dem sie ebenfalls basiert, durchgängig um, erweitert die Handlung durch mehr Zwischenglieder, erklärt schwer Verständliches, perspektiviert das Geschehen teils anders und verteilt Schuld und Unschuld eindeutiger. Sie kumuliert gewissermaßen Verfahren der Typen 1– 3. Es geht nicht um eine zeitliche Folge aufeinander aufbauender Schritte, sondern um drei systematisch unterschiedene Möglichkeiten, mit dem Text des Nibelungenliedes umzugehen, und eine vierte, die sie kombiniert. Es sollen verschiedene Typen des Eingreifens in den Text, die über die gewöhnliche Ad-libitum-Varianz hinausgehen, aber die ‚Werkhaftigkeit‘ des Nibelungenliedes nicht in Frage stellen, beschrieben werden. Allen diesen Typen wird die ‚Klage‘ angehängt. Sie ist eine für alle gleichermaßen notwendige Interpretationsanleitung. Ich beginne mit Auslassungen, behandle dann die Zusatzstrophen in den Mischhandschriften, dann die punktuellen Formulierungsalternativen in *J. Dann werde ich die Forschungsergebnisse betreffs der Bearbeitung *C zusammenfassen, die durch Umformulierung, Neudeutung, Ergänzung und Auswahl des vorgegebenen Materials die Aussage verändert.
Auslassungen Die Auslassungen,¹ die ich im Folgenden behandle, sind nicht Fehler, die auf Fehllektüre (z. B. Augensprung) zurückgehen wie die zusammengezogenen Strophen in D, b und N. Diese Auslassungen beruhen vielmehr auf Absicht. Das ist schon an der Varianz der
Ich spreche im Folgenden von Strophen, die einzelnen Handschriften fehlen, als Auslassungen, obwohl man in anderer Perspektive ebenso gut von Zusatzstrophen in den übrigen Handschriften sprechen könnte.
Auslassungen
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Eingangsaventiure sichtbar.² Die These der Textfestigkeit scheint an ihr zu scheitern. Hier differieren die Handschriften besonders spektakulär. Zur Erklärung hat die Forschung besonders viele und komplizierte Kontaminationsprozesse angesetzt. Bei näherem Zusehen verflüchtigt sich jedoch der Eindruck der Volatilität auch hier. Die Eingangsaventiure besteht aus wenigen festen Bauelementen, die unterschiedlich expandiert, in unterschiedlicher Zahl und teils auch in unterschiedlicher Reihenfolge miteinander kombiniert werden, die aber – bei den üblichen Detailabweichungen des Wortlauts im Einzelnen – erstaunlich übereinstimmen. Die Bauelemente sind: Prologstrophe – die Vorstellung Kriemhilds – die Vorstellung ihrer Brüder – des Wormser Hofstaats – Falkentraum und Mutter-Tochtergespräch. Diese Blöcke sind unterschiedlich wichtig für den Fortgang. Ein Block kann fehlen wie in *J und *d die Aufzählung des Hofstaats; auch die Auslassungen über die Dynastie ist um eine Strophe verkürzt. Diese beiden Handschriften konzentrieren sich auf die wichtigsten Protagonisten. Sonst sind die Blöcke jedesmal dieselben. Innerhalb der Blöcke können in einzelnen Handschriften Strophen verdoppelt werden, d. h. eine Aussage wird intensivierend wiederholt. Ein Block kann mehr oder weniger expandiert sein (5 Strophen über die Könige in ABCD gegen drei in Jd); dabei kann die Reihenfolge wechseln; eine Strophe wird vorgezogen (D 4 = AC 7). Es wiederholt sich also im Prinzip, was am übrigen Text zu beobachten ist: Es gibt einen Kernbestand von Erzählblöcken mit der Möglichkeit, einzelne auszugestalten oder auf einen weniger Wichtigen zu verzichten oder auch ihn zu ergänzen und so die Vorstellung der Wormser zu vervollständigen. Im Einzelnen sieht das so aus: Die Programmstrophe hat nur ein Teil der Überlieferung (ACDbd), sie fehlt in Jh und B. Es wird allgemein angenommen, dass sie aus der Bearbeitung *C in einige not-Handschriften eingedrungen ist³ und dass sie die Distanz gegenüber den erzählten Ereignissen betont. Sie ist insofern ein Sonderfall, von der eigentlichen Narration getrennt, nennt den Erzählgegenstand und bietet ein ‚Abstract‘ der Epenhandlung. Gut denkbar, dass sie erst im Zuge der Verschriftlichung des Textes, der, wie Heldenepik oft, voraussetzungslos anhebt,⁴ vorangestellt wurde. Sie muss nicht unbedingt aus *C in die not-Handschriften A und d gedrungen sein, sondern könnte im Kontext der Verschriftlichung stehen, indem sie den Platz des Erzählten in der schrift-
Hs. b hat an dieser Stelle Textverlust; in a ist der Anfang ganz umgestaltet; in h fehlte das erste Blatt. Diese Handschriften scheiden also aus der folgenden Betrachtung aus. Das aber ist schiere Vermutung. Braune 1900, S. 157 verfügt: „Diese strophe ist entschieden eigentum der recension *C: die originalrecension fieng, wie noch jetzt die hss. B und J, mit str. 2 an. Aber in A, d und k ist str. 1 aus *C übernommen, sicher wohl unabhängig von den drei hss. oder in einer ihrer vorlagen“; vgl. ebd. die phantasievollen Annahmen über die Modalitäten der Übernahme. Diese Einschätzung wurde allgemein übernommen, obwohl sie anfangs nur erklären sollte, warum die Programmstrophe in der archetypnächsten Handschrift fehlt. Die zur Stütze angeführten Forschungsmeinungen (Heinzle 2003a, S. 200) bringen keine überzeugenden Argumente. Die Behauptung steht im Banne des inzwischen widerlegten Stemmas. Müller 1998, S. 105 – 107.
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lichen Überlieferung bestimmt. Die Variante ohne Programmstrophe würde also stärker auf die Verwurzelung des Textes in der Mündlichkeit verweisen.⁵ Mit der folgenden Strophe wird epentypisch die Heldin (statt wie gewöhnlich der Held) eingeführt. Hierin stimmen die sechs vollständigen Handschriften überein. Die Verdoppelung der Rede über Kriemhild in der folgenden Strophe bringen nur vier Handschriften (ADJd, mit einer Umstellung des 3. und 4.Verses in J), nicht aber die Hss. B und C. Diese zusätzliche Strophe ist nach dem Prinzip der variierend-wiederholenden Rede gebaut; die eine Handschriftengruppe ergänzt sie, die andere lässt sie weg; beides ist möglich, ohne den Sinn zu verändern. Dem Kriemhild-Block folgt der Block über die Brüder, über ihren Herrschaftssitz Worms und über ihr Geschlecht. Er differiert im Strophenbestand – ist also unterschiedlich ausführlich – und dazu in einer Handschrift (D) in der Strophenfolge, im Übrigen aber ist er gleich. Damit ist der Abschnitt über das Wormser Geschlecht abgeschlossen. Hieran schließt sich ein Block (3 Strophen), der die Basis der Macht der Wormser Könige näher ausführt, indem er ihren Hofstaat vorstellt. Diese Strophen fehlen in J und d vollständig, da schon die voraufgehende Strophe auf die craft der Könige, die in ihrem Gefolge besteht, verwiesen hatte. Dieser Block als ganzer verdoppelt also nur zuvor Gesagtes und kann deshalb wegbleiben. Dann setzt die eigentliche Erzählung mit Kriemhilds Falkentraum und dem Gespräch mit der Mutter ein; ihr Fazit ist, dass Kriemhild auf minne verzichten und ohne Mann leben will (7 Strophen). Dabei wird der Disput Kriemhilds mit der Mutter in ABCD wieder verdoppelt, indem jede der Frauen auf die Rede der anderen repliziert. Auch diese Verdoppelung fehlt in J und d. Während abschließend ABCDd eine Deutung des Falken im Traum geben, verzichtet J auch darauf. Das ist ein klarer Aufbau: drei Bauelemente vor Einsatz der Handlung, wobei in J und d das dritte (Vorstellung des Hofes und des Königgeschlechts) fehlt. Verdoppelung einzelner Elemente, wieder mit Ausnahme von J und d; dazu die Programmstrophe, mit einer anderen Verteilung der Auslassung in den Handschriften (BJ gegen ACDd). Der Beginn der Erzählung mit dem Falkentraum, seiner Deutung durch die Mutter und Kriemhilds Entschluss, ledig zu bleiben, ist immer derselbe. Alle für die folgende Geschichte wichtigen Umstände werden expliziert. Aus dieser relativ festen Struktur können einzelne verdoppelnde Strophen herausgebrochen werden; verändert wird sie nicht. Die Bauelemente unterscheiden sich inhaltlich nicht; sie sind nur unterschiedlich expandiert. So bestätigt selbst die scheinbar so variantenreiche Eingangsaventiure die im Kern feste Textstruktur. In den stark verkürzten Hss. J und d schließt ohne Aventiurengrenze die Jugendgeschichte Siegfrieds an.⁶ In der Eingangsaventiure ist bereits das Prinzip der Auslassungen erkennbar: Sie dürfen nicht für den Fortgang wichtige Elemente betreffen und können an intensivie-
Zum Zusammenhang mit der Verschriftlichung Heinzle 1995, S. 92– 93. In J fehlt anders als in d auch die Aventiurengrenze zu Beginn der 3. Aventiure.
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renden Verdopplungen ansetzen. Letzteres ist besonders deutlich an den zahlreichen Auslassungen in der 6.–10. Aventiure der Hs. A. Sie betreffen Strophen, in denen ein bereits erzählter Vorgang intensiviert, variiert, ausgemalt wird. So fehlt in der Isensteinepisode der Stratorendienst, der Siegfrieds Standeslüge bei Brünhild in einen bildhaften Vorgang übersetzt; A begnügt sich damit, den Sachverhalt der Unterordnung Siegfrieds unter Gunther verbal auszudrücken. Ebenso fehlen Beschreibungen und Reaktionen der Akteure, Details des betrügerischen Wettkampfs, später besonders drastische Details der Demütigung Gunthers in der Hochzeitnacht. Aber nicht nur an zentralen Punkten der Handlung kann die Erzählung expandiert bzw. verkürzt werden. Es fehlen Siegfrieds genauere Angaben über Brünhilds Bewandtnisse; es fehlen redundante Schritte der Vorbereitung der Fahrt nach Isenstein, die Beschreibung des Auftritts der vier Helden vor Brünhild, Überlegungen beim Wettkampf usw. usw.⁷ Aber der Vorgang ist derselbe. Die Werbungsfahrt, der Betrug und seine Aufdeckung laufen völlig gleich ab. Auch wo Strophen fehlen, schließen die verbleibenden Strophen nahtlos aneinander an, sodass auch in der kürzeren Erzählung nichts Wichtiges fehlt. Auch die Bearbeitung *C hat nicht nur Erweiterungen, sondern auch Auslassungen, die allerdings eine andere Funktion haben. *C streicht ganze Episoden. Die Streichungen verstärken die lineare Kohärenz des Geschehens. Aber die Kürzung erfolgt nicht „zugunsten ökonomischeren Erzählens“,⁸ sondern zielt vor allem darauf, früh sich anbahnende Störungen zu beseitigen.⁹ Es ist also, anders als Haferland glaubt, durchaus ein „wirklich überzeugender Grund erkennbar“,¹⁰ warum in *C dergleichen Episoden herausgestrichen sind. Ihr Fehlen verdankt sich nicht den Aussetzern des Gedächtnisses beim Memorieren des Textes. Die erste Kürzung: Bei der Verteilung von Brünhilds Besitz durch Dankwart (B 513 – 516) fürchtet Brünhild, dass Dankwart alles verschenkt und sie als Königin nicht über eigene Mittel, milte zu üben, verfügt. Sie fällt Dankwart in den Arm und verhindert so ihre vorzeitige Depotenzierung. Eine spätere Konsequenz des Isensteinabenteuers, der Verlust der Ausnahmestellung Brünhilds, würde durch diese rasch korrigierte Expropriierung der Königin durch Dankwart vorweggenommen. Gunther und Hagen beruhigen Brünhild: Die Ehe mit Gunther verschafft ihr genug Mittel, wie vorher milte zu üben. Letztlich bleibt Brünhilds Stellung als Königin unbeschädigt – wie es zunächst scheint –, die Harmonie scheint ungefährdet. Doch der viel schlimmere Verlust ihrer mythischen Stärke und ihrer Ehre als Folge des wiederholten Betrugs steht noch aus. Die Episode deutet im not-Text eine Störung an, die erst viel später, und dann mit tödlichen Folgen, zutage tritt. Indem die Episode in *C getilgt ist, bleibt vorerst ausgeklammert, dass das Verbrechen, an dem Siegfried beteiligt ist, verheerende Folgen hat. Weiter streicht *C Siegfrieds anfängliche Weigerung, Botendienst für Gunther zu leisten (B 528 – 532). Hagen hatte den Botendienst abgelehnt und auf Siegfried verwiesen. Müller 2017, S. 381– 387; vgl. S. 304– 305 zu einer möglichen Vortragsfassung. Haferland 2003, S. 123. Müller 2016, S. 247– 249. Haferland 2003, S. 124; vgl. S. 88.
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Der wandte ein, das entspreche nicht seinem Status. Um diesen Status geht es bei vielen Diensten, die Siegfried Gunther leistet, immer wieder; er will nicht als jemand auftreten, der durch dienest Anspruch auf Lohn hat.¹¹ Nur um der minne zu Kriemhild willen ist er schließlich dazu bereit: ein Schlenker der Handlung, der ohne Folgen bleibt und den Fortgang scheinbar unnötig aufhält. C 539 – 541 erzählt die Episode anders. In C 541,4 fehlt Siegfrieds anfängliche Weigerung; er stimmt dem Auftrag sogleich zu, so wie er andere Aufträge übernimmt, ohne dafür diskriminierenden Lohn zu nehmen. Gunther muss nicht erst flegen (B 531,4), was in einer weiteren, in C fehlenden Strophe ausgeführt wird. Auch hier ein folgenloser Umweg, der eine latente Störung anzeigt, die erst später manifest wird: Siegfrieds prekärer Status als scheinbarer man Gunthers, den er selbst vorgetäuscht hat, und sein problematisches Verhältnis zu Hagen, dessen Rat Siegfried zum Boten herabstuft. Noch wird der Verdacht einer inferioren Stellung Siegfrieds abgewendet. Noch ist die Harmonie zwischen Gunther und Siegfried ungefährdet. Auch die Begradigung der Auseinandersetzung über das burgundische Erbe hat mehr als erzähltechnische Bedeutung. An diesem Punkt der Handlung stehen die Zeichen noch auf friedliche Beziehungen zwischen den Wormsern und dem Paar Siegfried und Kriemhild, da stört Kriemhilds Beanspruchung ihres Erbes für einen Moment die Eintracht, die unter den Männern besteht: Siegfried will ganz auf Kriemhilds Erbe verzichten (B 691– 692); Gernot auf der anderen Seite bietet Kriemhild einen größeren Teil des Erbes an, als ihr dem Proporz nach zusteht (B 694). Kriemhild aber beharrt darauf, einen bestimmten Anteil am Erbe, nämlich degene, zu bekommen, und schickt nach Hagen und seinen Leuten, um sie mitzunehmen. Hagen gerät in Zorn: Er kann nicht einfach weggegeben werden; der Tronegære site (das heißt hier: Recht) ist es, zum Gefolge der Könige zu gehören. Er weigert sich mit Erfolg. Kriemhild gibt nach: Wieder ein folgenloser Umweg; C lässt ihn weg (es fehlen A 643/644; B 695/696). Auch die Formel, die Sache erst einmal unentschieden zu lassen (Daz liezen si beliben, B 697,1), fehlt in C: Hinweis auf einen latent schwelenden Konflikt. Die Episode präludiert die später tödliche Gegnerschaft Kriemhilds und Hagens, die, anders als später, hier auf Kriemhilds Machtwillen zurückgeht, im Gegensatz zur späteren Verteilung von Schuld in *C zuungunsten Hagens. Hier dienen die Kürzungen dazu, einen glatteren Verlauf herzustellen, der aber im Ergebnis mit dem übergreifenden Verlauf identisch ist, der nicht nur nicht angetastet, sondern sogar noch besser herausgearbeitet wird. Auslassungen gefährden nie den Rahmen; sie stellen die Geltung des Textes nicht in Frage. Allerdings geht eine versteckte Vorausdeutung auf künftige Konflikte verloren.
Für den Sachsenkrieg will er ebenfalls keinen Lohn, weil er ze riche (A 258,1; ~ BC) ist. Bei der Botschaft zu Kriemhild will ihm diese aus dem gleichen Grund keine botenmiete geben, doch aus der Hand seiner Dame nimmt Siegfried sie an, um sie sogleich weiterzugeben (A 520 – 522; ~ BC); zu diesem Zusammenhang ausführlich Müller 1974, S. 102– 104.
Die Zusatzstrophen in *J und *d
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Die Zusatzstrophen in *J und *d Die Zusatzstrophen der Mischfassungen *J¹² und *d sind immer aus der Perspektive der *C-Bearbeitung betrachtet und im Sinne von *C gedeutet worden,¹³ obwohl sie in einen vollständigen not-Text eingelassen sind, den sie nicht verändern.¹⁴ Verwandeln sie diese mehr als 2000 Strophen der Konzeption von *C an? Es lohnt sich, probeweise die Zusatzstrophen in *d und *J unabhängig von C zu betrachten und zu prüfen, wie sie sich in den Zusammenhang des not-Textes einfügen. Wenn man eine enge Abhängigkeit der Zusatzstrophen von *C voraussetzt, stellt sich die Frage: Warum gerade diese Auswahl?¹⁵ Warum wurden dann nur kaum umdeutende Strophen eingefügt und nicht die aussagekräftigsten? Und warum wurden die vielen kleineren Neuakzentuierungen und Umformulierungen des not-Textes, die die Umdeutung stützen, in C nicht übernommen? Eine Modellierung der Mischfassungen im Sinne von *C ließe andere Zusatzstrophen, unterstützt von Eingriffen in den not-Text erwarten. Sollte der Auswahl ein anderes Ziel als die Absicht zugrunde liegen, den Bewertungen von *C im Kontext der not-Fassung Geltung zu verschaffen? Einen Hinweis gibt die z.T. von C abweichende Platzierung der Zusatzstrophen im Text. In einer älteren Publikation hatte ich die Fälle aufgeführt, in denen der Platz der Zusatzstrophen in den Mischhandschriften besser ist als in C.¹⁶ Ich muss daran kurz erinnern, nicht weil ich behaupte, diese Platzierung sei die ‚richtige‘,¹⁷ sondern weil die Zusatzstrophen dadurch in den Mischhandschriften eine andere Funktion bekommen. In der Schilderung der Jagd, auf der Siegfried ermordet wird, schiebt sich eine Strophe (~ C 973) ein, die noch einmal Siegfrieds Ahnungslosigkeit betont. Sie steht in Hs. C zwischen zwei Strophen, deren erste vom Ausbleiben der Schenken und deren zweite von Siegfrieds verwunderter und empörter Reaktion darauf erzählen (B 961/962). Die Zusatzstrophe zerstört also in C eine geschlossene Szenenfolge: erzähltechnisch ein Fehler.¹⁸ Jh und d bringen sie viel passender erst am Ende der Episode, die das Mahl Die Zusatzstrophen sind, wie gesagt, für *J ausschließlich in der Hs. J belegt; die Mehrzahl der Fragmente (bis auf Q) könnte sie jedoch gleichfalls enthalten haben, weshalb ich wegen deren Verwandtschaft mit Hs. J vermute, dass der Mischcharakter *J überwiegend zugeschrieben werden kann. Heinzle 2000, S. 212– 214; er betrachtet sie in Übereinstimmung mit der Forschung als „sekundär aus einer *C-Handschrift übernommen“. Es wurde deshalb beobachtet, dass „einige nicht zum *B-Kontext passen“ (Heinzle 2022, S. 208). Die Auswahl verteilt sich über den ganzen Text. Unwahrscheinlich ist, dass die übrigen Zusatzstrophen von*C nicht übernommen wurden, weil – wie in D – eine *C-Handschrift nur zeitweise zur Verfügung stand. Müller 2016, S. 250 – 251. Heinzle 2022, S. 210 sagt zurecht, dass ein „Kunsturteil“ wie „besser“ auf subjektiven Kriterien beruht und „so oder auch anders ausfallen kann“. Aber wo die Beweislage offen ist (und keineswegs sicher und zweifelsfrei erwiesen, dass C den Ausgangszustand repräsentiert), haben auch Überlegungen zu einer ästhetisch befriedigenderen Textgestalt durchaus Gewicht. So schon Braune 1902, S. 562– 563. Dieser Fall ist der spektakulärste; er widerspricht dem Bemühen um Kohäsion, das *C sonst zugesprochen wird. Dass die unpassende Platzierung auch von a und k bestätigt wird, zeigt nur, dass diese Handschriften in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen.
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nach der Jagd schildert. Sie ist eingeschoben, nachdem Hagen den verhängnisvollen Vorschlag gemacht hat, den Durst an einer Quelle nahebei zu löschen (Jd 966). Hier fügt sich der Erzählerkommentar in der Zusatzstrophe (Jdh 966A [= d 967]; ~ C 973), dass Siegfried die Heimtücke dieses Vorschlags verkennt, genau an. Sie geht unmittelbar seiner Zustimmung zum Vorschlag Hagens voraus (J 967/d 968), der den Mord ermöglicht. Die übrigen Fälle sind weniger eindeutig; sie hängen eher vom Ermessen des Interpreten ab. Die Strophe Jdh 995A (= d 997), die den Ort nennt, an dem Siegfried ermordet wurde, folgt in den Mischhandschriften unmittelbar auf die Erzählung von Siegfrieds Tod (do moht reden nit mer der degen cuͤ n und gemeit, J 995,4). Da passt sie hin. Erst dann wird erzählt, was man mit dem Leichnam tut und wie die Burgonden auf Hagens Tat reagieren (Str. B 996 – 999; ~ C 1010 – 1012). C dagegen bringt die Strophe erst nach diesem Passus, also als C 1013, gewissermaßen als Nachtrag. Damit lenkt C vom Fortgang der Handlung zum Ort des Geschehens zurück.¹⁹ Das dritte und das vierte Beispiel haben keine Entsprechung in J, weil sie in die Lücke des Bayern-Teils fallen. Die ergänzte Strophe, die beim Übersetzen über die Donau die Größe des Schiffs erklärt, geht in der Mischhandschrift dem Beladen des Schiffes und der ersten Überfahrt voraus (dO d 1568A [= d 1573; nach B 1568]). Der Zusatz passt also genau in diese Szenenfolge. In a 1609²⁰ dagegen folgt die erklärende Erwähnung der Größe des Schiffes in C erst später, nach dieser ersten Überfahrt. Der vierte Fall: In dO 1580A-C [= d 1586 – 1588; nach B 1580]) endlich schließt sich der (ergänzte) Wortwechsel Hagens mit dem Pfaffen an die Szene an, in der Hagen das Schiff, das die Burgonden über die Donau gebracht hat, zerschlägt. Der Pfaffe nimmt unmittelbar darauf Bezug (Do des kunic Capelan das Schef zerhawen sach). In a 1620 dagegen ist vorher noch eine Strophe über Volker eingeschoben; erst dann folgt der Dialog mit dem Priester (a 1621– 1625). Die Volkerstrophe gehört zur folgenden Handlung. Volker wird in der nächsten Episode eine wichtige Rolle spielen; er wird die Burgonden führen (a 1626,4); dieser Zusammenhang wird in *C durch den Einschub unterbrochen. Wieder ist in dO die Episodengrenze besser beachtet. *J und *d scheinen genauer auf die lineare Kohärenz des Erzählten und die narrative Kohäsion der Episoden zu achten. Kohäsion herzustellen ist Aufgabe der Zusatzstrophen. Dieses Bemühen scheint in d auch die fehlerhafte Doppelung einer Zusatzstrophe veranlasst zu haben, die die Verwunderung darüber artikuliert, dass Gernot und Giselher Siegfried nicht vor der Mordintrige warnten. Hs. d fügt diese Strophe – gegen Jh und C – gleich ein, nachdem Hagen Siegfrieds Verwundbarkeit ausgekundschaftet und in einer weiteren Zusatzstrophe Gunther empfohlen hat, den fingierten
Auch in anderer Hinsicht ist die Strophenfolge in J plausibler als in C. In J ist die Aventiurengrenze erst nach Str. J 999 (man wartet mit der Rückkehr bis zum Einbruch der Nacht: do erbiten si der nahte). In C – aber auch in d – beginnt die neue Aventiure dagegen wie in A und B eine Strophe vorher. J schließt die Szene also zunächst ab. Die nächste Strophe, die in J am Beginn der neuen Aventiure steht, markiert deutlicher einen Neueinsatz: Von grozzer ubermuͤ t mugt ir horen sagen (J 1000,1). Hs. a vertritt hier und im folgenden Beispiel Hs. C, die an dieser Stelle eine Lücke hat.
Die Zusatzstrophen in *J und *d
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Krieg abzusagen (Jdh 902A [= d 900] = C 913) und durch eine Jagd zu ersetzen. Nur d schließt hier die Strophe über Gernots und Giselhers befremdliches Schweigen ein (d 902B = d 901). In Jh und C steht sie erst vor Beginn dieser Jagd, an der Gernot und Giselher nicht teilnehmen. Dort folgt sie gleichfalls einer Strophe, in der Hagen Gunther von seinem Erfolg bei Kriemhild informiert (B 912).²¹ Die fehlerhafte Verdoppelung fügt sich in d also beide Male in die Vorbereitungen der Jagdintrige, indem sie an die Verabredung Hagens mit Gunther anschließt. Die Zusatzstrophen sind genau in die Handlungsfolge eingepasst und vervollständigen diese. Dies ist ihre Funktion. Sie muss nicht aus der Perspektive der Bearbeitung *C betrachtet werden. Sie tragen nicht die „Tendenz der Bearbeitung“ von *C in die notFassung hinein.²² Denn wieso entlastet es Kriemhild, wenn Brünhild die beunruhigende Frage nach Siegfrieds Status keine Ruhe lässt (J 810A; ~ dh), sie die Frage aber auf Rat des Teufels zunächst ruhen lässt (Sus wartet [warte] si der wile, als ez der tievel riet, J 810B,1; ~ dh; vgl. C 822,1) – wohlgemerkt, der Teufel rät ihr nicht, die Frage zu wiederholen, sondern die Wahl des Zeitpunkts geht auf ihn zurück. Brünhild wartet einen Augenblick friedlichen Wettstreits ab. Die Aufdeckung des schäbigen Betrugs ist kaum eine Angelegenheit des Teufels. Gewiss wird damit „die psychologische Motivierung ausgebaut“, aber in welchem Sinne des Begriffs ist das eine „theologische Deutung des Geschehens“? Wird dadurch Brünhild „als Urheberin der Katastrophe belastet und Kriemhild entsprechend entlastet?“²³ Emphatisch wird nur das Verhängnis betont und dem Verursacher alles Schlechten in der Welt zugeschrieben. Die Frage, warum Gernot und Giselher Siegfried nicht warnten (ich [en]weiz durh welhen nit | si in nit warenten idoch erarnten si ez sit, J 912A,3 – 4; ~ dh; vgl. C 923,3 – 4), spiegelt Befremden. Der Erzähler sagt, dass sie später dafür bezahlten, aber spricht nicht von Schuld im religiösen Sinne und erklärt folglich nicht „die Katastrophe als Sündenstrafe“.²⁴ Das ist erst die Perspektive der ‚Klage‘, die den Untergang der burgondischen Könige als Strafe für Sündenschuld erklärt. Richtig ist, dass die Mischhandschriften hier auf die innere Widersprüchlichkeit der Sippensolidarität aufmerksam machen und der not-Fassung damit eine neue Dimension hinzufügen.²⁵ Kriemhilds Vorwurf, das Bemühen der Brüder um die Versöhnung mit Gunther sei sunde (ir tuͦ t iu groz sunde (J 1109A,2; ~ dhHO; vgl. C 1124,2) ist Figurenrede. Der Sündenbegriff wird hier unterminologisch gebraucht. Kann aus dem Bemühen der Brüder, den Sippenfrieden wiederherzustellen, eine „Schuld der Brüder“, geschweige eine ‚Sünde‘ abgeleitet werden?²⁶ Kriemhild wehrt sich hier gegen eine Zumutung, die ihr
Diese Strophe fehlt in C (zwischen 922 und 923). Ihr Inhalt war in der Zusatzstrophe Jdh 902A (= C 913) vorweggenommen worden. Weder Jh noch d haben diese Doppelung bemerkt; in C fehlt dagegen die verdoppelnde Wiederholung an späterer Stelle; die Strophe B 912 wird dort deshalb übergangen. Heinzle 2004, S. 28; vgl. 2000, S. 212; 2003a, S. 201 u. ö. Heinzle 2003a, S. 201; ähnlich (auch für das Folgende) 2000, S. 212; 2014, S. 87. Heinzle 2003a, S. 201. Vgl. S. 253 – 254. Heinzle 2000, S. 212.
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8 Auslassungen, Ergänzungen, Ausgestaltung, Anlagerungen
Unzumutbares abverlangt. Die folgende Strophe J 1109,4B (~ dh; C 1124,4) dient erst recht nicht ihrer Entlastung. Dass Kriemhild sagt, sie versöhne sich mit Gunther nur mit dem Mund, nicht mit dem Herzen, belastet sie eher, denn mit dieser Heuchelei bereitet sich ihre Heimtücke vor.²⁷ Wenn Gernot und Giselher im Namen Kriemhilds den Hort holen und sich auch dez landes und der burg und manges recken bald (J 1121A,3; ~ dh; C 1138) bemächtigen, ist das eine Konsequenz der Expedition, „belastet“ aber die Brüder nicht „als Usurpatoren“,²⁸ denn sie vollziehen nur nach, was auch Siegfried getan hatte (B 93,4), und nehmen, was Kriemhilds Erbe ist, in Besitz. Die Herrschaft über das Land gehört zum Hort; auf beides hat Kriemhild einen Anspruch. Die Stellen belegen also nur das Bemühen der Mischfassungen, Implikationen explizit zu machen. Eine „theologische[] Sinngebung des Geschehens“²⁹, die diesen Namen verdient, ist erst Sache der ‚Klage‘. Am ehesten könnten noch einige Zusätze Kriemhild entlasten, die betonen, dass sie es allein auf den ungetriun Hagen (J 1834A,4) abgesehen hat. Aber das ist schon im gemeinsamen not-Text angelegt, wenn sie die Hunnen zum Angriff auf Hagen und Volker zu provozieren sucht (B 1768), am deutlichsten, wenn sie fordert, Hagen als Geisel herauszugeben (B 2100/2101). Dieser Wunsch dient weniger einer Entlastung Kriemhilds als dem Beweisziel der unverbrüchlichen triuwe-Bindungen im burgondischen Herrschaftsverband. Am Bild der selbst gegen die nächsten Verwandten rücksichtslosen Rächerin machen die Mischhandschriften keine Abstriche. Die zusätzlichen Strophen müssen also eine andere Funktion haben. Die Zusätze im Textbestand verstärken die Darstellung der not-Texte. An keiner Stelle wird die Konzeption überschritten. So fehlen auch in den Mischhandschriften die Formulierungsvarianten in *C, die Hagen eindeutig zum Schurken stempeln. Hagen vertritt wie in den anderen not-Handschriften bis zum letzten den Gefolgschaftsverband und wird bis zum letzten von ihm getragen – angefangen von seinem Eintreten für die beleidigte Königin. Mit seiner Weigerung bei der Teilung des burgondischen Erbes, Kriemhild zu folgen (B 695 – 696; ~ rell.), hat er ein für alle Male für die Könige optiert. Deshalb muss er ihnen auch bei einem Unternehmen, das er für selbstmörderisch hält, folgen. Er handelt für alle, nicht für sich, ist nicht wie in *C der, der den Hort eine, für sich allein, nutzen will³⁰ und der die Verabredung mit den Königen bricht, den Hort nur gemeinsam nutzen zu wollen.³¹ Und deshalb wird er bis zuletzt auch von seinen Feinden – Etzel, Hildebrand –
Erst in *C ist die Konsequenz gezogen, die die suone grundsätzlich delegitimiert, indem gesagt wird, dass sie mit valsche geschlossen wurde (s.u. S. 265). Heinzle 2003a, S. 201. Heinzle 2003a, S. 201. Wieso hängt es „auf eine nicht ganz durchsichtige Weise“ mit einer „theologischen Sinngebung des Geschehens“ zusammen, dass Etzel früher Christ war, jetzt aber Renegat ist? Es ist doch gerade auffällig, dass der religiöse Aspekt dieses Umstandes unterbelichtet bleibt und der friedfertige Etzel gerade nicht als Heide abgewertet wird. Die entsprechende Variante C 1153,3 gibt es nur in *C. Die Strophe B 1137, die von dieser Verabredung erzählt und die das Zusammenwirken von Herr und Mann bestätigt, fehlt bezeichnenderweise in C. Sie ist in den Mischhandschriften vorhanden.
Die Zusatzstrophen in *J und *d
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als hervorragender Held gefeiert. Er ist in vielen Situationen den Nibelungen ein helflicher trost (B 1523,2 et rell.). Er trägt vom Übertritt über die Donau bis zum Saalbrand Sorge für das ganze Heer. Von vielen Stellen zuvor abgesehen, fehlt in J – *d ist da unvollständig – unter den Zusatzstrophen die entscheidende Strophe C 2417, in der Hagen das Leben seines Herrn opfert, um über Kriemhild zu triumphieren. Insofern trifft es nicht zu, dass die mit C übereinstimmenden Zusatzstrophen die Deutung von *C übernehmen. Die Zusatzstrophen in *J und *d zielen also auf Vervollständigung und Plausibilisierung der Handlung, Ergänzung von Motivationen, Klärung offen gebliebener Fragen und auf Intensivierung der Wirkung, ohne aber den Verlauf und seine Bewertung grundsätzlich in Frage zu stellen.Wenn man den Kontext der Bearbeitung *C ausblendet und die Strophen in ihrer Umgebung belässt, zeigt sich, was sie leisten und was nicht. Details werden ergänzt: der Ort des Mordes (J 995A; ~ dh). Erwartbare Verbindungsglieder werden eingefügt: Hagen teilt Gunther mit, was er über Siegfrieds Verwundbarkeit herausgefunden hat (J 902A; ~ dh). Wie von Alberich zuvor angedeutet, bemächtigen sich Gernot und Giselher nicht nur des Horts, sondern auch des Nibelungenlandes (J 1121A; ~ dh). Die Reaktion des Pfaffen auf Hagens Gewalttat (d 1586 – 1588; ~ H) wird erzählt. Die Größe des Schiffes, die solch ein gewaltiges Heer über die Donau bringt, wird erklärt (d 1573; ~ H).³² Auch wird Anstößiges beseitigt: Der gute König Etzel darf niht gar ein heiden sein (J 1258A,1; ~ dh); die Strophe beruhigt den Hörer: Etzel ist ein Grenzgänger zwischen den Religionen. Reaktionen werden verstärkt: Brünhilds Ungeduld und Neugier Siegfrieds Status betreffend (J 810A+B; ~ dh) oder Siegfrieds Ahnungslosigkeit (J 966A; ~ dh). Angedeutetes wird explizit gemacht: Es ist bei den heimlichen Beratungen über die Beseitigung Siegfrieds anzunehmen (Der chunich mit sinen vriunden ruͦ nende gie, heißt es in den notHandschriften, etwa B 879,1), dass auch Gernot und Giselher eingeweiht sind, da sie zum engsten Kreis um Gunther gehören; nur so ist zu erklären, dass sie der Jagd fernbleiben. Warum aber schweigen sie gegenüber Siegfried (J 912A; ~ dh)? Schwer Verständliches wird erklärt: Warum versöhnt sich Kriemhild mit Gunther? Sie tut es widerwillig und nur äußerlich auf Drängen der Brüder (J 109A+B; ~ dhO). Insgesamt ist die Zahl solcher Ergänzungen gering. Belanglose Ergänzungen der Bearbeitung *C fehlen, so die Strophen, die Gunthers Maßnahmen während seiner Abwesenheit von Worms erzählen, seine Grüße an Brünhild, die er dem Pfaffen aufträgt, oder der Ausbau von Etzels Palast zur Falle für die Gäste, von dem nie wieder die Rede ist. Die wesentliche Funktion der Zusatzstrophen ist durch Ergänzung der Handlung eine Intensivierung und Zuspitzung der Konflikte und das Herausarbeiten latenter Implikationen des not-Textes. Dies ist schon der Fall beim ersten Zusatz, der auf d be Solche Erklärung erfolgt punktuell. An einer früheren Stelle wird in den Mischhandschriften solch eine Unwahrscheinlichkeit nicht erklärt, eine entsprechende Strophe der Bearbeitung *C nicht übernommen. Die Strophen C 518/519, die auf die Frage antworten, wie denn eine so große Mannschaft wie die Siegfrieds im Nibelungenland unterhalten werden konnte, haben in den Mischhandschriften kein Pendant.
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8 Auslassungen, Ergänzungen, Ausgestaltung, Anlagerungen
schränkt ist. In drei Zusatzstrophen nach Str. B 328 besteht Gunther trotz Siegfrieds Warnung auf seinem Vorhaben, um Brünhild zu werben. Es ist der Punkt, an dem die bislang reibungslos ablaufende Handlung mit der gelungenen Integration des Heros Siegfried in die höfische Ordnung abgebrochen und in Richtung Katastrophe gelenkt wird.Von Gunthers Selbstüberschätzung hängt alles Folgende ab, und deshalb wird diese Selbstüberschätzung und der vergebliche Versuch, ihre Folgen abzuwenden, in drei Zusatzstrophen in *d noch einmal unterstrichen. Durch Zusätze unterstrichen werden verhängnisvolle Entscheidungen und ungeheuerliche Wendungen: Brünhilds Entschluss abzuwarten, bevor sie der dubiosen Geschichte, die zu Siegfrieds Standeslüge geführt hat, auf den Grund geht (J 810A+B; ~ dh). Kontrastiert wird unmittelbar Hagens heimtückischen Rat und Siegfrieds Arglosigkeit, die sich keines Verrats versieht (Str. J 966A; ~ dh). Auch das Skandalöse des Anschlags auf den Pfaffen, den Hagen ob dem heilchtume (B 1572,2; ~ d), d. h. bei einer sakramentalen Handlung,³³ erwischt und in die Donau wirft, wird in d (und Fr. H; Lücke in J) durch drei Zusatzstrophen gesteigert. Do des kunig Capelan das Schef zerhawen sach (d 1580A,1 [= d 1586]) beschimpft er Hagen als treulos, Hagen dagegen bedauert nur das Misslingen seiner Untat, und der Pfaffe verwünscht die Burgonden. Die Worte des Pfaffen und Hagens Replik darauf wirken wie Ausrufezeichen in dieser Szene. Dagegen fehlt in H und d (Lücke in J) die anschließende Zusatzstrophe a 1624 mit Gunthers versöhnlichen Worten an den Kaplan. Sie spitzt die Situation nicht zu. Solche Zusätze häufen sich im Umkreis des Ausbruchs des Kampfes. In zwei Strophen tadelt Etzel die Hunnen, dass sie bewaffnet zum Mahl gehen (J 1895A+B; ~ dh = C 1943/1944). Die Strophen betonen emphatisch die ungeheuerliche Tatsache, dass der Vernichtungskampf ausgerechnet beim Mahl, dem Inbegriff friedlicher Interaktion, losgeht. Der skandalöse Vorgang wird noch verstärkt, indem Kriemhild einer weiteren eingeschobenen Strophe zufolge (J 1908A; ~ dh = C 1960) under krone zu Tisch geht (oder die anwesenden Fürsten under krone sind), sodass der Kampf nicht nur beim Mahl, sondern auf dem Höhepunkt herrschaftlicher Repräsentation ausbricht. Eigens wird betont, dass die Fürsten zu Tisch sind, wenn Dankwart Hagen die Nachricht vom Überfall auf den Tross bringt, wodurch der Kampf ausgelöst wird. Das Bemühen, durch Vervollständigung des Situationskontextes den Skandal des Geschehens noch zu steigern, erklärt auch eine auffällige Variante von J und d gegenüber den übrigen not-Handschriften, die sich in den Zusammenhang der übrigen Ergänzungen einfügt:³⁴ In J und d wird der Eingang von Str. 1909 in ADdN ausgetauscht. Der
Heinzles Übersetzung „Der stützte sich auf die Geräte für den Gottesdienst“ (2013a, S. 499) ist zu schwach; gemeint ist das Sakrament, mindestens aber Reliquien. Das unterstreicht das Sakrileg des Angriffs auf ihn. Auf was, welche Paramente sollte der Priester sich übrigens ‚stützen‘? Die Variante war Anlass, *d und *J als Gruppe zusammenzufassen und als Zwischenstufe zwischen *B und *C aufzufassen. Aus diesem Grunde setzt Haferland *d und *J noch vor *C an (Haferland 2006, S. 182– 183; 194– 196; 201). Diese Auffassung hatte ich ebenfalls in Müller 2001, S. 69 – 71 vertreten. Mindestens im Sinne linearer Abfolge ist dies nicht möglich (vgl. die Kritik an den verschiedenen genealogischen Konstruktionen durch Heinzle 2008, S. 313 – 315; 2014, S. 104– 107).
Die Zusatzstrophen in *J und *d
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Vers lautete in B 1909,1 Do der strit niht anders kunde sin erhaben (scil. als dadurch, dass Kriemhild ihren Sohn Ortlieb ins Zentrum des bevorstehenden Konfliktes holen ließ [B 1909,3]). Er sei „Unsinn“, da der Ausbruch des Kampfes durch die vorangehende Intrige mit Blödelin schon hinreichend motiviert sei.³⁵ Der Vers sei versehentlich stehen geblieben; er spiele auf eine Variante der Sagentradition an, die das Nibelungenlied nicht enthält; er setze nämlich voraus, dass eine Provokation Hagens durch den jungen Königssohn Ortlieb der Auslöser des Kampfes sei.³⁶ Der als anstößig empfundene Vers wird in J und d – die zuvor in einer Zusatzstrophe erzählten Vorbereitungen des Mahls fortsetzend – durch den Vers ersetzt Do die fursten alle gesazzen uber al (J 1909,1) bzw. gesessen waren vͤ beral (d 1909,1 [= d 1891,1]). J und d setzen stattdessen auf die Kohäsion der Handlung. Die Ersetzung kann, anders als *C, das Fazit der Strophe beibehalten: nie hat eine Frau der Rache wegen so ungeheuerlich gehandelt, denn Kriemhild, die ahnt, was nach Blödelins Überfall passieren wird, lässt den Sohn herbeiholen und setzt ihn damit dem erwartbaren Ausbruch von Gewalt aus. Es ändert sich also gegenüber den restlichen not-Texten in J und d nichts an der Schuldzuweisung an Kriemhild.³⁷ Die Variante dürfte im Zusammenhang der übrigen Textergänzungen zu sehen sein. Die Strophe schließt an die eingeschobene Zusatzstrophe Jd 1908A an (Wie si ze tisch gienge […]) und setzt deren Erzählung fort mit der Versammlung beim Mahl. Deshalb kann sie das Fazit der Strophe beibehalten. Ein Rekurs auf die Sage ist nicht nötig. Die Variante zeigt erneut, dass die Mischhandschriften den Skandal, dass ausgerechnet beim Mahl der Kampf ausbricht, stärker betonen. Durch die Zusatzstrophen werden die Ambivalenzen und Widersprüche der Prinzipien, auf denen die nibelungische Ordnung beruht, noch gesteigert. Insofern tritt die Tendenz der not-Texte noch schärfer hervor. Zentral ist dort der Zusammenhalt von magen und man und die Zerstörung dieses Prinzips der triuwe als Grund der Katastrophe.³⁸ Was der triuwe entspricht, ist widersprüchlich. Aus Vertrauen, das Voraus Heinzle 2003b, S. 22; vgl. S. 21– 27. Ich habe den Vers mehrfach zu retten gesucht (Müller 1998, S. 74– 79; 2001, S. 65 – 71) und die Anspielung auf die anders lautende Sage bestritten. Der Platz der Strophe im Handlungszusammenhang ist klar. Kriemhild hat Blödelin zum Überfall auf den burgundischen Tross verleitet und begibt sich zu Tisch (B 1908). Die Strophenfolge J 1908 – 1908A – 1909 (=d 1889 – 1891) bildet die Brücke zwischen der Verabredung mit Blödelin und der daraus zu erwartenden Eskalation und der Tötung Ortliebs, die Etzel in den Kampf zieht. Der Vers B 1909,1 bezieht sich sowohl auf das eben Erzählte zurück wie auf die kommende Szene voraus; die Strophe verklammert zwei Episoden und zieht aus ihnen das Fazit: Jetzt sind die Voraussetzungen für den Ausbruch des Kampfes aller gegen alle geschaffen. Wenn der Verfasser diese Version der Sage gekannt hat, dass Kriemhild nämlich ihren Sohn veranlasst, Hagen zu ohrfeigen, und damit das Signal zum Gemetzel gibt, dann hat er sich explizit gegen sie entschieden. Folglich ist es keineswegs „ein unumgängliches hermeneutisches Gebot“ (Heinzle 2003b, S. 22), die andere Version der Sage ins Nibelungenlied zu interpolieren. So auch Brackert 1963, S. 131. Erst die Bearbeitung *C unterdrückt die Verantwortung Kriemhilds für die Anwesenheit Ortliebs; nicht sie lässt ihn herbeiholen, sondern er ‚wird hereingetragen‘. Entsprechend kann das schroffe Urteil über Kriemhild durch die Floskel ersetzt werden: da von der kunec riche gewan vil starchen iamer sint (C 1963,4). Tatsächlich zieht Ortliebs Tod Etzel in die bisher allein von Kriemhild getragene Auseinandersetzung. Müller 1998, S. 153 – 163.
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8 Auslassungen, Ergänzungen, Ausgestaltung, Anlagerungen
setzung verwandtschaftlicher triuwe (B 895,1) ist, verrät Kriemhild Hagen die Stelle, an der Siegfried verwundbar ist, und ermöglicht so den Verrat. Der Bindung an die Könige, damit an die Ehre der Königin, opfert Hagen die Verpflichtung gegenüber Kriemhild. Das Vertrauen auf die triuwe der Verwandten macht Siegfried arglos. Dem Prinzip der Bindung an die Verwandten folgend, bleibt Kriemhild trotz Siegfrieds Ermordung in Worms (bi den minen magen) statt nach Xanten zurückzukehren, wo sie keine Verwandten hat. Das rückhaltlose Vertrauen auf die Verwandte ist die Bedingung dafür, dass Kriemhilds Verrat und Rache gelingen. Es ist dieses Prinzip, das in den Mischhandschriften noch verstärkt wird, so vor allem in der erwähnten Zusatzstrophe über Gernots und Giselhers Verhalten. Beide Brüder haben selbstverständlich Kenntnis von dem Mordrat. Gunther und Hagen können darauf vertrauen, dass sie schweigen. Die äußerste Form der Distanzierung ist, sich an der Durchführung der Mordintrige nicht zu beteiligen. Eine Warnung Siegfrieds müsste sich gegen die magen richten. Aber die Mischhandschriften machen auf den Widerspruch aufmerksam: Richtet sich nicht auch das Schweigen Gernots und Giselhers gegen einen vriunt? Es ist nicht mehr so klar, wem gegenüber sie verpflichtet sind: nicht auch der Schwester und dem Verbündeten? Diese Widersprüchlichkeit der zentralen Handlungsmaxime bestimmt auch die suone. Die Sippenbindung Kriemhilds an die jüngeren Brüder scheint noch lange Zeit intakt, was zuerst zwei Zusatzstrophen (J 1109A+B; ~ dh) verdeutlichen, die begründen, warum Kriemhild zustimmt, sich mit Gunther zu versöhnen. Die Brüder sind am Sippenfrieden interessiert. Kriemhild fühlt sich an den Rat der Brüder gebunden; sie handelt in Übereinstimmung mit ihren magen: ich muͦ z in gruͤ zzen ir welt mis nit erlan (J 1109A,1; ~ dh), denn die suone würde die rechte Ordnung im Verwandtschaftsverband wiederherstellen. Es besteht sogar Hoffnung auf Wiedergutmachung (J 1109B; ~ dh). Doch das Prinzip ist bereits beschädigt, und eben diese Beschädigung drückt der Zusatz aus: min munt im giht der suͦ n daz herz wirt im nimmer holt (J 1109A; ~ dh). Der Vers macht auf die Zweideutigkeit der Versöhnung aufmerksam, die Wiederherstellung von Ordnung im Verwandtenverband scheint die totale Zerstörung von Ordnung im Untergang zweier Reiche allererst zu ermöglichen. Besonders an der zweideutigen Rolle Giselhers nach der Ermordung Siegfrieds wird die Brüchigkeit der Ordnung sichtbar. Er ist zuerst Beistand Kriemhilds bis zu dem Punkt, an dem Hagen sich des Horts bemächtigt.Wirksam im Interesse Kriemhilds gegen den man und Verwandten vorzugehen, kommt für Giselher nicht in Frage: wære er niht min mag ez gienge im an den lip (B 1130,3). Giselher (oder Gunther) verspricht Kriemhild Hilfe, aber verlässt erst einmal mit den beiden anderen Königen das Land: wir haben ritens wan (B 1132,4), sodass Hagen den Hort im Rhein versenken kann. Auch danach heißt es in den Mischhandschriften wie im Rest der Überlieferung, gern wær ir Giselher aller triwen bereit (B 1135,4). Er täuscht also nicht, wie C 1154,4 an derselben Stelle über die drei Könige sagt, die Gegnerschaft gegen Hagen nur vor. Aber er tut nichts, schwört nur mit den anderen, den Gegenstand des Konfliktes zu neutralisieren, und verurteilt Hagens Tat. Die triuwe zu dem man blockiert den Wunsch, der Schwester triuwe zu erweisen.
Retuschen des not-Textes in *J
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Das ist Hintergrund der in den Mischhandschriften vermehrten Versuche Kriemhilds, die Rache auf Hagen zu konzentrieren. Sie will etwas, was in der nibelungischen Ordnung unmöglich ist. Bevor sie Blödelin zum Überfall auf den Tross verleitet, bittet Kriemhild Dietrich von Bern um Hilfe und bekommt erst von Hildebrand, dann Dietrich selbst eine abschlägige Antwort (B 1896 – 1898). Nach J 1897 (~ dh) sind zwei Strophen eingeschoben, in deren zweiter Hildebrand den Wunsch Kriemhilds zurückweist, die Rache auf Hagen zu konzentrieren; wie moht daz gischehen | daz man in bi in sluͤ g (J 1897B,1– 2; ~ dh). Das nimmt Giselhers spätere empörte Zurückweisung von Kriemhilds Ansinnen vorweg, Hagen auszuliefern (B 2103). Wenn in den Mischhandschriften Strophen eingefügt werden, die Kriemhilds Wunsch betonen, sich nur an Hagen rächen zu wollen (J 1834A; 1897A; ~ dh), dann dient das weniger ihrer Entlastung – Kriemhild bleibt so skrupellos rachgierig wie in den übrigen Handschriften –, als dass es Gelegenheit gibt, die unauflösliche triuwe zwischen Herr und Mann zu betonen. Mit diesen Zusatzstrophen wird nur unterstrichen, dass Kriemhild Unmögliches will. Die Erweiterung des Textbestandes durch Zusatzstrophen verstärkt also die Aussage des not-Textes. Die Zusatzstrophen öffnen die not-Fassung nicht auf die Bewertung in *C, sondern verstärken die ursprünglichen Tendenzen. Dies ist *J und *d, ungeachtet der differenten Textgestalt gemeinsam.
