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German Pages XIV, 270 [278] Year 2020
Studien zur Mobilitäts- und Verkehrsforschung
Jakob Hebsaker
Städtische Verkehrspolitik auf Abwegen Raumproduktionen durch ÖPNVInfrastrukturmaßnahmen in Frankfurt am Main
Studien zur Mobilitäts- und Verkehrsforschung Reihe herausgegeben von Matthias Gather, Erfurt, Deutschland Andreas Kagermeier, Trier, Deutschland Sven Kesselring, Geislingen, Deutschland Martin Lanzendorf, Frankfurt am Main, Deutschland Barbara Lenz, Berlin, Deutschland Mathias Wilde, Coburg, Deutschland
Mobilität ist ein Basisprinzip moderner Gesellschaften; daher ist die Gestaltung von Mobilität im Spannungsfeld von ökonomischen, sozialen und ökologischen Interessen eine zentrale Herausforderung für ihre Institutionen und Mitglieder. Die SMV Reihe versteht sich als gemeinsame Publikationsplattform für neues Wissen aus der Verkehrs- und Mobilitätsforschung. Sie fördert ausdrücklich interdisziplinäres Arbeiten der Sozial-, Politik-, Wirtschafts-, Raum-, Umweltund Ingenieurswissenschaften. Das Spektrum der Reihe umfasst Analysen von Mobilitäts- und Verkehrshandeln; Beiträge zur theoretischen und methodischen Weiterentwicklung; zu Nachhaltigkeit und Folgenabschätzungen von Verkehr; Mobilitäts- und Verkehrspolitik, Mobilitätsmanagement und Interventionsstrate gien; Güterverkehr und Logistik. Herausgegeben von Matthias Gather Verkehrspolitik und Raumplanung Fachhochschule Erfurt
Andreas Kagermeier Freizeit- und Tourismusgeographie Universität Trier
Sven Kesselring Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Geislingen
Martin Lanzendorf Institut für Humangeographie Goethe Universität Frankfurt am Main
Barbara Lenz Institut für Verkehrsforschung Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) Berlin
Mathias Wilde Fakultät Maschinenbau und Automobiltechnik Hochschule für angewandte Wissenschaften Coburg
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/11950
Jakob Hebsaker
Städtische Verkehrspolitik auf Abwegen Raumproduktionen durch ÖPNVInfrastrukturmaßnahmen in Frankfurt am Main
Jakob Hebsaker Frankfurt, Deutschland Dissertation Goethe-Universität Frankfurt, 2020 D.30 Fortgeführte Reihe Band 46
ISSN 1868-5803 ISSN 2662-9070 (electronic) Studien zur Mobilitäts- und Verkehrsforschung ISBN 978-3-658-31831-4 (eBook) ISBN 978-3-658-31830-7 https://doi.org/10.1007/978-3-658-31831-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Danksagung
Auch wenn die Fertigstellung dieser Arbeit weitestgehend abgeschnitten von der Außenwelt im stillen Kämmerchen erfolgte, so waren doch viele Menschen mit mal größeren, mal kleineren, immer aber wichtigen Beiträgen an ihrem Gelingen beteiligt, die hier nicht unerwähnt bleiben sollen. Allen voran meine Frau und meine Söhne, die unzählige Arbeitsstunden an Wochenenden, Feiertagen und bis spät in die Nacht ertragen mussten und trotzdem immer wieder für die notwendige Ablenkung und Aufmunterung gesorgt haben. Großer Dank gebührt auch meinem Doktorvater für das mir entgegengebrachte Vertrauen, die mir gewährten Freiheiten bei der Auswahl und mehrfachen Abänderung meines Dissertationsthemas sowie sein Faible für eine kontinuierliche Aktualisierung meiner von vornherein unhaltbaren Arbeits- und Zeitpläne. Nach knapp fünf Jahren habe dann aber auch ich deren Sinn erkannt. Bedanken möchte ich mich außerdem bei meiner wunderbaren Arbeitsgruppe, meinen Freunden und den vielen tollen Kollegen, mit ihren unzähligen wertvollen Anregungen, Kommentaren und Überarbeitungsvorschlägen sowie dem gesamten Institut für Humangeographie, dass meine Art, Wissenschaft zu betreiben, tiefgreifend geprägt hat. Undenkbar wäre die Vollendung dieser Arbeit auch ohne meine Interviewpartner*innen gewesen, die es mir großzügigerweise gestatteten, an ihrem beeindruckenden Wissensschatz teilhaben zu lassen. Nicht genug danken kann ich zuletzt meinen Eltern und einem guten alten Freund, die in stundenlanger Fleißarbeit am Text dafür gesorgt haben, dass sich die Anzahl an Füllwörtern nun in einem erträglichen Maß bewegt und hoffentlich auch das letzte Komma an der richtigen Stelle steht.
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Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Öffentlicher Verkehr und Raumproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1 Ausgangspunkte – immer schneller, immer weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2.1.1 Beschleunigung und gesellschaftliche Differenzierung . . . . . . . 9 2.1.2 Beschleunigung und kapitalistische Akkumulation . . . . . . . . . 12 2.1.3 Automobilität zwischen Freiheit und Zwang . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.1.4 Politik des öffentlichen Nahverkehrs im Kontext . . . . . . . . . . . . 22 2.2 Ansatzpunkte – zur Kritik des städtischen öffentlichen Nahverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.2.1 Perspektiven sozialwissenschaftlicher Verkehrs- und Mobilitätsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.2.2 Mobilität und Verkehr als soziale Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.2.3 Öffentlicher Nahverkehr in der kritischen Stadtforschung . . . 31 2.2.4 Unklarheiten und Widersprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.3 Wegmarken – Raumproduktionen und städtische Verkehrsinfrastrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.3.1 Raum in Geographie und geographischer Verkehrsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.3.2 Zur sozialen Produktion von Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.3.3 Raumproduktion durch Verkehrsinfrastrukturen . . . . . . . . . . . 54 2.3.4 Raumproduktion durch neue Planungsinstrumente . . . . . . . . 64 3 Untersuchungsraum und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.1 Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3.2 Interviews und Interviewauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
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Inhalt
4 Städtischer öffentlicher Nahverkehr – vom Krisenbezwinger zum Überdruckventil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.1 Zwischen Industrialisierung, Stadtentwicklung und Regierungslegitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 4.1.1 Straßenbahn und Stadtentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4.1.2 Politischer Zweck des frühen öffentlichen Nahverkehrs . . . . . 87 4.1.3 Zwischen Produktion und Aneignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4.1.4 Veraltete Technologie im Schatten des entfesselten Individualverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4.1.5 Bedeutungsverlust eines totalitär-heteronomen Verkehrssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.2 Stauprobleme – Verkehrspolitik im Zeichen des Wachstums . . . . . . 101 4.2.1 Neue Wachstumsgrenzen und Schnellbahnbau . . . . . . . . . . . 106 4.2.2 Räumliche Form folgt Funktion – Alles „auf die Innenstadt ausgerichtet“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4.3 Ortswechsel – Schnellbahnbau anderswo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.3.1 München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.3.2 Essen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4.3.3 Zürich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4.3.4 Rückschlüsse und Generalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 4.4 Fortschreiten zwischen Zweifel und Bestätigung . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4.4.1 Moderate Anpassungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4.4.2 „Städtebaulicher Zentralismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 4.5 Kontrast – Vom Unverständnis der Stadtgesellschaft . . . . . . . . . . . . . 131 4.6 Wegweiser in die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4.6.1 Große Pläne, weiche Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4.6.2 Wiederentdeckung der Straßenbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4.6.3 Ideologiefreie Verkehrspolitik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 4.7 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 5 Heimliche Verkehrspolitik – veränderte Rationalitäten und neue Orte der Investition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Kontextänderung – Suburbanisierung und neue Raumaneignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Veränderte Wohnpräferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Neue Arbeitsorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Entfesselte Raumaneignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Rahmensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
5.2 Kernanliegen Bedürfnisbefriedigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Wissenslücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Heimliche Verkehrspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Der ÖPNV als Alternative zum Automobil – auf dem Weg ins Zentrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Stau, Verkehrsinfarkt und zentralörtliche Erreichbarkeit . . . 5.3.2 Attraktivität der Stadt, Konsum- und Umweltaspekte . . . . . . 5.4 Notwendige Erschließungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Sachargumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Diktat der Stadtentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Zusagen und Versprechen an „Wirtschaftsbürger“ . . . . . . . . . 5.4.4 Der Gesamtverkehrsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5 Implikationen – neoliberale Verkehrspolitik durch die Hintertür . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Schlanke Verwaltung und effiziente Instrumentarien . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 Eins nach dem Anderen … oder auch nicht . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Entwicklungskonstrukt und Erschließung von Gateway Gardens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.3 Divergierende Zeithorizonte … Selbst ist die PPP . . . . . . . . . 5.5.4 Implikationen – Aufstieg orts- und anlassbezogener Verkehrspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Regionaltangente West – Ausbruch aus dem „Radialgefängnis“? . . . 5.6.1 Verhandlung regionaler Erreichbarkeitsasymmetrien . . . . . . 5.6.2 Frankfurter Sinneswandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.3 … dann doch erst mal ein Bus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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163 165 167 169 170 173 176 177 181 183 188 196 198 199 202 204 210 213 214 220 223 225
6 Schlussbetrachtung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
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Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Abbildungen Abb. 1
Straßenbahnnetz der Stadt Frankfurt am Main zum Zeitpunkt der größten Ausdehnung, 1939 (Karte: Elke Alban, IHG; Datenquelle: Michelke und Jeanmaire 1972) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Abb. 2 Geplantes Schnellbahnnetz in Frankfurt am Main, Planungsstand 1970 (Schwandl 2008: 13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Abb. 3 Verknüpfung zwischen Hochhausrahmenplanung des Fingerplans und Schnellbahnplanung (Stracke 1980: 48) . . . . . . . . 109 Abb. 4 Geplanter Umbau des Essener Schienennetzes vom Flächensystem Straßenbahn zum Korridorsystem Stadtbahn (Monheim und Monheim-Dandorfer 1990: 360) . . . . . . . . . . . . . . . 120 Abb. 5 Schienennetz der Stadt Frankfurt am Main, Ausbaustand 2003 (Karte: Elke Alban, IHG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Abb. 6 Verwirklichte größere Neubaugebiete der Stadt Frankfurt am Main seit den 1990er Jahren (Karte: Elke Alban, IHG; Datenquellen: Stadt Frankfurt am Main, Stadtplanungsamt 2012: 42, 2003: 42f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Abb. 7 Relative Veränderungen der Verflechtungen im Pendelverkehr zwischen 1997 und 2007 (verändert nach Growe 2012: 307) . . . . . . 160 Abb. 8 Seit 2003 abgeschlossene und aktuelle Neubauprojekte im Schienennetz von Frankfurt am Main (Karte: Elke Alban, IHG) . . 178 Abb. 9 Ausschnitt aus dem Maßnahmenplan Schiene des fortgeschriebenen Gesamtverkehrsplans von 2004. Beschlussund Realisierungsstand 12/2014 (verändert nach Stadt Frankfurt am Main, Referat Mobilitäts- und Verkehrsplanung 2014) . . . . . . . 192 Abb. 10 Vorschlag einer tangentialen Magnetschwebebahnlinie mit Varianten (verändert nach Umlandverband 1990: 48) . . . . . . . . . . . 215 XI
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Abbildungen und Tabellen
Tabellen Tab. 1 Tab. 2
Typen räumlicher Praxis und ihre Funktionsweise (ergänzt nach Belina 2006: 38; Harvey 1989b: 219ff.) . . . . . . . . . . . . . 51 Durchgeführte Interviews, im Text verwendete Pseudonyme und Kurzbeschreibung der jeweligen Expertise . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
Abkürzungsverzeichnis
Abb.
CDU
bspw. bzw. ca. DB d. h. DLR ebd. et al. e. V. f. ff. FAZ FDP FNP FR FVV GG Grüne IHK IHG insb. Kap. o. g. o. J.
Abbildung Christlich Demokratische Union beispielsweise beziehungsweise circa Deutsche Bahn AG das heißt Dockland Light Railway, London ebenda et alii / et alia / et aliae; lateinisch für „und andere“ eingetragener Verein folgende Seite folgende Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei Frankfurter Neue Presse Frankfurter Rundschau Frankfurter Verkehrsverbund Gateway Gardens Bündnis 90/Die Grünen Industrie- und Handelskammer Institut für Humangeographie insbesondere Kapitel oben genannte/r ohne Jahr XIII
XIV
ÖkoLinx o. S. ÖV
ÖPNV
PPP RER RMV RTW S. s. S-Bahn SPD STVV Tab. u. a. u. ä. U-Bahn US v. a. VCD VGF vgl. z. B. zit.
Abkürzungen
Die ökologische Linke ohne Seite öffentlicher Verkehr öffentlicher Personennahverkehr Public Private Partnership (Öffentlich-Private Partnerschaft) Réseau Express Régional, S-Bahn-artige Vorortbahn u. a. in Paris Rhein-Main-Verkehrsverbund Regionaltangente West Seite siehe Stadtschnellbahn Sozialdemokratische Partei Deutschland Stadtverordnetenversammlung, Frankfurt am Main Tabelle unter anderem und ähnliche Untergrundbahn United States (Vereinigte Staaten von Amerika) vor allem Verkehrsclub Deutschland e. V. Verkehrsgesellschaft Frankfurt vergleiche zum Beispiel zitiert
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Einleitung 1 Einleitung 1 Einleitung
“If the raison d’être of cities is to provide the opportunity for interaction, few aspects of urban infrastructure match the importance of the provision of urban transport.” (Hodge 1990: 95)
Verkehr ist ein zentraler Bestandteil moderner Gesellschaften und Mobilität – verstanden als Potenzial zur Bewegung – eine notwendige Voraussetzung gesellschaftlicher Teilhabe. Verkehr und Mobilität sind zudem wichtige, wenn auch schwer zu fassende Themen, weil sie in besonderem Maße quer zu vielen anderen gesellschaftlichen Teilsystemen liegen, von ihnen beeinflusst werden und zum Teil auch selbst deren Grundlage darstellen – so etwa im Gesundheits-, Bildungs-, Rechts- oder Wirtschaftssystem, aber genauso auch in der Siedlungs-, Stadt- oder Bevölkerungsentwicklung (vgl. Schwedes 2017: 15). Gleichzeitig hat der Verkehrssektor heute ein besonders dringliches Problem: den Klimawandel. Denn während in Deutschland alle anderen relevanten Handlungsfelder im Vergleich zum Jahr 1990 ihre Treibhausgasemissionen verringern konnten, haben sich die Werte beim Verkehr seitdem quasi nicht verändert (BMU 2016: 849). Um dies zu ändern, setzt die Politik große Hoffnung auf Elektromobilität, genauer AutomobilElektromobilität, bis heute allerdings offensichtlich mit eher überschaubarem Erfolg. Abgesehen davon ist ohnehin fraglich, ob dies denn tatsächlich die sinnvollste Lösung zur Überwindung unserer Klimaprobleme darstellt. Denn erstens sind auch Elektroautos „keineswegs klimaneutral“ (Hartung 2018: 561). Zweitens lässt sich die berechtigte Sorge formulieren, ein dermaßen verengtes Verständnis von Elektromobilität „könnte den Fortbestand des Individualverkehrs mit dem Automobil für die Zukunft sichern“ (Brunnengräber und Haas 2017: 22). Damit hätte das Automobil zwar einen etwas klimafreundlicheren Motor als bisher, aber eine lange Reihe anderer Probleme würde dennoch fortbestehen: Übermäßige Bodenversiegelung, die damit verbundene Zerstörung fruchtbarer Ackerflächen, © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Hebsaker, Städtische Verkehrspolitik auf Abwegen, Studien zur Mobilitätsund Verkehrsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31831-4_1
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der Verbrauch begrenzter Ressourcen, die schlechte Energieeffizienz und der entsprechende übermäßige Flächenverbrauch (z. B. Schiller et al. 2010: 8ff.). Etwas überspitzt formuliert handelt es sich also beim Elektromotor um nicht viel mehr als eine punktuelle Symptombehandlung im Sinne eines optimierten Katalysators. Allerdings kann auch die Frage nach möglichen Alternativen bisher nur bedingt beantwortet werden. Zumindest auf Entfernungen von bis zu fünf Kilometern, die von der großen Metropole bis zum ländlichen Raum überall immerhin grob ein Drittel aller Automobilfahrten ausmachen (Nobis und Kuhnimhof 2018: 74), könnte theoretisch wesentlich häufiger auf die eigenen Füße und das eigene Velo zurückgegriffen werden. Aufgrund wegfallender oder leichterer Parkplatzsuche sind diese auf kurzen Wegen sogar noch flexibler als das Automobil und können diesem gerade in staugeplagten Städten mit knappem Parkplatzangebot durchaus auch in punkto Geschwindigkeit das Wasser reichen. Bei größeren Distanzen erscheint allerdings den meisten Menschen – solange es auch anders geht – der hierfür benötigte Aufwand an Zeit und Muskelenergie dann doch zu kostbar. Klassischerweise wird an dieser Stelle zuallererst der öffentliche Nahverkehr als Alternative ins Spiel gebracht. So fällt etwa dem ökologischen Verkehrsclub VCD (2019) zum öffentlichen Verkehr als erstes ein: „Busse, Stadt- und Straßenbahnen sind im Stadtverkehr die Alternativen zum umweltbelastenden Auto. Öffentliche Verkehrsmittel sind für alle zugänglich und bringen die Fahrgäste bequem ans Ziel“. Die Realität zeichnet hier allerdings ein etwas anderes Bild. Denn selbst in den deutschen Metropolen mit ihren gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehrsnetzen wird in den öffentlichen Nahverkehr nur halb so oft eingestiegen (20 % der Wege), wie in das Automobil (38 % der Wege) (Nobis und Kuhnimhof 2018: 47). Woran liegt das? Eine klassische und viel zitierte Erklärung wäre, es auf eine allgemeine „Liebe zum Automobil“ (Sachs 1984) zurückzuführen. Diese Liebe scheint zwar momentan vor allem bei jungen Menschen auf eine handfeste Beziehungskrise zuzusteuern (vgl. z. B. Busch-Geertsema 2018: 99ff.). Allerdings wird mit dem Verweis auf Emotionalität kaschiert, dass das Auto zugleich auch einen wesentlich höheren Gebrauchswert im Sinne der Fähigkeit zur Raumüberwindung verspricht, vor allem in Bezug zur Liniengebundenheit des öffentlichen Nahverkehrs, was ja letztendlich auch schon bei Sachs (1984: 110ff.) Erwähnung findet. Alleine die emotionale Beziehung zum eigenen Automobil reicht folglich nicht aus, um das häufige Präferieren des Automobils gegenüber dem öffentlichen Nahverkehr zu erklären. Sind es die hohen Fahrscheinkosten, wie durch unzählige Forderungen für einen günstigeren, gar kostenlosen öffentlichen Nahverkehr suggeriert wird? Vorläufige Zwischenergebnisse zu den Folgen des bisher größten Nulltarif-Projekts in Tallinn, Estland, zeichnen hier ein recht ambivalentes Bild: Während beim Automobilverkehr
1 Einleitung
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lediglich eine Abnahme um 5 % festgestellt wurde, ging der Anteil des Fußverkehrs um ganze 40 % zurück und gleichzeitig hat sich die durchschnittliche Wegelänge beim Automobilverkehr um 13 % erhöht (Cats et al. 2017: 1101). Obgleich die Nulltarifentscheidung aus sozialpolitischer Hinsicht durchaus beachtenswert ist, weil so die Nutzung von Geringverdiener*innen und Arbeitslosen um 20 % erhöht werden konnte (ebd.: 1102), sprechen die Ergebnisse darüber hinaus kaum für eine hinsichtlich des Gebrauchswerts vergleichbare Alternative zum Automobil. Zudem kommt auch eine agentenbasierte Simulationsstudie zu ähnlichen Ergebnissen, wonach eine Vergünstigung oder Kostenbefreiung beim öffentlichen Nahverkehr kaum eine Veränderung der Verkehrsmittelnutzung bewirken würde (Philipp und Adelt 2018). Kann die sich im Kontext der Sozialwissenschaften verortende, jüngere geographische Mobilitätsforschung weiterhelfen? Bedingt, denn diese beschäftigt sich heute weitestgehend mit der Erforschung von Mikroperspektiven, bei denen nach „individuellen Ursachen für das Verkehrsverhalten“ und das Verkehrshandeln gesucht wird, um dann mittels „persönlicher Ansprachen“ das individuelle Verkehrsverhalten „im Sinne einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung zu beeinflussen“ und somit eine Verkehrswende einzuläuten (Schwedes 2017: 22). Aber auch wenn solche Maßnahmen im Einzelnen durchaus Erfolge erzielen können, gelingt der Umstieg auf die Alternative trotzdem nur dann, wenn diese auch vorhanden ist. So erfahren derartige Ansätze nicht ganz zu Unrecht scharfe Kritik seitens der klassischen, ingenieursdominierten Verkehrswissenschaft, wonach hier „die Möglichkeiten des Individuums haushoch überbewertet [würden] – mit einer entsprechenden Überbewertung des Individuellen bei der Entscheidungsfindung“ (Kutter 2010: 47). Liegt die geringe Nutzung der Alternative öffentlicher Nahverkehr also an der Infrastruktur? Auch das müsste zunächst verneint werden. Denn schließlich ist es Lehrbuchwissen der Verkehrsplanung, dass Verkehr und damit auch Verkehrsinfrastruktur eine ausschließlich „dienende Funktion“ innehaben, die sich in Bezug auf „Aktivitäten des Menschen im Raum“ ergibt (Künne et al. 2005: 49). Verkehrsinfrastrukturen sollte es, dieser Logik folgend, für all die Relationen geben, wo Menschen sich konkret im Raum bewegen. So sehr diese Argumentation beim kapazitätsbedingten Ausbau bestehender Infrastrukturen nachvollziehbar ist, so sehr hinkt sie dort, wo zunächst keine Infrastrukturen vorhanden sind. Denn letztendlich können sich Menschen nur (in einem individuell vertretbaren Zeitraum und über größere Distanzen) im Raum bewegen, wenn sie dafür auf Verkehrsinfrastrukturen zurückgreifen können. In diesem Zusammenhang stechen insbesondere statistische Daten ins Auge, wonach in Deutschland beim öffentlichen Verkehr unter allen unterschiedlichen Wegezwecken (also den Gründen warum wir uns im Raum bewegen) die prozentualen Anteile auf dem Weg zur Ausbil3
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dungsstätte und zur Arbeit am höchsten sind (Infas und DLR 2010: 121; Nobis und Kuhnimhof 2018: 49).1 Die Frage darf demnach nicht lauten, warum der öffentliche Nahverkehr nicht als Alternative zum Automobil angenommen wird, sondern muss sich eigentlich darauf beziehen, ob nicht vielleicht die ÖPNV-Infrastruktur nur soweit ausgebaut ist, dass dieser nur bei bestimmten Wegezwecken überhaupt als Alternative in Betracht gezogen werden kann – wobei hier zugegebenermaßen der Ausbildungsverkehr eine recht schlechte Referenz ist, weil die Alternative Automobil hier schon rein altersbedingt oft ausscheidet. Hat es also die Verkehrspolitik versäumt, die ÖPNV-Infrastruktur entsprechend auszubauen? Sind die menschlichen Aktivitäten im Raum jenseits von Beruf und Ausbildung schlichtweg übersehen worden? Oder verbergen sich dahinter nicht vielmehr dezidierte politische Strategien, die abseits allgemeiner Verweise auf individuelle Bedürfnisbefriedigung verortet werden müssen und darauf abzielen, die Produktion sozialer Räume auf eine bestimmte Art und Weise zu beeinflussen? Diese letzte Frage ist es schließlich, an der die vorliegende Studie ansetzen möchte. Ziel ist es, den öffentlichen Schienennahverkehr mittels alternativem Analyseraster zu untersuchen, das im Sinne einer politischen Stadtgeographie des öffentlichen Nahverkehrs politische Rationalitäten des Infrastrukturausbaus ins Zentrum stellt. Grundsätzlich wird es dabei darum gehen, mittels strukturanalytischer Herangehensweise herauszuarbeiten, wie der öffentliche Nahverkehr in größere Zusammenhänge zwischen städtischer Raumpolitik und grundlegenden Prozessen der Stadtentwicklung eingeordnet werden kann. Im Fokus steht also nicht die Verkehrsinfrastruktur, sondern deren Einbettung in ein Konglomerat aus gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen, ökonomischen Ansprüchen und politischen Machtstrategien, auf das sich die spezifische räumliche Form des heutigen öffentlichen Nahverkehrs letztendlich zurückführen lässt. Mit Bezug auf Holz-Rau (2018: 117) werden dabei unter dem Begriff Verkehrspolitik im Rahmen dieser Arbeit nicht nur der politische Entscheidungsprozess und tatsächliche politische Entscheidungen verstanden. Darüber hinaus wird auch die Verkehrsplanung der städtischen Verwaltung als immanenter Bestandteil kommunaler Verkehrspolitik betrachtet. Denn schließlich besteht deren Aufgabe in der „Vorbereitung verkehrspolitischer Entscheidungen“. Sie interagiert also stets
1 Prozentuale Anteile des öffentlichen Verkehrs am Verkehrsaufkommen (Anzahl der Wege) nach Wegezwecken in Deutschland: Ausbildung 34 %, Arbeit 12 %, private Erledigungen 8 %, Freizeit 7 %, dienstlich 5 %, Einkauf 4 %, Begleitung 3 % (Infas und DLR 2010: 121).
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eng mit dem parlamentarischen politischen Prozess, arbeitet diesem zu und sollte darum letztendlich nicht als von diesem losgelöst betrachtet werden. Die Arbeit verfolgt dabei drei Zwecke: Erstens soll der öffentliche Nahverkehr aus einer explizit gesellschafskritischen Perspektive heraus untersucht werden, die über die bisher häufig auf Nebensätze beschränkten Verweise der kritischen Stadtforschung hinausgeht – etwa wenn der öffentliche Nahverkehr ohne tiefergehende Analyse als ein weiteres Beispiel einer Privatisierung städtischer Institutionen genannt wird (vgl. z. B. Heeg und Rosol 2007: 494; Heinz 2015: 171f.; Holm 2012: 96; Naumann 2014: 223; Schipper 2013). Zweitens soll insbesondere in Anlehnungen an die Arbeiten von Belina (2013, 2008, 2006) nahegelegt werden, dass eine fundierte Kritik des öffentlichen Nahverkehrs nur gelingen kann, wenn dieser bewusst als sozial produzierte und raumwirksame Materialität aufgefasst wird. Drittens soll aufgezeigt werden, dass ein fundiertes Verständnis der augenscheinlichen Nutzungsdefizite des öffentlichen Nahverkehrs nur dann erlangt werden kann, wenn deutlich wird, wie stark dessen Entwicklung von Institutionen und Akteuren beeinflusst wird, denen selbst wenig an der Bereitstellung allgemeiner, nachfrageorientierter Angebote gelegen ist. Mit den martialischen Worten Foucaults (1974/2002: 617) muss es also auch bei der sich auf technischen Fortschritt und Sachlichkeit berufenden kommunalen Verkehrspolitik darum gehen, „das Spiel der scheinbar neutralen und unabhängigen Institutionen zu kritisieren; sie zu kritisieren und in einer solchen Weise anzugreifen, dass die politische Gewalt, die in ihnen im Verborgenen ausgeübt wird, aufgedeckt wird, sodass man dagegen kämpfen kann“ (zit. nach Soja 1998/2007: 98). Anhand der Politik des öffentlichen Schienennahverkehrs der Stadt Frankfurt am Main wird daher den forschungsleitenden Fragen nachgegangen: 1. Welche unterschiedlichen kommunalpolitischen Intentionen lassen sich aus historischer Perspektive mit dem Ausbau öffentlicher Schieneninfrastrukturen verknüpfen? 2. Durch welche politischen Rationalitäten, Narrative, Strategien und Ideologien wird die gegenwärtige Politik öffentlicher Nahverkehrsinfrastrukturen beeinflusst? 3. Inwieweit sind diese Politiken mit der Produktion eines spezifischen sozialen Raumes verknüpft? 4. Inwiefern offenbaren sich daraus Widersprüche zur alltäglich praktizierten Raumüberwindung von Individuen? Das empirische Material der Studie setzt sich zusammen aus 16 Experteninterviews, älteren empirischen Arbeiten aus den Geschichts- und Sozialwissenschaften, his5
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torischen Zeitdokumenten, Redemanuskripten, anderweitigen Veröffentlichungen der Frankfurter Kommunalpolitik und Verwaltung sowie Zeitungsartikeln aus den Lokalteilen verschiedener Tageszeitungen. Inhaltlich lässt sich die Studie in drei Hauptkapitel untergliedern. Kap. 2 beginnt mit einer Einbettung des öffentlichen Nahverkehrs in eine innerhalb des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses feststellbare allgemeine Beschleunigungsdynamik. Diese Dynamik lässt sich charakterisieren als Zusammenspiel von sozialen, ökonomischen und technologischen Aspekten, aus der bis heute das Automobil als hegemoniales Verkehrssystem hervorgegangen ist. Vor dem Hintergrund dieser groben Entwicklung des Verkehrsgeschehens geht es im Weiteren darum, offene Flanken der bestehenden Forschung zum städtischen öffentlichen Nahverkehr aufzuzeigen. Darauf aufbauend wird dann ein theoretischer Rahmen für eine raumsensible kritische Perspektive auf die Stadtpolitik des öffentlichen Nahverkehrs skizziert. Dies wiederum dient als Ausgangspunkt für die beiden empirischen Hauptkapitel. Hier wird zunächst in Kap. 4 die historische Genese des öffentlichen Nahverkehrs in Frankfurt fokussiert. Dabei wird insbesondere hervorgehoben, welche politischen Rationalitäten diese Genese maßgeblich beeinflusst haben und auf ähnliche zeitgleiche Entwicklungen in Städten mit vergleichbaren Problemlagen verwiesen. Im Zentrum steht dabei die Offenlegung von machtpolitisch motivierten stadtpolitischen Wachstumsstrategien als zentralen Treibern von ÖPNV-Ausbaumaßnahmen. Kap. 5 bezieht sich, daran anknüpfend, auf die städtische Politik des öffentlichen Nahverkehrs in den letzten Jahrzehnten. Diese kann zwar zum Teil durchaus als kontinuierliche Fortschreibung des Bisherigen charakterisiert werden. Darüber hinaus hat aber neben veränderten gesellschaftsstrukturellen Entwicklungen insbesondere der politische Neoliberalisierungsprozess maßgebliche Veränderungen der städtischen Verkehrspolitik bewirkt, die unter Rückgriff auf Schwedes‘ (2016: 5f.) Terminus der „heimlichen Verkehrspolitik“ als eine Aufweitung externer bzw. extrinsischer Treiber und Motive des Infrastrukturausbaus beschrieben wird. Abgeschlossen wird die Arbeit mit Kap. 6 durch eine kurze Zusammenfassung der zentralen Thesen und daraus resultierenden Ableitungen sowie Empfehlungen für den weiteren wissenschaftlichen und politischen Umgang mit öffentlichem Nahverkehr.
Öffentlicher Verkehr und Raumproduktion
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Grundlage des folgenden Kapitels ist eine soziologisch und historisch fundierte Aufarbeitung der Entwicklungsgeschichte der Personenmobilität seit Beginn der Industrialisierung unter spezieller Berücksichtigung des öffentlichen Nahverkehrs. Dabei geht es zunächst um eine Identifikation und Kritik bestehender deutsch- und englischsprachiger Arbeiten, die als erste Ansatzpunkte einer gesellschaftskritischen Verkehrs- und Mobilitätsforschung betrachtet werden können. Darauf aufbauend wird in einem zweiten Schritt eine Weiterentwicklung der bisher nur in ersten zögerlichen Ansätzen vorhandenen kritischen Perspektiven innerhalb der deutschsprachigen geographischen Verkehrs- und Mobilitätsforschung angestoßen. Dabei geht es erstens explizit darum, die wissenschaftliche Debatte um den öffentlichen Nahverkehr an Theorien anzudocken, die es erlauben, diesen als grundlegend räumliche und raumwirksame Materialität aufzufassen. Denn dadurch lässt sich zweitens betonen, dass diese Materialität immer ein gesellschaftliches Produkt darstellt, womit sich drittens die besondere Relevanz von Fragen hervorheben lässt, die den Blick darauf richten, von wem, wie und warum spezifische Räumlichkeiten (durch den öffentlichen Nahverkehr) produziert und reproduziert werden.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Hebsaker, Städtische Verkehrspolitik auf Abwegen, Studien zur Mobilitätsund Verkehrsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31831-4_2
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Ausgangspunkte – immer schneller, immer weiter
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Ausgangspunkte – immer schneller, immer weiter
„Freizügigkeit, ungehinderte Kommunikationszugänge und immer grenzenlosere Raumüberwindung gehören für sich genommen zu den großen ‚Versprechen‘ der Moderne. Zugleich sind sie Bedingung der Realisierung demokratischer Lebens-, Teilhabe-, und Mitbestimmungsformen, spezifisch moderner, arbeitsteilig-marktvermittelter und profitorientierter Wirtschaftsweisen und schließlich der darauf aufbauenden Wohlstandsformen.“ (Rammler 2001: 230)
Als Ausgangspunkt dieser Arbeit dienen zuerst einige Grundüberlegungen zum Stellenwert von Verkehr und Mobilität in der Gesellschaft seit dem Anbruch der Moderne. Im Einklang mit großen Teilen der sozialwissenschaftlichen Verkehrsund Mobilitätsforschung lässt sich als Mobilität „die grundsätzliche Fähigkeit, also das Potenzial zur Realisierung von Aktivitäten bezeichnen“ (Gather et al. 2008: 25), womit hier folglich von einer „Bewegung in möglichen Räumen“ (Canzler und Knie 1998: 32) die Rede ist. Mit dem Verkehrsbegriff dagegen wird vor allem die mess- und wahrnehmbare Ausprägung von Mobilität im Raum bezeichnet, also eine „im physischen Raum realisierte Ortsveränderung“ (Gather et al. 2008: 25), beziehungsweise eine „Bewegung in konkreten Räumen“ (Canzler und Knie 1998: 32). Die Materialisierung von Mobilität findet damit erst mittels Verkehr statt, der dazu wiederum grundlegend auf die Materialität der Verkehrsinfrastrukturen bzw. der gebauten Umwelt angewiesen ist. Wichtig ist zudem, dass der Verkehr – im Sinne einer alltäglichen, häufig routinierten Materialisierung von Mobilität – als „(überwiegend) Mittel zum Zweck“ betrachtet werden kann (Holz-Rau 2018: 117). Wird von Verkehr gesprochen, geht es also zumeist darum, verschiedene Alltagsnotwendigkeiten und Alltagsbedürfnisse zu befriedigen.2 Die konkreten Ausprägungen dieser Notwendigkeiten und Bedürfnisse wiederum sollten keinesfalls als quasi natürliche Gegebenheiten verstanden werden. Vielmehr werden sie umfassend von verschiedenen gesellschaftlichen Prozessen beeinflusst, auf die in den nächsten Abschnitten näher eingegangen wird: Erstens ist das individuelle Verkehrshandeln elementar von verschiedenen kulturellen Idealen geprägt, die vor 2 Wenn es darum im weiteren Verlauf der Arbeit um Bedürfnisse gehen soll, die mittels einer Teilnahme am Verkehr befriedigt werden, wird im Text ausschließlich der Begriff Mobilitätsbedürfnis verwendet. Daneben taucht zwar in einzelnen Zitaten auch der in der Alltagswelt gängigere Begriff des Verkehrsbedürfnisses weiter auf. Es wird an diesen Stellen allerdings davon ausgegangen, dass auch damit letztendlich das gemeint ist, was sich aus Perspektive des Autors am präzisesten als Mobilitätsbedürfnis beschreiben lässt.
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allem im individuellen Drang zu Beschleunigung und hohen Geschwindigkeiten resultieren. Zweitens wird unter Rückgriff auf die Grundvoraussetzungen der kapitalistischen Verwertungslogik herausgearbeitet, dass insbesondere der von der ökonomischen Sphäre ausgehende Druck zur Entwicklung schnellerer und günstigerer Verkehrstechnologien als idealer Nährboden zur Erfüllung dieses individuellen Beschleunigungsdrangs identifiziert werden kann. Insbesondere in diesem Zusammenhang kommt auch dem Nationalstaat in seiner Rolle als strukturierende und unterstützende Kraft kapitalistischer Wachstumsbestrebung eine gewichtige Bedeutung zu. Drittens wird das Automobil als gegenwärtiges Hauptverkehrsmittel in diese gesellschaftlichen Prozesse integriert und entsprechend kontextualisiert. Abgerundet werden diese Überlegungen zuletzt durch eine Integration der aufgeworfenen Argumentationsstränge mit Blick auf eine Verortung des öffentlichen Verkehrs in den Kontext dieses gesellschaftlichen Beschleunigungsparadigmas.
2.1.1 Beschleunigung und gesellschaftliche Differenzierung „Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.“ (Goethe 1825)
Obgleich die Nutzung eines Verkehrsmittels für einen bestimmten Weg – in Abhängigkeit des vorhandenen Angebots – zunächst einmal als individuelle Entscheidung erscheint, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine solche Entscheidung faktisch in verschiedene Zwänge und Anforderungen eingebettet ist, die von unserem Gesellschaftssystem vorgegeben werden. Und tatsächlich würden wir uns zumindest bei längeren Wegen in den allerwenigsten Fällen für das Zufußgehen entscheiden, obwohl diese Art der Fortbewegung nicht nur hinsichtlich der damit verbundenen finanziellen Kosten, sondern auch aus ökologischer oder gesundheitlicher Perspektive sicherlich den besten Alternativen zuzuordnen ist. Die Wahl fiele stattdessen wohl eher auf das Automobil, den Zug oder vielleicht auch das Flugzeug. Warum das so ist? Einmal erfordert das Zufußgehen natürlich körperliche Anstrengung, darüber hinaus aber kostet es uns vor allem meist vergleichsweise viel unserer so wertvoll erscheinenden Zeit. Nun ist aber gerade dieser Zeitdruck nichts Individuelles, sondern resultiert explizit aus materiellen wie ideellen Zwängen, die uns unsere Gesellschaft auferlegt. 9
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Begründen lassen sich diese ideellen Zwänge mit Rosa (1999: 397) zunächst einmal durch gesellschaftliche Entwicklungen, die sich einem „neuzeitliche[n] Lebens- und Zeitideal“ zuschreiben lassen. Dabei wird die Beschleunigung unterschiedlicher Lebensbereiche – bedingt durch die Gewissheit über die Endlichkeit des Lebens im Zuge schwindender Überzeugungskraft postmortaler Religionsversprechen, alternativ durch die Durchsetzung einer protestantischen Leistungsethik und gefestigt durch das humanistische Bildungsideal einer bestmöglichen Persönlichkeitsentfaltung – zum grundlegenden Instrument menschlicher Lebensentfaltung.3 Aufgrund dieser ideellen Zwänge zur Erhöhung der Lebensgeschwindigkeit werden dann unter anderem bestehende Raumüberwindungssysteme immer wieder weitestmöglich ausgereizt, um möglichst keine vorhandenen Angebote und Möglichkeiten ungenutzt zu lassen. Durch leistungsfähigere Raumüberwindungssysteme jedoch werden nicht nur die Anzahl der im Leben realisierten Optionen erweitert, sondern in weitaus größerem Umfang auch die Summe der theoretisch erreichbaren Wahlmöglichkeiten. Resultat ist eine Teufelsspirale, bei der mit zunehmender Beschleunigung der Ausschöpfungsgrad möglicher Optionen tendenziell abnimmt, was gleichzeitig aber auch den Zwang zur zeitlichen Effizienz erhöht, sprich: die Beschleunigungsgesellschaft (ebd.: 395ff.; vgl. auch Borscheid 2004: 77ff.). In ähnlicher Weise kommt auch Rammler (2014, 2001, 1999; vgl. auch Rosenbaum 2016) unter Rückgriff auf klassische Theoretiker der Soziologie 4 zu dem Ergebnis, dass eine möglichst schnelle Raumüberwindung „ein essentielles Element moderner Gesellschaftsentwicklung“ (Rammler 2014: 29) ist. Ausgangspunkt ist dabei die Erkenntnis, dass die Entstehung von Nationalstaat, industriekapitalistischer Wirtschaftsweise und rationaler Wissenschaft (und den damit verbundenen Operationslogiken von Macht-, Profit-, und Wissensmaximierung) erstens grundlegende Bedingungen zum Übergang in die moderne Gesellschaft darstellen und damit zweitens auch Ausgangspunkt von bis heute andauernden Prozessen sozialer 3 Tatsächlich können an dieser Stelle auch staatliche Regierungspraktiken durchaus noch stärker thematisiert werden, die mit der Herausbildung nationalstaatlicher Territorien verstärkt Probleme der Bewegung von Waren, Armeen und Arbeiter*innen adressieren (Manderscheid 2014: 8f.; Rammler 2001: 70ff.; 103ff.; Paterson 2007: 121ff.; z. B. Borscheid 2004: 63ff.). Da letztendlich auch hier eine allgemein höhere Gewichtung von Bewegung im Zuge der aufkommenden Moderne als Grundlage dient und zudem auch hier die Beschleunigung von Körpern als zentrales Ergebnis im Raum steht, wird dies im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter vertiefend ausgeführt. 4 Rammler (2001, 1999) untersucht hier anhand verschiedener klassischer Texte, u. a. von W. Sombart, W. Hellpach, G. Simmel, K. Marx, M. Weber, A. Smith, E. Durkheim und N. Elias, inwieweit gerade auch die alten großen Theoretiker der Soziologie dazu beitragen können, Verkehr und Mobilität in die gesellschaftliche Entwicklung der modernen Welt einzuordnen.
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Differenzierung und Individualisierung (Rammler 2001: 190, 229). Der Begriff der sozialen Differenzierung dient dabei als Klammer für Prozesse beruflicher Spezialisierung, sozialer Arbeitsteilung und zunehmender Ausdifferenzierung klassischer sozialer Rollen- und Schichtstrukturen (Rammler 1999: 55). Folgen der sozialen Differenzierung sind unter anderem eine fortschreitende Individualisierung und Ausdifferenzierung von Raum-Zeit-Pfaden, wie auch ein daraus resultierendes beständig anhaltendes Verkehrsmengenwachstum. Dabei fungieren technische Verkehrs- und Kommunikationssysteme als Voraussetzung, die mittels Reichweite, Flexibilität und Effizienz eine solche Ausdifferenzierung erst ermöglichen (2001: 229; Rammler 1999: 55f.; Rosenbaum 2016: 546). Gleichzeitig sind diese damit auch Integrationsinstrumente, die durch den Transport von Personen, Waren und Informationen die Funktionsfähigkeit und den Zusammenhalt der Gesellschaft im Rahmen des Differenzierungsprozesses erst garantieren (2001: 189ff.; Rammler 1999: 55f.). So wird die prozesshafte Ausweitung dessen, was Canzler und Knie (1998: 30ff.) als individuelle Möglichkeitsräume beschreiben, von Rosenbaum (2016: 548) sogar als „größere Errungenschaft“ für den einzelnen Menschen benannt als die politische Demokratie. Denn durch sie erst wurden eine Vielzahl neuer individueller Entscheidungs- und Integrationsmöglichkeiten eröffnet und die bis in die Vormoderne bestehende ‚Zwangsbindung‘ an den Nahraum gelöst. Nicht nur Wohnsitz, Arbeitsort und Ausbildungsstätte konnten nun in zunehmendem Ausmaß frei nach individuellen Wunschvorstellungen gewählt werden, sondern auch die Art der Freizeitgestaltung und die Pflege soziale Kontakte (ebd.). Auch hier wird somit in der gesellschaftlichen Entwicklung der Moderne eine zentrale Grundlage der gesellschaftlichen Beschleunigungsdynamik identifiziert, die sowohl in einer Zunahme zurückgelegter Distanzen als auch in einem damit einhergehenden Ausfächern und Differenzieren individueller Bewegungsrichtungen zum Ausdruck kommt.5 Wie schon angeklungen kommt dabei auch der Verkehrs- und Kommunikationstechnologie selbst eine gewichtige Rolle zu. Schließlich führe, so Rammler (2001: 168ff., 1999: 56) in Anlehnung an Norbert Elias‘ Analyse des westlichen Zivilisationsprozesses, jede Implementierung einer leistungsfähigeren Technologie nicht nur zur intensivierten Integration der Einzelnen in die Gesellschaft. Zudem müsse die Technologie als Ausgangspunkt einer erneuten sozialen Differenzierung
5 Darüber hinaus können die hier beschriebenen Prozesse ähnlich schlüssig auch mit Luhmann und seiner zentral hervorgehobenen funktionalen Differenzierung der Gesellschaft kontextualisiert werden (vgl. hierzu etwa Kuhm 1997: 193ff.). Da jedoch auch hier im Ergebnis letzten Endes eine Intensivierung der Kommunikation steht, wird eine weitergehende Auseinandersetzung mit Luhmann in dieser Arbeit unterlassen. 11
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betrachtet werden, in dessen Folge sich alltägliche Aktionsräume fortsetzend aufweiten, woraus letztendlich die Überwindung immer längerer Strecken resultiert. Zentrale Vehikel dieses Prozesses waren und sind damit immer die jeweils zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhandenen technischen Angebote zur Fortbewegung. So stellen heute etwa Automobil und Flugzeug die entsprechenden technischen Voraussetzungen, die im Verlauf der letzten Jahrzehnte dazu führten, dass die räumlichen Bewegungsmuster unserer Gesellschaft sich einerseits auf regionaler Ebene durch immer feingliedrigere Differenzierungs- und Flexibilisierungsprozesse charakterisieren lassen. Andererseits entstehen auf überregionaler Ebene gesellschaftliche Interaktionen, die über einen immer größeren Raum hinweg praktiziert werden (Rammler 2001: 194). Auch wenn diesbezüglich etwa Sachs (1997) – hier mit vergleichsweise geringer gesellschaftstheoretischer Tiefe argumentierend – eine kollektive „Faszination für hohe Geschwindigkeit“ (ebd.: 182) originär aus der Einführung von Verkehrstechnologien ableitet, so kommt doch auch er zu dem Schluss, dass die moderne Gesellschaft einem Geschwindigkeitsimperativ unterworfen ist, denn: „Hohes Tempo gilt als unerlässlich für [individuellen] wirtschaftlichen Erfolg“ (Sachs 1997: 181).
Auch wenn diese Erkenntnis im Ergebnis durchaus richtig erscheint, darf die Einführung neuer Transporttechnologien, wie auch die technische Beschleunigung weiterer zahlreicher Prozesse in Produktion und Kommunikation keinesfalls nur als zufälliges Produkt technologischen Fortschritts betrachtet werden, wie Rosa (1999: 390ff.) und Rammler (2001: 59ff.) unisono betonen.
2.1.2 Beschleunigung und kapitalistische Akkumulation Neben kulturellen Idealen lassen sich die Wurzeln der modernen Beschleunigungsgesellschaft zudem mit einigen weiteren Autoren, die sich dabei insbesondere auf Karl Marx beziehen, auch in den Grundprinzipien der kapitalistischen Wirtschaftsweise ergründen. Die zentrale Bedeutung von Verkehr resultiert in diesem Kontext daraus, dass einerseits nur durch diesen die Waren aus den Produktionsstätten zu den Konsument*innen gelangen und andererseits eine Verbesserung von dessen Leistungsfähigkeit eine Grundlage für ein stetiges Wachstum darstellt (Krumbein 2008: 53ff.; Schwedes 2017: 31). Tatsächlich finden sich hier erste Entwicklungslinien auch schon im Spätmittelalter, als Fernhandelskaufleute im Zuge von Stadtwachstum und zunehmender Arbeitsteilung nicht nur an wirtschaftlicher Relevanz gewannen,
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sondern bedingt durch gegenseitige Konkurrenzverhältnisse permanent danach strebten, ihre Gewinne durch eine Beschleunigung des Transports zu steigern – insbesondere durch die Weiterentwicklung der Segelschifffahrt und den (Aus-)Bau von Fernhandelsstraßen und Kanälen (Borscheid 2004: 33ff.). Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erfuhren Beschleunigungsstrategien, unter anderem durch eine Optimierung der Produktion mittels neuer (zunächst noch mechanischer, später dampfbetriebener) Maschinen, dann auch unter der Unternehmerschaft eine erhöhte Aufmerksamkeit (ebd.: 79ff.). Als weitere zentrale Akteure des Ausbaus lassen sich zudem die Nationalstaaten benennen, die damit allerdings nicht nur eine Stärkung der örtlichen Wirtschaft erreichen wollten, sondern häufig auch militärische Zwecke mit dem Infrastrukturausbau verknüpften (ebd.: 100ff.). Die zentrale Rolle einer stetigen Beschleunigung des Verkehrs im kapitalistischen Akkumulationsprozess verdeutlicht sich vor allem im Zusammenhang mit der Zirkulation von Waren, die wiederum selbst als notwendiges Bindeglied zwischen Produktion und Konsum einen wichtigen Schalthebel zur Profitmaximierung darstellt: Denn erstens ist eine erfolgreiche Profitbildung grundlegend davon abhängig, dass Waren möglichst hindernislos im Raum zirkulieren. Auf diese Weise wird schließlich gewährleistet, dass die Umschlagszeit der produzierten Waren verkürzt, die Akkumulation beschleunigt und das erzielte Kapital mit geringem Zeitverlust wieder reinvestiert werden kann. Da die Transportindustrie wiederum die elementare Grundlage für die Überwindung räumlicher Hindernisse darstellt, muss auch ihr Produkt, der Verkehr, als allgemeine Grundlage für die Profitbildung betrachtet werden (Krumbein 2008: 53f.). Daran anschließend geht mit einer am Wachstum orientierten Wirtschaft unweigerlich auch ein Verkehrswachstum einher, da der Transport einer größeren Anzahl produzierter Waren auch zusätzliche Verkehrskapazitäten erfordert. Des Weiteren trägt auch die andauernde Individualisierung von Konsummustern zum Wachstum des Verkehrs bei, da dadurch Warenverkehr immer weniger gebündelt durchgeführt werden kann (Schwedes 2017: 24f.). Insofern ist es nicht verwunderlich, dass etwa der Ausbau der Eisenbahn schon zu Beginn maßgeblich durch Industrielle und das Unternehmertum gefordert und gefördert wurde (Borscheid 2004: 129f.) und die Relevanz der Transportindustrie im Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung immer bedeutender wurde (Krumbein 2008: 53). Zweitens führt eine Verkürzung der Transportzeit – neben günstigeren Transportkosten und größerer Transportmengen – zu Wettbewerbsvorteilen gegenüber Konkurrenten (Harvey 1975: 11f.; Krumbein 2008: 54; Schwedes 2017: 27). Diese beschleunigungsbedingten Wettbewerbsvorteile sind jedoch immer nur temporär, weil gleichermaßen auch die Konkurrenz nach Wettbewerbsvorteilen strebt und entsprechend selbst in neue Verkehrstechnologien investiert. So entspringt gerade 13
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aus der kapitalistischen Konkurrenz heraus eine unvermeidliche technologische und organisatorische Triebkraft, die letztendlich in der Entwicklung und räumlichen Verbreitung immer neuer Verkehrstechnologien resultiert – vorausgesetzt die neue Technologie führt nicht zu unverhältnismäßigen Kostensteigerungen (Harvey 2007: 103; vgl. auch Läpple 1991: 180; Rosa 1999: 392). Drittens verweist auch die der kapitalistischen Logik inhärente „Tendenz zur maßlosen Ausweitung der Produktion“ (Krumbein 2008: 57) auf die Verkehrstechnologien. Schließlich erzwingt diese geradezu ein stetiges Streben zur räumlichen Expansion, also der Erschließung neuer Absatz-, Rohstoff- und Arbeitsmärkte, um auf diese Weise zusätzliche Waren produzieren und verkaufen zu können (ebd.). Grundlegende Voraussetzung dafür ist neben der Abschaffung von Zollgrenzen erneut eine immer weitere Beschleunigung (und Preissenkung) der Zirkulation (Altvater 2016: 817f.; Harvey 1975: 12; Krumbein 2008: 56). Deutlich wird anhand der drei beschriebenen Strategien kapitalistischer Akkumulation, dass sie allesamt grundlegend auf der stetigen Verbesserung von Verkehrstechnologien basieren und somit als wichtige Triebkräfte andauernder Innovationen im Verkehrsbereich gesehen werden müssen oder, um es mit den Worten von Schwedes zusammenzufassen: „Dem subjektiven Drang einzelner Marktakteure zur ständigen Beschleunigung der Zirkulation durch die Weiterentwicklung von Transportsystemen, mit dem Ziel der Profitmaximierung, um im Marktwettbewerb gegenüber den Konkurrenten zu bestehen, liegt der dem kapitalistischen Produktionssystem immanente Wachstumszwang zugrunde“ (Schwedes 2017: 28).
Diese Argumentation darf allerdings nicht den Anschein erwecken, dass wir uns hiermit ausschließlich in den Sphären des Wirtschafts- bzw. Güterverkehrs bewegen, da auch der Transport von Arbeitskräften in diesen Zusammenhängen stets eine gewichtige Rolle spielt (Harvey 2007: 105; Schwedes 2017: 28). Schließlich ist aus einem kapitalistischen Blickwinkel auch die Arbeitskraft eine Ware, die „möglichst mobil und disponibel“ gemacht werden muss, um sie bestmöglich in den Produktionsprozess integrieren zu können (Läpple 1973: 98). Gleich vieler anderer Infrastruktursysteme muss also auch das Verkehrssystem und die mit ihm verbundene Beschleunigung als zentrale Grundlage einer arbeitsteilig organisierten, konkurrenzkapitalistischen Gesellschaft betrachtet werden (Mettler-Meibom 1993: 8f.; Zeller 1992: 60). Dabei ist die Notwendigkeit einer möglichst ubiquitären Verfügbarkeit von Arbeitskräften wiederum selbst Resultat der ökonomischen Rationalität einer fortschreitenden Konzentration von Investitionen. Bedingt durch die warenförmige Organisation des Bodens orientiert sich damit die Verortung verschiedener, und ehemals auch örtlich zusammenhängender, Lebensbereiche zunehmend entspre-
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chend ihrer jeweiligen Rentabilität. Während damit etwa Dienstleistungsbetriebe aufgrund vergleichsweise hoher Ertragsmöglichkeiten pro Flächeneinheit vermehrt in den gut erreichbaren Citybereichen6 angesiedelt werden, können kostengünstiger Wohnraum und wenig rentable Erholungsfunktionen zunehmend nur noch in der wenig entwickelten Peripherie realisiert werden (Weber 1982: 31ff., 113). Auch um Renditemöglichkeiten von Grund und Boden optimal auszuschöpfen, ist die Ökonomie also auf die Entwicklung leistungsfähigerer Verkehrssysteme angewiesen, da andernfalls eine räumliche Nähe an Arbeitskräften und Kundschaft nicht mehr garantiert werden kann. Zwar kann mangels empirischer Untersuchungen nicht endgültig festgelegt werden, ob nun individuelle Beschleunigungsdränge und soziale Differenzierung oder doch die Entwicklung von Verkehrstechnologien und -infrastrukturen als Ursprung des Prozesses gesehen werden müssen (vgl. Projektgruppe Mobilität 1999: 12). Dennoch kann insbesondere das Primat der Profitmaximierung durchaus als stichhaltige Begründung ins Feld geführt werden, warum die Entwicklung von immer schnelleren Verkehrssystemen von der Wirtschaft und durch den Staat in seiner Funktion als unterstützende Instanz wirtschaftlicher Entwicklung bis heute so vehement vorangetrieben wird. Im Resultat wird aus dieser weitgehenden Verfügbarkeit umfassender technischer Mobilitätsangebote dann jedoch ein weit über die ökonomische Sphäre hinaus bestehender, idealer Nährboden, der ideelle Beschleunigungszwänge auch außerhalb des Arbeitslebens real umsetzbar macht (vgl. Weber 1982: 128). Um der Gefahr einer – nicht zweifelsfrei belegbaren – eindeutigen Kausalität zu entgehen, kann hier mit Rammler (1999: 53) der ursprünglich von Max Weber geprägte Begriff der „Wahlverwandtschaft“ ins Feld geführt werden: Schließlich „harmonieren […] die Freiheitsvorstellungen der Moderne – und Freiheit bedeutet mit Kant […] auch die individuelle Freiheit zur räumlichen Bewegung – aufs trefflichste mit dem enormen Zirkulations- und damit Raumüberwindungsbedarf der neuen kapitalistischen Wirtschaftsform“. Genau diese Freiheitsvorstellungen sind es schließlich, in deren Folge neue Verkehrsmittel – sobald verfüg- und nutzbar – geradezu eine Sogwirkung entfalten, weil Möglichkeiten und Angebote, die sich zuvor noch außerhalb der individuellen Bewegungsräume befanden, nun nicht nur greifbar sind, sondern auch wahrgenommen werden (vgl. Rosenbaum 2016: 546). Holz-Rau (2018: 118f.) und andere bezeichnen diesen Prozess darum trefflich als Verkehrsspirale. Umgekehrt bedeutet dies zudem, dass beispielsweise das häufig thematisierte Phänomen des Zusteuerns auf den Verkehrskollaps letztendlich tief in 6 Verstanden als Stadtkerne großer Städte, die vor allem von tertiären Wirtschaftsbetrieben, Konsumeinrichtungen und spezialisierte Versorgungsfunktionen geprägt sind (Leser 2005: 137f.). 15
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den kulturellen Werten und ökonomischen Mechanismen der modernen westlichen Gesellschaft verankert ist, folglich im Rahmen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen schlichtweg nicht langfristig verhindert werden kann.
2.1.3 Automobilität zwischen Freiheit und Zwang Zumindest auf einer regionalen räumlichen Maßstabsebene lässt sich heute das Automobil als (gegenwärtige) Speerspitze der Verkehrsspirale moderner Gesellschaften identifizieren.7 Deutlich wird dies vor allem in der Abgrenzung zum Schienenverkehr, der zuvor über lange Zeit das effektivste technische Beschleunigungsmittel dargestellte. Denn auch dieser bewirkte bereits eine weitreichende Aufweitung individueller Möglichkeitsräume. Gleichzeitig stand er jedoch schon zu seiner Blütezeit häufig in der Kritik, weil dessen Transportangebot durch eine vorgegebene Taktung, starre, selektive Streckenführungen und den Zwang zum Reisen im Kollektiv als fremdbestimmt wahrgenommen wurde (Sachs 1984: 110ff.). Demgegenüber ermöglichte das Automobil nicht nur höhere Durchschnittsgeschwindigkeiten, sondern zudem eine räumlich flexible, zeitlich autonome und sozial unabhängige Mobilität sowie die Möglichkeit, sowohl alleine zu reisen, als auch mehrere Personen zu transportieren (Burkart 1994: 220; Heine et al. 2001: 146f.). Obgleich der individuelle Möglichkeitsraum bereits durch Eisen- und Straßenbahn weitreichend erweitert wurde – wenn auch nur in einer selektiven Linearität entlang vorbestimmter Routen – erfuhr er durch das Beschleunigungsinstrument Automobil eine wesentlich umfangreichere Ausdehnung, die zugleich kaum noch hierarchisch vorgegeben wurde. Allerdings war das Automobil aufgrund hoher Anschaffungskosten und fehlender Infrastrukturen noch lange Zeit nach seiner Einführung kaum massentauglich (Sachs 1984: 23ff.). Erst mit der Einführung des fordistischen Produktionssystems in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg änderte sich dies auch in Deutschland auf eklatante Weise: Die Automobilbranche wurde nicht nur zu einer Schlüsselindustrie der neu entwickelten Massenproduktion, auch der strukturell eng damit verknüpfte Massenkonsum manifestierte sich neben dem Eigenheim 7 Zwar vertritt etwa Kutter (2007: 256) die Meinung, dass das Automobil als „individualisiertes System“ nicht in eine evolutionäre Reihenfolge mit der Eisenbahn und anderen „geschlossenen Systemen“ integriert werden könne, die nur eine gezielt-vorbestimmte Verbindungsfunktion erfüllen. Wird allerdings mit einbezogen, dass auch die nichtmotorisierten vorindustriellen Verkehrsmittel als „individualisierte Systeme“ betrachtet werden müssten, ist das Bild einer evolutionären Entwicklung hier durchaus nachvollziehbar.
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zentral im Automobileigentum (Häußermann et al. 2008: 142ff.; Holm 2012: 99f.). Vor allem durch regulationstheoretische Ansätze wurde dabei deutlich herausgearbeitet, wie mittels mechanisierter und standardisierter Arbeitsabläufe einerseits die Produktionskapazität gesteigert wurde, die neuen Produkte gleichzeitig aber auch in den Fabrikarbeiter*innen selbst einen neuen großen Kundenstamm fanden, da sie durch Tarifverträge und Sozialleistungen auf ein höheres Einkommen zurückgreifen konnten (Holm 2012: 99f.; Paterson 2007: 106ff.). Auch hier waren es folglich erst ökonomische Optimierungsprozesse, die das Verkehrsmittel Automobil erschwinglich machten und die Massenmotorisierung der letzten Jahrzehnte begründeten. Eine zentrale Erkenntnis der Regulationstheorie liegt zudem darin, dass sie die grundlegende Aufgabe des Staatsapperats in einer auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen wirkenden, strukturierenden, regulierende und unterstützenden Kraft kapitalistischen Wachstumsstrebens identifiziert. Zweck des Staats ist es damit, mittels institutioneller Formen und Normen maßgeblich zur Stabilisierung des jeweiligen Akkumulationsregimes beizutragen (Barthelt 1994: 65ff.). Demnach es naheliegend, dass der Staat, bedingt durch die gewichtige Rolle des Automobils im fordistischen Wachstumssystem8 , zu dieser Zeit aktiv dazu beitrug, vorrangig die Zunahme automobiler Mobilität zu fördern. Abgesehen von verschiedenen subtileren Fördermaßnahmen zeigte sich dies vor allem durch einen massiven Straßen(aus)bau, der explizit an die Anforderungen automobiler Fortbewegung angepasst wurde, aber auch durch steuerliche Begünstigungen sowie die Reduzierung von Ausgaben für alternative und kollektive Verkehrsträger (Paterson 2007: 114ff.).9 Nicht zuletzt lässt sich noch bis in die jüngste Zeit hinein die „stoffliche“ Macht der Automobilkonzerne – sei es nun über deren prozentualen Anteil an der nationalen Wirtschaftsleistung oder die damit verbundenen Arbeitsplätze – als
8 Der Begriff des Fordismus bezieht sich im Rahmen dieser Arbeit nicht nur auf die durch Henry Ford geprägte ökonomische Produktionsweise um Massenproduktion, steigende Realeinkommen und Massenkonsum. Mit Bezug auf die Regulationstheorie steht der Begriff darüber hinaus für das sogenannte fordistische Akkumulationsregime, eine durch relative Stabilität gekennzeichnete historische Phase kapitalistischer Entwicklung zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den 1970er Jahren (z. B. Barthelt 1994). 9 Andere Autor*innen verwenden hier zwar gerne etwas schwächere Formulierungen, so etwa Holz-Rau (2018: 118), der schreibt „dieser Prozess [einer massenhaften Zunahme automobiler Fortbewegung] wurde planerisch und politisch begleitet“. Angesichts der umfangreichen Maßnahmen, die dieser „Begleitung“ zugeordnet werden können, sollte dem Staat hier jedoch durchaus und explizit eine maßgebliche Rolle zugeschrieben werden. 17
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zentrales Hindernis identifizieren, auf politischer Ebene eine Abkehr von automobilzentrierten Verkehrskonzepten zu forcieren (Wolf 2007).10 Im Kontext der beschriebenen kulturellen und materiellen Beschleunigungszwänge implizierten neue Raumüberwindungsmöglichkeiten durch das Automobil – wie auch schon andere Verkehrsmittel zuvor – verschiedene Anpassungsprozesse, die sich bis heute fest in das Alltagsleben eingeschrieben haben. Dies manifestierte sich erstens auf einer sozialen Ebene. So wurde der Rückgriff auf die automobile Fortbewegung schnell zu einer sozialen Notwendigkeit in einer dem Drang zur Beschleunigung behafteten Gesellschaft: Das Automobil avancierte zur „Grundausstattung eines vollwertigen Gesellschaftsmitglieds“ und bestätigt bis heute aktiv eine „Konformität mit einer mobilen, also einer schnellen und beweglichen Lebensweise“ (Burkart 1994: 224).11 Selbst soziale Netzwerke wurden damit zunehmend auf Basis automobiler Fortbewegung geknüpft. Sie wurden an die nun größeren Aktionsräume angepasst, sind heute häufig überregional gestreut und können damit kaum mehr ohne das Automobil und dessen Rund-um-die-Uhr-Flexibilität effektiv gepflegt werden (Heine et al. 2001: 128; Sheller und Urry 2000: 743). Zugespitzt ist folglich die Fähigkeit, technische Raumüberwindungsmöglichkeiten optimal auszuschöpfen, im Sinne von „Mobilitätskapital“ (Canzler 2012), „Netzwerk-Kapital“ 10 Einher mit der Massenproduktion ging auch eine Diversifizierung des Produktes anhand ästhetischer Aspekte, wie Form und Farbe, oder mittels optionaler technischer Zusatzfunktionen, die allesamt das Ziel verfolgen, die Ware Automobil trotz zunehmender Marktsättigung auch weiterhin in großen Mengen absetzen zu können. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Konsumentscheidung vom originären Gebrauchswert der individuellen, flexiblen und schnellen Fortbewegung losgelöst wird, stattdessen besondere ästhetische Aspekte und Ausstattungsmerkmale zur Grundlage für die Kauf entscheidung werden und damit ein emotionales Verhältnis zu einer Ware entwickelt wird (Krämer-Badoni et al. 1971: 90ff.). Vor diesem Hintergrund ist die Wirkmächtigkeit einer solchen Emotionalitätsthese, wonach die Dominanz automobiler Fortbewegung auf die emotionale Bindung an das eigene Fahrzeug zurückgeführt wird (vgl. exem plarisch Sachs 1984), durchaus nachvollziehbar. Schließlich ist der damit verbundene Wunsch nach sozialer Distinktion explizit an das Konsumobjekt Automobil geknüpft. Gerade mit Blick auf die beschriebenen Beschleunigungszwänge sollte allerdings vor allem der originäre Gebrauchswert des Automobils als ausschlaggebender Grund der Entscheidung für dieses Raumüberwindungsinstrument betrachtet werden. 11 Tatsächlich lassen sich neben dem Beschleunigungsaspekt noch einige andere gesellschaftliche Normen identifizieren, die auf die Dominanz des Verkehrsmittels Automobil verweisen: Einerseits das Streben nach Privatheit und Sicherheit, bei dem das Auto als privater Schutzort im öffentlichen Raum und als Erfüllungsgehilfe des Wunsches nach Wohnen im Grünen fungiert, andererseits Wünsche nach sozialer Distinktion und individueller Entfaltung, welche durch die Ware Automobil besonders gut verwirklicht werden können (Heine et al. 2001: 96ff.; zur Distinktion vgl. auch Burkart 1994: 227ff.).
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(2013; Urry 2012) oder „Motility“ (Kaufmann et al. 2004) eine gewichtige Grundlage ökonomisch erfolgreicher Lebensführung und ein zentraler Schalthebel sozialer Partizipationsmöglichkeiten – im Umkehrschluss aber zugleich ein bedeutendes Kriterium sozialer Ungleichheit (vgl. auch Burkart 1994: 227f.). Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass neue Raumüberwindungsmöglichkeiten stets mit dem sozialen Druck verknüpft sind, diese auch zu nutzen. „Technische Möglichkeiten zum beschleunigten Zeit- und Raumgewinn erzeugen strukturelle Zwänge und normativen Druck, Zeit und Raum schneller zu überwinden, einen Zwang zur Schnelligkeit, zur Beschleunigung sozialen Handelns“ (Burkart 1994: 225).
Zweitens lassen sich neben diesen als normativ charakterisierbaren Zwängen zur automobilen Fortbewegung auch räumliche Zwänge identifizieren, die eine regelmäßige Nutzung des Automobils heute vielerorts unumgänglich erscheinen lassen. So galt insbesondere im Städtebau das Automobil als prädestiniertes Objekt zur konsequenten Fortschreibung von bodenpreisbedingten raumstrukturellen Entmischungsprozessen. Zwar waren es Ende des 19. Jahrhunderts zuerst noch elektrische Straßenbahnen und Vorortzüge, die in den von Umweltbelastungen und Raumnot geplagten Industriestädten den Bau peripherer Arbeiterquartiere und Industrieareale und damit eine zunehmende Entfernung zwischen Arbeits- und Wohnstädten erst ermöglichten. Denn erst durch den Ausbau von Massenverkehrsmittel konnte der damit einhergehende Berufsverkehr effektiv abgewickelt werden (Läpple 1997: 199). Letztendlich war es aber die Massendurchsetzung des Automobils, die eine umfassende Entmischung von Lebensfunktionen über die Relation zwischen Wohn- und Arbeitsort hinaus begründete. Denn nun stand auch einer ökonomischen Rationalisierung von Ausbildungsorten, Behörden, Erholungs-, Versorgungs- und Konsumarealen durch räumliche Konzentrationsprozesse nichts mehr im Wege (Linder et al. 1975: 38ff.; Zeller 1992: 62f.). Mittels automobiler Fortbewegung stellte eine weiter zunehmende Funktionstrennung folglich kein großes Problem mehr dar. So ist heute nicht nur nahezu jeder Ort einer Region jederzeit mit dem Automobil erreichbar, zugleich führt die mit dem Automobil verbundene Aufweitung individueller Möglichkeitsräume zu einer Emanzipation individueller Raumüberwindung von raumstrukturellen Gegebenheiten – die individuelle Zielwahl wird tendenziell weniger an die räumliche Nähe von Aktivitäten geknüpft (Schmitz 2001: 187ff.). Gleichzeitig geht mit einer weiträumigen Funktionstrennung immer auch ein räumlicher Zwang zu automobiler Mobilität einher. Denn die daraus resultierenden Distanzen alltäglicher Wege können weder zu Fuß oder mit dem Fahrrad in einem als vertretbar erachteten Zeitraum zurückgelegt werden, noch ist der öffentliche Verkehr hier in der Lage, 19
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in einem politisch akzeptierten Maß wirtschaftlich zu operieren (Helms 1971: 11; Läpple 2005: 656, 1997: 206; Linder et al. 1975: 39; Zeller 1992: 62).12 Gerade beim öffentlichen Nahverkehr führt dieses Zusammenspiel zwischen zunehmender Individualisierung alltäglicher Handlungsräume, anhaltender Entmischung von Lebens- und Funktionsräumen und daraus resultierender diffuser Verkehrsströme zu weitreichenden Finanzierungsproblemen. In deren Folge ist der öffentliche Nahverkehr heute nicht mehr in der Lage, den Nutzenden eine ähnliche Bedienqualität zu gewährleisten wie durch das Automobil (Reinhardt 2012: 449). Folglich hat sich das Auto im Verlauf der letzten Jahrzehnte tief „in die räumliche Gestalt gegenwärtiger gesellschaftlicher Ordnung eingeschrieben“ (Manderscheid 2014: 12). Naheliegend also, dass sich die alltäglich-außerhäusliche Fortbewegung heute auch tatsächlich größtenteils auf das Automobil konzentriert.13 Zumal anhaltende Flexibilisierungsprozesse der Produktion und die beständige Segmentierung von Arbeitsmärkten eine ungebrochene Fragmentierung und Polarisierung städtischer Gesellschaften bedingen, die wiederum selbst zu einer stetig fortschreitenden Individualisierung von Handlungsräumen beitragen. Infolge dieser stetigen Aufweitung alltäglicher Handlungsräume wird dann im Umkehrschluss und in Ermangelung effektiver Alternativen zum Automobileigentum eine gesellschaftsund marktkonform erfolgreiche Alltagsgestaltung immer stärker durch individuelle Kaufkraft vordeterminiert (Ronneberger und Schmid 1995: 375). Besonders deutlich zeigt sich diese Dominanz der automobilen Raumüberwindung auch anhand der Entwicklung des Freizeitverkehrs. So verwiesen schon Krämer12 Hierzu zeigt allerdings Bahrenberg (1999) anhand empirischer Daten zur Region Bremen nachdrücklich auf, dass sich eine zunehmende Nutzung des Automobils zumindest im Berufsverkehr tatsächlich nur zu einem geringen Teil durch veränderte raumstrukturelle Gegebenheiten erklären lässt. Vielmehr werden ähnlich lange Berufswege nun verstärkt mit schnelleren Verkehrsmitteln zurückgelegt. Inwieweit aus dieser zeitlichen Verkürzung des Arbeitsweges längere Wegstrecken zu anderen Verkehrszwecken resultieren, bleibt bei Bahrenberg allerdings unbeantwortet. Zudem lässt sich anhand der von Bahrenberg verwendeten Daten nicht ableiten, inwieweit die gleiche Distanz auf dem Weg zur Arbeit sich auf die gleichen Arbeitswege bezieht, oder ob nicht Wege nun auf neuen Relationen zurückgelegt werden, auf denen keine Alternative, etwa durch eine entsprechende ÖPNV-Verbindung vorhanden ist. Denn dann wäre die Frage eines räumlichen Zwangs weiterhin berechtigt. 13 Laut aktuellen Zahlen werden deutschlandweit im Mittel 57 % aller Wege mit dem Automobil zurückgelegt, davon ca. drei Viertel der Wege als Fahrer*in und leglich ein Viertel als Mitfahrer*in. Gleichzeitig bestehen hier allerdings große regionale Unterschiede: Während die Automobilnutzung in großen Städten durchschnittlich wesentlich geringer ist, in Metropolen sogar ‚nur‘ bei 38 % aller Wege auf das Automobil zurückgegriffen wird, steigt dieser Wert vor allem mit abnehmender Gemeindegröße sowohl im suburbanen, als auch im ländlichen Raum merklich an (Nobis und Kuhnimhof 2018: 47).
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Badoni et al. (1971: 17; vgl. auch Topp 2007: 266) darauf, dass der Freizeitverkehr erst infolge der aufkommenden Nutzung des Automobils vermehrt motorisiert gestaltet wurde. Ganz ähnlich schließen Heine et al. (2001: 125f.) aus ihrer Feststellung, wonach der Freizeitverkehr zu großen Teilen mit dem Auto zurückgelegt wird, dass hier in besonderem Maße individuelle Ansprüche auf Lebensqualität mit einer „Raumvergessenheit“ im Sinne einer maximal möglichen Ausnutzung technischer Raumüberwindungsinstrumente korrelieren. Gerade in Abgrenzung zum Berufs- und Einkaufsverkehr folgt damit insbesondere der Freizeitverkehr heute immer weniger „siedlungsstrukturellen Mustern und Regelmäßigkeiten“ (Motzkus 2002: 116). Laut Lanzendorf (2002: 21, 1998: 571ff.) lassen sich hier zunächst durchaus einzelne Elemente der heterogenen ‚Sammelkategorie‘ Freizeitverkehr identifizieren, die tendenziell eher konzentrischen Mustern entsprechen. Beispielsweise das Aufsuchen von Freizeitinfrastrukturen, die oft in relativ gut erschlossenen Kernstädten verortet sind und darum auch vergleichsweise häufig mittels öffentlicher Verkehrsmittel angesteuert werden. Dagegen findet sich jedoch in der Pflege sozialer Kontakte ein weiterer beträchtlicher Anteil des Freizeitverkehrs, der sich durch eine besonders hohe Diversität der Richtungen und Relationen charakterisieren lässt. Tatsächlich werden die daraus resultierenden Wege in Ermangelung entsprechender ÖPNV-Angebote überdurchschnittlich oft mit dem eigenen Automobil zurückgelegt. Es ist also insbesondere der Zusammenhang aus einer räumlich dispersen Ausprägung von Wegen zwecks sozialer Interaktionen, und der seit Jahren beobachtbaren prozentualen Zunahme von Freizeitwegen (Infas und DLR 2010: 2,4), der die Unzulänglichkeiten der überwiegend auf Zentren ausgerichteten öffentlichen Verkehrsinfrastrukturen für den Freizeitverkehr besonders deutlich offenbart. Zusammenfassend stellt das Automobil heute einerseits die bestmögliche technische Voraussetzung zur Teilhabe an einer funktional, sozial und räumlich immer ausdifferenzierteren Alltagswelt dar (vgl. Burkart 1994: 227; Rosenbaum 2016: 548). Andererseits haben sich aber soziale Normen und Praktiken, wie auch regionale Raumstrukturen – u. a. mittels entsprechender Gesetze und Institutionen – bis heute so umfassend an das Automobil und dessen flexible Nutzungsmöglichkeit angepasst, dass eine automobile Fortbewegung gegenwärtig als geradezu imperative Voraussetzung für eine gesellschaftliche Teilhabe angesehen wird (vgl. auch Krämer-Badoni und Kuhm 2000: 168; Kutter 2007: 264, 269; Manderscheid 2014: 15; Sheller und Urry 2000: 742f.; Urry 2004: 28). Aufgrund dieser Verquickung zwischen kapitalistischem Wachstumssystem, individueller Konsumption und kulturellen Idealen wird das Automobil in den Sozialwissenschaften häufig als sozialstrukturell eingebettetes „Automobilitätssys21
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tem“14 (Urry 2004), „Großtechnisches System“ (Krämer-Badoni und Kuhm 2000), als „hegemoniales Mobilitätsdispositiv“ (Manderscheid 2014) oder schlichtweg als „konstitutives Merkmal moderner Gesellschaften“ (Projektgruppe Mobilität 1999) beschrieben. Obwohl diese Analysen allesamt sinnvoll und folgerichtig erscheinen, lässt deren einseitige Konzentration auf das Automobil gleichzeitig offen, inwieweit weitere Verkehrstechnologien als Bestandteile der gegenwärtig automobildominierten Ausprägung des Beschleunigungsprozesses gelten können. Denn auch wenn das Artefakt Auto als Ursache vielzähliger ökologischer und sozialer Probleme treffend als „Frankenstein-created Monster“ (Sheller und Urry 2000: 744) bezeichnet werden kann, ist es doch in erster Linie eine besonders ausgeprägte Materialisierung eines dahinterliegenden Beschleunigungsprozesses, wie etwa Manderscheid (2014: 23ff.) im Rahmen ihrer Überlegungen zu einer zeitnahen Ablösung des Automobilitätsdispositivs anmerkt. In der Konsequenz führen diese Überlegungen allerdings auch zu der Frage, wie und in welchem Umfang denn der heutige öffentliche Verkehr als integraler Bestandteil eines solchen Beschleunigungsprozesses betrachtet werden kann bzw. sollte.
2.1.4 Politik des öffentlichen Nahverkehrs im Kontext Wird nun der Blick auf den öffentlichen Personennahverkehr und die damit verknüpfte Politik gerichtet, verweisen prominente Debatten neben Umweltaspekten vor allem auf den gesellschaftspolitischen Zweck eines flächendeckenden Grundangebots für Mobilität im Rahmen der – eng mit dem Begriff des Wohlfahrtsstaats verknüpften – staatlich organisierten Daseinsvorsorge (z. B. Barth 2000: 34ff.; Canzler und Knie 2009; Gegner und Schwedes 2014; Neu 2009).15 Dabei wird dem öffentlichen Nahverkehr eine wichtige Funktion im Rahmen der Sozial- und Raumpolitik zugewiesen: Durch ein flächendeckendes und möglichst niedrigschwelliges 14 Bei direkten Zitaten englischsprachiger Quellen in deutscher Sprache handelt es sich stets um eigene Übersetzungen. 15 Allerdings weisen beispielsweise Gegner und Schwedes (2014) darauf hin, dass hier häufig auch in Wissenschaft und Politik keine stringente Trennung zwischen Fürsorge und Vorsorge vorgenommen wird. Tatsächlich handelt es sich bei der Daseinsvorsorge streng genommen nicht um eine Sozialpolitik. Denn anders als bei klassischen Fürsorgemaßnahmen, wie der Arbeitslosen- oder Gesundheitsversicherung, geht es bei der Daseinsvorsorge weniger um eine Absicherung gegen prekäre ökonomische Lagen, sondern zuallererst um die weitere Gewährleistung des allgemeinen Funktionierens der Gesellschaft trotz großer Verwerfungen durch Industrialisierung und damit zusammenhängender Urbanisierung.
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Angebot an öffentlichen Verkehrsdienstleistungen soll eine allgemeine Versorgungssicherheit mit dem Ziel national gleichwertiger Lebensverhältnisse gewährleistet werden. Allerdings wird die daraus abgeleitete gesellschaftliche Notwendigkeit des öffentlichen Nahverkehrs seit den 1970er Jahren infolge der Krise des deutschen Wohlfahrtsstaats zunehmend in Frage gestellt (Ambrosius 2016: 454f.; vgl. auch Canzler und Knie 2009; Gegner und Schwedes 2014). Wird der öffentliche Nahverkehr nun ausschließlich unter diesem Aspekt einer flächendeckenden Grundversorgung betrachtet, fällt es zunächst schwer, etwa den Quartiers- oder Vorortbus zugleich in ein gesellschaftliches Beschleunigungsparadigma zu integrieren. Hilfreich ist an dieser Stelle eine weitere Zuschreibung des öffentlichen Nahverkehrs, wonach dieser dazu dient „eine hohe Massenmobilität zu sichern, Straßen zu entlasten und einem Verkehrsinfarkt entgegen zu wirken“ (Ambrosius 2016: 465; vgl. auch Köstlin und Bartsch 1987: 9; Monheim und Monheim-Dandorfer 1990: 358f.; Schmucki 2001: 257f.). Damit verschiebt sich der Blick von dem kleinen Überland-, Quartiers- oder Vorortbus hin zu den großen Systemen des öffentlichen Nahverkehrs: Städtische und regionale Schnellbahnsysteme, in deren Kontext Quartiers-, Vorort- und Überlandbusse dann höchstens noch als Zubringersystem Erwähnung finden. Laut gängiger wissenschaftlicher Meinung müssen diese Schnellbahnsysteme als Reaktion auf die ersten folgenschweren negativen Begleiterscheinungen der räumlichen Freiheitsversprechen des Automobils betrachtet werden: die Verkehrsstaus. Um dem Automobilverkehr größere Kapazitäten auf der Straße bereitzustellen, sollten dabei klassisch straßengeführte Straßenbahnsysteme in unterirdische oder zumindest auf eigenem Gleisbett verlaufende Schnellbahnnetze umgewandelt werden (z. B. Köstlin und Bartsch 1987: 9; Monheim und Monheim-Dandorfer 1990: 358f.; Schmucki 2001: 257f.). Aufgrund der damit vollzogenen Beschleunigung vermochten es diese Systeme zumindest auf den ersten Blick erneut, zur Konkurrenz des Automobils zu avancieren – im Gegensatz zu kleinteiligen Busangeboten, die aufgrund ihrer zumeist geringen Geschwindigkeiten tatsächlich eher dem entsprechen, was allgemein unter Daseinsvorsorge verstanden wird. Zumindest der städtische Schnellbahnverkehr kann also durchaus als Bestandteil des Beschleunigungssystems betrachtet werden, nicht zuletzt weil er sich geradezu lückenlos in das Geschwindigkeitsdiktum der autogerechten Stadt integrieren ließ (vgl. Schmucki 2001: 126f.).16 Dabei allerdings von einem tatsächlich bestehenden Konkurrenzverhältnis zwischen, oder zumindest einem Nebeneinander von Automobil und öffentlichem Nahverkehr auszugehen (vgl. z. B. Angerer und Hadler: 25; Deiters 2001: 68; Gir16 Im öffentlichen Fernverkehr kann als entsprechendes Pendant der Hochgeschwindigkeitszug betrachtet werden (vgl. Planka.nu 2015: 62f.). 23
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nau et al. 2000: 18, 410), greift gleichwohl zu kurz. Schon Linder (1972: 219) merkt beispielsweise an: „Anmarschwege, gebrochener Verkehr (Umsteigen) mit Wartezeiten, psychologische Faktoren (passives Gefahren werden und mannigfaltige Unterordnungen im öffentlichen Verkehrsmittel gegenüber Autobesitz, Autofahren als aktive Betätigung in einem Bereich bloß funktionaler Herrschaft) sind nicht zu beseitigende Handicaps im heutigen kollektiven Verkehr“. Zwar kann dem entgegnet werden, dass der öffentliche Verkehr im Umkehrschluss vom Zwang des selbstständigaktiven Fahrens befreit und somit Zeitfenster für anderweitige Beschäftigungen eröffnet. Dennoch können grundlegende Charakteristika des Beschleunigungssystems Automobil, sprich Selbstbestimmung, räumliche und zeitliche Flexibilität – punktuell abgesehen von der Geschwindigkeit – auch durch einen beschleunigten öffentlichen Nahverkehr nicht oder nur ansatzweise erfüllt werden. Zudem erscheint bei genauerer Betrachtung die oben aufgegriffene These, wonach durch die Herausnahme des öffentlichen Nahverkehrs aus dem Straßenraum seit den späten 1960er Jahren vor allem die Straßenkapazitäten für den Automobilverkehr erhöht werden sollten, als zu pauschal und wenig differenziert. Denn gerade wenn ganz allgemein davon ausgegangen wird, dass die staatliche Förderung von Verkehrsinfrastrukturen in erster Linie den Zweck verfolgt, die Zirkulationsgeschwindigkeit von Waren und Arbeitskräften zu erhöhen (vgl. Kap. 2.1.2), macht es wenig Sinn davon auszugehen, dass es alleine darum ging, die Geschwindigkeit des Automobilverkehrs zu erhöhen. Schließlich wurde erstens auch der öffentliche Nahverkehr auf diesen Relationen beschleunigt. Und zweitens ist der Stau zwar eine Gefahr für das automobile Versprechen von Geschwindigkeit, zeitlicher und räumlicher Autonomie. Damit einher geht allerdings auch der aus struktureller Perspektive weitaus schwerwiegendere Umstand der daraus resultierenden Erreichbarkeitsprobleme von Wirtschaftsakteuren. Wenn also durch die Beschleunigung des öffentlichen Nahverkehrs, bei gleichzeitiger Herausnahme aus der Fahrbahn des Individualverkehrs, die allgemeine Beförderungskapazität und -geschwindigkeit auf einer Relation erhöht wird, erscheint der Zweck der Maßnahme weniger die Einhaltung des Freiheitsversprechens gegenüber dem automobilisierten Individuum zu sein. Naheliegender wäre es folglich, hier von einer Einhaltung allgemeiner Beschleunigungsversprechen auszugehen. Konsequenterweise muss damit die Frage nach einem Konkurrenzverhältnis zwischen verschiedenen Verkehrssystemen als Scheinargument betrachtet werden. Denn im Endeffekt handelt es sich bei einer auf diese Weise ausgeführten Beschleunigung des Nahverkehrs in erster Linie um eine allgemeine Erhöhung der Geschwindigkeit und Transportkapazität auf einer bestimmten Relation: Von Engpässen – also Staus – betroffene Infrastrukturen werden durch Schnellbahnen ergänzt, die nun aber durch ihre Herausnahme aus dem Straßenraum eben nicht
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nur die Kapazitäten für den Automobilverkehr erhöhen, sondern darüber hinaus auch zu einer allgemeinen Steigerung der Transportleistung auf der jeweiligen Relation beitragen. Durch eine auf diese Weise erfolgte Modernisierung des öffentlichen Nahverkehrs wird zudem auch das automobile Verkehrssystem in Gänze nicht in Frage gestellt. Denn wo keine Engpässe auf der Fahrbahn bestehen, stellt der öffentliche Nahverkehr nur selten ein in der Geschwindigkeit vergleichbares Alternativangebot dar. Stützen lässt sich diese These beispielsweise durch das 1968 beschlossene „Verkehrspolitische Programm der Bundesregierung“, in dem erstmals Bundesmittel zur Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs bereitgestellt wurden. Zweck dieses Programmes war nämlich nicht nur eine Vergrößerung des Verkehrsraums für den Autoverkehr. Denn mit dieser Entlastung der Straße wurde vor allem bezweckt, die „Sicherheit und Funktion des Verkehrs sowie der Mobilität der Bevölkerung“ im Allgemeinen zu gewährleisten (VÖV 1968: 56). Hierzu stellt zehn Jahre später sogar eine vom Bauwesen und Städtebau (1978) selbst herausgegebene Studie zu den Zusammenhängen von Schnellbahn und Siedlungsstruktur fest, dass eine Einführung radialer Schnellbahnnetze sich zumindest mittelfristig kaum entlastend auf die Verkehrssituation des Individualverkehrs auswirken würde. Kurzfristige Entlastungen würden stattdessen nach einer gewissen Zeit durch anwachsende Zuströme ins Zentrum kompensiert, da sich durch die Schnellbahn auch dessen allgemeine Erreichbarkeit verbessern würde. Als Teil des Beschleunigungsparadigmas können öffentliche Verkehrsmittel also vor allem dann betrachtet werden, wenn diese gezielt auf Relationen mit einem stockenden Verkehrsfluss eine selektive Beschleunigung erfahren, um dort zumindest einen Teil des Individualverkehrs auf eine vergleichbar schnelle Alternative zu verlagern.17 Der Beitrag des öffentlichen Verkehrs zur Aufrechterhaltung des Beschleunigungssystems ist an dieser Stelle also geradezu grundlegend. Besonders passend erscheint in diesem Zusammenhang auch Zellers (1992: 304) These, „dass sich mit dem blossen [sic] Ausbau des öffentlichen Verkehrs kein Umsteigen vom Auto bewirken lässt. Jede Verbesserung eines Verkehrssystems, auch jene des öffentlichen Verkehrs, führt neben geringfügigen Substitutionen vor allem zu Neuverkehr“. 17 Eine vergleichbare Argumentation findet sich auch bei Klewe (1996) hinsichtlich neuer integrierter städtischer Verkehrsleitsysteme, die zwar auch den öffentlichen Verkehr über Park and Ride Stellplätze und spezifische Informationsangebote integrieren. Denen er aber zugleich unterstellt, den öffentlichen Verkehr hier nur soweit zu integrieren, wie er bei stockendem oder stoppendem Individualverkehrsfluss eine effektive Alternative zur schnellen Erreichbarkeit des Stadtzentrums bietet. Auch hier kann also von einer Weiterentwicklung des öffentlichen Verkehrs zu einer tatsächlichen Alternative zum Automobilverkehr nicht die Rede sein (vgl. auch Canzler und Knie 1998: 84ff.). 25
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Insbesondere der beschleunigte radiale städtische Schnellbahnverkehr darf aus einer strukturorientierten Perspektive folglich explizit nicht als antagonistisches Konkurrenzsystem zum motorisierten Individualverkehr betrachtet werden, wie in der Literatur oftmals behauptet. Vielmehr entspricht seine Funktion hier einer Art Druckventil, dessen primäre Aufgabe darin besteht, eine durch das Automobil selbst erzeugte Verkehrskrise abzuwenden, die weitere Funktionsfähigkeit des Verkehrssystems zu garantieren und darüber hinaus noch dessen Gesamtkapazität zu erhöhen. Wenn aber Schnellbahnsysteme – die zumeist als Rückgrat des städtischen öffentlichen Verkehrs gelten – ein wichtiges Puzzelteil des aktuellen Beschleunigungssystems sind, gleichzeitig langsamere Busse und klassische Straßenbahnen hinsichtlich ihrer Geschwindigkeit kaum eine adäquate Alternative darstellen, dann stellt sich die Frage, ob hier mit Adorno (1951/1994: 42) nicht unreflektiert gefordert ein „richtiges Leben im Falschen“ weiter auszubauen? Zwar darf dabei nicht angezweifelt werden, dass Mobilität in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung eine grundlegende Notwendigkeit ist, um in einer arbeitsteilig, sozial und räumlich differenzierten Gesellschaft nicht marginalisiert zu werden. Angesichts der offensichtlichen Schwächen im ÖPNV-Angebot legen jedoch die obigen Ausführungen nahe, dass es für eine grundlegende Kritik des öffentlichen Nahverkehrs an erster Stelle darum gehen muss, die politischen Motivationen, die sich hinter den räumlichen Strukturen des öffentlichen Verkehrs verbergen, näher zu ergründen, um damit das tatsächliche Verhältnis des öffentlichen Nahverkehrs zum automobilen Beschleunigungssystem offenzulegen. Es benötigt also zunächst ein fundiertes Verständnis von Form und Funktion der bestehenden strukturellen Einbettung öffentlicher Verkehrsmittel, um begründet weitreichende und neue Perspektiven für eine umfassende Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs zu eröffnen.18 Zentral muss es damit um die Frage gehen, wie sich diese theoretisch hergeleiteten Zusammenhänge zwischen dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, allgemeinen Beschleunigungsprozessen und Erreichbarkeitsanforderungen der Wirtschaft innerhalb der politischen Entscheidungspraxis empirisch nachweisen lassen. Wichtig ist dafür die Erkenntnis, dass Verkehrspolitik bis heute nie eine reine Politik des Verkehrs gewesen ist, sondern schon immer auch verschiedene andere 18 In eine ähnliche Kerbe schlägt auch Blümels (2004: 9ff.) Kritik, wonach Art und Umfang des öffentlichen Angebots gerade nicht den Ansprüchen und Wünschen der Nutzenden selbst entsprechen, sondern zuallererst den Vorgaben der jeweiligen Aufgabenträger, also der Rathäuser, Ministerien und Verkehrsverbünde. Welche Strecken und Wegbeziehungen relevant und angebotswürdig sind, entscheiden also nicht die Nutzenden selbst, sondern wird primär in der Politik verhandelt und gerät somit zum Spielball politischer Interessenslagen und Prioritäten.
