Urfassung der Philosophie der Offenbarung 9783787340729, 9783787340712

Erstveröffentlichung der vom Herausgeber transkribierten Handschrift. Die Orthographie wurde behutsam modernisiert, die

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German Pages 785 [804] Year 1992

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Urfassung der Philosophie der Offenbarung
 9783787340729, 9783787340712

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Urfassung der Philosophie der Offenbarung

Herausgegeben von walter e. ehrhardt

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PHILOSOPHISCH E BIBLIOTH EK BAN D 445a/b

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ­u rsprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um ­Ver­ständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte ­bi­­­blio­­­g ra­­phi­­­sche Daten sind im Internet a­ bruf bar über ‹http://portal.dnb.de›. ISBN 978-3-7873-4071-2 ISBN eBook 978-3-7873-4072-9

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1992. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mi­kro­verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elek­tro­nischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungs­beständigem Werk­ druck­papier. Printed in Germany.

INHALT

Teilband 1

Vorbemerkung des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

F. W.

J.

SCHELLING

Urfassung der Philosophie der Offenbarung Band I der Handschrift Titelblatt der Handschrift ............................... . Motto...................................................

/ Vinlcs1111gc11 erstes Halbjahr/ 1-49 1. Vorlesung ......... 3 18. 2. Vorlesung . ........ 8 19. 3. Vorlesung ......... 13 20. 21. 4. Vorlesung .. . . . . . . . 19 22. 5. Vorlesung ......... 25 23. 6. Vorlesung . ........ 32 24. 7. Vorlesung . ........ 38 25. 8. Vorlesung . ........ 44 26. 9. Vorlesung ......... 50 10. Vorlesung ......... 57 27. 11. Vorlesung ......... 63 28. 12. Vorlesung ......... 70 29. 13. Vorlesung ......... 76 30. 14. Vorlesung ......... 82 31. 32. 15. Vorlesung ......... 89 16. Vorlesung ......... 95 33. 17. Vorlesung ......... 104 34.

Vorlesung Vorlesung Vorlesung Vorlesung Vorlesung Vorlesung Vorlesung Vorlesung Vorlesunt, Vorlesung Vorlesuno· t, Vorlesung Vorlesun"::, Vorlesung Vorlesun"::, Vorlc-suno· t, Vorlesung

2

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118 124 132 140 150 157 164 172 178 186 193 204 213 221 229 238

VI 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41. 42.

Inhalt Vorlesung Vorlesung Vorlesung Vorlesung Vorlesung Vorlesung Vorlesung Vorlesung

......... ......... ......... ......... .........

......... ......... .........

249 258 267 278 287 297 308 318

43. 44. 45. 46. 47. 48. 49.

Vorlesung Vorlesung Vorlesung Vorlesung Vorlesung Vorlesung Vorlesung

. ........ . ........ . ........ . ........ . ........ . ........ . ........

328 338 348 358 368 379 390

Teilband 2 Wiedergabe der Eintrittskarte für J. M. Wacht! zu den Vorlesungen des Halbjahres 1832 (Umschlagseite 2 der Handschrift Band I) ..................................... IX Motto ................................................... X

Band II der Handschrift

f Vorlesungen 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62.

zweites Halbjahr] 50(1)-83(34) Vorlesung ......... 401 63. Vorlesung Vorlesung ......... 409 64. Vorlesung Vorlesung ......... 418 65. Vorlesung 66. Vorlesung Vorlesung ......... 426 Vorlesung ......... 435 67. Vorlesung 68. Vorlesung Vorlesung ......... 444 Vorlesung ......... 453 69. Vorlesung Vorlesung ......... 463 70. Vorlesung Vorlesung . . . . . . . . . 472 71. Vorlesung Vorlesung ......... 481 72. Vorlesung Vorlesung ......... 489 73. Vorlesung Vorlesung . . . . . . . . . 497 74. Vorlesung Vorlesung ......... 507 75. Vorlesung

......... . ........ ......... ......... . ........ ......... ......... . ........ ......... ......... . ........ ......... .........

517 526 535 543 552 561 571 579 589 597 606 615 624

Teilband 1 76. 77. 78. 79. 80.

Vorlesung .. . . . . . . . Vorlesung . ........ Vorlesung . . . . . . . . . Vorlcsu11~ Vorlc,u11"

"

634 642 652 662 672

81. Vorlesung ......... 82. Vorlesung ......... 83. Vorlesung . ........ Reproduktion Ms. 350/1 .............

VII 681 691 700 711

[BeilaJ;en, Literatur] ..................................... 713 Anmerkungen. [Handschrift Bd. I, S. 397-403] ......... Ausführliche Geschichtswerke. (Handschrift Bd. I, s. 403] ................................................. Materialien-Sammlungen. [Handschrift Bd. I, s. 403-404] ............................................ [Literaturliste. Handschrift Bd. I, S. 395/396] ........... [Anmerkungen. Handschrift Bd. II, S. 352] ............. [Literaturliste. Handschrift Bd. II, S. 351-352] .........

713 723 723 725 726 726

Nachwort des Herausgebers ............................ 729 Annotationen des Herausgebers ......................... 743 Verzeichnis der vom Herausgeber zitierten Schriften .... 767 Namenregister .......................................... 769 Stichwortregister ....................................... 778

VORBEMERKUNG

*

Die hier mit freundlicher Erlaubnis der Universitätsbibliothek Eichstätt aus dem Eigentum der Bischöflichen Seminarbibliothek erstveröffentlichte Handschrift kann aus Gründen, die ich im Nachwort dargelegt habe, als Abschrift der von Schelling diktierten Urfassung der Vorlesungen über Philosophie der Offenbarung betrachtet werden, obgleich der Schreiber selbst auch Hörer war, als Schelling diese 1831/32 zum ersten Mal vortrug. Das Studium der Philosophie der Religion erhält damit eine authentische Basis, deren klare Konsequenz künftig den durch unüberprüfbare Nachschriften und Nachlaßeditionen veranlaßten Deutungen entgegensteht. Nicht nur der Philosophie, sondern insbesondere auch der Theologie und den vergleichenden Religions- und Geisteswissenschaften werden durch die Urfassung Sichtweisen eröffnet, die bisher verborgen waren. Bei der Transkription wurde von n1.ir Ergänztes in eckige Klammern gesetzt, Ausgelassenes in den Annotationen angegeben. Eindeutige, bloße Schreibabkürzungen wurden ohne Angabe ergänzt, in Zitaten aber belassen, da sich daraus Informationen über Abschreibtraditionen ergeben könnten. Veraltete Wortformen und die Orthographie habe ich behutsam dem heutigen Gebrauch angeglichen, in Zweifelsfällen und bei besonders markanten Abweichungen aber vom Original übernommen oder in den Annotationen berücksichtigt (siehe u. S. 743ff.). Die Zeichensetzungen - auch die Akzente - wurden nicht verändert. Einfache, kurze Unterstreichungen des Originals sind durch Kursivierung, geschlängelte durch KAPITÄLCHENSatz wiedergegeben. Letztere verweisen auf spätere Eintragung in das Original. Übersetzungen längerer fremdsprachlicher Stellen, die im Text selbst stehen und deren Sinn sich nicht aus dem Zusammenhang ohnehin ergibt, befinden sich nach Seiten- und Zeilenzahl zugeordnet im Annotationsteil. Dort sind

X

Vorbemerkung

auch Hinweise auf Forschungszusammenhänge und Probleme gegeben. Die überall mit großer Sorgfalt ausgeführten Schreibkorrekturen, habe ich stillschweigend übernommen, sofern nicht besondere Gründe zu Annotationen bestanden. Alle sonstigen Randnotizen wurden in Fußnoten wiedergegeben. Die persischen und syrischen Schriftzeichen sind photomechanisch aus der Handschrift übertragen worden. Drei Reproduktionen (s. u. S. 1 und in Teilband 2, S. IX und 711) erlauben, von Art und Zustand des Originals sich ein Bild zu machen. Die Register sind allein auf den Text der Handschrift bezogen. Zitate wurden nur überprüft, wo Transkriptionsunsicherheiten bestanden. Ihre systematische Erfassung bleibt historisch-kritischer Bearbeitung vorbehalten. Meinen ganz besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle Maria Mengs, Bibl.-Amtm. in Eichstätt, aussprechen, da ihre zuvorkommenden Hinweise die Klärung der Herkunft der Handschrift sehr erleichterten.

W E. Ehrhardt

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»Lesen ist Nichts, lesen und denken Etwas; denken und fühlen die Vollkommenheit!« Joh. v. Müllcr's Briefe - S. 113.

[VORLESUNGEN ERSTES HALBJAHR]

1. * M. H. Ich beginne heute einen Vortrag, welchen ich als das Ziel aller meiner bisherigen Vorträge betrachten darf, denen so viele 5 von Ihnen mit Ausdauer und Liebe gefolgt sind. Alle meine bisherigen Vorträge standen im Zusammenhange - sie waren gerichtet auf sukzessive Entwicklung eines Systems, eines solchen, welches stark genug wäre, einst die Probe des Lebens zu bestehen - stark genug, nicht zu erblassen vor der kalten Wirk10 lichkeit: eines Systems, welches erst mit der fortschreitenden Lebenserfahrung, 1nit der tiefem Erkenntnis der Wirklichkeit an Kraft und Stärke gewinnt. Wenn die Philosophie für das Jahrhundert, in dem wir leben, einen großen Teil des Interesse verloren hat - wenn viele sich von ihr wendeten, weil sie nur 15 mit vergeblicher Hoffnung täuschte, so konnte man dies so ungerecht eben nicht finden, da die Philosophie bis jetzt zu keinem Ende gekommen ist. Nichts Unnatürliches kann in die Länge bestehen! Einige Augenblicke kann es durch eine mögliche Spannung sich erhalten und sein Ansehen behaupten; aber 20 jedem ekelt zuletzt daran - und meiner Überzeugung ge1näß spreche ich es aus: Keine Philosophie kam bis jetzt an die Sache selbst - keine wurde eine wirkliche Wissenschaft - jede blieb in den Präliminarien stecken. So ist besonders die deutsche Philosophie eine Vorrede, zu der das Buch noch mangelt - eine 25 immer klappernde Mühle, die jedoch das Brot des Lebens nicht zutage zu fördern vermochte. Ein neuerer Franzose, mit Recht unwillig, daß man die deutsche Philosophie dem in allen Fächern beweglichen Volke der Franzosen aufdrängen will, sagt richtig: Die Philosophie ist bloße Tangente des menschlichen 30 Lebens, d. h., sie läuft nur neben demselben her. Jetzt ist es an den Deutschen, zu zeigen, daß wahre Philosophie mehr vermöge, als tangieren: sie muß Mittelpunkt werden, um den sich alle Kräfte schwingen. Jetzt gibt es am 1neisten mit der Welt

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Erste Vorlesung

zerfallene Menschen. Die Ursache liegt in der Meinung, die wahre Bildung bestehe darin, in einer abstrakten Welt, die mit der Wirklichkeit in keiner Berührung steht, zu existieren. Während nun aber unsere Zeit auf der einen Seite sich von allem Positiven (und Historischen) abwendet, ist nicht zu leugnen, daß sie auf der andern Seite eine sehr lebhafte Richtung auf die Wirklichkeit zeigt. Solches ist bedauernswerter Irrtum, und die Zeit leidet an großen Übeln. Die wahren Heilmittel dagegen liegen aber nicht in abstrakten Begriffen, nicht in der Aufhebung des Überlieferten, sondern im Überlieferten selbst. Jedenfalls würde auf eine solche Zeit diejenige Philosophie nicht wirken können, welche noch nicht bei der Wirklichkeit, ihrem Ziele, angekommen wäre. Die Philosophie muß in die Wirklichkeit eindringen, nicht sie zu zerstören, sondern ihre Kraft für sich selbst zu benutzen. Das menschliche Leben bewegt sich im großen um Staat und Religion. Voltaire, jener gefeierte Denker des vorigen Jahrhunderts, sagt mit Recht: Der ist ein Feiger, der diese zwei Pole des Lebens nicht ins Auge zu fassen wagt. Ich habe mir vorgenommen, dieses Halbjahr »Philosophie der Offenbarung« vorzutragen. Diese habe ich gestützt auf Philosophie der Mythologie. Hier möchte man gleich mir einwenden: »Was nützt dies 1) in bezug auf Offenbarung? 2) in bezug auf Philosophie?« - Wie tief der Glaube in das System des öffentlichen Lebens eingeknüpft sei, ist klar. Wie ist der tüchtig, in öffentlichen Angelegenheiten mitzuwirken, der sich nicht über das Wesen des Staates, den historischen Staat, belehrt hat, und darüber einig mit sich selbst geworden ist? Aber die andere, der positiven Verfassung des Staates entgegengesetzte, Richtung ist Religion. Der ist nur einseitig gebildet, der nicht auch in bezug auf letztere Einsicht sich erworben hat. Was nützt jenes Alltagsgeschwätz über Staat und Religion, welches, als selbst saft- und kraftlos, weder zu belehren noch zu erbauen vermag? Solches scheut sich nicht, die gemeinsten Dinge aufs Höchste anzuwenden. Was aber die Theologie anlangt, so muß Ihnen selbst bekannt sein, wie schwankend bis

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jetzt ihr Zustand sei. Wer weiß nicht, daß jetzt der unselige Streit über Rationalismus und Supranaturalismus alles umgreift? Ein Streit, bei dessen Entscheidung aller Interessen beteiligt sind. Daher kann es keinem, der in den allgemeinen 5 Angelegenheiten mitwirken will, gleichgültig sein, zu wissen, wie er die positive Religion anzusehen habe, ebensowenig, als wie das positive Gesetz. Eine fernere Hinsicht ist diese: Das Christentum ist eine eminent geschichtliche Religion; wo das Christentum nicht ist, da ist keine Geschichte. Wer also das lll Christentum nicht begreift, begreift auch die Geschichte nicht. Was die zweite Frage betrifft, nämlich, was diese Vorträge nützen sollen in bezug auf Philosophie, so entgegne ich bloß dieses: Diejenige Philosophie, welche das Christentum aus ob15 jektivem Grunde, als Objekt, begreiflich machen will, es im allgemeinen Zusammenhange (historisch) darstellen will, muß wohl ganz anders angetan sein, als alle bisherigen Philosophien. Es besteht das Wesen des Christentums darin, im Prinzip und in der Entwicklung eine geschichtliche Anschauung 20 des Universums zu sein. Es gibt nämlich zwei Ansichten von der Welt. Die eine leitet alles von bloßer Notwendigkeit ab; insofern aber die Welt nur die notwendige Emanation eines höchsten Prinzips ist, das man nun Gott oder das erste Seiende nennen mag, ist diese Philosophie ebenso ungeschichtlich, wie 25 etwa die Geometrie. Die Dinge folgen dann aus der Natur des göttlichen Wesens ebenso notwendig, als aus der Natur eines rechtwinkligen Dreiecks folgt, daß das Quadrat der Hypotenuse gleich ist der Summe der Quadrate der beiden übrigen Seiten. In diesem Betracht findet also ein bloß logisches, kein 30 persönlich = tätiges und geschichtliches, Verhältnis statt. Das geschichtliche System dagegen behauptet, daß alles auf Willen, Freiheit und wirklicher Tat beruhe. Keine Frage mehr, welehern Syste1n ein gesunder Sinn sich zuwenden solle! Wenn aber das Christentum. eine geschichtliche Anschauung des Uni35 versums ist, und nur aus solcher (geschichtlich = philosophischer) Ansicht sich begreifen läßt, so wäre eine Philosophie der Offenbarung nichts anderes, als der höchste Triumph der ge-

