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German Pages 258 Year 2014
Julia Rössel Unterwegs zum guten Leben?
Sozial- und Kulturgeographie
2014-07-24 10-44-14 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372607936838|(S.
Band 3
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4) TIT2808.p 372607936846
Julia Rössel (Dr. phil.) lehrt Sozialgeographie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gesellschaftstheorien und Geographien des Ländlichen.
2014-07-24 10-44-14 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372607936838|(S.
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4) TIT2808.p 372607936846
Julia Rössel
Unterwegs zum guten Leben? Raumproduktionen durch Zugezogene in der Uckermark
2014-07-24 10-44-14 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372607936838|(S.
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4) TIT2808.p 372607936846
Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 09 Chemie, Pharmazie und Geowissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2013 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Julia Rössel, Allee nach Annenwalde, 2011 Lektorat: Katrin Viviane Kurten Satz: Julia Rössel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2808-1 PDF-ISBN 978-3-8394-2808-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhaltsverzeichnis
1 Die Suche nach dem guten Leben
11
2 Literaturüberblick
15
3 L EFEBVRES Produktion von Raum
19
3.1
Gesellschaft und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
3.2
Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
4 Gutes Leben
43
4.1
Welches Leben ist gut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
4.2
Theorien des guten Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
4.3
Arbeitsdefinition des guten Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
5 Folie zur Analyse des Produktionsprozesses von Räumen des guten Lebens
73
5.1
Wissensproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
5.2
Materielle Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
5.3
Bedeutungsproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
5.4
Gesellschaftliche Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
6 Vorgehensweise und Methodik 6.1
83
Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
6.2
Datenauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
7 Die Produktion von Räumen des guten Lebens in der Uckermark 97 7.1
Produktionsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
7.2
Wissensproduktion: Sehnsucht nach einem anderen Leben . . . . . . 117
7.3
Materielle Produktion: Wir ziehen raus . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
7.4
Bedeutungsproduktion: Vom guten Leben auf dem Land . . . . . . . 159
7.5
Gesellschaftliche Ebenen: Von Differenzen und Konflikten . . . . . . 193
8 Ergebnis: Die Produktion von Räumen des guten Lebens
215
Danksagung
229
Literaturverzeichnis
233
Verzeichnis der Interviewpartner
255
Abbildungsverzeichnis
3.1
Raum – Zeit – Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
3.2
Doppelte Triade der Produktion von Raum . . . . . . . . . . . . . . . 34
3.3
Die Produktion von sozialem Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
4.1
Bedürfnispyramide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
4.2
Rubikonmodell des Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
5.1
Auswertungskategorien Wissensproduktion . . . . . . . . . . . . . . 76
5.2
Auswertungskategorien materielle Produktion . . . . . . . . . . . . . 77
5.3
Auswertungskategorien Bedeutungsproduktion . . . . . . . . . . . . 79
5.4
Gesellschaftliche Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
6.1
Karte zur Verteilung der Wohnorte der Interviewpartner in der Uckermark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
6.2
Themenfelder des ersten Feldaufenthalts
. . . . . . . . . . . . . . . 91
7.1
Karte zur Lage des Landkreises Uckermark in Deutschland . . . . . . 104
7.2
Bevölkerungsrückgang in der Uckermark 1990–2012 . . . . . . . . . 110
7.3
Karte zur Bevölkerungsdichte in der Uckermark nach Ämtern und amtsfreien Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
7.4
Bedeutungsproduktion durch die Zugezogenen . . . . . . . . . . . . 161
7.5
Erneuerbare Energien in der Uckermark im Jahr 2010
. . . . . . . . 195
7.6
Herkunft der Hausbesitzer in Annenwalde . . . . . . . . . . . . . . . 202
8.1
Der Produktionsprozess von Räumen des guten Lebens . . . . . . . . 216
8.2
Kategorien des guten Lebens auf dem Land . . . . . . . . . . . . . . 222
Tabellenverzeichnis
3.1
Schema zu den Ebenen des triadischen Produktionsprozesses . . . . . 38
A.1 Übersicht der Interviewpartner 1-9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 A.2 Übersicht der Interviewpartner 10-18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 A.3 Übersicht der Interviewpartner 19-26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
1 Die Suche nach dem guten Leben
»Ich höre schon des Dorfs Getümmel, hier ist des Volkes wahrer Himmel, zufrieden jauchzet Groß und Klein: hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!« Faust, Johann Wolfgang Goethe, 1808 (G OETHE 2000: 28)
»Stadtluft macht frei!« ist ein Slogan, den wir einem mittelalterlichen Rechtsgrundsatz verdanken und der die deutsche Siedlungsgeschichte maßgeblich prägte. Die Stadt als Ort der freien Bürger, als Ort der Befreiung von der Lehnsherrschaft und als Ort der Unabhängigkeit. Dass Freiheit eine entscheidende Rolle für das gute Leben eines Menschen spielt, ist sicher unumstritten. Bedenkt man diesen geschichtlichen Aspekt, so ist zunächst naheliegend, dass die Stadt der bevorzugte Ort des guten Lebens sein muss. Umso mehr verwundert es, dass Menschen auf der Suche nach dem guten Leben in die Uckermark, eine der am dünnsten besiedelten Regionen Deutschlands, im Nordosten Brandenburgs ziehen. Bietet vielleicht gerade die Leere in der von Abwanderung und Bevölkerungsrückgang gezeichneten peripheren Region die Möglichkeit, Räume des guten Lebens zu produzieren? Warum entscheiden sich Menschen bewusst, in abgelegenen Regionen zu leben, und wie leben sie dort? Macht Landluft heute frei? Wirft man einen Blick auf die von den Medien erzeugten Bilder, so fällt auf, dass im aktuellen medialen Diskurs Landleben stark repräsentiert ist. Es erscheinen
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Bücher wie »Vom Aussteigen & Ankommen. Besuche bei Menschen, die ein einfaches Leben wagen« von G ROSSARTH (2011a). Der TV-Moderator M OOR (2010) berichtet über sein Leben auf einem Bauernhof in Brandenburg, und diverse Autoren schreiben von ihrem Leben auf dem Land als eine Art Selbstversuch (H OCHREITHER 2011; R EICHERT 2011; S EZGIN 2011; B RAUN 2011). Auch der Zeitschriftenmarkt wird seit einigen Jahren von einer Welle der »Landlust« erfasst: LandLUST 1 (seit Ende 2005), Liebes Land (seit Ende 2008), LandIDEE (seit 2009), Mein schönes Land (seit 2010) oder Landluft (seit 2010) heißen die neuen Zeitschriften, die sich mit dem Landleben befassen. Woher rührt dieses Interesse am Landleben? Welche Wünsche, Träume und Ideen werden mit dem Leben auf dem Land verbunden? Das Leben in der Uckermark stellt in vielerlei Hinsicht, von den Zugezogenen in Interviews beschrieben, eine Differenz zum »schnellen« Stadtleben dar. Sie wollen kein konsumorientiertes Leben führen und haben sich vom Karrieredenken abgewendet. Sie suchen nach Zeit und Ruhe für ein elementares und naturnahes Leben. Sie suchen nach einem Ort, an dem sie eigene Ideen und Wünsche in die Tat umsetzen können. Sie kommen nicht, um Ferien zu machen, sondern sie sind gekommen um zu bleiben. Damit grenzen sie sich von den Wochenend- und Ferienhausbesitzern ab, die in der Uckermark ebenfalls vertreten sind. Insgesamt nimmt die Bevölkerung des Landkreises kontinuierlich ab, die Uckermark zählt zu den Regionen mit der geringsten Bevölkerungsdichte in Deutschland. Diese Region eröffnet für Menschen auf der Suche nach einer anderen Lebensweise Perspektiven und Möglichkeiten, eigene Ideen und Vorstellungen umzusetzen. Stark vom landwirtschaftlichen System der DDR geprägt, standen und stehen immer noch viele ehemals landwirtschaftlich genutzte Gebäude leer. Waren die Besitzverhältnisse nach der Wende geklärt, konnten diese Gebäude, die baulich zum Teil in sehr schlechtem Zustand waren, zu günstigen Prei-
1 | LandLUST war nicht nur die erste Zeitschrift zum Landleben in Deutschland, sie zählt inzwischen auch zu den auflagenstärksten Publikumszeitschriften. Im ersten Quartal 2012 war es soweit: Exakt 1.010.873 verkaufte Exemplare meldete das Erfolgsmagazin an die Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern. Das entspricht im Vergleich zum Vorjahr einem Zuwachs von ca. 26 Prozent (L ANDWIRTSCHAFTSVERLAG M ÜNS TER
2012).
Die Suche nach dem guten Leben | 13
sen erworben werden. Besonders interessant für die Käufer waren zunächst Gebäude in Einödlage und in Seenähe. Heute sind Häuser in einer solchen Lage, trotz stetig fortschreitender Abwanderung, nur noch schwer zu finden. Nach dem Kauf müssen meist Renovierungsarbeiten, von einigen Akteuren in Eigenarbeit geleistet, durchgeführt werden. Die neuen Hausbesitzer legen Wert auf nachhaltige Bauweisen, wie zum Beispiel die Verwendung von ökologischen Baustoffen, deren Handhabung sie zum Teil selbst erlernen. Hinzu kommt die Anlage von Gärten, die einerseits als Ort der Erholung, andererseits auch zur Nahrungsmittelproduktion dienen. Die Zugezogenen initiieren diverse Projekte in der Uckermark. So werden traditionelle Dorffeste wiederbelebt, aber auch eine freie Schule, Sing- und Literaturkreise sowie ein Tauschring ins Leben gerufen. Die Freischaffenden eröffnen Werkstätten, Ateliers, Galerien oder Gaststätten. Es sind in den letzten Jahren zahlreiche Artikel und Fernsehbeiträge über das »neue« Landleben in der Uckermark erschienen (beispielsweise B ECKER 1999; L ÖHR 2004; S YWOTTEK 2007; S IEPMANN 2008; K ESELING 2009; L OEWEL 2009; F UHR 2010; G ROSSARTH 2011b; VOIGT 2011; M EIER u. BAUM 2011). Auch wenn der Zuzug die Abwanderung aus der Uckermark statistisch gesehen nicht aufwiegen kann, hat sie Einfluss auf die Region und auf die Wahrnehmung der Region in der Gesellschaft. Vor Ort entstehen jedoch neben den positiven Dynamiken auch Konflikte, die häufig auf dem beiderseitigen Unverständnis zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen beruhen. Die interviewten Zugezogenen selbst empfinden ihr »neues« Leben in der Uckermark als gut. Diese Beobachtungen führen zu folgender Fragestellung: Wie werden Räume des guten Lebens von den Zugezogenen in der Uckermark produziert? Mit diesem Dissertationsprojekt werden zwei Ziele verfolgt: (1) Es soll ein theoretisches Konzept über die Produktion von Räumen des guten Lebens entwickelt werden. Dieses Konzept soll den Prozess vom Wunsch nach einer Veränderung bis hin zum Alltagsleben am neuen Wohnort umfassen. Die Dynamik und die Praxis sollen betont und sowohl materielle Objekte als auch Wünsche, Ziele und Bedeutungen berücksichtigt werden. (2) Die Arbeit hat außerdem zum Ziel, das Phänomen »Zuzug in ein peripheres Abwanderungsgebiet« zu beschreiben und verstehbar zu machen.
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Welche Motivationen und Vorstellungen führen zum Zuzug? Wie entscheiden sich die Zuzugswilligen für einen Wohnort? Wie laufen Haussuche und Renovierung ab? Wie gestalten die Zugezogenen ihr Alltagsleben in der Uckermark? Welche Möglichkeiten entstehen durch die Zugezogenen? Zur Umsetzung dieser Ziele werden sozialund geisteswissenschaftliche Theorien mit empirischen Daten verschränkt. Die herangezogenen empirischen Daten wurden zwischen September 2010 und September 2012 in der Uckermark erhoben. In der deutschen konstruktivistischen Sozialgeographie, in die diese Studie eingeordnet werden kann, ist eine deutliche Privilegierung der Stadt als Forschungsgegenstand festzustellen. Dadurch liegt die deutsche Geographie des Ländlichen – was die konstruktivistische Perspektive betrifft – hinter der anglophonen Geographie zurück. In Großbritannien und den USA etablierte sich bereits in den 1990er-Jahren eine »neue« Rural Geography, die postmoderne Geographien des Ländlichen aus einer theoretisch informierten Perspektive untersucht. Diese Arbeit soll neben den genannten inhaltlichen Zielen einen Beitrag zu einer konstruktivistischen Sozialgeographie des Ländlichen in Deutschland leisten und die angesprochene Forschungslücke schließen.
2 Literaturüberblick
Der Gegenstand der vorliegenden Studie, der Zuzug in ein peripheres Gebiet, wird in der geographischen Forschung bisher vornehmlich unter zwei Gesichtspunkten beleuchtet: Einerseits wird der Prozess als Form der Gentrification verstanden, wobei verstärkt die Veränderungen des Immobilienmarktes und der Bewohnerstruktur aufgegriffen werden (beispielsweise P HILLIPS 1993, 2002; P HILLIPS et al. 2008; S CHMIED 2002; S MITH u. P HILLIPS 2001). Andererseits findet eine Fokussierung auf den Migrationsprozess statt mit Ansätzen wie Counterurbanisierung (zum Beispiel bei DAHMS 1995; D EAN et al. 1984; H ALLIDAY u. C OOMBES 1995; H ERS LUND 2012; L ÖFFLER u. S TEINICKE 2006; VARTIAINEN 1989) und Amenity Migra-
tion oder Lifestyle Migration (B ENSON 2011; B ENSON u. O’R EILLY 2009a; B EN SON
u. O’R EILLY 2009b; O’R EILLY u. B ENSON 2009). In diesem Kontext ist au-
ßerdem die Arbeit von H ALFACREE u. R IVERA (2012) zu erwähnen, die der Frage nachgeht, warum Migranten bleiben, und damit auf das Leben am neuen Wohnort nach der Migration fokussiert. Die vorliegende Studie untersucht das Phänomen des Zuzugs in periphere Gebiete hingegen aus einer möglichst ganzheitlichen Perspektive als Produktion von Räumen des guten Lebens. Es werden das Leben am früheren Wohnort, die Migrationsentscheidung, der Migrationsprozess und das Leben am neuen Wohnort betrachtet. Als theoretische Basiskonzepte dienen L EFEBVRES Überlegungen zur Produktion von Raum sowie philosophische Theorien des guten Lebens. Die Fülle der Literatur, die
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sich in der Geographie theoretisch und empirisch mit Raum beschäftigt, ist nahezu unerschöpflich. Hinzu kommen Werke aus den anderen Sozial- und Geisteswissenschaften. Einen Überblick über die Beschäftigung mit Raum in der Geographie und den Nachbarwissenschaften gibt der Sammelband »Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften« (D ÖRING u. T HIELMANN 2008b). Eine interdisziplinäre Betrachtung liefert das Handbuch zum Raum von G ÜNZEL (2010). Grundlagentexte zum Thema Raum aus Philosophie und Kulturwissenschaft bietet der 2006 erschienene Sammelband von D ÜNNE u. G ÜNZEL, in dem auch ein Ausschnitt aus L EFEBVRES »La production de l’espace« (1974) in deutscher Sprache abgedruckt ist. Die Überlegungen zur Produktion von Raum von L EFEBVRE liegen als Denkfigur dem in dieser Arbeit entwickelten Konzept über die Produktion von Räumen des guten Lebens zugrunde. L EFEBVRE stellt den Produktionsprozess von Raum ins Zentrum und nicht etwa die Untersuchung und Typisierung von Räumen. Sein 1974 veröffentlichtes Werk blieb in der Geographie zunächst unbeachtet. Erst nachdem der Spatial Turn, die Hinwendung zum Raum als Forschungsthema, in den 1970er-Jahren die Sozialwissenschaften erfasste, wurde es aufgegriffen. Das steigende Interesse wurde bestärkt durch die Übersetzung des Werkes ins Englische im Jahr 1991 (M ERRIFIELD 1995: 294). Zum Verständnis von L EFEBVRES über 60 Bücher umfassendem Gesamtwerk ist E LDENS »Understanding Henri Lefebvre. Theory and the Possible« (2004b) zu nennen. In Deutschland hatten lediglich frühe Schriften L E FEBVRES , wie die »Kritik des Alltagsleben« (1958; 1961; 1981) und »Die Revolution
der Städte« (1990), für kurze Zeit einen Untergrundstatus in der linkspolitischen Szene (RONNEBERGER 2002). In der deutschsprachigen Raumdebatte wurden L EFEB VRES
kritisch-materialistische Ansätze erst in den 1990er-Jahren beachtet, wie B E -
LINA
u. M ICHEL (2008: 8 ff.) schreiben. Heute gewinnen seine Überlegungen zum
Raum an Bedeutung. Besonders hervorzuheben ist die deutschsprachige Monographie »Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes« von S CHMID, die 2010 in zweiter Auflage erschien. Schmid zeigt, dass »La production de l’espace« keineswegs ausschließlich als Raumtheorie zu verstehen ist, sondern als komplexe Gesellschaftstheorie (S CHMID 2010: 30).
Literaturüberblick | 17
Verknüpft werden die Überlegungen zur Produktion von Raum mit den schon erwähnten philosophischen Theorien des guten Lebens. Insgesamt haben philosophische Konzepte vom guten Leben bisher keinen Eingang in die Sozialgeographie gefunden, obwohl sie meiner Einschätzung nach in viele sozialgeographische Forschungsbereiche hineinwirken. So schwingen Überlegungen zum guten Leben zum Beispiel in Bereichen der Migrationsforschung2 oder bei Konzepten der Stadtforschung wie Gentrification (beispielsweise E SCHER et al. 2001; E SCHER u. P ETER MANN
2009) mit. Die philosophische Perspektive könnte sicher sinnvolle theoreti-
sche Erweiterungen und Ansätze in diesen Bereichen bieten. Im philosophischen Diskurs war die Frage nach dem guten Leben lange Zeit an den Rand gedrängt. Erst in den 1990er-Jahren begann die Renaissance des Themas, die 1991 im Aufsatz »Die Wiederkehr der Ethik des guten Lebens« von S EEL festgeschrieben wurde. Als Einführung in die Theorien des guten Lebens eignen sich F ENNERS »Das gute Leben« (2007) und »Glück« (2003), die einen Überblick über die in der Philosophie bestehenden Ansätze geben, ebenso wie W OLFS »Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben« (1999), das die Bedeutung der Frage nach dem guten Leben in der Philosophie diskutiert. Interessante und vielseitige Ansätze zur philosophischen Beschäftigung mit dem guten Leben bietet der von S TEINFATH herausgegebene Sammelband »Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen« (1998c), in dem Beiträge von Vertretern verschiedener Strömungen zu finden sind. Neben diesen philosophischen Schriften ist ein unter dem Titel »Orte des guten Lebens. Entwürfe humaner Lebensräume« (E CKER 2007) erschienener Sammelband zu erwähnen, in dem die Ergebnisse eines interdisziplinären Symposiums zusammengetragen wurden. Neben den bereits genannten Zielen sollen durch die vorliegende Arbeit Möglichkeiten aufgezeigt werden, sowohl die Produktion von Raum als auch eine theoretische Perspektive des guten Lebens für die sozialgeographische empirische Forschung nutzbar zu machen.
