Frankfurt am Main - eine Stadt für alle?: Konfliktfelder, Orte und soziale Kämpfe 9783839454770

Processes of urban development are always accompanied by social struggles. The authors of this volume shed light on curr

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German Pages 450 [442] Year 2021

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Frankfurt am Main - eine Stadt für alle?: Konfliktfelder, Orte und soziale Kämpfe
 9783839454770

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Frankfurt am Main

Eine Stadt für alle? Konfliktfelder, Orte und soziale Kämpfe J o h a n n a B e tz , Sv e n ja K e i tz e l , J ü r g e n S c h a r d t, S e b a s t i a n Schipper, Sara Schmitt Pacífico, Felix Wiegand (Hg.)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gefördert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) - 418258934. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Lektorat: Franzi Prost Umschlaggestaltung: Maximilian Hellriegel Satz: Maximilian Hellriegel Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Print-ISBN 978-3-8376-5477-6 PDF-ISBN 978-3-8394-5477-0 https://doi.org/10.14361/9783839454770 Buchreihen-ISSN: 2747-3619 Buchreihen-eISSN: 2747-3635 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt Einleitung Johanna Betz, Svenja Keitzel, Jürgen Schardt, Sebastian Schipper, Sara Schmitt Pacífico und Felix Wiegand

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­Themen und Konflikt­felder Frankfurts Aufstieg zur Global City Klaus Ronneberger

23

Frankfurt als Ort post-industrieller Arbeitsverhältnisse? Peter Lindner und Stefan Ouma

35

Frankfurts Stadtentwicklung – nachhaltig für alle? Café 2Grad Frankfurt

45

Der Stachel des Widerspruchs: Wohnungspolitik und soziale Kämpfe in Frankfurt am Main Sebastian Schipper und Susanne Heeg

53

Bodenpreise und Bodenpreispolitik in Frankfurt/Rhein-Main Bernd Belina

67

Arm und Reich in der Stadtregion. Was sagen die Zahlen und was nicht? Christian Stein

79

Zermürbend, abschreckend, desintegrierend: Frankfurts Politik gegen Obdachlose Benjamin Böhm

89

ÖPNV für alle? Soziale Aspekte und aktuelle Verschiebungen im Kontext von Fahrkarten und Tarifen Stefanie Schwerdtfeger

99

»Nur ‘n bisschen chillen?!« – Eigensinnige Raumaneignung als Konflikt ğ Yagmur Mengilli

111

Wildes Frankfurt – Nilgänse im Fokus räumlicher Konflikte Elisa Kornherr und Robert Pütz

121

­Orte und Stadtteile Sex, Drogen, Alkohol – umkämpfter öffentlicher Raum im Bahnhofsviertel Jenny Künkel 

133

Die gespaltene Stadt und das Erstarken der AfD. Eine Spurensuche im Riederwald und in Nied Daniel Mullis

141

Drogenhandel in der Frankfurter Platensiedlung – Entmietungspraxis einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft Luise Klaus und Bernd Werse

155

Die neue Altstadt: Erlebnis, Erinnerung und Wirtschaft. Ein Rundgang Lidia Monza

165

Gentrifizierung im Ostend. Stadtpolitisch forcierte Aufwertung und Verdrängung Andrea Mösgen und Sebastian Schipper

179

Gentrifizierung im Gallus. Ein polit-ökonomischer Spaziergang durch das ehemalige Arbeiter*innenviertel Tjark Albrecht, Johanna Betz und Tabea Latocha

191

Orte der Prekarisierung: Wohnen am ›Rand‹ der Global City. Das Beispiel Sossenheim Tabea Latocha

207

30 Jahre Lesbisch-Schwules Kulturhaus: Queere Stadtgeschichte in der Klingerstraße Julia Bieber, Franca Feil, Carolin Mezes, Katharina Müller und Ka thrin Schleich

221

Ein Gespräch über das Autonome Frauenhaus als feministischer Ort Hilke Droege-Kempf, Doris Feld und Stella Schäfer

231

Drahtseilakt: Der ewige Kampf um den Erhalt der eigenen Lebenswelt von Schausteller*innen, Zirkusangehörigen und reisenden Händler*innen Sonja Keil

243

ÜberLeben in der AUtopie – von Liebeskummer & Vietcong Billy Setzer

253

Wem gehört nochmal die Stadt? Der Campus Bockenheim und der sehr langwierige Versuch einer Rückeroberung des Raums Tim Schuster

267

›Faites Votre Jeu!‹ Stadtpolitische Kämpfe für ein kulturpolitisches Zentrum oder: Wie eine Hausbesetzung im Knast endet Initiative ›Faites votre jeu!‹

277

Zufluchtsort Frankfurt? Leben in der Sammelunterkunft Martina Blank und Soliana Hannes

285

­Kämpfe und Initiativen Racial Profiling und antirassistischer Widerstand: ›We look out for each other ‹ Copwatch FFM

297

Project Shelter: Practices of Solidarity between visions of liberation and boundaries of integration Project Shelter 

309

Unterbrechungen in der Global City. Arbeitskämpfe im Baugewerbe und am Flughafen Karin Zennig

319

Die Stadt gehört nicht allen! Roma in Frankfurt Gabi Hanka

329

»Sich Räume einfach nehmen«: Raven als Widerstandspraxis? Luise Klaus und Jennifer Martens

341

Tower to the People? Verdrängung durch Modernisierung. Erfahrungen aus dem Brentano-Hochhaus in Frankfurt Rödelheim Conny Petzold und Anna Steenblock

351

Ein Erfolgsmodell: Die Nachbarschaftsinitiative Nordend-Bornheim-Ostend (NBO) Jürgen Ehlers

363

Frankfurt Westhausen – prekäres Wohnen und Prozesse politischer Kollektivierung Falk Künstler

373

Mietentscheid Frankfurt: Direktdemokratisch für mehr bezahlbaren Wohnraum Lisa Hahn und Luca Hemmerich 

383

Hausbesetzungen – Mietstreiks – ›Häuserkampf‹. Urbane Kämpfe in Frankfurt 1970 bis 1975 Rolf Engelke

393

Die feministische ›Stadt für alle!‹: Über Alltag, Sorgearbeit und die Verbindung von Kämpfen Anna Lisa Jakobi, Jana Bleckmann und Jan Kordes

411

»Den Nazis auf die Pelle rücken« – Bedeutung und Geschichte des Antifaschismus in Frankfurt P.M. Banane und Frieder Kahlo

423

Autor*innenVerzeichnis

441

Einleitung Johanna Betz, Svenja Keitzel, Jürgen Schardt, Sebastian Schipper, Sara Schmitt Pacífico und Felix Wiegand

Es ist ein warmer Sommertag im Juni 2020. Ich schwinge mich mit einem Transpi im Rucksack auf mein Fahrrad. Heute wird der ›Housing Action Day‹, der eigentlich für März geplant war und dann Corona-bedingt abgesagt werden musste, nachgeholt. Nach einer Vielzahl virtueller Treffen und Absprachen wird in 18 Städten bundesweit zu Demonstrationen, Kundgebungen und Aktionen aufgerufen. In Frankfurt findet eine Fahrraddemo statt. Das Motto lautet: »Für ein solidarisches Frankfurt in der Coronakrise und darüber hinaus – gemeinsam gegen Mietenwahnsinn, Rassismus und Klimawandel!« Der Shutdown der letzten Monate macht zentrale Probleme der Frankfurter Stadtpolitik wie im Brennglas sichtbar. Gerade jetzt müssen wir auf die Straße! Auf dem Weg zum ersten Treffpunkt der Fahrraddemo komme ich an den Werbetafeln der Bauprojekte im Schönhof an der Rödelheimer Landstraße und im Europaviertel Ost vorbei. »A new city is emerging«, ist dort zu lesen. Für wen soll die Stadt sein, die hier neu entsteht? Und welche Art des Miteinanders ermöglicht sie? Da sie von Projektentwicklern entworfen wird, denen es vor allem um maximale Renditen geht, umfasst diese ›neue Stadt‹ keine dauerhaft bezahlbaren Mieten oder städtischen Strukturen, aus denen sich ein solidarisches Zusammenleben entwickeln könnte. Dies ist Ergebnis einer Politik, die im Wesentlichen auf privatwirtschaftliches Wachstum setzt. Sie scheint blind zu sein für die sozialen und kulturellen Belange der Bewohner*innen und sie schließt demokratische Alternativen aus, bei denen der städtische Raum von den Menschen entwickelt wird, die ihn auch tatsächlich nutzen. Während ich über alternative Formen der Stadtentwicklung nachdenke, die aus den Bedürfnissen der Menschen erwachsen und eine solidarische Stadt hervorbringen könnten, in der vielfältige Lebensweisen ihren Platz haben, erreiche ich eines der trostlosesten Viertel Frankfurts, das Europaviertel. Hier findet die neoliberale Stadt ihren baulichen Ausdruck: Luxushochhäuser, breite Fahrbahnen für Autos und kein Freiraum, der zum Verweilen einlädt. Hier ist der Startpunkt der heutigen Demonstration.

Praedium – Luxusneubau, Leerstand und Verdrängung In der Mitte des neu gebauten Europaviertels stehen wir vor dem Praedium, wie das Wohnhochhaus offiziell heißt (s. Abb. 1). 60 Meter ragen die

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Abbildung 1: Protestkundgebung im Rahmen der Fahrraddemo vor dem Praedium (Quelle: eigene Aufnahme).

19 Geschosse in die Höhe. »52 individuelle Grundrisse, riesige Terrassen, sonnige Balkone und Loggien« – erbaut von einer Tochterfirma der landeseigenen Wohnungsgesellschaft, der Nassauischen Heimstätte (NH). Als ich ankomme, zischen zwischen schellenden Fahrradklingeln die Kreidespraydosen. Pink werden Quadratmeter auf den Boden vor dem Wohnkomplex markiert. »18 €/m²« oder »9.000 €/m²« steht darin – so hoch sind die Mietund Kaufpreise im Praedium. »Leben Sie, so hoch sie wollen« – damit wird das Leben im Luxushochhaus im Internet beworben. Wer lebt in einem solchen Gebäude? Tatsächlich leben hier längst nicht all jene, die für den Erwerb einer Wohnung genug Geld in der Tasche hatten. Mittlerweile sind zwar alle Eigentumswohnungen verkauft, trotzdem stehen – so ein Bericht der Lokalpresse – viele Wohnungen leer und bleiben unbewohnt. Die NH vermarktet die Wohnungen als Kapitalanlage. Käufer*innen haben daher häufig gar nicht die Absicht, selbst in den Wohnungen zu wohnen oder sie zu vermieten, sondern kaufen sie, um sie nach wenigen Jahren zu einem höheren Preis weiterzuveräußern. Angesichts der Wohnraumknappheit, drängender ökologischer Fragen und des Wunsches nach lebendigen Quartieren ist das absurd, aber wirtschaftlich rentabel. Am Praedium wird beispielhaft sichtbar, wie die Errichtung solcher Spekulationsprojekte durch eine tiefgreifende Neoliberalisierung der Wohnungsund Stadtentwicklungspolitik ermöglicht wurde. Der Grund und Boden, auf dem das Praedium steht, wurde wie das gesamte Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs von der Deutschen Bahn zum Höchstpreis privatisiert; das von der Stadt Frankfurt dort neu geschaffene Baurecht bedient vor allem Investoreninteressen, was dauerhaft bezahlbaren Wohnraum verunmöglicht; und die NH als öffentliches Wohnungsunternehmen des Landes Hessen baut lieber Eigentums- statt Sozialwohnungen, die sich an mittlere und untere Einkommensgruppen richten würden. Dafür hat ihr 2017 der ›Gutachterausschuss Frankfurter Mieterinitiativen‹ den ›Betongoldhäuschenpreis‹ für »herausragende Leistungen zur Mieterverdrängung« verliehen (s. Abb. 2). Der erste Redebeitrag der Fahrraddemonstration, gehalten von der Initiative ›Solidarisches Gallus‹, verdeutlicht noch einmal eindrücklich,

Abbildung 2: Verleihung des Preises ›Frankfurter Betongoldhäuschen‹ am 09.09.2017 auf dem Römerberg (Quelle: eigene Aufnahme).

Einleitung

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dass die »Profite vor die Interessen der Bewohner*innen dieser Stadt gestellt [werden].« Statt sich an den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung im Gallus – zum Beispiel nach bezahlbarem Wohnraum – zu orientieren oder alles zu tun, um die Bewohner*innen vor Verdrängung zu schützen, werden die Lebendigkeit und Vielfältigkeit des Stadtteils zum Zwecke preis­ treibender Verwertung instrumentalisiert. Dagegen kämpft die Initiative ›Solidarisches Gallus‹. Sie ist seit vielen Jahren im Gallus aktiv, organisiert Nachbarschaftshilfe bei Mieterhöhungen, drohenden Zwangsräumungen und anderen Strategien der Verdrängung und versucht langfristig, die Bewohner*innen im Stadtteil zu vernetzen. Sie trifft sich im Internationalen Zentrum (IZ), einem Ort im Herzen des Gallus, der von migrantischen Gruppen aufgebaut wurde. Damals wie heute ist er ein Begegnungsort für viele Projekte und Menschen, die sich laut Selbstbeschreibung für »Solidarität und soziale Gleichheit und gegen Rassismus und Unterdrückung einsetzen.« Der Redebeitrag vom ›Solidarischen Gallus‹ macht mich wütend. Anstatt der Ungleichheit am Wohnungsmarkt und dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum etwas entgegenzusetzen, verstärkt die Politik die soziale Spaltung und befördert die Verdrängung von Menschen, die nicht zu den gutverdienenden und privilegierten Schichten zählen. Dabei sind es gerade diese Menschen, die mit ihrer Kreativität, mit ihrer Vielfalt und ihren alltäglichen Praktiken die Stadt lebenswert und attraktiv machen. Das wird gerade im Europaviertel im Kontrast zum direkt angrenzenden Gallus deutlich: hier große leere Straßen sowie teure Wohnungen, dort, nur ein paar Schritte entfernt, aktive Vereinsstrukturen, Straßenfeste und gegenseitige Unterstützung.

ABG-Zentrale – Kämpfe um lokale Demokratie Während wir mit der Fahrraddemonstration die Europaallee in Richtung Zentrum rollen (s. Abb. 3), kreisen meine Gedanken um die Frage, wo die fahrradfreundliche Stadt ist, von der alle sprechen. Wo findet die Verkehrswende statt, die die Politik schon so lange verspricht? Während in anderen Städten Fahrbahnen zu Pop-up-Radwegen und Straßen zu Spielflächen umgewidmet werden, haben in Frankfurt SUVs nach wie vor Vorfahrt. Zwar

Abbildung 3: Die Fahrraddemo nimmt sich den öffentlichen Raum der Europaallee (Quelle: eigene Aufnahme).

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haben seit Jahren viele Initiativen – wie etwa das Bürger*innenbegehren ›Radentscheid‹ – öffentlichen Druck aufgebaut und zahlreiche konkrete Forderungen für eine Verkehrswende in die politische Debatte eingebracht. Doch anstatt den notwendigen Paradigmenwechsel in der Verkehrspolitik einzuleiten, was die Lebens- und Luftqualität der Stadt sowie die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum erheblich steigern würde, begnügt sich Frankfurt damit, Stadtmarketing unter dem Label ›Green City‹ zu betreiben und Radwege rot zu markieren. Das Bürger*innenbegehren für mehr und bessere Radwege hat die Römerkoalition aus rechtlichen Gründen blockiert. Heute sind wir mit über 200 Menschen auf Rädern unterwegs und erobern uns die mehrspurigen Straßen im Europaviertel – »We are traffic!« Wir fahren am ›Grand Tower‹ vorbei, Deutschlands höchstem und international vermarktetem Luxuswohnhochhaus, und halten schließlich vor der Zentrale der ›ABG Frankfurt Holding GmbH‹. Auf den Treppen des Unternehmenssitzes stehen Aktivist*innen des ›Mietentscheids‹ mit einem riesigen Banner mit der Aufschrift »Sozial statt Profite« und fordern eine soziale Ausrichtung der Geschäftspraxis des städtischen Wohnungsunternehmens. Anfang 2020 hat die Stadt ähnlich wie beim ›Radentscheid‹ auch das Bürger*innenbegehren ›Mietentscheid‹ nach langer Hinhaltetaktik aus rechtlichen Gründen abgelehnt. Nun entscheidet das Verwaltungsgericht über die Zulässigkeit – Ausgang derzeit ungewiss. 2018 hatte ein breites Bündnis unterschiedlicher Initiativen, Gewerkschaften und Parteien innerhalb weniger Monate über 25.000 Unterschriften für ein Bürger*innenbegehren gesammelt, um die ABG zu zwingen, deutlich mehr Sozialwohnungen und geförderte Mittelschichtswohnungen zu schaffen (s. Abb. 4 und 5). Denn »Wohnen für alle« und »Frankfurt fair mieten« sind zwar die Werbesprüche der ABG, doch die Geschäftsstrategie des städtischen Wohnungsunternehmens, das eigentlich in der Tradition des sozialen und gemeinnützigen Wohnungsbaus steht, sieht seit einigen Jahrzehnten ganz anders aus: Als größte Wohnungsbaugesellschaft in Frankfurt mit knapp 53.000 Wohnungen ist die ABG an den politischen Fehlentwicklungen der letzten Dekaden maßgeblich beteiligt. Seit Anfang der 1990er Jahre arbeitet sie nicht mehr nach den Prinzipien der Gemeinnützigkeit, sondern wie ein privatwirtschaftliches Unternehmen gewinnorientiert. Der Bau hochpreisiger Eigentumswohnungen und der Rückzug aus dem sozialen Wohnungsbau sind die Folge. Auch bei den Bestandsbauten erhöhte die

Abbildung 4: Redebeitrag von Aktivist*innen des ›Mietentscheids‹ vor der ABG Zentrale (Quelle: eigene Aufnahme).

Einleitung

ABG bis vor einigen Jahren die Mietpreise bis zum gesetzlich erlaubten Limit, was das gesamte Mietniveau in der Stadt mit in die Höhe getrieben hat. 2016 wurde diese Praxis der beständigen Mietpreisspirale jedoch – zumindest vorläufig – beendet. Seitdem gilt ein Mietenstopp, der Mieterhöhungen auf 1 % pro Jahr begrenzt. Möglich wurde dieser bemerkenswerte Wandel, weil viele Initiativen von Mieter*innen, Stadtteilgruppen sowie die Kampagne ›Eine Stadt für alle! Wem gehört die ABG?‹ über viele Jahre energisch und konsequent dafür gekämpft haben; und dies – trotz erheblicher Widerstände aus der Regierungskoalition und seitens der ABGGeschäftsführung – mit großem Erfolg. Dies zeigt, dass die ABG als städtisches Wohnungsunternehmen politisch gestaltbar ist und keinem vermeintlichen Sachzwang folgen muss. Und es zeigt, dass wohnungspolitische Kämpfe keineswegs so aussichtslos sind, wie sie manchmal erscheinen. Das Bündnis ›Mietentscheid‹ knüpft an diese Errungenschaften früherer Kämpfe an und versucht, sie gegen alle politischen und juristischen Widerstände der städtischen Entscheidungsträger*innen weiterzutreiben – hoffentlich erneut mit einem erfolgreichen Ende.

Paradieshof – Rassismus und migrantische Selbstorganisation Von der ABG-Zentrale fahren wir weiter, tauchen in den Hafentunnel ein. Bevor es dunkel wird, entdecke ich eins der vielen ›Stadt für alle‹-Graffitis. Der Slogan steht für die konkrete Vision einer Stadt, in der Menschen mit kleinem und mittlerem Einkommen nicht an den Rand gedrängt werden, eine feministische Stadt, in der sich alle wohl und sicher fühlen und sich frei bewegen können, in der keine Menschen auf der Straße schlafen müssen. Eine ›Stadt für alle‹ heißt für mich eine Stadt ohne Ausschlüsse, in der Differenz und Vielfalt normal sind und »man ohne Angst verschieden sein kann« (Adorno 1951: 116). Und damit meine ich nicht die Plattitüden des Stadtmarketings und der politischen Vertreter*innen der Stadt, die das ›Multikulti-Frankfurt‹ feiern, aber zugleich das alltägliche Leben von People of Color, Schwarzen Menschen, Rom*nja und Sinti*zze, illegalisierten Menschen, armen und obdachlosen Personen sowie Sexarbeiter*innen durch Kriminalisierungen und Polizeikontrollen, endlose Wohnungssuchen, fehlende Repräsentation in der Stadtpolitik oder Stigmatisierungen

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Abbildung 5: Symbolischer Zusammensturz der profitorientierten Wohnraumversorgung (Quelle: eigene Aufnahme).

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bestimmter Stadtteile erschweren. Ich meine eine ›Stadt für alle‹, in der Menschen sich selbst organisieren können, Stadt kollektiv gestalten und neu erfinden können. Dafür braucht es allerdings Raum und Zeit. Beides scheint in Frankfurt rar zu sein. Über den Main gelangen wir nach Sachsenhausen, wo die Radler*innen schließlich den Platz vor dem Paradieshof füllen. Ein Gebäude, das schon seit 2008 leer steht. »Wir versuchen seit 2016, das städtische Gebäude für ein selbstverwaltetes migrantisches Zentrum zu nutzen«, sagen Aktivist*innen von ›Project Shelter‹ vor dem Haus (s. Abb. 6). Die Initiative kämpft schon seit Jahren gegen Obdachlosigkeit und Rassismus und organisiert Schlafplätze, (finanzielle) Unterstützung und Öffentlichkeitsarbeit für neu ankommende Migrant*innen, die von staatlichen Strukturen ausgeschlossen

Abbildung 6: Aktivist*innen von ›Project Shelter‹ vor dem Paradieshof (Quelle: eigene Aufnahme).

sind. Während der letzten Monate rief ›Project Shelter‹ vor dem Paradieshof wiederholt zu Aktionen auf, um einen Ort zur Vernetzung und zum Austausch einzufordern und angesichts immer offenerer Anfeindungen gegen migrantisierte und geflüchtete Menschen ein klares Zeichen zu setzen. ›Project Shelter‹ möchte aus dem leerstehenden Paradieshof einen nachbarschaftlichen Treffpunkt machen, ein Zentrum schaffen, in dem Beratungsangebote, Deutschkurse, Wohnmöglichkeiten und ein offenes Stadtteil-Café unter einem Dach vereint werden können. Die Stadtpolitik könnte ein solches Projekt migrantischer Selbstorganisation fördern, indem sie Räume und finanzielle Mittel zur Verfügung stellt. Doch entgegen aller Rhetorik fehlt dazu seit Jahren der politische Wille. ›Project Shelter‹ ist nur eine von vielen Initiativen, die sich gegen Rassismus und Ausgrenzung einsetzt und für ein solidarisches Miteinander abseits von ökonomischen Verwertungszwängen in der Stadt kämpft. Dies bildet die Grundlage für eine ›Stadt für alle!‹. Mit den Bildern im Kopf, wie ein solches Zentrum aussehen könnte, überqueren wir wieder den Main und radeln Richtung Innenstadt. Auf dem Weg zur letzten Station fällt mir auf, dass wir schon wieder primär durchs Zentrum gefahren sind. Dabei besteht Frankfurt aus mehr als den zentralen Stadtteilen, auch an periphereren und oft unsichtbar gemachten Orten werden Kämpfe geführt. In der Nähe der Endhaltestellen und abseits der U-Bahnlinien etwa in Fechenheim, Sossenheim oder im Riederwald

Einleitung

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finden Menschen mit weniger Einkommen unter Umständen noch eine halbwegs bezahlbare Wohnung. Zugleich sind es Stadtteile, die stigmatisiert werden, in denen Armut und soziale Ausgrenzung herrschen. Anstatt diesen Problemen durch eine Suche nach Ursachen, durch bedürfnisorientierte Angebote und langfristige Strategien zu begegnen, lautet die Antwort hier allzu häufig mehr Polizei und – oftmals rassistische – Kontrollen. Dabei kann polizeiliche Repression keine sozialen Probleme lösen. Vielmehr braucht es eine Unterstützung durch Initiativen und Einrichtungen, die sich für die Menschen vor Ort einsetzen. Eine Freundin von mir macht beispielsweise wertvolle Arbeit in einem Jugendzentrum, das aber unter chronischer Unterfinanzierung leidet. Warum wird diese Art der Arbeit nicht ausreichend mit finanziellen Mitteln ausgestattet und stattdessen Unmengen an Geld in der neuen Altstadt versenkt? Es sind Kämpfe um eine bessere Finanzierung sozialer und kultureller Angebote, Kämpfe um eine Anerkennung von Alltagsrealitäten, Kämpfe gegen institutionellen Rassismus in der Schule, den Ämtern und anderswo, welche potenziell die Lebensbedingungen in Zentrum und Peripherie verbessern können.

›Grüne Lunge‹ – Biodiversität, Klimawandel und NeubauGentrifizierung Langsam lassen wir die Hochhäuser hinter uns und radeln durch das beliebte Gründerquartier Nordend. Hier finden wir kleine Cafés und Einkaufsläden, es wird grüner und wir fahren durch ein paar ruhige Nebenstraßen. Doch auch hier funktioniert die Idylle nur für wenige – die ›Nachbarschaftsinitiative Nordend-Bornheim-Ostend‹ berichtet regelmäßig über den Verkauf von Wohnhäusern, die damit zusammenhängende Verdrängung von Mieter*innen und die schwierige Situation für kleine Gewerbetreibende. Genau hier entsteht mit dem ›Marie‹ ein weiteres neues Luxusquartier – ausgerechnet auf einem Gelände, auf dem früher ein Krankenhaus stand (s. Abb. 7). Statt eines Krankenhauses für alle, jetzt Luxuswohnungen für wenige? Hier wird exemplarisch deutlich, wo in der Stadt Frankfurt und im neoliberalen Kapitalismus die Prioritäten liegen: Gebaut und vermarktet wird das Quartier von ›Instone Real Estate‹, einem börsennotierten Projektentwickler, der einzig

Abbildung 7: Protestkundgebung gegen ›Instone Real Estate‹ und für eine soziale Grundversorgung für alle (Quelle: eigene Aufnahme).

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Abbildung 8: Die ›Grüne Lunge‹ in Frankfurt (Quelle: Sabine Hoffman).

das Ziel verfolgt, Kapitalströme in Betongold zu gießen und dabei möglichst hohe Renditen zu erzielen. Genau dieser Projektentwickler ist schließlich auch bei der letzten Station unserer Fahrradtour Thema: dem wilden Gartenareal der ›Grünen Lunge‹ nördlich des Günthersburgparks. Auf dem insgesamt 16 ha großen Gelände, das heute vor allem Kleingärten, einige Brachen sowie verschiedene Gewerbeflächen umfasst, sollen nach dem Willen mancher stadtpolitisch Verantwortlichen unter dem Namen ›Günthersburghöfe‹ 1.500 hauptsächlich hochpreisige Wohnungen entstehen, gebaut von der städtischen Wohnungsbaugesellschaft ABG und eben ›Instone Real Estate‹. Was heute als Lebensraum für unzählige Tier- und Pflanzenarten und als Naherholungsraum für die angrenzenden Stadtteile fungiert, hat sich zu einem offenen Gartenareal entwickelt, das von vielen (stadt-)politischen Gruppen als Treffpunkt genutzt wird, in dem selbstorganisierte Veranstaltungen stattfinden und das Gärtner*innen zum Experimentieren nutzen. Genau hier soll ein großes Stück Wildnis versiegelt werden. Gerade in Zeiten der Klimakrise wirkt diese Form der Stadtentwicklung völlig aus der Zeit gefallen. Auch wenn die Versiegelung von Flächen nur einer von vielen Aspekten ist, der die Klimakrise vorantreibt, zieht der Neubau von Gebäuden einen ganzen Rattenschwanz an Fragen nach sich, die mitgedacht werden müssen: Wie wird gebaut? Wo kommen die Rohstoffe her und unter welchen Bedingungen werden diese abgebaut? Auch energetische Sanierungen, die sich mit dem Begriff der Nachhaltigkeit schmücken, werden ihrem Anspruch häufig nicht gerecht, insbesondere wenn die globalen Produktionsketten zum Beispiel von Dämmungsmaterial in Betracht gezogen werden. Zudem führen sie zu steigenden Mieten und treiben damit die soziale Spaltung voran – hier zeigt sich der Zusammenhang zwischen ökologischen und sozialen Fragen ganz deutlich. Umso ermutigender finde ich es, dass unter dem Motto »Grüne Lunge bleibt – Instone stoppen!« viele verschiedene Initiativen für den Erhalt des Gartenareals kämpfen und sich stadtpolitische Gruppen dafür einsetzen, dass auf den bereits versiegelten Flächen 100 % geförderter Wohnraum entsteht. Ihre Konzepte für ein solidarisches, sozial-ökologisches und

Einleitung

selbstverwaltetes Quartier zeigen, dass sich die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum und klimagerechte Politik keineswegs ausschließen müssen – vorausgesetzt, Profitinteressen bleiben außen vor. Auch die Initiative ›Fridays for Future‹ hat das Areal genutzt, um sich zu organisieren und unter Corona-Beschränkungen aktiv zu bleiben. Die jungen Aktivist*innen fordern die Stadt Frankfurt auf, den Klimanotstand auszurufen – damit müsste die Stadt bei allen Entscheidungen und Maßnahmen die Auswirkungen auf Klima und Umwelt berücksichtigen und ihr Handeln entsprechend anpassen. Die Fahrradtour endet hier, zu Fuß schiebe ich mein Rad Richtung Günthersburgpark. Auch andere nutzen die Gelegenheit, sich im Park auszutauschen und einen Blick auf die Stadt zu werfen, denn von hier aus kann ich die Hochhäuser der Skyline in der Ferne sehen. Ich nutze die Gelegenheit, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Was bewegt euch, hier heute mitzufahren? Eine Aktivistin von ›Eine Stadt für alle! Wem gehört die ABG?‹ macht deutlich: All diese Entwicklungen bleiben nicht unwidersprochen! Es wird gegen die Zustände protestiert, konkrete Nachbarschaftshilfe wird ausgebaut und für eine solidarische, antirassistische und ökologische Stadt gekämpft. Es gibt immer wieder Momente und ermutigende Zeichen der gelebten Solidarität und des gemeinsamen Widerstands.

Angewandte Kritische Geographie – Zum Entstehungskontext des Buches Die Fahrraddemonstration gegen ›Mietenwahnsinn, Rassismus und Klimawandel‹ im Juni 2020 hat exemplarisch verschiedene Schlaglichter auf aktuelle Prozesse der Stadtentwicklung in Frankfurt am Main geworfen und die damit verbundenen Kämpfe ins Zentrum gerückt. Der vorliegende Band greift die dort thematisierten Machtverhältnisse, sozialräumlichen Ausschlüsse und stadtpolitischen Auseinandersetzungen sowie zahlreiche weitere, hier bisher noch nicht angesprochene Konfliktfelder auf, wie etwa feministische Kämpfe oder städtische Arbeitsverhältnisse. Er bringt über 40 Autor*innen aus Wissenschaft, sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Initiativen zusammen, um gemeinsam die strukturellen Bedingungen, gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und machtvollen Akteur*innen herauszuarbeiten, welche stadtpolitische Entscheidungen und damit die Entwicklungen in der Global City Frankfurt am Main wesentlich prägen. Sie untersuchen, wie neoliberale und autoritäre Tendenzen soziale Ausschlüsse produzieren, und zeigen durch den Fokus auf die vielfältigen sozialen Kämpfe zugleich Wege für eine solidarische und demokratische ›Stadt für alle‹ auf. Strukturiert ist der Band entlang von drei inhaltlichen Blöcken: Die Betrachtungen im ersten Abschnitt ›Themen und Konfliktfelder‹ arbeiten Kontinuitäten und Brüche zu spezifischen Fragen der Stadtentwicklung heraus und stellen damit den allgemeinen Kontext her. Im zweiten Abschnitt ›Orte und Stadtteile‹ werden strukturelle Rahmenbedingungen, stadtpolitische Entwicklungen und widerständige Tendenzen anhand ausgewählter Räume analysiert und diskutiert. Im Mittelpunkt des dritten Abschnittes ›Kämpfe und Initiativen‹ stehen verschiedene Formen von Protest, Widerstand und Aneignung, wobei Erfahrungen sozialer Bewegungen reflektiert, die Gründe für das Gelingen oder Scheitern herausgearbeitet sowie strategische Anknüpfungspunkte für zukünftige Auseinandersetzungen aufgezeigt werden. Entstanden ist die Idee für diese Publikation im Zwischenraum von Wissenschaft und politischer Praxis. Alle Herausgebenden sind oder waren in der ein oder anderen Form am Institut für Humangeographie der

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Goethe-Universität tätig und sind zugleich seit längerem in verschiedenen stadtpolitischen Zusammenhängen in Frankfurt aktiv. Vor diesem Hintergrund haben wir den Band aus Perspektive einer ›Angewandten Kritischen Geographie‹ (Kuge et al. 2020) konzipiert. Als ›angewandt‹ bezeichnen wir diese Perspektive, weil sie dem Anspruch folgt, ausgehend von den Interessen und der Lebenswirklichkeit marginalisierter sozialer Gruppen Probleme aus der Praxis zivilgesellschaftlicher Initiativen und städtischer sozialer Bewegungen aufzugreifen und von deren Standpunkt aus gemeinsam zu bearbeiten. Eine derartige kooperativ ausgerichtete Form der Wissensproduktion ist mit dem Ziel verbunden, Handlungsoptionen für Aktive aus sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und stadtpolitischen Initiativen aufzuzeigen und Ergebnisse hervorzubringen, die in einer breiteren Öffentlichkeit vermittelbar sind. ›Kritisch‹ ist ein solcher Ansatz in dem Sinne, dass er Wissen für und mit politischen Initiativen und sozialen Gruppen schaffen will, die innerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse nicht von einer hegemonialen Position aus sprechen können. Als Subalterne sind diese Gruppen durch Praxen der sozialen Ausgrenzung von den etablierten Institutionen der Hegemonieproduktion weitgehend ausgeschlossen und daher in ihren Möglichkeiten, sich öffentlich politisch zu artikulieren und gehört zu werden, eingeschränkt. Im Gegensatz zu privilegierten gesellschaftlichen Milieus, Schichten oder Klassen ist ihr Einfluss auf hegemoniale Diskurse, politische Entscheidungen und letztlich die Stoßrichtung der Stadtentwicklung begrenzt. Die Stimme von subalternen beziehungsweise marginalisierten Gruppen in politischen Auseinandersetzungen zu stärken, ist demgemäß ein Anliegen dieses Buchprojektes. Die hier knapp umrissene Perspektive einer ›Angewandten Kritischen Geographie‹ prägt die Beiträge und das Format der Publikation auf mindestens drei Ebenen: Erstens richtet sich der Band nicht nur und auch nicht primär an einen universitären Kontext, sondern allgemein an eine städtische Öffentlichkeit sowie speziell an Personen, die im weitesten Sinne stadtpolitisch aktiv sind. Daher haben wir die Autor*innen gebeten, gesellschaftlich relevante Probleme, Herausforderungen und Konflikte aufzugreifen und in einer klaren und allgemeinverständlichen Sprache zu diskutieren, so dass die Beiträge auch über den akademischen Tellerrand hinaus verständlich sind. Zweitens versteht sich das Buch als Intervention in bestehende Machtverhältnisse und politische Auseinandersetzungen. Demgemäß werden städtische Transformationsprozesse nicht nur in kritischer Absicht nachgezeichnet, sondern darüber hinaus wird auch der Versuch unternommen, Handlungsoptionen für politische und gesellschaftliche Veränderungen aufzuspüren. Und dies geschieht drittens in einer dialogisch ausgerichteten Form der Wissensproduktion, welche die außeruniversitäre Praxis von Forschung und Reflexion, wie sie von sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen betrieben wird, mit der akademischen Variante einer kritischen Gesellschaftswissenschaft produktiv verbindet. In diesem Sinne verfolgt das Buch den Anspruch, mit sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen kooperativ aktuelle Prozesse der Stadtentwicklung zu analysieren und die sozialen Kämpfe darum zu beleuchten. In den einzelnen Beiträgen kommen daher Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen, aktivistische Forscher*innen und forschende Aktivist*innen, Nicht-Akademiker*innen und Akademiker*innen zu Wort. Diese kooperative Form der Wissensproduktion bricht mit der konven­ tionellen Vorstellung, dass nur Wissenschaftler*innen fundiertes Wissen produzieren. Ihr Gewinn liegt darin, dass sie unterschiedliche Perspektiven sowie verschiedene Wissensbestände zusammenbringt, wechselseitige

Einleitung

Lernprozesse ermöglicht, akademische Ressourcen sinnvoll umverteilt und die Fokussierung auf Probleme, Themen und Fragestellungen erleichtert, die auch für Akteur*innen außerhalb der universitären Landschaft relevant sind. Die Beurteilung, inwieweit wir als Herausgebende in der Gesamtkonzeption des Bandes und die Autor*innen in den einzelnen Beiträgen den hier skizzierten Ansprüchen einer ›Angewandten Kritischen Geographie‹ tatsächlich gerecht werden konnten, bleibt den Leser*innen überlassen. Wir hoffen durch die transdisziplinäre Kooperation von Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Bewegungen mit dieser Publikation das Verständnis für Fragen der Stadtentwicklung und der damit verbundenen sozialen Kämpfe zu schärfen und politische Handlungsoptionen für eine ›Stadt für alle‹ greifbar zu machen – in Frankfurt am Main und darüber hinaus. An dieser Stelle möchten wir uns bei all jenen bedanken, die in zahlreichen Gesprächen und Diskussionen dieses Buch von der ersten Idee bis zum erfolgreichen Abschluss begleitet und durch ihre wichtigen Hinweise – etwa zu vorhandenen Leerstellen – bereichert haben. Besonders bedanken wir uns bei Franzi Prost für das Lektorat und Maximilian Hellriegel für das Layout. Das Kolloquium Kritische Geographie am Institut für Humangeographie war im Vorfeld des Projektes eine bereichernde Stütze und beständige Quelle der Inspiration. Finanziell ermöglicht wurde das Buch durch die Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ein herzliches Dankeschön geht ebenso an die Autor*innen und all diejenigen, die zur konkreten Entstehung des Buches beigetragen haben. Zuletzt ein dickes Danke und solidarische Grüße an die vielen Aktiven, Initiativen und Kämpfe, die wir aus unterschiedlichen Gründen nicht in das Buch aufnehmen konnten, die aber Frankfurt in den letzten Jahren zu einem lebenswerten Ort gemacht haben – trotz alledem.

Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. (1951 [2014]): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kuge, Janika/Naumann, Matthias/Nuissl, Henning/Schipper, Sebastian (2020): »Angewandte und Kritische Geographie. Gemeinsame Herausforderungen, gemeinsame Perspektiven?«, in: Standort. Zeitschrift für Angewandte Geographie 44 (4), S. 219–225.

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­THEMEN UND KONFLIKT­ FELDER

Frankfurts Aufstieg zur Global City Klaus Ronneberger

Anfang der 19080er Jahre gehören John Friedmann und Goetz Wolff (1982), zu den ersten US-amerikanischen Stadtforscher*innen, die erkennen, welche Auswirkungen die einsetzende Globalisierung auf den Urbanisierungsprozess hat. Gegenüber dem Begriff der ›Internationalisierung‹, der die Beziehungen zwischen nationalstaatlichen Einheiten thematisiert, bezeichnet ›Globalisierung‹ die Erweiterung des Organisationsraums von Produktion und Konsumtion zu einem umfassenden Raum der kapitalistischen ›Markt-Welt‹. Über ein engmaschiges Netz von World beziehungsweise Global Cities werden die weltweiten Kapitalkreisläufe und internationalisierten Produktionsprozesse koordiniert und gesteuert. In solchen Städten verdichten sich die Hauptsitze von Banken und Konzernen, dabei wird der Ausbau dieser sogenannten Zitadellen-Ökonomie in der Regel von lokalen ›Wachstumskoalitionen‹ unterstützt. An der Spitze der Hierarchie stehen gegenwärtig New York, London, Tokio und Shanghai. Auf der nächsten Stufe folgen im europäischen Bereich Amsterdam, Paris, Zürich und Frankfurt/ Rhein-Main.

Global City-Ansätze John Friedmann (1995) fasst seine Erkenntnisse über diesen Stadttypus später nochmals zusammen: So löst die räumliche Konzentration von ökonomischen Aktivitäten gewisse Probleme des Managements, was die effektive Organisierung sozialer Interaktionen (Informationen sammeln, Vertrauensverhältnisse aufbauen, Vereinbarungen ausmachen) und die Steuerung von Innovationen (Vermarktung neuer Produkte, Zugang zu verschiedenen Netzwerken und Märkten) anbetrifft. Ein weiteres Merkmal dieser Städte besteht nach Friedmann (ebd.) darin, dass es sich um urbane Großregionen handelt, die eher durch ein Geflecht von Netzwerkstrukturen definiert sind als durch administrativ-politische Grenzziehungen. Global Cities sind zudem Bestandteile einer räumlichen Hierarchie, die sich aus deren unterschiedlichen Fähigkeiten ergibt, globale Investitionen und Kontrollkapazitäten anzuziehen. Städte können in die World City-Formation aufsteigen, dort ihren Rang verbessern, aber auch absteigen. In einem andauernden Prozess der »kreativen Zerstörung« (Schumpeter 1983) müssen sich Global Cities immer wieder anpassen und neu definieren: Konkurrenzangst ist der Motor ihrer Politik (Friedmann 1995: 23 ff.).

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Themen und Konflikt­felder

Global Cities fungieren nicht nur als Schaltzentralen der Weltwirtschaft, sondern auch als spezifische Marktplätze und Produktionsstandorte. Die territoriale Streuung der industriellen Fertigung und die wachsende Bedeutung transnationaler Investitionstätigkeiten steigern die Nachfrage nach unternehmensorientierten Dienstleistungen. Auf diesen Aspekt hat vor allem Saskia Sassen (1991) aufmerksam gemacht. Die Headquarter Economy benötigt nicht nur ein gut ausgebautes Kommunikations- und Verkehrsnetz, sondern ist ebenso auf die räumliche Nähe eines differenzierten Spektrums von wissens- und kulturbasierten Tätigkeiten angewiesen. Dabei spielen insbesondere jene hochqualifizierten und gut bezahlten Berufsmilieus eine Schlüsselrolle, die eng mit den Zitadellen-Funktionen zusammenhängen: das gesamte Spektrum der Finanz- und Beratungsindustrie, die technologischen Kader aus dem High-Tech-, insbesondere dem EDV-Bereich sowie Marketing, Werbung und Public-Relations, aber auch Teile der kulturellen Produzent*innen (Designer*innen, Stararchitekt*innen etc.). Sassen (ebd.) unterscheidet diese strategisch bedeutsamen Gruppen klar von der traditionellen Bourgeoisie. Sie kontrollieren weder direkt die Produktionsmittel noch das Kapital; ihre soziale und betriebliche Position bleibt – trotz aller zugestandener Privilegien – letztlich unsicher. Da die Tätigkeiten dieser neuen Dienstleistungsklasse häufig in down-town und im Kontext transnationaler Unternehmensstrukturen stattfinden, wird deren Arbeitskultur oft als urban und kosmopolitisch bezeichnet. Ihr distinktiver Konsumstil treibt nach Sharon Zukin (1990) den Zirkulationsprozess des ökonomischen und kulturellen Kapitals auf neue Weise an und gerät in Konflikt mit den subalternen Klassen, deren Raumaneignungen eher von lokalen Territorial­ interessen bestimmt werden.

Historische Voraussetzungen Der widersprüchlich verlaufende Aufstieg von Frankfurt zur Global City ist nicht nur das Produkt der letzten Jahrzehnte. Bereits im Mittelalter wird die lokale Ökonomie von Fernhandel, Messe und Börse geprägt. Ab dem 19. Jahrhundert expandiert dann das Finanz- und Bankenwesen. Doch mit der Reichsgründung 1871 und dem Aufstieg Berlins zum zentralen Banken- und Börsenplatz verliert Frankfurt zunehmend seine Bedeutung als internationaler Finanzstandort. In dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts initiiert die städtische Administration eine aktive Industrie- und Infrastrukturpolitik. Nach der gewaltsamen Eingliederung in das preußische Staatsgebiet 1866 und der Einführung der Gewerbefreiheit entwickelt sich in Frankfurt eine verarbeitende Industrie. Durch die Eingemeindungen, wie beispielsweise Bockenheim, wird der wachsende industrielle Sektor zusätzlich gestärkt. Gleichzeitig treibt man zügig den Ausbau eines strategisch wichtigen Eisenbahnknotens im großen Stil voran und setzt auf eine Modernisierung des Flussverkehrs. Die kostengünstige Beförderung von Massengütern wie etwa der Kohle sind für die ambitionierten Industrialisierungsprogramme der Stadt unabdingbar. Darüber hinaus verfolgt Frankfurt das Ziel, zum Zentrum einer neuen mitteleuropäischen Wasser-Verkehrsachse aufzusteigen, die von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer reichen soll. Obwohl der 1912 fertiggestellte Osthafen aufgrund der veränderten geopolitischen Bedingungen nach dem Ersten Weltkrieg die ihm zugedachte Rolle als Knotenpunkt der europä­ ischen Wasserschifffahrt nicht mehr spielen kann, schafft er die logistischen Voraussetzungen dafür, dass Frankfurt zum wichtigsten Industriestandort in der Rhein-Main-Region aufsteigt (Ronneberger 2018: 51 ff.).

Frankfurts Aufstieg zur Global City

Trotz dieser erfolgreich verlaufenden Industrialisierungsstrategie befürchten die politisch Verantwortlichen, die Stadt könne mittelfristig in eine ökonomische Randlage geraten. Um einen möglichen Abstieg zu verhindern, entfaltet Oberbürgermeister Ludwig Landmann in seiner Amtszeit (1924 – 33) eine aktive Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik (Rebentisch 1975). Dem dient bereits zuvor auch der Ausbau des Festhallengeländes zur sogenannten Messestadt. Mit der Entscheidung, einen dauerhaften Standort außerhalb der Altstadt zu errichten, werden die Voraussetzungen für eine moderne Messeökonomie geschaffen (Zwilling 1994: 302). Zudem gelingt es der städtischen Administration, dass sich in Frankfurt die Hauptverwaltung der IG-Farben ansiedelt. Mit der Vereinigung der Farbwerke Hoechst und BASF zur ›Industriegesellschaft Farben‹ entsteht im Jahre 1925 einer der bedeutendsten europäischen Industriekonzerne. Durch die Errichtung des damals größten Verwaltungsgebäudes in Europa (dem IG-Farben-Haus im Westend), demonstriert der Chemiegigant seine ökonomische ›Weltgeltung‹. Zur Absicherung der lokalen Industriepolitik verfolgt OB Landmann – flankiert von ambitionierten Wohnungsbauprojekten des ›Neuen Frankfurt‹ – auch eine expansive Territorialpolitik. 1928 werden Produktionsstandorte wie die Casella-Werke im Osten und die Farbwerke Hoechst im Westen eingemeindet (Ronneberger/Keil 1995: 290).

Weltflughafen Rhein-Main Mit dem aufkommenden Flug- und Automobilverkehr soll sich die Main-Metropole zu einer internationalen Drehscheibe entwickeln. Von strategischer Bedeutung erweist sich insbesondere die Flughafen-Ökonomie. Wichtige Anstöße für den Luftverkehr gibt es bereits unter dem liberalen Oberbürgermeister Franz Adickes, der 1909 die Internationale Luftschifffahrt-Ausstellung eröffnet. Nur wenig später ist er an der Gründung der Deutschen Luftschifffahrts-AG beteiligt, die als eine der ersten kommerziellen Luftverkehrsgesellschaften der Welt gilt. Auf dem 1911 eröffneten Flugplatz am Rebstock beginnt mit dem Abflug des Luftschiffs ›Viktoria Luise‹ der planmäßige Passagier- und Frachtverkehr. Auch die erste weltweite Luftpostlinie wird von Frankfurt aus organisiert. In den 1920er Jahren beteiligt sich dann die Stadt an der Süddeutschen Luftverkehrs-AG als Mehrheitsanteileigner, um sich so gegen die Konkurrenz anderer deutscher Fluglinien zu behaupten. Schließlich gehen die wichtigsten Gesellschaften in der Deutschen Lufthansa AG auf, in der OB Landmann als Aufsichtsratsvorsitzender die Frankfurter Ansprüche auf die Transatlantikflüge erfolgreich absichern kann (Rebentisch 1991: 447 ff.). Innerhalb weniger Jahre erhöhen sich die Flugbewegungen und die Anzahl der beförderten Passagiere derart, dass die Errichtung eines neuen Flughafens im Frankfurter Stadtwald beschlossen wird, der dann 1936 in Betrieb geht. Dadurch ist endgültig der Anschluss an den Weltflugverkehr garantiert, denn vor hier aus starten unter anderem die Zeppelin-Luftschiffe zu ihren planmäßigen Flügen nach Übersee. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs baut die US-amerikanische Besatzungsmacht den Frankfurter Flughafen zu einem globalen Luftwaffenstützpunkt aus. Die Rhein-Main-Air-Base steigt zum wichtigsten Gate nach Europa auf. Auch die Organisation der Luftbrücke nach West-Berlin, dessen Transitverbindungen 1948/49 zeitweilig von den Sowjets blockiert werden, steigert erheblich die logistische Bedeutung des Frankfurter Flughafens (Ronneberger 2018: 53).

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Themen und Konflikt­felder

Autobahnplanung Bereits in den 1920er Jahren formieren sich überall in Europa ›Autobahn‹-Lobbys, die auf eine Expansion des automobilen Individualverkehrs setzen. Allerdings gilt das Deutsche Reich unter den Ländern mit einem vergleichbaren Industrialisierungsgrad als einer der am geringsten motorisierten Staaten. Der hiesige Automobilmarkt hinkt dem US-amerikanischen fast um 20 Jahre hinterher (Zeller 2002: 45). Im Gegensatz zum Wasserstraßenbau und dem Luftverkehr, die nicht zuletzt aus militär- und energiepolitischen Gründen eine großzügige Förderung durch die Reichsregierung und die Länder erfahren, zeigen die staatlichen Behörden in der Weimarer Republik nur ein geringes Interesse daran, sich für den Ausbau eines Autobahnnetzes zu engagieren (Rebentisch 1975: 167). Inspiration und Vorbild für die deutsche Lobbyarbeit ist die ›autostrade‹ in Italien. 1924 hatte der Ingenieur Piero Puricelli zwischen Mailand und Varese die erste Autobahn mit einer Länge von circa 50 Kilometern errichten lassen. Die Fertigstellung dieser vierspurigen, schnurgeraden Straße veranlasst das Frankfurter Wirtschaftsamt dazu, 1925 einen Fachmann nach Italien zu entsenden, um die genaueren bautechnischen und organisator­ ischen Details zu studieren. Im folgenden Jahr kommt es dann zur Gründung des HAFRABA-Vereins, der die Realisierung einer ›Nur-Autostraße‹von den Hansestädten über Frankfurt nach Basel anstrebt. Das Frankfurter Wirtschaftsamt und OB Landmann spielen bei diesem Lobby-Projekt eine führende Rolle. Aus pragmatischen Gründen konzentriert man sich auf bestimmte Teilstrecken. Insbesondere die Detailplanungen zu dem Abschnitt Frankfurt-Darmstadt-Heidelberg schreiten schnell voran. Doch alle Vorstöße des Vereins scheitern letztlich an einer unzureichenden öffentlichen Unterstützung (Zeller 2002: 45). Gleichwohl hält Landmann an seiner Autobahn-Vision fest. Die günstige verkehrsgeographische Lage Frankfurts erscheint ihm als ausreichender Garant für eine Stärkung der lokalen Wirtschaftsdynamik (Rebentisch 1975: 172). Schließlich verkündet am 1. Mai 1933 Reichskanzler Adolf Hitler den Bau von Autobahnen. Im Frühjahr 1935 entsteht das erste Teilstück zwischen Frankfurt und Darmstadt. Dabei kann sich der ›Führer‹auf die Planungen der HAFRABA e.V. stützen (Ronneberger 2012a: 33). Doch erst mit dem ›Wirtschaftswunder‹ der Nachkriegszeit setzt eine Massenmotorisierung ein. Am 10. Juli 1956 wird das ›Frankfurter Kreuz‹, der erste kreuzungsfreie Autobahnknotenpunkt in der Bundesrepublik, dem Verkehr übergeben.

Phönix aus der der Asche Mit der ›Machtergreifung‹ der Nationalsozialisten endet in der Main-­ Metropole die reformorientierte Stadtpolitik der vorangegangenen Dekade. An die Stelle des ›Neuen Frankfurt‹, das bereits mit der Weltwirtschaftskrise von 1929/30 an seine ökonomischen und planerischen Grenzen gekommen war, soll nach dem Willen der Faschisten die ›Stadt des Deutschen Handwerks‹ treten. Als Teil dieser Neuausrichtung beginnt man den mittelalterlich geprägten Stadtkern als Spektakelraum für den nationalen und internationalen Tourismus zu nutzen (Durth 1988). Zwar wird der Flughafen Rhein-Main weiter ausgebaut, aber gleichzeitig verringert sich zwischen 1933 und 1939 die Zahl der Frankfurter Bankenhäuser erheblich (Ronneberger/Keil 1995: 291). Dem Vernichtungswahn der Nazis fällt die jüdische Bevölkerung von Frankfurt, vormals mit 30.000 Personen eine der größten Gemeinden in der

Frankfurts Aufstieg zur Global City

Weimarer Republik, fast vollständig zum Opfer (Drummer 1994: 337). Im März 1944 wird zudem die Stadt, insbesondere das historische Zentrum, durch mehrere Luftangriffe der Alliierten in Schutt und Asche gelegt.

Der wilde Raum Die Folgen des Nazi-Terrors erweisen sich für Frankfurt als gravierend. Das jüdische Bürgertum, bis 1933 ein wichtiger Bestandteil der städtischen Gesellschaft, ist entweder ermordet oder vertrieben worden. Das weitgehende Fehlen liberal-bürgerlicher Kräfte prägt entscheidend das politisch-kulturelle Klima der Nachkriegszeit und macht sich auch bei der Neukonzeption der zerstörten Stadt bemerkbar. Ohne dieses zivilgesellschaftliche Vakuum wäre die rigorose städtebauliche Entwicklung sicherlich nicht so reibungslos verlaufen (Ronneberger/Keil 1995: 291). Doch die ›leere Mitte‹ wartet darauf neu besetzt zu werden. Kriegsbedingt strömen Flüchtlinge, ehemalige ›Fremdarbeiter*innen‹ und KZ-Häftlinge in die Stadt. In dem peripher gelegenen Ortsteil Zeilsheim wird ein großes Lager für sogenannte ›Displaced Persons‹ eingerichtet und GIs beziehen überall im Stadtgebiet Kasernen und Wohnsiedlungen (Frankfurt wird zum Hauptsitz der US-amerikanischen Militärregierung). Angesichts der katastrophalen Versorgungslage bestimmt der Schwarzmarkt die lokale Ökonomie. Dies liegt nicht zuletzt an der starken Präsenz der US-Armee, deren Angehörige über enorme Ressourcen (Lebensmittel, Schokolade, Zigaretten, Drogen, Nylons etc.) verfügen (Koch 2010: 229 ff.). Das Gebiet um den Frankfurter Hauptbahnhof entwickelt sich zu einem der wichtigsten illegalen Umschlagplätze in Deutschland und lockt Tausende von Menschen aus Europa und Übersee an. Von der Schatten-Ökonomie profitieren ›zwielichtige Existenzen‹, die aus Sicht des traditionellen Bürgertums zum Abschaum der Gesellschaft gehören. Schon bald entwickelt sich das Bahnhofsviertel zu einem international bekannten Vergnügungszentrum. Der Einfluss des Rotlicht-Milieus auf die weiteren Geschicke der Stadt ist nicht zu unterschätzen (—Künkel in diesem Band). Ausgefuchste Rechtsanwälte und gute Kontakte zu wichtigen kommunalen Entscheidungsträgern ermöglich­ en es den Bordellbetreibern immer wieder in die Stadtentwicklungspolitik einzugreifen (Ronneberger 2012b: 60).

Der ›amerikanisierte‹ Raum Auf jeden Fall zählt Frankfurt zu den ›Kriegsgewinnlern‹: Dank seiner geographischen Lage wird die Stadt zunächst Verwaltungssitz der US-Zone, dann zentraler Standort für die westlichen Besatzungsmächte. Mit der Gründung der ›Bank deutscher Länder‹, der Vorläuferin der späteren Bundesbank, und der Verlegung der Hauptsitze vieler Berliner Banken werden die Grundlagen für die spätere Entwicklung zu einem internationalen Finanzplatz gelegt. Auch zahlreiche aus der sowjetischen Besatzungszone und den ehemaligen deutschen Ostgebieten stammende Industrieunternehmen und Handelsorganisationen wandern nach Frankfurt ab. In wachsendem Maße siedeln sich hier Unternehmen, Verbände und Institutionen mit Zen­ tralfunktionen an. Darüber hinaus umfasst der historisch gewachsene lokale Branchenmix, nämlich Chemie, Elektrotechnik und Maschinenbau, genau diejenigen Sektoren, die für den Aufbau der bundesdeutschen Wirtschaft von strategischer Bedeutung sind. Schon bald etabliert sich die Stadt als führendes Wirtschafts- und Finanzzentrum der neuen Republik (Noller/ Ronneberger 1995: 51). Die Stadt profitiert vor allem von dem ökonomischen

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Potenzial der stark exportorientierten deutschen Wirtschaft und der Bedeutung der DM als zweitwichtigster globaler Reservewährung nach dem US-Dollar. Immer mehr ausländische Banken lassen sich in Frankfurt nieder und werten den Standort beständig auf. Mit der raubeinigen Stadtentwicklung verschwinden weitgehend die noch bestehenden Reste der ›historischen Stadt‹. Zugleich gilt die entstehende Skyline in der Bundesrepublik als einzigartig. Konsequent setzt die städ­ tische Verwaltung auf eine Internationalisierung der ›City‹. In einem späteren Interview legitimiert der vormalige sozialdemokratische Planungsdezernent Hans Kampfmeyer, der zwischen 1956 und 1972 die Stadtentwicklung entscheidend vorangetrieben hat, seine autoritären Planungsentscheidungen: »Ich habe die Bankentraditionen aufgenommen und alles nur Denkbare getan, um Frankfurt zum ersten Bankenplatz zu machen. Und das alles gegen eine provinzielle Haltung der Bevölkerung mit einer sehr amorphen Bewusstseinsstruktur. Und dabei, wie gesagt, die Aufgabe, aus diesem zerstörten und darniederliegenden Körper die Voraussetzungen für eine Weltstadt zu machen« (zit. n. Roth 1975: 16).

Vor allem die Kernstadt wird völlig umgekrempelt. Die städtebaulichen Maßnahmen orientieren sich fast ausschließlich an wirtschaftlichen Interessen und verschaffen der Stadt bald das Image eines ›Mainhattan von Deutschland‹. Zum schlechten Ruf trägt auch das Bahnhofsviertel bei, eine denkbar unvorteilhafte ›Visitenkarte der Stadt‹. Frankfurt gilt als kalt, hektisch und kulturlos. Während die Main-Metropole zum nationalen Finanzzentrum aufsteigt, gerät sie zugleich zum Synonym städtischen Schreckens. Für den linken Schriftsteller Gerhard Zwerenz (1973) ist die Stadt »so unbewohnbar wie der Mond«. Frankfurt ist in dieser Zeit eine sozialdemokratische Hochburg. Oberbürgermeister Rudi Arndt verkörpert exemplarisch den hemdsärmeligen Macher-Typ, der das lokale ›Wirtschaftswunder‹ mit der Brechstange durchboxt. Das konservativ-bürgerliche Milieu brüskiert er mit seinem Vorschlag, die Ruine der Alten Oper einfach in die Luft zu sprengen. Fortan heißt er ›Dynamit-Rudi‹.

Der umkämpfte Raum: Häuserkämpfe und Antistartbahn-Bewegung Im Zuge der 68er-Revolte wird die Stadt zum Schauplatz von sozialen und politischen Auseinandersetzungen. Bislang hatte keine der politischen Parteien ein Problem damit, innerstädtische Wohngebiete in Gewerbe- und Büroräume umzuwandeln. Da die Finanzwirtschaft vor allem Standorte im Zentrum bevorzugt, befürchten die politisch Verantwortlichen eine wachsende Raumknappheit. Um dem vorzubeugen werden ›City-Ergänzungsgebiete‹ ausgewiesen, die auf eine stärkere vertikale Verdichtung hinauslaufen. Dabei gerät vor allem der Stadtteil Westend in den Fokus. Diese Strategie kann sich auf den sogenannten Fingerplan stützen: Demnach sollen entlang der Hauptverkehrsstraßen und der geplanten U-Bahn-Linien tertiäre Zonen entstehen, die sich gleichsam wie Finger an diesen Ausfallstraßen entlangziehen (Ronneberger/Keil 1995: 293 ff.). Doch die damit verfolgte Hochhauspolitik kollidiert mit dem bestehenden Bau- und Bodenrecht, das von einer kleinteiligen Parzellierung und weit gestreuten Besitzverhältnissen ausgeht. Im Grunde ist das damalige Baurecht weiterhin an einer Blockrandbebauung orientiert, wo der Typus

Frankfurts Aufstieg zur Global City

des Hochhauses nicht vorgesehen ist. Die geltenden Baunutzungsordnungen und die planerischen Vorstellungen einer ›Auflockerung durch Verdichtung‹ sind gesetzlich nicht in Deckung zu bringen. Als neue Grundlage des Planungshandelns kommt deshalb eine großzügig gehandhabte Befreiungspraxis von Bebauungsplänen oder baurechtlichen Vorschriften zum Einsatz. Man fordert die Investoren dazu auf, möglichst mehrere Grundstücke zu erwerben, da für den Besitz einer größeren Fläche höhere Geschossflächenzahlen in Aussicht gestellt werden (Stracke 1980: 46 ff.). Solche Vorgaben heizen wiederum die Bodenspekulation an und führen zur Vertreibung von Mieter*innen. Einem kleinen Kreis von Immobilienhändlern gelingt es, innerhalb weniger Jahre bedeutende Areale im Westend aufzukaufen. Die Spekulanten fungieren quasi als ›Rammbock‹ für die Restrukturierung des Quartiers. Dabei erhalten sie diskret die finanzielle Unterstützung von Seiten der Banken, den eigentlichen Gewinnern dieser Unternehmungen, welche später nach den Abbruchgenehmigungen die vergrößerten Parzellen aufkaufen (Ronneberger/Keil 1995: 292). Gegen diese kapitalistische Verwertungsstrategie beginnt sich im Westend ab den späten 1960er Jahren eine kleinbürgerlich orientierte Bürger­ initiative zu wehren – übrigens eine der ersten Aktionen dieser Art in der Bundesrepublik. Wenig später macht sich in Form von Hausbesetzungen eine neue politische Strömung bemerkbar (—Engelke in diesem Band). Diese militante Bewegung stellt die Arrangements der lokalen Wachstumskoalition grundsätzlich in Frage. Es entwickelt sich im Westend ein jahrelanger und mit äußerster Härte geführter Häuserkampf, der zunächst bei großen Teilen der Frankfurter Bevölkerung auf Verständnis stößt. Der Filmregisseur Alexander Kluge hat einige Geschehnisse dieser Auseinandersetzung in dem Spielfilm ›In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod‹ (1974) eindrucksvoll dokumentiert. Die vorherrschende Sanierungspraxis mit all ihren sozialen Verdrängungseffekten wird zu einem zentralen Streitpunkt der städtischen Öffentlichkeit. Die regierenden Sozialdemokrat*innen versuchen die Bewegung mit Repression und taktischen Zugeständnissen einzudämmen, ohne grundsätzlich von ihren ursprünglichen Planungsvorhaben abzurücken. Schließlich endet diese Phase der Militanz mit dem Niedergang der Opposition. Die Auswirkungen der Protestbewegung auf die weitere Stadtentwicklung bleiben eher marginal. Allerdings agiert die städtische Administration nun taktisch vorsichtiger. So ändert sich das städtebauliche Konzept für das Westend dahingehend, dass eine weitere Hochhausplanung zugunsten der Erhaltung der alten Bausubstanz aufgegeben wird (Wetzel 2012). In gesellschaftspolitischer Hinsicht sind jedoch die Auswirkungen des Häuserkampfes erheblich: Zum einen zerbröselt die bis dahin bestehende Hegemonie der lokalen Sozialdemokratie, zum anderen kann sich die ›Sponti-Szene‹ innerhalb der Frankfurter Linken als dominantes Milieu etablieren. Führende Köpfe dieser Strömung sind Leute wie Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit. Etwas zeitlich versetzt kommt es auch zu militanten Auseinandersetzungen um den Ausbau des Rhein-Main-Flughafens (Startbahn West). In gewisser Weise kann man diese Kämpfe als Widerstand gegen die sich herausbildende Superstruktur der Global City-Formation verstehen. Ein großer Teil der Auseinandersetzungen findet jedoch physisch im Stadtwald und politisch auf der Landes- und Bundesebene statt. Im Zentrum der Auseinandersetzungen steht der Konflikt zwischen mächtigen ökono­mischen Interessen an einem unbegrenzten Wachstum des Flugaufkommens und den Anwohner*innen, die ihre Lebensqualität in Frage gestellt sehen. Gleichzeitig geht ein Riss durch die gesamte Region: Der Bedrohung einer

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wachsenden ökologischen Belastung steht die Forderung nach gesicherten Arbeitsplätzen gegenüber (Ronneberger/Keil 1995: 296 ff.). Der späteren Niederlage der Anti-Startbahn-Bewegung kommt im Kontext der Metropolitanisierung von Frankfurt eine strategische Bedeutung zu. Die Flughafenökonomie entwickelt sich zu einem zentralen Standbein der Global City-Struktur. Aber gleichzeitig verfestigt sich in der Rhein-Main-Region ein ökologisch-alternatives Wählerpotential. So ziehen die Grünen 1981 erstmals in die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung ein. Angesichts solcher Erfolge entert wenig später die ›Fischer-Gang‹ mit ihrem Sponti-Anhang die Grünen und nutzt die Partei als Plattform für höhere Ambitionen.

Der kulturalisierte Raum: Metropolitane Urbanität Im März 1977 kann die CDU die Kommunalwahlen in Frankfurt gewinnen. Der sozialdemokratischen Stadtregierung gelingt es nicht rechtzeitig, von der knallharten Wachstumspolitik der Nachkriegszeit zu einem smarten Urban Management überzugehen. Im Gegensatz zur SPD begreifen die Spin-Doctors der Konservativen, dass die Erringung von Wahlmehrheiten nicht mehr allein durch eine materielle Interessenpolitik zu bewerkstelligen ist. Deshalb tauchen in der politischen Programmatik der CDU Stichworte wie »lokale Identität« und »Urbanität« auf. Für den neuen Oberbürgermeister Walter Wallmann gilt jetzt »Kultur« als »Ferment der Kommunalpolitik«. Mit Hilfe eines aufwändigen Urbanisierungsprogramms, das sowohl repräsentative Architekturvorhaben als auch populäre Spektakel-Ereignisse umfasst, soll für die Stadtbevölkerung der Aufstieg in die Global City-Formation gleichsam vergoldet werden. Dabei verbinden die Konservativen in ihrer Kulturalisierungsstrategie Elemente miteinander, die vormals als unvereinbar galten: Hier Hochkultur und Alte Oper, dort Lego-Fachwerksimulationen und Appelwoi-Dunst. Darüber schwebend die postmoderne Skyline. Insbesondere die Errichtung einer Museumslandschaft steht für den Anspruch Frankfurts, nicht nur zu einem internationalen Finanzzentrum, sondern auch zu einer bedeutenden ›Kulturmetropole‹ aufzusteigen. Im Auftrag des konservativen Magistrats entwickelt das Planungsbüro Speer einen ›Gesamtplan Frankfurter Museumsufer‹, der vor allem durch bauliche Maßnahmen mediale Aufmerksamkeit erregen soll. Mit der Umsetzung dieses Vorhabens rückt zugleich die Neugestaltung des Dom-Römerbergs-Bereichs in den Vordergrund, der infolge der Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs seit Jahrzehnten brachliegt. OB Wallmann entscheidet sich – ähnlich wie beim Wiederaufbau der Alten Oper – für eine historisierende Variante. Während die Fachwelt das Projekt als Disney-Kulissenlandschaft kritisiert, stößt das Fantasyensemble als neuer Identifikationspunkt bei der lokalen Bevölkerung auf breite Zustimmung (—Monza in diesem Band). Das konservative Urbanisierungssprogramm stellt insofern eine lokale politische Antwort auf die Anforderungen der entstehenden Globalökonomie dar. In dieser Umorientierung der kommunalen Politik liegt für lange Zeit der Schlüssel zum Erfolg Frankfurts im internationalen Städtewettbewerb. Es ist die Transformation des städtebaulichen Konzepts von der »funktionalen Großstadt« zur »metropolitanen Urbanität« (Prigge 1988), die das postmoderne ›Neue Frankfurt‹ zum erfolgversprechenden Exportmodell macht. Zugleich überschreitet die Main-Metropole mit der Ära Wallmann die Schwelle zur Global City-Formation. Die Stadtregierung kreiert eine Wachstumsmaschine, die unter anderem aus der Messegesellschaft und der

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Flughafen AG besteht. Mit dem Mythos von der aufstrebenden Weltstadt gelingt es den Konservativen, ein identitätsstiftendes Raumbild zu schaffen, das große Teile der städtischen Bevölkerung anspricht. Die Redeweise von der ›Metropolen-Urbanität‹ entwickelt sich zu einer zentralen ideologischen Figur – nicht nur im Diskurs der Konservativen. Auch der parallel verlaufende Anpassungsprozess der Ex-Spontis wird davon geprägt. Letztlich fungiert die veränderte Rezeption des städtischen Raums als entscheidender Katalysator auf dem langen Weg in die ›gesellschaftliche Mitte‹. Die Großstadt, einstmals als kapitalistischer Moloch gegeißelt, gilt nun als pulsierender Erfahrungs- und Erlebnisraum: Gestern Krankfurt, nun Weltstadt.