2.2 Ansatzpunkte – zur Kritik des städtischen öffentlichen Nahverkehrs
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(gesellschafts‑) politische Ziele verfolgt hat (vgl. Schwedes 2016). Es erscheint also durchaus angebracht, hier nicht ausschließlich und strikt innerhalb rein verkehrspolitisch geführter Debatten zu verharren, sondern auch weitere politische Kontexte zu berücksichtigen. Unterstrichen wird die aktuelle Brisanz dieser Frage nicht zuletzt durch den in Deutschland und angrenzenden Staaten rezent feststellbare Bauboom von von Stadt-, U- und (vorwiegend auf eigenem Bahnkörper geführten) Straßenbahnsystemen (vgl. Beckmann und Metzmacher 2016). Denn auch deren konkrete politische Motivation wurde abseits einer Rezeption des Postulats einer allgemeinen Befähigung zur Mobilität bisher kaum ergründet. Damit kann eine entsprechende Herangehensweise maßgeblich dazu beitragen, die schon viele Jahre im Raum stehende Frage zu beantworten, warum die von der Verkehrs- und Mobilitätsforschung immer wieder formulierte Forderung nach einem flexibleren und kleinteilig vernetzten öffentlichen Verkehr (vgl. z. B. Krämer-Badoni und Kuhm 2000: 172; Linder 1972: 232f.; Monheim 2008: 8; Rammler 2014: 43; Sheller und Urry 2000: 753f.) bis heute keine politische Umsetzung erfahren hat. Weiterhin kann damit auch vertiefend der Frage nachgegangen werden, wie es dazu kommen konnte, dass heute in vielen Städten Deutschlands überwiegend sternförmige, auf die größten Zentren ausgerichtete Nahverkehrssysteme existieren, obwohl diese mit einer Vielzahl an Nachteilen verbunden sind: Angefangen von der privilegierten Erschließung der Innenstadt und den daraus resultierenden Bodenwert- und Mietpreisspiralen, von sozialen Verdrängungsprozessen und zyklisch auftretenden Kapazitätsengpässen über die relative Schwächung weniger gut erschlossener Nebenzentren bis hin zur mangelnden Erschließungsqualität in der Peripherie und der fehlenden Berücksichtigung vorhandener Nachfrage nach tangentialer, nicht zentrumsbezogener Raumüberwindung (Monheim und Monheim-Dandorfer 1990: 513f.).
2.2
Ansatzpunkte – zur Kritik des städtischen öffentlichen Nahverkehrs
2.2
Ansatzpunkte – zur Kritik des städtischen öffentlichen Nahverkehrs
Aufbauend auf diesen eher allgemeinen Feststellungen zur Genese unseres gegenwärtigen Verkehrssystems geht es nun darum, unter Rückgriff auf verschiedene theoretische Ansätze das Fundament für einen eigenen empirischen Zugang zur Frage nach politischen Zielen beim Ausbau und der räumlichen Organisation öffentlicher Nahverkehrsinfrastrukturen zu legen. Kontrastiert mit gängigen Perspektiven in der sozialwissenschaftlichen Mobilitäts- und Verkehrsforschung in Deutschland dienen dabei vor allem zwei Diskurse als Ausgangspunkte: Erstens 27
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2 Öffentlicher Verkehr und Raumproduktion
die in der geographischen Verkehrs- und Mobilitätsforschung noch relativ junge Debatte zu Fragen mobilitätsbedingter sozialer Benachteiligung, die vor allem an den wesentlich intensiver geführten englischsprachigen Diskurs anknüpft. Auf der Hand liegt zweitens eine Kontextualisierung der Thematik innerhalb von Diskursen der kritischen Stadtforschung. Denn im Gegensatz zur Verkehrs- und Mobilitätsforschung sind diese in großem Umfang von politökonomisch orientierten Fragestellungen geprägt und rücken häufig interne Mechanismen des politischen Betriebs und Machtaspekte in den Vordergrund ihrer Forschung.
2.2.1 Perspektiven sozialwissenschaftlicher Verkehrs- und Mobilitätsforschung Geht es um die Frage der Operationalisierung eines kritischen Zugangs zur Politik öffentlicher Nahverkehrsinfrastrukturen, finden sich innerhalb des breiten Spektrums klassischer Disziplinen der deutschsprachigen Verkehrs- und Mobilitätsforschung bisher kaum geeignete Anknüpfungspunkte. Wenn Verkehrspolitik dort überhaupt zum Thema wird, ist es in der Regel die Bundespolitik, die im Zentrum steht (z. B. Gather 2018; Schwedes 2016) – hier dann zum Teil auch durchaus kritisch (z. B. Engartner 2008a; 2008b; Engartner und Zimmer 2014; Schwedes 2017; Wolf 2007). Wenn darüber hinaus die städtische und regionale Verkehrspolitik in den Fokus rückt, beschränken sich Aussagen allerdings in den allermeisten Fällen auf Verweise zur weitgehend autoverkehrsfördernden Politik des vergangenen Jahrhunderts und deren Folgen – häufig gepaart mit dem Mantra, nun doch (endlich) eine integrierte und nachhaltige Verkehrspolitik zu betreiben (z. B. Apel 1999; Gather et al. 2008: 76ff.). Vereinzelt wird zudem darauf eingegangen, dass in den letzten Jahrzehnten durchaus strukturelle Veränderungen in der politischen Landschaft stattgefunden haben – also insbesondere die politische Abkehr vom fordistischen Wohlfahrtsstaat mit seinen vielen Facetten staatlicher Regulation. Im Fokus steht dabei vor allem die politische Strategie, vormals staatliche Aufgaben lieber den Regeln des Marktes unterwerfen zu wollen. Analysiert werden dabei insbesondere Aspekte, die sich mit daraus resultierenden veränderten Regularien für den Verkehrsbereich befassen: Thematisiert werden beispielsweise ein Wandel der Organisationsstruktur des öffentlichen Nahverkehrs, dessen Finanzierungsprobleme und damit verbundene Implikationen für den Fortbestand der staatlichen Daseinsvorsorge. Dies erfolgt allerdings nicht besonders kritisch, sondern vermeintlich objektiv begleitend (z. B. Barth 2000; Dziekan und Zistel 2018; Gegner und Schwedes 2014), bisweilen sogar aktiv unterstützend (Krummheuer 2014a, 2014b). Als weitere Herausforderungen und wichtige Baustellen zur besseren Konkurrenzfähigkeit des öffentlichen Nahverkehrs
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werden zudem genannt: Ein weiterer Ausbau bestehender Systeme und Strukturen, neue Finanzierungsmodelle, die über staatliche Förderungen und Fahrkartenkäufe hinausgehen und zur Verringerung von individuellen Fahrpreisen beitragen sollen, sowie eine Verbesserung von Image, Nutzerfreundlichkeit, Sicherheit und Barrierefreiheit (Dziekan und Zistel 2018: 364ff.). Zusammengefasst geht es hierbei also erstens um eine verbesserte Finanzierung mittels Erschließung neuer Quellen außerhalb der staatlichen Haushalte und zweitens um den Abbau individueller Zugangshürden zum öffentlichen Nahverkehr. Gleichzeitig geht es weder um die Frage, warum der öffentliche Nahverkehr in viel geringerem Umfang staatlich finanziert wird als der motorisierte Individualverkehr, noch darum, ob neben den individuellen Gründen nicht auch strukturelle Faktoren zur vergleichsweise geringen Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs beitragen. Von der gegenwärtigen deutschen Verkehrs- und Mobilitätsforschung weitgehend unbeantwortet bleibt damit auch die Frage, welche zentralen Ziele denn tatsächlich im Zentrum einer Politik des öffentlichen Nahverkehrs stehen.19
2.2.2 Mobilität und Verkehr als soziale Frage Ganz ähnlich verhält es sich bei der Forschung nach mobilitätsbedingter sozialer Exklusion und Mobilitätsarmut, einer relativ jungen Subdisziplin sozialwissenschaftlicher Verkehrs- und Mobilitätsforschung, die zumindest insofern einen Schritt weitergeht als andere Subdisziplinen, als dass sie Verkehr und Mobilität explizit als soziale Fragen begreift. Ausgehend von verschiedenen Arbeiten aus dem angelsächsischen Kontext (vgl. Überblicksartikel von Lucas 2013; 2011) ist dabei in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum ein Forschungsfeld entstanden, das sich (unter anderem) explizit mit der räumlichen Verteilung von Mobilitätsangeboten und daraus resultierenden sozialpolitischen Implikationen auseinandersetzt (vgl. Überblicksartikel von Daubitz 2013; 2011). Konkret geht es dabei um verschiedene Aspekte der gesellschaftlichen Teilhabe von Individuen mittels Mobilitätsoptionen (Daubitz 2011; Wilke 2013: 95) oder – anders herum – um die Frage von Einflussfaktoren individueller oder gruppenbezogener Mobilitätsarmut (Runge 2005; Wilke 2013: 103ff.). Zwar werden viele dieser Einflussfaktoren auf 19 Strenggenommen ist dies allerdings nur eine Momentaufnahme der letzten Jahre. Denn insbesondere aus den 1970er Jahren, aber auch aus den darauffolgenden Jahrzehnten existieren durchaus einzelne Arbeiten, die sich aus einer kritisch-sozialwissenschaftlichen Perspektive mit städtischer Verkehrspolitik beschäftigt haben (z. B. Frank 1971; KrämerBadoni 1993; Krämer-Badoni et al. 1971; Läpple 1997; Linder et al. 1975; Linder 1973; 1972). 29
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der persönlichen Ebene verortet, etwa in Fragen nach der Einbettung in soziale Netzwerke, nach subjektiven Empfindungen und nach gesellschaftlichen Stigmatisierungen (Runge 2005: 10; Wilke 2013: 100ff.). Daneben wird jedoch stets die konkrete Materialität, also die tatsächlich zur individuellen Verfügung stehenden Verkehrssysteme als Indikator zur Identifikation von Mobilitätsbenachteiligung mit einbezogen (Runge 2005: 11). Da letztere vermeintlich einfach erhoben werden können, zielen Arbeiten aus diesem Kontext oft darauf ab, herauszufinden, welche sozialen Gruppen durch ein Verkehrssystem auf eine bestimmte Art und Weise benachteiligt werden, um dann spezifische Lösungswege zu entwickeln, mit denen die Mobilitätsarmut als potenzieller Faktor sozialer Exklusion vermindert werden kann. Obwohl in diesem Rahmen auch die Verkehrsmittelverfügbarkeit nach einzelnen Sozial- und Raumkategorien zur Sprache kommt (vgl. Altenburg et al. 2009; Kemming et al. 2007), wird durchweg versäumt, das Phänomen mobilitätsbedingter sozialer Benachteiligung in einen größeren gesellschaftlichen und politischen Rahmen einzuordnen. Stattdessen geht es ausschließlich darum, als ungerecht erkannte Symptome und Ergebnisse der Verkehrspolitik zu benennen und darauf aufbauend punktuelle Nachbesserungen zu fordern. Die diesen Problemen zugrundeliegende Verkehrspolitik als solche wird hingegen nicht hinterfragt (vgl. Martens 2006: 4). Obgleich die der Verkehrspolitik inhärenten politischen und gesellschaftlichen Praktiken, also die alltäglichen und durchwegs politischen Prozesse der Produktion von Verkehrsräumen, vereinzelt zumindest thematisiert werden (Beyazit 2011; 2012: 112; Lucas 2011: 219), werden sie dennoch aus der Analyse weitgehend ausgeklammert. Besonders deutlich tritt dieses Problem einer unzureichenden Kontextualisierung der praktizierten Verkehrspolitik beim öffentlichen Nahverkehr zu Tage. Denn gerade dieser wird im Rahmen derartiger Forschung besonders häufig als Lösungsansatz der sozialen Frage des Verkehrsraumes herangezogen, indem darauf verwiesen wird, an welchen Stellen es hierbei noch Verbesserungsmöglichkeiten gäbe (vgl. Daubitz 2013; 2011; Lucas 2013; Runge 2005; Wilke 2013). Genau dies impliziert jedoch, dass der öffentliche Verkehr, bzw. dessen Infrastrukturen, grundsätzlich den Prinzipien von Daseinsvorsorge und einer niedrigschwelligen Befriedigung individueller Mobilitätswünsche verschrieben seien, was wiederum, wie weiter oben schon ausgeführt, durchaus bezweifelt werden kann. Dennoch sollte nicht verkannt werden, dass die hier gewählten Strategien sinnvoll sein können, um punktuell erkennbare Mobilitätsbenachteiligungen zu identifizieren und offenzulegen, nicht zuletzt, weil damit immer ein politischer Auftrag einhergeht, diese spezifische lokale Situation entsprechend zu verbessern. Darüber hinaus kann aber durch eine bloße Identifizierung einzelner Problemlagen und ohne Ergründung der dahinter verborgenen Strukturen verkehrspolitischer Praxis kein substantieller
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Beitrag zur Frage nach grundsätzlichen Ursachen eines ungleich verteilten Zugangs zu Verkehrssystemen geleistet werden. Geht es also darum, eine andere, nicht nur dem technischen Fortschritt verschriebene, weniger autoorientierte, nachhaltigere und damit auch sozialere Verkehrspolitik zu gestalten, ist wenig damit gewonnen, ausschließlich darauf zu verweisen, wie es anders gehen könnte. Vielmehr muss zuerst hinterfragt werden, welche Ideologien, Werte und Ziele denn dazu führen, dass die Verkehrspolitik so handelt, wie sie handelt. Denn es sind nicht die Infrastrukturen, die gleichmäßig oder ungleichmäßig, gerecht oder ungerecht verteilt sind, wie es die gegenwärtige Forschung zur Mobilitätsarmut impliziert. Es sind die spezifischen gesellschaftlichen Verhältnisse, die für die konkrete räumliche Topologie von Infrastrukturen maßgeblich verantwortlich sind. Sowohl eine Kritik, die sich alleine auf die Verteilung oder das Verhältnis von Verkehrsinfrastrukturen bezieht, indem sie Erreichbarkeiten thematisiert, als auch eine solche, die der Politik lediglich eine zu geringe Förderung nachhaltigerer Technologien konstatiert, beschränkt sich letztendlich auf Symptombehandlungen. Wenn aber die politischen Ideologien, Werte und Visionen, die dazu geführt haben, dass unser Verkehrssystem heute wenig nachhaltig und wenig sozial ist, nicht selbst in die Kritik integriert werden, fehlen entscheidende Argumente, die für die gesellschaftliche Debatte über dessen notwendige Veränderung grundlegend sind. Darum erscheint es mir an dieser Stelle sinnvoll, zur theoretischen Rahmung dieser Arbeit vor allem auf Diskussionen der kritischen Stadtforschung zurückzugreifen. Diese rückt schließlich nicht nur städtische Politik a priori ins Zentrum ihrer Forschung, sondern sieht ihre Agenda gerade darin, explizit gesellschaftliche „Prozesse und Zusammenhänge [zu erforschen], die Städte formen“ (Belina et al. 2014: 11). Diese recht allgemeine Formulierung kann spezifisch auch nahtlos auf Verkehrsinfrastrukturen übertragen werden: Ziel muss es sein, zu ergründen, welche Prozesse und Zusammenhänge dazu geführt haben, dass Verkehrsinfrastrukturen in ihrer heute sichtbaren Form und Funktion errichtet wurden und werden.
2.2.3 Öffentlicher Nahverkehr in der kritischen Stadtforschung Ein wichtiger Referenzrahmen kritischer Analysen städtischer Politik ist gegenwärtig die unternehmerische Stadt. Gemeint ist damit eine seit den 1980er Jahren vielfach attestierte Neoliberalisierung kommunaler Politik, die selbst wiederum als Resultat von fortschreitender ökonomischer Globalisierung und nationalstaatlicher Neoliberalisierung betrachtet wird (vgl. ausführlich z. B. bei Heeg und Rosol 2007; 31
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Hirsch 1998; Ronneberger 2005). In diesem Zusammenhang wurden auf nationalstaatlicher Ebene institutionelle Restrukturierungsmaßnahmen durchgeführt, die einerseits mit der Kürzung staatlicher Zuschüsse für die Kommunen einherging. Andererseits wurden den Kommunen nun aber auch größere Handlungsspielräume bei der Erhebung lokaler Steuern zugestanden (Brenner 2004: 471f.). Angesichts der damit verbundenen neuen ökonomischen Unsicherheiten vollzogen sich in Städten daraufhin bis heute zwei verschiedene Arten der Ökonomisierung. Auf der einen Seite wird von Städten seither versucht, die eigene Wettbewerbsposition als Produktionsort im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung zu verbessern. Dies geschieht erstens durch eine umfangreiche Standortpolitik mittels professioneller Außendarstellung und Investitionen in die als wirtschaftsrelevant betrachteten Teilbereiche städtischer Infrastruktur. Zweitens wird damit zusammenhängend versucht, möglichst viele Kontroll- und Befehlsfunktionen aus dem Finanzsektor, der Informationstechnologiebranche, aus dem Medienbereich und politische Institutionen vor Ort anzusiedeln. Drittens schließlich sollen mittels städtebaulicher Aufwertung, kulturellen Attraktionen, Freizeitangeboten, Einkaufszentren und anderer Arten urbaner Spektakel finanzstarke Bevölkerungsgruppen und Tourist*innen angesprochen und dauerhaft in der Stadt gehalten werden (Harvey 1989a: 8ff.; Heinz 2015: 111). Auf der anderen Seite geht mit der Durchsetzung der unternehmerischen Stadt in Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre auch eine Restrukturierung der lokalstaatlichen Organisation selbst einher, die darauf abzielt, städtische Politik und Stadtverwaltungen intern nach dem Vorbild privatwirtschaftlicher Unternehmen zu ökonomisieren und zu rationalisieren (Lebuhn 2010). Symptomatisch für diese Umgestaltung ist es, dass Fragen nach der Rentabilität von Maßnahmen und Investitionen sowie nach der Effektivität von Verfahrensabläufen zu zentralen Entscheidungskriterien avancieren (Lebuhn 2010; Silomon-Pflug 2018: 52). Umgesetzt wird dies häufig durch die Adaption neuer städtischer Managementsysteme, die eine aktive Integration privatwirtschaftlicher Institutionen in städtische Verwaltungsaufgaben ermöglichen (Lebuhn 2007: 529ff.). Eine weitere oft beobachtete Maßnahme ist die Reduzierung der Ausgaben von städtischen Betrieben durch deren Umwandlung in privatwirtschaftliche Unternehmen oder deren Verkauf (Heeg und Rosol 2007: 494; Lebuhn 2007: 531). Neben einer Analyse detaillierter Abläufe dieser Neuordnungsprozesse wurde jedoch gerade die Frage nach Resultaten und Auswirkungen dieser Restrukturierungsprozesse auch hier bisher kaum untersucht (Silomon-Pflug 2018: 54). Die kritische Stadtforschung hat sich also schon einige Jahre intensiv mit dem Umbau städtischer Politik nach unternehmerischen Kennwerten beschäftigt. Dennoch sind die Verkehrspolitik und insbesondere die Politik des öffentlichen
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Nahverkehrs bis heute nur sehr bedingt Bestandteil der Debatte. Wie bereits in Kap. 2.1.3 thematisiert, gibt es zwar auf internationaler Ebene einzelne Stimmen, die sich aus einer gesellschaftskritischen Perspektive heraus einer Kritik unseres gegenwärtigen Verkehrssystems widmen. Allzu oft konzentrieren sich diese Arbeiten jedoch (und zunächst auch völlig folgerichtig) auf eine Kritik am Automobil und dessen gesellschaftlichen Bezügen. Gespickt wird diese Kritik zum Teil auch mit antagonistischen Verweisen auf ökologischere und sozialere Fortbewegungsarten wie das Zufußgehen und Fahrradfahren (exemplarisch: Cook und Butz 2019; Walks 2015). Entsprechende Einbettungen der Politik des öffentlichen Nahverkehrs bleiben in diesen eher übergreifend angelegten Arbeiten dagegen weitestgehend außen vor. Dennoch findet sich hier innerhalb der internationalen Debatte zumindest eine kleinere Anzahl an tiefergehenden Fallstudien zum öffentlichen Nahverkehr, auf die im Verlauf der Arbeit noch näher eingegangen wird. Für die deutschsprachige Literatur gilt dies allerdings nicht. Hier wird auf den öffentlichen Verkehr nur dann verwiesen, wenn es darum geht, verschiedene Bereiche aufzulisten, die durch einen Wandel stadtpolitischer Strategien Gegenstand von strukturell-organisatorischen Veränderungen wurden. Innerhalb dieser Nebensatzverweise wird öffentlicher Verkehr als einer von verschiedenen Bereichen des öffentlichen Konsums genannt, die von Privatisierungs- oder Kommodifizierungsentscheidungen betroffen sind (z. B. Heeg und Rosol 2007: 494; Heinz 2015: 171f.; Holm 2012: 96; Naumann 2014: 223; Schipper 2013). Selbst in den Teilbereichen kritischer Forschung, die sich explizit mit städtischen Infrastrukturen beschäftigen, wird dem Themenfeld Mobilität und Verkehr bestenfalls am Rande Beachtung geschenkt (Höhne und Naumann 2018: 23). Naheliegend ist dies auf den ersten Blick aufgrund der Tatsache, dass in Deutschland Privatisierungen gerade im städtischen Verkehrssektor bisher nur äußerst zögerlich und halbherzig umgesetzt wurden (Heinz 2015: 171). Im Umkehrschluss ist es umso nachvollziehbarer, dass der öffentliche Nahverkehr auf internationaler Ebene eine zumindest etwas höhere Aufmerksamkeit durch die kritische Stadtforschung erfährt. Weil in anderen Staaten die Privatisierungsmaßnahmen im städtischen Verkehr oftmals viel umfangreicher ausgefallen sind, befindet sich dort auch die entsprechende wissenschaftliche Diskussion auf einem anderen Level. Deutlich wird dies beispielsweise anhand der kritischen Begleitung von sogenannten Public-Private-Partnerships (PPP) bei Planung, Finanzierung und Betrieb des öffentlichen Nahverkehrs – ein Instrument, dass im deutschen Verkehrsbereich mit Ausnahme einzelner Projekte im Fernstraßenbau bisher keine
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Anwendung finden (z. B. Siemiatycki 2011, 2005).20 Dass der öffentliche Nahverkehr in der englischsprachigen Literatur bereits früher, beziehungsweise kontinuierlicher Thema war, belegt auch ein etwas allgemeiner angelegter Artikel von Hodge (1990: 97), in dem die Forderung postuliert wird, wonach „die grundlegenden Beziehungen zwischen städtischem Verkehr und der Struktur der Gesellschaft zumindest wahrgenommen, wenn nicht analysiert“ werden müssten. Auch Henderson (2004) hat – allerdings mit Fokus auf städtische Parkraumpolitik – herausgearbeitet, dass es bei Verkehrspolitik gerade nicht nur um eine Veränderung der Bewegung im Raum geht, sondern diese Politik gleichzeitig immer als Spiegelbild bestimmter normativer Werte und Ziele betrachtet werden kann. Darüber hinaus sind innerhalb der letzten Jahre einige Fallstudien zu Städten in den Vereinigten Staaten und Westeuropa veröffentlicht worden, die weit über einen bloßen Verweis auf Privatisierungsprozesse im öffentlichen Nahverkehr hinausgehen und sich – mehr oder weniger explizit im Kontext einer unternehmerischen Stadtpolitik – kritisch mit Zusammenhängen zwischen städtischer Politik und dem Bau von Nahverkehrsinfrastrukturen auseinandersetzen.21 Die Studien lassen sich dabei grob anhand von zwei Stoßrichtungen differenzieren, die verschiedene Arten einer Ökonomisierung des Nahverkehrs beleuchten: Auf der einen Seite wird anhand von Fallbeispielen aus den Vereinigten Staaten diskutiert, inwiefern eine politische und betriebliche Ausrichtung des öffentlichen Nahverkehrs auf Automobileigentümer*innen als potenziell neue Kundschaft eine neoliberal motivierte Ökonomisierung darstellt. Argumentiert wird dabei, dass im Zuge von Neoliberalisierungsprozessen ehemals soziale Ziele des öffentlichen Nahverkehrs zugunsten von betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien, Stauminderung und verbesserter Lebensqualität aufgegeben würden (vgl. Garrett und Taylor 1999; Grengs 2004; Paget-Seekins 2013). Ähnlich den Argumenten zur Privatisierung des öffentlichen Nahverkehrs liegt der zentrale Bezugspunkt dabei vor allem auf
20 Tatsächlich stellen gerade Nahverkehrsinfrastrukturen im internationalen Kontext eine der am wenigsten attraktiven Investitionsmöglichkeiten von privaten Unternehmen im Verkehrssektor dar. Begründen lässt sich dies mit (1) oft relativ geringen absehbaren Profitmargen, (2) einer vergleichsweise hohen finanziellen Risikoanfälligkeit – beispielsweise im Vergleich zu Verbindungen zwischen großen Städten – und (3) den häufig heterogenen und unbeständigen politischen Strukturen innerhalb der Städte. Wenn dennoch private Nahverkehrsinfrastrukturen in Städten errichtet werden, handelt es sich in der Regel nur um ausgewählte, besonders profitable Projekte mit geringen Risikoerwartungen (Siemiatycki 2011: 1719f.). 21 Die räumliche Auswahl der hier zitierten Fallbeispiele erfolgte aus der Motivation heraus, dass diese aufgrund ähnlicher politischer wie ökonomischer Verhältnisse zumindest ansatzweise miteinander in Bezug gesetzt werden können.
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der These eines neoliberalen „roll-back“, sprich einer umfassenden Demontage, Deregulierung und Privatisierung zentraler Instrumente des fordistischen Wohlfahrtsstaates zugunsten des freien Marktes (vgl. Peck und Tickell 2002: 388). Als Resultat dieses Prozesses wird dann festgehalten, dass in Folge einer intensivierten Forderung nach Eigenwirtschaftlichkeit zunehmend ökonomische Aspekte in den Vordergrund der strategischen Ausrichtung von öffentlichen Verkehrsunternehmen geraten (Garrett und Taylor 1999; Grengs 2004): “The social purpose of public transit is becoming supplanted by the economic imperative of efficiency and competitiveness” (Grengs 2004: 53).
Auf der anderen Seite stehen verschiedene Fallstudien, bei denen Zusammenhänge zwischen dem Neubau lokaler Nahverkehrsinfrastrukturen und städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen im Rahmen einer an Wettbewerbslogiken und der Anregung privater Investitionen orientierten Stadtpolitik beleuchtet werden (vgl. Baeten 2012; Book et al. 2010; Brownill 1990; Enright 2013; 2015; Farmer 2011; Farmer und Noonan 2014; Keil und Young 2008; Young und Keil 2010). Verwiesen wird hier allerdings gerade nicht auf einen Rückzug lokalstaatlicher Institutionen, sondern vielmehr auf eine erneut regulierend wirkende, allerdings konkurrenzorientierte städtische Politik, die – den Annahmen eines internationalen Wettbewerbs um Unternehmen, hochqualifizierte Arbeitskräfte und Touristen folgend – nun explizit darauf ausgerichtet ist, die eigene Wettbewerbsposition aktiv zu verbessern. Mit Peck und Tickell (2002: 389ff.) lässt sich diese Form aktiver neoliberaler Politik darum auch als „roll-out“ Neoliberalismus bezeichnen. Anhand von Beispielen aus Chicago (Farmer 2011; Farmer und Noonan 2014), Paris (Enright 2015, 2013), Malmö (Baeten 2012), Kopenhagen (Book et al. 2010; Majoor 2008) und (obgleich schon etwas älter und ohne bewusste Verweise auf Neoliberalisierungstheorien) London (Brownill 1990) wird dabei herausgearbeitet, dass auch öffentliche Nahverkehrsinfrastrukturen als Gegenstand einer unternehmerischen Stadtpolitik identifiziert werden können – wenn auch mit der Beschränkung, dass sie hierbei als einzelne Bestandteile städtebaulicher Großvorhaben fungieren. Dabei lassen sich die aus der Literatur hervorgehenden Ziele dieser Nahverkehrsinfrastrukturen insofern zusammenfassen, dass sie erstens dazu beitragen sollen, attraktives Wohneigentum für hochqualifizierte Arbeitskräfte und andere finanzstarke Bevölkerungsgruppen zu schaffen. Zweitens sollen sie zu einer Attraktivitätssteigerung für internationales Kapital im Sinne von großen Finanzmarkt- und Wirtschaftsunternehmen führen. Drittens sollen sie als sichtbare städtische Investition nicht nur private Immobilieninvestitionen vor Ort anregen,
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sondern darüber hinaus auch langfristig Mehreinnahmen für die Stadt im Sinne von zusätzlichem Steueraufkommen generieren. Damit lässt sich auch aus diesen Arbeiten zunächst herauslesen, dass innerhalb der Politik öffentlicher Nahverkehrsinfrastrukturen während der letzten Jahrzehnte grundlegende Veränderungen stattgefunden haben. Hier allerdings nicht aufgrund eines Rückzugs des lokalen Staates, sondern vielmehr, weil eine öffentliche Nahverkehrsinfrastruktur immer wieder als unabdingbarer Baustein betrachtet wird, um international beachtete und erfolgreich vermarktbare Wohnund Dienstleistungsquartiere zu errichten: “Public transportation policy is one dimension of spatial restructuring deployed by entrepreneurial governments to create place-based competitive advantages for global capital” (Farmer 2011: 1156). “The proposed Grand Paris Express system fails to consider the broad social, economic, and political conditions upon which urban mobility is based, instead orienting transit towards a marketized logic of real estate development, urban rent production, and territorial competition” (Enright 2013: 797).
2.2.4 Unklarheiten und Widersprüche Tatsächlich durchziehen diese Arbeiten jedoch auch einige Unklarheiten und Widersprüche, die sich in den meisten Fällen auf eine voreilige Etikettierung der erkannten Befunde als alleiniges Resultat neoliberaler bzw. unternehmerischer Umstrukturierung zurückführen lassen. Besonders offensichtlich wird diese Problematik durch die in der zitierten Literatur oft explizit oder implizit vorgenommene antagonistische Gegenüberstellung einer unternehmerischen Stadtpolitik mit städtischer Nahverkehrspolitik zu Zeiten des vorangegangenen fordistischen Wohlfahrtsstaats. Denn eine solche Gegenüberstellung läuft bei einer nur oberflächlichen Auseinandersetzung mit dem Wohlfahrtsstaat Gefahr einer nostalgischen Verklärung des letztgenannten (vgl. Morange und Fol 2014: 15).
Nostalgische Verklärung des fordistischen Wohlfahrtsstaats? Dies manifestiert sich konkret anhand der Auffassung, der öffentliche Verkehr würde infolge einer unternehmerischen Stadtpolitik auf eine sozial wie räumlich ungleichere Verteilung zusteuern, als dies zuvor der Fall war (ebd.). Ersichtlich wird dies in der Literatur vor allem anhand von Verweisen auf fordistisch-wohlfahrtsstaatliche Verkehrsplanung, die – so eine gängige Argumentation – „half, den öffentlichen Verkehr aufzubauen und zu dessen Expansion beitrug“ (Farmer
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und Noonan 2014: 70), dabei aber immer nur eine rein „verwaltende Rolle“ bei der Umsetzung nationalstaatlicher Vorgaben einnahm (ebd.: 68). Auch wenn dies ganz allgemein als wichtiges Charakteristikum einer fordistisch-wohlfahrtsstaatlichen Stadtpolitik angeführt wird (Hall und Hubbard 1996: 153; Harvey 1989a: 4f.; Ronneberger 2005: 215f.; Schipper 2012: 203), stellt sich doch die Frage, ob einer fordistischen Stadtpolitik tatsächlich jegliche Ambitionen zur Durchsetzung eigennütziger Ziele abgesprochen werden können, sie also keinerlei Eigennutz mit dem Bau öffentlicher Nahverkehrsinfrastrukturen verband. Schließlich hebt beispielsweise Schipper (2013: 148f., 161ff.) hervor, dass Kommunen zumindest in Deutschland bereits damals eine eigenständige städtische Wirtschaftspolitik betrieben haben. So lässt sich beispielsweise nachweisen, dass der damals vorangetriebene Ausbau öffentlicher Infrastrukturen durchaus als Instrument betrachtet wurde, private Kapitalakkumulation vor Ort weiter zu gewährleisten. Allerdings richtete sich der Fokus politischer Interventionen laut Schipper damals noch weniger auf eine Ansiedlung neuer Gewerbetreibender sondern primär auf die Bedürfnisse bereits ansässiger Unternehmen.22 Klärungsbedarf besteht hier auch dahingehend, inwieweit soziale Infrastruktureinrichtungen wie Hochschulen, Krankenhäuser und Sozialwohnungen tatsächlich mit dem öffentlichen Nahverkehr gleichgestellt werden können, wie bei Farmer und Noonan (2014: 68) geschehen. Während nämlich bei einer gleichmäßigen Verteilung der Erstgenannten davon ausgegangen werden kann, dass in verschiedenen Teilräumen eine vergleichbare Nutzungsmöglichkeit gewährleistet ist, gilt dies für den öffentlichen Verkehr nur sehr bedingt. So lässt sich die Funktion des öffentlichen Nahverkehrs nicht mit spezifischen Angeboten vergleichen wie der Schule, der Wohnung oder dem Krankenhaus. Vielmehr ist er eine Grundlage, mit der die Ausführung von Aktivitäten erleichtert wird, bzw. werden soll. Entscheidend für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist folglich nicht nur der Zugang. Es sind vor allem dessen zeit-räumliche Strukturen, also die Frage, welche spezifischen Orte in einem vertretbaren Zeitraum überhaupt erreicht werden können, beziehungsweise welche Räume durch entsprechende Netzarchitekturen geschaffen werden. Überspitzt könnte zu diesem Punkt also festgehalten werden: Obgleich Städte während des Wohlfahrtsstaates geplant haben, flächendeckend Schnellbahnstationen zu errichten, bedeutet das nicht, dass dies automatisch als Sozialpolitik bezeichnet werden kann.
22 Schipper bezeichnet diese endogene Wirtschaftspolitik, die als erste Reaktion auf die bereits Mitte der 1970er Jahre einsetzende Krise des Fordismus betrachtet werden kann, als neofordistische Entwicklungsstrategie. 37
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Sozialpolitik? Konsequent weitergedacht führt dieser Verweis schließlich zu einer noch grundlegenderen Unklarheit in der Auseinandersetzung mit einer Neoliberalisierung des öffentlichen Nahverkehrs, nämlich der Frage, ob Politik des öffentlichen Nahverkehrs originär und überhaupt jemals als Sozialpolitik betrieben wurde. Dennoch wird in der hier zitierten Literatur der öffentliche Nahverkehr ganz allgemein quasi unhinterfragt mit „sozialer Reproduktion“ (Farmer und Noonan 2014: 61; Keil und Young 2008: 730), mit „sozialen Zielen“ (Grengs 2004: 55f.) oder dem „Gebrauchswert” (Enright 2013: 806; Farmer 2011: 1157; Farmer und Noonan 2014: 62ff.) in Verbindung gebracht, er gar als “in erster Linie soziale Dienstleistung” (Garrett und Taylor 1999: 6) beschrieben und vermeintlich folgerichtig die Neoliberalisierung als Gefährdung dieses sozialen Guts identifiziert. Unstrittig ist dabei, dass der öffentliche Verkehr generell einen sozialen Nutzen hat, bzw. haben kann, da er aufgrund vergleichsweise geringer Zugangshürden auch solchen Gesellschaftsgruppen eine motorisierte Mobilität ermöglicht, die aus verschiedenen Gründen keinen Zugriff auf ein eigenes motorisiertes Fortbewegungsmittel haben. Insbesondere in Bezug auf die Vereinigten Staaten resultieren aus dieser Pauschalisierung allerdings zwei Probleme: Erstens wird in der Argumentation nicht klar zwischen Bus- und Schnellbahnsystemen (Heavy Rail wie Light Rail23) unterschieden. So gelten dort zwar insgesamt ca. 70 % der Passagiere als sogenannte Zwangskunden (captive riders), deren Alternativlosigkeit den sozialpolitischen Wert des öffentlichen Nahverkehrs allgemein unterstreicht. Tatsächlich nutzen diese Zwangskunden in der Mehrzahl die zahllosen „minderwertigen und unregelmäßig verkehrenden“ Buslinien des Landes. In den Schnellbahnen des Landes mit ihrer vergleichsweise hohen Taktfrequenz und Geschwindigkeit besteht dagegen der größte Teil der Passagiere aus Wahlkunden. Hierbei handelt es sich also um Kunden, die sich bewusst gegen die ihnen ebenso verfügbare Alternative Automobil entschieden haben (Delbosc 2014: 1433f.). Wenn auch weniger stark ausgeprägt, stellt sich die Situation in Deutschland ähnlich dar. Denn auch hier verfügen über 50 % der Schnellbahnnutzer*innen gleichzeitig über ein eigenes Automobil, wohingegen dies beim Busverkehr nur für 20–30 % der Nutzer*innen zutrifft (Girnau et al. 2000: 18).
23 Auch wenn die Unterscheidung hier nicht ganz eindeutig ist, lassen sich unter Heavy Rail klassische, in Tunneln oder als Hochbahn geführte U-Bahnen mit Stromschiene zusammenfassen (Rholetter 2014: 684), während Light Rail Systeme eher mit den deutschen Stadtbahnen vergleichbar sind, sie also zumeist oberirdisch auf eigenem Gleisbett geführt werden und geringere Kapazitäten und Geschwindigkeiten aufweisen als klassische U-Bahnen (Feldmann 2014: 879f.).
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Zweitens geht aus anderen Quellen hervor, dass gerade in den Vereinigten Staaten moderne Heavy Rail Systeme, die in den 1970er und 1980er Jahren erbaut wurden, explizit darauf abzielten, für den Weg zu den innerstädtischen Dienstleistungszentren eine Alternative zum Pendeln per Automobil anzubieten (Golub et al. 2013; Rholetter 2014: 685; Rodriguez 1999). Wenn also von öffentlichem Verkehr als Teil des sozialen Sicherungssystems gesprochen wird, sollte sich dies vor allem auf den aufgrund von Geschwindigkeit und Fahrkomfort als wenig attraktiv wahrgenommen Busverkehr beziehen, während es sich auf den Schnellbahnverkehr nur zum Teil übertragen lässt. Darüber hinaus ist zwar die Aussage nachvollziehbar, wonach von einem Bau und Ausbau städtischer Schnellbahnen die sogenannten Zwangsnutzer*innen nur unterdurchschnittlich profitieren. Gleichzeitig stellt sich damit aber die Frage, wie dieser (Aus-)Bau als Teil einer neoliberalen Stadtpolitik bezeichnet werden kann. Denn selbst wenn hier betont wird, dass die gegenwärtig geplanten und gebauten Systeme sich vor allem auf den Pendelverkehr aus den Vororten konzentrieren (Garrett und Taylor 1999; Grengs 2004), kann die dahinterstehende Politik schwerlich als Folge der Neoliberalisierung bezeichnet werden, wenn bereits in den 1970er Jahren ganz ähnliche Strategien verfolgt wurden. Eine Neoliberalisierungskritik aber, die sich (1) vor allem auf undifferenzierte Abgrenzungen zu einer vermeintlich sozialpolitisch ausgerichteten Verkehrspolitik des Wohlfahrtsstaates bezieht (Farmer 2011), diese dabei (2) alleine aus diskursiven Verweisen der Politik auf soziale Ziele des öffentlichen Nahverkehrs ableitet (Grengs 2004: 55ff.), dagegen (3) der konkreten materiellen Praxis kaum Beachtung schenkt, ist wenig praktikabel für eine fundierte Auseinandersetzung mit kommunaler Nahverkehrspolitik. Auch die Argumentation von Enright (2013) zum Grand Paris Express lässt sich in ähnlicher Hinsicht kritisieren. Anders als die zuvor Zitierten verweist sie zwar in erster Linie auf die Automobilförderung als zentrale fordistische Mobilisierungspolitik, deren „territorialer Zusammenhalt“ den Menschen „ausgeglichene Möglichkeiten für wirtschaftliche und soziale Entwicklung“ verschafft hätte (ebd.: 804). Dies erscheint in Bezug auf die Rolle des Staates im Rahmen der in Kap. 2.1 skizzierten gesellschaftlichen Beschleunigungsprozesse auch durchaus nachvollziehbar. Unscharf ist diese Argumentation jedoch nicht nur dahingehend, dass es weniger der Staat, sondern vielmehr das Automobil selbst war, das aufgrund besonders hoher zeitlicher und räumlicher Flexibilität auch eine große Zahl an nicht originär-staatlich intendierten Zielen erreichbar machte. Denn nicht allein die Arbeitskraft wurde damit flexibler, sondern auch der Freizeitverkehr wuchs mit dem Automobil in bis dahin nicht gekanntem Umfang (vgl. Holz-Rau und Scheiner 2005: 67; Krämer-Badoni et al. 1971: 17). Vor allem aber unterschlägt Enright, dass erstens die automobile Mobilisierung auch heute noch ein zentraler Bestandteil staatlicher Verkehrspolitik ist und 39
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zweitens von eben diesem fordistischen Wohlfahrtsstaat daneben auch öffentliche Nahverkehrsinfrastrukturen zur Anbindung der Pariser Vororte an das Stadtzentrum errichtet wurden. Dieses RER-Netz wird von ihr an anderer Stelle zwar als „direktes Ergebnis der Planungsbemühungen des 20. Jahrhunderts“ und als „das ungleichste und am meisten zentralisierte Nahverkehrsnetz der Welt“ (2013: 800f.) beschrieben, hinsichtlich eines damit intendierten politischen Zwecks verweist sie dann aber eher vage auf „gewalttätige geographische Hierarchien“, „staatliche Segregation“ und „Bevölkerungsmanagement“ (ebd.: 801). Dies widerspricht nicht nur der attestierten allgemein mobilisierenden Verkehrspolitik im Fordismus. Darüber hinaus wird faktisch keine Verknüpfung mit ihren Ausführungen zum Grand Paris Express vorgenommen, ein „hochgradig politisches Projekt“ mit dem darauf abgezielt würde, „Bewegungen festzulegen und das Leben durch Raum zu disziplinieren“ (ebd.: 798). Gerade diese Verknüpfung würde schließlich hervorheben, dass auch die mit dem Grand Paris Express verbunden politischen Ziele sich nicht ausschließlich auf eine Neoliberalisierung städtischer Politiken zurückführen lassen, sondern gegebenenfalls auch schon zuvor elementare Bestandteile von ÖPNV-Infrastrukturprojekten waren. Zudem unterschlägt Enright in ihren Ausführungen, dass seit den 1990er Jahren in den Pariser Vororten durchaus ein weiteres, eher tangential ausgerichtetes Nahverkehrssystem bis heute einen stetigen Ausbau erfährt. Als Straßenbahn konzipiert zielen zunächst auch diese neuen Strecken darauf ab, bisher nicht bestehende direkte Schienenverbindungen zwischen den einzelnen Vororten zu schaffen – allerdings mit einem kürzeren Haltestellenabstand, zum Teil auf Straßen geführt und somit auch weitgehend integriert in die bestehende gebaute Umwelt (Burmeister 2012). Besonders interessant ist dabei aber, dass diesem, von den Verwaltungen der Umlandkommunen initiierten System, laut Burmeister explizit und prominent zugeschrieben wird, „die (soziale) Abwärtsentwicklung der teils riesigen Trabantenstädte zu stoppen“ (ebd.: 27). Auch hier bleibt damit unklar, inwieweit dieses Stadtbahnnetz in Enrights Argumentation einer neoliberalen Neuausrichtung beim Bau öffentlicher Nahverkehrsinfrastrukturen integriert werden kann. Zusammengefasst basiert damit selbst bei Enright die Analyse neoliberaler Politiken letztendlich auf einer undifferenzierten und hinterfragbaren Abgrenzung zu einer vermeintlich sozialeren Verkehrspolitik im fordistischen Wohlfahrtsstaat. Also auf einer Abgrenzung, die darüber hinaus nur funktionieren kann, weil eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Nahverkehrsnetz jener Zeit, wie auch ein Einbezug anderer, gegenwärtig in der Umsetzung stehender Infrastrukturen, weitgehend unterlassen wurde.
2.2 Ansatzpunkte – zur Kritik des städtischen öffentlichen Nahverkehrs
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Baustein von Stadtentwicklungsmaßnahmen? Eng verbunden mit dem bisher Angesprochenen ist auch eine dritte Argumentation, die Zusammenhänge zwischen Verkehrsinfrastrukturen und Stadtentwicklung ins Auge fasst. Kritisiert wird hier, dass der Neubau öffentlicher Verkehrsinfrastrukturen unter Verweis auf Maßnahmen eines Transit Orientied Developments instrumentalisiert wird, um Gentrifizierung zu befördern sowie städtische Entwicklungsmaßnahmen gezielt zu steuern und voranzutreiben (Baeten 2012; Book et al. 2010; Brownill 1990; Enright 2013). Dass nun aber neue Verkehrsinfrastrukturen Bodenpreise beeinflussen und private Investitionen befördern, ist nicht nur innerhalb der deutschsprachigen Forschung (z. B. Burmeister und Kalwitzki 2007; Girnau et al. 2000: 434ff.; historisch: Seidewinkel 1966), sondern auch im englischsprachigen Diskurs keine neue Erkenntnis (z. B. Cervero 1984). Demnach sollte dies auch weniger als Resultat einer neoliberal ausgerichteten Verkehrspolitik betrachtet werden, sondern vielmehr als Folge der Kombination aus einer immer schon räumlich ungleichmäßig verteilten Infrastruktur und deren Einfluss auf den Bodenwert in marktwirtschaftlich organisierten Bodenmärkten. Nachvollziehbar ist hingegen die geäußerte Kritik an gegenwärtigen Stadtentwicklungsprojekten, die, Handlungsrationalitäten einer unternehmerischen Stadtpolitik folgend, vor allem die weiter oben genannten dezidierten Zielgruppen ansprechen und damit soziale Segregationsprozesse forcieren (Baeten 2012; Book et al. 2010; Enright 2013; Farmer 2011). Dass nun der Bau öffentlicher Verkehrsinfrastrukturen in solche städtebaulichen Maßnahmen integriert wird, spricht für sich genommen zunächst nicht zwingend für eine Neoliberalisierung des öffentlichen Nahverkehrs. Schließlich müsste auch hier zuerst überprüft werden, ob ein in Stadtentwicklungsmaßnahmen integrierter Bau öffentlicher Verkehrsinfrastrukturen wirklich nur als Phänomen der Gegenwart zu betrachten ist. Zuletzt gestaltet es sich – abgesehen von der Erkenntnis, wonach der öffentliche Verkehr häufig in neoliberale Stadtentwicklungsprojekte eingebunden ist – relativ schwierig, allgemeine Charakteristika einer neoliberalen öffentlichen Verkehrsinfrastruktur zu identifizieren. Denn erstens reicht die Spannweite der Projekte von einem „low cost“ Verkehrssystem (Knowles und Ferbrache 2014: 34) in den Londoner Docklands bis hin zur vergleichsweise teuren Metro in Kopenhagens Örestad, die bewusst als „infrastrukturelles Aushängeschild“ konzipiert wurde (Book et al. 2010: 393f.). Zweitens zeigt ein genauerer Blick auf die verschiedenen Projekte, dass auch deren praktischer Verkehrsnutzen kaum vergleichbar ist. Dabei stehen auf der einen Seite verschiedene Infrastrukturen, mit denen explizit darauf abgezielt wird, das räumliche Gefüge einer Stadt oder Region maßgeblich zu verändern. So etwa der Grand Paris Express, der „eine neue Landkarte der Metropole Paris erschaffen wird“ (Enright 2013: 811) und durch die Formung einer polyzen41
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2 Öffentlicher Verkehr und Raumproduktion
trischen Region deren „globale Wettbewerbsfähigkeit verfestigen soll“ (ebd.: 798). Ähnliches gilt für die neue Schienenverbindung über den Öresund, die nicht nur im Sinne eines „Örespektakels“ verschiedene „wohlhabende Orte“ in Kopenhagen und Malmö direkt miteinander verknüpft (Orte des elitären Konsums, hochpreisige Wohnquartiere, bevorzugte Bürostandorte und gentrifizierte Innenstadtgebiete), sondern darüber hinaus auch als Herzstück einer neu geschaffenen Metropolregion betrachtet werden kann (Baeten 2012: 32f.). Mit Abstrichen lässt sich zuletzt auch der geplante Bahnring um die erweiterte Innenstadt Chicagos den letztgenannten Infrastrukturprojekten zuordnen, da er gleichermaßen eingebettet ist in städtebauliche Entwicklungspläne, um die Chicagoer Innenstadt „entsprechend dem Bild einer Global City umzugestalten“ (Farmer 2011: 1155). Folglich haben alle drei Infrastrukturprojekte einen außerordentlichen Stellenwert, weil mit ihnen darauf abgezielt wird, das gesamte räumliche Gefüge der jeweiligen Stadt bzw. Region zu verändern, womit zugleich ein maßgeblicher Wandel alltäglicher Wegemuster erwartet werden kann. Da derartige Großprojekte allerdings eher als Ausnahme denn als Regel städtischer Nahverkehrspolitik betrachtet werden müssen, sind sie nur sehr bedingt geeignet, Rückschlüsse auf einen allgemeinen Wandel der Politik von Nahverkehrsinfrastrukturen in der unternehmerischen Stadt zu ziehen. Etwas anders gestaltet sich dies bei zwei weiteren der angesprochenen Infrastrukturprojekte. Zwar werden auch die Londoner Docklands oder Örestad in Kopenhagen insgesamt mit dem Anspruch verknüpft, die internationale Ausstrahlungskraft der jeweiligen Städte zu steigern. Für die entsprechenden Nahverkehrsinfrastrukturen gilt dies allerdings nur sehr bedingt. So waren die Projekte in London und Kopenhagen kaum in strategische Überlegungen zur allgemeinen Verbesserung des städtischen öffentlichen Nahverkehrs eingebunden (Book et al. 2010: 390; Brownill 1990: 145). In beiden Fällen ging es also nicht um den Gebrauchswert der Infrastruktur, sondern vor allem darum, mit dieser das Image eines urbanfuturistischen Quartiers zu produzieren, um private Immobilieninvestitionen und Grundstücksvermarktungen zu stimulieren (Book et al. 2010: 393f.; Brownill 1990: 44f.; Collins 1990: 37f.; Knowles und Ferbrache 2014: 34).24 Neben dem Fokus auf Imageproduktion gibt es bei den Projekten in London und Kopenhagen allerdings noch eine weitere, grundlegendere Parallele: Beide 24 Zwar wird darauf an dieser Stelle nicht weiter eingegangen, dennoch lassen sich dahingehende Strategien auch anhand der in den letzten Jahrzehnten erfolgten Straßenbahn-Renaissance in den Vereinigten Staaten gut nachzeichnen. Denn auch diese neuen Straßenbahnen tragen oft nur geringfügig zu einer allgemeinen Verbesserung der lokalen Nahverkehrsnetze bei, werden dagegen argumentativ vor allem damit legitimiert, dass ihnen zugeschrieben wird, zur Imageproduktion einer kreativen Stadt und damit zum lokalen Wirtschaftswachstum beizutragen (Culver 2017).
2.2 Ansatzpunkte – zur Kritik des städtischen öffentlichen Nahverkehrs
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wurden von Organisationen vorangetrieben, deren alleiniger Zweck die Entwicklung des jeweiligen Gebietes war. Aufgrund dieses räumlich klar abgegrenzten Aufgaben- und Wirkungsbereiches ist es schließlich nicht verwunderlich, dass diesen Organisationen kaum etwas daran gelegen zu sein scheint, durch die neue Verkehrsinfrastruktur auch über den eigenen räumlichen Kontext hinaus eine Veränderung des gesamtstädtischen Verkehrsgeschehens zu erreichen. Zumindest implizit wird damit in beiden Projekten darauf verwiesen, wie eine Neuorganisation der Planung öffentlicher Verkehrsinfrastrukturen die räumliche Form städtischer Nahverkehrsnetze unmittelbar beeinflussen kann.
Gemeinplatz Raumkritik? Eine letzte Unklarheit der hier zitierten Arbeiten bezieht sich auf Fragen sozialer Räume und der räumlichen Form öffentlicher Verkehrssysteme. Auffällig ist hier, dass zwar stets eine intensive Beleuchtung der Zusammenhänge zwischen politischen Ideologien und der Bereitstellung öffentlicher Infrastrukturen stattfindet. Hinsichtlich der Frage, inwiefern die jeweils gewählte Netzstruktur auch die alltäglich gelebte räumliche Praxis befördert und beschneidet, und inwieweit auch hier ein Unterschied zu politischen Zielen der Vergangenheit festgestellt werden kann, zieht sich die Argumentation dann jedoch – wenn überhaupt – erneut ins Allgemeine zurück. Einzig Enright (2015, 2013) versucht tatsächlich auch diesem Aspekt in ihren Arbeiten einen entsprechenden Platz einzuräumen. So übt sie nicht nur Kritik an dem bisherigen, primär radialen Nahverkehrssystem der Pariser Vororte (und eröffnet damit innerhalb ihrer eigenen Arbeit einen nicht aufgelösten Widerspruch zu verallgemeinerten Postulaten einer sozialen Verkehrspolitik des Wohlfahrtsstaates). Darüber hinaus hebt sie hervor, dass von lokalen Initiativen innerhalb der Region bereits vor Jahrzehnten Forderungen gestellt wurden, den öffentlichen Nahverkehr mittels direkter Verbindungen zwischen den Vororten an die tatsächlichen Alltagsbeziehungen der lokalen Bevölkerung anzupassen und damit Kommunikation wie Interaktion innerhalb der städtischen Peripherie zu verbessern (2015: 176ff.). Spannend ist dies insofern, weil diese Idee einer Ringverbindung außerhalb der administrativen Stadtgrenzen ja tatsächlich von mächtigen nationalstaatlichen Organisationen und Wirtschaftsverbänden aufgegriffen wurde, da sie diese als effektives Instrument zur Entwicklung einer international wettbewerbsstarken polyzentrischen Stadtregion identifizierten (2013: 798). Aufgegriffen wurde es allerdings nur – so ihre These – weil auch direkt die damit intendierten Zwecke modifiziert wurden: Weg von der Idee einer allgemeinen Verbesserung des
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2 Öffentlicher Verkehr und Raumproduktion
Verkehrsangebots in der Peripherie25 und hin zur gezielten Förderung wirtschaftlicher Entwicklung mittels Verbindung zwischen den drei internationalen Flughäfen sowie verschiedenen peripheren Finanz-, Wissenschafts- und Wirtschaftszentren (ebd.: 802, 807f.). Dies verweist nicht nur darauf, dass auch die räumliche Form öffentlicher Verkehrsinfrastrukturen stets umkämpft und eng mit spezifischen ökonomischen und machtpolitischen Interessen verknüpft ist, also auch die Frage der Netzstruktur öffentlicher Verkehrssysteme selbst als Analysegegenstand betrachtet werden sollte. Darüber hinaus kann – in Anlehnung an Addie (2015) – gerade diese von Enright beobachtete Zuwendung der politisch-planerischen Praxis zu polyzentraler Raumerschließung als eine fruchtbare Grundlage betrachtet werden, Diskrepanzen zwischen verschiedenen institutionellen und individuellen Ansprüchen an Verkehrsräume vertiefend zu diskutieren und neue Diskussionen über Sinn und Unsinn der räumlichen Form öffentlicher Verkehrsnetze anzustoßen. Zusammenfassend lässt sich anhand dieser Kritik bisher veröffentlichter Studien zur Neoliberalisierung städtischer Verkehrspolitiken folgende Forschungsagenda formulieren: Erstens kann eine adäquate Kritik politischer Zwecke beim Ausbau öffentlicher Nahverkehrsstrukturen nur dann gelingen, wenn Klarheit darüber besteht, welche politischen Zwecke zu unterschiedlichen Zeiten mit einem Ausbau verbunden wurden. Eine stichhaltige Kritik des öffentlichen Nahverkehrs in der unternehmerischen Stadt kann demnach nur nachvollziehbar formuliert werden, wenn der Verweis auf fordistisch-wohlfahrtsstaatliche Nahverkehrspolitik über allgemeingängige Phrasen hinausgeht. Solange dies jedoch nicht geschieht und lediglich das politische Abweichen vom Gemeinplatz einer vermeintlich gerechteren und sozialeren Verkehrspolitik in der Vergangenheit attestiert wird, muss eine derartige Kritik gegenwärtiger Nahverkehrspolitik unweigerlich ins Leere laufen. Zweitens greifen auch solche Forschungsprojekte letztendlich zu kurz, die sich primär auf die Einbettung des öffentlichen Nahverkehrs in Stadtentwicklungsprojekte oder einen Wandel in der Unternehmensorganisation und -steuerung konzentrieren, die gleichzeitig aber die Frage zu einem Nebenschauplatz verkommen lassen, welche Implikationen damit einhergehen (können). Denn Kernbestandteil eines öffentlichen Verkehrssystems ist eben nicht nur die Verteilung von Zugängen im Raum, sondern insbesondere die Frage der Beziehungen zwischen diesen Zugängen, also eine Frage der raum-zeitlichen Struktur des Netzes. Zentraler Gegenstand einer sozialkritischen Analyse des öffentlichen Nahverkehrs muss also immer die 25 Unabhängig davon wird von den ursprünglichen Initiatoren des Projekts mittlerweile der Einrichtung neuer Tangentialverbindung mittels neuer Straßenbahnstrecken verfolgt (Burmeister 2012).
2.3 Wegmarken – Raumproduktionen und Verkehrsinfrastrukturen
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Frage sein, welche Konsequenzen sich aus einem Wandel politischer Regime für die raum-zeitliche Struktur öffentlicher Verkehrssysteme ergeben und in welchem Verhältnis diese Struktur zu alltäglich gelebten räumlichen Praktiken steht.
2.3
Wegmarken – Raumproduktionen und städtische Verkehrsinfrastrukturen
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Wegmarken – Raumproduktionen und Verkehrsinfrastrukturen
Anhand dieser Auseinandersetzung mit bestehenden Arbeiten zur städtischen Verkehrspolitik wurde deutlich, dass insbesondere Fragen nach der räumlichen Form des öffentlichen Nahverkehrs bisher oft vernachlässigt wurden. Darum wird im Rahmen dieser Arbeit ein besonderer Fokus auf diesen Aspekt der Politik städtischer Verkehrsinfrastrukturen gelegt. Dafür ist es allerdings umso wichtiger, noch vor der eigentlichen Analyse zu klären, was hier eigentlich mit dem Begriff ‚Raum‘ gemeint ist und warum – daran anschließend – im Rahmen dieser Arbeit die Auffassung vertreten wird, dass eine dezidierte Verknüpfung der Politik von Verkehrsinfrastrukturen mit bestimmten Raumbegriffen einen erheblichen Mehrwert für die Diskussion um die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des städtischen öffentlichen Verkehrs erbringt.
2.3.1 Raum in Geographie und geographischer Verkehrsforschung Zuerst ist es dabei aber notwendig, das unterschiedliche Verständnis von ‚Raum‘ anzusprechen, das zu unterschiedlichen Zeitepochen die verkehrsgeographische Disziplingeschichte prägte, bzw. prägt. Denn gerade durch den Verweis auf verschiedene historische Raumverständnisse in der Humangeographie wird offensichtlich, warum insbesondere die geographische Verkehrs- und Mobilitätsforschung der Frage nach Zusammenhängen zwischen Verkehrspolitik und der räumlichen Form von Verkehrsinfrastrukturen bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt hat. Wenig relevant ist in diesem Zusammenhang das Raumverständnis der traditionellen Geographie, wo Räume als real in der Welt vorkommende und selbstständig wirkmächtige Ordnungsschemata aufgefasst wurden (Wardenga 2002: 8f.). Diese geodeterministische Auffassung von Raum wird heute in der Humangeographie kaum mehr ernsthaft diskutiert – zumindest sobald sie über eine pragmatische und schwammige Auffassung im Sinne einer Art „Adressangabe“ hinausgeht (Weichhart 2008: 77). Anders verhält es sich mit der ab den 1970er Jahren etablierten 45
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2 Öffentlicher Verkehr und Raumproduktion
geographischen Raumstrukturforschung, die das traditionelle Raumverständnis weitestgehend ablöste und gleichzeitig insbesondere die Verkehrsgeographie über viele Jahre hinweg prägte. Zwar tendierte auch die Raumstrukturforschung noch dazu, Räume als „in der Realität vorkommende Raumganzheiten zu behandeln“ (Wardenga 2002: 9), sie legte ihren Schwerpunkt nun aber auf Fragen zu gegenseitigen Lagebeziehungen, räumlichen Distanzen und Standorten von materiellen Objekten. Die daraus abgeleiteten quantifizierten Ergebnisse wurden dann als objektive, wertneutrale und vergleichbare Kenngrößen gesellschaftlicher Wirklichkeit betrachtet (Krumbein et al. 2008: 28; Wardenga 2006: 38f.; vgl. auch Werlen 2008: 189ff.). Dabei ist es nicht verwunderlich, dass diese neue Art eines an Lagebeziehungen orientierten Raumverständnisses gerade in der Verkehrsgeographie, die qua Gegenstand a priori als eine besonders eng an das Räumliche geknüpfte Teildisziplin der Humangeographie betrachtet werden kann, auf großen und nachhaltigen Widerhall stieß. Schließlich haben auch schon bedeutende Wegbereiter der geographischen Verkehrsforschung bereits implizit mit einem solchen Raumbegriff gearbeitet. Etwa Thünen (1826) in seinem Modell zu den Zusammenhängen zwischen Transportkosten und landwirtschaftlicher Bodennutzung oder Christaller (1933) in seinem System zentraler Orte (vgl. Weichhart 2008: 78). Und tatsächlich finden sich innerhalb der Verkehrsgeographie derartige ‚klassische‘ Raumanalysen selbst aus jüngeren Jahren noch in größerer Anzahl. Beispielsweise wenn eine Erreichbarkeit verschiedener Orte thematisiert werden soll, wobei dann häufig auch zentrale Orte oder die Grunddaseinsfunktionen der Münchner Sozialgeographie eine gewichtige Rolle spielen (vgl. Busch-Geertsema et al. 2020). Zuletzt wird selbst im letzten, noch heute vertriebenen Lehrbuch einer klassischen „Verkehrsgeographie“ hinsichtlich der „[r]aumspezifische[n] Charakteristik von Mobilität und Verkehr“ (Nuhn und Hesse 2006: 187) mit Blick auf das Verkehrsaufkommen einer Stadt folgendes dargelegt: „Ausschlag gebend hierfür [das städtische Verkehrsaufkommen] sind nicht nur die Verkehrserschließung der jeweiligen Teilgebiete, also die infrastrukturellen Eigenschaften des Raumes, sondern auch siedlungsstrukturelle Aspekte wie die Ausstattung mit Versorgungseinrichtungen, Bebauungsdichte und Entfernung zum Stadtzentrum. Hinzu kommt die jeweilige soziale Komposition, d. h. die Differenzierung der Bewohner nach Haushaltsgröße, Alter und Einkommen. Erst das Zusammenwirken von (Verkehrs-) Infrastruktur, Sozialstruktur und Raumstruktur erklärt die jeweiligen Eigenschaften eines Teilraums mit Blick auf das spezifische Aufkommen von Mobilität und Verkehr“ (Nuhn und Hesse 2006: 187ff.; Hervorhebungen im Original).
Abgesehen davon, dass aus der Passage nicht klar hervorgeht, was es mit der hier nicht näher definierten „Raumstruktur“ auf sich hat, werden Verkehrsinfrastrukturen neben siedlungsstrukturell bedingten Lagebeziehungen und aggregierten
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soziostrukturellen Gegebenheiten als einer von mehreren Faktoren beschrieben, die das spezifische Verkehrsaufkommen eines Stadtraums bedingen. Die Art und Weise, wie Menschen sich im Raum bewegen, wird hier demnach in Abhängigkeit von verschiedenen gesellschaftlich bedingten Faktoren konstatiert, zu denen auch Verkehrsinfrastrukturen gezählt werden. Der durch Standorte, Lagebeziehungen und Distanzen charakterisierte, und damit maßgeblich durch Verkehrstechnologien geprägte und durch Erreichbarkeiten bestimmte Raum wird dann also unhinterfragt als etwas wahrgenommen, das die gesellschaftliche Wirklichkeit maßgeblich beeinflusst. Daran anschließend besteht die Aufgabe der Raumstrukturforschung darin, die aus dieser Konstellation resultierenden, jeweils spezifischen „raumbezogenen Ordnungsmuster“ (Wardenga 2006: 38; vgl. auch Werlen 2008: 208ff.) wertneutral in ihrer Objektivität zu erkennen, um diese dann in einem weiteren Schritt zu optimieren, sprich: mittels „Expertenwissen ‚richtige‘ Entscheidungen treffen zu können“ (ebd.: 39). Wenn also Krumbein et al. (2008: 29) in der (rein einer quantitativen Methodik verschriebenen) Raumstrukturforschung die Strategie erkennen, das technokratisch organisierte Planungsgeschehen dieser Zeit vermeintlich ideologiefrei abzusichern, offenbart sich damit zugleich ein großes Problem der klassischen Verkehrsgeographie. Schließlich sind auch die im Rahmen einer Raumstrukturforschung identifizierten räumlichen Ordnungsmuster entgegen dieser Postulate gerade nicht objektiv und wertneutral, sondern stets Resultat einer spezifischen gesellschaftlichen Praxis. Auch räumliche Ordnungsmuster sind etwas explizit durch die sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse selbst Produziertes (Miggelbrink 2002: 40f.; Wardenga 2006: 39ff.). Tatsächlich begann sich die deutschsprachige Geographie bereits gegen Ende der 1970er Jahre immer mehr von der Idee einer unabhängig vom Bewusstsein existenten „unverfälschte[n] ontische[n] Wirklichkeit“ zu lösen und sich der Frage zuzuwenden, wie „Räume gemacht werden“ (Wardenga 2006: 41). Im Rahmen einer konstruktivistischen Perspektive geschah dies zunächst vor allem über die Zuwendung zu Fragen nach individuellem Verhalten im Raum und nach subjektiver Wahrnehmung und Bewertung räumlicher Aspekte auf individueller und sozialer Ebene. Ausgehend von Hägerstrands (1970) Aktionsraumforschung, später auch mit Verweis auf Giddens’ (1988) Strukturationstheorie und spätestens mit umfangreicher Rezeption Werlens (2008) handlungstheoretischer Sozialgeographie rückte seit den 1980er Jahren nun immer mehr das handelnde Subjekt in den Vordergrund humangeographischer Forschung (Wardenga 2006: 39ff., 2002: 10f.). Die Idee eines selbstständig wirkenden Raumes wurde damit endgültig verworfen. Stattdessen erfolgte nun zunehmend eine Konzentration auf die menschliche Tätigkeit selbst, womit der Raum zugleich als ausschließliches Produkt sozialen Handelns und die subjektive Konzeption von Raum durch das „alltägliche Geographie-Machen“ 47
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2 Öffentlicher Verkehr und Raumproduktion
(Werlen 2008: 317) zum Hauptgegenstand humangeographischer Forschung über den Raum deklariert wurden. Diese Art der Theoretisierung von Raum erfährt bis heute in vielen anderen Teildisziplinen der Humangeographie und darüber hinaus große Resonanz (vgl. z. B. Reuber 2012: 66). Auch in der geographischen Forschung zu Verkehr und Mobilität wurde sie vermehrt aufgegriffen (vgl. Busch-Geertsema et al. 2020) und bisweilen sogar explizit als sozialgeographische Mobilitätsforschung tituliert (Wilde 2014), um die entsprechenden raumtheoretischen Bezüge zu Werlen besonders hervorzuheben. Grundlegend spiegelt sich dieser programmatische Wandel hin zur Erforschung individuellen Mobilitätshandelns auch darin wieder, nun eine geographische (Verkehrs- und) Mobilitätsforschung betreiben zu wollen, um sich auch in der Eigenbezeichnung von Sichtweisen, Konzepten und Methoden der klassischen Verkehrsgeographie abzugrenzen (vgl. z. B. Busch-Geertsema et al. 2020; Gather et al. 2008). Ins Zentrum der subdisziplinären Forschung rücken damit seit einigen Jahren vor allem Fragen nach Erfahrungen und Ereignissen, die das individuelle Mobilitätsverhalten beeinflussen, prägen und verändern (ebd.). Langfristiges Ergebnis der programmatischen Abkehr von der Raumstrukturforschung ist damit eine geographische Verkehrs- und Mobilitätsforschung, die sich aufgrund der Konzentration auf handlungszentrierte Perspektiven bis heute weitgehend von strukturorientierten Forschungsansätzen entfernt hat.
2.3.2 Zur sozialen Produktion von Raum Wenig hilfreich sind solche handlungszentrierten Herangehensweisen allerdings dann, wenn (a) gesellschaftliche Machtgefälle in die Analyse integriert werden sollen und (b) untersucht werden soll, ob und wie durch dieses Machtgefälle die Anordnung der materiellen Gegebenheiten, innerhalb derer sich das individuelle Mobilitätsverhalten abspielt, aktiv beeinflusst und verändert wird. Symptomatisch zeigt sich dies anhand von Hägerstrands (1970) Aktionsraumforschung. Zwar werden hier verschiedene äußere Restriktionen identifiziert, die das individuelle Handeln in Raum und Zeit begrenzen, dabei wird sogar explizit thematisiert, dass diese Restriktionen mittels gesellschaftlicher Macht modifiziert werden können (ebd.: 16). Auf welche Weise diese Restriktionen durch gesellschaftliche Machtpositionen auch gezielt produziert werden, liegt dann allerdings nicht mehr innerhalb des Forschungsinteresses (vgl. Harvey 1989b: 211f.). Zudem betont auch das in der jüngeren geographischen Mobilitätsforschung häufig rekurrierte „new mobilities paradigm“ (vgl. Sheller und Urry 2006) zwar – in klarer Abgrenzung zu großen Teilen der bisherigen Verkehrsforschung und durchaus berechtigt – das Unterwegssein selbst als wichtigsten Gegenstand entsprechender Forschungsakti-
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vitäten. Dabei wird dann auch der Materialität der Infrastruktur, wie politischen und ökonomischen Rahmenstrukturen der Zirkulation von Menschen und Dingen eine gewisse Bedeutung zugesprochen (ebd.: 210). Zum Analysegegenstand werden diese materiellen Rahmenstrukturen allerdings auch hier nicht wirklich erhoben. Für ein Analyseraster aber, in dem gesellschaftliche Machtstrukturen und die Materialität des Raumes nicht nur auf ausgeklammerte weitere Einflussfaktoren reduziert werden, sondern selbst als Forschungsgegenstand gesellschaftswissenschaftlicher Analysen identifiziert werden, erscheint mir darum eine Orientierung an neomarxistische Herangehensweisen wesentlich zielführender. Ein solches machtsensibles Analyseraster, das insbesondere die soziale Produktion des Raumes ins Zentrum stellt, findet sich beispielsweise in den Ausführungen von Belina (2013, 2008, 2006). Belina selbst beruft sich dabei auf den historischen Materialismus und bezieht sich seinerseits vor allem auf Lefebvre und (noch mehr auf) Harvey. Insbesondere drei Aussagen Belinas können hierbei als besonders sinnvolle Grundannahme für Arbeiten mit und über Raum extrahiert werden: Erstens hält Belina fest, dass jegliche Bedeutungszuschreibung von Räumen immer nur in Abhängigkeit davon stattfinden kann, welche realen Möglichkeiten überhaupt bestehen, unterschiedliche materielle Gegebenheiten zu nutzen, oder zumindest zu kennen (2013: 40, 2008: 72). Mit Blick auf die vorliegende Arbeit wäre das etwa die Frage, welche Verkehrsmittel und Verkehrsinfrastrukturen wo und wohin zur Verfügung stehen, kurzum die Frage nach der Erreichbarkeit unterschiedlicher Orte. Folglich kann eine Bedeutungszuweisung von Räumen keinesfalls willkürlich geschehen. Vielmehr ist diese in der Regel zunächst Resultat sozialer Praxis, also der alltäglichen und gängigen Nutzung und Aneignung der hierfür jeweils relevanten Materialität (Belina 2008: 76; vgl. auch Läpple 1991: 197). Diesen Zusammenhang beschreibt auch Läpple wenn er festhält, dass „Menschen durch die gesellschaftliche Entwicklung immer wieder gezwungen werden, die sozial vorgegebenen Raumvorstellungen zu revidieren und weiterzuentwickeln“ (1991: 203) und dabei explizit auf die Eröffnung der ersten Eisenbahnlinie und die Durchsetzung automobiler Fortbewegung verweist (ebd.). Weil also Verkehrsmittel nebst den zugehörigen Infrastrukturen bestimmte Voraussetzungen bieten, individuelle Aktionsräume auszubilden und wir diese Verkehrsmittel auch regelmäßig in bestimmter Art und Weise nutzen (können), schreiben wir ihnen auch eine entsprechende Bedeutung zu. Zweitens muss darauf aufbauend zugleich immer die Materialität des Raumes selbst Bestandteil der Analyse sein. Nicht im Sinne eines Wirkens unabhängig von Gesellschaft, sondern schlicht deswegen, weil alle materiellen Gegebenheiten, soweit sie für das gesellschaftliche Leben relevant sind, immer (zuvor) eine Aneignung durch den Menschen erfahren haben. In ihrem Ursprung sind diese 49
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gesellschaftlich relevanten materiellen Gegebenheiten also stets zuerst auf den Menschen zurückzuführen. Nicht nur die Bedeutungszuschreibungen konkreter Räume, sondern genauso deren Materialität sind folglich „Resultate der praktischen Aneignung von Natur, die heute weitestgehend bereits umgeformt ist“ (Belina 2008: 76; vgl. auch 2013: 49, 2006: 43ff.). Weil damit die Materialität des Raumes nicht nur den Ausgangspunkt jeder Bedeutungszuschreibung darstellt, sondern auch selbst Produkt gesellschaftlicher Praxis zur Produktion von Räumen ist, darf auch sie nicht außerhalb der Analyse stehen, wie auch das folgende Zitat verdeutlicht: „Die spezifischen Räume von Transport- und Kommunikationssystemen, der menschlichen Siedlung und Wohnung, sämtlich legitimiert durch irgendein gesetzliches System von Rechten an Räumen […] welches […] den Zugang zu den Gesellschaftsmitgliedern garantiert, bringen einen festen Rahmen hervor, innerhalb dessen sich die Dynamik des sozialen Prozesses entfalten muß“ (Harvey 1990/1995: 364).
Zudem betont auch Kuhm (1997: 190ff.) mit Verweis auf Claessens (1959), obgleich ohne expliziten Bezug zur hier ausgeführten theoretischen Rahmung, dass Straßen und Schienennetze zuerst als „vorgegebene“ Kommunikationskanäle betrachtet werden müssen, die mit der Aufforderung einhergehen, diese auch entsprechend zu nutzen. Implizit deutlich wird somit auch hier, dass die Art und Weise individuellen Verkehrens und Kommunizierens maßgeblich dadurch bedingt wird, welche Verkehrswege und Raumbeziehungen zuvor aktiv geschaffen und beschleunigt wurden – und welche eben auch nicht. Drittens muss, wenn die Produktion von Raum durch soziale Praxis, ergo durch die Gesellschaft selbst geschieht, diese Produktion immer auch im Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse untersucht werden. Denn in einer Gesellschaft mit einer ungleichen Verteilung von Macht und Ressourcen verfügen nicht alle Gesellschaftsmitglieder über die gleichen Möglichkeiten, Räume zu produzieren. Wenn aber die Fertigkeiten zur Raumproduktion zwischen den Gesellschaftsmitgliedern unterschiedlich verteilt sind, kann Raum folglich auch als ein Machtmittel eingesetzt werden, um mittels Produktion bestimmter Räume die eigenen Interessen gegenüber anderen durchzusetzen (Belina 2008: 78, 2006: 45). Raum wird also nicht nur in seiner Materialität und Bedeutung sozial produziert, sondern kann in seiner Form darüber hinaus auch auf die jeweiligen Interessen von diesen gesellschaftlichen Akteuren verweisen, die mit überdurchschnittlichen Machtmitteln ausgestattet sind. Weil damit der Machtaspekt eine zentrale Rolle in der Analyse gesellschaftlicher Raumproduktionen spielen muss, gleichzeitig aber nicht nur machtvolle Akteure Räume produzieren, die Raumproduktion daneben auch immer im Rahmen der individuellen alltäglichen Praxis geschieht, ist es notwendig, zwischen verschiedenen Formen der Raumproduktion zu unterscheiden. Erneut unter (selektiver)
2.3 Wegmarken – Raumproduktionen und Verkehrsinfrastrukturen
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Bezugnahme auf Harvey (1989b: 219ff.) unterscheidet Belina darum zwischen drei verschiedenen Formen räumlicher Praxis: Produktion, Kontrolle und Aneignung des Raumes (Belina 2006: 37f.: vgl. Tab. 1): Tab. 1
Typen räumlicher Praxis und ihre Funktionsweise (ergänzt nach Belina 2006: 38; Harvey 1989b: 219ff.)
Typus räumlicher Praxis Produktion des Raumes
Funktionsweise Herstellung neuer Räume
Kontrolle des Raumes
Entscheidungsmacht über die Aneignung bestehenden Raumes
Aneignung des Raumes
praktische Nutzung bestehenden Raumes
Beispiele Beschleunigte Raumüberwindung durch neue Verkehrstechnologien und ‑infrastrukturen staatliche und ökonomische Regulation der Zugangsbeschränkung zu Technologien und Infrastrukturen (Automobil: z. B. Führerschein, Fahrzeugbesitz, Einfahr-Plaketten; Öffentlicher Verkehr: Fahrscheinerwerb und andere Beförderungsbedingungen) Verkehr; alltäglich zurückgelegte Wege von Individuen; Aktionsraum
Die Produktion des Raumes bezieht sich dabei nur auf jene räumlichen Praxen, mit denen tatsächlich neue Räume produziert werden. So etwa durch die Einführung neuer Verkehrstechnologien oder den Neu- bzw. Ausbau von Verkehrsinfrastrukturen, sprich durch eine Erweiterung des Angebots zur Raumüberwindung durch Beschleunigung der Fortbewegung. Diese Produktion neuer Räume lässt sich dabei stets bestimmten Zwecken zuordnen, bei dem die Raumproduktion als Mittel fungiert, jene Zwecke zu verwirklichen. Wenn beispielsweise ein neues Wohngebiet durch Ausweitung des Straßen- und Nahverkehrsnetzes erschlossen wird, geschieht dies vermutlich mit dem Zweck, dieses an das bestehende Verkehrsnetz anzuschließen. Raumproduktion ist damit immer an monetäre Ressourcen oder gesellschaftliche Machtpositionen geknüpft, da es sich hierbei in der Regel um relativ kostspielige Unterfangen handelt. Macht spielt daneben auch bei der Kontrolle des Raumes eine wesentliche Rolle, in deren Rahmen festgelegt wird, wer sich wie in bereits produzierten Räumen bewegen kann und darf. Im Konkreten bezieht sich dies auf staatlicher Ebene auf die Führerscheinpflicht oder diverse Zufahrtsbeschränkungen im Individualverkehr, aber auch auf die Beförderungsbedingungen des öffentlichen Verkehrs. Sowohl Produktion als auch Kontrolle des Raumes können dann 51
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zusammen als Einflussfaktoren betrachtet werden, mit denen Möglichkeitsräume geschaffen werden, in denen Verkehr als individuelle alltäglich-räumliche Praxis stattfinden kann und die alle Orte umfassen, die Individuen in einem vertretbar erscheinenden Zeitraum erreichen können. Innerhalb dieser Möglichkeitsräume kann folglich das individuelle Verkehrshandeln stattfinden. Eine besondere Form der Produktion und Kontrolle von Raum ist für Belina weiterhin die Raumstrategie. Eine solche strategische räumliche Praxis liegt immer dann vor, wenn zum Zweck der Durchsetzung eigener Interessen „gegen andere Interessen oder innerhalb eines Konkurrenzverhältnisses“ auf das Mittel Raum zurückgegriffen wird (ebd.: 57). Ein klassisches Beispiel hierfür wäre etwa die Durchsetzung des schon zitierten Grand Paris Express, dem das Interesse einer kleinteiligeren Erschließung der Peripherie entsprechend den Bedürfnissen der örtlichen Bewohnerschaft gegenübersteht. Diese durch Produktion und Kontrolle geschaffenen Möglichkeitsräume sind in befähigender wie beschränkender Hinsicht das grundlegende Korsett für einen dritten Typus räumlicher Praxis, die Aneignung des Raumes. Analog zum Verständnis von Verkehr als (zumindest größtenteils) Mittel zum Zweck (vgl. z. B. Holz-Rau 2018: 117) dient auch der Raum bzw. die Raumüberwindung den einzelnen Individuen zunächst als Mittel sozialer Praxis – sei der Zweck des jeweiligen Weges nun die Aufrechterhaltung sozialer Netzwerke, der Einkauf von Lebensmitteln und Konsumprodukten, das Erreichen der Arbeitsstelle, Freizeitvergnügen, ein Spaziergang oder eine andere Aktivität (ebd.: 37). Die Aneignung des Raumes beschreibt damit keine theoretischen Möglichkeitsräume, sondern vor allem individuelle Aktionsräume bzw. das tatsächliche individuelle alltägliche Verkehrshandeln. Es geht hier also um solche Räume, in denen sich Individuen alltäglich konkret bewegen und die zugleich einen Hauptgegenstand der handlungstheoretisch orientierten Mobilitätsforschung umreißen.26 Wie weiter oben bereits angedeutet, sind dabei natürlich die zitierten Arbeiten von Belina (und Harvey) nicht der einzige Weg, materielle Räume mit gesellschaftlichen Ungleichheits- und Machtstrukturen zu kontextualisieren, sie damit in gesellschaftliche Prozesse zu integrieren und zuletzt einer gesellschaftswissenschaftlichen Analyse zugänglicher zu machen. Vielmehr könnte hier mit Lefebvre (1991) oder mit Soja (2010, 2009, 1989, 1980) auch auf weitaus prominentere Autoren verwiesen
26 Erneut unter Bezugnahme auf Lefebvre geht Belina neben den zuletzt thematisierten physisch-materiellen Räumen auch auf die Bedeutung von Räumen ein, durch die Räume als Mittel zum Zweck fungieren können (2006: 38ff.). Da es im Rahmen dieser Arbeit jedoch vor allem um die konkrete Materialität von Räumen gehen soll, wird auf deren Bedeutung im Weiteren nicht näher eingegangen.
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werden. Warum hier dennoch vor allem auf Belina Bezug genommen wurde, soll darum in den folgenden Abschnitten kurz umrissen werden. Besonders naheliegend wäre es sicherlich gewesen, sich direkt auf Lefebvre (1991) zu beziehen. Schließlich hat er den Begriff der Produktion des Raumes maßgeblich geprägt und sein Werk stellt darüber hinaus die Grundlage dar für eine Vielzahl jüngerer wissenschaftlicher Auseinandersetzungen zu den Zusammenhängen zwischen Gesellschaft und Raum (wie auch bei Belina und Harvey). Erneut Belina (2013: 80, 2006: 35ff.) folgend wurde jedoch auch in dieser Arbeit auf eine direkte Bezugnahme auf Lefebvre verzichtet, da er in seinem Werk keine eindeutige Erklärung liefert, was mit dem Begriff der Produktion genau gemeint ist, dabei zeitweilig ins Irrationale abgleitet, damit zu einer Vielzahl unterschiedlichster Interpretationen anregt. Eine eine konkrete Operationalisierung des Begriffs wird damit unnötig erschwert. Tatsächlich erscheint eine solche konkrete Operationalisierung mit Belinas (bzw. Harveys) klaren Definitionen von Produktion, Aneignung und Kontrolle des Raumes wesentlich leichter umsetzbar. Daneben erscheint auch Soja (2010, 2009, 1989, 1980) als Referenz an dieser Stelle zunächst durchaus naheliegend, zumal dessen Argumentation der von Belina in weiten Teilen ähnelt, was v. a. darin begründet liegt, dass auch bei Soja Lefebvre als zentraler Ausgangspunkt dient. Folglich geht es auch Soja darum, (1) Raum als soziales Produkt zu beschreiben, wonach dieser durch gesellschaftliche Praktiken und Prozesse bedingt und stetig verändert wird, (2) die Frage nach der Produktion von Raum als Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse und Kämpfe darzustellen (2009: 3f., 1989: 129f.) und (3) zu betonen, dass diese sozial produzierten räumlichen Muster wiederum unsere sozialen und mobilen Praktiken ermöglichen wie auch beschneiden (2010: xi, 2009: 2). Besonders ansprechend ist Sojas Werk dabei schon alleine deswegen, weil seine Theorie genuin darauf abzielt, mittels Offenlegung räumlicher Ungleichheiten auch die Entwicklung räumlicher Gegenstrategien zu ermöglichen (2010: 48, 2009: 5). Allerdings weisen auch Sojas Ausführungen zugleich eine gewisse Problematik auf. So stellt er den Raum hier im Sinne einer „sozial-räumlichen Dialektik“ auf eine Ebene mit der Gesellschaft, was für ihn dann bedeutet, dass Raum und Gesellschaft sich gegenseitig beeinflussen, also auch vom Raum selbst eine Wirkung ausgehe (2010: 18, 2009: 2, 1980; kommentierend: Belina 2006: 30f.; Roskamm 2012). Ähnlich der Forschung zu mobilitätsbezogener sozialer Exklusion und Mobilitätsarmut (vgl. Kap. 2.2.2) resultiert dies jedoch darin, dass durch die starke Konzentration auf den Raum selbst im Endeffekt ausschließlich Symptome zum Gegenstand der Analyse erhoben werden. Die Quelle räumlicher Ungleichheiten, die Praxis gesellschaftlicher Entscheidungen und Prozesse, die diese erst bedingen, geraten dagegen in den Hintergrund. Darum erscheint auch hier Belinas Vorschlag zur Untersuchung 53
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wesentlich zielführender. Schließlich geht es ihm gerade nicht darum, Raum „an sich“ zu thematisieren, sondern ausschließlich hinsichtlich der Frage, welche „Rolle [.] er bei bestimmten Fragestellungen spielt“ (2006: 31). Die Frage, die laut Belina darum – erneut in enger Orientierung an Lefebvre – hinsichtlich einer gesellschaftswissenschaftlichen Forschung zu Räumen als besonders grundlegend erscheint, lautet darum in bewusster Bezugnahme auf die hinter der Raumproduktion verborgenen Akteure und Institutionen: „Wer produziert wie welche Räume und zu welchem Zweck?“ (2013: 85; vgl. auch 2006: 38, 79) – seien dies nun „Grenzen, Netzwerke, Zentren und Peripherien oder andere sich physisch-materiell manifestierende soziale Produkte [.], die als Voraussetzung und Mittel sozialer Praxen und Prozesse fungieren“ (2008: 85).
2.3.3 Raumproduktion durch Verkehrsinfrastrukturen “Given the importance of transport in current highly mobile societies, the way in which governments distribute transport over their citizens becomes of the utmost importance.” (Martens 2012: 1035)
Wie im letzten Kapitel herausgearbeitet, kann explizit auch Verkehrsinfrastrukturen eine gewichtige Rolle bei der Produktion von Räumen zugewiesen werden. Tatsächlich steht ein solches Verständnis von Verkehrsinfrastrukturen jedoch in einem starken Gegensatz zu herkömmlichen Herangehensweisen, in denen diese eine Rolle spielen. Angefangen bei den klassischen Verkehrswissenschaften gelten Verkehrsinfrastrukturen hier als „derjenige Teil der technischen Infrastruktur – die Menge aller Grundeinrichtungen personeller, materieller und institutioneller Art, [sic] welche den Transport von Gütern, die Beförderung von Personen und die Übertragung bzw. Übermittlung von Nachrichten ermöglichen“ (Ammoser und Hoppe 2006: 27).27 Ganz ähnlich der in der Humangeographie kaum noch relevanten Raumstrukturforschung (vgl. Kap. 2.3.1) werden Infrastrukturen hier also nach wie vor als externalisiertes, folglich unpolitisch-objektives Grundgerüst aufgefasst, auf dem sich dann gesellschaftliche Prozesse abspielen.
27 Hier besteht eine große Übereinstimmung mit klassischen Definitionen zu Infrastrukturen im Allgemeinen. So können diese nach der vielzitierten Definition von Jochimsen (1966: 100) verstanden werden als die „Summe der materiellen, institutionellen und personalen Einrichtungen und Gegebenheiten [.], die den Wirtschaftseinheiten zur Verfügung stehen“.