*

*

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Erste Vorlesung

schichtlichen Philosophie selbst, nämJich ihre letzte Entwicklung. Nun habe ich aber nicht bloß eine Philosophie der Offenbarung angekündigt, sondern ich lasse sie auch hervorgehen aus der Philosophie der Mythologie: ich gebe diese Vorträge als eine Folge der frühem. Man könnte nun fragen: »Was haben Offenbarung und Mythologie ge1nein? Die Religion der Mythologie ist Polytheismus - die geoffenbarte Religion ist Monotheismus. Was kann also die wahre Religion mit der falschen gemein haben? Wie will man noch annehmen, daß wahre Re- 10 ligion auf falsche gegründet sei?« Ich bemerke: Ist diese falsche Religion wirklich eine falsche, so ist sie darum noch nicht Irreligion; denn der Irrtmn besteht nicht im gänzlichen Mangel an Wahrheit. Irrtum ist nur entstellte Wahrheit - die falsche Religion also nur die entstellte wahre Religion. Wenn die fal- 15 sehe Religion nur entstellt ist, so folgt, daß die eigentlichen Faktoren in der wahren und falschen Religion nicht verschieden sind, sondern nur ihre Stellung. Der Inhalt ist in beiden gleich, nur entstellt ist er in der falschen. Nun ist klar, wie das Falsche die Voraussetzung des Wahren sein könne. In jeder 20 Bewegung muß, um die Wahrheit zu erreichen, das nicht Wahre vorausgehen; denn dies ist der eigentliche Sinn, dies die Wahrheit der Bewegung. Alle Momente der Bewegung, die der Erreichung des Zieles vorausgehen, enthalten nicht das Wahre der Bewegung, sondern können Ursache einer möglichen Täu- 25 schung sein, d. i., Irrtum. Die ganze Natur ist eine solche Bewegung. Das Ziel ist der Mensch, das Wahre der Natur; was sonst überall im scheinbaren Verhältnisse steht, das steht im Menschen im wahren Verhältnisse. Die unorganische Natur ist die Voraussetzung der organischen, diese wieder die Voraus- 30 setzung der menschlichen Natur. Also das nicht Wahre ist Voraussetzung des Wahren - die Stufe zum Wahren. Die Faktoren der unorganischen und organischen Natur sind gleich, nur die Stellung ist eine andere. Was in der organischen Natur hoch und dominierend ist, das ist in der unorganischen Natur 35 stmnm. In Ansehung der menschlichen Erkenntnis ist zu unterschei-

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Erste Vorlesung

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den zwischen der unmittelbaren, nicht auf die Probe gestellten, Wahrheit, und zwischen der mittelbaren, durch Überwindung des Irrtums gesteigerten, Wahrheit. Der Mensch im Paradiese war unstreitig in der Wahrheit; sie war aber nicht eine geprüfte 5 Wahrheit - sie hatte den Versuch nicht bestanden. Daher mußte die Versuchung kommen; der Mensch konnte aus der Wahrheit herausfallen, aber nicht, um sie zu verlieren, sondern um sie durch Überwindung des Irrtums wiederzugewinnen. Wenn Sie diesen Unterschied festhalten, so werden Sie einsehen, wie in 10 der menschlichen Erkenntnis der Irrtum die Voraussetzung der Wahrheit ist. Es gibt nur eine Wahrheit, nämlich jene, welche gegen den Irrtum den Sieg errungen hat. Die Wahrheit des Christentums ist nicht eine unmittelbar gegebene, sondern eine gesteigerte, darum eine weit höhere, so daß man sagen kann: 15 Der Mensch hat durch den Irrtum weit mehr gewonnen, als verloren. Sie ist eine gesteigerte Wahrheit, über die weit mehr Freude ist im menschlichen Bewußtsein, als über die Erkenntnis der absoluten Wahrheit - oder, wie Christus sagt - über den Bußfertigen wird im Himmel mehr Freude sein, als über 99 20 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.[*] Das Christentum hat also den großen Irrtum des Heidentums zum Grunde. Zu dieser allgemeinen Auseinandersetzung füge ich noch den entschiedenen Grund hinzu, daß das Christentum selbst das Heidentum als Voraussetzung wirklich erklärt; denn die 25 Hauptwirkung Christi wird erklärt als Erlösung von der blinden Gewalt. In dieser Voraussetzung einer blinden Gewalt stimmt unsere Philosophie der Mythologie mit der Offenbarung überein. Befreiung von dem Heidentum war die Hauptwohltat Christi. Nun wird aber die Realität einer Wohltat nach 30 der Realität des entfernten Übels beurteilt. Ehe also die Realität des Heidentums erkannt ist, kann unmöglich die Realität des Christentums erkannt werden. Also auch in diesem Betracht rechtfertigt sich die Stellung der Philosophie der Mythologie als Voraussetzung zur Philosophie der Offenbarung. [*] Matth. 18, 13. Luk. 15,7.

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Zweite Vorlesung

2.

M. H. Die Philosophie der Mythologie ist der Philosophie der Offenbarung vorausgesetzt. Dies wurde in der letzten Stunde aufgestellt, erklärt und begründet. Bisherige Gründe waren folgende: 1) Der Inhalt der Offenbarung ist nicht unmittelbare Erkenntnis, sondern er setzt den Irrtum, den Abfall (Heidentum) voraus; 2) es erklärt sich das Christentum selbst als Erlösung von der blinden Gewalt. Zu diesen beiden Gründen füge ich noch einen dritten hinzu. In dem Begriff der Offenbarung liegt die Vorstellung von einem besondern Verhältnisse des menschlichen Bewußtseins zu Gott. Dieses Verhältnis ist kein natürliches, sondern ein außerordentliches; doch ist es nicht Urverhältnis, und kann also nicht bleibend, sondern muß vorübergehend gedacht werden. Selbst der Apostel der letzten Offenbarung gibt eine Zeit höherer Offenbarungen an, wo Weissagungen und außerordentliche Erscheinungen nimmer stattfinden. Das Verhältnis, worin in der Offenbarung das menschliche Bewußtsein zu Gott gedacht wird, ist kein ursprüngliches, kein allgemeines, kein ewiges Verhältnis; es beruht nur auf einem faktischen, empirischen und vorübergehenden Zustand. Um also eine Offenbarung auch nur formell zu begreifen, muß man vorerst jenen vorübergehenden Zustand des menschlichen Bewußtseins begreifen. Um nun aber diesen Zustand geschichtlich zu begreifen, müßte er als unabhängig von der Offenbarung sich begreifen lassen; er müßte ferner durch eine, von der Offenbarung unabhängige, Tatsache bewiesen werden. Diese Tatsache ist Philosophie der Mythologie. Demnach haben wir das Verhältnis der Mythologie zur Offenbarung richtig bestimmt. Ein fernerer Gesichtspunkt ist noch dieser: Die Offenbarung wird allgemein als etwas Übernatürliches betrachtet. »übernatürlich« ist aber nur ein relativer Begriff, und setzt ein Natürliches, das er überwindet, voraus; denn sonst wäre er nicht actu übernatürlich. übernatürliche Religion setzt also eine natürliche voraus. Wo finden wir aber die natürliche Religion? Zwar läßt sich von der Mythologie nicht überhaupt sagen, daß sie dem Menschengeschlecht natürlich gewesen sei; aber das Bewußtsein ist aus

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Zweite Vorlesung

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seinem ursprünglichen Verhältnisse zu Gott herausgesetzt, und wird eben dadurch einem Prozeß unterworfen, durch den es in eben jenes Verhältnis zu Gott zurückversetzt wird. Wenn ein Organ im menschlichen Körper abgewichen ist, entsteht ein 5 Krankheitsprozeß. Die Krankheit ist nichts Natürliches, aber der Prozeß ist natürlich, der aus dem Abweichen des Organs entsteht, um es in seinen frühem Zustand zurückzuführen. Doch wie gesagt - der Grund des Prozesses kann nicht als natürlich dargestellt werden. Der Prozeß der Mythologie ist 10 Regeneration des religiösen Bewußtseins, folglich nichts anders, als ein Religion erzeugender Prozeß, worin das Bewußtsein seinen eigenen, natürlichen Kräften überlassen ist; es ist also ein natürlicher Prozeß. Die Religion ist eine natürlich sich erzeugende, wobei der Gottheit kein Anteil zugeschrieben 15 wird; sie ist erzeugt durch das rekonstituierte Bewußtsein. Dies stimmt überein mit der Erklärung des Apostels Paulus, der das Heidentum mit einem wilden, das Judentum mit einem zahn1en Ölbaum vergleicht.[*] Also ist das Verhältnis der Mythologie und Offenbarung richtig bestimmt. 20 Nun habe ich aber auch bemerkt, daß das übernatürliche nicht zu denken sei ohne Verhältnis zu dem Natürlichen, insofern es erst erkannt wird dadurch, daß es das Natürliche besiegt, wie das Licht erkannt wird, indem es die Finsternis überwindet. Das Natürliche ist Voraussetzung des Übernatür25 liehen. Das Eigentfünliche der Mythologie ist Polytheismus das der Offenbarung Monotheismus. Daher bemerke ich, daß Religion von Religion dem letzten Inhalte nach nicht verschieden sein kann. Es ist ein und derselbe Gott, der aber dem mythologischen Bewußtsein in der gegenseitigen Spannung 30 seiner Potenzen erscheint - dem geoffenbarten hingegen als die Einheit, als das Wesen der getrennten Potenzen. In der Trennung der Potenzen ist Gott außer sich gesetzt, ist exoterisch; er verhält sich nur als Natur, wie die äußere Natur nichts anderes ist, als Trennung, Spannung. Gott, wie er wirklich ist, ist 35 esoterisch, Einheit der Potenzen. Indem die Einheit durch-

*

[*] Roem. 11.

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Zweite Vorlesung

bricht, offenbart sich Gott an sich, der Übernatürliche als solcher. Der Offenbarungsbegriff setzt eine ursprüngliche Verdunklung voraus. Gott kann sich nur offenbaren, indem er jene Verdunklung durchbricht. Der Mensch ist aus der ursprünglichen Einheit in die Äußerlichkeit mit seinem Bewußtsein geraten, und nur so kann man sich die Entstehung der Mythologie erklären. Hieraus ist klar, daß man in der Geschichte der Menschheit nicht von Offenbarung anfangen könne, indem sie eine Verdunklung voraussetzt, die erst erklärt werden muß. Der Anfang der Erkenntnis läßt sich nicht von Offenbarung herschreiben. Der Urmensch befand sich nicht in einem Zustande, dem Offenbarung notwendig war; er war sozusagen - mit dem göttlichen Bewußtsein verbunden - ja das Urbewußtsein könnte man sagen - ist das göttliche Sein selbst gewesen. Aus dieser innigen Verfließung mit Gott mußte der Mensch zuerst gefallen sein, ehe Offenbarung notwendig und möglich war. Mythologie ist also notwendige Voraussetzung einer möglichen Offenbarung. Inwiefern die geoffenbarte Religion als übernatürlich entstanden gedacht wird, wird das System, welches eine geoffenbarte Religion im eigentlichen Sinne des Wortes annimmt, Supernaturalismus genannt.[*) Aber unsere Erklärung des Übernatürlichen zeigt, daß es auch falsche Vorstellungen vom Übernatürlichen geben könne, welche sich närn.lich gänzlich von dem Natürlichen losreißen. Dadurch entsteht das Unnatürliche. Bei der gegenwärtigen Untersuchung will ich auch den Supernaturalismus, der bei der gewöhnlichen Behandlung, als unnatürlich, alle edlem und freiem Geister zurückstößt, durch den Zusan1menhang mit den1 Natürlichen selbst natürlich zu machen suchen. Durch alles Bisherige glaube ich nun hinlänglich die Stellung, welche ich der Philosophie der Mythologie gegeben habe, gerechtfertigt zu haben. [*] Im allgemeinen erkennt der Rationalismus das höchste Gesetz in

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der Vernunft. als einer natürlichen Offenbarung Gottes, der Supranaturalismus in einer heiligen Überlieferung, als übernatürlicher Offen- 35 banmg. Hase i. s. KGschte. S. 561.

Zweite Vorlesung

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Alles, was bis jetzt unbestimmt ausgedrückt war, wird in der Folge seine völlige Bestimmtheit erhalten. Obschon diese Vorträge sich auf frühere beziehen, werde ich doch dafür sorgen, daß auch diejenigen Herren sie verstehen, welche die frühem o nicht gehört haben. Für heute nur noch einige freie Bemerkungen. Ich habe den Begriff der natürlichen Religion für die Mythologie vindiziert, und die natürliche Religion der geoffenbarten entgegengesetzt. Diese Entgegensetzung wird auch 111 sonst, aber in einem anderen Sinne, angenommen. Man versteht nämlich unter ))natürlicher Religion« die Religion als Erzeugnis der bloßen Philosophie, wie die natürliche Theologie ein Teil der ehemaligen Metaphysik ist. Bleibt man dabei stehen, so steht der Offenbarung nur die rationelle Religion 15 entgegen. Da gibt es zwei Quellen der Religion, entweder Vernunft oder Offenbarung. Wenn es aber keine andere Quelle gibt, als Vernunft, dann fehlt es dem Menschen an einer eigentümlichen Quelle der Religion. Vernunft kann nicht Prinzip der Religion sein; denn so gäbe es für die Religion keine andere 211 Quelle der Erkenntnis, als wie für die Geometrie. Es ist klar, daß die Religion eine besondere Sphäre im Menschen sei. Daher erkannten einige das Gefühl für die Quelle der Religion; aber dieses ist ja Organ für noch gar vieles andere. Das Gefühl ward durchaus in einer rationalistischen Zeit zwei25 dcutig angesehen, weshalb Jacobi, der so viel auf Gefühl hält und fast sein Lobredner war, das Gefühl wieder mit der Vernunft identifizierte, weil er die Vernunft als ursprüngliches Wissen von Gott, als nichtwissenschaftliches Wissen von Gott, erkannte, inde1n er sich den, Zeitalter zurecht zu machen 30 suchte, wie er denn überhaupt ein schwankendes Rohr war und jedem äußern Zuge sich hingab. Mit dem Beweise jener Voraussetzung macht er sich's bequem, indem er also schließt: »Nur der Mensch weiß, das Tier weiß nichts von Gott. Die Vernunft ist also das Unterscheidende des Menschen vom JS Tiere - also muß die Vernunft das notwendig und ursprünglich Gott Erkennende sein.« Den Untersatz beweist er so: 1,Noch nie hat jemand von tierischer Vernunft gesprochen.« Jacobi