2 | Im bereits erwähnten Konzept der Lifestyle Migration wird die Suche nach dem guten Leben zwar als Grund für Migration genannt, allerdings werden die theoretischen Konzepte aus der Philosophie dabei nicht aufgegriffen.
3 L EFEBVRES Produktion von Raum3
1989 sprach S OJA (1989: 39) in seinem Werk »Postmodern Geographies« erstmals von einem Spatial Turn in den Sozialwissenschaften (D ÖRING u. T HIELMANN 2008a: 7). Der Spatial Turn ist eine Wende4 in der Art, Räume zu denken (R EDEPEN NING
2008: 317), wobei der Blick durch die konstruktivistische Brille verschiedene
Raumperspektiven sichtbar machte, die definiert und überwunden wurden. Ob es sich beim Spatial Turn um neue empirische Fakten handelt oder lediglich um das Aufset-
3 | L EFEBVRES Werk wurde von verschiedenen Autoren interpretiert und für den theoretischen Diskurs fruchtbar gemacht. Eine relativ frühe Interpretation lieferte H ARVEY (1973) in Bezug auf das Urbane, die im Kontext der kritischen Stadtforschung zu lesen ist, wodurch L E FEBVRE
Aufmerksamkeit im anglophonen Sprachraum erlangte (M ERRIFIELD 2006: 102). Zu
diesem Zeitpunkt war L EFEBVRES »La production de l’espace« noch nicht erschienen. Später folgten die postmodernen, auf Raum fokussierten Interpretationen wie beispielsweise »Thirdspace«, in Erstauflage 1996 von S OJA vorgelegt. Beide Phasen der Rezeption L EFEBVRES in der Geographie sind selektiv auf einige Thesen und Aspekte seiner Schriften beschränkt. Die 2005 in Erstauflage von S CHMID verfasste Interpretation bietet ein möglichst umfassendes und systematisches Bild von L EFEBVRES Überlegung zur Produktion des Raumes. Dies gelingt durch eine systematische und kritische Auseinandersetzung mit L EFEBVRES Gesamtwerk, in Bezugnahme auf Werke der von ihm angeführten Autoren. Diese in meinen Augen umfassendste Auseinandersetzung liegt dem hier beschriebenen Verständnis von der Produktion von Raum zugrunde. 4 | Teilweise wird er auch als eine Form des Cultural Turn verstanden (BACHMANN -M EDICK 2006: 285).
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zen einer neuen Brille, durch die man eine neue Sichtweise auf alte Dinge bekommt, ist unklar. Daher scheint es zunächst sinnvoll davon auszugehen, dass der Spatial Turn beides beinhaltet (R EDEPENNING 2008: 334). Unser In-der-Welt-Sein weist nach S OJA (2009: 244) drei Dimensionen auf: • die soziale Dimension, • die räumliche Dimension und • die zeitliche Dimension. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann laut S OJA eine Privilegierung der zeitlichen Dimension innerhalb des »westlichen Denkens« (S OJA 2009: 244). Die räumliche Dimension wurde als etwas Materielles, Fixiertes, als Hintergrund oder als Container verstanden. Ein raumbezogenes Denken wurde in den Sozialwissenschaften als nebensächlich betrachtet (S OJA 2009: 245 f.). Nichts desto trotz war eine räumliche Perspektive immer vorhanden. Daher sollte der Spatial Turn nicht als Rückkehr oder Wiederentdeckung des Raumes verstanden werden (L IPPUNER 2008: 341 f.; L OS SAU
u. L IPPUNER 2004: 202). Der Spatial Turn, den S OJA (2003: 243) viel umfas-
sender einschätzt als alle anderen Turns in den Kulturwissenschaften (BACHMANN M EDICK 2006), führte in den 1990er-Jahren zu einer Reflexion der Dimensionen Raum und Zeit und sogar zu einer Bevorzugung der räumlichen Dimension. Ob dadurch allerdings nur der Raumbegriff oder auch der Inhalt des Begriffs an Aufmerksamkeit gewonnen hat, sei dahingestellt (R EDEPENNING 2008: 321). Mit der sozialwissenschaftlichen Hinwendung zum Raum entstand eine Vielzahl verschiedener theoretischer Ansätze und Konzepte (beispielsweise A PPADURAI 1998; AUGÉ 1994; L ÖW 2001; W ERLEN 1988), um sich dem Gegenstand zu nähern. Raum wurde als Forschungsgegenstand typisiert und beschrieben. Der französische Soziologe und Philosoph L EFEBVRE , der als eine der Hauptfiguren des Spatial Turn bezeichnet wird, schlägt eine neue Perspektive auf Raum als Forschungsgegenstand vor. Er fordert eine »wissenschaftliche Auseinandersetzung über den Raum, die sich nicht allein mit seiner dinglichen Gestalt beschäftigt. Die einzige Art
L EFEBVRES Produktion von Raum | 21
und Weise, diese Auseinandersetzung als Wissenschaft [...] in Gang zu bringen, [...] besteht darin, den Raum im Prozess seiner Produktion zu betrachten« (L EFEBVRE 2002: 52). Damit enwirft L EFEBVRE keine neue Raumtheorie, sondern er bietet eine Orientierung zur Beschäftigung mit Raum an (E LDEN 2002: 33). Seine grundlegende These lautet »l’espace (social) est un produit (social)«5 (L EFEBVRE 2000: 35). Wenn auch im Zuge des Spatial Turn Raum ins Zentrum des sozialwissenschaftlichen Interesses gerückt ist, so kann eine Privilegierung des Raumes in L EFEBVRES Theorie nicht festgestellt werden. Er beschreibt Raum als gesellschaftlichen Prozess, und damit ist Raum immer in Abhängigkeit von den anderen Dimensionen unseres In-derWelt-Seins, Zeit und Gesellschaft, zu verstehen. Die Produktion von gesellschaftlichem Raum und gesellschaftlicher Zeit sind in L EFEBVRES Theorie zusammengeführt (E LDEN 2002: 29 f.; S CHMID 2010: 193). Grundsätzlich stellt sich in der theoretischen Betrachtung von Raum die Frage, ob ein Raum »an sich« existiert – ob er ein materielles Objekt ist, dem gewisse Kräfte innewohnen – oder ob Raum ein idealistisches Konzept ist. Mit dieser grundlegenden Unterscheidung von materialistischen und idealistischen Ansätzen setzt sich L E FEBVRE
in seinen Überlegungen auseinander und versucht, diese von ihm kritisierte
5 | Bei der Bezugnahme auf L EFEBVRES Überlegungen zur Raumproduktion ist das Problem der Übersetzung zu bedenken. Da L EFEBVRES Text von 1974 erst 1991 ins Englische übersetzt wurde, ist nicht nur die sprachliche Übertragung problematisch, sondern auch die Übertragung des Werkes in einen anderen gesellschaftlichen Kontext. S CHMID (2010: 14) weist darauf hin, dass L EFEBVRES Ansatz stark von seinen »lebensweltlichen und aktionistischen Erfahrungen« im intellektuellen Pariser Klima von den 1920er-Jahren bis 1968 geprägt ist. Dieser Kontext sollte, wie auch L EFEBVRES Quellen, bei der Lektüre seines Werkes berücksichtig werden. Übersetzungen in die deutsche Sprache existieren lediglich in Form eines Ausschnittes aus L EFEBVRES (1974) Arbeit »La production de l’espace« im Sammelband »Raumtheorie« von D ÜNNE u. G ÜNZEL (2006). Außerdem erschien ein übersetzter Vortrag zur Produktion von Raum von L EFEBVRE (2002) in der Zeitschrift Arch+. Im Folgenden wird L EFEBVRES (2000) »La production de l’espace« immer im französischen Original zitiert. Um dem Leser das Verständnis zu erleichtern, wird bei wörtlichen Zitaten die englische Übersetzung oder, wenn vorhanden, eine deutsche Übersetzung in einer Fußnote angefügt: »([S]ocial) Space is a (social) Product« (L EFEBVRE 1991: 30).
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Binarität zu überwinden (H AMEDINGER 1998: 193). Mit L EFEBVRES Überlegungen zum Raum geht eine tief greifende Kritik an der Philosophie einher: die Kritik am Primat des Geistigen6 . Daraus leitet er eine fehlende praktische Relevanz der Philosophie ab. Er erkennt zwar die Erkenntnisse der Philosophen an, stellt aber fest, dass Raum nicht im Kopf entsteht (S CHMID 2010: 74 f., 200). Die Raumkonzepte der Philosophie sieht er vorwiegend als Repräsentationen des Raumes, die sich im Mentalen abspielen – die soziale Praxis bleibt unbeachtet7 . L EFEBVRE wendet sich daraufhin dem historischen Materialismus, den Marx vertritt, zu (S CHMID 2010: 75 f.). Neben dem reinen Idealismus kritisiert L EFEBVRE auch den naiven Materialismus, der den Raum als Ding »an sich« versteht. Er rückt die soziale Praxis ins Zentrum seiner Überlegungen. Die Idee des Praxisbegriffs übernimmt L EFEBVRE aus dem historischen Materialismus des jungen Marx8 . Allerdings setzt er an die dort hervorgehobe-
6 | Die Trennung von Geist und Körperlichkeit in der Philosophie geht auf D ESCARTES ’ radikale Trennung von res extensa (eine körperliche Substanz) und res cogitans (eine erschaffende, denkende Substanz) zurück. Nach L EFEBVRE kann diese Trennung in der Philosophie nicht überwunden werden, Fragen nach dem Verhältnis von Geistigem und Körperlichem können dadurch nicht beantwortet werden. Eine Beziehung zwischen den beiden Ebenen, wie auch die Betrachtung des Körperlichen, existiert letztlich immer nur im Mentalen (S CHMID 2010: 200). 7 | Raum wurde seit D ESCARTES ’ Trennung von Geistigem und Körperlichem als Ausdehnung verstanden (D ESCARTES 2006) und geometrisch gedacht. Dies führte nach L EFEBVRE zu einem absoluten Verständnis von Raum als eine Körperlichkeit, die jedoch im Übersinnlichen, Ungreifbaren liegt. L EIBNIZ (2006) versuchte in Bezugnahme auf Newtons absolutes geometrisches Raumkonzept einen relationalen Gegenentwurf zu zeichnen. Er beschreibt Raum als Ordnung des Gleichzeitigen. Allerdings hält er diese Ordnung für nicht durch Wahrnehmung erfassbar. Damit bleibt unklar, wie diese gedankliche Ordnung »Raum« wahrgenommen werden kann und wie diese Idee von Raum überhaupt entsteht. In dieser Situation muss auch L EIBNIZ die Idee des Raumes als von Gott gegeben erklären (S CHMID 2010: 196). Spätere philosophische Konzepte, wie K ANTS (2006) Version des Raumes apriori, waren nach L EFEBVRE nicht in der Lage, den Raum vom Denken in die Praxis zu holen. Für L EFEBVRE bleibt Raum in der Philosophie ein idealistisches Konzept, das keinen Bezug zur sozialen Praxis aufweist (E LDEN 2002: 30; G UELF 2010: 153 f.; S CHMID 2010: 199 f.). 8 | Die Werke von Marx und Engels stellen für L EFEBVRES ganzes Schaffen zentrale Bezugspunkte dar. Sein Verhältnis zum Marxismus ist jedoch ambivalent. Er verstand den Marxismus als Ausgangspunkt des Denkens, nicht aber als geschlossenes Theoriegebäude. Besonders auf Marx’ fragmentarisches Frühwerk nahm L EFEBVRE immer wieder Bezug. Spätere Wer-
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ne Stellung der Arbeit die Tätigkeit. »Tätigkeit [...] ist für Lefebvre die grundlegende Kategorie des Seins [...]. Wo Marx ‚Arbeit‘ schreibt, da setzt Lefebvre in allen seinen Schriften schon fast konsequent die Begriffe activité, action oder acte, Tätigkeit, Aktion, Handlung« (S CHMID 2010: 80). Praxis bildet in diesem Sinne einen Überbegriff, der beispielsweise Arbeit beinhaltet. Hinzu kommt die breitere Bedeutung des französischen Wortes action: »Er schliesst auch die Tat, die Aktion, den Widerstand und damit ein befreiendes Moment mit ein, er umfasst die Lebensäusserung der menschlichen Existenz in ihrer Totalität« (S CHMID 2010: 81). L EFEBVRES Praxisbegriff, der sich auf die frühen Texte Marx’ stützt, deren Quelle wiederum Hegel war, überbrückt letztlich die Binarität von Idealismus und Materialismus. Die soziale Praxis ist entscheidend, denn sie verändert die Welt. Von diesem Standpunkt aus entwickelt er seine eigene Version der Dialektik, die ihn zu einer räumlich-materialistisch-dialektischen Gesellschaftstheorie führt, die eine ganzheitliche, vereinende Sichtweise ermöglicht (E LDEN 2002: 27). Demnach bestehen soziale Verhältnisse immer aus Widersprüchen, die von einem dritten Moment vermittelt werden. Mit diesem dreidimensionalen, eigenen Verständnis der Dialektik bricht L EFEBVRE das bislang vorherrschende Denken in Binaritäten auf (S CHMID 2010: 77 f.; VOGELPOHL 2011: 234). Als Schlüssel zu L EFEBVRES dialektischer Triade ist das Aufheben von Widersprüchen zu sehen, er versucht Reduktionismus zu überwinden, indem er den festen Gegensatz von zwei Dingen mit der Einführung einer dritten Möglichkeit auflöst. So lassen sich starre Dichotomien vermeiden und dynamische Effekte erzeugen (G OTTDIENER 2002: 23). Damit geht L EFEBVRE über die klassische Dialektik, die eng an der Linie Hegels aus These, Antithese und Synthese liegt, hinaus. In L EFEBVRES Modell sind drei Momente gleichwertig, sie
ke kritisierte er hingegen teilweise. Am Frühwerk von Marx legte L EFEBVRE sein Verständis des Marxismus frei, in dem er Philosophismus und Ökonomismus verwirft. Darauf aufbauend, geht L EFEBVRE in einer unbefangenen Art und Weise über den klassischen Marxismus hinaus. L EFEBVRE war selbst ab 1928 Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs. 1958 wurde er ausgeschlossen wegen seiner Kritik am Stalinismus (S CHMID 2010: 75 f.). Zu L EFEBVRES Raumbegriff in Bezug auf den historischen Materialismus sei an dieser Stelle auf das kürzlich erschienene Werk »Raum. Zu den Grundlagen eines historisch-geographischen Materialismus« (B ELINA 2013) hingewiesen.
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beziehen sich alle aufeinander und jedes Moment kann These, Antithese oder Synthese der anderen sein. Drei gleichwertige Begriffe, die in wechselnden und dynamischen Beziehungen zueinander stehen – das beschreibt L EFEBVRE mit dem Begriff der dialektischen Triade. Die dritte Quelle für L EFEBVRES Dialektik ist die Poesie Nietzsches9 . L EFEBVRE wählt somit Marx und Nietzsche als wichtigste Verbündete gegen das philosophische (rein idealistische) Denken (M ERRIFIELD 1995: 295; S CHMID 2008: 31 ff.). Raum ist weder Subjekt noch Objekt, Raum ist gesellschaftliche Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist Ergebnis eines Produktionsprozesses, der weder ausschließlich auf mentalen Aspekten noch auf materiellen, sondern auf individuellen oder kollektiven Subjekten basiert und den es zu analysieren gilt (G UELF 2010: 156). L EFEBVRE fordert einen Perspektivenwechsel von der Erforschung der Dinge im Raum zu einer Analyse der Produktion des Raumes selbst. Die Produktion soll reproduziert und dargestellt werden. Damit geht die Feststellung einher, dass Raum nicht als universelle Kategorie existiert, sondern als sozialer Prozess, der permanenter Dynamik unterliegt (L EFEBVRE 2000: 43; L EFEBVRE 2006: 333). Raum ist ein dynamischer Prozess, ein »Ensemble von gesellschaftlichen Aktionen: [...] Handlungen von Subjekten, die gleichzeitig kollektiv und individuell sind« (S CHMID 2010: 300). Raum »an sich« existiert nicht und kann deswegen auch nicht Forschungsgegenstand sein (S CHMID 2008: 28). Wenn es um die Erforschung von dynamischen Prozessen geht, wird deutlich, dass Raum und Zeit nicht sinnvoll entkoppelt werden können. Die produzierten Räume unterliegen immer den Bedingungen ihrer Produktion, sie werden unter bestimmten Voraussetzungen produziert. Aus diesem Blickwinkel kann eine Trennung von Raum und Zeit nicht stattfinden, beides wirkt gleichermaßen mit Gesellschaft zusammen (vgl. Abb. 3.1).
9 | Zu L EFEBVRES Interesse an Nietzsche und dessen Bedeutung für L EFEBVRES Ansatz zur Produktion des Raumes siehe M ERRIFIELD (1995: vor allem 295 ff.).