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Obgleich zumindest außerhalb der engeren Verkehrswissenschaften auch gesellschaftliche Aspekte in Überlegungen zu Verkehrsinfrastrukturen mit einbezogen werden, sind oft gerade solche Auffassungen besonders prominent, die, an klassische wirtschafts- und politikwissenschaftliche Debatten anknüpfend, vor allem an deren ökonomischer Verwertbarkeit interessiert sind (Müller et al. 2017: 5). So wird selbst im Wörterbuch allgemeine Geographie ausgeführt: „Eine gut ausgebaute und funktionierende Verkehrsinfrastruktur ist eine wichtige Voraussetzung für die wirtschaftliche, insbesondere industrielle und touristische Entwicklung“ (Leser 2005: 1023). Ganz ähnlich wird auch innerhalb der Raumordnung der Begriff insbesondere mit wirtschaftlicher Entwicklung verknüpft – sowohl hinsichtlich ihrer oft angenommenen positiven Wirkung auf Wirtschaftswachstum als auch hinsichtlich infrastruktureller Kapazitätsengpässe als Beschränkung wirtschaftlicher Prosperität und des hierfür als notwendig erachteten (Mindest‑) Ausmaßes staatlichen Eingreifens (z. B. Knieps 2005; 2016; Wieland 2005). Vergleichbares gilt für die in den letzten Jahren wieder intensiver geführte Diskussion um Verkehrsinfrastrukturen als Teil der staatlichen Daseinsvorsorge (v. a. im Hinblick auf den ländlichen Raum), also der staatlichen Gewährleistung allgemeiner Produktionsbedingungen in hochindustrialisierten Gesellschaften. Obwohl hier im Grundgesetz festgehaltene Aufgaben staatlicher Politik diskutiert werden, wird trotzdem von prominenten Autoren immer wieder die vermeintlich schwierige Finanzierbarkeit derartiger Maßnahmen als Totschlagargument in Stellung gebracht (z. B. Canzler und Knie 2009; Gegner und Schwedes 2014). Für das Argument dieser Arbeit ist dieser Verweis insofern gewinnbringend, als dass die gegenwärtigen Finanzierungsprobleme der Daseinsvorsorge letztendlich zugleich als Resultat strategischer Raumproduktion betrachtet werden können. Denn schließlich wird heute jede Art motorisierter Fortbewegung mehr oder weniger staatlich subventioniert, wobei der öffentliche Nahverkehr, zumindest was kommunale Haushalte betrifft, sogar noch vergleichsweise gut abschneidet, wie erst jüngst durch ein Forschungsprojekt der Universität Kassel eindrücklich veranschaulicht wurde (Sommer et al. 2015). Die hier relevante Frage wäre demnach weniger, welche Formen der Mobilität subventioniert werden können, sondern welche subventioniert werden sollen. Der Daseinsvorsorgeaspekt wiederum nimmt auch bei der Beschreibung des Begriffs Verkehrsinfrastrukturen im Lexikon der Geographie eine gewichtige Rolle ein. Hierzu wird festgehalten, dass vor allem seit den 1990er Jahren in Deutschland ein „Rückzug aus der Fläche“ stattgefunden hat, wobei zugleich darauf verwiesen wird, dass die Bereitstellung von Verkehrsinfrastrukturen in fast allen Staaten als Aufgabe der öffentlichen Hand gesehen wird und damit in der Regel staatlicher Kontrolle unterliegt. Dennoch wird auch hier das Aufgabenspektrum von Verkehr55
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sinfrastrukturen folgendermaßen thematisiert: „Leistungsfähige Verkehrswege verbessern die Erreichbarkeit von Zentren, erhöhen die Standort- und Wohnattraktivität von Regionen und können zur Stabilisierung ländlich-peripherer Gebiete beitragen“ (Brunotte et al. 2002: 427). Obwohl also darauf hingewiesen wird, dass Verkehrsinfrastrukturen einen Einfluss auf räumliche Entwicklungsprozesse haben können, wird auch hier nicht thematisiert, dass und wie mit Infrastrukturen strategische Raumpolitik betrieben werden kann. Ähnliches lässt sich im Übrigen auch der in der Mobilitätsforschung zentral geführten Debatte um die Ausgestaltung nachhaltigerer Verkehrssysteme oder der Diskussion um mobilitätsbezogene soziale Exklusion attestieren: Während erstere verschiedene Verkehrsinfrastrukturen entsprechend ihrer Ökobilanz als fördernsbzw. nichtfördernswert einordnet und im Rahmen einer Verkehrswende vor allem den Umweltverbund stärken will (z. B. Banister 2008; Bertram und Altrock 2009: 13f.; Gather et al. 2008: 35; Schiller et al. 2010), identifiziert letztere – wie bereits ausgeführt (vgl. Kap. 2.2.2) – fehlende Zugänge zu Verkehrsinfrastrukturen als Ursache sozialer Exklusion und verbindet dies mit der Forderung zur punktuellen Nachbesserung derselben (z. B. Daubitz 2011; Lucas 2013). Beiden Forschungsfeldern muss dabei zugestanden werden, dass sie den Einfluss politischer Entscheidungen auf die räumliche Form von Verkehrsinfrastrukturen sehr wohl erkennen und thematisieren. Dennoch wurde in diesem Rahmen bisher kaum – und wenn, dann auf einer bundespolitischen Ebene (vgl. Kap. 2.2.1) – hinterfragt, welche gesellschaftspolitischen Motive sich konkret hinter dem Bau öffentlicher Nahverkehrsinfrastrukturen verbergen. So erscheinen Verkehrsinfrastrukturen auch hier nach wie vor als neutrale, rein technische Gegebenheiten, die durch entsprechende politische Entscheidungen an neue Anforderungen angepasst werden sollen. Derartige Auffassungen von Verkehrsinfrastrukturen müssen jedoch schlicht als verkürzt bezeichnet werden, wenn angenommen wird, dass diese – mit Verweis auf voriges Kapitel – sowohl in ihrer spezifischen Funktion als auch in ihrer räumlichen Form stets auch als Produkt von durch Machtstrukturen beeinflussten Entscheidungen betrachtet werden müssen. In dieser Lesart verweisen sogar selbst die ersten Entscheidungen über Planung, Bau und Ausgestaltung zugleich immer auf einen Prozess der Materialisierung dezidierter politischer Ziele. Konsequenterweise kann folglich auch eine Auffassung von Infrastrukturen als neutrale, unpolitische Artefakte schlicht nicht mehr aufrechterhalten werden, sie können nicht als neutrale Gegebenheiten existieren (vgl. Höhne und Naumann 2018: 17; McFarlane und Rutherford 2008: 364). Vielmehr verbergen sich hinter der Entscheidung zum Bau oder der Instandhaltung von Verkehrsinfrastrukturen häufig unzählige Debatten und Verhandlungen zwischen verschiedenen, mit unterschiedlichen Machtmitteln ausgestatteten
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Akteuren, von Regierungen, über Gerichte und Medien bis hin zur allgemeinen Öffentlichkeit (McFarlane und Rutherford 2008: 366). Forderungen nach einer Materialisierung von Nachhaltigskeits- oder sozialpolitischen Zielen sind demnach also nichts, was einer (zuvor) neutralen Infrastruktur aufgesetzt wird, sondern sie treten stets unmittelbar in Konkurrenz (ggf. auch in Symbiose) mit anderen politischen Zielen. Besonders deutlich zeigt sich dies für den Verkehrsbereich in den Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie. Dabei ähnelt die gängige politisch-administrative Argumentation, wie sie etwa auch in der deutschen Raumordnung zu finden ist, im Endeffekt einer klassischen Modernisierungstheorie: Ziel von neuen Verkehrsinfrastrukturen in periphere Gebiete ist es, diese durch eine Verbindung mit prosperierenden Zentren zumindest an deren wirtschaftlichen Entwicklung, Konsum- und Dienstleistungsangebot teilhaben zu lassen, wenn nicht sogar neues Wachstum vor Ort anzuregen (Kühn und Weck 2013: 28ff.). Tatsächlich lässt sich jedoch empirisch nachweisen, dass eine Erweiterung von Verkehrsnetzwerken keinesfalls zwangsweise zu einer Angleichung und Homogenisierung regionaler Entwicklung führt, sondern vielmehr oft dazu beiträgt, bestehende Unterschiede zwischen Zentrum und Peripherie weiter zu verstärken, indem vor allem die schon zuvor größere bzw. zentralere Einheit – also die Stadt mit dem größeren Angebot an Arbeitsplätzen, Konsumeinrichtungen und Dienstleistungsangeboten – von einem nun größeren Einzugsgebiet profitiert (Gather 2005; MacKinnon et al. 2008). Die Dichotomie zwischen Zentrum und Peripherie basiert damit auf einem Machtverhältnis, innerhalb dessen das Zentrum die eigene ökonomische, politische und soziale Position durch einen Zugriff auf die Ressourcen der Peripherie verbessert. Auch wenn diese Prozesse zwangsweise im Kontext einer Art fatalistischer Abhängigkeit von dynamischen und oft unvorhersehbaren Prozessen globalisierter Wirtschaftsstrukturen stattfinden, Zentralisierung also keinesfalls unweigerlich eine positive wirtschaftliche Entwicklung garantieren kann, wird damit dennoch deutlich, dass durch den Zugriff auf die Peripherie an erster Stelle die Wirtschaftskraft im ungleich mächtigeren Zentrum verbessert wird (Kühn und Weck 2013: 25ff.). Wenn also ein Zentrum durch Verkehrsinfrastruktur auf direktem Wege mit verschiedenen Orten in der Peripherie verbunden wird, kann damit zwar bei letzteren eine Attraktivitätssteigerung für suburbane Wohnwünsche einhergehen. Gleichzeitig geht dies für die Peripherie immer auch mit der Gefahr einer Schwächung der eigenen ökonomischen Leistungsfähigkeit sowie der Dienstleistungsund Konsumangebote vor Ort einher. Das Zentrum hingegen profitiert von einem größeren Arbeitskräftereservoir und einer verstärkten Nachfrage der städtischen Dienstleistungs- und Konsumangebote. 57
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Wird nun aber die Produktion von Räumen immer als Mittel bestimmter Zwecke angenommen, bedeutet das erstens, dass eine Erweiterung des Einflussbereiches eines Zentrums durch die Erschließung einer Peripherie als Strategie der politischen Kräfte des Zentrums betrachtet werden kann. Zweitens sollten damit Verkehrsinfrastrukturen – das Vokabular des letzten Kapitels aufgreifend – immer auch dahingehend untersucht werden, inwieweit diese bewusst als Instrument eingesetzt werden, mit dem das Mittel städtischer (oder regionaler) Verkehrsraum produziert werden soll, um damit wiederum bestimmte politische Zwecke zu verfolgen. Wenn zudem noch davon ausgegangen wird, dass Entscheidungen innerhalb unserer kapitalistischen Gesellschaft maßgeblich von Aufrechterhaltung und Durchsetzung bestehender Machtverhältnisse geprägt sind, können letztendlich auch Verkehrsinfrastrukturen selbst als räumliche Ausprägung politischer Herrschaftsstrategien analysiert werden.
Von Infrastrukturen und „zersplitternden“ Städte Dass solche Prozesse der Infrastrukturbereitstellung wiederum keinesfalls als homogene, räumlich gleichförmige Entwicklung betrachtet werden dürfen, haben bereits Graham und Marvin (2008, 2001) anhand der These von „zersplitternden“ Städten (Splintering Urbanism) durch veränderte Infrastrukturpolitiken herausgearbeitet:28 “[…] the diverse political and regulatory regimes that supported the ‘roll out’ of power, transport, communications and water networks towards the rhetorical goal of standardized ubiquity are, in many cities and states, being ‘unbundled’ or even ‘splintered’, as a result of widespread movements towards privatization and liberalization” (Graham 2000: 185).
Anknüpfungspunkt ist auch hier die Feststellung, dass Infrastrukturnetzwerke in den verschiedenen Disziplinen der Stadtforschung bis dato weitgehend vernachlässigt wurden. Als Ziel ihrer Arbeit formulieren sie darum, den Rahmen für einen „critical networked urbanism“ zu setzen (Graham und Marvin 2008: 39). Anhand der umfangreichen und oftmals erfolgreich umgesetzten Bestrebungen der letzten Jahre, Infrastrukturen zu privatisieren und zu liberalisieren, zeigen sie dabei auf, welche intensiven Wechselwirkungen zwischen Infrastrukturen und Stadtentwicklung bestehen. Dabei geht es ihnen insbesondere darum, aufzuzeigen, wie der von ihnen attestierte Wandel der Infrastrukturpolitik zu einer „neuen Logik von Netzwerken“ führt (ebd.). Auch bei dieser Arbeit steht also die soziale Produktion von Raum und deren Veränderung im Zentrum der Analyse. Im Kern steht hier 28 Auch allgemein können die Arbeiten von Graham und Marvin als zentraler Ausgangspunkt für ein in den letzten Jahren zunehmendes Interesse an kritischer Infrastrukturforschung betrachtet werden (Müller et al. 2017: 1).
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die These, dass gegenwärtig weltweit eine Abkehr der Stadtplanung vom Ziel einer standardisierten und räumlich integrierten Massengesellschaft feststellbar sei, was insbesondere bei Infrastrukturen darin resultiere, dass diese nun zunehmend eine räumliche Fragmentierung und Differenzierung erfahren würden (2008: 38; Graham und Marvin 2001: 33). Inhaltlich liegt der Schwerpunkt dabei zwar vor allem auf städtischen Wasser-, Energie- und Kommunikationsinfrastrukturen, dennoch wird ihm Rahmen der Analyse auch immer wieder auf Verkehrsinfrastrukturen verwiesen. Als Ausgangsbasis ihrer Arbeit verweisen sie auf ein „modernes Infrastruktur ideal“, das sie als prägend für die städtische Planung in der Zeitepoche zwischen 1850 und 1960 identifizieren. So wurden in dieser Zeit verschiedenste Infrastrukturen in Städten kommunalisiert und verstaatlicht, um deren zuvor noch räumlich fragmentierte Angebote mittels flächendeckendem Netzausbau in umfassende, zentralisierte und standardisierte Infrastrukturnetzwerke auszubauen. Als dieser staatlich-monopolistischen Infrastruktursteuerung zugrundeliegende Ziele identifizieren sie (1) die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche, (2) eine Neuordnung und Vereinheitlichung von als chaotisch empfundenen (Stadt-)Räumen nach Gesichtspunkten einer modernen technischen Planung, (3) die Schaffung einer materiellen Grundlage für das fordistische System von Massenkonsum und -produktion und (4) die Festigung der Rolle des Staates als ordnende Instanz (Graham und Marvin 2001: 40ff.). Daraus wird dann die Annahme abgeleitet, nach der zumindest in dieser Zeit öffentlich regulierte „Infrastrukturnetzwerke grundsätzlich eine sozial-räumlich integrierende Funktion haben und Städte, Regionen und Nationen in ein geographisch oder politisch funktionierendes Ganzes einbinden“ (Graham und Marvin 2008: 38). Davon ausgehend halten Graham und Marvin nun fest, dass ab den 1980er Jahren in den meisten Nationalstaaten eine Abkehr von diesem hegemonialen Paradigma monopolistischer, standardisierter und integrierter Infrastrukturen einsetzte. Begründet sehen sie dies in den zunehmend finanziellen Engpässen staatlicher Haushalte, in der wachsenden Relevanz eines direkten internationalen Wirtschaftswettbewerbs zwischen Städten infolge anhaltender Wirtschaftsglobalisierung bei gleichzeitig schwindender Steuerungsmacht der Nationalstaaten und in einer zunehmenden Infragestellung allumfassender Stadtplanungsansätze. Als politische Reaktion dieser Entwicklung betrachten sie dann erstens eine zunehmende (Re-)Kommodifizierung, Liberalisierung und Privatisierung von Infrastrukturen, sprich deren Öffnung für den Handel auf internationalen Märkten, für Konkurrenzprinzipien und Angebotswettbewerbe sowie eine Neuausrichtung nach strikten Lukrativitätsprinzipien. Zweitens bedeutet diese Entwicklung aber auch eine Abkehr von der Idee, Infrastrukturen als öffentliche, kollektive und 59
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inklusive Dienstleistungen zu verstehen. In den Vordergrund rückt stattdessen insbesondere deren Funktion als attraktivitätssteigernde Standortfaktoren für Wirtschaftsunternehmen, internationale Investitionen und den Tourismus (Graham und Marvin 2001: 91ff.). Greifbare Resultate daraus erkennen Graham und Marvin zunächst in einer Angebotskonzentration auf vergleichsweise lukrative Gebiete und Orte, beispielsweise Wohnquartiere, in denen ein hohes Wohlstandsniveau vorzufinden ist. Diese bezeichnen sie als „Premium Network Spaces“, die nicht nur von einer besonders gut ausgebauten Infrastruktur profitieren, sondern deren Infrastruktur darüber hinaus auch explizit an die jeweils vor Ort bestehenden Bedürfnisse und Wünsche angepasst wird. Als Kehrseite dieser Konzentrationsprozesse identifizieren sie daneben die Entstehung sogenannter „Network Ghettos“, also Orte und Gebiete, die aufgrund geringer örtlicher Kaufkraft und entsprechend geringer Lukrativitätserwartungen nicht an neue Infrastrukturen angeschlossen werden, zum Teil mittels „Infrastructural Bypass“ sogar bewusst umgangen werden und folglich nur durch ein gesetzlich festgelegtes Mindestangebot erschlossen werden (Graham 2000; Graham und Marvin 2008: 38f., 2001). Obwohl ihnen damit eine kohärente Erzählung gelingt, die über weite Strecken den Anspruch einer universellen Gültigkeit suggeriert, können deren Folgerungen jedoch nur mit Abstrichen auf weitere Fallbeispiele übertragen werden. So weisen sie selbst darauf hin, dass bereits ein „modernes Infrastrukturideal“ weniger als konkrete materialisierte Praxis denn als „symbolische und diskursive Konstruktion“ zu betrachten sei und auch schon zu dieser Zeit durchaus sozioökonomische Enklaven und Praktiken ungleicher Entwicklung existierten (Graham und Marvin 2001: 386; vgl. Graham 2000: 185).29 Zudem gestehen sie ein, dass gerade in vielen westlichen Staaten auch heute noch staatliche Monopole, klassische Quersubventionen und infrastrukturelle Ansprüche des Wohlfahrtsstaats intakt seien. Zugleich gingen politische Praxen zur Schaffung von „Premium Network Spaces“ oft wesentlich subtiler und diverser von statten als über konkrete Infrastrukturinvestitionen. Etwa
29 Darüber hinaus lässt sich für viele Städte des globalen Südens selbst die symbolische und diskursive Konstruktion eines modernen Infrastrukturideals schlicht nicht bestätigen, weshalb hier auch nicht von einer Abkehr von diesem gesprochen werden kann. Vielmehr hat sich ein Infrastrukturideal dort in vielen Fällen gar nicht erst herausgebildet, weswegen die entsprechenden Infrastrukturen schon immer in bestimmter Weise als zersplittert betrachtet werden können. Zudem wurde bereits anhand verschiedener Studien aufgezeigt, dass selbst ein offizielles Bekenntnis zu einem solchen Infrastrukturideal oft nicht zu einer Minderung sozialer Ungleichheiten geführt hat (ein Überblick über verschiedene Studien zu dieser Thematik findet sich bei Coutard (2008: 1816f.)).
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durch explizit zielgruppenorientierte Vermarktungsstrategien oder Rückgriffe auf weitere regulierende und exkludierende Praktiken (Graham und Marvin 2001: 385f.). Eine Übertragbarkeit ist auch hinsichtlich der Situation in Deutschland nur mit starken Abstrichen möglich – wobei Deutschland schlichtweg nicht im Fokus ihrer Analyse stand (Graham und Marvin 2001: 385). Denn mit der wohlfahrtsstaatlichen Daseinsvorsorge ist zwar auch hierzulande eine Art modernes Infrastrukturideal im politischen Diskurs fest verankert, was sich plakativ durch das im Grundgesetz platzierte Postulat einer „Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ offenbart (vgl. Neu 2009: 11). In diesem Rahmen ist etwa die flächendeckende Bereitstellung eines öffentlichen Personenverkehrsangebots als staatliche Aufgabe definiert (Canzler und Knie 2009; Gegner und Schwedes 2014). Jedoch lässt sich auch hierbei durchaus infragestellen, ob das staatlich formulierte Versprechen einer Angleichung räumlich unterschiedlicher Lebensverhältnisse, insbesondere in Hinblick auf sozioökonomische Differenzen zwischen Stadt und Land, überhaupt je Gegenstand konkreter politischer Strategien gewesen ist. Dagegen vertritt etwa Mießner (2016: 155, 257ff.) die These, dass dieses Versprechen vielmehr als „leeres Signifikant“ betrachtet werden muss, wogegen im Konkreten stets eine bewusste politische Unterstützung räumlicher Prozesse praktiziert wurde, die einer Angleichung von Lebensverhältnissen entgegenstanden. Zuletzt ist auch der hier vorgenommene einengende Bezug auf die Privatisierung und Liberalisierung von Infrastrukturen, die Graham und Marvin als Ursprung ihres zersplitternden Urbanismus identifizieren, mit Blick auf Deutschland nur mit Vorsicht zu betrachten. Schließlich kann in Deutschland von einer Privatisierung und Liberalisierung des öffentlichen Nahverkehrs nur bedingt gesprochen werden. So werden der regionale Schienennahverkehr sowie der städtische und regionale Busverkehr heute oftmals nach einem Besteller-Ersteller-Prinzip organisiert, bei dem Leistungen zwar (auch) von privaten Verkehrsunternehmen erbracht bzw. erstellt werden, dies aber ausschließlich im Auftrag der jeweils zuständigen politischen Administration, also dem jeweiligen Besteller der Verkehrsdienstleistungen (Krummheuer 2014a: 18). Eine Privatisierung hat hier also nur hinsichtlich der Betriebsorganisation stattgefunden – wenn auch berechtigterweise verbunden mit aufkommenden Fragen nach einer fairen Entlohnung der Angestellten und der Qualität der Dienstleistungen. Darüber hinaus findet das Besteller-Ersteller-Prinzip gerade in deutschen Großstädten bisher kaum Anwendung. Insbesondere bei schienengeführten Verkehrssystemen sind die unterschiedlichen Planungsebenen bis heute oft weiterhin bei einzelnen kommunalen Verkehrsunternehmen angesiedelt (ebd.). Selbst die Stadt Frankfurt, die sich gerne als „Vorreiter“ der Liberalisierung des öffentlichen Nahverkehrs stilisiert hat (Schietinger 2013: 102), richtet bis heute nur ihren Busverkehr nach einem Besteller-Ersteller-Prinzip aus, während 61
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der schienengebundene Nahverkehr, sprich Stadt- und Straßenbahnen, weiterhin mittels Direktvergabe von der stadteigenen Verkehrsgesellschaft betrieben wird (ebd.: 85ff.).30 Nach wie vor besitzen also die staatlichen Organe in Deutschland eine vergleichsweise große Entscheidungsmacht hinsichtlich der Linienführung und Taktdichte des öffentlichen Nahverkehrs (vgl. Dziekan und Zistel 2018: 357), womit einem „Rosinenpicken“ privater Akteure hier relativ enge Grenzen gesetzt werden. So mag zwar unter Umständen bezweifelt werden, dass in Deutschland eine über symbolische und diskursive Akte hinausgehende bundesweite Angleichung der Infrastrukturversorgung auch beim öffentlichen Verkehr je Ziel politischer Strategien war. Gleichzeitig sind aufgrund der weiterhin relativ weitreichenden staatlichen Einflussnahme auf den öffentlichen Nahverkehr und des nach wie vor bestehenden staatlichen Versorgungsauftrags zumindest bewusst geplante infrastructural bypasses innerhalb des deutschen Schienennahverkehrsangebots sehr unwahrscheinlich. Dennoch sollte auch mit Blick auf die Situation in Deutschland die These von Graham und Marvin nicht vorschnell verworfen werden. Denn auch hier gehört eine unternehmerische, also auf einen internationalen Wettbewerb mit anderen Städten ausgerichtete Stadtpolitik mittlerweile zum politischen Alltag (Heeg und Rosol 2007: 492ff.; Ronneberger 2005: 216f.). Städtische Politiken, die sich an betriebswirtschaftlichen Maximen orientieren und Strategien entwickeln, um internationales Finanzkapital, internationale Unternehmen, wohlhabende Bevölkerungsgruppen und Tourist*innen am eigenen Standort zu halten, anzusiedeln und zu Investitionen zu bewegen, lassen sich auch in Deutschland vielerorts beobachten (Heeg und Rosol 2007: 492ff.). Es ist also zunächst nicht abwegig anzunehmen, dass sich dies auch in einer räumlichen Neustrukturierung städtischer Infrastrukturen niederschlägt, dass also Prozesse angestoßen werden, die in der Entstehung von unterschiedlichen Quartieren von kaum vergleichbarer Qualität an infrastruktureller Ausstattung resultieren. Es ist somit grundsätzlich nachvollziehbar, die Splintering Urbanism These auch für eine Analyse städtischer Infrastrukturpolitik in Deutschland ins Auge zu fassen. Zwei Aspekte müssen dabei allerdings besondere Beachtung erfahren: Erstens die bereits aus anderen Kontexten hervorgegangene Frage nach der tatsächlichen Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Nahverkehrspolitik (vgl. Kap. 2.2.4), die eng
30 Bis es zu dieser Entscheidung kam, wurden allerdings auch Pläne diskutiert, selbst den schienengebundenen Nahverkehr weitergehend zu privatisieren. Um die Jahrhundertwende wurde sogar noch in Erwägung gezogen, das Frankfurter U-Bahn-Schienennetz per Cross-Border-Leasing an US-Investor*innen zu übertragen, also selbst die Nahverkehrsinfrastruktur zu privatisieren (Schipper 2012: 370ff.).
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mit der Frage verbunden ist, welche Verkehrsräume tatsächlich in den unterschiedlichen zeitlichen und politischen Kontexten produziert wurden. Denn mehr noch als bei Wasser-, Elektrizitäts- oder Kommunikationsinfrastrukturen geht es bei Verkehrsinfrastrukturen nicht nur darum, ob ein Ort an die Infrastruktur angeschlossen wird. Darüber hinaus ist es hier von besonderer Bedeutung, wie diese Orte in das übrige Netz integriert werden. Zweitens muss es vor dem Hintergrund einer nur partiellen Übertragbarkeit allgemeiner Feststellungen auf den spezifischen deutschen Kontext zudem darum gehen, ob und wie – aufgrund eingeschränkter Privatisierungs- und Liberalisierungsmaßnahmen – auch andere Instrumentarien und Mechanismen zu Veränderungen der Bereitstellungsstrategien von Infrastrukturen in Städten einen Beitrag leisten. Unter diesen Voraussetzungen kann die Splintering Urbanism These durchaus eine sinnvolle Referenz darstellen, wenn untersucht werden soll, wie durch städtische ÖPNV-Infrastrukturen (strategische) Raumproduktionen betrieben werden. Insbesondere in Bezug auf Belinas Frage aus dem letzten Kapitel, wer welche Räume wie und zu welchem Zweck produziert, ermöglicht eine Diskussion des Splintering Urbanism einen ersten Hinweis zum einen auf die Frage nach dem ‚Wer‘ der Raumproduktion durch Verkehrsinfrastrukturen: Denn da in Deutschland Rahmenentscheidungen, wie die über konkrete Linienführung oder Infrastrukturplanung, weiterhin überwiegend als staatliche Aufgabe betrachtet werden, kann zumindest angenommen werden, dass hier der Einfluss privater Akteure weniger stark ausgeprägt ist, als dies für andere Länder attestiert wurde. Die Frage nach dem ‚Wer‘ sollte hier also zuerst auf staatlicher Ebene ansetzen. Zum anderen wird auch an dieser Stelle noch einmal deutlich, dass der Bau städtischer Infrastrukturen kaum als technologisch begründeter Pragmatismus betrachtet werden darf, dieser vielmehr immer maßgeblich durch politische Zwecke, Ziele, Werte und Ideologien bestimmt wird. Weiterhin fraglich bleibt aber, ob auch in Deutschland trotz unveränderter staatlicher Hoheit über Bau und Instandhaltung öffentlich-städtischer Verkehrsinfrastrukturen im Zuge einer Neoliberalisierung städtischer Politiken ein Wandel in der Art und Weise der Infrastrukturbereitstellung festgestellt werden kann. Notwendig ist es dann aber, sich explizit auch mit den neuen städtischen Instrumentarien zu befassen, die im Zuge einer unternehmerischen Stadtpolitik Einzug in stadtpolitische Entscheidungsprozesse erhalten haben. Es muss also auch um die Frage gehen, welche Institutionen welchen Einfluss auf Entscheidungen der Politik öffentlicher Verkehrsinfrastrukturen haben.
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2.3.4 Raumproduktion durch neue Planungsinstrumente Wie bereits zuvor angesprochen lässt sich die gängige Auffassung, wonach städtische Politik in der Bundesrepublik Deutschland bis in die 1980er Jahre hinein überwiegend als lokales Ausführungsorgan nationalstaatlicher Politik zu betrachten sei, kaum widerspruchslos auf städtische Politiken des öffentlichen Nahverkehrs übertragen. Dieser historische Aspekt zur Politik urbaner Schieneninfrastrukturen wird darum im ersten empirischen Kapitel der Arbeit noch einmal aufgegriffen und intensiver beleuchtet (vgl. Kap. 4). Dennoch ist es naheliegend, dass sich langfristig wandelnde politische Ideologien und Konstellationen, nebst der damit einhergehenden Veränderungen in den Akzenten städtischer Verwaltung, auch in der städtischen Verkehrspolitik niederschlagen. Darum wird dieser spezielle Aspekt einer unternehmerischen Stadtpolitik im Folgenden etwas ausführlicher beleuchtet. Ein sinnvoller Ausgangspunkt ist dabei die häufig geäußerte These, wonach eine unternehmerische städtische Politik sich durch eine Abkehr von einer universell-gesamtstädtischen Perspektive des sozialen Ausgleichs und einer gleichmäßigen Verteilung städtischer Interventionen kennzeichnen lässt. Stattdessen tritt der Fokus städtischen Handelns nun verstärkt fragmentiert in Erscheinung und konzentriert sich vor allem auf einzelne privilegierte Orte (Harvey 1989a: 7f.; Heinz 2015: 116f.; Ronneberger 2005: 217; Swyngedouw 2007/2013: 143; Swyngedouw et al. 2002: 563f.). Harvey (1989a: 7f.) spricht in diesem Zusammenhang von einer Politik, die in erster Linie darauf abzielt, Lebens- und Arbeitsbedingungen eines spezifischen Ortes zu verbessern, häufig verbunden mit dem dezidierten Ziel, damit auch überregionale Impulse zu setzen. Im Umkehrschluss gerät damit jedoch das Territorium (die gesamte Stadt) aus dem Blickfeld des Politischen und profitiert nun allenfalls noch indirekt von den entsprechenden Maßnahmen. Zudem besteht dabei laut Harvey die Gefahr, dass durch eine einseitige politische und öffentliche Konzentration auf ortsspezifische Projekte nicht nur Debatten über Probleme, die die gesamte Stadt betreffen, kaum mehr Beachtung finden, sondern darüber hinaus die hierfür notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen zugunsten prestigeträchtigerer ortsbezogener Projekte umverteilt werden. “Entrepreneurialism focuses much more closely on the political economy of place rather than of territory” (Harvey 1989a: 7).
Ähnlich argumentieren auch Swyngedouw et al. (2002) anhand einer Untersuchung verschiedener städtebaulicher Megaprojekte in Europa. Im Gegensatz zu den „universellen, inklusiven und allgemein unterstützenden Politiken“ der vergangenen Jahrzehnte, die zumeist einen gesamtstädtischen Fokus hatten, erkennen auch sie
2.3 Wegmarken – Raumproduktionen und Verkehrsinfrastrukturen
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in den untersuchten Megaprojekten eine neue stadtpolitische Strategie, bei der es immer mehr darum geht, wirtschaftliche Entwicklung durch „ortsgebundene und räumlich gezielte Sanierungsmaßnahmen“ anzustoßen (ebd.: 563f.). Damit beschreibt diese Veränderung städtischer Regierungspraktiken ganz allgemein eine Ablösung der bisherigen fordistisch-wohlfahrtsstaatlichen Herangehensweise mit ihren charakteristischen weitreichenden Entwicklungsplänen durch eine wesentlich flexiblere und gezielter einsetzbare Projektlogik (ebd.: 562). Ergebnis ist dann auch hier eine Verlagerung öffentlicher Gelder weg von universellen Programmen und hin zu eben jenen ortsbezogenen Projekten (ebd.: 565). Harvey (1989a: 7f.), Swyngedouw et al. (2002: 561f.), wie auch Heinz (1999) identifizieren dabei insbesondere neu eingeführte Steuerungssysteme städtischer Verwaltung – zumeist Partnerschaften zwischen öffentlichen Institutionen und privaten Akteuren (Öffentlich-private-Partnerschaften) und vereinzelt auch Partnerschaften zwischen verschiedenen öffentlichen Institutionen (Öffentlich-öffentliche Partnerschaften) – als zentrales Instrumentarium dieser Verschiebung städtischer Politik von umfassenden Planungsansätzen zu konzentriert-ortsbezogener Projektplanung.
Exkurs – Public-Private-Partnerships Innerhalb der kommunalen Praxis in Deutschland wird der Begriff Public-PrivatePartnership (deutsch: Öffentlich-private-Partnerschaft; kurz: PPP) als allgemeiner Überbegriff für verschiedene Kooperationen zwischen kommunaler Verwaltung und Privatwirtschaft im Rahmen einer allgemein angestrebten Privatisierung von Verwaltungsaufgaben verwendet. Ideelles Ziel solcher Partnerschaften sind Synergien der unterschiedlichen Organisationsstrukturen, bei der einerseits die öffentliche Hand ihren Haushalt und ihre Verwaltungskapazität durch fachliche Kompetenzen, personelle und finanzielle Kapazitäten aus der Privatwirtschaft entlastet (Heinz 1999: 554ff.). Andererseits versprechen sich die privatwirtschaftlichen Akteure durch diese Kooperationen einen besseren Zugang zu kommunalen Informationskanälen und damit verbesserte Einflussnahmemöglichkeiten in kommunale Verfahren und Entscheidungen. Zudem verringert sich durch die kommunale Beteiligung in der Regel das privatwirtschaftliche Risiko der Projekte. Praktisch ist mit der Einsetzung von PPPs auch immer die Hoffnung auf finanzielle Einsparungen seitens der Kommunen verbunden, sowohl durch eine geringere Inanspruchnahme kommunalen Personals als auch durch eine geringere Belastung kommunaler Haushalte (ebd.). Streng genommen handelt es sich bei PPPs allerdings um eine Art von Neokorporatismus, also einen eingebetteten Neoliberalismus, bei dem zwar auch der Wettbewerb im Vordergrund steht und 65
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2 Öffentlicher Verkehr und Raumproduktion
(semi-)private Akteure staatliches Handeln ersetzen, dies jedoch immer in einem staatlich gesteckten und bilateral ausgehandelten Rahmen (Jessop 2002: 462). Im Endeffekt stellen PPPs damit eine von unterschiedlichsten neoliberalen Regierungstechniken dar, die darauf abzielen, lokale externe Akteure zu aktivieren und sie in politische Prozesse einzubeziehen, um damit städtische Haushalte zu entlasten. So beispielsweise auch das bundesweite Programm Soziale Stadt, das im Gegensatz zu klassischen sozialpolitischen Instrumentarien nicht mehr einfach nur darauf abzielt, der städtischen Bewohnerschaft eine soziale Sicherung zu gewähren. Stattdessen sollen die Bewohner*innen und Beschäftigten von besonders interventionsbedürftigen Gebieten im Sinne eines aktivierenden Staates darin unterstützt werden, selbstständig und eigeninitiativ eine Verbesserung ihrer persönlichen sozialen Situation zu bewirken (Ronneberger 2005: 220f.). Folglich stehen auch hier am Ende ähnliche Resultate: eine zunehmende Integration gezielt angesprochener privater Akteure in öffentliche Instrumentarien, wie auch eine Abkehr von umfassenden Interventionen zugunsten örtlich und zeitlich eng begrenzter Projekte. Inwieweit auch städtische Schieneninfrastrukturen von der Einführung neuer Planungsinstrumente betroffen sein können, lässt sich im Rahmen der zitierten Literatur vor allem anhand der ersten Ausbaustufen der Kopenhagener Metro und der Docklands Light Railway (DLR) in London nachzeichnen. Denn in London wie in Kopenhagen erfolgte die städtebauliche Entwicklung der jeweiligen Gebiete durch Organisationen, die zwar beide nicht als klassische PPPs betrachtet werden können, aber dennoch in zentralen Teilen eine vergleichbare Position innehatten.31 So bestand die Aufgabe beider Organisationen ausschließlich darin, die jeweiligen Gebiete möglichst optimal zu vermarkten. Entsprechend hatten deren Handlungen stets einen klar ortsbezogenen und räumlich abgegrenzten Fokus. Gerade weil beide Organisationen zugleich federführend an der jeweiligen Erschließung der Gebiete durch Nahverkehrsinfrastrukturen beteiligt waren, lassen sich hier die Resultate einer solchen, rein ortsbezogenen Praxis deutlich benennen.
31 Die Entwicklung der Londoner Docklands erfolgte durch eine sogenannte Quango, also eine staatliche Organisation, die jedoch unabhängig von nationalstaatlicher Verwaltung agierte. In Kopenhagen wurde die Entwicklung durch eine Public-Public-Partnership gesteuert, die nicht in klassische Verwaltungsstrukturen eingebunden war, aber sich grob zur Hälfte in nationalstaatlicher und kommunaler Hand befand.
2.3 Wegmarken – Raumproduktionen und Verkehrsinfrastrukturen
67
Örestad-Metro In Kopenhagen ist der verkehrliche Mehrwert der geplanten vier neuen Metrolinien insgesamt durchaus nachvollziehbar. Einen solchen Mehrwert verspricht dabei vor allem die in diesem Rahmen geplante Ringbahn, welche die Verknüpfung zwischen Innenstadt und Randbereichen verbessern und Umsteigemöglichkeiten zu unterschiedlichen Metro-, S-Bahn-, und Vorortbahnlinien schaffen soll (Rabensteiner und Notarianni 2013: 543). Werden jedoch nur die beiden Linien betrachtet, die seit den 1990er Jahren errichtet und im Gegensatz zu späteren Erweiterungen ausschließlich mit Geldern aus der Vermarktung örtlicher Grundstücke finanziert wurden, zeichnet sich ein anderes Bild ab. Zwar haben diese beiden Linien die Erreichbarkeit und das Mobilitätsangebot der Wohn- und Arbeitsbevölkerung in Örestad und einigen anderen innerstädtischen Quartieren verbessert. Auch wurde die Erreichbarkeit des Kopenhagener Flughafens, der bereits über einen S-Bahn-Anschluss verfügte, durch eine zusätzliche Metrohaltestelle weiter verbessert. Zudem gelang es sogar, die Örestad-Linie bereits zu Beginn der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme zu errichten, um automobilzentrierten Routinen im Quartier vorzubeugen.32 Somit kann gerade die Örestad-Metro für sich betrachtet durchaus als ein sinnvolles Projekt bezeichnet werden – nicht zuletzt weil deren Existenz sich tatsächlich als eines der stärksten Vermarktungsargumente für Grundstücksverkäufe in Örestad identifizieren ließ (Book et al. 2010: 389; vgl. auch Knowles 2012). Wird die Örestad-Metro allerdings hinsichtlich eines allgemeinen Mehrwerts für das öffentliche Verkehrsangebot der Stadt betrachtet, relativieren sich diese positiven Effekte. Weil nämlich deren Bau vor allem von einer Optimierung der örtlichen Baulandvermarktung motiviert war und als zentrale Aufgabe entsprechend die Erschließung des Örestad-Gebiets betrachtet wurde, profitieren trotz räumlicher Nähe viele dichtbebaute Gebiete im angrenzenden Stadtviertel Amager heute kaum von der neuen Schienenverbindung. Vielmehr erfolgt deren Erschließung auch heute noch ausschließlich mit Bussen (Majoor 2008: 107). Darüber hinaus waren strategische Überlegungen zur grundlegenden Verbesserung des regionalen Nahverkehrs aufgrund des dezidiert bodenpolitischen Zwecks der Metro gerade nicht Bestandteil der konkreten Planung: Während einzelne Teile der Stadt von den Vorzügen der neuen Infrastruktur profitierten, musste in anderen Quartieren das Busnetz aufgrund finanzieller Engpässe ausgedünnt werden, mit dem Resultat einer Zunahme des dortigen Automobilverkehrs (Book et al. 2010: 390). Zwar stehen diese beiden Aspekte zunächst in keinem direkten Zusammenhang, da die Metro nicht 32 Wie in Kap. 5.4.1 noch ausführlicher beschrieben wird, gelten Wohnumzüge in der Mobilitätsforschung als Schlüsselereignisse für eine dauerhafte Änderung des oft stark routinierten Verkehrshandelns. 67
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2 Öffentlicher Verkehr und Raumproduktion
aus regulären Mitteln für den städtischen öffentlichen Verkehr finanziert wurde (ebd.). Dennoch muss insbesondere die politische Entscheidung zur eigenständige Ausführung und Planung der Örestad-Metro durch die örtliche Entwicklungsorganisation als Ursache dieses Ungleichgewichts betrachtet werden. Denn wäre die Metro nach Gesichtspunkten einer gesamtstädtischen Nahverkehrsplanung und im Rahmen klassischer städtischer Finanzierungsinstrumente umgesetzt worden, hätte zumindest die Möglichkeit bestanden, andernorts drohende Angebotsverringerungen durch eine finanzielle Anpassung des Metroprojekts zu verhindern.
Docklands Light Railway Ähnlich verhält es sich im Fall der DLR in London: Hier stand die staatliche Planungsgesellschaft Anfang der 1980er Jahre vor der Herausforderung, ein ehemaliges Hafengebiet in einen prestigeträchtigen Standort für Unternehmenszentralen und hochpreisiges Wohnen umzuwandeln. Trotz geringer Mittel sollte dabei auch eine Erschließung durch ein öffentliches Verkehrssystem umgesetzt werden, was 1987 in der Eröffnung einer ersten, 12 Kilometer langen Strecke resultierte (Brownill 1990: 45; Knowles und Ferbrache 2015: 2ff.). Oberstes und letztendlich erfolgreiches Ziel war es dabei auch hier, durch die Infrastrukturinvestition die Vermarktung des Quartiers voranzutreiben und private Immobilienentwicklungen zu stimulieren (Brownill 1990: 45; Collins 1990: 37ff.; Knowles und Ferbrache 2014: 34). “The first stage of der DLR was unashamedly designed to serve the enterprise zone and, in the words of the 1984 Corporate Plan, ‘to bring about a dramatic increase in private investment’. […] The railway was also routed to stimulate development and not necessarily to serve local needs” (Brownill 1990: 136).
Spiegelbildlich zu dieser prioritären Zielsetzung auf Vermarktungserfolge kann der Schieneninfrastruktur einerseits tatsächlich eine erfolgreiche Hebelwirkung für Immobilieninvestitionen zugeschrieben werden. Andererseits wurde jedoch auch darauf verzichtet, die erste Ausbaustufe der DLR sinnvoll in überörtliche Verkehrs planungsstrategien zu integrieren. Denn obwohl sie laut Planungsgesellschaft eine „psychologische Verbindung zur Innenstadt“ herstellen sollte (Brownill 1990: 45), bot die ursprüngliche Strecke kaum Umsteigemöglichkeiten zu anderen Linien. Einzig die nördliche Endstation ermöglichte eine Weiterfahrt ins Londoner Stadtgebiet, während sowohl die westliche, zentrumsnahe als auch die südliche Endstation über keine Umsteigemöglichkeiten verfügten und beide heute, nach späteren Erweiterungsmaßnahmen, kaum mehr von Bedeutung sind (ebd.: 145). Dass die Planungsgesellschaft dabei allgemein kein großes Interesse an strategischen Diskussionen über Ausrichtung und Entwicklung der örtlichen Verkehrsnetze hatte, zeigte sich
2.3 Wegmarken – Raumproduktionen und Verkehrsinfrastrukturen
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auch darin, dass eine Veröffentlichung vorhandener Verkehrsgutachten, die eine solche Diskussion erst ermöglicht hätten, nie vorgenommen wurde (ebd.: 134). Besonders bezeichnend erscheint diese einseitige Ausrichtung der Schieneninfrastruktur auf Vermarktungsanreize auch vor dem Hintergrund, dass 70 % der ursprünglichen Bewohnerschaft der Docklands im Jahr 1981 nicht über ein eigenes Automobil verfügten und somit naheliegenderweise von einer verbesserten Erreichbarkeit durch den Öffentlichen Nahverkehr besonders profitiert hätten. Ganz ähnlich wie in Örestad wurde jedoch aufgrund der expliziten Vorgabe, ökonomische Anreize zu setzen, das Grundnetz gerade nicht an bereits bestehenden Siedlungsstrukturen angepasst. Stationen wurden dort platziert, wo Bauland entwickelt werden sollte (ebd.: 136). Zudem hat die Eröffnung der DLR dazu geführt, dass die Immobilienpreise in Stationsnähe heute weit über den finanziellen Möglichkeiten der alteingesessenen lokalen Bewohnerschaft liegen (Knowles und Ferbrache 2015: 7). Auch über die Docklands hinaus bot die ursprüngliche Strecke zwar Verbindungen zu verschiedenen relevanten Orten der Finanzwirtschaft. Gleichzeitig und ganz im Sinne eines infrastructural bypass umfuhr sie aber die meisten benachbarten, von ärmeren Bevölkerungsschichten bewohnten Quartiere in Newham und Tower Hamlets (Graham und Marvin 2001: 324). Obgleich hier also noch mehr als in Örestad der tatsächliche Mehrwert der Infrastrukturinvestition für das öffentliche Verkehrsnetz der Stadt in Frage gestellt werden muss, werden doch einige Parallelen deutlich: So waren es in beiden Fällen vor allem konkrete ortsbezogene Zwecke, die mit der Infrastrukturinvestition verbunden wurden, während deren Einbezug in strategische, gesamtstädtische Erwägungen kaum oder nur sehr beschränkt stattgefunden hat. Zudem waren es in London wie Kopenhagen genau diese rein ortsbezogenen Zwecke, die sich maßgeblich in die räumliche Form der lokalen Nahverkehrsangebote eingeschrieben haben. Für beide Fälle – wenn auch mehr in Kopenhagen, als in London – gilt zudem, dass die zentrale Relevanz von nicht verkehrsspezifischen Zwecken und die daraus resultierende Art und Weise der Infrastrukturbereitstellung einerseits eine durchaus attraktive Infrastruktur vor Ort hervorgebracht hat. Andererseits wurde mit beiden Maßnahmen die allgemeine Attraktivität der städtischen Nahverkehrsnetze nur bedingt verbessert.33 33 Tatsächlich ähneln diese Ergebnisse damit durchaus den Erkenntnissen aus PPP-Projekten, die sich auf Nahverkehrsprojekte beziehen. So wurde beispielsweise in Vancouver eine Verbindung zwischen dem Vorort Richmond, dem Flughafen und der Innenstadt erst zu dem Zeitpunkt in Angriff genommen, als feststand, dass diese Strecke profitabel genug sein würde, um auch private Investor*innen mit einzubeziehen. Sowohl auf Drängen des Flughafens als auch, um eventuellen Investor*innen entgegenzukommen, entschied man sich dann für die schnellste, aber auch kostspieligste Variante einer Hochbahn 69
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2 Öffentlicher Verkehr und Raumproduktion
Welche Schlüsse lassen sich aus diesen Beispielen nun hinsichtlich der stadtpolitischen Raumproduktion jüngerer Jahre durch öffentliche Verkehrsinfrastrukturen ziehen? Zuallererst kann festgehalten werden, dass ein ausschließlicher Verweis auf Privatisierungs- und Liberalisierungsprozesse zur Erklärung eines „zersplitternden Urbanismus“, wie Graham und Marvin dies tun, zumindest hinsichtlich städtischer Schienennahverkehrsprojekte in Europa zu kurz greift. Stattdessen sollten vielmehr auch neue städtische Planungsinstrumente ins Auge gefasst werden, die althergebrachte Planungsprozesse zwar nicht gänzlich ersetzen, jedoch von diesen losgelöst agieren können und folglich nicht in gesamtstädtische Planungserwägungen integriert sein müssen. Gerade diese Verwaltungswerkzeuge können damit als Grundlage betrachtet werden, dass auch in Europa eine Zersplitterung städtischer Verkehrsnetze zumindest punktuell beobachtbar wird. Im Ergebnis lässt sich damit die These von zersplitterten Städten zwar nachvollziehen, wesentlich wichtiger für die Debatten erscheint es aber, den hierbei zugrundeliegenden Wandel städtischer Planungskulturen vermehrt in den Fokus zu rücken. Daneben stehen diese beiden Beispiele allerdings auch sinnbildlich für eine weitere bedeutende Entwicklungsrichtung städtischer Nahverkehrsnetze, die mit Swyngedouw et al. (2002), Swyngedouw (2007/2013), Haughton et al. (2013) und anderen Anknüpfung findet an eine allgemeine Entpolitisierung bzw. ‑demokratisierung städtischer Planung. Schließlich stehen PPPs und andere neue Planungswerkzeuge oft nicht nur für eine Abkehr von territorialer politischer Praxis. Bedingt durch ihre autonome Verortung außerhalb klassischer Verwaltungsstrukturen besteht hier zudem die Gefahr, dass sie die demokratische Verankerung staatlichen Handelns unterlaufen. Erstens, weil sie oft außerhalb parlamentarischer Diskussionen erdacht werden und entsprechende Verträge einer Geheimhaltung unterliegen. Dieser Geheimhaltung sind dann auch alle beteiligten Politiker*innen verpflichtet, deren juristische Kenntnisse ohnehin für ein tiefgreifendes Verständnis der einzelnen Vertragsklauseln häufig nicht ausreichen. Damit sind diese Planungswerkzeuge praktisch gefeit gegenüber Kritik und Diskussion durch die gewählten Volksvertreter*innen. Vielmehr können Entscheidungen über einzelne Maßnahmen in dem jeweiligen Gebiet unter einem Deckmantel technischer Unparteilichkeit weitgehend losgelöst von politischen Debatten getroffen werden (Rügemer 2008: 151ff.). Zweitens führt – ähnlich der Privatisierung städtischer Unternehmen – ein vermehrtes Zurückmit kreuzungsfreiem Gleisbett. Darüber hinaus ging auch diese Maßnahme mit einem entsprechend reduzierten Budget für andere Nahverkehrsprojekte der Stadt einher (Siemiatycki 2005: 76f.).
2.3 Wegmarken – Raumproduktionen und Verkehrsinfrastrukturen
71
greifen auf diese Planungswerkzeuge zu einem Verlust von Planungskompetenzen innerhalb der klassischen, politisch kontrollierbaren Verwaltungsinstitutionen – was letztendlich in einem dauerhaften Transfer dieser Kompetenzen an rein privatwirtschaftlich agierende Akteure resultiert (ebd.: 155f.). Drittens schließlich gewinnen über PPPs nicht nur ortsbezogene Partikularinteressen an Bedeutung. Darüber hinaus befinden sich nun privatwirtschaftliche, renditeorientierte Akteure in der privilegierten Position, planerische Entwicklungsmaßnahmen entsprechend ihrer eigenen spezifischen Wünsche anpassen zu können. Dies resultiert nicht nur in einer Ablösung von Konzepten, die auf langfristige Entwicklungen abzielen, durch Maßnahmen, die kurzfristige Gewinnerwartungen versprechen. Gleichzeitig gefährdet diese Vermischung gemeinwohlorientierter mit primär gewinnorientierten Interessen auch die allgemeine gesellschaftliche Legitimation städtischer Maßnahmen. Besonders gut durchsetzen können sich damit vor allem solche nichtstaatlichen Akteure, die über umfassende finanzielle und fachliche Ressourcen verfügen, womit die Legitimation demokratischer Institutionen aktiv untergraben wird (Rügemer 2008: 157ff.; vgl. insb. auch Heinz 1999: 566).
71
Untersuchungsraum und Methodik 3 Untersuchungsraum und Methodik
3
Aufbauend auf das im ersten Teil der Arbeit skizzierten Grundgerüst aus (1) unterschiedlichen Determinanten der Verkehrsgenese, (2) bestehenden Anknüpfungs- und Ansatzpunkten zur Entwicklung einer politischen Stadtgeographie des öffentlichen Nahverkehrs und (3) Operationalisierungsaspekten zur Frage städtischer Raumproduktion wird nun im zweiten und dritten Teil der Arbeit das zentrale Fallbeispiel der vorliegenden Studie, die Nahverkehrspolitik der Stadt Frankfurt, im Zentrum stehen. Frankfurt ist an dieser Stelle besonders geeignet, da die Stadt schon früh umfangreich in den Ausbau eines öffentlichen Nahverkehrsnetzes investiert hat, zudem in den 1960er Jahren auf den Zug des Schnellbahnbaus aufgesprungen ist und zuletzt auch in den jüngeren Jahren einen regen Infrastrukturausbau betrieben hat. An dieser Stelle muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass sich die Analyse im Kern zwar auf die Politik der Stadt Frankfurt bezieht, die Maßnahmen städtischer Verkehrspolitik tatsächlich aber an vielen Stellen die Grenzen ins Umland überschreiten. Auch die individuelle Raumaneignung34 nimmt die Stadtgrenze, abgesehen von den Preissprüngen des öffentlichen Nahverkehrs, kaum als ein konkretes Hindernis wahr. Darum wird diese Arbeit nicht umhinkommen, auch das städtische Umland in die Analyse mit einzubeziehen.
34 Die Verkehrs- und Mobilitätsforschung verwendet in diesem Zusammenhang klassischerweise den Begriff Aktionsraum. Hinsichtlich der darüberhinausgehenden Terminologien im Rahmen dieser Studie und zur Verdeutlichung, dass es sich hier um einen aktiven Prozess der Erschließung des eigenen Aktionsraumes handelt, wird hier jedoch der Begriff der Raumaneignung vorgezogen. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Hebsaker, Städtische Verkehrspolitik auf Abwegen, Studien zur Mobilitätsund Verkehrsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31831-4_3
73
74
3 Untersuchungsraum und Methodik
3.1
Methodisches Vorgehen
3.1
Methodisches Vorgehen
Der empirische Teil der Studie ist grob durch zwei aufeinander aufbauende Hauptkapitel untergliedert. Kapitel 4 thematisiert die historische Entwicklung der Politik des öffentlichen Nahverkehrs in Frankfurt und Umgebung und setzt vereinzelt Querverweise zu ähnlichen Entwicklungen andernorts. Kapitel 5 knüpft daran an, befasst sich jedoch ausschließlich mit der aktuellen und jüngeren Entwicklung der Frankfurter Nahverkehrspolitik. Da sich beide Hauptkapitel in Hinblick auf die jeweilige Quellenlage stark unterscheiden, wurde für beide je eine eigene methodische Herangehensweise gewählt. In Kapitel 4 basiert die Argumentation vor allem auf einer vertiefenden Literaturanalyse. Ausgangspunkt sind dabei verschiedene ältere und historische Arbeiten, vornehmlich aus der Geschichts- und der Sozialwissenschaft, die sich zumeist aus einer politökonomischen Perspektive mit Zusammenhängen zwischen Ökonomie, Stadtpolitik und städtischer Verkehrspolitik auseinandergesetzt haben. Weitere Quellen, die in diesem Kapitel zur inhaltlichen Verdichtung herangezogen wurden, sind historische Zeitdokumente, Redemanuskripte und weitere Veröffentlichungen der Frankfurter Stadtpolitik und Stadtverwaltung, archivierte Zeitungsartikel aus dem Lokalteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) sowie zuletzt jüngere wissenschaftliche Literatur zur Verkehrspolitik, zur allgemeinen Stadtentwicklung und zur Entwicklung des Frankfurter Nahverkehrs. Kernbestandteil von Kapitel 5 sind dagegen 16 leitfadengestützte Interviews mit Expert*innen, die mit einer Ausnahme allesamt im Jahr 2017 durchgeführt wurden. Dabei ist es gerade im Vergleich zum ersten empirischen Hauptkapitel naheliegend, hier im Kern mit eigenem empirischem Material zu arbeiten, da einerseits kaum auf bereits bestehende Literatur zurückgegriffen werden kann und andererseits – erneut im Gegensatz zu Kapitel 4 – die Primärquellen, sprich die Akteure der städtischen Verkehrspolitik der letzten Jahre, noch direkt befragt werden konnten. Als erste Annäherung an das Thema wurde dabei zunächst eine qualitative Inhaltsanalyse von öffentlich zugänglichen Wortprotokollen der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung aus den Jahren 2012 bis 2015 durchgeführt, um ein grobes Bild über gängige Argumentationsmuster und Rationalitäten zu erlangen. Das so erlangte Wissen wurde dann als ein erster inhaltlicher Zugang für die darauf aufbauende Erstellung eines Interviewleitfadens verwendet. Innerhalb der eigentlichen Empirie spielen diese Wortprotokolle dagegen keine bedeutendere Rolle mehr, da seitens der befragten Expert*innen den öffentlichen Aussagen in der großen Stadtverordnetenversammlung nur eine begrenzte Aussagekraft zugeschrieben werden sollte. So handele es sich dabei oft um „Festreden“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017) ohne konkreten Projektbezug. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass die
3.2 Interviews und Interviewauswertung
75
relevanten Diskussionen ohnehin vor allem in den einzelnen Fachausschüssen stattfänden, in denen allerdings keine öffentlichen Wortprotokolle erstellt werden. Darüber hinaus wird auch in Kapitel 5 zur weiteren inhaltlichen Vertiefung auf zusätzliche Dokumente zurückgegriffen, insbesondere auf veröffentlichte Verwaltungsdokumente und Redemanuskripte sowie auf lokale Zeitungsartikel aus der FAZ, ergänzt um einzelne Artikel aus der Frankfurter Rundschau (FR) und der Frankfurter Neuen Presse (FNP).
3.2
Interviews und Interviewauswertung
3.2
Interviews und Interviewauswertung
Aufgrund der vielen in den letzten Kapiteln aufgeworfenen Fragezeichen und blinden Flecken hinsichtlich einer gesellschaftswissenschaftlich fundierten Untersuchung städtischer Verkehrspolitik war für den zweiten empirischen Teil der Arbeit die Wahl einer qualitativ-induktiven Herangehensweise naheliegend. Die 16 über Leitfadeninterviews im Rahmen der Studie befragten Expert*innen zur Nahverkehrspolitik der Stadt Frankfurt lassen sich in insgesamt fünf Gruppen unterteilen (vgl. Tab. 2). Der größte Teil der Interviews wurde mit Personen durchgeführt, die selbst innerhalb der städtischen Verkehrspolitik verortet sind, die also ihre Aussagen vor allem aus einer Beteiligtenperspektive heraus getroffen haben. Hierbei kann zwischen zwei Gruppen unterschieden werden: Die erste Gruppe setzt sich aus Verkehrsexpert*innen verschiedener größerer kommunalpolitisch aktiver Parteien zusammen, die insbesondere mit den eigenen parteipolitischen Positionen und parlamentarischen Aushandlungsprozessen vertraut sind. Daneben repräsentiert eine zweite Gruppe die Dezernatsebene, also die politische Verwaltung, deren Expertise sowohl parlamentarische Aushandlungsprozesse umfasst als auch den alltäglichen Regierungsbetrieb am Schnittpunkt zwischen Parlament und Verwaltung. Auch die Erfahrung der Expert*innen der dritten und vierten Gruppe bezieht sich zunächst auf eine Innenperspektive des politischen Betriebs, dies allerdings nur für einen bestimmten Spezialbereich. Hier geht es einerseits um verkehrspolitische Diskussionen im Rahmen der Erschließung des neuerrichteten Dienstleistungsgebietes Gateway Gardens, andererseits um die spezifische Perspektive des örtlichen Verkehrsunternehmens und des regionalen Verkehrsverbundes. Die in diesem Rahmen befragten Personen verfügen zwar auch über ein fundiertes allgemeines Wissen zur kommunalen Verkehrspolitik in Frankfurt, sobald dieses jedoch nicht mehr Teil des persönlichen Spezialgebiets ist, gleicht dieses Wissen eher einer gut informierten Außenperspektive. Zuletzt besteht die befragte Gruppe mit externer Expertise aus Personen, die sich intensiv mit der kommunalen Verkehrspolitik 75
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3 Untersuchungsraum und Methodik
Tab. 2
Durchgeführte Interviews, im Text verwendete Pseudonyme und Kurzbeschreibung der jeweligen Expertise
Nr. Datum 1 02/2017 2
02/2017
3
02/2017
4
02/2017
5
02/2017
6
07/2017
7
03/2017
8
04/2017
9
02/2017
10
03/2017
11
04/2017
Pseudonym Verkehrspolitik (CDU) Verkehrspolitik (SPD) Verkehrspolitik (Grüne) Verkehrspolitik (Die Linke) Verkehrspolitik (FDP) Verkehrsdezernat I
Expertise Innenperspektive auf Diskurse und Narrative kommunaler Verkehrspolitik in Frankfurt am Main Innenperspektive auf Diskurse und Narrative kommunaler Verkehrspolitik in Frankfurt am Main Innenperspektive auf Diskurse und Narrative kommunaler Verkehrspolitik in Frankfurt am Main Innenperspektive auf Diskurse und Narrative kommunaler Verkehrspolitik in Frankfurt am Main Innenperspektive auf Diskurse und Narrative kommunaler Verkehrspolitik in Frankfurt am Main Innenperspektive auf das Verkehrsdezernat unter grüner Führung (2011–2016) Innenperspektive auf Diskurse und Narrative kommunaler Verkehrspolitik in Frankfurt am Main Verkehrsdezer- Innenperspektive auf das Verkehrsdezernat unter nat II sozialdemokratischer Führung (seit 2016) Innenperspektive auf Diskurse und Narrative kommunaler Verkehrspolitik in Frankfurt am Main Planungsdezernat Innenperspektive auf das Planungsdezernat unter christdemokratischer Führung (2000–2010), das bis 2006 auch die Aufgaben des späteren Verkehrsdezernats übernommen hat Innenperspektive auf Diskurse und Narrative kommunaler Verkehrspolitik in Frankfurt am Main GG I Innenperspektive auf Prozesse der Public-PrivatePartnership im Neubaugebiet Gateway Gardens (Projektentwicklungsgesellschaft) Außenperspektive auf Diskurse und Narrative kommunaler Verkehrspolitik in Frankfurt am Main GG II Innenperspektive auf Prozesse der Public-PrivatePartnership im Neubaugebiet Gateway Gardens (Grundstücksentwicklungsgesellschaft) Außenperspektive auf Diskurse und Narrative kommunaler Verkehrspolitik in Frankfurt am Main VGF Innenperspektive auf Prozesse des städtischen Verkehrsbetriebs VGF Bedingte Innenperspektive auf Diskurse und Narrative kommunaler Verkehrspolitik in Frankfurt am Main durch kurzzeitige politische Tätigkeit
3.2 Interviews und Interviewauswertung
Nr. Datum 12 09/2017
Pseudonym RMV
13
05/2017
Extern I
14
08/2017
Extern II
15
10/2018
Extern III
16
03/2017
Extern IV
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Expertise Innenperspektive auf Prozesse des regionalen Verkehrsverbundes RMV Wissen über Diskurse und Narrative kommunaler Verkehrspolitik in Frankfurt am Main und Umland Verkehrspolitisch interessierte/r selbstständige/r Unternehmer/in Außenperspektive auf Diskurse und Narrative kommunaler Verkehrspolitik in Frankfurt am Main und Umland Vorstandsmitglied des VCD Hessen Außenperspektive auf Diskurse und Narrative kommunaler Verkehrspolitik in Frankfurt am Main und Umland Stadtplaner/in, engagiert im VCD Hessen und der Fahrgastlobby Hochtaunus Außenperspektive auf Diskurse und Narrative kommunaler Verkehrspolitik in Frankfurt am Main und Umland Journalist/in Außenperspektive auf Diskurse und Narrative kommunaler Verkehrspolitik in Frankfurt am Main und Umland
in Frankfurt auseinandersetzen, jedoch nicht unmittelbar in den politischen Betrieb eingebunden sind. Ihre Aussagen über Argumentationen, Diskurse und Prozesse der Frankfurter Verkehrspolitik formulieren sie folglich aus einer klaren Außenperspektive heraus. Eine vollständige Auflistung der im Rahmen der Studie befragten Expert*innen, die jeweils im Text verwendeten Pseudonyme nebst einer Kurzbeschreibung der einzelnen Expertisen kann Tabelle 2 entnommen werden. Zweck der Befragung von Expert*innen mit möglichst unterschiedlichen Perspektiven war es, ein möglichst umfassendes Bild der Thematik zu erlangen, bei dem die verschiedenen Aussagen einerseits für die Analyse die Möglichkeit eröffnen, Widersprüchlichkeiten zu erkennen und aufzudecken. Andererseits gewährleisten die unterschiedlichen Blickwinkel auf kommunale Verkehrspolitik, dass sich ein möglichst umfassendes und facettenreiches Bild des Fallbeispiels zeichnen lässt. Die Erhebungsmethode leitfadengestützter und teilstrukturierter Experteninterviews vereint dabei verschiedene Vorteile: Erstens erleichtert es die Teilstrukturierung der jeweiligen Fragen, innerhalb der Auswertung Vergleiche zwischen den unterschiedlichen Interviews zu ziehen (Meier Kruker und Rauh 2005: 64). 77
78
3 Untersuchungsraum und Methodik
Zweitens wird durch die hier gängigen offenen Formulierungen von Fragen (ohne vorgegebene Antwortalternativen) gewährleistet, dass die Interviewten weitgehend frei darauf antworten können. Drittens kann auf diese Weise zeitnah kontrolliert werden, ob die jeweiligen Fragen auch richtig verstanden wurden. Viertens wird es den Befragten somit ermöglicht, eigenständig wichtige Zusammenhänge und Strukturen zwischen verschiedenen Themen darzulegen und zu werten. Fünftens schließlich bieten derartige Fragestellungen einen zwar thematisch abgesteckten, darin allerdings weitgehend offenen Rahmen für ergänzende Ad-hoc-Fragen, die sich aus dem Verlauf des Interviews ergeben, sowie für unerwartete Antworten der Expert*innen, womit letztendlich eine explorative Herangehensweise gewährleistet ist (Mayring 2002: 68). Die inhaltliche Strukturierung der genutzten Leitfäden orientiert sich eng an den detaillierten Empfehlungen von Gläser und Laudel (2009: 142ff.). So wurde der Leitfaden in insgesamt sieben übergreifende Fragekomplexe untergliedert. Angefangen über (1) den persönlichen thematischen Hintergrund der/s Befragten, über Fragen zu (2) gegenwärtigem Status und (3) zeitlichem Wandel allgemeiner Diskurse, Narrative und Rationalitäten in der kommunalen Verkehrspolitik, (4) Fragen zu einer spezifischen Relevanz von Narrativen im Zusammenhang mit dem Streben nach internationaler Wettbewerbsfähigkeit und (5 & 6) Fragen zur konkreten Ausprägung der zuvor erfragten Aspekte am Beispiel von zwei im Voraus ausgewählten aktuellen Infrastrukturprojekten bis hin zu (7) einer abschließenden Kontrastierung des zuvor Gesagten mit den davon abweichenden Aussagen aus dem städtischen Gesamtverkehrsplan. Darüber hinaus wurden jedoch innerhalb der Interviews auch andere Infrastrukturprojekte als Referenzen herangezogen, was schließlich auch im Rahmen der Studie entsprechend aufgegriffen wurde. Da die befragten Expert*innen trotz weitreichender thematischer Überschneidungen dennoch in unterschiedlichen Kontexten verortet sind, wurde der Leitfaden zudem mehrfach mittels Veränderung einzelner Fragekomplexe an neue Interviewsituationen angepasst. Dies schmälert zwar die allgemeine Vergleichbarkeit der Interviews, wird aber dafür den in Teilen sehr unterschiedlich gelagerten Expertisen der einzelnen Interviewpartner*innen wesentlich besser gerecht. Die geführten Interviews wurden anschließend transkribiert und in Anlehnung an Schmidt (2008; vgl. auch Reuber und Pfaffenbach 2005: 166ff.) mit Hilfe eines entsprechenden Computerprogramms kodiert. Die Auswertung des empirischen Materials von kommunalpolitischen Dokumenten und Experteninterviews erfolgte anhand einer von Gläser und Laudel (2009: 199ff.) modifizierten Version der von Mayring entwickelten qualitativen Inhaltsanalyse. Dabei wird eine Extraktion des Datenmaterials durch ein aus verschiedenen Kategorien bestehendes Suchraster vorgenommen und dieses Extrakt anschließend analysiert und interpretiert. Im
3.2 Interviews und Interviewauswertung
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Gegensatz zur ursprünglichen Vorgehensweise der qualitativen Inhaltsanalyse werden die einzelnen Kategorien hier jedoch nicht ausschließlich anhand theoretischer Vorüberlegungen auf Basis einer grundlegenden Literatur- und Dokumentenrecherche bestimmt. Um den zwecks explorativem Forschungsanliegen offen gestalteten Fragen auch in der Auswertung gerecht zu werden, bleibt das Kategoriensystem stattdessen bis in die Extraktion hinein weiter geöffnet und variabel. Denn nur so kann gewährleistet werden, dass sämtliche Informationen extrahiert werden können, die nicht in das aus der Theorie abgeleitete Kategoriensystem passen aber dennoch relevant für die vorgenommene Analyse sind.
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Städtischer öffentlicher Nahverkehr – vom Krisenbezwinger zum Überdruckventil 4 Städtischer öffentlicher Nahverkehr
Städtische Massenverkehrsmittel wie Straßenbahnen, Busse oder U-Bahnen erscheinen gerade im direkten Vergleich mit dem Individualverkehrsmittel Automobil zunächst als besonders inklusive Technologien. Schließlich sind hier die Verpflichtung zur Beförderung, eine einheitliche Tarifierung, ein allgemeingültiger Fahrplan und eine (zumeist) eindeutige Linienführung allesamt rechtlich fest verankert (Ambrosius 2016: 449ff.; Gather et al. 2008: 28; van Laak 2017: 147). Die Leistungen des städtischen Massenverkehrs stehen somit jeder Person zu den gleichen Preisen zur Verfügung. Durchaus naheliegend also, dass eine flächendeckende Bereitstellung dieses sehr niedrigschwellig nutzbaren Verkehrssystems im deutschen Wohlfahrtsstaat der Daseinsvorsorge zugeordnet wird (vgl. z. B. Canzler und Knie 2009; Gegner und Schwedes 2014; Neu 2009). Auch wenn der Daseinsvorsorgebegriff bis heute immer unkonkret und somit auch interpretationsbedürftig geblieben ist (Gegner 2007: 460), kann er dennoch im Sinne des Staatsrechtlers Ernst Forsthoff, der den Begriff bereits in den 1930er Jahren geprägt hat, als staatlicher Sicherungsapparat für die Bevölkerung gegenüber den „Unwägbarkeiten des Lebens in der kapitalistischen Industriegesellschaft“ verstanden werden (ebd.: 457).35 Obgleich etwa Ambrosius (2016: 465) zu bedenken gibt, dass die Unschärfe des Begriffs letztendlich auch dazu führe, dass es sich hier um ein sehr „idealisiertes Bild der Wirklichkeit“ handele. Gerade weil der öffentliche Nahverkehr trotz aller Ungenauigkeiten heute im Allgemeinen zentral mit dem Daseinsvorsorgebegriff verknüpft wird, erscheint es mir sinnvoll, diesen Begriff als Ausgangspunkt des folgenden Kapitels zu bestimmen – wenn auch im Weiteren nicht vertiefend darauf eingegangen wird. Dieser Argumentationslogik folgend wird der öffentliche Nahverkehr heute zumindest in historischer Perspektive vor allem als sozialpolitisches Instrument charakterisiert. 35 Auch in anderen Ländern wie beispielsweise Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten haben sich in dieser Zeitepoche ähnliche Systeme entwickelt (Neu 2009: 9). © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Hebsaker, Städtische Verkehrspolitik auf Abwegen, Studien zur Mobilitätsund Verkehrsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31831-4_4
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Inwieweit diese in der Literatur häufig auffindbare Annahme einer historischen Nahverkehrspolitik, die sich vor allem einer allgemeinen Mobilisierung verpflichtet fühlt (vgl. Kap. 2.2.3), tatsächlich als ein sinnvoller Referenzrahmen für eine Analyse gegenwärtiger Nahverkehrspolitik betrachtet werden kann, wird darum zunächst im Rahmen dieses Kapitels einer kritischen Prüfung unterzogen. Als Fallbeispiel der Argumentation dient der öffentliche Nahverkehr der Stadt Frankfurt am Main, anhand dessen sich die verschiedenen historischen Entwicklungsschritte des öffentlichen Nahverkehrs verhältnismäßig gut nachzeichnen lassen: von den Anfängen des kommunalen Nahverkehrs über die sozialdemokratische Siedlungs- und Verkehrsplanung der Weimarer Republik und die Folgen der Massenmotorisierung für den öffentlichen Nahverkehr nebst daraufhin einsetzender Verkehrsbeschleunigungsstrategien bis hin zu aktuell deutschlandweit wahrnehmbaren Bestrebungen zum erneuten Netzausbau. Drei Leitfragen dienen dabei als grobe Klammer der anschließenden Ausführungen: Erstens die Frage, ob hinsichtlich politischer Entscheidungen zum Bau und Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs in der Vergangenheit tatsächlich überwiegend soziale Ziele im Sinne einer allgemein mobilisierenden Politik identifiziert werden können, oder ob nicht vielmehr ganz andere Rationalitäten maßgeblich für die jeweiligen Entscheidungen waren. Zweitens die Frage, inwieweit auch Aspekte allgemeiner, technokratisch motivierter Beschleunigungsgedanken die Debatten um den ÖPNV-Infrastruktur(aus)bau geprägt haben. Drittens schließlich die Frage der damit verbundenen Produktion von Räumen. Hier richtet sich der Blick einerseits darauf, welche Räume mit dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs produziert werden, inwieweit diese Raumproduktion einem politischen Zweck zugeordnet und sie darüber hinaus als Raumstrategie gewertet werden kann. Andererseits wird thematisiert, in welchem Verhältnis diese staatliche Produktion von Räumen jeweils zur alltäglichen Aneignung des Raumes steht. Damit geht es zuletzt auch konkret um die Frage, inwieweit die raum-zeitlichen Strukturen des öffentlichen Nahverkehrs in unterschiedlichen Zeiträumen tatsächlich auf die jeweiligen Ansprüche der Nutzer*innen ausgerichtet waren.
4.1
Zwischen Industrialisierung, Stadtentwicklung und Regierungslegitimation
4.1
Zwischen Industrialisierung, Stadtentwicklung …
Noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren Städte in Deutschland vor allem von Fußverkehr geprägt. Zwar hat in dieser Zeit auch der Ausbau neuer, oft schienengebundener Transporttechnologien seinen Ursprung. Diese wurden zunächst
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jedoch überwiegend privatwirtschaftlich betrieben, dienten in erster Linie dem Transport wohlhabender Bevölkerungsschichten und zuletzt sorgten auch hohe Fahrpreise dafür, dass diese Art der Fortbewegung in den Anfangsjahren kaum als Massenverkehr bezeichnet werden konnte (Capuzzo 2003: 33ff.). Dass sich dies jedoch relativ schnell veränderte, lag vor allem an einem umfassenden Bevölkerungswachstum, mit dem Städte zu dieser Zeit zunehmend zu kämpfen hatten. Denn die bis dahin einzig mögliche Wachstumsstrategie, die nicht in einem Auseinanderbrechen des sozialräumlichen Gefüges der Stadt resultierte, nämlich die weitere Verdichtung bestehender Flächen, war zugleich Ursprung immer katastrophalerer Wohnverhältnisse und sozialer Missstände (Läpple 1997: 199). Damit kann selbst die damals besonders intensiv politisch diskutierte ‚Wohnungsfrage‘ als unmittelbare Folgeerscheinung der mit der Fußgängerstadt einhergehenden Schranken der Raumüberwindung betrachtet werden (Capuzzo 2003: 23f.; Schott 2003: 94ff.). Außerdem führte die fortschreitende Umstellung auf großbetriebliche Produktionsweisen bei der städtischen Industrie zu einem zusätzlichen Flächenbedarf, der nur durch eine räumliche Trennung von Wohnorten und Arbeitsplätzen befriedigt werden konnte, was sich wiederum negativ auf die Erreichbarkeit der Arbeitsplätze durch Arbeitskräfte auswirkte (Helms 1974: 81f.; Krämer-Badoni et al. 1971: 291). Die räumliche Organisation von Städten mittels Fußverkehr wurde also immer mehr zu einem blockierenden Faktor städtischen Wachstums, womit das städtische Verkehrssystem erstmals eine tiefere Krise erfuhr (Läpple 1997: 199; Roth 2005: 174). Dabei waren leistungsfähigere Raumüberwindungstechnologien zwar oftmals schon vorhanden, für eine gezielte stadtpolitische Wachstumssteuerung waren sie zu Beginn jedoch schlichtweg noch nicht ausgelegt. Sie waren bis dahin nicht nur rein privat- und profitwirtschaftlich organisiert, sondern standen oftmals sogar in direktem Widerspruch zu stadtpolitischen Strategien, indem sie gezielt für Bodenspekulationen instrumentalisiert und entsprechend willkürlich erweitert wurden. Damit die Stadtpolitik selbst erneut die Hoheitsmacht über die städtische Entwicklung erlangen konnte, sah sie sich darum vielerorts gezwungen, aktiv regulierend und ordnend in die Stadtentwicklung einzugreifen, indem unbebaute Flächen erworben und restriktive Flächennutzungspläne erlassen wurden. Zudem wurde der bestehenden Krise des Fußverkehrssystems begegnet, indem ein erstes motorisiertes und staatlich gefördertes Verkehrssystem entwickelt wurde: Straßenbahn- und Busunternehmen wurden kommunalisiert, staatliche Subventionen für die Transportleistung eingeführt und die neue Technologie zu einem zusammenhängenden Verkehrsnetz ausgebaut (Capuzzo 2003: 27ff.; Reinhardt 2012: 52; Yago 1984: 32).
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4.1.1
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Straßenbahn und Stadtentwicklung “Transportation, land use regulation, and annexation ordered Frankfurt’s classes spatially in a way that was economically beneficial to urban expansion and yet suitable to the residential preferences of the city’s upper classes. The working class was pushed to adjacent areas of the city and beyond, to suburbs that would be the location of future industrial growth. The inner and western parts of the city were preserved for the elite.” (Yago 1984: 93) “[…] transportation was subordinated to economic expansion and rationalized urban development, deemphasizing the profit-making interests of land and transit speculators.” (Yago 1984: 86)
Im Einklang mit der allgemeinen Entwicklung erfuhren auch Frankfurt und insbesondere die an die historische Stadt angrenzenden Gemeinden ab den 1880er Jahren ein intensives Wachstum der örtlichen Industrie, womit sich zugleich die Bevölkerung der Stadt innerhalb von vier Jahrzehnten mehr als verdoppelte (Roth 2005: 227). Auch hier ging die Entwicklung häufig mit Landspekulationen und unkontrollierten Bautätigkeiten einher, was die Stadtpolitik unter Regie des damaligen Bürgermeisters Johannes von Miquel (im Amt zwischen 1880–1890) dazu veranlasste, das städtische Wachstum selbst aktiv zu planen und zu gestalten. In diesem Zuge rückte auch der städtische Nahverkehr erstmals mehr ins Zentrum städtischer Politik. So begann die Stadt neue Konzessionen an private Unternehmen zur Anbindung des nördlich gelegenen Eschersheim und der östlichen Nachbarstadt Offenbach zu vergeben.36 Aufgrund politischen Drucks aus der Bevölkerung wurde das bestehende Pferdebahn-Streckennetz zudem über die wohlhabenderen städtischen Gebiete im Nordwesten hinaus auch in Arbeiterbezirke, wie beispielsweise Bornheim im Nordosten der Stadt ausgeweitet (Yago 1984: 83ff.; vgl. VGF 1997: 4f.).
36 Tatsächlich wurde die erste Konzession für eine Pferdestraßenbahn bereits 1871 an ein belgisches Unternehmen vergeben. Die erste Strecke verlief dabei von der Innenstadt entlang der Bockenheimer Landstraße zur Bockenheimer Warte. Schon diese Konzession wurde allerdings nur unter der Voraussetzung gegeben, dass der Betreiber sich zur Inbetriebnahme weiterer Strecken verpflichtete (Schneider 1925: 75f.). Strenggenommen hatte die Stadt damit bereits schon vor Miquel regulierend auf den öffentlichen Nahverkehr eingewirkt, wenn auch wesentlich weniger umfangreich.
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Auch von Miquels Nachfolger Franz Adickes (1890–1912) wurden dessen städtebauliche Expansionspläne fortgeführt, indem er unter anderem die Erweiterung des bestehenden Pferdebahnnetzes um weitere radial verlaufende Strecken vorantrieb. Ähnlich wie in anderen Städten war jedoch die Bereitschaft der privaten Verkehrsunternehmen, in einen weiteren Streckenneubau zu investieren, anhaltend gering. Gleichzeitig zeigte sich auch die Stadtbevölkerung zunehmend unzufrieden ob der weiterhin hohen Fahrpreise auf den privat betriebenen Pferdebahnstrecken. So wurde das Pferdebahnnetz schließlich auch in Frankfurt zwischen 1889 und 1904 endgültig kommunalisiert und deren Leistung mittels neuer Sozialtarife auch für weniger wohlhabende Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht (Forstmann 1994: 409f.; Yago 1984: 86ff.). Damit erlangte die Stadt nun endgültig die Planungshoheit über das städtische Verkehrsnetz und die Entwicklung von Verkehrsströmen, darüber hinaus aber auch eine permanente Entscheidungsmacht über einen – in Adickes‘ Worten – „wichtigen Grundpfeiler“ der städtischen Siedlungs- und Stadterweiterungspolitik (zit. nach Schneider 1925: 80).37 Schließlich bestand der primäre politische Zweck der neuen kommunalen Straßenbahnverbindungen darin, die südwestlich und östlich der Stadt gelegenen Industriegebiete enger an Wohnquartiere der Arbeiterschaft und das Stadtzentrum anzubinden (Roth 2005: 227). Es folgten Elektrifizierung, ein weiterer Ausbau des Streckennetzes in (zwischenzeitlich eingemeindete) Vororte und angrenzende Gemeinden sowie neue, solidarischere Tarife, die mit zunehmender Länge der Transportstrecke proportional abnahmen (Yago 1984: 91ff.).38 Weil mit dem Ausbau der Straßenbahnen nun vermehrt auch bezahlbarere Wohnquartiere an den Stadträndern entwickelt werden konnten, was gleichzeitig die Zentralität und den Nutzungsdruck der innerstädtischen Gebiete erhöhte, kann die Straßenbahn hier als wichtige Grundlage gesehen werden, dass in Frankfurt ab 1890 erstmals eine Citybildung einsetzte: Während sich das Wohnen zunehmend an den Stadtrand verlagerte, wurde die Innenstadt immer mehr von Geschäfts- und Verwaltungsfunktionen geprägt (Forstmann 1994: 389; Schneider 1925: 180f.). 37 Aus heutiger Sicht muss dabei aber auch darauf hingewiesen werden, dass die öffentlichen Verkehrsbetriebe dieser Zeit – in Frankfurt wie in anderen Städten – durchaus gewinnbringende Unternehmen waren, die Aufwendungen der Stadt für die Übernahme der Unternehmen also letztendlich durch die Einnahmen aus dem laufenden Geschäft wieder erwirtschaftet werden konnten (Forstmann 1994: 408). 38 Allerdings darf hier nicht verkannt werden, dass die Errichtung neuer Strecken in die Ortsmitte oder an den Bahnhof einzelner Vororte oft als zentrale Forderung dieser Gemeinden im Zuge ihrer Eingemeindung nach Frankfurt formuliert worden war – wenngleich zum Teil auch zuvor Strecken bis zu den jeweiligen Ortsgrenzen bestanden (Wiedenbauer und Hoyer 1968: 135f., 147f.). 85
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Selbst nach der umfangreichen Umwälzung politischer Verhältnisse in der Weimarer Republik wurde weiterhin an dieser aktiven, wenn auch der strategischen Stadtentwicklungsplanung untergeordneten Verkehrspolitik festgehalten. So galt die oberste Priorität des damaligen Oberbürgermeisters Ludwig Landmann (1924–1933) zunächst der Wirtschaftsförderung, zu deren Zweck Frankfurt zum „Nukleus“ der gesamten Rhein-Main-Region zwischen Wiesbaden und Hanau erhoben werden sollte (Piecha 2016: 26f.). Explizit betonte Landmann in diesem Kontext auch die große Relevanz, die er der städtischen Verkehrspolitik mit Blick auf das Wirtschaftswachstum der Stadt zuschrieb (Schneider 1925: 197; vgl. auch Yago 1984: 97f.). Gleichzeitig galt der öffentliche Verkehr zu dieser Zeit allerdings als wichtiger Bestandteil des damals einsetzenden und sozialpolitisch motivierten Siedlungsbauprogramms ‚Neues Frankfurt‘, mit dem auch die bisherige konzentrische Siedlungsentwicklung durch das Konzept einer städtischen Dezentralisierung abgelöst werden sollte. In diesem Rahmen entstanden insbesondere im nordwestlich gelegenen Niddatal neue Satelliten-Wohnsiedlungen zur Wohnraumversorgung der Stadtbevölkerung, während in der Kernstadt die Citybildung im Sinne einer Konzentration an finanzwirtschaftlichen, gewerblichen und administrativen Funktionen weiter gestärkt wurde (vgl. hierzu Rebentisch 1994: 450). Gerade weil damit von städtischer Seite eine räumliche Funktionstrennung immer weiter vorangetrieben wurde, konnte auch hierbei nicht auf die Verbindungsfunktion motorisierter Raumüberwindungstechnologien verzichtet werden. Dabei gingen die Protagonisten des Neuen Frankfurts zwar angesichts einer sich international abzeichnenden Zunahme automobiler Fortbewegung davon aus, dass der automobile Verkehr eine politische Priorisierung erfahren müsse (Piecha 2016: 27). In Anbetracht der in Deutschland damals noch sehr geringen Anzahl an Automobilisten musste allerdings auch weiterhin am öffentlichen Verkehr (vorerst noch) politisch festgehalten werden. In diesem Zusammenhang wurden einerseits bewährte Strategien fortgeführt, indem Fahrpreise subventioniert und eingemeindete Vororte mit neuen Infrastrukturen erschlossen wurden, wobei als zentrale Anbindungskriterien insbesondere Pendlerbeziehungen und die Verringerung der Reisezeit auf dem Arbeitsweg dienten (Yago 1984: 94ff.). Andererseits betonte die städtische Politik nun aber erstmals explizit die Notwendigkeit neuer tangentialer Verbindungslinien im innerstädtischen Bereich, um die durch das Radialsystem entstehenden Zeitverluste zu verringern – wenngleich hier der Erschließung der Umgebung eine wesentlich höhere Priorität zugesprochen wurde (Schneider 1925: 92; 198). Zwar konnte aufgrund knapper öffentlicher Kassen im Zuge von Inflation und Wirtschaftskrise bei neuen Linien nur noch auf Omnibusse zurückgegriffen werden (Schneider 1925: 93). Dennoch wurden zwischen 1925 und 1928 ganze sieben neue Linien zu Quartieren und Orten eingeführt, die zuvor noch über
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keinen Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr verfügten. Im Rahmen dieser Ausbauoffensive wurde nun erstmals auch eine tangentiale Verbindung zwischen einzelnen Stadtteilen in das Verkehrsnetz aufgenommen, die sich – wohlgemerkt unerwarteterweise – schnell als so rentabel herausstellte, dass sie für viele Jahre weiter beibehalten wurde (Wiedenbauer und Hoyer 1968: 146f.).
4.1.2 Politischer Zweck des frühen öffentlichen Nahverkehrs Ähnlich der Wohnungsnot der Arbeiterschaft „gehören auch die Verkehrsprobleme im weitesten Sinn zu den ‚sekundären Übe[l]ständen‘, die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehen“ (Krämer-Badoni et al. 1971: 283). Somit zeigt sich bereits bei näherer Betrachtung dieser ersten Zeitepoche der städtischen Nahverkehrsentwicklung, dass der öffentliche Nahverkehr – in Frankfurt und andernorts – in erster Instanz nicht als sozialpolitisches Instrument betrachtet wurde, das einer allgemeinen und umfassenden Mobilisierung der Stadtbevölkerung dienen sollte. Vielmehr waren Ausbaumaßnahmen in der Regel eng an ganz bestimmte stadtentwicklungspolitische Interessen gebunden. Dabei können mit Läpple (1997: 198f.) sämtliche der beschriebenen Maßnahmen, von der Kommunalisierung über die Betriebsoptimierung und den Netzausbau bis hin zur Subvention von Fahrpreisen, als Bestandteil einer umfassenderen Strategie bezeichnet werden. Deren Ziel lag folglich darin, mittels Aneignung einer neuen Verkehrstechnologie und deren Weiterentwicklung zu einem System beschleunigter Raumüberwindung die Krise des alten fußverkehrsbasierten Verkehrssystems zu bewältigen. Der politische Zweck des neuen Raumüberwindungssystems bestand dabei hauptsächlich in der erneuten Gewährleistung und aktiven Steuerung städtischer Bevölkerungsund Wirtschaftsentwicklung, wobei beide Prozesse eng miteinander verflochten sind. Denn schließlich setzt ein politisch gewünschtes industrielles Wachstum nicht nur neue industrielle Flächen, sondern auch die entsprechende Anzahl an Arbeitskräften voraus, sprich eine Expansion der Siedlungsflächen. Neue Siedlungsgebiete wiederum konnten aufgrund zunehmender Distanzen zwischen Wohnort, Arbeitsstätte und Zentrum nur noch durch die flankierende Bereitstellung eines entsprechend beschleunigten Raumüberwindungssystems verwirklicht werden (vgl. Yago 1984: 20, 185). Noch deutlicher wird dies, wenn die städtische Straßenbahnpolitik nicht für sich alleine betrachtet, sondern zum regionalen Eisenbahnverkehr in Bezug gesetzt wird, für den die Straßenbahn letztendlich als letzte Meile auf dem Weg zur Arbeit oder in die Innenstadt betrachtet werden kann. Für Frankfurt lässt sich hier insbesondere mit Roth (2005: 162, 167ff.) nachzeichnen, wie wichtig es den Frankfurter Bankiers 87
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und Handelsunternehmen, wie auch der örtlichen Regierung, war, frühzeitig zum regionalen (und nationalen) Eisenbahnknoten aufzusteigen. Denn, so hebt er hervor, nur auf diese Weise wurde es als gewährleistet gesehen, dass Frankfurt auch weiterhin ein gewichtiges Handelszentrum bliebe und zugleich der stetig wachsende Bedarf an industriellen Arbeitskräften langfristig gedeckt werden könne: „Im Zuge ihres Industrialisierungsprogramms […] hatte sich Frankfurt nicht nur mit einem Ring von Industrievierteln umgeben, sondern auch systematisch Regionalbahnen gebaut, die die Verkehrsströme radial auf Frankfurt lenkten“ (Roth 2005: 169).
Unterstützung erfährt diese Feststellung insbesondere im Kontrast zur unmittelbar an Frankfurt angrenzenden Stadt Offenbach am Main: Obwohl in Offenbach eigentlich gute Voraussetzungen für eine dynamische Wirtschaftsentwicklung vorlagen, konnte dieses Potenzial lange Zeit nicht entsprechend ausgeschöpft werden, weil infolge der frühzeitig gut ausgebauten Eisenbahnverbindungen nach Frankfurt auch das Gros des regionalen Arbeitskräftereservoirs dorthin gezogen wurde. Bezeichnenderweise wurden dabei selbst aktive Versuche der Offenbacher Stadtpolitik, einen direkten Eisenbahnanschluss an die südlich gelegene Bergstraße zu errichten, durch die Stadt Frankfurt effektiv blockiert. Da nämlich diese Strecke auch durch Frankfurter Stadtgebiet verlaufen musste, wurde schlichtweg der Bau einer hierfür notwendigen Verbindungskurve durch Frankfurt unterbunden, womit Fahrgäste nach Offenbach auch weiterhin den umständlichen Umweg über die Frankfurter Bahnhöfe in Kauf nehmen mussten. Schon die frühen örtlichen Entscheidungen zum Bau und Ausbau von Eisenbahnstrecken führen also deutlich vor Augen, wie stark Verkehrsinfrastrukturen schon in dieser Zeit als raumstrategisches Instrument eingesetzt wurden. Schließlich ging es hierbei explizit nicht nur um die Entwicklung neuer Handelsbeziehungen, sondern in zentralem Maße auch um die räumliche Aufweitung der eigenen Einflusssphäre, die Verbesserung des örtlichen Zugriffs auf Arbeitskräfte aus der Region und damit letztendlich auch um die Positionierung der eigenen Stadt als zentralen Angelpunkt der Region. Ziel war also die strategische Produktion eines regionalen Raumes um und für Frankfurt (Göbel 1913: 11ff.; Roth 2005: 166ff.).39
39 Diese Produktion regionaler Räume mittels Eisenbahninfrastrukturen war allerdings nicht zwangsweise an die Frage eines Arbeitskräftereservoirs für Industriebetriebe geknüpft. Beispielsweise konnte sich die Stadt Wiesbaden nur deswegen zu einer national bekannten Kurstadt entwickeln, weil hier frühzeitig begonnen wurde die städtische Einflusssphäre durch den Bau verschiedener Eisenbahnstrecken umfangreich auszudehnen. So konnte alleine durch den Bau der Bahnstrecke zwischen Wiesbaden und
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Tatsächlich handelte es sich bei der vorwiegenden Ausrichtung auf die Beschleunigung distanzintensiver Arbeitswege keineswegs um eine lokalpolitische Besonderheit. Vielmehr lässt sich anhand von Fallstudien zur zeitgleichen Entwicklung in Dortmund und Münster (Westfalen) nachzeichnen, dass auch dort der Wandel zu einer industriellen, arbeitsteiligen Ökonomie aktiv durch bewusste kommunalpolitische Entscheidungen zum Ausbau von Nahverkehrsinfrastrukturen unterstützt wurde (Krabbe 1985). Wenn also Krämer-Badoni et al. (1971: 250) festhalten, dass Eisenbahn- und Straßeninfrastrukturen dieser Zeit „nicht als Maßnahme im öffentlichen Interesse mißverstanden [sic] werden [dürfen]“, sondern „lediglich ein Mittel [seien], um eine störungsfreie kapitalistische Entwicklung herbeizuführen“, dann zeigt sich anhand der Kommunalpolitik in Frankfurt, dass dies darüber hinaus auch für die Straßenbahn gelten muss. Gleiches muss demnach auch für die Aussage Rammlers (2014: 34) gelten, laut dem öffentliche Verkehrsinfrastrukturen zu dieser Zeit vor allem dem Zweck dienten, dass „die ökonomisch geforderte Beschleunigung der Zirkulation von Produkten und Arbeitskräften infrastrukturell ermöglicht und auf Dauer [sicher] gestellt [wurde]: Waren aus der Stadt heraus, Arbeiter und Rohstoffe in die Stadt hinein“. Obgleich auch Rammler sich hier auf regionale Eisenbahnlinien bezieht, kann auch diese Argumentation weitgehend auf die Rationalitäten zum Ausbau des Straßenbahnnetzes übertragen werden. Am treffendsten auf den Punkt bringt es zuletzt wohl Helms (1974: 82), für den nicht nur der regionale Eisenbahnverkehr, sondern ganz allgemein „der technische Fortschritt in Gestalt von Straßenbahnen, […] U-, S-, und Hochbahnen dem Monopolkapitalismus zu Hilfe [kam], um die großen Städte explosiv zu vergrößern und dennoch einen verhältnismäßig billigen Personentransport zwischen Arbeitervierteln und Arbeitsplätzen zu ermöglichen“. Schon bei den ersten kommunalen Nahverkehrsinfrastrukturen bestand der politische Zweck der Stadt Frankfurt folglich in erster Linie in der Produktion eines städtischen und regionalen Raumes, der (erneut) den Anforderungen des wirtschaftlichen Wachstums vor Ort entsprach; eines Raumes, mit dem trotz wachsender Flächenausdehnung weiterhin die Erreichbarkeit der entstehenden City und der arbeitshungrigen Industriestandorte gewährleistet werden konnte. Darüber hinaus war diese Art der Raumproduktion mittels öffentlichen Verkehrsinfrastrukturen strategisch und machtpolitisch motiviert. Denn die Festlegung auf ein sternförmiges, alleine auf Frankfurt ausgerichtetes Netz, widersprach explizit den Vorstellungen angrenzender Städte und wurde selbst gegen deren Willen aktiv verteidigt.