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Zweite Vorlesung

muß auf menschliche Reden wenig Acht gegeben haben. Wie oft hört man sagen: »Dies ist ein vernünftiges Tier!?« Man erklärt auch oft Tiere für närrisch: also haben die Tiere im gewissen Sinne Vernunft. Nun ward denn alle Religion, außer der geoffenbarten, wie- 5 der rationell. Aber ein nicht bloß ideales, sondern ein reales Verhältnis zu Gott suchte man - fand es aber nicht. - Mythologie ist, wie ich schon erklärt habe, die natürlich sich erzeugende Religion. Daraus folgt, daß wir im Menschen ein natura sua Gott setzendes Prinzip anerkennen müssen, und ein solches 10 Prinzip wird, wenn es aus dem ursprünglichen Verhältnisse gekommen, durch notwendigen Prozeß in dieses Verhältnis wieder zurückkehren müssen. Die Offenbarung bedarf daher, um dem Menschen begreiflich zu werden, ein anderes Verhältnis, als das, welches er im freien Wissen und Denken hat; 15 sie bedarf nicht bloß ein ideales, sondern auch reales, Verhältnis des Menschen zu Gott. Was daher die Philosophie der Mythologie begründet, begründet auch die Philosophie der Offenbarung. Überhaupt ändert sich nun mit dieser Erklärung die ganze 20 Stellung der durch Offenbarung erzeugten Religion: diese steht sowohl der Vernunftreligion, als auch der natürlichen (Mythologie) entgegen. Vorerst hatten wir nur eine natürliche Religion (Mythologie) und eine übernatürliche (Offenbarung). Vollständigere Entwicklungen geben jetzt drei Begriffe. Wir haben 25 jetzt außer jenen beiden 3) die Religion des freien Verstandes und der Vernunfterkenntnis. Nun ändert sich die Stellung der Offenbarung gegen den Rationalismus, der siegte, weil ihm bloß die Offenbarung entgegenstand. Nun steht ihm aber auch die Mythologie, welche auch nicht rationell ist, entgegen. Die 30 wahre Einteilung ist also diese: Als höchstes genus Religion überhaupt; die beiden nächsten genera sind a) wissenschaftliche Religion b) nichtwissenschaftliche Religion. Dieser dann unterstehen 1) die natürliche 2) die übernatürliche Religion, die ihren Gegensatz nun nicht mehr in der rationellen Religion 35 allein, sondern auch in der natürlichen, hat. Zu jeder wahren Definition gehört, daß das genus proximum und die differentia

Dritte Vorlesung

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specifica angegeben werden - die vollste Definition der geoffenbarten Religion ist also: Sie gehört unter die Gattung der nichtwissenschaftlichen Religion - ihre Besonderheit ist, daß sie keinen natürlichen, sondern übernatürlichen, Inhalt und s Ursprung hat.

3.

M. H. Eine gewisse Beziehung zwischen Mythologie und Offenbarung muß darum schon zugegeben werden, weil die mythologische Religion doch auch Religion ist. Der Unter111 schied zwischen wahrer und falscher Religion kann nicht in den eigentlichen Prinzipien, den eigentlichen Faktoren der Religion liegen. Sie sind im menschlichen Bewußtsein überall gleich; nur die Stellung ist eine verschiedene, eine entgegengesetzte. In der Krankheit sind keine anderen Faktoren der Organisation 15 anzunehmen, als in der Gesundheit; nur die Stellung ist verrückt. Deswegen ist die Krankheit das falsche Leben, Gesundheit das wahre. Die Faktoren, die erzeugenden Potenzen, sind * gleich - die Stellung aber ist verschieden. r*l In der falschen

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[*] NB. Jede bestimmte quantitative Differenz der Subjektivität und Objektivität, wodurch ein Einzelnes als Endliches im Gegensatzes gegen die Totalität des Universums, d. h., als diese bestimmte Form des Seins gegen das allgemeine Sein überhaupt gesetzt wird, heißt eine I'oten:::. Jede einzelne endliche Potenz hingegen besteht aus einem positiven und negativen Faktor, welche beide an sich unendlich sind. Wie 25 111111 A - B überhaupt der Ausdruck von Endlichkeit ist, so ist demnach A Subjekt als das Begründende oder als der negative Faktor; ß Objekt hingegen als das ursprünglich Seiende, oder das an sich Unbegrenzte aber Begrenzbare, und mithin als der positive Faktor zu betrachten. Beide Faktoren aber sind an sich unendlich. in wie ferne das eine und 30 gleiche Identische in beiden, obschon in einem jeden derselben mit einem Übergewichte der Subjektivität oder Objektivität gesetzt ist. Da also beide Faktoren an sich unendlich, das B Objekt aber als das, welches ursprünglich ist, das an sich Unbegrenzte doch Begrenzbare positiv, hingegen das A Subjekt als das Begrenzende, folglich als das 35 Prinzip der Endlichkeit und als der negative Faktor gesetzt ist; so

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Religion ist die Stellung eine falsche; in der wahren Religion sind die Faktoren in ihrer Wahrheit, in ihren ursprünglichen Terminis, gesetzt. In jeder geschehenden Entwicklung geht Verkehrtes voraus; das Wahre erscheint als das zurechtgestellte Falsche. So geht auch die unorganische Natur der organischen 5 voraus, und erst der Mensch ist das vollkommendste Erzeugnis, in welchem alle Potenzen vereinigt sind. In der Geschichte muß also auch die falsche Religion der wahren vorausgehen. So kündet sich das Christentum an nicht als unmittelbar entstandene Religion, sondern als Erlösung von einer blinden 10 Macht. Bloß formell betrachtet setzt jede Offenbarung im eigentlichen Sinne einen außerordentlichen Zustand des menschlichen Bewußtseins voraus. Dieser Zustand ist entstanden durch jenes Verhängnis, welches das menschliche Bewußtsein der blinden Macht der Mythologie unterordnet. Nur durch 15 diese Katastrophe erhielt das menschliche Bewußtsein jenes Verhältnis zu der Gottheit, wie es die Offenbarung dartut. Das Urverhältnis des Menschen zu Gott war unmittelbar; dieses ward aufgehoben, damit Offenbarung eintreten könne. Das übernatürliche kann sich nur manifestieren, wenn es das Na- 20 türliche überwindet. Denken Sie sich dies so: Eigentlich ist das ursprüngliche Verhältnis des Menschen zu Gott an sich ein übernatürliches. Der Mensch ist in der Schöpfung über die Dinge erhaben; ist der Quelle der Schöpfung gleich; er ist in unmittelbarer Ge1neinschaft mit dem Schöpfer; denn er ist in 25 das Zentrum, nicht in die Peripherie, erschaffen. D_ie sich zutragende Veränderung besteht darin, daß er aus dem übernatürlichen ins natürliche Verhältnis herabsank, welches im Grunde für ihn ein unnatürliches war. Die Funktion der Offenbarung ist, den Menschen aus dem natürlichen Verhältnisse wieder ins 30 übernatürliche zu erheben. Nur was aus dem ursprünglichen können also weder A noch B in irgendeinem Teile des Alls, d. h., in irgend einem Individuum als absolute Subjektivität oder Objektivität, sondern nur als das Identische von beiden mit überwiegender Subjektivität oder Objektivität von den beiden Polen nach entgegengesetzten 35 Richtungen und die quantitative Indifferenz beider im Mittelpunkt gesetzt sein. -

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Übernatürlichen sank, kann dahin wieder erhoben werden. Bei dieser Gelegenheit wurde gezeigt, wie die Vernunftreligion als direkter Gegensatz der geoffenbarten erscheint. Indem die geoffenbarte Religion nicht direkt mehr der Naturreligion (da beide nicht wissenschaftlich erzeugt sind), sondern der Vernunftreligion entgegensteht, ändert sich ihre Stellung. Die Vernunftreligion steht jetzt der nichtwissenschaftlichen Religion entgegen, welch letztere zwei Spezies hat, nämlich 1) die natürliche Religion, und 2) die geoffenbarte Religion, welche auf einem übernatürlichen Vorgange beruht, der nur begreiflich wird, insofern er mit der natürlichen verbunden wird, indem er den mythologischen Prozeß zur Basis hat. Nach Entwicklung des Begriffs von wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher (natürlicher und geoffenbarter) Religion will ich bemerken, daß sie eine zusammenhängende Kette bilden, aus der kein Glied entfernt werden kann. Eine philosophische Religion kann sich nur erzeugen als ein drittes, durch natürliche und geoffenbarte Religion vermitteltes. Die natürliche Religion ist der Anfang; sie ist die notwendige, die blinde Religion, die Religion der Superstition. Die Offenbarung erlöst die Menschheit von der blinden Religion. Zuerst also muß erkannt werden die blinde Befangenheit in natürlicher Religion, dann die Erlösung. Zuletzt kann erst die Religion einer freien Einsicht entstehen. Daß nun übrigens die durch Mythologie und Offenbarung entstandenen Religionen im gemeinschaftlichen Gegensatze gegen Vernunftreligion stehen, ist zu schließen aus ihrem gemeinschaftlichen Schicksal in der Beurteilung der Menschen. Denn wie man sich schon seit langem aus der Offenbarung alles Eigentümliche unter dem Vorwande, es gehöre bloß zur Einkleidung, entfernt, indem man sie alles dessen, was ihrem Unterschied von der Vernunftreligion macht, beraubt, alles Historische nimmt und sie ganz rationalisiert: gerade so wollte man auch in der Mythologie alles Historische als bloße Einkleidung erklären, und nur philosophisch = physikalische Begriffe übriglassen. Wie dort das Christentum, so sollten auch hier der uralte Glaube der Völker, für den sie ihr Leben hingaben, in bloße Philosophie aufgelöst

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werden. Indem man so die eine Seite in der nichtwissenschaftlichen Religion mißkannte, begriff man auch die andere Seite, die Offenbarung, nicht. Vom Standpunkte des Rationalismus aus betrachtet, der alles Geschichtliche in Erklärung der Welt ausschließt, bildet die Mythologie nur ein Chaos unsinniger Vorstellungen! Jedem muß von diesem Standpunkte aus das Historische des Christentums aber so ungereimt vorkommen als die mythologischen Vorstellungen. Der Rationalist stellt das Eminente des Christentumes als heidnisch dar, nämlich das Geschichtliche. Aber eben das Geschichtliche ist das Christenturn (nicht das gern.ein Geschichtliche, sondern das höher Geschichtliche, das des Christentumes Inhalt ist, das Geschichtliche, in das das Göttliche selbst verflochten ist, wo das Niedere nicht in Betracht kommt, etwa, daß unter Augustus es war, als Christus geboren, unter Tiberius, als er gekreuzigt wurde). Eine schlechte Erklärung ist also die, welche das Geschichtliche vertilgt, und bloß das Doktrinelle annim.mt. Dies besteht ja gerade im. Geschichtlichen. Was nach Vertilgung des Geschichtlichen übrig bliebe, etwa die Moral, wäre nichts Besonderes, nichts absolut Auszeichnendes; sogar die Feindesliebe war den Heiden nicht unbekannt. Wie aber das höher Geschichtliche auch cioktrinell sein könne, blieb dem Rationalismus unbegreiflich. Die Philosophie der Mythologie zeigt, wie auch diese als eine im gewissen Sinne wahre Geschichte im. menschlichen Bewußtsein zu betrachten sei. Sie weist ferner das Doktrinelle, als das eben in ihr Geschichtliche selbst nach. Das Geschichtliche ist das Doktrinelle und diese Identität muß auch im Christentum festgehalten werden. Wie die Mythologie durchaus eigentümlich zu verstehen ist, nicht allegorisch erklärt werden kann, - so ist es auch das Christentum. Es wäre eine schlechte Philosophie der Offenbarung, welche das Geschichtliche des Christentumes als Allegorie auslegte. Wer es nicht in seiner strengen Eigentlichkeit begreift, begreift es gar nicht. Manche Versuche, spezielle Dogmen der katholischen Kirche auf poetische Art darzustellen, waren höchst lax und durchaus nichts Beweisendes; so könnte allem philosophischer Schein gegeben werden. Es genügt nicht, das Christentum

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bloß ungefähr darzustellen, es muß in seiner ganzen Eigentlichkeit dargestellt werden. Dazu aber gehört mehr, als bisherige Philosophie; hierzu wird erfordert ein bis auf den Anfang der Geschichte zurückgehendes System. Das Christentum ist 5 so alt, als die Welt; doch nicht so, wie Tindal es meint, in dem er das Christentum als Vernunftreligion betrachtet (Cf Matth. Tindal-Christianity as old as the Creation: or, the Gospel a Republication ofthe Religion ofNature. London, 1732. 8.) Mit der Welt entstand das Christentum; es ist selbst nur das Ende 10 jener göttlichen Geschichte, die mit der Welt angefangen hat. Außerdem ist hinlänglich bewiesen, daß eine Philosophie des Christentumes eine Philosophie der Mythologie voraussetzt. Was den Gegensatz vom Doktrinellen und Geschichtlichen betrifft, so sind auch die besseren Theologen keineswegs über die 15 Realität dieses Geschichtlichen einig, wie ein großer Theolog behauptet, er erkenne große Weisheit darin, daß Christus nur solche Werkzeuge zur Verbreitung seiner Lehre auserwählte, daß sie nur in der Form der Geschichte vorgetragen werden konnte. Diese Äußerung setzt voraus, daß das Geschichtliche w nur zufällige Form sei. Plank war jener Theolog. Was bleibt nun übrig? Gerade das Geschichtliche ist das Wesen des Christentumes, und daher konnte es der Dialektiker Paulus in keiner andern Form vortragen. Man spreche überhaupt nicht immer von der Lehre Jesu - diese Lehre ist Christus selbst. Das 25 Christentum ist keine eigentliche Lehre, sondern eine Sache, ein Objekt. Wenn man behauptet, daß das Verständnis des Christentumes dadurch verdunkelt wurde, daß die Erkenntnis der Lehre zurückgetreten sei gegen die Objektivität, so kann man auch sehen, daß später unter dem Streite über die her30 vorragende Lehre die Sache selbst ins Dunkel trat. Meine Absicht ist nicht auf die Lehre, auf die Dogmatik, sondern lediglich auf die Sache, auf das Objekt, gerichtet - ich will das Christentum im Zusammenhange mit der großen Geschichte von der Schöpfung her darstellen. Eine Andeutung habe ich 35 schon in den »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums« gegeben. Ich mache jetzt schon darauf aufmerksam, welchen Kontrast meine Ansichten mit denen des Kant in

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seiner [» ]Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« geben werden. Kant nimmt bloß das Moralische aus dem Christentum und sucht nur dieses unter das Volk zu bringen, und das Geschichtliche gänzlich verschwinden zu lassen. In jenem Werke ist das Christentum als Sache gänzlich ver- 5 schwunden. Ich habe nun die Hauptpunkte hinlänglich auseinandergesetzt, warum ich Philosophie der Offenbarung auf meine frühem Vorträge stütze. Um also verstanden zu werden, müßte ich wohl das erstere wiederholen. Doch ist dies nicht genug: 10 wahre Erklärung ist nicht möglich ohne ein bis auf die Schöpfung zurückgehendes geschichtliches System. Auch werde ich kein anderes Verständnis, um den Vortrag erklärlich zu machen, voraussetzen, als jenes logische Denken, das zum Studium der Philosophie überhaupt notwendig ist. Ich werde 15 ausgehen von dem ersten Anfang der Philosophie, werde fortschreiten bis zu dem Punkte, wo ein Übergang in die Philosophie der Mythologie möglich ist; aus dieser will ich herausheben, was zur Philosophie der Offenbarung notwendig ist. Wenn die eigentlichen Faktoren überall dieselben sind, so will 20 ich bloß das Fom1elle der Mythologie, nicht sie selbst in ihrem ganzen Umfange, darstellen, wozu es allerdings an Zeit 1nangeln würde. Kein Teil aber wird eine bloße Wiederholung sein, weil ich alles gleich in möglicher Beziehung auf die Offenbarung darstelle, alles gedrängt, schlicht und einfach. Der Trieb 25 des Fortschreitens 1neiner Ideen ist zugleich mit ihnen aufgewachsen. Wollen Sie daher nichts unter ähnlichen Namen mit dem Meinigen verwechseln. Es ist begreiflich, wie ich mit diesem Vortrage in die Mitte zweier Parteien gerate, und von zwei Seiten dem Mißverstande 30 bloß gegeben bin. Ein Vortrag, wie der jetzige, wo ein akademischer Lehrer sein ganzes Vertrauen seinen Zuhörern schenkt, - ein solcher Vortrag kann nicht wie ein gewöhnlicher angesehen werden.