Retuschen des not-Textes in *J Doch auch durch Veränderung der Textgestalt hat *J gegenüber den übrigen not-Handschriften eigenes Profil. Aus der durchgängigen Ad-libitum-Varianz stechen einige Lesarten hervor, die auf konzeptionelle Intentionen dieser Redaktion schließen lassen.³⁹ Die Textgestalt von *J mit den Handschriften J und h und den Fragmenten K, Q, W, und Y nähert sich in der Textgestalt am weitesten dem Charakter einer Fassung, wenn auch die Merkmale des Textbestandes von *J diffus sind und nicht alle von allen *J-Handschriften geteilt werden. *J scheint manchmal deutlicher eine schriftsprachliche Form anzustreben. Schriftliche Kommunikation verlangt, dass die Referenz des Personalpronomens eindeutig ist, wo in mündlicher Kommunikation der Bezug außersprachlich, z. B. durch Gesten, geklärt werden kann. In Kommunikation unter Anwesenden kann ein Pronomen auf einen anderen Gegenstand als den in der Rede thematisierten weisen, wenn dieser als im Raum kopräsent gedacht wird. Das Nibelungenlied, auch Hs. J, ist voll von solchen Beispielen, die in schriftsprachlicher Kommunikation ambig und folglich fehlerhaft sind. Siegfried hält Gunthers Pferd am Zügel bis der kunic Gunther vil herlich druf saz (J 395,3); der nächste Vers lautet: also dient im Sifrit, dez er doch sit vil gar vergas. Das
Es wäre ein flächendeckender Textvergleich mit A, B, C und D erforderlich, der hier nicht geleistet werden kann. Es sollen nur einige allgemeinere Tendenzen skizziert werden.
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er müsste sich in einem Schrifttext auf Sifrit beziehen, doch gemeint ist Gunther (im). Oder: J 451,1 Waz hat mich geruͤ rt, fragt sich Gunther beim Wettkampf mit Brünhild, doch V. 3 setzt fort er sprach ich bin ez Sifrit, obwohl er eigentlich sich auf Gunther beziehen müsste. Das sind Spuren des mündlichkeitsaffinen ‚Nibelungisch‘. In *C, z.T. aber auch schon in *J, besteht die Tendenz solche Ambiguitäten, die in mündlicher Rede keine sind, aufzulösen. Eine Proform, die in einem Schrifttext einen falschen Bezug herstellen würde, indem sie sich auf die letztgenannte Person / den letztgenannten Gegenstand beziehen müsste, wird in *J manchmal ersetzt, wenn eine andere Figur (z. B. der kunic) gemeint ist. Str. B 248⁴⁰ gibt die Rede Liudegers wieder (sprach do Liudeger); 249,1 scheint das fortzusetzen (sprach er), doch folgt eine Rede Gunthers. Hs. J dagegen stellt das klar: sprach der kunc. J beseitigt also eine Zweideutigkeit. J stimmt darin mit C überein, wo die gleiche Tendenz wahrzunehmen ist. Es sind viele solcher Kleinigkeiten, die in *J gegenüber der Restüberlieferung präziser sind. Die Burgonden weigern sich, einen ihrer Leute preiszugeben (dass wir dir einen man | gæben hi ce gisel, B 2102,3 – 4). J bezieht das genauer auf Hagen: den einen man (J 2102,3; ~ h). – Nachdem Gernot und Rüdiger einander getötet haben, ist Giselher wegen seines Bruders (A 2261,1; ~ D) oder wegen seines Schwiegervaters (B 2221,1; ~ bN) zu wildem Kampf entschlossen; J bilanziert genauer: weil er beide, bruͦ der und sweher tot (Jh 2221,1) sieht. – Zu Kriemhilds hinterlistiger Einladung ihrer Verwandten zu Etzels hochgezit passt besser die Aufforderung an die Boten, sie sollten ihren Willen taugellichen erfüllen (J 1411,2; ~ hKQ) als das Allerweltswort gutlichen wie in anderen not-Handschriften. – Wenn Hagen gesteht, Siegfried erschlagen zu haben, nennt er ihn J 1787,3 neutral den helt von (zu) Niderlande (~ hK) statt mit der anerkennenden heroischen Formel den helt ce sinen handen. – Wenn nach erbittertem Kampf die Burgonden aber muͤ zech (B 2224,2 et rell.) sind, konkretisiert das J 2224,2 als strit muͤ de. – Der kunic nicht der riter fürchtet an einem Nagel hängend von seinem Gesinde gefunden zu werden (J 637,4; ~ nur Qh); und die Schmach ist besonders groß, weil er am Tag danach (des tages) des kunges Krone trägt (J 640,4; ~ Qh) usw.
In diesem Sinne nimmt *J kleinere Korrekturen an Ungereimtheiten vor, jedoch ohne die Gesamttendenz des Textes zu verändern. Wenn Rüdiger ein zweites Mal vor Kriemhild erscheint, um eine endgültige Antwort auf die Werbung Etzels zu bekommen, dann ist die Formulierung in den meisten not-Handschriften auffällig daz man rehte erfuͦ re des edelen fursten muͦ t (B 1249,1; ~ ADbd).⁴¹ Das ist recht unpassend: Gunthers Entscheidung ist längst gefallen, die Könige haben deshalb Kriemhild empfohlen, Etzels Werbung anzunehmen (B 1201; 1203; 1247; ebenfalls in J). Steht nicht allein Kriemhilds Weigerung im Weg, die die Hunnen zunehmend ungeduldig werden lässt? Das scheint auch den Redaktoren von *J aufgefallen zu sein; sie ändern deshalb den Text: Etzels Gesandtschaft will erfahren der edeln frawen muͦ t (J 1249,1; ~ hQ). Das ist einleuchtender als des edelen fursten muͦ t. Kleinere Glättungen werden vorgenommen. Die Rechtslage nach der suone wird klarer benannt. Wenn Gunther Hagens Warnungen in der Beratung, ob man zu Etzel
Müller 2020, S. 369. In *C fehlt diese Strophe.
Retuschen des not-Textes in *J
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fahren soll, zerstreuen will, sagt er, es sei ungefährlich, Kriemhilds und Etzels Einladung anzunehmen, und erinnert Hagen an die suone. In A und B argumentiert er, Kriemhild lie den zorn | mit chusse minnecliche si hat uf uns [!] verchorn | daz wir ir ie getaten (B 1457,1– 3). J 1457,1– 3 ist genauer: min swester lie den zoren | mit kusse minneclich si hat auf mich vercoren | swas wir ie getaten (~ hK), also ihm gegenüber (uf mich) habe Kriemhild auf Rache verzichtet. Die restliche Überlieferung (der hier auch *C, vertreten durch a 1488,2, folgt) hat übereinstimmend die ungenaue Formulierung uf uns, die erst im 4.Vers korrigiert wird (ezen si et Hagen danne iu einem widerseit, B 1457,4). Hagen war in die Sühne nicht eingeschlossen, und deshalb bemüht sich Kriemhild – in *J noch ausdrücklicher, einigen Zusatzstrophen zufolge –, die Rache allein auf ihn zu lenken. Wenn Dietrich von Bern in den Kampf eingreift, steht einer gegen zwei, Dietrich gegen Hagen und Gunther. Das könnte das Gleichgewicht stören und Hagens Rolle als Held beschädigen. Entsprechend sagt Hagen, wenn sich Dietrich den beiden nähert: ich getar in ein wol bistan (J 2324,4; ~ hK: ‚ich traue mir zu, allein gegen ihn anzutreten‘), was Dietrich später bestätigt (J 2343,4; aber auch die übrigen not-Handschriften). Tatsächlich laufen die Kämpfe so ab. *J stimmt also die beiden Stellen aufeinander ab. Die meisten not-Handschriften dagegen haben zunächst anstelle von ein (‚allein‘) das farblose rehte wol, *J antizipiert also den tatsächlichen Ablauf.⁴² Brackert vermutete in ein einen Hinweis auf den ursprünglichen Wortlaut des Nibelungenliedes,⁴³ was, wie Heinzle bemerkt, „nicht zwingend“ ist.⁴⁴ In der Tat ist der Rückgriff auf das ‚Original‘ spekulativ, die Verbesserung des Textes aber offensichtlich. Sie liegt im Spektrum der Lizenz den Wortlaut zu ändern. Die genauere Formulierung passt zur Tendenz von *J, Schlüssigkeit herzustellen. Die Aristien am Ende als Kämpfe der größten Helden setzen gleiche Chancen der Gegner voraus; nur dann kann die Rangfolge der Helden eingeschätzt werden. Diese Bedingung stellt *J ausdrücklich her. Entfällt die Beziehung auf ein ‚Original‘, dann zeugt die Lesart von *J für die Möglichkeit, bei Adaptationen den Text zu verbessern, indem man seine Implikationen explizit macht. Das mögen alles wenig signifikante Retuschen sein, kaum fassungsrelevant und von den gewöhnlichen Ad-libitum-Varianten nur schwer unterschieden. Doch gehen manche Eingriffe darüber hinaus. Es ist vor allem eine Eigenheit von *J, die Aufmerksamkeit verdient. *J akzentuiert den latenten Konflikt, der den ersten Teil des Nibelungenliedes bestimmt, schärfer, den Konflikt um den Status Siegfrieds, der als man (Vasall) auftritt und als eigenholt von Brünhild beansprucht wird. Dies ist Auslöser des Streits, der zu Siegfrieds Ermordung führt.⁴⁵ Dieser soziale Hintergrund des Konfliktes wird nun in *J ausgebaut. Schon bei Siegfrieds erstem Erscheinen ist seine Herausforderung Gunthers und des burgondischen Herrschaftsverbandes noch provokativer als in den übrigen not-Handschriften.
Vgl. Müller 2020, S. 360 mit Hinweis auf Brackert 1971, Bd. 2, S. 298. Brackert 1971, Bd. 2, S. 298. Heinzle 2013, S. 1497. Der Konflikt ist dargestellt in Müller 1974.
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Zu diesem Zweck ist, wie bemerkt, in J die Str. B 108 in zwei Strophen aufgespalten, indem aus deren Wortmaterial zusätzliche Verse gebildet werden. In J schließen an Str. J 107,1 (Ich bin ouch ein recke und solt cron tragen…) zwei Strophen an, die Siegfrieds Anspruch auf Gleichrangigkeit mit Gunther verstärken und auf seinem Anspruch bestehen, Gunther die Königsherrschaft streitig zu machen: Darum sol min ere und min haupt wesen pfant ich will an iu ertwingen lút unde lant sit daz ir sit so cuͤ ne als mir das ist geseit ja enruͦ ch ich ist ez iemen bediu lieb oder leit Dez aht ich hart ringe sprach Sifrit der degen iur erb und iuwer eigen dez wil ich alles pflegen uber daz kuncriche swaz ir muget han lant und burge daz sol mir werden undertan. (J 108/108A; ~ h).⁴⁶
Die Verdoppelung der Strophe bringt inhaltlich nichts Neues, aber sie gibt Siegfrieds Forderung, als König auch der Burgonden anerkannt zu werden, zusätzlichen Nachdruck, über Gunthers Erbe und Eigen zu gebieten und lant und burge als Kampfpreis zu gewinnen (Jh 108A,2 – 4). Im Fortgang wird in *J die Abhängigkeit des burgondischen Herrschaftsverbandes von Siegfried, aber auch dessen Einbindung in ihn stärker betont. Das offenbart eine signifikante Verschiebung. Beim drohenden Sachsenkrieg will Gunther in den übrigen Handschriften mit seiner Antwort an die Boten der Feinde erst abwarten, bis er die Reaktion seiner friunde, also des burgondischen Herrschaftsverbandes, kennt (unz er revant an friwenden wer im da wolde gestan, B 150,4; ~ AC). In *J sind die friunde durch Siegfried ersetzt. Gunther macht seine Antwort an die Boten also sofort von Siegfrieds Einstellung abhängig (unz er bevand an Sifrit wi er im wolt gistan, J 150,4), so als zähle er Siegfried ganz selbstverständlich zu seinem Gefolge. Dass er Siegfried noch nicht informiert hat, begründet er: man sol stæten friunden clagen herzen not (J 153,3). Das stimmt wörtlich mit der restlichen Überlieferung überein. Indem aber die zu helfe und rat verpflichteten Vasallen, die Gunther befragen will, durch Siegfried ersetzt wurden, scheint dieser schon hier von Gunther in den Kreis der Gefolgsleute einbezogen zu werden. Hierher gehört auch eine Vertauschung der Namen, die die implizite Tendenz in *J spiegelt: In der Aufzählung der burgondischen Vasallen vor dem Kampf mit den Sachsen reitet statt Sindolts (Damite reit ovch Sindolt und Huͦ nolt, B 171,1; ~ ACDbd) lt. J 171,1 (~ h) Sifrit zusammen mit Hunolt und den andern, die wol gedienen cunden daz Guntheres golt Die Strophen sind auseinandergenommen und neu zusammengesetzt. B 107,4 wird zu J 108,1 und als vierter Vers der Str. 107 durch Wiederholung des Verses B 106,4 ersetzt (leicht variiert in J 107,4: des wil ich nit erwinden unz es mir werde bicant). Derselbe Reimklang von B 107,4 und B 108,3 erlaubt in J, den dritten Vers vorzuziehen, also hinter den neuen Vers J 108,1 als zweiten Vers der Strophe zu setzen (J 108,2 ich wil an iu ertwingen lút unde lant); die beiden ursprünglich die Strophe einleitenden Verse (B 108,1– 2) rücken in die Schlussposition (J 108,3 – 4). Aus dem ehemaligen Vers B 108,4 und der Wiederholung einiger Elemente wird die Strophe J 108A generiert; dann geht es regelmäßig mit Str. 109 weiter.
Retuschen des not-Textes in *J
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(J 171,2). *J ordnet also schon hier Siegfried in die Gruppe der Vasallen ein, hebt ihn nicht als deren Anführer heraus. Siegfrieds Status gerät also in *J stärker als in der übrigen Überlieferung ins Zwielicht.⁴⁷ Er kämpft wie ein man Gunthers, bleibt aber kunic. Das führt zum Hinweis auf seinen Betrug. Str. 617,3 (~ rell.) beklagt sich Brünhild, dass der König seine Schwester seinem eigenholden Siegfried zur Frau gibt. Im Streit der Königinnen wird die standesrechtliche Abgrenzung zwischen man ⁴⁸ und eigen man bewusst verwischt, wenn Brünhild aus Siegfrieds Worten in Isenstein (er wære skuͤ niges man) die Schlussfolgerung zieht des han ich in fuͤ r eigen sit ich es hoͤ re jehen (B 818,2– 3; ~ rell.).⁴⁹ In *J wird die Verwischung des Standesunterschieds noch einmal verschärft. Sie wird nämlich noch einmal in einer Zusatzstrophe betont; J 810A,4 erinnert – mit C 821 – daran: Siegfried der ist unser eigen. In der folgenden Auseinandersetzung (bis B 838) ist nicht weniger als siebenmal vom Leibeigenen-Status Siegfrieds und Kriemhilds die Rede. J macht deutlich: das hat rechtliche Implikationen,⁵⁰ und eben diese Zweideutigkeit wird in J auf andere man ausgedehnt. *J dehnt den Konflikt um die unscharfe Abgrenzung zwischen Vasallität und Unfreiheit auf andere Fälle aus. Der Streit erhält damit grundsätzlichen Charakter; er betrifft nicht nur – handlungsnotwendig – Siegfried, sondern wird auch an Hagens Status erläutert. Ich komme noch einmal auf die Teilung des Wormser Besitzes, um Kriemhild ihr Erbe zu geben, zurück. Siegfried will auf alles verzichten; er ist reich genug. Das schließt aber nach Ansicht Kriemhilds die burgondische Gefolgschaft, Burgende degene, nicht ein (B 693,2), von denen sie einige beansprucht. Sie lässt deshalb nach Hagen und Ortwin schicken, damit diese und ihre Leute in ihre Verfügungsgewalt übergehen, Kriemhilde wolden sin (A 643,2; B 695,2; ~ Dbd). Diesen Wunsch präzisiert J 695,2, ob sie ir aigen wolten sin (~ Qh). *J interpretiert also Hagens Vasallität ebenfalls als Unfreiheit. Das weist Hagen empört zurück. Q 695,4 (nicht aber J) bekräftigt noch Im ersten Teil geht es bei Siegfrieds Boten- und Hilfsdiensten, für die er Lohn ablehnt, immer auch um den Versuch, dienest nicht mit Statusverlust zu konfundieren (vgl. Müller 1974). Zur weiten Bedeutung von man zwischen Lehensmann und Krieger und zum Problem der Missdeutung des lehnsrechtlichen Aspekts Hennig 1981, S. 353 – 354 (179 – 180). Heinzle konjiziert in horte. In seiner Übersetzung (2013, S. 265 – 266) ist das undeutlich: „Siegfried sagte selber, er sei dem König untertan. Ich halte ihn deshalb für einen Eigenmann“: ‚Untertan‘ ist unspezifisch für die Position des Vasallen (man). Es würde auch für den Eigenmann gelten. Dass die beiden Interpretationen von man miteinander kollidieren, hat der Bearbeiter von *C bemerkt und deshalb auch an der früheren Stelle man durch eigen man ersetzt (C 384,3). Wachinger 1960, S. 111 rechnet mit einer bewussten Missdeutung Brünhilds. Hennig glaubte, eigenhold nicht als „Rechtsterminus“ interpretieren zu dürfen, sondern als „pathetische Neubildung“ verharmlosen zu können (Hennig 1981, S. 359 [185]); dagegen Schulze 1997a, S. 46 – 47; 1997b, S. 198 – 200: eigen man kann sowohl einen Leibeigenen, Hörigen wie einen Ministerialen, Einschildritter, unfreien Lehnsmann bezeichnen. Die Rechtstermini haben ein weites semantisches Spektrum. Hier wird der Begriff diskriminierend eingesetzt. Das ist eine neue Interpretation der Zweifelhaftigkeit von Siegfrieds Status in der Sagentradition (Heinzle 2013a, S. 1139 – 1140). Er schreibt: „Wie Brünhild zu dieser Auffassung kommt, ist unklar.Vielleicht beruht das Motiv auf alter Grundlage,“ die das Publikum kenne. Dann aber wäre dieser Status in zeitgenössischen Rechtstermini interpretiert.
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8 Auslassungen, Ergänzungen, Ausgestaltung, Anlagerungen
einmal, dass der Vasall nicht eigen ist und sich gegen Unfreiheit verwahrt: ia enmag uns Krimhilt ze aigen niemant gegeben. ⁵¹ Er besteht auf dem Recht⁵² der Tronjer, in der Umgebung der Könige zu sein. Niemand, auch Gunther nicht (B 695,4; ~ ADb), auch nicht Kriemhild (JQ 695,4), kann über sie wie über Eigenleute verfügen. Diesmal ist es also die Königin Kriemhild, die auf aigen-schaft besteht und es ist der Vasall Hagen, der man Gunthers, der sich dagegen zur Wehr setzt. Hagens Reaktion macht klar, welche Beleidigung Brünhilds Gleichsetzung von man und eigenman, und welche Beschimpfung die Bezeichnung Kriemhilds als eigen diu ist. Wer eigen ist, verfügt nicht mehr über sich selbst. In diesem Sinne sagt Alberich (B 496,2; ~ J), er könne sich dem unbekannten Angreifer (es ist Siegfried) nicht unterwerfen, weil er schon eigen eines anderen geworden sei (nämlich ebenfalls Siegfrieds, bei der Eroberung des Hortes). Hagen ist hochadeliger Vasall, man der Könige, und nicht mehr hatte Siegfried in Isenstein von sich behauptet. An der überragenden Rolle der man, der Vasallen Hagen, Volker, Rüdiger, auch Iring, verbunden mit ihrer triuwe-Verpflichtung bis zur Selbstaufopferung, besteht in der not-Fassung nie ein Zweifel. *J verstärkt das noch. Siegfried erfüllt vorübergehend eine analoge Rolle, zunächst im Sachsenkrieg, dann in der Werbung um Brünhild. Kriemhilds Wunsch, Hagen zu gewinnen, verdoppelt also den Skandal der Auseinandersetzung um den Status des Heros. Hagens Behandlung als aigen ist eine Ungeheuerlichkeit.⁵³ Siegfrieds Insistieren auf seinem königlichen Status, bei seinem ersten Auftreten in Worms unterstrichen durch eine zusätzliche Strophe (nur J 108A) wird bei seinem Besuch mit Kriemhild in Worms in Hs. J und Fr. Q wiederaufgenommen: Siegfried und die Xantener seien mit kunclichen eren (J 788,2; ~ Q) empfangen worden, wo die restliche Überlieferung nur von einem Empfang als im da(z) wol gezam | mit vil grozen eren (A 734,1– 2; B 788,1– 2; ~ Dbd) weiß. Die königliche Stellung Siegfrieds ist auch in Worms anerkannt. Dazu stimmt, dass bei Gunthers Botschaft ins Nibelungenland, um Kriemhild und Siegfried nach Worms einzuladen, an zwei Stellen der Name von Siegfried und Kriemhild durch die Nennung ihres Ranges: kunig/kunc und kungin ersetzt wird (J 737,1 und J 761,1). Der Abstand zwischen Brünhilds Verdacht und Siegfrieds tatsächlicher Geltung am Hof (bzw. seiner und Kriemhilds Selbsteinschätzung) wird also gedehnt, die Fallhöhe vergrößert. Der Status des kunic, den Siegfried seit seinem ersten Auftritt in Worms beansprucht (B 107), wird ihm vom Erzähler zuerkannt, doch von Brünhild bestritten. Insgesamt untergräbt die Gleichsetzung von man und eigen in *J also deutlicher die Struktur des Gefolgschaftsverbandes, der in den not-Texten der eigentliche Held des Epos ist, der dem König zwar die Rolle des primus inter pares lässt, als größtes Lob aber
J bleibt bei dem neutralen zer welt statt Q ze aigen. Vgl. S. 246. Die Mischhandschrift d hat diese Verschärfung nicht: wieder ein Argument, J und d als selbständige Adaptationen anzusehen im Sinne von Reichert 2012, S. 444– 445.
Retuschen des not-Textes in *J
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hervorhebt, wenn ein König wie die besten seiner man handelt.⁵⁴ Der Heros und der König sind gleichrangig. Brünhild ersetzt dieses Modell durch ein hierarchisches. Vorbereitet ist diese Tendenz in Kriemhilds Konflikt mit Hagen. Indem die Redaktion *J einige scheinbar unscheinbare Retuschen vornimmt, verdeutlicht sie diese verhängnisvolle Verschiebung. Auch nach Siegfrieds Tod wird die Diskussion um den eigen-Status in *J fortgesetzt. So würde jedenfalls eine auffällige Lesart J 1127,2 sich erklären: Hagen fürchtet, dass Kriemhild den Hort benutzt, um sich ein militärisches Gefolge gegen ihn zu verschaffen. Das gilt allgemein im Nibelungenlied: ez sold ein frumer man | deheinem wibe niht des hordes lan (B 1127,1– 2; ~ A) oder d 1127,2 (= 1132,2) dhainem armen weibe. In d klingt der Zweifel an Kriemhilds Status (arm) nach dem Tod Siegfrieds an. J 1127,2 aber verschärft im Sinne des voraufgehenden Konfliktes diese Diskriminierung Kriemhilds: einem eigen wibe [!] sollte man solche Machtmittel nicht überlassen. Das ist vielleicht „aus Hagens Mund unpassend“, wie Kofler in einer Fußnote seiner Ausgabe bemerkt,⁵⁵ entspricht aber dem strittigen Punkt; Kriemhild ist eigen und darf deshalb nicht über solche Machtmittel verfügen. Hagen übernimmt hier die Position Brünhilds, als deren Sachwalter er seit dem Königinnenstreit handelt. Der eigen man ist ein Fremdkörper in der nibelungischen Gesellschaftsordnung. Er indiziert deren Zersetzung und Widersprüche, die an vielen Stellen zutage treten. *J betont schärfer diese Zersetzung als der Rest der Überlieferung. Der Mord an Siegfried spaltet die Einheit des burgondischen Herrschaftsverbandes. Die übrigen not-Handschriften schildern die einhellige Bestürzung der Burgonden über Siegfrieds Tod (Di ritter alle lieffen da er erslagen lach | æs was ir genugen ein vreudeloser tach); die iht triwe hatten, beklagten den Mord (B 988,1– 3). Das ist insofern erstaunlich, als alle miteinander von den Plänen Hagens gehört hatten.⁵⁶ In J 988,2– 3 (~ hQ) ist dagegen die Reaktion gespalten; für viele ist es ein vrolicher tac, denn der gefährliche Held ist beseitigt, während diejenigen, die triu bewahrten, Siegfried beklagen. Diese Spaltung des Wormser Hofes setzt sich fort, wenn beim Aufbruch zu Etzel zu Gunthers Ärger einige Vasallen nicht mitziehen (darunter Ortwin der Wortführer der Burgonden bei der ersten Auseinandersetzung mit Siegfried). *J legt also eine Spur durch den Text, die die latenten Spannungen im Personenverband, dem die ganze Bewunderung des not-Textes gilt, aufdeckt. Das ist ein durchaus selbständiger Eingriff von *J, der eine Tendenz der übrigen not-Handschriften verstärkt,
Müller 1998, S. 153. Giselhers Rat, die Toten aus dem Saal zu werfen, kommentiert Hagen: So wol mich soͤ lches herren […] der rat enzæme niemen wan einem degene |den uns min iunger herre hiute hat getan (B 2009,1– 3). An anderer Stelle sagt der Erzähler, es zieme sich, daz die herren vehten zaller vorderost (B 2017,2), und Etzel kann nur mit Mühe vom Kampf zurückgehalten werden: daz von so richem fuͤ rsten vil selten nu geschit (B 2019,2). Kofler 2011, S. 145. Die Mitwisserschaft der übrigen Burgonden ist in A und B nicht ganz klar. Deshalb hebt die Zusatzstrophe J 912A,2 nochmal eigens hervor: si westens al glich. Auch der Mord ist eine Aktion des ganzen Verbandes.
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aber nichts mit der Bearbeitungstendenz von *C zu tun hat, sogar an einer Szene ansetzt, die *C dem glatteren Ablauf zuliebe geopfert hat (Hagen weigert sich, als aigen behandelt zu werden). Der Eingriff läuft der Tendenz von *C – dem freundlicheren Bild von Kriemhild – geradezu entgegen. Das verbietet alle Deutungen, die in *J nur eine Vorstufe oder Variante der Bearbeitung *C sehen, aber es widerspricht auch der These, dass die mit *C verwandten Zusatzstrophen die gleichen Umdeutungen des Textes bewirken, die man *C zuschreibt. *J steht für die Möglichkeit, bei Beibehaltung der im Epos angelegten Handlungsverknüpfung und ihrer Deutung, durch die Textgestalt, sprachliche Ausgestaltung, eigene Akzente zu setzen. So lässt sich *J in vielen Einzelheiten als Zuspitzung oder wenigstens Verdeutlichung des not-Textes verstehen; die Veränderungen gehen aber in eine durchweg andere Richtung als die in der Bearbeitung *C.
Die Bearbeitung *C Die Bearbeitung *C⁵⁷ bewahrt gleichfalls die Grundstruktur und die Handlungsfolge des not-Textes. Deshalb kann sie diesen über weite Strecken beibehalten, wenn auch variiert.⁵⁸ Sie kombiniert Veränderung des Textbestandes mit Veränderungen der Textgestalt. Sie macht von den drei beschriebenen Eingriffsmöglichkeiten – Auslassungen, Zusätzen (diesen besonders) und pointierteren Formulierungsvarianten – exzessiven Gebrauch, bis zu dem Punkt, an dem Quantität in Qualität umschlägt. Insofern steht *C auf der Schwelle der Überlieferungsgeschichte, der Transformation des Nibelungenliedes durch eine neue Konzeption. *C (Hss. Ca + Fragmente) greift nicht nur punktuell in den not-Text ein, sondern verändert ihn durchgängig.⁵⁹ Allerdings spricht nichts dafür, dass in *C mit der Bearbeitung zugleich eine „Distanznahme gegenüber der Tradition“ verbunden ist, dass das „Pathos der Distanz zum Grundton des Erzählens“ wird, indem die Geschichte in ferne Vergangenheit gerückt werden soll. Der damit verbundene Anspruch, historisch Beglaubigtes zu erzählen, gilt allgemein für die Heldenepik, ja sogar für den höfischen Roman (Hartmanns ‚Iwein‘) und ist nicht zwingend mit ‚Distanznahme‘ verbunden. Einziges Indiz für diese soll in der Prologstrophe das Epitheton alt für die zu erzählende Geschichte sein.⁶⁰ Mit der Unterscheidung zwischen ‚alt‘ und ‚neu‘ rücke das Erzählte in
Grundlegend Hoffmann (1967) und Schmid (2018). Nur deshalb ist ein Unternehmen wie das Haferlands (2019a+b) möglich, das das – teils vom Gedächtnis getrübte – Hervorgehen des C-Textes aus dem B-Text nachzuweisen sucht. Soweit ich sehe, wird nirgends mehr angenommen, dass *C die älteste ‚Fassung‘ des Nibelungenliedes ist und *AB deren Bearbeitung; vgl. Hoffmann 1967; Schmid 2018; Bumkes und Heinzles Annahme einer ‚Nibelungenwerkstatt‘ setzt ebenfalls die Folge *B > *C voraus. Heinzle 2003a, S. 196. Die Strophe poche „pathetisch auf das Alter der erzählten Geschichte“ (2004, S. 13). Die These gründet auf der nachträglichen Kontamination der not-Fassung mit der Programm-
Die Bearbeitung *C
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historische Ferne; was erst „mit der Ausbildung einer schriftlichen Kohärenz des kulturellen Gedächtnisses“ möglich ist.⁶¹ Abgesehen von der Programmstrophe lässt sich in der Bearbeitung *C des not-Textes sonst keine weitere Tendenz zur historischen Distanzierung feststellen. Schließlich findet sich die Prologstrophe auch in den Hss. A und d und Fr. L.⁶² Hier liegt nicht die Eigenart von *C. Die Änderungen von C beschränken sich aber nicht nur auf konzeptionell relevante Zusätze zum not-Text, Auslassungen oder Umformulierungen, sondern im überwiegenden Teil auf Abweichungen vom not-Text, deren Notwendigkeit sich nicht auf den ersten Blick erschließt. C nutzt die Lizenz zur Varianz allerdings entschieden stärker aus als die Handschriften der not-Fassung. Was dort nur selten vorkommt: größere Umstellungen, Umstellung von Versen, Ersetzen des Reimwortes usw. ist in C häufiger.⁶³ Die Veränderungen lassen sich nicht durch ungenaue Erinnerung und deren ‚Reparatur‘ erklären,⁶⁴ sondern gestalten das Textmaterial um. Zwar lassen sich nicht alle Einzelzüge von *C mit einer Bearbeitungsintention verbinden, zumal sich für jede angebliche Verbesserungstendenz Gegenbeispiele finden lassen,⁶⁵ aber die Bearbeitung hat eine eindeutige Tendenz, die sie von allen not-Handschriften, auch den Mischhandschriften, abhebt.⁶⁶ Wenn auch die „neugefaßten Partien nach Sprache, Stil, Metrik und Reimgebrauch nicht wesentlich von der Fassung *B zu unterscheiden“ sind,⁶⁷ ist daraus nicht zu schließen, dass der Verfasser identisch mit dem von B sein muss, sondern nur, dass ihm das kollektiv verfügbare Idiom, das ‚Nibelungische‘, geläufig war. Wie all die Redaktoren des not-Textes fühlte sich der Bearbeiter von *C in diesem Idiom zuhause, er adaptierte es für seine Zwecke. *C erzählt eine Geschichte, die viele Leerstellen tilgt; das Geschehen wird vereindeutigt, die Ambivalenzen des Textes beseitigt, freilich, wie Hennig über eine Stelle vermerkt, „inkonsequent wie auch sonst“.⁶⁸ Ich erinnere an die in der Forschung festgestellten Eigenschaften von *C, um an ihnen den Wandel der ursprünglichen Poetik zu zeigen. Die Erweiterungen wie die Kürzungen des Textes ebenso wie die Neuformulierungen haben vor allem vier Funktionen, die sich den beiden Haupttendenzen der Bearbeitung zuordnen:
strophe aus *C. Das ist aber eine bloße durch nichts bewiesene Hypothese (vgl. Anm. 3). Davon unberührt ist, dass die Programmstrophe mit Verschriftlichung unstreitig zusammenhängt. Heinzle 1995, S. 92 (unter Verweis auf Assmanns 1992 Studien zum kulturellen Gedächtnis). Wie übrigens das Konzept von A, das ebenfalls die Programmstrophe hat, als ‚Vorzeitkunde‘ mit Modernisierungstendenzen in A, etwa mit dem „kleinen Minne-Roman im Stil der höfischen Dichtung“ (ebenfalls A) zusammengeht, bleibt offen (vgl. Heinzle 2003a, S. 200). Haferland 2019b, S. 498; 502– 504. Haferland 2019a, S. 45 – 52 u. ö. sucht diesen Vorgang als spontane Reaktion auf Gedächtnislücken zu erklären. Dagegen spricht der kalkulierte, glatt sich einfügende Charakter der Varianten. Haferland 2019b, S. 462. Hoffmann 1967; Schmid 2018. Haferland 2003, S. 128. Hennig 1981, S. 355 (181).
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– – – –
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Sie stellen Kohäsion zwischen den Handlungselementen her, ergänzen Zwischenglieder, glätten lückenhafte Motivationen und tilgen Redundanzen und Umwege. Sie beseitigen Unglaubwürdigkeiten der Handlung und erklären oder korrigieren sie an manchen Stellen, an denen die Geschichte das Wunderbare streift. Sie fragen nach der inneren Beteiligung der Figuren an den äußeren Handlungen und stellen verborgene Intentionen dar. Sie bemühen sich um eindeutige Bewertung der Figuren, zumal Hagens, und unterwerfen das Geschehen eindeutigen moralischen Normen.
Einige dieser Tendenzen finden sich schon in den Mischhandschriften; vor allem aber die beiden letzten Punkte treten neu hinzu. Damit entsteht ein neuer Text, ein Text, der die Deutung des Geschehens nicht in der Schwebe lässt, sondern einer eindeutigen Wertung unterwirft. Vom ersten Typus sind die meisten Zusätze; sie sind sehr ungleich verteilt. Einige Szenen werden ergänzt (C 332 Gunthers Beratung mit seinen Leuten, wenn er eine Frau nehmen will; C 1497/1498 u. 1501– 1503 Rumolts Rat; C 1624 Gunthers versöhnliche Worte zu dem Priester, den Hagen ertränken wollte). Lücken werden gefüllt (C 784 die Vorbereitungen zum Fest; C 1064 und 1069 die Heilssorge für Siegfrieds Seele; C 1960 – 1962 die Umstände des Festmahls), Zwischenglieder der Handlung werden eingefügt (C 1198 Rüdigers Fahrt durch Bayern; C 1324 eine weitere Station von Kriemhilds Reise). Die Folgen von Ereignissen werden pathetisch gesteigert (C 657 Gunthers Verletzungen nach dem Bettkampf mit Brünhild; C 1005 Siegfrieds Mordanklage und Todeskampf; C 1082/ 1083 Kriemhild und Siegmunds Ohnmacht). Das bringt nichts Neues, spekuliert die Situation nur wie in den Mischhandschriften weiter aus. Einige Beschreibungsdetails (C 392 Brünhilds Burg; C 1158 – 1164 Siegfrieds Begräbnisstätte; C 1859 – 1861 Etzels Palast) werden ergänzt. Es gibt einige Strophen mehr zu Siegfrieds Jugend (auch um zeitlich mehr Platz für Horterwerb und Drachenkampf zu schaffen). Die Streichung einiger Strophen scheint Wiederholungen vermeiden zu sollen. Der zweite Typus⁶⁹ geht schon über die Mischhandschriften hinaus. Er ist weniger ausgeprägt. Erklärt werden in Zusatzstrophen mythische Phänomene (wie C 342/343 der Tarnmantel oder C 518 – 519 die Ernährung der Nibelungen). Die Nibelungenkönige haben in ihrem Gefolge keine Riesen, sondern Kämpfer die starch als risen waren (C 95,2). Siegfried stal sich von Kriemhild weg und verschwindet nicht mittels des Tarnmantels auf geheimnisvolle Weise usw. Doch werden solche Erklärungen durchaus nicht konsequent eingefügt, wie sich an den merwip zeigt. Aber unwahrscheinliche Sachverhalte wie, dass die Burgonden in dem Saal überleben, in dem Kriemhild sie verbrennen will, werden z.T. erklärt (C 2177: der Saal ist gewölbt). *C sucht Verbindung zu einem alltäglichen Weltverständnis. Der dritte Typus: *C fragt nach der inneren Beteiligung der Figuren, schildert also nicht nur die opake Außenseite des Geschehens (C 452 die Furcht Gunthers vor dem
Schmid 2018, S. 174– 175.
Die Bearbeitung *C
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Kampf; C 458 Brünhilds Selbstsicherheit; C 616 Brünhilds Ahnungslosigkeit; C 680 – 683 Gunthers Befürchtungen, wenn er Siegfried mit Brünhild ringen hört; C 1555/1556 der tränenreiche Abschied der Burgunden von Worms). Andere Stimmungen bereiten Aktionen vor (C 1757 Kriemhilds Rachewillen; C 1972 die Wut der Hunnen über Hagens Worte, die Zukunft des Hunnenprinzen betreffend; C 2081 Etzels Leiden). Deutlicher als ansatzweise in den Mischhandschriften haben die Figuren ein Innenleben. Der vierte Typus ist interpretatorisch der wichtigste, denn er korrigiert das moralisch indifferente Konzept der not-Fassung, die nicht fragt, welches Maß an Verantwortung die Beteiligten tragen⁷⁰ und die noch bei fragwürdigem Verhalten die Größe der Helden feiert: Volker, der durch eine sinnlose Provokation in einem höfischen Spiel wie dem buhurt einen Kampf zu entfesseln sucht und der zusammen mit Wolfhart friedliche Verhandlungen in einen wilden Kampf verwandelt; und nicht zuletzt Hagen, der seit dem Aufbruch von Worms weiß, was ihm bevorsteht und deshalb alles auf Konfrontation anlegt. Weil diesem Heroismus, dessen Scheitern ausufernd beklagt wird, trotz allem die Bewunderung gilt, kann Hildebrand sanktionslos Hagens Tod an Kriemhild rächen: Das Nibelungenlied in der not-Fassung verweigert moralische Eindeutigkeit. Das eigene Profil von *C verdankt sich aber nicht nur den Zusätzen und Lücken, sondern vor allem auch der Überarbeitung des Wortlauts des not-Textes. Es sind manchmal recht unscheinbare Eingriffe, die im Bereich der Ad-libitum-Varianten zu liegen scheinen. Wenn z. B. anstelle von B 998,1 von Tronege Hagene in C 1012,1 der ungetriuwe heißt, oder statt der Gewalt des grimmen Hagen (B 1278,1) der Gewalt des übelen Hagen die Rede ist (C 1304,1), wird auf diese Weise an den moralischen Maßstab immer wieder erinnert.⁷¹ *C erzählt die Diskrepanz zwischen äußerem Anschein und innerer Einstellung. Auch wenn bei der Versöhnung mit Gunther Kriemhild schon in den Mischhandschriften einen inneren Widerstand zu überwinden hat (J 1109A+B), besteht kein Zweifel, dass die suone wie in den übrigen not-Handschriften verbindlich vereinbart wird. In *C dagegen ist sie für Gunther Mittel, sich des Hortes zu bemächtigen: durch des hordes liebe was der rat getan | dar umbe riet die suͦ ne der vil ungetriwe man (C 1127,3 – 4).⁷² Deshalb macht *C ausdrücklich klar, dass die suone nicht ernsthaft under vriunden (B 1112,2) geschlossen wurde, sondern mit valsche (C 1128,2). Auch individuelle Verantwortung ist anders gefasst. Die Abwesenheit von Gernot und Giselher bei der ominösen Jagd, entlastet sie von unmittelbarer Mittäterschaft. Beim Hortraub gilt dieses Prinzip nicht mehr. Zwar sind beim Versenken des Hortes im Rhein die Könige außer Landes, hätten also damit nichts zu tun, aber diese Entschul-
Eine Ausnahme ist der Konflikt Rüdigers. Allerdings geschieht das nicht konsequent. Hagen, der Kriemhild provoziert, indem er Siegfrieds Schwert auf die Knie legt, heißt in *C die starche (C 1814,1), wo die not-Fassungen ihn uͤ bermuͤ te (B 1780,1) nennen. Auch im not-Text wird allerdings gelegentlich zwischen Fassade und wahren Absichten unterschieden. In A 830 / B 884, einer Strophe, die in C fehlt, heuchelt Gunther, der ungetriuwe man (B 884,3), über Siegfrieds Hilfsangebot froh zu sein.
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digung ist in *C aufgegeben. Die Könige sind lt. der eingeschobenen Str. C 1151 am Hortraub mitschuldig, den sie durch ir giteclichen muot betreiben (C 1151,4), indem sie Hagen freie Hand lassen und beschließen, den Hort nur mit gemeinem rate (C 1151,3) nutzen zu wollen. Die gemeinsame Nutzung kennen die not-Handschriften auch, doch ohne hinter dem Schwur die Gier der Könige zu sehen. Ihre verborgenen Motive zählen, nicht der äußere Anschein. Nach ihrer Rückkehr klagt Kriemhild erneut vor den Königen (B 1136; ~ C 1154). Giselher erklärt, Kriemhild aller triwen bereit zu sein (B 1135,4), ohne dass das Folgen hätte: leeres Gerede. Auch diesen Vers ersetzt C und stellt klar, dass das Eintreten der Könige für Kriemhilds Recht und die Bestrafung Hagens bloße Fassade ist: do gebarten die degene sam sie im heten widerseit (C 1154,4). Es ist das Konzept moralischer Indifferenz, dem die Bearbeitung *C – wie dann auch die Nibelungenklage – entgegenarbeitet, im (nur teilweise gelingenden) Versuch, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und die Verantwortung zu klären. Das geschieht vor allem durch die Verteufelung des Protagonisten dieses Heroismus: Hagen. *C schreibt ihm rücksichtsloses, von Anfang an heimtückisches und eigensüchtiges Handeln zu, bis zuletzt beim zum skrupellosen Opfer des Lebens seiner Herren (C 2427). Damit im Zusammenhang steht die Entlastung Kriemhilds von niederen Motiven wie Goldgier. Hagen hat nicht vor, sich an das Abkommen mit den Königen zu halten; er hofft nicht nur, zusammen mit seinen Herren Zugriff auf den Hort zu haben (ABDJbh), sondern er wande in niezen eine, allein also (C 1152,4). Das wird misslingen, weiß eine weitere Zusatzstrophe (nur C 1153), wie es oft den ungetriwen wiederfährt (1153,2). Nicht mehr Hagens unverbrüchliche Treue steht im Vordergrund, sondern egoistische Absichten, die man besser verbirgt. Hagen hat von Anfang an hinterlistige Pläne. Schon B 771, wenn Siegfried und Kriemhild zu Besuch nach Worms kommen, geht es ihm um das Verfügen über den Hort: hey solden wir den teilen noch in Buregonden lant, C 780,4 (statt hey solder chumen iemer in der Buͤ rgonden lant, B 771,4). Wenn er Gunthers Versöhnung mit Kriemhild betreibt, um das Gold der Nibelungen nach Worms zu bringen, denkt er weniger an die Vorteile eines Friedensschlusses (des moht ir viel gewinnen, B 1104,4), als an den Zuwachs an Besitz (des wrde uns vil ze teile, C 1118,4), den er letztlich allein zu nutzen gedenkt. Hagen ist es nicht um die Rettung seiner Herren zu tun, im Gegenteil er fürchtet, dass sie mit dem Leben davonkommen. So muss Gunther, der einzige überlebende Mitwisser, geopfert werden, damit kein anderer den Hort bekommen kann (Zusatzstrophe C 2427). Damit ist der eigentliche Held des Nibelungenliedes, der Herrschaftsverband aus den Königen, ihren magen und friunt und sonstigen man, der keine Vereinzelung – wie im exorbitanten Siegfried – duldet und der noch im Untergang triumphiert, liquidiert. *C verschiebt den Konflikt vom Kollektiv aufs Individuum und dessen sorgfältig vor den anderen abgeschirmten Gedanken. Für den Heros Hagen hat *C kein Verständnis mehr; er muss zum Schurken werden. Das Preisen seiner Größe wirkt im neuen Kontext befremdlich. Durch parallele Eingriffe in den Text wird in C das Bild Kriemhilds aufgehellt. So stellt sie bei der Begrüßung der Burgonden an Etzels Hof klar, ihr gehe es nicht ums Gold, sondern um Wiedergutmachung (gelte) für einen mort und zwene roube (Zusatzstrophe
Die Bearbeitung *C
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C 1785,3). Auch am Tod ihres Sohnes ist nicht sie schuld; daher wird die Strophe B 1909 durch C 1963 ersetzt: Nicht Kriemhild sorgt dafür, dass ihr Sohn zur Tafel des Königs getragen wird; deshalb kann ihr auch nicht vorgeworfen werden, nie habe eine Frau schrecklicher Rache geübt (wi chunde ein wip durch rache immer vreislicher getun, B 1909,4). Stattdessen weist C auf das leit, das Etzel dadurch erfährt, was seine Unversöhnlichkeit erklärt. Das ist eine völlig andere Geschichte; Kriemhild ist an ihr unbeteiligt. Mehrfach wird vor allem betont, dass Kriemhild ihre Rache auf Hagen beschränken wollte.⁷³ Allerdings macht die Bearbeitung auf halbem Wege Halt. Die Entlastung Kriemhilds gelingt in *C nicht vollständig, denn die Verknüpfung der Geschichte selbst tastet auch *C nicht an. „Denn eigentlich besteht ja die Bearbeitung der Figur Kriemhilds durch den Redaktor von *C nicht in einer kompletten Umgestaltung ihrer Darstellung, sondern lediglich in geringfügigen und punktuellen Textänderungen“.⁷⁴ Angefangen von der Konfrontation mit Hagen bei der Begrüßung an Etzels Hof, über die Konfrontation mit Hagen und Volker, über den hinterlistigen nächtlichen Überfall, über die latente Gewalt beim Kirchgang und beim Buhurt, über die Versuche, Dietrich aufzuhetzen, die Anstiftung Blödelins zum Angriff auf den Tross und das Anzünden des Hauses bis zur Enthauptung ihres Bruders betreibt Kriemhild auch in *C zielstrebig und skrupellos ihre Rache. Die Monstrosität ihres Handelns wird in *C um nichts abgemildert. Erst die ‚Klage‘ versucht ihr Handeln zu rechtfertigen. In der Bearbeitung *C wird die Spannung zwischen dem Kriemhild- und dem Hagenbild des ersten bzw. des zweiten Teils gewiss abgemildert, freilich nicht beseitigt. Es bleiben genügend Stellen, die sich der Tendenz widersetzen. Auch die Verurteilung Hagens ist nicht völlig eindeutig.⁷⁵ Insofern ist *C in manchen Punkten widersprüchlicher als die not-Fassung. *C ist weit mehr als Verbesserung der „verbesserungswürdig(en)“ not-Fassung,⁷⁶ nämlich der Versuch einer Transformation der Gattung Heldenepos.⁷⁷ Der *C-Bearbeiter arbeitet in ähnliche Richtung wie die ‚Klage‘, aber mit geringer Konsequenz. Eine konsistente geistliche Perspektive fehlt in *C. Die straff erzählte Logik der Untergangsfabel verlangt ihr Recht. Sie schränkt nicht nur die Freiheit des Variierens, sondern auch der Bearbeitung ein. Die *C-Bearbeitung sucht die Geschichte anders zu akzentuieren, aber das gelingt nur unvollständig. Mittel der Bearbeitung sind Zusätze, Auslassungen, einzelne Umformulierungen und Umwertungen, manchmal moralische Urteile, aber nicht Veränderungen der zielgerichteten Handlung. Das Nibelungenlied in der Bearbeitung *C befragt die Untergangsfabel nur in Ansätzen auf das, was diese aussparte, ihre psychologische und moralische Dimension. Allein das schon nähert *C den Absichten des höfischen Romans, dem auch das
C 1756/1757; 1882; 1947/1948; 2142. Millet 2007, S. 66 – 69. Millet 2007, S. 68 sieht auch bei Hagen keine eindeutige „Schuldzuweisung“; er sei nur Mitverantwortlicher“. Heinzle 2000, S. 208. Vgl. S. 343 – 348.
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Interesse an der Innensicht, an dem, was hinter den Handlungen steht, entspricht. *C liegt eine andere Anthropologie zugrunde. Die Bearbeitung *C spiegelt das zunehmende Befremden über das heroische Epos im 13. Jahrhundert. Erst die ‚Klage‘ vollendet die Interpretation des Nibelungenliedes im Sinne des zeitgenössischen christlichen Weltbildes; erst die ‚Klage ersetzt das Bild der übelen Kriemhild, die kaltblütig Sohn und Brüder opfert, durch das Bild der unwandelbar treu Liebenden. Das ist in der not-Fassung zwar angelegt (z. B. B 1138/1139), steht aber in Konkurrenz zu anderen Motiven. Dass ihr Handeln von triuwe geleitet und damit entschuldbar ist, ist erst die Perspektive der ‚Klage‘ (Kl B 569 – 586; C 564– 602). Kriemhild zeichnet sich durch unbedingte triuwe aus, freilich triuwe zu einem einzelnen Menschen, nicht triuwe als Vergesellschaftungsprinzip wie in der not-Fassung. Erst hier ist klar, dass „alle Schuld bei Hagen lag, während Kriemhilds Handeln von vorbildlicher triuwe zu dem geliebten Toten geleitet war“.⁷⁸ Eine religiöse Deutung und Entschuldigung von Kriemhilds Handelns findet sich in der *C-Bearbeitung nirgends. Es gibt in der *C-Bearbeitung des Epos gegenüber *B keine einzige Plusstelle, an der ihre triuwe die Grausamkeit entschuldigt, erst recht kann von einer „christlich-moralische[n] Bewertung des Geschehens mit den Kategorien von Schuld und Sünde, Unschuld und Tugend“⁷⁹ in *C nicht die Rede sein. Das ist erst Leistung der ‚Klage‘.
Die ‚Klage‘ – letzte Aventiure des Epos? Die ‚Klage‘ ist, mit Ausnahme der anders strukturierten spätmittelalterlichen Bearbeitungen k und n, gleichermaßen allen Handschriften des not- wie des liet-Textes angefügt, wohlgemerkt auch den *C-Handschriften, die solch einer Interpretationsanleitung also ebenfalls bedürfen. Dass Nibelungenlied und Nibelungenklage zusammengehören, ist seit einigen Jahrzehnten Konsens der Forschung.⁸⁰ Überlieferungsgemeinschaft bedeutet aber nicht Übereinstimmung in der Tendenz.⁸¹ Die ‚Klage‘ fügt dem Epos hinzu, was diesem fehlt. Gäbe es die Überlieferungsgemeinschaft nicht, dann käme kein Literaturwissenschaftler auf die Idee, die Texte auf den gleichen Ursprung zurückzuführen oder ihnen die gleiche Tendenz zuzuschreiben. Allerdings basiert die ‚Klage‘ auch auf dem Epos, dessen Verlauf sie voraussetzt, aber nicht wiederholt, sondern kommentiert, indem sie eine Fortsetzung des Geschehens erzählt. Es genügt, dass für das Mittelalter
Heinzle 2005, S. 153. Heinzle 2003a, S. 196; 2004, S. 21. Ob sie von vorneherein dem Nibelungenlied beigegeben war oder – allerdings sehr früh – dem Nibelungenlied nachträglich beigegeben wurde (Heinzle 2014, S. 89), ist nicht mehr feststellbar. Beides entspricht ihrer Struktur: Sie ist evidentermaßen von Form und Aussage des Epos unterschieden, und sie ist evidentermaßen als Anleitung zum Verständnis des Epos nötig. Schmid 2018, S. 312– 315 plädiert für die getrennte Analyse von ‚Lied‘- und ‚Klage’-Fassungen.