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Abbildung 3.1: Raum – Zeit – Gesellschaft (Entwurf: Julia Rössel)
Gesellschaft
Soziale Zeit
Sozialer Raum
Ebenso wie materialistische und idealistische Aspekte als Wirkungsgefüge zu verstehen sind, sollen auch Zeit, Raum und Gesellschaft in Abhängigkeit von einander betrachtet werden: »Raum und Zeit, gesellschaftlich gelebter und gesellschaftlich produzierte, sind abhängig von physischen und gedanklichen Konstrukten« (E LDEN 2002: 30). Im Zentrum von L EFEBVRES Überlegung steht das alltägliche Leben des Mensch in allen Facetten seiner Aktivitäten (H AMEDINGER 1998: 193 f.). Raum und Zeit sind Aspekte der menschlichen Praxis, sie existieren nicht vor der menschlichen Aktivität, sie sind produziert (G OTTDIENER 2002: 22; S CHMID 2008: 29). L EFEB VRES
Theorie kann daher nicht als Raumtheorie gelesen werden, sondern ist eine
»raumzeitliche[...] Theorie gesellschaftlicher Praxis« (S CHMID 2010: 30). Damit wird klar, dass die Produktion von Raum in Abhängigkeit von den Ebenen Zeit und Gesellschaft betrachtet werden muss. Genauso wie im Umkehrschluss Gesellschaft historisch und räumlich geformt sowie Zeit von Gesellschaft und ihrer Raumproduktion geprägt ist (E LDEN 2002: 31). Die Verknüpfung der verschiedenen Ebenen bietet großes Potenzial für die empirische Anwendung. Um eine für die empirische Forschung sinnvolle Zugangsweise zu finden, müssen L EFEBVRES formale Überlegungen weiter gedacht werden. Sie sind – was die Begrifflichkeiten anbelangt
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– in ständiger Bewegung. L EFEBVRE bietet verschiedene Verständnismöglichkeiten für einen Begriff an, die er im Verlauf seiner Arbeiten entwickelt. Er wirft Fragen auf, die er mit »oui et non« (L EFEBVRE 2000: 36, 73, 154, 167, 392) beantwortet, und führt den Leser durch plötzliche Exkurse in die Irre. Sein Text zur Produktion des Raumes ist fragmentarisch und metaphorisch, was den analytischen Zugang weiter erschwert, wenn nicht sogar unmöglich macht (S CHMID 2010: 14 ff.). Die Unklarheiten in seinem Werk, die häufig Verwirrung stiften, lassen gleichzeitig große Interpretationsspielräume zu. Probleme, die bei der Anwendung des Konzeptes entstehen, können nur durch die Anwendung selbst gelöst werden (S CHMID 2010: 333). In dieser Arbeit steht die Produktion von Raum im Zentrum, Zeit und Gesellschaft sollen jedoch nicht gänzlich unterschlagen werden – das würde dem theoretischen Grundverständnis widersprechen. Im Folgenden sollen die drei Ebenen theoretisch erläutert werden. Dabei werden die Aspekte ins Zentrum gestellt, die im Hinblick auf die empirische Studie relevant sind10 .
3.1 G ESELLSCHAFT
UND
Z EIT
Raum ist ein Produkt gesellschaftlicher Produktionsprozesse, die von Subjekten ausgeführt werden. Subjekte können dabei sowohl Individuen als auch Gruppen sein. Die Praxis der Subjekte im Kontext ihrer sozialen Beziehungen muss analysiert werden, um den Produktionsprozess von Raum zu erforschen (S CHMID 2010: 203). Problematisch ist, dass die gesellschaftliche Produktion unendlich viele Räume hervorbringt. »Jede gesellschaftliche relevante Konstellation von Akteuren, jede Institution oder Gruppe (von der Familie bis zum Nationalstaat) produziert ihren jeweils spezifischen ‚eigenen‘ Raum« (S CHMID 2010: 323). Diese sind nicht voneinander abgrenzbar, sie durchdringen und überlagern sich, was den Analyseprozess erheblich
10 | Die Vorgehensweise ist angelehnt an die von S CHMID vorgeschlagene Matrix, die er aus seiner theoretischen Rekonstruktion von L EFEBVRES Werk herleitet. L EFEBVRE selbst verweigerte jede schematische und reduktionistische Umsetzung seiner Überlegungen (S CHMID 2010: 314 ff.).
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erschwert (S CHMID 2010: 323). L EFEBVRE (1990) entwickelt in »Die Revolution der Städte« drei Ebenen gesellschaftlicher Wirklichkeit, die als Ordnungsprinzip bei der Analyse der Produktion von Raum dienen. Diese drei Ebenen werden in verschiedenen Werken L EFEBVRES aufgegriffen und erläutert. Je nach Schwerpunkt des Werkes steht meist eine Ebene im Vordergrund. In »La production de l’espace« führt er die drei Ebenen als Raster ein, um sozialen Raum zu entschlüsseln. Er unterscheidet (L EFEBVRE 2000: 181 f., 446; S CHMID 2010: 323): • die ferne Ordnung oder die allgemeine Ebene (global, G), • die mittlere Ordnung oder vermittelnde Ebene (le mixte médiateur, M) und • die nahe Ordnung oder private Ebene (le privé, P). Die allgemeine Ebene versteht L EFEBVRE als abstrakte und institutionelle Ordnung11 . Es ist die größte Maßstabsebene, die er auch als »public« (L EFEBVRE 2000: 181), als Öffentlichkeit bezeichnet. Als Beispiele führt er Sitze von Institutionen, Tempel oder Paläste an (L EFEBVRE 2000: 181). S CHMID (2010: 162 ff.) führt die Beschreibung der drei Ebenen aus L EFEBVRES Gesamtwerk in seiner Rekonstruktion zusammen. Er bezeichnet die allgemeine Ebene als Ebene der »moralischen und juristischen Prinzipien, [der] staatliche[n] Gewalt, [der] poiltischen Strategien, [der] ‚Klassenlogik‘, [der] Institutionen, und sie wird durch einen juristischen Code (der formalisiert sein kann oder auch nicht), durch eine ‚Kultur‘ und durch Bedeutungszusammenhänge (ensembles significants) reguliert« (S CHMID 2010: 164). Zentraler Rahmen der fernen Ordnung ist der Nationalstaat, wobei L EFEBVRE einen Bedeutungsverlust der Nationalstaaten durch die Globalisierung bedenkt und eine vertikale Verschiebung der allgemeinen Ebene zu globalen Institutionen erkennt (S CHMID 2010: 324 f.). Er unterscheidet auf der Ebene G frei zugängliche und beschränkt zugängliche Orte: »Le G se scinde en salles ouvertes et sièges d’institutions,
11 | Diese Ebene betrachtet L EFEBVRE genauer in seinem Werk »De l’État« (1976a; 1976b; 1977; 1978).
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en itinéraires accessibles, en lieu réservés aux notables, prêtres, princes et chefs«12 (L EFEBVRE 2000: 181). Als entscheidende Kategorie für das menschliche Zusammenleben benennt L EFEBVRE den Alltag der Menschen13 , der die private Ebene bestimmt: »Im täglichen Leben liegt der rationelle Kern, das wirkliche Zentrum der Praxis« (L EFEBVRE 1972: 48). Die private Ebene ist der praktisch-sinnlichen Ordnung gewidmet. Alltag liegt nach L EFEBVRE zwischen Entfremdung (Habitat), zum Beispiel die Hausordnung als Form der Kontrolle, und Aneignung (Wohnen), wie emotionale Verbundenheit zu einem Wohnort. Aus diesem Konflikt gehen unterschiedliche Wohn- und Lebensformen hervor (S CHMID 2010: 323 ff.). L EFEBVRE (2000: 181) nennt beispielhaft für die private Ebene Wohnhäuser, Wohnungen, die Orte des Familienlebens und des Rückzugs. Kennzeichnend für Orte der Ebene P sind Schwellen, die überschritten werden müssen, beziehungsweise handelt es sich um Orte, die mit einem Eingang versehen sind: »Descriptivement, le ‚privé‘, P, comprend, bien distincts, une entrée, un seuil, un lieu d’accueil et un lieu de vie familiale, puis des lieux retirés, des chambres«14 (L EFEBVRE 2000: 181). Um im Sinne seines triadischen Denkens die Binarität von allgemeiner und privater Ebene zu durchbrechen, ergänzt L EFEBVRE als drittes Moment die vermittelnde Ebene. Diese liegt über dem
12 | »As for level G, it may be subdivided into interior spaces open to the public and the closed headquarters of institutions, into accessible itineraries and places reserved for notables, priests, princes and leaders.« (L EFEBVRE 1991: 155). 13 | Mit dem Alltag beschäftigte sich L EFEBVRE bereits seit den 1920er-Jahren. Nach dem zweiten Weltkrieg begann er mit der Arbeit an seinem dreibändigen Werk »Critique de la vie quotidienne« (Kritik des Alltagslebens) (L EFEBVRE 1958; 1961; 1981), das er 1981 fertigstellte und dessen erster und zweiter Band ins Deutsche übersetzt wurden. In der zentralen Stellung des Alltagslebens drückt sich wiederum L EFEBVRES Kritik an der Abstraktion der Philosophie aus. »Das Alltägliche, das ist die Prosa der Welt, das, was ohne Datum ist, das Ensemble von banalen Tätigkeiten, die Trivialität von Wiederholungen, von Gesten in der Arbeit und außerhalb der Arbeit, das Bescheidene und das Solide, das (offenbar) Unbedeutende, das Selbstverständliche, dessen Fragmente sich in einem Stundenplan verketten, und zwar ohne, dass man die Artikulationen dieser Fragmente prüfen muss« (S CHMID 2010: 116). 14 | »In general descriptive terms, the ‚private‘ realm P subsumes (though they are clearly distinct) entrances, thresholds, reception areas and family living-spaces, along with places set aside for retreat and sleep« (L EFEBVRE 1991: 181).
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Praktisch-Sinnlichen und unter dem Abstrakten: »eine Praxis der Verknüpfung, und damit des potentiellen, möglichen Zusammentreffens, aus dem etwas Neues entstehen kann« (S CHMID 2010: 327). Auf der mittleren Ebene begegnen sich nahe und ferne Ordnung. Hier stehen gemeinschaftliche Prozesse des Alltagslebens, die über der Ebene der Familie oder Nachbarschaft auf der privaten Ebene und unterhalb der globalen Institutionen liegen, im Vordergrund – dies ist die Ebene des Urbanen15 . Untersucht man Produktionsprozesse von Raum, ist es sinnvoll zu fragen, wie sich die Ebenen gesellschaftlicher Wirklichkeit zueinander verhalten. Auf allen Ebenen laufen Produktionsprozesse ab, und da sich alle Ebenen gegenseitig beeinflussen, sollten die Wechselwirkungen bei der Untersuchung beachtet werden. Besonders hervorzuheben ist die vermittelnde Ebene, die das Private mit dem Allgemeinen verschränkt und auf der Differenzen sichtbar werden. Die Ebenen sind weder homo-
15 | Das Urbane nimmt in L EFEBVRES gesamtem Werk eine besondere Stellung ein. Er versteht darunter eine vollständig urbanisierte Gesellschaft. Die Stadt als gesellschaftliche Form ist historisch zu betrachten, sie ging mit der fortschreitenden Industrialisierung und der zunehmenden funktionalen Trennung unter. Auch wenn die bauliche Stadt weiter besteht, existiert sie nur noch abstrakt als Bild und Ideologie (L EFEBVRE 1990: 65). Genauso versteht er auch die Binarität von Stadt und Land als historisch, da durch die Industrialisierung alles eine urbane Umwelt darstellt (E LDEN 2002: 27 f.). E LDEN (2002: 28) bezeichnet die Überbrückung der Stadt-LandBeziehung durch das Urbane und das daraus resultierende Zusammendenken des Städtischen und des Ländlichen als ein »Schlüsselkonzept« L EFEBVRES. Die Neudefinition von Stadt und das Verständnis des Urbanen erläutert L EFEBVRE (1990) ausführlich in »Die Revolution der Städte«. Eine urbane Gesellschaft ist auf Differenzen ausgerichtet. In L EFEBVRES Auffassung handelt es sich dabei um eine Utopie, die Utopie eines differenziellen Raumes. Voraussetzung für eine solche Gesellschaft sind abnehmende Kontrolle, Individualisierung des Alltags und steigende Selbstbestimmung. »Das Urbane ließe sich somit als Ort definieren, an dem Konflikte Ausdruck finden« (L EFEBVRE 1990: 186). Konflikte werden auf gesellschaftliche Differenzen jeglicher Art (gleichgültig ob positiv oder negativ) zurückgeführt, die sich begegnen und dadurch eine Auseinandersetzung mit den Differenzen ermöglichen. Damit entsteht eine ständige gesellschaftliche Dynamik, die nie zu einem Endzustand führen kann, sondern Veränderungen hervorbringt (VOGELPOHL 2011: 236). Stadt kann urban sein, aber sie muss es nicht, und der Prozess der Urbanisierung kann in Städten vorangetrieben werden, aber Stadt muss nicht notwendigerweise ausschlaggebend für das Voranschreiten des Urbanisierungsprozesses in der Gesellschaft sein.
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gen noch abgrenzbar, sie durchdringen sich vielmehr, sind jedoch nicht miteinander verschmolzen, sie stehen in einer Wechselwirkung zueinander (S CHMID 2010: 324). Durch die Einbeziehung der Ebenen können unterschiedliche Maßstabsebenen in die Untersuchung von Raumproduktionen einbezogen werden. L EFEBVRE versteht die von ihm formulierten Ebenen dabei nicht als absolut, Zwischenebenen können ebenfalls einbezogen werden (S CHMID 2010: 329). Als zweite Dimension, die hilft, Produktionsprozesse von Raum zu ordnen und zu analysieren, dient die Zeit. Wie im Falle von Raum lehnt L EFEBVRE eine rein konzeptionelle Auffassung von Zeit ab. Denn dieses Verständnis beziehe die soziale Praxis, die gelebte Zeit, nicht mit ein (E LDEN 2004b: 173). Die Ebene der Zeit versteht L EFEBVRE als mit Raum verknüpft und ebenfalls durch Gesellschaft produziert: »Que chacun regarde autour de lui l’espace. Que voit-il? Voit-il le temps? Il le vit. Il est dedans. Chacun ne voit que des mouvements. Dans la nature, le temps se saisit dans l’espace, au coeur, au sein de l’espace [...]«16 (L EFEBVRE 2000: 114). Zeit verkörpert in L EFEBVRES Theorie die diachrone Ordnung der gesellschaftlichen Wirklichkeit (S CHMID 2010: 315). Sie ist abgrenzbar von Raum, aber nicht trennbar: »Le temps se discerne mais ne se détache pas de l’espace«17 (L EFEBVRE 2000: 204). In »La production de l’espace« ist Zeit von Beginn an in die Analyse einbezogen, einerseits auf der historischen Ebene und andererseits als gesellschaftliche Praxis (S CHMID 2010: 293). Zeit ist wie Raum kein Objekt: »Le temps en soi est une absurdité; de même l’espace en soi«18 (L E FEBVRE
2000: 211). L EFEBVRE erzählt zum Verhältnis von Zeit, Raum und Gesell-
schaft zwei Geschichten. Einerseits die Geschichte der Stadt, die in der vollständigen Urbanisierung und dem Ende der traditionellen Stadt ihren Schlusspunkt findet, und andererseits die Geschichte des Raumes mit der Utopie eines differenziellen Raumes, die wiederum in der Geschichte der Stadt ihren Ausdruck findet (L EFEBVRE 2000: 265 ff.). In zeitlicher Abfolge identifiziert L EFEBVRE verschiedene gesellschaftliche
16 | »Let everyone look at the space around them. What do they see? Do they see time? They live time, after all; they are in time. [...] In nature, time is apprehended within space – in the very heart of space [...]« (L EFEBVRE 1991: 95). 17 | »Time is distinguishable but not separable from space« (L EFEBVRE 1991: 175). 18 | »Time per se is an absurdity; likewise space per se« (L EFEBVRE 1991: 181).
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Produktionen von Raum, die sich nicht gänzlich ersetzen, jedoch ist eine Produktionsweise19 von Raum zu einer Zeit dominierend (E LDEN 2004a: 94; E LDEN 2002: 29; G OTTDIENER 2002: 24; M ERRIFIELD 2006: 107). Ändert sich das gesellschaftliche System, so muss sich auch der von dieser Gesellschaft hervorgebrachte Raum ändern: »Une révolution qui ne produit pas un espace nouveau ne va pas jusqu’au bout d’elle-même; elle échoue; elle ne change pas la vie; elle ne modifie que des superstructures idéologiques, des institutions, des appareils politiques«20 (L EFEBVRE 2000: 66). Veränderungen, die nicht auf der Ebene des Alltagslebens der Gesellschaft ankommen, sind diesem Verständnis nach nicht wertvoll. Anhand der Geschichte der Stadt nimmt L EFEBVRE vor allem Bezug auf die sich verändernde räumliche Praxis in verschiedenen Zeiten und die daraus hervorgehenden sozialen Räume. Zum Abschluss dieser Betrachtung liefert er seine Utopie des differenziellen Raumes (S CHMID 2010: 329 f.). Strebten die gesellschaftlichen Raumproduktionen lange Zeit zur Homogenisierung hin, so wäre in diesem die Differenz betont. Darin steckt inhaltlich die Aufforderung, Andersartigkeiten zuzulassen und sogar Gegenentwürfe zu versuchen sowie alternative Räume aus den Widersprüchen des vorherrschenden Systems heraus zu produzieren (L EFEBVRE 2002: 19; S CHMID 2010: 275 f.). L EFEBVRE vertrat diese Idee als Utopie und war sich nicht sicher, ob sie erreicht werden könne. Heute sind die Wurzeln eines differenziellen Raumes vorhanden: »In allen kapitalistisch geprägten Gesellschaften kann das Urbane im Sinne Lefebvres nur virtuell existieren. Es steht für eine zukünftige Gesellschaft, die zwar bereits reale Wurzeln hat, sich jedoch erst langsam durchsetzt« (VOGELPOHL 2011: 236).
19 | L EFEBVRE bezieht sich mit dem Begriff »Produktion« auf ein zentrales Konzept des Marxismus. Produktion meint dabei einerseits »the strictly economic production of things« (E LDEN 2004a: 94) und andererseits »the production of knowledge, of institutions, of all that constitutes society« (L EFEBVRE 1975: 226 zit. nach E LDEN 2004a: 94). 20 | »A revolution that does not produce a new space has not realized its full potential; indeed it has failed in that it has not changed life itself, but has merely changed ideological superstructures, institutions or political apparatuses« (L EFEBVRE 1991: 54).
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Die hier gezeigten Überlegungen zu Gesellschaft und Zeit konnten nur stark verkürzt dargestellt werden. Sie sollen lediglich als ordnender Faktor für die empirische Analyse der Produktion von Raum verstanden werden, die noch folgen wird. Basis der vorliegenden empirischen Untersuchung ist die grundlegende Annahme L EFEB VRES ,
dass Raum immer in Wechselwirkung mit Zeit und Gesellschaft zu betrachten
ist. Daraus gehen für die weitere Argumentation folgende Prämissen hervor: (1) Die gesellschaftlichen Ordnungen, die grob in eine nahe, mittlere und ferne Ordnung unterteilt werden können, wirken auf die Produktion von Raum ein. Damit ist Raumproduktion immer auch Ausdruck gesellschaftlicher Strukturen und Verhältnisse. (2) Zeitlich gesehen, bringen Gesellschaften zu einer Zeit eine dominierende Produktionsweise von Raum hervor. (3) Heute sind Ansätze des von L EFEBVRE als Utopie beschriebenen differenziellen Raumes zu erkennen, die sich in der Produktion alternativer Räume zeigen. Auf diesen Annahmen aufbauend, die in der Analyse der empririschen Daten wieder aufgegriffen werden, soll nun der zentrale – und damit auch der ausführlich zu betrachtende – Aspekt dieser Arbeit, der Produktionsprozess von Raum, theoretisch erläutert werden.