Endnoten 1

Dieses Modell steht für ein ambitioniertes Urbanisierungsprogramm. Innerhalb der kurzen Zeitspanne von 1925 bis 1930 werden mehr als 12.000 Wohneinheiten mit Hilfe neuster Produktionsmethoden (zum Beispiel Erfindung des sogenannten Plattenbaus) im sachlichen Baustil errichtet. Bei der Mehrheit der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung besteht weitgehender Konsens darüber, dass massive Eingriffe in den lokalen kapitalistischen Boden- und Immobilienmarkt möglichst vermieden werden sollen. Man setzt vielmehr auf eine technologische und administrative Modernisierungspolitik.

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Frankfurt als Ort post-industrieller Arbeitsverhältnisse? Peter Lindner und Stefan Ouma

Banken und Börse, Flughafen/Logistik, Messe und vielleicht auch noch die Kreativwirtschaft – dies sind die Branchen und Betriebe, die das Image von Frankfurt als Wirtschaftsstandort deutschlandweit prägen. Die Stadt, die mit Unternehmen wie Hoechst oder Siemens auf eine bedeutende industrielle Tradition zurückblickt, prosperiert heute als Dienstleistungsmetropole und gilt damit als Musterbeispiel eines Transformationsprozesses hin zu post-industriellen Arbeitsverhältnissen. Regelmäßige politische Willensbekun­ dungen, die Industrie nicht aus dem Blick verlieren zu wollen, konnten diesen Prozess nicht aufhalten: Waren im Jahr 1989 noch circa 135.000 Personen im Produzierenden Gewerbe (Verarbeitendes Gewerbe und Baugewerbe) beschäftigt, so war dieser Wert 2014 auf circa 58.900 gesunken (s. Abb. 1).1 Doch was zunächst als zutreffende und relativ unstrittige Gegenwartsdiagnose erscheint, bedarf auf den zweiten Blick einer Problematisierung auf mehreren Ebenen. So ist zuerst einmal empirisch nach der tatsächlichen stadtökonomischen und -politischen Bedeutung der Industrie zu fragen, welche sich ja keineswegs nur auf die (rückgängige) Zahl der Beschäftigten beschränkt. Sodann ist zweifelhaft, inwieweit die positive Konnotation von post-industriell (von ›Blue‹ zu ›White Collar‹ mit entsprechend höheren Einkommen) den neuen Anstellungsverhältnissen wie dem wachsenden Anteil von Zeitarbeit überhaupt gerecht wird. Und zugleich führt die Digitalisierung zu veränderten Tätigkeitsfeldern, welche ihrem Charakter nach durchaus als post-industriell beschrieben werden könnten, obwohl sie dem Verarbeitenden Gewerbe zuzurechnen sind. Darüber hinaus, wenn auch auf einer anderen epistemologischen Ebene angesiedelt, besteht immer die Gefahr, dass der Begriff ›post-industriell‹ einerseits einer technik-zentrierten Perspektive den Weg bereitet und andererseits als zwangsläufiges Ergebnis eines quasi-natürlichen Prozesses – des Übergangs zur Dienstleistungsgesellschaft – reifiziert wird. Bei der Problematisierung der These von Frankfurt als Ort post-industrieller Arbeitsverhältnisse geht es uns nicht darum, von der Position eines begrifflich-analytischen Konzepts aus Frankfurt als empirischen Einzelfall kritisch zu untersuchen oder zur Illustration eben dieses Konzepts heranzuziehen. Vielmehr soll – mit und von einem konkreten Ort ausgehend – darüber nachgedacht werden, welche blinden Flecken und Schieflagen die verbreitete Charakterisierung von städtischen Arbeitsverhältnissen als post-industriell beinhalten kann. Damit folgen wir einem Weg, der von Doreen Massey für die Geographie geebnet wurde. Massey (1991) plädierte

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Abbildung 1: Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte Mitte 1989 und 2014 nach Wirtschaftssektoren (Quelle: Gutberlet 2015: 75).

bereits in einer Zeit, als der Begriff Globalisierung in der wissenschaftlichen Literatur noch ganz am Anfang seiner Karriere stand, dafür, Orte als Knoten in translokalen Netzen zu verstehen und sich mit theoretischen Ideen immer »im Labor des empirischen Falles« (Massey 1995: 309, eigene Übersetzung) auseinanderzusetzen. Dies gilt selbstredend auch für Arbeitsverhältnisse, die insbesondere unter Globalisierungsbedingungen als politisch gelenktes und dennoch lokal-kontingentes Ergebnis umfassenderer struktureller Dynamiken zu verstehen sind (Massey 2007).

Jenseits von Beschäftigtenzahlen Zunächst können wir festhalten, dass die gegenwärtige Erzählung vom post-industriellen Frankfurt vernachlässigt, in welchem Umfang die Stadt trotz des Rückgangs der Zahl der Erwerbstätigen im Produzierenden Gewerbe (s. oben) weiterhin Standort großer und mittelständischer Industrie­ unternehmen bleibt. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang seit Jahren auf die Tatsache, dass die Gewerbesteuereinnahmen regelmäßig zu einem größeren Anteil vom Verarbeitenden Gewerbe (2015: 45 %) als von den Finanz- und Versicherungsdienstleistungen (2015: 14 %) erbracht werden (Wirtschaftsförderung Frankfurt 2015: 9) und dass der größte Gewerbesteuerzahler nicht eine Bank, sondern das Industrieunternehmen Sanofi ist. Dieser ›Gegendiskurs‹ basiert auf Zählungen der Stadtkämmerei und steht in eklatantem Widerspruch zu den vom Hessischen Statistischen Landesamt veröffentlichten Zahlen2, ist aber in vielfältiger Weise performativ wirksam. Er dient der Legitimierung der Sicherung von Gewerbeflächen sowie vieler anderer industriepolitischer Maßnahmen und erhält durch das Argument besonderes Gewicht, Deutschland habe die Finanzkrise 2007/08 nicht zuletzt aufgrund des relativ hohen Anteils seiner Industrie am Bruttoinlandsprodukt weitaus besser überstanden als viele andere Staaten. Die Erfahrung der kommunalen Auswirkungen global-struktureller Verwerfungen wie der Finanzkrise – beziehungsweise deren Abfederung durch eine diversifizierte Branchenstruktur – trug wesentlich zu einer ökonomischen Neubewertung der lokalen Industrie bei und lieferte entscheidende Impulse für eine neue Frankfurter Industriepolitik. Der Entschluss, einen Masterplan Industrie für die Stadt zu erarbeiten, sowie die Gründung

Frankfurt als Ort post-industrieller Arbeitsverhältnisse?

eines Kompetenzzentrums Industrie innerhalb der Frankfurter Wirtschaftsförderung im Jahr 2016 sind zentrale Bausteine dieser Anstrengungen. Zwar ist es richtig, dass in Frankfurt – wie auch in den meisten anderen bundesdeutschen Großstädten – seit 2005 die Kreativwirtschaft vorübergehend ins Zentrum des Interesses rückte und deshalb im Jahr 2008 ein Kreativwirtschaftsbericht veröffentlicht (Goeke et al. 2008) sowie ebenfalls ein städtisches Kompetenzzentrum eingerichtet wurden. Aber gleichzeitig zeigte sich in den Folgejahren immer deutlicher, dass stadtpolitisch keineswegs von post-industriellen Arbeitsverhältnissen als alleinigem Zukunfts­ szenario ausgegangen wird. Allerdings wäre es falsch, die Hinwendung zur Industrie allein als Effekt der Finanzkrise zu deuten. Industriepolitische Initiativen, wenn auch mit überschaubaren Auswirkungen und wechselnden politischen Konjunkturen unterworfen, stellen durchaus ein Kontinuum der kommunalen Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte dar. So wurde 1994 ein industriepolitisches Leitbild (Arbeitskreis Industrie 1994) verabschiedet. Dieses bildete unter anderem den Ausgangspunkt für die Einrichtung der ›Ständigen Wirtschafts- und Arbeitsmarktkonferenz‹, den Frankfurter Industrieabend, das Industrieparkgespräch, die Gründung des Frankfurter Innovationszentrums Biotechnologie, die Erstellung einer Industriekarte und eines darauf aufbauenden Gewerbeflächenentwicklungsprogramms, die Entwicklung des Gewerbegebiets ›Am Martinszehnten‹ sowie die vertragliche Sicherung des Osthafens als Industriestandort bis 2050. 2013 schließlich erhielten die Autoren dieses Aufsatzes den Auftrag zur Erstellung einer Industriestudie (Lindner et al. 2014), auf die der 2015 beschlossene Masterplan Industrie aufbaut (Wirtschaftsförderung Frankfurt 2015). Dieser strebt mit 30 Einzelprojekten in acht Handlungsfeldern eine strukturelle Stärkung, aber auch eine umfassende diskursive Neupositionierung der Industrie im politischen Gefüge der Stadt Frankfurt an. Dazu gehört, dass »das Bewusstsein, die Akzeptanz und die Wertschätzung für die Industrie in Gesellschaft und Politik langfristig verbessert werden. Industrie- und Technologiefreundlichkeit sollten wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen begünstigen und damit die Planungssicherheit und Investitionsbereitschaft der Industrieunternehmen in Frankfurt am Main erhöhen« (ebd.: 10). Arbeitslosigkeit hingegen, eine Herausforderung, die jahrelang vor allem in Zusammenhang mit strukturellem Wandel und dem Niedergang der Industrie gebracht wurde, war in den letzten Jahren in Frankfurt in der breiten Öffentlichkeit kaum mehr ein Thema. Dies überrascht, da Arbeitslosigkeit unter bestimmten Personengruppen für die Stadt – trotz der positiven Entwicklung der Gesamtzahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter – weiterhin eine Herausforderung bleibt.3 Die Arbeitslosenquote lag 2014 mit 5,2 % beziehungsweise 11,6 % für ›Deutsche‹ und ›Ausländer‹ zwar etwas unter dem deutschen Durchschnitt von 5,6 % beziehungsweise 13,9 %, der Unterschied zwischen beiden Gruppen ist aber gravierend (Bolz 2017: 52). Hinzu kommt, dass durch Automatisierung und Roboterisierung im Zuge der Digitalisierung und der Umstellung auf Industrie 4.0-Produktionsprozesse (s. unten) mittel- bis langfristig eine weitere Freisetzung von Arbeitskräften im Verarbeitenden Gewerbe befürchtet werden kann (Frey/Osbourne 2013; Schwarzbach 2016). Doch das dominante Thema ist seit einigen Jahren der Fachkräftemangel, der nicht zuletzt aus den hohen Lebenshaltungskosten im Ballungsraum Rhein-Main resultiert und deshalb auch eine wichtige Rolle in der Debatte um die Schaffung von neuem Wohnraum spielt.

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Zeitarbeit Die Gewerbesteuereinnahmen ebenso wie die wirtschaftspolitischen und stadtplanerischen Diskussionen auf kommunaler Ebene zeigen also, dass der Blick allein auf den sektoralen Wandel sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse zu kurz greift. Gleichzeitig darf aber auch nicht übersehen werden, dass die Bezeichnung ›industriell‹ eine Kontinuität und Homogenität suggeriert, die längst nicht mehr der Wirklichkeit entspricht: Sowohl höchst prekäre Beschäftigungsverhältnisse als auch ›White Collar‹-Jobs, die ihrem Charakter nach positiv wie negativ an eine post-industrielle Arbeitswelt erinnern, haben in den letzten beiden Jahrzehnten zugenommen, zählen statistisch mitunter aber zum Verarbeitenden Gewerbe beziehungsweise zur Industrie.4 So stellt denn auch der Sozialbericht der Stadt Frankfurt fest: »Mit der positiven Beschäftigungsentwicklung haben sich die Schwerpunkte der Arbeitsmarktdiskussion verändert. Neben der Problematik der Arbeitslosigkeit sind neue Themen wie der zunehmende Fachkräftemangel und insbesondere die zunehmende Heterogenität der Erwerbsformen und der damit verbundene Bedeutungsverlust des Normalarbeitsverhältnisses in den Vordergrund getreten« (Bolz 2017: 14).

Nach Jahrzehnten gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen war es vor allem die Industriearbeit, welche die Kriterien des hier angesprochenen Normalarbeitsverhältnisses als »unbefristete, existenzsichernde, von einem männlichen Arbeitnehmer ausgeführte Vollzeittätigkeit, die außer Haus erledigt wird, zeitlich begrenzt und gleichmäßig auf die Wochentage verteilt ist« (Siemund 2013: 20) erfüllte. Doch bereits lange bevor der Wandel zur post-industriellen Dienstleistungsgesellschaft zur Erosion dieser Arbeitsverhältnisse beitrug, gerieten sie durch das Aufkommen von Zeitarbeitsfirmen und temporärer Beschäftigung innerhalb des Verarbeitenden Gewerbes unter Druck. Frankfurt nimmt in dieser Hinsicht eine gewisse Vorreiterrolle ein, da sich hier bereits in den 1960er Jahren erstmals in der Bundesrepublik sogenannte ›Arbeitnehmerüberlassungsbetriebe‹ niederließen (Höfler et al. 2018: 86). Diese vermitteln angestellte Arbeitskräfte an andere Unternehmen, welche das Beschäftigungsverhältnis jederzeit beenden können. Der entleihenden Kapitalseite bietet das den Vorteil, temporäre Arbeitsspitzen abzufangen und insgesamt flexibler reagieren zu können. Mittlerweile ist Frankfurt ein »klassischer Zeitarbeitsmarkt« (ebd.). Zwar ist der Anteil der Leiharbeit an der Gesamtbeschäftigung mit 4 % (2018) ebenso gering wie im Bundesdurchschnitt, seit 2006 wuchs dieses Segment aber um ein Vielfaches schneller als das der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und zwischen 2013 und 2017 war jedes zehnte auf dem Frankfurter Arbeitsmarkt begonnene und beendete Arbeitsverhältnis ein Leiharbeitsverhältnis (Lepper 2018: 16). Im gleichen Zeitraum wuchs die Zahl der ›Arbeitnehmerüberlassungsbetriebe‹ (Zeitarbeitsfirmen) um 21 %, von 623 auf 756 Betriebe (ebd.). Globalisierungsdynamiken, konkret die Freizügigkeit von Arbeitnehmer*innen innerhalb der EU, trugen zu dieser Entwicklung erheblich mit bei. Die Kombination von befristeter Beschäftigung an einem Arbeitsplatz, geringerem Einkommen und unzureichender Einbettung in die sozialen Strukturen der Entleihbetriebe machte Zeitarbeit bis vor einigen Jahren insbesondere in der Industrie zu einer Beschäftigungsform, die beispielhaft für die Prekarisierungs¬effekte neoliberaler Arbeitsmarktpolitik stand.

Frankfurt als Ort post-industrieller Arbeitsverhältnisse?

Die Kritik daran führte zwar zu vereinzelten gesetzlichen Verbesserungen und gewerkschaftlichen Vereinbarungen (s. unten), die mit Zeitarbeit ver­ bundene grundsätzliche Unsicherheit blieb davon jedoch unberührt: »Das Problem hat jeder, der in dieser Beschäftigungsform drin ist. Der kriegt keinen Kredit, der kriegt keine Wohnung, der kriegt gar nichts. Das ist so. […] Das sind Menschen dritter Klasse in jeglicher Beziehung, du kriegst keinen Autokredit, du musst aber mit dem Auto auf die Arbeit kommen. […] Die Probleme sind da« (Betriebsratsvorsitzender Frankfurter Industrieunternehmen 2014, zit. n. Höfler et al. 2018: 90).

Frankfurt ist als Standort des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) sowie zahlreicher Einzelgewerkschaften (IG Metall; IG Bau; IG Bergbau, Chemie, Energie) aber auch eine Stadt, von der aus – sowohl bundesweit als auch bezogen auf konkrete Situationen vor Ort – Widerstand gegen sogenannte ›atypische Beschäftigungsverhältnisse‹ (neben Zeitarbeit auch Teilzeitarbeit mit 20 oder weniger Arbeitsstunden, Werkverträge, geringfügig entlohnte Beschäftigung/Minijobs, andere Formen von Befristung) organisiert wurde (—Zennig in diesem Band). Bereits 2011 konnte die IG Metall über eine Gesamtbetriebsvereinbarung mit dem für den Einsatz von Leiharbeit bekannten Siemens-Werk in Fechenheim erreichen, dass 1.500 prekäre in reguläre Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt wurden. Teil dieser Vereinbarung war auch, dass Leiharbeiter*innen nach einer bestimmten Zeit der Stammbelegschaft gehaltlich gleichgestellt werden und diese tatsächlich nur zur Abfederung von Auftragsspitzen eingesetzt werden dürfen (IG Metall 2011). 2017 konnte dann mit der Ergänzung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes auf Bundesebene erreicht werden, dass Leiharbeiter*innen für Entleihbetriebe deutlich teurer wurden. Neben einigen anderen Anpassungen im Bereich der Sozialabgaben besagt diese Ergänzung, dass der Lohn der Leiharbeiter*innen nach spätestens neun Monaten dem der Stammbelegschaft entsprechen muss (Lepper 2018: 14). Mit dem prozentualen Wachstum des Dienstleistungssektors verlagerte sich auch der Schwerpunkt der Leiharbeitsfirmen in diesen Bereich. Ende Juni 2017 arbeitete etwas weniger als die Hälfte aller Leiharbeiter*innen am Arbeitsort Frankfurt in den Berufshauptgruppen Verkehr/Logistik (25,8 %) und in der Unternehmensführung/-organisation (16,7 %; ebd.: 11).5 Dieser Befund wird allerdings dadurch relativiert, dass viele dieser Dienstleistungsbereiche – etwa die Logistik – eng mit der Industrie verwoben sind.

Digitalisierung Drittens kann ›post-industriell‹ im Frankfurter Kontext im Sinn neuer Beschäftigungsformen verstanden werden, die sich zwar im Verarbeitenden Gewerbe entwickeln, aber dennoch einen eindeutigen Bruch mit dem Zeitalter analoger industrieller Produktion darstellen. Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt ist die Digitalisierung von Produktionsprozessen, welche einen qualitativ neuen Schub in Richtung post-fordistischer Individualisierung der Produktion sowie eine grundlegende Transformation der Wertschöpfung, sowohl innerhalb von Unternehmen als auch entlang von Wertschöpfungsketten, verspricht. Schlagworte wie Roboterisierung, additive manufacturing, big data analytics oder cyber-physische Systeme, meist verstanden als Komponenten des vage plakativen Labels ›Industrie 4.0‹, verweisen auf ein heterogenes Spektrum unterschiedlicher Veränderungsprozesse, die auch die Arbeitsverhältnisse betreffen. Im Vordergrund

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steht dabei die fortschreitende Tertiärisierung der Industrie im Sinne der Koppelung von Produkten an Dienstleistungen und digitale Plattformen – Kund*innen erwerben dann nicht mehr ein Auto oder eine Heizung, sondern eine Mobilitäts- oder Wärmeversorgungsgarantie für einen festgesetzten Zeitraum. Insgesamt handelt es sich bei der Industrie 4.0-Utopie um eine techno-futuristische Erzählung, in der meist eine unternehmenszentrierte Perspektive eingenommen wird, die durch einen unkritischen Technologieoptimismus gekennzeichnet ist und vor allem die Ebene des Managements in den Blick nimmt. Auch Frankfurt ist Standort von Unternehmen, die diesen Diskurs mitprägen und sich als Vorreiter in Sachen Industrie 4.0 sehen. Dazu gehören zum Beispiel der Steuerungs- und Regelungstechnikhersteller Samson, Siemens-Anlagenbau (beide in Fechenheim) und der Pharmariese Sanofi im Industriepark Höchst. Samson kooperiert etwa mit dem Industrieparkbetreiber Infraserv mit dem Ziel, eine ›Industrial Internet of Things‹-Plattform (IIoT) zur »digital unterstützten Prozessoptimierung und Anlagensteuerung für mittelständische Industriebetriebe innerhalb und außerhalb des Industrieparks in der Metropolregion Rhein-Main« zu entwickeln (LMV online 16.10.2019). 2019 wurde Samson Mitglied der ›Open Industry 4.0 Alliance‹, die Industrie 4.0 im Sinn eines Ökosystems weiterentwickeln will, um Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Unternehmen über den eigentlichen Produktionsbereich hinaus zu fördern.6 Hier wie auch in anderen Vorhaben wird unmissverständlich deutlich, dass die Hoffnung auf neue Formen der Integration über den Prozess der Produktion im engeren Sinn hinaus – insbesondere auch in den Bereich Logistik – ein Kernbestandteil des Industrie 4.0-Versprechens ist und somit auch zu einer post-industriellen Transformation von Arbeitsverhältnissen beiträgt. Die Kammern, das Dezernat für Wirtschaft, die Wirtschaftsförderung und der Masterplan Industrie setzen ebenfalls große Hoffnungen in die Digitalisierung der Produktion, die die Wettbewerbsfähigkeit Frankfurter Unternehmen im digitalen Zeitalter sicherstellen soll: »Die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung, der internetbasierten Vernetzung und der automatisierten Steuerung von Wertschöpfungsprozessen erfordern eine verstärkte Flexibilisierung, eine Sicherung von Fachkräften sowie einen effizienten Umgang mit Ressourcen. Diese neuen Möglichkeiten werden für Frankfurt am Main als Entwicklungschance gesehen, die für eine Sicherung zukünftiger Wertschöpfung genutzt werden soll« (Wirtschaftsförderung Frankfurt 2015: 4).

Auch seitens der Stadtplanung wird der Übergang zur Industrie 4.0 grundsätzlich positiv gesehen. Allerdings nicht primär im Hinblick auf die Sicherung des Gewerbestandorts Frankfurt, sondern weil angenommen wird, dass der erhöhte Dienstleistungsanteil digitalisierter Geschäftsmodelle zu weniger Nachbarschaftskonflikten insbesondere in Mischgebieten führt und sich somit das Ideal einer emissionsarmen urbanen Produktion realisieren lässt (ebd.: 30). Zwar sind die konkreten Auswirkungen der sich intensivierenden Digitalisierung auf die Arbeitsverhältnisse noch nicht genau absehbar, aber die damit verbundenen neuen Möglichkeiten des Zugriffs, der Disziplinierung und der Kontrolle von Arbeit bleiben in der positiv konnotierten Industrie 4.0-Vision meist ausgeblendet. Zudem zeichnet sich bereits heute eine Spreizung der Arbeiterschaft ab: Neben einer reduzierten Stammbelegschaft aus hochqualifizierten Expert*innen und einer Randbelegschaft in unsicheren

Frankfurt als Ort post-industrieller Arbeitsverhältnisse?

Arbeitsverhältnissen, die auf »Abruf zur Verfügung stehen muss« (Leiharbeit, Befristung), dürften viele Beschäftigte »durch diese Raster fallen, wegen des verstärkten Technikeinsatzes ihre Arbeit verlieren oder keinen Ausbildungsplatz erhalten« (Schwarzbach 2016: 123 f.). Diese Umbrüche stellen für die gewerkschaftliche Arbeit eine große Herausforderung dar. In der digitalisierten Fabrik bräuchte es eigentlich Betriebsräte, die hauptberuflich mit der Technikfolgenabschätzung von Digitalisierungsprojekten befasst sind. Die Arbeitssoziologin Sabine Pfeiffer betont sehr treffend, dass die mit der Einführung neuer Technologien verbundenen Probleme sozio-technischer Natur und gerade deshalb schwer anzugehen sind: »Am meisten Sorgen mache ich mir darüber, dass es in frühen Entwicklungsphasen keine Mitbestimmungsprozesse gibt, da aber werden die Weichen gestellt. Irgendwelche Softwareentwickler kreieren Algorithmen nach welchen Kriterien auch immer – und der Anbieter dieser Software wird sie nie preisgeben, weil sein Geschäft auf diesem Betriebsgeheimnis basiert. Wenn nun ein Unternehmen diese Technik einkauft, kann der Betriebsrat zwar dafür sorgen, dass bestimmte Funktionen nicht freigeschaltet werden – wenn es denn einen Betriebsrat gibt. Aber wie der Algorithmus funktioniert, weiß er nicht geschweige denn, dass er daran etwas ändern kann« (zit. nach Jensen 2016).

Eine Umfrage der IG Metall bei 1.964 Betrieben stützt diesen Befund: In 54 % der Fälle findet eine frühzeitige Information der Betriebsräte über Projekte zur digitalen Transformation nicht statt und deren Einbindung zur Mitgestaltung verneinten sogar 62 % (IG Metall Vorstand 2019). Dies trifft freilich nicht nur auf die Industrie, sondern genauso auf den Dienstleistungssektor zu, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad traditionell sogar noch geringer ist. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die ›Amazonisierung‹ der Industrie, die auf eine Verknüpfung von »individualisierter Produktion, Ablaufdeterminismus und einem Beschäftigungszuwachs in eher gering qualifizierten Tätigkeiten« (Butollo/Ehrlich/Engel 2017: 33) setzt, als entwicklungsstrategisches Leitbild zu problematisieren und infrage zu stellen. Empirisch sind dem allerdings Grenzen gesetzt. Wie auch anderswo bleibt Industrie 4.0 in Frankfurt schemenhaft und viel weniger disruptiv als oft behauptet. Dies zeichnete sich bereits im Rahmen der Erhebungen zur Frankfurter Industriestudie in den Jahren 2012 – 2013 ab (Lindner et al. 2014) und hat sich auch 2021 nicht verändert. Zwar finden allenthalben Digitalisierungsprojekte statt, die als Komponenten von Industrie 4.0 gelten können, doch insgesamt handelt es sich weniger um einen Umbruch als um einen langsamen, evolutionären Prozess. Vor dem Hintergrund weiterer skeptischer Befunde kann für Deutschland allgemein ein Auseinanderklaffen von Vision und Realität angenommen werden. Industrie 4.0 entpuppt sich mehr als »ein interessengeleitetes Kunstprodukt« und als »ferner, möglicherweise nie erreichbarer Fluchtpunkt auf einem von der Gegenwart ausgehenden Kontinuum« (Butollo/Ehrlich/Engel 2017: 34, 38), denn als ein kohärentes Bündel real existierender Transformationen. Fuchs (2018) spricht gar von einer neuen deutschen Ideologie, die sich anschickt, Arbeitsbeziehungen massiv zugunsten der Kapitalseite umzuorganisieren. Zusammenfassend lohnt es sich, noch einmal zurück zu Doreen Massey zu kehren. Sozial, politisch und ökonomisch gemachte Geographien weisen für sie niemals einen singulären, vorbestimmten Entwicklungspfad auf, sondern sind als Aufforderung und Ansatzpunkt zu verstehen, um über die

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Realisierung von alternativen Weltentwürfen nachzudenken (Massey 2007). Diese Einsicht ist gerade deshalb so wichtig, weil zeitdiagnostische Begriffe wie Industrie 4.0 und post-industrielle Arbeitsverhältnisse zugleich oft Erzählungen über die Zukunft sind, die Weichenstellungen in der Gegenwart als quasi-natürlich erscheinen lassen. Sie implizieren, wie auch andere Heilsversprechungen der Digitalisierung (Smart Cities, eHealth, autonomes und vernetztes Fahren etc.), »eindeutige und letztlich normative Entscheidungen darüber, wie wir zukünftig arbeiten und leben wollen« (Pfeiffer 2015). Das Schlagwort von der post-industriellen Stadt suggeriert, dass diese Entscheidungen längst gefallen sind und eines der Wahrzeichen Frankfurts, der 1991 von Jonathan Borofsky errichtete ›Hammering Man‹ (s. Titelbild), wird von vielen als Abgesang auf die Industriegesellschaft wahrgenommen. Doch er soll in Erinnerung rufen, dass Arbeit als die Verbindung von kreativem Denken und manuellem Schaffen Menschen rund um den Globus verbindet, auch wenn aus dieser Verbindung als dem Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen – nicht eines vorgezeichneten Entwicklungspfades! – ganz unterschiedliche lokale Arbeitsverhältnisse entstehen können.

Endnoten 1

Aufgrund mehrerer Umklassifizierungen der Wirtschaftszweige zwischen 1989 und 2014 kann hier keine homogene Zeitreihe konstruiert werden. Für Details siehe Gutberlet (2015: 75) und Lindner et al. (2014: 24).

2

Diese Einsicht entstammt einer kostenpflichtig erhältlichen Einzelauswertung, die den Autoren vorliegt. Die Differenz zwischen beiden Quellen dürfte zum einen daraus resultieren, dass die Zuordnung von Verwaltungssitzen großer Industrieunternehmen wie beispiels­ weise Nestlé zum Verarbeitenden Gewerbe oder dem Dienstleistungssektor unterschiedlich vorgenommen wird. Zum anderen ist sie vermutlich darauf zurückzuführen, dass das Landesamt eine andere kommunale Zuordnung von Zweigbetrieben vornimmt, deren Hauptsitz sich nicht in Frankfurt befindet.

3

Tatsächlich entfällt die Mehrheit des Zuwachses auf Einpendler*innen.

4

Leiharbeiter*innen werden in der Statistik der Agentur der Arbeit »nach Art der Tätigkeit, unabhängig von der wirtschaftsfachlichen Zuordnung des Beschäftigungsbetriebes« zugeordnet, wobei »[d]er Beschäftigungsbetrieb von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern [...] immer das Zeitarbeitsunternehmen [ist]« (Bundesagentur für Arbeit 2020: 6).

5

Dabei handelt es sich zum einen um hochspezialisierte Tätigkeiten im Bereich der Unternehmensorganisation und -strategie, zum anderen um Routine-Tätigkeiten in Büro und Sekretariat.

6 https://www.samsongroup.com/de/aktuelles/im-blickpunkt/details/news/presseinformatio-

nen­/samson-mitglied-der-open-industry-40-alliance/ (Zugriff:14.04.2021).

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Frankfurts Stadtentwicklung – Nachhaltig für alle? Café 2Grad Frankfurt

Nach aktuellen Prognosen wird die Bevölkerung Frankfurts bis zum Jahr 2030 von derzeit 759.000 (Juni 2020) auf 810.000 und bis 2040 auf 830.000 Einwohner*innen gewachsen sein (FR 09.12.2019; Stadtplanungsamt 2019). Die Nachfrage nach Bauland für die circa 90.000 neuen Wohnungen, die hieraus geschlussfolgert werden, wird in Frankfurt und dem gesamten Rhein-Main-Gebiet den bereits jetzt schon erheblichen Druck auf Grün- und Freiflächen sowohl im Inneren als auch an den Stadträndern weiter erhöhen. Der Flächenverbrauch nimmt weiter zu und fruchtbare Böden gehen verloren. Versiegelung und dichter werdende Bebauung sorgen für eine Aufheizung der Luft. Vor allem im Sommer wird dadurch die nächtliche Abkühlung verringert. Diese generelle Beobachtung verstärkt sich deutlich in Folge des Klimawandels. Für Frankfurt werden steigende Durchschnitts­ temperaturen, häufigere Starkregen- und Unwetterereignisse erwartet. Bereits jetzt übersteigt die Anzahl der Tage mit über 30°C in Frankfurt den bundesdeutschen Durchschnitt (43 Tage im Jahr 2018; DWD 2020). Die Zerstörung einer Grünfläche durch Beton und Asphalt ist sicherlich das am einfachsten vermittelbare Problem von Versiegelung. Neben dieser sichtbaren Umweltinanspruchnahme durch Gebäude und Infrastruktur werden für die Herstellung von Baustoffen und -produkten Millionen Tonnen mineralischer Rohstoffe wie Sand und Eisenerz eingesetzt. Um Bauprodukte – wie Zement oder Stahl – zu erzeugen, Baumaterialien zu transportieren, neue Häuser zu bauen, den Bestand zu sanieren und Gebäude mit Wärme und Licht zu versorgen, ist viel Energie nötig. Rohstoffe und Energie, die nur zu einem Bruchteil in Deutschland gewonnen werden, müssen folglich importiert werden. Der Abbau in den Herkunftsländern geschieht oft unter fragwürdigen menschenrechtlichen und ökologischen Bedingungen. Unmittelbar mit der ökologischen Dimension der Stadtentwicklung verbunden ist die der sozialen Frage. Steigende Boden- und Immobilienpreise bedeuten die Gefahr der Verdrängung von Menschen aus ihrem Wohnumfeld. Zu dieser Einsicht gelangt auch das Stadtplanungsamt der Stadt Frankfurt und stellt fest: »Gelingt dies [bezahlbaren Wohnraum für alle Frankfurter*innen zu schaffen] nicht, werden sich die regionalen Disparitäten zwischen in der Region wohnenden Einpendlern und großen Teilen der Stadtbewohner verschärfen« (Stadtplanungsamt 2019: 16). Um diese ›Verschiedenheit‹ – unserer Meinung nach eine deutliche Verschärfung der sozialen Ungleichheiten innerhalb der Bevölkerung – aufzulösen, soll das Wachstum nachhaltig gestaltet werden. Die Verwendung der Begrifflichkeit

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»nachhaltiges Wachstum« im Integrierten Stadtentwicklungskonzept 2030+ (Stadtplanungsamt 2019) setzt das Vokabular des 2014 begonnenen Green-City-Prozesses konsequent im Sinne einer neoliberal ausgerichteten Stadtpolitik fort. Wurde bei der damaligen Bewerbung um den Titel ›Europäische Grüne Hauptstadt 2014‹ eine strukturelle Ökologisierung der Stadt­ entwicklungspolitik Frankfurts als »lebendige und zukunftsfähige Stadt, die nicht auf Kosten künftiger Generationen lebt«1 propagiert, folgt das Vokabular nun einer ökologischen Modernisierung der Stadtentwicklungspolitik. Dieser Beitrag zeigt anhand einiger Beispiele, dass die Stadtentwicklung Frankfurts nicht nachhaltig im Sinne eines generationen- und globalperspektivischen Ansatzes ist. Sie hat massive soziale und ökologische Folgewirkungen: einerseits innerhalb der Stadt (Verdrängung und Segregation als Folge nachhaltiger Stadtentwicklung), andererseits werden diese externalisiert und hinter die kommunalen und nationalen Grenzen verschoben (Umweltkosten zu Lasten anderer). Diese Folgewirkungen werden weder in der Darstellung der Stadt Frankfurt berücksichtigt noch durch die Übernahme von (Kosten-) Verantwortung ausgeglichen. Zum Schluss stellen wir uns die Frage, was sich hieraus für die ›Stadt für alle!‹-Bewegung ergibt.