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4. M.H. Man kann die Philosophie erklären als die schlechthin von vorne anfangende Wissenschaft. Dies kann aber im objektiven und subjektiven Sinne genommen werden. Der subjektive Sinn wäre der, daß man mit jedem, der Philosophie studieren will, auf das möglichste Minimum der Erkenntnis zurückzugehen habe, und so erst Schritt vor Schritt das Gebäude dieser Wissenschaft in ihm aufführen solle. In diesem Sinne ist die Erklärung völlig unbegründet, nämlich daß die Philosophie eine von vorne anfangende Wissenschaft sei. Denn gleich wie Sokrates bei Plato die mit dem Scheinwissen der Eleatischen Schule Aufgeblähten vor allem mit leichten Fragen auf die Elemente zurückzuführen und so gleichsam auf schmale Kost zu setzen suchte, um sie für das wahre Wissen wieder empfänglich zu machen, - oder gleich wie ein Arzt, bevor er mit einer stärkenden Arzenei, etwa mit China, zu Werke geht, zuerst Reinigungsmittel anzuwenden sucht, um das Übel nicht vielmehr zu verschlimmern; ebenso möchte wohl jeder, besonders der, welcher die ersten Begriffe von Philosophie unter dem Einflusse einer alles versprechenden, aber nichts zur Wahrheit bringenden, Zeit empfangen hat, wohl einiger Vorübungen bedürfen, um von Vorurteilen und der Angewöhnung falscher Denkverknüpfungen befreit, und so für die wahre Wissenschaft empfänglich gemacht zu werden. Aber all diese Vorübungen, obschon subjektiv notwendig, sind nicht die Philosophie selbst, d. h., die Philosophie in ihrer Objektivität; denn diese scheut sich nicht, gleich bei ihrem ersten Auftreten die höchste Forderung auszusprechen. Sie kündigt sich nicht als eine Wissenschaft an, die mit der Notwendigkeit anfängt, sich allem zu unterwerfen, was bei einer gewissen Art der Gedankenverbindung zum Vorschein kommt; sie kündigt sich vielmehr als Wissenschaft an, die einen bestimmten Zweck hat, und keineswegs gesonnen ist, das für wahr anzunehmen, was dem entschiedenen Wollen widerspricht. Die Philosophie macht daher zuvörderst unverhohlen eine Forderung an sich selbst: sie verlangt, daß sie etwas Gewisses mit Bewußtsein erreiche. Sollte denn die Philosophie blindlings und ohne

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Zweck handeln? wie etwa jener Maler, von dem Cervantes erzählt, daß er, als man ihn fragte, was er denn male, zur Antwort gab: Was herauskommt! Wenn ein Maler statt einer Kirche auch ein Wirtshaus, oder statt einer reifen Traube eine unreife malen würde, so wäre es doch noch ein Gemaltes. 5 Anders ist es in der Philosophie. Selbst ein bloßer Beobachter derselben würde nicht zugeben, daß eine, alle Gründe der Sittlichkeit aufhebende, Lehre Sittlichkeit selbst sei, oder daß alle Tugenden für Wahnsinn angesehen werden müssen, selbst dann, wenn diese Lehre mit einem Schein von Wahrheit oder 10 einer unumstößlichen Konsequenz dargestellt wäre. Also selbst der Unwissende, d. h., der nicht von sich selbst Philosophierende, macht an die Philosophie eine gewisse Forderung. Manche Schriftsteller jedoch haben sich begnügt, philosophische Systeme von der sittlichen Seite anzugreifen, ohne sich auf 15 das Wissenschaftliche einzulassen. Dadurch aber, daß sie es umgingen, zeigten sie nur die Angst, als könnte ein überlegener Verstand auch das Unsittliche sittlich machen, und brachten dadurch den Verstand in ein fremdes Verhältnis gegen die Religion. Aber so seltsam ist der Mensch nicht organisiert. Er 20 kann sich überzeugt halten, daß alles Unsittliche unverständig, und das, was der höchste Verstand erkennt, in seinem Wesen auch sittlich sei, und daß jenes Prinzip der Römischen Sittenlehre: [»]Nihil utile, nisi quod honestum« auch vom Wahren gelte. Darin stimmen wenigstens alle überein, daß die Philo- 25 sophie etwas Vernünftiges herausbringen müsse, ja, sie gestehen ihr auch einen vernünftigen Zweck zu. Es fragt sich aber nicht, ob man etwas Vernünftiges wolle, sondern ob es hinlänglich sei, etwas aus der Vernunft notwendig Folgendes erzeugt zu haben. Die Frage ist, ob man sagen kann, daß die 30 Philosophie eine Sache wirklich begriffen habe, wenn man erklärt, daß sie vernünftig sei. Man nimmt hier die Vernunft als etwas Absolutes, keines weiteren Forschens mehr Bedürftiges. Vernünftig ist aber nur, was aus der eingesetzten Ordnung der Dinge folgt. Die Vernunft äußert sich als Gefühl der allgemei- 35 nen Temperatur, in die die Dinge gesetzt sind - sie ist das Gefühl einer allgemeinen Spannung. Man sieht wohl, daß die

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Vernunft eine Temperatur sei, die sich über alles erstreckt, und sich nur im menschlichen Bewußtsein ausdrückt. Die Vernunft bedarf aber selbst einer Erklärung, und deswegen kann man mit der bloßen Erklärung, daß man in der Philosophie das 5 Vernünftige wolle, sich keineswegs begnügen; denn es erscheint in der Wirklichkeit gar vieles, was nicht Folge der Vernunft, sondern der Freiheit zu sein scheint. Man kann daher eher sagen, daß die Philosophie mehr ein Absehen des Sittlichen, als des Vernünftigen sei; die Philosophie muß auch die 10 Freiheit anerkennen, weswegen es aufrichtiger ist, zu sagen, daß jenes Wollen, welches die Philosophie leitet, ein sittliches Wollen sei, welches seinen Grund in der Freiheit hat. Dies beweist schon der Umstand, daß von jeher in Sachen der Philosophie der Vorwurf der Unwahrheit anders empfunden 15 wurde, als in andern Wissenschaften. Wer ein philosophisches System angreift, greift nicht nur den Verstand, sondern auch das Wollen des Philosophen an. Wem erwiesen wird, daß er das Rechte nicht erreicht habe, der fühlt sich immer auch in seinem moralischen Werte verkürzt. Es ist ein richtiger Satz: Wie der 20 Mensch, so seine Philosophie - oder wie die Philosophie des Menschen, so er selbst. Schon der Name Philosophie enthält, daß sie wesentlich ein Wollen ist. Philosophie heißt »Wollen der Weisheit«. Nicht jede Erkenntnis, sondern nur die der Weisheit, genügt der Philosophie. Um niich kurz über das Wort Weisheit 25 selbst zu erklären, so unterscheidet schon der gemeine Sprachgebrauch Weisheit von Klugheit. Klug ist der, welcher sich vor dem Übel zu hüten weiß. Von dieser negativen Seite betrachtet, gehört Klugheit, wie zu allem andern, so besonders zur Philosophie; denn einer Schlangenklugheit bedarf man, um sich 30 vor dem Irrtllln zu hüten, da der Verleitungen so viele sind. Die Klugheit erscheint insofern nur als Mittel, und nimmt deswegen einen zweideutigen Charakter an. Sie hat ihren Wert erst durch den Zweck. Man nennt aber auch den klug, der zur Erreichung des Zweckes die sichersten und kürzesten Mittel 35 wählt, gleich viel, ob sittliche oder unsittliche; denn Klugheit verträgt sich auch mit Zwecken, welche, als unsittlich, keine eigentlichen Zwecke sind: sie richtet ihre Absicht nicht einzig

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auf das wahre Ende, sondern auch auf das zunächst mögliche. Weise ist eigentlich der, so auf das in letzter Instanz Sein Sollende ausgeht. Die Weisheit richtet sich auf das wahre, und eben deswegen bleibende Ende. Die Klugheit sucht ihren Zweck in dem zunächst Wünschenswerten oder Möglichen; die 5 Weisheit in dem, was zuletzt allein Bestand hat, was wahres, bleibendes Ende ist. Jeder Punkt einer fortschreitenden Bewegung ist ein Ende, aber nicht ein Ende, das bleibt, sondern wieder übertroffen wird. So ist es auch in der Philosophie. Nicht jeder Punkt ist das wahre Ende, sondern wird von dem 10 folgenden überboten. Die Weisheit, als das wahre Ende, setzt die Erkenntnis des wahren Endes voraus; aber ohne Erkenntnis des Anfangs ist auch nicht Erkenntnis des Endes möglich. Der Mensch fühlt sich im Beginne seines Daseins . gleichsam in einen Strom geworfen, dem er nicht widerstehen kann; er 15 braucht sich aber nicht fortreißen zu lassen, sondern er ist bestimmt, den Sinn, die wahre Absicht dieser Bewegung, kennenzulernen, um unterscheiden zu können, was in dieser Bewegung Absicht und Ziel, oder bloße Verstellung zu seiner Prüfung ist; er muß sich auch in dem, was unabhängig von 20 ihm, der Bewegung gemäß oder zuwider geschieht, nicht täuschen lassen; er muß suchen, das Böse mit dem Guten zu überwinden. Um den Sinn der Bewegung benützen zu können, muß man ihn kennenlernen. Nun blieben aber in Ansehung der Bewegung doch noch zwei mögliche Fälle. Gesetzt, 25 die Bewegung hat ein bestimmtes Ende, so wäre doch möglich, daß sie eine bloß notwendige Bewegung wäre, deren Anfang nämlich und Fortgang blind ist. Gesetzt, es hätte sich jemand davon überzeugt, der Anfang der Bewegung sei ein blinder, und so auch das Ende, so müßte er doch, wenn er nicht 30 den Kampf mit dem Stärkern bestehen wollte, sich jener blinden Notwendigkeit unterwerfen. Aber diese Unterwerfung wäre Klugheit, nicht Weisheit. Soll der Mensch sein Leben mit Weisheit leben, so muß er voraussetzen, daß auch in jener Bewegung Weisheit, nicht Blindheit, sei; dann kann er sich ihr 35 als frei =, selbst wollendes Wesen unterwerfen. Verlangt der Mensch Weisheit, so muß er voraussetzen, daß der Gegenstand

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seiner Erkenntnis Weisheit sei. Nicht seine eigene Weisheit soll der Mensch in der Philosophie suchen, sondern die objektive Weisheit, die außer ihm existiert. Es ist ein uraltes Axiom, daß das Erkennende wie das Erkannte, und das Erkannte wie das 5 Erkennende sei. Die Erkenntnis, mit welcher Weisheit gegeben werden soll, setzt einen Gegenstand voraus, indem selbst Weisheit ist. Etwas völlig Erkenntnisloses könnte nicht anerkannt werden, d. h., könnte nicht Gegenstand der Erkenntnis sein. Was umgekehrt Gegenstand der Erkenntnis ist, muß das Ge10 präge des Erkennenden an sich haben, wie jedem einleuchtet, der die Kantische Theorie der Erkenntnis innehat.(*] Kant setzt einen an sich verstandlosen Stoff voraus, der aber das Gepräge des Verstandes hat. Die erste Voraussetzung der Philosophie ist, daß in dem Sein - in der Welt - Weisheit sei. Die Philo15 sophie setzt ein Sein voraus, welches gleich anfangs mit Voraussicht, mit Freiheit, entsteht. Ich verlange Weisheit - heißt soviel - als ich verlange ein absichtlich gesetztes Sein. Die erste Erklärung der Philosophie setzt ein Sein voraus, welches gleich anfangs mit Absicht und Freiheit entstanden ist. Nachdem dies 20 ausgesprochen ist, ergibt sich gleich die anfängliche Stellung der Philosophie - und etwas anders und Allgemeines. Es kann nicht die Absicht der Philosophie sein, innerhalb des einmal gewordenen Seins stehen zu bleiben; sie muß über dieses hinausgehen, um es zu begreifen. Es ist ein vulgärer, aber sehr 25 treffender, Ausdruck in der deutschen Sprache: Er sucht hinter die Sache zu kommen - statt - er sucht sie zu begreifen, er sucht die Wahrheit zu ergründen. Die Philosophie will hinter das Sein kommen; ihr Gegenstand ist also nicht das Sein selbst, sondern das, was vor dem Sein ist, um eben das Sein zu 30 begreifen. Hiermit habe ich Sie in den Anfang der Philosophie gestellt. Mögen Sie ihre Aufmerksamkeit auf das, was vor dem Sein ist, wenden. Es ist leicht einzusehen, daß das, was vor dem Sein ist, noch nichts ist in Vergleich mit dem, was es hernach sein wird; 35

[*] KANT, 1. Sämtl. Werke, herausg. von Rosenkranz und Schubert. 12 Bde. 1838 fg. Leipzig.