Frankfurt die Zahl der jährlich von dort anreisenden Kurgäste innerhalb von knapp 30 Jahren von 27.500 auf annähernd eine Million erhöht werden (Roth 2005: 171). 89
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4.1.3 Zwischen Produktion und Aneignung „Die spezifischen Räume von Transport- und Kommunikationssystemen, der menschlichen Siedlung und Wohnung, sämtlich legitimiert durch irgendein gesetzliches System von Rechten an Räumen […] welches […] den Zugang zu den Gesellschaftsmitgliedern garantiert, bringen einen festen Rahmen hervor, innerhalb dessen sich die Dynamik des sozialen Prozesses entfalten muß.“ (Harvey 1990/1995: 364)
Der Ausbau des kommunalen Nahverkehrs in seinen Anfangsjahren muss also als unmittelbares Resultat einer politisch beschlossenen selektiven Orientierung an den Anforderungen städtischen Wachstumsstrebens betrachtet werden. Offen blieb bisher allerdings, inwieweit damit auch eine spezifische räumliche Struktur des Nahverkehrsnetzes einhergeht und in welchem Verhältnis die so produzierten Räume zum gelebten Alltag, der individuellen Raumaneignung, stehen. Obwohl das Straßenbahnnetz ähnlich der Eisenbahnen überwiegend dem Zweck des Transports von Arbeitskräften in die bzw. in der Stadt verschrieben war, war dessen räumliche Struktur nicht annähernd so strikt radial ausgerichtet wie beim regionalen Schienenverkehr. Begründen lässt sich dies damit, dass einerseits bereits zu dieser Zeit die vor allem in innerstädtischen Bereich verortete Geld-, Kredit- und Versicherungswirtschaft eine relativ bedeutende Rolle für die städtische Ökonomie innehatte (Heitzenröder 2006: 18). Andererseits lagen jedoch die damals bedeutenden Industriegebiete historisch bedingt vor allem an den äußeren Rändern der Stadt, etwa in den 1877 bzw. 1895 eingemeindeten Industriestädtchen Bornheim und Bockenheim, oder entlang der Mainzer Landstraße im Westen (Forstmann 1994: 386ff.). Auch ein funktional auf den Berufsverkehr ausgelegtes Netz musste damit zwangsläufig schon die Erreichbarkeit verschiedenster Orte von Wohnquartieren, über die Innenstadt und den Hauptbahnhof bis hin zu den peripheren Industriestandorten sicherstellen, was mit einer strikt sternförmigen Struktur schlichtweg nicht gewährleistet werden konnte (s. Abb. 1). Dennoch schien auch diese Netzstruktur nicht in der Lage gewesen zu sein, individuellen Ansprüchen an das Raumüberwindungssystem vollumfänglich zu entsprechen. So wurde bereits in einer frühen Phase des städtischen Netzausbaus seitens der Bürgerschaft die Forderung erhoben, den öffentlichen Verkehr um eine ringförmige Strecke zu ergänzen (Wagner 1889) und auch in späteren Jahren wurde diese – bis heute erfolglose – Forderung immer wieder erneuert. Tatsächlich wurden neben radialen Netzerweiterungen in die angrenzenden Gemeinden Bad Vilbel, Höchst und Fechenheim durchaus auch Ringlinien damals politisch erörtert. Faktisch wurden
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Abb. 1 Straßenbahnnetz der Stadt Frankfurt am Main zum Zeitpunkt der größten Ausdehnung, 1939 (Karte: Elke Alban, IHG; Datenquelle: Michelke und Jeanmaire 1972)
diese Projekte jedoch bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs nicht weiter konkretisiert (Schneider 1925: 93). Obwohl also die konzentrische Struktur des Straßenbahnnetzes weniger strikt ausgeprägt war wie im regionalen Verkehr, ist der vermehrt vorgetragene Wunsch nach zusätzlichen tangentialen Verbindungen zwischen Stadtteilen außerhalb des Stadtzentrums ein starkes Indiz für eine schon 91
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damals vorhandene Diskrepanz zwischen dem durch die Stadtpolitik produzierten Verkehrsraum und tatsächlichen individuellen Bedürfnissen der Raumüberwindung. Relativierend lässt sich allerdings ergänzen, dass sich die Forderung nach Quer- und Ringverbindungen in Frankfurt zumindest teilweise auch auf eine Verbesserung des Berufsverkehrs bezog (1987: 40; Yago 1984: 93). Außerdem wurden explizite Ringstrecken zu dieser Zeit einzig in großen Metropolen wie London, Paris, Wien oder Berlin errichtet, und zwar in erster Linie, um Kopf- und Güterbahnhöfe miteinander zu verbinden. Dass diese Strecken dann schnell von einer immer größeren Zahl an Arbeitskräften für den täglichen Weg zwischen Schlaf- und Arbeitsplatz genutzt wurden, war auch dort eine zunächst nicht erwartete Entwicklung (Helms 1974: 74; Roth 2005: 179). Naheliegenderweise gingen demnach auch in Frankfurt die Forderungen nach Quer- und Ringverbindungen zu einem großen Anteil auf den Wunsch einer Beschleunigung von Arbeitswegen zurück und nicht auf verbesserte Transportbedingungen innerhalb der Reproduktionssphäre – also in diesen Bereichen des alltäglichen Lebens, die nicht direkt der Arbeit (Produktion) zugeordnet werden können, sprich familiäre Aufgaben, private Erledigungen, soziale Kontakte und sonstige Freizeitaktivitäten. Unterlegen lässt sich dies auch anhand der allgemeinen soziostrukturellen Entwicklung unserer Gesellschaft. Denn erstens konnte eine Herauslösung des Individuums aus seinen traditionell nahräumlich organisierten sozialen Strukturen im Zuge von Urbanisierung (Krämer-Badoni 1993: 19ff.) und Mobilisierung (Rosenbaum 2016: 548) überhaupt erst einsetzen. Der heute weit fortgeschrittene Prozess sozialer Differenzierung (vgl. Kap. 2.1.1) steckte zu dieser Zeit also noch in den Kinderschuhen. Zweitens war die damals zur Verfügung stehende Freizeit nicht nur wesentlich kürzer, sondern musste neben Haushaltstätigkeiten oftmals zur Verbesserung der eigenen Lebensverhältnisse genutzt werden – etwa durch Gemüseanbau zur Selbstversorgung (Krämer-Badoni 1993: 21f.). Zwangsweise waren also die Pflege sozialer Kontakte und außerhäusliche Erledigungen weitgehend auf den Nahraum beschränkt. Für das Frankfurter Fallbeispiel unterstreicht dies auch die Feststellung, dass sich damals gerade Geschäfte des alltäglichen Bedarfs, Warenhäuser, kleinere Banken und Freizeitlokale verstärkt in die neuen Wohngebiete am Stadtrand verlagerten (Schneider 1925: 180). Zumindest für diesen Zeitraum kann folglich noch keine tiefgreifende Diskrepanz zwischen dem (lokal-)staatlich produzierten Verkehrsraum, sprich dem ÖPNV-Angebot, und der individuellen Raumaneignung attestiert werden. Dies lag aber weniger daran, dass dieses Angebot keine Wünsche mehr offengelassen hätte, was dem ideell-kulturellen Aspekt des weiter oben thematisierten Beschleunigungsprozesses widersprechen würde (vgl. Kap. 2.1.1). Vielmehr konnte sich die individuelle Raumaneignung bis dahin schlichtweg noch nicht vom „festen Rahmen“
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(Harvey 1990/1995: 364) des öffentlichen Verkehrs loslösen, weil für den Großteil der Bevölkerung (abgesehen vom Fahrrad) noch keine andere Möglichkeit zur schnellen Überwindung der weiträumigen städtischen Siedlungsstruktur bestand: Einer umfangreichen Differenzierung individueller Raum-Zeit-Pfade abseits der Arbeitsteilung, die dann später im Zuge der automobilen Massenmobilisierung einsetzte, fehlte schlichtweg noch die materielle Voraussetzung eines entsprechenden Verkehrssystems. Allerdings verweist in dieser Hinsicht insbesondere die Zeitepoche der Weimarer Republik auf eine zögerliche graduelle Anpassung der städtischen Raumproduktion an die Anliegen individueller Raumaneignung, was nahelegt, dass die politischen Umbrüche dieser Zeit auch für die städtische Verkehrspolitik nicht folgenlos blieben. Denn erstmals in der Geschichte des Frankfurter ÖPNV-Systems scheint die Angebotsplanung hier auch tatsächlich dem regelmäßig geäußerten Wunsch nach einem räumlich differenzierteren Raumüberwindungssystem nachzukommen, allerdings in überschaubarem Umfang. Denn wie schon beschrieben wurde dort erstmals das Straßenbahnnetz durch tangential verlaufende Buslinien ergänzt, mit denen Wege zwischen einzelnen Stadtteilen nun auch ohne den Umweg über die Innenstadt motorisiert zurückgelegt werden konnten. Deuten lässt sich diese Intensivierung der kommunalen Verkehrspolitik – gleich der eng mit ihr verknüpften Siedlungspolitik – vor allem durch die veränderten politischen Rahmenbedingungen, nach denen nun auch Frauen und die Arbeiterklasse über ein vollumfassend gleiches Wahlrecht verfügten. Schließlich war die städtische Politik so stärker als zuvor mit der Herausforderung konfrontiert, nicht mehr nur den Bedürfnissen der (schon zuvor wahlberechtigten) Bürgerschaft und des Unternehmertums gerecht zu werden, sondern darüber hinaus auch den sozialen, ökonomischen und politischen Forderungen aus der Arbeiterklasse nachzukommen. Und eben diese Forderungen beinhalteten unter anderem eine Verbesserung der Verkehrsverbindungen in der Stadt (Yago 1987: 40; 1984: 180). Weil den verkehrspolitischen Forderungen der Bevölkerung an dieser Stelle auch faktisch nachgekommen wurde, erscheint es folgerichtig, hier – analog zum politischen Wandel – auch von einem ersten Moment zaghafter Demokratisierung der kommunalen Verkehrspolitik und damit auch von einer Demokratisierung der entsprechenden Raumproduktion zu sprechen. Tatsächlich wurde dieses kleine Fenster einer demokratischen Öffnung der kommunalen Verkehrspolitik aber relativ schnell wieder geschlossen. Denn gleichzeitig fand sich die Verkehrspolitik angesichts einer äußerst knappen Finanzlage zunehmend in einem Zwiespalt gefangen zwischen einer weiterhin als notwendig erachteten, folglich kontinuierlich weiterbetriebenen, Wirtschaftsförderungspolitik und den von der neu hinzugekommenen Wählerschaft artikulierten Forderungen. Ähnlich der Siedlungspolitik wurde darum laut Yago (1984: 102f., 186) auch die 93
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Verkehrspolitik nicht mehr als Gegenstand öffentlicher Debatten betrachtet, sondern mittels Professionalisierung und Bürokratisierung aus der öffentlich-politischen Sphäre herausgelöst und in den Kontext einer rational-technokratischen Planung überführt. Abschließend lässt sich damit festhalten, dass (1) das von der Stadt Frankfurt bis in die Weimarer Republik hinein strategisch produzierte Raumüberwindungssystem Straßenbahn (ähnlich der Eisenbahn) vor allem den Zwecken entsprechen sollte, Arbeitswege allgemein zu beschleunigen und insbesondere zu gewährleisten, dass zusätzlich erschlossene Arbeitskraftreservoirs in erster Linie der Verbesserung des eigenen Wirtschaftsstandortes dienten. Zwar kann (2) zu diesem Zeitpunkt noch nicht von einer großen Diskrepanz zwischen dem Ergebnis staatlicher Raumproduktion und der individuellen Aneignung des Raumes gesprochen werden, weil Prozesse sozialer Differenzierung noch wenig fortgeschritten waren. Dennoch führten (3) die politischen Umbrüche der Weimarer Republik zu einer ersten zaghaften Demokratisierung der Raumproduktion. Diese Demokratisierung muss (4) jedoch nur als kurzfristig aufblinkendes Moment betrachtet werden, denn angesichts zunehmender Finanzierungskonflikte wurde nun auch das Thema des städtischen Verkehrs der öffentlich-politischen Sphäre entzogen und zum Bestandteil einer professionell organisierten rational-technischen Planung erklärt.
4.1.4 Veraltete Technologie im Schatten des entfesselten Individualverkehrs Einen erneuten tiefgreifenden Wandel erfuhr das kommunale (wie nationale) Verkehrsgeschehen, als in den 1930er Jahren die Nationalsozialisten das Automobil mitsamt dem entsprechenden Infrastrukturausbau zum zentralen Gegenstand ihrer Verkehrspolitik erhoben. Im Automobil identifizierten sie ein grundlegend notwendiges Instrument zur Durchsetzung ihrer militärstrategischen und gesellschaftspolitischen Überlegungen.40 Erste Vorzeichen einer politischen Abkehr 40 Insbesondere im Vergleich zu den Vereinigten Staaten, wo bereits seit den 1920er Jahren ein intensives Wachstum des automobilen Individualverkehrs zu beobachten war, setzte die politische und planerische Zuwendung zum Automobil damit in Deutschland erst vergleichsweise spät ein. Von einer wirklichen Massenmotorisierung kann hier sogar erst seit den 1950er Jahren gesprochen werden. Begründen lässt sich dieser Sachverhalt damit, dass die deutsche Wirtschaft noch bis zum zweiten Weltkrieg vor allem durch die Schwer-, Chemie- und Elektroindustrie dominiert wurde, darum stark auf den Schienenverkehr angewiesen war, während die Automobilindustrie und weitere Industriezweige mit Öl-Automobil-Bezug in Deutschland noch vergleichsweise lange eine untergeordnete
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vom öffentlichen Schienenverkehr lassen sich zwar schon auf die letzten Jahre der Weimarer Republik datieren – schon damals wurde zunehmend darauf geachtet, neue Schieneninfrastrukturen möglichst außerhalb des bestehenden Straßenraums zu errichten, um genügend Platz für den Autoverkehr freizuhalten. Zudem weisen auch die Einführung von dieselbetriebenen Buslinien und die damals allmählich zunehmende Relevanz automobilbezogener Industriezweige in diese Richtung (Yago 1984: 102f.; vgl. auch Schmucki 2001: 95f.). Ein wirklicher Bruch mit der bis dahin bestehenden Nahverkehrspolitik erfolgte jedoch erst mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933: Zeitnah wurden staatliche Subventionen für ÖPNV-Infrastrukturen mittels staatspolitischer Direktiven zurückgefahren, Fahrkartenpreise erhöht und Ausbauplanungen nur noch in Ausnahmefällen vorangetrieben. In ideologischer Hinsicht zielte diese neue Verkehrspolitik auf eine Schwächung der Klassensolidarität innerhalb der Arbeiterschaft ab, was – ähnlich dem Wohnen – mittels Dezentralisierung und Individualisierung des Verkehrs erreicht werden sollte (Frenz 1987: 50; Yago 1984: 111f.). Aus dieser Perspektive erscheint es nur konsequent, nicht mehr den kollektiven, sondern den individuell-motorisierten Verkehr zum zentralen Objekt staatlicher Förderung zu erwählen (Frenz 1987: 49f.; vgl. auch Schmucki 2001: 103; Yago 1984: 103ff.). Damit zusammenhängend wurde zugleich eine Umstellung der Automobilproduktion auf mechanisierte Fertigungsverfahren forciert, was sowohl die Produktionskapazität erhöhte als auch den Preis für Automobile senkte. Tatsächlich verhinderte jedoch eine vermehrte Nutzung von Industriekapazitäten für militärische Zwecke die politische Intention, schon damals die breite Masse der deutschen Bevölkerung mit eigenen Privat-Automobilen auszustatten (Krämer-Badoni et al. 1971: 12f.). Eine dezidierte Frankfurter Verkehrspolitik lässt sich in diesem Kontext nur bedingt identifizieren, da politische Entscheidungen zu dieser Zeit weitgehend auf nationaler Ebene gebündelt wurden. Dennoch zeigt sich auch hier die zunehmende Zuwendung zum Individualverkehr, indem als Orientierungsrahmen zwar weiterhin die bisherige Planungspolitik diente, diese faktisch jedoch in einen neuen, individualverkehrsfördernden Bezugsrahmen transferiert wurde. Zudem wurde eine aktive Förderung des Automobils nun als gewichtige Begründung ins Feld geführt, um die geplante Durchführung einer als notwendig erachteten, grundlegenden städtebaulichen Erneuerung gegenüber der Zivilbevölkerung zu legitimieren (Yago 1984: 110). So wurden beispielsweise 1938 umfangreiche Abrissmaßnahmen in innerstädtischen Arbeiterquartieren vorgenommen, um ökonomische Rolle spielten. Folglich war auch der Industrie in Deutschland zunächst recht wenig daran gelegen, den städtischen und regionalen Verkehr neu zu organisieren (Yago 1984: 28ff.; 177f.). 95
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mittels neuer Straßendurchbrüche einen autogerechten Zugang in die Innenstadt herzustellen (Rebentisch 1994: 498). Bei dem aus der politischen Gunst gefallenen öffentlichen Verkehr wurden dagegen konsequenterweise auch in Frankfurt Beförderungspreise erhöht, Preissubventionen gestrichen und der weitere Netzausbau zurückgefahren (Yago 1984: 111). Weil jedoch trotz bereits erfolgter politischer Abkehr vom Straßenbahnsystem noch vereinzelte schon länger geplante Strecken errichtet wurden, lag der Zeitraum der höchsten Netzausdehnung dennoch in den ausklingenden 1930er Jahren (Michelke und Jeanmaire 1972: 19; s. Abb. 1). Dieser von den Nationalsozialisten erstmals ernsthaft forcierten Abkehr vom Kollektivverkehr konnte auch der erneute politische Bruch nach dem zweiten Weltkriegs nichts anhaben. So erfuhr zwar der politische Überbau eine zeitgemäße Anpassung, das grundsätzliche Ziel einer priorisierten Förderung des motorisierten Individualverkehrs wurde jedoch auch von der bundesdeutschen Verkehrspolitik weitestgehend übernommen (Krämer-Badoni et al. 1971: 36ff.). Begründen lässt sich dies einerseits mit personeller Kontinuität in den Verwaltungen und bei den Autolobbyverbänden (vgl. Krämer-Badoni et al. 1971: 45f.; 186; Schmucki 2001: 98), andererseits durch umfangreiche Investitionen US-Amerikanischer Automobil- und Öl-Unternehmen in die deutsche Wirtschaft (Wolf 2007: 408).41 So wurde nun die Automobilbranche in der jungen Bundesrepublik zur Schlüsselindustrie, zum Garant für wirtschaftliches Wachstum und damit zusammenhängend auch die Massenmotorisierung entsprechend vorangetrieben (Linder et al. 1975: 51ff.; Yago 1984: 46f.). Für öffentliche städtische Massenverkehrsmittel gab es dagegen auch in der Nachkriegszeit keine finanziellen Fördermittel zum Infrastrukturausbau (Schmucki 2001: 255). Darüber hinaus waren die starren Verkehrslinien des öffentlichen Nahverkehrs der zunehmenden Konkurrenz durch das räumlich wesentlich flexiblere Automobil kaum mehr gewachsen, weshalb hier nun bundesweit immer mehr auf Omnibusse zurückgegriffen wurde. Schließlich benötigten Busse keine kostenintensive Infrastrukturvorleistung und konnten wesentlich besser an veränderte Raumstrukturen angepasst werden – wobei auch ein öffentlicher Buslinienverkehr den Flexibilitätsversprechen des Automobils kaum etwas entgegensetzen konnte (Rammler 2014: 42f.). 41 Interessanterweise hielt dabei gerade die Verkehrsplanung – trotz umfangreicher Kritik aus Politik, Städtebau und Medien – noch bis Mitte der 1950er Jahre die Straßenbahn aufgrund deren Leistungsfähigkeit insbesondere für Großstädte für unentbehrlich. Erst nachdem infolge steigender Reallöhne der prozentuale Anteil des motorisierten Individualverkehrs immer weiter zunahm und der Begriff der „Verkehrsnot“ vermehrt die verkehrspolitischen Diskurse prägte, lies sich auch die Verkehrsplanung überzeugen und begann ihren gewichtigen Teil zum Leitbild der autogerechten Stadt beizutragen (Schmucki 2001: 102ff.).
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Ganz ähnlich lässt sich diese Entwicklung auch für die spezifische Frankfurter Verkehrspolitik nachzeichnen. Zwar bestand unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg noch eine der ersten Amtshandlungen darin, die städtischen Straßen wieder für den Straßenbahnverkehr nutzbar zu machen und zumindest was die unmittelbaren Nachkriegsjahre betraf spielte das Straßenbahnnetz noch eine zentrale Rolle für die städtische Verkehrsbewältigung. Dennoch wurde auch hier nur wenige Jahre später das Auto (erneut) zum „Lieblingskind der Bürger und der Stadtplaner und nicht zuletzt der Verkehrsplaner selbst“ (Balser 1994: 538). Folglich wurde der in den 1950er Jahren bundesweit einsetzende massive Anstieg automobiler Individualität auch in Frankfurt von entsprechenden verkehrspolitischen Diskursen und Entscheidungen begleitet, die dabei vor allem darauf abzielten, der aufkommenden individualverkehrsbedingten Verkehrsflut Herr zu werden. Demnach war es nur konsequent, dass der damalige Magistrat in seiner Überzeugung ob der großen Vorteile des motorisierten Individualverkehrs, mit den Worten des damaligen Stadtkämmerers explizit den Standpunkt vertrat, „Straßenpolitik“ zu betreiben (zit. nach Bendix 2002: 260) und damit letztendlich das Automobil zum wichtigsten Bestandteil der kommunalen Verkehrspolitik auserkoren hatte. Ganz im Sinne der allgemeinen Einstellung zum Automobil als zukünftigem Hauptverkehrsmittel reagierte die Stadt schließlich auf die aus der einsetzenden Massenmotorisierung hervorgehende zunehmende Parkplatznot in der Innenstadt ab 1956 zunächst mit der Errichtung zusätzlicher Parkhäuser, der Verbreiterung bestehender Straßen und dem Bau neuer Tangentialstraßen – also ausschließlich mit Maßnahmen, die das Infrastrukturangebot für den Individualverkehr verbessern sollten (Bendix 2002: 261ff.). Da aber die Massenmobilisierung trotz schneller Fortschritte zu dieser Zeit immer noch in den Kinderschuhen steckte, ist es trotz dieser politischen Bekenntnisse zum Individualverkehr nicht verwunderlich, dass der öffentliche Straßenbahnverkehr dabei nicht schlagartig in der Versenkung verschwand. Vielmehr blieben die öffentlichen Nahverkehrsmittel noch bis in die späten 1950er Jahre unumstrittener Hauptverkehrsträger des innerstädtischen Personenverkehrs und transportierten zuletzt sogar mehr Fahrgäste als noch vor dem Zweiten Weltkrieg. Dies selbst vor dem Hintergrund, dass die städtischen Verkehrsbetriebe in Folge des Zweiten Weltkrieges nur noch über einen veralteten und dezimierten Fuhrpark verfügten, weswegen Fahrzeuge zumeist überfüllt und häufig verspätet waren, außerdem die Tarife aufgrund stetig steigender Personalkosten in wenigen Jahren mehrfach erhöht werden mussten und dennoch fast durchgehend ein betriebswirtschaftliches Minus erwirtschaftet wurde. Für die individuelle Raumaneignung in der Stadt spielte der öffentliche Nahverkehr also noch einige Jahre länger eine gewichtige Rolle, als in der Verkehrspolitik (ebd.: 263f.). So ist es auch nicht verwunderlich, 97
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dass zumindest Anfang der 1950er Jahre das politische Bekenntnis zur ‚Straßenpolitik‘ noch nicht ganz so eindeutig ausfiel. Vielmehr wurden sogar in politischer Einigkeit noch eine lange geplante Streckenerweiterung nach Frankfurt-Höchst im Westen und eine zusätzliche Erschließung des großen Industriegebiets im Osten der Stadt beschlossen, der Omnibusverkehr weiter ausgeweitet, bis dahin noch privat betriebene Linien in die benachbarten Städte Bad Homburg und Oberursel aufgekauft und innerstädtische Verkehrsknotenpunkte (auch) zugunsten der Straßenbahn entflochten. Trotz ihres klaren Bekenntnisses zum Automobilverkehr darf folglich der Frankfurter Verkehrspolitik eine schlagartige und vollständige Abkehr vom öffentlichen Nahverkehr zumindest zu dieser Zeit noch nicht attestiert werden (ebd.: 265f.).
4.1.5 Bedeutungsverlust eines totalitär-heteronomen Verkehrssystems Diese spezifische und zeitlich begrenzte Situation in Frankfurt darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Straßenbahn auch ganz allgemein mit dem massenhaften Aufkommen des Automobils als neuem Raumüberwindungssystem sukzessive an Bedeutung verlor – sowohl hinsichtlich der grundsätzlichen politischen und ökonomischen Ziele einer möglichst umfangreichen Mobilisierung der Bevölkerung als auch im Hinblick auf die individuelle Raumaneignung, die beim Automobil viel weniger durch eine Abhängigkeit von der staatlichen Raumproduktion gekennzeichnet ist. Gleichzeitig muss auch das Errichten von Fahrbahnen für den Individualverkehr als ein Instrument staatlicher Raumproduktion betrachtet werden, das zudem unter Einbezug politischer, wirtschaftlicher und individueller Faktoren mit zusätzlichen Vorteilen verbunden war. Denn im Gegensatz zu den Anforderungen beim Betrieb eines öffentlichen Verkehrsangebots beschränken sich die staatlichen Maßnahmen hier ausschließlich auf die Bereitstellung der Straßeninfrastruktur. Gleichzeitig konnte unter dem Vorwand der Eigentumsbildung der eigentliche Verkehrsbetrieb innerhalb des neuen Systems in die Verantwortung des Individuums ausgelagert, also faktisch privatisiert werden. Folglich wurde auf diese Weise den Ansprüchen der Ökonomie gleich in doppelter Hinsicht Genüge getan. Durch die Privatisierung des Betriebs wurde nicht nur einer der bedeutendsten Konsummärkte der Nachkriegszeit erschaffen. Gleichzeitig konnte durch eine mittels Automobil erwirkter Flexibilisierung und erneuter Beschleunigung der Raumüberwindung auch die örtliche Verfügbarkeit von Arbeitskräften weiter verbessert werden (vgl. Kap. 2.1.2).
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Gerade weil der Straßenbau so intensiv vorangetrieben wurde und der individuellen Raumaneignung damit immer weniger Grenzen gesetzt wurden, ist es auch durchaus nachvollziehbar, dass das Automobil immer wieder zu einem Instrument gesellschaftlicher Demokratisierung deklariert wurde.42 Dies zwar nicht im engeren Sinne einer möglichst kollektiven Entscheidungsfindung; stattdessen aber hinsichtlich der Gewährleistung einer größeren und für diverse Wegzwecke ähnlichen Bewegungsfreiheit bzw. Souveränität des/der Einzelnen oder (mit Verweis auf das deutsche Grundgesetz) im Sinne einer freien Entfaltung der individuellen Persönlichkeit. So etwa bei Burkart (1994: 227) und Rosenbaum (2016: 547f.), die den Demokratisierungsaspekt des Automobils in einer umfangreich vergrößerten Anzahl individuell zugänglicher Wahlmöglichkeiten (von Wohnort, Arbeitsplatz, Bildungsweg und sozialen Kontakten) identifizieren. Aus der weitgehenden Emanzipation von hierarchisch vordeterminierten Verkehrsnetzen resultiert damit (erneut) eine Steigerung individueller Partizipationschancen (vgl. Kap. 2.1.1).43 Gleichsam erscheint damit der liniengebundene, also ausschließlich selektiv mobilisierende öffentliche Verkehr geradezu als totalitär-heteronomes Instrument, weil der individuellen Raumaneignung durch die (lokal-)staatlich kontrollierte und gesteuerte zweckgebundene Raumproduktion ein enges Korsett angelegt wird. Schließlich wird hier eine Vielzahl an nicht intendierten Anlässen zur Raum überwindung qua fehlender Infrastruktur schlichtweg unterbunden (vgl. Läpple 1997: 204), was im Zusammenhang mit dem bereits zuvor thematisierten primären Zweck staatlicher Verkehrspolitik nicht verwundert. Folgerichtig lassen sich diese
42 Abgesehen von ganz bestimmten, hier näher beschriebenen Facetten, soll allerdings keinesfalls der Eindruck entstehen, das Automobil wäre in jeglicher Hinsicht ein besonders demokratisches Raumüberwindungssystem. Schließlich hat einerseits bereits Sachs zurecht darauf verwiesen, dass schon der spezifische „technische Zuschnitt“ des Artefakts Automobil „Allmachtsgefühle“ erwecke, da es nicht nur die Kräfte der Fahrer*innen „um ein Vielfaches vergrößert“, sondern darüber hinaus auch explizit darauf ausgelegt ist, sich in archaischer Manier im „Wettkampf“ Straßenverkehr beim Streben nach hohen Geschwindigkeiten gegen unzählige „Kontrahenten“ durchzusetzen (Sachs 1984: 136ff.). Andererseits stellen auch die mit finanziellen Hürden verbundene Notwendigkeit des Eigentumserwerbs und die in Kap. 2.1.3 beschriebenen Zwänge zum Automobilbesitz gewichtige Argumente dar, die auf einer umfassenderen Ebene der Rahmung des Automobils als demokratisches Verkehrsmittel diametral entgegenstehen. 43 Tatsächlich ist die Verknüpfung von Verkehrsinfrastrukturen mit Demkoratisierungs aspekten keine Argumentation, die sich nur auf das Automobil beziehen lässt. So hat beispielsweise schon Friedrich List, seines Zeichens Nationalökonom, Vorkämpfer der deutschen Zollunion und glühender Unterstützer des Eisenbahnausbaus, nachdrücklich auf die grundlegende Notwendigkeit eines gut funktionierenden Verkehrssystems für die Ausbildung demokratischer Teilhabe verwiesen (zit. nach Rammler 2001: 109). 99
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nicht intendierten Anlässe zur Raumüberwindung vor allem dem Freizeitbereich zuordnen, der konsequenterweise gerade im Zuge der automobilen Massenmotorisierung durch ein weitreichendes Verkehrsmengenwachstum geprägt war. Hier haben nicht nur bereits Krämer-Badoni et al. (1971: 17) festgestellt, dass erst mit dem Aufkommen des Automobils auch das Freizeithandeln bzw. der Freizeitverkehr motorisiert gestaltet wurde. Auch Holz-Rau und Scheiner (2005: 67) weisen darauf hin, dass die Massenmotorisierung als zentrale Grundlage dafür gesehen werden muss, dass soziale Kontakte sich zunehmend vom unmittelbaren Nahraum lösten und sich fortan zu weiträumigen, dispersen und individuell unterschiedlichen „Kontaktkreisen“ transformierten (vgl. Kap. 2.1.3). Ergänzend kann in diesem Zusammenhang auf Frank (1971: 1f.) verwiesen werden, der eine Unterscheidung des Verkehrs in zwei voneinander zu trennende Teilbereiche vorschlägt: Einerseits Wege, die der Produktion zuzuordnen sind, sprich Arbeitswege, und andererseits Wege, die im Bereich der Reproduktion verortet sind, also Freizeitwege, Einkaufswege, die Pflege sozialer Kontakte und so weiter. Während folglich die staatliche Raumproduktion zwecks Unterstützung wirtschaftlicher Prosperität vor allem den produktiven Verkehr ins Auge fasst, ist der reproduktive Verkehr im Rahmen kapitalistischer Wertschöpfung zunächst einmal nur Bestandteil individueller Konsumption, also zwar eine „Quelle des Profits“ (ebd.: 1), darüber hinaus aber kaum weiter relevant. Gerade das Automobil erscheint damit für die Verkehrspolitik als besonders attraktives Verkehrsmittel, weil, quasi als nützliches Beiprodukt, die Einzelnen sich im Zuge der hiermit verbundenen Verkehrsmittelprivatisierung nun selbst verantwortlich für die Befriedigung etwaiger Bedürfnisse des Reproduk tionsbereiches zeigen können. Frank betont dabei aber, dass auch der reproduktive Verkehr sich zu einem Adressaten für Verkehrspolitik entwickeln kann, sobald er das „Beschaffungsproblem der Ware Arbeitskraft“ (ebd.) negativ beeinflusst. Zum Adressat wird er folglich erst dann, wenn er zu anwachsenden Pendelzeiten und Stau im Berufsverkehr beiträgt und dadurch die Produktivität der Wirtschaft gefährdet. Tatsächlich war es gerade diese Sorge um die wirtschaftlichen Folgen des Verkehrsstaus, die selbst in Zeiten unbestreitbar hegemonialer Automobilität eine Wiedergeburt des, mittlerweile als veraltete Technologie verschrieenen44, schienengebundenen öffentlichen Nahverkehrs einläutete. 44 Vgl. hierzu die vorgeschlagene Unterteilung zwischen einerseits den schienengebundenen Verkehrsmitteln einer „ersten Moderne“, die sich vor allem durch die Quantität neuer Raumüberwindungssysteme charakterisieren lässt, dabei aber ein gewisses Maß an individueller Öffentlichkeitszugewandtheit erfordert, sowie andererseits dem motorisierten Individualverkehr als Bestandteil einer „zweiten Moderne“, der als Instrument einer „geschützten, eigensinnigen Selbstbeweglichkeit“ vor allem die Qualität motorisierter
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„Dem Autofahrer [muss] klargemacht werden, daß niemand daran denkt, ihm sein freiheitsschenkendes Fahrzeug wegzunehmen. Er soll es lediglich zu einem einzigen Zweck nicht benutzen – zur Fahrt zum Arbeitsplatz.“ (Infas in: Der Spiegel 1970: 58)
Wie auch andere Städte der Bundesrepublik hatte sich Frankfurt bis in die 1960er Jahre endgültig zu einer Stadt des motorisierten Individualverkehrs gewandelt, in der die als veraltet betrachtete Straßenbahntechnologie zumindest vonseiten der Politik nur noch eine untergeordnete Rolle spielte. Gleichzeitig wurde der Automobilverkehr für die Stadt aufgrund zweier miteinander verschränkter Prozesse zunehmend zum Problem: Zum einen hatte Frankfurt in der Nachkriegszeit durch den Zuzug von Verwaltungssitzen von Wirtschaftsunternehmen und der Bundesbank auch für interna tionale Finanzdienstleistungen eine immer größere Anziehungskraft entfaltet – mit den entsprechenden Folgen für den Arbeitsmarkt: Bereits 1960 ließen sich hier über 50 % der Arbeitsplätze dem tertiären Sektor zuordnen, ein Anteil der damals in keiner anderen Stadt der Bundesrepublik erreicht wurde (Ronneberger und Keil 1995: 291f.). Analog zu den Entwicklungen anderer deutscher Großstädte wurde dabei in Frankfurt von Politik und Verwaltung darauf hingearbeitet, diese neuen Dienstleistungsunternehmen im Sinne einer weiteren Cityausbildung vor allem im Kernstadtbereich anzusiedeln (Beste 2000: 83ff.). Entsprechend konzentrierte sich auch das damalige Arbeitsplatzwachstum vor allem auf die innerstädtischen Bereiche. Zum anderen führten die neuen Arbeitsplätze in der Kernstadt – insbesondere in Kombination mit der durch die automobile Mobilisierung bedingten umfangreichen Wohnsuburbanisierung – zu einer rapiden Zunahme des stadtwärts gerichteten Pendelverkehrs. Lag dieser 1947 noch bei ca. 40.000 Einpendler*innen, hatte er sich im Jahr 1961 auf 134.000 Einpendler*innen bereits mehr als verdreifacht. Zugleich hatte sich das entsprechende Einzugsgebiet im Einklang mit den durch das Automobil bedingten neuen Möglichkeiten der Raumaneignung weit über das bisher durch den öffentlichen Verkehr erschlossene Gebiet ausgedehnt (Beste 2000: 84; Yago 1984: 114). So hatte sich die Anzahl der Berufstätigen, die ihren
Raumüberwindung verbessert, zugleich aber beschwichtigend auf die notwendige Konfrontation des Individuums mit dem öffentlichen Raum wirkt (vgl. insb. Rammler 1999: 43ff.; Projektgruppe Mobilität 1999: 12ff.; außerdem Rammler 2014). 101
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innerstädtischen Arbeitsplatz mit dem Automobil aufsuchten, alleine innerhalb von fünf Jahren verdoppelt (Wiedenbauer und Hoyer 1968: 192f.).45 „18:40 am Eschenheimer Turm. Die Ampeln haben längst ihren Sinn verloren. Die Wagen stehen bei Grün, verfilzt ineinander; bei Rot rucken sie vorwärts, wenn die Gelegenheit günstig ist. […] Die Wagen stehen wie einzementiert“ (Frankfurter Rundschau 1961/2012: 51). „Massenweise brachen die Autos auf dem Roßmarkt aus der verkeilten Straße, fuhren nach links, quer über Gehsteige und Trambahngleise und versuchten, in Richtung Goetheplatz zu entkommen“ (Frankfurter Rundschau 1961/2012: 51).
Damit nicht genug, wurde auch für die darauffolgenden Jahre mit einem Bevölkerungswachstum von 20 % und einem ähnlich hohen Beschäftigungszuwachs gerechnet – inklusive der damit zusammmenhängenden Auswirkungen auf das städtische Verkehrsgeschehen (Köstlin 1987: 376f.).46 Aber auch ohne diese Zukunftsprognosen waren die Straßen Anfang der 1960er Jahre bereits stark durch Überlastung gezeichnet, immer häufiger versank die Stadt im Stau. Denn alleine die Anzahl der in Frankfurt zugelassenen Automobile hatte sich zwischen 1950 und 1961 auf rund 144 000 fast verfünffacht (Ahäuser 2012: 45). Und obwohl die Stadt konsequent Straßen verbreitert, die Verkehrsleistung an Kreuzungen verbessert und grüne Wellen für den Individualverkehr eingeführt hatte, musste bald resigniert festgestellt werden, damit dennoch keine spürbare Verbesserung der Verkehrsverhältnisse erreicht zu haben. Denn trotz aller Maßnahmen zogen sich insbesondere im Berufsverkehr die Fahrzeiten immer weiter in die Länge (Müller-Raemisch 1998: 98).47 Angesichts dieser Schreckensvorstellung von schwerwiegenden individualverkehrsbedingten Erreichbarkeitsproblemen begann schließlich 1960 unter Oberbür45 Zwar wurden auch in den meisten anderen Städten in Deutschland ähnliche Entwicklungen mit dem Resultat zunehmend belasteter Straßeninfrastrukturen, insbesondere auf Relationen zwischen Stadt und Umland, problematisiert (vgl. Läpple 1997: 207). Alleine die vergleichsweise hohen Zahlen an Arbeitsplätzen und Einpendler*innen verweisen jedoch darauf, dass in Frankfurt der entsprechende Handlungsdruck als besonders hoch wahrgenommen werden musste. 46 Tatsächlich wurde die für 1982 prognostizierte Einwohnerzahl der Stadt von 727.000, wie auch die prognostizierte Zahl von 625.000 Beschäftigten (Müller-Raemisch 1998: 113) erst wesentlich später erreicht. 47 Erschwerend kam hier hinzu, dass Frankfurt als organisch gewachsene bürgerliche Handelsstadt nicht von ähnlich breiten Prachtstraßen durchzogen war, wie sie in ehemaligen Residenzstädten zu finden sind, womit der Straßenraum hier als besonders begrenzt angesehen werden musste (Köstlin 1987: 376).
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germeister Bockelmann (SPD) die Diskussion über eine grundsätzliche Neustrukturierung der innerstädtischen Verkehrsverhältnisse. Ein zentraler Bestandteil dieser Diskussion waren dabei auch erstmals wieder umfangreiche Investitionen in das städtische Schienennetz (Köstlin 1987: 376; Rüegg 1996: 140). Tatsächlich wurde dann im darauffolgenden Jahr nach Abwägung verschiedener Systemalternativen der Beschluss gefasst, nach Berlin und Hamburg als dritte deutsche Stadt, ein eigenes U-Bahn-Netz zu errichten (Balser 1994: 538ff.; Wiedenbauer und Hoyer 1968: 193ff.).48 Um die dafür notwendigen Planungen entsprechend zu beschleunigen, wurde noch im selben Jahr ein neues Verkehrsdezernat unter Leitung von Walter Möller (SPD) geschaffen (Balser 1994: 540). Allerdings hatte das angedachte System zu Beginn der Planung noch relativ wenig mit einer klassischen U-Bahn gemein, sondern entsprach eher einer Unterpflasterstraßenbahn: Es war geplant, die Bahnen zumindest im innerstädtischen Bereich von der Straße zu verlagern und sie somit durch ein leistungsfähigeres, kreuzungsfrei verlaufendes System zu ersetzen. Erst in den darauffolgenden Jahren wurde das System dann in ein Stadtbahnsystem mit eigenen Bahnkörpern weiterentwickelt (Köstlin 1987: 376f.; Wiedenbauer und Hoyer 1968: 182ff.; s. Abb. 2). Einen als besonders hoch erscheinenden Handlungsdruck der Stadtpolitik belegt dabei auch die Tatsache, dass der Baubeschluss gefasst wurde, obwohl damals noch keine Regelung existierte, wonach die Kosten solcher Infrastrukturmaßnahmen mit bis zu 90 % von Bund und Land übernommen werden. Zwar hatte sich der Bund bereits 1960 infolge lautstarker Proteste des Deutschen Städtetags dazu bereit erklärt, sich an den Investitionen in das örtliche Straßennetz zu beteiligen. Dennoch bedurfte es erst noch eines Sachverständigengutachtens, welches die unzureichende Wirkmächtigkeit von Straßenbaumaßnahmen hinsichtlich der städtischen Stauproblematik attestierte, bis der Bund 1967 dazu bereit war, ausdrücklich auch Investitionen in den öffentlichen Verkehr durch Mittel aus der Mineralölsteuer mitzufinanzieren (vgl. Haefeli 2008: 59f.; Leber 1968: 8ff.). Andererseits mag die Tatsache einer fehlenden Kofinanzierung auch erklären, dass zunächst nur die bestehenden Straßenbahnen in relativ kurzen Tunnels beschleunigt durch das Zentrum geführt werden und außerhalb der Innenstadt weiterhin oberirdisch verlaufen sollten. Denn eine Änderung dieser ursprünglichen 48 Die Entscheidung fiel dabei mit großer Mehrheit von CDU und SPD. Zuvor hatten sich bereits die Industrie- und Handelskammer und der Deutsche Gewerkschaftsbund entschieden für den Bau einer leistungsfähigen Schnellbahn positioniert. Selbst die FDP als dritte und damit letzte Fraktion der Stadtverordnetenversammlung war der Auffassung, dass der Bau eines neuen Schnellbahnsystems notwendig sei – auch wenn sie zu dieser Zeit eigentlich den Bau einer Einschienenbahn favorisierte (Wiedenbauer und Hoyer 1968: 194ff.; vgl. auch Müller-Raemisch 1998: 102). 103
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Abb. 2 Geplantes Schnellbahnnetz in Frankfurt am Main, Planungsstand 1970 (VGF 1970, in Schwandl 2008: 13)
Pläne erfolgte erst dann, als durch das 1971 verabschiedete erste Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz 60 % der anfallenden Baukosten vom Bund übernommen werden konnten und auch das Land sich nun mit beträchtlichen Summen an der Finanzierung beteiligte. Darüber hinaus hatte die erste eisenbahnmäßig ausgebaute Trasse 1969 aufgrund ihrer stadtteilzerschneidenden Wirkung erhebliche Proteste der Bevölkerung hervorgerufen und zuletzt hätten für weitere oberirdische Ausbauten unpopuläre Eingriffe in den Baumbestand vorgenommen werden müssen. Erst diese neuen finanziellen Spielräume führten – neben den negativen Begleiterscheinungen der ersten Trasse – dazu, dass neue Strecken von nun an möglichst lange in Tunneln geführt werden sollten (Köstlin 1987: 377ff.; Rüegg 1996: 140f.). Dazu beigetragen hat sicherlich auch die Tatsache, dass dieses Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz nicht nur auf Infrastrukturmaßnahmen in städtischen Verdichtungsräumen beschränkt
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wurde, sondern zugleich ausschließlich solche Infrastrukturen förderfähig waren, die einen gesonderten Bahnkörper aufwiesen (Frenz 1987: 58f.; vgl. auch Köstlin und Bartsch 1987: 10). Denn damit wurde auch in der konkreten Förderpraxis explizit festgelegt, dass es hier nicht um einen allgemeinen Ausbau bestehender Systeme gehen sollte, sondern ausschließlich eine selektive Beschleunigung des schienengebundenen Nahverkehrs in Agglomerationsräumen im Fokus stand. Zweck der geförderten Infrastrukturmaßnahmen war auch hier folglich immer die Befreiung der Straßen vom öffentlichen Verkehr und damit zusammenhängend die Entspannung des staugeplagten örtlichen Verkehrsgeschehens durch verkehrsmittelübergreifende Kapazitätserweiterungen (vgl. Kap. 2.1.4).49 Ganz im Zeichen der Zeit entwickelte sich der U-Bahn-Bau dann relativ schnell zu einem technokratisch-bürokratischen Selbstläufer: 1961 wurde neben dem Verkehrsdezernat auch ein eigenes Stadtbahnbauamt eingerichtet, dem sowohl die Planung als auch die Überwachung der Bauausführung oblag und das noch Mitte der 1980er Jahre gut 150 Mitarbeiter*innen beschäftigte. Folglich wurde eine Behörde geschaffen, deren Existenz alleine von der eigenen Planung weiterer Schnellbahntunnel abhängig war, womit gleichzeitig eine Systemdiskussion über den Sinn und Zweck von Tunnelbauten quasi unmöglich wurde (Köstlin 1987: 386f.). Gleichzeitig bedeutete dies ein stadtpolitisches Planungsverständnis, bei dem Einzelinteressen sich stets den Auswirkungen der Planung unterzuordnen hätten, da diese schließlich immer im Interesse der Gemeinschaft stünde und das erst im Verlauf der Proteste der 1970er Jahre zunehmend unter Beschuss geriet (Müller-Raemisch 1998: 109). Somit verweist dieses Planungsverständnis dezidiert darauf, was Graham und Marvin (2008, 2001; vgl. Kap. 2.3.3) mit ihrem Begriff des modernen Infrastrukturideals beschreiben, nämlich eine dem technischen Fortschritt verschriebene, weitreichende und umfassende Planung, die nach der Maxime handelt, mittels technischer Systeme ordnend in das städtische Gefüge einzugreifen, um damit eine umfassende Verbesserung des gesellschaftlichen Lebens zu erreichen.
49 Tatsächlich wird auch heute noch in § 2 des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes festgelegt, dass Infrastrukturmaßnahmen im öffentlichen Schienennahverkehr nur dann als förderungsfähig gelten, wenn sie auf einem gesonderten Bahnkörper geführt werden. 105
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4.2.1 Neue Wachstumsgrenzen und Schnellbahnbau „Daß [sic] die Verkehrsplanung gesellschaftlichen und ökonomischen Zwängen unterworfen ist, war damals kaum jemandem voll bewusst. […] Planungsbeschlüsse aus dem Jahr 1965 werden noch heute [1972] ungeprüft als Begründung von Baumaßnahmen herangezogen.“ (Wünschmann 1972: 4)
Nun stellt sich die Frage, warum der Verkehrsstau ein so großes Problem für die Stadt darstellte, dass sie sich sogar entschloss, als aktive Gegenmaßnahme große Summen in den öffentlichen Nahverkehr zu investieren, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht absehbar war, dass große Teile davon von Bund und Land übernommen werden. Eine rein mobilitäts- und verkehrszentrierte Perspektive gibt sich hier in der Regel damit zufrieden, dies vor allem auf die damit verbundene Kapazitätssteigerung für das als zentrales politisches Förderobjekt identifizierte Automobil zurückzuführen (z. B. Schmucki 2001: 257f.). Damit wäre die Sache dann erledigt und die U-Bahn als weiteres Ergebnis einer autogerechten Verkehrspolitik identifiziert (vgl. Kap. 2.1.4). Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn die Schnellbahnplanungen darüber hinaus durch Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung kontextualisiert werden. Hier identifiziert beispielsweise Stracke (1980: 130) insbesondere ökonomisches Wachstum, Gewerbesteuermaximierung und die Sicherung städtischer Arbeitsplätze als die „unumstrittenen Prioritäten der Frankfurter Kommunalpolitik“ dieses Jahrzehnts.50 Und auch Ronneberger und Keil (1995: 292) kommen zu ähnlichen Ergebnissen, wenn sie einerseits feststellen, dass städtebauliche Maßnahmen dieser Zeit sich „fast ausschließlich an wirtschaftlichen Interessen“ ausrichteten und sie andererseits als konkrete „Hauptaufgabe der städtischen Entwicklungspolitik“ die Schaffung einer funktionierenden Infrastruktur für die Produktion sowie für die Reproduktion des städtischen Alltags (z. B. Individualverkehr)“ ausmachen. 50 Ähnlich argumentiert Tharun (1984: 37), indem sie die primär am lokalen Wirtschaftswachstum orientierte städtische Cityerweiterungspolitik der 1960er Jahre vor allem den politischen Zielen einer besseren Wettbewerbsposition gegenüber anderen Großstädten sowie der Arbeitsplatzbeschaffung und damit einhergehenden höheren Gewerbesteuereinnahmen zuschreibt. Insbesondere der Aspekt der Gewerbesteuereinnahmen ist hier von besonderer Relevanz, weil hier zu dieser Zeit die einzige Möglichkeit bestand, die städtische Finanzsituation eigeninitiativ zu verbessern. Die anteilige Beteiligung von Kommunen an der Einkommenssteuer ihrer Bürger*innen, die heute auch diesen eigeninitiativen Steuerungsmöglichkeiten zugeordnet werden kann, gab es dagegen in den 1960er Jahren noch nicht.
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Auf die demokratisierende Wirkung automobiler Fortbewegung wurde ja bereits in Kap. 4.1.5 eingegangen. Offen bleibt bisher allerdings noch die im selben Kapitel mit Frank (1971) angedeutete Frage was passiert, wenn ein Verkehrssystem, dessen zentrale Aufgabe aus kommunalpolitischer Perspektive darin besteht, städtische Wachstumsschranken zu beseitigen, selbst zu einer Entwicklungsschranke städtischer Wachstums- und Verdichtungsstrategien mutiert (vgl. Linder 1972: 221f.). Insbesondere im Hinblick auf die wichtige Rolle der Straßenbahn für die Stadtentwicklungspolitik vorangegangener Jahrzehnte drängt sich dabei die Frage auf, ob und inwieweit nicht auch die städtischen Schnellbahnpläne in den Kontext städtischer Wirtschaftsförderungspolitik verortet werden müssen. Tatsächlich findet sich bereits 1962, also ein Jahr nach dem grundlegenden Beschluss zum Schnellbahnbau, in den stadtpolitischen Grundsätzen zur Gesamtverkehrsplanung von Verkehrsdezernent Möller und Baudezernent Hans Kampffmeyer folgende Aussage: „Die Stadt Frankfurt am Main wird auf 800.000 Einwohner anwachsen; das gesamte Untermaingebiet wird sich in eine Stadtregion von etwa 1¾ Millionen Menschen verwandeln. […] Mittelpunkt und Magnet dieser Stadtregion Untermain wird die Frankfurter City sein. Diese City ist eine im Bundesgebiet hervorragende Ballung von Arbeitsplätzen und Wirtschaftskraft vor allem der Betriebe des tertiären Sektors auf engstem Raum“ (Magistrat der Stadt Frankfurt am Main 1961: 0.-3). Etwas weiter hinten im Text wird dann spezifiziert: „Das Verkehrsproblem der City besteht also darin, möglichst viele Personen auf möglichst kleiner Fläche auf zumutbare Weise zu befördern“ (ebd.: 0.-3f.). Bereits hiermit wird also deutlich, dass die zentrale Herausforderung städtischer Verkehrspolitik dieser Zeit darin gesehen wurde, die Erreichbarkeit des Dienstleistungszentrums in der Innenstadt weiterhin zu gewährleisten und möglichst zu verbessern. Einige Jahre später hob Möller (1965: 6) nochmals vertiefend hervor, dass die Frankfurter Innenstadt aufgrund der staugeprägten Verkehrslage zunehmend an ihre Wachstumsgrenzen stoße und dass es folglich unumgänglich sei, diese Wachstumsgrenzen durch ein „flächensparendes, schnelles und bequemes öffentliches Verkehrsmittel“ zu überwinden. Auch andernorts betont er die große Relevanz der Frankfurter City als „bevorzugter Standort für alle Dienstleistungen[,] für den großen Einkauf und für den großen Bummel“, dass diese „Mitte“ der Region jedoch „von der Umgebung weitgehend abgeschnürt“ wäre, obwohl auch weiterhin mit einer umfangreichen Zunahme der dortigen Arbeitsplätze zu rechnen sei. Folglich kommt er zu dem Schluss: „Entweder gibt es keine City, oder der Berufsverkehr muß [sic] im wesentlichen [sic] innerhalb der jetzt zur Verfügung stehenden Verkehrsflächen abgewickelt werden. Wir brauchen darum ein leistungsfähiges Schnellbahnsystem für die gesamte Region“ (Möller 1967: 10). 107
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Obgleich Möller den Zweck des neuen öffentlichen Verkehrsmittels um den Aspekt des innerstädtischen Konsums ergänzt, zeigt sich dennoch erneut, dass die zentrale Sorge der Stadt an dieser Stelle einer weiterhin prosperierenden Entwicklung des innerstädtischen Dienstleistungssektors galt. Denn gleichzeitig wurde als Folge möglicherweise ausbleibender Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr auf ein damit unumgängliches Schreckenszenario verwiesen, wonach die Stadt so stark in ihrer Erreichbarkeit beeinträchtigt sein würde, dass die gesamte City – Dienstleistungen, wie Konsumorte – in ihrer Existenz bedroht sei. Flankierend erklärte denn auch das damalige Verkehrsplanungsamt, dass aufgrund übergeordneter wirtschaftlicher Interessen zumindest der Berufsverkehr durch öffentliche Verkehrsmittel bewerkstelligt werden müsse (zit. nach Wünschmann 1972: 6ff.). Selbst das städtische Presse- und Informationsamt ließ 1966 verlauten, es gäbe faktisch keine Alternative zum Bau des Schnellbahnsystems, denn „die Konzentration [von Hochhäusern, sprich Dienstleistungsökonomie] aber ist in der Stadt erwünscht. Nur so kann die Stadt leben. In Frankfurt ist vorgesehen, das neue Massenverkehrsmittel, die U-Bahn, mit dem Hochhaus zu ‚verbinden‘. Das pumpt Blut in den Kreislauf des Wirtschaftslebens der Stadt“ (zit. nach Stracke 1980: 47). Als Beleg kann in diesem Zusammenhang auch der 1968 entwickelte, sogenannte „Fingerplan“ der Stadt betrachtet werden. Dieser sollte in den darauffolgenden Jahrzehnten als Rahmenplan für den Bau von Hochhäusern in der Stadt dienen und basierte insbesondere auf einer Flächenumwidmung des Wohngebiets Westend zum City-Erweiterungsgebiet. Auch aus dem Fingerplan geht deutlich hervor, dass zukünftig angedachte Schwerpunkte der Hochhausbebauung vor allem dort gesetzt wurden, wo zugleich Schnellbahnstationen errichtet werden sollten (s. Abb. 3). Strategisch ging es der Stadtpolitik hier demnach vor allem um eine Kombination von Wirtschaftsförderungs- und Stadtentwicklungspolitik, womit neben der City-Erweiterung mittels Flächenumwidmung explizit auch der Bau neuer Massenverkehrsmittel als zentrale Strategie kommunaler Wirtschaftsförderungspolitik identifiziert werden kann (Stracke 1980: 49). Schließlich sah beispielsweise auch die SPD in ihrem Wahlprogramm von 1968 die Umwandlung von Wohngebieten in Geschäftsgebiete entlang der angedachten U-Bahn-Verläufe als sinnvollen Bestandteil einer zu dieser Zeit betriebenen „aktiven Wirtschaftsförderung“ (zit. nach Stracke 1980: 130f.). Gerade die gezielte Verknüpfung von Hochhausrahmenplanung und Schnellbahnbau verdeutlicht dabei noch einmal recht gut, dass eine ausschließlich auf Verkehrsaspekte bezogene Argumentation zu einer Kontextualisierung von verkehrspolitischen Entscheidungen wenig beitragen kann. Dabei ist es natürlich einleuchtend, dass die Verkehrspolitik dafür Sorge tragen muss, dass die vielen in den Hochhaustürmen arbeitenden Menschen diese auch erreichen können. Ein stimmiges Gesamtbild ergibt sich daraus aber erst, wenn in die Analyse auch
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die politische Entscheidung zum Hochhausbau selbst mit einbezogen wird. Denn erst wenn hervorgehoben wird, dass Hochhaus- und Schnellbahnbau politisch eng miteinander verzahnt waren, weil ohne eine Sicherstellung der Erreichbarkeit durch die Schnellbahn eine Umsetzung der Hochhauspläne nicht möglich gewesen wäre, wird deutlich, dass letztendlich beide politischen Entscheidungen Ergebnisse einer aktiven Wirtschaftsförderungspolitik sind. Angesichts des hohen Stellenwerts, den ein weiteres Wachstum der Dienstleistungsökonomie innerhalb der damaligen Stadtpolitik innehatte, müssen folglich die Schnellbahnpläne, wie auch der Hochhausrahmenplan, als Mittel betrachtet werden, um dieses Wachstum durch die Aufrechterhaltung und Erweiterung der Cityfunktion politisch zu unterstützen.
Abb. 3 Verknüpfung zwischen Hochhausrahmenplanung des Fingerplans und Schnellbahnplanung (Eigene Abbildung nach Stracke 1980: 48)
Köstlin, selbst SPD-Stadtverordneter und einige Jahre im städtischen Baudezernat tätig, der sich bereits in den 1970er Jahren gegen die U-Bahn positioniert hatte (vgl. 109
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FAZ 1979: 21), vertritt hier im Rahmen seiner ansonsten weitgehend eingängigen Analyse der damaligen Frankfurter Verkehrspolitik zwar einen entgegengesetzten Standpunkt: Er identifiziert die städtische Hochhausplanung selbst als bewusste Strategie mit dem Zweck einer höheren Auslastung der geplanten U-Bahn-Strecken (Köstlin 1987: 397f.). Dass nun aber in einer Zeit, in der das Automobil zum unhinterfragten Hauptverkehrsmittel erhoben wurde, zentrale Fragen der Stadtentwicklung alleine der räumlichen Struktur des öffentlichen Verkehrsnetzes angepasst werden, ist angesichts der obigen Argumentation wenig überzeugend. Nachvollziehbar wird das Argument erst, nachdem zu einem späteren Zeitpunkt auch die Bundesbahn in die Netzgestaltung eingestiegen ist, womit sich zugleich die Transportkapazität des Schnellbahnsystems entsprechend erhöht hat. Dass nun, nach dieser zuvor noch recht unerwarteten Kapazitätserweiterung des Schnellbahnnetzes, tatsächlich eine weitere Verdichtung zentralörtlicher Gebiete zwecks verbesserter Auslastung der Schnellbahnen versucht wurde, wäre durchaus folgerichtig (vgl. hierzu Brake 1991: 87; Müller-Raemisch 1998: 104). Fraglich erscheinen hier zudem Argumentationen, wonach der Bau des Schnellbahnnetzes vor allem dazu diene, „die historisch gewachsene Struktur der Stadt [zu] erhalten“, weil damit von der Errichtung überdimensionaler Verkehrsbauten abgesehen werden könne (Wiedenbauer und Hoyer 1968: 194). Insbesondere vor dem Hintergrund der Pläne, wonach das historische Gründerzeitviertel Westend in großem Umfang der City-Erweiterung weichen sollte und auch der westliche Teil der Innenstadt als Hochhausquartier ausgewiesen wurde (s. Abb. 3), wirkt eine solche Argumentation doch etwas abwegig. Zusammengefasst lassen sich beim Frankfurter Schnellbahnbau also durchaus auch verkehrspolitische Motivationen erkennen, nämlich die Entlastung städtischer Straßeninfrastrukturen auf Relationen mit besonders hoher Nachfrage und die Verlagerung des Berufsverkehrs auf die neuen Schnellbahnen. Wird allerdings die damit angestrebte Behebung der Stauproblematik mit weiteren stadtpolitischen Entscheidungen kontextualisiert, zeigt sich, dass auch die Schnellbahnentscheidung vor allem auf die Sorge nach wirtschaftlicher Stagnation zurückzuführen ist. Denn wäre es wirklich alleine um das Problem einer zu hohen Nachfrage auf bestimmten Relationen gegangen, hätten auch andere Maßnahmen ergriffen werden können. Beispielsweise durch Bebauungspläne, die eine großräumigere Verteilung von Standorten der Dienstleistungsökonomie einleiten, bei gleichzeitigem konsequenten Stopp eines weiteren Nutzflächenwachstums in der Kernstadt. Tatsächlich wäre eine solche Maßnahme jedoch weder mit dem als wichtig erachteten Ziel eines anhaltenden Fortbestands der ökonomischen Aktivitäten in der City vereinbar gewesen noch hätte sie den Interessen der örtlichen Wirtschaft entsprochen. Dabei belegt im Umkehrschluss die wiederholte argumentative Verknüpfung der Stauproblematik mit dem Schreckenszenario eines verminderten Wachstums der
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örtlichen Dienstleistungsbranche, dass es hier eben explizit nicht alleine um die Reaktion auf eine erhöhte Nachfrage bestimmter Wegerelationen ging. Vielmehr ging es darum, einen Weg zu finden, mit dem zunächst die Kapazitätsprobleme des Verkehrs verringert werden konnten, um ein weiteres Wachstum des Dienstleistungssektors zu ermöglichen und gleichzeitig die Funktion der Stadt als überragenden Ort für Arbeit und Konsum innerhalb der Region beizubehalten. Die Entscheidung zum Bau der Schnellbahn entsprang folglich weder nur Überlegungen zur Verbesserung des städtischen Nahverkehrssystems noch kann sie als alleiniges Resultat einer allgemeinen technischen Modernisierung des öffentlichen Nahverkehrs betrachtet werden. Stattdessen wurden Beschleunigung und Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs hier in erster Linie als grundlegende Notwendigkeit betrachtet, um weiterhin die Erreichbarkeit der City und damit eine weitere Expansion des Wirtschaftsstandorts im Frankfurter Stadtzentrum zu gewährleisten. Im Kern ging es also darum, bereits bestehende ökonomische Machtgefälle in der Region weiter aufrechtzuerhalten, indem mittels Schnellbahnnetz dafür gesorgt wurde, dass der zu diesem Zweck notwendige Verkehrsraum auch weiterhin funktionstüchtig blieb. Denn infolge dieser Maßnahme konnten Arbeitskräfte und Konsument*innen in Stadt und Umland auch künftig das Zentrum Frankfurt ohne große zeitliche Einschränkungen erreichen.
Die innerstädtische S-Bahn – eine unerwartete Nachzüglerin Eine weitere Begründung für die Funktion des Frankfurter Schnellbahnnetzes findet sich in den frühen Diskussionen über das Verhältnis zwischen städtischen Schnellbahnen und dem Schienennetz der Bundesbahn. So stand die Bundesbahn noch während der ersten Diskussionen um den Aufbau eines städtischen bzw. regionalen Schnellbahnnetzes einer Beteiligung ihrerseits ablehnend gegenüber. Folglich waren die ersten städtischen Netzentwürfe unter anderem speziell darauf ausgelegt, eine große Zahl an Pendler*innen von den Endbahnhöfen der Vorortbahnen in die Innenstadt transportieren zu können (Köstlin 1987: 384f.; Müller-Raemisch 1998: 104). Von der Bundesbahn erwartete die Stadt dagegen lediglich eine weitere Gewährleistung der Erschließung des städtischen Umlands. Vor diesem Hintergrund muss schließlich der erste städtische Beschluss gesehen werden, den Bahnverkehr zumindest in der Innenstadt in Tunnel zu verlegen, weil die so bereitzustellenden Kapazitäten durch die städtischen Bahnen sich nur schwer auf der Oberfläche hätten abbilden lassen (Köstlin 1987: 384). 1962, und damit ein Jahr nach dem städtischen Grundsatzbeschluss, vollzog die Bundesbahn dann eine Kehrtwende und zeigte sich nun doch bereit, in ein eigenes Schnellbahnnetz in Frankfurt zu investieren. Hierzu sollten zusätzliche Strecken ins Umland verwirklicht, bereits vorhandene Infrastrukturen elektrifiziert und 111
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die Linien zudem in einem neu zu errichtenden Tunnel zwischen Hauptbahnhof, Hauptwache, Konstablerwache und Südbahnhof gebündelt werden (Köstlin 1987: 384; Müller-Raemisch 1998: 104; Schaus 1978: 347). Obwohl bereits vor dem Einstieg der Bundesbahn umfassende Schnellbahnpläne für das Stadtgebiet entwickelt worden waren, wurden nun sukzessive auch die S-Bahn-Planungen immer weiter ausgedehnt (Köstlin 1987: 385). Dies resultierte allerdings darin, dass einzelne Gebiete der Stadt durch unumgänglichen Parallelverkehr nun übererschlossen waren (Kauffmann 1988: 49). Tatsächlich ging der Bau der Frankfurter S-Bahn über die Jahre aber nur vergleichsweise schleppend voran. Zum einen weil dem Bau immer auch lange Verhandlungen zwischen Bund, Land und Stadt vorausgehen mussten, zum anderen weil deswegen auch die turnusmäßig verfügbaren Fördersummen immer wieder vom „Selbstläufer“ Stadtbahnbauamt abgegriffen werden konnten (Köstlin 1987: 386). Im Allgemeinen wurde allerdings auch mit der S-Bahn bezweckt, dem „Problem der großen Pendlerströme“ effektiv zu begegnen (ebd.). Auch sie sollte bestehende Erreichbarkeitsengpässe infolge überlasteter Straßeninfrastrukturen auf dem Weg zu den zentral gelegenen Arbeitsstätten beheben, wenngleich dieses Angebot wesentlich tiefer in den regionalen Raum hineinreichte als die städtische U-Bahn (Daumann und Pertzsch 1978: 351). Analog zu den städtischen Schnellbahnen wurde folglich auch die S-Bahn aufgrund ihrer engen Taktung, ihrer hohen Geschwindigkeit, ihres Komforts und ihres „modernen Image[s]“ als besonders gute Alternative gepriesen, um „möglichst viele Pendler für den öffentlichen Personennahverkehr zu gewinnen“ (ebd.: 354). Demnach ist es nur folgerichtig, dass im Rahmen des zuerst eröffneten Teilnetzes neben der Erschließung von Stadtzentrum und innerstädtischem Dienstleistungscluster durch die Stationen Hauptwache und Taunusanlage mit der Station Galluswarte nur eine einzige weitere neue Station im Stadtgebiet eröffnet wurde. Denn auch diese zeichnete sich explizit dadurch aus, dass durch sie „Tausende von Arbeitsplätzen schnell und zügig mit der S-Bahn zu erreichen“ seien (ebd.). Resümierend festhalten lässt sich dabei auch noch viele Jahre nach den ersten Diskussionen und Planungen des Frankfurter Schnellbahnnetzes, dass dieses als grundlegende Voraussetzung für die innerstädtische Hochhausplanung und damit für die städtische Wirtschaftsförderungspolitik der folgenden Jahrzehnte betrachtet werden kann. Denn auch in der Nachbetrachtung hätte das dem städtischen Wirtschaftswachstum entsprechend zugenommene Personenverkehrsaufkommen keinesfalls alleine durch Straßeninfrastrukturen getragen werden können (Roggenkamp 2000: 69). Selbst wenn das Konzept aus retrospektiver Perspektive „einige Haken und Ösen“ habe, sei doch das Ziel damit erreicht worden: „Die Innenstadt blieb erreichbar“ – erklärte auch Horst Sternberg, zwischen 1963 und 1976 Leiter des
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Verkehrsplanungsamtes (zit. nach Kauffmann 1988: 49). Somit können die heutige Frankfurter City als wichtiger Standort der Dienstleistungsbranche und darüber hinaus auch die Position Frankfurts als globales Zentrum der Finanzindustrie als unmittelbare Resultate des Schnellbahnbaus und der damit einhergehenden verbesserten Erreichbarkeit des Stadtzentrums identifiziert werden (Müller-Raemisch 1998: 102).
4.2.2 Räumliche Form folgt Funktion – Alles „auf die Innenstadt ausgerichtet“ Um nun erneut auf das Verhältnis zwischen städtischer Raumproduktion durch öffentlichen Verkehr und individueller Raumaneignung einzugehen, soll zuerst noch einmal die räumliche Praxis automobiler Fortbewegung aufgegriffen werden. Wie bereits in Kap. 4.1.5 thematisiert, entfaltete sich die individuelle Raumaneignung infolge der automobilen Massenmotorisierung erstmals weitgehend unabhängig von den hierarchisch vordeterminierten Verkehrsnetzen des öffentlichen Verkehrs. Weil nun diese neuen, kaum durch den öffentlichen Verkehr erschlossenen Möglichkeitsräume zunehmend auch bespielt wurden, sei es durch anhaltende Prozesse der Suburbanisierung, Einzelhandelsflächen auf der grünen Wiese, oder dezentrale Dienstleistungs- und Gewerbestandorte, verlor das alte Raumüberwindungssystem Straßenbahn für die Raumaneignung vor allem in den randstädtischen Gebieten zunehmend an Relevanz. Damit ließ sich gleichzeitig der öffentliche Nahverkehr davon entbinden, auf diese neu entstandenen Ansprüche der Raumaneignung in jeglicher Hinsicht reagieren zu müssen. Denn bei sämtlichen Belangen konnte nun auf das Automobil verwiesen werden. Abgesehen von einem grundständigen Angebot im Sinne der Daseinsvorsorge musste der öffentliche Verkehr somit nicht mehr darauf ausgerichtet werden, eine möglichst umfassende Mobilisierung der Bevölkerung zu gewährleisten. Vielmehr konnte der öffentliche Verkehr nun umso gezielter an die Anforderungen spezifischer Zwecke angepasst werden. So erläuterte etwa Magistratsrat Brunk (1965: 27) analog zu ähnlichen Argumentationen weiter oben im Text, dass „angesichts der Probleme, die uns vor allem der Berufsverkehr stellt, […] der Straßenbau [.] vornehmlich auf den Wirtschaftsverkehr ausgerichtet werden [muss], während für den Berufsverkehr ein wesentlich verbessertes öffentliches Verkehrsmittel angeboten werden soll“. Gerade weil dieser neue öffentliche Nahverkehr zuallererst den Erfordernissen des Berufsverkehrs entsprechen solle, müsse er – im Gegensatz zu den auch tangential geplanten Straßennetzerweiterungen – „hinsichtlich seiner Funktion voll auf die Innenstadt ausgerichtet sein […] und deshalb radial zur 113
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Stadtmitte ausgelegt [werden]“ (ebd.: 28; vgl. auch Krakies und Nagel 1989: 44). Dies ist insofern durchaus bezeichnend, weil die Region um Frankfurt schon lange durch ihre Polyzentralität geprägt ist und selbst in unmittelbarer Nachbarschaft zu Frankfurt eine Reihe kleinerer und größerer Kommunen liegen, die selbst als Zentren bezeichnet werden können. Dabei ist es in der Stadtverkehrsplanung eigentlich gängiges Wissen, dass strikt radiale Netze vor allem in monozentrisch strukturierten Räumen gut geeignet seien, der örtlichen Verkehrsnachfrage zu entsprechen. In polyzentrischen Räumen mit mehreren Zentren dagegen gleiche die Verkehrsnachfrage eher einer Art Rasternetz (Bonz et al. 2005: 611). So zeigt sich schon anhand der frühen Planung des Frankfurter Schnellbahnnetzes, dass die Idee eines öffentlichen Nahverkehrs als halbwegs gleichwertige Alternative zum Individualverkehr faktisch nicht den räumlichen Tatsachen vor Ort entsprochen haben kann. Schließlich wurde nicht nur das städtische Schnellbahnnetz von Beginn an strikt radial angelegt. Zugleich hat auch der zeitlich verzögerte Einstieg der Bundesbahn mit einem eigenen, das Stadtgebiet zusätzlich erschließenden S-Bahn-Netz zu einer Verstetigung der einseitig auf die Bedürfnisse des regionalen Pendelverkehrs zugeschnittenen Netzstruktur beigetragen. Denn schnell erreicht werden konnten (und können) vor allem die Beschäftigungs- und Konsumorte im Frankfurter Stadtzentrum, während darüberhinausgehende Mobilitätsbedürfnisse nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Hinzu kommt, dass durch die nachträgliche Beteiligung der Bundesbahn einige Orte der Stadt nun im Vergleich bis heute faktisch übererschlossen sind, was – wie oben schon erwähnt – die stadtpolitische Strategie einer städtebaulichen Verdichtung der innerstädtischen Dienstleistungsgebiete nur noch weiter forcierte, um damit eine akzeptable Ausnutzung der Schnellbahnen zu erreichen (vgl. Müller-Raemisch 1998: 104). Deutlich wird also, dass durch die überwiegend radiale Ausprägung des Schnellbahnnetzes ein Verkehrsraum produziert werden sollte, der explizit und vorrangig dem Zweck diente, die Erreichbarkeit des Stadtzentrums zu gewährleisten, beziehungsweise zu optimieren. Die Frage, ob es sich hierbei um eine strategische Raumproduktion im o. g. Sinne (vgl. Kap. 2.3.2) handelt, also eine Raumproduktion gegen anderweitige Interessen, kann hier im Gegensatz zum alten regionalen Eisenbahnnetz (vgl. Kap. 4.1.2) weit weniger eindeutig beantwortet werden. Zum einen muss die Meinung der Umlandgemeinden hinsichtlich eines Schnellbahnanschlusses als ambivalent bezeichnet werden. So wurde beispielsweise dem S-Bahn-Bau im östlich von Frankfurt gelegenen Hanau durchaus „mit gemischten Gefühlen“ (FAZ 1982) begegnet. Erhofft wurden zwar „Vorteile für Pendler, Einkäufer und Besucher kultureller Einrichtungen in Frankfurt“ (ebd.) sowie eine allgemeine Entlastung von Straßen und mögliche Verlagerungen von Wirtschaftsbetrieben von Frankfurt nach Hanau.
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Gleichzeitig gab es aber auch Befürchtungen, wonach Kaufkraft zugunsten von Frankfurt und Offenbach verloren gehen könnte, die kulturellen Angebote vor Ort negativ von der neuen zeitlichen Nähe der Frankfurter Kultureinrichtungen betroffen sein würden, der städtische Siedlungsdruck nach Hanau überschwappen könnte und Hanauer Firmen qualifizierte Arbeitskräfte an Frankfurt verlieren würden (ebd.). Während einerseits Vorteile für die individuelle Raumaneignung durch die Kapazitätssteigerung auf der Relation nach Frankfurt erkannt wurden, wurde andererseits explizit auch die damit einhergehende Gefahr für die eigene städtische Raumproduktion thematisiert. Zum anderen scheint gerade mit Verweis auf das Hauptverkehrsmittel Automobil die Diskrepanz zwischen dem durch das Schnellbahnnetz produzierten Raum und der individuellen Raumaneignung auf regionaler Ebene kaum als problematisch wahrgenommen zu werden. Denn erstens wurden viele distanzintensivere Wege gerade aus den durch die Schnellbahnen erschlossenen Umlandgemeinden heraus mittlerweile ohnehin mit dem Automobil zurückgelegt und zweitens stand bezüglich einer grundlegenden Gewährleistung von Mobilität im Sinne der Daseinsvorsorge ja nach wie vor das gewöhnliche Busangebot zur Verfügung. Da drittens die tangentialen Verbindungen um das Zentrum herum sowieso kaum von Stau betroffen waren, stellten diese folglich keine Gefahr für das kernstädtische Wirtschaftswachstum dar, weswegen dort getrost auf eine Beschleunigung des öffentlichen Nahverkehrs verzichtet werden konnte. Ein Grund, warum es dennoch angebracht ist, bezüglich der Schnellbahnnetze von einer Raumstrategie zu sprechen, ist allerdings die Bevölkerung von Frankfurt selbst. Denn während das Umland bis dato kaum über ein attraktives und vielseitiges ÖPNV-Angebot verfügte, musste die Stadtbevölkerung zugunsten des neuen Schnellbahnnetzes auf immer größere Bestandteile der gewohnten städtischen Straßenbahn verzichten, was nicht ohne Widerstand vonstatten ging, doch dazu später mehr (vgl. Kap. 4.5). Zuletzt darf im Hinblick auf die räumliche Form des Schnellbahnnetzes nicht unterschlagen werden, dass auch die Verkehrsunternehmen selbst einen großen Vorteil aus einem konzentrisch ausgerichteten Netz ziehen konnten (und können). Denn schon in den 1950er und 1960er Jahren standen die damalige Bundesbahn wie auch kommunale Verkehrsbetriebe vor der Herausforderung, neben der Gemeinwohlorientierung gleichzeitig dem Prinzip möglichst hoher Eigenwirtschaftlichkeit unterworfen zu sein (Linder 1972: 115ff.). So ist es nicht nur die, wie Monheim und Monheim-Dandorfer (1990: 358) es bezeichnen, „Rationalisierungswut“ der öffentlichen Verkehrsbetriebe, die eine „Jumbomanie“ nach immer größeren und leistungsfähigeren Fahrzeugen bedingt. Vielmehr ist das Kernergebnis solcher betrieblichen Rationalisierungsforderungen die Konzentration auf ebensolche Relationen, die eine möglichst hohe Auslastung des Angebots erwarten lassen – 115
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und damit auch die Anschaffung entsprechend großer Fahrzeuge nach sich zieht. Folglich kann den Anbietern öffentlicher Verkehrsdienstleistungen unter derartigen Voraussetzungen nur daran gelegen sein, einen konzentrisch strukturierten Raum mit möglichst hoher Konzentration von Wegezwecken an einem Ort zu (re-) produzieren. Denn auf diese Weise lässt sich mit vergleichsweise geringer Fahrleistung dennoch eine hohe Zahl an Fahrgästen transportieren, zumal durch eine Beschleunigung des Fahrbetriebs mittels Tunnelstrecken in der Innenstadt oder durch die Führung auf eigenen Gleiskörpern tendenziell auch der Einzugsbereich an Nutzer*innen weiter vergrößert werden kann.
4.3
Ortswechsel – Schnellbahnbau anderswo
4.3
Ortswechsel – S chnellbahnbau anderswo
Wenn die Entwicklung des Frankfurter Schnellbahnnetzes in Relation zu Entwicklungen andernorts gesetzt wird, zeigt sich, dass auch dort ganz ähnliche Begründungsmuster, Narrative und Rationalitäten identifiziert werden können, die das Frankfurter Beispiel keinesfalls als Besonderheit dastehen lässt. So legt ein Vergleich mit lokalpolitischen Strategien der Städte München, Essen und Zürich nahe, dass hier zur gleichen Zeit nicht nur die jeweiligen Verkehrsprobleme, sondern auch die dort eingeschlagenen Lösungswege starke Ähnlichkeit mit dem Frankfurter Beispiel aufweisen. Hierzu muss allerdings angemerkt werden, dass die Auswahl dieser Städte nicht aufgrund von fundierten statistischen Kriterien erfolgte, sondern aufgrund der Tatsache, dass hier auf bereits existierende wissenschaftliche Analysen zurückgegriffen werden konnte.
4.3.1 München
„Das [Schnellbahn-] Projekt ist die maßgebendste infrastrukturelle Vorleistung für eine regional-wirtschaftliche Wachstumsentwicklung. Sie beinhaltet das Konzept der Konzentration einer großen Zahl neuer Arbeitsplätze im Citybereich der Kernstadt.“ (Linder 1973: 124)
Insbesondere mit der Stadt München ist dabei ein Verweis auf mögliche Parallelen durchaus naheliegend. Denn schon alleine die örtlichen Grundproblematiken jener Zeit weisen starke Analogien auf. Ganz ähnlich wie in Frankfurt war auch München durch ein starkes Wachstum des örtlichen Dienstleistungssektors bei gleichzeitiger Zunahme der Einpendler*innen gekennzeichnet. Zwar verfügte München als
4.3 Ortswechsel – Schnellbahnbau anderswo
117
ehemalige Residenzstadt noch über wesentlich breitere Straßenzüge als Frankfurt. Trotzdem erschien es auch der Münchner Lokalpolitik in den 1960er Jahren unumgänglich, der Problematik einer örtlich eingeschränkten Erreichbarkeit infolge von Verkehrsstaus mit dem Bau eines neuen Schnellbahnsystems zu begegnen. In ihrer Studie über die Münchner Verkehrspolitik kommen Krämer-Badoni et al. (1971) dabei zu dem Schluss, wonach auch der dort erfolgte Neu- und Ausbau des Schnellbahnnetzes neben umweltpolitischen Motivationen und der Verbesserung des allgemeinen Wirtschaftswachstums, insbesondere der Sicherung einer lokal verorteten, langfristigen Kapitalverwertung diente (ebd.: 252f.). Demnach bestand auch hier ein zentrales Ziel der lokalen Politik darin, ein weiteres Verlangsamen der Personen- und Warenzirkulation auf den städtischen Straßen zu verhindern. In Hinblick darauf, dass auch hier ausschließlich ein sternförmig angelegtes Schnellbahnnetz errichtet wurde, erkennen Krämer-Badoni et al. zwar an, dass durch die damit verbesserte Erreichbarkeit des Zentrums auch die allgemeine Versorgungslage der Stadtbevölkerung verbessert wurde. Dennoch dient ihnen die bewusste politische Entscheidung für eine radiale Netzstruktur als Beleg dafür, dass es auch in München gerade nicht darum ging, die Erreichbarkeit von und Verbindungen zwischen einzelnen Zentren und Subzentren des Siedlungsraums zu stärken. Vielmehr sollte durch die selektiv verbesserte Erreichbarkeit des Münchner Zentrums vor allem der kernstädtische Wirtschaftsstandort weiter aufgewertet werden. Auch dieses Schnellbahnnetz diente folglich dem spezifischen Zweck, insbesondere die kommunale Wirtschaftsentwicklung zu unterstützen (ebd.: 310; vgl. auch Grauhan und Linder 1974: 88ff.). Ähnlich stellt zudem Kreibich (1978) mit Blick auf die Münchner S-Bahn fest, dass auch deren Netz die sternförmige Erschließung der Innenstadt verstärkt und auf lange Zeit verfestigt. Denn auf diese Weise konnte nicht nur die Erreichbarkeit der Innenstadt aus dem Umland „schlagartig verbessert“ werden, was sich vor allem in einer erhöhten Attraktivität des innerstädtischen Arbeits- und Versorgungsstandort widerspiegelte (ebd.: 297f.). So trug die S-Bahn dazu bei „den zentralen [ökonomischen] Funktionen das ständige Wachstum, auf das sie angewiesen sind“ zu garantieren, erkennbar sowohl in einer anhaltenden Prosperität vorhandener Betriebe als auch anhand der Neuansiedlungen von Unternehmen und der daraus resultierenden Ausdehnung der City in die Randgebiete der Innenstadt (ebd.: 301). Gleiches gilt für das zur selben Zeit entwickelte städtische U-Bahn-Netz, das – ebenso radial geplant – als städtische Ergänzung der regionalen S-Bahn betrachtet werden kann, also in erster Linie der verbesserten Erschließung des zentralörtlichen Dienstleistungsgebietes dienen sollte (Grauhan und Linder 1974: 95). So resümiert schließlich Linder (1973: 124), dass „die Bedeutung des [Münchner] Massenverkehrsprojekts über die Verbesserung der öffentlichen Verkehrsbedingungen und die Entlastung des Individualverkehrs 117
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hinausgeht, und daß [sic] diese Bedeutung von den administrativen Planungsinstanzen auch durchaus intendiert war. Das Projekt ist die maßgebendste infrastrukturelle Vorleistung für eine regional-wirtschaftliche Wachstumsentwicklung. Sie beinhaltet das Konzept der Konzentration einer großen Zahl neuer Arbeitsplätze im Citybereich der Kernstadt“. Allerdings heben Grauhan und Linder (1974: 88ff.) hier ebenso deutlich hervor, dass diese folgenschwere Infrastrukturentscheidung zugunsten eines weiteren Wirtschaftswachstums in der Kernstadt, womit gleichzeitig der Verlust des zuvor noch existierenden städtischen „flächenstreuenden Verkehrsnetzes[es] der Trambahn“ (ebd.: 95) einherging, keineswegs widerstandslos gefallen ist. So wurde das Projekt zwar durchaus von wichtigen Akteuren forciert: Bei Bund und Land kann es als konsequente Umsetzung ihres dezidiert an stetiger ökonomischer Expansion orientierten Politik betrachtet werden, ähnlich äußerte sich die Industrie- und Handelskammer ausschließlich positiv über die getroffene Entscheidung und zuletzt war auch die Bundesbahn ein prominenter Fürsprecher einer radialen Schnellbahnlösung, obwohl hier vor allem basierend auf Überlegungen zur eigenen Rentabilitätssteigerung und Betriebsrationalisierung. Andererseits favorisierte nicht nur die regierende SPD zunächst noch lediglich eine Optimierung der alten Straßenbahn und entschied sich erst für das neue Schnellbahnnetz, als deutlich wurde, dass Bund und Land nur dieses Bauvorhaben finanzieren würden. Denn nun konnte die Umsetzung eines ihrer zentralen Wahlversprechen, nämlich die Lösung der städtischen Verkehrskrise, nur noch auf diese Weise in Angriff genommen werden. Darüber hinaus war es insbesondere der Deutsche Gewerkschaftsbund, der sich bis zuletzt vehement gegen ein sternförmiges Schnellbahnsystem aussprach. So bemängelte dieser in den Schnellbahnplänen eine nicht gerechtfertigte Bevorzugung der zahlenmäßig geringeren „Berufspendler und Stadtbesucher“ (ebd.: 92) aus dem Außenraum gegenüber den bereits vorhandenen Fahrgastgruppen, deren Mobilitätsbedürfnisse sich viel besser durch ein flächenstreuendes Straßenbahnnetz abbilden ließen. Zusätzliche Unterstützung erhielt der Gewerkschaftsbund in seiner Argumentation zwar auch vom Deutschen Werkbund, der vor allem die damit verbundene Entwicklung einer „konzentrischen Citybildung“ kritisierte (ebd.: 94). Letztendlich vermochten es beide Institutionen aber nicht, sich gegen die von Bund, Land, Bundesbahn und der regierenden SPD favorisierte Schnellbahnplanung durchzusetzen. Welchen geringen Stellenwert eine verbesserte Erreichbarkeit städtischer Nebenzentren in den tatsächlich umgesetzten Schnellbahnplänen einnahm, wird darüber hinaus durch den Sachverhalt verdeutlicht, dass selbst in dem sternförmig angelegten Schnellbahnnetz ursprünglich durchaus eine Ringlinie enthalten war, mit der die einseitige Struktur des Netzes zumindest aufgebrochen hätte werden
4.3 Ortswechsel – Schnellbahnbau anderswo
119
können (Grauhan und Linder 1974: 96; Kreibich 1978: 308; Schmucki 2001: 278). Obwohl diese Ringbahn sogar im städtischen Planungsapparat Unterstützung fand (Grauhan und Linder 1974: 96), wurden tangentiale Linienführungen dann aber offiziell – und trotz gegenteiliger Ergebnisse alternativer Verkehrszählungen – aufgrund zu geringer erwarteter Fahrgastaufkommen verworfen (Schmucki 2001: 336).51
4.3.2 Essen
„Die Stärkung der Städte als Zentren der wirtschaftlichen Entwicklung richtete sich an zwei Leitlinien aus. Zum einen galt es, den Unternehmen in den Städten gute infrastrukturelle Rahmenbedingungen für ökonomische Aktivitäten zur Verfügung zu stellen. Zum anderen richtete sich die Aufmerksamkeit der Planer auf die Erschließung des Arbeitskräftereservoirs. Für beide stadtplanerischen Ziele, infrastrukturelle Ausstattung und Mobilität der Arbeitskräfte, stellte die Verkehrsplanung die wesentlichen Weichen.“ (Bauhardt 2007: 285)
Anders als München lässt sich die wirtschaftliche Situation, mit der sich die Stadt Essen seit Ende der 1950er Jahre konfrontiert sah, kaum mit den Verhältnissen in Frankfurt vergleichen. Denn ähnlich anderer Ruhrgebietsstädte erlebte Essen seit dieser Zeit einen weitreichenden Niedergang der bis dahin stadtprägenden Schwerindustrie, wobei die Stadt den damit einhergehenden Arbeitsplatzabbau vor allem durch einen Ausbau des örtlichen Dienstleistungssektors zu kompensieren plante (Bauhardt 1993: 80). Dennoch stößt Bauhardt in ihrer Analyse der Essener Verkehrspolitik auf kommunalpolitische Argumentationsmuster, die mit den Erkenntnissen aus Frankfurt und München große Überschneidungen aufweisen: Laut Bauhardt (1995: 108ff., 1993: 80f.) müssen auch die ab den 1960er Jahren entwickelten Essener U-Bahn-Pläne explizit als Standortstrategie verstanden werden. Dies allerdings mit dem Unterschied, dass mittels verbesserter Erreichbarkeit des Stadtzentrums ein ökonomischer Strukturwandel hin zum Ausbau des tertiären Sektors überhaupt erst eingeleitet werden sollte. Die ambitionierten Schnellbahnpläne Essens sollten dabei laut ursprünglicher Planung auch hier zulasten der Straßenbahn umgesetzt werden. Obgleich diese Pläne bis heute aufgrund unerwarteter Kostensteigerungen nicht gänzlich umgesetzt 51 Im Rahmen des von Schmucki (2001: 385) als umweltpolitisch motiviert identifizierten Ausbaus des öffentlichen Nahverkehrs ab Ende der 1980er Jahren wurden allerdings zumindest Straßenbahnlinien nun auch vermehrt als Tangentiallinien neu errichtet. 119
120
4 Städtischer öffentlicher Nahverkehr
wurden, wird dennoch die damit einhergehende Abkehr von einer kleinteilig-flächendeckenden öffentlichen Verkehrsinfrastruktur auch hier offensichtlich (s. Abb. 4). Interessant an Bauhardts Ergebnissen ist darüber hinaus, dass sich diese Argumentation, wonach ein ÖPNV-Ausbau insbesondere dem Zweck der Erzeugung verbesserter Rahmenbedingungen für Wirtschaftswachstum im tertiären Sektor unterstellt wird, zumindest für Essen selbst noch Anfang der 1990er Jahre in den politischen Diskursen wiederfinden lässt (1995: 111). Folglich kommt zuletzt auch Bauhardt (2007: 285) hinsichtlich der Frage nach den kommunalpolitischen Zwecken der Umsetzung dieses spezifischen städtischen Nahverkehrsraumes zu dem Ergebnis, dass diese einerseits in der Bereitstellung infrastruktureller Vorleistungen für Unternehmensentwicklungen vor Ort und andererseits in der hierfür notwendigen Erschließung neuer Arbeitskräftereservoirs in der Region zu finden sind.