Die ‚Klage‘ – letzte Aventiure des Epos?
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die ‚Klage‘ als Beigabe zum Epos unverzichtbar ist, weil sie Fragen beantwortet, die im Epos offenbleiben.⁸² Mehr ist nicht nötig. Dass es in den Handschriften darum ging, den Gesamttext über den Untergang der Burgonden als Einheit erscheinen zu lassen, ist unbestritten. Warum hätten sich sonst gerade die Schreiber der ältesten Handschriften bemüht, den Übergang zwischen dem strophischen Epos und der stichischen ‚Klage‘ zu verwischen?⁸³ Gilt deshalb Bumkes Wort: „Für den Schreiber V [dieses Teils der Hs. B] (der die ganze ‚Klage‘ geschrieben hat) war die ‚Klage‘ offenbar die letzte Aventiure des Nibelungenliedes“?⁸⁴ Die Zusammengehörigkeit wird in sämtlichen vollständigen Handschriften suggeriert, am deutlichsten in B, wo der Beginn des Textes der ‚Klage‘ so angeordnet ist, dass er den Text des Epos fortzusetzen scheint. In Hs. A beginnt die ‚Klage‘ mitten auf Bl. 47v ohne Leerzeile mit der Überschrift Ditze buͦ ch haeizet diu chlage, wobei jedem der Langverse des Epos ein Reimpaar der ‚Klage‘ entspricht.⁸⁵ Der Terminus buͦ ch weist auf einen neuen Text. In Hs. C folgt die ‚Klage‘ ohne Leerzeile, doch mit starkem Einzug, unter der Überschrift Aventiure von der klage. Bumke macht plausibel, dass bei Einrichtung der Handschrift von vorneherein die Aufnahme der ‚Klage‘ vorgesehen war.⁸⁶ Auch in D beginnt die ‚Klage‘ in derselben Spalte (Bl. 144r), in der das Lied endet, jedoch nach drei Leerzeilen, ohne Überschrift mit einer Groß-Initiale wie am Anfang der Aventiuren. ⁸⁷ In J ist nach dem letzten Vers des Epos ein Strich gezogen, unter dem zwei Spalten der ‚Klage‘, in Reimpaaren geschrieben, stehen, mit einer Initiale beginnend. Die Breite der zwei Spalten entspricht der Breite der (abgesetzten) Langverse; eine dritte Spalte, neben den zwei Spalten der ‚Klage‘, setzt den Text der ‚Klage‘ fort. Die Einrichtung der Handschrift sah von vorneherein Platz für die ‚Klage‘ nach Abschluss des Epos vor.⁸⁸ In Hs. a schließt der fortlaufend geschriebene ‚Klage‘-Text auf derselben Seite an den ebenfalls fortlaufend geschriebenen Text des Epos an, unter der Überschrift abentewer von der Klage.⁸⁹ Weniger deutlich ist der Zusammenhang von Epos und ‚Klage‘ in den Hss. b und d. In b wird das Epos durch Hie hat der streit ain ende und die erst danach folgende Schlussillustration abgeschlossen; die ‚Klage‘ beginnt auf einer neuen Seite (Bl. 159r) unter der Überschrift Hie hebt sich die austragung und die clag der doten. ⁹⁰ Auch in d beginnt die ‚Klage‘ auf einer neuen Seite (Bl. 131v) nach einem Leerraum und der Überschrift Ditz puech [!] haysset klagen. Es geht eine längere Textlücke des Epos voraus, für die Hans Ried Seiten freiließ, sodass über den Übergang zwischen beiden Texten nichts gesagt
Schmid 2018, S. 129; die ‚Klage‘ entwirft einen „akzeptablen Verstehenshintergrund“. Bumke 1996a, S. 237– 253. Bumke 1996a, S. 160. Bumke 1996a, S. 145. Bumke 1996a, S. 164– 165. Bumke 1996a, S. 170 – 171; Abb. bei Bumke S. 169; zur differenten Gestaltung der Initiale S. 171. Bumke 1996a, S. 175; Abb. S. 173. Bumke 1996a, S. 180; Abb. S. 178. Nibelungenlied. Redaktion D (Kofler 2012), S. 479; Bumke 1996a, S. 185; Abb. S. 182.
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werden kann.⁹¹ In diesen beiden späten Handschriften ist der Abstand zwischen Epos und ‚Klage‘ bemerkt worden. Aber warum war in der älteren Überlieferung dergleichen Mimikry überhaupt nötig? Wenn man die ‚Klage‘ mehr oder minder ausdrücklich durch Texteinrichtung und Layout als Fortsetzung des Epos erscheinen lassen wollte, dann muss das jedenfalls nicht als Zeichen für die genuine Zusammengehörigkeit gelesen werden, sondern eher im Gegenteil, für die Diskrepanz. Plausibler wäre es, darin den Wunsch zu sehen, den offenkundigen Unterschied zu überspielen. Dieser war unübersehbar, denn die ‚Klage‘ war eine Reimpaardichtung, die dem strophischen Epos angehängt werden sollte. Während bei allen Zusatzstrophen ganz selbstverständlich die Form der Nibelungenstrophe zugrunde gelegt wurde, war die ‚Klage‘ von andersartiger Struktur.⁹² Dieser Eindruck sollte kaschiert werden. Die Suggestion der Einheit erfolgt überdies nur in der schriftlichen Aufzeichnung. Wenn in einigen Handschriften der Übergang zwischen den beiden Texten offensichtlich verwischt werden soll, indem die Reimpaare so angeordnet sind, dass sie Nibelungenstrophen simulieren, dann ist das ausschließlich ein Phänomen der Schriftlichkeit. Mindestens in der Rezeption, im mündlichen Vortrag, den man unterstellen muss, war der Unterschied zwischen beiden Dichtungen kaum zu überhören. Die Grenze zwischen strophischer Dichtung und Reimpaaren ist wahrnehmbar. In der Schrift sind beide Dichtungen optisch zu einem „Nibelungen-Komplex“⁹³ zusammengeführt, im Vortrag ist das akustisch weniger evident. Das Layout sucht also die Aussage zu überspielen, dass es sich um zwei Texte handelt. Zu bedenken ist auch, dass die Grenze zwischen beiden Texten genau bezeichnet wird. Das Epos markiert das ende der Untergangsfabel (B 2376,4; C 2439,4) und nennt Namen und Gattung des Textes. Die ‚Klage‘ setzt neu ein (Hie hebt sich ein maere, Kl B und C 1).⁹⁴ Dem entspricht auch der Erzählduktus am Beginn der ‚Klage‘. Er rekapituliert die eben abgeschlossene Handlung. Unüberhörbar different ist auch der stilistischen Gestalt. Das Nibelungenlied ist, von der Strophenform unterstützt, in einer durch und durch einheitlichen Erzählweise verfasst. Die ‚Klage‘ ist unstreitig anders erzählt als das Nibelungenlied. Die Figurenreden sind viel ausführlicher als im Epos, in der Handlungsführung nichts vom Hakenstil, nichts von Vorausdeutungen, nichts von der Verwendung von Erzählformeln, nichts von der Lakonik der Präsentation des Geschehens, nichts vom Stau des Erzählflusses am Ende jeder Strophe. Stattdessen ausführliches Bereden dessen, was passiert ist, Ausbreitung von Emotionen, Überlegungen, wie es wäre, wenn das Geschehen anders verlaufen wäre und dgl.
Bumke 1996a, S. 189; im Inhaltsverzeichnis geriet die ‚Klage‘ zwischen die Liste der Aventiuren des Nibelungenliedes. Wenn die ‚Klage‘ in einer „Nibelungenwerkstatt“ entstanden und dort dem Epos hinzugefügt worden wäre, bliebe zu erklären, warum sie nicht in Nibelungenstrophen gedichtet ist, die man in dieser hypothetischen ‚Werkstatt‘ bei der *C-Bearbeitung so virtuos beherrschte. Henkel 2003, S. 129. Bumke 1999, S. 40 – 41.
Die ‚Klage‘ – letzte Aventiure des Epos?
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Der ‚Klage‘ ist die Nachträglichkeit eingezeichnet. Sie ist eine Erzählung zweiten Grades,⁹⁵ Kommentar des zuvor Erzählten. Zu bedenken ist auch die Gattungsdifferenz. Vor Jahren hat Fritz Peter Knapp auf die Gattung des Planctus in der lateinischen Literatur verwiesen,⁹⁶ eine Gattung, die denkbar weit vom Epenstil entfernt ist, aber in der lateinischen Literatur sich großer Beliebtheit erfreut hat. In der Volkssprache sind zwar um 1200 Entsprechungen rar. Aber auch wenn die ‚Klage‘ das einzige Exemplar wäre, ist die Gattungsbeziehung eindeutig. Klammert man nicht von vorneherein alle literaturwissenschaftlichen Maßstäbe aus, dann ist die Einheit von ‚Klage‘ und Nibelungenlied in einem Nibelungenbuch zwar gewollt, ästhetisch aber eine Hybride. Der ‚Werk‘charakter dieses Nibelungenbuches ist von einem modernen literarischen Werk unterschieden.⁹⁷ Die Klage bezieht sich auf dieselbe feste Makrostruktur (deshalb kann sie den not- wie liet-Texten angefügt werden), aber sie reflektiert sie. Die Interpreten des Nibelungenliedes hat befremdet, dass im Epos eine übergreifende christliche Deutungsperspektive fehlt. Die auf triuwe innerhalb der Sippe und des Herrschaftsverbandes gegründete Ordnung, der sich alle verpflichtet fühlen und die doch den Konflikt allererst ermöglicht, indem an Hagen, Kriemhild, Gernot und Giselher gezeigt wird, dass sie zu unlösbaren Widersprüchen führt, ist nicht christlich begründet (wenn auch nicht unvereinbar mit christlichen Werten). Das Nibelungenlied greift zwar auf christliches Vokabular gelegentlich zurück. Etzels Heidentum ist deshalb keine „törichte Einflickung“ eines christlichen Motivs;⁹⁸ sondern ein Problem für die Legitimität von Kriemhilds zweiter Ehe. Doch hat der Gegensatz Christentum – Heidentum insgesamt keinerlei tragende Bedeutung – wie etwa in den Gralserzählungen. Vor allem triuwe, das zentrale Prinzip gesellschaftlichen Zusammenhalts im Epos, wird neu interpretiert, als individuelle Tugend, die einen Menschen an einen anderen bindet. Kriemhild ist unschuldic, denn sie handelt als Liebende; sie handelte nâch ir triuwe (Kl B 155; 157; ~ Kl CDJ) und verdient damit das Himmelreich: in gotes hulden manegen tac | sol si ze himele noch geleben (Kl B 572– 573; ~ Kl J; ähnlich Kl CD); dannoch ist gotes genâden mê, | danne iemen sünden begê (Kl C 571– 572; ~ Kl D).⁹⁹ Damit werden alle Fragwürdigkeiten ihres Handelns, die verräterische Einladung, das skrupellose Aufopfern des Sohnes, der Treubruch gegenüber ihren Brüdern, das hinterlistige Vorgehen gegen die Burgonden weggewischt. Von ihnen ist in der ‚Klage‘ überhaupt nicht mehr die Rede.
Daher auch die vielen Abweichungen vom Epentext (Henkel 2003, S. 118). Knapp 1987; Henkel 2003, S. 117 macht vor allem auf die Riten und Formen christlicher Trauerbewältigung in Passau aufmerksam. Bumke 1996a, S. 237. Nibelungenliedlied 1959, S. 224 (Anmerkung des Herausgebers de Boor zu B 1392; vgl. Müller 1998, S. 232). Die Stelle ist in der Fassung C der ‚Klage‘ (und folglich auch in D) erheblich expandiert, ein Zeichen, dass großes Gewicht auf ihr liegt. Sie beruft sich auf die Autorität von des buoches meister (Kl B 579; Kl C 547; Kl D 581); vgl. Bumke 1999, S. 122– 131.
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Die Burgonden dagegen bezahlten für ir alten sünde (Kl B 16; ~ CD). Sünde, Gnade, gotes hulde sind religiöse Kategorien, die im Nibelungenlied fehlten oder unterminologisch (sünde!) gebraucht wurden. Die Burgonden verfallen gotes zorn auf Grund ihrer superbia (Kl B 1272; 1277). Ausgerechnet Hildebrant, der Hagens Tod an Kriemhild gerächt hat, nennt ihn jetzt valant (Kl B 1250; Kl C1278) und weist ihm alle Schuld zu. Dietrich wirft ihm vor, keinen vride gewollt zu haben (Kl B 1167; Kl C 1199). Die Katastrophe ist verdiente Sündenstrafe. „Mit solchen moralischen Bewertungen […] ist dem Nibelungen-Geschehen erst eine klare Folgerichtigkeit gegeben, die sich einordnet in den höheren Bezug eines durch Gottes Handeln bestimmten Lauf des Geschehens“.¹⁰⁰ Die „christliche Sinndeutung im Geiste des zeitgenössischen Weltbildes“,¹⁰¹ die der notText verweigert und auch die C*-Bearbeitung nicht bietet, gelingt erst der ‚Klage‘. Der Tod erscheint, „anders als im ‚Nibelungenlied‘, in gedeuteter Dimension“, er ist „Sold der Sünde“.¹⁰² Selbst Dietrich sieht im Blutbad den vreislichen gotes zorn, den die helde uzerkorn […] nu lange her verdienet han (Kl B 1271– 1273).¹⁰³ „Es ist christlich geprägtes Denken von Schuld und Sühne, in das der Burgundenuntergang eingeordnet wird“.¹⁰⁴ Damit ist klar, dass die Anlagerung der ‚Klage‘ von grundsätzlich anderer Art ist als die Anlagerungen im Epos. Sie lässt die Grundstruktur nicht intakt, sondern stellt sie in Frage. Man hat die ‚Klage‘ eine „Leseanleitung“¹⁰⁵ für das Epos genannt. Eine solche Leseanleitung ist bitter nötig angesichts einer Erzählung, die von Betrug, Verrat, Mord, Raub, Hinterlist und Vernichtungswillen bis zum letzten erzählt, die das alles zwar punktuell bewertet, aber das Schreckliche auch bewundert und für das Ganze nur die Formel vom Umschlag von liebe in leit bereithält. Die ‚Klage‘ rückt die heroische Welt in geistliche Perspektive. Aber es ist die Perspektive nachträglicher Reflexion. Sie ist mit der des Epos, selbst in der Bearbeitung *C, nicht identisch. Die ‚Klage‘ spiegelt, wie noch auszuführen ist, das Ende der Gattung Heldenepik im Spätmittelalter.
Henkel 2003, S. 121. Heinzle 2003a, S. 197. Henkel 2003, S. 117. Vgl. Henkel 2003, S. 119. Henkel 2003, S. 120. Heinzle 2003a, S. 196.
9 Das Nibelungenlied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Exkurs: Ilias und Nibelungenlied Die in den vorigen Kapiteln untersuchte Varianz in der Überlieferung des Nibelungenliedes wirft die Frage auf, worin denn die Identität des Textes besteht, der, anders als literarische Texte der Neuzeit, sich nicht in allen Belangen der Formung einem Autor verdankt und nicht, wie wir das von einem literarischen Kunstwerk verlangen, in seiner sprachlichen Gestalt durchweg festgelegt ist. Wenn das Nibelungenlied nicht bloßes Resultat der Tradition ist, sondern wenn es diese Tradition durch Auswahl, Perspektivierung, Deutung bewusst gestaltet und zur selbständigen Dichtung geformt hat, wenn aber gleichzeitig das ‚wording‘ in vielen Hinsichten ad libitum gestellt ist, wie ist dann sein literarischer Status beschreibbar und wie hat man sich seine Entstehung vorzustellen? Nun ist dieser literarische Typus keineswegs einmalig. Das Nibelungenlied vertritt einen Typus früher Epik, die mündlicher Tradition entwächst, aber als geformte Dichtung verschriftlicht wird und sich als schriftliterarischer Text von der Tradition absetzt. Dieser Typus ist in den homerischen Epen repräsentiert. Im Folgenden soll vor allem der Blick auf Homers ‚Ilias‘, die Geschichte ihrer Konstitution, die Diskussion ihrer Einheit bzw. die Bestreitung dieser Einheit auch für die Überlieferungsgeschichte des Nibelungenliedes fruchtbar gemacht werden. Es versteht sich, dass der Vergleich nur heuristisch gemeint ist und die Unterschiede zwischen den Dichtungen nicht verwischt werden dürfen.¹ Im Unterschied zu den höfischen Romanen beruht das Nibelungenlied auf einer Jahrhunderte alten Sage, die man sich weitererzählte. Es handelte sich im Wortsinn um Sage, mündlich tradiert in geformter, aber auch ungeformter Rede. Die Sage wurde auch in anderen Medien dargestellt, auf Waffen, Schmuckstücken, Gedenksteinen, Grabmälern und dgl. Sie übergriff Kulturen und Sprachen. Sie war vielgestaltig, oft widersprüchlich. Überliefert ist sie erst relativ spät in Texten, die den Weg in die Schrift gefunden haben, doch lange vorher in Bildzeugnissen, in literarischen Anspielungen und außerliterarischen Spuren. Unstreitig basiert das Nibelungenlied auf einer solchen Tradition; auf sie beruft es sich ausdrücklich in der Programmstrophe, die einem Teil der Überlieferung vorangestellt ist. Dort gibt sich das Epos als ‚Kunde‘, die der Erzähler nur erneuert. Die Programmstrophe nennt keinen Autor: Uns ist in alten maeren wunders vil geseit. Die Kunde
Der Vergleich mit Homer (und den griechischen Tragikern) schon bei Heinzle 2003b, S. 15 – 17; 2009, S. 60 – 61; Haferland 2019a, S. 29, 36 – 37, 52– 53, 55; 2019b, S. 467. Heinzle und Haferland geht es mehr um die Traditionalität und Unfestigkeit des Textes, mir dagegen um die Verfestigung des Textes: zum Nibelungenlied bzw. zur ‚Ilias‘. https://doi.org/10.1515/9783110983104-010
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inszeniert sich als ein Werk, das nicht auf einen einzelnen Autor zurückgeht, sondern dessen Wahrheit kollektiv verbürgt ist. Es ist aber in jedem Fall eine und nur eine Wahrheit, nicht ein Konglomerat vielgestaltiger Wahrheiten, wie es aus der Perspektive des nachgeborenen Historikers vielleicht scheinen könnte. Hierin liegt die Ähnlichkeit mit den homerischen Epen. Die homerischen Epen inszenieren sich gleichfalls als ‚Kunde‘; sie sind nicht durch den Dichter verbürgt, sondern durch eine höhere Instanz, die Muse. Die Muse kennt die Tradition und kann zuverlässig über sie Auskunft geben. In der Inspiration durch die Muse ist Tradition auch in den homerischen Epen nicht vielgestaltig, sondern eindeutig und wahr, nicht beliebig offen für andere Traditionen. Diese Rückversicherung bei einer höheren Instanz hebt die Dichtung ‚Homers‘ über das, was man sich so erzählt, hinaus, mehr als es die Autorität eines einzelnen Sängers könnte. Diese Instanz hat eine autoranaloge Position. Die ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ sind das Werk eines Dichters, aber angeblich nicht von ihm verantwortet, sondern abhängig von dem, was ihm die Muse kündet. Der Dichter ist Sprachrohr der Muse, nicht einer diffusen Tradition. Formung zum literarischen Text und Tradition schließen sich also nicht aus. Den homerischen Epen ging eine jahrhundertelange vielgestaltige mündliche Überlieferung voraus. Um 700 v.Chr. wurden sie von einem Dichter ‚Homer‘ (oder mehreren?) in Hexameter-Epen vom Untergang Trojas und den Irrfahrten des Odysseus verarbeitet. Von da an ist ‚Homer‘ eine feste Größe.² An der Existenz ‚Homers‘ als des ältesten griechischen Dichters und Sängers der griechischen Vergangenheit bestand in der Antike kein Zweifel. Zwar gibt es weiterhin bis in die Spätantike vielfältige Überlieferungen vom Verlauf des Trojanischen Krieges und den Geschichten seiner Protagonisten, doch diese beeinträchtigen nicht die Geltung der homerischen Dichtung, können sie nicht ersetzen oder ergänzen, geschweige korrigieren. Die Dichtung transzendiert die kollektive Tradition. Trotzdem ist in den ersten Jahrhunderten der Überlieferung der Text im Einzelnen variant, denn sie erfolgte weitgehend ohne Unterstützung der Schrift. Die Entstehung der ‚Ilias‘ setzt zwar Schrift oder schriftanaloge Speicherungsmöglichkeiten voraus. „Jedenfalls war es erst der Akt der Niederschrift, mit dem die Ilias die besondere Form gewann, in der wir sie kennen, und mit dem sie ein fester Text wurde der an die Nachwelt ‚weitergereicht‘ werden konnte, statt ständig neu zusammengesetzt zu werden“.³ Aber wir haben diese Speicherung nicht. Der Name des Verfassers ‚Homer‘ wurde ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ vermutlich nachträglich beigelegt; doch für die Griechen handelt es sich um bestimmte, von einem Dichter geschaffene Texte. Dieser war mit der älteren
West 2011, S. 10 – 11; zum Folgenden auch West 2009, S. 27– 38; 2016, 39 – 50; vgl. Parry 1979; den Sammelbd. Homer 1979; Latacz 2001. Nur wo der historische Gehalt zur Debatte steht, werden andere Autoren bevorzugt wie im Mittelalter Dares und Dictys. West 2009, S. 27; vgl. 2016, S. 27: „rather than continually recomposed“. Das Datum der Verschriftlichung ist unsicher, denn eine frühe schriftsprachliche Gestalt dieses Werks ist verloren.
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Tradition vertraut und schuf aus ihrem Stoff seine Dichtungen,⁴ von denen nicht bezweifelt wurde, dass sie geschlossene Werke waren. Gleichwohl ist die homerische Dichtung „multiform“, „relatively more multiform in earlier phases und relatively less so in later phases of development that resulted ultimately in the Homeric texts as we now have them“.⁵ Gegenüber der Annahme einer strikten Entgegensetzung von Fluidität mündlicher Überlieferung und Festigkeit schriftlicher gibt es in beiden Medien unterschiedliche Grade von „multiformity“ bzw. deren Reduktion. Die ‚Ilias‘ ist a creation, we presume, of a poet trained in the techniques of oral performance and accustomed to deliver his poetry orally; a poet who composed his verses, not without premeditation, but with considerable fluency, line by line rather than word by word. However consistently he kept to one version of the stories he told, there will have been variations of scope and of detail between each performance and the next. Fixity could come only when a text was written down. […] In any case it was a completion of the writing down that marked the completion of the composition. […] The first complete text probably consisted of a collection of papyrus rolls.⁶
Die Weise, in der der ursprüngliche Text über den Tod des Dichters hinaus bewahrt und verbreitet wurde, kennen wir nicht. Am wahrscheinlichsten geschah das „in a community of rhapsodes“.⁷ Es scheint immerhin, „daß die ‚Ilias‘ wenigstens schon vor dem letzten Viertel des siebenten Jahrhunderts niedergeschrieben wurde“; da von dieser Zeit Zeugnisse in Literatur und Kunst die homerischen Dichtungen voraussetzen, „und zwar in einer einigermaßen fixierten Form. Fixiertheit geht mit Schriftlichkeit zusammen“.⁸ In der Folgezeit interferieren mündliche und schriftsprachliche Praktiken.⁹ Seit Ende des 7. Jahrhunderts bezeugen Literatur und bildende Kunst die Bekanntheit der homerischen Dichtungen. Die Verbreitung konnte ohne Schrift geschehen, aber es muss auch „written exemplars“ gegeben haben. Uns ist die schriftliche Überlieferung der‚Ilias‘ aber erst sehr viel später greifbar. Die Rhapsoden „who adopted the written ‚Ilias‘ as a basis of their own performances“ betrachteten den Text nicht „as something sacrosanct, but as a ‚given‘ which they were free to embellish, expand, or abridge if they felt like it“.¹⁰
West 2001, S. 4. Nagy 2001, S. 110. West 2001, S. 3. West 2001, S. 5 – 6; vgl. 2011, S. 69. West 1990, S. 33. „Wenn ein Volk schreiben lernt, so bedeutet das nicht, daß eine Tradition mündlicher Dichtung sogleich durch eine schriftliche abgelöst wird.Vielmehr kann es geschehen, daß sie noch viele Jahrhunderte lang fortgesetzt wird, ohne daß die Dichter je daran denken, ihre Gedichte niederrzuschreiben bzw. niederschreiben zu lassen! (West 1990, S. 34). West 2001, S. 10; vgl. S. 6 – 11.
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As regards the wording in detail, there are often ancient variants that leave us uncertain which precise formulation of a verse was the original one, but it seldom makes a difference to the sense. […] Such disturbance of the text as has taken place is almost wholly due not to miscopying by scribes, but to the operations of the rhapsode, especially in the earliest times of the tradition. This affected the written transmission because many of the copies made were made by rhapsodes for their own use. Having the poetry in their heads, they tended to rely on their memories rather than carefully reproduce an exemplar.¹¹
Rhapsoden verbreiteten den ‚richtigen‘ Text, ‚den‘ Text Homers, z.T. vermutlich in einzelnen Abschnitten, dann ab Ende des 6. Jahrhunderts als ganzen in öffentlichen Aufführungen während der Panathenäen. Die Rhapsoden müssen „einen vereinbarten Text gehabt haben, nach dem sie sich richteten, und dieser Text muß in schriftlicher Form vorhanden gewesen sein, mochten sie sich auch bei Vortrag auf das Gedächtnis verlassen“.¹² Daneben muss es „performed versions of most parts of the poem on various occasions in various places“ gegeben haben.¹³ Es hat für Homer unstreitig „vom sechsten vorchristlichen Jahrhundert an einen verbindlichen Text der Epen“ gegeben, „an den sich die berufsmäßigen Rezitatoren, die Rhapsoden, zu halten hatten“.¹⁴ Durch den „bottleneck“ der Panathenäen bekam der Vortrag der ‚Ilias‘ einen institutionalisierten Platz im öffentlichen Leben Athens, als dieser besondere Text, der offizielle Geltung beanspruchte. Diese „phase can be described in terms of ‚textualization‘ – without our having to posit an original ‚text‘“; „we may envisage a movement from decentralized multiplicity toward centralized unity“.¹⁵ Es ist immer noch kein in allem festgelegter schriftlicher Text überliefert.¹⁶ ‚Homer‘ lebte im Vortrag, so wie er selbst als Sänger, nicht Autor schriftlicher Gedichte galt.¹⁷ Die Freiheit der Rhapsoden, den Text zu ändern, war begrenzt.¹⁸ Es gab Interpolationen durch Rhapsoden: Es wäre verwunderlich, wenn es nicht so wäre. Denn wie sehr die vollständige Ilias auch bewundert und mit Beifall bedacht wurde – es wäre ganz unrealistisch, anzunehmen, das Manuskript des Autors (das vermutlich die unhandliche Form einer unhandlichen Sammlung von Papyrusrollen hatte [which presumably took the form of a bulky collection papyrus rolls]) sei sofort als sakrosanktes Dokument verehrt worden, an dem alle folgenden Abschriften und Rezitationen kontrolliert zu werden hatten. […] Diese Rhapsoden waren daran gewöhnt, die Gesänge, die sie sangen, von einer Gelegenheit zur nächsten zu verändern und zu verschönern; ihr Lebensziel war ihr persönlicher Ruhm und Erfolg. Auch wenn sie sich dazu entschieden, ihre Rezitationen auf die schriftliche Ilias zu
West 2011, S. 72. West 1990, S. 34. West 2011, S. 69. Pfeiffer 1978, S. 140. Nagy 2001, S. 111. Er zitiert aus einer älteren Publikation. „I continue to describe as text-fixation or textualization the process whereby each composition-in-performance becomes progressively less changeable in the course of diffusion“. West 2001, S. 7– 8. Vgl. die von West zusammengetragenen (fiktiven) Zeugnisse über Homers Leben (1990, S. 40 – 41). Pfeiffer 1978, S. 21.
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gründen, waren sie genauso schnell bei der Hand, sie mit zusätzlichen eigenen Versen zu ‚verbessern‘, wie die Tragödien-Schauspieler des 4. Jh. bei der Hand waren, Euripdes zu ‚verbessern‘.¹⁹
Neben solch größeren Eingriffen finden sich in Texten viele kleinere Varianten. „It is minor in that it does not significantly affect the sense of a passage: it is a matter of differences in wording, the substitution of one formula for another, and the like“. West charakterisiert diese Varianten als „‘oral‘ variants“, nimmt aber an, dass ihre Urheber auch Schreiber waren: Normally a copyist would have had a good familiarity with the poems, and it is easingly imaginable that he might in places take his eyes off his exemplar and write out whole stretches of the narrative from memory, introducing echoes of similar passages elsewhere, whether unconsciously or because he thought it would be just as good so“.²⁰
Andere Homerforscher veranschlagen den Anteil an Mündlichkeit in den ersten Jahrhunderten der Rezeption höher als West. ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ waren, so vermutet Nagy, „relatively more multiform in earlier phases and relatively less so in later phases of development“. Nagy mahnt zur Vorsicht bei der Annahme schriftlicher Fixierung schon im 6. Jahrhundert,²¹ stellt aber dar, wie Verfestigung auch jenseits von Verschriftlichung denkbar ist. Wie immer die Gräzistik die frühe Überlieferung einschätzt; man muss jedenfalls von einer mündlichen Verbreitung ausgehen, die zunehmend sich verfestigte, wahrscheinlich mit Unterstützung der Schrift. Die Rezeptionsgeschichte zeigt, wie ‚Homer‘ zu der Größe wird, die in der europäischen Literatur Vergil an die Seite gestellt wird, so wie ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ der ‚Aeneis‘. Nie wäre es den Griechen eingefallen, statt nach ‚dem‘ Homertext zu fragen, ihn in die vielgestaltigen Erzähltraditionen aufzulösen und deren Gleichberechtigung anzuerkennen. Es bestand kein Zweifel, dass hinter der Erzählung vom Zorn des Achilles beim Kampf um Troja der blinde Sänger des 8./7. Jahrhundert v.Chr. steht, auf den sich schon Herodot, Platon und Aristoteles beriefen und um dessen Geburtsort mehrere Städte wetteiferten. Seit dem Anfang des 5. Jahrhunderts gewann die Schrift in der Tradierung von Literatur an Bedeutung; die Buchproduktion wuchs an. „Im Laufe des fünften Jahrhunderts wurden die tragischen Dichter, die Geschichtsschreiber und die Sophisten die beherrschenden Gestalten im Leben Athens“.²² Ihre Werke sind von Anfang an schriftlich und wurden schriftlich verbreitet. Es gab im Griechenland des fünften Jahrhunderts auch den Versuch einer Homerausgabe durch Antimachos von Kolophon. In der Folgezeit gab es vielerorts in der Griechisch sprechenden Welt Versuche der Verschriftlichung, um das Erbe der ‚klassischen‘ Literatur zu sichern. Diese jedoch di-
West 2009, S. 28; vgl. 2016, S. 28. West 2001, S. 14– 15. Nagy 2001, S. 113. Pfeiffer 1978, S. 47.
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vergierten untereinander. Homer war präsent im mündlichen Vortrag durch Rhapsoden, in schriftlichen Aufzeichnungen, in Zitaten und Anspielungen in anderen Schriften, in der Vasenmalerei, nicht zuletzt als Schulautor.²³ Der Fall Homer belegt jedenfalls, dass über einen längeren Zeitraum auch ohne maßgebliche Beteiligung der Schrift Überlieferung eines Epos möglich ist, das so spektakuläre Ereignisse wie den Trojanischen Krieg in seinen entscheidenden Wendepunkten für das Gedächtnis festhält, wobei seine verbindliche Gestalt anfangs durch Rhapsoden gesichert wurde, dann durch institutionalisierte Aufführungen, zunehmend gestützt durch Schrift, ohne dass der Text in allen Einzelheiten festgelegt war. Sie waren der jeweiligen Realisation, auch im schriftlichen Medium, überlassen. Was seit dem 5. Jahrhundert schriftlich in Zitaten oder in den sog. Städtehandschriften überliefert wurde, ist variant wie die Nibelungenüberlieferung. Dessen ungeachtet ist die ‚Ilias‘ aber strukturell ein ‚Buchepos‘,²⁴ denn wie variant sie gewesen sein mag und obwohl sie auch ohne Zuhilfenahme der Schrift, im Gedächtnis der Rhapsoden, gespeichert wurde, war sie ein relativ fester Text, nicht mehr nur ein „Gedächtnistext“,²⁵ wenn damit ein unfester, beliebig den Wechselfällen des Erinnerns und den Vorgaben der Tradition unterworfener Text gemeint sein soll. Speichermedium und Textualität decken sich nicht eins zu eins. Es gibt auch in der Mündlichkeit ‚Texte‘.²⁶ Die Vorstellung vom ‚richtigen‘ Text Homers, der gleichwohl in seiner konkreten Textgestalt variant war, ist der Konstellation des Nibelungenliedes vergleichbar und weist überraschende Parallelen mit der Nibelungenüberlieferung auf. Wie dort bestand bereits in der Frühzeit eine verbindliche Vorstellung von dem, was als ‚Homer‘ zu gelten hatte – so wie das Nibelungenlied, der ‚Klage‘ zufolge, den Burgondenuntergang ‚richtig‘ erzählt. Diese Vorstellung geht aber mit der tatsächlichen Varianz der Überlieferung zusammen, wie sie uns in handschriftlichen Zeugnissen entgegentritt. Diese Varianz darf allerdings ein gewisses Ausmaß nicht überschreiten, damit es noch der ‚richtige‘ Text ist. Mit den Bemühungen der alexandrinischen Philologie ändert sich das. ‚Nach‘ Alexandria ist die wilde Varianz der Überlieferung gezähmt.²⁷ Die Philologen von Alexandria²⁸ diskutierten einzelne Lesarten und suchten einen verbindlichen Wortlaut.
Zur Zugänglichkeit und Verbreitung Homers ‚vor‘ Alexandria Dué Hackney / Ebbott 2019, S. 240 – 242. Das bestreitet Haferland 2019a, S. 54. Anders Haferland 2019a, S. 80. Auch er spricht aber von „viele[n] wie plausibel anzunehmende[n] Umstände[n] (Szenarios) des Zusammengehens von Mündlichkeit und Schriftlichkeit“. Ehlich 1983; 2007c. Für das Folgende Pfeiffer 1978. Ich verdanke den Hinweis auf die alexandrinische Philologie Oliver Primavesi. Die Diskussion mit ihm war eine entscheidende Hilfe bei der Ausarbeitung meiner Thesen. Die gräzistische Forschung tendierte lange dazu, Praktiken der modernen Philologie in die Bemühungen der Alexandriner zu projizieren. Doch die Anfänge der Philologie waren bescheiden. Am Beginn steht Zenodot von Alexandria (3. Jh.), der sich um diorthosis des Textes bemüht, aber noch kein Philologe im modernen Sinne ist, der Handschriften vergleicht, zwischen ihnen Lesarten auswählt und die bei der Prüfung für am besten befundenen ediert. Seinen Nachfolgern Aristophanes und Aristarchus standen andere Quellen zur Verfügung. Man sucht den besten Text zu schaffen, durch genaue Beobachtung der
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Der Wortlaut im Einzelnen wurde kritischer Prüfung unterzogen die Authentizität ‚homerischer‘ Formulierungen überprüft, ‚Homerisches‘ von ‚Unhomerischem‘ zu scheiden versucht. Sie bemühten sich, Interpolationen zu identifizieren, manchmal von ganzen Episoden, Fragen der Metrik zu erörtern, den besseren Sinn einer Stelle zu klären. Zu der philologischen Tätigkeit der Alexandriner gehörten auch grammatische Überlegungen, die auf Arbeiten seit dem 5. Jahrhundert aufbauen konnten. Bei all dem besteht kein Zweifel daran, dass der Kern der Dichtung ‚Homers‘ bewahrt werden musste und nur von Fremdem zu reinigen war. Die Berichtigung einzelner Stellen wie die Einrichtung der Texte insgesamt, steht bei den Philologen Alexandrias – Zenodot und seinen Nachfolgern – stets im Zusammenhang mit einer umfangreichen Kommentierungstätigkeit. Ihre Entscheidungen, niedergelegt in Scholien, gingen in die HomerVulgata ein, die der Spätantike und dem Mittelalter vorlag. Es handelt sich stets um Arbeit an einem literarischen Text, nicht an einer diffusen Tradition insgesamt. Auch die Philologen Alexandrias sahen sich also anfangs einer breiten heterogenen Überlieferung gegenüber. Was davon von Bruchstücken homerischer Texte ‚vor‘ Alexandria erhalten ist, unterscheidet sich in überraschender Weise nicht nur von unserer mittelalterlichen Handschriftentradition, sondern auch von den Papyri nach 150 v.Chr. [d. h. nach Abschluss der alexandrinischen Bemühungen um den Text]. Eine ganze Anzahl neuer Zusatzverse und neuer Lesarten taucht neben einigen Auslassungen auf. Es ginge zu weit, wollte man sagen, daß diese frühen ptolemäischen Papyri den Eindruck eines ‚Chaos‘ vermitteln, aber wir können Zenodots Problem erst richtig würdigen, wenn wir bedenken, daß er sich einer so großen Zahl mehr oder weniger abweichender Handschriften gegenübersah.²⁹
Durch die Bemühungen der Alexandriner und die ihrer Nachfolger entstand allmählich ein Vulgattext (wie immer man ihn einschätzen mochte). Ab Mitte des 2. Jahrhunderts v.Chr. verschwinden die Interpolationen.³⁰ „Gegen die Mitte des zweiten Jahrhunderts bestand kein dringender Bedarf mehr nach einer neuen Ausgabe des Textes, sondern nach einer Erklärung des Textes in seiner Gesamtheit“.³¹ Vor allem hört bei ‚Homer‘ nach den Bemühungen der alexandrinischen Philologie die Varianz auf. Unabhängig von der tatsächlichen Entstehungsgeschichte von ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘, die u.U. mehrere Jahrhunderte auseinanderliegen, waren beide Epen seit der griechischen Klassik auf einen Namen zurückgeführt, eine Stifterfigur, der die Komposition wie deren rhetorische Gestalt zu verdanken ist. Zuerst durch die Philologen von Alexandria
Sprache Homers, die Frage innerer Konsistenz und kontextueller Kohärenz. Eine gewisse Summe der alexandrinischen Philologie stellt Didymus dar, der zur Zeit des Augustus wirkte. Er stützt schon seine Arbeit auf möglichst viele Handschriften, die er vergleicht, und er wertet die Arbeiten seiner Vorgänger aus. (West 2001, S. 33 – 85). Ich folge der Darstellung von West, bei dem auch die Positionen ausführlich diskutiert sind, die der alexandrinischen Philologie von Anfang an modernere Verfahren zutrauen. Pfeiffer 1978, S. 141– 142. West 2009, S. 32 Pfeiffer 1978, S. 264.
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waren die unter Homers Namen überlieferten Texte gesammelt und gesichtet, Lesarten abgewogen, Verdächtiges ausgeschieden, ein ‚guter‘ Text hergestellt worden. Das Instrumentarium der Philologie – collatio, recensio, emendatio –, wurde zuerst von den Alexandrinern entwickelt und vom Humanismus an der Überlieferung der klassischen Literatur zur Vollkommenheit ausgestaltet. Es wurden Glossare und Konkordanzen erstellt. So entstand seit der Kaiserzeit, im Mittelalter und der Frühen Neuzeit ein gesicherter Text, der bei allen textkritischen Problemen im Einzelnen als Text Homers gilt.
Die Liedertheorie und die ‚Einheit‘ des Nibelungenliedes Diese besonderen Umstände der griechischen Literaturgeschichte sind natürlich nicht einfach auf das Nibelungenlied übertragbar. Die Überlieferungsgeschichte des Nibelungenliedes ist viel kürzer. Sie umfasst nur die Phase des Nebeneinanders varianter Texte, und es fehlen Konsolidierungsprozesse, wie sie vor allem die Panathenäen mit ihrem quasi offiziellen Vortrag eines verbindlichen Textes darstellen, aber auch die divergierenden Versuche der Städtehandschriften, einen authentischen Text herzustellen. Auch ist das Nibelungenlied nicht an einen bestimmten Namen geknüpft, und es beruft sich nicht auf eine höhere Instanz wie die Muse, sondern auf das, was man sich so erzählt. Der wichtigste Unterschied aber ist neben der fehlenden Konsolidierung in einer jahrhundertelangen Tradierung: Dem Nibelungenlied fehlt Alexandria. Das Nibelungenlied wurde nicht wie die ‚Ilias‘ mehrere Jahrhunderte teils in institutionalisierter Form übermittelt und schließlich durch intensive philologische Bemühungen zum gefestigten Text. Was die hellenistische Philologie Alexandrias im 3. und 2. Jahrhundert v.Chr. für die griechische Literatur und speziell Homer leistete, das war beim Nibelungenlied bei seiner Wiederentdeckung noch nachzuholen. Doch ist die philologische Arbeit vom Beginn der Wiederentdeckung durchaus den Bemühungen der Alexandriner vergleichbar. Auch die Philologen des 19. Jahrhunderts mussten die Grundlagen ihrer Textkritik – Grammatik, Vokabulare, Metrik usw. – erst noch selbst schaffen. Prinzipien und Regeln wurden gleichzeitig mit der Arbeit an den Texten erst entwickelt und systematisiert. Der berüchtigte Nibelungenstreit des 19. Jahrhunderts,³² welche Handschrift am besten die dem Original oder wenigstens dem Archetyp nächste Gestalt des Epos enthält, und in diesem Zusammenhang die textkritische Prüfung der einzelnen Lesarten, lässt sich insofern als nachgeholte diorthosis der Textherstellung in der Spätantike begreifen, um aus den divergierenden Textzeugen den ursprünglichen Text zu gewinnen. Die poetische Gestalt des Nibelungenliedes, so wie sie in den Handschriften überliefert ist, schien unvollkommen. Es stellte sich die Aufgabe der ‚Reinigung‘ des Textes; die Metrik schien nicht, wie einem schriftsprachlichen Text angemessen, durchgeformt; die eigentümliche
Kolk 1990.
Die Liedertheorie und die ‚Einheit‘ des Nibelungenliedes
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‚Sprache‘ des Textes musste erarbeitet, die Angemessenheit des sprachlichen Ausdrucks geprüft, der Wortlaut ‚geheilt‘ werden. Das Werk von Braune ist in dieser Perspektive die Krönung der Philologenarbeit, der Suche nach dem maßgeblichen Text, eine Arbeit, die in Alexandria zweitausend Jahre früher begonnen worden war. Im Unterschied zur Situation damals aber wird gleichzeitig mit der Wiederentdeckung des Nibelungenliedes die Basis einer solchen philologischen Arbeit, wie sie die Alexandriner initiierten, zweifelhaft. Das Nibelungenlied steht von seiner Wiederentdeckung an in Konkurrenz zur europäischen Heldenepik und wird von deren Forschungsgeschichte beeinflusst. Deren Leitbilder sind Homer und Vergil. Während die ‚Aeneis‘ unstrittig ein Autortext ist, galt jahrhundertelang Gleiches zwar von Homer, doch beginnt man im 18. Jahrhundert an der festen Größe ‚Homer‘ und an der Einheit und Geschlossenheit seiner‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘, wie sie sich im Gefolge der Bemühungen der alexandrinischen Philologie herausgebildet hatte, zu zweifeln, die philologische Rekonstruktion zu kritisieren und nach der Tradition zu fragen, die ‚Homer‘ voraussetzt. Die Nibelungenphilologie setzt in der Zeit ein, in der die Homerforschung eine neue Wendung genommen hatte.³³ Ende des 18. Jahrhunderts begann man, sich mit den diortheseis der hellenistischen Philologie kritisch auseinanderzusetzen. Die Gräzistik des späten 18. / frühen 19. Jahrhunderts ersetzte die These einer ursprünglichen Einheit der Epen und der Urheberschaft eines einzigen Autors ‚Homer‘ durch die Annahme einer vielfältigen Tradition von ‚Liedern‘ über den trojanischen Krieg, die im Laufe der Jahrhunderte von vielen Sammlern und Redaktoren und zuletzt unter dem Namen ‚Homer‘ zusammengefügt worden waren: Diese Lieder stehen hinter den Epen ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘. Prominentester Vertreter dieser These war Friedrich August Wolf mit seinen ‚Prolegomena ad Homerum‘ (1795).³⁴ Wolfs Thesen erschütterten die gebildete Welt und wurden heftig bekämpft.³⁵ Sie konnten zwar nicht dauerhaft den Rang des größten Dichters der griechischen Antike zerstören, beeinträchtigten auch nicht die Auseinandersetzung mit dem Text der beiden Epen, regten aber die Erforschung der vor-homerischen Traditionen an, lösten auch die Annahme eines einzigen Dichter der beiden Epen um 700 v.Chr. auf und arbeiteten Anlagerungen späterer Jahrhunderte an den Text heraus. Die Homerphilologie hat die Herausforderung durch die Wolfschen Thesen bewältigt, indem sie feststellte, dass die Frage nach dem literarischen Werk und die Frage nach der Tradition, in der es steht, zwei grundsätzlich auseinanderzuhaltende Probleme sind (mit zweifelsohne vielen Berührungspunkten). Homers Geschichte des Untergangs Trojas und der Irrfahrten des Odysseus ist seitdem scharf von der kollektiven Überlieferung, den Sagen, zu trennen. Sie erzählen z.T. dieselben Vorgänge und enthalten dieselben Motive, jedoch neben anderen. Sie gehen der Schöpfung ‚Homers‘
Heinzle 2003a, S. 192 zum Einfluss der Homer-Diskussion auf die Nibelungenphilologie; zum Kontext der europäischen Heldendichtung Heinzle 2003c. Wolf 1795 / Wolf 1876. Wohlleben 1996.
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voraus. Aber die homerischen Epen wählen unter ihnen aus, kombinieren sie in bestimmter Weise und unterwerfen sie einem bestimmten Zusammenhang. Die Forschung kehrte letztlich doch zu einem (zwei), ursprünglich von einem Dichter gestalteten Text(en) zurück, der/die jahrhundertelang mehr oder minder fest tradiert worden, dann aber seit dem 3. Jahrhundert v.Chr. Gegenstand philologischer Bemühungen geworden war(en). Man sah, dass die Frage nach der Gestalt der beiden Epen, ihrer Struktur, inneren Einheit, poetischen Mittel usw. und die Frage nach ihrer Vorgeschichte in einem Meer von vorderorientalischen Sagen völlig unterschiedliche Probleme sind. Was man nach Wolfs provozierenden Thesen gefürchtet hatte, die Auflösung der beiden größten Werke der griechischen Antike, trat nicht ein. Die Forschungen nach dem vorderorientalischen Hintergrund der Epen und die nach ihrer Struktur, ihrer Erzählweise, ihrem Stil, ihrer Sprache usw. gingen weiter, parallel zur Erforschung von Sagentraditionen, und bei dieser Arbeitsteilung ist es bis heute geblieben. Das war um 1800 noch nicht absehbar. Vor diesem Hintergrund ist die frühe Auseinandersetzung mit dem Nibelungenlied zu sehen, dessen Entdeckung und erste Erschließung etwa gleichzeitig mit der Diskussion um Homer erfolgte. Sie hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Erforschung des mittelhochdeutschen Textes. Bekanntlich sind die Nationalphilologien Töchter der Klassischen Philologie, deren Methoden sie seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts adaptierten. Noch die Anfänge der modernen Philologie in der Renaissance betrafen nicht volkssprachige Texte, wie dies seit der Generation Lachmanns im 19. Jahrhundert der Fall ist. Die Nibelungenphilologie setzte unter theoretischen Prämissen der zeitgenössischen klassischen Philologie ein. Einige der Gründungsheroen der Deutschen Philologie, an der Spitze Karl Lachmann, sind in Personalunion Klassische Philologen. So wurde die Frage der Klassischen Philologie des 18. und 19. frühen Jahrhunderts – ob das homerische Epos nicht aus einer Anzahl kürzerer Lieder zusammengewachsen sei – von Lachmann auch anfangs ans Nibelungenlied gestellt. Lachmann war Schüler von Wolf. Er übertrug die These von Homer auf das Nibelungenlied. Deshalb kritisierte er von der Hagens Ausgabe nach B,³⁶ denn sie basiere zum einen auf nur einer Handschrift, und sie behandele das Nibelungenlied zum anderen wie einen geschlossenen, von einem Dichter verantworteten Text, wo es Lachmanns Meinung nach, doch aus vielfältigen mündlichen Traditionen, geformt in kürzeren ‚Liedern‘, zusammengewachsen war. Dem ersten sollte abgeholfen werden, indem man „aus einer hinreichenden Menge von guten Handschriften einen allen diesen zum Grunde liegenden Text darstellen [soll], der entweder der ursprüngliche selbst seyn oder ihm doch sehr nahekommen muss“.³⁷ Dabei war die Handschrift A zwar jünger als B, stand aber nach Lachmanns Meinung der Textgestalt des ursprünglichen Epos näher.
Von der Hagen 1816. Lachmann 1816/1869, S. 82.