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nichts im Verhältnisse zu demjenigen Sein, über welches wir hinausgegangen sind. Allein obgleich wir über das Sein hinausgegangen sind, betrachten wir doch das vor dem Sein Seiende in bezug auf das Sein selbst; wir betrachten, was das vor dem Sein Seiende hernach sein wird. Sonst gibt es kein anderes Mittel, das Sein zu erkennen. Wir wollen das Sein begreifen - also müssen wir das, was vor dem Sein ist, in bezug auf das künftige Sein begreifen. Der Ausgangspunkt der Philosophie ist also das, was sein wird, das absolut Zukünftige: es ist also unsere Aufgabe, in die Wesenheit des absolut Zukünftigen einzudringen. Die Absicht der Philosophie ist, dieses Seins mächtig zu werden, um es zu begreifen, den Zauber desselben zu lösen. Jenseits des Seins kann die Philosophie nur antreffen, was sein wird; daher ist's Aufgabe, das, was sein wird, und dessen Begriff zu bestimmen. Dieser letzte Begriff des noch nicht Seienden ist ganz inhaltsleer, ganz negativ; aber der positive Begriff des Sein Könnenden liegt darin verborgen. Das, was sein wird, kann seiner Natur nach nichts anders sein, als das Sein Könnende, worunter man aber nicht versteht, daß es nur unter gewissen Bedingungen sein könne, wie man etwa von Dingen sagt, daß sie sein und nicht sein können - sondern dieses Können des absolut Zukünftigen ist ein aktives Können; es bedarf bloß seiner selbst, um zu sein - oder ein solches, das, um zu sein, nichts bedarf, als zu wollen; wo zwischen Sein und Nichtsein nur das Wollen in der Mitte steht. Um das Gewicht dieses unmittelbar Sein Könnenden einzusehen, muß ich eine Reflexion vorausschicken. Es gibt keine tiefere Frage für den Philosophen, als die, sich zu erklären, wie ursprünglich ein Sein entstehen könne, worauf wir immer einmal zurückkommen müssen; denn an diese Frage heftet sich alles, und wer sie umgeht, beraubt sich jedes Mittels zum Fortschreiten in der Philosophie. Das ursprüngliche Sein ist nur möglich durch Wollen. Allein dem Wollen, das ein actus ist, geht der Wille als potentia des actus voraus, jener Wille nämlich, der noch nicht wirklich will, sondern nur könnend ist. Umgekehrt ist jedes bloße Können ein noch ruhender Wille. Es ist unmöglich, ein Sein zu denken,

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fünfte Vorlesung ohne einen wirklichen Willen, ohne Wollen. Das Sein irgendeines Dinges erkenne ich nur dadurch, daß es sich behauptet, daß es etwas anderes - das Eindringen eines fremdartigen Gegenstandes - ausschließt. Wo wir auf keinen Widerstand sto5 ßen, sagen wir: Da ist nichts; denn Widerstand ist ganz synonym mit Gegenstand, d. i., das Reelle unserer Erkenntnis. Was Etwas ist, muß widerstehen; der Widerstand aber liegt im Wollen - ohne Wollen gibt es keinen Widerstand. Der Wille aber ist das Unüberwindliche, das unbedingt Widerstand lei10 sten Könnende. Ja, man kann selbst sagen: Gott kann den Willen nur durch den Willen besiegen. Der Widerstand ist zweifach - der nämlich im menschlichen Willen, und der dem Zwang entgegengesetzt ist. Der Unterschied zwischen jenem, den der Mensch in seinem Willen entgegensetzt, und zwischen 15 diesem körperlichen Widerstand ist nicht ein Unterschied der Kraft; diese ist in beiden gleich; den Unterschied macht, daß der Wille hier blind, dort lebendig ist; denn nur im moralischen Widerstand wirkt ein besonnener Wille.

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M. H. Die erste Forderung, die an den gemacht wird, der in die Philosophie eingeleitet zu werden wünscht, ist, daß er sich über das vorhandene Sein weg an die Quelle des Seins setzt. Dies ist an sich nicht schwer, und man könnte mit Goethes Faust sagen: »An dieser Quelle will ich gerne hangen, doch sagt mir nur, wie dahin zu gelangen! -«[*]

[*] S. 94. »An ihrem (der Weisheit) Hals will ich mit Freuden hangen; doch sagt mir nur, wie kann ich hingelangen?« 30 Das erste Faustbuch erschien Ei87 bei Spieß in Frankfurt a. M. - Faust soll in Roda bei Weimar geboren sein, in Krakau die Zauberei gelernt und im Spessart mit dem Teufel einen Bund auf zwanzig Jahre gemacht haben. Jetzt erscheint bereits »Mephistophilus (Mephistopheles) als Faust's Gesellschafter, und alle möglichen Wunderwerke auch anderer 35 Zauber. von dem aus der Apostelgeschichte bekannten Magier Simon

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Es fragt sich hier nur: Wie soll ich es anstellen, um zu jener Quelle zu gelangen? Ich sehe wohl, daß alle Begriffe, durch die wir das vorhandene Sein bestimmen, auch auf die Quelle des Seins in Anwendung zu bringen seien; und demnach ist uns ein Mittel zur Bestimmung desselben gegeben: Die Quelle des 5 Seins ist zu bestimmen als das jetzt noch nicht Seiende, aber als das künftig sein Werdende; ihr Wesen ist Zukunft; das nächste Verhältnis des noch nicht Seienden, aber sein Werdenden, ist das, das sein Könnende zu sein. Es ist hier nicht ein abhängiges, sondern das unbedingte Können gemeint. Das, was sein wird, 10 ist das unbedingt sein Könnende, oder das unmittelbar, ohne alle Vermittlung sein Könnende; d. h. nichts anderes, als: Es bedarf, um in das Sein zu gelangen, Nichts, als bloßes Wollen. Zu diesem Begriff des Wollens sind wir schon dadurch berechtigt, weil jedes Können nur ein ruhendes Wollen ist. Die 15 Pflanze im Stande der bloßen Möglichkeit ist der Keim, oder die Pflanze in potentia. Die sich entwickelnde Pflanze ist Pflanze in actu. Das sein könnende Sein ist die unbedingte potentia existendi. Wir kennen aber keinen andern Übergang a potentia ad actum, als das Wollen; wenn der Wille will, ist er 20 seiend, an sich aber nur die Potenz Km' E~OXT]V. Der Übergang a potentia ad actum ist der Übergang vom nicht Wollen zum Wollen; denn das Sein besteht eben im Wollen. Die Unterschiede oder Abstufungen, die wir in der Natur wahrnehmen, bestehen nicht darin, daß einiges absolut willenlos, anderes 25 wollend ist - der Unterschied besteht nur in der Art ihres Wollens. Der tote Körper will nur sich: sein ganzes Wollen geht nur dahin, sich selbst hervorzubringen - er ist in sich ganz erschöpft-, er ist von sich selbst ganz gesättigt, daher er nichts weiter ist, als der erfüllte Raum, das erfüllte Leere, das erfüllte 30 Wollen. Er ist nicht absolut willenlos, sondern hat die Erfüllung seines Wollens in sich selbst; er besteht durch ein selbstian, werden auf Faust übertragen. Nach einem Leben voll von Abenteuern, welche zum Teil an Eulenspiegel erinnern, wurde Faust trotz seiner Reue in dem Dorfe Rimlich bei Wittenberg vom Teufel ge- 35 holt. -

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sches Wollen, das darum auch ein blindes Wollen sem muß. Schon die Pflanze will etwas außer sich; darum ist sie auch höher gestellt. Der Mensch dagegen will etwas über und außer sich. Also Wille ist in allen Stufen der Natur. Jenes ursprüng5 liehe sein Können aber, dem der Übergang vom nicht Sein zum Sein nichts anders ist, als ein Übergang vom nicht Wollen zum Wollen, kann in seinem Urbegriff, in seiner Wirklichkeit, nichts anders sein, als ein aktiv gewordenes, entzündetes Wollen. Überall, wo ein zuvor ruhendes, unfühlbares Sein (ein 10 potentielles) sich fühlbar macht, - jede erste Seins=Entstehung ist Entzündung - es ist ein Wille erregt, der sogleich nicht befriedigt wird. Insofern hat Heraklitus richtig geurteilt, wenn er sagt: Feuer ist die Grundlage der Welt.[*] Keine ursprüngliche Seins=Entstehung läßt sich anders denken, als durch 15 Entzündung oder unmittelbare Erhebung a potentia ad actum, oder durch aktiv Werden. Alle diese Erläuterungen waren nötig, um das ganze Gewicht der Bestimmung dessen einzusehen, was vor dem Sein ist, dessen, was sein wird, d. h., des unmittelbar sein Können20 den. Nachdem nun erklärt ist, was unter unmittelbar sein Könnendem zu verstehen ist, läßt sich auch einsehen, daß auf diese Weise das vor dem Sein Seiende, das unmittelbar sein Könnende, in Ansehung des Seins und Nichtseins nicht frei zu nennen ist. Denn da es dem unmittelbar sein Könnenden nur 25 um Sein und Nichtsein zu tun ist, so ist es noch kein freies. Wenn das, was sein wird, nur das sein Könnende wäre, so könnte es nicht das unmittelbar in das Sein sich Erhebende sein. Denn einer solchen unmittelbaren potentia existendi würde es nur natürlich sein, sich in das Sein zu bewegen. Wie wir vom Tiere 30 sagen, es sei von natürlicher Bewegung, und bedürfe keines besondern Wollens: gerade so verhält es sich mit jener unmittelbaren potentia existendi. Eine solche hätte keine Wahl, in das Sein überzugehen oder nicht; sie würde von Natur aus übergehen; wir könnten sie eigentlich als potentiam existendi nicht

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[*] »rrupoi; Scivu10i; Sa1cci0cn1i; ysvwti;« Plutarch. de El ap. Delph. II. p. 392.

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festhalten; sie müßte das immer schon Seiende, immer schon Übergegangene, das blind Seiende sein, ehe wir uns dessen versehen. Sie ist in statu potentiae gar nicht zurückzuhalten, denn eine reine potentia existendi bedarf nichts, als immer sich selbst, um in das Sein überzugehen. Wir glaubten, dadurch, 5 daß wir von dem, was vor dem Sein ist, ausgehen, ein freies Verhältnis zum Sein zu erhalten. Jetzt finden wir gerade das Gegenteil. Dadurch würden wir uns von dem Sein überrascht fühlen; wir könnten unter jener Voraussetzung das, was sein wird, nicht als solches, nicht als Potenz, fest halten. Das, was 10 sein wird, würde sich gleich ins blind Seiende hineinstürzen. Unsere Absicht aber war, eine freie ins Sein sich bewegende potentiam existendi zu finden. Unser wissenschaftliches Bestreben ist ein Konflikt m.it dem Sein; wir können nichts vermögen über das Sein, wenn wir ihm nicht zuvorkommen. 15 Es ist daher wohl begreiflich, warum die meisten sich vor dem Anblick des ersten Prinzips scheuen und in leeren Begriffen sich ermüden, obwohl dies nur die Folge hat, daß sie den Fortgang in den Prozeß einer fortschreitenden Wissenschaft niemals finden werden, wie die ehemalige Metaphysik mit 20 subjektiven Begriffen über die Dinge hinwegging, und so niemals eigentliche immanente Wissenschaft war.[*] Die Philosophie sucht des Seins selber sich zu bemächtigen, und nun sollte sie gerade als das erste zu allem wirklichen Sein einen blinden, seiner selbst nicht mächtigen, Willen anerkennen? Denn hat 25 sich dieser Wille einm.al entzündet, so ist er nicht mehr Wille er ist nicht mehr das, was sein und nicht sein kann; er ist jetzt das, was sein und nicht sein konnte. Alles, was sein und nicht sein konnte, ist nur ein zufällig Seiendes; dem zufällig Seienden wird sein Sein zur Notwendigkeit, wie alles zufällig Seiende 30 [ *] Nicht die Idee an sich selbst, sondern bloß ihr Gebrauch kann entweder in Ansehung der gesamten möglichen Erfahrung iibe1fliegend (transzendent) oder ei11/zei111isch (immanent) sein, nachdem man sie ent-

weder geradezu auf einen ihr vermeintlich entsprechenden Gegenstand, oder nur auf den Verstandesgebrauch überhaupt, in Ansehung der Gegenstände, mit welchen er zu tun hat, richtet. Kant, Kr. der reinen Vernunft, p. 671.

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bestimmt ist, zu sein, und sich seines Seins nicht mehr entbinden kann. Das Zufällige wird zmn Notwendigen, weil es, wenn es ist, nicht mehr nicht sein kann. Wie der Mensch ein anderer ist vor der Tat, als nach der Tat, wo diese ihm not5 wendig ist, ebenso ist das unmittelbar sein Könnende im Sein nicht mehr unbefangen, sondern das mit dem Sein gleichsam Behaftete. - Wesen ist das, was sich noch kein Sein zugezogen hat - also das unmittelbar sein Könnende ist dann nicht mehr ein von dem Sein freies Wesen, nicht mehr das Seinlose, son10 dem das mit dem Sein Geschlagene, das außer sein sein Können Gesetzte. Es ist das Können, daß sich selbst verloren hat es ist das außer sich sein Könnende, wie inan vom Menschen sagt, er sei außer sich, seiner nicht mehr mächtig, er habe sein Können gleichsam verscherzt; denn mit nichts soll der Mensch 15 sparsamer sein, als mit seinem Können; was er als Können in sich bewahrt, ist sein unsterblicher Teil. Aus obigen Gründen kann also wohl die Philosophie nicht umhin, sich jenes ersten Prinzips in gewisser Weise zu weigern. Aber alle erste und ursprüngliche Seins=Entstehung ge20 schieht nur durch eine ursprüngliche Ekstasis. Ekstasis ist eine vox anceps. Es gibt eine Ekstasis, wodurch ein Subjekt außer sein Wesen, sich selbst entfremdet, gesetzt wird; dann gibt es eine andere Ekstasis, wodurch das sich selbst Entfremdete sich selbst zurückgegeben wird. Dies ist die bessere Ekstasis. Das 25 unmittelbar sein Könnende ist noch Quelle des Seins; hat es sich aber ins Sein erhoben, dann ist es ein Seiendes und hat aufgehört, sein Könnendes zu sein; es ist dann nimmer Quelle des Seins und kann es auch nin11ner werden. Es hat sich jetzt gleichsam ins Sein verloren, und ist jetzt nicht mehr das nicht 30 sein Könnende. Die wahre, eigentliche Freiheit, besteht überhaupt nicht im Sein, sondern vielmehr im nicht Sein, im nicht sich äußern Können, wie man den besonnenen Menschen an dem erkennt, was er nicht tut, und den unbesonnenen an dem, was er tut. Nun wird man es auch begreiflich finden, warum 35 die meisten gegen diesen Anfang des Seins, gegen die ursprüngliche Seins=Entstehung, die Augen verschließen. Das unmittelbar sein Könnende ist an sich selbst nicht bloß das

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nicht Seiende, sondern das überall nicht zum Sein Bestimmte, d. h., das überhaupt nicht sein Sollende, und inwiefern es in das Sein übergeht, kann es im Sein nur als das nicht sein Sollende erscheinen;[*] es liegt in der Wurzel seiner Natur, daß es im Sein nicht anders, als ein zu Negierendes, auftreten kann. Al- 5 !ein davon darf man sich nicht abschrecken lassen, denn eben in dieser Bestimmung müssen Sie die Möglichkeit voraussehen, wie das nicht sein Sollende das Mittel enthält, in einen fortschreitenden Prozeß zu gelangen. Ohne Etwas, das nicht sein sollte, und doch ist, gebe es keinen Anlaß zur Bewe- 10 gung. [**] Dieses unrecht Seiende ist von jeher in der Philosophie anerkannt worden - die Pythagoräer nannten es das linke Sein. Allerdings ist dieses das nicht gewollte Sein, und insofern muß die Philosophie sich gleichsam weigern, es zu setzen; aber diese Weigerung darf nicht als Berechtigung betrachtet wer- 15 den, es gar nicht zu setzen. Diese Ungeneigtheit hat man nur als Fingerzeig zu betrachten, wie es gesetzt wird. Wir setzen es nicht, um es zu setzen; wir setzen es nur, weil wir es schlechterdings nicht nicht setzen können; es ist nie das eigentlich zu Bejahende. Nie wird einer in der Philosophie weiterkommen, 20 wenn er dies nicht ins Auge gefaßt hat. Aus dem Benehmen, welches die Philosophie beobachtet, wird sie selbst erkannt. Die Philosophie soll sich das verschaffen, was sie nicht will, um etwas zu überwinden zu haben; sie muß das nicht Sein gleich festen Blickes ins Auge fassen. Doch ich kehre wieder 25 zum vorigen Satze zurück. Das, was vor dem Sein ist, ist unmittelbar das sein Könnende. Diese Bestimmung aber führt auf einen Umsturz, auf das Gegenteil von dem, was wir beabsichtigt haben. Sollen wir darum jenes Prinzip gleich wegwerfen? Keineswegs. Denn der wäre ein schlechter Soldat, der 30 beim Anrücken des Feindes gleich die Flucht ergriffe. Wir müssen den Gegensatz nicht fliehen, sondern erkennen, daß er [*] NB. l**] Geschichte der Pythagorischen Philosophie von Dr. H. Ritter. Hamburg, 1826. A. Wendt, de rerum principiis sec. Pythagoreos. Lips., 1827.