3.2 R AUM Raum steht in L EFEBVRES Theorie für das Gleichzeitige, also für die synchrone Ordnung (S CHMID 2010: 315). In seinem triadischen Raumverständnis führt er die lange getrennt verstandenen Begriffe des physischen, mentalen und gelebten Raumes zusammen (M ERRIFIELD 2006: 104, 108). »Lefebvre organizes The Production of Space around just such a thirding of his own longstanding interest in the dialectic of the lived and the conceived, the ‚real‘ and the ‚imagined‘, the material world and
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our thoughts about it. He produces from this a trialectics of spatiality [...]« (S OJA 1996: 61)21 . 3.2.1 Drei Dimensionen der Raumproduktion L EFEBVRE denkt die Produktion von Raum, wie bereits erwähnt, als aktiven Prozess vom Subjekt her (M ERRIFIELD 2006: 107). Unter einem Subjekt können Individuen verstanden werden, aber auch gesellschaftliche, kollektive Akteure – Individuum und Gesellschaft sieht er als dialektisch verschränkt (S CHMID 2008: 39; S CHMID 2010: 244). Die Theorie der Produktion von Raum trifft also sowohl auf ein individuelles Subjekt als auch auf kollektive Akteure zu. Es stehen dem Subjekt drei Dimensionen22 der Produktion von Raum zur Verfügung (S CHMID 2010: 320): • die materielle Produktion, • die Wissensproduktion und • die Bedeutungsproduktion. Besonders ist dabei die Gleichzeitigkeit der drei Produktionsformen hervorzuheben, sie dürfen nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Nach L EFEBVRE können keine statischen Räume entstehen – ein Raum verändert sich, wenn sich eine der Dimensionen seiner Produktion verändert. Räume können sich auf der materiellen Ebene verändern, sie können jedoch ebenfalls umdefiniert oder mit neuen Bedeutungen belegt werden (M ILGROM 2008: 270; S CHMID 2010: 321). Neben den schon erklärten Einflüssen der Dialektik, des historischen Materialismus und der Poesie wirken zwei weitere Aspekte auf die Theorie der Produktion von Raum ein: zum einen an Nietzsche angelehnte Sprachtheorie, in der L EFEBVRE ebenfalls eine triadische Dialektik nutzt, und zum anderen der Einfluss der französischen Phänomenologie, besonders
21 | An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass S OJA (1996), trotz seiner Bezugnahme auf L EFEBVRE, von drei autonom existierenden Räumen ausgeht: First-, Secondund Thirdspace. Dabei privilegiert er den Thirdspace gegenüber First- und Secondspace. Diese Sichtweise widerspricht L EFEBVRES Raumverständnis (S CHMID 2010: 309 f.). 22 | L EFEBVRE (2000: 426) bezeichnet diese Dimensionen auch als Momente oder Formante.
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die Arbeiten von M ERLEAU -P ONTY (1966) und BACHELARD (1987). L EFEBVRE leitet, von diesen zwei Seiten ausgehend, zwei parallele Zugänge zur Produktion von Raum her (vgl. Abb. 3.2): eine phänomenologische Näherung (Wahrgenommener Raum, Konzipierter Raum, Gelebter Raum) und eine semiotische (Räumliche Praxis, Repräsentationen von Raum, Räume der Repräsentation) (S CHMID 2008: 28 f.). Durch diese Triaden wird die Komplexität von Raum deutlich, die sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen zeigt: »Soziale Beziehungen sind ebenso räumliche Beziehungen; wir können nicht über das eine ohne das andere sprechen« (G OTTDIENER 2002: 23). Abbildung 3.2: Doppelte Triade der Produktion von Raum (Entwurf: Julia Rössel)
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3.2.2 Sozialer Raum Die Beschreibung der dreidimensionalen Dialektik der Produktion von Raum hat gezeigt, dass sozialer Raum materielle Dimensionen, mentale Konzeptionen sowie Erfahrungen und Bedeutungen umfasst (S CHMID 2008: 41). Beide von L EFEBVRE eingeführte Triaden, die phänomenologische und die semiotische, drücken die drei Dimensionen des sozialen Raumes aus und bieten sich als Analyseraster an. Das Subjekt ist Teil des sozialen Raumes und gleichzeitig produziert es ihn, wie auch die drei Momente den sozialen Raum produzieren und der soziale Raum gleichzeitig auf die drei Momente seiner Produktion wirkt. Der soziale Raum wird durch den erlebten Raum produziert und gleichzeitig ist der soziale Raum auch der erlebte Raum (S CHMID 2010: 208 f.). Obwohl der Begriff des sozialen Raumes in der Grundannahme – dass sozialer Raum ein soziales Produkt ist – elementar ist, wird dieser Begriff von L EFEBVRE nicht eindeutig definiert27 . S CHMID (2010: 208 f.) grenzt L EFEB VRES
Ansatz von anderen in der Sozialwissenschaft geläufigen Ansätzen ab. So wür-
27 | Es ist auf der Grundlage von L EFEBVRES Schriften nahezu unmöglich, eine einzige feststehende Definition des sozialen Raumes herzuleiten. Er bietet immer zwei Möglichkeiten, sozialen Raum zu deuten: erstens als gesellschaftlich produzierten Raum und zweitens als Auflösung der Binarität von physisch-materiellem und mentalem Raum (S CHMID 2010: 210).
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de die Vorstellung, dass der soziale Raum ein rein abstrakter, mentaler Raum ist, in dem soziale Werte und Normen abgebildet werden, die beispielsweise B OURDIEU (1991) vertritt, wohl von L EFEBVRE abgelehnt. Ebenso die Sichtweise, dass der soziale Raum als Welt der gesellschaftlichen Normen und Werte eine Verbindung zwischen materieller Welt und mentaler Welt herstellt, die auf das Drei-Welten-Modell von P OPPER (1973) zurückgeht und zum Beispiel von W ERLEN (1988: 181 ff.) vertreten wird. Abbildung 3.3: Die Produktion von sozialem Raum (Entwurf: Julia Rössel)
In dieser Arbeit soll der soziale Raum als im weitesten Sinne von Gesellschaft produzierter Raum verstanden werden (S CHMID 2010: 210). Er geht aus den unendlich vielen von einer Gesellschaft hervorgebrachten Räumen hervor. Im sozialen Raum finden die zu der jeweiligen Zeit dominierenden Produktionsweisen ihren Ausdruck (vgl. Abb. 3.3). Geht man von der bereits erläuterten Annahme (vgl. Kapitel 3.1) aus, dass sich die heutige Gesellschaft zu einer vollständig urbanisierten und damit differenziellen Gesellschaft hin entwickeln kann und dass einige Grundzüge einer differenziellen Gesellschaft bereits vorhanden sind, so bedeutet dies, dass auch
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der von dieser Gesellschaft hervorgebrachte differenzielle Raum in Ansätzen existiert. Die materiellen Aspekte des sozialen Raumes und die Diskurse über ihn müssen als Hinweise auf den Produktionsprozess verstanden werden, allerdings darf Raum nicht auf diese Teilaspekte seiner Produktion reduziert werden. Raum ist gleichzeitig Produkt und Medium, in dem Produkte hergestellt werden L EFEBVRE (2002: 7). In diesem Verständnis ist der soziale Raum gleichzeitig Grundlage der Produktion von Raum und das Produkt, das aus den drei Momenten der Produktion von Raum hervorgeht (M ILGROM 2008: 270; S TANEK 2011: 142): »Résultat et raison, produit et produisant«28 (L EFEBVRE 2000: 167). Er kann weder auf eine materielle noch auf eine ideelle Ebene reduziert werden. Für eine solche, weitgefasste Sichtweise spricht das folgende Zitat: »Or, l’espace (social) n’est pas une chose parmi les choses, un produit quelconque parmi les produits; il enveloppe les choses produites, il comprend leurs relations dans leur coexistance et leur simultanéité [...]. Il résulte d’une suite et d’un ensemble d’opérations, et ne peut se réduire à un simple objet. Pourtant, il n’a rien d’une fiction, d’une irréalité ou ‚idéalité‘ [...]. Effet d’actions passées, il permet des actions, en suggère ou en interdit«29 (L EFEBVRE 2000: 89). Auf Grundlage seiner These, dass sozialer Raum ein soziales Produkt ist, zieht L E FEBVRE
vier Schlussfolgerungen:
• Der physische Naturraum entfernt sich. Er ist der Ursprung des sozialen Raumes im Sinne eines Bildhintergrundes (L EFEBVRE 2000: 39 f.).
28 | »[Social] Space is at once result and cause, product and producer« (L EFEBVRE 1991: 142). 29 | »(Social) space is not a thing among other things, nor a product among other products: rather, it subsumes things produced, and encompasses their interrelationships in their coexistence and simultaneity [...]. It is outcome of a sequence and set of operations, and thus cannot be reduced to the rank of a simple object. At the same time there is nothing imagined, unreal or ‚ideal‘ about it [...]. Itself the outcome of past actions, social space is what permits fresh [...]« (L EFEBVRE 1991: 73).
L EFEBVRES Produktion von Raum | 41
• Jede Gesellschaft produziert einen ihr eigenen sozialen Raum (L EFEBVRE 2000: 40). • Unser Wissen über Raum sollte darin bestehen, den Prozess der Produktion von Raum nachzuvollziehen und zu erklären. Der Fokus muss von den Dingen im Raum zur Produktion des Raumes verschoben werden (L EFEBVRE 2000: 47). • Die Produktionskräfte und die Produktionsverhältnisse spielen eine Rolle bei der Produktion von Raum, die es festzustellen gilt (L EFEBVRE 2000: 57). Aus dem in Kapitel 3 erläuterten Verständnis von Raum leitet sich folgende Arbeitsdefinition ab: Der soziale Raum ist mit Gesellschaft und Zeit verschränkt. Er ist der von einer Gesellschaft auf der nahen, mittleren und fernen Ordnung zu einer Zeit durch materielle Produktion, Wissensproduktion und Bedeutungsproduktion hervorgebrachte Raum, der gleichzeitig wieder Einfluss auf den weiteren Prozess der Produktion hat. In ihm drücken sich die Bedingungen des gesellschaftlichen Produktionsprozesses aus. Zu einer Zeit ist eine gesellschaftliche Produktionsweise und damit auch ein sozialer Raum dominierend. Sozialer Raum ist als dynamischer und aktiver, von Subjekten ausgehender Prozess zu verstehen, der keinen statischen Punkt erreichen kann, sondern eine unendliche Vielzahl von individuellen Räumen umfasst. Heute sind die Wurzeln des differenziellen Raumes, der Differenzen und Alternativen zulässt und keine Homogenisierung anstrebt, vorhanden.
4 Gutes Leben
Wenn man vom guten Leben hört oder liest, so ist damit meist eine subjektive, lebensweltliche Vorstellung verbunden. Man spricht davon, dass man gut lebt oder das gute Leben genießt. Wir kennen den Bonvivant und sprechen von Menschen, die dem guten Leben frönen. In der geographischen Fachliteratur wird der Begriff des guten Lebens hin und wieder gebraucht, zum Beispiel im Bereich der Lifstyle Migration (B ENSON u. O’R EILLY 2009b: 610; O’R EILLY u. B ENSON 2009: 1) oder in BÄTZINGS Werk »Orte guten Lebens. Die Alpen jenseits von Übernutzung und Idyll. Ein-
sichten und Einmischungen aus drei Jahrzehnten« (2009). Auch in seinem Beitrag in einem interdisziplinären Tagungsband greift BÄTZING (2007: 103) den Begriff auf: »Dass das Dorf ein bevorzugter Ort des guten Lebens ist oder sein könnte, dürfte wohl für sie alle auf der Hand liegen: Bauernhäuser, die sich um einen Dorfplatz scharen, eine Flur, die eingebettet in der Naturlandschaft liegt, selbstbewusste, querköpfige Menschen, die gleichberechtigt zusammenleben und sich wechselseitig in Notsituationen Beistand leisten, der Feierabend auf der Bank vor dem Haus mit Glockengeläut vom nahen Kirchturm – bei solchen Bildern dürften viele Menschen das ‚gute Leben‘ riechen, schmecken und anschaulich vor sich sehen.« An diesem Beispiel wird deutlich, dass auch in der wissenschaftlichen geographischen Diskussion das schon erwähnte lebensweltliche Verständnis vorherrscht. BÄT-
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ZING
zeichnet ein Bild, das möglicherweise ihm selbst als gutes Leben vorschwebt.
Er begreift Natur, Gemeinschaft und Sicherheit als Elemente des guten Lebens. Dies ist eine legitime, jedoch subjektive Auffassung, die er nicht rückkoppelt mit einer Theorie des guten Lebens. In keinem geographischen Text wird das gute Leben als Theorie verstanden beziehungsweise auf die in der Philosophie seit der Antike bestehenden Theorien vom guten Leben rekurriert. Dabei bieten gerade die vorhandenen philosophischen Theorien geeignete Ansätze, um sich dem lebensweltlichen Verständnis vom guten Leben auf konzeptioneller Ebene zu nähern. Dieser theoretische Pfad soll hier verfolgt werden. Welche Aspekte unterscheiden ein gutes von einem nicht guten Leben? Gibt es Abstufungen zwischen gut und nicht gut? Dadurch kommt unweigerlich die Frage auf, woran sich das Gutsein des Lebens bemisst. S EEL (1998: 289) sieht das Dilemma der Theorien des guten Lebens darin, »von demjenigen sprechen zu wollen, das für die Betroffenen gut ist, ohne einfach darauf zurückgreifen zu können, was sie faktisch für gut halten oder in ihrem Verhalten präferieren«. Dieses Dilemma ist grundlegend auf die theoretische Ausrichtung der Philosophie zurückzuführen, wodurch die Frage nach dem Guten vorwiegend auf einer abstrakten Ebene diskuktiert wird. Dabei haben sich zwei Linien herausgebildet: Beschränkt sich das Gute auf das handelnde Individuum oder ist eine Handlung im objektiven Sinne gut und damit für jeden Menschen gut? Diese zwei Sichtweisen – gut im relativen, subjektiven Sinn oder im objektiven, absoluten Sinn – stehen sich in der philosophischen Diskussion immer wieder gegenüber (K RÄMER 1992: 84; L OHMANN 2007: 35; S EEL 1999: 253; S TEINFATH 1998a: 18 ff.). Steht das eigene Wollen oder das moralische Sollen im Vordergrund? Auch wenn eine grundlegende Einigkeit über diese beiden Perspektiven besteht, werden verschiedene, von der traditionellen Unterscheidung in Individual- und Sozialethik abweichende Begrifflichkeiten benutzt. H ABERMAS (1999: 40, 43) spricht von Ethik und Moral, S EEL (1996: 24 f.; 1999: 252 f.) hingegen von evaluativer Ethik und normativer Ethik. K RÄMER (1992: 82) nutzt die Begriffe »Strebensethik« und »Sollensethik«. Um der Frage nach dem Maßstab des Guten nachzugehen, die grundlegend für die verschiedenen Ansätze zum guten Leben ist, soll ein Blick auf die philosophische
Gutes Leben | 45
Diskussion über das Verhältnis von subjektivem und objektivem Verständnis geworfen werden.
4.1 W ELCHES L EBEN
IST GUT ?
Im Folgenden wird das Verhältnis von evaluativer Ethik und normativer Ethik betrachtet. Dieses Verhältnis unterlag einer historischen Entwicklung, die nun in drei zeitlichen Abschnitten – Antike, Aufklärung und Gegenwart – erläutert wird. 4.1.1 Antike In der antiken Philosophie stellte vor allem Sokrates die Frage, wie zu leben gut sei, ins Zentrum der Philosophie. Er fragte damit einhergehend, welche Art zu leben die bessere sei (S TEMMER 1998: 47). Mit dieser Frage ist notwendig verbunden, zwischen einem guten und einem weniger guten Leben zu unterscheiden, und damit auch die Beurteilung verschiedener Lebensarten. Im Fokus der antiken Betrachtungen stand das Individuum, die Philosophie war in einer praktischen Weise auf die Menschen ausgerichtet. K RÄMER (1992: 9 f.) vertritt die Auffassung, dass die antike Ethik ausschließlich Strebensethik war, da es um das gelingende Leben des Einzelnen ging. Mittels philosophischer Einsicht sollte sich der Mensch zum Lebenskönner entwickeln und damit die richtige Lebensweise finden. Dabei wurden die Menschen dort abgeholt, wo sie gerade standen (F ENNER 2007: 14 f.). Das oberste Ziel der philosophischen Bildung stellte Eudaimonia dar. Eudaimonia ist der erstrebenswerte Zustand, den ein Mensch durch Einsicht und philosophische Erkenntnis erreichen soll. Es ist der Zustand des guten Lebens und das Höchst- und Letztziel des menschlichen Lebens (BAUER et al. 2008: 82). Häufig wird dieser Begriff heute mit Glück oder happiness übersetzt, was allerdings zu Definitionsproblemen führt, da sich der Glücksbegriff ständig wandelt. Eudaimonia ist umfassender als Glück im lebensweltlichen, uns heute bekannten Sinne. Es beinhaltet das langfristige Anhalten positiver Gefühle und auch den glücklichen Zufall. Ist eine Person eudaimon, heißt das, dass es ihr in ihrem Leben in jeder Hinsicht gut geht (W OLF 1998: 34). Alternativ könnte Eu-
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daimonia mit Wohlergehen, Wohlbefinden oder Glückseligkeit übersetzt werden. In der Philosophie wurde für Eudaimonia ein künstlicher Terminus eingeführt: Das gute Leben (W OLF 1999: 15). Diese Übersetzung hat den Vorteil, dass sie einerseits eine lange Zeitspanne beinhaltet und andererseits nicht nur einen passiven Zustand darstellt, wie zum Beispiel Glückseligkeit, sondern auch »Arten des Tätigseins« (F EN NER
2007: 17) einbezogen sind. »Im vorphilosophischen Eudaimonieverständnis dachte man in erster Linie an äußere oder körperliche Güter wie Ruhm, Macht, Besitz, erfolgreiche Nachkommen oder Gesundheit. Von diesen älteren und populären Glücksauffassungen setzen sich die [antiken] Philosophen bewusst ab, indem sie statt für ein äußeres für ein verinnerlichtes Eudaimonieverständnis plädierten« (F ENNER 2007: 17).