Die Liedertheorie und die ‚Einheit‘ des Nibelungenliedes
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Diese Textgestalt verwies jedoch auf eine weit ältere Tradition. Lachmann betrachtete die „Nibelungennoth“ als „wenigstens schon die dritte Sammlung von Nibelungenliedern“, die in dem Epos nicht nur ‚wiederklingen‘, sondern erhalten sind; statt vom „Dichter“ sprach er vom „Ordner“ des Nibelungenliedes. Er sah im Nibelungenlied nicht nur den Geist des „Volksgesangs“, sondern glaubte, „fast überall in dem Gedichte noch die ursprünglichen Volkslieder“ zu erkennen. Von der Hagen warf er vor, diese nicht beachtet zu haben, wo doch selbst in Hs. C „vieles nicht nur volksmäßig, sondern geradezu aus den vorhandenen Volksliedern aufgenommen und nachgetragen ist“. Das unterscheide das Nibelungenlied von höfisch-ritterlicher Dichtung. Deren Geschmack habe „etwa ein fahrender Spielmann“ die Geschichte von der Nibelungennot „durch Wegräumung einiger Wunder“ und „Einschaltung manches Ritterlichen“ in einigen Punkten angepasst.³⁸ Damit gibt er die Thematik der Nibelungenphilologie des 19. Jahrhunderts vor. Lachmann nimmt gewissermaßen eine doppelte Position ein; es geht ihm einerseits um die ursprüngliche Gestalt eines literarischen Werks (das dem höfischen Zeitgeschmack entsprechend überformt wurde). Andererseits sucht er wie die zeitgenössische Gräzistik hinter den geschlossenen Text zurückzugehen und in Analogie zur Homerforschung die diffuse Tradition aufzuspüren, die diesem Text vorausging. Dabei übersah er allerdings, dass er jeweils ganz unterschiedliche Tradierungsprozesse voraussetzen musste, die schriftgebundene Übermittlung eines literarischen Werks von Text zu Text, die ‚genealogisch‘ zurückverfolgt werden konnte, und die diffuse nicht in einzelne Überlieferungsschritte zerlegbare mündliche Tradition einzelner Gesänge, die der Schrift vorauslagen und über deren Abhängigkeit voneinander nichts bekannt war. Insofern begann die Nibelungenphilologie unter zwei entgegengesetzten theoretischen Vorgaben: Sie sollte gleichzeitig das leisten, was die griechische Philologie der Alexandriner für Homer versucht hatte, und sie sollte die Tradition rekonstruieren, die in den nord- und westeuropäischen Literaturen vielfältige Spuren hinterlassen hatte und auf der auch die Nibelungen-Dichtung aufruhte. Diese Spannung ist der Nibelungenphilologie bis heute eingeschrieben. Das weitere Schicksal der Liedertheorie, insbesondere Lachmanns hochspekulative Rekonstruktion der Lieder, die dem Nibelungenlied vorausgingen und aus denen es sich zusammensetzt, ist hier nicht darzustellen. Gleichfalls können nicht die vielfältigen Bemühungen der folgenden Generationen um den ‚originalen‘ Text des Nibelungenliedes diskutiert werden.³⁹ In ihrer Reinform wurde die Liedertheorie inzwischen verabschiedet, doch ihre Fragen und Theoreme sind in den auf den Text bezogenen Untersuchungen nach wie vor präsent, nicht nur, was die Provenienz einzelner Sagenelemente betrifft, sondern auch, was den literarischen Status des Epos (‚traditioneller Text‘) angeht. In ihrer radikalen Form setzte sich die Liedertheorie also nicht durch. Vorausgehende Lieder ließen sich schlechterdings nicht nachweisen. Voraussetzung von Braunes
Lachmann 1816/1869, S. 83 – 84. Jetzt Kellner (ersch. 2023).
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textkritischen Untersuchungen ist: Das Nibelungenlied beruht „in der vorliegenden form nicht auf volksliedern, sondern ist nach den intentionen seines dichters ein höfisches kunstepos“.⁴⁰ Die entschiedenste Gegenposition zur Liedertheorie vertrat aber Andreas Heusler.⁴¹ Das Nibelungenlied basiert auf poetisch geformten Texten. Heuslers Kritik an der Liedertheorie ist heute allgemein akzeptiert, wenn auch seine Annahmen einer Anzahl von ebenso fest wie das Nibelungenlied geformten Dichtungen, die diesem vorausgehen und die den Zeitraum von fünften zum zwölften Jahrhundert überbrücken und im 12. Jahrhundert in der ‚Älteren Not‘, dem unmittelbaren Vorgänger des Nibelungenliedes, zusammenwuchsen, als hochspekulativ verworfen wurden. Nach der ‚Älteren Not‘ sucht niemand mehr, wie Fromm spottete,⁴² in den Seminarbibliotheken. Für diese Dichtung gibt es keinerlei Belege, nicht einmal Wahrscheinlichkeiten, und so sollte man sie aus der Diskussion lassen.
Der Werkcharakter des Nibelungenliedes zwischen individualistischer und traditionalistischer Lektüre Der Suggestion der Liedertheorie ist jedoch geschuldet, dass das Nibelungenlied lange Zeit als Konglomerat heterogener Elemente betrachtet wurde. Seit dem 19. Jahrhundert rechnet die Forschung mit Interpolationen, mit verdrängten älteren Sagenelementen (z. B. der Ersetzung des Motivs für den Ausbruch des Kampfes) und unpassenden jüngeren Hinzufügungen (z. B. Ergänzung höfischer Motive – ‚Schneiderstrophen‘ – oder Ergänzung entbehrlicher zusätzlicher Episoden). Die Suche nach dem sog. „Urgestein“⁴³ und komplementär das Ausscheiden ‚eingeflickter‘ jüngerer Motive – wie das Insistieren auf Etzels ‚Heidentum‘ als Zugeständnis an den christlichen Rahmen⁴⁴ – reicht bis in jüngere Ausgaben hinein; und manches höfische oder christliche Element wurde als nachträglich zugefügt angesehen, wenn auch nicht mehr immer athetiert. Bemerkenswert ist, dass weder die Verfechter der Liedertheorie noch die Anhänger eines Konglomerats aus Traditionselementen die Struktur des Epos, seine feste Architektur des Textes beachtet haben. Anlagerungen und Ergänzungen sind stets auf diese feste Architektur bezogen. Dem Nibelungenlied mögen einzelne Episodendichtungen vorausgegangen sein. Aber das Epos hat aus diesem Repertoire einen Text geformt, der eine und nur eine Verknüpfung der Handlung zulässt. Unstreitig hat es, wie im vorigen Kapitel ausgeführt, in der Überlieferungsgeschichte des Textes Kürzungen und Erweiterungen gegeben, unstreitig sind vielfältige Sagenelemente in den Text eingeschmolzen, unstreitig entstammen selbst einzelne Formulierungen⁴⁵ der Tradition. Doch unterwirft
Braune 1900, S. 82. Heusler 1920/1955. Fromm 1990, S. 6. So z. B. Panzer 1955, S. 426; Neumann 1967 sucht alte und neue ‚Schichten‘ zu trennen. Etwa die Ausgabe von de Boor 1996, S. 224. Von Heinzle 1995, S. 83 nachgewiesen.
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das Nibelungenlied alles einem strengen Aufbau, und der erzählte Ablauf ist immer derselbe, während der Wortlaut der einzelnen Handschriften differiert. Wie ist der Werkcharakter bei diesem Zugleich von Festigkeit und Varianz näher zu bestimmen? Inzwischen hat sich die Forschung von Versuchen abgekehrt, die alte Sage, die das Epos erzählt, von hochmittelalterlichen ‚Übermalungen‘ zu befreien. Man hat eingesehen, dass es sich für die Gestalt, die das Nibelungenlied wohl gegen Ende des 12. Jahrhunderts annahm, nicht um entbehrliche Zutaten handelt, sondern um Bedingungen dafür, dass die Geschichte für ein anderes Publikum neu erzählt werden konnte. Sie gehören deshalb zum Text, wie er seit Mitte des 13. Jahrhunderts als Buchepos überliefert wurde, konnten evtl. in der Überlieferung – so der Bearbeitung *C – verstärkt werden, sind aber keineswegs als ‚unecht‘ auszuschließen. Die Liedertheorie hatte allerdings dazu eingeladen, den überlieferten Text in seine Elemente zu zerlegen. Man nahm an, dass das Nibelungenlied, so wie wir es kennen, nicht auf einen Schlag entstanden ist, dass viele ältere Elemente in es eingegangen sind, angefangen von einzelnen Einschüben bis hin zu heterogenen Sagenelementen. Erbe der Liedertheorie sind Versuche der älteren Forschung, das Nibelungenlied von ‚Interpolationen‘ zu reinigen. Es wurde alles als unecht verdächtigt und als nachträglicher Einschub identifiziert, was dem realistischen Erzählen der Zeit, zumal in dessen Trivialformen, unpassend, überflüssig, verdoppelnd und dgl. schien. An den überlieferungsgeschichtlichen Studien von Lachmann bis Braune kann man eine Stilgeschichte des philologischen juste milieu studieren. Man bemühte sich einen widerspruchs-, vor allem aber redundanzfreien Ur-Epentext zu rekonstruieren. Es ist Folge der Liedertheorie, dass man das Nibelungenlied auf „zudichtungen“ absuchte, die über den gesamten Text verstreut „wegen des gleichen störenden oder überflüssigen inhalts als interpolationen“ identifiziert werden konnten.⁴⁶ Solche Operationen sind nie beweisbar; sie sind aus subjektiven Vorlieben des Interpreten ableitbar und zielen in der Regel auf einen nirgends belegten Textzustand vor den tatsächlich überlieferten Texten. Das Argumentationsmuster lässt sich an den Strophen B 560/561 erläutern; sie fehlen in A (sie müssten nach Str. A 526 stehen), sind also evtl. entbehrliche Zutat. Die Erwähnung Sindolts, Hunolts und anderer Wormser Hofleute in diesen Strophen erweckt nach Braune den Eindruck, ein „sehr junger anwuchs der sage“ zu sein. In der Tat scheint sie für den Nexus der Handlung nicht notwendig. Aber ist das ein Kriterium? Kommt es nicht darauf an, die Beteiligung des ganzen Herrschaftsverbandes an den Vorbereitungen zum Empfang Brünhilds zu demonstrieren?⁴⁷ Braune beurteilt die Poetik des heroischen Epos nach den ästhetischen Maßstäben seiner Zeit. Er gibt übrigens selbst zu bedenken, dass sehr viele andere Erwähnungen von Nebenfiguren bei vergleichbaren Gelegenheiten ebenso überflüssig erscheinen, sich jedoch in der Überlieferung, also auch in der Hs. A, durchaus finden.⁴⁸ Was besagt das Redundanzargument
Formulierungen von Braune 1900, S. 78. In A sind solche vervollständigenden Strophen insgesamt reduziert. Braune 1900, S. 78.
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also? Kriterium für das, was ‚entbehrlich‘ ist, war stets ein moderner Geschmack: Die Passage enthält „eine masse strophen, die inhaltlich ebenso unbedeutend und zum teil störend für unseren geschmack sind“.⁴⁹ Braune stellt „müssige[] oft störende[] zusätze[]“ fest, „nach den anforderungen gemessen, die wir jetzt [!] an ein einheitlich concipiertes werk stellen“, entbehrlich sind.⁵⁰ Er argumentiert ausdrücklich vom Standpunkt einer modernen Werkästhetik aus. Solche Überlegungen verstellen den Blick auf den Texttypus. Von diesen Argumentationen ist in der neueren Forschung die Auflistung von ‚Unstimmigkeiten‘ und ‚Brüchen‘ des Nibelungenliedes übriggeblieben. Man erwartet, dass das Charakterbild der Figuren so, wie man es aus modernen Romanen kennt, einheitlich ist, dass Auf- und Abtritt der Figuren ausdrücklich erzählt werden, dass die Vorgänge vollständig motiviert nach modernen Wahrscheinlichkeitskriterien ablaufen, Raumdispositionen und Zeitangaben sind den Erwartungen des modernen Hörers/Lesers anzupassen usw. Bei der Identifizierung solcher ‚Fehler‘ verfährt man allerdings nicht mehr so rigoros wie die ältere Forschung; die Maßstäbe sind differenzierter, und man ‚reinigt‘ den Text nicht mehr von ihnen. Aber man sieht weiterhin im Nibelungenlied allenthalben „Risse“ und „Widersprüche“.⁵¹ In meiner Analyse der ‚Spielregeln‘,⁵² nach denen die Handlung im Nibelungenlied abläuft und konsequent in den Untergang führt, habe ich versucht, einen Teil dieser angeblichen ‚Widersprüche‘ aufzuklären. Sie sind viel geringer, als die Forschung glauben machen will, die von der Erzählung die Lückenlosigkeit eines naturalistischen Romans, mehr noch eines gerichtsfesten Polizeiberichts verlangt. Dergleichen ist mittelalterlichem Erzählen fremd. Bevor der Text als unstimmig erklärt wird (nach welchen Wahrscheinlichkeitsregeln übrigens?), sollte zuerst einmal gefragt werden, unter welchen Bedingungen er doch Sinn macht. Episches Erzählen⁵³ lässt Leerstellen, wo der moderne Rezipient eine zusätzliche Erklärung, ein Zwischenglied (z. B. den Übergang von einem Raum, in einen anderen) erwartet. Wo, gemessen an modernen Erwartungen an Wahrscheinlichkeit, Schlüssigkeit und vollständige Motivation, das Nibelungenlied Defizite zu haben scheint, da müssen solche Stellen zunächst auf ihre poetologische Funktion befragt werden. Bevor über Interpolationen nachgedacht wird und bevor unausgeführte Details der Handlungsverknüpfung eingefordert werden, müssten die Besonderheiten epischen Erzählens in Rechnung gestellt werden, die einem zeitgenössischen Publikum offenbar gar
Braune 1900, S. 76. Braune 1900, S. 77. Vgl. Haferland 2019a, S. 72– 79. Haferland richtet Fragen an die Darstellung der Handlung im Text, die nicht einmal alle in neueren Erzähltexten beantwortet werden. – Die „nicht unerhebliche Reihe von Unstimmigkeiten“ in der ‚Ilias‘ (S. 72), die vor allem die Gräzistik am Ende des 19. Jahrhunderts aufspüren zu können glaubte, hat keinen Beweiswert für das Nibelungenlied. Sie beweist nur das banausische Unverständnis mancher Homerexegeten. Müller 1998. Vgl. auch Müller 2017.
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nicht anstößig waren, wie ähnliche Stellen im höfischen Roman beweisen.⁵⁴ Dann ist der Text nicht mehr notwendig defizient, und auch die Frage nach seiner Einheit stellt sich neu. Die Werkhaftigkeit des Nibelungenliedes ist also nicht an der Wirklichkeitsauffassung späterer Literatur zu messen, sondern durch eine eigene Wirklichkeitsauffassung bestimmt. Im Ergebnis ist das beschriebene Verhältnis Braunes zum überlieferten Text dem einer „sagenorientierten Lektüre“,⁵⁵ der Lektüre des wohlinformierten Philologen, der die Sagengeschichte überblickt und den Text an der Sagengeschichte misst, gar nicht unähnlich. Für ihn ist der Text ebenfalls defizient, weil er unterschiedliche Sagenelemente einfach addiere und nicht aufeinander abstimme, manche aber einfach weglasse. Beide Ansätze lösen den Text auf und führen ihn auf eine imaginäre Grundgestalt zurück, der eine, indem er vor dem Hintergrund einer modernen Vorstellung von Werkeinheit einzelne Erzählelemente als widersprüchlich und überflüssig identifiziert, der andere, indem er den Text als hybride Addition von heterogenen Sagenelementen betrachtet. Die eine Lektüre misst den Text an einem normativen literarischen Konzept und will ihn von ‚Zudichtungen‘ oder Unwahrscheinlichkeiten reinigen. Der andere sucht das Epos auf Spuren unintegrierter älterer Sagentraditionen ab und betrachtet die von der Tradition abweichende Gestalt des Epos als fehlerhafte Klitterung. In Formulierungen wie denen Braunes wird deutlich, dass sich die beiden, seit Lachmann konkurrierenden Frageinteressen zugleich im Wege stehen und ergänzen: einerseits „ein einheitlich concipiertes werk“ zu schaffen und andererseits die vielerlei Traditionen, auf die es zurückgeführt wird, in ihm wiederzufinden. Diese Übereinstimmung ist überraschend, da gewöhnlich die beiden Interpretationsansätze einander entgegengesetzt werden. Heinzle trennt die Interpreten des Nibelungenliedes in „Traditionalisten“ und „Individualisten“, wobei die einen das Werk im Sinne der Tradition interpretieren und, was die Tradition enthält, zum Richtmaß der Interpretation des Textes machen, die anderen das Zeichenensemble des Textes wie das eines modernen literarischen Kunstwerks ohne Rücksicht auf die Tradition lesen. Heinzle sieht Heusler zusammen mit Braune als Begründer „für ein individualistisches Verständnis des Nibelungenliedes“. Er dagegen hängt der Alternative an und betrachtet das Nibelungenlied als „traditionelle(n)“ Text.⁵⁶ Wenn beide aber den Text, so wie er überliefert ist, an einem anderen, schlüssigeren Text messen und beide Seiten sich nicht an der konkreten Gestalt des Nibelungenliedes in seiner überlieferten Formo orientieren, dann greift die Alternative zu kurz. Auch Heinzle sieht das Werk des Nibelungendichters „durchsetzt mit Ungereimtheiten und Widersprüchen“.⁵⁷ Sie werden z.T. auf unvollkommene Integration von
Ich erinnere noch einmal an die Arbeiten von Störmer-Caysa 2007 und Schulz 22015. Heinzle 2003b, S. 24. Heinzle 2003a, S. 193. Heinzle 2003a, S. 195. Zu Recht hatte er die kohärenzstiftenden ‚Sinnunterstellungen‘ der Forschung kritisiert (Heinzle 1987). Sie weisen auf die fundamentalen Differenzen zwischen mittelalterlichem und modernem Erzählen.
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Elementen der Sagentradition zurückgeführt und als Zeichen dafür gewertet, dass der Dichter den durch die Tradition vorgegebenen Stoff nicht voll beherrschte.⁵⁸ Ähnlich wie Braune löst er den Text damit in heterogene Elemente auf. Die angeblichen Widersprüche lassen sich allerdings so gut wie nie auf unterschiedliche Sagentraditionen zurückführen.⁵⁹ Weil ohne Zweifel das Nibelungenlied in der Tradition wurzelt, muss es noch nicht „traditionalistisch“ gelesen werden.⁶⁰ ‚Traditionsbasiert‘ und ‚traditionell‘ dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Traditionell würde bedeuten, dass das Nibelungenlied Elemente der Tradition ohne eigenen Gestaltungsanspruch spiegelt. Als Text stößt es sich aber von der sonstigen Sagenüberlieferung ab. Es wählt aus ihr aus, korrigiert sie und gestaltet sie neu und anders. Das setzt keine „individualistische“ Lektüre voraus, sondern nur eine bewusste Auseinandersetzung mit der Tradition. Die Ergänzung des Textes durch die Sage wäre nur notwendig, wenn der Text sonst unverständlich wäre. Das ist er nicht. Dann aber ist die Sage nicht ein notwendiges Interpretament, sondern willkürliche Zutat. Auch vom Trojanischen Krieg waren andere Geschichten als die, die Homer erzählte, im Umlauf und wurden bis in die Spätantike verbreitet, aber deshalb muss man nicht alle Spielarten der Sage, muss man nicht Dares und Dictys und all die andern zum Verständnis von ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ heranziehen. Für die Griechen war ‚Homer‘ ganz einfach ‚Homer‘. Wenn es nicht angeht, das Nibelungenlied als bruchstückhafte und inkohärente Wiedergabe der Tradition zu betrachten, dann ist damit die Eigenart des Nibelungenliedes noch nicht bestimmt, das sich in der Tat von modernen Anschauungen über ein literarisches Kunstwerk unterscheidet. Wie aber ist die Differenz zur Poetik moderner Literatur zu bestimmen? Heinzle kritisiert zurecht, dass Braune uneingestandenerweise Maßstäbe einer modernen Dichtung anlegt. Er sieht aber nicht, dass es Werkhaftigkeit unabhängig von deren Implikationen geben kann. Das Nibelungenlied sei kein „organisch-harmonische[s] Sprachkunstwerk[]“,⁶¹ „kein autonomes Kunstwerk“.⁶² Wenn damit, wie oben ausgeführt, vor allem die Abhängigkeit des Nibelungenliedes von stofflichen Vorgaben gemeint ist,⁶³ ist kaum ein literarisches Werk autonom. Autonomie bedeutet aber auch, dass das Kunstwerk in allen seinen Teilen zuerst seinen eigenen immanenten Gesetzen folgt, dass diese Gesetze es vollständig bestimmen und Gesetze außerhalb seiner selbst (Zwecke, Einflüsse, biographische Umstände, gesellschaftliche Kräfte usw.) erst in die-
Heinzle 2009, S. 67. Zur angeblichen Ausnahme – der Provokation Hagens durch Ortlieb als Ursache für den Ausbruch des Kampfes – vgl. S. 253. Heinzle 2009, S. 64. Heinzle 2003a, S. 192. Der Aspekt „organisch-harmonisch“ liegt ohnehin auf einer gänzlich anderen Ebene, meint eine bestimmte Form der Integration aller Elemente, kennzeichnet keineswegs alle literarischen Kunstwerke und ist abhängig von einer bestimmten Kunstideologie der 1960/1970er Jahre. Heinzle 2003b, S. 25. „Der Grundtext […] ist kein Originalwerk in dem Sinne, daß sein Verfasser die Geschichten erfunden hätte, die er erzählt“ (Heinzle 1998, S. 52); vgl. S. 31.
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sem Rahmen wirksam werden. Es ist umstritten, in welchem Maße das möglich ist. Autonomie ist ein Grenzwert. Doch kommt es in diesem Fall auf die Bestimmung der Grenzen gar nicht an. Das Nibelungenlied erfüllt nämlich schon nicht die elementarste Bedingung eines solchen Kunstwerks: die vollständige und definitive Organisation aller Elemente in einem schlüssigen Gebilde. Indem weite Bereiche der Textgestalt ad libitum sind, unterliegen sie nicht Gesetzen, die dem Kunstwerk immanent sind, sondern äußeren Bedingungen, die vom Dichter / den Dichtern nicht gewählt werden können, angefangen vom Schreibusus eines Schreibers / einer Schreibstube und sprachlichen Gewohnheiten einer bestimmten Region über die Ausdrucksvarianten eines kollektiven poetischen Idioms bis hin zu Vorgaben der Sagentradition. Dies alles zusammengenommen, eröffnet dem Dichter einen Spielraum der Textgestaltung, den er nicht autonom organisieren kann, wohl aber nach den Regeln dieses Spielraums nutzen. Die Poetik des Nibelungenliedes lässt zu, dass bestimmte Parameter des Textes offenbar nicht von einem Dichter ein für alle Mal festgelegt sind, sondern der Gestaltung der Tradierenden offenstehen. Die Dichtung lässt ihm also gewisse Freiheiten (indem er nicht auf den genauen Wortlaut verpflichtet ist) und ist an Regeln außerhalb ihrer selbst gebunden (indem sie sich an einem kollektiven Idiom zu orientieren hat, bis hin sogar zu einzelnen Formulierungen). Offenbar kontrolliert der Dichter in geringerem Maße alle Ebenen der Textgestaltung, als wir das von einem autonomen Kunstwerk voraussetzen. Der Gegensatz ‚traditionalistisch‘ – ‚individualistisch‘ trifft nicht die besondere Gestalt von Dichtungen wie dem Nibelungenlied (aber auch der ‚Ilias‘ und verwandter Texte), indem diese zwar die Tradition zur selbständigen Gestalt formen, in deren Überlieferung auch gewisse Eingriffe zulassen, den individuellen Spielraum literarischer Kreativität aber begrenzen. Das Nibelungenlied ist weder ‚traditionalistisch‘ noch ‚individualistisch‘ zu interpretieren. Es ist einerseits ein fester Text, der sich entschieden von der Sagentradition absetzt, jedoch andererseits in seiner Poetik von einer modernen Dichtung fundamental unterscheidet, indem die sprachliche Gestaltung im bestimmten, eng begrenzten Rahmen offen ist. Es ist einerseits von schriftsprachlicher Konsistenz, trägt anderseits Züge von Varianz, wie sie für mündlich überlieferte Texte typisch ist. Durch diesen Doppelcharakter ist es von genuin mündlicher Dichtung unterschieden. Ganz gleich, wie man sich die Überlieferung der Sage vorstellt, in geformten einzelnen Liedern oder informellen Erzählungen, auf die die Thidrekssaga anspielt, solche Überlieferung ist unfest in der Ausdehnung, in der Anordnung der Teile, in der rhetorischen Ausgestaltung, in der Verknüpfung der Ereignisse. Aber so ist das Nibelungenlied nicht. Die „bis an die Schwelle der Neuzeit lebendige mündliche Erzähltradition“⁶⁴ wirkt allenfalls auf die spätesten Adaptationen des Nibelungenliedes ein.⁶⁵ Insofern grenzen
Heinzle 1995, S. 49. Heinzle 2003a, S. 194.
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sich die im Folgenden vorgetragenen Thesen scharf von der Liedertheorie wie von der Annahme eines geschlossenen poetischen Gebildes ab.
Der „Grundbestand“ und „der fehlende Urtext“ Wie ist ein Epos beschaffen, das zugleich eine festgefügte Form hat, innerhalb dieser aber eine variante Gestaltung des Textes zulässt? Für den Rahmen, in dem sich die Varianz der Überlieferung bewegt, hat sich die Forschung daran gewöhnt, statt vom ‚Urtext‘ vom ‚Grundtext‘ zu sprechen.⁶⁶ Hier ist die Differenz zur älteren Forschung besonders deutlich. Heusler hatte noch einen „gesicherten Urtext“ und eine „erschließbare Urhandschrift“ angenommen.⁶⁷ Der ‚Grundtext‘ ist nicht identisch mit einem solchen ‚Urtext‘ nach einer ‚Urhandschrift‘. Der Grundtext wird in den Überlegungen zur Textkritik vorausgesetzt, da seine Umrisse sich hinter sämtlichen Handschriften, sogar noch hinter der Bearbeitung *C, abzeichnen. Der Grundtext ist das, was allen Handschriften zugrunde liegt, ihnen gemeinsam ist, vor dessen Hintergrund ihre Unterschiede sich abzeichnen. Der Begriff des Grundtextes bedarf näherer Klärung. Er wird völlig selbstverständlich in der Textphilologie gebraucht, ohne dass irgendjemand für nötig hält zu sagen, was man darunter konkret zu verstehen hat. Der Grundtext ist offenbar nicht identisch mit dem Original. Er kann an den Rändern nicht definiert werden und ist nicht in allen Einzelheiten, in allen Textparametern, bestimmt; lässt in gewissem Umfang Abweichungen zu, soweit sie den Kern nicht betreffen. Er ist Basis der Ad-libitum-Varianten. Der Grundtext ist die Black Box der Nibelungenphilologie. Die Frage ist, wie man sich die Textualität dieses Grundtextes vorstellt. Reichert spricht neutraler und, wie ich meine, angemessener von „Grundbestand“, was nicht wie Grundtext eine feste Textgestalt impliziert, sondern eher einen Rahmen bezeichnet.⁶⁸ Der Begriff „Grundbestand“ findet sich auch sonst in der Forschung.⁶⁹ Er lässt Varianz in der konkreten Ausgestaltung zu, denn offensichtlich ist dieser Text in bestimmten Parametern nicht festgelegt. Die ungreifbare Gestalt des Grundtextes ist von der mouvance des mittelalterlichen Textes, auf die Paul Zumthor aufmerksam gemacht hat,⁷⁰ durchaus zu unterscheiden, Heinzle 2003a, etwa S. 194– 195 (u. ö. in weiteren Publikationen); Haferland 2006, S. 201. Es ist m. E. nicht sinnvoll, mit Haferland 2006, S. 186 statt von „eine (m) Grundtext mit partiell abweichendem Wortlaut (wobei dieser offenbar auf ein älteres Textstadium zurückgreift)“, von „verschiedene(n) Grundtexte(n) mit partiell geteiltem Wortlaut“ zu sprechen, denn welche Bedeutung hätte dann noch der Begriff „Grundtext“? Heusler 1920/1955, S. 155. Reichert 2012, S. 444: „Als Grundbestand bezeichne ich die ABC gemeinsamen Strophen, auch wenn sie im Wortlaut voneinander abweichen“. Der „Grundbestand gemeinsamen Textes“ ist „so groß, wie er bei Varianten der Mündlichkeit nicht zu erwarten ist“ (Fromm 1974/1989, S. 283). Zumthor 1983; 1987.
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denn Varianz ist kein Resultat bloßer Performanz, die im konkreten Vortrag einmal so, einmal anders ausfällt. In der Lyriküberlieferung ist die Annahme des Nebeneinanders gleichwertiger Fassungen, die zum Vortrag kamen, Konsens, der durch die Liederhandschriften nahegelegt wird. Hier sind die Verhältnisse insofern andere, als man nicht mit einem Grundtext rechnet, sondern allenfalls mit einer Folge von Strophen in einem Ton, deren Auswahl, Zahl, Anordnung, Formulierungen bei jedem konkreten Vortrag oder jeder konkreten Aufzeichnung variieren können. Beim Nibelungenlied sind nur die Formulierungen nicht fest, nicht aber Aufbau und Textstruktur. Wenn man also an dem Begriff Grundtext festhalten will – und er ist der allgemein eingeführte – dann muss man berücksichtigen, dass einige Elemente seiner Texthaftigkeit nicht definiert sind, andere aber schon. Dass es von Anfang mehrere konkurrierende Adaptationen eines im Kern festen Grundbestandes gegeben hat, war in den voraufgehenden fünf Kapiteln nachgewiesen worden.Wer das Nibelungenlied im Repertoire hatte und seiner Erzählung folgen wollte, konnte es im engen Rahmen, den nicht nur Versgestalt, Reim und Strophenform, sondern auch die Struktur der Erzählung definierten, unterschiedlich realisieren. Es gibt keinen ‚Urtext‘, sondern nur verschiedene Adaptationen. Das ist ein spontan kontraintuitiver Gedanke, der aber weniger ungewöhnlich ist, als er scheint. Blickt man auf andere Literaturen und auf Texte aus der Phase des Übergangs von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, dann ist das Phänomen des ‚fehlenden Urtextes‘ keineswegs isoliert. Es findet sich auch in anderen Kulturen (der griechischen, indischen, jüdischen, altägyptischen usw.). Auch in diesen Literaturen ist die Forschung zur Einsicht gelangt, dass die ältesten überlieferten Textzeugnisse sich nicht in ein Stemma anordnen lassen und dass es den einen im Wortlaut festgelegten Text als Ursprung der gesamten Überlieferung nicht gibt. Vom ‚fehlenden Urtext‘ (meist auch in der angelsächsischen Literatur in der deutschen Formulierung) spricht man bei sehr alten Überlieferungen, die mehrfach in schriftlicher Form vorliegen, wobei diese variant ist, aber einen stabilen, autoritativen ‚Kern‘ voraussetzt, ohne dass dieser in der konkreten Textgestalt eines verbindlichen ‚Urtextes‘ existiert, auf den sich alle übrigen Texte zurückführen ließen. Der ‚Kern‘ existiert nur variant. Dieses Phänomen wurde in verschiedenen Philologien erst in jüngster Zeit entdeckt. Man hatte sich zuvor bemüht, aus den überlieferten Texten einen zu rekonstruieren, auf den alle anderen zurückgehen. Diese Rekonstruktionen, ja schon die Auswahl der ihnen zugrundeliegenden Überlieferung waren in der Regel höchst kontrovers. Die digital humanities eröffneten nun die Möglichkeit, die Vielfalt der Überlieferung wiederzugeben, ohne den Zwang, eine bestimmte Textgestalt als die vermutlich authentischste zu privilegieren. Sie erlaubten damit, auf einen rekonstruierten ‚Urtext‘ zu verzichten und stattdessen die konkurrierenden Textgestalten nebeneinander zu dokumentieren. Diese machen sichtbar, dass in allen verschiedenen Adaptationen gleichwohl ein gemeinsamer Kern steckt, der nur verschieden versprachlicht wird. Das gilt vor allem, aber nicht nur für frühe religiöse Überlieferungen, etwa für buddhistische Sūtras, die beanspruchen auf die Predigten Buddhas zurückzugehen, oder für rabbinische Überlieferung, aber auch für die Gestalt der homerischen Epen, bevor sie durch die alexandrinische Phi-
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lologie kanonisiert wurden. Im Mittelalter kann man auf Predigthandschriften verweisen, die einen ursprünglich mündlichen Text schriftlich festhalten, der evtl. mehrfach und in unterschiedlicher Form realisiert wurde und entsprechend schriftlich in varianter Form aufgezeichnet wird, doch ohne den Anspruch, damit den allein verbindlichen wiederzugeben.⁷¹ Es sind höchst unterschiedliche Phänomene, die von religiöser Verkündigung und Weisheitslehren bis zu poetischen Texten reichen, denen aber gemeinsam ist, dass sie auf eine Epoche zurückgehen, in der sich noch nicht die Schrift als universales Speichermedium durchgesetzt hat und alle Überlieferung schriftlich kontrolliert sind. In welchem Sinne kann man vom ‚Text‘ solcher Überlieferungen sprechen? The terms with which we usually work – text, ‚Urtext‘, recension, tradition, citation, redaction, final redaction, work – prove to be fragile and hasty definitions that must be subsequently questioned. What is a ‚text‘ in rabbinic literature? Are there texts that can be defined and clearly delimited, or are there only basically ‚open‘ texts, which elude temporal and redactional fixation? Have there ever been ‚Urtexte‘ of certain works, with a development that could be traced and described?⁷²
Bei religiöser Verkündigung, Weisheitslehre und dgl. ist die ‚Botschaft‘ das Entscheidende. Die Überlieferung besteht aus vielen eng verwandten Versionen, die das gleiche Material benutzen, aber voneinander differieren. Ein Beispiel ist das „Sanskrit Sūtra Work“: Zwar nimmt man an „that the rise of the Mahāyānā was inseparably bound up with the use of writing. […] And it may be taken for granted that the use of writing very significantly facilitated its development and spread“ (wenn es dafür auch keine letztgültigen Beweise gibt).⁷³ Aber: Certain Mahāyānā Sūtras have been transmitted in two or more recensions which cannot, it appears, be regarded as deriving from mere (scribal or aural) variants or revisions of either a single unified oral composition […] or from a single written text.⁷⁴
Wichtig ist, dass nicht die Unzulänglichkeit schriftlicher oder mündlicher Vermittlung Grund der Varianz ist, sondern eine solche Varianz von Anfang an besteht. Dies sei ein bislang zu wenig beachtetes Phänomen in „religio-philosophical literature“. Es gebe Sūtras extant in recensions closely related in their contents, but not necessarily in their verbal expression. […] What we seem to have before us in such cases, instead, are records of a set of teachings/ideas /narratives in parallel wordings, oral or written that are all somehow linked with a more or less compact – but nevertheless not univocally expressed – Sūtra tradition that came to be expressed in distinct recensions.⁷⁵
Auf diesen Fall machte mich Burkhard Hasebrink aufmerksam. Schäfer 1986, S. 150; vgl. S. 145 – 150. Ruegg 2004, S. 20. Ruegg 2004, S. 20. Zitate Ruegg 2004, S. 21– 23.
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Das hat Konsequenzen für den Stellenwert des schriftlichen Textes: Were it true that writing was employed from the beginning for composing and transmitting a Sūtra, then, evidently it did not necessarily result in its text being definitely fixed in one single, ‚original‘ redaction with only textual (scribal or aural) variants supervening in the course of its subsequent transmission. […] And to postulate some Urtext from which distinct recensions derive, in the manner of a stemma codicum, would here appear to constitute a misapplication of otherwise sound philological method.⁷⁶
Aber diese „different conception of what texts are and how they are transmitted“ betrifft nicht nur die „religio-philosophical literature“, sondern ist auch für andere Texte festzustellen,⁷⁷ darunter die Überlieferung früher Epen. Allerdings sind die Unterschiede zu poetisch geformten Texten nicht zu übersehen. Bei religiös relevanten Texten sind besondere Speichermöglichkeiten denkbar. Möglicherweise war der ‚Urtext‘ kultisch gesichert, und die Niederschrift sollte ihn nur bezeugen oder an ihn erinnern. Schrift kann diese Wahrheit dauerhaft bewahren, aber sie ist der Verkündigung nachträglich. Daher muss auch keine der schriftlichen Aufzeichnungen mit den anderen identisch sein, vorausgesetzt, dass sie dem Kern entspricht. Religiöse Lehren, etwa die Aussprüche Buddhas, die Worte der Rabbiner, mittelalterliche Predigten müssen ‚richtig‘ überliefert werden; darüber wachen religiöse Institutionen oder mit der Weitergabe der Tradition betraute Personengruppen. Die Schrift mag schon am Anfang mitgewirkt haben, aber sie spielt anfänglich nicht die entscheidende Rolle; sie kann durch nicht-schriftliche Praktiken der Textsicherung – z. B. Rituale – ersetzt werden und ist nicht das einzige Mittel, die Authentizität der Lehre zu sichern, weshalb die Aufzeichnung im Wortlaut unterschiedliche Gestalt annehmen kann. Kultische Sicherung kommt bei einem Epentext nicht in Frage. Vor allem ist er poetisch geformt, nicht ungeformte ‚Kunde‘. Er hat anders als die religiösen Texte nicht nur einen allen Adaptationen gemeinsamen Kern mit einer gemeinsamen ‚Botschaft‘, sondern ist durch eine Poetik organisiert, hat einen festen Aufbau, eine feste Handlungsstruktur, eine gemeinsame Sprache (‚nibelungisch‘), eine bestimmte Strophenform. Natürlich muss er in bestimmter Weise ausformuliert gewesen sein. Nur scheint diese Ausformulierung, das ‚wording‘ im Einzelnen, für eine genaue Reproduktion dieses Textes nicht konstitutiv. Es kann so und auch anders ausgeführt werden. Unabhängig davon, welche konkrete Gestalt am Anfang gestanden hatte, konnte eine andere, gleichbedeutende, an ihre Stelle treten und ihren Platz einnehmen. Unausgesprochen liegt diese Annahme auch der älteren Nibelungenphilologie zugrunde, die vom Grundtext des Nibelungenliedes spricht, ohne ihm eine bestimmte Gestalt zuschreiben zu können. Als poetisch-geformter, gleichwohl varianter Text ist er von jenen Überlieferungen religiös-philosophischer Lehre klar unterschieden. Trotzdem
Ruegg 2004, S. 22. Schopen 2009, S. 192.
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gibt es Vergleichspunkte auf Grund der Reproduktions- und Speicherungsbedingungen einer Übergangszeit zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Mündlichkeit kann als Residualmedium längere Zeit neben einer sich entwickelnden Schriftlichkeit herlaufen, wenn sie denn Rezipienten bindet. So war es bei der ‚Ilias‘. Hierbei ist im Übergangszeitraum und im Zwischenbereich zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit mit Mischformen zu rechnen, für die auch eine Portion Schriftlichkeit zur Geltung gebracht werden konnte.⁷⁸
Das Nibelungenlied entsteht an der gleichen Nahtstelle in der kulturellen Überlieferung, in der Übergangszone von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit. Im „Zwischenbereich von Mündlichkeit und Schriftlichkeit“⁷⁹ siedelt auch Haferland das Nibelungenlied an. In diesem Zwischenbereich gibt es gleichzeitig Phänomene, die man eher der Mündlichkeit, und solche, die man eher der Schriftlichkeit zuschlagen kann. In diesem Zwischenbereich wirkt Mündlichkeit jedoch nicht nur als Fehlerquelle in einem im Übrigen in jeder Hinsicht ausgeformten Text, sondern als Inspirationsquelle poetischer Formung. Die Texthaftigkeit mündlicher Rede wird seit Jahren in der Sprachwissenschaft diskutiert.⁸⁰ Die Schrift wird mit zwar für den Ausgangspunkt textueller Überlieferung angesetzt (‚am Schreibtisch‘), aber anfänglich überlagern sich noch mündliche und schriftliche Praktiken. Die Schrift hat sich noch nicht als universales oder zumindest dominantes Speichermedium durchgesetzt. Das betrifft die genannten religiösen Überlieferungen ebenso wie die Anfänge der Verschriftlichung volkssprachiger Literatur des Mittelalters, außerhalb des im weitesten Sinne kirchlichen Kontextes. Weil die schriftliche Tradierung noch nicht der Regelfall ist, kann – wie bei Ruegg in seinen Texten – die Frage des Mediums der varianten Überlieferung („in parallel wordings, oral or written“) offenbleiben, denn auch die mündliche Überlieferung kennt Speichermedien. Ehlich spricht in diesem Fall von „zerdehnten Sprechhandlungen“, durch die ein Text von einer Situation in eine andere vermittelt wird. Die „homerische Frage“ zwingt dazu, den Textbegriff auf mündliche Überlieferung auszudehnen.⁸¹ In der Oralität bilden sich vielfältige Formen aus, die Überlieferung gegen die Flüchtigkeit der Rede zu schützen (Vers, Strophe, Stabreim usw.).⁸² Auch wenn diese Formen vielgestaltig sind, betreffen sie nicht alle Elemente des sprachlichen Systems, sondern lassen einige Parameter ad libitum. Deshalb ist die Genauigkeit der Überlieferung deutlich geringer als bei Verschriftlichung. Trotzdem, es gibt Speichermöglichkeiten nicht nur im – natürlich fehlbaren – individuellen Gedächtnis, sondern, wie die oben skizzierte Überlieferung der ‚Ilias‘ zeigt, auch solche kollektiver und institutio-
Haferland 2019a, S. 41. Das betrifft nicht nur die Rezeption (wie Haferland fortfährt), sondern die Konstitution und Speicherung des Textes. Vgl. den Titel des Aufsatzes von Haferland 2019a; programmatisch S. 41. Ehlich 2007a–d. Ehlich 2007c, S. 543. Ehlich 2007c, S. 546.
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neller Art, durch das Training in einer kollektiven poetischen Praxis, durch das Gruppenbewusstsein der ‚Zunft‘ der Vortragskünstler, durch eine gezielte Pflege der Tradition. Im Übrigen ist Verschriftlichung kein einmaliger definitiver Akt. Ein Werk, das u.U. schon in schriftlicher Form vorliegt, die jedoch nicht allgemein verfügbar ist, kann ohne erneute Zuhilfenahme der Schrift gesichert werden. Mündliche Praktiken sind allein deshalb über die Erstverschriftlichung hinaus wirksam. „Mündlichkeit kann als Residualmedium längere Zeit neben einer sich entwickelnden Schriftliteratur herlaufen“.⁸³ In dem schwarzen Loch der Jahrzehnte zwischen der Entstehung des Nibelungenliedes um oder kurz vor 1200 und seiner buchmäßigen, jedoch varianten Aufzeichnung etwa in der Mitte des 13. Jahrhunderts sind viele Szenarien denkbar, in denen ein fester, doch nicht in allen Einzelheiten normierter Text für den mündlichen Vortrag leicht variierend adaptiert wurde oder variierend aufgezeichnet wurde, sodass die Verschriftlichungen im Buch sich im Detail der Textgestalt deutlich unterscheiden, bei großer Einheitlichkeit des Ganzen. Homers ‚Ilias‘ zeigt, dass ein Text, ‚dieser‘ Text Homers, über Jahrhunderte authentisch überliefert werden kann, variant im Einzelnen, aber im Kern fest, ohne dass man diese Überlieferung als Kette von Schriftzeugen beschreiben kann. Es ist wahrscheinlich, dass an der Überlieferung die Schrift beteiligt war, aber nur als ein Speichermedium unter anderen. Die Sagen, die im Nibelungenlied verarbeitet sind, blicken zur Zeit seiner Konzipierung und Verschriftlichung auf eine ähnlich lange Tradierung in der Mündlichkeit zurück, wie man sie auch für die Geschichten vom Trojanischen Krieg ‚vor Homer‘ ansetzen muss. Aber ebenso wie Homers Text ist das Epos kein bloßer Reflex dieser Tradition, vielgestaltig wie diese, kein Konglomerat heterogener Motive, sondern ihre bewusste, auswählende und strukturierende Gestaltung, die allerdings erst, nachdem die Sage schon Jahrhunderte lang mündlich verbreitet worden war, in eine gültige Form gefasst wurde. Diese Form ist durch eine feste Struktur der Handlung geprägt, durch eine bestimmte Erzählweise, durch eine bestimmte Versstruktur, durch ein bestimmtes Idiom, nicht aber durch mikrostrukturelle Textgestaltung.
Singen und Sagen Die Nibelungensage hatte offenbar einen so hohen Bekanntheitsgrad, dass man sie mit kürzesten Anspielungen ins Gedächtnis rufen konnte. Vor diesem Hintergrund erzählte das Epos vom Verrat Siegfrieds und vom Burgondenuntergang, aber tat es auf eigenwillige Weise. Es gibt keine Nachrichten von regelmäßigen Aufführungen des Textes, aber auf Grund der Bekanntheit des Stoffes durfte er mit allgemeinem Interesse rech-
Haferland 2019a, S. 41; vgl. 2004, Kap. 5 – 8.
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nen, gerade weil er sich so entschieden von der Tradition absetzte und gegen diffuse Einflüsse der Sage immunisierte. Der Einfluss mündlicher Dichtung auf den Text ist – wie bei der frühen HomerRezeption – nicht zu unterschätzen. Dafür spricht schon das Idiom des Textes (‚nibelungisch‘), eine kollektive Sprache, die sich von der individualisierenden Sprache der höfischen Epik abgrenzt. Diese Verankerung in der Mündlichkeit bedeutet, dass das Nibelungenlied auch an einigen Lizenzen mündlicher Dichtung teilhat. Die Verfestigung des Textes durch Metrik und Strophik und eine verbindliche Handlungsstruktur bedeutet allerdings, dass die Lizenzen mündlicher Dichtung nur im engen Rahmen genutzt werden können. Getreue Wiedergabe eines Textes gehört nicht nur „der litteraten Sphäre“ an, sodass sie in ‚illiterater‘ Sphäre ausgeschlossen wäre, denn diese ist nicht „unüberbrückbar von der illiteraten geschieden“, sodass „man sich auch Mischformen aller Art vorstellen“ darf.⁸⁴ Eine solche durch mündliche und schriftliche Überlieferungspraktiken geprägten Situation scheint typisch für den allmählichen Prozess der Verschriftlichung auch des Nibelungenliedes zu sein. Das Nibelungenlied entstand wohl erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts und wurde seit der Mitte des 13. Jahrhunderts schriftlich in Buchform verbreitet. Gegenüber der Tradition ist es also verhältnismäßig jung, tritt in Buchform aber in der gleichen Zeit auf wie die meist schon an Autorennamen geknüpfte volkssprachige Großepik der Pfaffen Lamprecht und Konrad, Heinrichs von Veldeke und Hartmanns von Aue, die von Anfang an als Produkt der Schriftkultur erscheint und wohl zur schriftlichen Speicherung bestimmt ist. Indiz dafür ist, dass sie in Reimpaaren verfasst ist, also nur relativ schwach memorial geprägt. Dem steht die Strophenform des Nibelungenlieds gegenüber. Anders als die traditionelle Form gleichgebauter Langverse, die man für die mündliche Epik des Frühmittelalters ansetzen muss, ist die Strophenform mit drei gleichgebauten und einem verlängerten vierten Vers ein Speicherungsmittel, das die Fixierung des Textes durch die Schrift z.T. kompensieren kann. Das Nibelungenlied ist in geringerem Maße auf Schriftlichkeit angewiesen als die etwa gleichzeitige höfische Epik, hat aber einen höheren Grad an Festigkeit als gleich gebaute Langverse. Für die Rezeption des Nibelungenliedes wie für die mittelalterliche Epik überhaupt ist allgemein nicht Lektüre, sondern mündlicher Vortrag vorauszusetzen, ‚Aufführung‘ vor einem Publikum. Beim Nibelungenlied ist die Bestimmung zur mündlichen Rezitation, möglicherweise in einem psalmodierenden Vortragston, wahrscheinlich. In weit höherem Maß als bei der höfischen Epik ist mit Lektüre wohl nur im Ausnahmefall zu rechnen. Wie nicht nur die höfischen Romane bezeugen, besteht jedoch neben der mündlichen Realisation ein wachsendes Interesse an ihrer schriftlichen Aufzeichnung. Ob beim Nibelungenlied diese direkt auf einer der mündlichen Adaptationen beruhen, ein Sänger also seinen Vortragstext niederschreiben ließ, oder ob die Aufzeichnung nach einer schriftlichen Vorlage erfolgte, ist im Einzelfall nachträglich nicht mehr feststellbar, denn Varianz trat bei der schriftlichen Reproduktion nach einem mündlich vorgetra-
Heinzle 2003b, S. 18.
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genen wie nach einem schriftlich vorliegenden in jedem Fall auf. Es ist gegenüber einer genuin mündlichen Dichtung eine begrenzte Varianz. Wenn Bumke auf den hohen Grad von Varianz in der volkssprachigen Epenüberlieferung des 13. Jahrhunderts generell verwiesen hat,⁸⁵ so gilt das für das Nibelungenlied in erheblich höherem Maße als für die höfischen Epiker,⁸⁶ weil es nicht an einen individuellen Autor gebunden ist, sondern ein kollektives poetisches Idiom erneuert (‚fingierte Mündlichkeit‘): (W)ir haben gar nicht zu rechnen mit einem einzigen festen Text, der zu einem bestimmten Zeitpunkt als endgültig betrachtet wurde; es scheint vielmehr im Wesen der Gattung zu liegen, daß der Wortlaut immer wieder neu gestaltet werden kann.⁸⁷
Der ‚Urtext‘ fehlt, weil er vom ersten Augenblick variierenden Eingriffen – vielleicht durch den Dichter, der evtl. sein Werk mehrfach vortrug, vielleicht durch die Benutzer seines Werks – ausgesetzt war. Die wenigen Zeugnisse für die Entstehung von Texten dieses Typs sprechen von einer Verbindung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit.⁸⁸ Die ‚Klage‘ erzählt, dass ein schriftlicher Text Grundlage für die mündliche Verbreitung der Kunde vom Nibelungenuntergang war.⁸⁹ Man kann dies als eine Fiktion der Entstehung des Nibelungenliedes abtun, man kann es aber auch als exemplarisch verstehen: Mäzen ist der Bischof Pilgrim von Passau, der Onkel Kriemhilds und ihrer Brüder (haus- und sippengebundene Literatur). Pilgrim lässt die kuntliche[ ] mære (Kl B 4310)⁹⁰ von seinem schriber meister Kuonrat (Kl B 4315) nach dem Bericht eines Augenzeugen, nämlich Swemmels (adtestatio rei visae), aufschreiben, wie ez ergangen wære (Kl B 4298). Das bedeutet, dass das Erzählte ‚richtig‘ und ‚wahr‘ ist (wenn auch Geschichtsüberlieferung, nicht Dichtung). daz mære brieven began sin schriber meister Kuonrat
Das Verb brieven wird in Kl C durch prüeven ersetzt; brieven heißt ‚aufschreiben; prüeven scheint Ähnliches zu meinen.⁹¹ Kontrolle kann schwerlich gemeint sein, denn durch den Augenzeugen ist der Text vertrauenswürdig, den der gelehrte Schreiber aufs Pergament Bumke 1996a, S. 42– 60. Knapp 2015, S. 29. Brackert 1963, S. 60. Ich wiederhole Überlegungen von Müller 2005, S. 168 – 169. Vgl. Bumke 1996a, S. 461– 468; Müller 1996; 1998, S. 65 – 68; Lienert 2000, S. 458. Die folgenden Zitate nach Bumkes Ausgabe von Kl B (Bumke 1999, S. 503 – 504); vgl. S. 509 – 510 (Kl C). Zu dieser Stelle und den konkurrierenden Lesarten Knapp 2015, S. 34. Ich gebe der Lesart von B den Vorzug: brieven abgeleitet von brevis, Schriftstück, ‚schriftlich verfassen‘ (Lexer Bd. 1, Sp. 353). Bumke 1996a, S. 463 weist darauf hin, dass auch prüeven in Kl C die Bedeutung ‚hervorbringen‘, ‚zurechtmachen‘ haben kann, wenn auch „keine Anwendung auf Schriftstücke“ bezeugt ist (vgl. Lexer Bd. 2, Sp. 302); Knapp: „prüfen, beweisen, schildern, bewirken“.
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gebracht hat. Ich würde vorschlagen: ‚in (die richtige) Schriftform bringen‘. Die Verschriftlichung erfolgt in latinischen buochstaben (Kl B 4299). Nachdem man allgemein davon abgekommen ist, darin die Nachricht von einem lateinischen Epos (‚Nibelungias‘) zu vermuten, wird das im Allgemeinen als ‚auf Latein‘ (zwecks Autorität) interpretiert, aber es könnte auch ‚in der Schrift der Gelehrten‘, ‚in lateinischer Schrift‘ heißen.⁹² Vielleicht ist auch an Prosa im Gegensatz zu tihten gedacht. Die Aufzeichnung Meister Konrads ist natürlich nicht das Nibelungenlied, sondern dessen Quelle. Jedenfalls ist, was schriftlich festgehalten wird, nicht vage Kunde, sondern durch einen Augenzeugen beglaubigter Bericht, der wahrheitsgemäß in der für gültige Wahrheit verbindlichen Form erzählt, wie ez ergie und geschach, so wie Augenzeugen es gesehen haben (Kl B 4311– 4312). Es ist die ‚richtige‘ Erzählung, die nicht verändert werden darf. Erst dann erfolgt der nächste Schritt: getihtet man ez sit hat dicke in tiuscher zungen die ⁹³ alten mit den jungen erkennent wol daz mere (Kl B 4316 – 4319).