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hingestellt ist, damit wir etwas haben, was wir überlegen. Könnten wir das sein Sollende gleich im ersten Anlauf erreichen, dann bedürfte es keines Suchens nach der vollendeten Wissenschaft; es bedürfte keiner Philosophie, keiner sukzessi5 ven, faktischen Wissenschaft; denn der Anfang wäre da gleich das Ende, und es gäbe keine weitere Wissenschaft mehr. Teils ist es nicht löblich, das einmal Gesetzte wieder abzuweisen, teils können wir es nicht. Das nicht sein Sollende nämlich ist das nicht Abweisliche. Es gibt einmal keinen andern Weg in das 10 Sein, als den des sein Könnenden. Das unmittelbar sein Könnende ist das Nächste am Sein. Entweder müssen wir auf alles Begreifen des Seins verzichten, oder das sein Könnende zulassen, weil wir nichts finden, was wir vor ihm setzten, wenn wir uns auch weigerten. Daher müssen wir es als das Nächste, als 15 das an der Pforte des Seins Seiende, zulassen. Es wäre ungeeignet, einen Beweis dieses ersten Prinzips zu fordern, weil es kein Mittel gibt, es ganz auszuschließen. Beweis kann man nur fordern beim Wollen, nicht aber bei dem, wo wir nicht anders können, was wir setzen müssen. Daraus folgt, daß die Wis20 senschaft dieses Prinzip nicht wegwerfen, sondern festhalten müsse. Es muß ein Mittel gesucht werden, um uns mit diesem nicht sein Sollenden zu versöhnen. Ich füge die Bemerkung bei, daß jedes Moment dieser Bewegung erst klar verstanden wird im Weggehen von demselben. Wie der Mensch ein früh25 eres Moment seines Lebens erst besser begreift, wenn er aus demselben gegangen ist - ebenso ist es auch in der Wissenschaft. Als erstes Moment war es schon bestimmt, Vergangenheit zu werden; seine Eigentümlichkeit kann ich erst sehen, wenn das zweite oder dritte Moment folgt. Wer diesen Mo30 menten aufmerksam folgt, wird auch über den Anfang ins reine kommen. Die ganze Idee kann nur sukzessiv entwickelt werden, und deswegen ist das erste Moment der Bewegung nicht ohne das zweite zu verstehen. Überall, wo die rechte Idee nur sukzessiv erreicht werden kann, muß man das Ganze erwar35 ten, um das Einzelne zu verstehen. Dies ist die Schwierigkeit, die sich jedem Vortrage der Philosophie entgegenstellt. Wir können nicht umhin, das, was sein wird, das 11or dem Sein (das Wesen, die

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Lauterkeit) als das sein Könnende zu setzen. Dies führt uns aber auf das blinde Sein. Darin liegt nicht die rechte Hilfe dagegen, daß wir das sein Könnende gar nicht setzen; wir können es nicht nicht setzen, sondern wir müssen es setzen; aber zugleich mit dem müssen wir es setzen, wovon es beherrscht ist. Als sein 5 Könnendes allein könnten wir es nicht festhalten. Wir behaupteten nicht, indem wir es setzten »das Wesen des Seins ist das unmittelbar sein Könnende« daß es nur das sein Könnende sein könne. Das Wesen ist nicht bloß das sein Könnende, es ist unmittelbar mehr, als das sein Könnende. 10

6. M.H. Das, was sein wird, was sich also in bezug auf das zukünftig Seiende selbst noch als nicht seiend verhält, hat nur dadurch unmittelbaren Bezug auf das künftig Seiende, als es das sein Könnende ist. Das, was sein wird, muß irgendein Sein unmittelbar annehmen können. In einem solchen Sein muß sich aber der Wille gleichsam erschöpft haben; es muß ein blindes Sein sein, - oder das unmittelbar anzunehmende Sein kann nur ein blindes Sein sein. Dies ist das unvermeidliche, wenn das Sein ursprünglich entstehen soll. Darüber ist aber jetzt nicht die Frage, ob es ein ursprüngliches Sein gäbe, sondern wie es entstehen könne - und dies ist der Gegenstand unserer heutigen Untersuchung. Wäre das, was sein wird, bloß ein unmittelbar sein Könnendes, so würden wir in der Wirklichkeit nur auf ein blindes Sein stoßen - und schon daraus ist klar, daß so viele philosophische Systeme des Pantheismus im blinden Sein stecken geblieben sind, und daß diese Systeme des blinden Seins sich immer wieder erneuern. Schon daraus könnte man schließen, daß im ersten Prinzip des blinden Seins ein Grund liegen müsse, der den menschlichen Geist zu sich hinzieht. Und wenn man jetzt noch eine Art von panischem Schrecken davor zeigt, so kommt dies daher, weil man dem Prinzip des blinden Seins sein Recht nicht hat angedeihen lassen. Es hat nämlich das Recht, das Erste im Sein zu sein. Eben darum erneuert sich die Angst, weil man lieber die Augen

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zuschließen, als dieses blinde Sein erkennen will. Solche Philosophen, welche nur die Augen zudrücken, sind dem Vogel Strauß zu vergleichen. Durch bloßes Ignorieren des Feindes wird der Feind nicht besiegt. Julius Caesar hatte nicht die 5 gewöhnliche Art der Feldherren, daß er den gegenüber stehenden Feind als wenig mutig sich darstellte: er tat gerade das Gegenteil. Das erste zum Siege ist, daß man den Feind zu erkennen suche. Das Prinzip des blinden Seins wird nicht besiegt durch's Vertuschen - ein solches Vertuschen ist nur ein lli Verpfuschen desselben. Also der bloße unumgängliche Begriff des unmittelbar sein Könnenden würde 1) auf das blinde Sein führen, aber 2) auch auf ein blindes Entstehen; denn das Gegenteil des blinden Entstehens ist nur da, wo die Möglichkeit der Tat wirklich vor15 ausgeht. Die Möglichkeit des unmittelbar sein Könnenden ist die eigentliche Natur der Angst; denn es wendet und dreht sich unter der Hand herum, und wird ein anderes. Es ist auf eine Spitze gestellt, worauf es sich keinen Augenblick erhalten kann. Wir konnten selbst das, wovon wir ausgegangen 20 sind, nämlich, daß der Anfang von allem das sein Könnende ist, nicht behaupten; denn es ist das sein Könnende und ist es auch nicht, je nachdem es sich ins Sein erhebt. Es ist das sein Könnende, wenn es sich nicht ins Sein erhebt, wenn es nicht in Bewegung übergeht; es ist das sein Könnende nicht, insofern es 25 sui impotens wird. Nun ist es ihm aber außerde1n natürlich, sich ins Sein zu bewegen, wenn es nicht abgehalten wird. Da das sein Könnende, absolut gesetzt, gar nicht festzuhalten ist, so würden wir es nur im Sein antreffen, und zwar als ein Sein, das seinen eigentlichen Anfang verschlungen hat, und die 30 Ewigkeit gewissermaßen vindiziert. Der Grund, warum die unendliche Substanz des Spinoza als ewig angesehen wird, ist, weil sie als ein Sein gedacht wird, welches seinen Anfang verschlungen hat. Wir würden das sein Könnende, als absolut gesetztes, nur noch als ein Sein antreffen, dem wir selbst kei35 nen Anfang mehr wüßten: ja, wir würden das sein Könnende gar nicht mehr als sein Könnendes antreffen, sondern als bloße Substanz, die den Anfang aufgehoben hat. Wenn es das absolut

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gesetzte ist, so würden wir es als ein bloß blindes Sein antreffen, vor dem wir stupefacti et tanquam attoniti stehen bleiben müßten, ohne es je zu begreifen. Wenn wir das sein Werdende als sein Könnendes setzen wollen, schon dann können wir es nicht als das bloß sein Könnende denken; wir müssen ausspreeben, daß es mehr ist als bloß sein Könnendes. Was kann es aber weiter sein? fragt sich jetzt. Wir haben das, was sein wird, primo loco gesetzt als das nur sein Könnende in beiderlei Verstand, nämlich 1) inwiefern es ein nicht Seiendes ist, und 2) inwiefern es ohne Wahl in Sein übergehen kann. Als solches hat es ein unmittelbares Verhältnis zum Sein. Dieses Verhältnis kann aber nicht zum zweiten Mal gesetzt sein, sondern nur einmal vorkommen. Sein nächstes Verhältnis wird daher nur noch ein mittelbares sein können. Wenn es primo loco, im unmittelbaren Verhältnisse zum Sein, das sein Könnende ist, so wird es secundo loco, im mittelbaren Verhältnisse, nur als sein Könnendes zu bestimmen sein. Auf das sein Könnende kann nichts folgen, als das natura sua nicht sein Könnende. Aber damit wäre nichts gesagt; wir müssen dieses in zweiter Bestimmung als das Gegenteil des sein Könnenden denken. Dieses Gegenteil des sein Könnenden ist das rein Seiende. Rein Seiendes ist das, was nicht a potentia ad actum übergeht, sondern was schon von selbst, natura sua, purus actus ist, d. h., ein Akt, dem keine Potenz vorausgeht. Ich habe das Allgemeine vorausgeschickt, und will mich nun näher erklären. Überlegen Sie also Folgendes: Wir haben das, was vor dem Sein ist, als das sein Könnende bestimmt. Nun kann aber dieses sein Könnende an sich nicht festgehalten werden. Die Absicht unseres Überganges zur zweiten Bestimmung war, das sein Könnende als sein Könnendes festzuhalten. Wir wollen es vor dem Übertritt ins Sein bewahren: wir wollen, daß es als pura potentia, als reines Können, stehen bleibe, als Können ohne Sein. Als sein Könnendes kann es aber nur stehenbleiben, wenn es zum Ersatz des Seins, welches es annehmen könnte, und das daher nur ein zufälliges, mögliches Sein ist, selbst ohne sein Bemühen, ohne sein Zutun, daß reine, unzweifelhafte Sein ist. Potenz bleiben kann es nämlich nur so, daß es selbst an und für sich schon das

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rein Seiende, dem keine Möglichkeit vorausgeht, ist. Die vorausgehende Möglichkeit macht das Sein immer zweifelhaft; denn alles Sein, das durch den Übergang a potentia ad actum entstanden ist, ist zweifelhaft. Wir fordern aber ein unzweifel5 haftes Sein. Das sein Könnende kann also nur stehenbleiben, wenn es ohne seine Bemühung, von selbst, das unzweifelhafte Sein ist, d. h., ein Sein ohne Übergang, ohne vorausgegangene Potenz. Unsere nächste Bestimmung ist: Das, was sein wird, ist 10 unmittelbar das sein Könnende. Als bloß sein Könnendes würde es, vor allem Denken, auf unordentliche Weise schon wirklich ins Sein übergegangen sein. In diesem Falle würde es keine Zukunft haben, weil wir es als Zukünftiges nicht festhalten könnten. Damit es aber eine Zukunft hat und von sich 15 selber sagen kann: Ich werde sein - muß es notwendig nicht ins Sein übergehen. Es bleibt nur insofern als sein Könnendes stehen, inwiefern es in diesem Stehenbleiben das unendliche Sein, das unbedingte, grenzenlos Seiende, durch kein Können bedingte Seiende ist. Die erste Schwierigkeit bei diesem Über20 gange ist folgende Frage: Wie kann das, wovon wir annehmen, es sei über dem Sein, zugleich als das rein Seiende bestimmt werden? Hierauf antworten wir: überhaupt meinen wir nicht, daß das, was über dem Sein ist, darum als das überall nicht Seiende zu denken sei. Wir sagten ja gleich anfangs: Das, was 25 sein wird, ist nur in bezug auf das später hervortretende Sein Nichts, aber nicht im Vergleich mit sich selbst Nichts. Schon das sein Könnende ist ja keineswegs Nichts; es ist nur das nicht actu Seiende; es ist das nicht außer sich, sondern das im höchsten Sinne in sich Seiende. Es ist vielmehr das nur sich selbst gleich 30 Seiende, das bloß urständliche, nicht gegenständliche, Sein. Es ist wie ein Wille, der sich noch nicht geäußert hat, und nach außen gleichsam noch O ist; ein Wille, der noch nicht gegenständlich geworden ist, von dem noch niemand weiß, ein Wille, der noch urständlich ist. Also nur in dem Sinne ist das 35 sein Könnende, wie jeder Wille in seinem Urstande = 0 ist. Für diese urständliche Art des Seins könnten wir wohl ein eigentliches Wort anwenden, wenn nicht leider in der deutschen

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Sprache das alte Verbum »wesen«, von dem »gewesen« herkommt, aus dem Gange gekommen wäre. Das urständliche Sein also könnten wir das rein wesende Sein nennen: sein Gegenteil ist das rein seiende Sein. Wie nun aber 2) das bloß sein Könnende gegen das wirkliche Sein Nichts ist, so ist auch das 5 rein Seiende gegen das actu Seiende = Nichts. Denn das actu Seiende ist kein rein Seiendes, weil es a potentia ad actum übergegangen ist. Das actu Seiende ist nicht ein rein positives; es hat an der Potenz, die ihm vorausging, seine Negation. Die Potenz ist eben die Negation des Seins, welches es jetzt hat, und derer es nicht n1ehr los werden kann. Das actu Seiende bleibt immer ein aus der Negation positiv Gewordenes. Das rein Seiende dagegen in unserem Sinne ist das positiv Seiende, wo keine Negation ist, weil keine Potenz sich in ihm befindet. Wenn das aktuell Seiende nicht das rein Seiende ist, so ist auch 15 das rein Seiende nicht das aktuell Seiende. Das aktuell Seiende entsteht nur dadurch, daß etwas über seine Potenz hinausgeht. Das rein Seiende hat aber keine Potenz - es ist das gleich Seiende, und kein actu Seiendes. Wir sind daher mit dem reinen Sein noch immer über dem aktuellen Sein. Da es aber wesent- 20 lieh notwendig ist, daß der Begriff des rein Seienden Ihnen ganz durchsichtig werde, so will ich's versuchen, Ihnen denselben von einer neuen Seite darzustellen. Das bloß sein Könnende haben wir früher mit einem ruhenden, nicht wollenden, Willen verglichen. Jedes Wollen, jede 25 Begierde, entsteht wie aus dem Nichts. Wenn eine Begierde in uns entsteht, so ist ein Sein da vorhanden, wo es früher nicht war. Dies fühlen wir, in.dem wir uns von jener Begierde bedrängt fühlen; sie nimnH einen Raum ein, der zuvor leer war. In dem sein Könnenden liegt der Keün einer Begierde, eines 30 Verlangens nach dem Sein. Der Wille als der bloß wollen könnende ist = 0. Wenn der bloß wollen könnende Wille = 0 ist, so muß der schlechterdings nichtwollende Wille umso mehr = 0 sein. Gerade dies ist auch das Verhältnis zwischen dem sein Könnenden und rein Seienden. Das sein Könnende ist der 35 wollen könnende Wille; das rein Seiende ist der nicht wollende, ruhende, begierdelose Wille. Dieser ist das ohne sein Zutun