Auch wenn der Weg zum guten Leben über Einsicht und Erkenntnis des Individuums führte, vertraten die antiken Philosophen die Ansicht, dass das Erreichen des guten Lebens objektiv bestimmt werden könne. P LATON begründete diese Ansicht mit dem Begriff der Tugend. Die menschliche Seele besteht demnach aus drei Teilen: dem rationalen Seelenteil, dem mutigen, emotionalen Seelenteil und dem begehrenden, triebhaften Seelenteil. Daraus gehen die drei Tugenden Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit hervor. Über diesen drei Tugenden steht bei P LATON die Kardinaltugend, die Gerechtigkeit. Sie sorgt für eine angemessene Verteilung der drei Tugenden. Nur ein gerechtes Leben kann ein gutes Leben sein: »Die gerechte Seele also und der gerechte Mensch wird gut leben, schlecht aber der Ungerechte« (P LATON 1991: 353e Seite 103). In diesem Sinne war das gute Leben in der antiken Philosophie keineswegs ausschließlich selbstbezogen, sondern auch auf die Gesamtgesellschaft ausgerichtet. Das Individuum stellte zwar den Ausgangspunkt der antiken Ethik dar, aber moralische, sozialethische Sichtweisen wurden einbezogen. Hier deutet sich nun ein Widerspruch zu K RÄMERS These von der antiken Ethik als reiner Strebensethik an. P LATON vetrat einen individual- und sozialethischen Standpunkt. Der Mensch strebe zwar selbstbezogen nach dem guten Leben, erreichen könne er es jedoch nur durch moralische Einsicht. Der Konflikt zwischen Moral und individuellem Glück war in der antiken Ethik harmonisiert (F ENNER 2007: 20 ff.). Moralische und kategorische
Gutes Leben | 47
Imperative waren Teil des Strebens des Einzelnen, in diesem Sinne hält K RÄMERS (1992: 10) These von der antiken Ethik als Strebensethik stand. A RISTOTELES (2006: 1097 b 21–1098 a 20 Seite 115 ff.) führte später P LATONS Ansatz der Tugenden fort und begründete eine essenzialistische Sichtweise auf das gute Leben (N USSBAUM 1998: 196 ff.). Eine Unterscheidung zwischen subjektivem Wollen und moralischem Sollen fand nicht statt. A RISTOTELES stellte fest, dass das Leben das Ergon der Seele sei, und daraus folge, dass eine gute Seele ein gutes Leben hervorbringe. So wie es das Ergon des Messers sei zu schneiden, und daraus folgt, dass ein Messer gut ist, wenn es gut schneidet. Das spezifische Ergon der menschlichen Seele sei die Vernunft, denn diese unterscheidet den Menschen von Tieren und Pflanzen. Eine gute menschliche Seele ist folglich eine Seele, die die Fähigkeit, vernünftig zu sein, gut umsetzt. Ein gutes Leben ist demnach ein Leben, in dem die Fähigkeit, vernünftig zu sein, gut realisiert wird. »[W]enn [...] wir als die eigentümliche Leistung des Menschen ein bestimmtes Leben annehmen und als solches die Tätigkeit der Seele und die vernunftgemäßen Handlungen bestimmen und als die Tätigkeit des hervorragenden Menschen eben diese Tätigkeit in einem hervorragenden Maße, und wenn endlich dasjenige hervorragend wird, was im Sinne der ihm eigentümlichen Leistungsfähigkeit vollendet wird –, wenn das alles so ist, dann ist das Gute für den Menschen die Tätigkeit der Seele auf Grund ihrer besonderen Befähigung, und wenn es mehrere solche Befähigungen gibt, nach der besten und vollkommensten; und dies außerdem noch ein volles Leben hindurch« (A RISTOTELES 2006: 1097 b 10–1098 a 20 Seite 116 f.). A RISTOTELES ging davon aus, dass diese Definition des guten Lebens für alle Menschen gleichermaßen gilt, obwohl klar war, dass die Glückskonzeptionen der Menschen verschieden waren. Gut zu leben bedeutete, die dem Menschen eigenen Fähigkeiten bestmöglich zu nutzen. Dieses Konzept ist, wie in Kapitel 4.2.2 gezeigt wird, noch heute in der gütertheoretischen Perspektive zu finden (S TEMMER 1998: 51 f.). Das vernünftige Leben führt nach A RISTOTELES wieder zum schon von P LATON postulierten tugendhaften Leben. Wenn die menschlichen Fähigkeiten bestmöglich
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genutzt würden, werde das Leben vom Subjekt als gut empfunden. Damit werden die möglichen Lebensweisen auf eine einzige richtige begrenzt: ein tugendhaftes Leben. Der Glaube an die Harmonisierung von gutem und gerechtem Leben, also von subjektivem Glück und objektiver Moral, ging im Übergang zur Neuzeit verloren30 (F ENNER 2007: 22; S TEINFATH 1998a: 7). 4.1.2 Zeitalter der Aufklärung Seit dem 18. Jahrhundert stieg die Skepsis in Bezug auf die theoretische Erörterung des guten Lebens. Durch eine zunehmende Subjektivierung im Zuge der Aufklärung kam es zur Individualisierung der Vorstellung vom guten Leben. Das gute Leben im Sinne der antiken Ethik wurde bei L OCKE (1981: 322 f.) und auch bei K ANT zu einer Geschmacksfrage, die als Forschungsfrage für eine theoretische Disziplin ungeeignet ist. K ANT verbannte das subjektive Glücksstreben aus der Philosophie und stellte das vernünftige Handeln in den Vordergrund. Fragen der individuellen Lebensführung sollten dem Einzelnen überlassen und in den Sozialwissenschaften untersucht werden. Damit einher ging ein hedonistisches Verständnis von Glück, sodass Glück mehr oder weniger auf das Vorhandensein von Glücksgefühlen in einer überschaubaren Zeitspanne verkürzt wurde und nicht mehr, wie in der Philosophie der Antike, auf die Gesamtheit des Lebens übertragen wurde. S TEIN FATH
spricht in diesem Kontext von der Momentarisierung des Glücks (S TEINFATH
1998a: 7 ff.). Durch die beschriebene Subjektivierung wurde die individualethische Frage nach dem guten Leben Ende des 18. Jahrhunderts für mehr als zwei Jahrhunderte aus dem philosophischen Diskurs verdrängt (F ENNER 2007: 9, 22; S TEINFATH 1998a: 9). Die Philosophie beschäftigte sich mit praktischen Lebensfragen nur noch innerhalb einer eng verstandenen universalistischen Moralphilosophie, die Grundsätze des menschlichen Sozialverhaltens formulierte, die individuelle Lebensführung jedoch nicht betrachtete (F ENNER 2007: 23). K RÄMER (1992: 10) bezeichnet die
30 | Als Moral wird im Folgenden das objektiv Gute bezeichnet, wohingegen von Glück gesprochen wird, wenn es sich um das für das handelnde Individuum Gute handelt (F ENNER 2007: 8).
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Abwendung von der Strebensethik und die Hinwendung zur Sollensethik als Paradigmenwechsel. Basis dafür war die Trennung von objektiver Moral und individuellem Glück nach der Aufklärung, was gleichzeitig die Entmoralisierung des Glücks zur Folge hatte. In den antiken Ethiken war hingegen, wie schon ewähnt, die Orientierung an den moralischen Wertesystemen einer Gemeinschaft grundlegend für ein individuell glückliches Leben (S TEINFATH 1998a: 9 f.). Ethik wurde damit nicht mehr als Lehre vom gelingenden Leben verstanden, sondern als Theorie sozial richtigen Handelns (H ORN 1998: 192). Die in der Antike über die Tugenden erreichbare Eudaimonia wird nach dem Paradigmenwechsel als »gänzlich privatisiertes Glück verstanden, über das nur der jeweilige Glückskandidat selbst befinden kann« (F ENNER 2007: 23). K ANT (1922: 159) definierte dieses private Glück wie folgt: »Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht«. Er stellte damit das individualethisch Gute hierarchisch unter das sozialethische – für ihn führte ein gerechtes Leben keineswegs zu einem subjektiv glücklichen Leben. Das Faktum der Vernunft begründete das absolute Primat des moralischen Sollens. K ANT versprach die Erfüllung des individuellen Glücksstrebens im Jenseits, wenn ein moralisches, vernünftiges Leben gelebt wurde und dadurch das eigene Glück, das subjektiv Gute, vernachlässigt wurde (F ENNER 2007: 26). Fragen nach einem individuellen guten Leben wurden durch die Dominanz der kantschen Sozialethik vernachlässigt. Sollensethik war primär das Gesollte, also das moralisch Gute (K RÄMER 1992: 79). 4.1.3 Die Rückkehr der Ethik des guten Lebens Die Frage nach dem evaluativ guten Leben, die lange Zeit an den Rand des philosophischen Diskurses gedrängt war, erlebt seit den 1970er-Jahren eine Renaissance (F ENNER 2007: 7; K RÄMER 1998b: 94; S EEL 1991: 42; S EEL 1997: 39; W OLF 1998: 32). F ENNER (2007: 7, 28 f.) benennt außer- und innerphilosophische Gründe für die Rückkehr der Frage nach dem guten Leben. Das in der Gesellschaft gewachsene Bedürfnis nach praktischer Orientierung der individuellen Lebensführung war ein wichtiges außerphilosophisches Argument. Innerphilosophisch sollten durch
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die Beschäftigung mit der individuellen Lebensgestaltung Irrelevanzvorwürfe abgewehrt werden, die das Fach Philosophie durch seine theoretische Perspektive auf sich zog. Die Philosophie hatte die Zuständigkeit für Fragen der Lebensführung leichtsinnig aufgegeben. Eine Rückkehr der Thematik war auch der Kritik an der modernen Moral zu verdanken. Moral und Glück sollten demnach wieder zusammengeführt werden, denn Moral ließ sich nicht abgekoppelt von den individuellen Vorstellungen eines guten Lebens betrachten. Vielmehr, und zu dieser Erkenntnis kamen Vertreter einer universalistischen Moral, verweist die Moral auf Fragen des guten Lebens. Dies gilt nach W OLF (1998: 32) für die Motivationsfrage: Warum befolgt man ein System bestimmter moralischer Normen? Der Vorstellung vom moralisch Richtigen liege immer eine Version des individuellen und gemeinschaftlichen Guten zugrunde, so die Vertreter der Renaissance einer Ethik des guten Lebens. Die Verbindlichkeit moralischer Orientierung für ein gutes Leben sollte einsichtig gemacht werden. Daraus müsse jedoch für die neoklassische Philosophie keine einheitliche Argumentation über das gute Leben folgen. Es könne sowohl die Meinung vertreten werden, dass es eine mit philosophischer Allgemeinheit begründbare Konzeption des guten Lebens gibt, als auch die Meinung, dass eine solche Konzeption nicht existieren kann. Der Einzelne oder die Gemeinschaft können im Zentrum der Überlegungen stehen (S EEL 1991: 42). Fest steht jedoch für alle Argumentationen: »Moral ist keine ‚exklusive‘ Institution verpflichtender Regeln, sie stellt ein ‚inklusives‘ Verhältnis von Lebensweisen und normativen Orientierungen her. Deswegen darf auch die praktische Philosophie nicht allein exklusive Moralbegründung sein, sie muß inklusive Ethik der Lebensführung sein« (S EEL 1991: 43). Das Programm der Neoklassik wird in N USSBAUMS Buch »The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in greek Tragedy and History« (2001) ausgeführt. Darin geht es in Rückbezug auf die Philosophie der Antike, und dabei besonders auf A RISTO TELES , BAUM
um die Trennung zwischen individuellem Glück und sozialer Moral. N USS -
plädiert für den Erhalt der Trennung und damit der Spannung von Glück und
Moral, denn erst dadurch könne ein Dilemma im Denken des Individuums entstehen,
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das zu bewusstem Handeln führe. Die Gegenposition zu dieser Auffassung vertritt S PAEMANN (1989) in seinem Werk »Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik«. Darin argumentiert S PAEMANN für eine völlige Vereinigung von Glück und Moral (S EEL 1991: 43 f.). K RÄMER (1992: 75; 1998a: 93) will mit dem Begriff der integrativen Ethik die in der Neuzeit verloren gegangene praktische Philosophie der individuellen Lebensführung rehabilitieren und eine »Große Ethik« schaffen, die nicht ausschließlich die moralischen, sondern auch alle anderen Lebensfragen abdeckt. Obwohl Streben und Sollen im alltäglichen Lebensvollzug kaum voneinander zu trennen sind, so unterliegen sie nach K RÄMER (1992: 75 f.) doch verschiedenen Regeln und müssen daher auch einzeln thematisiert werden. Moral und Glück können nicht als äquivalent verstanden werden. Neben Handlungen, die einem moralischen Regelsystem unterliegen, gibt es auch neutrale Handlungen, die moralisch unbedenklich sind. Sie werden nicht von moralischer Seite aus reguliert, sondern müssen aus der Perspektive der individuellen Lebensführung betrachtet werden. »Eine Einheitsethik antiker Art, die die Identität von Glück und Moral annimmt, [überzeugt] nicht« (K RÄMER 1998a: 103). S EEL nennt sein Basiskonzept des guten Lebens ein »pre-moral concept in the sense that it is not yet an explicity moral one« (S EEL 1997: 40). Damit lässt er bewusst die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Eigeninteresse und gemeinschaftskonstitutiver Moral offen. Der Begriff des Guten für den Einzelnen muss in diesem Sinne also nicht als Gegensatz zum Guten für die Gemeinschaft verstanden werden, sondern liegt vielmehr zeitlich davor. Zunächst befasst sich das Individuum mit der Frage nach dem eigenen Wollen, danach können Fragen bezüglich des moralischen Sollens folgen (F ENNER 2007: 13; K RÄMER 1998a: 102). Wie ist nun die Frage danach, welches Leben gut ist, zu beantworten? Denn eine Antwort wurde durch die historische Betrachtung bisher nicht gegeben. Lediglich die individualethische und die sozialethische Perspektive sowie die wichtige Stellung der Frage in der Philosophie konnten deutlich gemacht werden. Klar ist, dass Fragen nach dem individuell Guten nach der Ablehnung durch die neuzeitliche Sozialethik wieder in den Fokus des philosophischen Diskurses gerückt werden. Zwei Seiten des Guten, das Individuelle und das Moralische, gehören zum guten Leben, es ist nicht
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ausschließlich zu verstehen. Der Ausgangspunkt der Untersuchung stellt jedoch das Individuum dar. »Es gibt letztlich nichts, das wir in Sachen guten Lebens höher als das faktische Wollen der einzelnen stellen können« (S EEL 1998: 289). Eine mögliche Perspektive ist in diesem Kontext der aufgeklärte oder reflektierte Subjektivismus (F RÜCHTL 1998; K RÄMER 1998b; S EEL 1998; S TEINFATH 1998b): Dabei soll ein »Begriff des individuell Guten erreich[t werden], der weder einfach ein ‚subjektiver‘ noch einfach ein ‚objektiver‘ Begriff ist. Dieser Begriff darf weder einfach darauf verweisen oder irgendwie resümieren, was die verschiedenen einzelnen (aus je subjektiver Perspektive) faktisch wollen, noch darf er ohne Rücksicht auf die subjektive Perspektive von außen festlegen, was als das für den Mensch Gute anzusehen ist. Der gesuchte Begriff des Guten muss vielmehr als eine kritische Explikation der subjektiven Perspektive beliebiger Personen verstanden werden können – also dessen, was sie [...] in ihrem eigenen Interesse sinnvollerweise wollen können« (S EEL 1999: 61). Die Grundannahme des Subjektivismus, dass die Frage, ob ein Leben gut ist oder nicht, durch die nonkognitiven Einstellungen, durch Gefühle, Wünsche oder das Wollen des Individuums beantwortet wird (S TEINFATH 1998a: 18), bleibt bestehen: »Nichts darf als Glück zählen, das nicht von den Betroffenen als Glück erfahren werden kann. Man darf niemandem etwas als sein Glück zuschreiben, das er nicht selbst so bewerten kann« (S EEL 1999: 60). Es wird eine reflektierende Ebene ergänzt, die die Form des individuellen Wollens betrachtet. Die Frage nach dem guten Leben ist für das Subjekt meist eine Frage, die mit praktischer Absicht gestellt wird und die sich mit der jeweiligen Existenz befasst. S TEINFATH benennt drei Ebenen, auf denen sich das Subjekt mit der Frage nach dem guten Leben befassen kann: Zuerst nennt er die gefühlsmäßige Reaktion, also die affektive Ebene. Etwas ist gut für uns, wenn es sich gut anfühlt, sodass wir uns den Erhalt oder die Wiederholung dieser Erfahrung herbeisehnen. Als zweite Ebene nennt S TEINFATH die voluntative Ebene, die sich mit dem Gewollten, dem Willen
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des Subjektes befasst. Hierbei formuliert das Subjekt selbst Wünsche und Ziele, die aus Gefühlen hervorgehen können. Damit ist die voluntative Ebene aktiv handelnd, während die affektive Ebene empfindend passiv ist. Die Erfüllung von Wünschen und Zielen soll möglichst ein positives Gefühl nach sich ziehen, so wie ein positives Gefühl den Wunsch des Erhalts nach sich ziehen kann. Kommt es zu Konflikten zwischen positiven und negativen Gefühlen oder Enttäuschungen bei der Erfüllung von Wünschen und Zielen, bleibt die Frage, wie zu leben gut ist, mehr oder weniger offen und muss daher auf anderen Ebenen betrachtet werden. Die Bejahung auf affektiver und voluntativer Ebene könnte auf falschen Voraussetzungen beruhen. Um dies zu prüfen, bietet sich die reflektierende, rationale Ebene an, die es ermöglicht, mit etwas Abstand auf die nicht eindeutigen Gefühle zu schauen. Subjektiv als gut wird ein Leben bewertet, wenn es auf affektiver, voluntativer und kognitiver Ebene bejaht wird. Der zentrale Moment des reflektierten Subjektivismus ist die Reflexion des Individuums, die immer in gesellschaftlichem Kontext stattfindet (S TEINFATH 1998b: 83 ff.). Dieses Verständnis des Guten ist ausschlaggebend für die in Kapitel 4.2.3 erläuterte wunsch- und zieltheoretische Perspektive. Das bisher betrachtete grundlegende Verständnis des Guten als evaluativ oder normativ findet sich in verschiedenen philosophischen Strömungen wieder. Wie das gute Leben beschrieben werden, welche Qualitäten es haben kann, wird im folgenden Abschnitt dargelegt.