Abb. 4 Geplanter Umbau des Essener Schienennetzes vom Flächensystem Straßenbahn zum Korridorsystem Stadtbahn (Monheim und Monheim-Dandorfer 1990: 360)
4.3 Ortswechsel – Schnellbahnbau anderswo
4.3.3 Zürich
121
„Da die U-Bahn das Rückgrat sämtlicher bestehenden Modernisierungspläne bildete, war mit ihrem Scheitern der gesamten bisherigen Stadtentwicklungspolitik die Grundlage entzogen.“ (Hitz et al. 1995: 242)
Die strukturellen Rahmenbedingungen der Stadt Zürich wiederum sind erneut mit denen von Frankfurt recht gut vergleichbar – sowohl was die Bedeutung als internationaler Finanzplatz betrifft als auch hinsichtlich der Ausbildung eines ausgeprägten Dienstleistungssektors nach dem zweiten Weltkrieg. Daneben gibt es hier allerdings einen entscheidenden Unterschied zur Situation in Frankfurt, der die örtliche Verkehrspolitik bis heute in besonderer Weise beeinflusst hat. Nämlich eine gesetzlich festgeschriebene direkte Entscheidungsmacht der Zivilbevölkerung, die auch für bauliche Großprojekte gilt (Hitz et al. 1995). Denn zunächst reihte sich auch die Züricher Politik in die bereits aus anderen Städten bekannten Planungen eines neuen U- und S-Bahn-Netzes im Rahmen einer gesamtstädtischen Modernisierungsstrategie mit ein. Wie schon in Frankfurt, München und Essen sollte dabei auch hier der Bau dieses leistungsfähigen öffentlichen Verkehrsnetzes als Rückgrat einer wachstumsorientierten Stadtentwicklungspolitik dienen. Im Gegensatz zur Entwicklung andernorts scheiterten diese Pläne in Zürich allerdings 1973 – nach langjähriger Systemdiskussion zwischen Straßenbahn, Unterpflasterstraßenbahn und U-Bahn – endgültig am ablehnenden Ergebnis einer Volksabstimmung, obwohl selbst kurz zuvor noch fest mit einer eindeutigen Zustimmung gerechnet wurde (Blechschmidt 2011: 30f.; Bratzel 1999: 188; Haefeli 2008: 206ff.; Hitz et al. 1995: 241f.).52 Bezeichnenderweise wurde dabei ebenso die Ablehnung des Projekts – neben einer praktisch orientierten Kritik, wonach das neue System mit einer Verschlechterung von Umsteigezeiten und langjährigen Baugruben einhergingen – explizit stadtentwicklungspolitisch begründet: Zum einen aus einer eher konservativen Perspektive, die sich gegen eine Metropolitanisierung und für den Erhalt historischer Stadtstrukturen positionierte; zum anderen aber dezidiert sozialpolitisch,
52 Tatsächlich gab es bereits 1962 eine ähnliche Volksabstimmung, bei der darüber entschieden werden sollte, die bestehende Straßenbahn als Unterpflasterstraßenbahn in Tunnel zu verlegen. Dabei widersprach interessanterweise das Votum bereits hier den angestrebten Plänen, wenn auch teilweise mit anderen Motiven. Ablehnung erfuhr das Projekt zu diesem Zeitpunkt nämlich aufgrund einer „unheiligen Allianz“ aus Modernisierungsbefürworter*innen einerseits, die eine richtige U-Bahn bevorzugten und konservativen Kräften andererseits, die sich nicht vom gewohnten alten Straßenbahnsystem trennen wollten (Hitz et al. 1995: 232). 121
122
4 Städtischer öffentlicher Nahverkehr
wonach die U-Bahn steigende Bodenpreise, den Verlust günstigen Wohnraums und damit letztendlich auch eine Verdrängung städtischer Bevölkerungsgruppen aus der Innenstadt bedingen würde (Blechschmidt 2011: 30f.; Deffner et al. 2006: 60; Haefeli 2008: 213f.; Hitz et al. 1995: 241). Alle drei Positionen vereinte damit die Ablehnung einer Verkehrspolitik, die gänzlich in den Dienst einer wachstumsorientierten Stadtentwicklungspolitik gestellt werden sollte, weil dadurch ungünstigere Voraussetzungen für die individuelle Raumaneignung erwartet wurden. Sei es aufgrund eines Rückbaus des feinmaschigen Straßenbahnnetzes, sei es durch Bodenpreissteigerungen und den Verlust innerstädtischer Wohnlagen infolge einer verbesserten Erreichbarkeit und daraus resultierender Umwandlung in gewinnbringendere Büroflächen oder sei es durch einen erwarteten Verlust fußverkehrsfreundlicher historischer Raumstrukturen. Tatsächlich haben die Folgen des U-Bahn-Volksentscheids, der laut Hitz et al. (1995: 241) einem „Waterloo für die Modernisierungsfraktion“ der Stadt entsprach, die räumliche Entwicklung Zürichs bis heute weitreichend beeinflusst. Einerseits wurde nun anstatt der Schnellbahn das bestehende Straßenbahnsystem weiter ausgebaut, was sich im Nachhinein gerade im Vergleich zu vielen anderen europäischen Städten so vorteilhaft auf die Nutzerzahlen ausgewirkt hat, dass das Züricher Straßenbahnnetz heute international als Best Practice Beispiel betrachtet wird (Bratzel 1999: 182ff.). Andererseits wurden große Bereiche der Innenstadt nun doch nicht „für Büronutzungen und Luxussanierungen preisgegeben“, wie es infolge einer strikt radialen Schnellbahnerschließung erwartet worden wäre (Hitz et al. 1995: 237). Stattdessen blieben die räumlichen Expansionsmöglichkeiten der Züricher City weiterhin stark begrenzt, womit neue Unternehmensstandorte nun vermehrt in ehemaligen Industriegebieten im Norden der Stadt und ab den 1980er Jahren zunehmend auch in der städtischen Peripherie entstanden. Selbst ein weiteres Referendum aus dem Jahr 1982, bei dem zumindest einem Ausbau des S-Bahn-Netzes zugestimmt wurde, vermochte es nicht, bestehende räumliche Wachstumsschranken der innerstädtischen Dienstleistungsökonomie weitreichend aufzuheben. Wobei auch hier zweifellos eine große Rolle gespielt hat, dass die Zustimmung zur S-Bahn nur unter der Bedingung erfolgte, dass gleichzeitig umfangreiche Wohnraumerhaltungsmaßnahmen in der Innenstadt eingeleitet wurden (Hitz et al. 1995: 242f.; vgl. auch Ronneberger und Schmid 1995: 363).53 53 Eine ähnliche Entwicklung wie in Zürich lässt sich zudem am Beispiel Amsterdam beschreiben. Denn auch hier waren U-Bahn-Planungen wichtiger Bestandteil umfangreicher Umbaupläne der Innenstadt, die einen massiven Verlust an Wohnraum zur Folge gehabt hätten. Gleichfalls führte auch hier massiver Protest aus der Bevölkerung zu einer Rücknahme der U-Bahn-Planung, was im Nachhinein als Grundlage dafür betrachtet werden muss, dass auch Amsterdam heute für sein öffentliches Verkehrsnetz
4.3 Ortswechsel – Schnellbahnbau anderswo
123
4.3.4 Rückschlüsse und Generalisierung Auch wenn die Zusammenhänge zwischen Stadtentwicklung und öffentlichem Nahverkehr in weiteren Städten im Rahmen dieser Arbeit nur sehr kurz und schablonenhaft beleuchtet werden konnten, wird dennoch deutlich, dass die Entwicklung in Frankfurt keinesfalls als Einzelfall betrachtet werden kann. Vielmehr soll an dieser Stelle noch einmal auf Linder (vgl. auch Linder et al. 1975; 1973, 1972) verwiesen werden, der seine Thesen zwar überwiegend anhand des Münchner Beispiels entwickelt hat, diese aber berechtigterweise verallgemeinernd verstanden wissen möchte. So sieht auch er die zu dieser Zeit errichteten Massenverkehrsmittel des öffentlichen Nahverkehrs zuallererst mit dem politischen Zweck verbunden, die vom individualverkehrsbedingten Verkehrskollaps bedrohten Innenstadtbereiche durch eine umfangreiche Steigerung der Erreichbarkeit erneut einer größeren Masse an Arbeitskräften und Konsument*innen zugänglich zu machen. Es sollten also Entwicklungsschranken der in der Innenstadt dominierenden Wirtschaftsbereiche beseitigt werden, um deren weiteres Wachstum zu gewährleisten, womit nicht zuletzt die Erwartung weiterwachsender Gewerbesteuereinnahmen verbunden war (vgl. auch Linder et al. 1975: 69f.; 1973: 152ff., 1972: 215ff.). Treffend – wenn auch vielleicht etwas zu vorsichtig – resümiert er dann schließlich: „Die Auswirkungen des Baus von Massenverkehrswegen auf die städtische Entwicklung lassen vermuten, daß [sic!] die Scheinalternative Automobil/öffentlicher Verkehr zumindest teilweise dem ideologischen Mißbrauch [sic!] für andere Ziele, nämlich des Wachstums und der Konzentration städtischer Ökonomie zu dienen hat“ (Linder 1973: 203).
Dabei muss vor allem die Entwicklung in Zürich als bedeutende Ausnahme betrachtet werden, die aber dennoch Linders Argument bestätigt. Dies nicht nur im Hinblick auf die Argumentationen der Ausbaugegner*innen, die das negative Abstimmungsergebnis bedingten, sondern auch aufgrund der daraufhin einsetzenden räumlichen Wirtschaftsentwicklung. Denn während zunächst die städtische Politik aller vier thematisierten Städte die Produktion von Verkehrsräumen favorisierte, welche sich vor allem an den Bedürfnissen der innerörtlichen Wachstumsbranchen international Zuspruch erfährt (Bratzel 1999: 187). Ohne dies hier weiter auszuführen handelt es sich also bei den spezifischen Schweizer politischen Rahmenbedingungen zwar um eine hinreichende, jedoch nicht um eine notwendige Voraussetzung, um eine Umwandlung alter Straßenbahnnetze in Schnellbahnen zu verhindern. Allerdings wurden die U-Bahn-Pläne in Amsterdam nur deswegen gestoppt, weil die Proteste dort so intensiv geführt wurden, dass daraus laut Bratzel (ebd.) zwischenzeitlich „eine Art städtischer Bürgerkrieg“ entflammte. 123
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4 Städtischer öffentlicher Nahverkehr
orientierten, offenbart das erfolgreiche Votum der Züricher Zivilbevölkerung, dass diese räumliche Form des Verkehrsraumes den Anforderungen der gelebten individuellen Raumaneignung kaum entsprach. Dagegen scheint – zumindest was den innerstädtischen Raum betrifft – das herkömmliche, flächenstreuende Züricher Straßenbahnnetz, das infolge der Entscheidung gegen die U-Bahn zudem noch weiter ausgebaut wurde, den Anforderungen individueller Raumaneignung wesentlich besser zu genügen. Schließlich verzeichnete die Stadt seitdem einen Zuwachs an Fahrgastzahlen, mit dem sich heute kaum eine andere Stadt messen kann. Von einer Scheinalternative kann folglich beim heutigen Züricher Nahverkehrsnetz nicht die Rede sein, ganz im Gegensatz zu den Netzen in München, Essen und Frankfurt. Allerdings darf hier nicht unterschlagen werden, dass auch in Frankfurt die im Zuge des Schnellbahnbaus geplante weitreichende Aufgabe des bisherigen Straßenbahnnetzes bei der örtlichen Wohnbevölkerung auf große Kritik stieß, was in Kap. 4.5 noch einmal vertiefend aufgegriffen wird.
4.4
Fortschreiten zwischen Zweifel und Bestätigung
4.4
Fortschreiten zwischen Zweifel und Bestätigung
Weil allerdings die in der Schweiz gegebenen umfangreichen Möglichkeiten direkter Demokratie in Deutschland so nicht existieren, konnte die Stadt Frankfurt auch trotz aufkommender Proteste an ihrem eingeschlagenen Weg der Raumproduktion weiter festhalten, wenngleich dies (auch aufgrund der Proteste) nicht stringent und zum Teil mit veränderter Legitimationsgrundlage erfolgte.
4.4.1 Moderate Anpassungsversuche Bereits Anfang der 1970er Jahre, also kurz nach der Umsetzung erster Maßnahmen auf dem Weg ins Schnellbahnzeitalter, führten zwei Gegebenheiten dazu, dass erstmals moderate Anpassungen an den städtischen Verkehrsplanungen vorgenommen wurden. Zum einen hatte sich mittlerweile massiver Protest gegen das projektierte City-Erweiterungsgebiet Westend formiert, der unter anderem in diversen Hausbesetzungen mündete, weswegen sich innerhalb der regierenden SPD Stimmen mehrten, die Vorbehalte gegen die bis dahin praktizierte Stadtentwicklungspolitik formulierten. Auch weil die Kommunalpolitik als Reaktion auf diese lautstarke Kritik aus der Bevölkerung nun verstärkt versuchte, diese in die städtische Strukturplanung mit einzubeziehen, begann schließlich die SPD zumindest teilweise von ihren bisherigen Stadtumbauzielen abzurücken (Müller-Raemisch
4.4 Fortschreiten zwischen Zweifel und Bestätigung
125
1998: 383ff.; Stracke 1980: 136ff.). Zum anderen wurden auch die ambitionierten Tunnelpläne der Stadt recht schnell mit der Realität eines nur äußerst schleppenden Fortschritts konfrontiert (Rüegg 1996: 141). Für die kommunale Verkehrspolitik bedeutete dies, dass das oberste Ziel nun nicht mehr in der Produktion einer Verkehrsinfrastruktur gesehen wurde, die sich alleine auf Anforderungen an ein weiteres Wirtschaftswachstum der Stadt konzentrierte. Stattdessen wurde versucht, verstärkt auch ökologische und gesamtstädtische Aspekte in die städtische Planung zu integrieren, also beispielsweise die negativen Begleiterscheinungen des Automobilverkehrs in den Wohngebieten zu mindern. Als logische notwendige Konsequenz wurde zudem 1972 erstmals eine Überarbeitung des Generalverkehrsplans54 von 1961 beschlossen (Magistrat der Stadt Frankfurt am Main 1984: 12). Darüber hinaus machte sich auch in der Praxis ein konzeptioneller Wandel der städtischen Politik bemerkbar: Eine weitere Verdichtung und Umwandlung innerstädtischer Wohngebiete wurde baurechtlich unterbunden, 1972 erfolgte eine Vereinheitlichung der Tarifstruktur des öffentlichen Verkehrs durch die Gründung eines ersten regionalen Verkehrsverbundes (Frankfurter Verkehrsverbund – FVV) und 1974 wurde der Beschluss eines konsequenten Vorrangs des öffentlichen vor dem individuellen Straßenverkehr gefasst (ebd.). Praktisch bedeutete dies zunächst nur eine Beschleunigung bestehender Straßenbahnlinien durch die Abmarkierungen von Fahrwegen, wodurch allerdings Geschwindigkeit und Pünktlichkeit der entsprechenden Linien erheblich gesteigert werden konnten. Zudem war eine Einführung von Ampelvorrangschaltungen geplant (Köstlin 1987: 381; Rüegg 1996: 141). Zuletzt merkte das städtische Planungsdezernat 1976 sogar selbstkritisch an, dass ein weiteres Festhalten an der bestehenden Netzstruktur „einer polyzentrischen Entwicklung mit einer wünschenswerten verkehrlichen Entflechtung entgegensteht“, jedoch seien entsprechende Planänderungen infolge der fortgeschrittenen Umsetzung der bisherigen Pläne und bereits gegebener Finanzierungszusagen zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr im Rahmen des Möglichen (zit. nach Müller-Raemisch 1998: 282f.).55 Ähnlich verweist auch ein im gleichen Jahr initiierter Entwurf für einen neuen Generalverkehrsplan darauf, dass trotz zwischenzeitlicher Zuwendung zur Straßenbahn dennoch langfristig an der Umstellung auf ein strikt radiales und beschleunigtes Stadtbahnnetz festgehalten 54 Die grundlegende Funktion des Generalverkehrsplans (in späteren Jahren in Gesamtverkehrsplan umbenannt) liegt darin, zukünftige Entwicklungsschritte der städtischen Verkehrsplanung grob zu skizzieren. 55 Vergleichbares lässt sich auch aus München berichten. Auch hier scheiterten „entsprechende Einsichten aus späteren Jahren“ hinsichtlich der Nutzungseinschränkung eines radialen U-Bahn-Systems für die Bürger*innen der Stadt „an den Sachzwängen langfristiger staatlicher Bewilligungs- und Förderungspolitik“ (Kreibich 1978: 309). 125
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4 Städtischer öffentlicher Nahverkehr
werden sollte (Magistrat der Stadt Frankfurt am Main 1984: 12). Stattdessen vorgenommene Änderungen bezogen sich zum einen auf eine allgemeine Verringerung der anteiligen Tunnelstrecken bei gleichzeitiger Ergänzung um eine zusätzliche Mainunterquerung, zum anderen wurde insbesondere die Anzahl der Außenäste in größerem Umfang verringert (Magistrat der Stadt Frankfurt am Main 1984: 15,19; vgl. auch Müller-Raemisch 1998: 282f.). Letzteres muss zwar im Kontext der zeitlich verzögerten Integration der S-Bahn in die Gesamtplanung betrachtet werden, da die betroffenen Stadtteile Höchst, Sossenheim, Rödelheim, Frankfurter Berg, Berkersheim und Louisa allesamt auch durch das geplante S-Bahn-Netz erschlossen oder zumindest tangiert wurden (vgl. hierzu Müller-Raemisch 1998: 104). Faktisch ging die damit bezweckte verbesserte Auslastung der S-Bahnen jedoch stets mit einer geringeren Erschließungsqualität einher, weil damit auch die gesamte Anzahl der in den Stadtteilen geplanten Stationen stark dezimiert wurde und sich die zu S-Bahn-Stationen umfunktionierten alten Bahnhöfe häufig nur am Rand der Siedlungsgebiete befanden (vgl. Magistrat der Stadt Frankfurt am Main 1984: 15,19). Folglich muss bezüglich der Frankfurter Verkehrspolitik dieser Zeit festgehalten werden, dass eine konsequente Abkehr von den Schnellbahnplänen der vorigen Jahre faktisch nicht stattgefunden hat. Zwar wurde die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel durch eine erste vereinheitlichende Strukturreform erleichtert, die Beschleunigung des öffentlichen Nahverkehrs auf die alten Straßenbahnlinien ausgeweitet und eingestanden, dass eine strikt radiale Netzstruktur eigentlich im Widerspruch zur anhaltenden polyzentrischen Entwicklung der Region stünde. Dennoch führte dies nicht zu einer Anpassung des Netzes im Hinblick auf die damit einhergehenden, ebenso polyzentrisch ausgeprägten Anforderungen individueller Raumaneignung, da einer solchen Anpassung verschiedene Sachzwänge (bestehende Finazierungszusagen und Planungsfortschritte) diametral entgegenstehen würden. Zudem verweisen auch die vorgenommene Verringerung der geplanten Erschließungsqualität in den Außenbereichen der Stadt zugunsten des neuen S-Bahn-Netzes und die Tatsache, dass selbst die zusätzliche Beschleunigung der Straßenbahn vor allem die Erreichbarkeit des Zentrums verbesserte, kaum auf einen wirklichen Sinneswandel der Stadtpolitik.
4.4.2 „Städtebaulicher Zentralismus“ Trotz einer vergleichsweise vorsichtigen „Planung der kleinen Schritte“ konnte die SPD die 1977 abgehaltene Kommunalwahl nicht mehr gewinnen. Mit Walter Wallmann an der Spitze zog nun zum allerersten Mal die CDU die Regierungsver-
4.4 Fortschreiten zwischen Zweifel und Bestätigung
127
antwortung der Stadt an sich (Müller-Raemisch 1998: 389). Postwendend wurde daraufhin das Straßenbahnbeschleunigungsprogramm der Vorgängerregierung wieder eingestellt. Denn dieses verursachte nach Ansicht der neuen Regierung zu hohe Kosten. Zudem wurde die für eine Ampelvorrangschaltung notwendige Koordinierung im Streckennetz als zu aufwändig betrachtet und auch ganz allgemein hätte das Beschleunigungsprogramm den Individualverkehr in unzumutbarer Weise beeinträchtigt (Köstlin 1987: 381; Rüegg 1996: 141). Das Rad der städtischen Verkehrspolitik wurde also wieder auf die Zeit vor den moderaten Anpassungsversuchen der SPD zurückgedreht. Konsequenterweise erfolgten dann kurz darauf auch die ersten Schließungen von Straßenbahnstrecken, weil diese nach Meinung der Stadt angesichts der neuen Schnellbahnen nun ihre Legitimationsgrundlage verloren hätten (Rüegg 1996: 141). Anstelle des kurzen Intermezzos der Straßenbahnbeschleunigung wurde zudem mit dem Konzept der „Schienenfreien Innenstadt“ auch wieder umfänglich zu den konzentrischen U-Bahn-Plänen der beginnenden 1970er Jahre zurückgekehrt (Rüegg 1996: 141f.). Dies dennoch unter etwas veränderten Vorzeichen. Begründend für die neue verkehrspolitische Strategie betonte Wallmann in seinem kommunalpolitischen Situationsbericht Ende 1979 zwar weiterhin die große Relevanz eines „Handels-, Banken- und Dienstleistungszentrum[s] wie Frankfurt am Main“, da damit schließlich Arbeitsplätze in der Stadt entstünden, die als „Voraussetzung für Wirtschaftswachstum und steigenden Wohlstand“ gesehen werden müssten (vgl. auch 1985: 11; Wallmann 1980: 11). Dennoch erklärte er die noch in den 1960er Jahren herrschende „Vorstellung von der Stadt als bloßem Wirtschafts- und Dienstleistungszentrum“ als „inzwischen überwunden“ (Wallmann 1980: 11). Als wesentlich wichtiger hingegen betrachtet es Wallmann nun, einer weiteren „Aushöhlung“ der Stadt, also einem Funktionsverlust der „Innenstadt als Schauplatz des öffentlichen Lebens“ und einem „Verlust an städtischer Atmosphäre“ im Zuge von Suburbanisierungsprozessen aktiv entgegenzutreten.56 Denn „nur die Stärkung des Kerns vermag bis in die äußersten Bezirke ein neues Leben auszustrahlen“ (ebd.: 6). Konkret ging es Wallmann folglich um eine kulturpolitische Veränderung des Stadtkerns, was sich nicht zuletzt in den verschiedenen umgesetzten Projekten widerspiegelte: Sei es der Wiederaufbau der kriegsbedingt zerstörten Alten Oper, historisierende Neubauten auf dem altstädtischen Römerberg, die Konzentration von Museen am entsprechend umbenannten Museumsufer oder die Umwidmung 56 Obgleich etwa Ronneberger und Keil (1995: 295) festhalten, dass Wallmanns Regierung neben ihrem „populistischen Urbanisierungsprogramm“ mit Blick auf die städtische Wirtschaft durchaus auch eine „elitäre Wachstumsmaschine“ erschaffen hätte, womit erstmals die „Schwelle zur World City-Formation überschritten“ worden sei. 127
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4 Städtischer öffentlicher Nahverkehr
von Einkaufsstraßen in reine Fußgängerzonen (ebd.). Dezentrale Kulturprojekte in den Stadtteilen wurden dagegen nach Möglichkeit „ausgehungert“, da eine Förderung von Stadtteilkultur der Zentralisierungsstrategie Wallmanns schlichtweg nicht entsprach (Scholz 1989: 89).57 Obgleich sich also die politische Agenda unter Wallmann durchaus verschoben hatte, blieb weiterhin die Erreichbarkeit der Innenstadt eine zentrale Grundlage städtischer Politik. So verwies Wallmann auch noch 1985, also kurz vor dem Ende seiner Amtszeit, erneut auf die Stadtmitte als das Hauptaugenmerk seiner städtebaulichen Perspektive: „Durch Stärkung des Stadtkerns nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in politischer, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht soll auflösenden, zentrifugalen Tendenzen entgegengewirkt und Urbanität zurückgewonnen werden. Ein solcher städtebaulicher Zentralismus – die Entwicklung der Stadt vom Kern her – prägt die Identität und das Selbstbewusstsein der Stadt“ (Wallmann 1985: 3).
Teil dieses „städtebaulichen Zentralismus“ waren für ihn allerdings nicht nur identitätsstiftende und kulturpolitisch motivierte Bauten, auch das Schnellbahnnetz hatte einen festen Platz in Wallmanns Politik. Denn, so schrieb er schon zu Beginn seiner Amtszeit, um diesen „komplizierten Organismus [Großstadt] lebensfähig zu erhalten“ würde auch ein „umfängliches Infrastruktursystem“ benötigt, mit „moderne[n], in dichter Taktfolge schnell verkehrende[n] öffentliche[n] Verkehrsmittel[n]“ (Wallmann 1980: 2). Insbesondere betonte er dabei die Notwendigkeit, wonach „der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs [.] wie geplant kontinuierlich fortgesetzt werden“ müsse (ebd.: 5f.). Auch für Wallmann war damit ein Festhalten an den unterirdischen Schnellbahnplänen unumgänglich für seine Vision einer lebenswerten Stadt (vgl. auch Kirn 1983). Noch deutlicher wurde er dann noch einmal gegen Ende seiner Amtszeit, indem er der „Vollendung des unterirdischen U- und S-Bahnnetzes in der Innenstadt [.] weitreichende Chancen zur Gestaltung des öffentlichen Raumes“ zuschrieb (Wallmann 1985: 4). Auf diese Weise sollte schließlich das Ziel einer schienenfreien Innenstadt verwirklicht werden, um einerseits eine mit der Schnellbahn einhergehende Entlastung der Innenstadt vom Autoverkehr zu verwirklichen und andererseits auf 57 Hier darf allerdings nicht der Eindruck aufkommen, dass der Magistrat unter Wallmann eine Entwicklung der Stadtteile gänzlich unterlassen hätte. Vielmehr wurde in dieser Zeit durchaus die „Lebensqualität auch in Stadtteilen verbessert“ (Wallmann 1984: 2), etwa durch eine Fortsetzung größerer Sanierungsvorhaben, die Durchführung von Verkehrsberuhigungsmaßnahmen oder den Bau von Bürgerhäuser, Sportanlagen und Spielplätze in den Stadtteilen (ebd.: 3). Dennoch lag das zentrale stadtentwicklungspolitische Ziel eindeutig in der Attraktivitätssteigerung der Innenstadt.
4.4 Fortschreiten zwischen Zweifel und Bestätigung
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den vom Verkehr befreiten innerstädtischen Flächen eine Attraktivitätssteigerung für Spaziergänge, Flanieren und Konsum einzuläuten (Wallmann 1985: 4; vgl. auch Kirn 1982). Auch ein stadtweites Radwegenetz sollte auf den Strecken der stillzulegenden Straßenbahn entstehen (Wallmann 1984: 10f.) – wobei hier im Nachgang wohl ausschließlich Strecken angedacht waren, die sich ausschließlich am Stadtrand befanden und wo eine Umwidmung in Fahrbahnen keinen Sinn ergeben hätte. Zudem wurde von Wallmann (1985: 12, 1984: 2) mehrfach darauf verwiesen, dass die Ausbaupläne der Schnellbahn zu einer Verringerung des Individualverkehrs zugunsten des öffentlichen Nahverkehrs führen und damit maßgeblich zur Verkehrsberuhigung von Wohngebieten beitragen würden. Neben diesen auf Ästhetik und die Gestaltung des öffentlichen Raumes abzielenden Argumenten, sah Wallmann aber auch die räumliche Form des Schnellbahnnetzes als nützliches Instrument, den von ihm als Gefahr identifizierten „zentrifugalen Tendenzen“ entgegenzuwirken, da auf diese Weise „die Stadtteile mit ihrem Zentrum und die Region mit der Metropole“ verbunden würden (Wallmann 1985: 4). So ging es wohlgemerkt auch hier gerade nicht um ein verbessertes Nahverkehrsangebot innerhalb der Region und zwischen den Stadtteilen, sondern vor allem darum, dass „die Innenstadt verkehrsmäßig-optimal erschlossen wird“ (Wallmann 1983: 4). Den Erfolg des Systems meinte Wallmann schließlich darin zu erkennen, dass zu dieser Zeit „bereits 70 % der in dem besterschlossenen Dreieck der Frankfurter City zwischen Hauptwache, Theater und Taunusanlage [was ziemlich genau dem Kerngebiet der zentralörtlichen Dienstleistungsökonomie entspricht] arbeitenden Menschen öffentliche Verkehrsmittel“ nutzten (Wallmann 1985: 4) – was ebenfalls erneut dessen primäre Intention hervorhebt. Legitimiert wurde dieses Festhalten an den unterirdischen Schnellbahnplänen auch durch einen externen Überprüfungsauftrag des noch von der SPD-Vorgängerregierung initiierten Generalverkehrsplans aus dem Jahr 1976. Darin wurde zwar nochmals darauf verwiesen, dass sich die 1961 aufgestellten Prognosen hinsichtlich städtischem Bevölkerungs- und Beschäftigungswachstum im Nachhinein als nicht zutreffend erwiesen haben, die Einwohnerzahl der Stadt sich zwischenzeitlich sogar verringert hatte. Gleichzeitig wäre aber die Summe der persönlichen Ortsveränderungen in der Stadt unterschätzt worden, weswegen das noch 1961 prognostizierte Verkehrsvolumen und die darauf aufbauend entwickelten Verkehrsnetze trotz allem generell nachvollziehbar seien (Magistrat der Stadt Frankfurt am Main 1984: 12, 24f.). Im Ergebnis stand somit 1984 erneut ein Generalverkehrsplan der die bisherigen Planungsvorhaben grundsätzlich bestätigte, nämlich unter Aufgabe des Straßenbahnnetzes das „begonnene Stadtbahnnetz zu einem betrieblich funktionsfähigen Gesamtnetz auszubauen“ (ebd.: 23). Die einzigen Veränderungen zum vorangegangenen Plan von 1976 bezogen sich dabei auf eine erneute Vergrößerung 129
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der Tunnelanteile in den Innenstadtbezirken, eine zusätzliche Linienplanung zum städtischen Fußballstadion – was durchaus als Bestandteil der von Wallmann geförderten Kulturpolitik gesehen werden kann – und weiteren kleineren Verkürzungen der Außenäste (ebd.: 45). Im Einklang damit betonte auch Wolfram Brück (CDU), der 1986 für wenige Jahre das Oberbürgermeisteramt übernommen hatte, sowohl an den Schnellbahnplänen als auch an der Planung weiterer Bürohochhäuser in der Innenstadt festhalten zu wollen, und auch eine Vorrangregelung des öffentlichen Nahverkehrs mochte er vor allem auf pendelverkehrsrelevanten Strecken verwirklicht wissen (FAZ 1986: 35). In dieser Zeit wurde die Schnellbahn in kommunalpolitischen Debatten auch erneut explizit als Legitimation zum Bau neuer Hochhäuser in der Innenstadt herangezogen. Denn durch die gute Erschließungsqualität der Standorte sei davon auszugehen, dass 70 % der Menschen in den neuen Hochhäusern mit dem öffentlichen Nahverkehr anreisen würden, womit sich eine Zunahme des Verkehrsgeschehens in anliegenden Straßen trotz der neuen Bauten in vertretbarem Ausmaß bewegen würde (Rüegg 1996: 126, 128). Besonders deutlich wurde diese erneute enge Verknüpfung von Ausbauplänen des Dienstleistungsstandortes mit einer auf radialen Schnellbahnen konzentrierten Verkehrspolitik auch dadurch, dass einerseits demonstrativ auf die Relevanz des Schnellbahnnetzes verwiesen, andererseits aber weiterhin konsequent an der Stilllegung von Straßenbahnstrecken festgehalten wurde (FAZ 1986: 35). Interessant ist dieses beständige Festhalten der Frankfurter Stadtpolitik an den Schnellbahnplänen, bei dem argumentativ neben einer Stärkung der Kernstadt als Konsum- und Arbeitsort zugleich auf eine damit einhergehende Abnahme des Automobilverkehrs verwiesen wurde, insbesondere auch vor dem Hintergrund einer bereits 1978 erschienenen Studie in Herausgeberschaft des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Dort wird zunächst die theoretisch hergeleitete Prognose aufgestellt, dass neue, radiale Schnellbahnnetze genau die von Wallmann erwünschte zentralitätsstärkende Wirkung erzielen würden: Die so erzielte umfangreiche Verbesserung der Erreichbarkeit in der Kernstadt würde dort ein weiteres Wachstum des Konsum- und Dienstleistungsstandortes nach sich ziehen, zum Teil auch auf Kosten von Standorten in ehemals eigenständigen Gemeinden der städtischen Peripherie (BMBau 1978: 22ff.). Gleichzeitig stellen die Autor*innen der Studie aber fest, dass ein steigender Zustrom infolge der verbesserten Erreichbarkeit des Zentrums darüber hinaus – entgegen des Versprechens der Wallmann-Regierung – auch sämtliche kurzfristigen Entlastungswirkungen auf den Individualverkehr mittelfristig wieder zunichtemachen würde (ebd.). Schon damals wurde also selbst vonseiten des Bundes darauf verwiesen, dass diese Art städtischer Raumproduktion im Hinblick auf lokales Wirtschaftswachstum (und auf Kosten
4.5 Kontrast – Vom Unverständnis der Stadtgesellschaft
131
der Umlandgemeinden) durchaus erfolgversprechend sein kann. Zugleich wurde jedoch die Auswirkung eines solchen Schnellbahnnetzes auf eine Verringerung des Individualverkehrs – entgegen vielfacher lokalpolitischer Versprechen – selbst seitens des Bundesministeriums angezweifelt.
4.5
Kontrast – Vom Unverständnis der Stadtgesellschaft
4.5
Kontrast – Vom Unverständnis der Stadtgesellschaft
„Ihr wollt die schienenlose Stadt, trotzdem sie soviel Mängel hat. Wir brauchen doch die Straßenbahn, damit man leichter kommen kann in alle Straßen ringsherum. Zur U-Bahn gehen fällt uns zu schwer. […] Wir bitten den Verkehrsverbund feiertags und zur Abendstund‘ mehr Straßenbahnen einzusetzen und uns nicht unter die Erde zu hetzen. […] Das beste Fahrzeug ist bisher die Straßenbahn für den Verkehr. Drum rühret nicht die Schienen an und laßt uns unsre Straßenbahn!“ (G. Köllermann, Bad Vilbel; zit. nach Hannig et al. 1986: 24)
Wie schon zuvor angerissen wurde das stetige Festhalten der Frankfurter Stadtpolitik an ihren Schnellbahnplänen auch von der Frankfurter Stadtgesellschaft nicht gänzlich unwidersprochen akzeptiert. So verfasste die Arbeitsgruppe ‚Verkehr‘ des Frankfurter Forums für Stadtentwicklung e. V. in Zusammenarbeit mit dem Wiener Ingenieur Wünschmann bereits 1972 eine Stellungnahme, in der die Entwicklung des Frankfurter Nahverkehrsnetzes öffentlich kritisiert wurde (Wünschmann 1972). Neben Verweisen auf fehlende verkehrspolitische Ziele und auf als unrealistisch bewertete Verkehrsprognosen wurde dabei insbesondere die parallele Führung der Schnellbahnen entlang von ebenfalls stark ausgebauten Haupttrassen des Automobilverkehrs kritisiert. Denn dies, so auch hier die Argumentation, resultiere letztendlich in volkswirtschaftlich fraglichen Überkapazitäten und insbesondere in einer weiteren selektiven Erreichbarkeitsverbesserung des Citybereichs, die einhergehe mit einer weiteren Verdrängung des Wohnens und anderer Nutzungen mit geringer ökonomischer Renditeerwartung. Als Alternative wurde dabei interessanterweise auch hier bereits eine gezielte politische Ausrichtung an polyzentrischen Strukturen gefordert (ebd.: 16f.). Denn im Umkehrschluss führte die einseitige Konzentration des Frankfurter Schnellbahnnetzes auf das Zentrum auch unweigerlich dazu, dass vor allem die Außenbereiche der Stadt nur in vergleichsweise geringem Maße von dem ‚neuen‘ öffentlichen Verkehrsmittel profitieren. So gibt es auch heute noch – 60 Jahre nach 131
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Eröffnung der ersten U-Bahn-Strecke – einzelne Stadtteile im Westen, Norden und Osten der Stadt, die weder an das S- noch an das U-Bahn-Netz angeschlossen sind.58 Tatsächlich war jedoch die Neuerschließung von randstädtischen Quartieren durch das Schnellbahnnetz nie ein großes Thema innerhalb der Stadtgesellschaft. Naheliegend ist dies insofern, als dass die großen Vorteile der Schnellbahnen – Geschwindigkeit und Leistungsfähigkeit – kaum den tatsächlichen Mobilitätsbedürfnissen der städtischen Bevölkerung entsprachen: So geht etwa aus den Ergebnissen einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 1968 hervor, dass lediglich 5 % der Befragten eine zu geringe Reisegeschwindigkeit des öffentlichen Nahverkehrs monierten. Am häufigsten wurden dagegen die Wünsche nach niedrigeren Beförderungstarifen (37 %) und kürzeren Zugfolgen (34 %) geäußert. Zuletzt erfuhr selbst eine bessere Erreichbarkeit verschiedener Ziele im Stadtgebiet mit 8 % noch eine größere Relevanz als eine Beschleunigung der Verkehrsmittel (Schaechterle und Holdschuer 1969: 55f.; vgl. auch Haibach 1970: 35). Ohnehin hatten im selben Jahr nur 17 % der Personenfahrten in Frankfurt überhaupt die Innenstadt zum Ziel (Schaechterle und Holdschuer 1969: 10). Somit kann bereits zeitgleich mit der ersten Streckeneröffnung der Frankfurter Schnellbahnen festgehalten werden, dass das damit verbundene Angebot faktisch an den tatsächlichen Mobilitätswünschen und ‑bedürfnissen der städtischen Bevölkerung vorbeiging. Dass diese Planungen und Maßnahmen in der Anfangsphase dennoch weitgehend konfliktfrei umgesetzt werden konnten, mag sich zunächst damit begründen lassen, dass der Bau der Schnellbahnen vor allem von Personen wie dem Verkehrsdezernenten und späteren Oberbürgermeister Möller vorangetrieben wurde. Denn als überzeugte Verfechter eines rational-technokratischen Planungleitbilds (Balser 1994: 552) vermochten sie es zunächst erfolgreich, die modernen Schnellbahnen gegenüber der Öffentlichkeit als alternativlose und unumgängliche Notwendigkeit zu verkaufen.59 58 Dies geht sogar so weit, dass der schon erwähnte Stadtteil Sossenheim – ein Stadtteil mit ca. 14.000 Einwohner*innen und drei in den 1960er und 1970er Jahren errichteten Großwohnsiedlungen (Ronneberger und Keil 1995: 323) – zwar ursprünglich an das städtische U-Bahn-Netz angeschlossen werden sollte. Diese Pläne wurden später allerdings zugunsten einer S-Bahn-Anbindung verworfen, die jedoch nur den äußersten Westen des Stadtteils tangierte und zudem nach wenigen Jahren aufgrund zu geringer Auslastung durch eine Regionalbahn ersetzt wurde. 59 Bezweifeln ließ sich diese Argumentation jedoch spätestens als auch die S-Bahn in das städtische Netz integriert wurde, womit für die städtischen Bahnen eigentlich keine Notwendigkeit mehr bestand, möglichst viele Fahrgäste mit möglichst hoher Geschwindigkeit ins Stadtzentrum zu transportieren. Vielmehr hätte das stadteigene Nahverkehrsnetz nun tatsächlich auch an die Mobilitätsbedürfnisse der Stadtbewohner*innen angepasst werden können, indem es, ähnlich dem vorherigen Straßenbahnnetz, insbesondere auf eine Feinerschließung und kurze Strecken ausgerichtet worden wäre. Tatsächlich schie-
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Ein sichtbarer öffentlicher Protest entwickelte sich folglich erst dann, als immer offensichtlicher wurde, welche persönlichen Nachteile durch den Bau des Schnellbahnnetzes zu erwarten waren. Abgesehen von Klagen über die stadtteilzerschneidende Wirkung von Tunnelrampen und an der Oberfläche verlaufenden Schienenstrecken (vgl. hierzu FAZ 1977; Köstlin 1987: 378) sowie Demonstrationen und Blockadeaktionen gegen massive Fahrpreiserhöhungen im Zuge der Gründung des Frankfurter Verkehrsverbunds 1974 (vgl. hierzu FAZ 1975; 1974b, 1974a) positionierten sich die Protestierenden darum insbesondere gegen die Stilllegung von Straßenbahnstrecken in der Umgebung neuer U-Bahn-Linien. Denn aus Sicht der Stadtverwaltung hatten die als ineffizient und zu langsam bewerteten Straßenbahnen mit der Eröffnung von mehr oder weniger parallel verlaufenden Schnellbahnstrecken ihre Legitimation endgültig verloren. Aus Perspektive der Nutzenden ermöglichten die Straßenbahnen dagegen vielerorts einen umsteigefreien Direktverkehr, den das neue Schnellbahnsystem gerade nicht mehr gewährleisten konnte. So wurden schließlich die 1980 eröffnete U-Bahn-Verbindung nach Bornheim im Nordosten und die 1984 erfolgte Eröffnung der Linie ins südlich gelegene Sachsenhausen von so massiven Protesten begleitet, dass die Stadt ihre Pläne zurückzog, die jeweils in der Nähe verlaufenden Straßenbahnlinien stillzulegen (Hannig et al. 1986: 17f.; Köstlin 1987: 382). Zudem musste beispielsweise auch die Entscheidung, die stark frequentierte S-Bahn-Station Westbahnhof nach Stilllegung der dorthin führenden Straßenbahnstrecke zumindest durch einen Bus weiter an das städtische Netz anzubinden, erst mittels öffentlicher Proteste errungen werden (FAZ 1987a). Kritik vonseiten der Stadtgesellschaft wurde darüber hinaus auch allgemein an der räumlichen Form der Schnellbahnen geübt. So wurde hier argumentiert, dass deren große Haltestellenentfernung zwar insbesondere für Arbeitspendler*innen nützlich sei, dagegen aber, im Einklang mit dem Zitat zu Beginn des Kapitels, die Straßenbahn mit ihren kürzeren Haltestellenabständen für eine Abbildung des Verkehrsgeschehens innerhalb der Stadt wesentlich besser geeignet sei. Wie berechtigt diese Kritik im Nachhinein war, zeigt zudem die ebenfalls von Protesten begleitete Stilllegung der Linie 12, die als Durchmesserlinie von Frankfurt-Bornheim im Nordosten nach Frankfurt-Höchst im Westen verkehrte und dabei unter anderem die Mainzer Landstraße zwischen Platz der Republik und Taunusanlage erschloss. Entgegen des Wallmannschen Versprechens, dass sich diese Straße nach der Stilllegung zu einer Flaniermeile mit weltstädtischer Anmut entwickle, handelt
nen sich die bestehenden Pläne jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits so weit verfestigt zu haben, sodass statt einer Anpassung an die neuen Gegebenheiten weiterhin der Ausbau eines städtischen Schnellbahnnetzes vorangetrieben wurde (Köstlin 1987: 385). 133
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es sich hierbei seitdem um eine gänzlich vom Schienenverkehr abgeschnittene fußgängerunfreundliche Autostraße (FAZ 1996a). Ihren Höhepunkt erreichten die Proteste 1986 mit der Eröffnung der in OstWest-Richtung verlaufenden Tunnelstrecke unter der innerstädtischen Haupt einkaufsstraße Zeil, in deren Zuge auch die letzten drei der ursprünglich vier die Altstadt erschließenden Straßenbahnstrecken geschlossen werden sollten. Diese Entscheidung erzeugte einen so großen Unmut innerhalb der Stadtgesellschaft, dass ein zeitgleich initiiertes Bürgerbegehren gegen das übergreifende städtische Konzept der schienenfreien Innenstadt eine besonders breite Unterstützung erfuhr. Daraufhin sah sich dann das zuständige Regierungspräsidium in Darmstadt genötigt, gegen den Willen von Stadt und Verkehrsverbund auf den Erhalt der Altstadtstrecke zu bestehen, woraufhin die Stadt wiederum kurzfristig beschloss, die geplante feierliche Eröffnung der neuen Tunnelstrecke zunächst abzusagen (Hartel 2000: 180ff.; Köstlin 1987: 383; Rüegg 1996: 142). Erst nach zweiwöchiger Verhandlung zwischen Regierungspräsidium, Stadtregierung und hessischem Wirtschaftsministerium konnte ein von allen Seiten getragener Kompromiss gefunden werden. Dieser sah vor, die neue Tunnelstrecke zu eröffnen, aber gleichzeitig zumindest eine letzte innerstädtische Straßenbahnlinie aus dem Konzept der schienenfreien Innenstadt herauszulösen und weiterhin zu betreiben. Dennoch hielt auch dieser Dämpfer die CDU-geführte Stadtregierung nicht davon ab, ihre Pläne zur schienenfreien Innenstadt konsequent weiter zu treiben (FAZ 1996a; Hartel 2000: 182). Trotzdem kann die zivilgesellschaftliche Intervention im Nachgang durchaus als erfolgreich bezeichnet werden, da durch den Erhalt dieser Strecke zumindest eine Grundvoraussetzung zum (erneuten) Ausbau eines Straßenbahnnetzes bestehen blieb (Hartel 2000: 182). Zudem bestätigte die positive Entwicklung der Fahrgastzahlen auf dieser letzten Altstadtstraßenbahnstrecke in den darauffolgenden Jahren eindrucksvoll, dass die Prognosen der Stadt bezüglich einer Überflüssigkeit dieser Strecke faktisch nicht zutrafen und nun selbst Oberbürgermeister Brück den Entschluss fasste, deren weitere Existenz dauerhaft zu akzeptieren (FAZ 1987a). Interessanterweise formierten sich demnach die meisten Proteste gegen die Stilllegung von Straßenbahnstrecken in den innerstädtischen Gebieten. Aufschlussreich ist diese Erkenntnis, weil damit noch einmal deutlich wird, dass der Widerstand gegen die Schnellbahnpläne vor allem dort verortet war, wo der flächenerschließende Charakter des Straßenbahnnetzes am stärksten ausgeprägt war (s. Abb. 1, S. 83). Gerade in den innerstädtischen Quartieren wurde folglich der Straßenbahn durchaus noch die Funktion eines umfassenden und attraktiven Alternativangebots motorisierter Raumüberwindung zugeschrieben. Bezeichnenderweise formierte sich dagegen in den Außenbereichen der Stadt kaum Widerstand gegen die Schnellbahnplanung, obwohl die Umstellung auf das Schnellbahnnetz dort besonders drastisch
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ausfiel und häufig sogar eine komplette Einstellung des Bahnbetriebs bedeutete.60 Dies verweist erneut darauf, dass das Automobil gerade in den Randgebieten der Stadt schon früh so fest im Alltagsleben verankert war, dass auch eine Schließung des einzigen und letzten Streckenangebots des öffentlichen Schienenverkehrs nicht mehr als besonders schwerwiegendes Problem wahrgenommen wurde. So verweist einerseits die Gleichgültigkeit der städtischen Peripherie gegenüber der Netzveränderung darauf, dass der öffentliche Nahverkehr dort bereits zuvor als kaum relevant für die eigene Raumaneignung betrachtet wurde. Andererseits verdeutlicht gerade die große Betroffenheit in den Frankfurter Innenstadtquartieren, dass der mit dem Schnellbahnnetz neu produzierte Nahverkehrsraum im Vergleich zur alten Straßenbahn als weit weniger praktikabel für die örtlichen Routinen individueller Raumaneignung erachtet wurde. Ungeachtet des tatsächlichen politischen Zwecks des Schnellbahnbaus legt dabei schon alleine die Tatsache der Vielzahl an Protesten gegen einzelne Streckenschließungen nahe, dass dabei die individuellen Verkehrswünsche der städtischen Bewohnerschaft nicht im Vordergrund der Überlegungen gestanden haben können. Schließlich kommt auch Rüegg (1996: 142) in seinem (Zwischen-)Resümee zur Entwicklung des öffentlichen Frankfurter Nahverkehrsangebots zu ähnlichen Ergebnissen: Ein durch Beschleunigungsmaßnahmen grundsätzlich auch weiterhin zukunftsfähiges Straßenbahnnetz wurde durch ein U-Bahn-Netz ersetzt, das auf die Gesamtstadt bezogen kaum zu einer besseren ÖPNV-Erschließung beigetragen hat. Vielmehr habe das neue Netz sogar eine geringere Ausdehnung als die alte Straßenbahn, zwinge die Nutzenden dafür doppelt so oft zum Umsteigen und habe damit auch die Gesamtreisezeiten trotz höherer Reisegeschwindigkeiten faktisch nicht verkürzt. Zudem stärken auch Deffner et al. (2006: 72) anhand verschiedener Experteninterviews diese Erkenntnis. Denn als wichtigste „Kunden“ der kommunalen Verkehrspolitik wurden hier bezeichnenderweise gerade nicht die Bewohner*innen der Stadt genannt, sondern Pendler*innen, Tourist*innen und
60 Nach Umstellung auf Schnellbahnbetrieb wurde beispielsweise das Zentrum der Nachbarstadt Bad Homburg nicht mehr angefahren, stattdessen endeten die Schnellbahnen nun zwei Kilometer früher im Vorort Gonzenheim. Auch aus dem südwestlichen Ende der Frankfurter Nordweststadt war die Straßenbahn in Praunheim noch fußläufig zu erreichen, seit der Systemumstellung endet diese Linie allerdings bereits im einen Kilometer weiter südlich liegenden Stadtteil Hausen. Ähnlich erging es den Bewohner*innen der Hochhaussiedlung Atzelberg in Frankfurt-Seckbach. Auch hier war die Straßenbahn noch gut zu Fuß zu erreichen, die nächstgelegene U-Bahn-Haltestelle hingegen liegt heute weit außerhalb einer akzeptablen fußläufigen Erreichbarkeit. Ersatzlos gestrichen wurden zuletzt auch Straßenbahnlinien in die Stadtteile Berkersheim und Bergen (Köstlin 1987: 394; vgl. auch Magistrat der Stadt Frankfurt am Main 1961: 4.3-P1). 135
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Messebesucher*innen. Folglich würde die städtische Bewohnerschaft auch nur darum auf den öffentlichen Nahverkehr zurückgreifen, um während der Stoßzeiten nicht auf den überlasteten Straßen festzustecken, also wenn dessen Nutzung für ein Vorankommen als unumgänglich erscheint. Zu großen Teilen deckt sich dies auch mit Ergebnissen einer Fokusgruppenanalyse, die im Rahmen der gleichen Studie durchgeführt wurde. Während hier einerseits die Geschwindigkeit des öffentlichen Nahverkehrs in Richtung Zentrum positiv hervorgehoben wurde, identifizierten die Teilnehmer*innen andererseits vor allem im Fehlen von Tangentialverbindungen den großen Nachteil des örtlichen Netzes (ebd.: 88). Gerade mit Blick auf die individuelle Raumaneignung muss damit auch für das Frankfurter Nahverkehrsnetz die schon von Monheim und Monheim-Dandorfer (1990: 349ff.; vgl. auch Apel 1999: 605) vertretene These unterstrichen werden, wonach die ‚neuen‘ Schnellbahnnetze mit ihrem Fokus auf eine verbesserte Erreichbarkeit der „wichtigsten“ Standorte einen Großteil der tatsächlichen Mobilitätswünsche und Wegebeziehungen nicht adäquat befriedigen können. Weit über bestehende Netze hinaus wäre hierfür schließlich noch eine Vielzahl an zusätzlichen Ringlinien und Querverbindungen für eine zusätzliche Feinverteilung nötig. Nicht nur in Zürich oder München artikulierten also einzelne Akteure aktiv ihren Unmut gegenüber den neuen Schnellbahnnetzen, sondern auch in Frankfurt. Während allerdings in den anderen Städten explizit auch die politischen Rationalitäten hinter den Netzentscheidungen kritisiert wurden, sprich die Nutzung des Schienennetzes als Instrument zur Produktion eines attraktiven städtischen Wirtschaftsraumes, speisten sich die Proteste in Frankfurt überwiegend aus einer individuellen Betroffenheit heraus. In Frankfurt ging es also kaum um eine Kritik an den strukturellen Implikationen des Schnellbahnbaus, sondern fast ausschließlich um die Furcht von Einschränkungen bei der eigenen Raumaneignung. Dennoch verweisen strukturelle wie individuelle Beweggründe letztendlich auf die gleichen Alternativkonzepte. In der Tat bemühte sich die städtische Verkehrspolitik in Frankfurt insbesondere seit Anfang der 1990er Jahre – erneut ähnlich wie in München – aktiv um Kurskorrekturen, indem seither vermehrt wieder neue Straßenbahnen errichtet wurden. Warum dies dennoch kaum die bestehende Diskrepanz zwischen städtischer Raumproduktion und den Bedürfnissen individueller Raumaneignung zu verringern vermochte, die Diskrepanz vielmehr noch 2006 die öffentliche Wahrnehmung des städtischen Nahverkehrsnetzes entscheidend prägte, wird im folgenden Kapitel thematisiert.
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Ein erster weitreichender Kurswechsel der über viele Jahrzehnte durch relative Konstanz gezeichneten kommunalen Verkehrspolitik erfolgte im Zuge der Kommunalwahl 1989, als erstmals eine rot-grüne Koalition unter Oberbürgermeister Volker Hauff die Regierungsverantwortung übernahm (Müller-Raemisch 1998: 392). Denn einerseits hatte sich die SPD in den vielen Jahren als Oppositionspartei allmählich immer mehr vom Konzept unterirdischer Stadtbahnen gelöst und stattdessen neben der regionalen S-Bahn verstärkt wieder eine Beschleunigung der Straßenbahn ins Zentrum ihrer verkehrspolitischen Überlegungen gestellt (vgl. z. B. FAZ 1988, 1979). Andererseits hatten sich auch die Grünen seit ihrem Einzug in die Stadtverordnetenversammlung vehement gegen einen Weiterbau der U-Bahn ausgesprochen, obgleich zumindest deren Realofraktion auch einen punktuellen Weiterbau der U-Bahn unterstützte (vgl. z. B. FAZ 1987c, 1987b). Demnach war es nur folgerichtig, dass im Rahmen der neuen Koalition versucht wurde, eine neu akzentuierte Verkehrspolitik zu entwickeln, die zwar weiterhin die Relevanz der Erreichbarkeit des Zentrums für die städtische Wirtschaft unterstrich, gleichzeitig aber umwelt- und sozialpolitische Aspekte in den Vordergrund stellen sollte.
4.6.1 Große Pläne, weiche Maßnahmen Als exemplarisches Beispiel für einen Wandel der verkehrspolitischen Ausrichtung kann eine Rede des damaligen Stadtkämmerers Grüber (1991) herangezogen werden. So verwies dieser nicht mehr ausschließlich auf den Schnellbahnausbau als Maßnahme gegen die „sich dem Kollaps nähernde Verkehrssituation“ (ebd.: 2). Vielmehr beschrieb er auch darüber hinaus ein breites Portfolio an verkehrspolitischen Vorhaben, mit dem ganz allgemein eine „gesunde Entwicklung […] für die Wirtschaft, aber mehr noch für die Menschen“ (ebd.: 11) erreicht werden sollte. Beispielsweise sollte den Autofahrer*innen nun über „verbesserte marktwirtschaftlich orientierte Angebote“ ein Umstieg auf den öffentlichen Verkehr schmackhaft gemacht werden (ebd.). Insgesamt lässt sich die damit konkret verbundene Verkehrspolitik war in drei einzelne Maßnahmenpakete untergliedern. Erstens sollte in Abgrenzung zur Politik einer „autogerechten Stadt“, die bis dahin quasi als politischer Konsens galt, durch „flächendeckende Verkehrsberuhigung“ der öffentliche Raum in Wohngebieten erneut für unterschiedlichste Nutzungen geöffnet werden (Hauff 1990: 13f.; vgl. auch Grüber 1991: 11). Weiterhin war nun erstmals geplant, den Automobilverkehr über einzelne Straßen hinaus möglichst weitgehend aus der Innenstadt zu entfernen (vgl. Brake 1991: 92). In diesem 137
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Kontext steht schließlich auch ein 1991 in Auftrag gegebenes „Städtebauliches Gutachten zur Mobilität der Stadt Frankfurt am Main“ (Winkler 1993, 1991), in dem zur Verbesserung der städtischen Verkehrsverhältnisse die Einrichtung von Pförtnerampeln, zusätzlichen Tangentialstraßen sowie der Ausbau von Fuß- und Radverkehrsinfrastrukturen empfohlen wurde. Interessanterweise wurde dem öffentlichen Nahverkehr in dieser Studie nicht nur – ganz im Sinne der mittlerweile umfassend erörterten Argumentation – eine zentrale Bedeutung bei der Verringerung des Pendelverkehrs zugeschrieben. Explizit wurde neuerdings auch die „visuelle Erlebbarkeit der Straßenbahn“ hervorgehoben (Winkler 1993). Dabei kann gerade letzteres als symptomatisch für die Ausrichtung dieser neuen städtischen Verkehrs politik gedeutet werden. Denn wie schon mit dem Verweis auf die Entwicklung verbesserter marktwirtschaftlicher Angebote angeklungen werden hier erstmals Konsum- und Ästhetikaspekte prominent in den Vordergrund gerückt, wohingegen die politischen Debatten zuvor noch größtenteils unter klassischen Gesichtspunkten des Gebrauchswertes, also des eigentlichen Transports, geführt wurden. Zweitens setzte nun erstmals (zumindest teilweise) eine Veränderung in der Prioritätensetzung beim Infrastrukturausbau ein. Denn es wurde zwar weiterhin grob an der Umsetzung der alten Netzpläne festgehalten, da dies immer noch als bewährte Strategie zur Bewältigung des Pendelverkehrs galt. Entsprechend wurden bereits angelaufene S- und U-Bahn-Projekte weiter fortgeführt (Grüber 1991: 11; Hauff 1990: 16) und ein neues Tunnelprojekt zwischen Südbahnhof und Sachsenhäuser Berg im Süden der Stadt sollte gar „mit höchster Priorität“ verwirklicht werden (Hauff 1990: 16). Gleichzeitig wurde jedoch dazu übergegangen, die neu geplanten Strecken nicht mehr im Tunnel, sondern bewusst als oberirdisch verlaufende Stadtbahnen verwirklichen zu wollen. Vor allem aber sollte der bisher praktizierte Rückbau der Straßenbahn nun allgemein gestoppt werden. Schließlich, so das Argument, habe die dahingehende Politik der vergangenen Jahrzehnte „viele Menschen enttäuscht, denn es hat den Komfort des öffentlichen Nahverkehrs erheblich eingeschränkt“ (Hauff 1990: 17). Über die geplante Stadtbahnführung an der Oberfläche hinaus beinhaltete die veränderte Prioritätensetzung zudem ein erneutes Beschleunigungsprogramm für den bestehenden Bus- und Straßenbahnverkehr sowie die erstmalige Einführung eines Nachtbusangebots (ebd.: 17f.). Inwieweit dieses neue Vorgehen tatsächlich auch in der städtischen Verkehrsraumpolitik eine umfassende Kehrtwende bedeutete, wird im folgenden Kap. 4.6.2 noch einmal intensiver erörtert. Festzuhalten bleibt bis dahin, dass auch die veränderten infrastrukturellen Prioritäten an zentraler Stelle daran orientiert waren, den Komfort des öffentlichen Nahverkehrs zu verbessern, wogegen der Gebrauchswert nur am Rande adressiert wurde.
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Eng daran anschließend ist zuletzt noch ein drittes Maßnahmenpaket der neuen rot-grünen Verkehrspolitik identifizierbar, welches im Kern eine umfangreiche Tarif- und Strukturreform des öffentlichen Nahverkehrs beinhaltete, und das 1995 in der Gründung eines neuen regionalen Verkehrsverbundes, dem Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) gipfelte. Entsprechend dem Geist der Zeit wurde diese Neugründung argumentativ vor allem damit begründet, dass sich auf diese Weise eine regionale Einheit erschaffen ließe, die der zunehmenden internationalen Bedeutung des regionalen Wirtschaftsraums besser entspräche (Grüber 1991: 12f.; vgl. auch Flucke 2003: 61). Darüber hinaus ist diese Neugründung eines regionalen Verkehrsverbundes jedoch auch hinsichtlich der Frage nach kommunaler Raumproduktion bemerkenswert, da dies zumindest im Hinblick auf den öffentlichen Nahverkehr als ein erster Schritt zu einer bewussten „Reorganisation politischer Hierarchien“ bezeichnet werden kann (Flucke 2003: 43). So hatte zwar schon dessen Vorgängerorganisation, der Frankfurter Verkehrsverbund (FVV), ein regional einheitliches Tarifgebiet für den städtischen und regionalen Verkehr (S-Bahnen sowie teilweise Regionalbahnen und Bahnbusse) geschaffen. Allerdings wurden den Umlandgemeinden dort noch mittels finanziell unattraktiver Einstiegskonditionen in den Verbund praktisch unüberwindbare Hürden in den Weg gelegt, ihre eigenen Positionen hinsichtlich Ausrichtung und Entwicklung des FVVs geltend zu machen. Stattdessen hatte die Stadt Frankfurt über die Frankfurter Stadtwerke als einziger Gesellschafter des FVV neben der Bundesbahn eine weitgehend alleinige Entscheidungsmacht über die Ausgestaltung des öffentlichen Nahverkehrs zwischen Stadt und Umland (ebd.: 48ff.). Darum kann das vom Frankfurter Oberbürgermeister Hauff initiierte Vorhaben, mit dem RMV eine neue Organisationsstruktur zu schaffen, die auch den Umlandgemeinden einen größeren Einfluss einräumt, durchaus als ein Entgegenkommen Frankfurts betrachtet werden, um bestehende Machtgefälle zu den Umlandgemeinden im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs anzugleichen. Gänzlich uneigennützig war das Entgegenkommen der Stadt allerdings nicht, da sie neben anderen Bereichen auch beim öffentlichen Nahverkehr zunehmend mit Verlusten zu kämpfen hatte, was durch die Gründung des RMV zumindest gemindert werden konnte (ebd.: 67ff.; 126). Folglich wurde mit dem RMV letztendlich ein regionaler Akteur geboren, der „mehr [ist] als nur ein ausführendes Instrument der politischen (Entscheidungs-)Ebene: Mit dem RMV ist eine neue regionale Institution in der Lage, eigene Ziele zu verfolgen“ (ebd.: 74). Tatsächlich vermochte es der RMV zumindest mittelfristig, sich der Frankfurter Raumstrategie effektiv mit eigenen Maßnahmen entgegenzustellen, worauf in Kap. 5.6 noch einmal detaillierter eingegangen wird. Interessant ist an dieser Stelle zudem, dass die Gründung des RMVs – abgesehen von der Einführung eines integralen Taktfahrplans und zusätzlichen 139
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Bus-Direktverbindungen zwischen kleineren Gemeinden in der Region – mit einer weitreichenden Umstrukturierung des regionalen Nahverkehrs einherging. Dabei wurden mittels institutioneller Trennung zwischen Bestellern und Erstellern von Verkehrsdienstleistungen erstmals Wettbewerbs- und Marktmechanismen auf die Nahverkehrsorganisation übertragen, um eine Kostensenkung des Betriebs zu erreichen (Flucke 2003: 59ff.; 108ff.; Schietinger 2013: 65). Gleichzeitig hielten marktwirtschaftliche Prinzipien auch in die städtische Tarifpolitik Einzug, um attraktive Anreize für Umstiege von Autonutzer*innen auf den öffentlichen Nahverkehr zu setzen (Grüber 1991: 11; vgl. auch Schietinger 2013: 65). So wurden mit dem Umwelt- und dem Jobticket zwei neue Flatrate-Angebote eingeführt, wodurch sich die Zahl der Dauerkarteninhaber*innen bereits nach kurzer Zeit spürbar erhöhte (Grüber 1991: 12). Im Kern beinhaltete damit die lautstark angekündigte Kurskorrektur der städtischen Verkehrspolitik – abgesehen von der Gründung des RMV, der Ankündigung eines Ausbaus des Straßenbahnnetzes und der Umsetzung des Nachtbusverkehrs – vor allem eine Zuwendung zu weicheren Maßnahmen, mit denen die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit des öffentlichen Nahverkehrs gegenüber dem Konkurrenzsystem Automobil verbessert werden sollte. Ein großer Teil der zu dieser Zeit eingeleiteten Maßnahmen zur Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs bezog sich damit also weniger auf eine konkrete Ausweitung des Gebrauchswertes, sondern überwiegend darauf, die Nutzung bestehender Angebote, also das Erleben des öffentlichen Nahverkehrs möglichst angenehm zu gestalten. Die bestehende Diskrepanz zwischen städtischer Raumproduktion und individueller Raumaneignung wurde mit derlei Maßnahmen allerdings kaum behoben. Umso mehr stellt sich damit an dieser Stelle die Frage, ob und inwieweit tatsächlich auch harte Infrastrukturmaßnahmen erfolgten, um eine Attraktivitätssteigerung des öffentlichen Nahverkehrs zu erwirken; ob also auch durch Netzanpassungen versucht wurde, den öffentlichen Nahverkehr stärker an den Ansprüchen individueller Raumaneignung zu orientieren?
4.6.2 Wiederentdeckung der Straßenbahn Gerade im Hinblick auf die umfangreichen Proteste gegen die Abschaffung der Straßenbahn, welche im Gegensatz zur Schnellbahn in den Innenstadtquartieren ein dichtes und verzweigtes Netz aufwies, erscheint die politische Ankündigung einer erneuten Zuwendung zur Straßenbahn naheliegend und vielversprechend. Tatsächlich findet sich dieser neue Stellenwert der Straßenbahn bereits in der 1991 im Stadtparlament beschlossenen Fortschreibung des letzten Gesamtverkehrsplans
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von 1976/82 (damals noch als Generalverkehrsplan tituliert) wieder. Dessen Überarbeitung war ohnehin unabdingbar geworden, weil sich die räumliche Struktur der Stadt zwischenzeitlich stark gewandelt hatte und mittlerweile auf detailliertere Bewertungsinstrumentarien zurückgriffen werden konnte. Dennoch ging die Fortschreibung nun explizit mit dem Auftrag einher, auch die Straßenbahn erneut in die Netzentwicklung zu integrieren. Wie schon weiter oben thematisiert, wurde dabei zwar der Weiterbau des U- und S-Bahn-Netzes nicht gänzlich in Frage gestellt. Daneben sollte allerdings ein Schwerpunkt darauf gelegt werden, sowohl bei bereits vorhandenen Planungen die Umsetzung einer alternativen Erschließung durch das „kostengünstigere System Straßenbahn“ zu prüfen als auch neue förderfähige Straßenbahnstrecken zu identifizieren (Magistrat der Stadt Frankfurt am Main 1996: 8). Die dabei erzielten Ergebnisse unterstützten die politischen Pläne, endgültig eine Abkehr von dem bis dato bestehenden U-Bahn-Dogma einzuleiten. So wurde in der Studie zwar auch weiterhin nicht gänzlich auf Ergänzungsvorschläge im U- und S-Bahn-Netz verzichtet, wenn als unbedingt notwendig erachtet wurden. Komplett neu zu planende Streckenäste wurden nun jedoch allesamt einer vergleichenden Untersuchung zwischen U-Bahn- und Straßenbahnerschließung unterzogen. Im Ergebnis bedeutete das, dass von den drei damals diskutierten neuen U-Bahn-Ästen lediglich einer weiterhin vorangetrieben werden sollte, wogegen für die anderen beiden eine Straßenbahnerschließung empfohlen wurde. Begründet wurde die Entscheidung für die Straßenbahn dabei in beiden Fällen mit Verweisen auf die geringen Investitionskosten im Verhältnis zur jeweiligen Erschließungswirkung (ebd.: 44ff.). Bezeichnenderweise wurden im Rahmen dieser Studie auch verschiedene tangentiale Erschließungen per Straßenbahn untersucht, die im Endeffekt jedoch allesamt wieder verworfen wurden. Entweder wurden zu hohe Investitionskosten im Verhältnis zur prognostizierten Nachfrage erwartet oder die angedachten Linienführungen erschienen aus städtebaulichen Gesichtspunkten nicht realisierbar (ebd.: 59f.). Damit lässt sich einerseits erneut auf die von Monheim und Monheim-Dandorfer (1990: 358) formulierte Kritik einer „Jumbomanie“ des öffentlichen Nahverkehrs verweisen, die – trotz eines vermeintlichen politischen Willens – einer Angleichung der städtischen Verkehrsraumproduktion an die Bedürfnisse individueller Raumaneignung konsequent im Wege steht (vgl. Kap. 4.2.4). Andererseits muss an dieser Stelle auch bedacht werden, dass die neu errichteten Straßenbahninfrastrukturen, im Einklang mit den Förderrichtlinien des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes (vgl. Kap. 4.2), nur noch bedingt der Funktion und dem Erscheinungsbild der alten Straßenbahnlinien entsprachen: Sie wurden zumeist auf eigenem, vom Individualverkehr weitgehend getrennten Gleisbett geführt und selbst die gewählten Haltestellenabstände lassen sich heute eher mit denen der oberirdisch verlaufenden U-Bahn-Abschnitte vergleichen. Wie 141
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schon die Frankfurter U-Bahn, entsprechen damit auch die neuen Straßenbahninfrastrukturen eher einer Stadtbahn als einer klassischen Straßenbahn. Gerade weil sämtliche untersuchten tangentialen Linienverläufe, auch aufgrund einschränkender Förderrichtlinien, wieder verworfen werden mussten, lassen sich auch die neuen Straßenbahnlinien erneut vor allem dem Zweck zuordnen, den geballten Verkehr zwischen Zentrum und Peripherie zu bewältigen. Als einzig großes Unterscheidungsmerkmal zur städtischen U-Bahn bleibt damit neben einer etwas geringeren Geschwindigkeit lediglich der mit den fehlenden Tunnelbauwerken einhergehende Kostenunterschied. Im Endeffekt stand also auch dieser verkehrspolitische Kurswechsel nicht für einen radikalen Bruch mit der bisherigen Nahverkehrskonzeption. Dabei kann zwar theoretisch argumentiert werden, dass die erneute Zuwendung zur Straßenbahn ja durchaus den langjährigen Forderungen aus der Zivilgesellschaft entsprach. Jedoch bezogen sich diese Forderungen gerade nicht nur auf technologische Aspekte, wie die Gegenüberstellung der hohen Schnellbahn-Geschwindigkeiten mit der besser erreichbaren, da ebenerdig verlaufenden Straßenbahn. Vielmehr war damit stets auch eine Kritik an der als zu gering erachteten Flächenerschließung des Schnellbahnnetzes verbunden. Gerade dieser Kritik, die ja offensichtlich eine Änderung in der Schwerpunktsetzung städtischer Raumproduktion forderte, konnte durch die ausschließliche Umwandlung geplanter U-Bahn-Strecken in Straßenbahnstrecken nicht adäquat begegnet werden.
4.6.3 Ideologiefreie Verkehrspolitik? Wenn nun also die Wiederentdeckung der Straßenbahn nicht mit dem Zweck einer Rückbesinnung auf den Bau eines möglichst flächendeckenden und weniger zentralistischen öffentlichen Verkehrsnetzes einherging, drängt sich erneut die Frage auf, worin deren Motivation dann begründet lag? Einen frühen Hinweis liefert dabei die Beobachtung, wonach, gerade nach den bauintensiven 1970er und 1980er Jahren, der Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes in den 1990er Jahren aufgrund von finanziellen Engpässen zumindest in Frankfurt stark eingeschränkt werden musste (Schietinger 2013: 62ff.). Die stadtpolitische Entscheidung, die geplante Stilllegung sämtlicher Straßenbahnstrecken 1989 wieder aufzuheben, lässt sich also auch darauf zurückführen, dass es vor allem veränderte finanzielle Rahmenbedingungen waren, weswegen die Stadt „nach Wegen gesucht hat, kostengünstiger zu erschließen“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017). Unterstützt wurde diese Entscheidung auch durch Entscheidungen des Landes Hessen, das als notwendiger Kofinanzier solcher Projekte seit dieser Zeit vermehrt dazu überging,
4.6 Wegweiser in die Gegenwart
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eine oberirdische Führung neuer ÖPNV-Infrastrukturen zu fordern (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). In Einklang damit verweisen zudem Deffner et al. (2006: 72) auf Basis ihrer Befragung kommunalpolitischer Expert*innen darauf, dass die seit den 1990er Jahren feststellbare „Renaissance der Straßenbahn“ nicht nur in Frankfurt, sondern auch bundesweit vor allem als Resultat knapper städtischer Kassenlagen betrachtet werden müsse. Anhand des Frankfurter Beispiels wird dabei in besonderem Maße deutlich, dass diese veränderte finanzpolitische Rahmensetzung als Element grundsätzlich neuer Vorzeichen städtischen Regierens betrachtet werden muss, deren Auswirkungen neben anderen Bereichen auch in der Verkehrspolitik spürbar waren. Prominent zeigt sich dies beispielsweise anhand einer Rede von Petra Roth (CDU), die 1995 als erste Frankfurter Oberbürgermeisterin noch unter der rot-grünen Magistratsmehrheit direkt gewählt wurde und das neue Grundgerüst kommunaler Verkehrspolitik in einem Resümee der ersten zwei Jahre ihrer Amtszeit in den Vordergrund stellte:61 Dabei betonte sie einerseits ausdrücklich, dass sich die städtische Verkehrspolitik mittlerweile dahingehend entwickelt habe, Entscheidungen pragmatisch und nicht mehr „von ideologischen Gesichtspunkten bestimmt“ zu treffen (Roth 1997: 486). Als Grundlage für diese Feststellung verweist sie dabei auf den Sachverhalt, dass politische Diskussionen über neue Strecken nun nicht mehr automatisch im Ausbau des U-Bahn-Netzes resultierten (bzw. dies kategorisch abgelehnt wurde). Stattdessen würden sämtliche Projekte systemübergreifend eruiert und Entscheidungen zum Infrastrukturausbau nun gänzlich auf Basis von systemunabhängig angelegten Vorplanungen getroffen. Zurückführen lässt sich dieser grundsätzliche Wandel bei der städtischen Verkehrspolitik und anderen politischen Ressorts nach Roth weniger darauf, besonders vernünftige Entscheidungen treffen zu wollen, sondern vor allem auf die schlechte finanzielle Lage städtischer Kassen. Ähnlich vieler anderer kommunalpolitischer Entscheidungen wurden damit auch im Rahmen der Systemdiskussionen des Nahverkehrsausbaus vor allem Finanzierungsfragen zum ausschlaggebenden Aspekt (ebd.: 484ff.). Einmal mehr wird damit deutlich, dass sich die Straßenbahnrenaissance in Frankfurt vor allem auf die verschlechterte Finanzlage der Stadt zurückführen lässt. In diesen Zusammenhang kann zudem auch die Tatsache gerückt werden, dass seit 1992 im Zuge städtischer Konsolidierungsmaßnahmen ein umfangreicher 61 Nach einer Verfassungsreform wurde Petra Roth als erste Frankfurter Oberbürgermeisterin direkt gewählt, und durfte in ihrer Funktion nun auch Meinungen vertreten, die nicht in Einklang mit der Argumentation des Magistrats standen (Roth 1997: 481). Relevant ist dies für die Einordnung von Roths Aussagen, insbesondere hinsichtlich der Argumentationen ihrer noch nicht direkt gewählten Vorgänger, deren Äußerungen demnach stets auch die Meinung des jeweiligen Magistrats widerspiegelten. 143
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4 Städtischer öffentlicher Nahverkehr
Stellenabbau vorangetrieben wurde, der unter anderem auch den Nahverkehrsbereich betraf (ebd.: 485) – mit den entsprechend erwartbaren personellen Engpässen bei der Planung des öffentlichen Verkehrsnetzes. Sowohl die absolute Priorisierung von Finanzierungsaspekten als auch die darauf zurückzuführende Wiederentdeckung der Straßenbahn können derweil als ein Referenzrahmen betrachtet werden, der die Frankfurter Verkehrspolitik bis heute entscheidend prägt. So verweist auch ein 2003 erschienener Bericht des Stadtplanungsamtes hinsichtlich eines weiteren Ausbaus der städtischen Schieneninfrastruktur explizit auf „verkehrspolitische Vorgaben“, wonach „die vergleichsweise kostengünstige Straßenbahn bei geeigneten Rahmenbedingungen beizubehalten und auch neue Straßenbahnstrecken einzurichten“ seien (Stadt Frankfurt am Main, Stadtplanungsamt 2003: 66). Dass die Straßenbahn über finanzielle Aspekte hinaus gerade hinsichtlich ihrer feingliedrigen Erschließungswirkung den Schnellbahnen überlegen ist, spielt dagegen auch in dieser Argumentation keine Rolle. Selbst die in den 2000er Jahren besonders intensiv geführte Diskussion um eine Liberalisierung des städtischen öffentlichen Nahverkehrs kann letztendlich auf diese (für Frankfurt durch Roth versinnbildlichte) diskursive Verschiebung städtischer Verkehrspolitik zurückgeführt werden. Denn auch die Liberalisierungsdiskussion drehte sich im Kern immer um Fragen der Finanzierbarkeit – angefangen bei Beförderungstarifen über Modernisierungsmaßnahmen und regionale Kooperationen bis hin zur Marktöffnung des lokalen Busnetzes62 und diversen Aushandlungsprozessen um lokale Erschließungsqualitäten (Schietinger 2013: 86ff.). Zuletzt lassen sich auch weitere Ergebnisse von Deffner et al. (2006: 73) trefflich mit oben genannten Aspekten in Beziehung setzen. So attestieren die von ihnen befragten Expert*innen der derzeitigen Frankfurter Verkehrspolitik nicht nur eine besondere Wirtschaftsnähe. Zudem werden deren Planungen als „bruchstückhaft“ bezeichnet, weswegen „keine klare Linie bzgl. verkehrspolitischer Entscheidungen“ erkennbar sei und es an „Mut zu Neuerung und Innovation“ fehle. Es scheint also genau diese vermeintliche Ideologiefreiheit zu sein, die laut Roth die jüngere Frankfurter Verkehrspolitik in besonderem Maße auszeichnet, welche dazu führt, dass Entscheidungen nun vor allem anhand von finanziellen Aspekten, Pragmatismus und beschränkten Verwaltungskapazitäten getroffen werden.
62 Auch die Marktöffnung des kommunalen Busnetzes findet ihre Grundlage in der Umwandlung der kommunalen Stadtwerke in eine GmbH Mitte der 1990er Jahre, setzte sich dann fort mit der Einführung des Besteller-Ersteller-Prinzips durch die Gründung der traffiQ als lokale Nahverkehrsgesellschaft 2001 und wurde 2004 mit der ersten Ausschreibung des städtischen Busverkehrs vollendet (Schietinger 2013: 86ff.; vgl. auch Flucke 2003: 110ff.).
4.7 Zwischenfazit
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4.7 Zwischenfazit 4.7 Zwischenfazit
Welche Schlüsse lassen sich bisher im Hinblick auf die darauf aufbauende ausführliche Analyse der jüngeren und gegenwärtigen städtischen Verkehrspolitik aus der Arbeit ziehen? Deutlich wurde erstens, dass sich hinsichtlich der Historie des öffentlichen Nahverkehrs zwei grobe Phasen unterscheiden lassen, die beide im Kontext eines allgemeinen Beschleunigungsprozesses der Raumüberwindung durch Verkehrstechnologien betrachtet werden müssen: Eine frühe, ‚präautomobile‘ Phase, in welcher der öffentliche Verkehr verstaatlicht und zum System ausgebaut wurde und in welcher dieser für den allergrößten Teil der Bevölkerung die einzige Möglichkeit zur motorisierten Raumüberwindung darstellte. Sowie eine spätere ‚automobile‘ Phase, in der sowohl im individuellen Gebrauch als auch im Rahmen politischer Förderung das Automobil den öffentlichen Nahverkehr als Hauptbeschleunigungsinstrument ersetzt hat, weswegen eine strukturelle Betrachtung des öffentlichen Nahverkehrs hier immer nur in engem Zusammenhang mit dem Automobil sinnvoll ist. Zweitens wurde herausgearbeitet, dass bereits der öffentliche Nahverkehr der früheren Phase stets eng an politische Zwecke geknüpft war, die kaum einer Sozialpolitik im Sinne einer allgemeinen Befähigung zur schnelleren Raumüberwindung zugeschrieben werden können. Dezidierter Hauptzweck der umfangreichen politischen Förderung des öffentlichen Nahverkehrs dieser Zeit war vielmehr die Überwindung städtischer Wachstumsschranken, weswegen sich entsprechende Maßnahmen relativ einseitig auf den produktiven, für die örtliche Wirtschaft bedeutsamen Teil des Verkehrs konzentrierten: Wege zwischen Wohn- und solchen Arbeitsorten, die für die städtische Wirtschaftsentwicklung als bedeutend angesehen wurden. Schon der frühe öffentliche Nahverkehr war damit ein wichtiges Instrument stadtpolitischer Raumproduktion. Denn auf diese Weise konnte ein Raum produziert werden, mit dem grundlegende Voraussetzungen für ein weiteres Wachstum der örtlichen Wirtschaft geschaffen wurden, nämlich ein möglichst großes Arbeitskräftereservoir und ausreichend Freiflächen zur weiteren Expansion. Dabei ist es insbesondere auch den Fähigkeiten des Verkehrssystems Straßenbahn zuzuschreiben, dass zu dieser Zeit in Frankfurt und andernorts erstmals von einer Citybildung gesprochen werden konnte. Nur weil mittels öffentlichen Nahverkehrs der städtische Raum weiträumig ausgedehnt werden konnte wurde eine räumliche Trennung zwischen Wohnen, Arbeit und Konsum überhaupt praktisch umsetzbar. Bereits diese Art der städtischen Raumproduktion muss zudem als strategisch betrachtet werden, weil sie in ihrer konkreten Ausführung, also ihrer Netzstruktur, explizit ähnlichen wirtschaftlichen Interessen angrenzender Kommunen zuwiderlief und zuwiderlaufen sollte. Eine weitreichende Diskrepanz zwischen staatlicher 145
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4 Städtischer öffentlicher Nahverkehr
Produktion und individueller Aneignung des Raumes kann für diesen Zeitraum allerdings noch nicht attestiert werden – schlichtweg weil den Individuen keine Möglichkeiten gegeben waren, die eigene Raumaneignung über den festen Rahmen des öffentlichen Angebots hinaus mittels Motorisierung nach Belieben individuell zu beschleunigen. Drittens darf die politische Wiederentdeckung des öffentlichen Nahverkehrs ab den 1960er Jahren nur im unmittelbaren Zusammenhang mit den partiell gescheiterten Versprechen automobiler Verkehrssysteme nach Geschwindigkeit, zeitlicher und räumlicher Autonomie gesehen werden, die im Verkehrsstau und fehlenden Parkraumkapazitäten ihren Ausdruck finden. Denn auf einer strukturellen Ebene ist das Automobil aus politischer Perspektive ein wesentlich nützlicheres Beschleunigungsmittel als der öffentliche Nahverkehr: Nicht nur kann es dem politökonomischen Ziel einer möglichst umfangreichen Mobilisierung einzelner Personen wesentlich besser entsprechen. Gleichzeitig entbindet dessen über Privateigentum geregelte Organisation den Staat vom eigentlichen Fahrbetrieb, öffnet die Türen für eine konsumtive Verwertung durch die Wirtschaft und kann überdies ohne zusätzliche finanzielle Aufwendung des Staates auch für den reproduktiven Verkehr, sprich Freizeitzwecke genutzt werden. Gerade für letzteren wurde folglich erst im Zuge der Massendurchsetzung des Automobils in immer größerem Umfang auf eine Motorunterstützung zurückgegriffen. Die politische Notwendigkeit darüber hinaus auch andere Verkehrssysteme in größerem Umfang zu finanzieren, wird dagegen nur noch dort gesehen, wo die Glaubwürdigkeit automobiler Beschleunigungsversprechen ins Wanken gerät. So wurde ab den 1960er Jahren in Frankfurt und anderen Städten ein nochmals beschleunigtes öffentliches Verkehrssystem als einzige Möglichkeit betrachtet, die sich infolge von Staus und fehlender städtischer Parkplätze erneut abzeichnenden Wachstumsgrenzen der Stadt abermals zu überwinden. Der Schnellbahnbau darf also weder als Rückzugsgefecht des öffentlichen Nahverkehrs gegenüber dem immer mehr Platz beanspruchenden Automobilverkehr gesehen werden noch als technische Modernisierung eines mit dem Automobil in Konkurrenz stehenden Verkehrssystems. Denn eine wirkliche Alternative ist der öffentliche Nahverkehr ausschließlich auf diesen Relationen, wo auf ihn hinsichtlich einer allgemeinen (verkehrsmittelunabhängigen) Beschleunigung und Kapazitätssteigerung nicht verzichtet werden kann. Stattdessen sollte der moderne schienengebundene öffentliche Nahverkehr besser als eine Art kompatibles Druckventil betrachtet werden. Ein Druckventil das punktuelle Konfliktherde automobiler Beschleunigungsversprechen beschwichtigt, aber dennoch aufgrund lediglich räumlich selektiver Beschleunigung auf einer übergreifenden Ebene keine Konkurrenz für das Automobil darstellen kann. Öffentlicher Nahverkehr und Automobil stehen also in einem
4.7 Zwischenfazit
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symbiotischen Verhältnis. Der Ausbau der ‚Alternativen‘ wird schließlich nur auf jene Relationen beschränkt, auf denen diese entsprechend der oben beschriebenen Rationalitäten auch tatsächlich benötigt werden. Jeglicher darüber hinaus gehende Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs ist dagegen zur Erfüllung dieser spezifischen Zwecke nicht notwendig und wird darum nicht mit Nachdruck vorangetrieben. Der öffentliche Nahverkehr kann also schon alleine deswegen keine Alternative zum Automobilverkehr sein, weil damit nie bezweckt wurde, ein zum Automobil konkurrenzfähiges Alternativsystem zu entwickeln. Übertragen werden könnte diese Argumentation vermutlich ebenso gut auch auf zentralörtliche Einkaufsstraßen, bei denen es naheliegend erscheint, dass Fußverkehrszonen in erster Linie zu einer effektiven Konzentration möglichst großer Massen potenziell konsumwilligen Publikums eingerichtet wurden. Denn einerseits ist kein anderes ‚Verkehrsmittel‘ dazu in der Lage, vergleichbar große Menschenmassen auf beengtem Raum zu bewegen. Werden andererseits jedoch die Ränder der innerstädtischen Konsumbereiche erreicht, ist es mit dem absoluten Vorrang des Zufußgehens zumeist schnell vorbei. Ganz ähnlich könnte also auch bei der städtischen Förderung von Rad- und Fußverkehr die Frage in den Raum gestellt werden, ob dies tatsächlich aus intrinsischer Motivation heraus geschieht oder ob nicht vielmehr auch hier lediglich punktuelle und selektive Maßnahmen umgesetzt werden, mit denen im großen Ganzen vor allem das automobile Verkehrssystem weiter funktionsfähig gehalten werden soll. Viertens handelt es sich bei der anhaltenden Konzentration schneller öffentlicher Verkehrsmittel auf die Relation zwischen Zentrum und Peripherie um eine machtpolitische Strategie der Stadt. Dabei mag sich zwar die stadtpolitische Akzentuierung graduell verschieben, etwa auf die Förderung zentralörtlicher Dienstleistungsstandorte oder die kultur- und identitätspolitische Betonung der Stadt als wichtigstes regionales Konsumzentrum. Dahinter steht jedoch stets die Motivation, durch einen mittels öffentlichen Nahverkehrs produzierten Raum bestehende Machtgefälle und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Zentrum und Umland zu zementieren und weiter auszubauen. Dabei wird auch deutlich, dass die Darstellung öffentlicher Verkehrsinfrastrukturen als rein technische, unpolitische Gegebenheiten nicht der Realität entspricht. Vielmehr sind diese ausnahmslos in politische Strategien eingebettet, weswegen sie auch in ihrer konkreten Ausführung maßgeblich an die damit intendierten Zwecke angepasst werden. Allerdings hat die tatsächliche Tragweite dieser Art von strategischer Raumproduktion infolge der Massendurchsetzung des Automobils stark abgenommen. So wurde der städtischen Schnellbahnplanung und -umsetzung in den Städten des Frankfurter Umlands sehr ambivalent begegnet. Zwar wurde erkannt, dass das regionale Schnellbahnnetz insbesondere bei Arbeitskräften und Konsument*innen 147
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4 Städtischer öffentlicher Nahverkehr
die Konkurrenzsituation zu Frankfurt verstärkt. Dennoch wurde die Gefahr eines Verlusts eigener Wirtschaftskraft durch das zusätzliche Nahverkehrsangebot als überschaubar bewertet. Nachvollziehbar erscheint eine solche Bewertung vor allem deswegen, weil gerade innerhalb des Umlands die Nutzung des hegemonialen Verkehrssystems Automobil auch zuvor schon wesentlich stärker ausgeprägt war, örtlichen Kapazitätsengpässen über die Erweiterung der Straßeninfrastruktur ausreichend begegnet werden konnte und folglich auch die möglichst optimale und verkehrsmittelübergreifende Erreichbarkeit der eigenen Stadt nie in Gefahr geriet. Fünftens waren öffentliche Verkehrsinfrastrukturen schon immer ein Gegenstand miteinander konkurrierender Interessen, womit eine oft postulierte Rahmung als Sozialpolitik sowohl im Sinne einer räumlich gleichmäßigen Erschließung als auch hinsichtlich einer umfassenden und allgemeinen Mobilisierung von nicht individual motorisierten Personen grundsätzlich schwer nachvollziehbar erscheint. Mag dies vielleicht für das öffentliche Busverkehrsangebot mit Abstrichen noch zutreffend sein, wird das schienengeführte Nahverkehrsangebot hingegen schon immer von politischen Rationalitäten bestimmt, die mit einer so verstandenen Sozialpolitik nur wenig zu tun haben. Denn einerseits geht es bei einer bewussten Produktion spezifischer Verkehrsräume gerade nicht um die Förderung allgemeiner, gleichmäßig verteilter Voraussetzungen gesellschaftlicher Teilhabe, sondern zuerst um die Durchsetzung der eigenen (städtischen) Interessen, gegebenenfalls auch gegen die Interessen anderer Kommunen. Andererseits zeigt sich anhand bestehender Diskrepanzen zwischen städtischer Raumproduktion durch Schnellbahnsysteme und der alltäglichen Praxis der Raumaneignung, dass der öffentliche Nahverkehr auch bezüglich einer umfassenden und allgemeinen Mobilisierung kaum als sozialpolitisches Instrument verstanden werden kann. Das zeigt sich nicht nur dadurch, dass insbesondere die dem reproduktiven Bereich zugeordneten Verkehrsleistungen verstärkt durch das Automobil erbracht werden. Deutlich wird es auch anhand der umfangreichen Proteste der innerstädtischen Wohnbevölkerung gegen eine Stilllegung der alten Straßenbahn mit ihrer vergleichsweise guten Feinerschließung und weniger strikt radialen Linienführung. Somit muss an dieser Stelle verschiedenen Arbeiten, die Neoliberalisierungsprozesse des öffentlichen Nahverkehrs als eine Abkehr von sozialen Zielen zugunsten einer Orientierung an Stauminderung und verbesserter städtischer Lebensqualität auffassen (vgl. Kap. 2.2.3), eine weitgehend falsche Grundannahme attestiert werden. Im Umkehrschluss erscheint aus dieser Perspektive ausgerechnet das Automobil als ein besonders demokratisches Verkehrsmittel, weil die individuelle Raumaneignung hier im Gegensatz zum öffentlichen Nahverkehr in wesentlich größerer Unabhängigkeit vom (zweckbestimmten) festen Rahmen staatlicher Verkehrsangebote stattfinden kann. Beim öffentlichen Nahverkehr hingegen gibt
4.7 Zwischenfazit
149
auch der Verweis auf die bestehenden Diskrepanzen zur alltäglich-individuellen Raumaneignung einen weiteren Anhaltspunkt, dessen immer nur selektiv auf bestimmte Funktionen ausgelegte Infrastrukturen als Instrument strategischer Raumproduktion zu identifizieren. Sechstens können die produzierten Schnellbahnnetze aufgrund ihrer Zuordnung zu einem technokratischen territorialen Planungsparadigma (wie schon zuvor die Straßenbahnnetze) durchaus als Bestandteil eines modernen Infrastrukturideals betrachtet werden. So lassen sie sich einerseits fest innerhalb eines technokratisch-modernistischen Fortschrittsgedankens der Beschleunigung verorten. Andererseits kann deren Umsetzung auch als ein grundlegender Bestandteil territorialer Politik betrachtet werden. Schließlich bestand deren Zweck ja genau darin, eigeninitiativ möglichst den gesamten städtischen und regionalen Raum gleichermaßen durch den öffentlichen Nahverkehr zu erschließen, wenn auch vornehmlich unter der Prämisse des eigenen Stadtzentrums als wichtigstem Dreh- und Angelpunkt. Demnach lässt sich in der territorialen Motivation städtischer Schnellbahninfrastrukturpolitik ein einziger noch haltbarer Verweis auf sozialpolitische Ziele identifizieren, da die/der Einzelne an unterschiedlichen Orten des entsprechenden Territoriums gleichermaßen Zugang zum Schnellbahnnetz erhalten sollte. Siebtens schließlich darf die seit den 1990er Jahren feststellbare Wiederentdeckung der Straßenbahn weder als politische Neuausrichtung auf Bedürfnisse individueller Raumaneignung noch als eine weitreichende Abkehr von Prinzipien einer funktional selektiven Förderung öffentlicher Nahverkehrsinfrastrukturen gewertet werden. Treffender ist es hier, zumindest für Frankfurt, von einem graduellen Aufweichen des technokratisch-modernistisch motivierten Tunnel-Dogmas aufgrund einer nun alles überlagernden Priorisierung finanzieller Aspekte zu sprechen. Zwar wird in diesem Zusammenhang gerne die Überwindung ideologischer Schranken in der Verkehrspolitik verkündet. Faktisch beziehen sich diese Schranken aber ausschließlich auf technologische Unterschiede zwischen der unterirdisch, etwas schneller und mit größerem Haltestellenabstand verkehrenden Schnellbahn und der oberirdisch verlaufenden, geringfügig langsameren Straßenbahn mit etwas kürzerem Haltestellenabstand. Zudem entspricht letztere aufgrund heute gängiger und zur Förderung durch das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz notwendiger Ausführung auf eigenem Gleisbett eher einer Stadtbahn als einer klassischen Straßenbahn. Außerdem wurde beim Neubau dieser Straßenbahninfrastrukturen gerade nicht erneut an die Idee eines feinmaschigen Netzes angeknüpft. Stattdessen ging es auch hier weitestgehend um eine Konzentration auf Relationen zwischen Zentrum und (städtischer) Peripherie inklusive einer Bündelung von Linien im Innenstadtbereich. Eine tatsächliche ideologische Abkehr von der Positionierung schneller öffentlicher Verkehrsmittel als Druckventil des motorisierten Individu149
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alverkehrs zwecks Erhaltung und Vergrößerung bestehender Ungleichgewichte zwischen Zentrum und Peripherie hat damit auch in der jüngeren Vergangenheit faktisch nicht stattgefunden.