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Seiende, und kann daher nicht mehr Wollen; er ist das ohne sich selbst seiende Sein. Das reine Sein steht noch entfernter vom wirklichen Sein, als das sein Könnende, und darum haben wir zuerst vo111 sein Könnenden, und dann erst vom rein Seienden 'i gesprochen. Die Folge bestimmt sich nach der Entfernung vom Sein. Im rein Seienden ist keine Potenz, und deswegen muß es erst in statum potentiae gesetzt werden, um a potentia ad actum überzugehen; es setzt also, urn wirklich zu sein, etwas voraus, von dem es in statum potcntiac gesetzt wird. Potenz ist 1U die Negation des Seins. Das rein Seiende ist nicht das sein Könnende; es muß das actu sein Könnende gegeben werden, d. h., die Potenz; es setzt etwas voraus, von dem es in seinem Sein negiert wird. Es bedürfte keines Beweises der Sache mehr, nämlich, daß das rein Seiende entfernter von dem aktuellen 15 Sein ist, als das sein Könnende - da ich aber später aus dieser Auseinandersetzung folgere, so will ich mich noch länger da verweilen. - Es könnte nämlich ein Widerspruch eintreten. Wir sagten, das sein Könnende ist wie der wollen könnende Wille, und das rein Seiende ist wie der nicht wollen könnende Wille. 20 Was ist unter nicht wollen könnendem Willen zu denken? Wir antworten: Nur der Wille, der gar nicht 111ehr will, sondern ganz und gar Wollen, actus, ist, wird am entschiedensten der nicht wollen könnende sein. Wie der ruhende Wille sich als reine Potenz, das Wollen aber als actus verhält, ebenso wird das 25 rein Seiende sich als das willenlos Wollende verhalten müssen. Wenn Sein = Wollen ist, so wird das, was über dem Sein zu denken ist, als das nicht Wollende zu denken sein. Aber dieser Widerspruch löst sich auf, wie der frühere. Gleichwie das rein Seiende nicht das actu Seiende ist, ebenso ist auch das rein 30 willenlos Wollende das nicht Wollende der Tat nach; denn jedes wirklich Wollende wird nur iin Übergange a potentia ad actum em.pfunden. Das willenlos Wollende ist nicht das wirkliche Wollen. Was ursprünglich ein Wollen ist, dem ist kein nicht Wollen vorausgegangen. Es kann auch noch gefragt werden: 35 Wie denken wir uns das, was sein wird, auf zweiter Stufe als das willenlos Wollende' Jedes Wollen, in dem das Wollende sich selbst will, ist nicht zu denken ohne Übergang a potentia ad

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actum; ist also kein reines Wollen. Wie können wir das rein Wollende setzen? Es muß ja doch etwas wollen - sich selbst aber kann es nicht wollen? - Hierüber mehr in der nächsten Stunde.

7. In der letzten Vorlesung, m. H., habe ich 1) den notwendigen Fortgang vom Begriff des sein Könnenden zum rein Seienden bezeichnet, nicht, daß jenes noch unbekannte Subjekt eines zukünftig Seienden, von dem man weiß, daß es sein wird - nicht, daß dieses Subjekt, sage ich, aufhöre, das sein Kön- 10 nende zu sein, indem es das rein Seiende ist; sondern daß jenes Subjekt des zukünftig Seienden ebenso das sein Könnende und auch das rein Seiende sei. Der Hauptgrund jenes Fortgangs war, daß wir jenes Subjekt als bloßes Subjekt eines künftigen Seins nicht festhalten könnten, da wir es doch festhalten müs- 15 sen. Wir könnten es, sage ich, nicht festhalten; denn es würde imm.er ins blinde Objekt, gegen welches wir keine Freiheit mehr hätten, übergegangen sein. Ich habe 2) mich bemüht, zu zeigen, wie das rein Seiende, d. h., das Sein ohne Übergang a potentia ad actum, in der Tat nichts weniger über dem Sein ist, 20 als das sein Könnende. Es fand sich sogar, daß das rein Seiende noch entfernter vom Sein, daß es das bloß mittelbar sein Könnende ist. Wir hätten den Begriff des rein Seienden auch aus dem bloß mittelbar sein Kännenden deduzieren können. Was sein wird, muß wenigstens eimnal ein unmittelbares Verhältnis 25 zum Sein haben. Wenn es aber nicht bloß das sein Könnende ist, so kann es in der nächstfolgenden Bestimmung nicht wieder das unmittelbar, sondern nur das mittelbar sein Könnende sein. Nun fragt sich aber: Was ist das bloß mittelbar sein Könnende? Ich antworte: Mittelbar sein Könnendes ist das, in dem 30 keine Potenz ist, das also nicht a potentia ad actum übergehen kann, und daher selbst purus actus sein muß. Nun ist aber bloße Potenz zu sein wohl das Nächste an Nichts. Da daher das rein Seiende keine Potenz hat, so kann es umso mehr als das Nächste am Nichts erscheinen. Da es aber doch nicht nicht sein 35

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kann, so muß es im Gegenteil purus actus sein. Ein solches muß, um a potentia ad actum überzugehen, d. h., um wirklich zu sein, erst in potentiam gesetzt werden, weil es für sich selber nicht Potenz ist. Was aber purus actus ist, kann nicht a potentia o ad actum übergehen; demnach setzt ein solches Sein zu seinen1 wirklichen Sein ein anderes voraus, von dem es in die Potenz gesetzt wird. Weil es also purus actus ist, so ist es das bloß mittelbar sein Könnende. An sich ist also das rein Seiende so wenig ein actu Seiendes, als das sein Könnende, und was ein actu Seiendes lO ist, kann nie actus purus sein. Das sein Könnende war ferner auch als noch ruhender Wille erklärt worden. Ein noch ruhender Wille ist aber ein bloß wollen könnender Wille, und da dem Willen das Sein im Wollen besteht, so ist folglich der bloß wollen könnende Wille gleich dem bloß sein Könnenden Wil13 Jen, und weil die Substanz alles Seins Wollen ist, so muß das bloß sein Wollende dem sein Könnenden gleich sein. Das sein Könnende nämlich ist der bloß wollen könnende Wille. Bei dieser Gelegenheit stellten wir auch die Frage auf, wie sich das rein Seiende, ebenfalls als Wille betrachtet, verhalte? 2ü Die Antwort ist nicht schwer. Es kann sich nur verhalten als Wille, der schlechterdings nicht vom nicht Wollen zum Wollen übergehen kann. Es kann sich nur verhalten als Wille, der gleich von Anfang will, und deswegen unendliches, unbegrenztes Wollen ist. Denn jedes Wollen, das nicht aus nicht 25 Wollen entsteht, hat dieses zu seiner Beschränkung. Ich will versuchen, durch ein moralisches Beispiel die Sache zu erklären, denn die ersten spekulativen Begriffe sind auch die ersten sittlichen, und eine wahre Philosophie kann nicht ohne Sittlichkeit gedacht werden. 10 Kant hat in der Moral gelehrt, der Mensch müsse sich aus Achtung für den moralischen Imperativ zum Wollen bestimmen - er setzte also ein ursprüngliches nicht Wollen voraus. Denken Sie sich einen Mann, wie Kato, von dem C. Vellejus Paterculus (Lib. II. C. 35.) sagt: "Homo virtuti simillimus, et 35 per omnia ingenio diis quam hominibus propior; qui numquam recte fecit, ut facere videretur, sec! q uia aliter faccre non poterat« -, so haben Sie das Beispiel eines unendlichen Wollens,

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das gar nicht als wirkliches erscheint. Die Tugend ist seine Natur selbst geworden, und ist nicht außer ihm. Ebenso kann das rein Seiende nur als unendliches, unbeschränktes Wollen betrachtet werden, das durch kein nicht Wollen beschränkt ist. Nun wollen wir folgende Einwendung beantworten: 5 Wenn Sein = Wollen ist, so wird das, was über dem Sein ist, sich zum Sein, wie nicht Wollen zum Wollen verhalten. Inwiefern das, was über dem Wollen ist, das rein Seiende ist, insofern muß es das reine Gegenteil des endlichen Wollens sein, nämlich ein unendliches. Das unendliche Wollen erscheint eben deshalb 10 nicht als wirkliches Wollen. Ein wirkliches Wollen wird nur im Übergange a potentia ad actu1n e1npfunden. Wollen, dem kein nicht Wollen vorausgeht, wird nicht als wirkliches Wollen empfunden. Was wir also über dem wirklichen Sein denken, das kann auch als das unendliche Sein bestimmt werden. Hier 15 könnte aber eine Frage entstehen, die dem einen oder dem andern im Wege stehen möchte: »Wie ist es möglich, das, was sein wird, auf der zweiten Stufe als das willenlos Wollende zu bestimmen?« Jedes Wollen, in dem das Wollende sich selbst will, ist nicht 20 ohne Übergang a potentia ad actum zu denken. Das rein Wollende ist kein anderes, als das, welches schlechterdings sich nicht will, sondern ein Anderes. Das rein Wollende muß daher ein absolut unselbstisches Wollen sein. Sein Wollen geht auf ein Anderes. Woher aber dieses Andere? 25 Das, was sein wird, inwiefern es das sein Könnende ist, d. h., das nächste am Sein, hat insofern nichts vor sich; es fehlt ihm an der Supposition eines Wollens. Ihm geht nichts, weder im Sein selbst, noch in der Anlage des Seins voraus. In diesem Betracht erscheint das sein Könnende als die äußerste Armut 30 und Dürftigkeit selbst, denn es hat nichts, was es wollen könnte. Es kann also nur sich wollen, wenn es will, und darum, weil es nur sich will, muß es bloßer Wille bleiben. Allein 1nit dem sein Werdenden, insofern es das rein Seiende ist, ist es anders. Dieses hat als das rein Seiende sich, als das bloß 35 sein Könnende, vor sich - voraus. Es hat also etwas, was es wollen kann; es hat sich selbst zum Objekt. Jenes unendliche

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Wollen bezieht sich auf das unendlich sein Könnende, d. h., es will sich selbst als sein Könnendes. Allein, wenn es sich als das sein Könnende will, will es sich doch selbst? könnte man fragen. - Es will nicht sich als sich, als das rein Seiende, denn 5 sonst würde es sich. als das rein Seiende, verderben, sondern es will sich, als das sein Könnende, also als ein anders. Nur eben dadurch, daß es sich als sein Könnendes vor sich hat, ist es ihm gegeben, daß rein Seiende, oder rein Wollende zu sein. Der Wille, der nichts vor sich hat, kann nur selbstisch sein. Der JO Unselbstische ist nicht primo loco zu denken. So viel, um obige Frage zu beantworten. Denn wie das, was sein wird, sich als das sein Könnende will, werde ich vollkommen in einer spätem Erörterung deutlich machen. Jetzt zu einer andern Frage. 15 Bis jetzt habe ich bloß die Begriffe des sein Könnenden und rein Seienden erörtert. Wir zeigten, daß das rein Seiende immer gegen das actu Wollende oder actu Seiende ein Überseiendes sei. Ich weiß wohl, daß diese Erörterung dem Anfänger in der Philosophie nicht leicht zu verstehen und nichts Anziehendes 20 sei: ebenso auch für den, der die Redeweise einer andern Philosophie gewohnt ist. Jede Erörterung erhält ihr Anziehendes erst durch die Folge, wenn man sieht, wohin sie zielt - und besonders eine Philosophie, die ihren Gegenstand als zukünftig behandelt. Wenn wir den Begriff als Begriff denken, so ist das, 25 was sein wird, der Begriff par excellence. Die bisher entwikkelten Bestimmungen sind die Begriffe Km' E~OXTJV oder die höchsten. Gerade das, was sein wird, kann der Inhalt des Begriffes als Begriffes sein. Der weitere Inhalt dessen, was sein wird, besteht nur aus Bestimmungen dieser Begriffe Ka,' 30 E~OXTJV. Eine Philosophie, die in diesem Sinne von, Begriff ausgeht, wird besonders schwer gefunden, weil der Lernende meint, er werde ins Dunkel geführt. Man muß, sagt man, doch zuerst wissen, wohin man geführt wird. Allein, m. H., zuerst muß man sich an den Begriffen und ihrer Erörterung selbst 35 erfreuen, um eben dadurch zu zeigen, daß man für die Philosophie selbst Geschmack hat; teils auch muß man überhaupt lernen, die Ungeduld, die immer gleich das Ziel sehen will, zu

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mäßigen. Der Lernende, sagt Aristoteles, muß glauben, solange er noch der Lernende ist, d. h., so lange, bis er das Ziel erreicht hat. Ich sage dies nicht, als ob ich Ursache hätte, mit Ihnen, 111. H., unzufrieden zu sein: Sie sind mir vielmehr bisher eifrig gefolgt. Tun Sie es auch fürderhin. Vertrauen Sie auf den 5 Erfolg' Ich werde die Idee, um die es zu tun ist, vollkommen deutlich machen; aber dies läßt sich nur Schritt vor Schritt tun. Nun sind wir an einen Wendepunkt gekommen, wo unsere Erörterung aus einem dunkeln Walde in eine freie Gegend 10 hervortritt. Zwei Fragen stehen jedoch uns noch vor den Augen. Wir sagten: Eben das, was in seiner ersten Bestimmtheit das sein Könnende ist, ist in seiner zweiten Bestimmung das, was sein wird oder das rein Seiende. Ich habe bisher diese zwei Extreme, das sein Könnende und das rein Seiende, erklärt. Jetzt 15 muß ich die Kopula selbst erklären. Wenn ich sage: Was das sein Könnende ist, ist in einem zweiten Hinblick das rein Seiende so entsteht die Frage: Was bedeutet »ist?« Ich drücke, wenn ich so sage, eine Identität aus. Wie ist diese Identität zu verstehen? Mit der Beantwortung dieser Frage wird es sogleich lichter 20 werden - und von da sind nur wenige Schritte mehr zur Idee. Die zweite Frage lautet: Was ist gewonnen mit dem Fortgange vom sein Könnenden zum rein Seienden? Um nun zur ersten Frage zu gehen: Wie ist im obigen Satze das »ist« zu verstehen? So könnte man sich denken, daß z.B. das, was sein wird (das 25 Subjekt des künftigen Seins) zweimal gesetzt sei; einmal als sein Könnendes - das andere Mal als rein Seiendes. Allein so ist diese Identität nicht zu denken. Sie sind nicht als zwei Gestalten, zwei Substanzen Eines Wesens zu denken. Diese Identität nmß strengstens als substantielle Identität genommen werden. 30 Unsere Meinung ist nicht, daß das sein Könnende und rein Seiende - jedes als Substanz betrachtet werden könne. (Unter Substanz verstehen wir das, was für sich selbst, ohne ein anderes, besteht.) So hätten wir zwei Substanzen. Allein das sein Könnende ist nicht außer dem rein Seienden, sondern dieselbe 35 Substanz ist, ohne zwei zu werden, in ihrer Einheit das sein Könnende und rein Seiende. Wir setzten nicht das sein Kön-