Nachhaltige Stadtentwicklung? Der Begriff ›Nachhaltigkeit‹ ist keine ursprünglich kommunalpolitische Kategorie, gehört jedoch mittlerweile »in die rhetorische Zauberkiste der Politiker« und »suggeriert Weitsichtigkeit und Handlungsfähigkeit« (Grabe 2010: 156). Das Nachhaltigkeitskonzept wird für verschiedene Sichtweisen auf aktuelle Krisenlagen verwendet, wodurch es letztlich zu einer Leerformel ohne wirklich gesellschaftsveränderungswirksamen Gehalt verkleinert wird (Ekhardt 2009a; Grabe 2010). Das grundsätzlich gesellschaftsverändernde Potenzial liegt darin, dass Nachhaltigkeit eine Wirtschafts- und Gesellschaftsform ist, die dauerhaft, das heißt über mehrere Generationen hinweg, und global lebbar ist. Im globalen Nachhaltigkeitsdiskurs werden drei Säulen als Maßstab und Leitlinien für nachhaltiges Handeln definiert: Ökologie, Wirtschaft und Soziales. Dabei werden diese Säulen im herrschenden Diskurs oft nur gegeneinander abgewogen und als Ergänzung zur bzw. Trennung von der neoliberalen Sozial- und Wirtschaftspolitik verstanden (Ekardt 2009b). Die Frankfurter Stadtentwicklungspolitik schließt sich diesem separierenden Drei-Säulen-Modell an, ohne eine Generationen- und Globalperspektive zu betonen oder überhaupt zu erwähnen (was im Übrigen nicht durch die Addition der Säule ›Kultur‹ gestärkt wird). Nachhaltigkeit im Sinne von intergenerationeller und globaler Gerechtigkeit bedeutet, Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wasser, Luft, fruchtbare Böden etc. künftiger Menschen zu erhalten und zu sichern. Und nicht, politische Entscheidungen zu treffen, um verschiedene Belange der Gegenwart miteinander in Einklang zu bringen (Stichwort »Zielkonflikte«, Stadtplanungsamt 2019: 3; Ekardt 2009a).

Verdrängung und Segregation als Folge nachhaltiger Stadtentwicklung Die ›Stadt für alle!‹-Bewegung thematisiert seit vielen Jahren die Auswirkungen der Aufwertung von Stadtvierteln und der Verdrängung von Mieter*innen. Nachhaltige Stadtentwicklung ist Teil dieser Strategien und Mechanismen. Die als »ökologische« oder »grüne Gentrifizierung« bezeichneten Phänomene (Holm 2011; Sander 2019) haben unterschiedliche

Frankfurts Stadtentwicklung – Nachhaltig für alle?

Träger – vor allem EU-Kommission, Bundes- und Lokalpolitik (Café 2Grad 2012: 98). Auf lokaler Ebene tragen etwa Maßnahmen zur grünen Umgestaltung von Stadtvierteln dazu bei, dass Mieten und Wohnkosten steigen und ursprüngliche ärmere Bewohner*innen an den Stadtrand verdrängt werden (Sander 2019: 31). Daneben führen Maßnahmen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen im Gebäudebereich zur Verdrängung von Mieter*innen. Wenn direkte und indirekte Emissionen zusammengezählt werden, trägt der Gebäudebereich etwa 30 % zu den in Deutschland freigesetzten CO2-Emissionen bei. Ursache dafür ist der hohe Energieverbrauch in (Wohn-)Gebäuden. Daher ist es eines der von verschiedenen Institutionen (EU-Kommission, Bundesregierung, Landes- und Kommunalpolitik) verfolgten Ziele, den CO2 Ausstoß im Gebäudebereich durch energetische Sanierungen zu reduzieren. Das Integrierte Stadtentwicklungskonzept 2030+ der Stadt Frankfurt formuliert das Ziel, »im Jahr 2030 eine führende Position als ›Energiestadt‹ in Deutschland« einnehmen zu wollen. Dazu will die Stadt den »energetischen Stadtumbau« planerisch begleiten und »private Grundeigentümer*innen mit Anreizen« aktivieren (Stadtplanungsamt 2019). Primär soll dies durch Vorgaben bei Neubauten und die nachträgliche Dämmung der Außenwände von Altbestand erreicht werden. Die Notwendigkeit der Reduzierung des Energieverbrauchs im Gebäudebereich ist unbestritten – doch treten hier bereits erste (versteckte) ökologische und soziale Folgewirkungen auf. Das Dämmmaterial, welches von außen an Häuserfassaden angebracht wird, besteht in den meisten Fällen aus erdölbasiertem Polystyrol, das zudem häufig giftiges Flammschutzmittel enthält. Die herkömmliche Art Häuser zu dämmen, ist also in den meisten Fällen wenig nachhaltig. Aus dem energetischen Stadtumbau resultieren Verdrängungseffekte, die ihre Ursache in der Umlage der Sanierungskosten auf die Miete haben (Pallaver 2019). Die Kosten von energetischen Sanierungen können nach § 559 BGB um bis zu 11 % auf die jährliche Miete umgelegt werden. Der Deutsche Mieterbund (DMB 2020) hat dazu festgestellt, dass »energetische Modernisierungen im Wohnungsbestand […] in der Regel Mieterhöhungen zwischen 2 und 3 Euro/m² nach sich [ziehen]. Selbst bei einer daraus resultierenden Reduzierung der Heizkosten von 50 bis 60 Prozent erhöhen sich die Wohnkosten um 20 bis 30 Prozent. Die Wohnkostenbelastung von derzeit durchschnittlich 30 Prozent würde auf 35 bis 38 Prozent steigen« (ebd.). Der Deutsche Mieterbund geht davon aus, dass diese Steigerung der Kaltmiete noch nicht einmal »ansatzweise durch eingesparte Heizkosten ausgeglichen werden kann« (ebd.). Die Folge ist Verdrängung, wie sie zum Beispiel im Frankfurter Gallusviertel stattfindet: Viele Mieter*innen können sich die Wohnungen, in denen sie leben, nicht mehr leisten.

Umweltkosten zu Lasten anderer Umweltbelastungen verursachen hohe Kosten für die Gesellschaft, etwa durch umweltbedingte Gesundheits- und Materialschäden, Ernteausfälle oder Schäden an Ökosystemen. Diese Umweltkosten sollten grundsätzlich internalisiert, also den Verursacher*innen angelastet werden (UBA 2019). Die Frankfurter Stadtentwicklung verursacht hohe Umweltkosten, da kontinuierlich und in wachsendem Umfang natürliche Ressourcen – insbesondere Wasser, Boden, Rohstoffe und Fläche – verbraucht werden. Diese Kosten werden externalisiert, das heißt vereinfacht gesagt, vom Verursacher – der Stadt Frankfurt – auf die Allgemeinheit, auf andere Regionen sowie

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auf nachfolgende Generationen abgewälzt. Am Beispiel der natürlichen Ressourcen Wasser und Boden wird dies besonders deutlich. Trotz der Häufung von Trockenjahren und einer »katastrophal schlechten Grundwasserneubildung« (SGV/AG Burgwald 2020) in den Kommunen, die in den Leitungs- und Versorgungsverbund Rhein-Main eingebunden sind, wird in Frankfurt weiter gebaut. Die Vorsitzenden der Schutzgemeinschaft Vogelsberg, Cécile Hahn, und der AG Burgwald, Anne Archinal, sind sich einig: »Es ist schon sehr beunruhigend zu sehen, dass hier zwar immer die kommunale Hoheit reklamiert wird, viele Parlamentarier oftmals aber gar nicht wissen, von wo ihr Wasser kommt und was eine Trinkwasserverschwendung in den Gewinnungsgebieten anrichtet« (ebd.). Der Vogelsberg ist eines der wichtigsten Wassergewinnungsgebiete für die Stadt Frankfurt und es droht dort ein gravierender Grundwasserraubbau, der sowohl für die Wasserversorgung als auch für den Naturraum kaum zu unterschätzende Gefahren mit sich bringen kann. Die Auswirkungen auf den Wasserhaushalt in der gesamten Region sind kurzfristig nicht absehbar, sondern auch in 50 Jahren noch wirksam (ebd.). Besonders zu nennen ist aber der Verlust des Bodens an sich. Die natür­ liche Bodenfruchtbarkeit wird durch eine Versiegelung massiv beeinträchtigt. Die Bodenorganismen sterben unwiderruflich, fruchtbarer oder eventuell sogar schutzwürdiger Boden geht verloren. Selbst bei einer Entsiegelung bleibt die Bodenstruktur gestört. Oftmals – in menschlichen Zeiträumen – unwiederbringlich (BUND Schleswig-Holstein 2019). Die Menschen, die in eines der geplanten Frankfurter Neubaugebiete ziehen, müssen ebenfalls Zugang zu regional und nachhaltig erzeugten hochwertigen Lebensmitteln haben. Auch aus Sicht des Frankfurter Ernährungsrats brauchen Frankfurt sowie die Städte und Gemeinden der Region ihre landwirtschaftlichen Flächen als Wuchsort für Nahrungsmittel (FR 09.12.2020). Für den Neubau und die zugehörige Infrastruktur wie Straßen, Ver- und Entsorgungsleitungen werden gewaltige Mengen an mineralischen Rohstoffen wie Kalk, Kies, Sand, Ton etc. verbraucht. Die Gewinnung und Weiterverarbeitung nicht-regenerativer Rohstoffe sind häufig energieintensiv, mit erheblichen Eingriffen in den Natur- und Wasserhaushalt verbunden und führen zu Emissionen von Schadstoffen in Wasser, Boden und Luft. Die Nutzung der natürlichen Ressourcen übersteigt schon jetzt die Regenerationsfähigkeit der Erde deutlich (UBA 2020). Neben den Folgen für die Umwelt hat die Nutzung natürlicher Ressourcen auch vielfältige soziale Auswirkungen. Mit dem Rohstoffabbau verbunden ist oft die Verseuchung des Trinkwassers und der Atemluft, die Folge sind Gesundheitsschäden. Hinzu kommen Landvertreibungen, Zwangsumsiedlungen und eine zunehmende Verarmung der lokalen Bevölkerung (zum Beispiel Dlf Kultur 2019). Ein großer Teil der Wertschöpfung der Rohstoffnutzung erfolgt in den Industrieländern, während sogenannte weniger entwickelte Länder häufig überproportional von den ökologischen und sozialen Auswirkungen der Rohstoffgewinnung betroffen sind. Durch die zunehmenden Importe von Rohstoffen und daraus hergestellten Gütern zur Umsetzung großzügiger Wohn- und Geschäftsbauten trägt die Stadt Frankfurt am Main aus einer Lebenszyklusperspektive eine Mitverantwortung für die ökologischen und sozialen Folgen in ländlichen Regionen und im globalen Süden.

Frankfurts Stadtentwicklung – Nachhaltig für alle?

›Stadt für alle!‹ – wie weiter? Was folgt aus all dem für die Stadtbewegungen? Aus unserer Sicht besteht noch viel Diskussions- und Forschungsbedarf. Ökologische Positionen haben es in der ›Recht auf Stadt‹-Bewegung schwer und sind, wenn überhaupt, nur ein Randaspekt. Die Debatte über die Zusammenhänge zerfällt in Einzelaspekte und ist »fragmentiert« (Vollmer/Michel 2020). Es geht darum, die Einzelaspekte stärker aufeinander zu beziehen und in einen gemeinsamen Kontext zu setzen. Dabei müssen sowohl soziale als auch ökologische Folgewirkungen untersucht und mitbedacht werden – im globalen Zusammenhang! Wichtige unterrepräsentierte Untersuchungsbereiche sind unter anderem Aspekte wie Steuer- und Bodenpolitiken (Vollmer/ Michel 2020 nennen als Beispiel die Klassendimensionen von Wohnverbrauch und Flächenversiegelung), aber auch die Politik und Akteur*innen vermeintlich nachhaltiger Stadtentwicklungskonzepte müssen genauer untersucht werden. Ebenso wenig darf die ›Recht auf Stadt‹-Bewegung an den Grenzen derselbigen haltmachen, sondern muss diese überschreiten, um das Verhältnis von Stadt und Land emanzipatorisch zu verändern. Dazu gehört auch, den steigenden Zuzug in Städte nicht mehr als ein »Naturgesetz« zu behandeln, sondern die Triebkräfte und Profiteure dieser Entwicklung zu analysieren (Vollmer/Michel 2020). Für die ›Recht auf Stadt‹-Bewegung sollte die Erkenntnis, dass es sich bei den großen Bedrohungen der Gegenwart und der Zukunft – Klimawandel und Verlust der biologischen Vielfalt – nicht um randständige ›Umweltprobleme‹ handelt, endlich in den eigenen Positionen reflektiert und die Analyse gesellschaftlicher Stadt- mit jener der gesellschaftlichen Naturverhältnisse verknüpft werden. Wie die Energiewende gelingen kann, wie Industrien und Regionen im Globalen Norden umgebaut und abgewickelt werden können, ohne dass dies auf Kosten der Arbeitenden stattfindet, oder wie genügend Lebensmittel für alle Menschen produziert werden können, ohne Zerstörung von Natur- und Lebensräumen durch die Agrarlandwirtschaft - Fragen wie diese müssen gemeinsam mit anderen diskutiert werden. Dafür müssen wir uns als Bewegung mit denen zusammentun, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, um die notwendigen gesellschaftlichen Verständigungsprozesse und -kämpfe zu führen.

Endnoten 1 www.frankfurt-greencity.de

Literaturverzeichnis BUND, Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland Schleswig-Holstein (2019): Versiegelung stoppen!, https://www.bund-sh.de/meldungen/detail/news/versiegelung-stoppen/ (Zugriff: 05.01.2021). Café 2Grad (2012): »Frankfurt in Zeiten der Grünen Ökonomie: Die Green City und ihre Akteure«, in: AK Kritische Geographie Frankfurt (Hg.), Wem gehört Frankfurt? Dokumentation des aktionistischen Kongresses vom März 2012, organisiert aus dem ›Wem gehört die Stadt?‹-Netzwerk, Frankfurt am Main: Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt, S. 94–104.

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Dlf Kultur, Deutschlandfunk Kultur (2019): Dorfbewohner wehren sich gegen Großkonzerne (28.08.2019), https://www.deutschlandfunkkultur.de/zementabbau-in-indonesien-dorfbewohner-wehren-sich-gegen.979.de.html?dram:article_id=457423 (Zugriff: 07.01.2021). DMB, Deutscher Mieterbund (2020): Massive Ausweitung der Förderung für die Erreichung der Klimaziele unerlässlich, PM vom 06.03.2020, https://www.mieterbund.de/presse/pressemeldung-detailansicht/article/55150-massive-ausweitung-der-foerderung-fuer-die-erreichung-der-klimaziele-unerlaesslich.html (Zugriff: 05.01.2021). DWD, Deutscher Wetterdienst (2020): Aus extrem wurde normal: Sommer in Deutschland, der Schweiz und Österreich immer heißer, PM vom 02.07.2020, https://www.dwd.de/DE/ presse/pressemitteilungen/DE/2020/20200702_dach_news.html (Zugriff: 05.01.2021). Ekardt, Felix (2009a): »Nachhaltigkeit und Recht: Eine kurze Anmerkung zu Smeddinck, Tomerius/ Magsig und anderen juristischen Ansätzen«, in: Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht 32 (2), S. 223–238. Ekardt, Felix (2009b): Inter- und transdisziplinäre Nachhaltigkeitstheorie: Governance, Transformation, Normativität, http://www.sustainability-justice-climate.eu/de/nachhaltigkeit.html (Zugriff: 03.01.2021). FR, Frankfurter Rundschau (09.12.2019): Die Großstädte wachsen weiter, https://www.fr.de/ rhein-main/grossstaedte-wachsen-weiter-13282990.html (Zugriff: 12.08.2020). FR, Frankfurter Rundschau (09.12.2020): Aufruf zu weniger Versiegelung in Frankfurt, https:// www.fr.de/frankfurt/aufruf-zu-weniger-versiegelung-in-frankfurt-90126809.html (Zugriff: 07.01.2021). Holm, Andrej (2011): »Ein ökosoziales Paradoxon – Stadtumbau und Gentrification«, in: politische ökologie 124 (1), S. 45–52. Pallaver, Greta (2019): Sanierung ohne Verdrängung. Energetische Gebäudesanierung zwischen Klimakrise und Recht auf Wohnen (= Analysen, 59), Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sander, Hendrik (2019): Städtische Umweltgerechtigkeit. Zwischen Progressiver Verwaltungspraxis und sozial-ökologischen Transformationskonflikten (=Analysen, 58), Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung. SGV, Schutzgemeinschaft Vogelsberg/AG Burgwald (2020): Daseinsvorsorge Wasser ist eine dringende kommunale Pflichtaufgabe, PM vom 03.10.2020, http://www.sgv-ev.de/wp-content/uploads/2020/10/Daseinsvorsorge-Wasser-ist-eine-dringende-kommunale-Pflichtaufgabe_PM-SGV-und-AG-Burgwald_03-10-2020.pdf (Zugriff: 07.01.2021). Stadtplanungsamt Frankfurt am Main (2019): Frankfurt 2030+. Wachstum nachhaltig gestalten – urbane Qualitäten stärken. Integriertes Stadtentwicklungskonzept, https://www.stadtplanungsamt-frankfurt.de/show.php?ID=18175 (Zugriff: 16.09.2019). UBA, Umweltbundesamt (2020): Ressourcennutzung und ihre Folgen, https://www.umweltbundesamt.de/themen/abfall-ressourcen/ressourcennutzung-ihre-folgen (Zugriff: 07.01.2021). UBA, Umweltbundesamt (2019): Gesellschaftliche Kosten von Umweltbelastungen, https://www. umweltbundesamt.de/daten/umwelt-wirtschaft/gesellschaftliche-kosten-von-umweltbelastungen#gesamtwirtschaftliche-bedeutung-der-umweltkosten (Zugriff: 06.01.2021). Vollmer, Lisa/Michel, Boris (2020): »Wohnen in der Klimakrise: Die Wohnungsfrage als ökologische Frage: Aufruf zur Debatte«, in: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 8 (1/2), S. 163–166.

Der Stachel des Widerspruchs: Wohnungspolitik und soziale Kämpfe in Frankfurt am Main Sebastian Schipper und Susanne Heeg

Einleitung1 Innerhalb der internationalen Arbeitsteilung nimmt die Stadt Frankfurt am Main als europäisches Finanzzentrum den Status einer Global City ein (—Ronneberger in diesem Band), woraus sich bezogen auf die Wohnraumversorgung drei Besonderheiten ergeben. Erstens bedingen die räumliche Konzentration von Einrichtungen der Finanzindustrie sowie die zahlungskräftige Wohnraumnachfrage der unter anderem dort beschäftigten, gehobenen Einkommensgruppen, dass Immobilienpreise und Mieten nach München zu den höchsten in Deutschland zählen. Zweitens resultiert das Frankfurter Wachstumsregime in einer vergleichsweise ausgeprägten Polarisierung der Einkommen und Vermögen. Einer zahlenmäßig großen Gruppe an Globalisierungsgewinner*innen mit hohen Einkünften stehen weite Teile der Bevölkerung gegenüber, die im Niedriglohnsektor beschäftigt sind, Prekarisierungserfahrungen machen und gegenwärtig von Verdrängungsprozessen bedroht sind (—Stein in diesem Band). Schließlich eröffnet drittens die privilegierte ökonomische Stellung der Stadt, welche sich in hohen Gewerbesteuereinnahmen und umfangreichen städtischen Vermögenswerten ausdrückt, finanzielle Ressourcen und stadtentwicklungspolitische Handlungsoptionen, über die zahleiche andere Kommunen in Deutschland unter Bedingungen kommunaler Austerität in der Form nicht verfügen. Allerdings haben städtische Entscheidungsträger*innen diese Handlungsmacht in den zurückliegenden Jahrzehnten kaum genutzt, um bezahlbaren Wohnraum für untere und mittlere Einkommensgruppen sicherzustellen. Die in Abschnitt zwei näher skizzierte Krise am Frankfurter Wohnungsmarkt wurde vielmehr durch die langjährige Tradition einer investorenfreundlichen und wachstumsfokussierten Stadtentwicklungspolitik (Heeg 2012) sowie durch die Neoliberalisierung der kommunalen Wohnungspolitik (Schipper 2018) wesentlich mithervorgebracht und verschärft. Erst in jüngerer Zeit ist es Mieter*inneninitiativen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren gelungen, das Thema soziale Wohnraumversorgung wieder auf die politische Agenda zu bringen (Abschnitt drei). Insgesamt ist die wohnungspolitische Akteurskonstellation in Frankfurt in den letzten Jahren von einer Regierungskoalition geprägt gewesen, in der marktliberale (CDU und Teile der Grünen) sowie wohlfahrtsstaatliche Positionen (SPD) miteinander konkurrieren, und grundlegende Alternativen für eine soziale und demokratisch organisierte Wohnraumversorgung von außerparlamentarischen Initiativen,

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Gewerkschaften und der Partei die Linke in die öffentliche Diskussion eingebracht worden sind. In unserem Beitrag wollen wir vor diesem Hintergrund drei Thesen stark machen. Erstens zeigen wir beispielhaft anhand des geförderten Sozialwohnungsbaus auf, dass die lokale Politik in Frankfurt zwar zögerlich begonnen hat, auch mit wohlfahrtsstaatlichen Strategien auf die Wohnungskrise zu reagieren. Allerdings sind die initiierten Maßnahmen bislang nicht geeignet, die Wohnungsnot, mit der sich vor allem untere Einkommensgruppen konfrontiert sehen, nennenswert abzuschwächen. Vielmehr verbleiben sie vom Umfang her auf einer symbolischen und wenig problemlösenden Ebene (Abschnitt vier). Zweitens werden wir argumentieren, dass die bislang geringe Wirkmächtigkeit kommunaler Wohnungspolitik insgesamt darin begründet liegt, dass innerhalb der bis zur Kommunalwahl im März 2021 amtierenden Regierungskoalition gegensätzliche gesellschaftliche Kräfte vertreten waren. Während die SPD durchaus auch wohlfahrtsstaatliche Instrumente (wie etwa den sozialen Wohnungsbau) stärken wollte, vertraten vor allem CDU und zum Teil die Grünen marktliberale Positionen. Es mangelte daher bisher am politischen Willen und der nötigen Einigkeit, die Bezahlbarkeit des Wohnens auch gegen private Renditeerwartungen durchzusetzen. Da im Zweifelsfall den Interessen der Immobilienwirtschaft Vorrang eingeräumt worden ist, wurden – wie wir exemplarisch anhand neu erlassener Milieuschutzsatzungen veranschaulichen – Maßnahmen des Mieter*innenschutzes ausgebremst oder nur halbherzig umgesetzt (Abschnitt fünf). Inwiefern sich dies im Rahmen einer neuen Regierungskonstellation ändert, bleibt abzuwarten. Schließlich werden wir drittens am Beispiel der Geschäftspraxis des städtischen Wohnungsunternehmens erörtern, wie es mit großem Einsatz und viel Kreativität außerparlamentarischen Initiativen gelungen ist, wohnungspolitische Veränderungen von unten zu erkämpfen (Abschnitt sechs).

Frankfurt zwischen Hochhausboom und Wohnungskrise Seit Mitte der 2000er Jahre und nochmal deutlich verstärkt seit 2009 sind in Frankfurt am Main, wie in vielen anderen Großstädten auch, die Wohnungspreise und Mieten rasant gestiegen. Auch wenn innenstadtnahe Wohngebiete überproportional von steigenden Wohnkosten betroffen sind (Mösgen/Schipper 2017), gilt mittlerweile für das gesamte Stadtgebiet, dass Haushalte mit niedrigen und mittleren Einkommen enorme Schwierigkeiten haben, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Konsequenz ist, dass einkommensschwache Schichten entweder ins Umland verdrängt werden oder deutlich mehr ihres verfügbaren Einkommens für die Miete ausgeben müssen. In den Zahlen des Wohnungsamtes spiegelt sich dieser Verdrängungsdruck etwa darin wider, dass zwischen 2009 und 2017 die als wohnungssuchend registrierten Personen mit Anspruch auf eine Sozialwohnung um 46 % auf knapp 24.000 angestiegen sind (Amt für Wohnungswesen 2019: 47). Besonders betroffen von der Wohnungskrise sind Migrant*innen unter anderem aus Osteuropa, die häufig prekär zu Niedriglöhnen im Bausektor arbeiten, jedoch kein Anrecht auf Sozialleistungen haben und deswegen in überbelegten Mietwohnungen oder selbstgebauten Hüttensiedlungen eine temporäre Bleibe finden (Künkel 2018). Ursächlich für diese Entwicklung sind drei Gründe. Erstens ist Frankfurt zwischen 2009 und 2018 um 14,5 % auf knapp 778.000 Einwohner*innen gewachsen, während das Wohnungsangebot im gleichen Zeitraum nur um gut 5 % zugenommen hat (Amt für Wohnungswesen 2019: 6). Zweitens wurde die Krise am Wohnungsmarkt durch die Finanzialisierung der

Wohnungspolitik und soziale Kämpfe in Frankfurt am Main

Wohnraumversorgung verstärkt (Heeg 2013). Angesichts der Finanzkrise von 2008 fließt vermehrt überschüssiges, anlagesuchendes Kapital in den als sicher geltenden Immobilienmarkt der Global City Frankfurt (Schipper/ Wiegand 2015). Hervorzuheben sind diesbezüglich zum einen mittelgroße börsennotierte Unternehmen und Investmentgesellschaften, die systematisch Bestandsgebäude mit vergleichsweise günstigen Mieten in der Absicht aufkaufen, die derzeitigen Bewohner*innen über Mieterhöhungen und Modernisierungsankündigungen zu verdrängen, um die dann freiwerdenden Wohnungen mit hohem Gewinn als Eigentumswohnung zu verwerten (—Ehlers in diesem Band). Zum anderen wird der Wohnungsneubau von internationalen Immobilienfonds und anderen renditeorientierten Kapitalanlegern dominiert, sodass in Frankfurt überwiegend gehobene Eigentumswohnungen zu Durchschnittspreisen von 6.130 €/m² (2018; + 12,5 % im Vergleich zum Vorjahr) sowie Mietwohnungen für 14 €/m² entstehen (Amt für Wohnungswesen 2019: 39). Ein neues und in Deutschland bislang einzigartiges Phänomen stellt dabei der Boom an luxuriösen Wohnhochhäusern dar. In einem vom Stadtplanungsdezernenten Mike Josef organisierten Fachsymposium zur Hochhausrahmenplanung am 1. März 2019 wurde von Durchschnittspreisen von 10.000 €/m² und Spitzenwerten von über 14.000 €/m² berichtet. Aktuell sind 5.000 Wohnungen in 22 Wohnhochhäusern im Bau beziehungsweise im fortgeschrittenen Planungsstadium, das heißt jede vierte Neubauwohnung in Frankfurt befindet sich in einem Hochhaus. Dass sich der durch Bevölkerungswachstum und Finanzkrise entstandene Druck auf dem Frankfurter Wohnungsmarkt so unmittelbar und wenig gebrochen in Verdrängungsprozesse übersetzt (Mösgen/Schipper 2017), kann drittens als Effekt einer tiefgreifenden Neoliberalisierung der (kommunalen) Wohnungspolitik interpretiert werden (Schipper 2018). Parteiübergreifend waren die politischen Entscheidungsträger*innen seit Mitte der 1990er Jahre primär bestrebt, die Wettbewerbsfähigkeit Frankfurts zu stärken und die Stadt als Wohnstandort für einkommensstarke Haushalte der Mittel- und Oberschichten attraktiv zu machen (Schipper 2013). Diese politische Stoßrichtung hat sich stadtplanerisch in sämtlichen Neubauprojekten der letzten Jahrzehnte materialisiert, die alle von gehobenem bis luxuriösem Wohnraum dominiert werden (Mösgen/Schipper 2017; Schipper/Wiegand 2015). Folglich überrascht es nicht, dass der Bestand an öffentlich geförderten Sozialwohnungen seit Anfang der 1990er Jahre von knapp 70.000 (= circa 20 % des Wohnbestandes) auf nun (Stand 2018) 25.000 Wohneinheiten (= 6,3 % des Wohnbestandes) drastisch zurückgegangen ist (s. Abb. 1). Dem stark reduzierten Bestand stehen laut einer Untersuchung des Instituts für Wohnen und Umwelt (2015: 13) 68 % aller Frankfurter Mieterhaushalte gegenüber, die Anspruch auf eine klassische Sozialwohnung (49 %) oder eine geförderte Wohnung im kommunalen Mittelschichtprogramm (19 %) haben. Dennoch wurden etwa im Jahr 2018 nur 65 Sozialwohnungen errichtet, was bei 4.900 Baufertigstellungen lediglich 1 % aller Neubauten entspricht. Darüber hinaus hat die Stadt Frankfurt ihre ehemals gemeinnützigen städtischen Wohnungsunternehmen 1991 in der ABG Frankfurt Holding zusammengefasst und gewinnorientiert restrukturiert. Konkret bedeutet dies, dass die ABG den kommunalen Wohnungsbestand seitdem umfangreich modernisiert, die Mieten ans Marktniveau angepasst, sich aus dem geförderten Wohnungsbau zurückgezogen, den Bau von Eigentumswohnungen betrieben und in klassischen Arbeitervierteln als Akteurin der Aufwertung und Gentrifizierung agiert hat (Schipper/Wiegand 2015).

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Die Rückkehr der Wohnungsfrage Die kommunale Wohnungspolitik erhielt in Frankfurt seit Mitte der 1990er Jahre wenig Aufmerksamkeit. Dies änderte sich erst ab 2011, da es einer neuen Welle von wohnungspolitischen Protesten gelang, die Wohnungsfrage wieder auf die politische Agenda zu setzen. Getragen wurde der erste, bis 2013 andauernde Protestzyklus vom außerparlamentarischen Netzwerk ›Wem gehört die Stadt?‹, dem ›Aktionsbündnis für bezahlbaren Wohnraum‹, welches von Gewerkschaften und linken Parteien (SPD, die Linke) dominiert wurde, sowie einer aktiven Hausbesetzer*innenszene, die insgesamt 15 Gebäude temporär okkupierte. Bemerkenswerterweise bestritt die regierende Koalition aus CDU und Grünen (2006 – 2016) in dieser Phase noch, dass es überhaupt einen Mangel an bezahlbaren Wohnungen gäbe. Erst als dies nicht mehr zu leugnen war, schwenkte die schwarz-grüne Koalition um, indem sie zwar das Problem als solches anerkannte, zu dessen Lösung jedoch auf marktliberale Strategien, hochpreisigen Neubau und das Engagement privater Investoren setzte. Die zweite, ab 2014 beginnende und bis heute andauernde Welle wohnungspolitischer Proteste, die wesentlich von Mieter*inneninitiativen und Stadtteilgruppen angestoßen worden ist, hält dem entgegen, dass bezahlbarer Wohnraum insbesondere für untere Einkommensgruppen nur jenseits von Marktmechanismen und gegen private Renditeinteressen durchgesetzt werden kann. Im Unterschied zur ersten Welle stehen in der zweiten realpolitische Forderungen stärker im Vordergrund. Beispielsweise wird die Stadt nun konkret aufgefordert, Milieuschutzsatzungen einzuführen und diese konsequent mit einem städtischen Vorkaufsrecht zu verknüpfen. Darüber hinaus wird verlangt, dass der Bestand an klassischen Sozialwohnungen deutlich ausgeweitet und das Fördersystem dahingehend restrukturiert wird, dass einmal geförderte Wohnungen dauerhaften Sozialbindungen unterliegen. Bezüglich des Umgangs mit öffentlichem Eigentum sei die Privatisierung von Immobilien zu beenden und stattdessen eine vorausschauende Bodenbevorratungspolitik zu etablieren, von der beispielsweise auch Genossenschaften und andere nicht-profitorientierte Akteure über Konzeptverfahren profitieren könnten. Zudem sei die städtische Wohnungsbaugesellschaft ABG Frankfurt Holding wieder auf eine gemeinnützige Geschäftspraxis zu verpflichten. Dazu müssten die Mieten eingefroren, ausschließlich geförderter Wohnungsbau betrieben und die Mieter*innen an den Unternehmensentscheidungen demokratisch beteiligt werden (Schipper 2018: 74 ff.). Auf kommunaler Ebene erfolgreich war die zweite Protestwelle insofern, als dass nach einem von wohnungspolitischen Themen dominierten Wahlkampf die schwarz-grüne Koalition im März 2016 insgesamt 16 % ihrer Stimmenanteile einbüßte und damit die Mehrheit im Stadtparlament verlor. In Folge trat die SPD in die Stadtregierung ein und ist seitdem bestrebt, ausgewählte Forderungen der Mieter*innenbewegung umzusetzen. Insgesamt kann man festhalten, dass die Wohnungsproblematik in Frankfurt von stadtpolitischen Initiativen auf die Agenda gebracht wurde. Auch die Lösungsvorschläge, die Marktmechanismen und private Rendite­ interessen zugunsten der Bezahlbarkeit des Wohnens einschränken wollen, wurden von zivilgesellschaftlichen Akteuren entwickelt, ausgearbeitet und in die öffentliche Debatte eingebracht. Die offizielle Politik hat das Thema dagegen lange Zeit ignoriert und dann vor allem marktliberale Strategien verfolgt. Erst mit dem Eintritt der SPD in die Regierungskoalition (2016 – 2021) lassen sich auch wohlfahrtsstaatliche Politikkonzepte erkennen, welche sich aber immer im Widerspruch zur marktliberalen Agenda der

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beiden anderen Koalitionspartnerinnen behaupten mussten. Die Konsequenzen dieser widersprüchlichen Konstellation werden wir exemplarisch an den Beispielen des sozialen Mietwohnungsbaus (Abschnitt vier), der Einführung von Milieuschutzsatzungen (Abschnitt fünf) und der Geschäftspraxis des kommunalen Wohnungsunternehmens (Abschnitt sechs) aufzeigen.