Abb. 5 Schienennetz der Stadt Frankfurt am Main, Ausbaustand 2003 (Karte: Elke Alban, IHG)
Heimliche Verkehrspolitik – veränderte Rationalitäten und neue Orte der Investition
5
5 Heimliche Verkehrspolitik
„Die Infrastruktur der Stadt ist im Großen und Ganzen kapitalgefällig. Wenn es um den ÖPNV geht, geht es doch auch immer darum, Massen von Menschen zu ihren Arbeitsplätzen zu transportieren und nicht um Glück, Freiheit oder Freizeit. Wenn es um solche Bedürfnisse geht, wird da schon ausgedünnt.“ (Dittfurth, STVV am 13.12.2012)
Nachdem zunächst nur aus historischer Perspektive ausführlich auf originäre Zwecke öffentlicher Massenverkehrsinfrastrukturen eingegangen wurde, soll dieser Blick nun um jüngere Entwicklungen der Frankfurter Nahverkehrspolitik erweitert werden. Dem eingehenden Zitat der Stadtverordneten Jutta Dittfurth (Partei: ÖkoLinx) zufolge scheinen hier auch in den letzten Jahren keine weitreichenden Veränderungen in Bezug auf die groben Ergebnisse der letzten Kapitel stattgefunden zu haben: Der öffentliche Nahverkehr konzentriert sich vor allem auf diese Bestandteile des Verkehrs, die eher dem produktiven Bereich zuzuordnen sind, während reproduktive Bereiche zumindest für das ÖPNV-Angebot nur eine untergeordnete Rolle spielen. Tatsächlich gestaltet sich die Situation der letzten Jahre bis hinein in die Gegenwart etwas differenzierter. So ist es nicht nur die städtische Verkehrspolitik, die, mit Verweis auf die erneute Förderung von Straßenbahninfrastrukturen, eine neue Ideologiefreiheit postuliert, dabei aber vor allem Finanzierungsproblemen begegnen möchte. Darüber hinaus haben auch verschiedene veränderte Rahmenbedingungen dazu beigetragen, dass die städtische Verkehrspolitik in den letzten Jahren einen Wandel erfahren hat. Zu nennen ist hier zunächst der seit den 1990er Jahren verstärkt feststellbare Einzug neoliberaler Ideologien in den allgemeinen städtischen Politikbetrieb (vgl. Kap. 2.2.3). Im Sinne einer unternehmerischen Stadtpolitik mittlerweile fest im politischen Betrieb verankert kann dies als Hauptgrund für die in den letzten Jahrzehnten zentral gewordene © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Hebsaker, Städtische Verkehrspolitik auf Abwegen, Studien zur Mobilitätsund Verkehrsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31831-4_5
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5 Heimliche Verkehrspolitik
Betonung von Finanzierungsfragen beim Infrastrukturausbau gesehen werden. Allerdings hat sich im gleichen Zeitraum auch das räumliche Gefüge zwischen Stadt und Umland so weitreichend verändert, dass die städtische Verkehrspolitik heute nicht mehr umhinkommt, darauf zu reagieren. Die folgenden Kapitel widmen sich daher insbesondere folgenden Fragen: (1) Inwiefern kann auch heute noch von Kontinuität beim Zweck und der räumlichen Ausprägung städtischer Verkehrspolitik gesprochen werden. Und (2) inwieweit werden darüber hinaus, gerade vor dem Hintergrund unterschiedlichster Veränderungen im sozialräumlichen Gefüge und dem Einzug neuer politischer Rationalitäten, auch die Argumentationen, narrativen Zwecke und räumlichen Folgen städtischer Verkehrspolitik von neuen Aspekten geprägt? Die Argumentationslinie der einzelnen Kapitel ist dabei folgendermaßen aufgebaut: Als Grundlage dient ein kurzer Abriss verschiedener raumstruktureller Veränderungen, die in den letzten Jahrzehnten die Entwicklung der Stadt Frankfurt und ihres Umlandes beeinflusst haben. Darauf aufbauend erfolgt ein Blick auf aktuelle Argumentationsstränge städtischer Politik des öffentlichen Nahverkehrs, der sich größtenteils auf Interviewaussagen stützt, die mit einer Ausnahme allesamt 2017 geführt wurden (vgl. Kap. 3.2). Untergliedert wird dies im Kern durch eine Gegenüberstellung der als offizielles Kernanliegen städtischer Nahverkehrspolitik identifizierten Bedürfnisbefriedigung mit verschiedenen weiteren Aspekten, die die gegenwärtige Praxis städtischer Nahverkehrspolitik entscheidend beeinflussen: Angefangen bei (bereits in den letzten Kapiteln thematisierten) Narrativen von Stauvermeidung und Erreichbarkeitsverbesserung über weitere Einflüsse im Zusammenhang mit neuen städtischen Wachstumsstrategien und über themenspezifische Folgen einer Neuorganisation städtischer Politik nach unternehmerischen Gesichtspunkten bis hin zu ersten konkreten planerischen Reaktionen auf eine zunehmend polyzentrisch orientierte Raumaneignung.
5.1
Kontextänderung – Suburbanisierung und neue Raumaneignung
5.1
Kontextänderung – Suburbanisierung und neue Raumaneignung
Wie schon mehrfach kurz angeklungen, haben die Stadt Frankfurt und ihr Umland parallel zur Entwicklung des Schnellbahnnetzes einen umfassenden Wandel ihres räumlichen Gefüges in sozialen und ökonomischen Bereichen erfahren. Im Kern lässt sich diese Neuordnung räumlicher Beziehungen auf städtischer und regionaler Ebene vor allem mit dem Suburbanisierungsprozess beschreiben. Da sich dieser Prozess auch auf Fragen der Verkehrserschließung auswirkt, ist für ein Verständnis
5.1 Kontextänderung – Suburbanisierung und neue Raumaneignung
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der jüngeren und aktuellen Politik öffentlicher Nahverkehrsinfrastrukturen eine kurze Kontextualisierung unabdingbar.
5.1.1
Veränderte Wohnpräferenzen
Interessanterweise erfolgte die im Laufe der 1950er Jahre einsetzende erste Phase der Wohnsuburbanisierung aus Frankfurt zumeist noch entlang bestehender Schienenverkehrsachsen. Als allerdings die S-Bahn in den 1980er Jahren nach und nach tatsächlich ihren Betrieb aufnahm, begannen sich die Schwerpunkte der regionalen Wohnsuburbanisierung bereits zunehmend in Gemeinden zu verlagern, die nicht durch den Schienenverkehr erschlossen wurden. Denn dort waren nicht nur die Bodenpreise günstiger, auch hatte sich die Automobilverfügbarkeit inzwischen merklich erhöht, sodass für Fahrten ins Zentrum immer seltener auf das öffentliche Verkehrsangebot zurückgegriffen werden musste. Hinzu kommt, dass gerade die hier thematisierten Bevölkerungsgruppen – junge Familien mit den finanziellen Möglichkeiten zum Eigenheimerwerb – in der Regel ohnehin häufiger über ein eigenes Automobil verfügten als der Rest der Bevölkerung (Motzkus 2002: 52ff.; vgl. auch Benzing et al. 2010: 56). Auch in den darauffolgenden Jahrzehnten setzte sich der Bevölkerungsverlust der Stadt Frankfurt bei gleichzeitig stetigem Bevölkerungswachstum im Umland weiter fort (Stadt Frankfurt am Main, Stadtplanungsamt 2003: 20f., 29).63 Dennoch erkannte die Stadt Anfang der 1990er Jahre ein umfangreiches Wohnraumdefizit, das vor allem durch ein anhaltendes Wachstum der Wohnfläche pro Kopf und eine stetige Abnahme der durchschnittlichen Haushaltsgrößen erklärt wurde (Stadt Frankfurt am Main, Amt für kommunale Gesamtentwicklung und Stadtplanung 1995: 20). Insbesondere fehlende Angebote im hochwertigen Wohnsegment wurden in diesem Zusammenhang als wichtige Ursache der Suburbanisierung identifiziert (Langhagen-Rohrbach 2003: 149). Daraufhin wurde im Verlauf der 1990er Jahre eine Vielzahl an Umstrukturierungsflächen und Baugebieten entwickelt, deren Erschließung perspektivisch eine ausreichende Wohnraumversorgung sicherstellen und das Angebot an gehobenem Wohneigentum in der Stadt verbessern sollte (Stadt Frankfurt am Main, Amt für kommunale Gesamtentwicklung und Stadtplanung 1995: 21ff.; Stadt Frankfurt am
63 Mit Ausnahme einiger Wachstumsjahre um 1990, die vor allem durch nationale und globale Umbruchsituationen gekennzeichnet waren, weswegen auch Frankfurt zwischenzeitlich einen verstärkten Zuzug von Migrant*innen, Aussiedler*innen und Personen aus den neuen Bundesländern erfuhr (Stadt Frankfurt am Main, Amt für kommunale Gesamtentwicklung und Stadtplanung 1995: 20). 153
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5 Heimliche Verkehrspolitik
Main, Stadtplanungsamt 2003: 37ff.; s. Abb. 6). So wurde beispielsweise auf dem im Jahr 2000 beschlossenen Neubaugebiet Riedberg – dem ersten vollständig auf der grünen Wiese geplanten Stadtteil der Stadt seit 20 Jahren – überwiegend zweigeschossige Reihen- und Doppelhäuser realisiert, die sich zum Eigentumserwerb eigneten, weil diese „am Markt besonders nachgefragt werden“ (Staab und Büttner 2004: 32f.). Ähnlich formuliert es das damalige Planungsdezernat: „Wir wollten ja die jungen Familien, die alle in den Landkreis Offenbach gezogen sind. […] weil der ist ja nicht so gut erschlossen gewesen mit S-Bahn […]. Und dann haben wir gesagt, diese jungen Familien wollen wir ja als Wirtschaftsbürger hier nach Frankfurt wieder zurückholen“ (Interview Planungsdezernat 2017). Der Begriff „Wirtschaftsbürger“ verweist hier auf den Umstand, wonach höhere Löhne und Einkommen der Stadtbevölkerung nebst damit verbundenem gesteigerten Konsum sich über einen städtischen Anteil an entsprechenden Lohn-, Einkommens- und Umsatzsteuern letztendlich positiv auf die Einnahmen der Stadt auswirken (vgl. z. B. Jungfer 2005: 168ff.). Dementsprechend richteten sich auch andere Bauprojekte der Stadt explizit an eine Kundschaft mit überdurchschnittlich hohem Einkommen (Langhagen-Rohrbach 2003: 149).64 Unterstützt wurde diese Entwicklung des intensivierten Wohnungsneubaus auch durch statistische Erkenntnisse, wonach – etwa zeitgleich mit der Bebauung des Riedbergs – seit Anfang der 2000er Jahre in der Stadt erneut ein kontinuierliches und bis heute anhaltendes intensives Bevölkerungswachstum einsetzte (Stadt Frankfurt am Main 2017a: 17). Hinzu kommt, dass das Hauptsubjekt der Suburbanisierung, die fordistische Kleinfamilie mit alleinverdienendem Vater, mittlerweile an Strahlkraft verloren hat und durch andere, kernstadtaffinere Familienkonstellationen ersetzt wurde. Dementsprechend gewann das Leben in der Stadt wieder mehr an Bedeutung – der
64 Nennenswert sind hierbei einerseits die Umwidmung des ehemaligen Westhafens im Gutleutviertel, das Deutschherrenviertel in Sachsenhausen und die Main-Terrassen nahe der Uni-Klinik, die allesamt unter dem Stichwort „Wohnen am Fluss“ zusammengefasst werden können sowie andererseits das Europaviertel, das auf der Fläche des ehemaligen Hauptgüterbahnhofs errichtet wird (Langhagen-Rohrbach 2003: 149). Darüber hinaus gibt es noch eine Reihe weiterer größerer Wohngebiete, die in den 1990er Jahren ihren Ursprung hatten und in den folgenden Jahrzehnten nach und nach verwirklicht wurden: der Frankfurter Bogen, die Gebiete City West und Rebstock sowie zwei ehemalige Militärareale im Nordosten der Stadt (Stadt Frankfurt am Main, Amt für kommunale Gesamtentwicklung und Stadtplanung 1995: 22ff.; Stadt Frankfurt am Main, Stadtplanungsamt 2003: 40f.).
5.1 Kontextänderung – Suburbanisierung und neue Raumaneignung
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Suburbanisierung ging also „‚das Personal‘ aus“, wie es das Frankfurter Stadtplanungsamt formulierte (Stadt Frankfurt am Main, Stadtplanungsamt 2012: 8).
Abb. 6 Verwirklichte größere Neubaugebiete der Stadt Frankfurt am Main seit den 1990er Jahren (Karte: Elke Alban, IHG; Datenquellen: Stadt Frankfurt am Main, Stadtplanungsamt 2012: 42, 2003: 42f.)
5.1.2 Neue Arbeitsorte Zweitens begann in der Region parallel zur Wohnsuburbanisierung auch eine Suburbanisierung von Wirtschaftsbetrieben einzusetzen, die in den ersten Jahren vor 155
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5 Heimliche Verkehrspolitik
allem von einer Verlagerung industrieller Betriebe geprägt war (May 1968, zit. nach Pfranger 1984: 123f.). Im Dienstleistungssektor konzentrierte sich das Wachstum dagegen zunächst weiter auf die Kernstadt. Allerdings hatte sich das Verhältnis auch hier bis in die 1970er Jahre zugunsten eines Wachstums im Umland gedreht (Guth 2013: 81; Regionale Planungsgemeinschaft Untermain und Umlandverband Frankfurt 1980: 69, 133). 65 Besonders profitierten davon die Gemeinden Eschborn und Sulzbach, da beide frühzeitig eigene Gewerbegebiete für die Dienstleistungsökonomie ausgewiesen hatten, aber auch Schwalbach, Kelsterbach, Dreieich und Neu-Isenburg – also ausschließlich Orte, die in unmittelbarer Nähe zur Kernstadt gelegen sind (Pfranger 1984: 135ff.; Regionale Planungsgemeinschaft Untermain und Umlandverband Frankfurt 1980: 133ff.; Regionalverband FrankfurtRheinMain 2016: 20ff.). Nach wie vor verzeichnete zwar auch Frankfurt infolge eines verstärkten Zuzugs ausländischer Banken nebst entsprechender Dienstleistungen ein anhaltendes Wachstum (Brake 1991: 11; Wolf und Langhagen-Rohrbach 2002: 34). Dennoch befürchtete die Stadt aufgrund der anhaltenden Beschäftigungssuburbanisierung weiterhin, dass die „unter hohen volkswirtschaftlichen Kosten gewachsene Zentralität“ Frankfurts einen anhaltenden „Bedeutungsrückgang“ erfahren könnte (Regionale Planungsgemeinschaft Untermain und Umlandverband Frankfurt 1980: 190). Auch hier lässt sich damit direkt auf die städtische Nahverkehrspolitik ab den 1960er Jahren verweisen, die ja konsequenterweise vor allem durch die Förderung der zentralitätssteigernden Schnellbahnen geprägt war (vgl. Kap. 4.2). Deutlich wird dabei, dass Frankfurt unter anderem durch die Schnellbahn zwar versuchte, einem befürchteten ökonomischen Bedeutungsverlust entgegenzusteuern. Trotzdem hat sich der Prozess seit den 1980er Jahren so weit verfestigt, dass sich nun sogar eigene Wachstumspole des tertiären Sektors in Bad Homburg, Oberursel und in der Nähe des Flughafens (als sogenannte Airport City) herausbilden konnten (Noller und Ronneberger 1995: 58f.; Ronneberger und Keil 1995: 300). Was die Beibehaltung und den weiteren Ausbau bestehender ökonomischer Machtgefälle und Abhängigkeitsverhältnisse mit Hilfe von Schnellbahninfrastrukturen anbelangt, muss diese Strategie damit im Nachhinein als teilweise gescheitert betrachtet werden. Zwar konnte damit die hohe Konzentration an Dienstleistungsunternehmen in der Stadt 65 Dies lässt sich erklären durch einerseits eine „expansive Ansiedlungspolitik“ einzelner Umlandgemeinden, andererseits aber auch durch einen Wandel in der allgemeinen Unternehmensorganisation, die gekennzeichnet war durch eine zunehmende innerbetriebliche Arbeitsteilung, die Nutzung leistungsfähigerer Kommunikationstechnologien und die Ausgliederung sogenannter Backoffices, deren Standortentscheidungen weniger auf Prestigeaspekten, sondern vielmehr auf möglichst günstigen Büromieten basierten (Langhagen-Rohrbach 2003: 65f.).
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beibehalten und eine wichtige Grundlage für die Entwicklung Frankfurts zum globalen Zentrum der Finanzindustrie gelegt werden, der befürchtete Bedeutungsverlust ist also nicht eingetreten (vgl. Kap. 4.2.1). Dennoch identifiziert auch Brake (1991: 33) einen bis 1991 entstandenen „regionalen Ring“ von Bürostandorten, teils „beachtlich groß“, die Frankfurt nun umgeben.66 Dies wiederum nehmen unter anderen Noller und Ronneberger (1995: 58; fast wortgleich in: Ronneberger und Keil 1995: 301; vgl. auch Schamp 2002: 17) zum Anlass, eine Herausbildung neuer räumlicher Strukturen in der Region zu attestieren, die sich nicht mehr „dem industriellen Muster von urbaner Verdichtung und regionaler Diffusion“ zuordnen lassen, welches seinerzeit vor allem durch eine strikt „konzentrische Raumstruktur“ geprägt war. Vielmehr würde die Region immer mehr „von einem zunehmend fragmentierten Beziehungsmuster überlagert“.67 Die Peripherie löst sich damit von der reinen „Projektionsfläche für Expansionsbestrebungen des Zentrums“68 und wird zu einem Ort, in dem wirtschaftliches Wachstum eigenständig und teilweise auch losgelöst von der Entwicklung der Kernstadt Frankfurt stattfindet. Gleichsam existieren heute aber selbst innerhalb Frankfurts heute keine einzelnen, eindeutig definierbaren Wirtschaftszentren mehr, wie traditionell das innerstädtische Bankenviertel und die umgebenden Quartiere. So identifiziert etwa Brake (2006) innerhalb der Stadt drei größere „Pole“ wirtschaftlicher Entwicklung: Das klassische Bankenviertel in der westlichen Innenstadt, den bereits angesprochenen Flughafen und ein Gebiet im Osten Frankfurters entlang der Hanauer Landstraße. Darüber hinaus identifiziert er auch einige weitere Gebiete außerhalb der Kernstadt als wichtige Orte des städtischen Wirtschaftsgeschehens. Selbst für die 66 Faktisch wurden in dieser Zeit auch innerhalb des Frankfurter Stadtgebiets einige periphere Bürostandorte entwickelt, zuerst in Niederrad, später in Heddernheim, Bonames und westlich von Bockenheim (Brake 1991: 36, 70f.). Dies allerdings aus einer anderen Motivation als bei denjenigen Gebieten außerhalb der Stadtgrenze, die als Konkurrenzstandorte zu Frankfurt gedacht waren. So äußerte sich etwa das Stadtplanungsamt zum Gewerbestandort Niederrad dahingehend, dass es hier vor allem darum gehe die Innenstadt etwas zu entlasten, obgleich weiterhin eine „Cityverdichtung“, also eine Ansiedlung sämtlicher Unternehmen in der Innenstadt, als zentrales Planungsziel betrachtet wurde (FAZ 1966). 67 So ist es nicht verwunderlich, dass die Region um Frankfurt auch als Prototyp für den von Sieverts (1998) entwickelten Begriff der Zwischenstadt diente, der für eine „hochverdichtete verstädterte Landschaft steht, die sich vom alten Typ der Stadt-Umland-Region gelöst hat“ (Hesse 2010: 74). 68 Erkennbar neben den Schnellbahnplänen beispielsweise auch anhand verschiedener Versuche der Stadt Frankfurt seit den 1970er Jahren, mittels unterschiedlicher administrativer Neuorganisationsvorhaben größeren Einfluss auf die Umlandkommunen auszuüben (Ronneberger 2012). 157
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5 Heimliche Verkehrspolitik
Stadt Frankfurt und ihre jüngere Entwicklungsstrategie entspricht die Idee eines einzelnen Zentrums heute damit kaum mehr der Realität. Daraus geht auch hervor, dass die von Krämer-Badonii et al. (1971: 318) im Hinblick auf die Region München geäußerte Prognose, wonach aufgrund des Schnellbahnbaus insbesondere das Wirtschaftswachstum im Umland „durch die Abwanderung von Arbeitskräften [nach München] entscheidend behindert [wird]“, nicht nur in München, sondern auch in Frankfurt so heute nicht mehr haltbar ist (vgl. z. B. Growe 2012). Denn sowohl im Münchener als auch in Frankfurter Umland haben sich trotzdem neue Wirtschaftszentren herausbilden können, womit die Peripherie heute nicht mehr auf die Funktion eines Arbeitskräftereservoirs der City reduziert werden kann. Allerdings lässt dabei die Tatsache, dass diese neuen Zentren allesamt auch in unmittelbarer Nähe einer Autobahn entstanden sind, darauf schließen, dass es sich hier weniger um eine Fehleinschätzung der raumstrukturierenden Funktion des Schnellbahnnetzes handelte. Vielmehr wird dessen raumstrukturierende Wirkung durch die dispersen Raumüberwindungsmöglichkeiten des Automobils heute schlichtweg negiert und überlagert – zumindest unter der (statistisch sehr wahrscheinlichen) Voraussetzung, dass ein Automobil zur individuellen Raumaneignung zur Verfügung steht. Im Nachhinein muss damit konstatiert werden, dass die Erreichbarkeitsprobleme von Zentren durch den Schnellbahnbau zwar erfolgreich gemindert werden konnten. Dies aber weniger hinsichtlich einer effektiven Raumstrategie gegen die Wirtschaftsentwicklung des Umlandes, sondern eher im Sinne eines Druckventils, das auch bei wachsendem Automobilverkehr weiterhin die zentralörtliche Erreichbarkeit gewährleisten kann. Denn gleichzeitig hat die nahezu ubiquitär gewährleistete Erreichbarkeit der urbanen Peripherie mittels Automobil maßgeblich zu einer Relativierung bestehender ökonomischer Ungleichgewichte zwischen Städten und ihrem Umland beigetragen.
5.1.3 Entfesselte Raumaneignung Diese aus jahrzehntelangen Suburbanisierungsprozessen resultierenden, neuen räumlichen Gegebenheiten wirken sich zugleich umfassend auf die Ausprägung des individuellen Alltagslebens und des alltäglichen Mobilitätsverhaltens aus. Einerseits verliert die Kernstadt als Arbeitsort gegenüber dem suburbanen Raum immer mehr an Bedeutung. Andererseits stellen auch bei Freizeitwegen die alten Kulturzentren in der Kernstadt neben den nun gegebenenfalls näher gelegenen Angeboten im suburbanen Raum nur noch einen von vielen möglichen Zielorten dar. Folglich bewirken diese neuen sozial-räumlichen Gegebenheiten und die da-
5.1 Kontextänderung – Suburbanisierung und neue Raumaneignung
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mit zusammenhängende Regionalisierung der individuellen Raumaneignung eine merkbare Ablösung der Kernstadt als „Fixpunkt der Alltagsorganisation“ (Hesse 2007: 282). Besonders naheliegend ist eine solche Entwicklung gerade in einer vergleichsweise polyzentrisch strukturierten Region wie Frankfurt/Rhein-Main, wo sich bereits in unmittelbarer Umgebung der Stadt Frankfurt eine ganze Reihe von Mittelzentren mit entsprechenden Freizeitangeboten befinden.69 Entgegen der Annahme von Lanzendorf (2002, 1998; vgl. Kap. 2.1.3) kann damit gerade in dieser spezifischen Gemengelage davon ausgegangen werden, dass das Aufsuchen von Freizeitinfrastrukturen, mit zunehmender Fähigkeit zur flexiblen Raumüberwindung und gleichzeitiger Verlegung des Wohnorts ins städtische Umland, immer häufiger abseits der zentralörtlichen Angebote Frankfurts geschieht. Schließlich sind die Freizeitangebote der Umlandgemeinden aus der Peripherie viel einfacher zu erreichen als diejenigen der Kernstadt. Allerdings kann hinsichtlich der Frage einer veränderten Raumaneignung im Freizeitbereich nicht auf empirische Daten zurückgegriffen werden, weswegen es hier bei der (immer noch theoriegeleiteten) Annahme eines Wachstums tangentialer und nicht auf das Zentrum Frankfurt ausgerichteter Wege belassen werden muss. Wesentlich besser ist die Informationslage dagegen bei den Arbeitswegen, die darum in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach Gegenstand wissenschaftlicher Analysen waren. Hier stellt etwa Motzkus (2002: 109, 132, 157) anhand von Daten der 1990er Jahre fest, dass die entsprechende Entwicklung der Region – stärker als in anderen Metropolregionen – durch eine Zunahme von dispersen und tangentialen Verflechtungen im Pendelverkehr geprägt ist, wenn sich auch nach wie vor das Gros der Pendelwege auf Frankfurt ausrichtet.70 Zwar möchten Läpple und Soyka (2007: 96ff.), anders als Motzkus, ein halbes Jahrzehnt später keine Zunahme an Tangentialverbindungen mehr erkennen, obwohl solche auch in ihrer Analyse identifiziert werden. Stattdessen attestieren sie der Region ein nach wie vor gültiges Zentrensystem mit verschiedenen (auch neu hinzugekommenen) Einzelkernen, in welche je aus einem eigenen, räumlich klar abgrenzbaren Einzugsbereich gependelt wird (ebd.: 51ff.). Daraus schließen sie dann eine „absolute Dominanz radialer Beziehungen auf allen Untersuchungsebenen“ (ebd.: 55). Allerdings bleibt fraglich, ob ihre Aussage eines Fehlens nennenswerter Tangentialverbindungen nicht vor allem daher rührt, dass andere definitorische Prämissen zugrunde gelegt werden, wenn Pendelwege in Umlandkommunen nicht als tangential, sondern als (sub-) 69 So ist nicht nur Offenbach als Oberzentrum ausgewiesen, auch gelten Bad Homburg, Bad Vilbel, Oberursel, Neu-Isenburg und Eschborn allesamt als Mittelzentren. 70 Motzkus (2002: 97) beziffert das Wachstum der tangentialen Pendelwege von 32,6 % im Jahr 1987 auf 38,9 % im Jahr 1997. 159
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5 Heimliche Verkehrspolitik
zentrumsbezogen kategorisiert werden. Dennoch müssen diese Unstimmigkeiten nicht aufgelöst werden, um aus beiden Arbeiten herauszulesen, dass das Entstehen neuer Wachstumskerne der Dienstleistungsökonomie außerhalb Frankfurts die Richtungen der regionalen Pendelverflechtungen verändert hat.
Abb. 7 Relative Veränderungen der Verflechtungen im Pendelverkehr zwischen 1997 und 2007 (verändert nach Growe 2012: 307)
Eine ähnliche Entwicklung wird zuletzt auch von Growe (2012, 2011: 194ff.) beschrieben, die sich, basierend auf Veränderungen von Beschäftigungszahlen in der Region Frankfurt/Rhein-Main zwischen 1997 und 2007, vertiefend mit daraus resultierenden Veränderungen von Pendelbeziehungen beschäftigt hat. Auch sie stellt fest, dass unter Berücksichtigung aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zwar die Stadt Frankfurt im genannten Zeitraum das höchste prozentuale Wachstum verzeichnete, gleichzeitig aber verschiedene Mittelzentren in direkter Nachbarschaft, sprich Eschborn, Bad Homburg und Kronberg, nur geringfügig niedrigere
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Wachstumszahlen aufweisen (2011: 194). Werden ausschließlich wissensintensive Dienstleistungen betrachtet (also Branchen, die eng mit der Finanzwirtschaft verbunden sind (ebd.: 14)), würden laut Growe zudem die Städte Offenbach und Langen nicht nur in die Riege der Orte mit besonders starkem Wachstum aufsteigen, sondern sogar das Wachstum Frankfurts übertreffen (2012: 308, 2011: 196). Diese Entwicklung bedingt nicht nur einen relativen ökonomischen Bedeutungsverlust Frankfurts, sondern spiegelt sich zugleich in veränderten Pendelverflechtungen wider (s. Abb. 7). Ein intensives Wachstum von Pendelwegen in die unmittelbaren Nachbarstädte Frankfurts geht also einher mit einem graduell fortschreitenden Bedeutungsverlust des Frankfurter Arbeitsmarktes als alles überlagerndem Sog an Arbeitskräften und resultiert in einer zunehmenden Netzwerkestruktur regionaler Pendelwege. Auch auf den Zusammenhang zwischen Pendelwegen und öffentlichem Nahverkehr bezogen resümieren darum Benzing et al.: „Die Schwäche des [ÖPNV-] Systems ist aber seine Starrheit. […] S-Bahn-Fahrgäste müssen durch Frankfurt wie durch eine Turbine – immer auf der hoch ausgelasteten Stammstrecke zwischen Hauptbahnhof und Ostendstraße. Auch wenn man zum Beispiel von Bad Vilbel zum Offenbacher Kaiserlei möchte. Attraktive Tangentialverbindungen, die die heutigen Wegebeziehungen widerspiegeln, existieren bislang kaum. Eine entsprechende Stadtbahnlinie scheint bis auf Weiteres unfinanzierbar“ (Benzing et al. 2010: 57).
Auch der Stadt Frankfurt selbst ist seit längerem bewusst, dass sich infolge der Suburbanisierung eine „regionale Arbeitsteilung ab[zeichnet], die sich nicht mehr in einem hierarchischen, raumordnerischen Siedlungsmuster wie dem der ‚zentralen Orte‘ abbilden lässt“ (Stadt Frankfurt am Main, Stadtplanungsamt 2003: 23). Etwas konkreter formulierte es der damalige Planungsdezernent Schwarz: „Die Verkehrsnetze in der Stadt, aber auch im Umland, sind infolge der hohen Berufseinpendlerquote überlastet. Gleichzeitig verschiebt sich aber der Modalsplitt [sic] zuungunsten des öffentlichen Nahverkehrs in der Weise, dass in den mit U- und S-Bahn am besten erschlossenen Bereichen der Innenstadt der Rückgang an Arbeitsplätzen hoch ist, in der fast nur im Individualverkehr und mit Parkplätzen gut erschlossenen Peripherie dagegen der Zugewinn am größten ist“ (Schwarz 2003: 16).
Folglich steht die Infrastrukturpolitik der Stadt Frankfurt beim öffentlichen Nahverkehr heute vor einem Dilemma. Einerseits wurde mittels Schnellbahnnetz ein Verkehrsraum produziert, der, im Einklang mit dem damaligen Zeitgeist, ausschließlich dem industriellen Muster einer konzentrischen Raumstruktur entsprach. Ein Verkehrsraum, der es gleichzeitig vermochte, für Frankfurt sowohl ein besonders 161
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5 Heimliche Verkehrspolitik
großes Arbeitskräftereservoir als auch eine regional einzigartige Erreichbarkeit der innerstädtischen Konsumbereiche zu garantieren. Bereits bestehende regionale Machtgefälle und ökonomische Abhängigkeiten konnten auf diese Weise zumindest weiter zementiert werden. Andererseits hat sich unabhängig davon eine räumliche Neuordnung städtischer und regionaler Beziehungen vollzogen, die sich durch eine automobilbasierte sukzessive Emanzipation individueller Raumaneignung von den starren und vordeterminierten konzentrischen Relationen der öffentlichen Verkehrsinfrastrukturen charakterisieren lässt. Während sich dies zu Beginn noch vor allem auf die weniger greifbaren Freizeit- und Einkaufswege zu konzentrieren schien, waren später zunehmend auch Arbeitswege von tangentialen Relationen geprägt, die mit dem öffentlichen Verkehr nur noch unter Inkaufnahme umfangreicher zeitlicher Eingeständnisse bewältigt werden konnten. Dabei entzogen die automobil zurückgelegten Freizeit- und Einkaufswege den innerstädtischen Konsumangeboten zwar Kaufkraft, was sich auch als zentraler Ansatzpunkt der Wallmann’schen Kulturpolitik erkennen lässt. Darüber hinaus hatten die zunehmend dispersen Freizeit- und Einkaufswege aber keine beeinträchtigende Wirkung auf die Erreichbarkeit der Innenstadt und konnten von der Stadtpolitik darum noch als vernachlässigbare Größe betrachtet werden. Anders verhält sich dies bei den Berufswegen. Diese treten auch in der Peripherie zeitlich gebündelt auf und haben damit negative Begleiterscheinungen auf die Erreichbarkeit der Innenstadt. Darüber hinaus besteht hier die Gefahr, dass Personen, die ihren tangentialen Berufsweg mit dem öffentlichen Verkehr bestreiten, unverhältnismäßig viel Zeit investieren müssen und aufgrund der notwendigen Umwege durch das Zentrum die bestehenden konzentrischen Strecken zusätzlich belasten.
5.1.4 Rahmensetzung Festgehalten werden muss somit für die nun folgenden Kapitel, dass einerseits die konzentrischen Schnellbahnpläne der 1960er Jahre über die folgenden Jahrzehnte hinweg eine erstaunliche Kontinuität erfahren haben, indem zwar Änderungen der technologischen Ausführung vorgenommen wurden, gleichzeitig aber deren Grundidee bis hinein in die jüngere Vergangenheit Bestand hatte. Aus machtpolitischen Gesichtspunkten war die damit erfolgte Raumproduktion zumindest in Teilen erfolgreich, denn die so intendierte Erreichbarkeitsverbesserung der Stadt kann auch heute noch als wichtige Grundlage für die herausragende ökonomische Position der Stadt identifiziert werden. Dennoch verweisen teils gegenläufige Wanderungsbewegungen der Ökonomie darauf, dass es der Stadt trotzdem nicht
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gelang, das Umland dauerhaft als reines Arbeitskräftereservoir der innerstädtischen Ökonomie zu arrangieren. Letztendlich war die Stadt also auch mit dem Schnellbahnnetz nur sehr bedingt in der Lage, die Dynamik ökonomischer Entwicklung aktiv zu beeinflussen und zu steuern. Deutlich wird zudem, dass die bereits zuvor identifizierte Diskrepanz zwischen städtischem Nahverkehrsnetz und alltäglich-individueller Raumaneignung sich im Zuge der Wohnsuburbanisierung nicht nur weiter verstärkt hat, sondern darüber hinaus zunehmend auch die produktiven Bereiche des Verkehrs betrifft. Dies führt schließlich zu der – innerhalb dieser Arbeit bisher noch weitgehend unbeantworteten, wenngleich äußerst wichtigen – Frage, welchen Stellenwert denn überhaupt Aspekte einer allgemeinen Befriedigung von Mobilitätsbedürfnissen im Rahmen der stadtpolitischen Debatten zum öffentlichen Nahverkehr einnehmen?
5.2
Kernanliegen Bedürfnisbefriedigung
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Kernanliegen Bedürfnisbefriedigung
Ganz allgemein lässt sich hinsichtlich der jüngeren und aktuellen Verkehrspolitik in Frankfurt festhalten, dass ein weiterer Ausbau öffentlicher Nahverkehrsinfrastrukturen grundsätzlich befürwortet wird. So gäbe es auch gegenwärtig laut verschiedenen Interviewaussagen „bei diesen großen ÖPNV-Projekten an sich keine ideologischen Kämpfe in der Stadtpolitik“ mehr (Interview Verkehrsdezernat I 2017). Bei allen Beteiligten besteht vielmehr Einigkeit darüber, dass ÖPNV in der Stadt „völlig unverzichtbar“ sei (Interview Verkehrspolitik [FDP] 2017), zumindest solange sich die Debatte über ein neues ÖPNV-Infrastrukturprojekt „im Theoretischen bewegt“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). Unstimmigkeiten entstünden dagegen häufig erst dann, wenn „die Planung in die Tiefe geht“, also etwa hinsichtlich Finanzierungsfragen oder der Gefahr möglicher Proteste aus der Stadtgesellschaft (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). Unterstreichen lässt sich diese Auffassung auch dadurch, dass es kaum parteipolitische Argumente, sondern vielmehr „Sachargumente“ seien, die im Rahmen der Diskussionen zum Tragen kämen (Interview RMV 2017). „Es geht darum, die Verkehrsbedürfnisse zu befriedigen“ (Interview Verkehrspolitik [Die Linke] 2017).
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Interessanterweise besteht unter den meisten Akteuren städtischer Verkehrspolitik Einigkeit darüber, dass dabei eine Befriedigung individueller Mobilitätsbedürfnisse71 „natürlich“ relevant sei (Interview Planungsdezernat 2017) und „natürlich im Zentrum“ verkehrspolitischer Bestrebungen der Stadt stehe (Interview Verkehrspolitik [SPD] 2017). Denn schließlich garantiere der öffentliche Nahverkehr ja gerade Menschen ohne eigenes Auto „ein Stück Freiheit, zum Arzt, oder zum Einkaufen, oder dahin zu kommen, wo sie wollen“ (Interview Verkehrspolitik [FDP] 2017). Folglich nehmen Narrative, die die städtische Nahverkehrspolitik im Zusammenhang mit einem modernen Infrastrukturideal (beziehungsweise der Daseinsvorsorgefunktion) positionieren, laut denen der öffentliche Nahverkehr also grundsätzlich zu einer allgemeinen Befähigung zur motorisierten Raumaneignung beiträgt, hier einen zentralen Stellenwert ein. Auch ÖPNV-Infrastrukturen werden damit in der Erzählung grundlegend dem Ziel zugeordnet, mittels umfassender und flächendeckender Bereitstellung zu einer allgemeinen sozial-räumlichen Integration der/des Einzelnen, also einer allgemeinen Befähigung zur Verkehrsteilnahme beizutragen. Demnach ist es nur folgerichtig, dass der Einfluss sich wandelnder politischer Großwetterlagen auf die Verkehrspolitik durch den Verweis auf das Gewicht pragmatischer Sachargumente in der Eigenwahrnehmung als relativ gering angesehen wird. Weitgehend verneint wurde in den Interviews darum auch die Frage, inwieweit eine Ausrichtung der politischen Praxis an den Anforderungen eines interkommunalen Standortwettbewerbs für die Entscheidungspraxis kommunaler Verkehrspolitik von Bedeutung ist – wohingegen in anderen Sachgebieten der Frankfurter Stadtpolitik durchaus gegenteiliges befunden wurde (z. B. Keil und Ronneberger 2000; Mattissek 2008; Schipper 2013, 2012). So bezeichnet beispielsweise der gegenwärtige Verkehrsdezernent entsprechende Argumentationen als Bestandteil von „Festreden“, die vor allem „im übertragenen Sinne [.], dass man die Infrastruktur der Stadt stärkt“, verwendet würden, aber hinsichtlich konkreter Projekte „keine Rolle“ spielten (Interview Verkehrsdezernat II 2017). Auch sein Vorgänger verknüpft das politische Ziel eines attraktiven öffentlichen Nahverkehrs grundlegend mit einer guten Wettbewerbsposition der Gesamtstadt, indem er festhält: „ein alltagstauglicher, leistungsfähiger ÖPNV ist für eine Stadt mit so einer hohen Bedeutung des Dienstleistungssektors eine Selbstverständlichkeit“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017). Gleichzeitig hebt aber auch er hervor, dass dies bei Debatten über neue Infrastrukturprojekte eigentlich
71 Obgleich es sich bei den damit verfolgten stadtpolitischen Strategien fast ausschließlich um infrastrukturelle Anpassungen handelt, sie also das Verkehrsgeschehen beeinflussen, wird hier im Weiteren dennoch vereinheitlichend von Mobilitätsbedürfnissen gesprochen, weil der Ausgangspunkt dieser Bedürfnisse dem tatsächlichen Verkehrsgeschehen vorgelagert ist (vgl. Fußnote 2).
5.2 Kernanliegen Bedürfnisbefriedigung
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nur „ein Argument unter mehreren“ sei, welches allenfalls bei der Entwicklung des Gewerbegebietes Gateway Gardens eine größere Rolle gespielt habe, da dieses Gebiet „gezielt dazu dienen sollte, internationale Unternehmen […] dort anzusiedeln“ (ebd.). Zuletzt unterstützen auch externe Beobachter diese Aussagen, wonach den Argumentationen einer unternehmerischen Stadtpolitik innerhalb der städtischen Verkehrspolitik ein wenig bedeutender Stellenwert eingeräumt wird. So wird auch hier betont, dass ein attraktiver öffentlicher Nahverkehr zwar „in der Theorie ja eine quasi Notwendigkeit [ist], wenn ich im globalen Wettbewerb überleben will“, die konkrete Praxis der Verkehrspolitik dagegen aber vor allem durch Reaktionen auf bestehende Nachfrage gekennzeichnet sei (Interview Extern I 2017). Als maßgebliche Einflussgröße für das Entscheidungsverhalten kommunaler Verkehrspolitik wird also auch hier die durch Verkehrsmengen messbare Auswirkung individuellen Mobilitätsverhaltens benannt.
5.2.1 Wissenslücken Obgleich eine eng an alltäglich-individueller Raumaneignung orientierte kommunale Verkehrspolitik beim Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs unterstützenswert und sinnvoll erscheint, steht diese doch vor einem großen Problem. Denn auf effektive Instrumentarien, mit denen sich Nachfragepotenziale adäquat feststellen ließen, kann faktisch nicht zugegriffen werden. Zwar wird das Nutzungsverhalten bei bestehenden Verkehrssystemen und ‑angeboten heute umfassend analysiert und ausgewertet. Hinsichtlich darüberhinausgehender Potenziale und Bedarfe stehen jedoch lediglich Markteinschätzungen zur Verfügung, „aber die sind eben nicht wie wir das eigentlich bräuchten, also Quell-Ziel-bezogen und Fahrzweckbezogen“ (Interview RMV 2017).72
72 Auch wenn diese Erkenntnis bisher nur selten in Diskussionen um den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs einfließt, handelt es sich hierbei auch in der Wissenschaft um keinen unbekannten Sachverhalt. So hat etwa Blümel (2004: 25f.) der gegenwärtigen Verkehrsplanung die Unfähigkeit attestiert, tatsächliche Mobilitätswünsche von Individuen auch nur annähernd zu erfassen. Zudem verweist er darauf, dass selbst die hierfür gängigerweise verwendeten Modelle nur begrenzt aussagekräftig sind, weil diese hauptsächlich auf Erhebungen zum Berufs- und Ausbildungsverkehr zurückgreifen und selbst hier nur ungenaue Datengrundlagen vorhanden sind. Für sämtliche anderen Personenwege seien empirische Grundlagen dagegen gar nicht in nennenswertem Umfang vorhanden, womit ein großer Teil der tatsächlich zurückgelegten Wege in diesen Modellen kaum Beachtung findet. 165
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5 Heimliche Verkehrspolitik
Zwingend notwendig für eine adäquate Befriedigung individueller Mobilitätsbedürfnisse automobil geprägter Gesellschaften durch den öffentlichen Nahverkehr wäre dieses Wissen schon alleine deswegen, weil der öffentliche Nahverkehr im Zuge der Massendurchsetzung des Automobils sein Monopol zur Raumproduktion und damit auch die alleinige Hoheitsmacht über die Aneignung des Raumes mittlerweile verloren hat.73 Denn während individuelle Wegerelationen noch relativ verlässlich abgeschätzt werden konnten, als die Instrumentarien regionaler Raumproduktion noch (weitgehend) in staatlicher Hand waren, kann dieses Wissen im heutigen Kontext einer automobilbedingten räumlichen Differenzierung individueller Alltagsräume nur noch durch umfassende, zeit- und kostspielige empirische Erhebungen erworben werden.74 „Jedes Angebot was ich zumindest im Regionalverkehr entwickle, vielleicht gilt das nicht für jeden Quartiersbus, führt zu einer deutlich größeren Nachfrage als jeglicher Verkehrsplaner plant“ (Interview Extern I 2017; ähnlich Interview RMV 2017). Hinzu kommt, dass gängige Methoden zur Nachfrageprognose „immer zur Hälfte auch falsch“ sind (Interview RMV 2017) und darüber hinaus anscheinend häufig zu pessimistische Ergebnisse erzielen. So wurde im Rahmen der Interviews nicht nur hinsichtlich des Frankfurter Umlands darüber berichtet, dass bei den meisten neu eingerichteten Verbindungen die erwarteten Prognosen deutlich übertroffen werden. Daneben ist auch bei einem der zuletzt verwirklichten Frankfurter Straßenbahnprojekten, der Linie 18, die Fahrgastnachfrage heute „deutlich höher als prognostiziert“ (Interview VGF 2017).
73 Dieser Prozess kann zugleich als ein Übergang des Verkehrssystems von der ersten zur zweiten Moderne betrachtet werden, womit ebenfalls auf die Massenmotorisierung und die damit verbundene Emanzipation individueller Raumaneignung von raumstrukturellen Gegebenheiten Bezug genommen wird (vgl. Projektgruppe Mobilität 1999: 12ff.). 74 Es ist allerdings gut möglich, dass sich dies infolge einer weiteren Durchsetzung von Tracking-Technologien und entsprechenden Auswertungswerkzeugen zeitnah ändern wird. Als erste Schritte in diese Richtung lassen sich beispielsweise verschiedene Projekte benennen, die versuchen, mittels anonymisierter Mobilfunkdaten realitätsnahe Quell-Ziel-Matrizen zu erstellen (vgl. z. B. Schubert 2017; Verbundprojekt Protrain 2017).
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5.2.2 Heimliche Verkehrspolitik „Da wird der Riedberg [ein Neubaugebiet] gebaut, mit 6.000 Wohnungen, das sind dann halt 15.000 Einwohner und den müssen sie erschließen. Die konkrete Motivation für ein ÖPNVProjekt […] ist es immer, die konkreten Verkehrsverhältnisse im Stadtteil zu verbessern und das Verkehrsbedürfnis der Einwohner und Beschäftigten zu befriedigen.“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017)
Angesichts der beschriebenen Informationsdefizite im Hinblick auf tatsächliche Mobilitätsbedürfnisse ist die Verkehrspolitik oftmals auf weitere Informationsquellen zur Bestimmung von konkreten Mobilitätsbedürfnissen angewiesen. In Einzelfällen werden dabei neue Angebote auch aufgrund von Anregungen aus der Zivilgesellschaft geschaffen, wie beispielsweise ein Schnellbus, der die Stadt Darmstadt auf heute direktem Weg mit dem Frankfurter Flughafen verbindet. Tatsächlich ist dieses neue Angebot auch sehr erfolgreich, es wird „enorm angenommen“ (Interview RMV 2017). Dennoch hatte die Verkehrspolitik selbst (in diesem Fall der der RMV) auf dieser Relation bis dahin keine potenziell tragbare Anzahl an entsprechenden Mobilitätsbedürfnissen bzw. Transportwünschen erkannt. Sinnvoll ist es an dieser Stelle, noch einmal Blümels (2004: 9ff.) Kritik aufzugreifen, wonach eine primäre Orientierung des Angebots im öffentlichen Nahverkehr an den tatsächlichen individuellen Mobilitätsbedürfnissen als große Ausnahme betrachtet werden muss (vgl. Fußnote 18). So richtig diese Aussage auch erscheint, birgt doch der zweite Teil seines Arguments, wonach die Entscheidung über Art und Umfang des Angebots stattdessen vor allem von politischen Entscheidungsträgern getroffen würde, eine folgenschwere Unschärfe. Denn einerseits wurde ja anhand der Frankfurter Verkehrspolitik nachgezeichnet, dass dort argumentativ durchaus eine Befriedigung individueller Mobilitätsbedürfnisse im Zentrum des politischen Handelns stehen würde. Andererseits kann die politische Unwissenheit darüber, wie sich diese Mobilitätsbedürfnisse tatsächlich im Raum ausprägen, als Grundlage dafür gesehen werden, was Schwedes (2016: 5f.) als „heimliche Verkehrs politik“ beschreibt. Diese wird laut Schwedes von Akteuren betrieben, die selbst im politischen Betrieb verortet sind und im Gegensatz zur „offiziellen Verkehrspolitik“ zunächst keine Verkehrspolitik im engeren Sinne betreiben. Weil aber ihre extrinsischen, aus einem externen Kontext heraus getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen auch die Verkehrspolitik betreffen, haben sie dennoch einen prägenden Einfluss auf deren konkrete Ausgestaltung. Obgleich in der Umsetzung der jeweiligen Maßnahmen die offizielle Verkehrspolitik selbst die gewichtigste Rolle einnimmt, bleibt sie doch stets ein nachgeordneter Akteur, beziehungsweise 167
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eine „abhängige Variable“ (ebd.: 6), da es in erster Linie darum geht, die von den externen Akteuren anvisierten, extrinsischen Ziele zu erreichen. Als Bereiche, die in besonderem Umfang als Initiatoren einer heimlichen Verkehrspolitik auftreten, benennt Schwedes einerseits die Forschungs- und Technologiepolitik, die jedoch vor allem auf der Landes- und Nationalstaatsebene angesiedelt ist. Andererseits aber auch die Raum- und Siedlungspolitik, die Arbeits- und Unternehmenspolitik, die Finanzpolitik und die Sozialpolitik, sprich Bereiche, die durchaus im Rahmen stadtpolitischer Debatten verhandelt werden. Interessanterweise wirft gerade der Fokus auf Akteure einer heimlichen Verkehrspolitik auch ein anderes Licht auf Fragen nach dem Einfluss einer unternehmerischen Stadtpolitik. So mögen zwar Argumentationen über interkommunalen Wettbewerb um Kapital, wohlhabende Bevölkerungsgruppen und Arbeitsplätze innerhalb der an Sachfragen orientierten verkehrspolitischen Debatte als nicht relevant betrachtet werden. Die große Frage ist nun allerdings, wie es dabei um Rationalitäten steht, die aus Bereichen der heimlichen Verkehrspolitik auf die verkehrspolitische Debatte wirken. In den Worten eines Interviewpartners, der selbst eine eher kritische Position gegenüber der Frankfurter Verkehrspolitik vertritt, hieße das schlussendlich: „Interessant wäre vielleicht nicht die Frage nach den Zielen [= Befriedigung von Mobilitätsbedürfnissen], sondern nach den Prioritäten, warum diese Prioritäten gesetzt werden“ (Interview Verkehrspolitik [Die Linke] 2017). Aus dem Kontext der vorhergegangenen Argumentation lässt sich daraus folgern, dass erstens herausgearbeitet werden muss, welche Argumente im Rahmen verkehrspolitischer Debatten identifiziert werden können, die sich auf eine heimliche Verkehrspolitik zurückführen lassen. Darauf aufbauend kann zweitens hinterfragt werden, welche Räume damit produziert werden sollen, und welchen Zweck Akteure einer heimlichen Verkehrspolitik damit verfolgen. Denn erst über die Identifikation und nähere Betrachtung von Argumentationen einer heimlichen Verkehrspolitik kann tatsächlich ergründet werden, welche Rationalitäten den Produkten einer Politik des öffentlichen Nahverkehrs zugrunde liegen. In den folgenden Kapiteln wird darum anhand von vier Aspekten herausgearbeitet, inwieweit Argumente einer heimlichen Verkehrspolitik die offizielle verkehrspolitische Debatte in Frankfurt am Main durchdringen und welche Zwecke sich hinter diesen Argumentationen ergründen lassen. Zudem wird es darum gehen, sowohl anhaltende Kontinuitäten als auch davon losgelöste neue Entwicklungen städtischer Verkehrspolitik zu identifizieren. Im Fokus stehen dabei ausschließlich solche Aspekte, die eine
5.3 Der ÖPNV als Alternative zum Automobil
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Auswirkung auf die Netzgestaltung, respektive Raumproduktion des öffentlichen Nahverkehrs erwarten lassen.75
5.3
Der ÖPNV als Alternative zum Automobil – auf dem Weg ins Zentrum
5.3
Der ÖPNV als Alternative zum Automobil
„die grundsätzlichen Ziele, […] nämlich mehr Menschen auf die Schiene zu bringen, mehr Leute dazu zu bewegen, ihr Auto stehen zu lassen, die sind ja vollkommen unstrittig.“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017)
An zentraler Stelle innerhalb der politischen Debatten über den Ausbau städtischer Schieneninfrastrukturen stehen auch heute noch unterschiedliche Positionen, die die Rolle des öffentlichen Nahverkehrs als wichtige Alternative zum Automobil hervorheben. So wurde in Frankfurt eine auf diese Weise begründete allgemeine Notwendigkeit zum ÖPNV-Ausbau von einem Großteil der befragten Politiker*innen und Expert*innen bestätigt. Im Detail lässt sich dabei allerdings zwischen zwei Argumentationen unterscheiden, die gleichermaßen auf historische Kontinuitäten in der Frankfurter Verkehrspolitik verweisen: Einerseits die Sorge nach einer verminderten Erreichbarkeit zentralörtlicher Einrichtungen der Stadt, die infolge überlasteter Straßen als gefährdet erachtet wird. Andererseits der Versuch die Attraktivität der Kernstadt als Ort des Konsums durch eine Verringerung des innerstädtischen Autoverkehrs zu vergrößern.
75 Im weiteren Text nicht berücksichtigt werden dagegen Aspekte, die ebenfalls als wichtige Quelle heimlicher Verkehrspolitik angesehen werden können, gleichzeitig aber nur einen geringen Einfluss auf die räumliche Form des öffentlichen Nahverkehrs haben. Zu nennen wären für das Beispiel Frankfurt etwa die städtischen Anstrengungen, die Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehr auszuweiten. Denn Barrierefreiheit wird zwar in vielen Interviews als wichtiges Handlungsfeld genannt und kann auch als Aspekt heimlicher Verkehrspolitik beschrieben werden, weil sie vor allem auf EU-Vorgaben zurückzuführen ist. Da es hier jedoch ausschließlich um die Verringerung selektiver Zugangshürden geht, bleibt deren Einfluss auf eine Veränderung der räumlichen Form des Netzes oder auf den Ausbau von Infrastrukturen dennoch marginal. 169
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5 Heimliche Verkehrspolitik
5.3.1 Stau, Verkehrsinfarkt und zentralörtliche Erreichbarkeit „Die Arbeitnehmer müssen ja auch irgendwie alle zu ihrem Arbeitsplatz kommen.“ (Interview Verkehrspolitik [FDP] 2017)
Insbesondere hinsichtlich der Frage nach der zentralörtlichen Erreichbarkeit wird eine bis in die Gegenwart reichende Kontinuität an Argumentationen offensichtlich, die sich bis in die 1960er Jahre zurückverfolgen lassen (vgl. Kap. 4.2). Ganz ähnlich den aus dieser Zeit beschriebenen Argumentationen wird auch heute noch betont, es gäbe aufgrund der begrenzten Kapazität des städtischen Straßennetzes „aus städtischer Sicht […] ein Interesse, nicht noch mehr Individualverkehr zu bekommen, also muss ich eine Alternative anbieten“ (Interview Extern I 2017). Schließlich existieren „fast keine zusätzlichen Potenziale mehr auf der Straße, von daher kann ich das [den Verkehr] nur abwickeln, durch einen wirklich deutlichen Ausbau des ÖPNV und diese wirklich grundsätzliche These wird an sich von nahezu allen Akteuren geteilt“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017). „Dadurch dass wir relativ beengte Räume haben in der Stadt, war im Grunde genommen klar, wenn wir die verkehrliche Erschließung verbessern wollen, müssen wir auf den ÖPNV setzen. Das war ein einigendes Band“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017). Überfüllte Straßen, Verkehrsstaus und die damit verbundene „Angst, dass der ganze Verkehr dann zusammenbricht“ (Interview Verkehrspolitik [Grüne] 2017) scheinen damit selbst noch ein halbes Jahrhundert nach den ersten Schritten zum Schnellbahnbau eine zentrale Argumentationsgrundlage städtischer ÖPNV-Politik zu sein. Auch im Hinblick auf vertiefende Begründungsmuster bestehen noch erstaunliche Ähnlichkeiten zur Argumentation der 1960er und 1970er Jahre. So ginge es hierbei vor allem um eine „Eindämmung der Einpendlerflut“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). Schließlich sei „der ÖPNV [.] die einzige Chance, die Verkehrsproblematik in […] Frankfurt mit seiner hohen Arbeitsplatzdichte in den Griff zu bekommen“ (Interview Planungsdezernat 2017). Nach wie vor ist es also an erster Stelle die Sorge um eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit der Straßenverkehrsinfrastrukturen, die als Symptom für eine verringerte regionale Erreichbarkeit städtischer Arbeitsplätze zur politischen Begründung neuer städtischer Schienenverkehrsinfrastrukturen herangezogen wird. Allerdings ist es fraglich, ob die selektive Fokussierung auf Verkehrsstau als Indikator für unbefriedigte Mobilitätsbedürfnisse tatsächlich als sinnvoll erachtet
5.3 Der ÖPNV als Alternative zum Automobil
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werden kann. Zwar handelt es sich dabei durchaus um Relationen, in denen die Verkehrsinfrastruktur nachweislich nicht in der Lage ist, den Anforderungen des individuellen Mobilitätshandelns zu entsprechen. Zudem lässt der Stau als unmittelbar greifbare Gegebenheit zumindest selektive Rückschlüsse darauf zu, wo durch eine Infrastrukturertüchtigung die Befriedigung individueller Mobilitätsbedürfnisse verbessert werden kann. Allerdings birgt diese einseitige Konzentration auf den Verkehrsstau zwei zentrale Kritikpunkte: Erstens wird damit weitgehend negiert, dass sich das individuelle Mobilitätshandeln nicht nur auf Arbeitswege reduzieren lässt, diese vielmehr nur einen Teil der alltäglich eingeschlagenen Wege darstellen. In diesem Zusammenhang nun die räumliche Form des öffentlichen Nahverkehrs (im Sinne einer postulierten umfassenden individuellen Bedürfnisbefriedigung) daran auszurichten, wo Engpässe im Individualverkehr auftreten, macht folglich wenig Sinn. Zumal diese Engpässe ja selbst als Resultat planungspolitischer Entscheidungen betrachtet werden müssen, indem die räumliche Trennung zwischen Arbeits- und Wohnstätten kontinuierlich forciert und insbesondere Arbeitsstätten vorwiegend in räumlich konzentrierter Form ausgewiesen wurden. Hier geht es also streng genommen nicht um eine Befriedigung von Bedürfnissen, sondern um die erzwungene Notwendigkeit, den eigenen Arbeitsplatz erreichen zu können (vgl. Kap. 2.1.3). Wie schon beschrieben ist es zweitens naheliegend, dass sich die einseitige Konzentration der kommunalen Verkehrspolitik auf Stauminderung, in Zusammenhang mit der engen Verknüpfung von Staus und Arbeitsplatzerreichbarkeit, nicht nur auf die Befriedigung von Mobilitätsbedürfnissen reduzieren lässt. Vielmehr verweisen schon verschiedene Zitate aus der Frankfurter Verkehrspolitik darauf, dass es hierbei vor allem darum geht, die Wirtschaftskraft eines Standortes weiter zu erhalten, bzw. auszubauen (vgl. Kap. 4.2). Aus diesem Zusammenhang geht hervor, dass der Zweck eines öffentlichen Verkehrs, der sich mit seinen schnellsten und zeitlich flexibelsten Systemen nur auf die Entlastung besonders stauanfälliger Relationen beschränkt, nicht als Alternative zum Automobil betrachtet werden kann. Wie schon weiter oben beschrieben, wäre es adäquater, von zwei Seiten einer Medaille zu sprechen, bei der den Schnellbahnen vorwiegend die Funktion eines Druckventils zugewiesen wird, das letztendlich nur dann zum Einsatz kommt, wenn der motorisierte Individualverkehr droht, an seine Grenzen zu stoßen (vgl. Kap. 4.7). Obgleich hier die zentrale Rolle des Automobils – bewusst oder unbewusst – stark unterschlagen wird, trifft doch die folgende Aussage eines Stadtverordneten der CDU den Nagel auf den Kopf, wenn er betont: „Wenn in Frankfurt immer wieder von dem sogenannten Verkehrsinfarkt, der drohen könnte, die Rede ist, dann wird dieser Verkehrsinfarkt in erster Linie 171
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dadurch verhindert, dass wir die Verkehrsströme auf verschiedene Bereiche aufteilen. Auf die Schiene, auf den Rad- und Fußverkehr und last but not least auch auf das Auto. Nur so kann es im Endeffekt funktionieren, dass eine Großstadt wie Frankfurt mobil ist“ (Daum (CDU), STVV am 24.3.2015). Aus heutiger Perspektive können derartige Argumentationen durchaus als Bestandteil einer heimlichen Verkehrspolitik betrachtet werden. Denn obwohl zumindest offiziell einer allumfassenden Befriedigung individueller Mobilitätsbedürfnisse ein zentraler Stellenwert zugeschrieben wird, geht es im Endeffekt vor allem um innerstädtische Erreichbarkeitsdefizite, ganz egal ob dabei von Stau, Verkehrsinfarkt oder ähnlichen Terminologien die Rede ist. Damit wird ein Zweck, der zuerst außerhalb der Verkehrspolitik verortet werden muss, nämlich die Gewährleistung einer weiterhin hohen Attraktivität innerstädtischer Arbeitsstätten, über den Schlüsselbegriff des Verkehrsstaus auf das Feld der Verkehrspolitik übertragen. Gleichzeitig verweis ein Blick auf die historische Entwicklung der Verkehrspolitik auch darauf, dass eine Terminologie als heimliche Verkehrspolitik über Gegenwart und jüngere Vergangenheit hinaus nur bedingt nachvollziehbar ist. Denn bereits vor der automobilen Massenmotorisierung bestand die primäre Aufgabe des öffentlichen Nahverkehrs darin, Wohngebiete mit Arbeitsorten zu verbinden. In der darüber hinaus gehenden Alltagsmobilität wurden zu dieser Zeit noch kaum Strecken zurückgelegt, die eine Motorunterstützung erfordert hätten. Die Frage einer allgemeinen Befriedigung von Mobilitätsbedürfnissen ist hier im Hinblick auf die Straßenbahn also noch nicht wirklich relevant. Insofern erscheint der zentrale Zweck des öffentlichen Nahverkehrs schon immer eher dort verortet, was aus heutiger Perspektive als heimliche Verkehrspolitik bezeichnet werden kann. Hier läuft der Verweis auf heimliche Verkehrspolitik darüber hinaus sogar Gefahr zu kaschieren, dass schon immer eine Art dienende Funktion gegenüber anderen politischen Ressorts bzw. Zwecken eingenommen hat. Denn im Umkehrschluss wird damit zugleich deutlich, dass der politische Anspruch einer Befriedigung unterschiedlicher Mobilitätsbedürfnisse wenig mehr als ein plakativ herausgestelltes Feigenblatt darstellt, das tatsächlich bis heute wenig mit Substanz gefüllt wurde – zumindest was den rein staatlich geplanten öffentlichen Nahverkehr anbelangt. Weil aber die heimliche Verkehrspolitik erstens häufig hinter Begriffen verborgen bleibt, die zunächst der offiziellen Verkehrspolitik zugeordnet werden, etwa Stau oder Verkehrsinfarkt, zweitens deren Identifikation als solcher häufig erst eine Entschlüsselung vorhergehen muss und sich drittens auch die heimlichen politischen Zwecke, denen die Verkehrspolitik als Handlungsfeld dient, im Verlauf der Zeit variieren können, erscheint es mir durchaus sinnvoll, weiterhin an dem Begriff der heimlichen Verkehrspolitik festzuhalten.
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5.3.2 Attraktivität der Stadt, Konsum- und Umweltaspekte „Je mehr Leute mit der Bahn fahren, desto weniger gurken auf der Straße rum.“ (Interview Verkehrspolitik [FDP] 2017)
Neben der Konzentration auf die Aufrechterhaltung der Erreichbarkeit des städtischen Wirtschaftszentrums erfährt in Frankfurt auch die im historischen Rückblick vor allem mit Oberbürgermeister Wallmann verknüpfte Strategie der Schaffung eines attraktiven innerstädtischen Konsumorts76 mit regionaler Bedeutung eine bis heute erkennbare Kontinuität (vgl. Kap. 4.4.2). Dabei finden sich derartige Argumentationen noch heute häufig in Debatten über neue Schienenverkehrsprojekte wieder. Schließlich verhalte es sich mit der städtischen Verkehrsproblematik insgesamt so, dass „wenn man als Wirtschaftsunternehmen das Ganze sieht, [hat] also die Stadt als unterstützender Treiber […] natürlich ein Interesse, dass die Leute hierher zum Arbeiten kommen […]. Aber trotzdem muss es so fließen, dass die Menschen noch hier leben können“ (Interview Extern I 2017). Dabei wird es nach wie vor als besonders wichtig erachtet, dass die Menschen in den Innenstadtgebieten, wo „im Endeffekt am wenigsten Platz für Autos ist, […] möglichst schnell hin- und zurückkommen, weil sonst die Attraktivität ja einfach geringer wird“ (Interview Verkehrspolitik [Grüne] 2017). Die Notwendigkeit an ÖPNV-Infrastrukturen wird also auch hier vor allem damit begründet, dass die Menschen auf dem Weg in die Stadt zum Verzicht auf die Nutzung des eigenen Automobils bewegt werden sollen, damit das positive Erleben des innerstädtischen Konsumzentrums nicht durch übermäßigen motorisierten Individualverkehr geschmälert wird: „[Es geht darum] möglichst viele Menschen davon abzuhalten, mit dem Auto in die Stadt zu fahren, auch um die Stadt liebenswert und lebenswert zu halten. Wir haben ja da in den 80ern […] begonnen, die Stadt auch tatsächlich liebenswert zu gestalten, mit viel Geld und mit viel Brimbamborium – Stichwort Alte Oper oder Museumsufer – und letztendlich wussten wir damals schon, wir mussten auch die Autoflut bremsen und das war ein schwieriger Prozess, aber er kam in Gang und das Ziel ist geblieben“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). Folglich ist auch das zweite große Narrativ zum Ausbau des städtischen Schienenverkehrs, das im Verlauf der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts prominent 76 Wie bereits erwähnt, bezieht sich der Konsumbegriff hier sowohl auf den klassischen Einkaufsbummel als auch auf den Konsum von Kunst und Kultur. 173
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vertreten wurde, noch heute ein wichtiger Bestandteil der verkehrspolitischen Debatte. Zugleich geht es auch hier letztendlich darum, durch den öffentlichen Nahverkehr eine Alternative zum Automobil für den Weg in die Innenstadt anzubieten, um infolgedessen die dortigen Verkehrsflächen reduzieren zu können, ohne damit Erreichbarkeitsdefizite in Kauf nehmen zu müssen. „Aber natürlich kam ein anderes Ziel dazu, auch ein wichtiges, wie ich heute sehe, damals vielleicht auch schon gesehen habe. Nämlich die Lebensqualität, sprich Luftreinhaltung. Das hat sich ja auch im Laufe der Jahre verändert. Jetzt reden wir über Feinstaub, vor 20 Jahren hat das Wort noch keiner gekannt“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). Sowohl Argumentationen hinsichtlich der zentralörtlichen Erreichbarkeit als auch Fragen von Lebensqualität haben innerhalb der letzten Jahre jedoch eine weitere Ergänzung erfahren, und zwar dahingehend, dass mit der Umweltpolitik erneut ein zusätzlicher Aspekt heimlicher Verkehrspolitik Einzug in die Debatten erhalten hat. Auch dieser wurde dabei in die beiden bereits existenten Argumentationsstränge integriert. Tatsächlich harmonisieren Fragen des Klimaschutzes in der Argumentation erstaunlich gut mit den beiden bis dahin identifizierten Zwecken bei der Förderung des öffentlichen Nahverkehrs. Denn einerseits unterstützen auch Umweltargumente Verlagerungen auf das Schnellbahnnetz im Pendelverkehr und andererseits können auch Themen wie Luftreinhaltung, Luftverbesserung und Lärmschutz problemlos in existierende Argumentationen zur Verbesserung der Lebensqualität in der Stadt integriert werden. „Natürlich spielen da auch ökologische Themen eine Rolle, weil klar ist: Wir können über sowas wie Klimaschutz in einem städtischen, einem regionalen Zusammenhang nur reden, oder auch über Luftreinhaltung und über Lärmschutz, wenn wir tatsächlich den ÖPNV erheblich ausbauen“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017). In der Tat werden ökologische Aspekte regelmäßig als relevante Argumentationen genannt, die einen Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs unterstützen. Dennoch weist schon alleine die Positionierung dieser Argumente, wonach ökologische Themen beim ÖPNV-Ausbau „auch“ eine Rolle spielen würde (Interview Verkehrsdezernat I 2017) und der öffentliche Nahverkehr „auch“ wichtig für die Umwelt sei (Interview Planungsdezernat 2017), darauf hin, dass es sich hierbei kaum um eine eigenständig wirkmächtige Agenda zum Infrastrukturausbau handelt. Damit gilt heute nach wie vor und unabhängig davon, ob dies unter Verweis auf ökologische Vorteile, auf
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verbesserte Lebensqualität oder auf die Erreichbarkeit der Innenstadt geschieht: Primärer Zweck des öffentlichen Schnellbahnverkehrs ist es, eine Alternative zum Automobil für den Weg in die Innenstadt anzubieten.
Exkurs – Theorie und Praxis ‚alternativer‘ Verkehrsmittel Aus dem Kontext sozialwissenschaftlicher Verkehrs- und Mobilitätsforschung ließe sich an dieser Stelle die theoretisch berechtigte Frage stellen, warum überhaupt der klassische öffentliche Nahverkehr so prominent als Alternative zum Individualverkehr hervorgehoben wird. Schließlich besteht in der Forschung ein recht breiter Konsens, wonach eine tatsächliche, möglichst gleichwertige Alternative zum Automobil gegenwärtig nur mittels optimierter Kombination verschiedener Verkehrsträger innerhalb des sogenannten Umweltverbundes im Sinne einer multi- bzw. intermodalen Mobilitätsgestaltung erreicht werden kann. Hier spielt in der Tat auch der öffentliche Nahverkehr eine Rolle, dies aber immer nur als einzelner Baustein im Verbund mit Radverkehr, Fußverkehr, punktueller Car- Sharing-Nutzung und anderen vergleichsweise umweltschonenden Verkehrsmitteln (vgl. z. B. Gather et al. 2008: 225f.; Groth 2016: 66; Sommer und Mucha 2014). Es besteht also ein offensichtlicher Widerspruch zwischen der konkreten politischen Praxis, in der fast ausschließlich der öffentliche Nahverkehr die Position der Autoalternative besetzt, und den Erkenntnissen der sozialwissenschaftlichen Verkehrs- und Mobilitätsforschung. Einen Hinweis zu dessen Auflösung gibt vor allem ein Interviewpartner, der hierzu festhält, dass beispielsweise Fahrradmobilität „nicht so institutionell gefördert [wird], wie der ÖPNV. Der ÖPNV ist [.] durch Bundesmittel als einziger institutionell gefördert und deswegen leichter [umzusetzen]“ (Interview Extern I 2017). Zwar kann nicht bestritten werden, dass institutionelle Fördermöglichkeiten für den Radverkehr in den letzten Jahren zugenommen haben, zum Beispiel im Rahmen des Bundesförderprogramms ‚Nationaler Radverkehrsplan 2020‘. Diese lassen sich aber weder quantitativ mit den Fördersummen für den öffentlichen Verkehr vergleichen, noch scheinen – wie das obige Zitat verdeutlicht – entsprechende Angebote und Verfahren in den Köpfen und Routinen städtischer Institutionen verankert zu sein. So ist es nicht verwunderlich, dass in der konkreten Praxis bei der Förderung alternativer Verkehrsmittel vor allem auf den öffentlichen Nahverkehr zurückgegriffen wird. Denn hier kann mit dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz auf ein seit Jahrzehnten bestehendes Fördergerüst zurückgegriffen werden, womit Beantragungen aufgrund bekannter Prozessabläufe wesentlich routinierter erfolgen können. Wenn also in der Kommunalpolitik der öffentliche Nahverkehr als die mit Abstand wichtigste Alternative zum motorisierten Individualverkehr betrachtet wird, darf dies nicht 175
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als Verkürzung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse betrachtet werden, sondern scheint vor allem ein Resultat ungleicher Fördermöglichkeiten und verwaltungsinterner Behäbigkeit zu sein. Nichtsdestotrotz lässt sich damit durchaus nachvollziehen, dass dies in der politischen Praxis in eben jener Zuschreibung des öffentlichen Nahverkehrs als zentraler Automobilalternative resultiert.
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Notwendige Erschließungen
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„Es werden neue Baugebiete entwickelt, neue Wohngebiete, neue Gewerbegebiete, und dann ergibt sich die Notwendigkeit, die zu erschließen.“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017)
Neben diesen langfristig recht kontingenten Aspekten heimlicher Verkehrspolitik ist es heute insbesondere die Stadtentwicklungspolitik, die die Politik kommunaler Verkehrsinfrastrukturen besonders umfangreich beeinflusst. Als Ursache dafür lassen sich erneut gesellschaftliche Veränderungsprozesse identifizieren, die dann in einer Anpassung politischer Strategien resultierten. So sah sich die Stadt Frankfurt, wie bereits in Kap. 5.1 geschildert, ab den 1990er Jahren mit dem Problem konfrontiert, einerseits eine seit Jahrzehnten anhaltende Suburbanisierung des Wohnens hinnehmen zu müssen und andererseits, infolge abnehmender Haushaltsgrößen, zunehmender Wohnflächen pro Kopf und jahrelanger Versäumnisse der Baupolitik mit einem eklatanten Mangel an Wohnraum konfrontiert zu sein. Ein Schwerpunkt der daraufhin einsetzenden verstärkten städtischen Bemühungen zum Siedlungsbau lag dabei in der Schaffung hochwertigen Wohnraums. Denn dadurch erhoffte sich die Politik, dem anhaltenden Suburbanisierungsprozess mit einem entsprechend attraktiven Angebot begegnen zu können. Tatsächlich erfuhr die Stadt jedoch fast zeitgleich mit dem Entschluss zur Intensivierung des Wohnungsbaus wider Erwarten ein bis heute anhaltendes Bevölkerungswachstum, was den Wohnraummangel weiter verstärkte und damit auch die Notwendigkeit zum Wohnungsbau bis heute als besonders eklatant erscheinen lässt. Weil dabei davon ausgegangen wird, dass ein großer Teil der in diesen neu bebauten Gebieten entspringenden Wegstrecken die Innenstadt zum Ziel hat, wird es zugleich stets als notwendig erachtet, mit einem entsprechenden ÖPNV-Angebot eine platzsparende Alternative zum Automobil anzubieten (s. Abb. 8). Ähnlich wie beim Arbeitsverkehr kann hier tatsächlich von einer zumindest punktuellen Befriedigung individueller Mobilitätsbedürfnisse gesprochen werden, obgleich
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eine ähnlich attraktive motorisierte Alternative zum Auto für viele andere, nicht auf das Zentrum ausgerichtete Wegstrecken, nicht angeboten wird.
5.4.1 Sachargumente Neben dem Aspekt der Auto-Alternative wird von der Frankfurter Verkehrspolitik noch eine Reihe sachlicher Erwägungen angeführt, die eine schnelle Erschließung von Neubaugebieten nahelegen. Diese ergeben sich einerseits aus der konkreten Situation in dem beplanten Gebiet und andererseits aus allgemeinen pragmatischen Überlegungen, in denen sich konsequent Neubaugebiete als bevorzugte Orte des Infrastrukturausbaus herauskristallisieren. „Es gibt diese Position nicht, die sagt: wir brauchen keine ÖPNV-Anbindung im Stadtteil“ (Interview VGF 2017). So wird grundsätzlich von fast allen Befragten darauf verwiesen, dass in Neubaugebieten immer ein besonders großer Handlungsdruck bestehe, weil diese Orte in der Regel bis dahin noch nicht über einen ÖPNV-Anschluss verfügen. „Da muss also unbedingt etwas angeboten werden“ (Interview Extern I 2017). Schließlich sei es auch „fraktionsübergreifend zustimmungsfähig, […] dass neue Stadtteile auch einen guten ÖPNV haben“ (Interview Verkehrspolitik [Grüne] 2017), denn „solche größeren Agglomerationen von Büros oder Wohnungen, die funktionieren nicht ohne ÖPNV-Anschluss“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017). Damit legt auch diese Argumentation nahe, dass die lokale Verkehrspolitik sich bis heute an Grundsätzen orientiert, die sich mit Graham und Marvin (2008, 2001) einem modernen Infrastrukturideal zuordnen lassen: Weil das Ziel darin besteht, sämtliche Bereiche des eigenen Territoriums durch den ÖPNV zu erschließen, müssen notwendigerweise auch Neubaugebiete möglichst schnell mit einem ÖPNV-Angebot versorgt werden.
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Abb. 8 Seit 2003 abgeschlossene und aktuelle Neubauprojekte im Schienennetz von Frankfurt am Main (Karte: Elke Alban, IHG)
Von solchen Sachargumenten wird auch die konkrete Systemwahl maßgeblich beeinflusst. Während hier für kleinere Gebiete durchaus eine Busanbindung als ausreichend angesehen wird, sollen größere Gebiete grundsätzlich mittels Schnellbahn- oder zumindest Straßenbahnanschluss auf eigenem Gleisbett erschlossen werden. Denn „so große Baugebiete wie den Riedberg oder das Europaviertel können Sie einfach nicht mit dem Bus erschließen“ (Interview Planungsdezernat 2017). Die Systemwahl einer konkreten Anbindung orientiert sich also primär an
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der erwarteten örtlichen Nachfrage und bezieht sich in erster Linie auf die Transportleistungsfähigkeit der verschiedenen Systeme. Zwar wurden hierbei wiederholt langwierige Systemdiskussionen geführt, diese beschränkten sich allerdings auf Systeme mit halbwegs vergleichbarer Kapazität. So wurden bei den Neubaugebieten Riedberg, Rebstock / City West, Frankfurter Bogen und Europaviertel stets Stadtund Straßenbahnanschluss gegeneinander aufgewogen und in Gateway Gardens wurde als Alternative zum beschlossenen S-Bahn-Anschluss auch eine Straßen-, bzw. Stadtbahn-Anbindung intensiv geprüft. Gefällt wurden die endgültigen Entscheidungen dann anhand des zu erwartenden Finanzierungsaufwands, einer Umsetzungsmöglichkeit im Stadtraum, der Frage nach Kapazitätsreserven der einzelnen Systeme und dem entsprechenden Zeithorizont für die Umsetzung. Dies verweist erneut auf eine streng technokratisch geführte Argumentation, die besonders eng mit dem Konzept eines modernen Infrastrukturideals korrespondiert. Dies ist jedoch nicht verwunderlich, weil die als notwendig erachtete Kofinanzierung solcher Projekte durch Bundes- und Landesmittel immer strikt an die Vorlage einer positiven Nutzen-Kosten-Rechnung gebunden ist, welche auf eben solchen Parametern basiert. „Bei einem Neubauviertel, wo man auf der grünen Wiese plant, ist natürlich eine ÖPNV-Erschließung schneller und einfacher einzuplanen, als beim Bestandsviertel“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017). Über erwartete Nutzung und bestehende Kapazitätreserven hinaus verweisen auch weitere Aspekte auf Neubaugebiete als bevorzugte Investitionsorte, die als Sachargumente bezeichnet werden können. Erstens wird darauf verwiesen, dass es sich hier um „jungfräuliches Gebiet [handele], in das man auch mit einer modernen Schnellbahn gehen konnte ohne übergroße Kosten“ (Interview Verkehrspolitik [SPD] 2017). Denn sowohl hinsichtlich der für die Umsetzung der Infrastrukturmaßnahme erforderlichen Maßnahmen als auch hinsichtlich der damit verknüpften Kosten und Zeithorizonte ist eine Umsetzung in einem bis dato unbebauten Gebiet wesentlich einfacher und günstiger durchzuführen als in Bestandsquartieren. Schließlich wird der begrenzte öffentliche Raum bei letzteren häufig schon anderweitig genutzt, womit eine große Infrastrukturmaßnahme immer auch begleitende Baumaßnahmen erfordert. Beispielsweise eine Neuverlegung bestehender Versorgungs- und Abwasserinfrastrukturen, eine Anpassung der bisherigen Verkehrsführung oder der Umgang mit dem Verlust öffentlicher Parkplätze. All diese Faktoren, die sich negativ auf Baukosten und -zeit auswirken können, müssen bei Infrastrukturprojekten in Neubaugebieten nicht mit einbezogen werden. 179
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„Ganz egal was wir machen, wir haben sofort mindestens drei Bürgerinitiativen dagegen“ (Interview Verkehrspolitik [FDP] 2017). „Man muss sich Prioritäten setzen, man nimmt erst mal lieber das Einfache [Projekt]“ (Interview Extern II 2017). Zweitens kommt hinzu, dass fast alle Befragten auf die durchweg geringe Akzeptanz von Infrastrukturprojekten in Bestandsquartieren seitens der vor Ort betroffenen Bevölkerung verwiesen. So lässt sich von fast keinem der in den letzten Jahrzehnten umgesetzten und anvisierten Infrastrukturmaßnahmen berichten, dass es nicht von lautstarken Protesten und Gerichtsprozessen begleitet wurde oder solche zumindest erwarten ließe. Auch dieser Punkt legt nahe, dass bei einer Entscheidung zwischen Bestand und grüner Wiese zweitere stets den geringeren Widerstand erwarten lässt und demnach den politisch erfolgversprechenderen Weg darstellt. Erfolgversprechend nicht nur bezüglich einer möglichst zeitnahen Umsetzung sondern auch hinsichtlich des damit geminderten Gefahrenpotenzials, durch ein Projekt im Bestand mit der potenziellen Wählerschaft in Konflikt zu geraten: „Da macht man doch lieber was, mit dem man auch was repräsentieren kann, wo man auch dahintersteht, was chic ist, was schneller geht, wo die Finanzierung einfach auch nachgewiesen werden kann“ (Interview Extern II 2017). „Man erschließt die Neubaugebiete, weil man erkannt hat, dass man […] möglichst früh denjenigen, die dort hinziehen, ein Angebot macht, was die auch als attraktiv erkennen, um sie gar nicht erst ans Auto zu gewöhnen“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). „Aus verkehrspolitischer Sicht ist das Argument: […] wenn man schon ein neues Wohngebiet oder Arbeitsgebiet baut, wo die Leute neu hinkommen, sollen die auch gleich auf das entsprechende Verkehrsmittel umsteigen“ (Interview Verkehrspolitik [Grüne] 2017). Drittens wird im Zusammenhang mit Infrastrukturprojekten in Neubaugebieten von zwei Interviewpartner*innen auf eine Erkenntnis verwiesen, die auch innerhalb der sozialwissenschaftlichen Mobilitätsforschung in den letzten Jahren häufig hervorgehoben wurde: Weil das Verkehrshandeln über weite Teile von Routinen geprägt ist, eignen sich unterschiedliche Schlüsselereignisse (also Kontextänderungen in der gebauten Umwelt oder der sozialen Situation) besonders gut, um eine langfristige Änderung anzuregen. Denn aufgrund der neuen Situation können bestehende Routinen oft nicht mehr ohne weiteres fortgeführt werden und müssen
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neu ausgebildet werden (z. B. Busch-Geertsema et al. 2016: 767ff.; Müggenburg et al. 2015: 153ff.). Weil auch Wohnumzüge solche Schlüsselereignisse darstellen können haben Frankfurt und anderen Städten seit einigen Jahren damit begonnen, unter dem Stichwort Neubürgermarketing aktiv Anreize zu setzen, um das Verkehrshandeln neu Zugezogener zu verändern (Lanzendorf und Tomfort 2010: 64).77 Zuletzt erscheint auch aus der Motivation heraus, den Verkehrsdruck durch den Individualverkehr in der Innenstadt weiter entlasten zu wollen, eine zeitnahe Erschließung von Neubaugebieten durch den öffentlichen Verkehr aus verkehrs politischer Perspektive als sinnvolle Vorgehensweise.
5.4.2 Diktat der Stadtentwicklung „Die Verkehrspolitik hat eher eine folgende Funktion gegenüber der Bautätigkeit.“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017) „Baugebiete [werden] beschlossen, neue Wohngebiete, neue Gewerbegebiete, und dann ergibt sich die Notwendigkeit, die zu erschließen.“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017) „Die Planer würden dann sagen: Wir bauen dort so und so viele Wohneinheiten, wir erwarten einen Modal Split[78], oder wollen einen Modal Split von so und so viel erreichen und dann guckt man, was passt für ein Verkehrsmittel dazu.“ (Interview Extern I 2017)
Mögen all diese sachlich nachvollziehbaren Argumente schon alleine für eine zeitnahe Infrastrukturbereitstellung in Neubaugebieten sprechen, darf gleich77 Wenn nun allerdings in die Überlegungen mit einbezogen wird, dass erstens statistisch ohnehin jährlich circa ein Siebtel der Frankfurter Bevölkerung (2017: 741093 Einwohner*innen) durch Zuzüge (2017: 63186) oder Umzüge (2017: 48930) den Wohnraum wechselt (Stadt Frankfurt am Main 2018), und zweitens die örtliche Erfahrung zeigt, dass eine Infrastrukturbereitstellung bisher häufig erst mit einigen Jahren Verzögerung erfolgte, erscheint die Ableitung einer vorrangigen Erschließung von Neubaugebieten aus dem dort geballt vorhandenen Möglichkeitsfenster zur Änderung von Routinen nur noch bedingt nachvollziehbar. 78 Der Modal Split beschreibt die Verteilung des Verkehrsaufkommens auf die verschiedenen Verkehrsmittel. 181
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zeitig nicht verkannt werden, dass es sich hierbei stets um ‚abhängige Variablen‘ handelt, deren Ursprung außerhalb der offiziellen Verkehrspolitik liegt, nämlich in stadtentwicklungspolitischen Beschlüssen zur Entwicklung ebendieser Gebiete. Die ursprüngliche Motivation für ÖPNV-Infrastrukturprojekte in Neubaugebieten besteht folglich gerade nicht im Ziel einer allgemeinen Verbesserung des Verkehrsangebotes. Vielmehr resultiert diese zuerst aus der extern getroffenen Entscheidung, neue Wohn-, Büro- oder Gewerbeeinheiten auszuweisen. Denn erst in der Konsequenz daraus wird begonnen, eine mögliche verkehrliche Erschließung dieser Gebiete zu planen. Auch die konkreten Rahmensetzungen, innerhalb derer die Verkehrspolitik Entscheidungen treffen kann, werden bereits durch die Bebauungspläne vorgegeben, indem anhand der Anzahl an neu errichteten Wohn- und Gewerbeeinheiten Richtlinien hinsichtlich eines erwarteten, gegebenenfalls auch anvisierten Modal Splits formuliert werden. Erst deren Umsetzung wird dann tatsächlich an die Verkehrspolitik übertragen. „Die Verkehrspolitik war dann sozusagen nur begleitend, aber niemals federführend. Also die haben dann kommentiert: Naja, wir bauen lieber eine Straßenbahn als eine U-Bahn oder umgekehrt, aber die erste Initiative kommt immer von den [Stadt-]Planern, die wirklich eine ganzheitliche Situation heute planen“ (Interview Extern I 2017). Die offizielle Verkehrspolitik beschränkt sich also in der Regel darauf, mit einem gewissen Spielraum innerhalb der Vorgaben des Bebauungsplans darüber zu entscheiden, wie die verkehrliche Anbindung eines Quartiers im Detail erfolgen kann. Der grundlegende Anlass aber, dass in bestimmten Gebieten eine verkehrliche Erschließung erfolgen soll, ergibt sich bereits aus dem politischen Entschluss zur Ausweisung eines neuen Baugebietes und muss damit außerhalb der eigentlichen, offiziellen Verkehrspolitik verortet werden. Die politisch formulierte Notwendigkeit zum Infrastrukturausbau an diesen Orten ergibt sich also zunächst nicht aus rein verkehrspolitischen Erwägungen, sondern ist in erster Linie eine Folge stadtentwicklungspolitischer Wachstumsentscheidungen und damit ein weiterer Aspekt heimlicher Verkehrspolitik. Neben diesen eher pragmatisch wirkenden Sachargumenten, die allesamt darauf hinauslaufen, dass im Zweifel mehr Gründe für eine Infrastrukturerweiterung in Neubaugebieten als in Bestandsquartieren sprechen, gibt es jedoch noch weitere Argumentationsmuster, die eine schnelle und attraktive Erschließung von Neubaugebieten nahelegen. Entgegen der bisherigen Argumentationen, die zur Begründung der neuen Infrastrukturen genannt wurden, beziehen sich diese Argumente jedoch auf die vorgelagerten Fragen, warum denn überhaupt Neubaugebiete
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ausgewiesen werden und welche Zielgruppen damit angesprochen werden sollen. In beiden Fällen ist dabei eine Verknüpfung mit einer entsprechenden Ideologie unumgänglich. Gerade für den Kontext dieser Arbeit ist der Befund einer solchen folgenden Funktion der Verkehrspolitik gegenüber den Politikressorts Wohnen und Wirtschaft besonders interessant. Denn bereits in anderen Veröffentlichungen wurden diese beiden Ressorts als zentrale Felder identifiziert, wo in den letzten Jahrzehnten weitreichende strategische Anpassungen an die Anforderungen einer am interkommunalen Wettbewerb orientierten Stadtpolitik stattgefunden haben (vgl. Schipper 2013, 2012; Schipper und Wiegand 2015).
5.4.3 Zusagen und Versprechen an „Wirtschaftsbürger“ Besonders aufschlussreich für die städtische Wohnungspolitik der letzten Jahre sind die letztmals 2008 aktualisierten wohnungspolitischen Leitlinien der Stadt. Hier wird nicht nur als grundsätzliches Ziel festgeschrieben, „die Attraktivität der Stadt Frankfurt am Main als Wohn- und Wirtschaftsstandort zu erhalten“ (Stadt Frankfurt am Main 2008: 15). Ausgehend von einer anhaltenden Wohnsuburbanisierung ins Umland wird zudem vertiefend ausgeführt, dass die Stadt „auch weiterhin ihrer Funktion als wirtschaftlicher Motor der Region gerecht werden [soll]. Dazu bedarf es (auch) einer gemischten Bevölkerungsstruktur“ (ebd.: 3). Weil allerdings vor allem besserverdienende Bevölkerungsschichten den Umzug vor die Tore der Stadt vollzogen haben, kommt die Stadt hier trotz Bekenntnis zu einer gemischten Bevölkerungsstruktur zu dem Ergebnis: „Bei der Bereitstellung von Wohnbauflächen werden die gehobenen Ansprüche verstärkt berücksichtigt“ (ebd.: 7). Darüber hinaus dürfe aber nicht nur Wohnraum vornehmlich für besserverdienende Bevölkerungsschichten geschaffen werden, denn der Erfolg dieser Reurbanisierungsstrategie hinge weiterhin davon ab, dass die dafür errichteten Neubaugebiete auch über eine gewisse Attraktivität verfügen. Aus diesem Grund sei schließlich „eine zeitnahe Bereitstellung der Infrastruktur erforderlich“ (ebd.: 14), wobei hier neben Verweisen auf Kindertagesstätten und Schulen explizit hervorgehoben wird, dass zudem „der Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr von besonderer Bedeutung“ sei (ebd.). Auch innerhalb der stadtpolitischen Debatten wurde diese Verknüpfung zwischen attraktiven ÖPNV-Infrastrukturen und der zielgruppenorientierten Frankfurter Wohnungspolitik deutlich. So mahnte zum Beispiel Oberbürgermeisterin Roth (1997: 484) im Hinblick auf das geplante Neubaugebiet Riedberg, „das Projekt [.] muss verwirklicht werden, wenn wir nicht weiter Einwohner an das Umland verlieren und auf Einkommenssteuer-Einnahmen 183
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verzichten wollen“. Auch das damalige Planungsdezernat blies in das gleiche Horn, wenn es ausführte: „[Wir haben gesagt:] Petra [Roth], den Bankdirektor mit seiner Villa in Königstein, den kriegen wir nicht an den Riedberg. Das ist eine Stufe höher. Wir kriegen den Durchschnittsverdiener, den Gutverdienenden mit Frau oder alleine, Doppelverdiener. Deswegen gibt es dort auch so eine hohe Anzahl von Reihenhäusern“ (Interview Planungsdezernat 2017). Wie bereits in Kap. 5.1 thematisiert, steht also die Konkretisierung dieser städtischen Strategie zur verstärkten Ansiedlung von „Wirtschaftsbürgern“ (Interview Planungsdezernat 2017) in einem engen Zusammenhang mit der Umsetzung verschiedener jüngere Neubauprojekte der Stadt, beispielsweise dem Riedberg, dem Europaviertel oder dem Frankfurter Bogen. Interessanterweise können dabei entsprechende Argumentationen und Rationalitäten nicht nur innerhalb der Stadtentwicklungs- und Wohnungspolitik selbst als hegemonial bezeichnet werden. Prägend sind sie darüber hinaus auch für die kommunale Verkehrspolitik. Hier erfolgt zwar kein unmittelbares Aufgreifen und Überführen von dezidierten Argumentationen – zumindest abgesehen von „Festreden“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017) und dem Sonderfall Gateway Gardens79. Dennoch durchziehen die damit verbundenen Implikationen, insbesondere über Fragen der hierfür als notwendig erachteten infrastrukturellen Ausstattung, in unterschiedlichen Facetten auch die Diskurse innerhalb der Verkehrspolitik.