Das meint offenbar das Nibelungenlied. Der Wortlaut der beiden Texte muss entweder schon wegen der Sprachdifferenz zwischen Latein und der Volkssprache, vermutlich aber auch wegen des Mediums ein anderer sein. Die Erzählung ist eine (ez!) und nur eine, sie ist aber vielfältig (dicke!) realisiert, sodass sie allgemein bekannt ist. Die Bedeutung von getihtet ist schwierig. Man versteht es meist als ‚Abfassen unterschiedlicher Dichtungen‘. Sind damit mehrere poetische Fassungen des Berichts gemeint? Oder auch eventueller Vorstufen des Nibelungenliedes? Wo aber sind diese Fassungen und Vorstufen, von denen in der Forschung die Rede ist?⁹⁴ Von vielen konkurrierenden Berichten des Nibelungenuntergangs gibt es keine Spur. Der Begriff getihtet könnte auch auf die Grundbedeutung von dictare zurückgehen, das Intensivum von dicere: ‚wie-
Anders v. Kraus 1932; vgl. Lienert 2000, S. 458. Lexer Bd. 1, S. 387 nennt unter dem Verb buochstaben auch den materiellen Aspekt ‚mit Buchstaben versehen‘. Anders weiß Kl C 20 allerdings, dass die Geschichte latine aufgezeichnet wurde (Bumke 1999, S. 43; vgl. 1996a, S. 464). Kl C fügt ein: daz die. Lienert übersetzt B: „Seither hat man oft in deutscher Sprache Dichtungen darüber verfasst“ (Lienert 2000, S. 317). Im Kommentar zu der Stelle zitiert sie S. 458 Ursula Schulze: „Die angeblichen volkssprachlichen Dichtungen […] könnten mündliche, aber auch schriftliche Vorstufen von Nibelungenlied und Klage meinen“ (Schulze 1997, S. 26 – 27) und fügt an: „selbst die volkssprachlichen Dichtungen gründen für den Kl-Erzähler in der schriftlichen lateinischen Überlieferung, die Wahrheit sichert“; ähnlich Heinzle 2013, S. 1608 – 1609. Heinzle schließt daraus, „daß sie in verschiedenen Fassungen existierte (‚man hat sie oft gedichtet‘) und um 1200 allgemein bekannt war“. Das erste geht aus der Stelle allerdings nicht zwingend hervor; oder sollte mit ‚Fassungen‘ gemeint sein ‚in verschiedener sprachlicher Gestalt‘. Vgl. auch Bumke 1996a, S. 467: in tihten wird nicht zwischen schriftlicher und mündlicher Form unterschieden.
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derholt oder oft sagen (dicke), ‚sprachlich fassen‘,⁹⁵ also die Tätigkeit derjenigen meinen, die das Nibelungenlied in poetischer (Vers‐)Form – und darauf kommt es an – vortragen und bekannt machen. Das bedeutet nicht notwendig ‚neu dichten‘; es könnte auch heißen ‚man hat es oft in poetischer Form dargeboten‘. Das Wort dicke könnte dann darauf verweisen, dass das mehrfach geschehen ist. Die C-Fassung der ‚Klage‘ hat die Variante; getihtet manic ez sit hat | vil dicke in tiutscher zungen (Kl C 4422– 4423): ‚viele (Sänger) haben es auf Deutsch in poetischer Form realisiert‘. Die angeregte Forschungsdiskussion, die hier nur ausschnittweise wiedergegeben wurde, zeigt, dass die ‚Klage‘ mehrere Interpretationen der Quellenfiktion mit unterschiedlichen Beteiligten und unterschiedlichen Aktionen zulässt. Es schält sich jedoch eine Grundstruktur heraus: Der einen ‚wahren‘ Erzählung, wie sie in der vielleicht lateinischen oder lateinische Schrift benutzenden Niederschrift des gelehrten (meister) Konrad vorliegt, wird eine Pluralität der Realisationen in der Volkssprache (in tiutscher zungen) gegenüber gestellt.⁹⁶ Das alles kann natürlich nur der Wahrheitsfiktion zuliebe erfunden sein, doch würde es die Konstellation von Festigkeit der Handlungsstruktur und Varianz des ‚wording‘ erklären, wie sie an der Nibelungenüberlieferung zu beobachten war. Schriftlichkeit und Mündlichkeit greifen ineinander.⁹⁷ Für die eine Wahrheit ist die (lateinische) Schrift verantwortlich; sie ist einstimmig. Für das ‚wording‘ die (deutsche) Dichtung; sie ist vielstimmig. Eine ähnliche Entstehungsfiktion entwirft der ‚Wolfdietrich‘ D.⁹⁸ Auch dieses Heldenepos basiert ursprünglich angeblich auf einem Buch, für dessen Bewahrung und Überlieferung vornehme Geistliche einstehen, die maßgebliche geistliche Institutionen vertreten (Bistum, Kloster). Damit ist sein Geltungsanspruch gesichert. Hier wird über die Sprache des Buches nichts gesagt, als Schriftwerk ist es wohl lateinisch verfasst, jedenfalls gehört es wie meister Kuonrat zur Klerikerkultur. Sein Wert bemisst sich an dem hohen geistlichen Rang derer, die es besitzen und schätzen. Doch das Buch bleibt nicht auf diesen Wirkungskreis beschränkt: merckent zuͦ dem buͦ che wie es sich zerbreittet hat (Wo 4,4). Wenn es die Grenzen der Klerikerkultur überschreitet und allgemein verbreitet wird, erfolgt ein Medienwechsel: Die Ausbreitung der Geschichte von Wolfdietrich erfolgt mündlich. Die Äbtissin, in deren Besitz das Buch gelangt ist,
‚Schriftlich abfassen‘, ‚in Verse fassen‘, ‚in Versen hervorbringen‘ (Lexer Bd. 2, Sp. 1436 – 1437). Das bedeutet nicht notwendig ‚neu dichten‘, sondern nur ‚in Versen vortragen‘. „Über die Form der Überlieferung – mündlich oder schriftlich – sagt sie [die Stelle] nichts aus: Wahrscheinlich ist keine Unterscheidung beabsichtigt“ (Bumke 1996a, S. 467). Bumke 1996a, S. 466 – 467 macht darauf aufmerksam, dass derjenige, der die Geschichte vom Burgondenuntergang aufzeichnen lässt, tihtære in V. 18 der B-‚Klage‘, aber schribære in V. 18 der C-‚Klage‘ genannt wird; offenbar ist die Bezeichnung tihtære nicht auf Mündlichkeit eingeschränkt. Müller 1998, S. 65 – 66 (dort irrtümlich ist Wolfdietrich C statt D genannt; er wird nach der normalisierten Ausgabe von Kofler zitiert); vgl. Müller 2005, S. 168 – 169.
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[…] satte fir sich zwene meister, die lertent sÿ es durch ein hebescheit ⁹⁹ daz si dan funden geschriben, daz si brahten in die kristenheit (Wo 5,3 – 4).
Wie man den ersten Vers auch versteht: Jedenfalls wird das Buch zunächst an die meister und durch sie dann an die Öffentlichkeit vermittelt (in die kristenheit). Bei dieser Gelegenheit erhält es seine poetische Form (die funden disen don dar zuͦ , Wo 5,4). Das setzt für das Buch ursprünglich Prosa voraus. Auffällig ist wieder die gelehrte Quelle, die mündlichen Realisationen zugrunde liegt. Die Herkunft des Epos wird in zwei Schritte zerlegt. Die meister sorgen für die Diffusion, indem sie das Epos durch singen und sagen verbreiten. Die Formulierung legt nahe, dass das in der Volkssprache geschieht; erwartbar wäre hier statt meister eine Bezeichnung für die Vortragskünstler, die die Geschichte landauf landab bekanntmachen. Nohe und ferre fuͦ rent sÿ in di kristen lant si sungen und seitent, do von wart dis buͦ ch bekant (Wo 6,1– 2)
Volkssprachige Texte des Frühen Mittelalters, nicht nur erzählende, bezeichnen ihren Darstellungsmodus mit der Formel ‚singen und sagen‘. Das verankert ihre Realisation für ein Publikum generell in der Mündlichkeit. Auch religiöse Verkündigung, moralische Belehrung, Ausbreitung von Wissen usw. beruft sich im Frühmittelalter auf das, was man ‚singt und sagt‘. ‚Singen und sagen‘ hat eine eigene Autorität neben dem Buchwissen. Es richtet sich an die Welt der Laien.¹⁰⁰ Auch die Programmstrophe des Nibelungenliedes beruft sich auf das ‚was man sagt‘. In diesem Fall genügt die Herkunft aus der Schriftlichkeit, der Kunde als einem allgemein Gewusstem Glauben zu verschaffen Terminologische Genauigkeit kann man in diesem Genre nicht verlangen. Die Grundstruktur der Aussage im ‚Wolfdietrich‘ aber weist wieder Verwandtschaft mit der ‚Klage‘ und unseren Überlegungen zum Nibelungenlied auf. Das geistliche Zentrum soll auch hier die Zuverlässigkeit der Überlieferung belegen. Nicht nur ein Bischof, sein Kaplan und eine Äbtissin aber sind mit der Geschichte befasst, sondern zwei weitere Personen, meister genannt. Sind es Gelehrte? Die klerikale Welt wird verlassen; singen und sagen ist die Formel, mit der die poetische Form mündlich vorzutragender Dichtung gefasst wird. Die meister setzen, was sie in der Schrift gefunden haben, in singen und sagen um. Auch hier gibt es ein Buch, jedoch mehr als einen Vortrag; zwei meister, die, was das Buch beinhaltet, in poetischer Form ‚nah und fern‘, d. h. immer wieder vortragen. Die Meister haben das Buch ‚gelernt‘. Zwischen ihm und dem, was sie in poe Der Text ist nicht leicht verständlich. Der Apparat bei Kofler weist zwei andere Lesarten des Verses nach: einmal losent es durch hubscheit (a: ‚Hört es an, denn es ist höfisch‘) bzw. do lertt sú ez durch ein hubscheit (c: ‚da brachte sie es, weil es so höfisch war, den Meistern bei‘). Einmal ist der Hörer angesprochen; einmal lehrt die Äbtissin die meister. Dies scheint auch der Sinn des Verses in der Ausgabe: entweder wäre der Plural des Verbs durch den Singular zu ersetzen (Bedeutung wie c) oder die meister ‚lernten‘ das Buch, eigneten sich es an (überzähliges sy). Zur Bedeutung leren = lernen vgl. Lexer Bd. 1, Sp. 1844– 1845 nach Germania 5 (1860), S. 241 und 7 (1862), S. 97– 98. Müller 2017, S. 100; vgl. S. 100 – 106.
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tischer Form ‚singen und sagen‘ wird keinerlei Unterschied gemacht. Es ist dasselbe.Was die Schrift sagt, wird durch die Vortragenden gespeichert. Es ist wenig wahrscheinlich, dass der ‚Wolfdietrich‘ tatsächlich in dieser Form überliefert wurde – zu deutlich ist die Bemühung um Wahrheitsfiktion –, aber sie ist ein Modell für die Rezeption einer volkssprachigen Dichtung. Die Produktion des Textes ist gespalten, in zwei Schritte zerlegt, die das Zugleich von Festigkeit und Varianz erklären. Dieses Modell muss zumindest denkbar gewesen sein, zumal wenn die Glaubwürdigkeit des Erzählten (Buch!) mit der allbekannten Form seines Vortrags (singen und sagen) kombiniert werden soll. Auch hier sind Einstimmigkeit (des Buchs) und Pluralität (hier nur zwei) des Vortrags (singen und sagen) gegenübergestellt; keineswegs ist von verschiedenen mündlichen Fassungen die Rede. Die meister sind offenbar schriftkundig und kompetent in der Darbietung einer mündlichen Dichtung. Beide Male geht die schriftliche Fassung dem, was man singt und sagt, voraus. Am Anfang stand die Schrift. Das bedeutet nicht, dass von nun an die Überlieferung ausschließlich schriftlich erfolgt, im Gegenteil. Beide Male gibt es den Vortrag mehrfach (dicke, Nohe und ferre). Mehrfacher Vortrag eröffnet dem Dichter und denen, die ihm nachsangen, die Möglichkeit zur Varianz im Rahmen der vorgegebenen Struktur. Eine solch Varianz ist bei mündlichem Vortrag wahrscheinlich, aber nachweisbar ist sie uns nicht. Was der schriftlichen Überlieferung vorausging, muss Gegenstand mehr oder weniger plausibler Spekulation bleiben. Unwiderlegbar aber ist, dass die frühen Verschriftlichungen des Nibelungenliedes von Anfang an variant sind. In den Augenblick, in dem das Nibelungenlied aufs Pergament kam, schon in den ältesten uns zugänglichen Handschriften – mindestens A, B, C, gestützt durch Fragmente wie S und Z – ist das ‚wording‘ des Nibelungenliedes vielgestaltig. Das ist ein Faktum, an dem niemand vorbeikommt. Varianter Vortrag des Textes verbunden mit varianter Aufzeichnung steht am Anfang der Nibelungenüberlieferung. Solche Vorträge sind natürlich nicht erhalten. Wir haben nur, was in Handschriften auf uns gekommen ist. Eine Verschriftlichung kann aber an unterschiedliche Realisationen des einen Textes, mündliche wie schriftliche, anschließen. In der Schrift stehen dann variante Texte nebeneinander, die Schrift fixiert diese ursprüngliche Varianz; aber sie wird in der Schrift auch unter den Lizenzen der Abschreibpraxis weitergetrieben. Bei der Fortentwicklung des Textes haben gewiss auch die Gedächtnisprozesse, die Haferland beschreibt, eine wichtige Rolle gespielt, aber sie sind nicht an einem und nur einem verbindlichen Wortlaut zu messen. Ob eine Variante vor der Verschriftlichung auftrat oder anlässlich, ist nicht feststellbar und auch nicht feststellenswert, denn in der Übergangsphase von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit sind die Ergebnisse gleich. Die ersten Verschriftlichungen müssen nicht auf varianten Vertextungen der landauf und landab vorgetragenen Erzählungen beruhen, aber sie könnten es.¹⁰¹ Einmal verschriftlich heißt auch nicht, dass die jeweils schriftlich fixierte Gestalt von nun an für
Vgl. die Überlegungen von Knapp 2015, S. 29; 2012, S. 32.
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alle Aneignungen verbindlich war, denn auch bei der Abschrift bestehen Lizenzen zur Varianz. Die Verschriftlichung gesteht dem über das Idiom mündlicher Dichtung verfügenden Erneuerer des Epos erneut Lizenzen der sprachlichen Ausgestaltung zu, die ihre Grenze an der Festigkeit der Textstruktur finden. Der Text kann erneut unter den Einfluss der Praktiken mündlicher, gedächtnisgestützter Überlieferung geraten. Das Modell impliziert eine Überlieferungsgeschichte, die nicht auf Weitergabe von Abschrift zu Abschrift basiert, sondern in der Schrift und Mündlichkeit kombiniert sind. Die Schrift steht für die Wahrheit, die auch in der Diffusion erhalten bleiben muss. Der Wahrheitsanspruch baut nicht nur auf oralen Formen der Textsicherung auf. Es bedarf in der Kette der Überlieferung des Mediums der Gelehrten, der Schrift. Das Buch garantiert die Zuverlässigkeit der Überlieferung. Im Buch und im mündlichen Vortrag wird dasselbe (es!) gesagt. Die Schrift bedarf aber, soll sie allgemein wirksam werden, der Vermittlung durch die Stimme. Diese erfolgt nicht auf univoke Weise: Es sind zwei Meister bzw. viele (dicke!), die mit der sprachlichen Gestalt befasst sind (tihten), und zwar in poetischer Form (singen und sagen). Was vorgetragen wird, muss nicht mit dem Wortlaut des Geschriebenen in allen Punkten übereinstimmen, aber es baut auf der Schrift auf, ist streng an dem Maßstab der Wahrheit, den die Schrift erfüllt, orientiert u.n d stammt „in der Regel von Sängern, die epische Technik beherrschten, und nicht von nachlässigen oder eigenwilligen Rezitatoren oder Schreibern“. Bei vielen Varianten „muss keine bewusste Umdichtung vorliegen. Die Abweichung kann jedem Abschreiber oder Rezitator unbewusst unterlaufen sein. […] Die Grenze ist freilich fließend“.¹⁰² Dieses Modell könnte die sprachliche Varianz des Epos bei im Übrigen fester Struktur erklären. Die nicht auseinander ableitbaren Lesarten von A und B oder S1 und C sind so verstehbar. Die Annahme mehrfachen Vortrags durch verschiedene Personen entschärft das Kontaminationsproblem. Man muss nicht mehr die gleichzeitige Verfügbarkeit mehrerer Handschriften, z. B. aus der not- und der liet-Überlieferung, voraussetzen, um wechselseitige Beeinflussung zu erklären, die Texte müssen nicht in schriftlich fixierter Form vorgelegen und keineswegs zu geschlossenen Fassungen sich konsolidiert haben. Sie konnten abgerufen werden von Sängern, die im Idiom zuhause waren. Kontaminationen im eigentlichen Sinne, wie sie die ältere Nibelungenphilologie annahm, treten erst im Zuge der Verschriftlichung auf. Wie aber ist dann die Existenzform dieses gemeinsamen Bezugspunkts, der nicht ein „Urtext“ ist, zu denken? Offenbar gab es in der Übergangszone zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht-schriftliche Formen der ‚Verdauerung‘ neben der Schrift. Vor der uns zugänglichen Überlieferung existierte das Epos in einer Gestalt, die ein Sänger erlernen konnte, die ihm aber begrenzte Freiheiten der Ausführung ließen. Lag es bereits in schriftlicher Form vor (was ich für wahrscheinlich halte) oder wurde es ausschließlich als mündlicher Text ‚verdauert‘, wie wir dies in anderen Textbereichen selbst in der Moderne noch kennen? Als ‚verdauerte‘ hat auch die mündliche Rede
Knapp 2015, S. 29.
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Texthaftigkeit.¹⁰³ Wurde sie in einer Art ‚Zunft‘ von Rhapsoden weitergegeben? Hier ist man wie bei Homer auf mehr oder wenige wahrscheinliche Spekulationen angewiesen. Wenn das skizzierte Verbreitungsmodell einen Grund in der Sache hat, dann bezieht es sich auf eine Zeit, die vor der Entstehung der uns bekannten Handschriften liegt, aber in den Anfängen der schriftlichen Überlieferung noch fortdauert. Zumindest hat es in der Varianz der uns überlieferten Handschriften seine Spuren hinterlassen. Es erklärt Varianten, die nicht auseinander vorgegangen sind, sondern nebeneinander bestehen. Die Varianz in den frühen Handschriften des Nibelungenliedes geht auf eine Überlieferungsstufe zurück, auf der in der Regel mündliche Reproduktion eines bereits fixierten Textes erfolgte. In der schriftlichen Aufzeichnung bildet sich solche anfängliche Varianz nicht nur ab, sie setzt sich in ihr auch fort. Im 13. und noch im 14. Jahrhundert setzt der Schreiber wie zuvor der Sänger seine eigene Kompetenz in ‚Nibelungisch‘ ein, d. h. in der sprachlichen Ausgestaltung des vorgegebenen Textes lege artis, also z. B. im Wortmaterial oder in der Metrik. Auch nach der Verschriftlichung besteht die Lizenz zu Ad-libitum-Varianten fort. Einige wie der Urheber von *J gehen dabei weiter als andere. Und noch der Bearbeiter von *C fühlt sich zwar nicht an die Wertungen des not-Textes gebunden, aber an den Handlungszusammenhang; denn dieser gilt ja als wahrheitsgemäß bezeugt. Die Verschriftlichung impliziert allerdings die Tendenz zur Verstetigung. Die Lesarten, die z. B. A und B, S und C/B unterscheiden, kehren in der jüngeren Überlieferung, auf verschiedene Handschriften verteilt, wieder. Es gibt eine – allerdings nicht konsequent durchgeführte – Tendenz zur Ausbildung bestimmter Familienähnlichkeiten, die man zu ‚Redaktionen‘ zusammenschließen kann. Die Textgestalt einer sehr alten Handschrift (B) und der jüngsten (d) ist eng verwandt. Vor allem aber ändert sich das Ergebnis des Abschreibens. Die Handschrift h ist eine genaue Kopie von J, das Fragment g eine ziemlich genaue von L; Hs. b aus dem 15. Jahrhundert hat ältere Lesarten besser bewahrt als D vom Anfang des 14. Jahrhunderts. Mit anderen Worten: Allmählich erst bilden sich die Bedingungen heraus, die die genealogische Textkritik voraussetzt, eine genaue Orientierung der Abschrift an der Vorlage. Dass dies kein linear fortschreitender Prozess ist, zeigt das sehr alte Fr. E, das mit bemerkenswerter Genauigkeit mit Hs. C übereinstimmt.
Vortrag und Buchform Wie die erste Verbreitung des Nibelungenlieds aussah, wissen wir nicht.Wir kennen nur die Überlieferung als Buchepos. Die vorangegangenen Überlegungen betreffen vor allem eine Überlieferungsstufe, die vor den auf uns gekommenen Handschriften liegt. Sie sind mit empirischen Mitteln nicht beweisbar. Dennoch sind sie mehr als haltlose Spekulationen. Sie suchen sich einen Reim auf einige auffällige, bisher nicht befriedigend er-
Ehlich 1989; 1993; 1994.
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klärte Phänomene in den überlieferten Textzeugen zu machen und sie auf plausible Ursachen zurückzuführen. Wir müssen die oralen Traditionen der schriftfernen Gruppen im Mittelalter voraussetzen; diese sind uns aber immer nur indirekt zugänglich sind, nämlich sofern sie ihre Spuren in der Schrift hinterlassen haben, also nicht mehr genuin mündlich sind. Der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit ist immer nur sichtbar, wenn er vollzogen ist. Anstelle eines empirischen Beweises sind nur Hypothesen möglich, die die verstreuten Indizien zu deuten und in einen Zusammenhang zu bringen suchen. Es gibt viele Belege dafür, dass seit dem 12. Jahrhundert die orale Laienkultur allmählich durch die Schriftkultur überformt und ersetzt wurde. Aber sie dauerte noch lange fort. Die Kommunikationsformen in der Volkssprache waren bis mindestens ins 15. Jahrhundert dominant mündlich.Volkssprachige Literatur wurde mündlich rezipiert, aber ihre Basis in der Schrift ist unterschiedlich. Auch die Heldenepik gründet ihren Anspruch res factae zu erzählen, wie zu sehen war, gelegentlich auf ein Buch, aber es besteht ein Hiat zwischen dem Buch als der schriftlichen Quelle und der vorgetragenen Dichtung, die deren Material durch singen unde sagen verbreitet. Das Nibelungenlied muss nicht als Ganzes vorgetragen worden sein. Man darf wie bei Homer vermuten, dass auch Teile zum Vortrag kamen. Eindeutige Nachweise fehlen, denn das Nibelungenlied ist von Anfang an als vollständiges Buchepos überliefert. Doch könnte die Handschrift A Spuren eines solchen Teilvortrags enthalten. In der 6.–10. Aventiure fehlen dort gegenüber dem sonstigen not-Text besonders viele Strophen, wesentlich mehr als sonst in Hs. A. Es wurde diskutiert, ob es sich in A um die ursprüngliche, dann in B und den übrigen not-Handschriften nachträglich erweiterte Fassung oder im Gegenteil um eine Kürzung des originalen Textes handelt. Statt diese unentscheidbare Frage beantworten zu wollen, hat Curschmann gezeigt, dass es sich um ein relativ selbständiges Teilstück handelt, das evtl. auf einer „mündliche[n] Episodendichtung“ beruht.¹⁰⁴ Von einer Episodendichtung fehlt jede Spur, doch bilden die Aventiuren 6 – 10 eine selbständige Episode. Es handelt es sich um einen geschlossenen Abschnitt: von Gunthers Werbung um Brünhild über den Werbungsbetrug und Gunthers misslungene Hochzeitsnacht, hin bis zu Siegfrieds neuerlicher Hilfe. Das war möglicherweise ein reizvolles Sujet, das für sich Interesse beanspruchen konnte. Man muss allerdings keine Episodendichtung voraussetzen, von der angenommen werden müsste, dass sie weitgehend wörtlich mit dem Nibelungenlied übereinstimmte. Der Text ließ sich relativ leicht aus dem Epos herauslösen. Ich selbst habe gezeigt, dass die Strophen für die Schlüssigkeit der Handlung entbehrlich sind; die Vorgänge bleiben dieselben; nur ihre verdoppelnde Ausgestaltung fehlt.¹⁰⁵ Vielleicht geht dieser Teil der Hs. A auf einen Text zurück, der für einen separaten Vortrag leicht kürzend eingerichtet wurde. Das könnte auch erklären, wieso in Hs. A Kürzungen so ungleich verteilt sind und
Curschmann 1979, S. 95 – 96. Vgl. Müller 2017, S. 381– 387 und oben S. 225.
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in anderen Passagen weit sparsamer ausfielen; hier könnte ein besonderer Anlass vorliegen. Das wäre ein Hinweis auf eine Teilaufführung des Nibelungenliedes. Es muss auch ephemere Formen der Aufzeichnung gegeben haben, aber überliefert sind sie ebenfalls nicht. Schon Abeling rechnete mit „Textbüchern“, die einzelnen Vorträgen zugrunde lagen. Das Nibelungenlied sei – so Abeling – im Gegensatz zu den höfischen Romanen eine Rhapsodie, die nicht gelesen, sondern vorgetragen sein will, natürlich auf Grund eines Textbuches, und was wir davon besitzen, sind nicht die Abschriften des Urtextes, sondern von Textbüchern, die sich nicht auseinander, sondern im lebendigen Werden nebeneinander entwickelt haben. […] Solch ein Textbuch […] dient seinem Vortrage lediglich als Stütze.¹⁰⁶
Auch Abeling setzt noch einen „Urtext des Dichters“ voraus, wenn er es auch für vergeblich hält, nach ihm zu suchen. Er bleibt auf die Idee des Ursprünglichen fixiert. „Das Ursprüngliche kann […] in jedem Strang der Überlieferung liegen“.¹⁰⁷ Darin wirkt noch das alte genealogische Modell des (eben nur unerreichbaren) Originals nach, das nur Spuren in den Textbüchern hinterlassen habe. Sie könnten jedoch auch einen nur grosso modo festgelegten Text auf unterschiedliche Weise aufgezeichnet haben. Die Vorstellung von Textbüchern verleitet Abeling allerdings zu falschen Assoziationen. Sie sind an der ‚Volksliteratur‘ orientiert. Abeling vermutet die Entstehung des Nibelungenliedes zu Anfang des 12. Jahrhunderts und nimmt an, dass der Text vor Abfassen der auf uns gekommenen Handschriften „gründlich ‚zersungen‘ […] d. h. von seinen Vortragskünstlern (in ihrem Sinne) verbessert und verändert worden“ sei.¹⁰⁸ Belege dafür hat er keine. Hier werden zwei verschiedene Prozesse miteinander kontaminiert. ‚Zersungen‘ impliziert Textveränderung – im allgemeinen Textverderbnis – durch eine ungefähre, quasi automatisierte Reproduktion, die charakteristische Elemente des Textes gewissermaßen abschleift – wie dies bei Volksliedern zu geschehen pflegt –, nicht aber Wiedererschaffen des Textes nach verbindlichen Kunstregeln und in einem festgelegten Rahmen.Von dieser Art müssen, sollte es sie gegeben haben, Abelings Textbücher gewesen sein. Es könnte scheinen, als träte der in der Schrift fehlende ‚Grundtext‘ an die Stelle, die früher das Original einnahm, aber das wäre ein Missverständnis, denn er hat nicht die Eigenschaften eines Originals. Ein von einem Dichter verantwortetes Original wäre auf allen Ebenen festgelegt, nämlich in einer bestimmten Weise gestaltet, in Metrik, Metaphorik, Syntax usw. Das Original wäre dann das verbindliche Modell aller Reproduktionen. Abweichungen von ihm wären dann Fehler. Das aber ist der (fehlende, aber in irgendeiner Form vorauszusetzende) ‚Grundtext‘ gerade nicht; er enthielt offenbar
Abeling 1920, S. 160. Abeling 1920, S. 161. Er scheint an dem einen verbindlichen Urtext festzuhalten. Die Hauptfassungen haben durch ihre normierende Kraft ein „größere[s] Auseinandergehen in Wortlaut und Strophenbestand“ verhindert. Abeling 1920, S. 361.
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Leerstellen für die Ausgestaltung, die verschieden genutzt werden konnten. Bei jeder konkreten Adaptation, geschweige jeder Verschriftlichung war es notwendig, sich festzulegen und den ‚Grundtext‘ konkret zu gestalten. In der Forschung hat es vereinzelt Überlegungen in diese Richtung gegeben, ohne dass man das bisherige Modell der Textkritik aufgegeben hätte. Brackert hielt für möglich: alle auf uns gekommene Hss. oder Hss.-Gruppen bieten einen Text, der von Redaktoren und Schreibern immer schon nach bestimmten Tendenzen verändert und umgeformt worden ist. […] Vor dem Beginn der Handschriften-Überlieferung […] müssen schon verschiedene Ausformungen des Textes bestanden haben, bei denen dann unsere handschriftliche Überlieferung erst eingesetzt hat, oder aber die Träger der uns greifbaren Hss.-Überlieferung konnten in einem gewissen Umfang neugestaltend in den Text eingreifen, ohne daß ihre Änderungen die Grenzen der stilistischen Möglichkeiten überschritten, die durch den gemeinsamen Text abgesteckt werden. Ihre Änderungen wären also mit den gewöhnlichen textkritischen Mittel nicht zu lokalisieren.¹⁰⁹
Allerdings hielt auch er am Modell der traditionellen Textkritik fest. Er glaubt, im „gemeinsamen Text, d. h. also der Übereinstimmung aller oder wenigstens der hauptsächlichen Hss. […] einen Wortlaut“ zu greifen, „den wir mit einigem Recht für den Text des ‚Archetyps‘ halten können. […] Auch er wird den Text in einer schon überarbeiteten Gestalt darbieten; denn wir greifen in den einzelnen Hss. des öfteren Spuren einer Textform, die älter ist, als sie der gemeinsame Text im Großen und Ganzen repräsentiert“.¹¹⁰ Es gibt also diese ältere Textform, nur ist es unmöglich, „den ursprünglichen Wortlaut wiederzugewinnen“ und „das Ziel aller Textkritik“, „ein in allen Einzelheiten fixierbares Original“, zu erreichen.¹¹¹ Brackert tut nicht den entscheidenden Schritt, den er zuvor plausibel beschrieben hat. Er bleibt bei dem genealogischen Modell. Natürlich wurde das Nibelungenlied in einer distinkten Form gedichtet, aber diese distinkte Form war in bestimmten Hinsichten nicht verbindlich. Wer das Nibelungenlied verbreitete, konnte sie variieren. Auch Haferland erwägt, dass die Sänger nicht nur einen Text des Nibelungenliedes gekannt haben könnte, sondern über Sprache, Stil und Stoff des ‚Nibelungenliedes‘ in seinen je von ihnen gehörten Fassungen verfügten. Bewahrten sie dieses Material aber im Gedächtnis, so lebten bestimmt Formulierungen als mündliches Traditionsgut weiter: in den je ausformenden Text konnten die Bearbeiter sie aus eigener souveräner Verfügung einfließen lassen.¹¹²
Das kommt in die Nähe der obigen Überlegungen. Haferland bezieht allerdings dieses souveräne Verfügen über das Material nur auf die Kenntnis des Nibelungenliedes, nicht Brackert 1963, S. 165. Brackert 1963, S. 166. Das ist allerdings nur ein Durchschnittstext, der nicht mit verschiedenen konkreten Ausgestaltungen identisch ist. Brackert 1963, S. 166. Haferland 2006, S. 191.
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allgemein auf ein Idiom mündlicher Epik, mit dessen Hilfe das Epos wiedergegeben werden kann und auf das der Dichter wie die Sänger des Nibelungenliedes zurückgreifen konnten. Die Annahme eines einzelnen trainierten Sängers und seiner oralen Kompetenz könnte die rückgebundene Varianz und gleichzeitige Bündelung des gemeinsamen Textes mit fortschreitender Varianz durchaus erklären – die rückgebundene Varianz als gelegentliches Nachklingen einmal gebrauchter/gebildeter und zwischenzeitlich ersetzter oder ausgetauschten Formulierungen.¹¹³
Der Text fließt aus Gewusstem und vage Erinnertem zusammen. Das ist ein Zeichen für eine kreative Nutzung seiner Kompetenz. Grundsätzlich hält Haferland an einem originalen Text fest, der nur unzugänglich ist; der Alternative, die er selbst nennt, geht er nicht weiter nach, zugunsten des Nachweises der Entstellung eines vorgegebenen Textes durch das Gedächtnis: denn eine immer schon fluide Masse von abweichenden Formulierungen in den Fassungen und Hss. erlaubt nicht, einen ‚ursprünglichen‘ Text flächendeckend zu rekonstruieren und zu fixieren. Hier kann man vielmehr auch die weitergehende Annahme erwägen, ob nicht immer schon je nur ‚Fassungen‘ einander abgelöst haben, so dass es grundsätzliche gar keinen Ursprünglichkeitsstatus gibt.¹¹⁴
Dieser „weitergehenden Annahme“ folgt er jedoch nicht, sondern hat in seinen jüngeren Publikationen versucht, die Transformation des C-Textes aus dem B-Text mittels Erinnerungslücken und deren Reparatur zu beschreiben. Wenn das Nibelungenlied ‚am Schreibtisch‘ gedichtet und reproduziert wurde – so lautet das Mantra der Forschung –,¹¹⁵ dann bedeutet die unpräzise Metapher ‚am Schreibtisch‘, dass weder die Gestalt des Epos noch seine Verbreitung ohne intermittierende Schrift denkbar ist. Dafür spricht die Festigkeit des Textes, was Strophenbau, Strophenfolge, Handlungs- und Situationsfolge, Reaktion des beteiligten Personals betrifft. Auch mittelalterliche Texte sprechen von einem Zusammenwirken schriftkundiger Kleriker und vorwiegend in der Mündlichkeit wirkender Laien. Knapp zitiert eine interessante Parallele für die bretonischen Lais.¹¹⁶ In der Phase des Übergangs der adligen Laiengesellschaft zum Schriftgebrauch sind dergleichen Konstellationen häufiger vorauszusetzen – neben der immerhin mitteilenswerten Nachricht von in der Schrift ‚gelehrten‘ Laien wie Hartmann von Aue. Die Varianz auf der Ebene der sprachlichen Gestaltung macht die Einwirkung nichtschriftlicher Praktiken der Textkonstitution und -reproduktion auch beim Gebrauch der Haferland 2006, S. 193. Er nimmt „Kontaminationen aus dem Gedächtnis“ eines einzelnen Sängers an. Als „rückgebundene Varianz“ bezeichnet Haferland das Wiederauftauchen von „Formulierungen früherer, aber nicht unmittelbar zugrundeliegender Fassungen“, „vertraute Formulierungen einmal gehörter Fassungen“ (S. 192). Haferland 2019b, S. 458. Heinzle 2008, S. 321– 322 u. ö. Knapp 2015, S. 34.
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Schrift wahrscheinlich. Die Varianz betrifft allerdings nicht alle Parameter des Textes, wie sie für unfeste orale Überlieferung typisch ist (Umstellung von Episoden, einzelnen Strophen, beliebiges Hinzufügen und Weglassen, variabler Figurenbestand usw.), sondern ist auf das ‚wording‘ im umfassenden Sinne (angefangen von Graphie, Morphologie, Lexik bis hin zu syntaktischen Varianten des Numerus, Tempus, Modus usw.) beschränkt. „Differenzen auf der Ausdrucksoberfläche“¹¹⁷ betreffen allerdings, wenn auch in geringerem Maße, auch die Wiedergabe von genuin schriftlich konzipierten Werken.¹¹⁸ Vielleicht ist der entscheidende Schritt die Überführung des Epos, das ungeachtet seiner schriftlichen Aufzeichnung in der Mündlichkeit lebt, in einen Codex. Die frühen Handschriften des Nibelungenliedes sind sorgfältige Ausgestaltungen als Buch. Wenn das Epos als Buchdichtung verschriftlicht wurde, musste man sich festlegen. Die Ausgestaltung erfolgte unter Nutzung der Möglichkeiten des Mediums Buch. Einmal verschriftlicht scheinen die verschiedenen untereinander varianten Gestalten des Textes jede für sich weiter gewirkt zu haben, d. h. bei ihrer erneuten Reproduktion nach einer schriftlichen Vorlage die Bildung neuer Varianten nicht mehr so zahlreich zugelassen zu haben. In der Gestaltung als Buch gewann der variant aufgezeichnete Text an Verbindlichkeit. Dies ist aber nie vollständig geschehen.
Knapp 2015, S. 41. Knapp 2012, S. 37; 2015, S. 38 – 42 über den ‚Lancelot. Der Spielraum von Varianz müsste für die einzelnen Textsorten und überlieferungstypen gesondert untersucht werden. Möglicherweise war er für Prosa größer als für poetische Texte.
10 Zur Poetik des Epos zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Am Schluss stellt sich die Frage, was die poetische Identität des Nibelungenliedes ausmacht. Lässt sich eine verbindliche Poetik beschreiben, wenn es ein in allen Parametern fixiertes Original als normative Vorgabe aller späteren Redaktionen des Textes nicht gegeben haben muss? Wenn aber andererseits die Architektur des Textes fest ist? Dem ist abschließend nachzugehen. Wie sieht eine solche Poetik aus und welche Parameter werden von ihr geregelt? Ansetzen will ich zunächst bei den Merkmalen des Textes, die nicht ad libitum sind. Feste Vorgabe ist – neben Verlauf und Verkettung der Handlung – eine bestimmte metrische und strophische Ordnung. Sie hatte jeder, der den Text wiedergeben wollte, zu beachten. Vorgegeben sind weiterhin eine Personenkonstellation und ein Motivationsgefüge, die Verdichtung der Handlung in einprägsamen Schaubildern und ein bestimmtes poetisches Idiom. Diese Bedingungen bestimmen die eigentümliche Poetik des Nibelungenliedes, die sich von der Poetik neuzeitlicher Dichtung fundamental unterscheidet.
Die Nibelungenstrophe zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Identitätsmerkmal des Nibelungenliedes ist die Nibelungenstrophe. Das Nibelungenlied ist ein leicht wiedererkennbarer Text, und zwar weit mehr als der Höfische Roman mit seinen paarweise gereimten Kurzversen. Das garantiert seine Vers- und Strophengestalt:¹ Drei Langverse, bestehend aus einem dreihebigen Anvers mit zweisilbiger Kadenz und einem dreihebigen Abvers mit einsilbiger Kadenz, mit einer Zäsur in der Mitte, gefolgt von einem um einen Takt verlängerten Langvers mit einem dreihebigen Anvers mit zweisilbiger und einem vierhebigen Abvers mit einsilbiger Kadenz bilden eine Strophe. Die Langverse sind paarweise mit Endreim gereimt. Auftakt ist im An- und im Abvers fakultativ. Es herrscht die Füllungsfreiheit älterer Versepik, d. h. Hebungen und Senkungen alternieren nicht regelmäßig; zwei Hebungen können aufeinanderstoßen (beschwerte Hebung); Hebungen und Senkungen können mehrsilbig sein (gespalten). Die Nibelungenstrophe löst die ältere, aus fortlaufenden assonierenden oder endreimenden Langversen gebildete Epik ab, die an einigen Stellen des Nibelungenliedes noch durchscheint.²
Ich bemühe mich um möglichst neutrale Beschreibung, d. h. lasse mich auf die Frage Drei- oder Viertaktigkeit mit pausierten Takten oder Taktteilen nicht ein, ebenso nicht auf die Interpretation der zweisilbigen (‚weiblich klingenden) bzw. einsilbigen (männlich stumpfen oder männlich vollen‘) Kadenzen, denn die Entscheidung ist in unserem Zusammenhang ohne Bedeutung. Heusler 1920/1955, S. 84. https://doi.org/10.1515/9783110983104-011
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Alle Handschriften des Nibelungenliedes weisen diesen in Grundzügen festen strophischen Bau auf. Etwa hinzukommende Zusatzstrophen sind in dieser Form verfasst. Auch die Einrichtung der Handschriften, teils mit Kennzeichnung des Vers- und/ oder Strophenbeginns, manchmal auch der Halbverse, lässt deutlich eine feste Formvorstellung erkennen. Bei näherem Zusehen ist diese Form jedoch variant, indem alle oben erwähnten Lizenzen nebeneinander auftreten können. Jede Strophe kann eine andere metrische Gestalt als ihre Nachbarstrophen aufweisen. Sogar die metrische Auszeichnung des 4. Verses kann man manchmal nur bei extremer Dehnung der Füllungsfreiheit postulieren, und es kann häufig nur bei Annahme mehrerer beschwerter Hebungen Viertaktigkeit hergestellt werden; oft scheinen lediglich drei Hebungen realisiert, ebenso viele wie in den drei Versen vorher. Von den Freiheiten machen die Handschriften verschieden Gebrauch; derselbe Vers kann unterschiedliche metrische Gestalt in verschiedenen Handschriften haben. Der Vers kann gedrungen sein, mit mehreren beschwerten Hebungen, er kann gespaltene Hebungen und Senkungen aufweisen, oder er kann dem Prinzip regelmäßiger Alternation von Hebungen und Senkungen folgen. Ganz gleich, ob man nun dem Schreiber einer Handschrift eine Vorliebe für den einen oder anderen Verstypus nachweisen kann, ganz gleich auch, ob man Mangel an Konsequenz feststellt, grundsätzlich lässt sich aus diesem Nebeneinander nur der Schluss ziehen, dass es für die Intaktheit der Nibelungenstrophe in der Schrift nicht darauf ankommt, dass die Silben gezählt werden. Die Schemata der modernen Metriker spielten für den Schreiber und seine Aufzeichnung eines Verses / einer Strophe keine Rolle. Das hängt mit der Aufführungspraxis zusammen. Die Philologie hat aus der in der Schrift überlieferten Gestalt der Nibelungenstrophen die Regelhaftigkeit des Langverses und die Regelhaftigkeit der aus vier Langversen bestehenden Strophe herausgearbeitet (Zahl der Hebungen, Kadenzen) und in ein schriftliches Zeichensystem (mit Symbolen für Hebungen und Senkungen verschiedener Länge, Taktgrenzen, Pausen, evtl. Auftakte) übersetzt. Sie hat ein Schema der Nibelungenstrophe rekonstruiert. Dieses idealisierte Grundschema muss freilich bei der metrischen Analyse einzelner Strophen vielfältig flexibilisiert werde, bei der Verteilung der Silben auf Hebungen und Senkungen, beim Auftakt, bei der Füllung von Kadenzen usw., um so den metrischen Wildwuchs der Handschriften unter Kontrolle zu bringen. Die Frage ist aber, ob die Verse sich überhaupt in ein derartiges Schema pressen lassen. Die Vorstellung eines in graphische Symbole übersetzbaren Schemas gehört zu einer verschriftlichten Literatur, die eine eineindeutige Beziehung von Zeitdauer, Silbenstruktur und -zahl und deren Repräsentanz in der Schrift voraussetzt.³ Das Schema suggeriert einen festen Normaltypus, den es nicht gibt. Zwar hat man darauf verzichtet, durchgängig Viertaktigkeit mit pausierten Hebungen und Senkungen für die Halbverse
Die widersprüchlichen Annahmen einer Metrik des Mhd. sind von Estis (2021) kritisiert worden. Dies macht eine grundsätzliche Revision der mhd. Metrik erforderlich und hat für das Nibelungenlied erhebliche Konsequenzen; sie können hier nicht diskutiert werden.
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anzunehmen, aber das flexibilisierte Schema bestimmt weiterhin die Diskussion. Bei all dem geriet aus dem Blick, dass es sich um eine nachträgliche Rationalisierung und Systematisierung einer primär in der Mündlichkeit vorgegebenen Struktur handelt. Der mündliche Vortrag hat bestimmte formale Erwartungen zu erfüllen. In ihm war die metrische und strophische Struktur des Epos präsent. Deshalb wurde jede neu gedichtete oder umgedichtete Strophe, wenn sie eine Strophe des Nibelungenliedes sein sollte, in derselben Form verfasst und vorgetragen. Sie strahlte auf die Schrift aus, wurde aber oft nur unvollkommen in ihr repräsentiert. Sie ist primär ein Phänomen der Mündlichkeit; die Schrift ist nachgeordnet. Ich hatte deshalb vorgeschlagen,⁴ für die Nibelungenstrophe drei in etwa gleiche Zeiteinheiten anzunehmen, denen eine vierte, etwas längere folgt. Die Handschrift stellt den Text bereit, mit dem diese Zeiteinheiten gefüllt werden sollen. Der Vortragende (oder der lesend Memorierende) hat die Zeiteinheiten internalisiert und zählt keine Silben, sondern füllt den Zeitraum instinktiv mit dem Text aus, der ihm geboten wird. Für den Hörer aber ergibt sich der Eindruck regelmäßig wiederkehrender Zeitabläufe, die er als Eigenart der Nibelungenstrophe erkennt.⁵ Bei dieser Form der Rezeption kommt es gar nicht auf die jeweilige Silbenzahl an. Deshalb können auch beliebig Füllwörter wie vil, gar, do, da usw. eingestreut werden. Sie mögen im Einzelfall auch in der Schrift den Eindruck der Regelmäßigkeit gefördert haben. Dass sie zum ‚ursprünglichen‘ Text gehören, ist daraus nicht zu schließen, zumal sie bei jedem Vortrag spontan eingefügt werden konnten. Umgekehrt musste die Sperrigkeit eines in der Schrift unterfüllten Verses nicht unbedingt auffallen, da er im Vortrag als für die betreffende Stelle passend wahrgenommen wurde. Die Handschrift verzeichnet den Text und kann insofern dem Vortrag als Stütze dienen, aber sie bildet den Vortrag nicht ab. Die Schriftgestalt sucht der Lautgestalt nahezukommen; aber die Lautgestalt wird nicht 1:1 in Schrift umgesetzt.⁶ Die rhythmische Gliederung des Vortrags in feste Stropheneinheiten gehört zur Kompetenz des Sängers, die unabhängig von ihrer Repräsentanz im Medium der Schrift besteht und im Vortrag zum Einsatz kommt, auch wenn das in der Schrift bereitgestellte Sprachmaterial die Bedingungen unzureichend zu erfüllen scheint, der Vers also unter- oder überfüllt scheint. Die Regeln des mündlichen Vortrags bestehen für sich; die Schrift gibt nur Hinweise, mittels welchen Sprachmaterials sie zu realisieren sind.
Müller 2020, S. 369 – 370. Dieses Phänomen kennt man auch in neuerer, vor allem gesungener Lyrik. Bertold Brechts Song ‚Der Mensch hat einen Kopf; der Kopf reicht ihm nicht aus‘ entwickelt über mehrere Strophen, dass der Mensch mit seinem Kopf unzureichend ausgestattet ist, „denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug“. In der letzten Strophe nun wird das einsilbige Wort („schlau“) durch ein dreisilbiges („anspruchslos“) ersetzt; es muss auf den gleichen Notenwert gesungen werden und wird deshalb schnell ausgesprochen, was der inhaltlichen Pointe eine klangliche hinzufügt. Ähnlich kann man sich vorstellen, dass der Versteil der Nibelungenstrophe gedehnt oder beschleunigt werden konnte. Gegentypus sind z. B. die Oden von Klopstock, die jeder Strophe das Schema von Längen und Kürzen voranstellen, das der Odentext realisiert.
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10 Zur Poetik des Epos zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
Haferland bezeichnet die Nibelungenstrophe zutreffend als „mnemonisches Gitter“, d. h. eine Struktur, die auf den Speicherungsmöglichkeiten des Gedächtnisses beruht, nicht der Schrift.⁷ Er macht damit darauf aufmerksam, dass die Strophe ursprünglich nicht schriftsprachlich konzipiert ist und dass ihr Ursprung in einer oralen Literaturpraxis liegt. Der Nibelungenvers und die Nibelungenstrophe sind zum mündlichen Vortrag bestimmt. Die Schrift ist sekundär. Der Vortragende scheint ein Wissen zu besitzen, wieviel Zeit ein Nibelungenvers beansprucht, und passt das, was er in seiner schriftlichen Vorlage vorfindet, oder das, was er im Gedächtnis gespeichert hat, in diese Zeiteinheit ein. Das mag im Einzelfall gut oder weniger gut gelingen, jedenfalls immunisiert es den Vortrag gegen die unterschiedliche Zahl und Art der aufgezeichneten Silben. Das heißt, dass die Metrik des Nibelungenliedes unabhängig von seiner Verschriftlichung betrachtet werden muss. Das Nibelungenlied entsteht in einer Zeit, in der die Füllungsfreiheit frühmittelalterlicher Verse – beschwerte Hebungen, mehrsilbige Senkungen, ungeregelter Auftakt – allmählich einem geregelteren Versbau Platz macht. Man darf annehmen, dass sich auch der Sängervortrag änderte. Das wird auch bei dessen schriftlicher Aufzeichnung Folgen gehabt haben. Es gibt schon in den ältesten Handschriften streng alternierende Verse mit festgelegter Hebungs- und Senkungszahl neben scheinbar unterfüllten oder überfüllten Versen mit allen Lizenzen älteren Versbaus. Verwirrend ist, dass in den Handschriften Beispiele älterer und jüngerer Metrik nebeneinanderstehen und dass metrische Veränderungen in jüngeren Handschriften zumeist keine eindeutige Richtung erkennen lassen. Einige Beispiele: A 1283,3 [sam vliegende vogele] sach man si alle varn stellt Alternation her gegen B 1340,3 sach man sie varn (~ b). Anders alterniert der Vers in Hs. d: also sach man sy varn; ähnlich, aber ohne Auftakt DJah: so sach man si varn. Umgekehrt alterniert A 1371,3 nicht unz daz si sach (~ d), wohl aber B 1428,3 unze daz si sach; D untz daz si ersach; b gesach. Es gibt mal Verse mit Auftakt, mal ohne: A 1278,3 [von kristen und von heiden] mange wite schare ⁸ gegen B 1335,3 vil manige wite schar. Es gibt zweisilbige Senkungen und gespaltene Hebungen; es sind oft winzige Details in denen sich die Handschriften unterscheiden, z. B. die Silbenzahl, die aber den Rhythmus verändern müsste. A 1299,3 die Écèlen mán steht gegen B 1356,3 di Écèln màn, mit drei beschwerten Hebungen hintereinander. D erreicht durch die andere Form des Namens Alternieren die Étzelínes mán; in b scheint, folgte man dem Schema, der Halbvers nur aus Hebungen zu bestehen: Étzèln màn. Die Forschung hat solche Ansätze verfolgt, immer in der Hoffnung, so der metrisch ursprünglichen Gestalt näherzukommen. In aufwändigen Textvergleichen hat man es unternommen, in einzelnen Handschriften – z.T. einander widersprechende – Tendenzen nachzuweisen, die auf eine regelkonforme Metrik zielten, z. B. regelmäßigeren Auftakt oder regelmäßiges Alternieren von Hebungen und Senkungen oder im Gegenteil
Haferland 2019a, S. 56. Mit abweichender Kadenz.