4.2 T HEORIEN
DES GUTEN
L EBENS
In der Philosophie lassen sich drei theoretische Grundpositionen zum guten Leben unterscheiden (F ENNER 2007; K AGAN 1992; S ANDOE 1999; S CHABER 1998; K RÄMER 1998b; PARFIT 1986): • die hedonistische Perspektive, • die gütertheoretische Perspektive, • die wunsch- und zieltheoretische Perspektive.
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Diese drei Ansätze sollen nun erklärt und voneinander abgegrenzt werden31 . Die Basis hierfür stellen die im vorangegangenen Abschnitt erläuterten Verständnisweisen des Guten dar. Als Abschluss der Betrachtung wird eine Arbeitsdefinition des guten Lebens gegeben (vgl. Kap. 4.3). 4.2.1 Hedonistische Perspektiven Wie bereits in Kapitel 4.1.2 gezeigt, wurde die Frage nach dem guten Leben Ende des 18. Jahrhunderts durch die Subjektivierung der praktischen Philosophie aus dem fachwissenschaftlichen Diskurs verdrängt. Lediglich Fragen zum moralischen Sollen, dem die Vernunft zugrunde liegt, sollten in der philosophischen Debatte betrachtet werden. Das individuelle Wollen wurde – wenn überhaupt – aus einer hedonistischen Perspektive betrachtet. Im Gegensatz zur antiken Philosophie herrschte ein auf glückliche Augenblicke oder kurze Zeitabschnitte verkürztes Verständnis vom guten Leben, die nicht das Leben als Ganzes erfassen: »[T]he totality of one’s hedonic moments« (RYAN u. D ECI 2001: 144). Außerdem wurde der in der antiken Philosophie vorhandene Aspekt des tugendhaften, gerechten Lebens durch ein rein subjektivistisches Konzept ersetzt (S TEINFATH 1998a: 9). Die Grundthese der hedonistischen Ansätze lautet: Ein Leben ist gut, wenn Lust vorhanden ist und Schmerz vermieden wird (F ROMM 1985: 136; RYAN u. D ECI 2001: 143; W OLF 1998: 168). Gutes Leben wird also an subjektiv empfundener Lust festgemacht. Daran schließt die Frage an, was unter dem Begriff »Lust« zu verstehen ist. Meist ist im Hedonismus damit ein sinnlicher Genuss gemeint, verbunden mit starken und unmittelbar erlebten positiven Eindrücken (RYAN u. D ECI 2001: 143 f.). Die Annahme, dass nur ein lustvolles und schmerzfreies Leben ein gutes Leben sein kann, lässt sich durch zwei Ansätze begründen: durch den psychologischen Hedonismus auf der einen und den ethischen Hedonismus auf der anderen Seite (F ENNER 2007: 32; K RÄMER 1998b: 98).
31 | Zur Erklärung der drei Perspektiven werden zum Teil Aspekte aus anderen Wissenschaften, wie zum Beispiel der Psychologie oder der Soziologie, einbezogen. Allerdings soll das Hauptaugenmerk hier auf die philosophische Betrachtungsweise gelegt werden, weswegen Ansätze zum guten Leben aus anderen Bereichen nicht vollständig dargelegt werden.
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Im psychologischen Hedonismus wird davon ausgegangen, dass alles menschliche Tun von Natur aus auf die Erfahrung von Lust, im eben genannten Sinne, abzielt und Lustgewinn die einzige Motivation des Menschen ist (K RÄMER 1998b: 98; RYAN u. D ECI 2001: 144). Ein prominenter Vertreter dieser Auffassung ist, wie in folgendem Zitat zu sehen, der Psychoanalytiker F REUD (1930: 24): »Sie streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden und so bleiben. Dieses Streben hat zwei Seiten, ein positives und ein negatives Ziel, es will einerseits die Abwesenheit von Schmerz und Unlust, andererseits das Erleben starker Lustgefühle. Im engeren Wortsinne wird ‚Glück‘ nur auf das letztere bezogen. [...] Es ist, wie man merkt, einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck ersetzt«. Positiv formuliert ist es also der Lustgewinn, der zum guten Leben führt, negativ formuliert die Vermeidung von Schmerz und Unlust. Der psychologische Hedonismus, den F REUD beschreibt, versteht Lust immer als das Gefühl, das mit der Lösung schmerzhafter Spannungen in physiologisch notwendigem Sinne einhergeht. Der Mensch hat dabei keine Entscheidungsfreiheit, sondern ist seinem Trieb unterworfen. Daher muss sich der psychologische Hedonismus den Vorwurf gefallen lassen, dass die menschliche Würde verfällt, wenn sich Menschen, wie angenommen, völlig den Trieben unterwerfen (F ENNER 2007: 174). F ROMM (1985: 143 ff.) kritisiert diese Annahme der Triebe und unterscheidet zwei Arten von Lust: einerseits die Lust, die mit der Befriedigung physiologischer Bedürfnisse wie Hunger oder Durst einhergeht. Andererseits die Lust, die sich bei der Lösung einer psychischen Spannung, die keine körperlichen Ursachen hat, einstellt. Hunger sei eine körperliche Mangelerscheinung, deren Befriedigung notwendig ist. Appetit hingegen sei eine »Erscheinung des Überflusses«, deren Befriedigung »ein Ausdruck von Freiheit und Produktivität ist«. Die körperlichen Bedürfnisse seien einer wiederkehrenden Regelmäßigkeit unterworfen, wohingegen die psychischen Bedürfnisse »unersättlich« sind und nur vorübergehend befriedigt werden können. M ASLOW (1999: 127 ff.) bezeichnet körperliche Bedürfnisse als niedrigere Bedürfnisse und grenzt diese von den höheren Bedürfnissen ab. Er benennt 16 Punkte zur Unterscheidung dieser beiden Gruppen. Eine wesentliche Feststellung dabei ist: Je niedriger ein Bedürfnis, um-
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so notwendiger ist es für das Überleben32 . A LLPORT (1970: 88) stellt fest, dass der Befriedigung von niedrigeren und höheren Bedürfnissen verschiedene Motivationen zugrunde liegen. Die Befriedigung primärer Bedürfnisse wie Ernährung werde durch Sicherheitsmotivation angetrieben, es bestehe eine Notwendigkeit zur Aufhebung des Mangelzustandes zum Lebenserhalt. Sekundäre Bedürfnisse hingegen, die nicht lebensnotwendig seien, wie zum Beispiel Lernen, würden auf der Basis einer Wachstumsmotivation befriedigt. Die Befriedigung beider Bedürfnistypen beeinflusse das subjektive Wohlbefinden, allerdings werde wohl mehr Lust empfunden, wenn es sich um die Befriedigung sekundärer Bedürfnisse handele (F ENNER 2007: 34 f.). Der ethische Hedonismus33 , der auf dem antiken Hedonismus basiert, geht von der Annahme aus, dass der Mensch sein Handeln nach möglichst großem Lustgewinn ausrichten soll. Handeln ist demnach gut, wenn es eine möglichst große Lust verspricht. Es handelt sich also um eine rein egoistische Sichtweise (F ENNER 2007: 39 f.; K RÄMER 1998b: 98). Allerdings liegt der antiken hedonistischen Philosophie ein Lustbegriff zugrunde, den wir heute nicht mehr kennen. Lust war ein Sein ohne körperliche Schmerzen und ohne Unruhe in der Seele. Bedürfnisse mussten dazu dauerhaft gestillt werden – Lust war als Zustand zu verstehen, nicht als kurzfristiges Lustempfinden beim Stillen der Bedürfnisse (F ENNER 2007: 40 ff.). Die neuzeitliche Form des ethischen Hedonismus ist der Utilitarismus. Utilitaristen vertreten die These, dass Handeln gut ist, wenn es möglichst vielen der von der Handlung betroffenen Menschen nützt, es hingegen schlecht ist, wenn es vielen schadet. Nutzen wird im klassischen Utilitarismus als Lust oder Reduktion von Unlust verstanden:
32 | Der von M ASLOW entwickelte Ansatz einer Grundbedürfnishierarchie wird in Kapitel 4.2.2 genauer betrachtet. 33 | Auf die Perspektive des ethischen Hedonismus nimmt der psychologische Subjective-WellBeing-Ansatz Bezug. Vertreter dieses Ansatzes wiegen positive gegen negative Stimmungen und Emotionen auf und ermitteln eine Bilanz, außerdem beziehen sie die individuelle Zufriedenheit mit ein (beispielsweise M AYRING 2007). Subjective-Well-Being-Ansätze werden als Grundlage für groß angelegte Studien verschiedenster Institutionen zu Wohlbefinden und Lebensqualität genutzt (zum Beispiel B UNDESMINISTERIUM FÜR FAMILIE , S ENIOREN , F RAU EN UND J UGEND
2009; OECD o. J.).
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»Handlungen [sind] insoweit und in dem Maß moralisch richtig [...], als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken. Unter ‚Glück‘ ist dabei Lust und das Freisein von ‚Unlust‘, unter ‚Unglück‘ Unlust und das Fehlen von Lust verstanden« (M ILL 2006: 23 f.). Im Gegensatz zur antiken, egoistischen Sichtweise vertritt der Utilitarismus eine sozialethische, objektive Sichtweise (F ENNER 2007: 44). Die unter der hedonistischen Perspektive zusammengefassten Ansätze weisen also kein einheitliches Verständnis des Guten auf. Ein grundsätzliches Problem des ethischen Hedonismus ist die Definition von Lust (K RÄMER 1998b: 98). Steht Quantität oder Qualität von Lust im Vordergrund? M ILL (2006: 26 ff.) plädiert dafür, dass neben der Quantität, also der Menge lustvoller Augenblicke, auch die Qualität dieser Augenblicke entscheidend ist. Er beschreibt eine aus der qualitativen Perspektive resultierende Hierarchie der Lüste: Auf der untersten Stufe sieht er sinnliche Lust, auf den hohen Stufen die geistigen Lüste. Der ethische Hedonismus als aufgeklärte, reflektierte Denkweise steht vor dem Widerspruch, dass das Lustempfinden nachlässt, wenn es direkt anvisiert würde. Dadurch könne Lust nie zum Ziel individualethischen Strebens werden, Lust sei kaum direkt intendierbar (F ENNER 2007: 147; K RÄMER 1998b: 98). Außerdem solle das gute Leben nicht als Aneinanderreihung unzusammenhängender lustvoller Augenblicke verstanden werden, da dadurch die notwendig ganzheitiche Perspektive, auf die die antike Ethik abzielte, aus dem Blick gerate (S TEINFATH 1998a: 9). Fragwürdig sei weiterhin, ob Lust das einzige Ziel sein muss, das Menschen anstreben. Es gebe Situationen, in denen Menschen sich bewusst dagegen entscheiden, zum Beispiel zog F REUD es am Ende seines Lebens vor, körperliche Schmerzen zu ertragen, die im Sinne des Hedonismus Unlust und Unglück bedeuten. Er entschied sich gegen schmerzstillende Medikamente, um bei klarem Verstand zu bleiben (S CHABER 1998: 152 f.). Im Gegensatz zum subjektiven Verständnis von Lust im ethischen Hedonismus bieten gütertheoretische Perspektiven einen Blickwinkel auf das gute Leben, der unabhängig von subjektiver Bewertung ist.
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4.2.2 Gütertheoretische Perspektiven Die Vertreter von Gütertheorien des guten Lebens schlagen eine objektive Betrachtungsweise vor. Zum Teil werden diese Theorien auch als Objektive-ListenTheorien bezeichnet (PARFIT 1986: 4). Dabei wird angenommen, dass in jedem Leben Gutes und Schlechtes vorkommt, unabhängig von der subjektiven Bewertung durch den Menschen selbst. Etwas ist also »an sich« gut oder schlecht. Dieses Etwas kann als Wert oder Gut, daher der Name Gütertheorie, bezeichnet werden (F ENNER 2008: 1; S TEINFATH 1998a: 21). »Güter sind Strebensziele in dem Sinne, als sie als Voraussetzungen, Mittel und ‚Material‘ den gelungenen Vollzug menschlichen Lebens ermöglichen. [...] Güter sind Inhalte und Ziele unseres Strebens, die als Gegenstände bzw. Sachverhalte in der Welt gegeben sind oder sein können« (H ÖFFE 2008: 125). Die Unterschiede zwischen Subjektivisten und Objektivisten in der Frage, was ein gutes Leben ausmacht, scheinen – an konkreten Beispielen betrachtet – nicht gravierend zu sein. Dass Freiheit und körperliche Unversehrtheit für ein gutes Leben grundlegend sind, ist unbestreitbar. Es ist also primär kein Streit darüber, was gut ist, sondern darüber, warum etwas gut ist. Subjektivisten bieten eine individuell spezifische, wertende Perspektive, die davon ausgeht, dass normativ Gutes nicht existieren kann. Die Objektivisten hingegen plädieren für eine normative Sichtweise. Objektive Güterlisten beruhen auf der essenzialistischen Annahme, dass alle Menschen eine grundlegende Bedürfnisnatur teilen (S TEINFATH 1998a: 21 f.). Allerdings legen die benannten objektiven Güter nicht fest, dass ein Leben gut ist, sondern die Erfüllung der Grundbedürfnisse ermöglicht es, ein gutes Leben zu führen (OTTO u. Z IEGLER 2008: 11). Die Gütertheorien nehmen Bezug auf die Tugendlehre von A RISTOTELES (vgl. Kap. 4.1.1). Er unterteilte Güter in drei Gruppen: äußerliche Güter, darunter fasste er objektive, materielle Weltgegebenheiten zusammen, außerdem benannte er körperliche und seelische Güter, wobei er die seelischen Güter als »die hervorragendsten« bezeichnete (A RISTOTELES 2006: 1098b, 12–14). Materielle Güter beschreiben den
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Lebensstandard.Hierbei führt materieller Wohlstand zu einem hohen Lebensstandard, und dieser soll, nach der Gütertheorie, unter anderem als Maßstab für ein gutes Leben dienen. Die Frage, wie Menschen leben sollen, wird hier also nicht mit einem Maximum an subjektivem Lustempfinden (vgl. Kap. 4.2.1), sondern mit der Inanspruchnahme bestimmter objektiver materieller Güter beantwortet. In Bezug auf die materiellen Güter könnte man durchaus von einer Ökonomisierung des guten Lebens sprechen, was immer wieder kritisiert wird. Innerhalb der Philosophie wird die Reduktion der Frage nach dem guten Leben auf materielle Güter massiv kritisiert, da die freie, rationale Lebensgestaltung jedes Einzelnen untergraben wird (F ENNER 2007: 107). Einzuwenden ist an dieser Stelle, dass die Festlegung von Gütern den Prozesscharakter des Lebens verfehlt, da Veränderungen im Verlauf des Lebens nicht einbezogen werden (S TEINFATH 1998a: 22 f.). Ein weiterer entscheidender Kritikpunkt an einer materiellen Gütertheorie ist das sogenannte Zufriedenheitsparadox, das besagt, dass Menschen in Ländern mit hohem Lebensstandard nicht zwangsläufig zufriedener leben als Menschen in armen Ländern. Es besteht lediglich ein geringer Zusammenhang zwischen materiellem Wohlstand und subjektivem Wohlbefinden, wie in soziologischen Studien gezeigt wurde (Z APF 1984: 24 f.). Vom Ansatz der Betrachtung materieller Güter löst sich die Idee der sogenannten menschlichen Grundbedürfnisse. Dabei handelt es sich ebenfalls um eine objektive Zusammenstellung von Kriterien, die ein gutes Leben beschreiben. Diese Sichtweise geht von der Prämisse aus, dass allen Menschen universelle, anthropologische Bedürfnisse zu eigen seien, deren Befriedigung jedem zustehen solle. Im Gegensatz zu anderen Bedürfnissen seien diese Grundbedürfnisse unabhängig von Zeit, Ort und Person – es handele sich um »anthropologische Konstanten« (L EDERER 1979: 16). Alle anderen Bedürfnisse seien abhängig von Lebensform, Ort und Zeit und daher individuell verschieden (L EDERER 1979: 15 f.). Objekte, die dem Erreichen der Grundbedürfnisse dienen, werden als Grundgüter bezeichnet (F ENNER 2007: 117). Die einflussreichste Darstellung menschlicher Grundbedürfnisse entwarf der Psychologe M ASLOW schon 1943 auf Grundlage experimenteller und klinischer Befunde. Er entwickelte den Ansatz in seinen Werken von 1954 an stetig weiter. Häufig wird seine
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Hierarchie der menschlichen Grundbedürfnisse in Form der sogenannten Bedürfnispyramide dargestellt. Abbildung 4.1: Bedürfnispyramide (Entwurf: Julia Rössel nach M ASLOW 1999: 62 ff.)