Die träge Rückkehr des sozialen Mietwohnungsbaus: Mehr Symbolpolitik als Problemlösung Der soziale Wohnungsbau in Frankfurt muss sich nach den Vorgaben des seit 2012 geltenden hessischen Wohnraumfördergesetzes richten. Demnach unterliegen Sozialwohnungen, die mit zinsgünstigen Darlehen und direkten Zuschüssen gefördert werden, im Förderzeitraum von maximal 20 Jahren einer Belegungs- und Preisbindung. Bestimmt sind die Wohnungen für Haushalte mit unteren und mittleren Einkommen, die sich am Wohnungsmarkt nicht angemessen mit Wohnraum versorgen können. Bei der Vergabe der Wohnungen hat das städtische Wohnungsamt ein Vorschlagsrecht, wobei die Kriterien Bedürftigkeit und Dringlichkeit darüber entscheiden, an wen die Wohnungen vermietet werden. Preisgebunden sind die Wohnungen, indem die Einstiegsmiete auf die lokal gültige ortsübliche Vergleichsmiete minus 20 % begrenzt ist. Da dies jedoch bezogen auf das hohe Mietniveau des Frankfurter Wohnungsmarktes zu Fördermieten führen würde, die die Zahlungsfähigkeit der Anspruchsberechtigten übersteigt, stellt die Stadt aus kommunalen Mitteln weitere zinslose Darlehen und Zuschüsse bereit, um die Sozialmiete auf 5,00 bis 6,50 €/m² abzusenken. Seit Anfang der 1990er Jahre ist der Bestand an derartigen Wohnungen angesichts nur marginaler Neubauzahlen und auslaufender Bindungen rasant auf gut 25.000 Wohneinheiten gesunken (s. Abb. 1). Gleichzeitig hat knapp die Hälfe aller Mieterhaushalte vom Einkommen her Anspruch auf eine preisgebundene Sozialwohnung (IWU 2015: 13). Aufgrund dieses

70.000

Abbildung 1: Bestand an Sozialwohnungen und Belegungsrechten in Frankfurt am Main 1990 bis 2018 (Quelle: Amt für Wohnungswesen).

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50.000 44.154 38.242

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Sozialwohnungen im 1. Förderweg

2004

2006

2.152

865

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2008

2010

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Ankauf von Belegungsrechten im Bestand

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Themen und Konflikt­felder

Missverhältnisses wird die Warteliste beim Amt für Wohnungswesen immer länger, sodass mittlerweile 9.833 Haushalte beziehungsweise knapp 24.000 Personen als wohnungssuchend registriert sind; davon fast die Hälfe in der höchsten Dringlichkeitsstufe der Wohnungslosen (Amt für Wohnungswesen 2019: 47 f.). Angesichts dieser Zustände und auch vor dem Hintergrund der wohnungspolitischen Proteste kündigte die Stadtregierung nach zwei Jahrzehnten des Rückzugs aus dem sozialen Wohnungsbau 2014 an, den Bestand wieder ausweiten zu wollen. Dazu wurden zum einen die kommunalen Wohnungsbaufördermittel auf 45 Millionen € verdoppelt (und ab 2019 nochmals auf 60 Millionen € erhöht) und zum anderen eine soziale Bodenordnung erlassen. Wie im Folgenden gezeigt wird, sind allerdings beide Instrumente in ihrer jetzigen Form nicht geeignet, die Zahl der Sozialwohnungen nennenswert zu erhöhen und die Wohnungsnöte unterer Einkommensgruppen abzuschwächen. Die erste Variante einer sozialen Bodenordnung wurde bereits im Jahr 2014 unter dem grünen Stadtplanungsdezernenten Olaf Cunitz (2012 bis 2016) verabschiedet. Diese sah vor, dass private Investoren in Neubauprojekten eine Quote von 30 % gefördertem Wohnraum zu realisieren haben. Im Unterschied zur verbindlicheren Praxis etwa in Hamburg oder Berlin war die bis 2019 geltende soziale Bodenordnung in Frankfurt allerdings flexibel als ›Soll‹- und nicht als ›Muss‹-Bestimmung formuliert. Zudem gab es auch keine feste Quote für klassische Sozialwohnungen, sodass der Vorgabe auch durch den Bau geförderter Mittelschichtwohnungen für höhere Einkommensgruppen entsprochen werden konnte (Schipper 2018: 88). In der Praxis hat das Stadtplanungsamt unter Olaf Cunitz diese selbst geschaffene Flexibilität regelmäßig genutzt, um den Interessen privater Investoren entgegenzukommen und weitgehend auf sozialpolitische Vorgaben zu verzichten. Folglich wurde in dieser Phase bei keinem Bauvorhaben die 30 % Quote auch nur annähernd erreicht (Mösgen/Schipper 2017; Schipper/Wiegand 2015). Im Jahr 2016 erteilte die Stadt beispielsweise Baugenehmigungen für 5.581 Wohnungen, wovon nur 88 Sozialwohnungen waren (Amt für Wohnungswesen 2018: 46). Der neue, seit 2016 amtierende Stadtplanungsdezernent Mike Josef (SPD) hat angekündigt, diese Praxis ändern zu wollen, wozu im Frühjahr 2020 ein neuer Baulandbeschluss verabschiedet worden ist. Zwar ist auch in dieser überarbeiteten Variante die flexible ›Soll‹-Bestimmung beibehalten worden. Allerdings ist nun vorgeschrieben, dass innerhalb der Quote von 30 % geförderter Wohneinheiten die Hälfte klassische Sozialwohnungen sein müssen. Zudem sollen weitere 15 % der Gesamtwohnfläche mittels Konzeptvergabeverfahren an gemeinschaftliche und genossenschaftliche Wohnprojekte vergeben sowie 10 % für preisreduzierte Eigentumswohnungen vorgehalten werden. Inwiefern der neue Baulandbeschluss zukünftig in der konkreten Planungspraxis tatsächlich auch konsequenter als bisher gegen private Investoreninteressen durchgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Mit 65 fertiggestellten Sozialwohnungen im Jahr 2018 und weiteren 181 im Jahr 2019 ist bislang allerdings noch keine nennenswerte Trendwende zu erkennen.2 Was die Erhöhung der kommunalen Fördermittel betrifft, ist zu berücksichtigen, dass knapp die Hälfe des Budgets auf das städtische Mittelschichtprogramm entfällt, welches sich an Haushalte richtet, deren bereinigtes Jahreseinkommen über den Höchstgrenzen der hessischen Richtlinien für den sozialen Wohnungsbau liegen. Im Unterschied zur Miete von 5,00 bis 6,50 €/m² bei klassischen Sozialwohnungen kommt das

Wohnungspolitik und soziale Kämpfe in Frankfurt am Main

Mittelschichtprogramm auf eine nach Einkommen gestaffelte Mietbelastung von 8,50 bis 10,50 €/m². Darüber hinaus werden weitere Wohnbaufördermittel genutzt, um Belegungsrechte im Bestand zu erwerben und Wohnungen für eine Dauer von 10 bis 15 Jahren in die Preis- und Belegungsbindung zu nehmen. Dazu zahlt die Stadt den Eigentümer*innen die Differenz zwischen Sozialmiete und ortsüblicher Vergleichsmiete sowie eine Aufwandspauschale. Allerdings gelingt es der Stadt nicht, private Vermieter*innen von ihrem Programm zu überzeugen. Über 90 % der Belegungsrechte werden von den beiden öffentlichen Wohnungsunternehmen erworben, der städtischen ABG Frankfurt Holding und der landeseigenen Nassauischen Heimstätte (Schipper 2018: 85). Dies führt zu dem paradoxen Phänomen, dass die Stadt mit öffentlichen Mitteln der Wohnbauförderung bei öffentlichen Wohnungsunternehmen Belegungsrechte von Wohnungen erwirbt, deren Bau bereits jahrzehntelang öffentlich subventioniert wurde. Insofern die kommunalen Fördermittel in den Bau von Sozialwohnungen fließen, nutzt die Stadt Frankfurt seit 2017 ihren Einfluss auch, um den Förderzeitraum und damit die Bindungsfristen von 20 auf 30 Jahre zu verlängern. Allerdings hat die Stadt keinerlei Handhabe, gegen das Hessische Wohnraumfördergesetz vorzugehen, wonach Investoren seit 2012 die Möglichkeit haben, Darlehen vorzeitig zurückzuzahlen und ihre vormals preisgebundenen Sozialwohnungen dann bereits nach fünf Jahren zu Marktbedingungen zu verwerten. Nach Angaben des Stadtplanungsamtes führt dies in Frankfurt dazu, dass zwischen 2017 und 2021 aufgrund bereits erfolgter Rückzahlungen insgesamt 2.899 Sozialwohnungen frühzeitig aus der Bindung fallen (ebd.: 99). Zudem verlieren bis zum Jahr 2030 mehr als 6.200 Wohnungen aufgrund regulär auslaufender Bindungen ihren Status als Sozialwohnungen. Selbst wenn es der Stadt gelänge, ihre ambitionierten Pläne umzusetzen (ebd.: 86), nämlich im gleichen Zeitraum 2.200 geförderte Wohneinheiten zu errichten und 3.250 Belegungsrechte im Bestand zu erwerben, kann der gleichzeitige Wegfall von Sozialbindungen auch nicht annähernd kompensiert werden. Eine nennenswerte Ausweitung des Bestandes an Sozialwohnungen ist daher ausgeschlossen. Da sich zudem an der temporär ausgerichteten Logik des Fördersystems nichts ändert, entsteht auch mit den zusätzlichen städtischen Mitteln weiterhin kein dauerhaft gebundener Bestand an dringend benötigten Sozialwohnungen. Anders wäre dies, wenn die Stadt Frankfurt ihr kommunales Wohnungsunternehmen zum Bau von Sozialwohnungen verpflichten und dauerhafte Bindungen vereinbaren würde. Da die ABG jedoch auch deutlich weniger Sozialwohnungen neu baut als gleichzeitig bei ihr aus der Bindung fallen, sinkt der Bestand an preis- und belegungsgebundenen Wohnungen im kommunalen Eigentum ebenfalls seit Jahren. Die Erhöhung der Fördermittel und die Einführung einer sozialen Bodenordnung vermögen also bestenfalls den stark abgeschmolzenen Bestand an Sozialwohnungen auf niedrigem Niveau zu stabilisieren. Sie sind daher dem aktuellen Problem des Mangels an preisgebundenem Wohnraum nicht angemessen. Insbesondere im Vergleich zu den umfangreichen städtischen Interventionen in früheren Phasen von Wohnungsnot – etwa in den 1920er Jahren mit dem »Neuen Frankfurt« (Prigge/Schwarz 1988), in den Nachkriegsjahrzehnten (Tharun/Körner 2001) oder selbst noch Anfang der 1990er Jahre (Schipper 2013: 351) – wirken die gegenwärtigen Versuche zaghaft. Statt die Wohnungsnöte unterer Einkommensgruppen wirklich abzuschwächen, erzielen die Strategien quantitativ eine lediglich symbolische Wirkung. Dies liegt zum einen an den gesetzlichen Rahmenbedingungen auf Landesebene, die keinen dauerhaft preisgebundenen Wohnungsbestand

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vorsehen und die soziale Wohnraumversorgung von privaten Renditeerwartungen abhängig machen; zum anderen jedoch auch am mangelnden politischen Willen auf lokaler Ebene, die bestehenden Instrumente, rechtlichen Möglichkeiten und das kommunale Wohnungsunternehmen konsequent für eine Ausweitung des öffentlich geförderten Wohnungsbaus einzusetzen.

Zum Scheitern verurteilt? Die Milieuschutzsatzungen in Frankfurt Um der Verdrängung der Wohnbevölkerung im Bestand und damit einer weiteren sozialen Entmischung entgegenzuwirken, hat die Stadt Frankfurt – wie von Mieter*inneninitiativen gefordert – zuerst 2015 im innerstädtisch gelegenen Bockenheim und dann im Dezember 2018 in sechs weiteren zentralen Bereichen Milieuschutzsatzungen erlassen. Mit dem Ziel, angemessenen Wohnraum für untere und mittlere Einkommensgruppen zu erhalten, werden dort der Abbruch und die Umnutzung von Wohnungen in Gewerbe, die Zusammenlegung von Wohnungen zu einer Großwohnung von mehr als 130 m², das Anbringen von Balkonen mit einer Fläche von mehr als 8 m² sowie Personenaufzüge, die nur die oberen Geschosse erschließen, unter Genehmigungsvorbehalt gestellt und einzelfallbezogen geprüft. Bauliche Modernisierungsmaßnahmen, die der Herstellung eines zeitgemäßen Ausstattungsstandards dienen, sind davon ausdrücklich ausgenommen. Darüber hinaus kann die Stadt in den Milieuschutzgebieten bei einem Eigentümerwechsel intervenieren und von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch machen, wenn sich der neue Immobilieninvestor weigert, eine Abwendungsvereinbarung zum Schutz der bisherigen Mieter*innen abzuschließen. Obschon mit der Einführung von Milieuschutzsatzungen eine zentrale Forderung der Mieter*inneninitiativen aufgegriffen wurde, kritisieren diese die konkrete Ausgestaltung vehement. Im Unterschied zur kommunalen Praxis in Berlin, Hamburg oder München seien die Satzungen in Frankfurt zu »zahnlosen Tigern« (Frankfurter Mieterinitiativen 12.12.2018) verkommen. Die Gründe für die geringe Wirkmächtigkeit der Satzungen sind vielschichtig. Erstens ist der Kriterienkatalog der genehmigungspflichtigen Baumaßnahmen vergleichsweise eng gefasst, sodass Investoren bei Modernisierungsvorhaben weiterhin über beträchtliche Spielräume verfügen. Zweitens haben stadtpolitische Entscheidungsträger*innen den Erlass der Satzungen zeitlich lange hinausgezögert, sodass zwischen Beschlussfassung im Februar 2015 und tatsächlicher Umsetzung fast vier Jahre vergangen sind. Die statistischen Daten, die in den sozialräumlichen Studien zur Abgrenzung der Gebiete verwendet und auf deren Grundlage Aufwertungspotenziale und Verdrängungsgefahren analysiert wurden, stammen gar aus dem Jahr 2013. Daher ist davon auszugehen, dass im Vergleich zur Situation vor sechs Jahren Verdrängungsprozesse in den heutigen Satzungsgebieten vielerorts bereits weit vorangeschritten sind und sich darüber hinaus räumlich in andere Bereiche und peripherere Stadtteile ausgedehnt haben. Die Wirkung der Satzungen wird drittens beschränkt, weil es der Stadt lange Zeit nicht möglich war, die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen genehmigungspflichtig zu machen. Erst im Juni 2020 hat die schwarz-grüne Landesregierung eine entsprechende Rahmenverordnung erlassen, welche es den hessischen Kommunen nun gestattet, dem Geschäft mit der Umwandlung von Mietwohnungen die Genehmigung zu untersagen. Schließlich macht die Stadt viertens nur selten von ihrem gesetzlichen Vorkaufsrecht Gebrauch. Seit Mitte 2016 hat das SPD-geführte Stadtplanungsamt zwar begonnen, das Instrument des Vorkaufsrechts in Fällen anzuregen, bei denen

Wohnungspolitik und soziale Kämpfe in Frankfurt am Main

der Verlust von preiswertem Wohnraum droht. Tatsächlich umgesetzt hat das mit der Durchführung betraute und dem Dezernat für Liegenschaften (CDU) unterstellte Amt für Bau und Immobilien die Empfehlungen in den Jahren 2016 bis 2019 allerdings nur in 15 Fällen.3 Im Gegensatz zur Auffassung des Stadtplanungsdezernats hielt das Liegenschaftsdezernat die Mieter*innenstruktur in der Mehrzahl der Fälle für nicht schützenswert, weshalb es den Ankauf der Gebäude verweigerte. Der beschränkte Kriterienkatalog genehmigungspflichtiger Baumaß­ nahmen, die zeitliche Verzögerung bei der Einführung, die enge räumliche Begrenztheit sowie die seltene Anwendung des Vorkaufsrechts veranschaulichen exemplarisch, wie potenziell wirksame Mechanismen des Mieter*innenschutzes zwischen den an der bisherigen Koalition beteiligten Interessensblöcken zerrieben wurden. Während die SPD und die von ihr geführten Stadtplanungs- und Wohnungsämter mittlerweile bereit sind, private Renditeinteressen in gewissem Rahmen einzuschränken, wurden diese Bestrebungen insbesondere von dem CDU-geführten Liegenschaftsdezernat ausgebremst. Um die verwaltungsinternen Blockaden zwischen den städ­ tischen Ämtern und Dezernaten aufzubrechen, fordern Mieter*inneninitiativen – bislang allerdings vergeblich –, sämtliche Zuständigkeiten im Kontext der Milieuschutzsatzungen im Stadtplanungsdezernat zu bündeln. Dadurch ließen sich – so die Hoffnung der Initiativen – die institutionellen Voraussetzungen schaffen, um das kommunale Vorkaufsrecht intensiver zu nutzen, den Katalog genehmigungspflichtiger Baumaßnahmen zu verschärfen und weitreichendere Abwendungsvereinbarungen auszuhandeln, die etwa auch eine Deckelung der Mieten, strenge Modernisierungsauflagen und eine Verlängerung von Belegungsbindungen öffentlich geförderter Wohnungen vertraglich festschreiben (Frankfurter Mieterinitiativen 12.12.2018).

Vom Mietenstopp zum Mietentscheid: Zivilgesellschaftliche Interventionen Um bezahlbaren Wohnraum zu sichern, hat die Stadt Frankfurt mit ihrem kommunalen Wohnungsunternehmen ABG Holding ein potenziell sehr effektives Instrument an der Hand. Die ABG verfügt über 52.924 Wohnungen, wovon 36.608 frei finanziert und 16.316 preisgebunden sind (Stand 2019). Im Verhältnis zum Frankfurter Wohnungsangebot entspricht dies circa 18 % aller Mietwohnungen. In den Jahren 2011 bis 2014 hat die ABG Jahresüberschüsse von 50 bis 68 Millionen € erzielt, zwischen 2015 und 2019 ist diese Summe zwischenzeitlich auf über 110 Millionen € gestiegen. Da der überwiegende Anteil der Gewinne im Unternehmen verbleibt, ist die Eigenkapitalquote der Holding kontinuierlich von 18,8 % (2001) auf 39,3 % (2019) angewachsen. Seit Anfang der 1990er Jahre ist die Geschäftspolitik der ehemals gemeinnützigen Gesellschaft darauf ausgerichtet gewesen, Mieten sukzessive ans Marktniveau anzupassen und im Neubau größtenteils freifinanzierte Miet- und Eigentumswohnungen für mittlere und höhere Einkommensgruppen zu errichten (Schipper/Wiegand 2015: 22 ff.). Mit dem langfristigen Ziel, die Geschäftspraxis des kommunalen Unternehmens wieder gemeinnützig auszurichten, haben seit Anfang 2014 zahlreiche Mieter*inneninitiativen, die Gruppe ›Eine Stadt für Alle! Wem gehört die ABG?‹, die Linke sowie später auch Gewerkschaften und die SPD gemeinschaftlich gefordert, die Mieten nur noch symbolisch zu erhöhen. Bis zum Frühjahr 2016 wurde dieses Anliegen vehement vom schwarz-grünen Magistrat und der Führungsebene der ABG bekämpft, um politische Eingriffe in die unternehmerische Freiheit der Geschäftsführung möglichst zu

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Themen und Konflikt­felder

verhindern. Nachdem die schwarz-grüne Regierungskoalition allerdings bei der Kommunalwahl im März 2016 ihre Mehrheit im Stadtparlament verloren hat, konnte die SPD als neue Koalitionspartnerin die Forderung der Mieter*inneninitiativen nach einem Mietenstopp schließlich umsetzen (—Ehlers in diesem Band). Seitdem dürfen die Bestandsmieten bei der ABG nur noch maximal um 1 % pro Jahr steigen (Schipper 2018: 90 ff.). An diesen Erfolg anknüpfend gründete sich Ende 2017 das Bündnis Mietentscheid, um mittels eines Bürgerbegehrens durchzusetzen, dass in Frankfurt mehr preis- und belegungsgebundener Wohnraum für untere und mittlere Einkommensgruppen entsteht. In einem ersten Schritt ist es dem Mietentscheid zwischen August und Dezember 2018 gelungen, über 25.000 Unterschriften zu sammeln und damit das notwendige Quorum von 3 % der Wahlberechtigten deutlich zu übertreffen. Allerdings sind die Widerstände gegen den Mietentscheid seitens des Magistrats und der Geschäftsführung der ABG vehement. So hat die Stadt nach Abgabe der Unterschriften den Fortgang des Verfahrens durch Untätigkeit um mehr als ein Jahr verzögert. Ihre Entscheidung, das Bürgerbegehren für rechtlich unzulässig zu erklären, wurde erst im Februar 2020 bekannt gemacht. Gegen diese Entscheidung hat der Mietentscheid nun Klage beim Verwaltungsgericht eingereicht. Das Bündnis rechnet sich gute Chancen aus, den Prozess gewinnen zu können; allerdings ist der Termin des Bürgerentscheids erst einmal auf unbestimmte Zeit verschoben (—Hahn/Hemmerich in diesem Band). Unabhängig von dem Ausgang des Verfahrens verdeutlichen die Beispiele Mietenstopp und Mietentscheid, dass in Frankfurt grundlegende Veränderungen kommunaler Wohnungspolitik städtischen sozialen Bewegungsdynamiken entspringen und nicht der institutionalisierten Politik. Es sind Akteure zivilgesellschaftlicher Netzwerke, die innovative wohnungspolitische Konzepte entwickeln, wie Wohnraum im Interesse unterer und mittlerer Einkommensgruppen kapitalistischen Verwertungsprozessen entzogen und als soziale Infrastruktur demokratisch reorganisiert werden kann. Indem sie in verfestigte Machtverhältnisse intervenieren und rechtliche Spielräume direkter Demokratie nutzen, gelingt es ihnen zumindest punktuell auch über die Rolle der Stichwortgeberin hinauszugehen und kommunale Wohnungspolitik substanziell zu beeinflussen.

Es bleibt viel zu tun… Es lässt sich feststellen, dass die Frankfurter Wohnungspolitik von gegensätzlichen Tendenzen und Kräften gekennzeichnet ist. Angestoßen durch außerparlamentarische Bewegungen und Initiativen sind aus dem Stadtplanungsdezernat Anstrengungen zu erkennen, privatwirtschaftliche Wohnungsbauprojekte durch alternative Ansätze im Bereich des öffentlichen, genossenschaftlichen und gemeinschaftlichen Wohnungsbaus zu ergänzen. Zugleich waren innerhalb der bis zum März 2021 amtierenden Regierungskoalition aber ebenso Kräfte stark, die diesen Bemühungen mit dem Argument entgegenstanden, dass nur mehr privatwirtschaftlicher Neubau die Wohnungsnot löst. Ähnlich wie in anderen Städten ist deren Slogan »bauen, bauen, bauen«; obschon privatwirtschaftlicher Wohnungsbau fast ausschließlich hochpreisiger Wohnungsbau bedeutet und insgesamt auch nicht zu einer Marktentspannung führt, sondern die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt vielmehr zusätzlich verschärft. In diesem Sinne stellen wir Brüche in der neoliberalen Wohnungspolitik fest; wobei allerdings zugleich unbeirrt ein Wachstumsdogma vorherrscht, was sich daran zeigt, dass auch der SPD-Oberbürgermeister trotz Wohnungskrise um Brexit-Banken

Wohnungspolitik und soziale Kämpfe in Frankfurt am Main

wirbt und die Stadt auf allen großen Immobilienmessen als lukrativer Standort präsentiert wird. Diese widersprüchlichen Positionen lassen sich auch an den aktuellen großen Wohnungsbauprojekten ablesen. Aufgrund des Drucks durch städtische Bewegungen werden Ideen im sozialdemokratischen Milieu wie der Baulandbeschluss oder die Beschränkung weiterer Wohnhochhäuser auf bereits ausgewiesenen Hochhausstandorten formuliert, deren Realisierung aber noch ausstehen. Trotz unserer abwägenden und vorsichtigen Einschätzung muss aber festgehalten werden, dass wohlfahrtsstaatliche Strategien in der gegenwärtigen wohnungspolitischen Diskussion dabei sind, zumindest eine realpolitische Option zu werden. Inwiefern sich diese innerhalb der neuen Regierungskoaltion behaupten können, bleibt abzuwarten. Das Beispiel Frankfurt zeigt, dass es politischen Drucks von unten bedarf, damit auch jene in der Wohnungspolitik mitgedacht werden und mitreden können, die allenfalls durchschnittliche oder niedrigere Einkommen haben. Nur wenn bei der Planung von Wohnungsbauprojekten auch die Zivilgesellschaft beteiligt wird, sind Änderungen zu erwarten. In der Frankfurter Wohnungspolitik sind erste Anzeichen diesbezüglich erkennbar. Es ist aber noch viel zu tun, damit Wohnungen der Marktverwertung entzogen werden können.

Endnoten 1

Bei dem Beitrag handelt es sich um eine stark gekürzte und gleichzeitig aktualisierte Version des Artikels »Wohnungspolitik in Frankfurt am Main. Widerstreitende Positionen und gegensätzliche Entwicklungen«, erschienen in Dieter Rink und Björn Egner (2020): Lokale Wohnungspolitik. Beispiele aus deutschen Städten. Baden-Baden: Nomos, 119–135.

2

https://www.stvv.frankfurt.de/download/F_2713_2020.pdf

3

https://parlis.frankfurt.de/download/F_1853_2019.pdf

Literaturverzeichnis Amt für Wohnungswesen Frankfurt am Main (2019): Wohnungsmarktbericht 2018, https:// frankfurt.de/-/media/frankfurtde/service-und-rathaus/verwaltung/aemter-und-institutionen/ amt-fuer-wohnungswesen/pdf/wohnungsmarktberichte/wohnungsmarktbericht-2018.ashx (Zugriff: 30.10.2020). Amt für Wohnungswesen Frankfurt am Main (2018): Wohnungsmarktbericht 2017, https:// frankfurt.de/-/media/frankfurtde/service-und-rathaus/verwaltung/aemter-und-institutionen/ amt-fuer-wohnungswesen/pdf/wohnungsmarktberichte/wohnungsmarktbericht-2017.ashx (Zugriff: 30.10.2020). Heeg, Susanne (2013): »Wohnungen als Finanzanlage. Auswirkungen von Responsibilisierung und Finanzialisierung im Bereich des Wohnens«, in: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 1, S. 75–99. Heeg, Susanne (2012): »Flexibel bis zum Anschlag: Bauen und Planen für die Global City Frankfurt«, in: AK Kritische Geographie Frankfurt (Hg.), Wem gehört Frankfurt? Dokumentation des aktionistischen Kongresses vom März 2012, Frankfurt am Main: Institut für Humangeographie, S. 75–85. IWU, Institut für Wohnen und Umwelt (2015): Schätzung der im Frankfurter Programm für familien- und seniorengerechten Mietwohnungsbau berechtigten Haushalte, Darmstadt: IWU. Künkel, Jenny (2018): »Die städtische Produktion von „Armutsmigration“. Soziale Kämpfe um prekäres Wohnen in Frankfurt am Main«, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 191, S. 283–298.

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Themen und Konflikt­felder

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Bodenpreise und Bodenpreispolitik in Frankfurt/Rhein-Main Bernd Belina

Warum ist Boden eine spezielle Ware? Boden ist eine spezielle Ware. Anders als etwa die Gebäude, die auf ihm stehen, wird Boden nicht hergestellt. Er ist einfach da, und zwar in genau dem Umfang, den die Erdoberfläche hergibt. Zur Ware, die ge- und verkauft werden kann, wird Boden nur dadurch, dass er jemandem gehört, jemandes Eigentum ist. Eigentum bedeutet Ausschluss: Die beziehungsweise der Eigentümer*in kann Dritten verbieten, den Boden zu nutzen, ja zu betreten.1 Einerseits. Andererseits ist Boden die – im Wortsinn – Grundlage für alles, was in einer Gesellschaft stattfindet, denn alles muss irgendwo sein: offensichtlich etwa Wohnraum oder Infrastrukturen, aber auch zum Beispiel die Server und Leitungen, die den vermeintlich ›virtuellen Raum‹ des Internets ermöglichen, oder die geheimen Militäranlagen, die Regierungen am liebsten aus dem Blickfeld verschwinden lassen würden (Paglen 2010). Außerdem unterscheidet sich Boden im Hinblick auf die Nutzungsmöglichkeiten ebenso wie auf den Preis nach seiner Lage. Ein Hafen ergibt nur am Wasser Sinn und Büros werden dort errichtet, wo das Geschäft stattfindet. Die Lage des Bodens wird so zu einer seiner wesentlichen Eigenschaften. Diese drei Eigenschaften des Bodens – unvermehrbares Gut, notwendige Grundlage von allem und nach Lage differenziert – machen ihn zu einer speziellen Ware; und sie bestimmen seinen Preis. Je höher die zahlungsfähige Nachfrage nach Boden an einem bestimmten Ort, desto höher die dortigen Bodenpreise; und damit auch die Pacht- und Mietkosten. In der Konkurrenz um Boden setzt sich auf dem Markt stets der dickste Geldbeutel durch. Weil es in Städten aber auch Parks und Parkplätze, Kitas und Kunstmuseen sowie viele weitere zahlungsschwache Nutzungen an geeigneten Orten braucht, greift der Staat im Rahmen festgelegter Regeln planend ein. Die wichtigsten finden sich im Baugesetzbuch (BauGB). In ihm ist zum Beispiel geregelt, wie die Bodennutzung festgelegt wird (grob in Flächennutzungsplänen, detailliert in Bebauungsplänen), wie und wo die Gemeinde ein Vorkaufsrecht ausüben kann, welche speziellen Gebiete sie ausweisen kann, um dort Sanierungs- oder Entwicklungsmaßnahmen einzuleiten, dass und wie die ›Bodenrichtwerte‹ (s. unten) berechnet werden sowie schließlich auch, unter welchen Bedingungen Grundstücke im Dienste des Gemeinwohls (gegen Entschädigung) enteignet werden können. Insbesondere in prosperierenden Städten und Regionen lässt sich viel Geld damit verdienen, Boden zu verpachten oder ihn nur spekulativ zu

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Themen und Konflikt­felder

kaufen, um ihn weiterzuverkaufen. Beide Arten Geld zu erwirtschaften werden als ›leistungslose Profite‹ bezeichnet, weil mit dem Handelsgut Boden nichts getan wird, außer es zu verpachten (dann heißt das Einkommen ›Grundrente‹ oder ›Bodenrente‹) beziehungsweise es zu kaufen, zu warten und zu verkaufen (dann heißt es ›Spekulationsgewinn‹). Die Einnahmen aus Verpachtung skandalisierte John Stuart Mill – als prominenter Protagonist liberaler Wirtschaftstheorie des Sozialismus oder dergleichen komplett unverdächtig – bereits 1848 in klaren Worten: »Man nehme den Fall an, dass eine Art von Einkommen die Tendenz habe, sich beständig zu vermehren, ohne Zutun oder Anstrengung irgendeiner Art vonseiten der Eigentümer, welche dadurch zu einer Klasse der Gesellschaft werden, die bei völliger Passivität ihrerseits der natürliche Lauf der Dinge fortwährend bereichert. […] Dieser Fall besteht nun aber in Wirklichkeit bei der Bodenrente« (zit. n. Senft 2013: 71). Die andere Seite der ›leistungslosen Profite‹ ist immer und notwendig, dass irgendjemand für sie aufkommen muss. Bei Pacht oder Miete sind das Wohnungsmieter*innen, die sie aus Lohn oder Transferleistungen, ferner Unternehmen, die sie aus ihren Gewinnen, oder staatliche Einrichtungen, die sie aus Steuern und Abgaben bezahlen. Bei spekulativ hochgetriebenen Kaufpreisen kommen dieselben Geldquellen in Frage, also Lohn und dergleichen bei Selbstnutzer*innen von Wohneigentum, Gewinne bei Unternehmen und Steuern und Abgaben beim Staat. Hinzu kommen fast immer Kredite, die mit Zins zurückzuzahlen sind, womit zusätzlich auch Banken und Finanzinstitutionen profitieren. Ein spezifischer Typus von Unternehmungen im Feld des Wohnens sind Vermieter*innen. Diese kaufen Boden (meist mit Gebäuden darauf) nicht für sich selbst, sondern um Grundrente einzunehmen. Nicht-profitorientierte Vermieter*innen wie Genossenschaften werden die Mieten dann nur so hoch ansetzen, dass sie Instandhaltung, Rücklagen und dergleichen abdecken (die ›Kostenmiete‹). Profitorientierte hingegen werden sie so weit hochtreiben, wie es angesichts zahlungsfähiger Nachfrage und staatlicher Regulierung irgend geht (wobei zur Umgehung letztgenannter regelmäßig unlautere Methoden zur Anwendung kommen). Werden spekulativ überteuerte Grundstücke zum Zweck der Vermietung gekauft, müssen die zukünftigen Mieten die Spekulationsgewinne finanzieren. Dass die Mieten steigen werden, ist dann schon eingepreist. Schließlich kann der Kauf auch in rein spekulativer Absicht erfolgen, also in der Hoffnung, das Grundstück bald teurer weiterverkaufen zu können – das kann so lange weitergehen, bis einer der vorherigen Fälle eintritt. Egal welcher das jeweils ist: Die ›leistungslosen Profite‹ der einen müssen immer andere finanzieren. Deshalb ist es nicht übertrieben zu sagen, dass Einnahmen aus Grundrente und Spekulationsgewinnen mit Boden, auch dann, wenn sie völlig legal sind, illegitim sind: Sie ziehen Dritten Geld aus der Tasche nur auf Basis des Eigentumstitels. Diese Art des Geldverdienens sorgt außerdem dafür, dass seit etwa 2010 – seitdem als Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/08 und der folgenden Niedrigzinspolitik der als sicher geltende deutsche Immobilienmarkt von Anleger*innen entdeckt wurde – Boden in den meisten Groß- und Universitätsstädten immer teurer wird (Belina 2020).