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nende und rein Seiende als 1 + 1, sondern wir setzten im1ner 1; aber dies Eine, welches das sein Könnende und rein Seiende ist, hört nicht auf, Eins zu sein. Nun fragt man aber: Wie ist es möglich, daß sie nicht auseinander gedacht seien? Wie ist es möglich, daß sie sich nicht ausschließen? - Wenn sie sich ausschlössen, müßten wir das sein Könnende und rein Seiende auseinander denken. Können wir nun zeigen, daß das sein Könnende und rein Seiende zu dem künftigen Sein sich völlig gleich verhalten, so müssen sie auch selbst sich gleich sein, und können sich daher nicht ausschließen. Das erste ist im Grunde schon gezeigt. Nach einem früher aufgestellten Satze verhalten sich beide zum künftigen Sein als Nichts. Nun schließt aber ein etwas wohl das andere aus; aber was selbst nichts ist, kann keine ausschließende Kraft auf etwas anderes haben. Das sein Könnende und rein Seiende sind nur Bestimmungen dessen, was noch nicht ist, aber sein wird. Um jedoch diesen abstrakten Beweis der Nichtausschließlichkeit anschaulicher zu machen, will ich ihn noch von einer andern Seite darstellen. Ich habe gezeigt, daß das sein Könnende als solches als der nicht wollende Wille bestimnlt werden könne, als ein Wille, der ruhend, ohne Bewegung ist - das rein Seiende aber als das rein und bloß willenlos wollende Wollen, als Wollen ohne Willen. Im ersten Begriff negieren wir das Wollen - im zweiten den Willen - d. h., er ist ohne Potenz des Wollens. Das rein willenlos Wollende geht aber ebenso wenig vom. Willen zum Wollen über, als das bloß nicht Wollende, welches innerhalb der Potenz stehen bleibt. Es ist also das unendlich Wollende wie das nicht Wollende. Beide haben miteinander gemein, vom nicht Wollen ins Wollen überzugehen, nur auf verschiedene Art. Denn nicht wollender Wille ist nach unserer Voraussetzung bloße Potenz. Der unendliche Wille ist aber bloßer purus actus beide gehen also nicht zum actus über. Wenn wir insbcsonders eigentliche Wirklichkeit nur da sehen, wo ein solcher Übergang ist, so ist das sein Könnende und rein Seiende eine völlig gleiche Überwirklichkeit. Das sein Könnende ist über dem Sein, weil es reine Potenz ist; der reine actus aber ist über dem Sein, weil er nicht ad actum. übergehen kann. Da also in beiden

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Begriffen gleiche Überwirklichkeit ist, so werden sie sich nicht ausschließen, sondern nur zwei Bestünmungen des Überwirklichen sein. Eben wegen dieser völlig gleichen Lauterkeit können sie sich nicht ausschließen. Lauterkeit ist nämlich = Überwirklichkeit, und setzt Unlauterkeit voraus. In allem endlichen Sein ist Unlauterkeit. Alle Unlauterkeit kommt daher, daß in dem, was bloß Potenz sein sollte, etwas von actus, und in dem, was bloß actus sein sollte, etwas von Potenz ist - beide werden gegenseitig voneinander getrübt. Wo sich aber beide nicht verniischen, sondern jedes, potentia und actus, in seiner Reinheit ist: da ist auf beiden Seiten völlig gleiche Lauterkeit.

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M.H. Alles endliche Sein ist em aus Potenz und actus Gemischtes, also auch ein aus Sein und nicht Sein zusammengesetztes, zum Teil seiend zum Teil nicht seiend; denn Potenz und actus verhalten sich wie nicht Sein und Sein; daher ist die Endlichkeit ein unvollkom.men Seiendes. Sie ist weder reine Potenz, noch reiner actus, sondern sie ist Potenz und actus zugleich - und zwar ist jedes Sein in beiden zugleich von einem andern, verschiedenen Maße. Aus diesem Grunde schließt das eine Sein das andere Sein von sich aus; allein dies kann nicht auf das reine Sein angewendet werden. Weder das, was lautere Potenz ist, noch das, was lauterer actus ist, ist schon ein Sein; also schließen sich diese nicht voneinander aus. Eben diese Nichtausschließlichkeit zu zeigen, war der Gegenstand des letzthin Vorgetragenen. Weil dies aber ein sehr wesentlicher Zug ist, so will ich ihn von einer andern Seite darstellen. Wir haben das, was sein wird, als das sich selbst zum Sein erheben Könnende - sich selbst zum Sein entzünden Könnende ausgedrückt. Wir können also das, was sein wird, als das sich selbst erheben Könnende bestimmen, 1nit Weglassung des Seins. Denken Sie an den bekannten Ausspruch Christi: »Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden.« Luk. 18, 14. Das rein Seiende ist das sich nicht in actum erheben Könnende; dagegen aber ist die potentia pura, das sein Könnende, das sich erheben

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Könnende. Aber das sich erheben Könnende, insofern es sich noch nicht erhoben hat, ist nicht verschieden von dem sich nicht erheben Könnenden. Wir können sagen, das unmittelbar sein Könnende ist das nur selbstisch sein Könnende; dies ist aber wie das Unselbstische. Sie schließen sich nicht aus, denn sie haben gleiche Selbstlosigkeit; sie sind also vollkommen identisch - sind nur eine Substanz. Beide, das selbstisch sein Könnende, und das seiner Natur nach Unselbstische, werden erst sich ungleich, wenn jenes aus dem statu potentiae getreten, oder ins Sein übergegangen ist. Was selbstisch sein kann, ist seiner Natur nach unselbstisch, und bleibt, solange es Potenz ist, nicht verschieden von diesem, wie wir am Menschen wahrnehmen. Jeder Mensch hat das Prinzip des Egoismus in sich; aber als bloßes Prinzip ist es von dem bessern Teile seines Wesens nicht ausgeschlossen, bis es einmal völlig als Egoismus hervortritt. Das rein Seiende ist einem Willen zu vergleichen, der nicht sich selbst sucht, der deshalb als unvermögend erscheint; wie ein Mensch, dessen Wesen lautere Liebe ist, in einer widerspruchsvollen Welt als töricht und unkräftig erscheinen würde. Ebenso erscheint das rein Seiende als unvermögend zum Sein. Das unendliche Wollen ist auch ein nicht Wollen, relativ auf sich selbst; das nicht Wollende aber ist dem wollen Könnenden gleich, denn beide erscheinen als ein nicht Wollen seiner selbst; das eine, weil es wirklich sich selbst noch nicht will, das andere, weil es das seiner Natur nach Unselbstische ist. Das rein Wollende ist = Nichts, weil es sich nicht geltend macht; das sich selbst bloß wollen Könnende ist auch= Nichts, weil es noch nicht wirklich will. Das rein Seiende ist, weil es das ist, das actu zu sein Unvermögende; denn sollte es actu sein, so müßte es zuvor sich selbst in potentiam erheben; von selbst kann es also nicht actus werden. Wenn das rein Seiende das von sich selbst a potentia ad actum nicht überzugehen Vermögende ist, so ist es von dem sein Könnenden nicht zu unterscheiden. Wenn z. B. B nicht = A ist, so kann ich dem B nicht ansehen, ob es nicht A zufällig sein könne. Ebenso kann ich das rein Seiende von dem sein Könnenden nicht unterscheiden; denn das sein Könnende, aber noch nicht Sei-

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ende, ist wie das nicht sein Könnende. Wenn das sein Könnende und rein Seiende dasselbe ist, so ist es dies nicht 1nit gegenseitiger Ausschließung, sondern bei substantieller Identität beider. Das Eine ist als Zweiheit in der Einheit zu bestimmen, und als Einheit in der Zweiheit, d. h., es ist substantiell 1 5 und der Form nach 2. Die Einheit ist nicht außer der Zweiheit, und die Zweiheit nicht außer der Einheit. Z.B. das stillste Meer ist auch dasjenige, welches sich am meisten empören kann; nun ist aber das stille und sich empören könnende Meer nicht zweierlei. Ebenso ist es auch da. hn rein Seienden liegt 10 das sein Könnende verborgen, und ist nicht von ihm auszuschließen. Der gesunde Mensch trägt den Keim der Krankheit in sich; aber der kranksein könnende und der gesunde Mensch sind nicht zweierlei. Ebenso sind auch das sein Könnende und rein Seiende nicht zwei Subjekte, sondern nur eines. Das eine 15 ist freilich nicht das andere; aber das eine ist doch das, was das andere ist, nämlich dieselbe Substanz, dasselbe Subjekt. Es ist aber etwas anderes, ob ich sage, zwei entgegengesetzte Begriffe sind es - oder ob ich sage, das eine ist, was das andere ist. Der mathematische Punkt, den ich als Kreis von unendlich kleinem 20 Durchmesser betrachten darf, ist als Mittelpunkt betrachtet nicht Peripherie, und als Peripherie betrachtet nicht Mittelpunkt, und ist doch eins. Es ergibt sich als Hauptresultat also: die Identität zwischen dem sein Könnenden und rein Seienden ist nicht von der Art derjenigen Einheit oder Verknüpfung, die 25 zwischen Elementen angenommen wird, die Teile eines und desselben Ganzen sind; sie ist nicht teilweise zu nehmen, sondern in der Totalität. Ich kann nicht sagen: der kranksein könnende Mensch ist ein besonderer Teil des Gesunden; der kranksein könnende Mensch, wie der gesunde Mensch, ist ja 30 ein und derselbe ganze Mensch. So ist auch das sein Könnende, und das rein Seiende - jedes das ganze Subjekt. Das sein Könnende ist nicht ein Teil des Ganzen, sondern auch wieder das Ganze. Von solcher Art ist also die Identität. Offenbar sind wir jetzt auf einen höhern Standpunkt ge- 35 kommen. Was aber ist mit dieser Vermittlung des Fortgangs vom sein Könnenden zu1n rein Seienden gewonnen? -

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Auf diese Frage will ich zuerst aus einen, allgemeinen Gesichtspunkte antworten. Es gibt keine natürlichere Reflexion, als diese, mit der jemand entweder selbst zu philosophieren anfängt, oder andere dazu anleitet - an dem Sein liegt nichts alles liegt nur an dem, was ist; das Sein ist gleichsam nur das Akzessorische; nur das consequens; aber das, was ist, ist das Innere, das Wesentliche, das antecedens des Seins. Zu dem Sein des Menschen gehört z. B. auch die physische Beschaffenheit des Menschen, das Äußere seines Körpers, also auch die Kleidung. Wie ich aber bei einem Menschen nicht zuerst nach seinem Körper frage, oder wie er gekleidet sei, sondern was er innerlich für ein Mensch sei: ebenso frage ich auch bei den Dingen nicht nach der Art des Seins, sondern was das ist, was in diesem Sein ist, das dieses Sein gleichsam angezogen hat; ich frage, was sie in letzter Instanz sind. Kurz, das erste in der Philosophie ist das Seiende selbst - m'.n:o 10 6v -. Man kann die Philosophie auch so unterscheiden: Die andern Wissenschaften bekümmern sich nur um das so oder so Sein der Dinge: die Philosophie aber nur um das Seiende selbst - sie ist T) srncrniµT] 1ou 6v1oc;. Man kann bemerken: Das, was ist, ist deshalb nicht ein Seiendes; ebenso wie das Weiße selbst - aü10 10 Ac:UKOV nicht ein Weißes ist, weil es das Weiße selbst ist. Das, was ist, als solches betrachtet, ist auch das Überseiende. Das verschieden Seiende, die Dinge, unterscheiden sich aber nicht durch das Sein selbst, sondern nur durch die Art ihres Seins. Das Seiende selbst ist überall dasselbe und durchaus sich gleich; wenn aller Unterschied nur auf der Art des Seins beruht, so muß dasselbe, wo keine Art des Seins ist, sich überall und immerhin gleich sein. Plato* sagt: »Die unerfahrene Jugend freut sich ausnehmend, wenn sie einmal auf den Begriff des überall Einen gekommen

* Cf. Plat. Parmenid. Frid. Cuil. Suckow de Platonis Parmenide diss. Breslau, 1823. 8. DR. CuNO FISCHER, de Parmenide Platonice disser. Stuttg. 1851. 35 Eine Stelle des Aristoteles, wo einige Worte des Pannenides aufgeführt werden, befindet sich in der Schrift nspi choµwv ypaµµiiiv und

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ist, wo alle Unterschiede verschwunden sind, bis sie in der Folge erfährt, daß man mit diesem Begriff des in allem Einen sich immer auf einer Spitze herumdreht und zuletzt schwindelt«. So sagt Aristoteles von der eleatischen Einheit, dem Prinzip des Parmenides, daß sie keine Früchte gewähre, d. h., 5 zu keinem wirklichen Wissen zu leiten vermöge. Dieser unfruchtbare Begriff wird aber gleich beseitigt, wenn man sieht, daß das Seiende selbst - prima determinatione - unmittelbar doch nur das sein Könnende sein kann, also schon nur eine Art des Seins ist, nicht das öde, wüste Seiende, mit dem 10 nichts anzufangen ist. Dadurch hat sich der Gang dieser Entwicklung von andern unterschieden, weil ich gleich von dem leeren Begriff des Seins hinweg zum sein Könnenden geleitet habe. Eben dadurch verwandelt sich der tote Begriff dessen, was ist, in den lebendigen, einen Fortschritt möglich machen- 15 den, Begriff dessen, was sein wird. Parmenides kann nicht abweisen, daß das, was ist, schlechthin nur das sein Könnende ist. Wir sind aber dadurch dem formlosen Sein entgangen. So wie ich sage, das Sein selbst kann unmittelbar nur das sein Könnende sein, - schon dadurch hat es aufgehört, 10 i';v zu sein 20 und ist schon i';v n - unum quid. Plato legt großes Gewicht auf den Begriff des nicht Seienden; er sucht dadurch den Schlingen der eleatischen Einheit zu entkommen. Der Begriff des nicht Seienden ist das Mittel dazu, und dieser Begriff ist in seiner letzten Bedeutung gleich dem sein Könnenden. Ich muß er- 25 kennen, daß es da ist, aber nur, un1 negiert zu werden; es offenbart sich auch dann noch als das nicht Seiende. Damit wird gleich anfangs jene, alle Unterscheidung und die Wissenschaft selbst vertilgende Einheit gebrochen, indem wir das Seiende als sein Könnendes in der ersten Bestimmung erklären. 30

enthält folgendes: EV 10 öv i:6 impa i:6 öv ouoi;v, w