Grundbedürfnis nach Selbstverwirklichung Grundbedürfnis nach Achtung Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit und Liebe Grundbedürfnis nach Sicherheit Physiologische Grundbedürfnisse wie Schlaf und Nahrung
Diese Darstellungsform (vgl. Abb. 4.1) wurde jedoch nicht von M ASLOW selbst entworfen. Dennoch unterstreicht die Pyramide ein zentrales Moment in M ASLOWS Konzept – die Hierarchie. Die höherwertigen Bedürfnisse nennt er »spezifisch menschliche« (M ASLOW 1999: 128) – je höher das Bedürfnis, desto weniger nötig sei es für das Überleben und umso länger könne die Befriedigung aufgeschoben werden34 . Die
34 | Interessant ist die Entwicklung des von M ASLOW an höchster Stelle angesiedelten Bedürfnisses nach Selbstverwirklichung. Der Begriff »Selbstverwirklichung« ist spätestens seit der Ausrufung der »Me-Decade« in den 1970er-Jahren in vielerlei Kontexten zu hören und zu lesen. Besonders in Bereichen der Lebensberatung und der Popularphilosophie und -psychologie ist Selbstverwirklichung in aller Munde (F ENNER 2007: 91). In Bezug auf das gute Leben
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Befriedigung der höheren Bedürfnisse führe zu subjektiven Resultaten wie Glück, Zufriedenheit oder Gelassenheit (M ASLOW 1999: 128). Um die höheren Bedürfnisse zu erfüllen, müssten die darunter liegenden zumindest teilweise befriedigt sein (L E DERER
1979: 14). Bei nicht gestillten Grundbedürfnissen komme es zu Frustration
und Schmerz. Die negative Bewertung von Hunger, der auftritt, wenn das physiologische Grundbedürfnis nach Nahrung nicht gestillt wird, sei analytisch als universell und damit als objektiv zu verstehen (F ENNER 2007: 117). M ASLOW (1999: 74, 79 ff.) betont jedoch, dass die spezifischen Ausprägungen der Bedürfnisse verschieden seien und auch die Hierarchie der Bedürfnisse variieren könne. Als Beispiel führt er Menschen an, die Selbstachtung über Liebe stellen. In dieser Hinsicht ist die Darstellung in Pyramidenform (vgl. Abb. 4.1) zu kritisieren. Ein weiterer Ansatz im Bereich der objektiven Gütertheorien bietet die Idee der menschlichen Grundfähigkeiten, die von der US-amerikanischen Philosophin N USSBAUM vertreten wird (N USSBAUM u. S EN 1993; N USSBAUM 1999, 2000). Die menschlichen Grundfähigkeiten sind nach N USSBAUM ebenso universell wie konstant, durch diese Fähigkeiten wird das menschliche Leben definiert (N USSBAUM 1999: 187). Diese Sichtweise ist zurückzuführen auf die von A RISTOTELES verfasste Ergon-Theorie (vgl. Kap. 4.1.1), deren essenzialistischer Ansatz von N USSBAUM verteidigt wird (N USSBAUM 1998; OTTO u. Z IEGLER 2008: 9 f.). Um eine Liste objektiver Grundfähigkeiten zu erarbeiten, stellt sie folgende Fragen:
lässt sich fragen, ob Selbstverwirklichung zum guten Leben führt. Dieser Frage geht G EWIRTH (1998: 13 ff.) in seinem Werk »Self-fulfillment« nach. Er nutzt allerdings nicht den Begriff der Verwirklichung, sondern den der Erfüllung. Dabei unterscheidet er zwei Arten der Erfüllung, durch die das Selbst ein gutes Leben führen kann. Einerseits nennt er die Capacity-Fulfillment und andererseits die Aspiration-Fulfillment. Hier greift wieder die schon erläuterte Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem Verständnis. Der Capacity-Fulfillment-Ansatz geht davon aus, dass der Mensch die ihm gegebenen Fähigkeiten bestmöglich entfalten sollte, und bezieht sich damit, wie auch die Gütertheorie, auf den Ergon-Ansatz der antiken Philosophie. Im Gegensatz hierzu gehen die Vertreter des Aspiration-Fulfillment-Ansatzes von der Erfüllung der tiefsten Wünsche und Ziele eines Subjektes aus. In der humanistischen Psychologie, die die »Me-Decade« initiierte, wurde vorwiegend der Capacity-Ansatz vertreten – und das mit großem gesellschaftlichem Erfolg (S TEMMER 1998: 52).
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»Welche Formen des Tuns und Seins konstituieren die menschliche Lebensform und heben sie von anderen tatsächlichen oder vorstellbaren Lebensformen wie denen von Tieren und Pflanzen einerseits und von unsterblichen Göttern der Mythen und Legenden andererseits ab [...]? [...] Kurz gesagt, was muss unserer Ansicht nach vorhanden sein, damit wir ein gegebenes Leben als ein menschliches anerkennen?« (N USSBAUM 1999: 187 f.) Erst wenn diese spezifisch menschlichen Fähigkeiten kultiviert und perfektioniert würden, könne ein Leben gut sein (S ANDOE 1999: 123, 14). Die von N USSBAUM erstellte Liste objektiver Güter, die aus den Grundfähigkeiten hervorgehen, wurde im Hinblick auf internationale Verteilungsgerechtigkeit verfasst (N USSBAUM 1999: 204 ff.). Allerdings sind die Kategorien sehr vage formuliert und damit für die alltägliche Lebenspraxis schwer anzuwenden, es bedarf einer Konkretisierung (N USS BAUM
1999: 212). Die festgelegten Grundfähigkeiten (vgl. Textbox auf der nächsten
Seite) sind als Basis eines erfüllten Lebens zu verstehen, sie bilden die Grundlage für den Spielraum von Selbstbestimmung und Freiheit (OTTO u. Z IEGLER 2008: 9, 11). N USSBAUM (1999: 189) bezeichnet ihre Liste selbst als vorläufig und offen, da sie Raum für neue Erkenntnisse über menschliches Verhalten lassen möchte. Sie stellt jedoch fest, »daß ein Leben, dem eine dieser Fähigkeiten fehlt, kein gutes menschliches Leben ist, unabhängig davon, was es sonst noch aufweisen mag« (N USSBAUM 1999: 202). Verwunderlich ist sicher, dass die von A RISTOTELES in seiner Tugendlehre herausgehobene Vernunft in der Liste der Grundfähigkeiten nicht besonders hervorgehoben wird. N USSBAUM (1999: 60) ergänzt dazu in ihren Ausführungen: »Die praktische Vernunft hat eine einzigartige architektonische Funktion. Sie durchdringt alle Tätigkeiten und Pläne im Hinblick auf deren Realisierung in einem guten und erfüllten menschlichen Leben.« Daneben weist sie explizit auf die wichtige Rolle der gesellschaftlichen, institutionellen und materiellen Bedingungen für gutes Leben hin sowie auf die alles durchdringende Rolle der sozialen Interaktion: »Alles was wir tun, tun wir als soziale Wesen« (N USSBAUM 1999: 60). N USSBAUMS Liste beruht nicht auf einer empirischen Studie menschlicher Verhaltensweisen. Ihre Konzeption ist
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»weder biologisch noch metaphysisch begründet [...]. Es handelt sich um eine evaluative und im weiten Sinne ethische Untersuchung. [...] Das Ergebnis dieser Untersuchung besteht also nicht in der Erstellung einer Liste wertneutraler Fakten, sondern in der Entwicklung einer normativen Konzeption« (N USSBAUM 1999: 189). Sie erhebt mit ihrer Liste den universellen Anspruch, dass ein Leben ohne diese Grundfähigkeiten kein gutes menschliches Leben ist.
Die menschlichen Grundfähigkeiten nach N USSBAUM (1999: 200 ff.): 1. Die Fähigkeit, ein menschliches Leben von normaler Länge zu leben, nicht vorzeitig zu sterben oder zu sterben, bevor das Leben so reduziert ist, daß es nicht mehr lebenswert ist. 2. Die Fähigkeit, sich guter Gesundheit zu erfreuen, sich angemessen zu ernähren, eine angemessene Unterkunft und Möglichkeiten zu sexueller Befriedigung zu haben, sich in Fragen der Reproduktion frei entscheiden und sich von einem Ort zu einem anderen bewegen zu können. 3. Die Fähigkeit, unnötigen Schmerz zu vermeiden und freudvolle Erlebnisse zu haben. 4. Die Fähigkeit, seine Sinne und seine Phantasie zu gebrauchen, zu denken und zu urteilen – und diese Dinge in einer Art und Weise zu tun, die durch eine angemessene Erziehung geleitet ist, zu der auch (aber nicht nur) Lesen und Schreiben sowie mathematische Grundkenntnisse und eine wissenschaftliche Grundausbildung gehören. Die Fähigkeit, seine Phantasie und sein Denkvermögen zum Erleben und Hervorbringen von geistig bereichernden Werken und Ereignissen der eigenen Wahl auf den Gebieten der Religion, Literatur, Musik usw. einzusetzen. Der Schutz dieser Fähigkeit, so glaube ich, erfordert nicht nur die Bereitstellung von Bildungsmöglichkeiten, sondern auch gesetzliche Garantien für politische und künstlerische Meinungsfreiheit sowie für Religionsfreiheit. 5. Die Fähigkeit, Beziehungen zu Dingen und Menschen außerhalb unserer selbst einzugehen, diejenigen zu lieben, die uns lieben und für uns sorgen, traurig über ihre Abwesenheit zu sein, allgemein Liebe, Kummer,
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Sehnsucht und Dankbarkeit zu empfinden. Diese Fähigkeit zu unterstützen bedeutet, Formen des menschlichen Miteinanders zu unterstützen, die nachweisbar eine große Bedeutung für die menschliche Entwicklung haben. 6. Die Fähigkeit, eine Vorstellung des Guten zu entwickeln und kritische Überlegungen zur eigenen Lebensplanung anzustellen. Dies schließt heutzutage die Fähigkeit ein, einer beruflichen Tätigkeit außer Haus nachzugehen und am politischen Leben teilzunehmen. 7. Die Fähigkeit, mit anderen und für andere zu leben, andere Menschen zu verstehen und Anteil an ihrem Leben zu nehmen, verschiedene soziale Kontakte zu pflegen; die Fähigkeit, sich die Situation eines anderen Menschen vorzustellen und Mitleid zu empfinden; die Fähigkeit, Gerechtigkeit zu üben und Freundschaften zu pflegen. Diese Fähigkeit zu schützen bedeutet abermals, Institutionen zu schützen, die solche Formen des Miteinanders darstellen, und die Versammlungs- und politische Redefreiheit zu schützen. 8. Die Fähigkeit, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben und sie pfleglich zu behandeln. 9. Die Fähigkeit, zu lachen, zu spielen, sich an erholsamen Tätigkeiten zu erfreuen. 10. Die Fähigkeit, sein eigenes Leben und nicht das eines anderen zu leben. Das bedeutet, gewisse Garantien zu haben, daß keine Eingriffe in besonders persönlichkeitsbestimmende Entscheidungen wie Heiraten, Gebären, sexuelle Präferenzen, Sprache und Arbeit stattfinden. 11. Die Fähigkeit, sein Leben in seiner eigenen Umgebung und seinem eigenen Kontext zu führen. Dies heißt Garantien für Versammlungsfreiheit und gegen ungerechtfertigte Durchsuchungen und Festnahmen; es bedeutet auch eine gewisse Garantie für die Unantastbarkeit des persönlichen Eigentums, wenngleich diese Garantie durch die Erfordernisse sozialer Gerechtigkeit auf verschiedene Weise eingeschränkt werden kann und im Zusammenhang mit der Interpretation der anderen Fähigkeiten immer verhandelbar ist, da das persönliche Eigentum im Gegensatz zur persönlichen Freiheit ein Mittel und kein Selbstzweck ist.
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Auch wenn andere Lebensformen von Menschen als gut empfunden werden, ist sie überzeugt, dass ein Leben mit Grundfähigkeiten als besser empfunden würde. Was ist nun an den objektiven Güthertheorien zu kritisieren? Zunächst ist die schon erläuterte Problematik, das essenzialistische Verständnis menschlicher Bedürfnisse, sicher ein wichtiger Kritikpunkt (S ANDOE 1999: 15 f.). Appelle an die menschliche Natur sind seit jeher problematisch, da sie entweder zu starke Annahmen machen müssen oder so vage bleiben, dass sie keine Basis für normative Unterscheidungen liefern (S TEINFATH 1998a: 22 f.). Grundfähigkeiten, Grundbedürfnisse und Grundgüter sind individuell unterbestimmt. Sie sind so allgemein und vage formuliert, dass sie nach einer individuellen Spezifizierung verlangen. Letztlich kommt es auf die individuelle Gestaltung der Güter an. Objektive Gütertheorien können als Basis, als notwendige Bedingung oder Rahmentheorie einer Theorie des guten Lebens verstanden werden (F ENNER 2007: 132 f., 177). 4.2.3 Wunsch- und zieltheoretische Perspektiven Als Spezifizierung der Gütertheorien können subjektive wunsch- und zieltheoretische Ansätze angesehen werden. S EEL (1999: 126), ein zeitgenössischer Vertreter dieser Sichtweise, beschreibt die Grundannahme wie folgt: »Ein im ganzen glückliches Leben hat, wem die wesentlichen Wünsche (die er in der Zeit seines Lebens entwickelt) auf eine nicht-illusionäre und tatsächlich befriedigende Weise in Erfüllung gehen«. Selbstformulierte Wünsche stehen also im Zentrum dieser Theorien. Diese Annahme als Basis ist in zwei Hinsichten trivial: Zunächst kann dieser Annahme jeder zustimmen, außerdem ist sie philosophisch eher anspruchslos (S EEL 1999: 78). Durch den Begriff »nicht-illusionär« weist S EEL darauf hin, dass es durchaus möglich sei, dass Wünsche auf Basis von Täuschungen entstünden und deswegen deren Erfüllung keine Befriedigung bringe. Diese Problematik finde in der Unterscheidung von Wünschen und Zielen ihren Ausdruck. Wünsche seien bewusste »Vorstellungen eines befriedigten Zustandes oder begehrten Objektes« (F ENNER 2003: 251). Ständig befänden sich Wünsche in menschlichen Gedanken, allerdings häufig ohne Bezüge zur Wirklichkeit. Ein Großteil der Wünsche könne niemals umgesetzt werden, es han-
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dele sich um Utopien. Somit gebe es eine Vielzahl von Wünschen, die keinen Einfluss auf das gute Leben des Wünschenden haben. S CHABER (1998: 155) führt als Beispiel den Wunsch an, dass sich die beruflichen Pläne eines Fremden, den man zufällig im Flugzeug trifft, verwirklichen sollen. Selbst wenn dieser Wunsch in Erfüllung geht, wird der Wünschende es nie erfahren, und dadurch kann dieser Wunsch nicht zu seinem guten Leben beitragen. Der Wunsch hat keinen direkten Einfluss auf den subjektiven Zustand des Wünschenden. Ziele seien im Gegensatz dazu Vorstellungen zukünftiger Zustände, die Menschen durch konkrete Bemühungen und Planung erreichen wollen. Um ein Ziel zu erreichen, könne es notwendig werden, etwas in Kauf zu nehmen, was in diesem Moment nicht zur Befriedigung der aktuellen Wünsche beitrage, vielleicht sogar zu kurzfristigem Unglück führe. Die Entwicklung von einem Wunsch zum Ziel erfordere sorgfältige Reflexion und Prüfung. Hierbei fielen nur Wünsche ins Gewicht, die einen Subjektbezug aufweisen (F ENNER 2007: 62). Außerdem dürfe der Wunsch weder auf Täuschung noch auf logischen Fehlschlüssen beruhen (S ANDOE 1999: 17; S CHABER 1998: 154 f.; S EEL 1999: 89 f.). Er müsse informiert und vernünftig sein (G RIFFIN 1988: 11; S CHABER 1998: 155). F ROMM (1985: 144 f.) weist darauf hin, dass Wünsche nicht neurotisch sein dürfen, wenn sie zu einem guten Leben beitragen sollen. Das heißt, der psychische Hintergrund und die Genese von Wünschen sollten untersucht werden. Wünsche, die auf Neurosen oder Psychosen beruhen, könnten nicht zu einem guten Leben führen, da ihre Ursache, der Grund der Unzufriedenheit, aus dem diese Wünsche erwachsen, nicht behoben werde. F ENNER (2007: 65 ff.) fordert zudem eine Reflexion des zugrunde liegenden Werturteils, denn auch in der Beurteilung und Bewertung subjektiver Wünsche könnten Menschen irren. Wertvorstellungen seien nur dann adäquat, wenn der in ihnen erhobene Anspruch gegenüber neutralen Beobachtern als berechtigt erscheine. Das heißt, dass auch die Bewertung durch Mitmenschen in die subjektive Reflexion miteinbezogen werden soll. Abschließend soll nun die Frage beantwortet werden, wie Wünsche hierarchisiert werden können beziehungsweise wie mit Wunschkonflikten umgegangen werden soll. Dies stellt einen Kritikpunkt an Wunschtheorien dar (S CHABER 1998: 156 f.), denn Wunschkonflikte entstehen im Alltagsleben häufig: Ein Ingenieur möchte ein
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interessantes Jobangebot im Ausland annehmen, gleichzeitig hat er den Wunsch, für seine Kinder da zu sein und mit seiner Familie in Deutschland zusammenzuleben. In diesen Fällen muss eine Gewichtung der Wünsche vorgenommen werden. Eine mögliche Hierarchie bietet die Unterscheidung in Wünsche erster Ordnung und Wünsche zweiter Ordnung. Wünsche zweiter Ordnung stellen sozusagen die Reflexionsebene der einfachen Wünsche dar. Wünscht ein Mensch sich, dass er bestimmte einfache Wünsche hat, so ist in diesem Sinne von zweiter Ordnung zu sprechen (F RANKFUR TER 2007: 292). Wünsche zweiter Ordnung bezeichnet man als Ideale. Am konkreten
Beispiel des Ingenieurs könnte das Zusammenleben in der Familie als Ideal verstanden werden, damit wäre dieser Wunsch höherwertig und zu bevorzugen. Für ein gutes Leben sind vorwiegend Wünsche, die auf der Metaebene bejaht werden können, von Bedeutung. Damit wird nochmals deutlich, dass nicht die kurzfristige Wunscherfüllung zu einem guten Leben führt, sondern das Erreichen eigener Ideale, die den weiteren Lebensprozess betreffen (F ENNER 2007: 67 ff.): »[Gutes Leben] ist also kein (mehr oder wenig reicher) Zustand, sondern vielmehr ein (mehr oder weniger gelingender) Prozeß der Wunscherfüllung. [...] Nicht ein bestimmtes, wie immer zu messendes Quantum episodischen Glücks, sondern vielmehr eine bestimmte Weise der Lebensführung ist es, was ein gelingendes Leben auszeichnet« (S EEL 1999: 96). Entscheidend für die Umsetzung von Wünschen ist der Moment des Entschlusses, der die Planung der Handlungsschritte einleitet (F ENNER 2007: 60 f.). Ist der sogenannte Rubikon überschritten, also ist der Entschluss gefasst, so hat sich der Wunsch zum Ziel entwickelt. Diese Entwicklung, vom Wunsch durch Abwägen zum Handeln, beschreibt das aus der Motivationspsychologie stammende Rubikonmodell des Handelns (vgl. Abb. 4.2) (H ECKENHAUSEN 1987; H ECKENHAUSEN u. G OLLWITZER 1987).
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Abbildung 4.2: Rubikonmodell des Handelns (Entwurf: Julia Rössel nach R HEINBERG 2008: 184 f. und ACHTZIGER u. G OLLWITZER 2006: 278 ff.)