Wie teuer ist Boden in Frankfurt und der Rhein-Main-Region? Teuer (s. Karten 1 und 2). Und er wird seit einigen Jahren rapide teurer (s. Karte 3 und Abb. 1). Die Karten 1 und 2 zeigen, dass die Bodenpreise sowohl für gute als auch für mittlere Lagen in der ganzen Region Frankfurt/

Bodenpreise und Bodenpreispolitik

Rhein-Main sehr hoch sind. Am höchsten sind sie in Frankfurt, von hier aus fallen sie in alle Richtungen ab. Bei den guten Lagen sind die Preise in Frankfurt mit 10.000 €/m2 absurd hoch. Sie bilden in Karte 1 – im Wortsinn Karte 1: Kaufpreise für Wohnbaufläche – eine Klasse für sich. In der zweiten Klasse finden sich sieben Gemeinden in guter Lage 2018 in – alle nah an Frankfurt gelegen –, in denen Boden in guter Lage zwischen den Kommunen des Regionalverbands 1.000 und 1.600 €/m2 kostet. Die Preise für Boden in mittleren Lagen unter2 scheiden sich zwischen Frankfurt (1.280 €/m ) undin denguter anderen Lage Gemeinden Kaufpreis für Wohnbauflächen 2018 FrankfurtRheinMain. (Kartographie: Dipl.-Kart. E. Alban). der Region nicht ganz so eklatant – anders formuliert sind mittlere Lagen

in den Kommunen des Regionalverbands FrankfurtRheinMain 1 2 3 4 5 6 7 8

Bischofsheim Ginsheim-Gustavsburg Großkrotzenburg Liederbach a.Ts. Niederdorffelden Schwalbach a.Ts. Steinbach (Ts.) Sulzbach a. Ts.

Münzenberg

Rockenberg

Butzbach

Grävenwiesbach

Wölfersheim

Bad Nauheim Ober-Mörlen

Usingen

Reichelsheim (Weerau)

Weilrod Friedberg Wehrheim

Neu Anspach

Glashüen

Eppstein

Bad Homburg v. d. Höhe Oberursel (Ts.)

Königstein i.Ts.

Bad Vilbel

6

2

1

Flörsheim a. M.

FRANKFURT AM MAIN OFFENBACH AM MAIN

Haersheim Kelstera. bach M.

Neuberg

Bruchköbel

Erlensee

Langenselbold

Rodenbach

Hanau

Mühlheim a. M.

Ronneburg

3

Obertshausen

Hainburg

Heusenstamm

Neu-Isenburg

Seligenstadt

Raunheim

Dreieich WalldorfMörfelden

Dietzenbach

Mainhausen

Rodgau

Langen Egelsbach

Rödermark

Nauheim

GroßGerau

Schöneck

Maintal

Kriel

Rüsselsheim

5

Eschborn

4

Hochheim a. M.

Hammersbach

7

8

Hoeim a.Ts.

Nidderau

Karben

Kronberg i.Ts.

Bad Soden a.Ts.

Kelkheim (Ts.)

Niddatal

Wöllstadt

Friedrichdorf

Schmien

Florstadt

Rosbach v. d. Höhe

Angaben in Euro je m2 0

Landesgrenze Regierungsbezirksgrenze Grenze eines Landkreises bzw. einer kreisfreien Stadt Gemeindegrenze

10

20

10.000

30km

1.000 bis

1.600

500 bis unter 1.000

Quelle:

250 bis unter

500

unter

250

Hessische Verwaltung für Bodenmanagement und Geoinformaon

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Themen und Konflikt­felder Kaufpreis für Wohnbauflächen in milerer Lage 2018

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in den Kommunen des Regionalverbands FrankfurtRheinMain 1 2 3 4 5 6 7 8

Bischofsheim Ginsheim-Gustavsburg Großkrotzenburg Liederbach a.Ts. Niederdorffelden Schwalbach a.Ts. Steinbach (Ts.) Sulzbach a. Ts.

Münzenberg

Rockenberg

Butzbach

Grävenwiesbach

Wölfersheim

Bad Nauheim Ober-Mörlen

Usingen

Reichelsheim (Weerau)

Weilrod Friedberg Wehrheim

Neu Anspach

Glashüen

Eppstein

Bad Homburg v. d. Höhe Oberursel (Ts.)

Königstein i.Ts.

Bad Vilbel

2

1

Flörsheim a. M.

FRANKFURT AM MAIN OFFENBACH AM MAIN

Kriel Haersheim Kelstera. bach M.

Dreieich WalldorfMörfelden

Dietzenbach

Erlensee

Rodenbach

Hanau

Mühlheim a. M.

Langenselbold

3

Obertshausen

Hainburg

Rodgau

Mainhausen

Langen Rödermark

Nauheim

Angaben in Euro je m2 0

Landesgrenze Regierungsbezirksgrenze Grenze eines Landkreises bzw. einer kreisfreien Stadt Gemeindegrenze

Karte 2: Kaufpreise für Wohnbaufläche in mittlerer Lage 2018 in den Kommunen des Regionalverbands FrankfurtRheinMain (Kartographie: Dipl.-Kart. E. Alban).

Bruchköbel

Ronneburg

Seligenstadt

Egelsbach

GroßGerau

Neuberg

Heusenstamm

Neu-Isenburg

Raunheim

Rüsselsheim

Schöneck

Maintal

4

Hochheim a. M.

5

Eschborn

8

Hoeim a.Ts.

Hammersbach

7 6

Nidderau

Karben

Kronberg i.Ts.

Bad Soden a.Ts.

Kelkheim (Ts.)

Niddatal

Wöllstadt

Friedrichdorf

Schmien

Florstadt

Rosbach v. d. Höhe

10

20

30km

Quelle:

800 und mehr 600 bis unter

800

400 bis unter

600

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400

unter

200

Hessische Verwaltung für Bodenmanagement und Geoinformaon

auch außerhalb Frankfurts teuer. Karte 3 schließlich zeigt die Entwicklung der Preise für Boden in mittleren Lagen zwischen 2014 und 2018. In Frankfurt stiegen sie um 125 %, haben sich also im Zeitraum von nur vier Jahren mehr als verdoppelt. Stärkere Anstiege verzeichnen in der Region nur Bad Vilbel mit 191 % und Ober-Mörlen mit 223 %. In Abbildung 1 sind zudem die Bodenpreise bei Verkäufen von Wohnbauland in Frankfurt dargestellt, unterschieden nach ›ertragswertorientiert‹ (Grundstücke in Lagen, in denen Mehrfamilienhäuser – Miete beziehungsweise Eigentumswohnungen

Bodenpreise und Bodenpreispolitik

– vorherrschen) und ›sachwertorientiert‹ (überwiegend mit Ein- und Zweifamilienhäusern). Zu erkennen ist, dass die Preise seit 2014 schier explodieren, Karte 3: insbesondere für erstgenannten Typus (rechte Säulen). Kaufpreissteigerung Im aktuellen Immobilienmarktbericht Frankfurt heißt es zusammenfür Wohnbauflächen in mittlerer Lage fassend: »Die Preissteigerungen in fast allen Marktsegmenten hielten bei 2014 bis 2018 in gleichzeitig oft zurückgehenden Verkaufszahlen auch in 2019 an« (Gutachden Kommunen des Regionalverbands terausschuss für Immobilienwerte für den Bereich der Stadt Frankfurt am FrankfurtRheinMain Main 2020: 12). Die Büromieten »stiegen in allen Lagen« (ebd.) und im (Kartographie: Kaufpreissteigerung für Wohnbauflächen in milerer Lage Dipl.-Kart. E. Alban). Wohnungsbereich war zwar »eine Abschwächung der Bodenpreissteigerung

2014 bis 2018 in den Kommunen des Regionalverbands 1 2 3 4 5 6 7 8

FrankfurtRheinMain

Bischofsheim Ginsheim-Gustavsburg Großkrotzenburg Liederbach a.Ts. Niederdorffelden Schwalbach a.Ts. Steinbach (Ts.) Sulzbach a. Ts.

Münzenberg

Rockenberg

Butzbach

Grävenwiesbach

Wölfersheim

Bad Nauheim Ober-Mörlen

Usingen

Reichelsheim (Weerau)

Weilrod Friedberg Wehrheim

Neu Anspach

Glashüen

Eppstein

Bad Homburg v. d. Höhe Oberursel (Ts.)

Königstein i.Ts.

Bad Vilbel

8

Hochheim a. M. 2

1

Flörsheim a. M.

FRANKFURT AM MAIN OFFENBACH AM MAIN

Haersheim Kelstera. bach M.

Neuberg

Bruchköbel

Erlensee

Langenselbold

Rodenbach

Hanau

Mühlheim a. M.

Ronneburg

3

Obertshausen

Hainburg

Heusenstamm

Neu-Isenburg

Seligenstadt

Raunheim

Dreieich WalldorfMörfelden

Dietzenbach

Rodgau

Mainhausen

Langen Egelsbach

Rödermark

Nauheim

GroßGerau

Schöneck

Maintal

Kriel

Rüsselsheim

5

Eschborn

4 Hoeim a.Ts.

Hammersbach

7 6

Nidderau

Karben

Kronberg i.Ts.

Bad Soden a.Ts.

Kelkheim (Ts.)

Niddatal

Wöllstadt

Friedrichdorf

Schmien

Florstadt

Rosbach v. d. Höhe

Angaben in Prozent 0

Landesgrenze Regierungsbezirksgrenze Grenze eines Landkreises bzw. einer kreisfreien Stadt Gemeindegrenze

10

20

30km

Quelle:

100 und mehr 75 bis unter

100

50 bis unter

75

25 bis unter

50

unter

25

Hessische Verwaltung für Bodenmanagement und Geoinformaon

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Themen und Konflikt­felder

350 300 250 200 150 100 50 0

1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020 Wohnbauflächen (sachwertorien�ert) Wohnbauflächen (ertragswertorien�ert)

Abbildung 1: Entwicklung der Bodenpreise für Wohnbauflächen in Frankfurt am Main, indiziert auf das Jahr 1996 (= 100; Quelle: Gutachterausschuss für Immobilienwerte für den Bereich der Stadt Frankfurt am Main 2020: 34)

gegenüber den Vorjahren feststellbar« (ebd.), es bleibt aber bei einer Steigerung. Sie ist nicht mehr ganz so stark, weil folgendes Geschäftsmodell aus Mangel an Objekten und Flächen an Fahrt eingebüßt hat: »Die stark gestiegenen Bodenpreise für Geschosswohnungsbauflächen von 20 bis 30 % pro Jahr in den Jahren 2016 bis 2018 resultierten aus der Hoffnung der Investoren, während der Planungs- und Bauphase des später zu verkaufenden Endprodukts ›Eigentumswohnung‹ eine Wertsteigerung von 10 bis 15 % pro Jahr zu erreichen« (ebd.). 10 bis 15 % pro Jahr – von solchen Renditen können Investor*innen in anderen Bereichen nur träumen! Und schon tut sich ein neues Investitionsfeld auf: »Auffälliger Trend ist die Nachfrage nach kleineren Wohnungen« (ebd.). Und der Ausblick ist nicht rosig: »Es ist damit zu rechnen, dass sich diese Preissteigerungen, die sich bisher vor allem auf bessere Standorte und auf Innenstadtlagen bezogen, auch auf die benachbarten Stadtteile ausweiten« (ebd.). Boden in Frankfurt ist sehr teuer und er wird immer noch teurer, auch in weniger zentralen Lagen, wo Menschen mit mittleren und niedrigen Einkommen wohnen.

Warum ist Boden in Frankfurt und der Rhein-Main-Region so teuer? Nach München gehört Frankfurt zusammen mit Hamburg, Düsseldorf und Stuttgart zu den Städten mit den höchsten Bodenpreisen in Deutschland. Mit dem Kauf und Weiterverkauf von Grund und Boden, mit seiner Verpachtung und mit seiner Nutzung lässt sich hier viel Geld verdienen, viel mehr als in peripheren Regionen. Das hat verschiedene, zusammenhängende Gründe. In der Global City Frankfurt sind weit überdurchschnittlich Branchen angesiedelt, die besonders hohe Profite erzielen, allen voran das Finanzkapital (— Ronneberger in diesem Band). Dies führt dazu, dass verschiedene Akteure besonders hohe Bodenpreise und Mieten zahlen können. Erstens die Banken, Versicherungen, Steuerberater*innen, Anwaltskanzleien etc. selbst (die unter anderem mit Immobilien Geschäfte machen, s. oben), die sich repräsentative zentrale Büroflächen (im Bankenviertel, im Westend und seit dem EZB-Neubau auch zunehmend im Ostend) ebenso wie ›Backoffices‹ sichern (neben dem Bankenviertel auch in Niederrad und Eschborn). Zweitens sind sie – zusammen mit der Messe – für viele Geschäftsreisen nach Frankfurt verantwortlich, was hochpreisige Beherbergungs- und

Bodenpreise und Bodenpreispolitik

Gaststättenbetriebe nach sich zieht, die ebenfalls hohe Bodenpreise und Mieten bezahlen können. Drittens schließlich zahlt das Finanzkapital seinen Angestellten sehr hohe Löhne (oft in Form von Boni), die diese sowohl für Luxuskonsum im Einzelhandel ausgeben, der deshalb seinerseits hohe Bodenpreise und Mieten zahlen kann (etwa entlang der Goethestraße), als auch für Luxuswohnungen (etwa im Westend, am Westhafen und am Deutschherrenufer sowie in der Region vor allem in Königstein und Kronberg, Bad Homburg und Oberursel; —Stein in diesem Band). In den Bürotürmen des Finanzkapitals arbeiten aber auch Menschen, die sich am anderen Ende der Einkommensverteilung wiederfinden: Reinigungs- und Sicherheitskräfte sowie Bot*innen. Auch der Flughafen und die Messe sind nicht nur wesentliche Bausteine der Global City, sondern auch Arbeitsplatz vieler weniger gut bezahlter Arbeitskräfte. Sie alle leben in der Rhein-Main-Region oder ziehen hierher, weil es hier Arbeit gibt, wenn auch schlecht bezahlte, und sie alle müssen in der Region wohnen. Dies gilt auch für die knapp 50.000 Studierenden an der Goethe-Universität, die rund 15.000 Studierenden an der University of Applied Sciences sowie jene an weiteren Hochschulen in der Stadt und der Region. Weil Studierende meist nur für einige Jahre hier leben und weil sich bei Neuvermietung nach Auszug die Mieten besonders stark steigern lassen, treibt das die Preise für kleine Wohnungen und (potentielle) WGs nach oben. Und schließlich leben in Frankfurt und Region auch sehr viele Menschen der Mittelschicht und aus der Arbeiterklasse, die in Branchen außerhalb von Finanzkapital und Global-City-Funktionen tätig sind, unterschiedlich hohe Einkommen beziehen und ebenfalls alle wohnen müssen; und es ziehen immer mehr in die Stadt. Zwischen 2009 und heute ist die Bevölkerung von rund 650.000 auf gut 750.000 angestiegen. Diese reine Zahl sagt noch nichts darüber aus, was das für den Wohnungsmarkt bedeutet. Weil aber in Frankfurt die Zahlungsfähigkeit eines Teils dieser Bevölkerung sehr hoch ist, weil zugleich die Zahl der Sozialwohnungen seit Jahren kontinuierlich gesunken ist (—Schipper/Heeg in diesem Band) und weil vor allem Investor*innen in ›Betongold‹ in Stadt und Region drängen, steigen die Bodenpreise. Insgesamt ist Frankfurt eine ausgesprochene Mieter*innenstadt, in der nur 18,5 % der Haushalte (Stand 2014) im eigenen Eigentum leben, weit weniger als in vergleichbaren westdeutschen Großstädten (Lebuhn et al. 2017: 59). Mieter*innen sind von Bodenpreissteigerungen vor allem betroffen, wenn ihr Wohnraum weiterverkauft wird (—Ehlers in diesem Band). In Frankfurt werden in großem Umfang Mietwohnungen gehandelt. Die Umsätze beim Verkauf von unbebauten Baugrundstücken ebenso wie bebauten erfolgt weit überwiegend im Bereich der Mehrfamilienhausgrundstücke (Gutachterausschuss für Immobilienwerte für den Bereich der Stadt Frankfurt am Main 2020: 16). So entfallen 2019 bei den bebauten Grundstücken nur 27 % des Umsatzes von insgesamt 1,43 Milliarden € auf Einfamilienhausgrundstücke. Der Rest sind Mehrfamilienhausgrundstücke, deren Wohnungen vermietet oder weiterverkauft werden sollen. An diesen Zahlen wird unter anderem deutlich, dass es nicht an Investitionen in Wohnraum fehlt, wie oft beklagt wird (um Umweltschutz, Bürger*inneninitiativen, staatliche Regelungen und Auflagen etc. für den Mangel an – bezahlbarem – Wohnraum verantwortlich zu machen), sondern dass diese in die (Spekulation mit) bestehenden Mietwohnungen fließen – und nicht in dringend benötigten Neubau. Dabei handelt es sich um ein bundesweites Muster: »Insbesondere in den Städten mit dem höchsten Neubaubedarf wird vor allem in den Wohnungsbestand investiert. Denn dort werden die höchsten Ertragssteigerungen erwartet. Diese Ertragserwartungsspekulation hat

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74

Themen und Konflikt­felder

Folgen für den Neubau, denn auch auf dem Wohnungsmarkt können Gelder nur einmal ausgegeben werden. Gerade weil das Geschäft mit den Mietsteigerungen so attraktiv ist, wird zu wenig neu gebaut. […] Gekauft wurden [in Deutschland] vor allem bebaute Grundstücke, weil dort ohne Verzögerung zum Beispiel durch lange Bauzeiten mit der Verwertung begonnen werden kann« (Holm 2018). An den Zahlen wird aber auch und vor allem deutlich, dass all die weiterverkauften Mietshäuser Profite abwerfen sollen, was nur durch das im Zitat benannte »Geschäft mit den Mietsteigerungen« möglich ist. Weil deshalb seit Jahren die Mieten deutlich stärker steigen als die Löhne, geht ein immer größerer Anteil des Haushaltseinkommens in der Region in die Wohnkosten und finanziert die ›leistungslosen Profite‹ der Bodeneigentümer*innen. In Frankfurt geben 42,1 % der Haushalte mehr als 30 % ihres Haushaltseinkommens für Wohnen aus, in Offenbach gar 45,6 % und in Wiesbaden 45,8 %. Mainz und Darmstadt liegen mit 44,2 % respektive 38,6 % nur knapp dahinter (berechnet nach Holm/Junker 2017).

Was wird getan? Um der Bodenpreisexplosion Einhalt zu gebieten, werden (und wurden seit den 1960er Jahren) weitreichende Eingriffe in das skizzierte Geschäftsmodell vorgeschlagen, um Wohnen in der Stadt bezahlbarer zu machen und ›leistungslose Profite‹ für das Gemeinwohl abzuschöpfen (Heinz/Belina 2019; Vogel 2019). Umgesetzt wurde so gut wie nichts. Angesichts der dramatischen Lage wird das Thema zurzeit immerhin wieder diskutiert und einzelne Aktivitäten sind zu vermelden. Die Ergebnisse sind allerdings ernüchternd. Dies soll anhand von drei aktuellen Initiativen auf Bundes-, Landes- und städtischer Ebene skizziert werden. Grundsteuer

Auf Bundesebene wurde 2019 eine neue Grundsteuer beschlossen. Dies wurde notwendig, weil das Bundesverfassungsgericht im April 2018 geurteilt hatte, dass die bisherige Berechnung nicht verfassungskonform gewesen sei. Der Gesetzgeber hatte bis Ende 2019 Zeit, eine Neuregelung zu beschließen. Die Verhandlungen waren von offenen Konflikten in der GroKo und zwischen Bund und Ländern gekennzeichnet. Vor allem Bayern hat sich dem Vorschlag des SPD-geführten Bundesfinanzministeriums entgegengestellt, Grund zusammen mit den darauf befindlichen Gebäuden nach ihrem tatsächlichen Wert zu besteuern, indem bei der Berechnung der Steuerhöhe der Bodenwert des Grundstücks, das Alter der Gebäude und pauschal die Mieteinkünfte berücksichtigt werden (›Ertragswertverfahren‹). Diese Lösung, die immerhin ein Schritt in die richtige Richtung ist, wurde dann zwar verabschiedet, aber mit einer ›Öffnungsklausel‹, die vor allem Bayern (wo die Bodenwerte sehr hoch sind) herausgehandelt hatte. Diese erlaubt es den Ländern, eigene abweichende Lösungen zu beschließen. Es zeichnet sich ab, dass viele Länder davon Gebrauch machen werden. Im bayerischen ›Flächenverfahren‹ sollen nur die reine Fläche von Grund und Gebäuden in die Berechnung eingehen, wonach für Luxusvillen in Bogenhausen dieselbe Steuer pro m² gilt wie für Mietshäuser in Wunsiedel. Im hessischen ›Flächen-Faktor-Verfahren‹ sollen zusätzlich zur Fläche immerhin die Bodenwerte in gedämpfter Form2 eingehen. Insgesamt wurde mit der Grundsteuerreform die Chance verpasst, ›leistungslose Gewinne‹ dem Allgemeinwohl zuzuführen.

Bodenpreise und Bodenpreispolitik

Baulandoffensive

Auf Landesebene hat die schwarz-grüne Regierung 2017 in Hessen die ›Baulandoffensive‹ gestartet. Dahinter verbirgt sich das Angebot an Kommunen, sie mittels Gutachten und als ›Bauamt auf Zeit‹ bei der Entwicklung schwieriger Grundstücke zu unterstützen, wenn die Flächen etwa eine unübersichtliche Eigentümer*innenstruktur oder Altlasten aufweisen. Auf solchen Grundstücken werden dann Vorgaben für Anteile an bezahlbarem Wohnraum umgesetzt, wobei die Förderung vor allem auf Mittelschichtshaushalte abzielt (Waldschmidt 2020). Damit leistet die ›Offensive‹ insbesondere für einkommensschwache Bevölkerungsteile weit weniger, als es dem Land möglich wäre. Baulandbeschluss

Im Frühjahr 2020 wurde vom Frankfurter Stadtparlament ein ›Baulandbeschluss‹ verabschiedet. In solchen Beschlüssen legen Kommunen fest, wie sie mit Grund und Boden verfahren wollen, wenn neues Baurecht geschaffen werden muss (nur dann haben sie eine Handhabe gegenüber Inverstor*innen). Im Frankfurter Baulandbeschluss sind zweierlei Auflagen festgelegt. Erstens müssen anteilig 30 % für geförderten Wohnungsbau (je zur Hälfte Sozialwohnungen und Mittelstandsförderung), 15 % für gemeinschaftliche und genossenschaftliche Wohnprojekte nach Konzeptverfahren (bei dem Grund nicht meistbietend, sondern nach dem besten Konzept vergeben wird), 15 % für freifinanzierten Mietwohnungsbau sowie 10 % für preisreduzierte Eigentumswohnungen genutzt werden. Zweitens werden bis zu zwei Drittel der Bodenwertsteigerung von der Kommune abgeschöpft und für Erschließung, soziale Infrastrukturen und Klimaschutz verwendet (Stadt Frankfurt am Main 2020). Wie die anderen genannten Initiativen weist der Baulandbeschluss in die richtige Richtung, bleibt aber auch vieles schuldig. Wie bei der Baulandoffensive liegt der Schwerpunkt auf der Förderung bei den Mittelschichten, nicht bei einkommensschwachen Bevölkerungsteilen, und wie bei fast allen Aktivitäten der letzten Jahre verbleibt das Eigentum an Grund und Boden bei Privaten. Einen Schritt weiter geht dabei etwa die Stadt Münster, die in ihrem Baulandbeschluss 2014 festgelegt hat, dass Investor*innen 50 % des Bodens an die Kommune verkaufen müssen (Dransfeld/Hemprich 2017: 124 ff.). Damit geht eine langfristige Bodenbevorratungspolitik einher, dank derer die Stadt zunehmend über eigenen Grund und damit über Gestaltungsmöglichkeiten verfügt. In dieser Hinsicht ist die Stadt Ulm Vorbild, die eine solche Politik seit 1890 betreibt, und wo »in Neubaugebieten nur dann Bebauungspläne ins Verfahren gehen und letztlich rechtskräftig werden, wenn die Stadt alle Grundstücke besitzt« (Stadt Ulm o.J.).

Was ist zu tun? Der unlängst verstorbene ehemalige Oberbürgermeister von München, Bundesbau- und Bundesjustizminister und seit den 1960er Jahren Kämpfer für eine gerechtere Bodenpolitik, Hans-Jochen Vogel (SPD), formulierte jüngst das »Kernziel, Eigentum von Grund und Boden wegen seines besonderen Charakters so weit wie möglich aus dem Herrschaftsbereich des Marktes herauszulösen und den sozialen Regeln des Allgemeinwohls zu unterstellen« (Vogel 2019: 48). Als Leitlinien können dabei Dekommodifizierung, Demokratisierung und Government fungieren, also Boden so weit wie möglich aus der Warenform des Privateigentums zu lösen, demokratisch zu verwalten und all das mittels klarer Regelungen (Belina

75

76

Themen und Konflikt­felder

2019). Schritte entlang dieser Leitlinien können das Geschäftsmodell der ›leistungslosen Gewinne‹ madigmachen, indem sie Profitmöglichkeiten mit Grundrente und Bodenspekulation einschränken. Dazu gehört über das kommunale Vorkaufsrecht hinaus (das etwa in Friedrichshain-Kreuzberg sinnvoll eingesetzt wird; Sarnow 2019) auch eine Ausweitung des bislang nur sehr zögerlich eingesetzten Instruments der Enteignung (etwa als letztes Mittel im Rahmen einer städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme nach BauGB § 165 ff.) beziehungsweise »Vergesellschaftung« von »Grund und Boden« nach Grundgesetz Art. 15 Abs. 1, wie sie die Initiative ›Deutsche Wohnen enteignen‹ aus Berlin fordert. Nur wenn soziale Bewegungen die Politik in diese Richtung drängen, wird Boden und damit Wohnen auch in Frankfurt und der Rhein-Main-Region bezahlbarer.

Endnoten 1

Im Bürgerlichen Gesetzbuch heißt es in § 903 Abs. 1 unmissverständlich: »Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen.«

2

Beim Flächen-Faktor-Verfahren wird die Steuerhöhe ebenfalls auf Basis der Fläche von Grund und Gebäude berechnet. Dieser Wert wird dann aber zusätzlich mit einem Faktor multipliziert. Dieser wird berechnet, indem die Differenz zwischen dem Bodenwert der Richtwertzone, in der das Grundstück liegt (und nicht, wie im Bundesmodell, der einzelnen Grundstücke), zum durchschnittlichen Bodenrichtwert in der Gemeinde hoch 0,3 genommen wird (wodurch die ›Dämpfung‹ entsteht: unterdurchschnittliche Bodenrichtwerte senken die anfallende Steuer, überdurchschnittliche erhöhen sie, aber umso weniger, je höher der überdurchschnittliche Bodenrichtwert ist).

Literaturverzeichnis Belina, Bernd (2020): »Städtischer Boden zwischen Profit- und Sozialorientierung«, in: Geographische Rundschau 72(5), S. 40–45. Belina, Bernd (2019): »Ein Kompass zu einer sozialen Bodenpolitik«, in: Walter de Vries (Hg.), 21. Münchner Tage für Nachhaltiges Landmanagement. Bezahlbares Wohnen auf dem Land und in der Stadt, München: Technische Universität München, S. 41–43, https://www.lrg.tum.de/fileadmin/w00bzj/bole/Landmanagement__Homepage_/FBL_ Doku2019_20180802_web_ES.pdf (Zugriff: 04.12.2020). Dransfeld, Egbert/Hemprich, Christian (2017): Kommunale Boden- und Liegenschaftspolitik. Wohnbaulandstrategien und Baulandbeschlüsse auf dem Prüfstand, Dortmund: Forum Baulandmanagement NRW. Gutachterausschuss für Immobilienwerte für den Bereich der Stadt Frankfurt am Main (2020): Immobilienmarktbericht Frankfurt am Main 2020, Frankfurt. Heinz, Werner/Belina, Bernd (2019): Die kommunale Bodenfrage. Hintergrund und Lösungsstrategien, https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studien_2-19_Bodenpolitik.pdf (Zugriff: 04.12.2020). Holm, Andrej (2018): Rückkehr der Wohnungsfrage, https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/ stadt-und-gesellschaft/216869/rueckkehr-der-wohnungsfrage (Zugriff: 04.11.2020). Holm, Andrej/Junker, Stephan (2019): Die Wohnsituation in deutschen Großstädten – 77 Stadtprofile, Düsseldorf/Berlin: Hans-Böckler-Stiftung. Lebuhn, Henrik/Holm, Andrej/Junker, Stephan/Neitzel, Kevin (2017): Wohnverhältnisse in Deutschland – eine Analyse der sozialen Lage in 77 Großstädten, Berlin/Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung. Paglen, Trevor (2010): Blank Spots on the Map. The Dark Geography of the Pentagon’s Secret World, New York: New American Library. Sarnow, Martin (2019): »›Wir kaufen den Kiez zurück‹. Milieuschutz und Vorkaufsrecht als Ansätze einer postneoliberalen Wohnraumversorgung in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg?«, in: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 7(1/2), S. 115–136.

Bodenpreise und Bodenpreispolitik

Senft, Gerhard (Hg.) (2013): Land und Freiheit. Zum Diskurs über das Eigentum von Grund und Boden in der Moderne (= Kritische Geographie 18), Wien: Promedia. Stadt Frankfurt am Main (2020): Baulandbeschluss für die Frankfurter Stadtentwicklung. Leitlinie I – Städtebaulicher Vertrag mit der Stadt Frankfurt am Main. Entwurf Stand März 2020, Frankfurt am Main: Dezernat IV – Planen und Wohnen. Stadt Ulm (o.J.): Grundstückspolitik. Über 125 Jahre Ulmer Bodenpolitik, https://www.ulm. de/leben-in-ulm/bauen-und-wohnen/rund-ums-grundstück/grundstückspolitik (Zugriff: 04.11.2020). Vogel, Hans-Jochen (2019): Mehr Gerechtigkeit! Wir brauchen eine neue Bodenordnung– nur dann wird auch Wohnen wieder bezahlbar, Freiburg u.a.: Herder. Waldschmidt, Johanna (2020): Die ›Bauland Offensive Hessen‹ als ein wohnungspolitisches Instrument zur Wohnraumversorgung? Unveröffentlichte Masterarbeit am Fachbereich 11 Geowissenschaften/Geographie der Goethe Universität Frankfurt am Main.

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Arm und Reich in der Stadtregion. Was sagen die Zahlen und was nicht? Christian Stein

Soziale Segregation und die damit einhergehende räumliche Ungleichverteilung von Reichtum und sozialer Benachteiligung sind für Städte zentrale Gegenstände sozialpolitischen Handelns. Insbesondere in Großstädten erscheinen soziale Unterschiede besonders konturiert und kleinräumig ausgeprägt. Global agierende Eliten mit Spitzeneinkommen finden sich in den urbanen Kernen der Metropolen ebenso wie gering entlohnte und prekär Beschäftigte, deren Dienstleistungen inhärenter Bestandteil des globalen Wirtschaftssystems unter Marktbedingungen sind.

Kleinräumige Sozialberichterstattung als kommunale Aufgabe Auf lokaler Ebene für den Sozialstaat handlungsleitend ist eine innerstädtische Raumbeobachtung, die sich auf operationalisierbare Indikatoren zur Beschreibung sozialer Lagen stützt. Die Untersuchung sich kleinräumig entwickelnder Unterschiede wird in Städten in Deutschland unter anderem durch kommunale Stellen für Stadtbeobachtung und Statistik realisiert, die, so macht schon ihre Bezeichnung deutlich, quantitative Daten halten und auf deren Basis (Raum-)Analysen liefern. Eine Beobachtung sozialer Verhältnisse über einzelne Kommunen hinaus liefert die amtliche Statistik. Sie organisiert sich im Verbund der statistischen Ämter des Bundes und der Länder.

Räumliche Perspektive folgt traditionell dem föderalen Staatsaufbau Die skizzierte Struktur der Stadt- und Raumbeobachtung folgt in ihrer Zweiteilung einer Logik, die sich aus einer lange tradierten Vorgehensweise bei der Haltung und Auswertung von Sozial- und Wirtschaftsdaten ergibt. Sie folgt bisher weitgehend dem föderalen Staatsaufbau in der Bundesrepublik Deutschland: Als unterste Ebene im föderalen System ist der lokale Staat unter anderem für die Bau- oder Sozialplanung vor Ort und als deren Grundlage auch für die innerkommunale Raumbeobachtung zuständig. Datenhaltung, Vergleiche und Analysen über Stadt- und Kreisgrenzen hinweg erfolgen hingegen traditionell durch Institutionen der Bundesländer und Regionalverbände (zum Beispiel Hessisches Statistisches Landesamt 2020; Regionalverband FrankfurtRheinMain 2020).

80

Themen und Konflikt­felder

Kommunen üben neuerdings auch integrierten Blick über Verwaltungsgrenzen hinaus In einer zunehmend verstädterten und verkehrlich vernetzten Metropolregion wie dem Rhein-Main-Gebiet bestehen Segregationsdynamiken auch über Stadtgrenzen hinaus. Neben der originär kommunalen Aufgabe kleinräumiger Analysen richtet sich die Raumbeobachtung der Städte in jüngerer Zeit daher auch auf die Stadtregion. Mit dieser tragen sie dem Umstand Rechnung, dass bei einer starken stadtregionalen Verflechtung sozialräumliche Dynamiken nicht an Stadtgrenzen haltmachen. Die Stadt Frankfurt am Main ist mit einer seit 2012 jährlich erscheinenden Publikation eines Regional- und Großstädtevergleichs (Stadt Frankfurt am Main 2012), deren Inhalte auch als interaktiver Strukturdatenatlas zur Verfügung stehen, eine der ersten Städte mit einem regelmäßigen Berichtswesen für diese regionale Perspektive.