79 Speziell hinsichtlich der S-Bahn-Verbindung in das Neubau-Gewerbegebiet Gateway Gardens wurde tatsächlich betont, wie wichtig diese dafür erachtet wurde, um „internationale Unternehmen […] dort anzusiedeln. Also das heißt, wo der Gesichtspunkt auch war, dass man dort konkurriert, eher mit anderen europäischen Standorten […] und was ja dann in einigen Ansiedlungsfragen auch gestimmt hat“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017). Diese große Ausnahme steht jedoch gleichzeitig in einem eklatanten Widerspruch zur tatsächlichen politischen Praxis. Denn während bei Nahverkehrsprojekten in die anderen Neubaugebiete beständig versucht wurde, diese voranzutreiben, hatte die Kommunalpolitik „an Gateway Gardens nicht so sehr das große Interesse. Weil Gateway Gardens liegt weit vor den Toren der Stadt und hat eigentlich mit der Innenstadt nicht viel zu tun“ (Interview GG I 2017). Dass dieses Projekt dann dennoch sehr schnell verwirklicht wurde, lässt sich darum auch kaum auf Bemühungen der städtischen Verkehrspolitik zurückführen. Dieses Projekt steht vielmehr sinnbildlich für einen weiteren neuen Aspekt heimlicher Verkehrspolitik. Da Gateway Gardens jedoch eine große Sonderrolle innerhalb der verschiedenen städtischen Nahverkehrsinfrastrukturprojekte einnimmt, wird es hier zunächst ausgeklammert und in Kap. 5.5 separat vertieft.
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„Ohne eine attraktive Erschließung sind notgedrungen immer weiter außerhalb der City liegende Neubaustadtteile natürlich völlig unattraktiv. Also da muss eine schnelle Erschließung her. Insofern ist das ganz wesentlich“ (Interview Verkehrspolitik [SPD] 2017). Diese quasi heimliche Übertragung von Argumentationen auf die Verkehrspolitik beginnt – neben der Bebauungsplanung – bereits bei der Vorstellung der Bauprojekte auf internationalen Immobilienmessen. Schon dort wird durch „schöne bunte Bilder“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017) mit dem geplanten Schnellbahnanschluss geworben, um potenzielle Investor*innen für den Wohnungsbau zu gewinnen. Denn „wenn ein neues Stadtviertel geplant wird, ist es notwendig, ein attraktives [ÖPNV‑] Angebot zu machen, das befördert die Investitionsfreudigkeit“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). Die Bewerbung des Nahverkehrsanschlusses muss in diesem Zusammenhang demnach als bewusst eingesetztes Vehikel betrachtet werden, mit dem private Immobilieninvestitionen in neu zu bebauenden Quartieren angeregt werden sollen. Folgenschwer ist dabei, dass eine attraktive ÖPNV-Erschließung dieser Gebiete bereits zu einem Zeitpunkt als Faktum nach außen kommuniziert wird, zu dem sie lediglich als vages Konzept innerhalb der Bebauungspläne existiert, aber noch keinerlei politische Beschlüsse über Bau und konkrete Ausstattung dieser Infrastruktur getroffen wurden. Denn infolge dieser bewussten Werbemaßnahmen ist es nur naheliegend, dass sich umgekehrt seitens der Investor*innen eine gewisse Erwartungshaltung bezüglich der Infrastrukturbereitstellung entwickelt hat, die dann wiederum Eingang in die verkehrspolitischen Debatten erhielt: „Also die Vermarktung war, das war sicher […] ein zentrales Motiv zu sagen, dass das neue Viertel, wenn es erschlossen wird, durch eine attraktive Verkehrsverbindung erschlossen werden muss. Ganz klar“ (Interview Verkehrs politik [SPD] 2017). So wird nicht nur die Verknüpfung zwischen Nahverkehrsanschluss, privatwirtschaftlichen Investitionen und Vermarktung in die verkehrspolitische Diskussion integriert. Darüber hinaus führt diese Erwartungshaltung, gepaart mit dem Verweis auf eine vermarktungstechnische Notwendigkeit des Nahverkehrsanschlusses, auch dazu, dass die Verkehrspolitik nun tatsächlich in Zugzwang gerät, die entsprechenden Gebiete zeitnah und möglichst attraktiv zu erschließen: „Wir haben immer gesagt wir bauen [im Europaviertel] eine U-Bahn, davon sind die ausgegangen. Und dann ist das zurück gedreht worden aus politischen Gründen […] und da waren die natürlich sauer, weil das natürlich wieder neuer 185
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Planungen bedurfte. […] Der Zeitverlust kostet die Geld. Und deswegen haben die gesagt ‚um Gottes Willen nicht schon wieder‘. […] Ich glaube es war schon der [Verkehrsdezernent] Majer, der das dann gesagt hat, ne, wir strengen uns an und machen schnell“ (Interview Planungsdezernat 2017). Auch im Rahmen eines weiteren Interviews wurde mit Blick auf das Europaviertel darauf verwiesen, dass den Investor*innen diese Infrastruktur schließlich „zugesagt“ worden sei, ihnen „eine leistungsfähige Stadtbahn versprochen“ wurde (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). Interessanterweise existierte im Europaviertel auch unter den Investor*innen keine klare Präferenz hinsichtlich der konkreten Ausführung der Schienenanbindung. Wichtig war ihnen stattdessen vor allem, zeitnah mit einer attraktiven Nahverkehrsanbindung rechnen zu können. Denn nur dann konnte diese auch als Vermarktungsinstrument genutzt werden: „Die Investoren wollten nur eine verkehrliche Erschließung, denen war es eigentlich sekundär ob U-Bahn, Straßenbahn oder Stadtbahn, wichtig war nur, dass es schnell kommt, damit die bei der Vermarktung sagen können: Hier ziehen Sie ein oder machen ein Büro und in drei Jahren ist hier ÖPNVErschließung“ (Interview Planungsdezernat 2017). Besonders gut nachzeichnen lässt sich dieser Mechanismus, in dessen Resultat die Forderungen der Immobilienwirtschaft nach einer Einhaltung gegebener Versprechen steht, vor allem im Europaviertel, weil hier die Entscheidung zwischen U- und Straßenbahntechnologie besonders lange auf sich warten ließ. Dennoch zeigt sich eine vergleichbare Druckkulisse auch in anderen Neubaugebieten, bei denen die Stadt frühzeitig begonnen hat, aktiv mit einer attraktiven Nahverkehrserschließung zu werben. Denn es ist nicht nur die Immobilienwirtschaft, welche die Verkehrs politik dahin drängt, gegebene Infrastrukturversprechen auch tatsächlich zeitnah zu verwirklichen, sondern auch deren Kunden, die neuen Eigentümer*innen und Mieter*innen: „Die Leute, die da hinziehen oder sich ein Eigentum kaufen, wollen natürlich wissen, wie gut oder wie schnell kommen sie zu ihrem Arbeitsplatz, der meistens in der Stadt ist“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017). „Ich glaube, dass der Druck bei den Neubaugebieten größer ist. Es geht um Zuzügler, die haben entsprechende Ansprüche“ (Interview Extern IV 2017).
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So erkennt die Stadt schließlich auch „tausende von Wählern“ in den neuen Quartieren, die „natürlich von der Kommunalpolitik verlangen, dass ihre Wohnungen, ihre Arbeitsplätze eben entsprechend attraktiv an den ÖPNV angeschlossen sind“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017). Damit trägt auch die Erwartungshaltung der neuen Bewohner*innen hinsichtlich des neuen Nahverkehrsanschlusses dazu bei, dass die Stadtpolitik es als eine zwingende Notwendigkeit betrachtet, ihr Versprechen einzuhalten und diese Gebiete möglichst zeitnah attraktiv zu erschließen. „Ich weiß, dass die Bevölkerung oder die Neubürger in dem Frankfurter Bogengebiet genauso heftig nach der Straßenbahn gefragt haben, die sich auch verzögert hat, wie sie nach ihrem Sportplatz gefragt haben. Und die haben gesagt: Das ist uns hier versprochen worden. Und hatten kein Verständnis für die Verzögerung“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017). Die Dynamik, die aus dieser Entwicklung hervorgeht, gleicht damit einem Muster, das bei mehreren jüngeren Neubaugebieten der Stadt offensichtlich wird: Ausgehend von einer im Rahmen von Bebauungsplänen noch relativ vage geplanten Nahverkehrsanbindung führte deren Aufgreifen durch weitere, außerhalb des politischen Betriebs stehende Akteursgruppen (Immobilienwirtschaft und Neubürgerschaft) dazu, dass sich die Verkehrspolitik mit unterschiedlichen, aber offensiv vorgetragenen Erwartungshaltungen hinsichtlich einer zeitnahen Umsetzung der Infrastrukturvorhaben konfrontiert sah. Bei einer näheren Betrachtung wichtiger Diskursstränge der Frankfurter Verkehrspolitik kann also festgehalten werden, dass Argumente, die sich direkt auf Rationalitäten einer unternehmerischen Stadtpolitik beziehen, bei der Diskussion um den Bau neuer Nahverkehrsinfrastrukturen in den letzten Jahren tatsächlich keine bedeutende Rolle gespielt haben. Gleichzeitig aber sind es nicht nur technokratische Sachargumente, die eine bevorzugte Erschließung von Neubaugebieten bedingen – also die allgemeine Notwendigkeit der Erschließung neuer Baugebiete, die Möglichkeit einer vergleichsweise finanziell günstigen und baulich einfachen Umsetzung, die Erwartung keines oder nur geringen Gegenwinds durch die Zivilbevölkerung, ein zu erwartender geringer Zeithorizont zur Umsetzung der Maßnahme und zuletzt der Verweis auf den günstigen Zeitpunkt zur Veränderung von Mobilitätsroutinen. Denn diese Sachargumente legen zwar allesamt eine zeitnahe Erschließung nahe, eine Quasi-Notwendigkeit zur Priorisierung eines einzelnen Infrastrukturprojekts ergibt sich daraus allerdings nicht. Diese resultiert vielmehr aus dem unablässigen Druck, der aus verschiedenen Seiten auf die Entscheidungsfindung der Verkehrspolitik ausgeübt wird. 187
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Zunächst durch die Stadtentwicklungspolitik, die einerseits das Ziel verfolgt, vermehrt wohlhabende Bevölkerungsgruppen in Frankfurt anzusiedeln und entsprechende Neubaugebiete entwickelt. Die andererseits aber schon in Bebauungsplänen eine attraktive Nahverkehrserschließung skizziert, was im Sinne einer möglichst vollständigen Erschließung des Stadtgebiets auch sinnvoll erscheint, darüber hinaus aber als Werbeargument gegenüber Immobilienwirtschaft und Neubürger*innen ins Feld geführt wird. Darauf bezugnehmend haben sowohl die zur Entwicklung der Gebiete gewonnenen Immobilieninvestor*innen als auch die neuen Wohneigentümer*innen und Mieter*innen nicht nur eine gewisse Erwartungshaltung gegenüber der Verkehrspolitik. Vielmehr verweisen Aussagen zum Europaviertel und dem Frankfurter Bogen darauf, dass diese spätestens nach längeren Verzögerungen der Baumaßnahmen den versprochenen Nahverkehrsanschluss aktiv gegenüber der Politik einfordern. Obgleich die neuen Infrastrukturen alleine schon unter Verweis auf diverse Sachargumente also zweifelsohne als sinnvoll betrachtet werden können, wird daraus durch die wiederholten Forderungen aus Immobilienwirtschaft und örtlicher Zivilbevölkerung tatsächlich eine Unabdingbarkeit. Dabei kann diese zeitlich privilegierte Erschließung von Neubaugebieten letztendlich als ein symbiotisches Verhältnis zwischen Stadtentwicklungspolitik einerseits und der Verkehrspolitik andererseits betrachtet werden. Denn während erstere einen attraktiven ÖPNV-Anschluss als wichtige Grundlage zum Erreichen ihrer extrinsischen, nicht primär verkehrspolitisch begründeten Ziele betrachtet, kann zweitere über die Ausbaumaßnahme ihr eigenes Ziel einer allgemeinen Mobilisierung der Bevölkerung vorantreiben, wenn auch nur äußerst selektiv.
5.4.4 Der Gesamtverkehrsplan „Der Gesamtverkehrsplan ist etwas, das beschreibt, was für die Stadt wichtig wäre oder gut sein kann.“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017)
Die Diskrepanz zwischen originär formuliertem Anspruch der Verkehrspolitik und den Anforderungen, die aus dem Kontext der Stadtentwicklungspolitik an sie herangetragen werden, zeigt sich symptomatisch anhand des städtischen Gesamtverkehrsplans. Dieser kann zunächst als Inbegriff einer technokratischen Verkehrspolitik betrachtet werden, welche sich dem Ziel eines modernen Infrastruk-
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turideals verschrieben hat. Erstmals 1961 veröffentlicht, 1976, 1983, 1996 80 und 2004 fortgeschrieben und überarbeitet, handelt es sich dabei um ein Dokument, das als „Richtschnur für die Entwicklung des Verkehrs“ (Interview Extern II 2017) gesehen wird und das jeweils für einen bestimmten Zeitpunkt „beschreibt, was für die Stadt wichtig wäre oder gut sein kann“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). Weil der Gesamtverkehrsplan sämtliche Aspekte des städtischen Verkehrsgeschehens abdeckt, werden darin neben dem öffentlichen Nahverkehr auch sämtliche anderen Verkehrsträger thematisiert, die als relevant betrachtet werden. Bezugsrahmen ist dabei jeweils ein aus gesamtstädtischer Perspektive verfolgtes langfristiges Ziel einer möglichst umfassenden Verkehrserschließung. Zu diesem Zweck werden mit der Fortschreibung stets „hochkarätige Gutachter“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017) aus den Verkehrswissenschaften betreut, die den Gesamtverkehrsplan zusammen mit Akteuren aus dem politischen Betrieb, und in jüngerer Zeit vermehrt auch unter Einbezug zivilgesellschaftlicher Vorschläge, entwickeln. Ganz im Sinne eines modernen Infrastrukturideals zielt der Gesamtverkehrsplan also darauf ab, unter Beteiligung von Expert*innen, Politiker*innen, Planer*innen und zum Teil von zivilgesellschaftlichen Akteuren das gegebene Verkehrsnetz in einem vordefinierten Gebiet weiterzuentwickeln und zu optimieren. Damit verfolgt der Gesamtverkehrsplan ein utopisches Ideal, das mit der Realität zunächst wenig zu tun hat, sondern die Richtung der zukünftigen Entwicklung weisen soll. Darum dienen die Ergebnisse des Gesamtverkehrsplans allgemein als „Grundlage für die parlamentarische Beratung und Beschlussfassung sowie die öffentliche Diskussion“ (Stadt Frankfurt am Main 2004a: 1). Auch hierbei liegt somit kaum eine Nachfrageorientierung im Fokus. Ganz ähnlich der geographischen Raumstrukturforschung geht es vielmehr darum, das bestehende gesamtstädtische Verkehrsnetz mit Hilfe von objektivem Expertenwissen weiter zu optimieren. „Da stehen ja auch seit Jahrzehnten irgendwelche theoretische Linien drin, die man sich dann jedes Mal, wenn der neue [Gesamtverkehrsplan] entsteht, dann noch mal anguckt und diskutiert. Rausstreichen tut man selten welche. Aber die werden dann auch nicht genommen, um sie umzusetzen unter Umständen. Da stehen manche Sachen drin, die niemals im Leben gebaut werden“ (Interview Verkehrspolitik [Grüne] 2017).
80 Hierbei handelt es sich strenggenommen lediglich um eine „Untersuchung zur Fortschreibung des Generalverkehrsplans 1976/82 (Magistrat der Stadt Frankfurt am Main 1996). 189
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Die Diskrepanz zwischen dem Gesamtverkehrsplan als Sinnbild eines modernen Infrastrukturideals und der tatsächlichen, von heimlichen Verkehrspolitiken durchzogenen Praxis des kommunalen Infrastrukturausbaus offenbart sich dabei alleine aus einer Gegenüberstellung der laut Gesamtverkehrsplan als sinnvoll erachteten Projekte mit der beobachtbaren Ausbaupraxis. Hier lässt sich einerseits erkennen, dass noch bis in die Mitte der 1990er Jahre eine starke Übereinstimmung zwischen universellen Zielsetzungen des Gesamtverkehrsplans und den tatsächlich ausgeführten Ausbaumaßnahmen vorherrschte. Größere Abänderungen wurden in dieser Zeit nur dann vorgenommen, wenn einzelne Maßnahmen im Nachhinein als zu ambitioniert erachtet wurden oder weil geplante Tunnelstrecken aus finanziellen Gründen oberirdisch realisiert werden mussten (vgl. Kap 4.6). Andererseits vollzog sich in den darauffolgenden Jahrzehnten eine zunehmende Abkehr von dem aufgrund finanzieller Aspekte immer schleppender verlaufenden Weiterbau des ursprünglich geplanten Schnellbahnnetzes. Als Bruch lässt sich diese Abkehr allerdings erst mit den Auswirkungen der Kommunalwahl 2006 bezeichnen, als sich erstmals eine schwarz-grüne Koalition konstituierte. Denn ein von den Grünen vehement eingeforderter Bestandteil des neuen Koalitionsvertrags war es, die bereits weit fortgeschrittenen Planungen für den aus einer reinen Schnellbahnnetzperspektive durchaus sinnvollen U-Bahn-Lückenschlusses zwischen den Stadtteilen Bockenheim und Ginnheim wieder abzubrechen (z. B. FAZ 2006). Ihre Ablehnung des Projekts stützten die Grünen dabei auf langwierige Proteste, die sich in Ginnheim und Bockenheim gegen den U-Bahn-Lückenschluss formiert hatten, da eine Verwirklichung dieser Strecke auch eine Aufgabe der dort parallel verlaufenden Straßenbahnlinie und somit eine Verminderung der kleinteiligen Flächenerschließung in diesem Bereich bedeutet hätte (vgl. Gietinger et al. 2005). Gleichzeitig wird jedoch diese Entscheidung zumindest seitens CDU und SPD auch heute noch als „falsch“ (Interview Verkehrspolitik [SPD] 2017), „politische Sünde“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017) oder „totaler Schwachsinn“ (Interview Planungsdezernat 2017) bezeichnet. Dennoch sind infolgedessen seit 2003 – mit Ausnahme eines kleinen Straßenbahnverbindungsstücks in der Stresemannallee im Süden der Stadt, das nun eine direkte Verbindung von Neu-Isenburg zum Frankfurter Hauptbahnhof ermöglicht, sowie der Ertüchtigung einer Betriebsstrecke im Osten – faktisch nur noch solche ÖPNV-Neubauvorhaben in Frankfurt umgesetzt worden, die in erster Linie der Erschließung von Neubaugebieten dienen (s. Abb. 8, S. 157).81
81 2000: City West & Rebstockviertel; 2008: Riedberg; 2009: Frankfurter Bogen; 2016: Europaviertel; 2016: Gateway Gardens.
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Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich die städtische Verkehrspolitik aktiv von einer gesamtstädtischen Planung abgewendet hat. Denn zumindest in der Theorie ist die Orientierung an einem modernen Infrastrukturideal, sprich einer gleichmäßigen ÖPNV-Erschließung des Stadtgebietes, nach wie vor erklärtes Ziel. Folglich finden sich auch in dem jüngsten Gesamtverkehrsplan von 2004 noch Netzergänzungen, die aus vorherigen Plänen übernommen wurden, in Bestandsquartieren verortet sind und auf eine Verbesserung des Gesamtnetzes abzielen. So etwa Stadt- und Straßenbahnverlängerungen zur S-Bahn-Station Frankfurter Berg, zum Bahnhof von Frankfurt-Höchst82 und in die Hochhaussiedlung Atzelberg, die Anbindung der nördlich des Mains gelegenen östlichen Nachbargemeinden an das S-BahnNetz (eigentlich ein regionales Projekt), die Regionaltangente West (ein weiteres regionales Projekt, das in Kap. 5.6 vertiefend aufgegriffen wird) sowie ein erneuter Versuch, den für das Gesamtnetz wichtigen Lückenschluss zwischen Bockenheim und Ginnheim mit neuer Streckenführung doch noch zu verwirklichen (s. Abb. 9). „Es ist nicht mehr nur der Schnellbahnverkehr mit dem Ziel, die Pendler möglichst schnell in die Innenstadt zu bringen, sondern in der Fläche hat sich auch schon wieder etwas verbessert und es ist ja auch geplant, da weitere Verbesserungen zu machen, also Stichwort Ringstraßenbahnlinie oder RTW. Ist zwar auch eine Schnellbahnlinie, aber ist zunehmend auch eine Erschließung der Fläche und eine Abkehr von diesem Radialsystem“ (Interview Verkehrspolitik [Die Linke] 2017). Zudem wurde erstmals 2004 eine Straßenbahn-„Ringlinie“ in den Gesamtverkehrsplan aufgenommen (s. Abb. 9), die ein über „weniger attraktive“ Buslinien hinausgehendes Angebot außerhalb des strikt radialen Musters schaffen sollte (Stadt Frankfurt am Main 2004a: 33). Aufgrund der damit einhergehenden umfangreichen Verbesserung in der Netzstruktur wird diese Ringlinie von der Stadt explizit als „Schlüsselmaßnahme“ für die Straßenbahnentwicklung bezeichnet (ebd.).83 Neben dem stadtübergreifenden Projekt Regionaltangente West finden sich damit gleich zwei Projekte in den neueren Gesamtverkehrsplänen, die sich vom althergebrachten Zweck des Nahverkehrsnetzes als Druckventil radialer Verkehrsströme zur 82 Tatsächlich wurde dieses Versprechen der Stadt Frankfurt bereits im Eingemeindungsvertrag von Höchst aus dem Jahr 1928 formuliert. 83 Wohingegen Plänen einer ähnlich verlaufenden Ringlinie im Rahmen einer 1996 erfolgten Untersuchung zur Erweiterung des städtischen Straßenbahnnetzes noch „niedrigste verkehrliche Dringlichkeit“ bescheinigt wurde, sie also im Gegensatz zu vielen anderen Maßnahmenüberlegungen nicht einmal näher untersucht wurde (Magistrat der Stadt Frankfurt am Main 1996: 28ff.). 191
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Abb. 9 Ausschnitt aus dem Maßnahmenplan Schiene des fortgeschriebenen Gesamtverkehrsplans von 2004. Beschluss- und Realisierungsstand 12/2014 (verändert nach Stadt Frankfurt am Main, Referat Mobilitäts- und Verkehrsplanung 2014)
Unterstützung städtischer Wirtschaftsentwicklung bewusst zu lösen scheinen.84 Ganz im Gegenteil wirken diese durch ihre engen Bezüge zu einem modernen Infrastrukturideal im Sinne einer Schaffung territorial gleichwertiger Mobilitätsangebote vor allem intrinsisch motiviert und haben vor dem Hintergrund einer automobilbedingten Individualisierung der alltäglichen Raumaneignung durchaus das Potenzial, eine bedürfnisorientierte Erweiterung des Angebots im öffentlichen Nahverkehr darzustellen. 84 Zumindest für die Regionaltangente West gilt dies bei näherer Betrachtung allerdings nur bedingt, was in Kap. 5.6 noch zur Sprache kommen wird.
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Während allerdings die diversen zwischenzeitlich beschlossenen Erschließungsprojekte von Neubaugebieten allesamt umgesetzt wurden oder sich zumindest im Bau befinden, sind die zuletzt genannten städtischen Projekte in bestehenden Siedlungsgebieten einer Realisierung bisher kaum näher gekommen: So wurde das Projekt zum Frankfurter Berg 2013 kurz vor Beginn des Planfeststellungsverfahrens aufgrund finanzieller Engpässe der Stadt trotz fraktionsübergreifender Proteste aus den betroffenen Stadtteilen gestoppt (FR 2013) und seitdem nicht wieder aufgenommen; zur Ringstraßenbahn existiert zumindest eine Machbarkeitsstudie (Haller et al. 2014); auch zur Strecke zwischen Bockenheim und Ginnheim gibt es immerhin erste Untersuchungen (Stadt Frankfurt am Main, Dezernat Verkehr 2015); die Projekte nach Höchst und zum Atzelberg existieren dagegen weiterhin ausschließlich im Gesamtverkehrsplan. Dass nun diese Projekte in den letzten Jahren mit eher überschaubarem Engagement vorangetrieben wurden, liegt also nicht an ihrer Relevanz, denn sonst wären sie, wie viele andere Projekte, im Zuge diverser Aktualisierungen aus dem Gesamtverkehrsplänen verschwunden, bzw. gar nicht dort aufgenommen worden. Genauso wenig liegt es an einer offiziellen Abkehr der Verkehrspolitik von damit verknüpften Zielen einer gesamtstädtischen Optimierung der Flächenbedienung durch ÖPNV-Infrastrukturen. Bei einer näheren Betrachtung der Argumentationen zu den Erschließungsvorhaben Frankfurter Berg und Ringstraßenbahn stechen vielmehr erneut zwei andere zentrale Begründungen hervor.
Frankfurter Berg „Wir [haben] uns schon genau damit beschäftigt [.], welche von den Projekten, die man jetzt noch stoppen könnte, sind zu stoppen, […] wie viel Kosten sind schon verursacht […] und da war einfach der Frankfurter Berg noch nicht so weit. Und es gab auch noch ein politisches Argument. Weil ich wusste, dass bei der Strecke zum Frankfurter Berg die politische Diskussion auch schwierig werden würde“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). Beispielsweise erfordert die Baumaßnahme am Frankfurter Berg weder umfangreiche Eingriffe in die gebaute Umwelt, noch gilt sie als besonders finanzaufwendig.85 Dennoch wurde die Fortführung des Projektes 2013 auf Eis gelegt, was durch zwei weitere Aspekte begründet wurde: Erstens wurde argumentiert, dass die Maßnahme 85 Die für den Bau zuständige Verkehrsgesellschaft Frankfurt am Main geht davon aus, dass das gesamte Projekt inklusive Planfeststellungsverfahren innerhalb von drei bis vier Jahren abgeschlossen sein würde (VGF 2018). 193
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im Vergleich zu den anderen in der Planung befindlichen Projekten am wenigsten weit fortgeschritten sei. Obwohl diese Argumentation zuerst einmal nachvollziehbar erscheint, lässt sie doch indirekt erahnen, dass auch schon vor dem Beschluss zum Aufschub des Projekts vergleichsweise wenig Arbeitszeit in dessen Planung geflossen zu sein scheint. Anders formuliert sprach also gegen den Frankfurter Berg, dass diesem Projekt die geringste Dringlichkeit zugeschrieben wurde, was erneut auf die hohe Priorität verweist, mit der eine Anbindung von Neubaugebieten vorangetrieben wird: „Unter den vielen Verkehrsvorhaben […] ist es das von den Fachleuten am wenigsten als dringlich eingestufte“ (Löwenstein (CDU), STVV am 21.3.2013) Geplant wurden zu diesem Zeitpunkt, neben einem weiteren kleinen Projekt im Bestand, der Stresemannallee, nämlich auch die Projekte in das Europaviertel und nach Gateway Gardens. Zur Disposition standen aber nur die Projekte Frankfurter Berg und Stresemannallee, von denen letztgenanntes zu diesem Zeitpunkt bereits einen weiteren Planungsfortschritt erreicht hatte und darum im Gegensatz zum Frankfurter Berg nicht mehr aufgeschoben werden sollte. Denn gleichzeitig schien sich die Stadt insbesondere gegenüber der Immobilienwirtschaft in einer gewissen Verantwortung zu sehen. So wurde die Entscheidung zuletzt damit gerechtfertigt, dass im Europaviertel ein weiterer Aufschub der Bahnanbindung gegenüber „möglichen Investoren oder Partnern“ nicht zumutbar gewesen sei: „Was muten wir unseren möglichen Investoren oder Partnern zu, wenn wir jetzt sagen: Leute, jetzt müssen wir mal fünf Jahre aussetzen, weil wir kein Geld haben“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). Zweitens wurde die Aufschiebung des Projekts zum Frankfurter Berg in den Interviews mehrfach damit begründet, dass vermutete negative Reaktionen aus der Zivilgesellschaft auf dieses Bauprojekt antizipiert wurden. Sowohl unter Verweis auf das Lückenschluss-Projekt, das unter anderem aufgrund umfangreicher Proteste aufgegeben wurde, als auch vor dem Hintergrund jüngerer Erfahrungen mit anderen Bauprojekten hat sich damit in jüngeren Jahren eine Haltung innerhalb der kommunalen Verkehrspolitik entwickelt, bei der potenziellen Konflikten mit der Zivilbevölkerung möglichst schon im Vorhinein aus dem Weg gegangen werden soll: „Also ich nehme jetzt mal das Beispiel die Verlängerung der U5 zum Frankfurter Berg. Da weiß ich eben einfach, dass es da Leute gibt, die hinten rum den Ortsbeirat belatschen und sagen: sie wollen da nicht, dass da die Bahn fährt” (Interview Verkehrspolitik [FDP] 2017).
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Davon abgesehen, dass damit ein problematisches Demokratieverständnis einhergeht, zeigt dies einerseits, dass das technokratisch legitimierte moderne Infra strukturideal des vergangenen Jahrhunderts heute auch vonseiten der Zivilgesellschaft zunehmend hinterfragt wird. Andererseits darf aber nach wie vor der Anlass, dieses Projekt in die Zukunft zu verschieben, nicht in einer möglicherweise opponierenden Zivilgesellschaft gesehen werden. Denn verschoben wurde das Projekt in erster Linie deshalb, weil beim parallelen Projekt Europaviertel bereits Erschließungserwartungen geschürt worden waren, die von lokalen Akteuren in politische Forderungen transferiert wurden, womit sich das Projekt auch in dieser Hinsicht als die bessere Projektalternative betrachten ließ.
Ringstraßenbahn „Also die, Köhler und Topp[86], haben ja [.] die Ringlinie erfunden, […] weil sie als Fachleute eine Idee entwickelt haben für die Stadt. Und wenn du jetzt Prioritäten setzen musst und sagst, gut, jetzt haben wir da ein Neubaugebiet, müssen wir anbinden, und da ein Neubaugebiet, müssen wir anbinden, da Neubaugebiet. Dann machst du das und sagst, gut so was Tolles, nice to have, wie die Ringlinie, das kommt dann später. Dann erhebt sich die Frage, wann ist später?“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). Ein ganz ähnliches Bild zeigt sich hinsichtlich der schon angesprochenen Planung einer Ringstraßenbahn durch das Stadtgebiet, die im Gesamtverkehrsplan von 2004 noch vollmundig als „Schlüsselmaßnahme“ (Stadt Frankfurt am Main 2004a: 33) bezeichnet wurde. So wird diese noch heute seitens der kommunalen Verkehrspolitik als „strategisches Projekt“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017), als „was Tolles“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017) und als einer der „wichtigsten Punkte“ (Interview Verkehrspolitik [SPD] 2017) im Gesamtverkehrsplan bezeichnet. Dennoch ist deren Planung bisher kaum vorangeschritten. Begründend wird hier einerseits darauf verwiesen, dass es dort vermutlich „in jedem Abschnitt Widerstand geben“ würde (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). Andererseits wird auch dieses Projekt gegenüber der absoluten Notwendigkeit einer zeitnahen Erschließung von Neubaugebieten lediglich als etwas Wünschenswertes, als „nice to have“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017) bezeichnet. Obwohl also die Ringstraßenbahn als strategisch wichtiger Baustein zur Verbesserung des Gesamtnetzes betrachtet wird, erfährt deren Umsetzung hinter der akuten Notwendigkeit von 86 Die beiden mit der Erarbeitung des Gesamtverkehrsplans 2004 beauftragten Verkehrsplanungsbüros R+T Topp, Skoupil, Küchler und Partner aus Darmstadt und VKT Verkehrsplanung Köhler und Taubmann aus Frankfurt am Main. 195
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Infrastrukturmaßnahmen in Neubaugebieten lediglich eine nachfolgende Priorisierung. Zwar wird aus dem einleitenden Zitat durch die Frage „Wann ist später?“ deutlich, dass diese Mechanismen durchaus kritisch betrachtet werden, was auch im Rahmen eines anderen Gesprächs angedeutet wurde: „Warum sollte man die Leute, die in [Frankfurt-]Berkersheim wohnen, eigentlich nicht besser anbinden?“ (Interview Verkehrspolitik [FDP] 2017). Gleichzeitig offenbaren beide Aussagen erneut, dass der offizielle Zweck kommunaler Verkehrspolitik, also die Befriedigung vielseitiger Mobilitätsbedürfnisse auch in der Eigenwahrnehmung der beteiligten Akteure angesichts einer Instrumentalisierung für als akuter erachtete extrinsische Zwecke, stets eine untergeordnete Relevanz erfährt. Ein weiteres Mal wird damit deutlich, das die gegenwärtige Verkehrspolitik eben „eher eine folgende Funktion gegenüber der Bautätigkeit“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017) und den damit verbundenen politischen Zwecken hat.
5.4.5 Implikationen – neoliberale Verkehrspolitik durch die Hintertür Rückblickend auf den bisherigen Forschungsstand, wo der Ausbau öffentlicher Nahverkehrsinfrastrukturen vielerorts als Gegenstand einer unternehmerischen Stadtpolitik identifiziert wird, verweist das Beispiel Frankfurt darauf, dass solche Verknüpfungen zwar auch hier aufgezeigt werden können, die konkrete Sachlage jedoch wesentlich vielschichtiger erscheint. Zur Erinnerung: Wie schon in Kap. 2.2.3 thematisiert, erfolgte die Identifikation von Schnellbahnprojekten als Elemente einer neoliberalen Verkehrspolitik bisher grob anhand von drei Teilaspekten. Erstens durch die Beschreibung der Neoliberalisierung des öffentlichen Nahverkehrs als eine verstärkte inhaltliche Konzentration auf Strategien zur Stauvermeidung, Effizienzsteigerung und der Verbesserung städtischer Lebensqualität. Dieser Argumentation wurde bereits in Kap. 4 ausführlich widersprochen. Zweitens wird innerhalb der bisher existierenden Literatur argumentiert, dass in den erforschten Quartieren durch den Infrastrukturausbau vor allem eine Attraktivitätssteigerung für den Zuzug hochqualifizierter Arbeitskräfte und finanzstarker Bevölkerungsgruppen erreicht werden solle (vgl. Baeten 2012; Farmer 2011). Ganz ähnlich wird drittens hervorgehoben, dass mit dem Bau neuer Nahverkehrsinfrastrukturen versucht wird, die Attraktivität städtischer (Teil-)Räume für privatwirtschaftliches Kapital im Sinne von Immobilieninvestitionen oder von großen Finanzmarkt- und Wirtschaftsunternehmen zu erhöhen (vgl. Book et al. 2010: 393f.; Brownill 1990: 44f.; Enright 2013: 801f.; Farmer 2011: 1156). Aus diesen letzten beiden Punkten geht hervor,
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dass die in den Studien beschriebenen Infrastrukturprojekte ganz im Sinne einer unternehmerischen Stadtpolitik ausschließlich darauf abzielen würden, mittels städtischen Investitionen Mehreinnahmen für die Stadt zu generieren, sei es über einen Zuzug von finanz- und damit konsumstarken Bevölkerungsgruppen oder die aktive Anregung von Wirtschaftswachstum im Stadtgebiet. Oberflächlich betrachtet finden sich all diese Argumentationen tatsächlich auch innerhalb der Narrative und Argumentationen der Frankfurter Verkehrspolitik wieder. Bei intensiverer Auseinandersetzung mit der Thematik fällt aber einerseits auf, dass sich die kommunale Verkehrspolitik in Frankfurt zumindest offiziell keinesfalls von ihrem Kernanliegen, einer möglichst territorial umfassenden Bereitstellung von ÖPNV-Infrastrukturen zwecks allgemeiner Befriedigung individueller Mobilitätsbedürfnisse, abgewendet hat. Vielmehr erfahren implizite Verweise auf das verfolgte Ziel eines modernen Infrastrukturideals bis heute durchaus einen kontinuierlichen Fortbestand. Andererseits wird deutlich, dass ähnlich dem Verkehr selbst, dem nur in Ausnahmefällen eine Selbstzweck zugeschrieben werden kann (wie zum Beispiel bei einer Spritztour), auch die Politik des öffentlichen Nahverkehrs eigentlich schon immer als ein von Fremdzwecken bestimmtes Politikressort in Erscheinung trat: Angefangen von dem Zweck, den Durst immer größerer Fabriken nach Arbeitskräften mittels motorisierter Beschleunigung von Arbeitswegen zu stillen; weiter über die Entwicklung von Schnellbahnnetzen, mit denen trotz veränderter gesellschaftlicher und ökonomischer Vorzeichen dafür gesorgt werden sollte, dass eine rapide wachsende Zahl an Arbeitsplätzen des Dienstleistungssektors in den Stadtzentren stets besetzt werden konnte; bis hin zum Schienenanschluss als Instrument einer möglichst attraktiven Ausgestaltung neuer Quartiere, mit dem sowohl die Immobilienwirtschaft zur Investition angeregt als auch betuchte Bevölkerungsgruppen als Bewohnerschaft gewonnen werden sollten. Gerade weil es der Verkehrspolitik in Zeiten zunehmend individualistisch-heterogener Raum aneignung aufgrund unzureichender Erhebungsinstrumente besonders schwerfällt, ihrem offiziell postulierten Zweck der Mobilitätsbedürfnisbefriedigung gerecht zu werden, ist es trotz vielfacher politischer Relevanzbekundungen nach wie vor die heimliche Verkehrspolitik, die die Entwicklung des ÖPNV-Infrastrukturausbaus bestimmt. Zumindest für das Frankfurter Beispiel wird deutlich, dass es im Grunde genommen weniger die Verkehrspolitik selbst ist, die sich den Rationalitäten einer unternehmerischen Stadtpolitik verschrieben hat. Genau genommen ist es vielmehr die städtische Wohnungspolitik, die im Sinne einer unternehmerischen Standortpolitik darauf abzielt, über die Entwicklung entsprechenden Wohnraums den Anteil finanzstarker Bevölkerungsgruppen innerhalb der Stadt zu erhöhen. Damit soll mit Hilfe von Investitionen aus der Immobilienwirtschaft versucht 197
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werden, die städtische Rendite zu verbessern. Erst in diesem Zusammenhang wird dann auch die Nahverkehrsinfrastruktur zu einem Instrument unternehmerischer Stadtpolitik. Dies aber explizit nicht aufgrund eines ideologischen Wandels der Verkehrspolitik selbst, sondern weil die ÖPNV-Infrastruktur als ein Baustein innerhalb der Strategie der Wohnungspolitik zu betrachten ist, welche in diesem Fall in die Rolle des heimlichen verkehrspolitischen Akteurs schlüpft. Übertragen auf die zitierten Fallbeispiele anderer Studien sollte folglich auch dort die konkrete Frage gestellt werden, ob es nicht zielführender wäre, die Politik des öffentlichen Nahverkehrs nicht selbst als Feld einer Neoliberalisierung städtischer Politiken zu benennen, sondern die daraus hervorgehenden Infrastrukturen zunächst einmal als politisches Instrument zu betrachten und auf der Suche nach dem Zweck ihrer Anwendung verstärkt auch andere Politikfelder in die Analyse mit einzubeziehen.
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Schlanke Verwaltung und effiziente Instrumentarien
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Schlanke Verwaltung und effiziente Instrumentarien
Ein weiterer neuerer Aspekt heimlicher Verkehrspolitik, der sämtliche Bereiche verkehrspolitischer Entscheidungsfindung mit beeinflusst, wurde mit der städtischen Finanz- und Haushaltspolitik bereits in Kap. 4.6 angerissen. Hier lässt sich einerseits festhalten, dass Finanzierungsfragen insbesondere seit den 1990er Jahren in immer stärkerem Ausmaß die Entscheidungsfindung zum ÖPNV-Ausbau prägten, was einen großen Einfluss auf die erneute Zuwendung zur vergleichsweise günstigen Straßenbahn hatte. Andererseits waren im Zuge umfangreicher Konsolidierungsmaßnahmen seit 1992 unter anderem auch die Verkehrsabteilungen der Stadtverwaltung von einem größeren Stellenabbau betroffen, womit Infrastrukturprojekte nun weit weniger schnell bearbeitet werden konnten als in den vorhergegangenen Jahrzehnten. „Als Lutz Sikorsky das Amt [des Verkehrsdezernenten 2006 für die Grünen] übernommen hat, gab es für diese ganzen Projekte nichts als irgendwo mal einzelne Stückchen bedrucktes Papier, es gab im Prinzip keine Akten, es gab nahezu gar nichts“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017). Auch aus den Interviews geht hervor, dass insbesondere die 1990er Jahre und die ersten Jahre des neuen Jahrtausends von einem umfassenden Planungsstau geprägt waren, weswegen, abgesehen von der Straßenbahn ins Rebstockviertel, sämtliche neueren Projektvorhaben in dieser Zeit „vor sich hingedümpelt“ sind (Interview Verkehrsdezernat I 2017). Begründen lässt sich dies auch damit, dass die Verkehrspo-
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litik bis 2006 noch verstärkt damit beschäftigt war, die alten Schnellbahnplanungen weiter abzuarbeiten, etwa mit dem bereits thematisierten Lückenschluss. Zwar verweisen gleichzeitig bereits die Straßenbahn ins Rebstockviertel, wie auch die Einbindung der ÖPNV-Erschließung des Riedbergs in das Lückenschluss-Projekt darauf, dass die Verkehrspolitik auch hier schon immer mehr von neuen Aspekten heimlicher Verkehrspolitik beeinflusst wurde. Weil bis dahin aber noch viele Personalkapazitäten an den Lückenschluss gebunden waren, sah sich das 2006 nun erstmals wieder eigenständig agierende Verkehrsdezernat87 gleich mit mehreren bis dahin weitgehend unbearbeiteten Projektvorhaben konfrontiert.
5.5.1 Eins nach dem Anderen … oder auch nicht „Die Stadt wird nie alles auf einmal machen können, also auch wenn Frankfurt viel Geld hat. Aber so Strecken kosten auch viel Geld und da kann man nicht gleich drei Baustellen in der Größenordnung haben. Das heißt man muss gucken, dass man das eine nach dem anderen macht.“ (Interview Verkehrspolitik [Grüne] 2017)
Trotz dieser anfänglichen Planungsstaus gelang es in den darauffolgenden Jahren, einige dieser neuen Projekte zu planen, zu beginnen und abzuschließen. Nach wie vor wird es jedoch als schwierig erachtet, mehrere Projekte gleichzeitig umzusetzen. Als Begründung werden hierfür weiterhin vor allem finanzielle und personelle Einschränkungen herangezogen. Besonders deutlich wird dieser Sachverhalt erneut anhand des 2013 zurückgestellten Projekts zum Frankfurter Berg: „Also Frankfurter Berg war ganz klar bei einer Entscheidung von Koalitionsverhandlungen: für die nächsten 5 Jahre gibt es nur eine bestimmte Menge Geld, die investiert werden kann. Also irgendwas muss rausfliegen und dann ist das rausgeflogen. […] Dann muss man gucken, ab wann man es finanzieren kann […]. Man wird ganz sicher erst mal dieses Europaviertel bezahlen müssen“ (Interview Verkehrspolitik [Grüne] 2017). Ganz ähnlich verwies im Rahmen der entsprechenden parlamentarischen Abstimmung die verkehrspolitische Sprecherin der oppositionellen FDP-Fraktion darauf, dass dies zwar „schmerzhaft für die Bürger im Frankfurter Norden“ sei, dennoch könne auch die FDP der Entscheidung „in Zeiten derart knapper Kassen 87 Zuvor wurden Verkehrsthemen lange Zeit vom Planungsdezernat bearbeitet. 199
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in Gottes Namen noch zustimmen“ (Rinn (FDP), STVV am 21.3.2013). Obgleich diese Entscheidung der Politik also nicht leichtgefallen war, wurde eine weitere Bearbeitung des Planfeststellungsverfahrens aufgrund von „Geldmangel der Stadt“ und der als „sehr viel wichtiger“ erachteten Verwirklichung des ungleich größeren Europaviertel-Projekts abgebrochen und soll erst „jetzt wieder aufgenommen“ werden (Interview Verkehrsdezernat II 2017). Dies bedeutet allerdings noch lange nicht, dass auch dieses Projekt tatsächlich zeitnah umgesetzt wird, was nicht nur daran liegt, dass die Stadt „erst mal dieses Europaviertel[-Projekt] bezahlen“ müssen wird (Interview Verkehrspolitik [Grüne] 2017). Zugleich wird vonseiten der städtischen Verkehrsgesellschaft (VGF), die üblicherweise mit der Ausführung städtischer Bauprojekte betraut wird, darauf verwiesen, dass sie „nicht so viele Projekte auf einmal durchführen möchte und auch nicht kann“ (Interview VGF 2017). Schließlich binden die bestehenden Bauaufträge „schon so viele Kapazitäten, dass man nicht unbegrenzt Infrastrukturprojekte vorantreiben kann“ (ebd.). Bemerkenswert ist nun, dass der Frankfurter Berg ursprünglich nicht das einzige Projekt der Stadt war, das aufgrund finanzieller und personeller Beschränkungen auf die lange Bank geschoben werden sollte. Auch bei der ÖPNV-Erschließung von Gateway Gardens tendierte die politische Diskussion zu Beginn in eine ähnliche Richtung. Dabei waren es bezeichnenderweise gerade Debatten über Gateway Gardens, die besonders stark von Argumenten eines internationalen Standortwettbewerbs mit „Amsterdam, mit der Randstad, oder mit Paris oder London“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017) geprägt wurden. Weil dieses Gewerbegebiet explizit „dazu dienen sollte, internationale Unternehmen […] dann auch dort anzusiedeln“ (ebd.). Folglich wird davon ausgegangen, dass gerade dieses Gebiet unbedingt attraktiv durch den ÖPNV erschlossen werden müsse, weil „eine Reihe von Unternehmen die Ansiedlung in Gateway Gardens davon abhängig [machen], dass es eine attraktive ÖPNV-Anbindung gibt“ (Rinn (FDP), STVV am 10.10.2013). Denn die Stadt würde „solche Unternehmensansiedlungen heute nur noch bekommen, wenn wir garantieren können, dass […] die Beschäftigten auch einen guten ÖPNV-Anschluss haben“ (Stadtrat Majer (Grüne), STVV am 10.10.2013). Trotz dieser allgemeinen Bekenntnisse zur Notwendigkeit einer Nahverkehrserschließung von Gateway Gardens hatte die Kommunalpolitik an einer konkreten zeitnahen Umsetzung „nicht so sehr das große Interesse“ (Interview GG I 2017), obwohl eigentlich alle üblicherweise angeführten Sachargumente auch auf dieses Projekt zutrafen: von der stark belasteten vorhandenen Straßeninfrastruktur über das Bauen auf der grünen Wiese bis hin zu geringem Protestpotential. Begründen lässt sich dieses Desinteresse der Stadtpolitik zunächst dadurch, dass Gateway Gardens, bedingt durch dessen isolierte Lage am Stadtrand und fernab von tagespolitisch relevanten Themenbereichen, kaum Gegenstand des öffentlichen Interesses
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wurde, schließlich „gab es ja genug Leute, die wussten nicht, was das ist“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). Nachvollziehen lässt sich dies etwa anhand der Argumentation der damals oppositionellen SPD, die dem Bau der S-Bahn zwar generell zustimmte, gleichzeitig aber hervorgehoben hat, dass sie „gerne andere Projekte vorgezogen“ hätte (Interview Verkehrspolitik [SPD] 2017). Hinzu kam, dass weder die Stadtverwaltung sich fachlich-personell in der Lage sah, selbst ein S-Bahn-Projekt zu planen, noch die Deutsche Bahn, die in der Regel die Planung von S-Bahn-Strukturen übernimmt, dem Projekt eine hohe Priorität zukommen ließ und darum auch entsprechend lange für deren Umsetzung benötigt hätte: „Es gibt bei der Stadt Frankfurt keine Einheit, die sowas hätte planen können. Die DB selber, der waren andere Dinge wichtiger“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017). Zuletzt gingen auch das Stadtplanungsamt und die örtliche Entwicklungsgesellschaft 2005 noch davon aus, dass „mit der Verwirklichung einer direkten Schienenanbindung von Gateway Gardens nicht kurzfristig gerechnet werden kann“ (Stadt Frankfurt am Main, Stadtplanungsamt und Gateway Gardens Projektentwicklungsgesellschaft 2005: 20). Ganz offensichtlich wurde damit der S-Bahn nach Gateway Gardens hinsichtlich des offiziellen verkehrspolitischen Ziels einer möglichst umfassenden territorialen Erschließung durch Nahverkehrsinfrastrukturen nur eine nachgeordnete Priorität zugestanden. So wurde zwar die Notwendigkeit einer Schnellbahnerschließung kaum in Frage gestellt, dennoch schienen andere Projekte als wesentlich dringlicher erachtet zu werden. Dennoch hat dieses Projekt allen politischen Vorbehalten zum Trotz vergleichsweise schnell die Umsetzungsphase erreicht. Dies resultierte allerdings nicht aus einem Sinneswandel innerhalb der städtischen Verkehrspolitik. Denn hätte die Stadtpolitik alleine die Verantwortung einer Schnellbahnerschließung von Gateway Gardens übernommen, „da wäre nicht ein einziger Handstreich gemacht worden, im Gegenteil. Das Problem in Hessen war doch, dass die vorhandenen Gelder [des Landes] nicht ausgegeben wurden“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017). Neben dem Aspekt, dass „insbesondere auch die Landesregierung und Fraport [die Flughafen-Betreibergesellschaft] […] Druck gemacht haben“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017), lässt sich dieser Sachverhalt vor allem durch das Wirken eines weiteren Akteurs begründen. Auch dieser muss zunächst außerhalb der offiziellen verkehrspolitischen Sphäre verortet werden, da er nur wenig mit der Idee einer bestmöglichen Befriedigung individueller Mobilitätsbedürfnisse gemein hat. Im Gegensatz zu den zuvor thematisierten Infrastrukturprojekten ist es allerdings weder die städtische Wirtschafts- und Standortpolitik noch die städtische 201
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Wohnungspolitik, die hier als maßgeblicher Akteur heimlicher Verkehrspolitik in Erscheinung tritt. Als Grundlage für die beschleunigte Umsetzung des dortigen Nahverkehrsprojekts können vielmehr das spezifische dort installierte Instrument zur Umsetzung der örtlichen Baumaßnahmen, eine Public-Private-Partnership (PPP), als auch die daraus resultierenden Motivationen zur möglichst erfolgreichen Entwicklung des Gebietes identifiziert werden. Doch zunächst einige einführende Sätze zum Kontext von Gateway Gardens.
5.5.2 Entwicklungskonstrukt und Erschließung von Gateway Gardens Gateway Gardens ist ein ca. 35 Hektar großes Gelände in unmittelbarer Nähe zum Terminal 2 des Frankfurter Flughafens, das von der dort verlaufenden Bundesstraße 43 und den Autobahnen 3 und 5 komplett umschlossen wird. Es diente vormals als Wohngebiet für Angehörige der US-Luftwaffe und wurde Ende 2005 an die Stadt Frankfurt übergeben (GGG 2018). Hinsichtlich einer möglichen Folgenutzung liefen die Planungen der Stadt dabei relativ schnell darauf hinaus, ein Gewerbegebiet mit Fokus auf „eine flughafenaffine Nutzung und eventuell ein Kongresshotel mit 1250 Betten zu schaffen“ (Stadt Frankfurt am Main 2004b). Erweitert wurden diese Ziele wenig später dahingehend, dass nun „insbesondere kerngebietstypische Nutzungen“ in Gateway Gardens angesiedelt werden sollten (Stadt Frankfurt am Main 2005). Abgesehen von dem Verzicht auf großflächige Einzelhandelseinrichtungen wurde das anvisierte Nutzungskonzept seitdem nicht mehr verändert. Entsprechend der Deklaration als kerngebietstypisch umfasst die gegenwärtige und geplante Nutzung hochwertige Büro- und Dienstleistungsgebäude, Hotels, Räumlichkeiten für Tagungen und Konferenzen und flughafenbezogene Einrichtungen (GGG 2018).88 Insgesamt sollen in dem Gebiet dabei Gebäude mit einer Bruttogeschossfläche von 88 Tatsächlich gab es auf regional- wie kommunalpolitischer Ebene durchaus Kontroversen um den Bebauungsplan Gateway Gardens. Dabei ging es zum einen um eine Konkurrenz des dort geplanten Einzelhandels mit Einzelhandelsstandorten in der Umgebung, woraufhin die geplanten Einzelhandelsflächen in Gateway Gardens auf die notwendigen Flächen zur Versorgung des Quartiers beschränkt wurden. Zum anderen wurden seitens einiger Kommunalpolitiker*innen Befürchtungen geäußert, wonach eine erfolgreiche Vermarktung der Büroflächen Gateway Gardens sich negativ auf die Zahl der Büroleerstände der Stadt auswirken könnte. Diese Befürchtungen wurden mit dem Verweis auf die flughafenaffine Nutzung der dortigen Flächen von Stadt und Fraport versucht zu entkräften. Aufgrund der Weite des Felds potenziell flughafenaffiner Nutzungen bleibt abzuwarten, ob sich diese Befürchtung in Zukunft entkräften lässt (Knippenberger 2012: 164ff.).
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700.000 m² errichtet werden können (Stadt Frankfurt am Main, Stadtplanungsamt und Gateway Gardens Projektentwicklungsgesellschaft 2005: 63). Um das Gebiet im Auftrag der Stadt zu entwickeln, wurde bereits 2004 von der Stadt eine PPP ins Leben gerufen, der das Gelände für diesen Zweck verkauft wurde.89 Die Konstruktion der PPP entspricht dabei einer schon bei anderen städtischen Projekten erprobten Aufteilung in eine Grundstücksentwicklungsgesellschaft und eine Projektentwicklungsgesellschaft. Erstere besteht aus drei privatwirtschaftlich agierenden Partnern: der Betreibergesellschaft des Frankfurter Flughafens, einer privaten Grundstücksentwicklungsgesellschaft und eine Projektentwicklungsgesellschaft im Besitz der Landesbank Hessen-Thüringen. Ihre zentralen Aufgaben sind die Erschließung und Entwicklung des Areals sowie die Vermarktung der einzelnen Grundstücke. Die Projektentwicklungsgesellschaft fungiert dagegen als Dachgesellschaft, an der sowohl die Grundstücksentwicklungsgesellschaft als auch die Stadt Frankfurt mit jeweils 50 % beteiligt sind. Ihre Aufgabe besteht darin, „Ideengeber zu sein, dafür zu sorgen, dass die für die Entwicklung nötigen Schritte auch beim Magistrat eingeleitet werden und nachher die Schlussabrechnung vorzubereiten“ (Interview GG I 2017). Während es damit bei der Grundstücksgesellschaft primär um Vorbereitung und Verkauf von Grundstücken geht, wirkt die Projektentwicklungsgesellschaft mehr als ein konzeptioneller Berater, als Bindeglied zur städtischen Verwaltung und als städtische Aufsichtsinstanz. Die Stadt selbst profitiert von diesem Konstrukt einerseits dadurch, dass diese Art der Entwicklung für die Stadt als besonders „kostengünstig und schlank“ (ebd.) betrachtet wird und sie zudem an dem Ergebnis der Entwicklungsmaßnahme, also an den aus den Grundstücksverkäufen erzielten Gewinnen, zu einem im Voraus festgelegten Verhältnis beteiligt wird. So rechnete die Stadt zu Beginn der Maßnahme mit Einnahmen aus den Grundstücksverkäufen in Höhe von ca. 100 Mio. € (Immobilien Zeitung 2004: 27). Erste Verkehrsberechnungen und ‑gutachten, die die PPP in Folge des Gebietskaufes durchführen ließ, ergaben jedoch, dass die hierbei geplante Gebietsnutzung von 700.000 m2 Geschossfläche aufgrund der ohnehin schon angespannten Verkehrssituation zwischen Frankfurter Kreuz und Flughafen nur vollumfassend umgesetzt werden kann, wenn das Gebiet zusätzlich zur Erschließung für den Individualverkehr über einen effektiven Nahverkehrsanschluss angebunden wird. Diese Ergebnisse flossen auch in die erstmals 2005 veröffentlichten Begründungen 89 Gateway Gardens ist dabei bei weitem nicht das erste Stadtentwicklungsprojekt in Frankfurt, dass mittels PPP-Konstruktion entwickelt wurde. Vielmehr kann die Stadt hier auf bis in die beginnenden 1990er Jahre zurückliegende Erfahrungen aus verschiedensten Projekten zurückgreifen (Silomon-Pflug 2018: 58ff.). 203
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zum Bebauungsplan der Stadt Frankfurt ein, wonach das Quartier zwar bei einer Bebauung mit bis zu 600.000 m2 Geschossfläche auch ohne schienengebundene Nahverkehrserschließung bebaut werden könne, die anvisierten 700.000 m2 jedoch strikt an einen zeitnahen Anschluss an das Schienennetz gebunden wurde (Stadt Frankfurt am Main, Stadtplanungsamt und Gateway Gardens Projektentwicklungsgesellschaft 2005: 20). Infolge einer daraufhin beauftragten Variantenuntersuchung wurde schließlich der Bau einer Abzweigung aus der bestehenden Flughafen-S-Bahn als am besten geeignete Option zur Anbindung des Quartiers an das öffentliche Nahverkehrsnetz identifiziert (Verkehrsplanung Köhler und Taubmann und Schüßler-Plan 2007: 7). Auch die Stadt schloss sich diesen Ergebnissen an und hob hervor, dass ein S-Bahn-Anschluss im Vergleich zu einer Anbindung mittels Straßenbahn- oder Buslinien als besonders leistungsstark und qualitativ hochwertig heraussticht, weswegen hiermit ein Anteil von 25 % des örtlichen Modal Splits erreicht werden könne. Zugleich ließe sich eine drohende Überlastung des ohnehin schon stark belasteten umgebenden Straßennetzes durch diese Maßnahme am effektivsten verhindern (Stadt Frankfurt am Main 2007). Darüber hinaus sprachen auch weitere Sachargumente für eine Erschließung per S-Bahn. So zum einen die Schaffung einer „attraktiven Verbindung von der S-Bahn-Station in den östlichen Teil des Flughafens“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017), der bisher nur durch Pendelbusse erreichbar ist, zum anderen eine verbesserte Ausfallsicherheit des Flughafenbetriebs, sollte der eigentliche Flughafenbahnhof der S-Bahn kurzfristig gesperrt werden müssen. Auch unter Einbezug dieser Sachargumente erschien somit eine Erschließung von Gateway Gardens per S-Bahn als die mit Abstand sinnvollste Option.
5.5.3 Divergierende Zeithorizonte … Selbst ist die PPP „[Ich] hab gesagt: Also wir [die Stadt] müssen das Projekt nicht realisieren. Wenn ihr [die PPP] aber sagt, ihr braucht das Projekt unbedingt, dass dann die Immobilienentwicklung auch vorankommt, dann müsst ihr was auf den Tisch legen.“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017)
Wie schon weiter oben thematisiert, hatte allerdings die Stadt selbst aufgrund einer Vielzahl weiterer, als wichtiger erachteter Projekte und aufgrund fehlender eigener Expertise kaum Ambitionen, das S-Bahn-Projekt zeitnah zu verwirklichen. Ganz anders sahen dies natürlich die PPP, denn da eine Rekapitalisierung der von ihnen getätigten Investitionen vor allem von einer zügigen Vermarktung abhängig war,
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bestand hier ein wesentlich höherer Druck, die einzelnen Grundstücke möglichst schnell und erfolgreich zu veräußern: „Da haben ja auch Leute gesessen, die mit der Vermarktung Geld verdient haben. Die da ins Risiko gegangen sind. Das Risiko war ja nicht bei der Stadt […]. Und insofern, weiß ich schon wie hoch der Druck war, auf die Beteiligten, dass das vorankommt, weil man eben dort möglichst halt auch schnelle Erfolge erzielen wollte“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). Zudem stand auch für die PPP von vornherein fest, dass gerade bei hochwertigen Bürostandorten eine allgemeine Notwendigkeit bestünde, dass diese auch zwingend „einen unmittelbaren Anschluss an die S-Bahn haben müssen […], oder eine Tram oder sowas“ (Interview GG II 2017). Argumentiert wurde dabei, dass es hier vor allem die Arbeitnehmervertretungen seien, die auch bei Standortentscheidungen eine „große Macht“ (ebd.) hätten und die bei einem Umzug auch auf eine angemessene Nahverkehrsanbindung des neuen Standorts bestehen würden. „Alle international tätigen Unternehmen orientieren sich daran, kommen meine Mitarbeiter auch mit der S-Bahn hierher? Der Chef fährt mit dem Auto, das ist ok, oder mit dem Fahrrad, je nachdem. Aber der Großteil der Mitarbeiter kommt auch immer noch mit dem öffentlichen Nahverkehr und kommen die her? Das ist ein wesentliches Argument“ (Interview GG I 2017). Tatsächlich lief das Vermarktungsgeschäft in Gateway Gardens gerade zu Beginn sehr schleppend. Im Umkehrschluss wurde damit schon früh deutlich, dass „der S-Bahn-Anschluss ein entscheidender Punkt sein wird, damit dieses Projekt wirklich zum Laufen kommt“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017). Obgleich die S-Bahn nicht sofort das Gebiet erschließen konnte, musste den potenziellen Investor*innen zumindest gezeigt werden, „dass das nicht ein Projekt ist, das jahrelang vor sich hindümpelt“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). Somit stand die PPP vor dem Dilemma, selbst auf eine schnelle Verwirklichung der S-Bahn angewiesen zu sein, während innerhalb der offiziell dafür zuständigen Institutionen keine Akteure existierten, die selbst aktiv auf eine schnellere Umsetzung hinwirken wollten oder konnten. Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, der Stadt an dieser Stelle eine ausschließlich passive Rolle zuzuschreiben. So hat sie zwar einerseits von vorneherein kommuniziert, dass es bei der Stadt „keinen Kümmerer und nicht nur keinen Kümmerer, sondern keinen Planer für ein solches Projekt“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017) geben würde. Andererseits führte dieser Sachverhalt in der 2005 veröffentlichten 205
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ersten Begründung zum örtlichen Bebauungsplan dennoch nicht dazu, dass deswegen von vorneherein nur eine maximal zulässige Geschossfläche von 600.000 m2 festgeschrieben wurde, die laut Gutachten auch ohne ÖPNV-Schienenanschluss realisierbar gewesen wäre. Wie schon erwähnt, wurde stattdessen bereits hier explizit darauf verwiesen, dass bei der Realisierung eines schienengebundenen Nahverkehrsanschlusses darüber hinaus auch eine zulässige Geschossfläche von 700.000 m2 umsetzbar wäre (Stadt Frankfurt am Main, Stadtplanungsamt und Gateway Gardens Projektentwicklungsgesellschaft 2005: 20). „Ihr kriegt die höhere Ausnutzung in diesem Areal nur, wenn die S-Bahn kommt“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017). Aus der Perspektive des damaligen Verkehrsdezernats ging es der Stadt mit dieser Ankündigung darum, dass ein „Anreizsystem geschaffen wurde“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017), um über die Aussicht auf eine mögliche höhere Ausnutzung die PPP dazu zu bewegen, selbstständig mit der Planung zu beginnen. Auch wenn der Stadt damit vordergründig nicht viel an einer zeitnahen Verwirklichung der S-Bahn gelegen hat, verweist doch der in die Bebauungspläne festgeschriebene Anreiz zur höheren Ausnutzung darauf, dass auch die Stadt durchaus ein Interesse daran hatte, dass dem S-Bahn-Projekt nach Gateway Gardens nicht das gleiche Schicksal widerfährt, wie den anderen S-Bahn-Projekten in der Stadt und der Region, die zum Teil schon seit Jahrzehnten nicht über die Planungsphase hinauskommen.90 Tatsächlich konnten bis dahin auch schon andere städtische Nahverkehrsprojekte vergleichsweise zügig verwirklicht werden, sobald sich ein zentraler Akteur der Stadt „sehr intensiv darum gekümmert hat“ (Interview GG I 2017). „Die Entscheidung für das Verkehrssystem selber, die war unumstritten. Aber der Wunsch, die Grundstücke zu vermarkten, war eben konstitutiv dafür, dass es eben sich so schnell entwickelt hat, schneller wie andere Projekte. Wenn Sie jetzt an die Nordmainische S-Bahn denken, […] die hat zwar auch eine wichtige Bedeutung für die Entwicklung der Stadt, aber da kann man jetzt nicht sagen, das ist jetzt eine Grundstücksgesellschaft, die jetzt den Benefit von dem Projekt eintreibt, sondern es gibt ein ganzes Städteband und die Frankfurter Innenstadt, die davon profitieren, […] aber es ist halt eine gestreute Zahl von Profiteuren, 90 Verwiesen wurde hier auf die Nordmainische S-Bahn, die S-Bahn-Strecke nach Bad Vilbel und die Schnellfahrstrecke nach Mannheim, die allesamt von der Deutschen Bahn selbst geplant werden und sehr lange Vorlaufzeiten von zum Teil bis zu 30 Jahren aufweisen.
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während man bei Gateway Gardens eben die Grundstücksgesellschaft hat, die die geballte Lobby hinter dem Projekt ist“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017). So begann die PPP im Jahr 2006 schließlich, sich selbstständig Gedanken über eine Umsetzung der S-Bahn zu machen und im weiteren Verlauf zudem deren Planung zu übernehmen: „Fleißig und schnell“ (Interview GG II 2017) wurden eigenständig Finanzierungsmöglichkeiten und ‑voraussetzungen im Rahmen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes bei Bund und Land ausgelotet. Auch dem Magistrat wurde intensiv zugearbeitet, um daneben auch die zur Umsetzung des Projekts notwendigen parlamentarischen Beschlüsse zeitnah einzuholen. Dabei wurden sämtliche Beschlüsse und Berichte zur S-Bahn durch die PPP selbstständig verfasst, dem zuständigen Dezernenten vorgelegt, dessen Unterzeichnung eingeholt und sie über den Dezernenten im Stadtparlament zur Debatte gestellt: „[Wir haben] die Dinger geschrieben, die ganzen Beschlüsse. Und haben sie den Dezernaten vorgelegt und darum geworben, dass sie mitzeichnen, alle Berichte“ (Interview GG I 2017). Auch das anschließende Planfeststellungsverfahren konnte durch den Einsatz der PPP mit „keine[m] einzigen Widerspruch, keine[r] einzigen Klage“ (Interview GG II 2017) durchgeführt werden. Dazu trug sicherlich auch die konkrete Lage der neuen Trasse bei. Denn diese verläuft ausschließlich durch das Landschaftsschutzgebiet Frankfurter Stadtwald, womit letztendlich nur städtische und Landesbehörden sowie Umweltverbände zwischenzeitlich Vorbehalte gegen einzelne Bestandteile des Projekts äußerten, Privateigentum aber nicht von den Baumaßnahmen betroffen war. Dennoch war es auch hier die PPP, die über frühzeitige Beteiligungs- und Kommunikationsmaßnahmen zu den strittigen Planungspunkten elementar dazu beigetragen hat, dass die Planfeststellung der S-Bahn bis 2014 „komplett butterzart durchgegangen“ ist (Interview GG I 2017). „Und insofern, das war das Glück des Fleißigen gewesen, dass wir im Prinzip (a) das Argument hatten, hochwertig, nur mit S-Bahn. Und (b) alles parat hatten. Und das alles parat Haben, das muss man sagen, da will ich keinem auf die Füße treten, hatten drei andere [S-Bahn-] Projekte nicht“ (Interview GG II 2017). Folglich konnte bereits im Jahr 2016 mit dem Bau der neuen S-Bahn-Trasse begonnen werden, womit das Projekt nicht nur sämtliche anderen aktuellen Nahverkehrsprojekte der Stadt Frankfurt überholt hat, sondern darüber hinaus als das 207
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gegenwärtig „schnellste S-Bahn-Projekt in Deutschland“ (Interview GG I 2017) bezeichnet werden kann. Einen beträchtlichen Anteil an der zügigen Verwirklichung des Projektes, das ja immer auch von den entsprechenden Beschlüssen aus dem Stadtparlament abhängig war, kann darüber hinaus auch dem innovativen Finanzierungskonstrukt zugesprochen werden, das für die S-Bahn in Gateway Gardens implementiert wurde und durch das auch die zukünftigen Grundeigentümer*innen in die Finanzierung integriert werden konnten. Zumindest zum Zeitpunkt der parlamentarischen Abstimmung über das Projekt versprach dieses Konstrukt schließlich, dass die Maßnahme für die Stadt kostenneutral umgesetzt werden könne (Stadt Frankfurt am Main 2007: 3). So hat das spezielle Finanzierungskonstrukt einen zentralen Beitrag dazu geleistet, dass eine Beschlussfassung ins Stadtparlament getragen werden konnte, „die dann auch politisch durchsetzungsfähig war“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017). Dessen Besonderheit liegt im Detail darin begründet, dass es über die klassischen Finanzierungsmittel im Rahmen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes in zwei Punkten hinausgeht. Einerseits wurden hier im Sinne einer Drittnutzerfinanzierung auch die Käufer*innen der Grundstücke mittels Infrastrukturzuschlag von zusätzlichen 35 € je m2 erworbener Geschossfläche an der Finanzierung beteiligt. Andererseits erklärte sich auch die PPP selbst dazu bereit, die Finanzierung mit einer einmaligen Zahlung von 10 Mio. € mitzutragen. Insgesamt erwartete die Stadt damit Mehrerlöse von rund 47 Mio. €, die in die Infrastrukturmaßnahme investiert werden sollten. Da zudem noch 18 Mio. € aus dem städtischen Stellplatzablösetopf in das Projekt flossen, schien sich der erwartete Finanzierungsaufwand der Stadt von rund 65 Mio. € in Bezug auf die erwarteten Mehrerlöse durch die größere mögliche Geschossfläche in der ursprünglichen Rechnung tatsächlich zu neutralisieren (vgl. Stadt Frankfurt am Main 2007: 3). Für die PPP hatte das Finanzierungskonstrukt auch über die Kostenbeteiligung der späteren Nutznießer*innen und die dadurch erwirkte Zustimmung im Stadtparlament hinaus noch einen entscheidenden weiteren Vorteil. Denn weil dieser „Zusatzaufpreis“ nur fällig werden sollte, wenn die „Sicherheit einer S-Bahn-Erschließung bis 2019“ gegeben sein würde, gelang es auf diese Weise, den „viele[n] Zweifler[n]“ unter den Investor*innen „die Zweifel [zu] nehmen“ (Interview GG I 2017), dass dieses Projekt, tatsächlich auch zeitnah verwirklicht würde. Faktisch hat sich allerdings bis heute der städtische Anteil der Projektkosten im Zuge einiger Kostensteigerungen auf mittlerweile knapp 106 Mio. € stark erhöht (Stadt Frankfurt am Main 2017b), was wiederum auch die Kehrseite dieser Art von Drittnutzerfinanzierung ins Licht rückt. So besteht gegenüber anderen Möglichkeiten der Drittnutzerfinanzierung zwar einerseits der Vorteil, dass weder
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auf städtebauliche Verträge oder gesetzliche Regelungen zurückgegriffen werden muss noch eine Abhängigkeit von freiwilliger Beteiligung besteht (vgl. hierzu z. B. Bracher et al. 2014: 8). Damit lässt sich dieses Instrument vergleichsweise flexibel und dennoch verbindlich anwenden. Andererseits bewegt sich der Umfang der Drittnutzerfinanzierung hier in einem relativ engen Spielraum, da er nur soweit angehoben werden kann, solange sich der entsprechend steigende Kaufpreis noch in einem realistischen Rahmen befindet. Darum wurde in Gateway Gardens davon abgesehen, die späteren Kostensteigerungen der Infrastrukturmaßnahme auch in einer Erhöhung der Kaufpreise abzubilden, weil „es ja niemandem geholfen hätte, wenn ich dann, […] die Preisschraube so stark anziehe, dass das Grundstück zu teuer wird und dann nicht mehr vermarktet werden kann. Weil dann habe ich nachher keine Einnahmen“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017). Obwohl die PPP selbst ihre Projektbeteiligung später noch einmal um 2 auf nun insgesamt 12 Mio. € aufgestockt hat, kann damit bei dieser Infrastrukturmaßnahme heute kaum mehr von einem für die Stadt kostenneutralen Finanzierungskonstrukt gesprochen werden. Insbesondere für die PPP war die Einführung dieser Drittnutzerfinanzierung dennoch ein erfolgreicher Schritt. Denn abgesehen davon, dass sie auch „mit den Planungen und Verhandlungen so schnell“ (Interview GG II 2017) vorangekommen sind, trug vor allem auch die Kostenbeteiligung der privaten Akteure dazu bei, dass sich das Projekt Gateway Gardens zu einem „Schnellboot“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017) entwickeln konnte, das mit dem Baubeginn 2016 und einer geplanten Fertigstellung Ende 2019 bereits heute alle anderen Nahverkehrsprojekte der Stadt überholt hat. „Ich kenn ja den Auftritt der Vermarktungsgesellschaft auf der MIPIM oder in Cannes […], wo immer auch mit großen Bildern und mit gut gemachten Prospekten der Standort hochgelobt worden ist und immer damit geworben worden ist, mit der Nähe zum Flughafen, ist ja klar, und dann auch mit der Anbindung an das ÖPNV-Netz“ (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). Konsequenterweise nahm schließlich der belegbare Verweis auf die kommende S-Bahn-Anbindung auch einen zentralen Stellenwert in der Vermarktungstätigkeit der Grundstücke in Gateway Gardens ein. Dabei scheint die Strategie der PPP, die als wichtiges Vermarktungsinstrument identifizierte S-Bahn mit aller Kraft einer Verwirklichung zuzuführen, rückblickend überaus erfolgreich gewesen zu sein. Denn wie zu Beginn der Planungen erhofft, hatte sich das Interesse an Grundstücken in Gateway Gardens tatsächlich merklich erhöht, seitdem Gewissheit über deren zeitnahe Umsetzung bestand: 209
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„Nachdem klar ist: jawohl, die S-Bahn kommt tatsächlich, gibt es wesentliches Interesse, hierher zu kommen“ (Interview GG I 2017). Besonders deutlich wurde dies beispielsweise im Zusammenhang mit der Verlegung der Konzernzentrale von DB-Schenker. So fiel die Entscheidung hier auch darum auf Gateway Gardens, „weil wir garantieren konnten, dass der S-Bahn-Anschluss kommt“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017). Gerade diese direkte Verknüpfung von Unternehmensansiedlungen mit dem S-Bahn-Projekt ermöglicht es der Stadt, die Infrastrukturmaßnahme noch anderweitig als für die Stadt kostenneutral zu präsentieren und sie so noch einmal mehr politisch zu legitimieren. Nämlich indem in diesem Zusammenhang auf zukünftig erwartbare Gewerbesteuern verwiesen wurde, die mit dem Umzug einhergingen: „Die Finanzierung des städtischen Anteils an dem S-Bahn-Anschluss Gateway Gardens rechnet sich in einer überschaubaren Anzahl von Jahren aus den Gewerbesteuerzahlungen von DB Schenker“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017). Für sich genommen muss der PPP vor diesem Hintergrund durchaus bescheinigt werden, ihre Ziele besonders erfolgreich verfolgt zu haben. So hat sie nicht nur die S-Bahn zielführend und schnell verwirklicht, sondern auch der damit bezweckte Vermarktungserfolg ist infolge der einsetzenden S-Bahn-Bauarbeiten tatsächlich eingetreten (GGG 2018).
5.5.4 Implikationen – Aufstieg orts- und anlassbezogener Verkehrspolitik Auch die S-Bahn nach Gateway Gardens steht damit beispielhaft für den gegenwärtigen Widerspruch städtischer Verkehrspolitik zwischen einer offiziell territorialen Politik der allgemeinen Bedürfnisbefriedigung, verkörpert durch den Gesamtverkehrsplan, und der konkret beobachtbaren Praxis der Infrastrukturbereitstellung in den letzten Jahrzehnten. Wie schon im Zuge diverser neuer Wohngebiete war es auch hier nicht die offizielle Verkehrspolitik, die die S-Bahn-Verbindung nach Gateway Gardens so hartnäckig vorantrieb, sondern ein anderer Akteur. Entgegen der offiziellen Verkehrspolitik ging es diesem Akteur aber gerade nicht an erster Stelle um eine Verbesserung des städtischen Nahverkehrsnetzes, sondern um den extrinsischen Zweck, mittels ÖPNV-Infrastrukturen eine schnelle Vermarktung der örtlichen Grundstücke herbeizuführen. Erneut treten damit Rationalitäten
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von außerhalb Sphären von Verkehr und Mobilität in den Vordergrund, die die Erweiterung des Nahverkehrsnetzes vorantreiben. Obgleich der Maßstab hier etwas kleiner ist, reiht sich das Gateway Gardens Projekt damit nahtlos in die in Kap. 2.2.3 beschriebenen Entwicklungen der Londoner Docklands und der Örestad in Kopenhagen ein. Auch hier wurde die Infrastruktur von Institutionen vorangetrieben, deren alleinige Aufgabe in der Entwicklung der spezifischen Orte bestand. Und auch hier ging es weniger um strategische Überlegungen zur allgemeinen Verbesserung des städtischen Nahverkehrsnetzes sondern in erster Linie um eine Instrumentalisierung der ÖPNV-Infrastruktur für größere Vermarktungserfolge. Bezogen auf den Wandel der Politik städtischer Nahverkehrsinfrastrukturen werden anhand von Gateway Gardens besonders zwei Sachverhalte deutlich. Erstens belegt das Projekt eindrücklich, wie sich eine unternehmerische Stadtpolitik, auch über den Abbau von Verwaltungspersonal und die Verknappung finanzieller Spielräume, bei gleichzeitigem Einzug neuer Verwaltungsinstrumente wie der PPP, zwar indirekt, wenngleich nicht weniger wirkmächtig, auf die städtische Verkehrspolitik auswirken kann. Faktisch kann eine solche Konstellation nebst ihren Resultaten damit als eine Art Neoliberalisierung durch die Hintertür bezeichnet werden. Zweitens bleibt die Durchsetzungskraft beider in Kap. 5.4 und 5.5 beschriebenen neuen Akteure einer heimlichen Verkehrspolitik, also gleichermaßen die PPP und die wachstumsgetriebene städtische Wohnungspolitik, nicht folgenlos für die räumliche Gestalt städtischer Nahverkehrsinfrastrukturen. Denn sowohl in Gateway Gardens als auch bei der Erschließung immer neuer Neubaugebiete wurde eine – offiziell immer noch gültige – territoriale Verkehrspolitik der Stadt durch orts- und anlassbezogene Gegebenheiten überformt: Aufgrund einer jeweils örtlich akut wahrgenommenen Notwendigkeit zum Infrastrukturausbau wurden Projekte, die eher einer territorialen politischen Praxis zugeordnet werden können, immer weiter in die Zukunft verschoben, was sich im Endeffekt als wenig förderlich für eine allgemeine Verbesserung des städtischen Nahverkehrsnetzes darstellt: „Es ist nicht unbedingt so, dass diese Riesenprojekte einen weiten Sprung vorwärts für das Gesamtsystem des ÖPNV bringen, weil Gateway Gardens ist ja doch sehr isoliert, bindet sehr viel Geld und basiert im Wesentlichen auf der Vereinbarung, die dort getroffen wurde, für die Entwicklung des Gebiets“ (Interview Extern II 2017). Als Offenbarung kann in diesem Zusammenhang auch eine Feststellung aus dem Stadtplanungsamt bewertet werden, wonach „es heute nicht mehr um einen Vollständigkeitsanspruch der gesamtstädtischen Planung im Sinne einer 100-pro211
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zentigen Gebietsabdeckung zu jedem Thema der Daseinsvorsorge und räumlichen Entwicklung oder um verkürzte Vorstellungen einer vollständigen ‚Planbarkeit‘ der Stadtentwicklung [geht]“ (Stadt Frankfurt am Main, Stadtplanungsamt 2012: 13). Denn zumindest in Bezug auf den städtischen Gesamtverkehrsplan geht es ja eigentlich genau um diese möglichst weitgehende Gebietsabdeckung, sie wurde lediglich von anderen Rationalitäten überlagert und deren Umsetzung stetig weiter in die Zukunft datiert. In Anlehnung an Harvey, Swyngedouw und andere (vgl. Kap. 2.3.4) lässt sich damit heute auch für die Frankfurter Nahverkehrspolitik konstatieren, dass diese „sich viel stärker auf die politische Ökonomie des [lokalen] Ortes konzentriert als auf die des [städtischen] Territoriums“ (Harvey 1989a: 7). Darüber hinaus kann auch innerhalb der Frankfurter Infrastrukturpolitik jene Entwicklung nachgezeichnet werden, die sich nach Graham und Marvin (2008: 38f.) beschreiben lässt als „eine Abkehr von standardisierten und räumlich integrierten und eine Entwicklung hin zu stärker fragmentierten und räumlich ausdifferenzierten Infrastrukturen“. Eine Entwicklung in deren Rahmen Infrastrukturen nun wesentlich selektiver geplant und „maßgeschneiderte“ Investitionen verstärkt räumlich ausdifferenziert getätigt werden. Während die räumliche Form des öffentlichen Nahverkehrs bisher also nur von einer funktionalen Selektivität gezeichnet war (in ihrer Beschränkung auf Wegestrecken zu den zentralörtlichen Arbeits- und Konsumorten), wird diese heute ergänzt durch eine räumliche Selektivität, die sich fast ausschließlich auf verschiedene Orte von (artikuliertem) Interesse konzentriert. Dabei sticht die Situation in Gateway Gardens noch einmal besonders hervor. Denn hier ist es nicht nur ein anderes Politikfeld, das im Sinne einer heimlichen Verkehrspolitik die Art und Weise des Infrastrukturausbaus entscheidend beeinflusst, auch wenn dieses selbst wiederum stark von Partikularinteressen der Immobilienwirtschaft, Neueigentümer*innen und Neubürger*innen beeinflusst wird. In Gateway Gardens machen die Partikularinteressen schlichtweg ihre eigene Verkehrspolitik. Obwohl eine zeitnahe Verwirklichung der S-Bahn zumindest bei den Parlamentarier*innen auf eher verhaltenes Echo stieß, formierte sich die PPP als „geballte Lobby hinter dem Projekt“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017), trieb eigeninitiativ die notwendigen Planungen voran, führte Finanzierungsverhandlungen mit der Politik und sorgte so dafür, dass das Projekt wesentlich schneller realisiert wurde als eigentlich seitens der Politik geplant. Damit ist die S-Bahn nach Gateway Gardens zuletzt ein gutes Beispiel, um aufzuzeigen, dass durch den Entschluss, eine Stadtentwicklungsmaßnahme über PPPs durchzuführen nicht nur die Stadtentwicklung selbst entpolitisiert wird (vgl. Silomon-Pflug et al. 2013). Denn durch die Instrumentalisierung der S-Bahn durch die PPP muss diese Entpolitisierung auch auf die räumliche Erschließung mit öffentlichen Verkehrsmitteln übertragen werden, welche sich in vergleichbarem
5.6 Regionaltangente West – Ausbruch aus dem „Radialgefängnis“?
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Maße in der bereits in Kap. 2.3.4 beschriebenen Abkehr von einer gesamtstädtischen, territorialen Praxis bei gleichzeitigem Transfer von Planungskompetenzen an privatwirtschaftlich agierenden Akteuren manifestiert (vgl. Swyngedouw 2007/2013: 145). Weiterhin führt diese Verschiebung von Planungskompetenzen zu einem graduellen Herauslösen der Diskussion über die Art und Weise und den Zeithorizont einer ÖPNV-Infrastrukturmaßnahme aus der öffentlichen Sphäre. Zwar müssen die Planungen weiterhin durch das Stadtparlament abgesegnet werden. In Gateway Gardens jedoch wurden gerade die Diskussionen darüber, wie und warum dieses spezifische Planungsvorhaben zustande kam, vor allem innerhalb der PPP geführt und konnten damit viel weniger nachvollzogen werden als wenn dies innerhalb des klassischen politischen Betriebs geschehen wäre.
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Ein letztes Fallbeispiel dieser Arbeit ist der politische Diskurs um die Regionaltangente West (RTW). Die RTW ist ein kommunenübergreifendes Schienennahverkehrsprojekt, bei dem eine neue tangentiale Schienenverbindung am westlichen Stadtrand von Frankfurt errichtet werden soll. Das Projekt kann dabei als eine weitere politische Antwort auf die sozialräumlichen regionalen Veränderungen der letzten Jahrzehnte betrachtet werden. Konkrete Veränderungen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der RTW gesehen werden können, sind zum einen die Wohn- und Beschäftigungssuburbanisierung, in deren Folge auch neue Wirtschaftsstandorte im städtischen Umland ein umfangreiches Wachstum erfuhren, zum anderen aber auch die allgemeinen tiefgreifenden Veränderungen der Raumaneignung im Zuge individueller Massenmobilisierung durch das Automobil (vgl. Kap. 5.1). Tatsächlich wird die RTW von der Kommunalpolitik als Projekt bezeichnet, mit welchem es durch eine neue Schieneninfrastruktur bewusst darum gehen soll, „aus dem Radialgefängnis auszubrechen“ (Interview Verkehrspolitik [SPD] 2017), womit die „Erschließung der Fläche“ (Interview Verkehrspolitik [Die Linke] 2017) auf eine neue Ebene gehoben würde. Damit erweckt das Infrastrukturprojekt den Anschein, der automobilbedingten, zunehmend dispersen Raumaneignung nun auch mit einer entsprechenden Ergänzung des Schnellbahnnetzes begegnen zu wollen. Gleichzeitig finden sich in den Debatten und Kontroversen um die Regionaltangente West erneut einige Analogien mit anderen Projekten und Kontinuitäten wieder, die einmal mehr die postulierte Optimierung einer Befriedigung individueller Mobilitätsbedürfnisse infrage stellen. 213
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5.6.1 Verhandlung regionaler Erreichbarkeitsasymmetrien Zunächst ist es auch für ein umfassendes polit-ökonomisches Verständnis der hinter der RTW verborgenen politischen Zwecke notwendig, noch einmal den politischen Zweck des bisher rein sternförmig auf Frankfurts Kernstadt ausgerichteten Schnellbahnnetzes ins Gedächtnis zu rufen: Die Zementierung und räumliche Ausweitung bestehender wirtschaftsstruktureller, konsumptiver und kultureller Machtgefälle zwischen Kernstadt und Umland mittels fortlaufender Verbesserung der regionalen Erreichbarkeit des Frankfurter Stadtzentrums. Damit sticht im Vergleich zu allen anderen hier beschriebenen Infrastrukturprojekten die RTW besonders heraus, weil sie im Gegensatz zu diesen erstmals dem strikt radialen Muster ebenso strikt widerspricht. Vor diesem Hintergrund ist es nur naheliegend, dass dieses Projekt keiner städtischen Feder entstammt, sondern zunächst vom Umlandverband91 Frankfurt angestoßen wurde, indem dieser um 1990 begann, sich mit Möglichkeiten eines Nahverkehrsrings um die Stadt Frankfurt auseinanderzusetzen. Empfohlen wurde dabei aufgrund verschiedener Überlegungen letztendlich aber kein geschlossener Ring, sondern lediglich ein nach Norden hin offener Teilring (vgl. Umlandverband Frankfurt 1992; s. Abb. 10). Motiviert sah sich der Umlandverband dadurch, dass nur durch eine Entwicklung tangentialer ÖPNV-Infrastrukturen „die Region […] auf ein mögliches Wachstum vorbereitet“ werden könne, da insbesondere die Verkehrsinfrastruktur bisher „nicht mitgehalten [habe] mit der Entwicklung der Städte“ (ebd.: 3). Allerdings wurde dieser Diskussionsbeitrag noch mit der Empfehlung verknüpft, die Tangentiallinie als Magnetschwebebahn zu verwirklichen. Tatsächlich erscheint dies nicht nur aus heutiger Sicht wenig nachvollziehbar, sondern wurde auch schon damals seitens der Politik eher skeptisch kommentiert (FAZ 1992). Ganz allgemein offenbaren sich bei diesem Projekt große Überschneidungen zur Arbeit von Enright (2015, 2013), die der politischen Propagierung des Grand Paris Express attestiert, durch die damit intendierte Schaffung einer polyzentrischen Region „deren globale Wettbewerbsfähigkeit verfestigen“ zu wollen (2013: 798; vgl. Kap. 2.2.4). Denn ganz ähnlich zielten auch die Pläne des Umlandverbands letztendlich darauf ab, der polyzentrischen Struktur der Region, die eine „hervorragende Voraussetzung für jegliche Entwicklung“ (Umlandverband Frankfurt 1992: 3) 91 Der 1974 auf Druck des damaligen hessischen Ministerpräsidenten gegründete Umlandverband Frankfurt kann als ein erster Versuch gesehen werden, der polyzentrischen Struktur der Region auch mit einer entsprechenden politischen Institution zu begegnen. Faktisch wurde ihm allerdings von vorneherein zu wenig Handlungsmacht übertragen, als dass der Umlandverband wirkliche politische Akzente setzen konnte (Ronneberger 2012).
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Abb. 10 Vorschlag einer tangentialen Magnetschwebebahnlinie mit Varianten (verändert nach Umlandverband 1990: 48)
darstellen würde, durch eine Anpassung des Nahverkehrsnetzes zu entsprechen. Weil aber „die vorhandene sternförmige Erschließung“ in ihrer „Kapazität sehr begrenzt ist“ (ebd.), sei die Entwicklung von neuen Szenarien hinsichtlich der Schaffung von „räumlichen Voraussetzungen für ein weiteres Bevölkerungs- und damit auch ein Beschäftigungswachstum“ (ebd.: 4) notwendig. Dieses Ziel vor Augen, sei schließlich eine „Verbesserung der Verkehrsverhältnisse ohne den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs nicht mehr möglich“ (ebd.). Obwohl der Umlandverband sich in seinen Empfehlungen zwischendurch auch auf „sich veränderte Verkehrsbedürfnisse in der Region“ bezieht, denen das
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öffentliche Verkehrsangebot „zunehmend weniger gerecht“ werde (ebd.: 44), wird einige Zeilen später deutlich ausgeführt, worum es eigentlich geht: „Das Straßennetz im Rhein-Main-Gebiet ist heute bereits größtenteils überlastet. Dies trifft zunehmend auch für tangentiale Relationen zu. Ein Straßenneu- bzw. -ausbau erscheint jedoch nur noch in begrenztem Umfang möglich. Zur Erhaltung und längerfristigen Steigerung der Attraktivität des Rhein-Main-Gebietes ist deshalb eine deutliche Verbesserung des ÖV-Angebotes erforderlich, insbesondere auch in den Tangentialrelationen“ (Umlandverband Frankfurt 1992: 44).