Die Nibelungenstrophe zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
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beschwerte Hebungen, mehrsilbige Senkungen usw., um daraus Schlüsse auf eine ‚archaische‘ oder ‚moderne‘ Metrik zu ziehen. Unterstützt wurde dies durch Untersuchungen zur Reimtechnik.⁹ Hintergrund war die Annahme eines Originals. Strittig blieb aber bei metrischen Varianten, welchem Typus man Priorität zuschreiben solle. Gab es fehlerhafte Verderbnis einer einstmals intakten Metrik oder Versuche, eine veraltete Metrik zu modernisieren und zu regulieren? In welchem Umfang und in Bezug auf welche Phänomene galt das eine oder andere? Das macht die Beurteilung der Metrik durch die traditionelle Textkritik so schwierig. In der philologischen Prüfung varianter Lesarten spielen, wenn auch ohne Anspruch, Aussagen für die Handschrift insgesamt zu machen, metrische Argumente eine wichtige Rolle. Eine metrische Unebenheit wird als Anlass einer Textänderung identifiziert; die Lesart, die sie beseitigt, folglich als sekundär angesehen. Doch auch das Umgekehrte wird angenommen: Ein metrisch vielleicht ungewöhnlicher, doch möglicher Versfuß fällt einer glättenden Überarbeitung zum Opfer und führt zu einer metrisch zwar geschmeidigeren, aber sekundären Fassung des Verses. In den ausgedehnten älteren Kommentaren einzelner Textstellen gibt es Beispiele für beides. Tendenzen zu einem regelmäßigeren Versbau konnten Zeichen für Modernisierung sein. Doch es ist nicht gelungen das „Streben nach metrischer Besserung“ als Grundlage einer ‚Fassung‘ zu erweisen.¹⁰ Brackert wies auf die widersprüchlichen Annahmen über die Entwicklung der Metrik, für die, manchmal in einer und derselben Untersuchung unterschiedliche Maßstäbe angelegt wurden, und warnte davor, die Abwesenheit oder Herstellung einer regelmäßigen Metrik zum Kriterium bei der Suche nach dem ursprünglichen Text zu machen. Ebenso wohl wie ursprünglich und alt konnte die regelmäßigere Versgestalt Produkt stilistischer Überarbeitungsprozesse gewesen sein (wie z. B. auch die Tendenz zum reinen Reim sich in der Literatur des 12. Jahrhunderts erst allmählich durchsetzt).¹¹ Vor allem aber war in kaum einem Überlieferungsträger Konsequenz in der metrischen Gestalt zu finden. Die Versuche, bestimmten Handschriften eine Vorliebe für bestimmte metrische Phänomene wie doppelten Auftakt, Vorliebe für beschwerte Hebungen oder Alternieren von Hebungen und Senkungen oder eine bestimmte Ausgestaltung der Kadenzen zuzuschreiben, sind ausnahmslos gescheitert. Diese Probleme fallen in sich zusammen, wenn man bei festem metrischen Rahmen, der stets vorausgesetzt ist, mit der Möglichkeit rechnet, dass die Schreiber sich die Freiheit nahmen, ihn in der Schrift verschieden darzustellen. Wenn der geschriebene Text nicht in allen Punkten den mündlichen Vortrag repräsentiert, dann lässt er keine Rückschlüsse auf dessen rhythmische Struktur zu. Diese erlaubt offenbar gleichfalls Varianz in der konkreten metrischen Gestaltung. Eine Veränderung im Vortrag von Versdichtungen konnte, aber musste nicht Spuren auch in der
Vgl. – willkürlich herausgegriffen – die umfangreiche und äußerst detaillierte, an Bartsch anknüpfende Zusammenstellung von Paul 1876, S. 398 – 464 oder noch 50 Jahr später Michels 1928, S. 27– 85. Haferland 2006, S. 187. Brackert 1963, S. 60 – 84; vgl. S. 8.
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Aufzeichnung hinterlassen. Umgekehrt hat die abundante Varianz der schriftlichen Überlieferung nicht unbedingt auch metrische Konsequenzen. Die Repräsentation des Verses in der Schrift folgt zu allererst Regeln des jeweiligen Schriftgebrauchs und nicht den Erfordernissen oder Erwartungen des modernen Metrikers. Der geringe Grad orthographischer Regulierung erlaubt z. B. die Schreibung unde oder und oder kunc und kunic. Sie wird vom Schreiber gewählt, oft offensichtlich unabhängig davon, ob der mündlich vorgetragene Vers an der entsprechenden Stelle eine oder zwei Silben erfordert. Der Schriftusus bestimmt in diesem Fall die graphische Gestalt des Verses, nicht das Bemühen, seine mündliche Wiedergabe im Vortrag genau zu lenken. Es muss keineswegs „metrische Unkenntnis“ des Schreibers, Unverständnis für die „metrische Form“ vorliegen.¹² Sie ist primär nicht die Sache des Schreibers, sondern des ausübenden Sängers; die Aufzeichnung folgt zuvörderst ihren eigenen schriftsprachlichen Regeln. Metrische Glättung könnte andererseits durchaus in manchen Fällen auch Grund der Variantenbildung gewesen sein. Metrische Differenzen scheinen in den Ad-libitumBereich gehört zu haben, d. h. viele Schreiber achteten nicht durchweg darauf, ob die Zahl der Hebungen oder Zahl der Silben ‚korrekt‘ waren. Dass sie im Allgemeinen auf die genaue metrische Gestalt in der Schriftform des vorliegenden Textes wenig oder keine Rücksicht nahmen, deutet darauf hin, dass sie auf die ‚richtige‘ Realisation des Verses auf Grund des Schriftbildes im Vortrag oder auch bei der Lektüre vertrauten. Jedenfalls ist kaum anzunehmen, dass man von der schriftlichen Aufzeichnung alle für den Vortrag relevanten Angaben erwartete. Die wurden eher eingeübt, und ein routinierter Sänger verfügte über sie auch ohne Schrift. Die Erwartung, dass die Schrift den Rhythmus des poetischen Gebildes exakt wiedergeben muss, ist eine extrem neuzeitliche und dem Vortrag des Sängers unangemessen.¹³ Wenn die Überlieferungsform auch die Schrift wurde, die Praxis mündlichen Vortrags war eine andere. Das Verhältnis von Schriftgestalt und Lautgestalt, von dem, was man lesen, und von dem, was man hören kann, ist locker. Es ist keineswegs evident, dass eine bestimmte Zeitdauer durch eine bestimmte Silbenzahl repräsentiert werden muss. Wenn in der Vortragspraxis klar ist, dass nur bestimmte Silben eine beschwerte Hebung tragen und dass nur bestimmte Silben eine zweisilbig volle Kadenz bilden können, so muss, was praktisch eingeübt war und im Vortrag eingehalten wurde, nicht auch schriftsprachlich kodifiziert worden sein. Performanz und Schriftusus können sich in der Rezeptionsgeschichte entkoppeln. Apokopen und Synkopen erscheinen in der Schrift ohne Rücksicht auf metrische Erfordernisse. Wenn ein Wort semantisch passt, kann es ein anderes ersetzen, auch wenn eine kurze an die Stelle einer langen Silbe tritt. Das lässt sich besonders dort zeigen, wo sich das Schriftsystem von dem Schriftsystem zur Zeit der Entstehung und frühen Aufzeichnung des Nibelungenliedes entfernt hat. Wenn Fr. l Doppelkonsonanz nach
Wackernagel 1866, S. 32; dort die Beispiele. Der erste Teil der Hs. a, wo keinerlei Verständnis für die rhythmische Struktur zu erkennen ist (Hennig 1972, S. 120), setzt ganz auf die Dominanz des Textinhalts.
Anpassungen der Schrift
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Kurzvokal in offener Tonsilbe einführt (geritten und vermitt[en] statt geriten/vermiten; l 1421,1– 2), dann verwandelt die Handschrift damit nicht eine zweisilbig stumpfe Kadenz, wie sie am Versausgang zu erwarten ist, durch die Schrift in eine klingende, sondern die für die Metrik notwendige Prosodie bleibt dieselbe, wird jetzt nur anders geschrieben. Wenn l bei einer Ad-libitum-Variante im ersten Halbvers uf gespannen (A 1569,4; ~ b) durch uf geschlagen (l 1626,4) ersetzt, dann muss das nicht voraussetzen, dass der Schreiber bei geschlagen in seiner Mundart schon Dehnung in offener Tonsilbe voraussetzt. Wahrscheinlicher ist es, dass er die Quantität der Silben nicht berücksichtigt. Zunächst gibt es den Vortrag und eine ungefähre Vorstellung davon, wie er klingen muss. Jeder, der eine Nibelungenstrophe vorträgt, muss eine solche Vorstellung erfüllen. Bei der Aufzeichnung wird sie in unterschiedlicher Weise wiedergegeben. Die überlieferten Handschriften sind Zeugen, dass die einzelnen Kopisten sich einen verschiedenen Reim auf die Darstellung in der Schrift machten. Für den Vortrag ist das ohne Belang, denn das Wissen um die ‚richtige‘ Dauer des Verses besteht fort, solange der Text wesentlich im Vortrag lebt.
Anpassungen der Schrift Allerdings beginnt sich, parallel zu anderen Gattungen, auch in der Schrift das Bemühen um genauere Aufzeichnungen durchzusetzen. Schon in den frühsten Handschriften gibt es Beispiele für den Versuch, die metrische Gestalt des Verses auch in der Schrift genauer wiederzugeben. Aber erst wenn das Nibelungenlied vornehmlich Schriftgebilde ist – wie dann endgültig für die moderne Philologie seit dem 19. Jahrhundert – gibt es das Bedürfnis, auch in der Aufzeichnung die geforderte Versstruktur zu spiegeln. Erst dann wird die korrekte Erfüllung des Strophenschemas zum textkritischen Argument. Die Betrachtung der Metrik steht nach wie vor unter dem Eindruck der Erwartungen des 19. Jahrhunderts. Die Notation akustischer Phänomene, nicht nur von Musik, hinkt aber weit hinter der Verschriftlichung von Texten hinterher. Vollständige Anweisungen für sämtliche Parameter des musikalischen Vortrags ist, wie man Sinfoniepartituren zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert ablesen kann, ein recht junges Phänomen. In einer oralen Kultur wurde richtiges singen und sagen nicht durch theoretische Anweisung erlernt, sondern durch Praxis, in die man hineinwachsen musste. Die Aufzeichnung bleibt ein Notbehelf, der sicherstellt, dass der Text als Text unabhängig vom Gedächtnis gespeichert wird. Dass der Text von Einzelnen häufig memoriert wurde – der Fall, den man meist für die Weitergabe des Nibelungenliedes ansetzt¹⁴ –, lässt übersehen, dass das Memorieren des Einzelnen durch eine kollektive Praxis normiert wurde.
So vor allem in den Arbeiten von Haferland.
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Schon die Hss. A und B belegen Bemühungen, Schrift und Vortrag einander anzunähern und etwa die geforderte Hebungszahl auch in der Schrift zu repräsentieren. Variierende Füllung des Verses kann auf die Wahrnehmung eines offensichtlichen metrischen Defektes hinweisen. Manchmal sucht Hs. A die Hebungszahl des vierten Verses zu komplettieren, manchmal B: A 1269,4 (da wart vil schon gedienet) der schónen kúnigìnne sìd steht gegen B 1326,4 der kúnigìnne síd; A1364,4 oúch ir beíder kínt (so auch M) steht gegen B 1421,4 und oúch ir beíder liébez chint. Eine Strophe aus der Erzählung von Kriemhilds Reise zu Etzel endet in B mit einem deutlich unterfüllten 4. Vers; sie lautet: guote herberge gap man den gesten sint (B 1294,4). Die übrigen Handschriften haben eine zusätzliche Hebung, aber jede eine andere: Man gab eine Herberge den gesten allen (A 1237,4); den edeln gesten (C 1323,4; ~ D); den lieben gesten (Jdh); da den gesten (b). Offenbar wurde eine Hebung vermisst; die notwendige Silbe konnte in diesem Fall also spontan und variant ergänzt werden. Es gab keine Vorgaben, weshalb die Handschriften untereinander differieren (allen, edeln, lieben, da); sie nutzen gewissermaßen den Ad-libitum-Bestand aus (Füllwörter, Epitheta), um einen halbwegs überzeugenden Text zustande zu bringen. Solche Stellen belegen, dass sich auch in der Schrift Regelmäßigkeit der Strophenform durchzusetzen beginnt. Manchmal wird ein Takt eingeschoben, um die vorgesehene Hebungszahl zu erreichen. Das ist notwendig bei Eingriffen in den Strophenbestand. Die Str. B 108 ist in J in zwei Strophen aufgeteilt (J 108 und J 108 A). Die beiden Strophen sind aus Elementen der Str. B 107 und 108 plus weiterem Füllmaterial zusammengesetzt. Dabei gerät der verlängerte Schlussvers B 107,4 an die Spitze der neuen Str. J 108. In dieser Position ist er zu lang. Folglich wird er um eine Silbe, das Füllwort ouch, verkürzt. Umgekehrt gerät der zweite Vers der ursprünglichen Str. 108 (B 108,2) ans Ende der neuen Strophe 108 (= J 108,4). In dieser Position muss er durch Einfügen eines Taktes (bediu) auf die notwendige (viertaktige) Länge gebracht werden. So hat sich der Schreiber aus dem überlieferten Material korrekte Nibelungenstrophen geschaffen. Hier scheint der Maßstab schon die Schrift. In Fr. Q sind der dritte und vierte Vers von Strophe 701 gegenüber der sonstigen *JGruppe vertauscht. In einer korrekten Nibelungenstrophe müssen diese Verse in ihrer Länge unterschieden sein. Siegmund spricht von Kriemhilds Krönung: J 701,3 – 4 des muͤ zzen sin getiuret wol diu erbe min | sifrit der edel sol hie selb kunic sin. Der ursprünglich vierte Vers, ohnehin recht kurz und mit beschwerter Hebung zu lesen, fügt sich an die neue Stelle als dritter Vers der Strophe (Q 701,3) gut ein; der neue Schlussvers (Q 701,4) (in J der dritte Vers) muss verlängert werden; deshalb wird gegenüber J mein leut eingeschoben (J 701,3 des muͦ zzen sin getiuret wol diu erbe min gegen Q 701,4 des muͤ zzen sein geteuret mein leut und auch die erben mein). Dem Kopisten vom Anfang des 14. Jahrhunderts scheint schon ein schriftsprachliches Modell der Nibelungenstrophe vor Augen gestanden zu haben, das den Eingriff erklärt. Es ist schon vorher möglich, dass einige Schreiber (bzw. die Verfasser ihrer Vorlage) genauere Vorstellungen von der schriftlichen Form einer ‚richtigen‘ Nibelungenstrophe gehabt haben. Ein Ziel der Bearbeitung C scheint die metrische Glättung gewesen zu sein. An Versen, die Hs. C mit *B teilt, hat Schmid eine leichte Tendenz zur Alternation
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und Vermeidung beschwerter Hebungen durch Einfügen von Flickwörtern, Umstellung von Versteilen und bewussten Ersatz metrischer Unregelmäßigkeiten nachgewiesen.¹⁵ Die Bearbeitung *C könnte die Formidee der Nibelungenstrophe schriftsprachlich präzisiert haben. Solche Bemühungen lassen sich auch in einigen not-Handschriften feststellen. Während beim Überblick über die Handschriften und Fragmente insgesamt die Tendenzen zu regelmäßigerem Versbau und vor allem zu klarerer Abgrenzung der Verse 1– 3 vom Schlussvers von gegenteiligen Tendenzen aufgehoben werden, gibt es dort, wo die Versfolge verändert ist oder wo Verse aus ihrer Position im Strophengefüge heraustreten, häufig Versuche, ihre Gestalt an die neue Position anzupassen. Was beim mündlichen Vortrag leicht ausgeglichen werden konnte, das hinterlässt jetzt Spuren in der schriftlichen Aufzeichnung. Die Vorstellung von einer Nibelungenstrophe scheint sich auch schriftsprachlich zunehmend verfestigt zu haben. Das belegt das späte Fragment l, das zur *J-Gruppe gezählt wird.¹⁶ Dort ist auf foll. 8rr 9 in den Strophen l 115 – 138 (nach Koflers Zählung Str. l 1605 – 1632) die Vers- und Strophenordnung durcheinander geraten:¹⁷ Die meisten Strophen von l beginnen mit dem dritten Vers der entsprechenden Strophe in den übrigen not-Handschriften.¹⁸ Fol. 8r setzt nach einer längeren Textlücke in Str. l 115 mit einem Buchstabenrest ein, der zu Str. B 1606,3 der not-Fassung stimmt, in l aber den ersten Vers der Strophe bildet (l 115,1 = B 1606,3); l 115,2 entspricht dann B 1606,4.¹⁹ Abb. 7 stellt den verschobenen, teils verkürzten, teils ergänzten Text dar. Ich gebe im Folgenden zur Illustration noch einmal eine Übersicht über die Verschiebungen (vgl. Abb. 7, die Verschiebungen, Ausfall und Zusatz von Versen enthält): Die Str. l 115 – 138 entsprechen den Str. B 1605,3 – 1632,2. Der Strophenbeginn ist jeweils um zwei Verse verschoben. Am Anfang der Textpassage im Fragment bilden B 1605,3– 4 und B 1606,1– 2 die Strophe l 115. Das geht bis Str. l 122, die aus B 1612,3 – 4 und B 1613,1– 2 zusammengesetzt ist. Dann sind gegenüber B zwei Verse „ohne Defekt“,²⁰ d. h. ohne eine mechanisch bedingte Lücke im Fragment, ausgelassen (B 1613,3 – 4),²¹ sodass l 123 mit dem ersten Vers der Str. B 1614 beginnt. Damit ist die richtige Strophenordnung wieder erreicht: B 1614,1 = l 123,1; l 123 beginnt auf fol. 8r unten und wird auf fol.v oben mit B 1614,3– 4 (= l 123,3 – 4) fortgesetzt.²² Doch dann ergibt sich erneut eine Störung. Die nächste, mit Initialen gezeichnete Strophe (l 124) setzt nicht, wie jetzt eigentlich möglich, mit dem richtigen Strophenbeginn (B 1615,1) ein, sondern mit 1615,3 – 4
Schmid 2018, S. 159 – 161. Ich habe auf diesen Sonderfall schon in Müller 2020, S. 370 hingewiesen. Ich beschreibe ihn im Folgenden ausführlicher, wobei es notwendig ist, einige der seinerzeit gemachten Beobachtungen zu wiederholen. Hier ist es ausnahmsweise notwendig, die interne Strophenzählung des Fragments anzuführen. Sie basiert auf den eigenen Transkriptionen. Kofler 2020, S. 194– 195 (auch für die folgende Beschreibung). Wegen der Textlücke in J kann erst ab Str. l 131 (= Kofler l 1625,3) das Fragment wieder mit J verglichen werden; bis dahin wird der Text nach B zitiert, von da an nach J. Kofler 2020, S. 193; vgl. S. 193 – 195. Die ausgelassenen Verse sprechen davon, dass die Tronjer die Bayern verfolgen; sie sind für die Erzählung von der Flucht der Bayern zur Not entbehrlich. Str. l 123 ist leider am Blattende verstümmelt; B 1614,2 (= l 123,2) fehlt.
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Abb. 7: Universitätsbibliothek Basel, N I 1 99a, 9r. Letzte Seite mit verschobener Strophenzählung in l; links Strophenzählung nach l, rechts nach B; die Verse l 133,3 – 4 und l 138,3 – 4 sind hinzugedichtet.
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(= l 124,1– 2). Die Verse B 1615,1– 2 fehlen also – wieder „ohne Defekt“ –,²³ sodass die Verschiebung erneut eintritt. Diese erneute Verschiebung der Strophengrenze geht zunächst bis B 1617,3 – 4 (= l 126,1– 2). Den Rest dieser Strophe (l 126,3 – 4) bilden aber nicht B 1618,1– 2, sondern erst B 1621,1– 2. Die Strophe ist also aus B 1617,3 – 4 und B 1621,1– 2 zusammengesetzt, dagegen sind Str. B 1618,1– 1620,4 – wieder „ohne Defekt“ – übersprungen; drei Strophen fehlen also in l.²⁴ Diese Verschiebung ist, was den Strophenbeginn betrifft, neutral; insofern setzt sich die Störung – die verschobene Strophengrenze – fort. So geht es weiter mit l 127 (= B 1621,3 – 4) bis l 133 (= B 1627,3 – 4). Dann aber sind nach l 133,1– 2 (= BJ 1627,3 – 4) zwei neue, formelhafte, sonst nirgends überlieferte Verse eingeschoben,²⁵ sodass mit l 134 (= BJ 1628) die richtige Strophenordnung erneut erreicht ist und der Strophenbeginn wieder mit der restlichen Überlieferung übereinstimmt. Doch schon in Str. l 136 (= BJ 1630) geht die Übereinstimmung wieder verloren, indem l 136 nicht mit BJ 1630,1 beginnt, sondern mit BJ 1630,3. Die ersten beiden Verse dieser Strophe (BJ 1630) fehlen; die Strophe l 136 ist folglich aus BJ 1630,3 – 4 und BJ 1631,1– 2 zusammengesetzt. Das wird jedoch nach zwei Strophen erneut korrigiert, indem in l 138 nach l 138,1– 2 (= BJ 1632, 3 – 4) zwei neue, sonst nirgends überlieferte Verse eingeschoben werden (Abb. 7), sodass ab Str. 139 (= BJ 1633), d. h. am Ende von fol. 9r, die Ordnung wieder stimmt. Dabei bleibt es im Rest des Fragments.
Diese mehrfache Störung und Korrektur ist aufschlussreich für die Auffassung der Nibelungenstrophe. Die Störung betrifft anderthalb Blätter des Fragments, nämlich fol. 8r – 9r). Ab fol. 9r, drittletzte Zeile, und dann auf dem gesamten Abschluss der Episode auf fol. 9v ist die Ordnung wiederhergestellt. Da das Fragment l Strophen und Verse absetzt und der Strophenbeginn mit einer großen, nicht ganz zweizeiligen, roten Majuskel ausgezeichnet ist, wird die Störung sofort sichtbar. Wie und an welcher Stelle dieser Fehler passierte, ist nicht mehr rekonstruierbar, da das Fragment eine Lücke zwischen Str. B 1558,2 und Str. B 1605,4 hat, in der er aufgetreten sein muss. Vermutlich war die Vorlage defekt, oder vielleicht irrte der Schreiber sich auch und übersprang zwei Verse bei der Übertragung. Die Abweichung müsste die Strophenstruktur empfindlich stören, indem der idealiter einen Takt mehr enthaltende vierte Vers an die Stelle des kürzeren zweiten rückt, der kürzere zweite aber den längeren Schlussvers ersetzen soll. Auf diese Störung hat l reagiert. Es besteht nämlich die Tendenz, den (ursprünglich) vierten Vers an seiner neuen Position etwas abzukürzen und den (ursprünglich) zweiten Vers entsprechend seiner neuen Position zu verlängern. Das geschieht nicht immer, manchmal nur durch ganz unscheinbare Varianten, aber doch hinreichend oft, um dahinter eine Absicht zu vermuten.
Die Verse erzählen die Rückkehr von der Verfolgung der Bayern, zu der Dankwart l 123,3– 4 (= B 1614,3 – 4) aufgerufen hatte, und leiten eine Rede Hagens ein. Die Fortsetzung dieser Rede in l 124,1 (= 1615,3, betreffend die Frage nach den erlittenen Verlusten) muss durch die Auslassung der zwei Verse B 1615,1– 2 Dankwart zugeschrieben werden. Die Lücke ist nicht ungeschickt: l 126,2 (= B 1617,4) schließt mit Hagens Rat, die Könige nicht von dem Kampf mit den Bayern zu unterrichten; l 126,3 (= B 1621,1) erzählt, dass das gelingt; es fehlen die besorgten Überlegungen der Burgonden, wo sie ausruhen können (B 1618,1– 1620,4); sie sind entbehrlich. Die Söhne Utes reiten in Rüdigers Land; man drängt sich, sie zu sehen.
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Gleich in l 116,2 ist im (ursprünglich zweiten) Vers das Verbs striten (B 1606,4) durch das Substantiv strit ersetzt, sodass der Vers nicht länger ist als sonst ein zweiter Vers (ähnlich l 118,2 ~ B 1608,4). Umgekehrt wird l 117,4 (~ B 1608,2) durch ein eingeschobenes baide auf die für den Schlussvers einer Strophe vorgeschriebene Länge gebracht. In vielen Versen ist allerdings auch der Vers aus der Vorlage übernommen, d. h. weder verkürzt (die ehemaligen Schlussverse) noch verlängert (die neuen Schlussverse).²⁶ Vertreter einer strengen Metrik dürften sich streiten, ob die teils recht unscheinbaren Verkürzungen oder Verlängerungen einen metrisch korrekten Vers herstellen. Aber es kommt allein auf die Tendenz an – und die ist mit Händen zu greifen. Evident ist sie, wenn im neuen Schlussvers ein Wort eingefügt wird²⁷ oder im ehemaligen Schlussvers ein Wort gestrichen.²⁸ Manchmal ist die Flexion verändert,²⁹ manchmal eine Präposition ausgetauscht,³⁰ manchmal ein Füllwort wie da eingefügt oder gestrichen,³¹ ein Ausruf,³² eine Konjunktion oder ein Artikel weggelassen,³³ die Wortform verkürzt.³⁴ Der Text wird präzisiert, manchmal um ein Detail angereichert,³⁵ aber die Aussage wird dadurch nicht verändert.
Dem Schreiber war die Diskrepanz offenbar bewusst, denn er hat noch mit anderen Mitteln die Strophen korrigiert. Der erste Korrekturversuch lässt Verse aus (B 1613,3 – 4), doch weil im Anschluss daran weitere Verse fehlen, ist die Ordnung gleich wieder gestört. Ein weiterer Korrekturversuch, diesmal durch Zudichten zweier Verse, erfolgt l 133. Folglich stimmen die Strophenanfänge in den nächsten beiden Strophen l 134 und l 135 wieder mit BJ überein. Doch dann fehlen wieder zwei Verse. Die neue Störung ab l 136 durch Auslassen der Verse BJ 1630,1– 2 dauert von l 136 – 138. Am Ende der Strophe 138 werden als 138,3 – 4 wieder zwei Verse eingeschoben, die BJ nicht haben. Infolgedessen stimmen ab l 139 (= BJ 1633) die Strophenanfänge wieder überein. Zweimal fügt er also zwei neuen Verse ein, um die Ordnung wiederherzustellen, zweimal übergeht er einige Verse. Doch mehrmals verheddert er sich erneut. Die hinzugedichteten Verse sind korrekt gebaut, d. h. mit verlängertem vierten Vers. Doch muss der Kopist im ganzen Passus gemerkt haben, dass seine Strophen dem korrekten Strophenmodell nicht entsprachen, und er hat versucht, diese Diskrepanz durch kleine redaktionelle Eingriffe abzumildern. Die metrischen Lizenzen, die das Strophenmodell zuließ, erlaubten, dass er sich mit minimalen Korrekturversuchen begnügen konnte. Es drängt sich der Eindruck auf, dass es noch im Spätmittelalter – wenn auch verschwommene – Vorstellungen von einer ‚richtigen‘ Nibelungenstrophe gegeben hat, die freilich erhebliche Schwankungen zuließ. Lediglich am Anfang von Hs. a scheinen sie nicht im Hintergrund zu stehen. Selbst in relativ späten Handschriften, wie sie
So l 120,2 (~ B 1610,4); l 126,2 (~ B 1617,4) bzw. l 115,4 (~ B 1606,2); l 118,4 (~ B 1609,2). l 117,4 baide (~ B 1607,2); l 121,4 tot (~ B 1612,2); l 122 (~ B 1613,2) harte; l 125,4 (~ B 1617,2) hie. l 115,2 fehlt vil (~ B 1605,4); l 119,2 fehlt chuͤ n (~ B 1609,4); l 125,2 fehlt truͤ be und (~ B 1616,4); l 132,2 fehlt bediu (~ JB 1626,2). l 120,4 toter gegen tot (B 1611,2). l 117,2 an gelferaten gegen wider (B 1607,4). l 116,4 gegen B 1607,2; l 125,4 gegen B 1617,2. l 132,2 hey gegen JB 1626,2. l 118,2 gegen B 1609,4; l 122,2 gegen B 1612,4. l 121,2 schaedlich gegen schedeliche (B 1611,4). l 121,4 beliben tot gegen beliben (B 1612,2); l 136,4 sehs pougen von golde rot gegen sehs boug rot (JB 1631,2).
Komposition und Kohäsion
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Fragment l repräsentiert, bemühte man sich, ihnen gerecht zu werden. Hier ist allerdings der Grad der Verschriftlichung schon so weit fortgeschritten, dass der Schreiber sich nicht mit der Wiedergabe des vorgefundenen Textes begnügt und sich darauf verlässt, dass der Vortragende schon das richtige Zeitmaß für die zweiten bzw. vierten Verse kennt. Deshalb greift er ein; er möchte ‚richtige‘ Nibelungenstrophen auch in der Schrift abbilden. An der Metrik ist die Symbiose von Schriftlichkeit und Mündlichkeit bei der Aufzeichnung des Nibelungenliedes abzulesen: Eine implizit ‚gewusste‘ Vorstellung von der mündlich realisierten, akustisch wahrnehmbaren Gestalt einer Nibelungenstrophe und ein schriftlich fixierter Text, der sie füllen soll, wirken zusammen. Das Wissen muss nicht explizit werden und sich in der Gestalt des Textes ausdrücken. In dem späten Fragment l dagegen besteht der Anspruch, dass der geschriebene Text die zu sprechenden Verse silbengetreu abbilden. Der Versbau soll auch im geschriebenen Text durchweg zu erkennen sein.
Komposition und Kohäsion Für das Nibelungenlied ist zweitens die überlegte Komposition festgelegt, die auf präziser Kohäsion der Ereignisfolge basiert. Sie kann ergänzt und gekürzt, aber nicht verändert werden. Das Epos hat ein zwar nicht wahrscheinliches, aber exakt angegebenes Zeitgerüst. Vor allem im ersten Teil wird die Zeit zwischen zeitlich weit auseinander liegenden Episoden durch umfangreiche Einschübe aufgefüllt, um Kohäsion herzustellen. Das Nibelungenlied verknüpft bekanntlich zwei ursprünglich getrennte Sagenkomplexe: einmal die Geschichte Siegfrieds, Brünhilds und Kriemhilds und der Ermordung Siegfrieds, zum anderen die Geschichte des Burgondenuntergangs. Die Zweiteilung ist noch deutlich zu erkennen, nach der 19. Aventiure. Die Fortsetzung in der 20. setzt in allen Handschriften mit der schwächsten aller Verknüpfungsformeln ein, der Gleichzeitigkeit: Daz was in einen citen do […] (B 1140,1). Die Brautwerbung Etzels stellt einen schlüssigen Zusammenhang zwischen den Erzählblöcken her. Die beiden Teile sind, was die Strophen- und Aventiurenzahl betrifft, annähernd gleich lang, der Raum also annähernd symmetrisch auf das Verbrechen und die Rache dafür verteilt. Das Bild der Figuren verschiebt sich im Verlauf der Handlung etwas, es bleibt in der not-Fassung ambivalent, wird in der liet-Fassung z.T. (aber nicht vollständig) korrigiert, doch erst in der ‚Klage‘ im Sinne einer christlichen Weltdeutung vereinheitlicht. Doch treten keine manifesten Widersprüche auf. Hagen, Gunther und zuletzt selbst Gernot und Giselher handeln schon bis Ende der 19. Aventiure so, dass sie zum Ziel der Rache werden, und Kriemhild ist seit der Hochzeit mit Siegfried die machtbewusste Königin. Vor allem die 19. Aventiure hat die Aufgabe die beiden Teile zu verklammern. Sie schließt einerseits die Siegfriedhandlung ab, erzählt von Kriemhilds Trauer als Witwe, nahe dem Grab ihres Mannes, dem Einvernehmen mit den jüngeren Brüdern und der Mutter; sie erklärt das Verbrechen durch eine (unvollkommene) suone für gesühnt und
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schafft Siegfrieds Erbe nach Worms. Gleichzeitig bereitet die 19. Aventiure das Künftige vor. Sie steigert noch die Erniedrigung Kriemhilds durch den Raub des Hortes, ebenso wie die Aggressivität Hagens, lässt den Versuch, Recht wiederherzustellen, als scheinheilige Farce erscheinen und rückt das Verhalten der Könige, jetzt auch Gernots und Giselhers, ins Zwielicht; sie häuft die Gründe für die Rache. Dieser dichte Motivationszusammenhang überbrückt die Zäsur. Der Mechanismus von Verbrechen und Rache greift unbarmherzig. Alle Versuche, ihn zu unterbrechen, scheitern. Zwar mag dem modernen Leser manche Motivation nicht zureichend vorkommen, manche Erzählung lückenhaft. Deutlich ist aber insgesamt das Bemühen um Schlüssigkeit. Der Erzähler will durch einen Leitgedanken zusätzlich die beiden Teile zusammenhalten. Die Formel, dass Liebe in Leid umschlägt, mit der Kriemhild die Rede der Mutter über die künftige Liebe zu einem Mann zurückweist, kehrt in dem überall ähnlich lautenden Schlussvers der vorletzten (*C: drittletzten) Strophe wieder: als ie diu liebe leide zaller iungeste git (B 2375,4). In der Ermordung Siegfrieds und der grausamen Rache für ihn hat sich der Satz erfüllt. Mit diesem Satz schließt das Nibelungenlied an den zeitgenössischen Minnediskurs an. Diese Klammer ist der heroischen Fabel, der Sagengeschichte des Nibelungenuntergangs, zunächst fremd. Das Nibelungenlied wurde von Anfang an als ‚Werk‘ betrachtet, so wie die ‚Ilias‘ ein bestimmter Text war. Anfang und Ende sind klar markiert. Selbst wenn man glaubt, die Programmstrophe sei erst nachträglich unter Einfluss von *C dem Epos hinzugefügt worden, so setzt das Nibelungenlied doch mit einer für heroische Epik typischen Eingangsformel³⁶ ein: Ez wuͦ hs in Burgonden ein schoͤ ne magedin (A 2,1; ~ CDJd). Die Eingangsformel wird von allen Handschriften wiederholt, wenn der zweite Protagonist, Siegfried, vorgestellt wird. Schon dieses doppelte ‚Portal‘ weist auf kompositorisch kalkulierte Ausgestaltung des Epenbeginns. Siegfrieds und Kriemhilds Geschichte werden exakt miteinander verfugt. Der Ez-wuohs-Formel, mit der der Erzähler ‚irgendwo‘ in der Vergangenheit einen Anfangspunkt setzt, der die Kriemhild-Handlung (1. Aventiure) und die Siegfried-Handlung (2. Aventiure) eröffnet, geht durch die Programmstrophe in einem Teil der Überlieferung eine noch ausdrücklichere Markierung des Anfangs voraus, die den Ort des Folgenden bestimmt: Uns ist in alten mæren wunders vil geseit (A 1,1). Der Erzähler hebt nicht einfach zu erzählen an, sondern sagt, dass er beginnt. Die klare Markierung der Werkgrenze erstens durch die Programmstrophe und zweitens die Eingangsformel heroischer Epik entspricht dem Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit. Ein Sängervortrag konnte einfach beginnen und enden. In der Schrift wird ausdrücklich ein Anfangs- und ein Schlusspunkt gesetzt. Das ist Signum der Buchmäßigkeit. Die Programmstrophe dürfte bei der schriftlichen Aufzeichnung (und nicht notwendig erst in der Bearbeitung *C) dem Epos vorangestellt worden sein.³⁷ Sie
Müller 1998, S. 105 – 107. Vgl. S. 243 – 244.
Komposition und Kohäsion
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ist Pendant zu dem – der gesamten Überlieferung gemeinsamen – Setzen eines Schlusspunktes, wie es ein schriftsprachlicher Text erfordert. Alle Handschriften zeigen auf ein abgeschlossenes Werk; es gibt nichts weiter zu erzählen: Ich enchan iu niht bescheiden waz sider da geschach (A 2316,1; ~ BCDJabhY). Alle nennen am Schluss den Titel der Dichtung. Im not-Text sagt der Dichter: hie hat das mer ein ende ditze ist der Nyblunge not (A 2316,4; ~ BDb). Die Hs. b aus dem 15. Jahrhundert fügt dem Werktitel nach Str. 2376 noch einen Hinweis auf den Inhalt des mære an: Hie hat der streit ain ende. In C ist der Schluss auf zwei Strophen verteilt, in denen beide Male der Erzähler spricht (ich): Zunächst erzählt er vom Leid der Überlebenden in einer eigenen Strophe; dann sagt er, nach dieser not wolle er nicht weitersprechen; hie hat daz maere ein ende daz ist der Nibelunge liet (C 2439,4). Er belegt das Werk ausdrücklich mit einem Gattungsnamen wie das ‚Alexanderlied‘ oder das ‚Rolandslied‘.³⁸ Dass Gattungsbezeichnung und Werktitel kombiniert werden konnten, zeigt J 2376, 4 (~ Y): hie hat daz liet ain ende daz ist der Nibelunge not. Eine eindeutige Werkbezeichnung findet sich selbst in der Bearbeitung k: Hie hat auch gar ein ende der Nibelunger liet (k 2442,4). Die Erzählung ist außerdem zeitlich genau durchstrukturiert. Das Zeitgerüst nimmt zwar wenig Rücksicht auf Wahrscheinlichkeit (Kriemhilds Alter, der ewig junge Giselher usw.), aber die Abschnitte der Erzählung sind zeitlich exakt markiert, und die einzelnen Episoden werden zeitlich genau relationiert. Die Handlung umfasst im ersten Teil längere Zeitabschnitte, im zweiten zuletzt wenige Tage, aber durchweg wird genau das zeitliche Nacheinander der Aktionen vermessen. Der Übergang zwischen Episoden ist besonders sorgfältig behandelt. Im ersten Teil ist viel Füllmaterial zwischen ihnen angehäuft. Die Bearbeitung *C vermehrt es noch, indem sie an den Episodengrenzen oft zusätzliche Strophen anlagert. Das Füllmaterial unterstreicht die Komposition. Gleich die Eingangsaventiuren zeigen, wie die zeitliche Ordnung durch kunstvolle Verschachtelung der scheinbar disparaten Themen überspielt wird. Übereinstimmend mit dem Minnediskurs, den das liebe-leit-Thema anschlägt, bewegen sich die beiden Eingangsaventiuren in der höfischen Welt, eingeleitet werden sie aber durch eine doppelte Gattungsansage heroischer Epik, indem erste und zweite Aventiure mit der für diese typischen Ez-wuohs-Formel einsetzen. Die Formel ist allerdings umbesetzt. Die Gattungsansage kündigt nicht einen Helden an, sondern ein junges Mädchen und einen höfisch erzogenen jungen Mann. Gattungsansage und (höfische) Erzählung stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Diese Spannung ist konstitutiv für den Eingang des Epos. Der Eingang ist durch den Parallelismus der Gattungsansage markiert. In den meisten Handschriften ist diese Doppelung auf zwei parallele Aventiuren verteilt. In einigen Handschriften (Jd) sind die beiden Aventiuren nicht durch eine Überschrift getrennt. Sie gehören, da sie die Protagonisten vorstellen, zusammen. Ein doppeltes Portal kündigt Heldenepisches an, setzt aber zunächst in einem ganz anderen, einem höfischen Kontext ein.
Zum Verhältnis von liet zum schriftliterarischen Terminus buoch Müller 2017, S. 106 – 135.
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Die eigentliche Handlung beginnt mit der 3. Aventiure, Siegfrieds Brautwerbung, ebenfalls einem konventionellen Erzählmuster,³⁹ das aber gleichfalls gegen das Erwartbare besetzt ist. Nicht der Held stößt bei der Sippe der Frau auf Widerstand, den er mit Stärke oder List überwinden muss, sondern er selbst provoziert eine gewaltsame Konfrontation mit den Verwandten Kriemhilds. Wie die Handlung eigentlich abzulaufen hätte, sagen die Befürchtungen der Eltern, wenn sie Siegfried von seinem Plan abzubringen suchen (B 48 – 57): die Brautwerbung ist für den Werber gefährlich. Hier ist es umgekehrt. Siegfried fordert, ohne sein Vorhaben der Werbung auch nur zu erwähnen, seinerseits den burgondischen Herrschaftsverband heraus. Es ist ein anderer, ein heroischer Siegfried, als der, den man bisher kennengelernt hat. Schon dieser Auftakt zeigt, wie souverän der Erzähler mit bekannten Gattungsmustern spielt. Der Parallelismus, die gegenläufige Verschlingung von Gattungsansage und Erzählgegenstand, das Spiel mit Gattungserwartungen und ihrer Enttäuschung zeigt, dass schon in den Eingangsaventiuren ein hoher Kompositionswillen am Werk ist, der sich fortsetzt, wenn die – vermutlich bekannte – Erzählung vom Drachentöter und Gewinner des Nibelungenhorts eingespielt wird. Das heroische Register, das die wuohsFormel angekündigt hatte, wird als Vorgeschichte erzählt, als erzählte Erzählung überdies, indem der Erzähler seine Rolle an Hagen abtritt. Die Erzählerrede wird durch eine Figurenrede ersetzt. Horterwerb und Drachenkampf waren in der Sage offenbar mit der Figur Siegfrieds verknüpft. In der Diegese des Nibelungenliedes erhalten sie einen untergeordneten Platz. Sie erscheinen als Zitat. Bereits in den drei Eingangsaventiuren sind also die Voraussetzungen des Geschehens kompliziert ineinander verschachtelt. Hagens Erzählung ist nicht pflichtschuldiger Tribut an die Sagentradition, sondern konstitutiv für die Gestalt Siegfrieds. Die Herausforderung Gunthers zum Kampf ⁴⁰ verlängert die Vorgeschichte von heroischen Taten des jungen Siegfried in die Haupthandlung. In Worms tritt er zunächst als Provokateur auf. Am Ende der 3. Aventiure liegt eine zeitliche Zäsur von einem Jahr, während der Siegfried sich in den Wormser Hof einfügt. Es folgt ein kompletter Neuansatz (Nu nahten vremde mære, B 136,1), der erfolgreiche Sachsenkrieg, abgeschlossen in einem Friedensfest (4. und 5. Aventiure). Danach will Siegfried sich von Worms verabschieden, doch lässt er sich überreden, wegen der Liebe zu Kriemhild zu bleiben. Diese fünf Aventiuren bilden eine Einheit, weshalb sie in Jh zusammengefasst werden und dort erst danach mit einer Überschrift eine neue Episode angekündigt wird.⁴¹ Heroisches Handeln auf eigene Faust beim Horterwerb und Drachenkampf wird vom Kampf für die Gemeinschaft im Sachsenkrieg abgelöst. Nach der 5. Aventiure liegt eine weitere kompositorische Fuge. Umso mehr Aufmerksamkeit widmet der Erzähler der Verknüpfung. Die Fuge ist auch daran erkennbar, Zum Brautwerbungsschema Schulz 2012, S. 191– 203; zum Nibelungenlied S. 204– 207. Hierzu Müller 1974. In Hs. d beginnt schon mit dem Sachsenkrieg die Aventiure-Ordnung. Das ist insofern ebenfalls sinnvoll, als der Sachsenkrieg die erste, noch unproblematische Leistung Siegfrieds für Gunther ist.
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dass der Beginn der neuen Aventiure zwischen A einerseits und C und den übrigen notHandschriften andererseits differiert. Nach einer neuen Überschrift beginnt die 6. Aventiure in A Itiniwiu mære sich huͦ ben über Rin (A 324,1). Diese Strophe gehört in *C und der übrigen not-Überlieferung noch zur vorigen Aventiure. Die neue setzt nach einer Überschrift mit Ez was ein kuneginne gesezzen uber se (C 329,1; ~ B 324 et rell.) ein.⁴² Das ist die andere Formel, mit der der Beginn eines heroischen Epos markiert werden kann. Zeitangabe (es setzt etwas Neues ein) und Gattungsansage⁴³ sind also kombiniert. Mit Brünhild beginnt der Handlungsnexus, der in die Katastrophe führen wird. Außerdem wuchert der Text an dieser Stelle. In *C und *d lagern sich zusätzliche Strophen am Anfang dieser Aventiure an, die die der Brautwerbung um Brünhild vorausgehenden Beratungen weiter ausführen, zunächst C 328 (die noch zur voraufgehenden Aventiure gehört), dann C 332, dann C 335/336 und d 321– 323. Die Grenze zwischen den Aventiuren ist unsicher, und an der Grenze werden neue Strophen eingefügt. Die Doppelung der Überleitung, die Unsicherheit in der Markierung des Aventiurenbeginns und die Zusatzstrophen in *C und *d weisen zwar auf einen Einschnitt, aber zugleich auf das Bemühen, ihn unsichtbar zu machen.⁴⁴ Schwächer ausgeprägt ist die Verwischung der Aventiurengrenze am Beginn des eigentlichen Abenteuers, dem Wettkampf mit Brünhild (7. Aventiure), aber auch sie ist unsicher. Sie beginnt nach der Überschrift in C bereits mit Str. 391, schließt also das Gespräch Siegfrieds und Gunters ein, als sich das Schiff Isenstein nähert, Gunther die Burg sieht und Siegfried Instruktionen für das Verhalten dort gibt. In der not-Fassung fängt die Aventiure erst sechs (sieben) Strophen später an (A 377⁴⁵ = C 398) mit In der selben zite (~ DJbdh). Die Zeitangabe betont wieder die Kontinuität der Abläufe. Der Einschnitt wird in C zusätzlich überspielt, indem das Geschehen um Brünhild längst in Gang ist. Es kommt primär auf den Zusammenhang, nicht den Einschnitt an. Es ist also ein Anliegen, die epische Integration zu verstärken und alle Elemente in den Gesamtverlauf einzuschmelzen. Die Betrugsabenteuer um Brünhild reichen bis Aventiure 10: Die Werbung ist gelungen, doch die Grundlagen für die künftigen Konflikte sind gelegt. Sie deuten sich an, werden jedoch durch den zweiten Betrug Siegfrieds zuerst kalmiert. Die folgenden Aventiuren 11– 13 sind bloße Überleitungen zu der ersten großen Konfrontation und erzählen, wie Siegfried und Gunther ihre Herrschaft und ihre Dynastie befestigen und einen Sohn zeugen, wie die Vorbereitungen zu einer Zusammenkunft getroffen werden und wie sich ihr Einvernehmen dabei fortzusetzen scheint. Immerhin drei Aventiuren ohne eigenes episches Interesse, die nur den epischen Zusammenhang zwischen zwei Knotenpunkten des Geschehens herstellen. An diesen Passagen ist evident, dass nicht
Ich zitiere C, weil in B der Vers 324,1 verstümmelt ist; in B fehlt zwar, wie gewöhnlich, die Überschrift, doch auch hier ist dieser typische Epenanfang markiert, durch eine große Initiale. Zum anderen Typus des Epenbeginns Müller 1998, S. 105 – 107. Iteniuwe mære soll offenbar die was-gesezzen-Formel, die typischerweise einen Epenbeginn markiert, ersetzen. Sie setzt die Erzählung fort, markiert aber weniger deutlich einen Neubeginn. Der Vers B 387,1 ist verstümmelt.
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die Sagentradition den Fortgang der Erzählung bestimmt, sondern das kompositorische Bemühen des Erzählers um narrative Kohärenz. Die Handlung scheint stillgestellt bis zur nächsten Konfrontation im Königinnenstreit.Wieder wird die Erstreckung der epischen Zeit ausdrücklich begründet; die ‚leere‘ Expansion der Epenhandlung in den Aventiuren 11– 13 wird erklärt, der Abstand zwischen zwei Episoden überbrückt. Wieder sind am Ende dieser Überleitung, unmittelbar vor der nächsten Zäsur, in mehreren Handschriften zwei Strophen eingeschoben (C 821/ 822; J 810A+B; d 810A+B=806/807), die Brünhilds langes Warten (nur dies!)⁴⁶ auf eine Gelegenheit, um den Betrug aufzudecken, erzählen. Der nächste Einschnitt ist der Königinnenstreit (14. Aventiure): Vor einer vespercite huop sich groz umgemach (B 811,1), wieder eine Zeitangabe, die einen neuen Abschnitt einleitet, zugleich Fortsetzung der Intrige Brünhilds. Er umfasst die Mordintrige, die Jagd, Siegfrieds Tod, sein Begräbnis und den Abschied von Siegmund (14.–18. Aventiure). Die Aktionen folgen jetzt dicht auf dicht (An dem vierden morgen, B 874,1; do erbiten si der nahte, B 999,1; drier tage lanch, B 1069,1; eine anderthalbtägige Ohnmacht Kriemhilds und Siegmunds, Zusatzstrophen C 982/983). Die Epenzeit wird genau vermessen. Der Rückkehr Siegmunds (18. Aventiure) schließt die Siegfried-Handlung ab. Sie endet Prunhilt diu schoͤ ne mit uͤ bermuͤ te saz (B 1097,1): Zitat und zugleich Umkehrung der Einleitungsformel heroischer Epik. Leitete die was-gesezzen-Formel die Abenteuer um Siegfried und Brünhild ein, so schließt ihre Variante jetzt ab. Brünhild verschwindet aus der Erzählung.⁴⁷ Die 19. Aventiure ist, wie gesagt, Überleitung. In ihr laufen die Fäden zusammen. Die 19. Aventiure definiert endgültig das Verhältnis Kriemhilds zu Hagen und den burgondischen Königen. Sie schließt die Mordhandlung scheinbar ab, ist einerseits also Ende, andererseits schürzt die des Knoten für kommende Konflikte. Diese Schlüsselposition zeichnet *C durch acht Zusatzstrophen über Siegfrieds Grablege (C 1058 – 1065) aus. Die Episoden des ersten Teils sind eng miteinander verzahnt. Sollte es Heldenlieder, die einzelne Episoden besangen, gegeben haben, werden ihre Spuren verwischt, die Lücken zwischen ihnen durch lange Überleitungen überbrückt, die von einer narrativ unergiebigen, ‚leeren‘ Zeit erzählen. Gerade durch diese Überbrückungen emanzipiert sich das Epos von der Sage. Das hat die Nibelungenforschung des 19. Jahrhunderts mit ihrer Suche nach dem ‚Urgestein‘ klar gesehen. Der zweite Teil erzählt eine dichtere Handlungsfolge. Kohärenz bedarf solcher Überbrückungen zuletzt nicht mehr. Unverkennbar ist aber der Erzähler auch hier um epische Einheit bemüht, unverkennbar der Versuch, einen und nur einen schlüssigen Zusammenhang zu erzählen. Die 20. Aventiure kündigt neu eine Parallelhandlung an: Daz was in einen citen do vrou Helche erstarp (B 1140), die über Etzels Werbung und Kriemhilds Zug ins Hun Sus warte si der wile als ez der tiufel riet (C 822,1). Symptomatisch ist der Versuch der hunnischen Boten, Brünhild zu sehen, der erst verschoben, dann ohne Angabe von Gründen unmöglich ist (1482– 1483): Ein scheinbar überflüssiger Schlenker (in der gesamten Überlieferung!), der nichts anderes sagt, als dass Brünhild mit der Epenhandlung nichts mehr zu tun hat.