Grundlage für bundesweite kleinräumige Raumbeobachtung besteht seit 2013 Eine bundesweit flächendeckende, kleinräumige Raumbeobachtung und die dafür notwendige Basis zur Geocodierung ist seit der Änderung des Bundesstatistikgesetzes vom 1. August 2013 vorgesehen. Sie ermöglicht das dauerhafte Führen quadratischer geografischer Rasterzellen von einem Hektar beziehungsweise der Abmessung 100×100 m, denen jedwedes Sachdatum zugeordnet und deren Attribute – unter Einhaltung der gesetzlichen Anonymisierungsvorgaben – veröffentlicht werden können. Dieses Raster entspricht der seit 2007 bestehenden INSPIRE-Richtlinie der europäischen Geodateninfrastruktur (Bundesamt für Kartographie und Geodäsie 2019). Eine inhaltliche Füllung dieser kleinräumigen Struktur ist nicht nur Bestandteil der Digitalisierungsstrategie des Statistischen Bundesamtes, sondern auch der Statistischen Ämter der Länder (Gebers/Graze 2019).

Flächendeckende kleinräumige Daten noch Mangelware Wenngleich die Datenhaltung und Analyse in dieser kleinräumigen Form potenziell seit Jahren bundesweit möglich wäre, werden beispielsweise Informationen zu Einkommen und Sozialleistungsbezug bisher nur in der traditionellen Trennung nach Verwaltungseinheiten und -ebenen für eine Auswertung zur Verfügung gestellt (Stadt Frankfurt am Main 2020; Statistisches Bundesamt 2020). Analysen richten ihren Fokus, der föderalen Logik folgend, entweder auf Binnendifferenzierungen im Gebiet kreisfreier Städte oder auf den Vergleich von Kreis- und Gemeindedaten. Ein themenbezogener, hinsichtlich der räumlichen Perspektive integrativer Ansatz wird, vor allem bedingt durch hoheitliche Zuständigkeiten, meist nicht gewählt.

Versuch eines Blicks auf Arbeitsmarkt- und Sozialdaten über Verwaltungsgrenzen hinaus Der vorliegende Beitrag hebt diese Trennung von kleinräumiger und regionaler Analyse explizit auf, indem er sowohl kleinräumige Daten für die kreisfreien Städte Darmstadt, Frankfurt am Main, Mainz, Offenbach und Wiesbaden als auch Daten für die Gemeinden im Regionalverband FrankfurtRheinMain verbindet. Anhand des Beispiels von Indikatoren mit

Arm und Reich in der Stadtregion

Aussagekraft für soziale Privilegierung und Benachteiligung soll gezeigt werden, wie Sozialstrukturen sich stadtregional ausprägen. Immer wieder wird beim Versuch der Beschreibung von sozialer Segregation oder Benachteiligung auf eine Zusammenfassung von Indikatoren zurückgegriffen, um die Komplexität sozialer Phänomene einer Berichtsform entsprechend zu reduzieren (zum Beispiel Bolz/Jacobs/Lubinski 2013). Auf dieses Vorgehen wird an dieser Stelle explizit verzichtet, da die Bildung von Sozial-Indizes Gefahr läuft, mit einer komplexen Rechenmechanik einzelne Aspekte sozialer Privilegierung oder Benachteiligung derart zu globalen Indikatoren zu verknüpfen, dass die dahinterstehenden Phänomene einer Beschreibbarkeit entzogen werden. Es lässt sich viel schwieriger über soziale Benachteiligung und deren (stadt-)gesellschaftliche Bearbeitung anhand eines Benachteiligungsindikators diskutieren, als wenn strukturelle Benachteiligungen mit Bezug zu ihren individuellen Auswirkungen dargestellt werden. Um es konkret zu fassen: Wird über einen Stadtbezirk berichtet als Ort, in dem das Substrat eines Benachteiligungsindikators einen besonders hohen Wert erreicht, ist zwar damit ein ebenso abstrakter Raumcontainer benannt und problematisiert. Die Notwendigkeit eines sozialen Ausgleichs ist jedoch nur zu adressieren, wenn konkret wird, dass zum Beispiel insbesondere alleinerziehende Frauen und ihre Kinder benachteiligt sind und somit die Problemlage für die Stadtgesellschaft und ihre Institutionen klarer offenliegen.

Große Einkommensunterschiede im Rhein-Main-Gebiet In einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft hat materielle Teilhabe bedeutsamen Einfluss auf die Chancen sozialer Teilhabe. Als Basisindikator für den Wohlstand einer Bevölkerung wird daher häufig deren Einkommen herangezogen. In Ermangelung einer kleinräumig auswertbaren Einkommenssteuerstatistik in Deutschland dient – quasi als Hilfsindikator – zur annäherungsweisen Erfassung klein- und großräumiger Einkommensunterschiede das Bruttoarbeitsentgelt von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten1. Im Bundesdurchschnitt machen die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gut drei Viertel (76 %) aller Erwerbstätigen aus. Mit ihnen ist somit das Gros der Erwerbsbevölkerung erfasst. Eine Interpretation der Zahlen als Indikator für alle Erwerbstätigen darf jedoch nicht außer Acht lassen, dass damit nur die privilegierte Mehrheit der besonders abgesicherten Erwerbsverhältnisse in den Blick genommen wird. Im Rhein-Main-Gebiet verteilen sich die Entgelte sehr unterschiedlich (s. Karte 1). Im Median – das heißt die Hälfte der Beschäftigten verdient Entgelte über diesem Wert, die andere Hälfte weniger – liegen die Bruttoverdienste zwischen 2.860 € im Frankfurter Stadtteil Griesheim und 6.293 € im Frankfurter Westend-Süd. In den Gemeinden im Frankfurter Umland streuen die Bruttoeinkommen weit weniger stark zwischen 3.125 € in Raunheim und 5.009 € in Bad Soden. Augenfällig ist die nicht vorhandene Binnendifferenzierung mit Blick auf das Einkommen für die kreisfreien Städte Darmstadt, Mainz, Offenbach und Wiesbaden. Auch für deren Stadtgebiete ist eine starke Einkommensspreizung zu vermuten, diese durch die Datenlage jedoch nicht abbildbar. Anhand der Einkommen zeigt sich ein grundsätzliches Muster, das auch bei der Auswertung von Indikatoren für soziale Benachteiligungen durchscheint: Eine besonders starke Differenzierung ist in den Großstädten vorzufinden, zum Teil in unmittelbarer Nachbarschaft.

81

82

Themen und Konflikt­felder

Karte 1: Median der Bruttoarbeitsentgelte von sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten 2019 (Quelle: eigene Darstellung).

Butzbach

Grävenwiesbach Usingen

Friedberg

Bad Homburg

Bad Soden

Hofheim Wiesbaden

Nidderau

Frankfurt am Main 2 3 1

Hanau Offenbach am Main

Dreieich

Rodgau

Mainz

Bischofsheim

Landesgrenze Kreisgrenze Gemeindegrenze Stadtteilgrenze

GroßGerau Darmstadt

in €

1 Frankfurt-Griesheim 2 Frankfurt-Westend-Süd 3 Frankfurt-Gutleutviertel

bis 3 499 3 500 bis 3 749 3 750 bis 3 999 4 000 bis 4 249 4 250 bis 4 499 4 500 und mehr

Quelle: Bundesagentur für Arbeit; © GeoBasis-DE / BKG 2019 (Daten verändert). Stichtag Daten Bundesagentur für Arbeit: 15. Dezember. Ohne Beschäftigte, für die eine

besondere Vergütungsregelung zu Ausbildung, Berufsförderung, Tätigkeit Um Frankfurt am Main als Zentrum Jugendhilfe, der Metropolregion findet sich kein in Behindertenwerkstätten oder Freiwilligendiensten gilt. klassischer Speckgürtel, der die Stadt im wörtlichen Sinne umschlösse. Vielmehr konzentrieren sich die Wohnorte besonders wohlhabender Menschen – neben einzelnen Quartieren der Städte – vor allem in den Gemeinden südlich des Taunushauptkammes.

Segregationsdynamiken auch unter Bedingungen eines boomenden Arbeitsmarktes Menschen in sozialen Problemlagen hingegen finden sich in den Gemeinden und Stadtteilen mit überdurchschnittlich wohlhabender Bevölkerung deutlich seltener. Als ein zentraler Faktor sozialer Segregation führen Dynamiken des regionalen Wohnungsmarktes dazu, dass unter anderem Arbeitslose in Stadtteile oder kleinere Städte im Umland mit vergleichsweise günstigen Wohnlagen ausweichen (s. Karte 2). Dies gilt auch unter Bedingungen eines boomenden Arbeitsmarktes, wie die Angaben der Bundesagentur für Arbeit zur Arbeitslosigkeit für die Jahre 2018 beziehungsweise 2019 belegen. In besonderer Weise wird soziale Segregation sichtbar zwischen Stadtteilen der kreisfreien Städte, wie zum Beispiel Wiesbaden-Amöneburg (Arbeitslosendichte2 8,5 %), Offenbach-Mathildenviertel (8,4 %) oder dem

Arm und Reich in der Stadtregion

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Frankfurter Gutleutviertel (8,1 %), und unmittelbar benachbarten Quartieren, in denen die Arbeitslosigkeit Rekordtiefststände erreicht (zum Beispiel Wiesbaden-Breckenheim 1,4 % oder Frankfurt-Westend-Süd 1,6 %). Einige Quartiere in den Städten weisen einen ungleich höheren Anteil an Arbeitslosen auf als die nichtstädtischen Gemeinden mit der höchsten Arbeitslosendichte im Regionalverband (Grävenwiesbach 3,6 % und Bischofsheim 3,5 %). Die Arbeitslosendichte in diesen Quartieren liegt mehr als das Doppelte über dem Schnitt der betrachteten Städte und Gemeinden.

Karte 2 Arbeitslosendichte 2019

Karte 2: Arbeitslosendichte 2019 (Quelle: eigene Darstellung).

Butzbach

Grävenwiesbach Usingen

Bad Homburg

Bad Soden

Hofheim

8

5

Nidderau

Frankfurt am Main 3 4

11 10 9 Wiesbaden

Friedberg

2 7 Offenbach am Main

Dreieich

Hanau

Rodgau

Mainz

6

Bischofsheim

1 Darmstadt-Kranichstein 2 Frankfurt-Fechenheim 3 Frankfurt-Westend-Süd 4 Frankfurt-Gutleutviertel 5 Mainz-Drais 6 Mainz-Lerchenberg 7 Offenbach-Mathildenschule 8 Wiesbaden-Amöneburg

1

GroßGerau Darmstadt

Landesgrenze Kreisgrenze Gemeindegrenze Stadtteilgrenze

in % der Erwerbsfähigen bis 2,4 2,5 bis 2,9 3,0 bis 3,4 3,5 bis 3,9 9 Wiesbaden-Breckenheim 4,0 bis 4,4 10 Wiesbaden-Igstadt 4,5 und mehr 11 Wiesbaden-Naurod

Quelle: Angaben der Städte Darmstadt, Frankfurt am Main, Mainz und Wiesbaden; Statistik Offenbach am Main; Geometrie Offenbach: Raumbezugssystem ETRS89, Stand: 2020; Bundesagentur für Arbeit; © GeoBasis-DE / BKG 2019 (Daten verändert); Hessisches Statistisches Landesamt.

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Themen und Konflikt­felder

Gravierende Unterschiede beim langfristigen Sozialleistungsbezug in den Großstädten Langfristig von einer prekären materiellen Lebensgrundlage betroffen sind Menschen, die auf den Bezug von Grundsicherungsleistungen angewiesen sind3. Für leistungsberechtigte Personen sollen die Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGBII) den Lebensunterhalt sichern. Wie häufig Menschen auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sind, geht wiederum gerade in den Quartieren der Großstädte stark auseinander (s. Karte 3). In Mainz-Drais (1,7 %), Wiesbaden-Breckenheim (2 %) und im Frankfurter Westend-Süd (2 %) bestreitet beispielsweise nur rund jede*r Fünfzigste ihren*seinen Lebensunterhalt mit Leistungen nach dem SGBII – deutlich seltener als in allen Gemeinden im ländlichen Raum. Gleichzeitig sind in anderen Vierteln der Großstädte Menschen zehn Mal häufiger auf Grundsicherungsleistungen für Arbeitssuchende angewiesen (zum Beispiel Darmstadt-Kranichstein 23,4 %, Wiesbaden-Amöneburg 23 %, Frankfurt-Fechenheim 19,2 Karte 3 Dichte der Leistungsberechtigten in der 17,5 %) als in %, Mainz-Lerchenberg 18,5 %, Offenbach-Mathildenschule Grundsicherung Arbeitsuchende 2019 den Wohnvierteln derfür Privilegierten. Karte 3: Dichte der Leistungsberechtigten in der Grundsicherung für Arbeitsuchende 2019 (Quelle: eigene Darstellung).

Butzbach

Grävenwiesbach Usingen

Landesgrenze Kreisgrenze Gemeindegrenze Stadtteilgrenze

Bad Homburg

Bad Soden

11 10 9 Wiesbaden

Hofheim

8

5

Friedberg

Nidderau

Frankfurt am Main 3 4

2 7 Offenbach am Main

Dreieich

Hanau

Rodgau

Mainz

6

Bischofsheim

1 Darmstadt-Kranichstein 2 Frankfurt-Fechenheim 3 Frankfurt-Westend-Süd 4 Frankfurt-Gutleutviertel

1

GroßGerau Darmstadt

5 Mainz-Drais 6 Mainz-Lerchenberg 7 Offenbach-Mathildenschule 8 Wiesbaden-Amöneburg

in % der Einwohner*innen bis 64 Jahre bis 3,9 4,0 bis 5,9 6,0 bis 7,9 8,0 bis 9,9 10,0 bis 12,9 13,0 und mehr

9 Wiesbaden-Breckenheim 10 Wiesbaden-Igstadt 11 Wiesbaden-Naurod Quelle: Angaben der Städte Darmstadt, Frankfurt am Main, Mainz und Wiesbaden; Statistik Offenbach am Main; Geometrie Offenbach: Raumbezugssystem ETRS89, Stand: 2020; Bundesagentur für Arbeit; © GeoBasis-DE / BKG 2019 (Daten verändert); Hessisches Statistisches Landesamt.

Arm und Reich in der Stadtregion

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Alleinerziehende besonders armutsgefährdet Zeitlich und finanziell stark belastet sind besonders viele Alleinerziehende auf Grundsicherungsleistungen angewiesen. In Frankfurt am Main sind 95 % von ihnen Frauen (Stadt Frankfurt am Main 2019: 161). Sogenannte Bedarfsgemeinschaften mit einem alleinerziehenden Elternteil finden sich deutlich häufiger in großstädtischen Quartieren als im ländlichen Raum. Die stadtregionalen, aber auch die subkommunalen Unterschiede sind für diese Gruppe besonders groß (s. Karte 4). In einzelnen Quartieren ist rund jede fünfzigste Person alleinerziehend im Grundsicherungsbezug (zum Beispiel Darmstadt-Kranichstein und Wiesbaden-Amöneburg je 2,2 % sowie Frankfurt-Fechenheim 1,7 %), während in teuren Wohnvierteln nicht einmal jede tausendste Person alleinerziehend und auf Grundsicherung angewiesen ist (zum Beispiel Frankfurt-Westend-Süd 0,08 %, Wiesbaden-Igstadt und -Naurod je 0,09 %). Ein Anteil von Alleinerziehenden im Grundsicherungsbezug über 1 % der Einwohner*innen findet sich ausschließlich in Quartieren der Karte 4 Dichte der Alleinerziehenden-Bedarfsgemeinschaften Großstädte Darmstadt, Frankfurt am Main, Offenbach und Wiesbaden. Für Mainz liegenvon keine untergemeindlichen vor. mit Bezug Grundsicherung fürDaten Arbeitsuchende 2019 Landesgrenze Kreisgrenze Gemeindegrenze Stadtteilgrenze

Butzbach

Grävenwiesbach Usingen

Friedberg

Bad Homburg

Bad Soden

9 8 7 Wiesbaden

Karte 4: Dichte der AlleinerziehendenBedarfsgemeinschaften mit Bezug von Grundsicherung für Arbeitsuchende 2019 (Quelle: eigene Darstellung).

Hofheim

6

Nidderau

Frankfurt am Main 3 4

2 5 Offenbach am Main

Dreieich

Hanau

Rodgau

Mainz

Bischofsheim

1 Darmstadt-Kranichstein 2 Frankfurt-Fechenheim 3 Frankfurt-Westend-Süd 4 Frankfurt-Gutleutviertel

1

GroßGerau Darmstadt

5 Offenbach-Mathildenschule 6 Wiesbaden-Amöneburg 7 Wiesbaden-Breckenheim 8 Wiesbaden-Igstadt 9 Wiesbaden-Naurod

in % der Einwohner*innen bis 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 bis 0,9 1,0 und mehr keine Angaben

Quelle: Angaben der Städte Darmstadt, Frankfurt am Main, Mainz und Wiesbaden; Statistik Offenbach am Main; Geometrie Offenbach: Raumbezugssystem ETRS89, Stand: 2020; Bundesagentur für Arbeit; © GeoBasis-DE / BKG 2019 (Daten verändert); Hessisches Statistisches Landesamt.

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Themen und Konflikt­felder

Weiterentwicklung der räumlichen Auflösung und inhaltlichen Aussagekraft von Indikatoren Die exemplarisch aufgezeigten Indikatoren für materiellen Wohlstand und soziale Benachteiligung zeigen hinsichtlich der Datenlage zwei Handlungsfelder auf: Erstens bedarf es gerade für Großstädte inhaltlich tief gegliederter, kleinräumiger Sozial- und Wirtschaftsdaten, um Stadtbeobachtung auf einer soliden Basis zu betreiben. Angaben, die (teilweise) nur auf der Ebene von Kreisen und kreisfreien Städten vorliegen, reichen für eine substanzielle Analyse nicht aus. Auch der Versuch eines mehrere administrative Ebenen integrierenden Blicks macht die begrenzten Möglichkeiten von Betrachtungen entlang von Verwaltungsgrenzen deutlich. Gemeinden und Stadtteile der Großstädte zusammengenommen stehen für das beschriebene Gebiet mit einer Fläche von 2.882 km² maximal 186 sehr unterschiedlich große Raumeinheiten für eine Untersuchung zur Verfügung. Das Raster der europäischen Geodateninfrastruktur bietet für dieses Gebiet der Fläche entsprechend rund 288.200 Raumeinheiten. Auch wenn aufgrund von Anonymisierungsvorgaben in vielen dünner besiedelten Gebieten Zellen vor einer Analyse zusammengefasst werden müssten, stünde damit eine der Zahl der Menschen und der sozialen Komplexität angemessenere Datenbasis zur Verfügung. Die Darstellung der Indikatoren dient zweitens auch dazu, deren Behelfscharakter in dem Sinne zu verdeutlichen, dass sie nur kleine Teilaspekte sozialer Wirklichkeit abbilden. Indikatoren sind im eigentlichen Wortsinne gemeint als Anhaltspunkte für Verhältnisse, die den Durchschnitt der erfassbaren Merkmale beschreiben. Insofern ist – ebenso wichtig wie die räumlichen Gliederungsmöglichkeiten der Indikatoren – die inhaltliche Aussagekraft der Indikatoren und das Wissen um ihre Grenzen von entscheidender Bedeutung. Einkommen zum Beispiel über Bruttoarbeitsentgelte einer Teilgruppe abzubilden, kann in diesem Sinne nur Hilfskonstrukt in Ermangelung einer kleinräumigen Einkommenssteuerstatistik sein. Die inhaltliche Fortentwicklung des Indikatorensystems der amtlichen Statistik und der Kommunalstatistik sind daher notwendige Voraussetzung für eine inhaltlich präzise kleinräumige Raumbeobachtung.

Geodateninfrastruktur mit kleinräumigen Rasterdaten bietet großes Analysepotential Qua Zuständigkeit wurde der Umgang von Landes- und Bundesinstitutionen mit subkommunalen Daten durch viele Kommunen bislang skeptisch betrachtet. Mit umfangreichen Fachdaten versehen, wäre eine Geodateninfrastruktur aber nicht zuletzt durch Möglichkeiten der Verschneidung von Sachdaten eine zeitgemäße und mächtige Grundlage für sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Analysen. Ihr Analysepotential reichte, insbesondere durch die mögliche räumliche Granularität der Daten, deutlich über jenes der tradierten Orientierung an Verwaltungsgrenzen hinaus. Eine zentrale Geodateninfrastruktur böte dabei Kommunen, die teilweise wegen knapper Verwaltungsressourcen keine professionelle (Geo-)Datenhaltung betreiben können, die Möglichkeit kleinräumiger Auswertungen und damit die Basis für eine wissensgeleitete Sozialplanung sowie Stadt- und Gemeindeentwicklung. Heute machen sich erste lokale Initiativen wie ›Wem gehört Lüneburg?‹ (Medienhaus Lüneburg GmbH 2019) unter Beteiligung von Daten- und

Arm und Reich in der Stadtregion

Lokaljournalist*innen daran, kleinräumige Daten zum Beispiel für eine wissensgeleitete Wohnungspolitik zu nutzen. Dies gelingt bisher nur mithilfe von Daten- und Recherche-Expert*innen, die in der Lage sind, komplexe und verteilte Informationen aufzuspüren, zu sichten, zusammenzuführen und so analysierbar zu machen. Für soziale Bewegungen und kleine Initiativen wäre eine einfach zugängliche Datenquelle mit weiter verarbeitbaren Daten – ganz im Sinne offener Daten – die Basis für eine Wissensproduktion von unten.

Endnoten 1

Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit stellt ausschließlich die Bruttomonatsentgelte für die Kerngruppe des Arbeitsmarktes zur Verfügung. Diese umfasst sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte, die ein Marktentgelt erzielen. Durch den progressiven Steuertarif der deutschen Einkommensteuer ist die Spreizung der Nettogehälter kleiner als die der Bruttogehälter.

2

Die Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht keine eigenen Arbeitslosenquoten für Gebiete mit weniger als 15.000 zivilen Erwerbspersonen. Die Arbeitslosendichte ist eine auf Basis von Daten der Kommunen und der Bundesagentur für Arbeit errechnete Größe. Sie bezieht die Zahl der Arbeitslosen auf die erwerbsfähige Bevölkerung, das heißt die Personengruppe im Alter von 15 bis 64 Jahren.

3

Auch wenn häufig davon ausgegangen wird, dass Personen, die Anspruch auf existenz­ sichernde Mindestleistungen wie die Grundsicherung für Arbeitsuchende haben, armutsgefährdet sind, erfasst die amtliche Statistik nicht alle Leistungsberechtigten, sondern nur die jeweils im Leistungsbezug stehenden Personen. Die potenzielle Zahl an armutsgefährdeten Menschen ist somit höher.

Literaturverzeichnis Bolz, Pia/Jacobs, Herbert/Lubinski, Nicole (2013): Monitoring 2013. Zur sozialen Segregation und Benachteiligung in Frankfurt am Main, https://frankfurt.de/-/media/frankfurtde/ service-und-rathaus/verwaltung/aemter-und-institutionen/jugend-und-sozialamt/pdf/ themenordner/publikationen/monitoring/sozialmonitoring2013.ashx (Zugriff: 07.12.2020). Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (2019): Geodaten aus ganz Europa nutzen. INSPIRE, https://www.gdi-de.org/DE/GDI-DE/INSPIRE/inspire.html (Zugriff: 13.05.2020). Gebers, Kathrin/Graze, Philip (2019): »Statistische Datengewinnung durch die Nutzung geografischer Informationen«, in: WISTA Wirtschaft und Statistik (4/2019), S. 11-18. Hessisches Statistisches Landesamt (2020): Hessische Kreiszahlen. Landkreise und kreisfreie Städte in Hessen, https://statistik.hessen.de/publikationen/thematische-veroeffentlichungen/landkreise-und-kreisfreie-staedte-hessen (Zugriff: 12.05.2020). Medienhaus Lüneburg GmbH (2019): Wem gehört Lüneburg?, https://www.wemgehoertlueneburg.de/ (Zugriff: 01.10.2020). Regionalverband FrankfurtRheinMain (2020): Der Statistik-Viewer des Regionalverbandes, https://www.region-frankfurt.de/Services/Statistiken-Prognosen/index.php (Zugriff: 06.04.2020). Stadt Frankfurt am Main (2012): Frankfurt am Main im Regional- und Großstädtevergleich 2009, Frankfurt am Main. Stadt Frankfurt am Main (2019): Statistisches Jahrbuch Frankfurt am Main 2019, https://frankfurt. de/service-und-rathaus/zahlen-daten-fakten/publikationen/statistisches-jahrbuch (Zugriff: 04.12.2020). Stadt Frankfurt am Main (2020): Interaktives Datenangebot, https://frankfurt.de/service-und-rathaus/zahlen-daten-fakten/interaktives-datenangebot (Zugriff: 02.04.2020). Statistisches Bundesamt (2020): Interaktiver Regionalatlas, https://www.destatis.de/DE/Service/ Statistik-Visualisiert/RegionalatlasAktuell.html (Zugriff: 25.05.2020).

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Zermürbend, abschreckend, desintegrierend: Frankfurts Politik gegen Obdachlose Benjamin Böhm

Gibt es in Frankfurt Obdach für alle? Christoph Schmitt, sicherheits­ politischer Sprecher der Frankfurter CDU, ist der Meinung, dass die Stadt allen Obdachlosen in dieser Stadt ausreichende Angebote mache (FR 15.12.2017). In den Augen vieler Betroffener ist die Hilfe allerdings mangel­ haft. Das Amt für Multikulturelle Angelegenheiten hat vor mehreren Jahren eine Studie in Auftrag gegeben, die sich mit der Situation der Obdachlosen in Frankfurt auseinandersetzt. Betroffene selbst wurden unter anderem da­ nach befragt, welche Angebote die Stadt ihnen mache. Veröffentlicht wurde diese Studie erst im November 2020.1 Wie aus der Frankfurter Rundschau im März 2020 zu erfahren war, verhinderten Vertreter*innen des Magistrats lange Zeit ihre Veröffentlichung, weil »Teile der städtischen Verwaltung sich darin zu negativ dargestellt fühlen« (FR 03.03.2020). Ausgehend von zwei fiktiven Obdachlosen, die sich um eine städtische Unterkunft bemühen, möchte ich an dieser Stelle Frankfurts Obdachlosen­ politik herausarbeiten. Es soll ersichtlich werden, dass das Sozialdezernat spätestens seit 2014, als rumänische und bulgarische EU-Bürger*innen die Arbeitnehmerfreizügigkeit erhielten (Art. 45–48 AEUV), die Abwehr spe­ ziell von binneneuropäischen ausländischen Obdachlosen zu einem Dogma seiner Politik erhoben hat. Diese politische Sackgasse soll hier auch in ihrem rechtlichen und bundespolitischen Kontext dargestellt werden. Ich bin Politikwissenschaftler und Sozialarbeiter und arbeite in einer Be­ ratungsstelle für Wohnungslose2 und in der Straßensozialarbeit. Ich war nie wohnungslos. Ein Text, der sich der Problematik auf Grundlage der eigenen Ausgrenzungserfahrung widmet, wäre ebenfalls angebracht gewesen. Leider kenne ich keine Betroffenen, die einen solchen Text schreiben würden. Ei­ nige Aussagen im Text beruhen auf den Erfahrungen meines Berufsalltags und den Aussagen meiner Klient*innen und sind nicht wie andere Quellen belegbar. Ich hoffe, dadurch einen parteiischen Beitrag leisten zu können, um im Diskurs auch die marginalisierten Positionen von Betroffenen wie­ derzugeben. Ich erhebe nicht den Anspruch, über oder für alle Betroffenen zu sprechen. Ich fokussiere bewusst eine ganz bestimmte Mehrheitsgruppe unter den Obdachlosen: die Bürger*innen der EU, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen.

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Themen und Konflikt­felder

Was passiert, wenn Andre* und Christian* nach einem Bett im Ostpark fragen?

Abbildung 1: Schlafstätte in Frankfurt am Main, Juni 2020 (Quelle: Sebastian Schipper 2020).

Andre* und Christian* sind Freunde, die zusammen in einer geschützten Ecke eines Frankfurter Grünstreifens nächtigen.3 Beide sind gleich alt, beide haben keine Arbeit, keine Wohnung. Beide sind – noch – relativ gesund und fühlen sich in der Lage, einer Arbeit nachzugehen. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied, der für den weiteren Verlauf ihres Lebens entscheidend sein wird: Christian* ist deutscher Staatsbürger. Andre* ist ausländischer Bürger der EU.4 Beide fragen in der Notübernachtungsstätte Ostpark (im Folgenden Ostpark genannt), der einzigen Einrichtung in Frankfurt, in der arbeitslose Wohnungslose ohne besonderen sozialrechtlich legitimierten Förderungsbe­ darf unter bestimmen Bedingungen über einen längeren Zeitraum schlafen dürfen, nach einem solchen Bett. Das taten sie bereits vorher, aber es gab keine freien Plätze. Heute bekommen beide einen Schlafplatz in einem Mehrbettzimmer. Am nächsten Tag werden sie aufgefordert, beim Sozialamt vorzusprechen. Die Notbetten im Ostpark werden durch die Stadt finanziert und in Frankfurt wird der rechtliche Anspruch auf ein Notbett durch das Sozialamt geprüft. Das Sozialamt entscheidet nach den Gesprächen: Chris­ tian* darf vorerst weiterhin im Ostpark bleiben, denn er ist Deutscher. Das Sozialamt stellt ihm eine Frist, in der er sich um Nachweise zu kümmern hat, um beispielsweise zu beweisen, dass er in keiner anderen Kommune ge­ meldet ist oder keine Sozialleistungen in einer anderen Stadt bezieht. Hätte er außer seiner Wohnungslosigkeit noch weitere Probleme und würde ein*e Sozialarbeiter*in diese als »besondere soziale Schwierigkeiten« gemäß §§ 67 ff. SGB XII identifizieren, so hätte Christian* die Chance, in Zukunft in ein Übergangswohnheim für Wohnungslose zu ziehen. Da Andre* weder deutscher Staatsbürger ist noch eine Arbeit hat, wird seine Unterbringung im Ostpark sofort beendet. Es interessiert das Sozialamt nicht, ob Andre* besondere soziale Schwierigkeiten gemäߧ§ 67 ff. SGB XII hat, denn er hat wegen seiner Staatsbürgerschaft keinen grundsätzlichen Anspruch auf diese Leistung, ebenso wenig wie auf Geld vom Jobcenter.

Zermürbend, abschreckend, desintegrierend: Frankfurts Politik gegen Obdachlose

Das Sozialamt bietet ihm an, ein Rückfahrtticket in sein Herkunftsland zu finanzieren. Dies ist das einzige Angebot, das Andre* gemacht wird. Andre* lehnt ab und schläft wieder im Grünstreifen (s. Abb. 1).

Der rechtliche Rahmen der Unterbringung Obdachloser Die Hilfen für Wohnungslose fußen auf zwei gesetzlichen Säulen. Einerseits werden die klassischen Hilfsangebote der Wohnungsnotfallhilfe, beispiels­ weise Übergangswohnheime mit sozialarbeiterischer Begleitung, durch den Staat finanziert, weil er Menschen mit »besonderen sozialen Schwierigkei­ ten« gemäß §§ 67 ff. SGB XII einen besonderen Hilfeanspruch zugesteht. Diese Hilfe steht, wie nahezu alle anderen Leistungen der Sozialgesetzbü­ cher, den meisten ausländischen obdachlosen EU-Bürger*innen rechtlich nicht mehr zu. Vor allem seitdem Rumänien und Bulgarien 2007 der EU beigetreten sind, wurde kontrovers über die Folgen diskutiert, die eine Migration ausländischer, arbeitssuchender Menschen auslösen könnte. Die­ se antiziganistisch geprägte Debatte (Lausberg 2015) schlug sich 2016 in der deutschen Gesetzgebung nieder. Das »Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch« (BGBl. 2016: S. 3155 f.) war wegweisend für die Mehrheit der Obdachlosen in Deutschland, denn seitdem erhalten nur dieje­ nigen ausländischen EU-Bürger*innen die Normleistungen nach SGB II und SGB XII, die seit fünf Jahren nachweisbar ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben, aktuell arbeiten oder durch vorherige Beschäftigung Ansprüche auf meist temporäre sozialrechtliche Leistungen erworben haben und somit laut Gesetz als Arbeitnehmer*innen gelten.5 Andererseits gibt es in Deutschland kommunale Hilfsangebote, die sich auf Sicherheits- und Ordnungsgesetze der Bundesländer beziehen, und ge­ nau hier verfolgt das Sozialdezernat einen rechtlich umstrittenen Weg. Die Bundesländer besitzen eigene Sicherheits- und Ordnungsgesetze, gemäß derer unfreiwillige Obdachlosigkeit eine durch die Behörden zu behebende Gefahr für die Betroffenen darstellt (Ruder 2015: 5f.). In Hessen ist dieses Gesetz das Hessische Sicherheits- und Ordnungsgesetz (HSOG). Interessant ist dabei, dass in der Logik dieses Gesetzes die Pflicht zur Behebung der unfreiwilligen Obdachlosigkeit nicht ethnisch oder staatsbürgerlich interpre­ tiert werden dürfte, denn laut dem Juristen Karl-Heinz Ruder (2015: 56), der als Experte auf dem Gebiet des Polizei- und Ordnungsrechts gilt, »kommt (…) [es] nicht auf die Nationalität oder auf den jeweiligen Aufenthaltssta­ tus des Störers an.« Das Sozialdezernat folgt dieser Logik nicht, sondern handelt gemäß seiner eigenwilligen Interpretation: Es wendet die Logik der Sozialgesetzgebung auf das Ordnungsrecht an. Eine Unterkunft kann als ob­ dachlose*r EU-Bürger*in nur zugesprochen bekommen, wer durch die eben skizzierte Gesetzesänderung von 2016 nicht von Leistungen ausgeschlossen wird. Der Ostpark ist der einzige Platz in Frankfurt, an dem arbeitslose Men­ schen mit Sozialrechtsansprüchen in der Regel gemäß HSOG für mehr als ein paar Tage untergebracht werden und ein sogenanntes Notbett bekommen können. Geht jemand einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nach und das Nettoeinkommen überschreitet den Pfändungsfreibetrag nicht (siehe un­ ten), so haben Obdachlose die Chance, dass das Sozialamt ihnen, auch wenn sie EU-Bürger*innen sind, eine Hotelunterbringung zuspricht. Obdachlose EU-Bürger*innen ohne Leistungsanspruch werden in Frankfurt in der Regel nicht nach HSOG untergebracht und sind gezwungen, obdachlos zu bleiben.