Anstoß der Initiative des Umlandverbandes ist also erneut weniger das allgemeine Verkehrsbedürfnis, sondern kurz und bündig der Verkehrsstau, der die wirtschaftliche Prosperität der Region gefährde und deswegen gemindert werden müsse. Einmal mehr werden damit Parallelen zur politischen Legitimation aus den Anfangsjahren des sternförmigen Schnellbahnnetzes offensichtlich. Dies allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass die damalige Argumentation der Frankfurter Kommunalpolitik entstammte und damals – wie bereits erläutert – primär das Wachstum der Stadt Frankfurt unterstützt werden sollte, während der Umlandverband qua Definition als regionaler Akteur in Erscheinung trat und demnach das Wachstum der gesamten Region als zentrales Ziel verfolgte. Dennoch haben es bis heute weder der Umlandverband noch eine seiner Nachfolgeinstitutionen (gegenwärtig der Regionalverband FrankfurtRheinMain) vermocht, einen auch politisch einheitlich, oder zumindest abgestimmt agierenden Regionalraum zu konstruieren, da in den einzelnen Städten weiterhin eine „Kirchturmpolitik“ vorherrscht (Ronneberger 2012). Abgesehen von der Erstellung eines Flächennutzungs- und Landschaftsplans beschränkt sich dessen Tätigkeit darum nach wie vor auf weiche Bereiche wie Standortmarketing, Wirtschaftsförderung, Kultur, Tourismus oder Naherholung (ebd.). Es ist Naheliegend, dass die Idee des Umlandverbands wenig später durch den 1995 gegründeten Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) prominente Unterstützung erfuhr. Denn auch dieser sollte originär dazu beitragen, durch die Schaffung einer regionalen Einheit die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken (Grüber 1991: 12f.; vgl. auch Flucke 2003: 61; Ronneberger 2012). Entgegen der Motivation des Umlandverbands, dem es primär darum ging, regionale Infrastrukturasymmetrien durch eine Anpassung der gebauten Umwelt an das Leitbild einer polyzentrischen Region anzugleichen, scheint die Unterstützung des RMVs darüber hinaus tatsächlich auf eine Anpassung des Nahverkehrsnetzes an die allgemein veränderte Praxis individueller Raumaneignung abzuzielen. Schließlich geben deren Protagonisten an, „damals schon gemerkt [zu] haben, dass wir um Frankfurt herum tangentiale Verkehrsbeziehungen machen müssen, weil im polyzentrischen Raum ja nicht alle
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da rein fahren wollen“ (Interview RMV 2017). Anstelle der Frage des Umlandverbands, was die Bürger*innen der Region nicht können, aber können müssten, um die internationale Attraktivität der Region weiterhin zu gewährleisten, scheint hier, ganz im Sinne der argumentativen Kernposition offizieller Verkehrspolitik, vielmehr die Frage im Zentrum zu stehen, was diese denn tatsächlich wollen. Diese rein verkehrspolitisch motivierte und dezidiert regionale Ausrichtung des RMVs erweist sich auch mit Blick auf dessen darüberhinausgehende politische Positionierung als konsequent. So ist er nicht nur eine Organisation, die von vorneherein explizit regional ausgerichtet ist und damit unweigerlich eine Gegenposition zu den über viele Jahrzehnte hinweg produzierten verkehrspolitischen Hierarchien einnehmen muss (vgl. Kap. 4.6.1). Darüber hinaus verweist auch dessen entscheidende Rolle im Rahmen der Diskussionen um das Großprojekt Frankfurt 21 darauf, dass er diese eine Perspektive auch in anderen politischen Debatten bewusst und konsequent gegenüber weiteren politischen Akteuren vertreten hat. Besonders deutlich zeigte sich dies anhand der Debatten um Frankfurt 21. Hier sollte ähnlich wie in Stuttgart umgesetzt zwischenzeitlich auch der Frankfurter Hauptbahnhof durch einen unterirdischen Durchgangsbahnhof ersetzt werden. Zwischen den Kommunen waren die Positionen dabei zunächst klar verteilt. Die Stadt Frankfurt unterstützte das Projekt, wobei deren Unterstützung erneut auf den großen Einfluss von Aspekten einer heimlichen Verkehrspolitik verweist. Denn neben geringeren Durchfahrtszeiten für den Bahnverkehr sah Frankfurt in dem Projekt vor allem die Möglichkeit zur städtebaulichen Entwicklung großer innerstädtischer Flächen, die im Zuge der Umbaumaßnahme freigeworden wären. Für die Stadt Frankfurt ging also die Umsetzung von Frankfurt 21 mit der politisch deutlich begrüßten Möglichkeit zur städtebaulichen Entwicklung großer innerstädtischer Flächen einher. In Gegensatz dazu standen die Umlandgemeinden dem Vorhaben dagegen eher skeptisch gegenüber. Denn im Zuge einer Umsetzung dieser eine Großmaßnahme hätten verschiedene kleinere und einfacher umsetzbare Optimierungsmaßnahmen im Bahnhofszulauf nicht weiterverfolgt werden sollen, die vor allem das regionale Bahnangebot verbessert hätten, aber durch den neuen Durchgangsbahnhof obsolet geworden wären. Während der RMV nun das Projekt zu Beginn noch klar unterstützte, stellte er sich dann jedoch schnell auf die Seite der Umlandgemeinden. So war der RMV zwischenzeitlich zu der Auffassung gelangt, dass es sich bei Frankfurt 21 um ein rein städtisches „Leuchtturmprojekt“ handeln würde, das aus einer ausschließlich verkehrspolitischen Perspektive als „unwirtschaftlich“ und „ziemlich blödsinnig“ bewertet werden müsste (Interview RMV 2017). Vor diesem Hintergrund begann der RMV schließlich durchzusetzen, dass entgegen der ursprünglichen Planung eine vorgezogene Umsetzung dieser kleineren Optimierungsmaßnahmen im 217
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Bahnhofszulauf in die Wege geleitet wurde. Im Nachgang kann diese Entscheidung als Grundlage dafür betrachtet werden, dass Frankfurt 21 im Gegensatz zu seinem Stuttgarter Gegenstück relativ schnell nicht mehr weiter vorangetrieben wurde (Flucke 2003: 77f.). Insofern verfolgte der RMV nicht nur eine stringent verkehrspolitische Perspektive, sondern positionierte sich mit dem Ziel einer möglichst schnellen Optimierung der regionalen Verkehrsinfrastrukturen auch explizit gegen die regionalen Partikularinteressen der Stadt Frankfurt. Darüber hinaus spielte Frankfurt 21 auch für das Aufgreifen der regionalen Ringbahnidee durch den RMV eine gewichtige Rolle, denn damit konnte der RMV auf ein weiteres Projekt verweisen, mit dem eine zu Frankfurt 21 „alternative Entlastung“ des Verkehrsknotens herbeigeführt werden konnte (Interview RMV 2017). Damit hat sich der RMV bis heute mehrfach in großen Debatten als regionaler politischer Akteur positioniert, der nicht nur eine rein verkehrspolitische Agenda verfolgt, sondern dabei auch versucht, der von den Partikularinteressen heimlicher Verkehrspolitik dominierten Frankfurter Verkehrspolitik entschieden entgegenzuwirken. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber zunächst weniger das Verhältnis zwischen RMV und der Stadt Frankfurt, sondern die Frage, welche neuen Perspektiven sich aus den Positionierungen von Stadt und Umlandgemeinden zur RTW im Hinblick auf politische Zwecke öffentlicher Verkehrsinfrastrukturen ergeben. Wie schon angesprochen galt die RTW insbesondere bei „Politikern in der Region als wichtiges Verkehrsprojekt“ (FAZ 2002). So haben vor allem Politiker*innen aus den nordwestlichen Vorortgemeinden, die als Anrainer des Ersten Bauabschnittes, der Westtangente, galten, das Projekt letztendlich von Anfang an unterstützt. Zudem haben Gemeinden im nördlich gelegenen Hochtaunuskreis früh vehement dafür gekämpft, dass die Westtangente nicht, wie ursprünglich geplant, nur auf eigenem Bahnkörper verläuft, sondern auch an das bestehende Schienennetz der Deutschen Bahn angebunden wird, um auch weitere Umlandgemeinden an die Tangentiallinien anzuschließen (vgl. FAZ 1997; Interview Extern III 2018). Die Umlandgemeinden begrüßten die Pläne von Umlandverband und RMV also nicht nur, sondern trugen aktiv dazu bei, dass die heute anvisierte Streckenführung des ersten und vorerst einzigen geplanten Bestandteils der regionalen Tangentiallinie nicht nur den Frankfurter Nordwesten mit Eschborn, dem Industriegebiet in Frankfurt-Höchst und dem Flughafen verbinden soll (vgl. Umlandverband Frankfurt 1992: 50), sondern über bestehende Bahngleise zugleich Bad Homburg und Oberursel im Norden mit Neu-Isenburg und Langen im Süden. Zwar gab es in den darauffolgenden Jahren auch unter den Umlandgemeinden wiederkehrend Uneinigkeiten über die genaue Finanzierung von Infrastruktur und Betrieb, die generelle Zustimmung der Region zu dem Projekt war hiervon allerdings zu keinem Zeitpunkt betroffen. Um ihre deutliche Unterstützung des Projekts zu unterstreichen, haben etwa noch 2012,
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als das Projekt erneut aufgrund von Finanzfragen auf der Kippe stand, Vertreter sämtlicher unmittelbar betroffener Umlandgemeinden hervorgehoben, dass die RTW ihrer Meinung nach auch weiterhin „eine der wichtigsten Infrastrukturmaßnahmen der Region“ sei (FNP 2012). Zu den Unterzeichnern dieser Resolution zählte auch die Stadt Frankfurt selbst, die sich allerdings erst 2005, nach intensiver Diskussion und ohne die Stimmen von CDU und FDP, für eine Unterstützung des Projekts entschieden hatte (FAZ 2005). „Um Gottes Willen da gehen uns ja hier Leute verloren. Dieses Bewusstsein, dass man die Leute, die da zum Hauptbahnhof kommen und wieder rausfahren gar nicht braucht, das war gar nicht da, sondern Frankfurt hat gesagt: Mensch toll, dass die alle hier reinkommen und das Verkehrsaufkommen so groß ist“ (Interview RMV 2017). Diese Zustimmung Frankfurts ist insofern bemerkenswert, da die Frage der Positionierung zur RTW im Gegensatz zu den Umlandgemeinden innerhalb der Frankfurter Politik lange stark umstritten war. So fand die Regionaltangente keinen Eingang in den 1996 veröffentlichten Ergebnisbericht zur Fortschreibung des städtischen Generalverkehrsplans (Magistrat der Stadt Frankfurt am Main 1996), was beim Fahrgastverband ‚Pro Bahn‘ auf großes Unverständnis stieß (FAZ 1996b). Auch 2003 gab es für den zuständigen Stadtrat Schwarz bei der Stadt „noch keine abgestimmte Meinungsbildung“ hinsichtlich einer Positionierung der Stadt zu diesem Projekt (FAZ 2003c). So stimmten die SPD, die Grünen und die Linke dem Projekt von Beginn an weitestgehend zu. Dagegen monierte vor allem die städtische CDU-Fraktion, dass Frankfurt einen „Löwenanteil“ dieser Maßnahme finanzieren müsste, weil die Strecke größtenteils auf Frankfurter Gemarkung verlaufen soll, obwohl hauptsächlich die Umlandgemeinden von der Infrastruktur profitieren würden (2003b; FAZ 2003a). Konsequenterweise wurde als Alternative stattdessen eine „City-Tangente“ auf bereits bestehenden Bahngleisen gefordert (FAZ 2005). Tatsächlich findet sich im 2004 erschienenen Gesamtverkehrsplan auch eine entsprechende Verbindung, die aufgrund des damit verbundenen geringen Aufwands als bevorzugte Realisierungsoption eines regionalen Tangentialverkehrs aufgeführt wurde (Stadt Frankfurt am Main 2004a).92 Zentrales Charakteristikum 92 Auch hiermit sollten die Umlandkommunen Bad Homburg und Oberursel direkt an den Flughafen angebunden werden. Die Verbindung wäre allerdings mit den großen Nachteilen behaftet gewesen, einerseits im Frankfurter Hauptbahnhof einen Richtungswechsel vornehmen zu müssen und andererseits auf eine Erschließung von Eschborn, Neu-Isenburg und der Frankfurter Stadtteile Höchst und Nordweststadt zu verzichten. Eine Erschließung dieser Orte hätte bei dieser vorgeschlagenen Infrastrukturmaßnahme 219
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dieser Linienführung wäre gewesen, dass weiterhin alle Schnellbahnlinien über das Frankfurter Stadtzentrum geführt worden wären, dies aber ergänzt um die Option einer zusätzlichen Direktverbindung aus dem Norden zum Flughafen. Tatsächlich hätten durch eine Umsetzung dieser Maßnahme allerdings wesentlich weniger Umlandgemeinden erschlossen werden können. In diesem Zusammenhang ist schließlich auch das obige Zitat der Wahrnehmung der Frankfurter Verkehrspolitik aus Sicht des regionalen Verkehrsverbundes zu verstehen, wonach die Stadt hier von „Egoismus“ getrieben agieren und eine „Alles meins“-Haltung vertreten würde (Interview RMV 2017). Es wird deutlich, dass gewichtige Teile der Frankfurter Stadtpolitik zu Beginn der Diskussionen wenig Anlass sahen, an dem – in diesem Sinne durchaus vorteilhaften – radialen Schnellbahnnetz etwas zu verändern.
5.6.2 Frankfurter Sinneswandel „Die Regionaltangente West ist zwar ein regionales Projekt, aber gleichzeitig für Frankfurt [hilfreich], ein zentrales Problem der verkehrlichen Erschließung zu beheben.“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017)
Erst nachdem sich 2005 die Stadtverordnetenversammlung gegen den Willen der CDU doch für eine Unterstützung des von Umlandverband und RMV geforderten Infrastrukturprojekts ausgesprochen hatte und sich die Umlandgemeinden bereit erklärt hatten, stärker in die Finanzierung mit einbezogen zu werden, überwogen auch in der Frankfurter verkehrspolitischen Debatte positive Bewertungen des Projekts. So wird, was den gegenwärtigen Diskurs der Frankfurter Verkehrspolitik betrifft, betont, dass heute beim „Zukunftsprojekt“ RTW alle Politiker*innen mit „im Boot“ seien (Interview Verkehrspolitik [CDU] 2017). Eng verbunden ist dieser Meinungswandel, neben einem Erstarken der Grünen im Stadtparlament, mit einer Umdeutung der Zwecke, die mit der Regionaltangente in Verbindung gebracht werden. Diese neue, positiv konnotierte Argumentation bezüglich der Regionaltangente fußt allerdings nur zum Teil auf einem Sinneswandel der städtischen Verkehrspolitik. So wird zwar einerseits ganz im Sinne einer Verkehrspolitik der Bedürfnisbefriedigung argumentiert, dass das Projekt „einige Gebiete an den ÖPNV anschließt, die das bislang nicht waren“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017). Gemeint ist dabei an erster Stelle der Frankfurter Stadtteil Sossenheim, der trotz relativ großer Bevölerst in weiteren, späteren Ausführungsschritten erfolgen sollen (Stadt Frankfurt am Main 2004a).
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kerungszahl bisher nur am Rande von einer wenig attraktiven Regionalbahnlinie gestreift wird. Andererseits wird besonders hervorgehoben, dass in Frankfurt „mit dem Industriepark Höchst, der größten Industrieansiedlung Frankfurts […] einige der größten Gewerbesteuerzahler mit einer unglaublichen Zahl an Arbeitsplätzen“ durch die RTW erschlossen werden können (ebd.). Es geht also auch hier nur bedingt um eine Anpassung der öffentlichen Verkehrsinfrastrukturen an veränderte Ansprüche der Raumaneignung, sondern es drängt sich erneut in den Vordergrund, was Frank (1971; vgl. Kap. 4.1.5) als produktiven Verkehr bezeichnet, nämlich die Wege zwischen Wohn- und Arbeitsort: „Das ist die Arbeitsplatzlinie Frankfurts, nicht nur Frankfurts, sondern auch des Rhein-Main-Gebietes, aber auch Frankfurts“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017). Explizit wird damit von Frankfurter Seite betont, dass es nicht nur periphere Arbeitsplatzschwerpunkte im Umland sind, die von der neuen Tangentiallinie profitieren würden, sondern auch verschiedene periphere Gebiete innerhalb der eigenen Stadtgrenze, wie das Industriegebiet in Höchst oder der Flughafen. So kann diese Argumentation dahingehend gedeutet werden, dass sich die Frankfurter Politik nun nicht mehr der Tatsache verschließt, dass der regionale Raum in wirtschaftlicher Hinsicht zunehmend polyzentral geordnet ist, worauf es entsprechend zu reagieren gilt. Gleichzeitig wird allerdings besonders hervorgehoben, dass bisher auch periphere Wirtschaftsorte innerhalb des Stadtgebietes nur unzureichend erschlossen sind. Es handelt sich hier folglich weniger um eine stringente Auflösung einer kernstadtzentrierten zugunsten einer regional-inklusiven Politik. Vielmehr wird die Polyzentralität des Wirtschaftsstandorts anerkannt, während gleichzeitig darauf verwiesen wird, dass Frankfurt selbst über direkte Erreichbarkeitsverbesserungen von dem Projekt profitieren würde, womit einhergeht, dass bestehende Erreichbarkeits-Asymmetrien zwischen Stadt und Umland dennoch nicht grundlegend in Frage gestellt werden. Diese Argumentation kann zudem als strategisch geglückt betrachtet werden, weil es damit „gelungen ist, die [städtische] IHK davon zu überzeugen“, das Projekt zu unterstützen (Interview Verkehrsdezernat I 2017) und dadurch gewissermaßen auch die städtische Wirtschaft für das Projekt zu gewinnen. Ein weiterer gewichtiger Punkt bei diesem neuen Narrativ der Stadt zur RTW ist die besondere Betonung ihrer indirekten Wirkung auf den nach wie vor als zentral erachteten Problemgegenstand städtischer Verkehrspolitik: die eingeschränkte Erreichbarkeit der Stadt durch Staus und Engpässe im Verkehrssystem. So ist es nicht nur eine externe Beobachtung, dass bei der Frankfurter Politik „die Kehrtwende 221
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kam […] weil sie begriffen haben, dass es nutzt, auch insgesamt das Netz zu entlasten“ (Interview Extern II 2017). Auch vonseiten der städtischen Verkehrspolitik wird der Regionaltangente attestiert, dass durch deren Verwirklichung bestehende, vielgenutzte „Zulaufstrecken auf den Hauptbahnhof entlastet werden“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017). Denn damit trüge sie dazu bei, „ein zentrales Problem in der verkehrlichen Erschließung [der Stadt] zu beheben, nämlich die ausschließliche Konzentration auf das Zentrum“ (Interview Verkehrsdezernat I 2017). Diese letzte Aussage darf dabei nicht als ein Widerspruch zu der bisherigen Argumentation der Stadt Frankfurt hinsichtlich ihres Schnellbahnnetzes betrachtet werden. Denn das städtische Narrativ zur Regionaltangente wurde damit insofern modifiziert, dass sich dieses nun nicht mehr nur auf ihren vermeintlichen Nachteil beschränkt, wonach Passagiere aus dem bestehenden Netz abgeschöpft werden, weil nicht mehr alle Wege zwangsläufig nach bzw. über Frankfurt verlaufen müssen. Gerade vor dem Hintergrund der vielfach zitierten Kapazitätsengpässe auf den Wegen in die Innenstadt führt eine logische Ableitung aus diesem augenscheinlichen Nachteil zu einem gegenteiligen Ergebnis. Schließlich eröffnet eine Auslagerung solcher Wege, bei denen Frankfurt nur als Durchgangsstation passiert wird, zugleich zusätzliche Kapazitäten auf den bestehenden radialen Verkehrswegen. Dieser Argumentation folgend resultiert dann das Tangentialprojekt nicht in einer Neuverteilung regionaler Erreichbarkeitsasymmetrien, denn das regionale Erreichbarkeitsprivileg der Stadt läuft nicht Gefahr, vermindert zu werden. Stattdessen hat die Stadt erkannt, dass nicht nur die Umlandgemeinden, sondern ebenso Frankfurt selbst von der neuen Infrastruktur profitieren kann. Obwohl die Regionaltangente West damit also vordergründig durchaus als eine Abkehr vom wirtschaftspolitischen Kirchturmdenken der Stadt erscheint, das nicht zuletzt durch die bisherige Entwicklung des Schnellbahnnetzes materiell zementiert wurde, legt eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den hierbei vorgebrachten städtischen Argumenten eher das Gegenteil nahe: Der (eigentlich gar nicht so) heimliche Zweck scheint auch bei diesem Infrastrukturprojekt erneut das Streben nach einer verbesserten Erreichbarkeit des eigenen Standorts zu sein. Werden diese Ergebnisse erneut mit der bereits im letzten Kapitel zitierten Arbeit zum Grand Paris Express (2015; Enright 2013) verglichen, zeigt sich erstens, dass es in beiden Fällen nicht die Städte selbst waren, die sich als Treiber einer Anpassung der öffentlichen Verkehrsinfrastrukturen an die Anforderungen einer polyzentralen Wirtschaftsregion identifizieren ließen. Vielmehr waren dies jeweils Institutionen größerer Raumeinheiten, wenngleich mit unterschiedlichen Machtbefugnissen ausgestattet und entsprechend durchsetzungsstark: hier regionale Akteure wie der Umlandverbund, später dessen Folgeorganisationen und der RMV, und dort nationalstaatliche Organisationen. Weil zweitens die Stadt Frankfurt im Rahmen
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der Debatten um die Regionaltangente West eine wesentlich gewichtigere Rolle gespielt hat als das in Paris mit dem Grand Paris Express der Fall zu sein scheint, ist aber das Frankfurter Beispiel besser dafür geeignet, Widersprüche zwischen verschiedenen Zwecken staatlicher Raumproduktion aufzudecken. Denn beim Grand Paris Express offenbaren sich Diskrepanzen ausschließlich zwischen den Vorstellungen lokaler Initiativen in der Region und denen der nationalstaatlichen Organisationen. Es können also lediglich die Ansprüche individueller Raumaneignung denen einer ökonomischen Wachstumsstrategie gegenübergestellt werden. In Frankfurt und Umgebung dagegen können sowohl die Motivation der Umlandgemeinden als auch die der Stadt Frankfurt zwei divergenten Strategien wirtschaftlicher Entwicklung zugeordnet werden, die jeweils mit entsprechenden Ansprüchen an die Raumproduktion einhergehen und deren Diskrepanz anhand der Regionaltangente West offensichtlich wird. Wie schon beschrieben, bleibt zudem auch die Rolle, die Enright in ihrem Fallbeispiel den lokalen Initiativen zuschreibt, in der Diskussion um die RTW nicht unbesetzt. Zugeschrieben werden kann sie hier insbesondere dem RMV. Als Vertreter einer offiziellen Verkehrspolitik, und somit an erster Stelle einer Befähigung zur individuellen Raumaneignung verschrieben, hat dieser Akteur seine ganz eigenen Schlüsse aus den langwierigen Diskussionen und Planungsschritten der Regionaltangente gezogen, deren Baubeginn auch heute noch in einer ungewissen Zukunft liegt.
5.6.3 … dann doch erst mal ein Bus Obwohl das heutige Projekt der Regionaltangente West eigentlich der Idee eines kompletten Schienenrings um die Stadt Frankfurt entspringt (vgl. Umlandverband Frankfurt 1992), sich auch der Rhein-Main-Verkehrsverbund für eine langfristige Entwicklung eines kompletten Schienenrings um die Stadt positionierte (FAZ 2018b) und selbst die zwischenzeitlich gegründete Planungsgesellschaft der Regionaltangente einen kompletten Ring für notwendig erachtet (FR 2018), geht es nach knapp 30 Jahren immer noch um die Planung der ersten Bauabschnitte. Weil die Zahl potenzieller Fahrgäste dort als am höchsten erachtet wird, beschränkt sich dieser Bauabschnitt, wie schon beschrieben, auf die Teilstrecke zwischen Bad Homburg im Norden und Neu-Isenburg bzw. Langen im Süden mit wichtigen Zwischenhalten in Eschborn, Frankfurt-Höchst und dem Flughafen. Darüber hinaus erscheint jedoch eine umfassende Erweiterung der Strecke in den Süden und den Osten der Stadt bisher als wenig wahrscheinlich. So wird nicht nur vonseiten der Frankfurter Verkehrspolitik abgewunken, denn „der volkswirtschaftliche Nutzen von der Regionaltangente Ost wird in einem solchen Maße unter Eins sein [also 223
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keine finanzielle Förderung von Bund und Land erhalten], dass es sich nicht lohnt, sich darüber zu unterhalten“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017). Auch die Lobbyvereinigung Pro Bahn Hessen, die gegenüber Schieneninfrastrukturprojekten grundsätzlich positiv eingestellt ist, hält dagegen, dass Frankfurt für eine richtige Ringverbindung schlichtweg zu klein sei, folglich nicht nur die wirtschaftliche Rentabilität solcher Strecken zweifelhaft sei und ohnehin die bereits anderweitig verbauten Flächen im Umland einer Umsetzung vielerorts im Wege stehen (FR 2018). Im Umkehrschluss und ganz im Zeichen der bereits bekannten Narrative „müsste man irgendwie zwischen Neu-Isenburg und Offenbach und zwischen Bergen und Vilbel noch mal 20.000 Einwohner mehr hin packen“, sprich Neubaugebiete errichten, um ein Verkehrsaufkommen zu erreichen, „dass das eben dann baubar macht“ (Interview Verkehrsdezernat II 2017). Diese vermeintliche gegenwärtige Unmöglichkeit einer durchgehenden Ringverbindung um die Stadt stellt dabei erneut ein gutes Beispiel für eine Entwicklung dar, die Monheim und Monheim-Dandorfer (1990: 357ff.) unter dem Begriff der „Jumbomanie“ als eines der zentralen Probleme der jüngeren ÖPNV-Geschichte bezeichnen (vgl. Kap. 4.2.4): eine durch die zentrale Stellung von Ingenieur*innen in Verkehrsbetrieben bedingte „Begeisterung für moderne, PS-starke Großfahrzeuge“, die heute „praktisch alle Verkehrsbetriebe und alle Strecken“ beeinflusst. Davon abgesehen, dass die Ergebnisse dieser Arbeit nahelegen, dass hier nicht nur von dem Ergebnis einer diskursiven Dominanz technikbegeisterter Ingenieur*innen ausgegangen werden sollte, sondern diese Entwicklung vielmehr als bezwecktes Resultat lokalpolitischer Raumproduktion betrachtet werden muss, ist dies dennoch hinsichtlich der Verkehrspolitik eine adäquate Problembeschreibung. Denn obwohl unsere sozialen Strukturen infolge der Massenmotorisierung durch eine weitgehende Individualisierung alltäglicher Handlungsräume gekennzeichnet sind, beschränkt sich der öffentliche Nahverkehr heute – zumindest was durch zeitliche Flexibilität und hohe Fahrtgeschwindigkeit vergleichsweise attraktive Angebote anbelangt – fast ausschließlich auf Strecken, die eine große Zahl an Fahrgästen erwarten lassen. Der Rest – so erscheint hier die allgemeine Meinung – kann dann getrost durch langsame und unzuverlässige Buslinien abgedeckt werden. Offensichtlich wird damit erneut das Problem, attraktiven öffentlichen Nahverkehr vor allem im Sinne eines Druckventils des Individualverkehrs einzusetzen, das erst dann zum Einsatz kommt, wenn auf einer Relation so viele Menschen unterwegs sind, dass der Individualverkehr dort an seine Grenzen zu stoßen droht. Denn genau dies erschwert die Idee, auch auf anderen tangentialen Relationen im Umland und den Außenbereichen von Frankfurt eine Implementierung ähnlich attraktiver Systeme ins Auge zu fassen.
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Insofern ist es umso bezeichnender, dass nicht die Kommunalpolitik sich dieses Sachverhaltes angenommen hat, die sich ja nach wie vor auf die Umsetzung der Ringabschnitte konzentriert, auf denen tatsächlich ein vergleichsweise hohes Fahrgastaufkommen erwartet wird, sondern der RMV. Angesichts einer nicht zu erwartenden zeitnahen Umsetzung der Schnellbahn hat der RMV schließlich einen Nahverkehrsring um Frankfurt „jetzt einfach mit Schnellbussen gemacht“ (Interview RMV 2017): Zwei Jahre nach einer 2012 erfolgten Potenzialanalyse wurde eine erste Schnellbuslinie als Pilotversuch gestartet, die in kürzester Zeit eine so große Nachfrage erzeugt hat, dass das Schnellbusnetz in den darauffolgenden Jahren immer weiter ausgebaut wurde (FAZ 2018a). Wenn auch in einzelne Teilabschnitte untergliedert, wurde damit in der Region bis heute tatsächlich ein Ringverkehr um die Stadt Frankfurt etabliert, der auch abseits von besonders staugeplagten Relationen verläuft und dennoch nicht nur auf der Pilotstrecke eine unerwartet hohe Nachfrage erfährt (FAZ 2018b). Dabei sind diese Busse im Vergleich zu einer Schnellbahn zwar immer noch mit vielen Nachteilen behaftet. Sie steuern zwar weniger Haltestellen an als reguläre Busse, fahren aber zumeist nur stündlich, an Wochenenden lediglich mit stark ausgedünntem Angebot und müssen sich mangels umfassender Beschleunigungsprogramme den Geschwindigkeiten des Individualverkehrs anpassen (FNP 2017). Dennoch erscheint die dabei verfolgte Angebotsanpassung an veränderte Ansprüche der individuellen Raumaneignung in vielerlei Hinsicht in eine verheißungsvolle Richtung zu weisen, um den öffentlichen Nahverkehr unabhängig von den extrinsischen Zwecken heimlicher Verkehrspolitik tatsächlich zu einer Alternative zum motorisierten Individualverkehr auszubauen.
5.7 Zwischenfazit 5.7 Zwischenfazit
Im Rahmen einer Betrachtung der jüngeren und aktuellen Verkehrspolitik in Frankfurt fällt zunächst auf, dass sich diese in der Selbstwahrnehmung an erster Stelle einer Förderung der allgemeinen Befähigung zur Raumaneignung verschreibt und verschrieben hat. Zwar lässt sich aufgrund der unterschiedlichen methodischen Vorgehensweisen in den beiden empirischen Hauptkapiteln der Arbeit nicht abschätzen, inwieweit eine solche Selbstwahrnehmung bereits innerhalb der kommunalen Verkehrspolitik der vorhergegangenen Jahrzehnte vorhanden war. Dennoch verweist gerade für die letzten Jahre die Selbsteinschätzung der Interviewten auf eine zumindest offiziell enge Verknüpfung des eigenen verkehrspolitischen Handelns mit Aspekten der Befriedigung allgemeiner Mobilitätsbedürfnisse sowie auf eine 225
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nach wie vor bestehende Orientierung an der territorialen Praxis eines modernen Infrastrukturideals. Als prominenter Beleg dieser Selbsteinschätzung kann der seit 1961 in regelmäßigen Abständen überarbeitete Gesamtverkehrsplan herangezogen werden. Unter Rückgriff auf territorial-technokratisch ausgerichtete Planungsprozesse geht es hier bis heute darum, mittels gleichmäßig über den Raum verteilter Infrastruktur einen möglichst umfassenden Zugang zu einem niedrigschwelligen Verkehrssystem zu gewährleisten. Aus dieser Warte müsste der von Graham und Marvin (2008, 2001) attestierten Abkehr von einem modernen Infrastruktur ideal, das allerdings auch zuvor ohnehin oft nur als „symbolische und diskursive Konstruktion“ (2001: 386) in Erscheinung trat, zunächst widersprochen werden. Integriert die Analyse jedoch neben der symbolischen Ebene auch die konkrete Praxis des Infrastrukturausbaus, zeichnet sich daraus ein anderes Bild, welches doch nahe an das von Graham und Marvin attestierten Resultat eines Zersplitterns von Infrastrukturen heranreicht. Denn faktisch führen zwei Faktoren dazu, dass diese offizielle Verkehrspolitik mit ihrem selbstdefinierten Kernanliegen einer allgemeinen Bedürfnisbefriedigung abseits ihrer Funktion als Legitimationsgrundlage des eigenen Handelns kaum eine Umsetzung erfährt. So steht die Verkehrspolitik spätestens seit der anhaltenden raumzeitlichen Differenzierung individueller Raumaneignung im Zuge automobiler Massenmotorisierung vor dem grundsätzlichen intrinsischen Problem, individuelle Mobilitätsbedürfnisse kaum mehr adäquat in ihrer vollen Breite identifizieren zu können, da sie nicht auf hierfür notwendige Erhebungsinstrumentarien zugreifen kann. Gleichzeitig kann genau diese fehlende Grundlage für eine fundierte und nachvollziehbare Umsetzung von Maßnahmen, die rein verkehrspolitisch motiviert sind, als Ursache ins Feld geführt werden, weswegen die kommunale Verkehrspolitik auch heute noch stark von extrinsischen Zwecken geprägt wird. Von einem Ausgangspunkt außerhalb der eigentlichen Verkehrspolitik werden diese Zwecke in der Regel als zwingend notwendige Reaktionen auf akute Probleme formuliert und erfahren dementsprechend eine höhere Priorität als eine zwangsweise diffus bleibende Befriedigung von Mobilitätsbedürfnissen. Eine bis heute anhaltende Kontinuität lässt sich in diesem Zusammenhang der Argumentation zuschreiben, wonach der städtische öffentliche Verkehr primär als Maßnahme gegen Verkehrsstau betrachtet wird. Dabei hat die Kernbotschaft über die Jahre hinweg eine Anreicherung durch verschiedene anderweitige Argumente erfahren, etwa eine konsumorientierte Attraktivitätssteigerung der Innenstadt oder den Verweis auf Umweltthemen. Dennoch dient sie noch heute als eine zentrale Begründung für den Ausbau von öffentlichen Verkehrsinfrastrukturen in der Stadt. Darüber hinaus haben zumindest in Frankfurt verschiedene politische und gesellschaftliche Veränderungsprozesse der letzten Jahrzehnte zu einer Multiplikation der von außerhalb der eigentlichen Verkehrspolitik verfolgten, also extrinsischen
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Zwecke zum Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs beigetragen. Insbesondere anhaltende Prozesse der Wohn- und Gewerbesuburbanisierung sowie die tiefgreifende Umwälzung des politischen Betriebs im Zuge des erneuten Erstarkens eines liberalen Staatsverständnisses sind auch für die Veränderung kommunaler Verkehrspolitik nicht folgenlos geblieben. Da sich die entsprechenden Zwecke des Infrastrukturausbaus damit nicht mehr allesamt unter dem Kernanliegen einer selektiven Erreichbarkeitsverbesserung der City subsumieren lassen, werden sie hier mit Verweis auf Schwedes (2016) und in Abgrenzung zur offiziellen Verkehrspolitik der Bedürfnisbefriedigung unter dem Begriff der heimlichen Verkehrspolitik zusammenzufassen. Dem Prozess der Neoliberalisierung muss an dieser Stelle eine Schlüsselrolle zugeschrieben werden, wenngleich dessen Einflüsse ihre Wirkung primär unterschwellig, über Umwege und Hintertüren entfalten. Denn in der Selbstwahrnehmung von offiziellen Akteuren kommunaler Verkehrspolitik in Frankfurt beziehen sich konkrete Entscheidungen zunächst kaum auf Argumentationen einer wettbewerbsorientierten Stadtpolitik, sondern basieren überwiegend auf verschiedenen sachpolitischen Erwägungen. Bei einer vertiefenden Auseinandersetzung mit verschiedenen Narrativen, die als Grundlagen von Infrastrukturentscheidungen herangezogen werden, wird allerdings deutlich, dass sowohl der gegebene Handlungsrahmen als auch die grundlegenden Initiativen zum örtlichen Infrastrukturausbau stark von Argumentationen bestimmt werden, die der Sphäre der heimlichen Verkehrspolitik entstammen. Erstens betrifft dies die kommunale Haushaltspolitik, die einerseits durch ihre Forderung, Einsparpotenziale konsequent umzusetzen, maßgeblich zur Entscheidung beigetragen hat, technologisch definierte ideologische Gräben zu überwinden und eine erneute Renaissance der Straßenbahn in der Stadt einzuläuten. Andererseits haben strengere Finanzvorgaben und Entscheidungen zum Personalabbau auch im Kontext einer Ökonomisierung und Rationalisierung stadtpolitischer Verfahren zu einer engen Begrenzung des allgemeinen Handlungsrahmens geführt. So konnte trotz Umschwenkens auf günstigere und in der Umsetzung weniger komplizierte Systeme, die an der Oberfläche geführt werden, ein schon länger bestehender Planungsstau bis heute nicht effektiv verringert werden. Zweitens kann als gewichtiger Akteur heimlicher Verkehrspolitik die städtische Wohnungspolitik benannt werden. Diese ist in ihren Handlungsrationalitäten stark von der Wohnsuburbanisierung beeinflusst und versucht seit den 1990er Jahren verstärkt, neue Wohngebiete zu entwickeln, deren Angebot explizit auf Bevölkerungsgruppen ausgerichtet ist, die beim Wohnortwechsel ins Umland quantitativ besonders hervorstechen. Die städtische Wohnungspolitik betreibt damit eine politische Strategie, die mit dem von ihr hervorgehobenen Verweis auf sogenannte 227
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Wirtschaftsbürger, deren Wachstum sich besonders vorteilhaft auf die städtischen Kassen auswirken würde, durchaus als wettbewerbsorientierte Klientelpolitik beschrieben werden kann. Als besonders bedeutender neuer Akteur heimlicher Verkehrspolitik tritt sie dabei in Erscheinung, weil nach demselben Muster in den letzten Jahren eine ganze Reihe neuer Wohngebiete entstanden sind, wo quasi konsensual festgeschrieben war, dass diese nur den erwünschten Erfolg erzielen, wenn sie attraktiv durch ÖPNV-Infrastrukturen erschlossen werden. Folglich wird hier von der Wohnungspolitik und darauf bezugnehmend auch durch die involvierte Immobilienwirtschaft sowie zuletzt durch die Neubürger*innen der jeweiligen Quartiere ein akuter Handlungsdruck gegenüber der Verkehrspolitik formuliert, dem sie sich letztendlich nicht entziehen kann. Obwohl sie sich offiziell mit dem Verweis auf Sachargumente davon zu distanzieren vermag, wird damit auch die kommunale Verkehrspolitik unweigerlich zum Instrument einer unternehmerischen, wettbewerbsorientierten Stadtpolitik. Drittens geht ein weiterer neuer Akteur heimlicher Verkehrspolitik aus der, im Zeichen einer unternehmerischen Stadtpolitik erfolgten, Einführung neuer Verwaltungsinstrumente hervor, die sich vor allem an Effizienz und Wirtschaftlichkeit orientieren. Dabei zeigt sich, dass insbesondere PPPs, denen in den letzten Jahren vermehrt städtische Planungsprojekte übertragen wurden, nicht davor zurückschrecken, eigenständig auf verkehrspolitische Prozesse einzuwirken, wenn dies zur Verwirklichung der eigenen, primär nicht verkehrsbezogenen Ziele nützlich erscheint. Folglich ist es hier, ähnlich wie in der Wohnungspolitik, nicht die offizielle Verkehrspolitik selbst, die eine Neujustierung von Prioritäten im Sinne einer unternehmerischen Stadtpolitik vornimmt. Diese Aufgabe wird stattdessen von den neuen Verwaltungsinstrumenten übernommen, die bereits nach eben diesen Rationalitäten funktionieren. Viertens haben politische Strategien der Neoliberalisierung zugleich dazu geführt, dass innerhalb der offiziellen Verkehrspolitik selbst neue Akteure entstehen konnten, die mächtig genug sind, der verkehrspolitischen Praxis ihren eigenen Stempel aufzudrücken. So war es insbesondere das Credo der Wettbewerbsorientierung, das eine strikte Trennung zwischen Organisation und Betrieb von öffentlichen Verkehrsdienstleistungen (Besteller-Ersteller-Prinzip) einleitete. Daneben bedingte dieses Credo intensivierte Bestrebungen zur Schaffung einer als wettbewerbsfähiger erachteten regionalen Einheit, was den Ausschlag für die Gründung des RMVs gab. Dies bedeutete einerseits, dass nun, im Gegensatz zum Vorgängerverbund, nicht mehr die Stadt Frankfurt (neben der Deutschen Bahn bzw. Bundesbahn) den alleinigen Gesellschafter stellt, sondern auch die Umlandgemeinden darin vertreten sind, womit der Verkehrsverbund nicht mehr ohne weiteres zur strategischen Raumproduktion Frankfurts instrumentalisiert werden kann. Andererseits ist der RMV der einzige
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Akteur auf regionaler Ebene, der über eine gewisse Eigenständigkeit verfügt, da eine darüberhinausgehende Schaffung einer machtvollen regionalen politischen Institution bis heute nicht umgesetzt werden konnte. Bezeichnenderweise ist somit, sozusagen als Beiprodukt der Neoliberalisierung, ein regionaler Akteur entstanden, der nicht nur aktiv und durchsetzungsfähig Stellung gegen die Raumstrategie der Kernstadt Frankfurt beziehen kann, was sowohl im Rahmen der Debatte um Frankfurt 21 als auch in der frühen Unterstützung der RTW deutlich wurde. Weil auf der regionalen Ebene keine vergleichbaren politischen Akteure existieren, kann der RMV auch darüber hinaus relativ unbehelligt eine offizielle Verkehrspolitik verfolgen, zumindest solange ihm vom Land die dafür notwendigen Finanzmittel und Entscheidungsbefugnisse zur Verfügung gestellt werden. Aufgrund dieser Konstellation läuft der RMV darum zumindest momentan wenig Gefahr, für extrinsische Zwecke einer heimlichen Verkehrspolitik instrumentalisiert zu werden. Darauf aufbauend kann hier mit Blick auf die häufig vorgetragene Forderung nach einer sektorenübergreifend integrierten Verkehrspolitik festgehalten werden, dass Verkehrspolitik schon immer nur in Ausnahmefällen eigenständige, nicht mit anderen Politikfeldern abgestimmte bzw. von diesen initiierten Entscheidungen gefasst hat. Der Unterschied zur geforderten integrierten Verkehrspolitik bestand und besteht lediglich darin, dass die Verkehrspolitik dabei nicht als eigenständiger Partner auf Augenhöhe wahrgenommen wird. Vielmehr werden ihr Aufgaben übertragen, die sich zwar auf die Verkehrsgestaltung beziehen, deren eigentliche Intentionen jedoch außerhalb des Verkehrsbereichs verortet werden müssen. Bleibt die Frage, welche Auswirkungen sich durch diese neuen Akteure heimlicher Verkehrspolitik bezüglich des Spannungsfelds zwischen städtischer Raumstrategie und einer Verkehrspolitik zur allgemeinen Unterstützung individueller Raumaneignung zeigen. Hier zeigt sich zunächst, dass die offizielle Verkehrspolitik sich, analog zu den obigen Ausführungen, auch heute noch grundsätzlich einer territorialen Praxis verschrieben sieht, worauf nicht zuletzt deren beständiges Festhalten an Ideen einer Gesamtverkehrsplanung zurückzuführen ist. Nach wie vor verfolgt sie damit ein Leitbild, wonach perspektivisch sämtliche Teilräume des eigenen Territoriums in vergleichbarem Umfang von einer Infrastrukturerschließung profitieren sollen. Anders bei der heimlichen Verkehrspolitik. Zwar lässt sich auch diese grundsätzlich als (nach wie vor bedingt) territoriale Politik beschreiben, weil immer noch der Aspekt der Stauvermeidung zwecks gewährleisteter Erreichbarkeit der City als grundlegende Motivation heimlicher Verkehrspolitik erkennbar ist. Es geht also auch hier weiterhin darum, die City-Erreichbarkeit aus sämtlichen Teilräumen des Territoriums zu gewährleisten. Diese territoriale Praxis wird allerdings zunehmend ausgehöhlt durch neue Akteure heimlicher Verkehrspolitik, die gleichsam für ihre eigenen Ziele auf Instrumente der Verkehrspolitik zurückgreifen, dies aber stets mit 229
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einem dezidiert örtlichen Fokus. Wenngleich also grundsätzlich immer noch die gesamte Peripherie mit der City verbunden werden soll, gibt es gleichzeitig einzelne Orte, bei denen die Erschließungsnotwendigkeit als besonders akut identifiziert wird, weil dies mit spezifischen extrinsischen Zwecken verbunden wird – etwa die örtliche Ansiedlung wohlhabender Bevölkerungsgruppen und Dienstleistungsunternehmen oder die Anregung privater Investitionstätigkeiten. Faktisch handelt es sich dabei um eine Überlagerung einer territorialen durch eine rein ortsbezogene Praxis städtischer Verkehrspolitik. Auch weil allgemein nur eng begrenzte finanzielle und personelle Mittel zur Verfügung stehen, resultiert dies darin, dass Projekte mit einem territorialen Fokus zwar weiterhin Bestandteil städtischer Verkehrspolitik bleiben, jedoch deren Umsetzung zugunsten der akuten Bedarfe ortsbezogener Projekte auf die lange Bank geschoben wird. Zu großen Teilen ist diese politische Verschiebung hin zu einer selektiv ortsbezogenen politischen Praxis auf eine gewachsene Einflussnahme privatwirtschaftlicher und privater Akteure zurückzuführen. Denn deren Interessen liegen weniger in einer allgemeinen Verbesserung des Angebots städtischer Verkehrsinfrastrukturen sondern zuallererst in einer Verbesserung an den Orten, wo die eigenen Aktivitäten stattfinden. Darüber hinaus sind es insbesondere zwei Faktoren, die dazu führen, dass diese neuen Akteure heimlicher Verkehrspolitik ihre Interessen gegenüber der offiziellen Verkehrspolitik besonders effektiv geltend machen können. Einerseits liegt dies an der städtischen Klientelpolitik bei der Entwicklung von Neubaugebieten. Denn der Erfolg dieser Gebiete ist im Rahmen der hier gängigen Vorgehensweise davon abhängig, dass mit dem Versprechen einer attraktiven Infrastruktur effektive Anreize für private Immobilieninvestitionen und für Zuzüge der von der Wohnungspolitik umgarnten Bevölkerungsgruppen gesetzt werden. Andererseits wird aufgrund der damit geschürten Erwartungshaltung durch letztere ein wahrnehmbarer Druck auf die Politik erzeugt, damit diese die von ihr im Vorfeld versprochenen Infrastrukturmaßnahmen auch zeitnah umsetzt. Die Einflussnahme beschränkt sich dabei also vor allem auf regelmäßige und mit Nachdruck erhobene Forderungen und kann kaum als proaktives Eingreifen in den politischen Betrieb gewertet werden, obgleich sie dennoch dazu beiträgt, dass die entsprechenden Orte tatsächlich prioritär erschlossen werden. Anders verhält es sich dagegen, wenn privatwirtschaftliche Akteure, beispielsweise im Rahmen von PPPs, selbst aktiv in die politische Praxis eingebunden werden. Denn in diesem Moment wird aus den Wünschen, den eigenen ortsspezifischen Bedürfnissen möglichst zeitnah zu entsprechen, die ansonsten als Forderung an die Politik herangetragen würden, ein festes Leitmotiv politischen Handelns. So haben gerade die an PPPs beteiligten privatwirtschaftlichen Akteure ein großes Eigeninteresse daran, sämtliche Maßnahmen, die eine schnelle Rekapitalisierung
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der eigenen Investitionen befördern, mit Nachdruck zu verfolgen. Dennoch darf nicht unterschlagen werden, dass der damit erfolgte Wandel von einer territorialen zu einer ortsbezogenen Praxis städtischer Verkehrspolitik nicht von privatwirtschaftlichen Akteuren, sondern zuallererst von der Stadt selbst eingeläutet wurde. Schließlich liegt dessen Ursprung in der grundlegenden stadtentwicklungspolitischen Entscheidung begründet, ein Gewerbegebiet durch eine PPP entwickeln zu lassen – und zwar wohlwissend, dass erstens die hierbei erfolgte Integration privatwirtschaftlichen Kapitals gleichsam einen erhöhten Zeitdruck impliziert und zweitens sämtliche Maßnahmen der PPP sich alleine und ausschließlich auf das Entwicklungsgebiet beziehen würden, in denen dieses Kapital angelegt wurde. Somit war es auch hier im Endeffekt ein anderer Bereich der Stadtpolitik selbst, dessen Entscheidung zur umfangreichen Einbindung der Privatwirtschaft das Tor weit geöffnet hat für eine Unterwanderung von Entscheidungsfindungsprozessen der kommunalen Verkehrspolitik durch örtliche begrenzte Partikularinteressen. Mit Blick auf die Raumproduktion der Stadt lässt sich damit festhalten, dass das öffentliche Verkehrsnetz im Rahmen der territorialen Politik zwar funktional weitgehend auf ökonomisch produktive Komponenten des Verkehrs beschränkt blieb, vor allem das eigene städtische Wirtschaftswachstum unterstützen sollte und darum konsequent radial auf die eigene City ausgerichtet war und ist. Darüber hinaus basierte allerdings der Ausbau des nach wie vor unfertigen Netzes zumindest auf der Idee einer möglichst umfassenden und gleichmäßigen Erschließung der Peripherie. Bei einer ortsbezogenen Verkehrspolitik dagegen behalten die ersten beiden genannten Punkte weiterhin unhinterfragt ihre Gültigkeit. Der Punkt der gleichmäßigen Erschließung hingegen bleibt lediglich vordergründig weiterhin bestehen. In der konkreten Praxis wird dieser dagegen kontinuierlich unterhöhlt, weswegen das öffentliche Verkehrsnetz nun mehr und mehr durch eine räumliche Selektivität innerhalb der Peripherie gekennzeichnet wird. Somit lässt sich nicht nur die von Harvey, Swyngedouw und anderen formulierte These einer Verschiebung kommunalpolitischer Praxis vom Territorium auf den Ort (vgl. Kap. 2.3.4) auch speziell anhand der Politik des öffentlichen Nahverkehrs in Frankfurt nachzeichnen. Zugleich entsprechen diese Ergebnisse dem von Graham und Marvin beschriebenen Prozess einer Zersplitterung städtischer Infrastrukturen und der damit einhergehenden Herausbildung von Orten, die eine bevorzugte Infrastrukturerschließung erfahren (vgl. Kap. 2.3.3). Dies allerdings im hier thematisierten Beispiel nicht aufgrund von Privatisierungsprozessen im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs selbst, sondern durch Veränderungen in der Art und Weise, wie und mit welchen Zwecken heimliche Verkehrspolitik betrieben wird. Vor diesem Hintergrund muss ein weiteres Mal die eng mit den Möglichkeiten individueller Raumaneignung verknüpfte Frage nach sozialpolitischen Aspekten der 231
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städtischen Politik des öffentlichen Schnellbahnverkehrs aufgegriffen werden. Dabei wurde bereits an anderer Stelle thematisiert, dass selbst im Rahmen des fordistischen Wohlfahrtsstaates praktisch nicht von einer generell sozialpolitischen Strategie gesprochen werden kann. Als sozialpolitisch kann allenfalls die territoriale Praxis gewertet werden, die verschiedenen Orte der städtischen Peripherie gleichermaßen durch Schieneninfrastrukturen mit dem Zentrum zu verbinden. Schwieriger wird es bereits im Hinblick auf die Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen, da es beim städtischen Schnellbahnnetz gerade nicht darum ging, diese im Allgemeinen zu gewährleisten, was zumindest einer konservativeren Auffassung des Daseinsvorsorgebegriffs als Sicherung des Fortbestands kapitalistischer Produktionsprozesse entspräche. Denn sichergestellt wurde hier nur die Erreichbarkeit solcher Arbeitsplätze, welche die Stadt als besonders relevant für die eigene wirtschaftliche Weiterentwicklung erachtete. Also solche, die sich eng mit der städtischen Cityfunktion verknüpfen ließen. Der Freizeitverkehr in seiner ganzen Breite spielt dagegen bei der Konzeption des Schnellbahnnetzes bis heute nur eine marginale Rolle.93 Wenn aber der politische Fokus auf eine territoriale Praxis immer mehr abhandenkommt, geht zugleich der letzte Aspekt verloren, über den das städtische Schnellbahnnetz mit sozialpolitischen Ambitionen in Verbindung gebracht werden konnte. Gleichsam ergibt sich aus der analytischen Unterscheidung zwischen offizieller und heimlicher Verkehrspolitik ein Hinweis darauf, wie sich diese offensichtlich hinkende Verknüpfung von öffentlichem Nahverkehr mit Sozialpolitik auflösen lässt: Denn wird zunächst nur die Argumentation der offiziellen Verkehrspolitik betrachtet, spielt beim Infrastrukturausbau des öffentlichen Nahverkehrs das Leitmotiv einer allgemeinen Befriedigung individueller Mobilitätsbedürfnisse durchaus eine bedeutsame Rolle. Tatsächlich erweckt dies zunächst den Anschein, dass selbst heute noch die kommunale Verkehrspolitik als Sozialpolitik betrachtet werden könnte. Wie aber im Rahmen der vorliegenden Arbeit hervorgehoben wurde, ist (und war) es in den wenigsten Fällen die offizielle Verkehrspolitik, die den Anstoß für den Ausbau öffentlicher Verkehrsinfrastrukturen gibt (und gab). In den meisten Fällen wird (und wurde) diese Rolle vielmehr von Akteuren der
93 Immerhin wird zum Freizeitverkehr festgestellt, dass dort bezüglich einer „Erschließung neuer Kundenkreise“ großes Potenzial bestehe (Regionalverband FrankfurtRheinMain 2014: 20). Gleichzeitig wird damit jedoch suggeriert, dass dieses Potenzial im Rahmen des bestehenden Systems erschlossen werden könne. Somit wird auch an dieser Stelle nicht ansatzweise reflektiert, dass die geringe Nutzung beim Freizeitverkehr vor allem aus der hierfür unzureichenden infrastrukturellen Ausrichtung des öffentlichen Nahverkehrs resultiert, womit weder Marketingmaßnahmen noch andere weiche Stellschrauben geeignet erscheinen, diesen Sachverhalt grundlegend zu ändern.
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heimlichen Verkehrspolitik übernommen, die wiederum selbst kaum Ambitionen haben, mit dem Ausbau von ÖPNV-Infrastrukturen Sozialpolitik zu betreiben. Insofern ergibt sich im Hinblick auf vorhandene kritische Studien zur Politik des öffentlichen Nahverkehrs die dringende Aufforderung, nicht vorschnell eine vermeintliche Abkehr von einer ebenso vermeintlichen sozialen Verkehrspolitik zu attestieren. Dies gilt vor allem, wenn dabei der Verweis auf die sozialpolitische Ausgestaltung lediglich aus Diskursen heraus abgeleitet wird während die zeitgleiche konkrete Praxis des Infrastrukturausbaus bei der Analyse außen vor bleibt. Gerade vor dem Hintergrund, dass die Verkehrspolitik häufig für unterschiedliche extrinsische Zwecke instrumentalisiert wird, sollte es vielmehr stets auch darum gehen, jegliche Infrastrukturprojekte als konkretes Ergebnis eines Zusammenspiels unterschiedlicher Akteure aus offizieller und heimlicher Verkehrspolitik aufzufassen. Denn auf dieser Basis aufbauend lässt sich gut herausarbeiten, welche tatsächlichen Zwecke mit dem Instrument Verkehrsinfrastruktur jeweils verfolgt werden. So ermöglicht eine derart gerahmte Analyse nicht nur ein differenzierteres und realistischeres Bild der verschiedenen Teilbereiche, die aktiv auf das Instrument Verkehrsinfrastrukturen zurückgreifen. Darüber hinaus kann die Annahme, dass neben einer offiziellen und als solcher erkennbaren Verkehrspolitik stets auch ein breites Feld an heimlichen verkehrspolitischen Akteuren existiert, der gängigen Falle vorbeugen, von der Verkehrsinfrastruktur unmittelbar Rückschlüsse auf die Situation der offiziellen Verkehrspolitik ziehen zu wollen ohne zunächst auch die weiteren politischen Zusammenhänge einer Infrastrukturmaßnahme zu beleuchten. Zuletzt wurde deutlich, dass nicht erst nach Zürich gereist werden muss, sondern bereits ein Blick in die Region genügt, um zu erkennen, dass die offizielle Verkehrs politik unter bestimmten Umständen auch ohne plebiszitäre Unterstützung in der Lage ist, abseits einer Überformung durch heimliche Verkehrspolitik zu agieren und sich effektiv gegen eine solche zu positionieren. Wie bereits angesprochen, kommt hier dem regionalen Verkehrsverbund RMV aus zwei Gründen eine Schlüsselrolle zu. Erstens verfügt dieser selbst über eine gewisse politische Handlungsmacht, um offizielle Verkehrspolitik mit einem strikt regionalen Fokus zu betreiben. Zweitens existiert bisher keine vergleichbar machtvolle politische Institution auf regionaler Ebene, die dort effektiv die Rolle einer heimlichen Verkehrspolitik übernehmen könnte. Folglich existiert hier mit dem RMV ein regionaler Akteur, der nachdrücklich Position gegen die Raumstrategie der Stadt Frankfurt beziehen kann. Dies zeigte sich bisher nicht nur darin, dass das von den Akteuren der heimlichen Verkehrs politik in Frankfurt zwecks Flächenentwicklung als besonders wichtig erachtete Projekt Frankfurt 21 nicht verwirklicht wurde, weil sich unter anderem der RMV entschied, die Kapazität des Hauptbahnhofs zunächst durch dezentrale Infrastruk233
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turmaßnahmen zu ertüchtigen, was im Gegensatz zu Frankfurt 21 vor allem auf eine Verbesserung des regionalen Verkehrsnetzes abzielte. Darüber hinaus positionierte sich dieser auch mit einer frühzeitigen Unterstützung des vom Umlandverband angestoßenen tangentialen Schienenprojekts RTW zunächst aktiv gegen große Teile der Frankfurter Stadtpolitik, die weiterhin an der strikt radialen Netzkonstruktion mit der Frankfurter City als einzigem großen Knotenpunkt festhalten wollten. Natürlich trugen auch andere Faktoren dazu bei, dass die Stadt Frankfurt sich mit einigen Jahren Verzögerung doch zu einer Unterstützung des Projekts bereit erklärte. So etwa die trotz Schnellbahnbau anhaltende Gewerbesuburbanisierung, die nun sogar in der Peripherie zunehmend staubedingte Erreichbarkeitsprobleme verursachte und damit der Forderung nach einer tangentialen Schnellbahnlinie entscheidenden Nachdruck verlieh; aber auch die Annahme, wonach eine internationale Wettbewerbsfähigkeit durch die Konstruktion eines einheitlichen, vielseitig vernetzten regionalen Gefüges erheblich gesteigert werden könne; sowie zuletzt die Erkenntnis, dass sich durch den Bau der RTW im Endeffekt erneut zusätzliche Kapazitäten für den Personentransport in die City ergeben würden. Dennoch liegt es insbesondere am RMV, dass Frankfurt seine Raumstrategie heute auf politischer Ebene nicht mehr weitgehend widerspruchslos umsetzen kann, sondern diese durch offensive Gegenpositionierungen als solche entlarvt und zugleich dafür gesorgt wird, dass auch die spezifischen Erreichbarkeitsinteressen einiger Umlandgemeinden Eingang in die Ausbaupläne des Schnellbahnnetzes finden. Dennoch wäre es falsch, die Verkehrspolitik des RMV lediglich als ein auf das Umland zugeschnittenes Gegenstück zur Verkehrspolitik der Stadt Frankfurt zu verengen. Denn tatsächlich hat der RMV es nicht darauf belassen, sich ausschließlich auf das prestigeträchtige Großprojekt RTW zu beschränken, das, wenn auch mit verändertem räumlichen Fokus, dennoch den gleichen grundlegenden Rationalitäten wie das alte radiale Schnellbahnnetz entspringt: einer Kapazitätserweiterung auf den Relationen zwischen Standorten von als besonders förderungswürdig erachteten Wirtschaftssegmenten. Tatsächlich hat der RMV den schleppenden Fortschritt bei der RTW in den letzten Jahren zum Anlass genommen, um auf verschiedenen tangential verlaufenden Relationen im Umland, die nicht durch das Schnellbahnnetz abgedeckt werden, Schnellbuslinien einzuführen. Gerade weil diese sich nicht ausschließlich an wichtigen Arbeitsplatzkonzentrationen orientieren, sondern gleichzeitig verschiedene Siedlungsschwerpunkte miteinander direkt verbinden, bieten sie wesentlich bessere Voraussetzungen, den raumzeitlich differenzierten Mustern individueller Raumaneignung zu entsprechen als eine einzelne tangentiale Schnellbahnlinie. Mag diese Entwicklung auch als Reaktion auf die bis heute nur zögerlichen Fortschritte im RTW-Projekt zu werten sein, legt doch die ausgedehnte Linienführung der Expressbusse nahe, dass hier tatsächlich eine
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Anpassung an individuelle Mobilitätsbedürfnisse im Zentrum der Erwägung stand. Obgleich der RMV dabei aus der komfortablen Situation heraus agieren konnte, sich auf der regionalen Ebene nicht gegenüber einer effektiven Institution heimlicher Verkehrspolitik behaupten zu müssen, verweist das regionale Schnellbusnetz dennoch darauf, dass auch gegenwärtig Möglichkeitsfenster für eine tatsächliche Verkehrspolitik der allgemeinen Bedürfnisorientierung abseits von rein symbolischen und diskursiven Konstrukten bestehen. Grundlegend dafür ist allerdings nicht nur eine Emanzipation von den Anliegen heimlicher Verkehrspolitik und eine an den eigenen Zwecken orientierte Projektentwicklung, sondern zugleich eine Abkehr von der immer noch grassierenden „Jumbomanie“ des öffentlichen Nahverkehrs bei gleichzeitiger Orientierung an den raumzeitlich differenzierten Bedürfnissen individueller Raumaneignung. Denn konsequent weitergedacht mit einem wirklichen Schnellbus, der als Zusatzangebot zu bestehenden Netzen konzipiert wird, ein Beschleunigungsprogramm erfährt, in enger Taktung verkehrt und ähnliche Durchschnittsgeschwindigkeiten erreicht wie der Schienenverkehr, könnte ein solches System tatsächlich eine weitreichende Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs in die Wege leiten. Dabei ist der RMV ein interessantes Beispiel dafür, wie es einer offizielen Verkehrspolitik gelingen kann, sich von den machtpolitisch-ökonomisch motivierten Fesseln lokalstaatlichen Raumproduktion einzelner Städte zu lösen und sich stärker den vielseitigen Ansprüchen gegenwärtiger individueller Raumaneignung zuzuwenden. Schließlich erlaubt es gerade ein so polyzentrischer Raum wie Frankfurt mit seinen Umlandgemeinden, in dem zudem neue Angebote bisher stets besser angenommen wurden als erwartet, sich nicht auf die Forderungen nach einem pervertiert individualisierten öffentlichen Nahverkehr einlassen zu müssen, sondern Wegstrecken durchaus zu bündeln – nur angeboten werden müssen sie dennoch. In diesem Zusammenhang könnte auch andernorts ein sinnvoller neuer Weg darin bestehen, sich hier nicht immer wieder auf langwierige Vorstudien und Vorplanungen einzulassen, deren grundlegende gesellschaftliche Parameter ohnehin größtenteils im Nebel verborgen bleiben, sondern die Eröffnung einer neuen Strecke als Experiment zu begreifen, dass nach einer gewissen Zeit von Erfolg gekrönt wird oder auch nicht. Ausgedrückt in den Worten von Lucius Burckkardt hieße dies: „Die Bevorzugung der zentrifugalen und zentripetalen Fahrtrichtungen ist ganz unberechtigt. Der Verkehr ist die Überwindung immer neuer sich ergebender Verwirrungen und Verschiebungen der Zuordnungen im Sinne unserer drei Freiheiten der Wahl des Arbeitsplatzes, Wohnorts und Verkehrskreises [soziale Beziehungsnetze]. Abbild dieser Freiheit kann also nicht eine irgendwie gerichtete Figur sein, sondern eine richtungslose nach Art etwa des so verpönten Quadratrasters“ (Burckhardt 1961/2004: 247). 235
Schlussbetrachtung und Ausblick 6 Schlussbetrachtung und Ausblick 6 Schlussbetrachtung und Ausblick
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Ziel der Arbeit war es, den öffentlichen Schienennahverkehr am Beispiel der Stadt Frankfurt am Main unter Rückgriff auf theoretische Ansätze der kritischen Stadtforschung aus einer bisher wenig eingenommenen Perspektive zu beleuchten, die vor allem strukturelle und räumliche Aspekte ins Zentrum rückt. Vor dem Hintergrund einer langjährigen Hegemonie des automobilen Beschleunigungssystems ging es dabei im Kern um die Frage, zu welchen Zwecken politische Institutionen und Akteure in Schienennahverkehrsinfrastrukturen investieren und inwieweit daraus eine spezifische Ausprägung dessen räumlicher Form resultiert. Die zentralen Erkenntnisse und Folgerungen der Arbeit werden abschließend in acht Thesen zusammengefasst. These I
Der heutige öffentliche Schnellbahnverkehr ist in Funktion eines Druckventils inhärenter Bestandteil des hegemonialen automobildominierten Verkehrssystems.
Sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als auch innerhalb politischer und wissenschaftlicher Debatten wird der öffentliche Nahverkehr häufig als Alternative zum Automobil beschrieben. Vor dem Hintergrund der im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten, tiefergehenden Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Nahverkehr im Kontext städtischer Raumproduktion muss die Gültigkeit dieser Auffassung jedoch grundlegend in Frage gestellt werden. Einerseits sind gängige Busangebote aufgrund geringer Geschwindigkeiten selbst in Städten mit weit verzweigten Netzen eher eine Art Mindestsicherung von Mobilität denn eine nur halbwegs gleichwertige Alternative zum Automobil. Andererseits kann selbst der wesentlich schnellere schienengebundene öffentliche Nahverkehr, der seit den 1960er Jahren vor allem in wichtigen Wirtschaftszentren grundlegend modernisiert wurde, bei näherer Betrachtung kaum als Alternative betrachtet werden. Denn auch © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Hebsaker, Städtische Verkehrspolitik auf Abwegen, Studien zur Mobilitätsund Verkehrsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31831-4_6
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hier besteht die zugrundeliegende Intention mitnichten in der Entwicklung eines möglichst umfassenden, zum Automobil gleichwertigen Angebots. Vielmehr verweisen die in der Arbeit zitierten Argumentationen politischer Akteure beispielhaft darauf, dass diese Alternative überwiegend auf solchen Relationen begrenzt blieben, wo ansonsten eine beschleunigte Raumüberwindung mittels Automobil nicht mehr uneingeschränkt gewährleistet werden konnte. Als Schlüsselmomente der Angebotsbereitstellung dienten dabei in der Regel Erkenntnisse über – bzw. Befürchtungen von – Stausituationen im Automobilverkehr, die nicht mehr durch einen reinen Infrastrukturausbau von Straßen gelöst werden konnten. Der ÖPNV-Infrastrukturausbau erfolgte also in Frankfurt und wirtschaftsstrukturell vergleichbaren Städten erst dann, wenn allgemeine automobile Beschleunigungsversprechen aufgrund einzelner Engpässe Gefahr liefen, dauerhaft gebrochen zu werden. Auf den Ausbau schneller öffentlicher Nahverkehrsmittel wurde erst in dem Moment zurückgegriffen, wenn das nach wie vor hegemoniale automobile Verkehrssystem an seine Grenzen stieß (vgl. Kap. 4.2–4.6). Anstatt den schienengebundenen öffentlichen Nahverkehr also als Alternative zu betrachten und ihn damit mit dem Automobilverkehr auf eine Stufe zu stellen erscheint es realitätsgetreuer, ihn als Druckventil zu bezeichnen. Ein Druckventil, das zwar auf ganz bestimmten Relationen durchaus eine Alternative darstellt, dies aber nur zu dem Zweck, dass auf die Vorzüge der automobilen Beschleunigung im Allgemeinen auch weiterhin zurückgegriffen werden kann und das automobile Beschleunigungsversprechen seine Gültigkeit behält. These II Kommunale Politik zum ÖPNV-Infrastrukturausbau wird über weite Strecken von extrinsischen, nicht primär verkehrsbezogenen politischen Zwecken bestimmt. In Deutschland und andernorts wird der öffentliche Nahverkehr häufig vorschnell und pauschal als Bestandteil der Sozialpolitik bezeichnet (vgl. Kap. 2.2.3). Auch am Beispiel der Frankfurter Verkehrspolitik lässt sich hinsichtlich des Ausbaus von ÖPNV-Infrastrukturen eine intrinsische Motivation zur allgemeinen Unterstützung von Mobilitätsbedürfnissen erkennen, die als Sozialpolitik gedeutet werden kann. Gleichzeitig wird anhand dieses Beispiels besonders deutlich, dass diese intrinsisch motivierte Verkehrspolitik fortwährend in Konkurrenz zu den Strategien verschiedener Akteure einer gewissermaßen heimlichen Verkehrspolitik steht. Diese Akteure lassen sich dahingehend beschreiben, dass sie in erster Linie keine verkehrspolitischen Ziele verfolgen, aber auf verkehrspolitische Maßnahmen zurückgreifen, um ihre aus verkehrspolitischer Perspektive extrinsischen Ziele zu erreichen. Beispiele dafür sind etwa die kontinuierliche Unterstützung eines örtlichen
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Wirtschaftswachstums der City mittels Sicherstellung ihrer verkehrlichen Erreichbarkeit (vgl. Kap. 4.2–4.4 & 5.3) oder das Forcieren einer möglichst hochpreisigen Vermarktung von Grundstücken und Immobilien durch die Errichtung attraktiver öffentlicher Schienennahverkehrsinfrastrukturen vor Ort (vgl. Kap. 5.4 & 5.5). Vor dem Hintergrund fehlenden Wissens ob der tatsächlichen räumlichen Ausprägung individueller Mobilitätsbedürfnisse sowie finanzieller und personeller Einschränkungen führt dieses Konkurrenzverhältnis zwischen intrinsisch und extrinsisch motivierten Projekten häufig dazu, dass vor allem letztere verwirklicht werden. Denn im Gegensatz zu einer allgemeinen Bedürfnisbefriedigung handelt es sich hierbei um Projekte, die eng mit zentralen stadtpolitischen Strategien verknüpft sind (z. B. einem möglichst kontinuierlichen Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum) und die von der Politik darum als besonders dringlich erachtet werden. Daneben lässt sich auch im historischen Rückblick festhalten, dass ÖPNV- Infrastrukturprojekte, die explizit und uneingeschränkt einer Sozialpolitik zugeordnet werden können, trotz anderweitiger verkehrspolitischer Ambitionen eher als Ausnahme denn als Regel betrachtet werden müssen. Gleichzeitig wird in der Arbeit herausgearbeitet, dass tatsächlich schon immer ein enges Verhältnis zwischen allgemeinen stadtentwicklungspolitischen Strategien und städtischer Verkehrspolitik bestand. Dieses Verhältnis wirkt allerdings weniger im Sinne häufig formulierter Forderungen eines integrierten Zusammenspiels. Vielmehr dient die Verkehrspolitik hier vor allem als Mittel oder Instrument, mit dem verschiedene Zwecke einer wachstumsorientierten Stadtentwicklung verfolgt werden. These III Die Neoliberalisierung städtischer Politik hat auch die kommunale ÖPNV-Infrastrukturpolitik maßgeblich verändert. Dies aber weniger auf einem direkten Weg, sondern überwiegend indirekt. Wenn der öffentliche Nahverkehr lediglich als eine unter vielen städtischen Aufgaben betrachtet wird, die in ähnlicher Weise von einer Neoliberalisierung des Städtischen betroffen sind, z. B. durch Privatisierung, und wenn gleichzeitig der spezifische weitere Kontext verkehrspolitischer Entscheidungen außer Acht gelassen wird (vgl. Kap. 2.2.4), dann besteht die Gefahr, den tatsächlichen Einfluss von Neoliberalisierungsprozessen auf die städtische Verkehrspolitik zu verkennen. Denn während verkehrspolitische Entscheidungen häufig den Anschein einer rein technokratisch orientierten Sachpolitik erwecken, sind es vor allem die dahinter verborgenen Entscheidungsprozesse, die konkrete Auswirkungen auf die Verkehrs politik offenbaren. So resultiert etwa in Frankfurt nicht nur eine allgemein striktere Sparpolitik darin, dass die Umsetzung von Projekten, die eher einer allgemeinen Bedürfnisbefriedigung entsprechen sollen, angesichts stets neuer extrinsisch mo239
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tivierter Konkurrenzprojekte immer weiter auf die lange Bank geschoben wird. Zugleich lassen sich dort die extrinsischen Anlässe zum ÖPNV-Infrastrukturausbau der letzten Jahre zu großen Teilen auf eine offensiv wettbewerbsorientierte Wohnungs- und Baupolitik zurückführen (vgl. Kap. 5.4). Zuletzt hat die in Frankfurt in jüngerer Zeit erfolgte Einführung neuer, an unternehmerischen Gesichtspunkten ausgerichteter Verwaltungsinstrumente unter Einbezug der Privatwirtschaft zur Herausbildung neuer durchsetzungsstarker Akteure heimlicher Verkehrspolitik beigetragen (vgl. Kap. 5.5). So erstrebenswert eine breit gefächerte Analyse städtischer Politik auch sein mag, zeigt sich doch besonders am Beispiel der städtischen Verkehrspolitik mit all ihren zunächst verborgenen Akteuren und Rationalitäten die unbedingte Notwendigkeit differenzierterer Herangehensweisen, um die Vielzahl an tatsächlichen vorgelagerten Mechanismen erkannter Ergebnisse zu ergründen. These IV Die jüngere städtische Infrastrukturpolitik ist gezeichnet durch ein anhaltendes Untergraben von territorial motivierten Projekten zugunsten von rein ortsbezogenen Anlässen. Eine zentrale und weitreichende Folge solch verdeckter Neoliberalisierungsprozesse ist das faktische Abrücken städtischer Verkehrspolitik von einer territorialen Praxis zugunsten vordergründig ortsbezogener Projekte (vgl. Kap. 5.4 & 5.5). Es handelt sich dabei explizit um ein faktisches Abrücken, weil zumindest theoretisch auch weiterhin an einer territorialen, sprich gesamtstädtischen Verkehrspolitik, festgehalten wird, was sich etwa an der anhaltenden Überarbeitung von Gesamtverkehrsplänen offenbart. Denn den Gesamtverkehrsplänen liegt auch heute noch eine offensichtlich territoriale Motivation zugrunde, da hier eine Verbesserung des räumlich klar definierten gesamtstädtischen Nahverkehrsnetzes im Fokus steht. Wenn nun aber, wie in Frankfurt, dazu übergegangen wird, mit oberster Priorität die jeweils aktuellen Neubaugebiete in das Nahverkehrsnetz zu integrieren, kann kaum mehr von einer gesamtstädtischen Netzentwicklung gesprochen werden. Schließlich ergibt sich der Anlass hier stets aus der alleinigen Motivation heraus, den jeweiligen spezifischen Ort zu erschließen. Dass dieser Ort damit zugleich in das Nahverkehrsnetz integriert wird, ist dabei nur folgerichtig. Während also bei einer territorialen Praxis zuerst das Netz betrachtet wird, um daraus spezifische Orte für den Infrastrukturausbau zu identifizieren, wird bei diesen als notwendig erachteten Erschließungen von Neubaugebieten umgekehrt vom Ort auf das Netz geschlossen. Damit wird deutlich, dass die von Swyngedouw et al. (2002: 562ff.) und Harvey (1989a: 7) anhand von städtebaulichen Großprojekten festgestellte Verschiebung städtischer Politik vom Territorium auf den Ort auch im Rahmen von ÖPNV-Infrastrukturprojekten sichtbar werden. In gleichem Maße lässt sich
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hierbei auch der von Graham und Marvin (2008, 2001) attestierte Prozess einer Zersplitterung städtischer Infrastrukturen nachvollziehen. Allerdings muss dabei dann gleichzeitig auf heimliche Akteure der Verkehrspolitik verwiesen werden, die stets als Initiator dieser ortsbezogenen Projekte in Erscheinung treten. Im Endeffekt handelt es sich hier folglich nicht um einen Strategietransfer von der Stadtentwicklungs- zur Verkehrspolitik, sondern um eine konsequente Ausweitung von aus städtebaulichen Großprojekten bekannten Strategien auf den Gegenstand öffentlicher Nahverkehr in Gestalt heimlicher Verkehrspolitik. These V
Die lokalstaatliche Raumproduktion durch ÖPNV-Infrastrukturen ist ökonomisch und machtpolitisch motiviert.
Fällt der Blick auf jüngere politische Diskurse der Stadt Frankfurt wird deutlich, dass das stadtpolitische Instrument der öffentlichen Schienennahverkehrsinfrastrukturen noch heute in den meisten Fällen eng mit dem über einzelne Projekte hinausgehenden Zweck verbunden wird, eine schnelle Erreichbarkeit von Dienstleistungsunternehmen und Konsumorten in der City aus der städtischen Peripherie zu gewährleisten (vgl. Kap. 5.3). Es geht also immer noch darum, einen Verkehrsraum zu (re‑) produzieren, mit dem die bestehende ungleiche Verteilung von Orten wirtschaftlicher Prosperität und damit einhergehende Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie weiter aufrechterhalten und ausgebaut werden können. Der so produzierte Verkehrsraum ist nicht nur ökonomisch motiviertes, sondern zugleich machtpolitisches Instrument, weil durch die ausschließlich sternförmige Konzentration der Linienführung auf das Stadtzentrum gleichzeitig den Umlandgemeinden ähnliche, verkehrsbedingte Wachstumsvoraussetzungen vorenthalten werden sollen. Dass sich im Verlauf der letzten 40 Jahre in der städtischen Peripherie dennoch immer größere Dienstleistungsstandorte entwickelten, kann folglich nicht auf den öffentlichen Nahverkehr zurückgeführt werden, sondern hängt vielmehr mit den ubiquitären Raumüberwindungsmöglichkeiten automobiler Fortbewegung zusammen. Belegen lässt sich dies auch durch den Sachverhalt, wonach die Umlandgemeinden diesem offensichtlichen Ungleichgewicht der Nahverkehrserschließung erst zu einem Zeitpunkt offensiv entgegentraten, als der Umfang der Unternehmenskonzentrationen in der Peripherie ein so großes Ausmaß erreichte, dass sich auch dort kapazitätsbedingte Erreichbarkeitsdefizite abzuzeichnen begannen. Erst ab diesem Moment haben die Umlandgemeinden und regionalen politischen Akteure begonnen, die städtische Raumproduktion aktiv in Frage zu stellen und die Kernstadt mit dem Konzept einer alternativen, tangentialen Schnellbahnlinie konfrontiert, der Regionaltangente West. Tatsächlich kann diesem Infrastrukturprojekt durchaus zugestanden werden, nun auch im öf241
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fentlichen Nahverkehr bestehende Hierarchien zwischen Zentrum und Peripherie aufzubrechen. Darüber hinaus wird jedoch anhand der konkreten Planung des regionalen Schienenprojekts deutlich, dass der Schnellbahnbau – wenngleich unter veränderten machtpolitischen Vorzeichen – dennoch erneut in erster Linie als raumpolitisches Instrument lokalstaatlicher Strategien zur Förderung des örtlichen Wirtschaftswachstums betrachtet wird. Fragen der allgemeinen Befriedigung von Mobilitätsbedürfnissen spielen dagegen weiterhin nur eine untergeordnete Rolle (vgl. Kap. 5.6). These VI Die Raumproduktion durch Infrastrukturen des öffentlichen Schnellbahnverkehrs steht in einem tiefgreifenden Widerspruch zu den heterogenen Anforderungen alltäglicher individueller Raumaneignung. Wie wenig der öffentliche Nahverkehr in seiner aktuellen raumstrukturellen Ausrichtung in der Lage ist, die heterogenen Anforderungen alltäglicher individueller Raumaneignung adäquat abzubilden, belegen sowohl die aus kernstädtischer Per spektive politisch nicht intendierte regionale Verteilung des Dienstleistungssektors als auch die zunehmende raum-zeitliche Differenzierung im Freizeitverkehr. In beiden Fällen legte dabei das Automobil die entscheidende Grundlage, um sich massenweise über die machtpolitischen Intentionen des konzentrisch organisierten Verkehrsraumes hinwegzusetzen. Hinsichtlich der Möglichkeiten individueller Raumaneignung (und abgesehen von einer Vielzahl an sonstigen Restriktionen und Hürden) erscheint das Automobil damit als ein besonders demokratisches Verkehrsmittel, durch das gleichzeitig die strukturellen Nachteile des hierarchisch entwickelten öffentlichen Nahverkehrs mit seiner Beschränkung auf ganz bestimmte Zwecke offensichtlich werden. Doch obwohl das öffentliche Nahverkehrsangebot im Hinblick auf die individuelle Raumaneignung schon immer durch einen hier archisch strikt festgelegten Rahmen charakterisiert war, zeigen sich im Detail dennoch wichtige Unterschiede zwischen den einzelnen Systemen. So verweisen die umfangreichen Proteste gegen die zugunsten des Schnellbahnnetzes erfolgte Abschaffung der historischen Straßenbahnen darauf, dass letztere aufgrund ihrer fein verzweigten Linienäste, zumindest in den zentraler gelegenen Quartieren, wesentlich besser geeignet waren, den damaligen Anforderungen individueller Raumaneignung zu entsprechen. Es ist also vor allem der moderne Schnellbahnverkehr, der es aufgrund seiner engen Zweckgebundenheit als Überdruckventil des Automobilverkehrs und der damit einhergehenden räumlichen Form nicht vermag, den vielseitigen Anforderungen individueller Raumaneignung gerecht zu werden und sich damit als vergleichbare Alternative zum Automobil disqualifiziert.
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These VII Um den öffentlichen Nahverkehr tatsächlich als vergleichbare Alternative zum Automobil zu positionieren, bedarf es einer kommunalen Verkehrspolitik, die vor allem aus einer intrinsischen Motivation heraus handelt und die Priorisierung entsprechender Projekte gezielt gegenüber den Anliegen der heimlichen Verkehrspolitik verteidigt. Wenn der öffentliche Nahverkehr zu einer tatsächlichen Alternative zum Automobilverkehr entwickelt werden soll, muss sich die Verkehrspolitik zuerst der grundlegenden Maxime verschreiben, eine Politik des öffentlichen Nahverkehrs an erster Stelle für den öffentlichen Nahverkehr zu betreiben. Es bedarf also einer offiziellen Verkehrspolitik, die weniger als Instrument heimlicher Verkehrspolitik in Erscheinung tritt, sondern sich verstärkt auf ihre intrinsische Motivation besinnt, also konkrete Projektumsetzungen in erster Linie mit Fragen allgemeiner Mobilitätsbedürfnisse verknüpft. Schließlich muss die Dominanz extrinsischer Zwecke beim Infrastrukturausbau als eine zentrale Ursache dafür betrachtet werden, dass eine seit Jahren immer wieder diskutierte umfassende Anpassung des öffentlichen Nahverkehrs an gesellschaftliche Anforderungen der Gegenwart bis heute nicht ansatzweise erfolgt ist. Daraus ergibt sich erstens, dass offizielle Verkehrspolitiker*innen gegenüber verschiedenen Akteuren heimlicher Verkehrspolitik, wie auch gegenüber dem allgemeinen politischen Betrieb, zunächst parteiübergreifend die Notwendigkeit einer eigenständigen Verkehrspolitik hervorheben müssen. Dabei muss deutlich artikuliert werden, dass eine politisch permanent postulierte Verkehrswende unter Rückgriff auf den öffentlichen Nahverkehr nur gelingen kann, wenn die seit der Massenmotorisierung erkennbare Differenzierung individueller Raumaneignung sich auch innerhalb des Nahverkehrsnetzes abbilden lässt. Zweitens bedeutet dies für die konkrete Projektauswahl, dem allgemeinen Gebrauchswert der Infrastruktur ein größeres Gewicht einzuräumen als den bisher dominanten Aspekten rein örtlicher Verbesserungen zugunsten wirtschafts- und wohnungspolitischer Ziele. Es darf also nicht mehr darum gehen, ein unvollständiges Netz kontinuierlich durch weitere Komponenten auszuweiten (vgl. Kap. 5.4–5.6). Stattdessen müssen Projekte vorangetrieben werden, die in besonderem Umfang dazu beitragen, dieses Netz zu verdichten und zu vervollständigen. Ziel muss es also sein, auch den öffentlichen Nahverkehr soweit zu demokratisieren, dass dieser auch auf solchen Relationen mit attraktiven Angeboten präsent ist, die nicht unmittelbar mit stadtpolitischen Verwertungsinteressen korrelieren. Obgleich Fragen zur Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs im Rahmen dieser Arbeit bisher nur am äußersten Rande und unvollständig thematisiert wurden, soll zumindest kurz der Kritik begegnet werden, ein so umfangreicher Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs 243
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sei nicht finanzierbar. So verweist hierzu beispielsweise eine Studie von Sommer et al. (2015) darauf, dass Finanzierungsaspekte städtischer Infrastrukturinvestitionen gerade beim Automobilverkehr, im Gegensatz zu allen anderen Verkehrsträgern, kaum eine Rolle spielen. Gleichzeitig ist aber der Kostendeckungsgrad bei städtischen Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr, den Rad- und Fußverkehr wesentlich besser. Folglich darf die Frage an dieser Stelle nicht lauten, ob wir uns einen verbesserten öffentlichen Nahverkehr leisten können. Die Frage ist vielmehr, ob wir uns einen verbesserten öffentlichen Nahverkehr leisten wollen. Drittens muss eine intrinsisch motivierte Förderung des öffentlichen Nahverkehrs auch in eine Abkehr von der „Jumbomanie“ (Monheim und Monheim-Dandorfer 1990: 358; vgl. insb. Kap. 4.2.4) neuer Infrastrukturprojekte münden, deren verkehrlicher Zweck lediglich darin besteht, Kapazitäten einer ohnehin schon stark frequentierten Wegerelation durch möglichst leistungsstarke Verkehrsmittel noch weiter zu erhöhen. Wie bereits die Verweise auf diverse Proteste gegen die Schließung alter Straßenbahnnetze nahelegten (vgl. Kap. 4.3 & 4.5), wäre es hier wesentlich sinnvoller, vorhandene Finanzmittel nicht zur weiteren Erhöhung der Kapazitätsspitze einzelner, meist radialer Relationen zu verwenden, sondern sie stattdessen zur Umsetzung verschiedener kleinerer und tangential ausgerichteter Projekte zu nutzen, die eine Verbesserung der Flächenerschließung gewährleisten. Angesichts ihrer langen Planungshorizonte ist es dabei auch zwingend notwendig, sich nicht nur auf Schienenverkehrsmittel zu beschränken. Vielmehr lässt sich über optimierte klassische Linienbusse wesentlich schneller und günstiger ein effektives und fein verzweigtes Netz errichten. Dazu gehört es insbesondere, Busse nicht mehr nur auf ihr bisheriges Einsatzgebiet einer im Vergleich wenig attraktiven Mobilitätsgrundversorgung zu beschränken. Diese neuen (zusätzlichen) Buslinien müssten folglich – den Anforderungen gegenwärtiger Raumüberwindungen angepasst – einer umfangreichen Beschleunigung und Verlässlichkeitsverbesserung unterzogen werden. Etwa durch eine Errichtung von Busspuren auf schon bestehenden Fahrbahnen des Individualverkehrs, konsequente Ampelvorrangschaltungen, dichtere Taktung und längere Haltestellenabstände. Konsequent auf bestehenden Straßen umgesetzt ist ein auf diese Weise ausgebautes Busnetz zudem eine effektive subversive Praxis gegen das automobile Beschleunigungssystem. Denn im Gegensatz zum Neubau von Infrastrukturen abseits bereits bestehender Verkehrswege kann auf diese Weise gleichzeitig mit dem ÖPNV-Ausbau automatisch eine effektive Kapazitätsreduzierung der Flächen für den motorisierten Individualverkehr umgesetzt werden. Tatsächlich verweist auch eine Metastudie zur Einführung verschiedener Schnellbussysteme in Europa darauf, dass hiermit stets ein Fahrgastwachstum zwischen 20 und 134 % erreicht werden konnte. Dabei erfuhren insbesondere solche Systeme ein starkes Wachstum, die mit einer signifikanten Steigerung der
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Fahrtgeschwindigkeiten verbunden waren (Heddebaut et al. 2010). Nur in diesem Zusammenhang wäre im Sinne einer flankierenden Maßnahme eine Umstellung auf batterieelektrisch betriebene Motoren sowie punktuelle Ergänzungen durch Car-, Ride- und Bike-Sharing-Systeme ein tatsächlicher Schritt in Richtung einer nachhaltigen Verkehrswende. Weil allerdings auch bei der Integration solcher Systeme die Verbesserung des Gebrauchswertes des Gesamtnetzes die zentrale Maxime darstellen muss, sollte hier stets eine vollumfassende Integration in das Ticketsystem des öffentlichen Nahverkehrs erfolgen. Viertens bedeutet eine umfassende Orientierung an der individuellen Raum aneignung, dass Diskussionen um die Netzerweiterung elementar mit der Frage verbunden werden, welche Relationen sich in Bezug auf das Automobil bisher noch nicht in einem vergleichbaren Zeitaufwand mit dem öffentlichen Nahverkehr bewältigen lassen. Es müssen also entweder umfangreichere und exaktere statistische Analysen zur Identifikation von Relationen mit bisher unzureichend ausgeschöpftem Fahrgastpotenzial vorgenommen werden (vgl. Kap. 5.2.1) oder es muss versucht werden, Nutzende wie (Noch-)Nicht-Nutzende intensiv in Planungsdiskussionen zur Netzerweiterung mit einzubeziehen. Dies würde allerdings auch bedeuten, sich bewusst von solchen gängigen Beteiligungsprozessen abzuheben, die ausschließlich Beschwichtigungsstrategien verfolgen (vgl. Blümel 2004: 32). In großen Agglomerationsräumen wie um Frankfurt wäre es gleichsam überlegenswert, aufgrund des vermuteten umfangreichen, bisher nicht abschöpfbaren Kundenpotenzials an den Rändern der Kernstadt und im nahen Umland vermehrt mit der Einführung zunächst zeitlich begrenzter zusätzlicher Linienangebote zu experimentieren, solange effektivere Erhebungsmethoden zur Identifikation von Bedürfnissen individueller Raumaneignung nicht zur Verfügung stehen. Allerdings steht ein technisch und strukturell optimierter öffentlicher Nahverkehr letztlich eher für eine progressive Anpassung als für einen radikalen Wandel gesellschaftlicher Raumaneignung. Denn die anfangs beschriebenen grundlegenden sozialen und ökonomischen Beschleunigungsprozesse werden auch durch einen in seinem Gebrauchswert mit dem Automobil konkurrenzfähigen öffentlichen Nahverkehr nicht in Frage gestellt. Vielmehr würde es nun eben ein optimierter öffentlicher Nahverkehr sein, der zur kontinuierlichen Beschleunigung des gesellschaftlichen Lebens instrumentalisiert werden würde – nur eben in einem etwas ökologischeren und sozialeren Gewand. Zugleich bestünden nach wie vor die negativen Begleiterscheinungen, dass sich mit der Verlängerung von Distanzen die energetischen und finanziellen Transportkosten von Wegen weiter erhöhen. Damit stünde die Notwendigkeit zur Überwindung von großen Entfernungen weiterhin als Gefahr einer sozialen Spaltung im Raum – nicht zuletzt für diejenigen, die auch den öffentlichen Nahverkehr nicht nutzen können. 245
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Ein radikaler gesellschaftlicher Wandel kann dagegen nur gelingen, wenn begonnen wird, Räume zu produzieren, die keine alltägliche Überwindung großer Distanzen erzwingen und somit die Möglichkeit geben, dass Individuen den Pfad gesellschaftlicher Beschleunigung bewusst verlassen können, ohne damit unweigerlich eine gesellschaftliche Ausgrenzung in Kauf nehmen zu müssen. Auch wenn es sich hierbei um einen langen und steinigen Weg handelt, wäre ein sinnvoller erster kleiner verkehrspolitischer Schritt in diese Richtung eine umfangreich verstärkte Förderung besonders inklusiver Verkehrsträger, sprich von Fuß- und Radverkehr. These VIII Ein auf polit-ökonomische Zusammenhänge fokussierter Zugang zu kommunalpolitischen Diskussionsprozessen über ÖPNV-Ausbauprojekte kann in besonderem Maße strukturelle Grenzen herkömmlicher Herangehensweisen offenbaren. Innerhalb der geographischen Verkehrs- und Mobilitätsforschung wird der Tatsache, dass Verkehrsinfrastrukturen als per se politische Gegebenheiten betrachtet werden müssen, häufig kaum Beachtung geschenkt (vgl. Kap. 2.3.1). Beispielsweise wenn ergründet werden soll, mit welchen Maßnahmen Nutzer*innen zum Wechsel ihres Verkehrsmittels bewegt werden können (vgl. Kap. 2.3.2) oder wenn auf Basis der Identifikation von mobilitätsbedingten sozialen Exklusionsprozessen politische Empfehlungen zur punktuellen Infrastrukturanpassung formuliert werden (vgl. Kap. 2.2.1). Überspitzt ausgedrückt wird damit nicht nur eine beliebige gegenseitige Austauschbarkeit verschiedener Technologien suggeriert sondern auch vom Vorhandensein grundsätzlich akzeptabler, wenn auch zum Teil noch verbesserbarer und ausbaufähiger ÖPNV-Infrastrukturen ausgegangen. Wie diese Arbeit jedoch gezeigt hat, basieren beide Vorgehensweisen auf einer falschen Grundannahme. Nämlich auf dem Glauben an eine Verkehrspolitik, die sich in erster Linie nach verkehrsbedingten Zwecken ausrichten würde. Folglich hat die Verneinung dieser Grundannahme weitreichende Folgen. Denn die Erkenntnisse aus Frankfurt, wonach vergleichsweise attraktive schienengebundene Nahverkehrssysteme häufig nur soweit ausgebaut und gefördert werden, wie sie bestimmten extrinsischen Zwecken genügen, legen einerseits nahe, dass wir uns von der Grundannahme einer weitreichenden individuellen Wahlfreiheit zwischen unterschiedlichen Verkehrsmitteln endgültig verabschieden sollten. Andererseits wird damit deutlich, dass es sich bei existierenden Angebotslücken in bestehenden öffentlichen Verkehrsnetzen nicht nur um behebenswerte Fehler und Versäumnisse der Verkehrspolitik handelt. Vielmehr sollten diese Lücken stets als bewusst in Kauf genommene Resultate von ähnlich bewusst gefällten politischen Entscheidungen hinterfragt werden. Die Frage der individuellen Nutzung von
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Verkehrsmitteln ist damit weder nur eine Frage individueller Präferenzen noch eine rein technische Angelegenheit sondern gleichermaßen immer eine politische Frage. Die geographische Verkehrs- und Mobilitätsforschung würde demnach gut daran tun, Fragen nach politischen Rationalitäten und Zwecken bei der Förderung einzelner Verkehrssysteme einen wesentlich höheren Stellenwert innerhalb der eigenen Forschung einzuräumen.
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