Komposition und Kohäsion
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nenland (22. Aventiure) reicht. Drei Aventiuren mit Botschaften, Reisen, Empfängen, der die von Kriemhilds Wiederaufstieg erzählen, die aber mit dem Kernkonflikt nur locker verbunden sind. Die 23. Aventiure setzt wieder nach einer ‚leeren‘ zeitlichen Pause ein. Sieben Jahre hat Kriemhild Zeit, ihre Stellung bei den Hunnen zu festigen. Dann kann sie daran gehen, durch die Einladung an die Verwandten ihre Rache zu betreiben. Es folgen die Einladung (do Ecel zu dem Rine sine boten sande, B 1419,1), deren Annahme und die Fahrt zu Etzel (24.–27. Aventiure). In der 28. Aventiure kommen die Burgonden an Etzels Hof an: Do di Buͤ rgonden chomen in Eceln lant (B 1715,1). Jetzt folgt Schlag auf Schlag. Die mühsame Unterdrückung der Feindseligkeiten hat ein Ende mit dem Überfall Blödelins (32. Aventiure) und dem Ausbruch des Kampfes im Saal (33. Aventiure); weitere Kämpfe, vergebliche Verhandlungen (33.–36. Aventiure), Rüdigers Tod (37. Aventiure), der Untergang der Amelungen (38. Aventiure), der Endkampf mit Dietrich von Bern und der Tod Gunthers, Hagens und Kriemhild (39. Aventiure). Während im ersten Teil noch größere Erzählblöcke sich deutlich voneinander abheben, hängen die Ereignisse des zweiten Teils eng miteinander zusammen. Zäsuren sind häufig in das Innere von Aventiuren verlegt. Der den Vorbereitungen zum Festmahl folgende Vers Do der strit niht anders chunde sin erhaben (B 1909,1), der einen entscheidenden Wendepunkt der Handlung markiert, in dem die latenten Feindseligkeiten blutig eskalieren, steht mitten in der 31. Aventiure. Von da an schreitet die Vernichtung unaufhaltsam fort; Zeitangaben, die es nach wie vor gibt, sind diesem raptus äußerlich. Zäsuren der Handlung fallen nicht mehr unbedingt mit Aventiuregrenzen zusammen (Übergang von der 35. zur 36. Aventiure). Zeitangaben markieren nicht mehr Episoden. Die Angabe: Ceinen sunewenden daz groze mort geschach (B 2083,1) steht mitten in der 36. Aventiure. Auch der Beginn des neuen Tages fällt in das Kapitel. Die Kämpfe Rüdigers, der Amelungen und Dietrichs von Bern sind zwar auf eigene Kapitel verteilt (37.–39. Aventiure), aber sie sind einem lückenlosen Handlungsbogen untergeordnet, der in Hagens und Kriemhilds Tod endet. Jetzt sind es Wendepunkte der Handlungen, die zu Anlagerungen einladen. Gleich am Beginn der 28. Aventiure, bei der Ankunft an Etzels Hof erfahren die Burgonden von ihrem drohenden Schicksal (22 Strophen b 1715 A – W). Die Vorbereitungen zum Ausbruch des offenen Kampfes laden zu weiteren Zusätzen ein, zuerst das vergebliche Hilfsersuchen Kriemhilds an Dietrich von Bern und ihr vergebliches Bemühen um die Auslieferung Hagens;⁴⁸ dann die Vorbereitungen des Mahls, das aus einem Ritual friedlichen Umgangs zu einem Gemetzel wird.⁴⁹ Das alles lässt auf eine einheitliche planvolle Komposition schließen, selbst wenn in den Bau einzelne bereits vorgeformte Bauelemente eingegangen sein sollten. Sie alle wurden in diese Komposition eingeschmolzen. Durchgängig ist das Bemühen, Kohärenz herzustellen. Zeugnis sind jenseits der Kernhandlung die ausführlich geschilderten
Jdh 1895 A+b u. Jdh 1897 A+B (= d 1873/1874 bzw. d 1877/1878); C 1943/1944 u. 1947/1948. Jdh 1908 A (= d 1890), C 1960.
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Empfänge und Abschiede, die Reisen nicht nur der Protagonisten, sondern auch von Nebenfiguren wie den Boten zwischen Worms und dem Nibelungenland, dann zwischen Worms und dem Hunnenland. Zeugnis sind die genauen Angaben der Zeit, die zwischen den großen Erzählblöcken vergeht. Zeugnis sind für den Konflikt entbehrliche Geschehnisse wie im ersten Teil die langen Passagen (besonders der 11. – 13. Aventiure), die die Werbungs- und Betrugshandlung miteinander verbinden. Sogar die große Lücke in Hs. J, die von Worms gleich nach Passau springt, zeigt das Bemühen um Kohäsion, indem so erzählt wird, als folge der Morgen in Passau der Nacht in Worms. Das epische Interesse an Kohäsion setzt sich in den Zusatzstrophen in den sog. kontaminierten Handschriften fort. Die leere Zeit zwischen der Beraubung Kriemhilds und der Werbung Etzels wird mit dem Bau eines Grabklosters für Siegfried gefüllt. Man nimmt förmlich voneinander Abschied; die Reise von Boten ist erzählenswert. Bei Kriemhilds Fahrt zu Etzel wird eine zusätzliche Reisestation genannt, einfach weil sie am Weg liegt.⁵⁰ Einzelne Szenen werden ausgestaltet. Die Zusatzstrophen und die Erweiterungen in *C setzen also nur fort, was in der Erzählstruktur des not-Textes angelegt ist. Der kompositorische Wille, der die Poetik des Nibelungenliedes bestimmt, ist unübersehbar. Dem Epos liegt eine wohlkalkulierte Folge von Handlungen und Szenen zugrunde, die vom Idealbild höfischer Ordnung am Beginn konsequent, d. h. jede Alternative des Verlaufs ausschließend, in die Vernichtung des Endes führt.
Die Poetik der Schaubilder und die Grenzen der Varianz Dieser Prozess verdichtet sich in einigen Szenen, dem Werbungsbetrug, der Demütigung Gunthers in der Schlafkammer, dem Königinnenstreit, der Ermordung Siegfrieds an der Quelle, dem Raub des Hortes und seinem Versenken im Rhein, dem Festmahl, bei dem das Gemetzel losgeht, dem Untergang Rüdigers, der an der Kollision seiner Pflichten zerbricht, und schließlich in Kriemhilds letzte Begegnung mit ihren Gegnern Gunther und Hagen. An diesen Höhepunkten kommt keiner, der das Nibelungenlied erneuert, vorbei. Sie sind pièces de resistance, die die Identität des Nibelungenliedes ausmachen. Sie sind gleichfalls – wie die Strophenordnung und die Makrostruktur – in der Überlieferung, z.T. bis in die Formulierung hinein, äußerst fest. Keine Handschrift lässt sich eine solche bildkräftige Szene entgehen. Eine Ausnahme scheint Siegfrieds Stratorendienst für Gunther vor den Augen des Hofes von Isenstein (B 394– 395; C 405 – 406; ~ rell.). Indem Siegfried Gunther in den Sattel hilft und sein Pferd führt, drückt die Szene bildkräftig aus, was er zuvor den Gefährten eingeschärft hat und später sagt, nämlich dass er vor Brünhild als man Gunthers auftreten
C 1158 – 1165; 1312; 1314; 1315; 1324; a 1553; 1555; 1556.
Die Poetik der Schaubilder und die Grenzen der Varianz
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will.⁵¹ Sie fällt in A der Kürzungstendenz der 6.–10. Aventiure zum Opfer, vielleicht, weil sie nur verdoppelt, was verbal vorher und nachher ausgesagt wird. Ansonsten macht die Varianz halt vor diesen Höhepunkten der Handlung, die in großartigen Schaubildern verdichtet sind.⁵² Meist ist an diesen Stellen der Wortlaut der Erzählung relativ stabil. Manchmal wie bei Siegfrieds Tod folgen die Handschriften in allen wichtigen Einzelheiten dem gleichen Verlauf der Szene, der Erzählerrede und den Reden der beteiligten Figuren, in anderen Fällen werden einzelne Modalitäten variiert, jedoch ohne Veränderung der Situation. Bilder wie das des Königs, der statt im Bett der Königin an einem Nagel hängend den Anbruch des Tages erwartet, Bilder wie der Zusammenstoß der Königinnen zuerst beim Turnier, dann der Wortwechsel vor der Pforte des Doms zu Worms, Bilder wie das des todwunden Siegfried, dem der Speer des Mörders aus dem Herzen ragt, wie das Hagens, der bei der Begrüßung durch Kriemhild den Helm fester bindet oder der zusammen mit Volker vor der Königin nicht aufsteht und ihr die geschuldete Ehre verweigert, der mit Siegfrieds Schwert auf den Knien wiegt und sich trotzig zu seiner Tat bekennt, das Bild des Spielmanns, dem die Hand auf der Fiedel abgeschlagen wird, Kriemhilds, die Gunthers Kopf an den Haaren vor Hagen trägt und ihn eigenhändig mit dem Schwer enthauptet – das sind einprägsame Schaubilder, die keiner, der das Nibelungenlied erneuert, zu variieren wagt. Sie müssen erhalten werden und sind deshalb von der Varianz weitgehend ausgeschlossen. Sie sind memorial so eindrücklich, dass sie – ob nun im mündlichen Vortrag oder bei der schriftlichen Wiedergabe – haften bleiben. Wenn an diesen Stellen doch Varianz auftritt, dann nicht, um das Bild zu ersetzen, sondern allenfalls es noch wirkungsvoller auszugestalten. Einer der ersten Höhepunkte ist Siegfrieds erste Begegnung mit Kriemhild. Alle Handschriften malen ihren gemeinsamen Auftritt vor dem Hof als Idealbild höfischer Vollkommenheit; die beiden ziehen alle Blicke auf sich (B 295,2 et rell.). Schon lange wurde beobachtet, das Handschrift A die Begegnung als „kleinen Minneroman“ weiter ausgestaltet.⁵³ Wenn B 291,1– 2 (~ C) erzählt, dass Kriemhild seine Hand nimmt und er minnechliche neben ihr hergeht, sagt A 292,1– 2 stattdessen genade er ir bot | si twanch gen einander der seneden minne not. Der innige Händedruck, von dem die Handschriften dann erzählen, wird in A 293,4 kommentiert: zwei minne gerndiu herzen heten anders missetan, wo die restliche Überlieferung sich mit einer blassen Formel über Kriemhilds holden willen (B 292,4) begnügt. Das ist eine Erweiterung der Szene, die zeigt, wie der Redaktor die Lizenz zur selbständigen – schöneren, moderneren – Ausgestaltung nutzte und damit die Arbeit des Dichters fortsetzte. Hier wird Varianz produktiv. Die Handschriften bezeugen eine kreative Weiterentwicklung des Textes.
Zum Zügel- und Bügeldienst und seine politischen Implikationen zuletzt Althoff 2003, S. 96 – 98; 2008, S. 19 – 21. Der Terminus nach Hugo Kuhn 1959; vgl. Wenzel 1992; Haferland 2019a, S. 61– 65 zum Darstellungsprinzip der Visualität. Heinzle 2003a, S. 200; 2014, S. 84; vgl. Braune 1900, S. 107– 108.
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Solche kleinen Retuschen finden sich öfter. Im Austausch von Gemeinheiten zwischen Kriemhild und Hagen gibt es leichte Varianten. Die Szene der ersten Hortforderung bei Begrüßung der Burgonden am Hof Etzels wird unterschiedlich ausgebaut, um die Konfrontation zu steigern. Manchmal variiert ein Detail der bildlichen Imagination. Springt der Kopf des von Hagen hingemetzelten Hunnenprinzen der Königin/Kriemhild (A 1898,3; ~ rell.) oder dem chunege (B 1958,3) in den Schoß? Auch die hohnvolle Begrüßung des gefangenen Gunther durch Kriemhild regt zu Varianten an. Das Bild der Hinrichtung Hagens reizt die Phantasie: Eine Frau schlägt dem stärksten Helden den Kopf ab. Wie kann das sein? Formulierungsalternativen heben unterschiedliche Aspekte hervor. Gleich bei der Ankunft der Burgonden an Etzels Hof stoßen Hagen und Kriemhild zusammen. Hagens Reden sind voll infamer Missverständnisse. Kriemhilds Frage, was ihr denn die Burgonden zu Etzels Hof mitgebracht haben, versteht er absichtlich falsch, als erwarte die Königin von ihren Gästen Geschenke: het ich gewust diu mære daz iuch gabe bringen solden degene (B 1737,2; ~ rell.). Was ist beleidigender, wenn er, seine Gedankenlosigkeit scheinbar bedauernd, fortfährt, er wisse doch, dass die Königin so reich sei, sodass er ihr keine Gabe mitgebracht habe (A 1678,3; ~ Db), scil. sollte das nicht der Fall sein? Oder ist es verletzender, wenn er sagt, dass er selbst reich genug sei, dass er, hätte er richtig überlegt, ihr seine Gabe mitgebracht hätte (B 1737,3; ~ CJh). Beide Male ebnet er den sozialen Abstand zwischen sich und Kriemhild ein und demütigt die Königin: Sie ist auf Geschenke von degene, sogar ihres Erzfeindes, angewiesen! So zwingt er Kriemhild zu sagen, was sie wirklich will, nämlich das, was er ihr geraubt hat, ihr eigen, den Hort. Das gibt Hagen Gelegenheit, den Hohn noch einmal zu steigern: Er habe an seinen Waffen genug zu tragen gehabt (B 1741), scil. da könne er nicht auch noch den Hort tragen. Nicht Wiedergutmachung, sondern Konfrontation stehe auf dem Programm. Die Waffen aber lässt er sich nicht von Kriemhild abnehmen; er trägt sie selber ins Quartier; ihr mutet er dergleichen, höflich, wie er ist, nicht zu: ir sit ein chuͤ negin (B 1740,3).⁵⁴ *C dagegen schwächt die Bloßstellung Kriemhilds und die Konfrontation ab. Nicht nur nach ihrem Besitz, dem Hort, fragt sie, sondern nach im und sime herren (C 1783,4; ~ a),⁵⁵ und in einer Zusatzstrophe stellt sie klar, dass es ihr nicht um mere goldes (C 1785,1) gehe, sondern um gelte für einen mort und zwene roube (C 1785, 3 – 4). Die Bearbeitung ändert entsprechend der neuen Konzeption den Charakter der Szene, in den Alternativen der notFassung wird er rhetorisch unterschiedlich effektvoll pointiert. Wenn Hagen den blutigen Kampf mit dem Hinschlachten Ortliebs eröffnet, was ist dann schrecklicher, dass der Mutter (A 1898,3) oder dem König (B 1958,3) der abgeschlagene Kopf des Kindes in den Schoß springt? Das eine erinnert an Str. B 1909, in der berichtet wird, wie Kriemhild Ortlieb in den Saal tragen lässt, was die Rücksichtslosigkeit ihrer Rache zeigt. Dafür erhält sie die Quittung. Die übrigen Handschriften folgen Brackert 1963, S. 43 – 44; auf das boshafte Missverständnis kommt es an; darin liegt die „beissende[] ironie“ (Braune 1900, S. 38). Was zur Ausgangsfrage Kriemhilds nicht recht passt, denn den toten Siegfried konnte Hagen schwerlich mitbringen – ein Beispiel für die immer nur punktuellen Änderungen der Bearbeitung *C.
Die Poetik der Schaubilder und die Grenzen der Varianz
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dieser Version.⁵⁶ Die andere Lesart in B nimmt bildhaft die Folgen der Gewalttat Hagens vorweg. Die Aggression richtet sich gegen Etzel, dessen Geschlecht im Mannesstamm ausgelöscht ist – das hatte Hagens Rede über die Zukunft des Königssohnes schon angekündigt – und der von nun an jede Versöhnung ablehnt (vgl. B 2087; C 1147). Die BLesart ist isoliert, und das mag gegen sie sprechen;⁵⁷ andererseits gibt sie der grausigen Szene eine andere Bedeutung. Es wird verständlich, warum der strit nicht anders ausbrechen konnte. Nur durch Ortliebs Tod war der friedfertige Etzel hineinzuziehen.Wenn auch isolierte Lesarten von B, solange B noch als archetypnah galt, gerechtfertigt wurden – etwa die Heirat des Fergen – dann sind sie auch als Varianten möglich, wenn B nur noch eine Handschrift unter anderen ist. Im Bild des blutigen Kopfes im Schoß richtet sich die Aggression gegen den König oder die Königin. Die Gewalt kann noch gesteigert werden. Eine der pathetischsten Szenen ist der Tod Wolfharts, der sich selbst zum Denkmal eines Heros erklärt (B 2298).⁵⁸ Diese Strophe, in der er seinen Tod als herlich feiert, ist in der ganzen Überlieferung unverändert (B 2298;~ C 2360 et rell.). Damit ist der Endpunkt des Kampfes der Burgonden gegen die Amelungen erreicht: Do waren gar erstorben die Guͤ ntheres man | und ouch di Dietriches (B 2296,1– 2). Unterschiedlich drastisch ist der Fortgang dargestellt. Die not-Fassung schildert den vergeblichen Versuch Hildebrants, den tödlich verwundeten Wolfhart aus dem Kampf zu tragen; doch der ist zu schwer, fällt zurück in das Blut, blickt uz dem bluͦ te und sieht die Vergeblichkeit von Hildebrants Versuch (B 2297,3 – 4). Die Bearbeitung *C schickt voraus, dass auch die Gegner der Amelungen bis an die Knie im Blut waten: Ouch warn gar gevallen Guntheres degene | niwan si eine zwene er und Hagene | sie stunden in dem bluͦ te tief unz an diu knie (C 2358,1– 3). Erst dann wendet sie sich Hildebrants Versuch zu, Wolfhart wegzutragen. Er muss dessen Schilderung teils auf die nächste Strophe C 2359 verteilen, sodass kein Platz mehr ist, um noch zu sagen, dass Wolfhart Hildebrants Versuch, ihn zu retten, wahrnimmt; in C 2360 folgen gleich Wolfharts Worte über seinen herlich(en) Heldentod. Die Variante in C ist kein Gedächtnisfehler, wie Haferland glaubt,⁵⁹ sondern der Versuch, das blutige Bild der Vernichtung aus anderer Perspektive darzustellen. Eine Beleidigung kann rhetorisch zugespitzt werden: Dietrich von Bern führt Gunther zu Kriemhild, die ihn wie einen Fremden begrüßt: do was mit sinem leide ir sorgen vil erwant | si sprach willechom Guͤ nther uzer Burgonden lant (B 2359,3 – 4; ~ Db).
Auch *C, das zuvor berichtet hatte, dass nicht Kriemhild Ortlieb in den Brennpunkt des Geschehens tragen ließ, sondern anonyme Hunnen das taten (C 2014,3) und dass der König Etzel dadurch leid erfährt, wozu die B-Version, dass Ortliebs Kopf den König trifft, besser passen würde. Heinzle 2013a, S. 1435: „Doch sprechen das einhellige Zeugnis der Parallelüberlieferung und der zu kurze Anvers für einen Fehler“. Metrisch ist die Lesart unbefriedigend, vom Zusammenhang her aber durchaus eine sinnvolle Alternative. Müller 1998, S. 256. Haferland 2019b, S. 498 – 499. Dabei gehe ein „relevanter Inhalt von B verloren, dass der sterbende Wolfhart“ Hildebrants Versuch „noch wahrnimmt“. Der *C-Redaktor nimmt das in Kauf, um zu sagen, wie allenthalben Blut fließt; auch ist das fehlende Motiv in der folgenden Strophe vorausgesetzt.
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In der folgenden Strophe sagt Gunther, er würde ihren Gruß mit einer Verneigung erwidern, wäre das swache gruͤ zen nur etwas gnädiger ausgefallen. Gunthers Reaktion verdeutlicht, wie Kriemhilds Willkommensgruß aufzufassen ist. Der Hohn ihrer Worte lässt sich aber noch deutlicher machen. Die wenigen Verse, die Kriemhilds Erleichterung, ihren Gruß und seine Feindseligkeit ausdrücken sollen, variieren in den Handschriften auffällig. A lässt die Bemerkung über ihre Erleichterung weg, dadurch ist Raum, in gestelzter Form ausführlicher die Feindseligkeit des Grußes auszudrücken: Sie begrüßt nicht den Bruder, sondern einen fremden Helden: si sprach willechomen Gunther ein helt zu Burgonden lant (A 2299,3). In C 2420,4 (~ a) nennt sie den Bruder sogar mit seinem Königstitel: si sprach chunic Gunther sit mir groze willechomen. K 2359,3 – 4 baut Kriemhilds Befriedigung, dass Gunther in ihrer Macht ist, weiter aus, wobei sie ihn zeremoniös mit Namen und Herkunft anspricht und sich freut, seine Bekanntschaft zu machen (was dem Verlauf der Handlung nach völlig unpassend ist und umso gemeiner wirkt): si sprach Gunther von Burgunden lant | ich han iuch hie zen Húnen vil gerne gekant: Ein fremder Potentat wird als willkommener Gast am Hunnenhof begrüßt. Die Förmlichkeit betont die Distanz. J 2359,3 – 4 (~ Y) geht noch einen Schritt weiter und charakterisiert Kriemhilds Stimmung, kombiniert mit einer höhnisch-formellen Anrede und ironischer Zuneigung: si sprach frolichen willecomen Gunther | ein kunc von Burgunden ich gisah dich nie so gern mer. Was meint frolichen? Die Genugtuung, dass endlich Rache möglich ist, maskiert sich als Hochstimmung, die bei Begrüßung eines so illustren Gastes angemessen ist? Der swache Gruß reizte offenbar den Gestaltungswillen der Sänger. Selbst Hagens triumphierende Rede in der Schlussszene des Epos lässt sich effektvoll variieren. Sie lautet in A 2307,4 du hast ez nach dinem willen ze einem ende braht | und ist och reht ergangen als ich mir het gedaht (A 2307,3 – 4; ~ CJahKY). Diese Lesart wird also gestützt durch not- und liet-Handschriften. BDb setzen einen anderen Akzent. Hagen sagt nicht nur, er habe alles vorausgesehen, sondern bezieht ergangen auf Kriemhild. BDb haben also statt reht die Anredeform: du hast iz nach dinem willen vil gar zeinem ende braht | und ist ouch iu ergangen als ich mir het gedaht (B 2367,3 – 4). Noch höhnischer wird Kriemhilds Scheitern betont. Hagen hat nicht nur vorausgesehen, was passiert, sondern dass Kriemhild ihr Scheitern ihren eigenen Absichten verdankt. Indem sie, was sie wollte, ausgeführt hat, hat sie eben dadurch ihr Ziel verfehlt; den Hort bekommt sie nicht wieder. In D 2367,4 ist iu durch dir ersetzt – Hagen bleibt nicht länger förmlich –, in b dagegen ist die förmliche Anrede bewahrt (euch).⁶⁰ Ist der Wechsel der Anredeform ein weiteres Zeichen seiner Verachtung?
Heinzle nahm Anstoß an der Anredeform iu in B; er ließ in seinem Text zwar iu stehen, kommentierte jedoch „Verdächtig ist allerdings der Wechsel der Anredeform. Warum sollte Hagen, der die Königin hier und in der folgenden Strophe provokativ duzt, um seine Verachtung auszudrücken […], vorübergehend zum Ihrzen übergehen? Das spricht dafür, daß es sich bei der Lesung um einen alten Fehler handelt“ (Heinzle 2013a, S. 1509). Er vermutet, dass iu eine Verlesung von in ist, was auf die nächste Strophe bezogen wäre, in der von den drei Königen die Rede ist. Vielleicht drückt gerade die (von b bestätigte) förmliche Anredeform Verachtung aus.
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Manchmal dient eine Variante auch nur dazu, ein Bild besser nachvollziehbar zu machen: Kriemhild enthauptet den stärksten Helden. Sie nimmt Siegfrieds Schwert: si hub im uf daz houbt mit dem swerte siz ab sluch (B 2370,3). Wie ist das vorzustellen? Hebt Kriemhild Hagens Kopf empor, um ihn abzuschlagen,⁶¹ (B 2370,3), oder packt sie das Schwert mit ihren beiden Händen (ACJbh) oder mit einer Hand (D)? Es kommt an diesen und dergleichen Stellen darauf nur an, den schrecklichen Vorgang möglichst eindrücklich darzustellen. Darin kann der einzelne Sänger/Kopist sich gegenüber seinem Konkurrenten hervortun. Die Option der Textkritik für B hat die vereinzelte Lesart dieser Handschrift favorisiert, die durchaus plausibel ist. Die Schaubilder sind verbindliche Vorgaben. Sie stehen an den Gelenkstellen der Handlung und bleiben trotz aller Varianz intakt. Sie stellen prägnante Situationen dar und sind in eindrückliche Sprache gefasst. Allenfalls werden sie in einigen Handschriften effektvoll gesteigert, indem ein drastisches Detail ergänzt, ein Aspekt besonders hervorgehoben, ihre Rhetorik verschärft wird. Diese ‚kreative‘ Varianz hat nichts mit der Ad-libitum-Varianz zu tun, sondern zeigt das Bemühen um besonders effektvolle Ausgestaltung, an dem sich die Sänger des Nibelungenlieds beteiligen konnten und das auch einen Weg in die Handschriften fand. Auch winzige Abweichungen können der bildhaften Ausgestaltung zuliebe vorgenommen sein. Dadurch kann der einzelne Sänger/Kopist sich gegenüber seinem Konkurrenten hervortun: Wie enthauptet Kriemhild Hagen? Was geschieht mit dem vom Rumpf getrennten Kopf Ortliebs? Wie soll der Spielmann künftig musizieren? Wie ist das blutige Ende des Kampfes der Burgonden mit den Amelungen? Welche Wendung nimmt der vergiftete Wortwechsel Kriemhilds und Hagens, die falsche Höflichkeit gegenüber dem gefangenen Gunther?
Varianz und Poetik der Oberfläche Die Ausgestaltung von Details ist an diesen Knotenpunkten der Handlung im Vergleich mit anderen Stellen restringiert. Die Schaubilder bleiben mindestens in ihren Umrissen intakt. Sie werden schlüssig auseinanderentwickelt und durch weitere Aktionen verbunden. Sie sind aber umgeben von dem, was man, am ‚Urgestein‘ der Sage interessiert, ‚Schneiderstrophen‘ nennen zu können glaubte: Szenen von höfischer Interaktion, Ritterspielen, Empfängen, Mahlzeiten, Ausstellung von Kleiderprunk; dazu von weiteren Geschehnissen: Krieg, Fahrten in eine Jenseitswelt, Jagd, weite Reisen, eine beschwerliche Expedition. Deren konkrete sprachliche Gestaltung lässt mehr Abweichung zu. Es ist deutlich geworden, dass sie nichts mit der ‚fröhlichen‘ (joyeuse) variance Cerquiglinis zu tun hat, dass sie sich vielmehr auf bestimmte Parameter bezieht und die traditionelle Fehlerkritik nicht überflüssig macht. Natürlich hat man jeweils mit einem ausformulierten Text zu rechnen, den die Sänger oder Schreiber wiedergeben wollten. Dieser ausformulierte Text leitete die
Heinzle 2013a, S. 747 und 1511.
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Wiedergabe, wie man allein schon an den vielen Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten der Handschriften sehen kann. Dieser Text war aber nicht in jeder Hinsicht verbindlich festgelegt. Er konnte in manchen Parametern variiert werden. Diese Varianten konnten bei erneuter Wiedergabe ihrerseits Vorbild sein und auf die neuerliche Reproduktion des Textes wirken. So lassen sich die Übereinstimmungen in einzelnen Handschriftenfamilien erklären. Der Sänger oder Schreiber brachte nur in engem Rahmen seine eigenen Formulierungsroutinen zur Geltung. Dabei sind die Sänger durchgängig auf das ‚nibelungische‘ Idiom verpflichtet. ‚Nibelungisch‘ ist eine Art Soziolekt, in dem der routinierte Sänger zwischen verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten wählen konnte. Es ist ein Stil, der für die literarische Behandlung bestimmter Gegenstände zur Verfügung steht. Dies und nichts anderes meint Curschmanns Rede vom „Nibelungischen“ und von der „fingierten Mündlichkeit“ des Nibelungenliedes:⁶² die Verfügbarkeit und Fortsetzbarkeit einer ursprünglich funktional auf Mündlichkeit bezogenen Form des Dichtens unter Bedingung der Schrift. In diesem Idiom ist das Nibelungenlied in all seinen Überlieferungen und Erweiterungen verfasst. Der einzelne Text sticht nicht durch Abweichung hervor, sondern durch die Erfüllung der für dieses Genre, für diese Art des Vortrags, für diesen Gegenstand angemessenen Kunstregeln. Diese lassen einen bestimmten Spielraum zu bei der Wiedergabe des ‚richtigen‘ Textes – daher die Rede von Ad-libitum-Varianten –, garantieren aber zugleich dessen Identität ungeachtet des verschiedenen Wortlauts. Die Varianten sind im Wortsinne gleich-gültig. Die Literarizität des Nibelungenliedes hängt also nicht, wie man das bei moderner Dichtung unterstellt, von der einmaligen sprachlichen Gestalt des Werks ab, sondern von deren Übereinstimmung mit einem traditionellen, kollektiven Idiom. Das hat erhebliche Konsequenzen für die Poetik des Nibelungenliedes, vielleicht sogar allgemeiner für einen bestimmten Typus volkssprachiger Dichtung im Mittelalter. Auch der Dichter orientiert sich an diesem Idiom, und, weil er nicht allein darüber verfügt, kann auch jeder, der sein Werk erneuert, an seiner konkreten Gestaltung im Einzelnen teilhaben. Damit sind auch die Kriterien, auf Grund derer ein Text als die ‚richtige‘ Wiedergabe eines anderen gilt, andere als in der Moderne. Im Ganzen wird man sagen können, dass dafür eine geringere Zahl von Parametern verbindlich ist. Die Amplitude der Varianz in der Überlieferung ist in dieser Hinsicht entsprechend viel größer als in moderner Poesie. Ein literarisches Kunstwerk ist nach Auffassung moderner Ästhetik auf allen Ebenen – dem Klang, der Semantik, der Wortwahl, der Satzmuster, dem Aufbau – kalkuliert und deshalb potentiell sinnträchtig und auslegungsfähig sein. Der poetische Text ist gegenüber gewöhnlichen Texten dadurch ausgezeichnet, dass er ‚überdeterminiert‘ ist, dass jedes seiner Elemente bedeutungsträchtig sein kann. Diese Überzeugung liegt einem Buch wie Wolfgang Kaysers ‚Sprachlichen Kunstwerk‘⁶³ zugrunde; man könnte auch Emil Staiger, den New Criticism, ja einen Großteil der Literaturwissenschaft seit
Curschmann 1979, S. 94; 1987, Sp. 956 – 957; vgl. 1992. Kayser 1948.
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dem 2. Weltkrieg nennen. Diese Auffassung beherrscht keineswegs nur die Theorie der sog. ‚immanenten Interpretation‘, sondern liegt jeder literaturwissenschaftlichen Hermeneutik, auch der strukturalistischen, sozialgeschichtlich oder kulturalistisch orientierten Interpretationspraxis zugrunde. Eingelöst wird diese Erwartung am vollständigsten in der Lyrik, doch auch in Epik und Dramatik ist kein Element belanglos, und zwar auf allen Ebenen der elocutio, nicht nur Aufbau, syntaktische Struktur, Wortwahl, Metaphorik, Gebrauch rhetorischer Figuren, sondern auch Satzrhythmus, Klangspielen, Anordnung graphischer Zeichen. Hier gibt es nichts ad libitum. Wenn viele literarische Texte diesen Grad an Organisiertheit nicht erreichen, so spricht das doch nicht gegen das Prinzip, das den meisten Interpretationstheorien zugrunde liegt und den Eindruck der Unabschließbarkeit jeder Interpretation erzeugt. Parallel zu diesem Anspruch ist eine Literaturwissenschaft entstanden, die all diesen Elementen Aufmerksamkeit schenkt. Der literarische Text ist deshalb sakrosankt. Es muss entsprechend in all diesen Punkten genau wiedergegeben werden. Das bedeutet, dass eine Überlieferung, wie die des Nibelungenliedes undenkbar ist. Dieser Anspruch an ein literarisches Kunstwerk aber hat sich erst im Laufe der Literaturgeschichte herausgebildet. Es scheint in älterer Epik vom Typ des Nibelungenliedes nicht zu herrschen. Hier können Nomina und Epitheta ausgetauscht werden, Satzteile umgestellt, Numerus, Tempus und Modus vertauscht. Eine Figur kann mit einem Namen vorgestellt werden, ihrem Rang, einer bestimmten Eigenschaft; sie kann durch zusätzliche Eigenschaftswörter charakterisiert werden. Für ihre Aktionen stehen Formulierungsalternativen zur Verfügung (von unterschiedlichen Wortformen bis zu Synonyma). Aber auch die kleinen und kleinsten Varianten, deren Verzeichnung so pedantisch wirkte,Varianten der Silbenzahl und -struktur, des Vokalismus und des Konsonantismus, über die die traditionelle Textkritik großzügig hinwegsah, haben Einfluss auf Klang und Rhythmus. Die scheinbar austauschbaren Füllwörter bedingen eine unterschiedliche Emphase. Minimale Verschiebungen in der syntaktischen Struktur können den Text nuancieren. All dies kann den literarischen Text auf unterschiedliche Weise modellieren. Auch der einzelne Vers des Nibelungenliedes kann eine solche Wirkung entfalten, nur: bei der Wiedergabe des Textes wird auf dergleichen nicht geachtet. Die Textoberfläche, die konkrete Sprachgestalt, scheint für das Nibelungenlied zwar keineswegs beliebig, aber nicht verpflichtend, solange sie sich in einem gewissen Rahmen hält. Ihre Abänderung scheint die Identität des Epos nicht zu gefährden. Insofern hat der Wortlaut des Vorgängertextes geringere Autorität. Es sind bei einer Reproduktion des Werks Verbesserungen möglich wie Vermeiden von Wortwiederholungen, Wahl eines treffenderen Ausdrucks oder eine situationsgerechtere Wendung, aber auch bloß Veränderungen. Dass der literarische Text zwar nicht – wie in der Moderne in allen (oder fast allen) – Einzelheiten bewahrenswert ist, aber doch als vom Dichter verantwortetes, sein Können beweisendes Gebilde respektiert werden muss, ist durchaus auch ein dem Mittelalter geläufiger Gedanke. Auch mittelalterliche Autoren sehen ihr Werk als Leistung ihrer Kunstfertigkeit an, die nicht beliebig verändert werden darf. Sie wehren sich
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gegen Veränderungen, die meist Verschlechterungen sind. Vor allem aus dem späteren Mittelalter, aber nicht nur von da, haben wir dafür Zeugnisse.⁶⁴ Aber es fehlt eine umfassende Untersuchung, welche Parameter der Dichtung im Einzelnen unter der Perspektive der schützenswerten Gestaltung gesehen werden, ob z. B. nur Reinheit der Reime oder die Erfindung eines Tons, die polemisch gegen willkürliche Veränderungen des Textes eingeklagt werden, oder auch die klangliche und rhythmische Formung. Es sind gewiss weniger Parameter als in neuzeitlicher Dichtung, aber im Prinzip ist das Interesse an Bewahrung der eigenen Leistung auch in mittelalterlicher Dichtung vorhanden. Die Sorgfalt in diesem Punkt wächst mit zunehmender Schriftlichkeit. Beim Nibelungenlied sind es im Vergleich zur Sangspruchdichtung, Minnelyrik, aber auch höfischem Roman verhältnismäßig wenige Parameter: Handlungsablauf, Akteure, Situationen, auch Strophenbau. Gültig geformt sind die Schaubilder an den Knotenpunkten der Handlung, die deshalb weniger variiert werden, nicht aber die Textgestalt der Erzählung insgesamt. Zwar liegen nicht nur – wie gelegentlich in der Oralität – die sinntragenden ‚Stäbe‘ fest, sondern eine kunstvolle Architektur von Erzählblöcken, nicht aber die Textgestalt im Mikrobereich. Diese Tatsache hat die ältere Nibelungenphilologie nicht gesehen. Sie hat im Prinzip alle Varianten gleich behandelt und in ihnen nach Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen den einzelnen schriftlich ausformulierten Texten gesucht, diese miteinander verglichen und als Produkte individueller, ‚auktorialer‘ Entscheidungen betrachtet. Zwischen diesen musste die Frage der Priorität und der Abhängigkeit entschieden werden. Man stieß auf vielfältige Veränderungen, die als Verfälschungen des auktorialen Willens angesehen wurden und rückgängig gemacht werden mussten, selbst wenn sie Verbesserungen schienen. Auch das Verhältnis des Nibelungenlieds zur ‚Klage‘ wurde in Analogie der Beziehungen zwischen Autortexten gesehen. Entweder hatte die ‚Klage‘ auf eine oder beide Fassungen des Epos gewirkt oder dieses (besonders die Bearbeitung *C) auf jene. Dabei wurde nicht beachtet, dass die Texte in einer sehr viel breiteren Tradition wurzelten und an einem sehr viel breiteren Idiom partizipierten, das so oder so abgerufen werden konnte. Auch angebliche ‚Zitate‘ aus der kollektiven Erzähltradition haben einen grundsätzlich anderen Status als in Autortexten. Das Bemühen, nach einzelnen ‚Übereinstimmungen‘ des not- oder des liet-Textes mit anderen Texten aus dem Sagenzusammenhang oder mit der Nibelungenklage zu suchen und zu fragen,⁶⁵ wer was übernommen habe und wer wen beeinflusst habe, ist deshalb verfehlt. Wenn Parallelen oder zumindest Ähnlichkeiten sich in anderen Überlieferungen nachweisen lassen, dann zeigen sie nicht die unselbständige Abhängigkeit des Nibelungenliedes von dieser Tradition (und dadurch den kompositen Charakter des Epos als ‚traditionellen‘ Text, d. h. als Konglomerat von divergenten Erzähltraditionen), sondern dass die ‚Dichtersprache‘ aus einem traditionellen Repertoire schöpft, das viele Werke übergreift. Die aus der
Grubmüller 2001, S. 133. Heinzle 1995, S. 82– 83.
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Tradition eingesprengten Elemente sollen stilistisch vom umliegenden Text nicht zu unterscheiden sein, sondern sich nahtlos in ihn einfügen. Es ist deshalb für die Poetik des Textes von anderer Bedeutung als in moderner Intertextualitätsforschung, einzelne Wendungen dieser Sprache auf ihre Herkunft aus anderen Texten zu befragen. Als gelungene Formulierungen, vielleicht sogar bezogen auf denselben Situationstypus, gingen sie in jenes Idiom ein. Diese Einsprengsel haben daher eine fundamental andere Funktion als scheinbar ähnliche Entlehnungen in neuerer Poesie. Sie sind keine Zitate, denn sie sollen nicht einen anderen Text intertextuell einspielen und sich gerade nicht vom übrigen Text absetzen. Das Nibelungenlied ist in einer Sprache verfasst, die nicht auf den besonderen Willen eines Autors zurückgehen, sondern auf die möglichst genaue Übereinstimmung mit dem Erwartbaren und Bekannten setzt. Ein Verfahren, das bei Concetti des 17. Jahrhunderts angemessen ist, weil der Dichter sich gegenüber seinem Vorgänger oder Konkurrenten als besonderer Virtuose hervortun will, ist fehl am Platz, wo man die dem Gegenstand entsprechende ‚richtige‘ Formulierung sucht. Deshalb greifen Überlegungen zur Intertextualität, wie sie bei den kühnen Metaphern Wolframs oder den rhetorisch elaborierten Prägungen Gottfrieds von Straßburg und Konrads von Würzburg und deren Rezeption in spätmittelalterlicher Epik angewandt werden, im Nibelungenkomplex nicht. Die Texte, die zu ihm zählen, bedienen sich aus demselben kollektiven Fundus. Einzelne Wendungen in anderen Überlieferungen, die auf der Sage fußen, mögen als besonders gelungen häufiger abgerufen worden sein. Das zeigt sich insbesondere im Verhältnis des Nibelungenliedes zur ‚Klage‘. Bumke diskutiert in seinem Forschungsbericht „wörtliche Übereinstimmungen“⁶⁶, besser: Ähnlichkeiten und Anspielungen zwischen Epos und ‚Klage‘, die die Forschung über die Jahrzehnte zusammengetragen hat. Sie halten kaum die ihnen zugemutete Beweislast aus. Einige sind recht unspezifische Allerweltsformulierungen. Oft geht es um denselben Sachverhalt.⁶⁷ Dass an einer Stelle eine Figur ein Epitheton erhält, das sonst nicht mit ihm verbunden wird, aber durchaus passt, ist kein Zeichen für Einfluss in die eine oder andere Richtung.⁶⁸ Es gibt ein bestimmtes Vokabular für bestimmte Sachverhalte und für bestimmte herausragende Eigenschaften. So bewegen sich Heroen nicht einfach im Kampf, sondern sie springen; so heißt die Bekanntmachung einer Sache dort, wo es darauf ankommt, ein mære ze hove sagen.⁶⁹ Wenig erstaunlich ist, dass „wörtliche
Bumke 1996a, S. 545 – 558. Gleich der erste Fall ist von dieser Art: Dass Passau noch dort liegt, wo der Inn in die Donau fließt (in der ‚Klage‘ heißt es abweichend ‚zwischen Inn und Donau‘), trifft einfach zu. Dass dort ein Bischof saz ist in vielen Heldenepen der gewöhnliche Ausdruck für ein Herrschaftsverhältnis; außerdem heißt Passau einmal burc, einmal kloster, einmal stat (Bumke 1996a, S. 545). Fälle dieser Art bewegen sich im VarianzSpektrum. Bumke 1996a, S. 546: spaehe für Volker. Auch dass Hildebrand nur B 2322,4 meister heißt – wie mehrfach in der ‚Klage‘ – bedeutet nicht viel, weil das in der heroischen Überlieferung sein Titel ist (S. 546 – 547). Weitere Beispiele für Übereinstimmungen bei Bumke 1996a, S. 548.
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Übereinstimmungen“ „besonders zahlreich“ sind, „wo die Texte auch inhaltlich zusammentreffen“;⁷⁰ erstaunlich wäre das Gegenteil. Dass eine Wendung eines Textes in einem anderen Texten ‚nur hier‘ vorkommt, beweist nicht, dass sie aus dem ersten entlehnt ist,⁷¹ denn es handelt sich um eine kollektive Sprache, die nicht auf einzelne Texte beschränkt und jederzeit abrufbar ist. Einzelne Vokabeln wie das seltene vernogieren bezeugen nicht Abhängigkeit. Sie haben keinen herausgehobenen poetischen Wert. Selbst sie sind zu Elementen des ‚nibelungischen‘ Idioms geworden. Zwischen Formulierungsroutinen innerhalb dieses Idioms und bewusste Einzelgestaltungen ist natürlich die Abgrenzung schwierig. Die Grenzen des ‚Nibelungischen‘ werden aber in keinem Fall überschritten. Das gilt selbst für Lesarten, die vom Rest der Überlieferung abweichen und offenkundig fehlerhaft sind: Auch sie werden ‚sinnvoll‘ in den Text zu integrieren versucht. Auch sie schöpfen dann aus dem Fundus des ‚Nibelungischen‘ und suchen den Text durch Rückgriff auf ihn zu ‚reparieren‘. Dass das misslingen kann, ist eine andere Frage.
Hat das Nibelungenlied einen Autor? In welchem Sinne kann man trotzdem vom Dichter des Nibelungenliedes sprechen? Das Nibelungenlied hat nichts von der Volatilität eines aus Bruchstücken der Tradition zusammengewachsenen Textes und setzt durch die straffe und feste Textfolge und die eindrückliche Gestaltung der Höhepunkte der Handlung den kompositorischen Willen eines Autors voraus. Insofern ist es gerechtfertigt, dass die Forschung auch nach Brackerts Untersuchungen an einer Autorinstanz festgehalten hat.⁷² Andererseits darf dieser Instanz nicht dieselbe Herrschaft über den Text zugeschrieben werden, wie dies bei moderner autorgebundener Dichtung geschieht. Dieser Autor verwendet ein transindividuelles poetisches Idiom, nicht eine besondere, nur ihm gehörende Sprache. Seine literarische Kreativität findet ihre Grenze in diesem kollektiven Idiom, in dem er dichtet und das auch denen zu Gebote steht, die in sein Werk eingreifen und es verändern. Ihren Ausdruck findet die Kollektivität des Idioms in der viel besprochenen Anonymität des Nibelungenlieds.⁷³ Um 1200 scheint solche Anonymität noch nicht auffällig. Aber schon wenn einige spätmittelalterliche Heldendichtungen einzelnen Verfassern zugeschrieben werden, dann trägt das dem Umstand Rechnung, dass inzwischen lite-
Bumke 1996a, S. 552. Wenn Kriemhild das Bewusstsein verliert und sinnelos ist, ist die Tatsache, dass das Wort nur hier (wie in B 1067,3) in der ‚Klage‘ gebraucht wird, während sonst – in Übereinstimmung mit C 1079,3 – in unsinne steht (vom Typus her eine übliche Variante) kein Hinweis auf Abhängigkeit; für den Sachverhalt stehen beide Möglichkeiten zur Verfügung. Fromm 1974/1989. Auch die ‚Nibelungenwerkstatt‘ setzt die Leitung der Arbeiten am Text durch einen ‚Meister‘ voraus (Heinzle 2013, S. 1003 – 1004); Haferland rechnet sogar mit der personellen Identität des Verfassers der not-Fassung und der Bearbeitung *C. Höfler 1955/1961.
Hat das Nibelungenlied einen Autor?
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rarische Werke das Produkt einzelner, besonders begabter Individuen sind. Dagegen ist die Autorrolle im Nibelungenlied noch nicht durch einen Namen besetzt. Die zwei fundamentalen Differenzen zur gegenwärtigen Literatur hängen mit dieser Anonymität zusammen. Die Sprache des literarischen Werks ist erstens nicht eine individuelle, sondern eine kollektive, an der der Einzelne teilhat, und zwar sowohl derjenige, auf den das Werk zurückgeht, wie derjenige, der es schriftlich oder mündlich erneuert. Das literarische Werk ist zweitens nicht an einen, in allen Parametern fixierten Wortlaut gebunden. Der Dichter hat nicht vollständig und in allen Punkten die Herrschaft über sein Werk. Sich darüber zu verwundern, heißt die Bedingungen neuerer, autorgebundener Poesie auf das Nibelungenlied übertragen. Nur dann ist ein Satz möglich wie dieser: „Daß sich ein fremder Sänger, der den Text nicht selbst verfaßt hatte, so bruchlos – und dies gar noch in freier Mündlichkeit in seine Sprache einsprechen konnte, ist nicht sehr wahrscheinlich. Dem Dichter des Originals wird man allerdings eine solche Fähigkeit nicht absprechen können“.⁷⁴ Der Rede vom ‚Original‘ liegt die Auffassung vom literarischen Werk als individuell verantwortete Leistung zugrunde. Diese Auffassung gibt es auch im Mittelalter, in der Volkssprache nach vereinzelten Vorläufern allgemein seit dem späten 12. Jahrhundert, aber es gibt sie nicht immer und für alle Gattungen,⁷⁵ vor allem nicht für die ursprünglich in der Mündlichkeit wurzelnde Heldenepik. Wenn Haferland zur Erklärung der Textgeschichte annimmt, dass ein Dichter, der das Nibelungenlied B* dichtete, mit seinem Werk nach einigen Jahren nicht mehr zufrieden war und es deshalb in *C umarbeitete, dann ersetzt er eine kollektive Praxis durch eine individuelle Biographie.⁷⁶ Könnerschaft zeigte sich in der souveränen Beherrschung eines kollektiven Idioms, nicht in den gesuchten individuellen Abweichungen von ihm. Es steht ein zwar begrenztes, doch vielgestaltiges Repertoire von Formeln, Synonyma, Satzplänen und dgl. zur Verfügung, aus denen man sich bei der Realisation des Textes bedienen kann. Meisterschaft gegenüber Konkurrenten kann sich daran zeigen, dass man das Repertoire besser als sie benutzt. Der einzelne Sänger sticht durch die Erfüllung der für dieses Genre, für diese Art des Vortrags, für diesen Gegenstand angemessenen Kunstregeln hervor. Vielleicht kann er die Regeln noch virtuoser anwenden als ein anderer, ändern darf er sie nicht. Wohl lassen diese ihm einen bestimmten Spielraum bei der Wiedergabe des ‚richtigen‘ Textes. Er garantiert die Identität des Werks ungeachtet des verschiedenen Wortlauts und ungeachtet der verschiedenen Aneignungen. Die von vielen Forschern befremdet registrierte Abweichung in der Formulierung ohne erkennbaren inhaltlichen Gewinn ist dadurch erklärbar: Wenn man schon nicht nachweislich besser sein kann als der Vorgänger, dann wenigstens anders, nicht um ein individuelles Profil zu zeigen, Haferland 2003, S. 128. Auch im Minnesang weist die Fehlzuweisung einzelner Strophen darauf hin, dass es eine gemeinsame Sprache der ‚Zunft‘ gab. Haferland 2003, S. 129.
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sondern um sich als ausgezeichnetes Mitglied der ‚Zunft‘ zu erweisen. Das kann aber nicht nur bei Abfassung der Dichtung geschehen, sondern auch bei deren variierender Reproduktion. Die Varianz ist Beweis vielfacher Könnerschaft. In einer Jahrhunderte alten Erzähltradition wurde ein solches Idiom ausgebildet. Auch in der nicht die Schrift gebrauchenden Laiengesellschaft des frühen Mittelalters gab es Spezialisten für den Vortrag von Liedern und Erzählungen (man denke daran, was über den Dichter des ‚Heliand‘ gesagt wird). Die Zeugnisse dafür sind spärlich, aber unabweisbar. Nichts wissen wir über den Grad von deren Professionalität und ihre Ausbildung, nichts, ob es ein Gruppenbewusstsein gegeben hat. Doch ist anzunehmen, dass tradiertes Wissen und Können von Generation zu Generation gelehrt und Kompetenzen in ähnlicher Weise ausgebildet wurden, wie man das aus anderen gesellschaftlichen Bereichen, etwa dem Handwerk, kennt, in denen die Schrift keine oder jedenfalls eine marginale Rolle spielt. Die meister, die den ‚Wolfdietrich D‘ in der Christenheit verbreiten, lassen geradezu an zunftmäßige Organisation denken. Wenn das Spekulation bleiben muss, so legt die Gestalt der mhd. Heldenepik nahe, dass man sich für den Vortrag mindestens an gemeinsame kollektive Regeln zu halten hatte. Snorri Sturlusons Anweisungen für die Skalden beweisen, dass es in Nordeuropa solch ein Zunftbewusstsein gab. Das Nibelungenlied ist Produkt einer poetischen Praxis, deren Grundlage ein erlerntes, verpflichtendes Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten ist, zwischen denen gewählt werden kann und die austauschbar sind. Diese Sprache erlaubt nur in engem Rahmen individuelle Besonderung. Das setzt die alten mæren einer Zeit entgegen, in der ein Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg oder Konrad von Würzburg durch ungewöhnliche Metaphern und ausgesuchte rhetorische Figuren brillieren und auch schon vorher weniger herausragende Autoren ihren Namen mit der Kunstfertigkeit ihrer Werke verknüpft haben. Der Stil der höfischen Autoren – Wolframs kühne Metaphorik oder Gottfrieds oder Konrads Klangspiele – ist nur als Individualstil nachahmbar. Er muss bei einer Reproduktion ihrer Texte als Produkt einer individuellen Poetik bewahrt oder jedenfalls zu bewahren versucht werden. Abweichungen von ihm erscheinen deshalb als Textverderbnis und werden bei der Edition eines Wolfram-, Gottfried- oder Konradtextes rückgängig gemacht. Aber diese Differenz des Nibelungendichters zu den Autoren des höfischen Romans ändert nichts daran, dass auch er sich fundamental von der oralen Tradition absetzt. Der Nibelungendichter ist nicht Sprachrohr dieser Tradition, sondern nimmt eine selbstbewusste Position ihr gegenüber ein, indem er aus ihr sein besonderes Werk formt. Er formt es in einer bestimmten Strophenform und einer überkommenen Sprache zu einer überlegten Komposition mit einem kohärentes Zeitgerüst und einer festen Szenenfolge, gipfelnd in eindrucksvollen Schaubildern. Auf ihnen basiert die Poetik des Nibelungenliedes. Die Ausführung im Einzelnen ist nicht vom Dichter abhängig, sondern von einer überindividuellen poetischen Praxis:
Hat das Nibelungenlied einen Autor?