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1$+-(
)%*&'(
!+,-$.$+/"'0(
Wünschen
Zielentscheidung
Handlungsinitiierung
Zielrealisierung
Abwägen
Absichtsbildung
Zielgerichtetes Handeln
Reflexion
Prüfen
Handlungsplanung
Bewertung
!"#$%&'(
Nur ein sehr kleiner Teil aller Wünsche, die ein Mensch im Verlauf seines Lebens entwickelt, wird genauer betrachtet und bedacht. In der ersten Phase des Modells wird dieser kleine Teil der ständigen Wünsche genauer beurteilt und geprüft. Daraufhin kann der Beschluss folgen, einen Wunsch zu realisieren. In diesem Moment wird aus dem Wunsch eine Absicht, eine Intention – also wird er zum Ziel. Die darauf folgende Phase, die sogenannten Volitionsphase, ist realisierungsorientiert, alles wird auf das Umsetzen des Ziels ausgerichtet (R HEINBERG 2008: 184 f.). Durch eine wunsch- und zielorientierte Sichtweise ist es möglich, das Leben als Ganzes zu betrachten. Durch Lebensziele und eine daraus hervorgehende Lebenskonzeption können Menschen sich selbst Orientierung verleihen. Außerdem nimmt durch das persönliche Konzept der Grad an Freiheit und Selbstbestimmung zu, und ein Lebenssinn kann individuell gefunden werden (S TEINFATH 2001: 304 f.). R AWLS (1979: 446) versteht das menschliche Leben als »Leben, das nach einem Plan gelebt wird«. Ein Lebensplan entstehe, wenn Wünsche durch Prüfung zu Zielen und diese wieder-
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um in eine Ordnung gebracht würden (S EEL 1999: 93 f.; S TEINFATH 1998b: 76 ff.; S TEINFATH 2001: 298). F ENNER (2007: 71 ff.) benennt vier Aspekte, die im Kontext der wunsch- und zieltheoretischen Perspektive kritisch betrachtet werden sollten. Als erster ist zu erwähnen, dass in psychologischen Untersuchungen gezeigt wurde, dass konkrete Ziele, die sich auf die aktuellen Lebensverhältnisse beziehen, entscheidend seien für subjektives Wohlbefinden (S ADER u. W EBER 1996: 138 f.). Abstraktere Ziele, wie zum Beispiel ein guter Mensch sein zu wollen, seien erheblich schwieriger umzusetzen, und es sei ebenfalls schwieriger zu entscheiden, wann das Ziel erreicht ist. Ein ausschließlich an solchen Idealen orientiertes Leben führe letztlich zu Frustration. Deswegen sei es sinnvoll, konkrete Ziele auf dem Weg zum abstrakten Ziel zu benennen. Zweitens sollten auf dem Weg zum Ziel klare Rückmeldungs- und Kontrollmöglichkeiten geschaffen werden. Positive Rückmeldungen nach Teilabschnitten könnten gerade, wenn ein langfristiges Ziel im Fokus steht, zum guten Leben beitragen. Als dritter Punkt ist die Wahl eines passenden Anspruchsniveaus zu nennen. Ist das Niveau zu niedrig, so stelle das Erreichen des Ziels keinerlei Anforderung an die Person und führe dadurch auch nicht zu Freude. Wertvolle Ziele, deren Erreichen Freude bereiten, seien vielmehr die, die große Anstrengung und hohe Qualifikation fordern. Die Bestimmung der Anforderung werde dabei vom Subjekt durchgeführt, allerdings spiele auch die gesellschaftliche Wertschätzung des Ziels eine wichtige Rolle. Trotz hoher Anforderung sollten die gesteckten Ziele noch erreichbar erscheinen. Es müsse also ein geeignetes Verhältnis von Wert und Erreichbarkeit gefunden werden. R AWLS (1979: 464) formuliert dieses Verhältnis mit A RISTOTELES wie folgt: »Unter sonst gleichen Umständen möchten die Menschen gern ihre (angeborenen oder erlernten) Fähigkeiten einsetzen, und ihre Befriedigung ist desto größer, je besser entwickelt oder je komplizierter die beanspruchte Fähigkeit ist.« Den vierten Aspekt stellt nach F ENNER (2007: 75) die intrinsisch-selbstzweckhafte Tätigkeit dar. Problematisch sei die Trennung zwischen extrinsischer, also nach außen gerichteter, Motivation und intrinsischer, nach innen gerichteter Motivation. Häufig liege in einem Ziel beides vor. Wünsche man sich, ein Buch zu schreiben,
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so verfolge man einerseits das extrinsische Ziel, ein Buch zu verfassen, andererseits bereite das Schreiben als selbstzweckhafte Tätigkeit Freude (S TEINFATH 1998b: 82). S EEL kritisiert an der zielorientierten Sichtweise, dass Menschen nur noch ihrem Glück hinterhereilen: »Der Sinn eines Lebens wird als Vorschein einer lichtvollen Zukunft verstanden, die es sukzessive zu erreichen gelte, anstatt ihn aus der zukunftsoffenen Gegenwart des jeweiligen Daseins selbst zu verstehen. [...] Da beides, Aussicht und Erreichen, für die Gegenwart eines guten Lebens gleichermaßen wichtig ist, darf ihre Verfassung nicht allein aus dem (wie immer verzögerten) Erreichen noch unerreichter Lebensziele verstanden werden« (S EEL 1999: 100). Doch dem sei entgegenzusetzen, dass der Weg selbst das gute Leben sei, im Sinne eines prozessualen Begriffs. Das gute Leben ist demnach »ein möglichst erfolgreicher Weg der Erfüllung einer Konstellation von Wünschen« (S EEL 1999: 96). Denn schon A RISTOTELES stellte das Tätigsein ins Zentrum des guten Lebens. Zum guten Leben gehöre der Vollzug des Lebens und das Verfolgen von selbstdefinierten Zielen im Tätigsein, nicht unbedingt das Erreichen einzelner Wünsche. Ebenso könnten tief greifende Veränderungen im Leben, gleich ob selbstverschuldet oder unverschuldet, jederzeit unvorhersehbar auftreten und den Lebensplan erheblich verändern. Daher müsse ein Lebensplan in jedem Falle offen für Veränderungen und Neuinterpretationen des eigenen Lebensverlaufs sein (S TEINFATH 1998b: 81 f.).
4.3 A RBEITSDEFINITION
DES GUTEN
L EBENS
In diesem Abschnitt werden die in Kapitel 4.2 erläuterten Perspektiven abschließend zu einer Arbeitsdefinition zusammengeführt, die auf die Fragestellung und die empirische Forschungsmethodik dieser Arbeit abgestimmt ist
35 .
Die im Folgenden
35 | Da es sich hierbei um eine auf die Fragestellung der Arbeit bezogene Zusammenführung des vorherigen Kapitels handelt, werden Quellen nur angegeben, wenn sie nicht im vorherigen Teil angeführt wurden oder wenn wörtlich zitiert wird.
Gutes Leben | 71
gegebene Definition bezieht sich nur auf Lebewesen, die zu »selbstbestimmtem, personalem Leben« (S EEL 1999: 249) fähig sind. Ausgangspunkt der Arbeitsdefinition ist der reflektierte Subjektivismus. Das gute Leben wird demnach vom Einzelnen ausgehend bestimmt, jedoch nicht nur durch Bewertung auf nonkognitiver Ebene, also auf Basis der Gefühle und des Wollens, sondern auch durch kritische Selbstreflexion. Es können damit drei Ebenen angeführt werden, auf denen Menschen ihr Leben bewerten können: Die affektive, die voluntative und die kognitive Ebene. Das Gute für den Einzelnen wird im Sinne einer integrativen Ethik nicht im Gegensatz zum moralisch Guten verstanden, sondern liegt zeitlich gesehen davor. Im alltäglichen Leben sind beide Seiten miteinander verwoben. Ein Einzelner kann nicht losgelöst von moralischen und sozialen Vorstellungen agieren, trotzdem wird eine Entscheidung zunächst auf der individuellen Ebene betrachtet. Evaluative und normative Aspekte können in die Entscheidungen des Individuums eingehen. »Eine überzeugende Konzeption [einer Theorie des guten Lebens] wird beide Bedeutungsaspekte beinhalten müssen« (L OHMANN 2007: 35). Wenn eine Entscheidung gegen die von einer Gemeinschaft konstituierte Moral getroffen wird, so muss dies durch bewusstes Abwägen stattfinden. Gerade durch das Abwägen von moralischem Sollen und individuellem Wollen entsteht bewusstes Handeln. Die Problematik der Trennung von objektiver und subjektiver Perspektive zieht sich durch die Theorien vom guten Leben. Objektive Theorien, die sich auf ein moralisches Verständnis des Guten berufen, können als Grundlage einer auf subjektiven Bewertungen basierenden Wunsch- und Zieltheorie verstanden werden. Die von N USSBAUM definierten Grundfähigkeiten und ebenso die von M ASLOW benannten Grundbedürfnisse müssen gegeben sein, damit der Einzelne ein gutes Leben führen kann. Sie definieren so gesehen ein Minimum, das als Grundlage für die freie Entfaltung menschlicher Wünsche und Ziele dient. Dieses Minimum schützt sozusagen die Möglichkeit, ein gutes Leben zu führen (S EEL 1998: 275), welches Leben auch immer individuell gewählt wird. Als spezifische Perspektive soll in dieser Arbeit ein wunsch- und zieltheoretischer Standpunkt eingenommen werden. Durch diesen theoretischen Ansatz kann die Pluralität menschlicher Lebensentwürfe berücksichtig werden, die sich in der postmo-
72 | Unterwegs zum guten Leben?
dernen gesellschaftlichen Entwicklung zeigt. Der Einzelne trifft aus einer Vielzahl von Wünschen eine reflektierte Auswahl, die einer eingehenden Prüfung unterzogen wird. Dabei spielt der Subjektbezug der Wünsche, die Informiertheit und die Bewertung durch Mitmenschen eine entscheidende Rolle. Ist die Entscheidung gefallen, einen Wunsch in die Tat umzusetzen, beginnt der Prozess der Zielverfolgung. Werden mehrere Ziele festgelegt, so können diese in eine Reihenfolge gebracht und damit zu einem Lebensplan werden. Um langfristige Ziele zu erreichen, können kurzfristige Verschlechterungen in Kauf genommen werden. Besonders wenn Ideale, also Wünsche zweiter Ordnung, zum abstrakten Ziel werden, können dazu viele Teilschritte und langfristige Planungen nötig sein. Der gesamte Prozess der Wunsch- und Zielentwicklung und deren Umsetzung selbst soll als gutes Leben verstanden werden. Dabei können sowohl ideelle Aspekte als auch materielle Objekte berücksichtigt werden, genauso wie individuelle und soziale Aspekte. Wünsche und Ziele können niemals ausschließlich innenorientiert sein, sondern sie sind mit Handlungen in der Außenwelt verbunden. Nicht nur bei der Prüfung der Wünsche, sondern auch im Verlauf der Zielverfolgung tragen positive Rückmeldungen von anderen Menschen zum guten Leben bei. Durch die Betonung des Prozesses vom Wunsch zum Ziel und zur Handlung rückt eine Zeitspanne in den Fokus und keine Momentaufnahme des persönlichen Wohlbefindens, wie sie die Vertreter hedonistischer Perspektiven vorschlagen. Es ergibt sich folgende Arbeitsdefinition eines guten Lebens: Das gute Leben ist der Prozess der freien Entfaltung von eigenen Wünschen und die daraus hervorgehende Verfolgung kurzfristiger und langfristiger Ziele. Durch Selbstreflexion, zu der auch der Abgleich mit der gesellschaftlichen Moral sowie die Rückmeldung von Mitmenschen zählt, kann das eigene Leben als gut bewertet werden. Den Rahmen dieses individuellen Prozesses stellt die Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse und Grundfähigkeiten dar.
5 Folie zur Analyse des Produktionsprozesses von Räumen des guten Lebens »Das Leben zu verändern bedeutet genauso den Raum zu verändern.« (G OTTDIENER 2002: 25)
Die beiden in den vorherigen Kapiteln erläuterten theoretischen Basiskonzepte, die Produktion von Raum und die theoretischen Überlegungen zum guten Leben, werden nun mit den Erfahrungen aus der Feldforschung vernetzt. Es findet hier also ein Vorweggriff auf die empirische Arbeit statt, der mit den Grundsätzen der GroundedTheory Methode zu begründen ist. Im Verlauf des Forschungsprozesses standen Datenerhebung und -analyse mit der theoretischen Arbeit in einer wechselseitigen Beziehung. Durch diese zirkuläre Struktur konnte die theoretische Perspektive in Abhängigkeit von den gewonnenen Daten ständig erweitert werden. Im Folgenden wird die Erweiterung der theoretischen Basiskonzepte durch die empirischen Daten erläutert werden, woraus eine Folie zur Analyse des Produktionsprozesses von Räumen des guten Lebens hervorgeht. Dazu müssen die theoretischen Überlegungen in Verschränkung mit dem empirischen Forschungsgegenstand angemessen systematisiert werden. L EFEBVRE (1991: 423; 2000: 485) selbst lehnt jede Systematisierung seiner Überlegungen zur Produktion von Raum ab. Seine Ideen werden daher im Folgenden als Inspiration verstanden, als grundlegende heuristische Denkfigur. Aus der Zusammenführung der Überlegungen zur Produktion von Raum mit dem erläuterten Verständnis des guten Lebens ergeben sich folgende Annahmen:
74 | Unterwegs zum guten Leben?
Räume des guten Lebens werden immer in Abhängigkeit von sozialen und zeitlichen Kontexten produziert: Die eigene Raumproduktion tritt in Wechselwirkung mit den Raumproduktionen anderer Akteure. Andere gesellschaftliche Ebenen wirken auf Produktionsprozesse, die auf der privaten Ebene ablaufen, ein. Durch Reflexion findet immer wieder ein Abgleich mit gesellschaftlichen Vorstellungen und Werten statt. Voraussetzung für die Entstehung von Räumen des guten Lebens ist die Selbstreflexion des Akteurs, zu der auch Einwände anderer beitragen. Denn erst durch die Reflexion kann ein Leben bejaht und damit für gut befunden werden: Die Reflexion stellt in verschiedener Hinsicht ein zentrales Moment des Produktionsprozesses dar. Einerseits werden die eigenen Wünsche und Ziele und deren Umsetzung durch die Reflexion betrachtet und bewertet. Andererseits wird der Produktionsprozess durch die Reflexion in seiner zirkulären Struktur erhalten. Ist ein Ziel erreicht, so setzt durch Reflexion die Ermittlung weiterer Wünsche und weiterer Ziele ein, die dann in fortlaufender Wissensproduktion, materieller Produktion und Bedeutungsproduktion umgesetzt werden. Räume des guten Lebens weisen einen prozesshaften, dynamischen Charakter auf: Die Produktion von Räumen des guten Lebens durch die Zugezogenen setzt bereits ein, bevor der Zuzug in die Uckermark beginnt. Denn die Wünsche und Sehnsüchte, die letztlich zum Umzug führen, sind ebenso Teil des Produktionsprozesses wie der Umzug und das Alltagsleben in der Uckermark selbst. Die Produktion von Räumen des guten Lebens umfasst also die Wünsche, Sehnsüchte und Ziele der Menschen genauso wie die Lebenspraxis in der Uckermark und die Reflexion darüber. Dabei bleibt der Prozess offen für Veränderungen im Handeln und Denken der Akteure. Ein Endpunkt der Produktion kann nie erreicht werden, der Prozess zirkuliert und beginnt damit immer wieder von Neuem. Start und Endpunkt des Prozesses ist die subjektive Reflexion. Räume des guten Lebens entstehen im Vollzug. Räume des guten Lebens entstehen durch Tätigsein in materieller Produktion, Wissens- und Bedeutungsproduktion: L EFEBVRE betont die Gleichzeitigkeit der drei Dimensionen der Raumproduktion. Es gibt keine materielle Produktion, die nicht gedanklich erfasst wird. Ebenso ist die Bedeutungsproduktion nicht von der
Folie zur Analyse des Produktionsprozesses | 75
materiellen Produktion und der Wissensproduktion zu trennen. Zur detaillierten Beschreibung des Prozesses werden Analysekategorien gebildet, die jeweils eine der drei Dimensionen in den Vordergrund stellen. Das heißt jedoch nicht, dass daneben die anderen zwei Dimensionen nicht existieren. Sie liegen lediglich nicht im Fokus. Hier sei außerdem darauf hingewiesen, dass in der Analyse das Thema Zuzug in die Uckermark betrachtet wird. Während Wünsche und Sehnsüchte zu diesem Thema konzipiert und entwickelt werden, laufen in anderen Lebensbereichen ebenfalls Raumproduktionen ab, die jedoch nicht zwingend in die Analyse einbezogen werden. Es handelt sich hier also um einen thematischen Ausschnitt der Raumproduktion. Um die Produktionsprozesse von Räumen des guten Lebens der Zugezogenen in der Uckermark zu untersuchen, werden zunächst die drei Momente der Produktion und die dabei entstehenden Räume, ausgehend von den einzelnen Produzenten, beschrieben. Die Analyse hat zum Ziel, Mechanismen und Strukturen des Produktionsprozesses in Bezug auf die Gruppe der Zugezogenen herauszuarbeiten, um daraus ein theoretisches Konzept zur Produktion von Räumen des guten Lebens abzuleiten. Es sollen nun die Kategorien, die in Rückkopplung mit der bereits erläuterten theoretischen Perspektive und Erkenntnissen aus der Feldforschung entstanden sind, vorgestellt werden36 . Sie stellen die Gliederung des empirischen Teils der Arbeit dar.
36 | Die Wechselwirkung von theoretischen Überlegungen und empirischen Daten in Bezug auf die Bildung von Kategorien wird in Kapitel 6.2 genauer beschrieben.
76 | Unterwegs zum guten Leben?
5.1 W ISSENSPRODUKTION Abbildung 5.1: Auswertungskategorien Wissensproduktion (Entwurf: Julia Rössel)
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Zunächst soll der Bereich der Wissensproduktion betrachtet werden. Wissensproduktion bringt Repräsentationen des Raumes hervor und umfasst drei Ebenen bei der Produktion von Räumen des guten Lebens (vgl. Abb. 5.1). Im ersten Schritt entstehen Wünsche, die die Lebensweise betreffen. Dabei entwickeln sich Bilder, Vorstellungen und Ideen, wie das eigene Leben verändert werden könnte. Nachdem die Wünsche geprüft wurden, kann die Entscheidung getroffen werden, einen Teil oder alle Wünsche zu realisieren. Dies stellt den zweiten Schritt bei der Wissensproduktion dar: der Moment der Entscheidung. Durch die Entscheidung zur Umsetzung wird ein Wunsch zum Ziel. An dritter Stelle folgt die aktive Verfolgung des Ziels, womit das zielgerichtete Vorgehen beginnt. Auch die konkrete Planung des neuen Lebensentwurfs läuft zunächst auf der Ebene der Wissensproduktion ab.
Folie zur Analyse des Produktionsprozesses | 77
5.2 M ATERIELLE P RODUKTION Abbildung 5.2: Auswertungskategorien materielle Produktion (Entwurf: Julia Rössel)
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Verzeichnis der Interviewpartner | 257
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