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Zwar gab der einzelne Redaktor einen Text, der im groben feststand, aber er opferte diesem Text nicht seine eigene Selbständigkeit. In dem sicheren Gefühl, daß dieser Text nur jeweils eine der verschiedenen Erfüllungsmöglichkeiten verwirklichte, […] ging er überall dort eigene Wege, wo ihm […] eine andere Möglichkeit als die bessere erschien oder auch nur geläufiger war.⁷⁷
Das Modell von Textualität, das in dieser Aussage steckt, wurde von der Forschung nie bedacht. Es bedeutet, dass der ‚Grundtext‘, den die Forschung für die Überlieferung des Nibelungenliedes voraussetzt, unterschieden ist von dem, was in der Literaturwissenschaft gemeinhin ‚Original‘ heißt: ein auf allen Ebenen gültig formuliertes sprachkünstlerisches Gebilde. Es ist schwer vorstellbar, dass der Text nur „im groben“ feststand, er war bestimmt ausformuliert, aber diese Ausformulierung ließ „verschiedene Erfüllungsmöglichkeiten“ zu. Die „Selbständigkeit“ des Redaktors, von der Brackert spricht, ist aber eingeschränkt. Er wächst in eine Praxis hinein; es sind Routinen des Sprechens und Schreibens, die er vorfindet, die er teils als Sprecher einer bestimmten Sprachlandschaft beherrscht, teils bei seiner Ausbildung zum Sänger oder Schreiber lernt, die zwar nicht alle anderen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft teilen, die jedoch seiner Willkür weitgehend entzogen sind. Sein ‚Formulierungswille‘ kann allererst auf dieser Basis einsetzen, und noch da ist zu fragen, ob in jedem Fall das Hinzufügen, der Austausch und das Weglassen von Wörtern, kleine syntaktischen Veränderungen, Umstellung von Syntagmen und dgl. auf einen besonderen ‚Willen‘ zurückgehen oder auf Routinen des Sprechens und Schreibens, die mehrere Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks nebeneinander zulassen. Insofern überschätzt Brackert den Anteil derer, die das Nibelungenlied erneuerten. Er verteilt die Autorinstanz auf verschiedene Positionen: Die Urheber der verschiedenen Redaktionen, die uns vorliegen, lassen sich nicht prinzipiell als Geister minderen Ranges von jenem Autor unterscheiden, auf den der gemeinsame Text zurückginge. Es wird unter den verschiedenen Dichtern, die an der Herausbildung dieses Textes mitwirkten, einen gegeben haben, der größer war als alle anderen – das hohe Ansehen, das der gemeinsame Text genoß, kann als Stütze für eine solche Auffassung dienen –, grundsätzlich steht hinter diesem Werk eine Mehrzahl, wenn nicht eine Vielzahl von Sängern (oder wie immer man sie nennen will), die alle in der gleichen poetischen Technik bewandert, mit dem gleichen Stoff vertraut, sich an der Ausformung des Textes beteiligten.⁷⁸
Die Termini ‚Dichter‘ und ‚Sänger‘ werden scheinbar synonym behandelt, wo doch die Kompetenzen und Aufgaben deutlich unterschieden sind. Die Rede von „verschiedenen Dichtern“ verunklärt die literarische Praxis, die offenbar analog zur gegenwärtigen gedacht wird. An dem, was den festen Kern des Epos ausmacht, sind die verschiedenen Tradierenden nicht beteiligt. Brackert 1963, S. 169, Anm. 26. Brackert 1963, S. 170. Mehrfach fragt er, ob nicht „eine ganz andere, aus den Sonderbedingungen der Nibelungen-Überlieferung selbst entwickelte Anschauung“ der Überlieferungsgeschichte zugrunde gelegt werden muss (S. 13).
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Man wird keinem derer, die das Werk in Vortrag oder Aufzeichnung adaptierten, d. h. für ein Publikum erneuerten, das Prädikat ‚Dichter‘ zubilligen. Der Terminus ist mit einer emphatischen Bedeutung belastet, wie sie sich zwar auch seit dem 13. Jahrhundert im Kunstbewusstsein mittelalterlicher Autoren findet, wie sie einer Gattung, die sich in die Tradition mündlicher Dichtung stellt, jedoch unangemessen ist. Auf den Dichter geht die Architektur des Nibelungenliedes und deren Entfaltung in grandiosen Schaubildern zurück; die konkrete Sprache aber gehört nicht ihm allein. Hier hat der Dichter nicht eine höhere Autorität als die anderen, die über das Idiom verfügten. ‚Nibelungisch‘ begrenzt insofern die Ausdrucksmöglichkeiten auf der einen Seite, stellt aber auf der anderen Seite gleichwertige Alternativen bereit, auf die, der es erneuert, im Bewusstsein, sich an den vorgegebenen Text (den Text des Nibelungendichters) zu halten, zurückgreifen konnte. Dieser Prozess lässt sich nicht im genealogischen Modell schriftliterarischer Textüberlieferung abbilden. Es gibt eine gestufte Beteiligung an jeder neuen Realisation des Textes. Dabei geht ein Teil der Autorinstanz auf die Adaptoren des Nibelungenliedes über. Ihre Produkte brauchen keine einfachen Abschriften zu sein, sondern jeweils Fassungen. Ihre Verfasser würden in die Nähe des hypothetischen Dichters rücken, auch sie an der Ausgestaltung eines Werkes schöpferisch teilnehmend, dessen Wortlaut offenbar nicht als sakrosankt und unantastbar galt. Ihre schöpferische Arbeit am Text dürfte man sich aus der Fülle des Materials gespeist denken, das eine jahrhundertelange Tradition ihnen anbot.⁷⁹
Nur verdankt sich die Varianz nicht der Offenheit des Textes für die „jahrhundertelange Tradition“, sondern einer noch lebendigen poetischen Praxis. Brackerts Vermutung einer ‚multiplizierten‘ Autorschaft ist bei der Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte des Nibelungenliedes ohne Folgen geblieben. Dabei muss man nicht mehrere Dichter annehmen, aus deren sukzessiven Arbeiten sich allmählich der Text herausbildete, sondern man kann auch differente Adaptationen eines von nur einem Dichter verantworteten Textes unterstellen, die nebeneinander entstanden. Auch das ist bei Brackert angelegt, wird aber nicht weiterverfolgt: Das Lesartenmaterial könnte nämlich darauf hinweisen, daß am Anfang der uns noch greifbaren Hss.-Verzweigung nicht e i n Archetypus stand, sondern schon mehrere, mehr oder minder gleichgerichtete Bearbeitungen […].⁸⁰
Es wird Zeit, die poetologischen Folgerungen aus Brackerts verstreuten Beobachtungen zu ziehen.
Brackert 1963, S. 46. Brackert 1963, S. 14.
Gattungstransformation? Die Ablösung der not-Fassung
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Gattungstransformation? Die Ablösung der not-Fassung Die lebendige Auseinandersetzung mit dem Text bedingt unterschiedliche Formen der Aneignung. Die anfängliche Varianz des Nibelungenliedes lässt die Konzeption des heroischen Epos intakt. Die Bearbeitung *C und die angehängte ‚Klage‘ verändern aber diese Konzeption gewaltig. Sie gemeinden eine schon fremde und befremdliche Gattung, die sich in der adligen Laiengesellschaft des Frühmittelalters erhalten hatte, in den Kosmos der christlichen, von der Schrift geprägten Adelskultur ein. Das Nibelungenlied steht in der Epik des Hochmittelalters – trotz der Dietrichepen – isoliert da. Die Ästhetik der not-Fassung ist überwiegend noch die Ästhetik des heroischen Epos. Das Nibelungenlied ist der Exorbitanz einer heroischen Welt gewidmet, die nicht nach moralischen Maßstäben beurteilt werden kann und nicht nach diesen Maßstäben beurteilt wird. Der not-Text erlaubt keine eindeutige Entscheidung zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘. Zwar gibt es viele Urteile, was als ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ anzusehen ist, welche Handlungen triuwe, welche untriuwe beweisen, welche Figuren ‚positiv‘ oder ‚negativ‘ gewertet werden, aber die Urteile sind nicht aufeinander abgestimmt. Der Text lässt die Bewertung des Geschehens in der Schwebe.⁸¹ Lienert spricht von der „Standpunktlosigkeit“ des Nibelungenliedes.⁸² Das ist typisch für heroische Epik, die moralisch indifferent vor allem große, exorbitante Geschichten erzählt.⁸³ Klaus von See fragt, ob nicht der Heros „seine Faszination gerade dadurch“ gewinnt, „daß er seinen Selbstbehauptungswillen bedenkenlos auslebt, also nicht nach den Regeln einer Gemeinschaftsethik handelt, sondern so, wie es sich der gemeine Mann nicht erlauben darf“. Die „Exorbitanz, Maßlosigkeit und Unbesonnenheit manchen heldischen Verhaltens“ mache den Helden aus, die übermäßige, unbändige Kraft, die alle Normen sprengt.⁸⁴ Ein Held sei nicht der, der moralisch oder gar im Sinne der Gemeinschaft handelt, sondern derjenige, der über Menschenmaß hinauswächst. Das ist Siegfried auf Grund seiner Stärke und seiner im hort und der Tarnkappe materialisierten Ressourcen. Die These belegt von See mit zahlreichen Beispielen aus der europäischen Heldenepik.⁸⁵ Sie wurde bisher kaum am Nibelungenlied erprobt, obwohl das Epos nicht nur in der ambivalenten Rolle Hagens sie bestätigt.
Vgl. Bumke 1996a, S. 532 spricht von „Offenheit“ der not-Fassung in der Schuldfrage. Die „alte Heldensage“ kannte die „Schuldfrage“ noch nicht (Haferland 2006, S. 88), die die Adaptationen des 12./ 13. Jahrhunderts zu stellen beginnen. Lienert 2003, S. 108; „der Erzähler zeigt im Untergangstableau des Schlusses präzise deren [der heroischen Gewalt] Folgen – […] unsägliches Leid – übt jedoch keinerlei Kritik“. „Bei aller Faszination durch heroische Gewalt kennt das Nibelungenlied keine Glorifizierung großer Helden“, jedenfalls keine ungebrochene. Haferland 2003, S. 88. Von See 1993, S. 2; 6 u. ö. Vgl. auch Heroen 2022.
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Das beginnt schon mit der Einführung des jungen Siegfried, der keineswegs, wie seine Bewunderer meinen, der makellose Held ist, der von der Tücke der anderen unberührt ist. Eingeführt wird er als Heros, der sich ohne Skrupel nimmt, was sich ihm anbietet. Man hat nie gefragt, was Siegfried eigentlich zur Eroberung des Hortes und zum Erschlagen der Nibelungenkönige berechtigt, zu den heroischen Taten, denen er die Fama, die ihm vorauseilt, verdankt.⁸⁶ Ihm wird von den Nibelungenkönigen ein friedliches Schiedsverfahren übertragen, das, als es misslingt, in eine Kette von Gewaltakten umschlägt. Wer daran schuld ist, bleibt offen.⁸⁷ Die Könige geraten in Zorn; sie haben zwölf starke risen, was ihnen nichts hilft; denn Siegfried schlägt sie mit zorne tot, dazu noch gleich 700 Recken, und auch die beiden Könige. Nach einem weiteren Kampf gewinnt er daz lant zuͦ den buͤ rgen und den Nibelungenhort (B 90 – 93). Mit solchen Taten erregt er Bewunderung. Ausgesprochen wird sie durch Hagen. Es gibt keinerlei Zweifel, dass Siegfried von nun an der rechtmäßige Besitzer des Hortes und des Nibelungenlandes ist.⁸⁸ Rechtliche Überlegungen, wie sie mit der Teilung des Schatzes durch einen neutralen Dritten anklingen, spielen keine Rolle. Das ist nicht nur Relikt der Sagentradition, die der Nibelungendichter malgré lui aufnehmen musste, damit er als glaubwürdiger Erzähler von Siegfried galt,⁸⁹ sondern die Geschichte des jungen Siegfried hat in seinem Erzählkosmos eine wichtige Funktion. Sie erklärt nämlich Siegfrieds befremdliches Handeln bei seinem ersten Auftritt in Worms, das für den jungen Ritter, der in der zweiten Aventiure vorgestellt wurde, mindestens ungewöhnlich ist. Überlegene Gewalt als Legitimitätsgrund prägt Siegfrieds Wunsch, Gunther in einem Zweikampf seine Herrschaft abzugewinnen. Er hat damit das Befremden besorgter Interpreten erregt, weil zuvor von seiner vorzüglichen höfischen Erziehung die Rede war: ein ungestümer junger Mann, der sich noch nicht recht zu benehmen weiß?⁹⁰ Tatsächlich aber zeigt diese Szene denselben Heldentypus, den Siegfried schon im Nibelungenland vertrat, den rücksichtslos seiner exorbitanten Kraft vertrauenden Heros, für den institutionelle Ordnungen nur lästige Hindernisse sind, an die er sich nicht zu kehren braucht. Mit welchem Recht macht er denn Gunther seine Herrschaft streitig, außer mit dem Recht des Stärkeren? Gunther und seine Gefolgsleute sind folglich konsterniert und argumentieren dagegen, indem sie sich auf Recht, Erbe
Müller 2022b. C 94 schiebt immerhin eine Strophe ein, die die Kausalität klarstellt und Siegfried etwas entlastet: Die Teilung scheitert; die Leute der beiden Könige fangen zu streiten an; Siegfried wehrt sich. Weshalb es auch keine „Usurpation“ ist, wenn Gernot und Giselher sich später beider im Namen Kriemhilds bemächtigt (vgl. S. 250). Heinzle 2014, S. 130; 133; 138. „Daher hat er die traditionellen Jung-Siegfried-Abenteuer marginalisiert und es vermieden, direkt von ihnen zu sprechen“. Weil der Erzähler angeblich möglichst viele Sagenelemente aufnehmen wollte, wird auch gleich „die Begegnung des Helden mit Brünhild“ in sein Werk projiziert (von der kein Wort verlautet; vgl. ebd. S. 133). Dass Siegfried Brünhilds Bewandtnisse kennt, ist kein Gegenargument. ‚Wissen‘ ist im heroischen Epos nicht empirisch begründet; es ist ein Habitus, der bestimmten Figuren zukommt. Woher hat Hagen eigentlich sein Wissen von Siegfried und seinen Jugendtaten (Müller 1992; Schulz 2008)? Der Heros – auch Siegfried – ist ein ‚Wissender‘. Vgl. die Urteile der Forschung bei Müller 1974, S. 89.
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und legitimitätsstiftende Tradition berufen, auf Argumente, die auch die zeitgenössische politische Ordnung stützen. Für Siegfried scheinen sie zunächst nicht zu gelten. Siegfrieds Heldentum ist bis zu diesem Punkt anarchisch. Er plant seine Brautwerbung als einen gewaltsamen Eroberungszug (Str. 53; 55) und tritt in Worms als Herausforderer auf. Er ist kein Heros, der seine Kraft selbstlos der Gemeinschaft zur Verfügung stellt. Urteile, die das einfordern, verkennen das Wesen des Heroischen, das im Kern a-moralisch ist. Das hat von See an den berühmtesten Beispielen der europäischen Heldendichtung gezeigt.⁹¹ Dieses Siegfried-Bild in der Vorgeschichte ist nicht nur stoffgeschichtlich bedingt.⁹² Es ist notwendig für die literarische Gestalt und für die Konzeption des Epos insgesamt. Der Erzähler brauchte diesen Heroentypus für die Eröffnung seiner Geschichte in der 3. Aventiure, denn als ebensolcher Heros tritt Siegfried bei seinem ersten Erscheinen in Worms auf; er verkörpert dort keineswegs „das neue Bild vom höfischen Prinzen“,⁹³ sondern will eine auf Recht und Tradition sich berufene Herrschaft gewaltsam stürzen. Der Heros muss erst sozialisiert werden; das geschieht durch die minne. Der Wortwechsel mit den Burgonden erzählt, wie das gelingt.⁹⁴ Insofern steht am Anfang des Epos in der Tat ein doppelgesichtiger Siegfried.⁹⁵ Dank der minne stellt Siegfried seine Kraft dem Hof zu Worms zur Verfügung, zunächst im Krieg gegen die Dänen und Sachsen. Man kann dies als Positivierung des Heros auffassen – der Held im Dienste der Gemeinschaft –; aber diese Positivierung gerät im Folgenden ins Zwielicht. Seine Leistung für Gunther und die Dynastie basiert auf einem Betrug der einen weiteren Betrug nach sich zieht, der bis in die Intimität des königlichen Schlafzimmers reicht. Der Erzähler legt Wert darauf, dass nicht Siegfried Brünhild vergewaltigt, aber er hilft Gunther, sich gegen Brünhild durchzusetzen. Die Rolle des Heros, der die Ordnung stabilisiert, erfüllt Siegfried nur scheinbar, wie der Königinnenstreit und seine Folgen für den burgondischen Herrschaftsverband zeigen. In der Szene seiner Ermordung tritt er zwar noch einmal als strahlender Heros auf, der auf Grund seiner physischen Überlegenheit gefeiert wird. Er ist der arglos auf die triuwe seiner Verwandten vertrauende Held, der einer hinterhältigen Intrige zum Opfer fällt und vergeblich daran erinnert, was er alles für Gunther und die Burgonden getan hat. Die Beleidigung Brünhilds und Lüge und Betrug seiner Dienste für Gunther sind vergessen. Durch die Aufdeckung des Betrugs wären die Grundlagen von Gunthers Königtum beschädigt und durch die Trophäen, die Siegfried Kriemhild gegeben hat, ist die Ehre der
Von See 1993. Klaus von See hat diese Auffassung in zahlreichen älteren Arbeiten begründet. Er wird jetzt bestätigt durch den von Petersen und May herausgegebene Band Heroen (2022). So als müsste der Erzähler, was man von Siegfried wusste, irgendwie in seinen Text integrieren, während er seinen Helden eigentlich als einen jungen höfisch gebildeten Ritter sah. Daher habe er Horterwerb und Drachenkampf, diegetisch zurückgestuft, in der Rede Hagens untergebracht (vgl. Heinzle 2014, S. 137– 141). Das übersieht, dass der Erzähler diesen Taten eine präzise Funktion zuweist. Heinzle 2014, S. 138; vgl. 133; 1998, S. 61. Müller 1974, S. 99. Kropik 2008, S. 72– 73; das geht keineswegs „am Text vorbei“ (Heinzle 2009, S. 71).
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Königin vor den Augen des ganzen Hofs beleidigt. Hagens Frage, ob man gouche ziehen soll (B 864,1), stellt die Legitimität der Königsdynastie in Frage. Der umstrittene Reinigungseid Siegfrieds ändert daran nichts. Der Angriff Kriemhilds (und indirekt Siegfrieds) auf die Ehre der Königin kann nicht geduldet werden. Sie betrifft auch die Gefolgsleute, die deshalb am Mordkomplott teilnehmen. Hagen will, dass Siegfried die Beleidigung erarnen (B 861,3) soll. Darin stimmt nach einigem Hin und Her der ganze burgondische Herrschaftsverband überein. Aber kann sich dessen Zusammenhalt in der Heimlichkeit einer Mordintrige bewähren? Verletzt die triuwe Hagens gegenüber der Königin (und dem König) nicht die triuwe gegenüber der Verwandten Kriemhild, die Hagen über die Verwundbarkeit Siegfrieds ausforscht? Aber hat nicht selbst dieser Verrat noch seinen Grund in der unbedingten Verpflichtung Hagens gegenüber seinem Herrn und seiner Herrin? Siegfrieds heroische Präpotenz ist ein immenses Bedrohungspotential, latent ordnungsstörend. Sie wird zwar für eine Zeit Gunther dienstbar gemacht, aber im doppelten Betrug untergräbt sie die traditionale Ordnung des Hofs. Insofern ist auch Siegfried am Untergang ‚schuld‘, obwohl er im moralischen Sinne unschuldiges Opfer ist. Auch deshalb bleibt das Urteil des Epos ‚in der Schwebe‘. Die Fragwürdigkeiten der Geschichte Siegfrieds fanden bei der Frage der Interpreten nach einer konsistenten Deutungsperspektive des Epos kaum Beachtung. Sie sind aber entscheidend für die Tendenz zur moralischen Indifferenz des not-Textes, die sich auch in der bewundernden Heroisierung Hagens zeigt. Im not-Text bleibt es bei der Ambivalenz heroischer Exorbitanz, der uneindeutigen Verteilung von Licht und Schatten. Hagen bleibt groß und Kriemhild hinterlistig und skrupellos. Bis zuletzt ist Positives und Negatives unauflösbar ineinander verschränkt. Auch bei den Königen bedeutet unbeirrbares Festhalten an der triuwe zum friunt einerseits Komplizenschaft mit dem Rechtsbruch Hagens und Hindernis, wirksam gegen den Hortraub vorzugehen, andererseits, wenn Kriemhild seine Auslieferung fordert, Bewährung der Bindung an den Vasallen ohne Rücksicht auf das eigene Interesse. Andere Figuren ließen sich nennen. Volker, der rücksichtslos einen tödlichen Zwischenfall provoziert, dessen Einsatz an der Seite Hagens aber bedingungslos ist und gepriesen wird. Alle Protagonisten sind Täter und Opfer, die Schuld ist auf alle verteilt. Ihr Handeln ist erzählenswert, weil es ‚groß‘ ist. Die ‚Klage‘ nennt das Nibelungenlied die groezeste geschiht | diezer werld ie geschach (Kl B 3479 – 3480; ~ C). In der not-Fassung steht diese Größe im Vordergrund und lässt die Frage nach moralischer Verantwortung zurücktreten. Es ist die Ästhetik des heroischen Epos, in dem es keine klare Verteilung von Schuld gibt, sondern nur schaudernd und bewundernd geschilderte, faszinierende Exorbitanz. Sie verbindet so gegensätzliche Figuren wie Hagen, Kriemhild, auch Siegfried. An ihnen prallen Fragen nach der moralischen Rechtfertigung ihres Handelns letztlich ab. Gunther, Gernot, Giselher und die übrigen reichen zwar an sie nicht heran, aber sie werden nach denselben Maßstäben beurteilt. Erzählt wird von ihnen allen, weil sie bis zum Äußersten gehen. Die not-Fassung des Nibelungenliedes stellt keine eindeutig positiven und keine eindeutig negativen Helden dar, sondern nur große Helden.
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Mit dem liebe-leit-Thema nähert das Nibelungenlied das Geschehen einer zentralen Reflexionsfigur der höfischen Kultur an. Es bleibt zu unspezifisch, um eine Sinndeutung des Geschehens zu tragen. Die Abwesenheit einer moralischen Perspektive wird im christlichen 12. Jahrhundert und im Kontext der entstehenden höfischen Kultur korrigiert,⁹⁶ gründlich durch die ‚Klage‘, ansatzweise durch die Bearbeitung *C. Die Korrekturen befriedigen nicht nur einen Zeitgeschmack, sondern sie setzen an der Ästhetik der Gattung des heroischen Epos an. In der Tendenz bereitet sich hier eine andere Ästhetik vor, die die erratischen Vorgänge einer einheitlichen moralischen Perspektive unterwirft und nach den inneren Antrieben fragt, die sie steuern. Damit wird die Ästhetik des heroischen Epos verabschiedet. Die Kritik der ‚Klage‘ an einer Heroik, die christliche Werte ausspart, ist fundamental. Die Fassung B bezieht in sie nämlich sogar den Heros Siegfried ein. Sie berichtet, daz er selbe den tot | gewan von sin selbes übermuot (Kl B 38 – 39). Superbia ist die luziferische Ursünde einer gottvergessenen Welt. Diese ungewöhnliche Lesart wird im Allgemeinen als ein Fehler betrachtet,⁹⁷ der dann auch in Kl C und D korrigiert ist. Kl C 48 – 49 lautet: daz er selbe den tôt | gewan von ander liute übermuot (~ D). Nicht Siegfried überhebt sich, sondern die andern. Aber diese einfache Feststellung genügt den Bearbeitern nicht. Kl C und D schieben deshalb 23 Verse ein, die von Siegfrieds Tugenden erzählen und ihn vom Vorwurf des übermuot entlasten. Sogar die christliche Tugend par excellence, Kontrapost zur teuflischen superbia, die humilitas, wird ihm zugeschrieben: diz maere im grôzer tugende giht | da er diemüetic waere | und alles valsches laere (Kl C 54– 56; ~ D). Die Korrektur erfolgt in den anderen Fassungen mit einer Vehemenz und Ausführlichkeit, die vermuten lässt, dass in der Fassung B wirklich Siegfrieds übermuot, der übermuot des Heros, gemeint war. Das lässt die B-Lesart der ‚Klage‘ quasi als Fehlleistung im Freudschen Sinne erkennen, die unabsichtlich dem erwünschten Siegfriedbild der ‚Klage‘ widerspricht und deshalb ausdrücklich getilgt werden muss. Auch Siegfried muss von seinen befremdlichen Zügen befreit werden, die das heroische Epos ihm zuschreibt. „Unter der Perspektive der‚Klage‘ ist folgerichtig der Geltungsraum von Heroik gemindert, eines Handlungsmusters, das ohnehin um 1200 nur noch eingeschränkt, in zitierender Distanz zum Inventar aktueller Gesten gehörte“.⁹⁸ Die ‚Klage‘ behauptet etwas, was der Epentext von sich aus nicht hergibt, was aber ein frommer Christ angesichts der Gräuel, die die Heroen über die Welt bringen, zu denken hat. Insofern ist die ‚Klage‘ für die Rezeption der alten mæren, die bereits aus der Zeit zu fallen scheinen, notwendig, denn sie macht sie für den zeitgenössischen Hörer oder Leser erträglicher und führt im Krönungsfest am Schluss in die gewohnte Ordnung zurück. *C bereitet allenfalls die Tendenz der ‚Klage‘ vor, aber erst die ‚Klage‘ vollendet die Sinndeutung. Mit der ‚Klage‘ zusammengefügt, konnte das „Nibelungen-Buch“ in Heinzle 2000 hat dies in seiner Kritik der not-Fassung begründet. Vgl. aber Henkel 2003, S. 122, der die Stelle „als Teil des Gespräches um 1200 über das richtige Erzählen der Nibelungengeschichte“ auffasst. Henkel 2003, S. 121.
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letzter Instanz als „geistlich fundierte Geschichtsschreibung“ erscheinen,⁹⁹ was es nicht ist. Die not-Fassung entspricht noch der Ästhetik des heroischen Epos. In der Bearbeitung *C deutet sich der Wandel der Ästhetik der Gattung Heldenepik schon an. *C nähert sich der Ästhetik des höfischen Romans an. Doch bleibt es in Hagens und Kriemhilds rücksichtsloser Unerbittlichkeit bei der heroischen Grundfabel. Der höfische Roman verteilt eindeutig Licht und Schatten. Er klammert die moralische Bewertung nicht aus, macht sie im Gegenteil zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Er unterwirft die Helden einem Erziehungs- und Selbstfindungsprozess. Aber erst die ‚Klage‘ ist darin konsequent. Das verleiht der Auseinandersetzung mit dem Nibelungenlied literaturgeschichtliche Bedeutung. Auch wenn es danach noch einige Heldenepen geben wird, eine ungebrochene Heroik ist dem christlichen Mittelalter nicht mehr möglich. So ist vielleicht der auffällige Umstand erklärbar, dass in den ‚historischen‘ Dietrichepen heroisches Handeln nur noch im Modus des Scheiterns erzählbar ist und in der aventiurehaften Dietrichepik die Gegner des Helden nicht-menschliche Wesen sind, deren Beseitigung keiner Rechtfertigung heroischer Gewalt bedarf. Näher an Nibelungenlied und ‚Klage‘ ist die ‚Kudrun‘. Nachdem sie bis zur Befreiung Kudruns heroische Gewalt gefeiert hat, wird diese zuletzt ausdrücklich verabschiedet und durch umständliche Friedensschlüsse und Heiratsbündnisse ersetzt. Während in Kriemhilds unbedingter Rache heroische Exorbitanz einer Frau diejenige der Männer aufwiegt, erlaubt hier die Besetzung der Heldenrolle mit einer Frau, den heroischen Mechanismus von Gewalt und Gegengewalt zu beenden.
Epilog Es sind viele Fragen offen geblieben, die jetzt anzugehen wären. Das Nibelungenlied entspricht genau der literaturgeschichtlichen Situation im Übergang der volkssprachigen Literatur auf breiter Front von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Es verbindet die Anonymität mündlicher Tradition und die kollektive Praxis eines poetischen Idioms, das der einzelne Sänger nur zu übernehmen braucht und in dem er frei schalten kann, mit der bewussten und besonderen Auswahl, Perspektivierung und Formung dieser Tradition, die, wie die Bearbeitung *C, in Ansätzen auch *J zeigt, ihrerseits wieder Gegenstand besonderer Bearbeitung werden kann. Der Verfasser des Nibelungenliedes tritt nicht namentlich hervor, aber die vergebliche Suche nach einem Namen zeigt, dass man ihm durchaus eine autoranaloge Position zuschreiben kann. Die vorausgehenden Überlegungen sind nicht im strikten Sinne beweisbar. Sie suchen aber Fakten der Überlieferungsgeschichte auf plausiblere Weise zusammenzubringen, als das mit bisherigen Prämissen der Forschung möglich ist. Bis in jüngste
Heinzle 2003a, S. 200.
Epilog
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Publikationen werden Irrtümer und ungesicherte Vermutungen fortgeschleppt, die durch die Nibelungenfragmente eindeutig falsifiziert oder mindestens in Frage gestellt werden. Die Varianz des Nibelungenliedes ist in einer Hinsicht viel umfassender als allgemein angenommen, in anderer Hinsicht viel geringer (so sind weder not- noch lietFassung offen für Ergänzungen aus der Sagentradition). Das Grundgerüst des Textes erweist sich als stabil und ist bei aller Erweiterungen und Zusätzen in den einzelnen Handschriften unveränderlich. Dagegen ist die Textgestalt im Mikrobereich unfest und variant selbst zwischen eng verwandten Handschriften. Die Varianz betrifft die Ebene der Graphie und Morphologie, sinn-neutrale Abweichungen in Lexik und Syntax als auch sinn-differenzierende und ausgestaltende Eingriffe in den Text durch den jeweiligen Urheber der Textgestalt. Die Verteilung der Redaktionen muss noch einmal überprüft werden. So ist unsicher, ob die Fragmente N und V von *D ebenfalls zu einer Mischfassung gehören. Für *J ist die Mischfassung nur für Hs. J. nachweisbar, bei Fr. Q explizit ausgeschlossen, für die übrigen Fragmente fraglich. Ebenso gut können sie – wie die Fragmente N und V der Redaktion *D – einer reinen not-Handschrift entstammen, die evtl. mit dem not-Teil einer Mischhandschrift verwandt war. Die These von der Dominanz der Mischhandschriften um 1300 steht damit auf unsicherem Boden. Da auch die Textlücke in Hs. J offenbar auf die Hss. J und h beschränkt ist, wird die Redaktion *J an den Rändern unscharf. Als problematisch erwies sich der Begriff der Fassung, wenn man nicht jeder Handschrift auf Grund von eigenen Lesarten den Charakter einer Fassung zubilligen will. Die verwandten Handschriftengruppen verdichten sich kaum je zu Fassungen. Lesarten der frühen Handschriften A und B überkreuzen sich in der restlichen notÜberlieferung. Am ehesten lassen sich Handschriftengruppen auf Grund des Textbestandes zusammenfassen. Dabei kann aber die jeweilige Textgestalt erheblich divergieren. Sinnvoll lassen sich nur not- und liet-Fassung klar unterscheiden. *J ist auf dem Weg zu einer Fassung. Die liet-Bearbeitung (inklusive der Fragmente) ist als Fassung gegenüber der Fassung der not-Texten zwar deutlich profiliert, doch sind einige Handschriften von *C den not-Texten deutlich näher als andere. Umgekehrt weist der not-Text in *J zahlreiche Parallelen zu *C auf. Das Verhältnis der beiden Fassungen und ihre Genese müssten erneut noch einmal überprüft werden. Selbstverständlich können wir die Varianz nur fassen, wenn sie schriftlich dokumentiert ist. Aber daraus ist nicht zu schließen, dass sie allein durch das Medium der Schrift erklärbar wäre. Immerhin ist sie durch die Hss. A, B und C und mindestens die ältesten Frr. S1, S2 und Z schriftlich dokumentiert. Sie setzt sich in den jüngeren Handschriften, den Zusatzstrophen und den späteren Fragmenten fort, die auf diese anfängliche Varianz zurückgehen. Es hat sich gezeigt, dass die Verbindung von Überlieferungsgeschichte und Poetik notwendig ist. Eine a-historische Poetik, am realistischen Erzählen der Neuzeit orientiert, stand oft der Auswertung der Überlieferung im Wege. Sie führte zu unhaltbaren
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Annahmen von Fehlern oder Widersprüchen, die dann textkritisch ausgemünzt wurden. Das Nibelungenlied entsteht auf der Schwelle der Literarisierung einer ursprünglich oralen Tradition. Es ist daher mit den Methoden der traditionellen Textkritik nicht zu fassen. Es repräsentiert einen anderen Typus literarischer Textualität als literarische Kunstwerke der Moderne. Im Gegensatz zu dieser sind nur bestimmte Parameter des Textes verbindlich festgelegt. Viele können ad libitum ausgefüllt werden. Andere dagegen sind nicht verhandelbar, von der Metrik über die Komposition bis zu einprägsamen Schaubildern. Sie machen bis ins Spätmittelalter die Identität des Nibelungenliedes aus. Diese wohlkomponierte Textgestalt macht wahrscheinlich, dass das Nibelungenlied das Werk eines Dichters ist, das freilich in der Hand derjenigen, die es erneuerten, in Grenzen umgestaltet wurde. Das Werk wurde in einer Zeit verschriftlicht, in der seine Ästhetik mit ihrem Verzicht auf eine übergreifende – christliche – Sinnperspektive befremden musste. Die Bearbeitung *C ist ein Versuch, Abhilfe zu schaffen, wie erst der ‚Klage‘ gelang.Die Überlieferung des ‚Nibelungenkomplexes‘ spiegelt die Transformation der Gattung Heldenepik.
Verzeichnis der zitierten Literatur Texte Der Nibelungen Lied. Zum erstenmal in der ältesten Gestalt aus der St. Galler Hs. mit Vergleichung der übrigen Hss. hg. durch Friedrich Heinrich von der Hagen. 2. mit einem vollst. Wörterbuche verm. Aufl., Breslau 1816. Der Nibelunge Not mit der Klage. In der ältesten Gestalt mit den Abweichungen der gemeinen Lesart, hg. v. Karl Lachmann, Berlin 1826. Zu den Nibelungen und zur Klage. Anmerkungen von Karl Lachmann. Wörterbuch von Wilhelm Wackernagel, Berlin 1836. Der Nibelunge nôt. Mit den Abweichungen von der Nibelunge liet, den Lesarten sämmtlicher Handschriften und einem Wörterbuch, hg. v. Karl Bartsch. Erster Theil. Text. Zweiter Theil. Erste Hälfte. Lesarten. Zweiter Theil. Wörterbuch. 3 Bde., Leipzig 1870 – 1880. Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch herausgegeben von Helmuth de Boor (Klassiker des Mittelalters), Wiesbaden 1959. Der Nibelunge Not mit der Klage. In der ältesten Gestalt mit den Abweichungen der gemeinen Lesart. Unveränderter um ein Handschriftenverzeichnis vermehrter Nachdruck der fünften Ausgabe von 1878, hg. v. Ulrich Pretzel, Berlin 61960. Das Nibelungenlied. Paralleldruck der Handschriften A, B und C nebst den Lesarten der übrigen Handschriften, hg. v. Michael S. Batts, Tübingen 1971. Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung, hg., übersetzt und mit einem Anhang versehen von Helmut Brackert, 2 Bde., Frankfurt 1971. Das Nibelungenlied. Kritisch herausgegeben und übertragen von Ulrich Pretzel, Stuttgart 1973. Das Nibelungenlied nach der Handschrift C, hg. v. Ursula Hennig (ATB 83), Tübingen 1977. Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch, hg. v. Helmut de Boor u. Roswitha Wisniewski. 22. Auflage (Klassiker des Mittelalters), Mannheim 1996. Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse (RUB 644), Stuttgart 1997. Das Nibelungenlied. Nach der Handschrift C der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsche, hg. u. übers. von Ursula Schulze, Düsseldorf/Zürich 2005. [Das Nibelungenlied nach Hs. d] vgl. Pritz, Diss. 2009, S. 56 – 308. Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B, hg. v. Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 2010. Nibelungenlied und Klage. Redaktion I [ J], hg. v. Walter Kofler, Stuttgart 2011. Nibelungenlied. Redaktion D, hg. v. Walter Kofler, Stuttgart 2012. Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek S. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung und Kommentar, hg. v. Joachim Heinzle (Bibliothek des Mittelalters 12), Berlin 2013 (Heinzle 2013a). Das Nibelungenlied. Text und Einführung. Nach der St. Galler Handschrift, hg. und erläutert von Hermann Reichert, 2., durchgesehene und ergänzte Ausgabe, Berlin/Boston 2017. Nibelungenlied und Klage. Die Fragmente, hg. v. Walter Kofler (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 354, N.F. 1), Stuttgart 2020. Die Nibelungenklage. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen, hg. v. Joachim Bumke, Berlin/New York 1999. Die Nibelungenklage. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Karl Bartsch. Einführung, neuhochdeutsche Übersetzung und Kommentar von Elisabeth Lienert (Schöninghs mediävistische Editionen 5), Paderborn/München/Wien/Zürich 2000. https://doi.org/10.1515/9783110983104-012
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Verzeichnis der zitierten Literatur
[Die Nibelungenlied-Bearbeitung der Wiener Piaristenhandschrift (Hs, k)] vgl. Springeth 2007, S. 49 – 363. Eine spätmittelalterliche Fassung des Nibelungenliedes. Die Handschrift 4257 der hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, hg. u. eingel. von Peter Göhler (Philologica Germanica 21), Wien 1999. Das Nibelungenlied nach der Handschrift n. Hs. 4257 der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, hg. v. Jürgen Vorderstemann (ATB 114), Tübingen 2000. Ambraser Heldenbuch. Vollständige Faksimileausgabe im Originalformat des Codex V. ser. nova 2663 der österr. Nationalbibliothek. Kommentar von Franz Unterkircher (Codices Selecti 43), Graz 1973. Ortnit und Wolfdietrich D. Kritischer Text nach Ms. Carm 2 der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, hg. v. Walter Kofler, Stuttgart 2001. Herman Melville, Bartleby, in: H.M., Redburn, Israel Potter und Sämtliche Erzählungen. Vollständige Ausgabe, aus dem Amerikanischen übertragen […] von Richard Mummendey, München 1967, S. 690 – 730.
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Handschriftenregister Das Register verzeichnet alle Seiten, auf denen ein Fragment oder eine bestimmte Strophe eines Fragments des Epos oder der Nibelungenklage besprochen wird. Um das Register nicht aufzublähen, werden die vollständigen Handschriften nicht mit jeder einzelnen Stelle aufgeführt, sondern nur dort, wo sie allgemein charakterisiert werden. Die Parallelstellen zu den Fragmenten in den vollständigen Handschriften haben dieselbe Strophenzählung wie die Fragmente, die ihnen zugeordnet werden, sodass sie leicht aufgefunden werden können. Die Stellen, die einem einzelnen Fragment im Besonderen gewidmet sind, sind durch Fettdruck hervorgehoben, ebenso die Abschnitte, die grundsätzliche Aussagen über eine einzelne vollständige Handschrift machen. Es sind sämtliche Handschriften, die in der Forschung der Überlieferung des Nibelungenliedes zugerechnnet werden, aufgeführt, auch die aus den erörterten Gründen nicht ausführlicher behandelt werden. Ergänzend werden die Stellen, an denen die Nibelungenklage thematisiert wird, verzeichnet.
1 Die Fragmente AA Amberg, Staatsarchiv, Hss.-Fragm. 74 212 E Berlin, Staatsbibl., Fragm. 44 10; 14; 20; 70 – 71; 72 – 73; 76; 87; 107; 118; 124 – 125; 139; 166 – 167; 194; 200 – 201; 206; 303 F Alba Julia/ Karlsburg, Bibl. Bátthyáneum, Cod. R III 70, Vorderspiegel [verschollen] 10; 14; 114; 119 – 120; 123; 166; 201 – 203; 206; 223; 228 G Karlsruhe, Landesbibl., Cod. Donaueschingen 64 10; 166; 212; 228 H Privatbesitz [verschollen; zuletzt München] 11; 82; 106; 115 – 118; 120 – 122; 127 – 129; 143; 148; 154; 158; 161 – 162; 166; 194; 195 – 196; 197; 204; 221; 226; 230 – 234; 252 K Berlin, Staatsbibl., mgf 587; Berlin, Staatsbibl., mgf 814; Dülmen, Hz. von Croy’sche Verwaltung, Hausarchiv Nr. 54; Koblenz, Landeshauptarchiv, Best. 701 Nr. 759,60 11; 95; 99; 105 – 106; 114 – 118; 120; 123; 127; 130; 135; 144 – 145; 154; 159; 161; 166; 185 – 187; 190 – 192; 222 – 223; 234; 237 – 238; 239; 255 – 257; 332 L Krakau, Bibl. Jagiellońska, Berol. mgq 635; Mainz, Martinus-Bibl., Inc 712 [Trägerband ; L2a verschollen]; Mainz, Martinus-Bibl., Fragm. germ. 1; Mainz, Gutenberg-Museum, StB-Ink. 1634, Vorder- und Hinterspiegel 68 – 69; 93 – 94; 96 – 98; 116; 122; 124; 129; 142; 154; 166; 167 – 171; 225 – 227; 263; 303 M Linz, Oberösterr. Landes-Museum, Ms. 122 11; 70; 71 – 72; 73; 76; 102; 106 – 107; 121; 127; 130; 152; 156; 161; 166; 172 – 173; 221; 224; 227 N Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 4365a; Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 2841a; Würzburg, Universitätsbibl., Dt. Fragm. 2 11; 98; 100; 102; 105 – 106; 114 – 116; 118 – 119; 123 – 125; 134 – 135; 139; 154; 157; 159; 166; 174; 176 – 181; 182 – 183; 208; 212; 221 – 222; 224; 229; 242; 252; 256; 349 O Krakau, Bibl. Jagiellońska, Berol. mgq 792 11; 62; 82; 94 – 95; 166; 194 – 195; 196 – 197; 221; 226; 230 – 234; 248; 251 P Krakau, Bibl. Jagiellońska, Berol. mgq 1895 Nr. 8 166; 208; 212 Q Freiburg i. Br., Universitätsbibl., Hs. 511; Rosenheim, Stadtarchiv, Hs-g 1; München, Staatsarchiv, Fragm.Slg. A II 1 11; 66; 95; 98 – 99; 101 – 102; 115; 119 – 120; 122 – 124; 127 – 130; 132 – 133; 135; 143; 145; 147 – 148; 154 – 158; 160 – 161; 166; 183 – 184; 187 – 191; 222 – 223; 234; 237; 238 – 239; 247; 255 – 256; 259 – 261; 316; 349 R Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 22066 10; 14; 106; 115; 118; 120; 166; 203 – 204; 206; 223; 228 S1 Prag, Národní knihovna, Cod. XXIV.C.2 8; 11; 73; 82; 166; 174 – 175; 183; 198 – 199; 217; 221; 228 – 229; 301 – 303; 349 S2 Prag, Národní muzeum, Cod. I E a 1 8; 11; 73 – 74; 82; 166; 174; 175 – 176; 181; 183; 198 – 199; 217; 221; 224; 228 – 229; 301; 303; 349 https://doi.org/10.1515/9783110983104-013
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Handschriftenregister
S3 Prag, Národní muzeum, Cod. I E a 2 166; 175; 208; 212; 217; 221 T London, British Libr., MS Egerton 2323a 220 U Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 42567; Brixen, Provinzbibl. der Südtiroler Kapuziner, ohne Sign. 10; 149; 166; 204 – 205; 206; 212; 223; 228 V Vorau, Stiftsbibl., Cod. 138 11; 98 – 99; 118; 120; 122 – 123; 126 – 128; 134; 147 – 148; 155; 160 – 161; 166; 174 – 177; 181 – 183; 221 – 222; 224; 229; 238; 349 W Melk, Stiftsbibl., Fragm. germ. 6 11; 95; 101; 124; 133; 166; 184 – 185; 190 – 191; 223; 234; 237; 239; 255 X Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 14281 10; 139; 166; 201; 206; 223; 228 Y Trient, Stadtbibl., Cod. 3035 11; 95; 117; 120; 166; 191 – 192; 222 – 223; 234; 237; 255; 323; 332 Z Klagenfurt, Universitätsbibl., Perg.-Hs. 46 10; 14; 15; 73; 87; 99; 107; 119 – 120; 123; 166; 199 – 200; 205 – 206; 228; 301; 349 c Wien, Hofbibl., Cod. Q 4793 [verschollen] 11; 166; 196; 197 g Heidelberg, Universitätsbibl., Cpg 844 63; 68 – 69; 70; 76; 88; 93 – 94; 96 – 98; 107; 115 – 116; 118; 120 – 122; 125; 128 – 129; 132; 136; 139; 142 – 143; 149; 156 – 157; 161 – 162; 166; 167 – 171; 171 – 173; 195; 204; 225 – 227; 303 i Krakau, Bibl. Jagiellońska, Berol. mgq 669 166; 196 – 197 l Basel, Universitätsbibl., Cod. N I 1, 99a 11; 98 – 99; 104; 106; 114 – 116; 118; 120; 125 – 127; 130; 132; 135; 144; 146 – 147; 154; 157; 159; 161; 166; 185; 192 – 194; 222; 234; 237; 314 – 316; 317 – 321 m Darmstadt, Universitäts- und Landesbibl., Hs. 3249 34; 37; 220; 238
2 Die vollständigen Handschriften A München, Staatsbibl., Cgm 34 1, 4 – 8; 9 – 12; 24; 27; 30; 38; 71 – 75; 82; 86; 88; 93 – 95; 122; 131; 136; 145 – 146; 166; 167 – 171; 172 – 173; 176; 180 – 183; 196; 199; 204 – 205; 207; 217 – 218; 220 – 222; 224; 225 – 227; 229 – 230; 233 – 234; 240; 242 – 244; 245; 259 – 263; 265; 269; 285; 301; 303 – 304; 312; 315 – 316; 322 – 323; 325; 329; 332 – 333; 349 B St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. Sang. 857 1; 3 – 8; 9 – 12; 24; 28 – 29; 49 – 52; 71 – 74; 82; 86; 88; 93 – 95; 110 – 111; 122; 141; 146; 148 – 149; 163; 166; 167 – 170; 171 – 172; 173; 176; 180 – 183; 194; 196; 199; 204 – 205; 207; 217 – 218; 220 – 222; 224; 226 – 227; 229 – 230; 233 – 234; 240; 242 – 246; 248; 250 – 251; 252 – 253; 254 – 262; 265 – 271; 285; 301; 303; 312; 316 – 317; 319; 321 – 328; 329 – 333; 339; 343 – 347; 349 C Karlsruhe, Landesbibl., Cod. Donaueschingen 63 1; 4 – 8; 9 – 12; 14 – 15; 24; 27; 29 – 30; 36; 38 – 39; 41; 49 – 51; 62; 70 – 71; 73 – 75; 80; 82; 86 – 87; 91; 95; 110 – 112; 122; 126; 146; 166; 175; 183; 194 – 196; 197 – 198; 199 – 207; 217 – 218; 220 – 224; 226; 227 – 228; 230 – 233; 241 – 244; 245 – 246; 247 – 251; 252 – 256; 259; 262 – 268; 268 – 272; 283; 285; 301; 303; 312; 316 – 317; 322 – 323; 325 – 326; 328; 330 – 332; 336; 339; 343 – 344; 347 – 350 D München, Staatsbibl., Cgm 31 7 – 8; 12; 27; 39; 41; 48 – 51; 70 – 71; 73 – 75; 80; 82; 86 – 87; 91; 93; 95; 110 – 111; 122; 131; 136; 166; 172; 173 – 174; 175 – 176; 177 – 180; 181 – 183; 198; 204 – 205; 217; 220 – 222; 224; 226 – 227; 228 – 230; 233; 240; 243 – 244; 245 – 246; 247 – 248; 249 – 251; 253; 255 – 256; 259; 268 – 272; 283; 285; 303; 312; 316 – 317; 322 – 323; 325 – 326; 328; 330 – 333; 349 J Berlin, Staatsbibl., mgf 474 7 – 8; 11 – 12; 19 – 20; 28; 66 – 68; 73 – 74; 80; 82; 86; 93; 95 – 96; 112; 126; 131; 145; 166; 183 – 184; 184 – 188; 189; 190 – 193; 217 – 218; 220 – 224; 226; 229; 230 – 233; 234 – 238; 239 – 240; 242 – 244; 247 – 255; 255 – 262; 269; 303; 316 – 317; 319; 322 – 327; 332 – 333; 348 – 349 a Cologny-Genf, Bibl. Bodmeriana, Cod. Bodm. 117 11; 14; 27; 34; 37; 87; 91; 99; 113; 122; 142; 198; 201 – 203; 220 – 221, 222 – 223; 248; 262; 269; 314; 319 b Berlin, Staatsbibl., mgf 855 7 – 8; 11 – 12; 27; 73 – 74; 76; 93; 113; 131; 136; 173 – 176; 177 – 180; 181 – 183; 198 – 199; 204 – 205; 217; 221; 224; 228 – 230; 238 – 239; 242 – 243; 269; 303; 312; 316; 323; 325; 327; 332 – 333
Handschriftenregister
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d Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. Ser. nova 2663 7 – 8; 11; 25; 73 – 74; 76; 82; 86; 94; 113; 122; 142; 172; 183; 194; 195 – 197; 217 – 218; 220 – 222; 224; 226; 230 – 234; 237; 240; 242 – 244; 247 – 255; 260; 269; 303; 312; 316; 323 – 325; 327 h Berlin, Staatsbibl., mgf 681 7 – 8; 12; 66 – 68; 70; 76; 86; 96; 217; 223; 234; 236 – 237; 242 – 244; 247 – 255; 316; 324 – 325; 327; 333; 349 k Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 15478 11; 20; 34; 37; 40 – 41; 113; 220; 247; 268 n Darmstadt, Universitäts- und Landesbibl., Hs. 4257 11; 20; 34; 37; 40; 41; 113; 220; 238 – 239; 268
3 Klage Nibelungenklage 2; 10; 17; 29 – 30; 33; 36; 38; 39; 43 – 44; 79; 82 – 84; 150; 166; 174; 176; 208 – 219; 221; 238; 241 – 242; 249 – 250; 266 – 267; 268 – 272; 297; 299 – 300; 321; 336 – 337; 343; 346 – 348; 350