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Themen und Konflikt­felder

Andre*s und Christian*s Kampf um Unterbringung Frankfurts Sozialpolitik agiert nach dem Prinzip, die Sesshaftwerdung obdachloser Bürger*innen zu behindern und richtet sich vor allem gegen ausländische obdachlose EU-Angehörige. Manuela Skotnik, die Pressespre­ cherin des Sozialdezernats, sagt, dass man durch diese Sozialpolitik »keine Anreize schaffen« (Skotnik, zit. n. FR 15.02.2017) wolle, dass sich mehr obdachlose EU-Bürger*innen hier niederlassen. Die Aufrechterhaltung der Unterbringung in einer städtischen Unterkunft, egal ob im Ostpark oder in einem durch die Stadt finanziertem Hotel, bleibt für Christian* und Andre* wie für die meisten meiner Klient*innen stets brüchig, prekär und herausfor­ dernd. Abgesehen von individuellen besonderen sozialen Schwierigkeiten ist die komplizierte Erlangung und Aufrechterhaltung einer Unterbringung nach HSOG in erster Linie auf die hohen – politisch intendierten – behördli­ chen Hürden zurückzuführen. Für Andre* bedeutet die Ausgrenzung aus dem Hilfe- und Sozialsystem eine permanente Krisensituation: Andre* hat derzeit keinerlei Anspruch auf Jobcenterleistungen. Er hat Probleme dabei, ein Konto zu eröffnen, eine Adresse anzugeben oder sich aufgrund eines fehlenden Sozialleistungsan­ spruchs eine Krankenversicherung zu leisten. Andre* hat keinen geschützten Raum, er ist stets gezwungen, als Obdachloser sichtbar zu sein, wird durch die Polizei als Verdächtiger markiert, ist in Gefahr, auf der Straße körperli­ che Gewalt zu erleiden. Andre* spricht wenige Wochen später erneut im Sozialamt vor. Denn trotz seiner schwierigen Lebensumstände erhielt er durch eine Zeitarbeits­ firma eine sozialversicherungspflichtige, wenn auch befristete Arbeit. Für von weiten Teilen des Sozialrechts ausgeschlossene wohnungslose EU-Bürger*innen stellt die Aufnahme einer Arbeit die einzige Möglichkeit dar, ein staatlich finanziertes Notbett zu erhalten. Doch auch in diesem Fall knüpft das Sozialamt seine Unterbringung an aus dem HSOG abgeleitete Bedingungen, die vor dem Hintergrund einer prekären Lebenslage und geringster materieller Mittel schwer zu bewältigen sind. Der Arbeitsvertrag, den Andre* dem Sozialamt vorlegt, führt vorerst nicht zu einer Unterbrin­ gung in einem Hotel. Das Sozialamt möchte sich sicher sein, dass Andre*s Monatslohn die Pfändungsfreigrenze6 nicht übersteigen wird, denn nur dann wird eine Hotelunterbringung gewährt. Diese Grenze ist aus dem Arbeitsvertrag nicht ersichtlich. Das Sozialamt gewährt ihm deshalb vorerst keine Hotelunterbringung, sondern ein Bett im Ostpark, bis er die Höhe seines durchschnittlichen Monatslohns belegen kann. Besonders die ersten Wochen auf der Arbeit werden für Andre* eine enorme Herausforderung: Er hat noch keinen Lohn bekommen und somit keine Möglichkeit, seine Grundbedürfnisse zu stillen oder eine Monatskarte für den Weg zur Arbeit zu kaufen. Ein weiterer Belastungsfaktor ist die Unterbringungssituation im Ostpark. Andre* schläft im Mehrbettzimmer zusammen mit Menschen, die einen anderen Tagesrhythmus haben. Doch er muss um fünf Uhr morgens aufstehen.7 Sobald Andre* seinen durchschnittlichen Monatslohn belegen kann, muss er wieder beim Sozialamt vorsprechen. Andre* bekommt eine Hotelunterbringung zugesprochen, weil sein Nettolohn unterhalb der Pfän­ dungsfreigrenze liegt. Ein halbes Jahr später hat sich Andre* im Beruf bewährt und verdient nun mehr Geld. Das Sozialamt stuft seinen neuen Monatslohn über der Pfändungsfreigrenze jetzt gemäß HSOG als hoch genug ein, um sich selbst eine Wohnung leisten zu können (Ruder 2015: 22 f.). Obwohl er kurzfris­ tig keine bezahlbare Wohnung finden kann, verliert Andre* deshalb sein

Zermürbend, abschreckend, desintegrierend: Frankfurts Politik gegen Obdachlose

Hotelzimmer. Auch ein Bett im Ostpark bekommt er wegen der Höhe seines Lohns nicht zugesprochen. Andre*s neue existenzbedrohende Krise wurde absurderweise dadurch ausgelöst, dass er beruflichen Erfolg hat. Um nicht wieder obdachlos zu werden, findet Andre* kurzfristig nur ein illegal un­ tervermietetes Mehrbettzimmer. Solche Zimmer werden – teilweise durch die Hauptmieter*innen, teilweise durch die Wohnungsbesitzer*innen selbst – in Frankfurt hochpreisig an prekarisierte Arbeiter*innen vermietet, die auf dem regulären Markt wenig Chancen haben, eine Wohnung zu finden. Einen Mietvertrag unterzeichnet Andre* nicht, die Monatsmiete lässt sich die*der Vermieter*in monatlich in bar geben.

Frankfurter Obdachlosenpolitik: im Stillstand erstarrt Lange vor der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bürger*innen aller EU-Staaten bedienten sich deutsche Politiker*innen am antiziganistischen Bild der »südosteuropäischen Armutsmigration« (Lausberg 2015), um die soziale Frage zu nationalisieren und einen schlanken Sozialstaat einzufordern und durchzusetzen (Butterwegge 2015). Die Zusammensetzung der Obdachlo­ sen in Frankfurt hat sich in den letzten Jahren zunehmend europäisiert. Dies hat zur Folge, dass ein größerer Anteil der Obdachlosen nahezu komplett aus dem deutschen Sozialsystem ausgeschlossen wird. Obdachlosigkeit in Frankfurt und Europa wird durch einen ökonomi­ schen und politischen Zustand innerhalb der EU hervorgebracht, der vielen Lohnabhängigen nirgends eine dauerhafte Unterkunft, ausreichende Sozial­ leistungen oder nicht-prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse bieten kann. Darüber hinaus verlassen auch Menschen aus EU-Staaten ihre Herkunfts­ länder, weil sie beispielsweise wegen ihrer Lebensführung, ihrer sexuellen Orientierung oder ethnischen Zugehörigkeit ausgegrenzt werden. Sie erhof­ fen sich in Deutschland eine bessere Lebensperspektive. Dem zum Trotz ist der politische Diskurs über binneneuropäische Migration nach Deutschland nicht durch eine innereuropäische Solidarisierung geprägt, sondern zeichnet sich zum größten Teil durch Solidaritätsverweigerung aus. Frankfurt begründet seine Obdachlosenpolitik mit zwei Argumenten: Einerseits durch den bundespolitischen sozialrechtlichen Ausschluss eines Großteils der Obdachlosen, denen man »keine Anreize bieten« (Skotnik, zit. n. FR 15.02.2017) wolle, nach Frankfurt zu kommen; andererseits durch den grundsätzlichen Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Diese Politik wird durch das Sozialdezernat als alternativlos dargestellt (FNP 17.10.2018). Es ist unzweifelhaft, dass die vielen Wohnungslosen und der Mangel an bezahl­ barem Wohnraum auch auf eine über Jahrzehnte verfolgte neoliberalisierte Wohnungspolitik zurückzuführen sind (—Schipper/Heeg in diesem Band). Auch die Einschätzung des Sozialdezernats, dass sich die Zusammensetzung der Obdachlosen verändert habe und dass eine neue Gesetzeslage eine politi­ sche Reaktion nötig mache, trifft zu (FR 15.02.2017). Der daraus abgeleiteten Alternativlosigkeit – einer Abschreckungspolitik gegen die Mehrheit der Obdachlosen – ist jedoch nicht zuzustimmen. Denn Beispiele aus anderen deutschen Großstädten zeigen, dass kommunale Sozi­ alpolitik durchaus die Steuerungsinstrumente besitzt, ihre Angebote dem ge­ stiegenen Anteil von EU-Bürger*innen unter den Obdachlosen anzupassen, trotz deren Ausschluss aus weiten Teilen des Sozialsystems. So eröffnete in Köln eine neue ganzjährige Unterkunft für nicht-sozialleistungsberechtige Wohnungslose (KSTA 21.10.2018), in München erweiterte man das dortige Winternotprogramm, vergleichbar mit dem Erfrierungsschutzprogramm am Frankfurter Eschenheimer Tor zur kalten Jahreszeit, auch auf den Sommer

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Themen und Konflikt­felder

(BR 22.11.2019) und in Hamburg machte die rot-grüne Regierung die Pläne für eine Ausweitung der Angebote für obdachlose EU-Bürger*innen zum Teil des Koalitionsvertrags 2020. Die Voraussetzung für solche Angebote in Frankfurt wäre jedoch die prinzipielle Bereitschaft sozialpolitischer Entscheidungsträger*innen, einen Paradigmenwechsel vorzunehmen. Sozialpolitik in Bezug auf prekarisierte EU-Bürger*innen müsste als Integrationspolitik verstanden werden und nicht mehr als Teil einer repressiven Ordnungspolitik, die sich – wie der­ zeit – gegen die Mehrheit der Obdachlosen in Frankfurt richtet. Von einem solchen sozial- und ordnungspolitischen Umsteuern ist Frankfurt jedoch weit entfernt. Frankfurts Sozialdezernentin Daniela Birkenfeld (CDU), die dem jahrelangen Stillstand der Obdachlosenpolitik seine Kontur gibt, bleibt bei ihrer gescheiterten Politik der Abschreckung. Nicht einmal ein pragmatischer Umgang mit der Tatsache, dass sich viele Obdachlose ohne Leistungsanspruch trotz dieser Abschreckungspolitik in Frankfurt dauerhaft niedergelassen haben und sich auch weiterhin niederlassen werden, also statt als Wanderarbeiter*innen als Frankfurter Bürger*innen zu betrachten sind, wird von Birkenfeld in Erwägung gezogen. Auch andere Dezernate haben gegen Obdachlose gerichtete Verordnun­ gen in den letzten Jahren sowohl verschärft als auch vermehrt angewandt. Bereits als Frankfurt 1999 die »Gefahrenabwehrverordnung über die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf und an den Straßen, Grün- und Spielanlagen [...]« erließ, geriet diese in die Kritik. Seit­ dem ist nicht nur das »Lagern« (§ 7 Abs. 2) untersagt, also ein Tatbestand geschaffen, der nur auf diejenigen zielt, denen die Stadt eine Unterkunft vorenthält, sondern auch »das aggressive Betteln, insbesondere durch nach­ drückliches oder hartnäckiges Ansprechen von Personen zum Zwecke der Bettelei« (§ 7 Abs. 3); was sich, wie die Roma Union kritisiert, implizit gegen Rom*nja richte (Jungle World 24.02.1999). Im Geiste dieser gegen Obdachlose gerichteten Verordnung verschärfte das Umweltdezernat unter Rosemarie Heilig (Grüne) 2017 die Grünanlagensatzung. In ihrer Neufas­ sung ist das »[L]agern und [N]ächtigen« (§ 3 Abs. 4 Nr. 7) seitdem verboten (vgl. hierzu kritisch Böhm 2017a). Die Stadtpolizei besitzt dadurch eine Gesetzesgrundlage, schlafende Obdachlose von nahezu jedem beliebigen Ort zu vertreiben. Immer wieder wurde in den letzten Jahren bezogen auf den Umgang mit Obdachlosen die Interdependenz wellenartiger Berichts­ erstattung, politischer Reaktionen und verschärfter polizeilicher Repression deutlich (Böhm 2017b).8

Wohnungslose während der COVID-19-Pandemie Die COVID-19-Pandemie ermöglicht einen unverstellten Blick auf die Irrwege der kommunalen Obdachlosenpolitik. Die Krise wäre auch eine Möglichkeit umzudenken. Voraussetzung einer anderen Obdachlosenpolitik wäre jedoch die prinzipielle Bereitschaft des Magistrats, neue Wege zu gehen. Dieser Wille ist nicht zu erkennen. Andre* und Christian* schlafen trotz der COVID-19-Pandemie noch immer in beengten Wohnverhältnissen, der eine in einem illegal unterver­ mieteten Mehrbettzimmer, der andere im Ostpark. Besonders Andre*, der eine koronare Herzkrankheit hat und somit zur Risikogruppe gehört, ist ge­ fährdet, im Falle einer COVID-19-Infektion schwerwiegend zu erkranken. Die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe ist für Frankfurts Sozialpolitik jedoch noch kein Grund, ihm ein Einzelzimmer zur Verfügung zu stellen. Tagsüber können sich weder Andre* noch Christian* in ihren Zimmern

Zermürbend, abschreckend, desintegrierend: Frankfurts Politik gegen Obdachlose

aufhalten, um dort Ruhe zu finden, daher besuchen beide eine Tagesstätte für Wohnungslose. Obwohl auch hier die Höchstanzahl der Besucher*innen während der Pandemie reduziert wurde, ist es in den beengten Räumen nicht möglich, zu anderen Menschen den empfohlenen Abstand von 1,5 Metern zu halten. Grundsätzlich bedeutet die COVID-19-Pandemie für viele Wohnungslose, die zur Risikogruppe gehören, dass diese nicht die Möglichkeit haben, sich zum Schutz ihrer Gesundheit in einem Zuhause zu isolieren oder im Alltag den nötigen Abstand zu halten. Wohnungslosen, die beispielsweise in Mehrbettzimmern durch das Sozialamt untergebracht sind oder in sonstigen beengten prekären Wohnverhältnissen leben, ist die Einhaltung eines Mindestabstands oder eine Isolation nicht möglich. Die ge­ sundheitliche Gefährdung Wohnungsloser während der Pandemie ist zudem durch ihren im Vergleich zum Rest der deutschen Bevölkerung schlechteren Gesundheitszustand um ein Vielfaches höher (Bäuml/Bauer/Brenner 2017). Weil Andre* und Christian* sich weder in ihren Unterkünften aufhalten können noch die Tagesstätten unbegrenzt geöffnet haben, können die beiden nur in der Öffentlichkeit soziale Kontakte pflegen. Die Polizeikontrollen, die Aufforderungen, sich nicht zusammen an ihrer Lieblingsstraßenecke aufzu­ halten, aber auch die gewaltsame Vertreibung von ihren bevorzugten Plätzen haben seit dem Beginn der COVID-19-Pandemie deutlich zugenommen. Da besonders in der ersten Zeit der Pandemie jede Form von öffentlicher Zusammenkunft untersagt wurde, bedeutete dieser Zustand besonders für Wohnungslose, die keinen Raum des privaten Rückzugs haben, dass diese – noch mehr als sonst – durch die Polizei als potentielle Gefahrenquelle behandelt und drangsaliert wurden. Trotz der sich verändernden Lage während der COVID-19-Pandemie hält das Sozialdezernat mit verbissenem Starrsinn an seiner bisherigen Politik fest: Statt generell wegen der allgemein vermehrten Nachfrage nach einer Notunterbringung mehr Notbetten zur Verfügung zu stellen oder auch Angebote für Wohnungs- und Obdachlose dauerhaft neu zu schaffen, wurden lediglich einige Zimmer ausschließlich für Menschen mit Krank­ heitssymptomen oder Infizierte angemietet (FR 27.03.2020). Abgesehen davon stützt sich Frankfurts Obdachlosenpolitik während COVID-19 auf die bereits bestehenden – derzeit überlasteten – Einrichtungen der Woh­ nungsnotfall- und Suchthilfe. Politische Entscheidungen haben zudem die Nachfrage nach Notbetten noch gesteigert, zum Beispiel die Verfügung des hessischen Justizministeriums, dass der Freiheitsentzug bestimmter Häftlin­ ge, die lediglich eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, temporär unterbrochen wird (FR 31.03.2020). Auch die Krise auf dem Arbeitsmarkt ist für viele Wohnungslose Aus­ löser einer existenzbedrohenden Krise. Besonders in solchen Momenten sind viele Wohnungslose auf die Hilfe von Dritten angewiesen, um bei­ spielsweise Arbeitslosengeld zu beantragen. Außer den Einrichtungen der Sucht- und Wohnungsnotfallhilfe schlossen jedoch nahezu alle Hilfestellen und Ämter für den Publikumsverkehr. Das heißt, dass Migrationsberatungs­ stellen, Ausländerbehörde, Jobcenter, Arbeitsagentur, Schuldnerberatungen, Sozialberatungsstellen und viele mehr höchstens am Telefon oder online Hilfe anboten, was besonders Klient*innen mit geringen Deutschkenntnis­ sen, ohne Telefon oder Internetzugang diskriminiert, zum Beispiel Andre*. Ihm geht es wie vielen prekär Beschäftigten während der Pandemie: Sein befristeter Vertrag wird nicht verlängert und er verliert seine Arbeit. Zwar hat er nun einen zeitlich begrenzten Anspruch auf Arbeitslosengeld II, aber aufgrund seiner Sprachschwierigkeiten ist er darauf angewiesen, dass ihm jemand bei der Antragsstellung hilft. Hilfe bieten unter normalen Umständen

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Themen und Konflikt­felder

Sozialberatungsstellen mit offener Sprechstunde; im Frühjahr 2020 jedoch nicht, da viele Hilfestellen nur noch per Telefon zu erreichen sind. Andre* ist jedoch nicht fähig, seine Fragen am Telefon zu klären. In einer anderen Beratungsstelle erhielt Andre* zwar einen Termin, jedoch erst nach mehre­ ren Wochen. Dort half man ihm mit seinem Erstantrag auf Arbeitslosengeld II, aber aufgrund der langen Wartezeit auf einen Termin stellt er den Antrag weit nach der Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses. Ein großes Problem stellt auch seine Wohnsituation dar. Da er keinen Mietvertrag nachweisen kann, übernimmt das Jobcenter auch seine monatlichen Miet­ zahlungen nicht. Weil er noch Dokumente nachreichen muss, dauert es fast zwei Monate bis zum ersten Mal Geld auf sein Konto überwiesen wird. Im Gegensatz zu deutschen Staatsbürger*innen wird Andre* jedoch nach we­ nigen Monaten kein Arbeitslosengeld mehr bekommen. Das Jobcenter wird ihn dann nämlich nicht mehr als ehemaligen Arbeitnehmer betrachten, der durch seine Arbeit in Deutschland ein Recht auf Arbeitslosengeld besitzt, sondern als arbeitssuchenden EU-Bürger ohne dauerhaften Anspruch auf Grundsicherung nach SGB II. Andre* verliert während der COVID-19-Epidemie alles, was er sich seit seiner Arbeitsaufnahme erkämpfte: Er ist während der Wartezeit auf sein Arbeitslosengeld II gezwungen, seine mühsam angehäuften Ersparnisse auszugeben. Außerdem verliert er seine Unterkunft, denn Andre* kann die Miete ohne eine Mietkostenübernahme des Jobcenters nicht mehr bezahlen. Andre* findet sich als Folge der Krise wieder genau an dem Ort ein, den er vor ein paar Monaten verließ. Die geschützte Ecke im Grünstreifen wird erneut sein Schlafplatz.

Endnoten 1 https://www.amka.de/sites/default/files/2020-11/Bedarfsanalyse_wohnungsloser_EU-Bu­

erger_innen_in_Frankfurt_am_Main.pdf 2

Als wohnungslos bezeichne ich in diesem Text alle Menschen, die »nicht über einen miet­ vertraglich abgesicherten Wohnraum« (BAGW o. J.) verfügen. Als obdachlos bezeichne ich diejenigen, die überhaupt keine Unterkunft haben und gezwungen sind, im öffentlichen Raum zu schlafen.

3

Der Asterisk hinter den Namen soll verdeutlichen, dass sie als Beispiel für die Probleme vieler Obdachloser stehen sollen, nicht als beliebig herausgegriffene Beispiele.

4

In der Mehrheit sind Obdachlose in Frankfurt ausländische EU-Bürger*innen, weil diese größtenteils aus dem System der Notbettenvergabe und dem Hilfesystem für Menschen mit »besonderen sozialen Schwierigkeiten« gemäß §§ 67 SGB XII ausgeschlossen werden. Eine in den letzten Jahren stattfindende Zunahme des Anteils der ausländischen EU-Bür­ ger*innen unter den Wohnungslosen kann, trotz fehlender offizieller städtischer Statistik, durch die Jahresberichte der Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe nachgewiesen werden (Diakonie 2020: 14). Es ist davon auszugehen, dass der Anteil der ausländischen EU-Bür­ ger*innen unter den Obdachlosen um ein Vielfaches höher ist als unter der Gesamtheit der Wohnungslosen, worauf auch Aussagen über die Zusammensetzung der explizit an Obdachlose gerichteten Angebote durch die Betreiber*innen hinweisen (FAZ 25.10.2019).

5

Ich unternehme an dieser Stelle eine starke Verkürzung und Vereinfachung der neuen Rechtsprechung (Der Paritätische 2017).

6

Derzeit liegt diese Grenze für Personen ohne Unterhaltspflichten bei 1.178,59 €.

7

Viele meiner Klient*innen berichten von Gewalterfahrungen im Ostpark, fühlen sich dort bedroht und entscheiden daher oftmals, lieber auf der Straße zu schlafen.

Zermürbend, abschreckend, desintegrierend: Frankfurts Politik gegen Obdachlose

8

Zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Zeilen (Juni 2020) findet ein ähnliches, hauptsächlich gegen obdachlose Drogenabhängige im Bahnhofsviertel gerichtetes Medienereignis mit ungewissem Ausgang statt (Jungle World 18.06.2020).

Literaturverzeichnis BR, Bayrischer Rundfunk (22.11.2019): Obdachlose können nun ganzjährig in Bayernkaserne übernachten, https://www.br.de/nachrichten/bayern/obdachlose-koennen-nun-ganz­ jaehrig-in-bayernkaserne-uebernachten,RiZ0kPS (Zugriff: 28.06.202). Bäuml, Josef/Baur, Barbara/Brönner, Monika/Pitschel-Walz, Gabriele/Jahn, Thomas (2017): Die SEEWOLF*-Studie: Seelische und körperliche Erkrankungen bei wohnungslosen Menschen, Freiburg im Breisgau: Lambertus. Böhm, Benjamin (2017a): Schlafen – wenn überhaupt – nur noch auf Beton toleriert. Frankfurt forciert durch seine neue Grünanlagensatzung dem Kampf gegen die Sichtbarkeit der Ob­ dachlosigkeit, https://bohemeben.wordpress.com/2017/11/08/schlafen-wenn-ueberhauptnur-noch-auf-beton-toleriert/ (Zugriff: 28.06.2020). Böhm, Benjamin (2017b): Iskandars Romageschichten. Wie mit Halbwahrheiten in der FAZ Antiziganismus befördert wird, https://bohemeben.wordpress.com/2017/09/01/iskan­ dars-roma-maerchenstunde/ (Zugriff: 28.06.2020). BAGW, Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (o.J.): Wohnungsnotfälle, https:// www.bagw.de/de/themen/zahl_der_wohnungslosen/wohnungsnotfall_def.html (Zugriff: 28.06.2020). BAGW, Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (2015): Grundsätze der polizeiund ordnungsrechtlichen Unterbringung von (unfreiwillig) obdachlosen Menschen unter besonderer Berücksichtigung obdachloser Unionsbürger, https://www.bagw.de/de/themen/ notversorgung/gutacht.html (Zugriff 28.06.2020). Butterwegge, Christoph (2015): Hartz 4 und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik, Weinheim/Basel: Juventa. Der Paritätische Gesamtverbund (2017): Arbeitshilfe: Ansprüche auf Leistungen der Existenz­ sicherung für Unionsbürger/-innen, Berlin, http://ggua.de/fileadmin/downloads/tabel­ len_und_uebersichten/arbeitshilfe2017.pdf (Zugriff: 28.06.2020). Diakonisches Werk für Frankfurt und Offenbach des Evangelischen Regionalverbandes Frankfurt und Offenbach (2020): WESER5 Tätigkeitsbericht 2019, Frankfurt am Main. FAZ, Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25.10.2019): Herr Mickey Maus schläft in der B-Ebene, https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/u-bahn-station-eschenheimer-tor-wird-lager-fuerobdachlose-16449725.html (Zugriff: 28.06.2020). FNP, Frankfurter Neue Presse (17.10.2018): Stadt: nur in Notfällen werden Hotels angemietet, https://www.fnp.de/frankfurt/stadt-notfaellen-werden-hotels-angemietet-10357519.html (Zugriff: 28.06.2020). FR, Frankfurter Rundschau (15.02.2017): Runder Tisch zur Gutleut-Brache, https://www. (Zugriff: fr.de/frankfurt/die-linke-org26318/runder-tisch-gutleut-brache-11658969.html 28.06.2020). FR, Frankfurter Rundschau (15.12.2017): Obdachlose müssen Strafe zahlen, https://www.fr.de/ frankfurt/die-linke-org26318/obdachlose-muessen-strafe-zahlen-10998190.html Zugriff: 28.06.2020). FR, Frankfurter Rundschau (03.03.2020): Stadt hält Obdachlosen-Studie seit 2018 unter Verschluss. Nun gibt es Streit, https://www.fr.de/frankfurt/frankfurt-stadt-haelt-obdachlo­ sen-studie-unter-verschluss-sorgt-streit-13569609.html (Zugriff: 28.06.2020). FR, Frankfurter Rundschau (27.03.2020): Frankfurt öffnet ein Hotel für Obdachlose, https://www. fr.de/frankfurt/frankfurt-oeffnet-hotel-wohnungslose-13631372.html (Zugriff: 29.06.2020). FR, Frankfurter Rundschau (31.03.2020): Coronavirus. In Hessens Gefängnissen herrscht Besuchsverbot, https://www.fr.de/politik/coronavirus-hessens-gefaengnissen-herrscht-be­ suchsverbot-13635533.html (Zugriff: 28.06.2020). Jungle World (24.02.1999): Frankfurt hängt die Wäsche ab. Die Stadt Frankfurt am Main legt die »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetze« neu auf, https://jungle.world/artikel/1999/08/ frankfurt-haengt-die-waesche-weg (Zugriff: 28.06.2020). Jungle World (18.06.2020): Frankfurt intravenös. Ein Frankfurter Stadtmagazin stört sich an der liberalen Drogenpolitik der Stadt, https://jungle.world/artikel/2020/25/frankfurt-intra­ venoes (Zugriff: 30.06.2020). KSTA, Kölner Stadtanzeigers (21.10.2018): Unterkunft für Obdachlose aus Osteuropa eröffnet, https://www.ksta.de/koeln/platz-fuer-bis-zu-90-menschen-unterkunft-fuer-obdachlo­ se-aus-osteuropa-in-koeln-eroeffnet-31469218 (Zugriff: 28.06.2020). Lausberg, Michael (2015): Antiziganismus in Deutschland. Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien, Marburg: Tectum. Ruder, Karl-Heinz (2015): Grundsätze der polizei- und ordnungsrechtlichen Unterbringung von (unfreiwillig) obdachlosen Menschen unter besonderer Berücksichtigung obdachloser Unionsbürger, Berlin: Verlag der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V.

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ÖPNV für alle? Soziale Aspekte und aktuelle Verschiebungen im Kontext von Fahrkarten und Tarifen Stefanie Schwerdtfeger

Mobilität ist eine zentrale Voraussetzung für Teilhabe. In urbanen Räumen wie Frankfurt am Main gilt der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) als umweltfreundliche und kostengünstige Alternative zum motorisierten Individualverkehr (MIV). Er stellt vor allem ein wichtiges Verkehrsmittel für Haushalte mit niedrigem ökonomischen Status dar. In diesem Beitrag werden drei aktuelle Entwicklungen im Kontext des Ticketing im ÖPNV für Frankfurt am Main problematisiert. Schließlich ist die ÖPNV-Finanzierung eine ambivalente Problemlage, da der Betrieb primär über Fahrgeldeinnahmen gedeckt wird, die Nutzungsattraktivität jedoch sinken kann, wenn Ticketpreise von den Fahrgästen als zu teuer wahrgenommen werden. Letzteres kann sich negativ auf die Nutzungshäufigkeit öffentlicher Verkehrsmittel auswirken und darüber hinaus auch zum Fahren ohne (gültigen) Fahrschein motivieren. Insbesondere Personen mit geringen finanziellen Einkünften haben oft Schwierigkeiten, ihre Alltagsmobilität zu finanzieren. In diesem Beitrag wird zunächst die Bedeutung des ÖPNV für Personen und Haushalte mit geringem ökonomischen Status erörtert. Anschließend erfolgt eine Diskussion über drei aktuelle Problemlagen im Kontext des Ticketing in Frankfurts ÖPNV: (1) Fahrpreiserhöhungen in den letzten Jahren, (2) der Frankfurt-Pass und (3) der entfernungsbasierte RMVsmart-Tarif. Mit der Diskussion wird aufgezeigt, dass die ÖPNV-Finanzierung eine sozio-politische Problemlage darstellt, da die aktuellen Entwicklungen Mobilitätsarmut und soziale Exklusion befördern können. Zudem werden Lösungsansätze für die Problemfelder diskutiert, die dazu beitragen können, die soziale Nachhaltigkeit im Ticketing in Frankfurt zu stärken.

Mobilität im Kontext von Finanzierbarkeit Mobilität kann als »subjektive Ausprägung der Ortsveränderungsmöglichkeiten [definiert werden]. Dieser individuelle Möglichkeitsraum resultiert aus räumlichen, physischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und deren subjektiver Wahrnehmung« (Schwedes et al. 2018: 5). Die Fähigkeit der räumlichen Fortbewegung kann durch verschiedene Restriktionen eingeschränkt werden. Im Kontext des ÖPNV sind so genannte »authority constraints« (Hägerstrand 1970) zu betonen, die auch als

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Themen und Konflikt­felder

Abbildung 1: Der Zusammenhang zwischen Mobilitätsarmut und sozialer Exklusion (Quelle: Schwerdtfeger 2019; eigene Darstellung und Übersetzung nach Lucas 2012).

Machtinstrumente bezeichnet werden können und den Zugang zu Räumen beziehungsweise Orten regeln. Nutzungsgebühren in Form von Tickets sind dafür verantwortlich, dass der ÖPNV nicht für alle gleichermaßen zugänglich ist und können als Machtinstrument im Sinne von »authority constraints« verstanden werden (Schwerdtfeger 2019). Einschränkungen in der Mobilität können Mobilitätsarmut bedingen (Lucas 2012), was als systemischer Mangel an verschiedenen Verkehrsmitteloptionen für Individuen definiert wird und in enger Verbindung zur Finanzierbarkeit von Verkehr steht. Die Folgen sind »eingeschränkte Handlungsoptionen und unzureichend zufrieden gestellte Bedürfnisse« (Stark 2017: 89). Mobilitätsarmut steht in Wechselwirkung mit sozialer Exklusion (s. Abb. 1), welche eintritt, wenn Mobilitätseinschränkungen zusammen mit sozialen Benachteiligungen dafür sorgen, dass bestimmte Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens nicht (mehr) erreicht werden können (Schwanen et al. 2015). Somit ist Mobilität eine wichtige Voraussetzung für Teilhabe (Altenburg/Gaffron/Gertz 2009). Die repräsentative Erhebung Mobilität in Deutschland 2017 zeigt, dass der ÖPNV insbesondere für Haushalte mit niedrigem ökonomischen Status ein wichtiges Verkehrsmittel ist (s. Abb. 2). Sie sind häufiger zu Fuß, mit dem Fahrrad und dem ÖPNV sowie seltener mit dem MIV unterwegs als Personen aus Haushalten mit mittlerem bis sehr hohem ökonomischen Status. Darüber hinaus geben Personen in Haushalten mit sehr niedrigem bis niedrigem ökonomischen Status überdurchschnittlich häufig an, dass sie die Anschaffung beziehungsweise den Unterhalt eines Personenkraftwagens (Pkw) nicht finanzieren können. Sie verzichten auch seltener bewusst auf ein Auto als Personen in Haushalten mit höherem ökonomischen Status (s. Abb. 3). Neben dem Einfluss auf die Nutzungsmöglichkeiten verschiedener Verkehrs­mittel kann der ökonomische Status die Länge der täglich zurückgelegten Wege beeinflussen, da die Wegelänge mit dem ökonomischen Haushaltsstatus zunimmt (s. Tab. 1).

ÖPNV für alle? Soziale Aspekte und aktuelle Verschiebungen

45%

Abbildung 2: Verkehrsmittelnutzung in Deutschland, differenziert nach ökonomischem Haushaltsstatus (Anzahl der Wege = 960.619; Quelle: eigene Darstellung nach Mobilität in Tabellen 20171).

40% 35%

Verkehrsmittelnutzung in Prozent

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ökonomischer Haushaltsstatus: sehr niedrig niedrig

miel

hoch

sehr hoch Abbildung 3: Gründe für Pkw-Verzicht in Deutschland, differenziert nach ökonomischem Haushaltsstatus (N=1.307; Quelle: eigene Darstellung nach Mobilität in Tabellen 2017).

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ökonomischer Haushaltsstatus: sehr niedrig niedrig miel

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kein Auto benögt

Gründe, de

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bewusster Verzicht oder kann mir Anschaffung oder gesundheitliche Gründe, möchte mir kein Auto Unterhalt nicht leisten Altersgründe ökonomischer leisten 20%

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andere Gründe

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Gründe für den Nichtbesitz eines Pkw

Haushaltsstatus:

ökonomischer H

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Haushalte aus Teilschprobe Modul Pkw, nur CATI und CAWI, Haushalte ohne Pkw, Mehrfachnennung möglich

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Gründe für den Nichtbesitz eines Pkw

Haushalte aus Teilschprobe Modul Pkw, nur CATI und CAWI, Haushalte ohne Pkw, Mehrfachnennung möglich

Gründe für den Nic

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Themen und Konflikt­felder

Tabelle 1: Wegelängen in Deutschland, differenziert nach ökonomischem Haushaltsstatus (Quelle: Mobilität in Tabellen 2017).

ÖPNV in Frankfurt am Main: Aktuelle Problemlagen im Bereich des Ticketing Fahrpreiserhöhungen

In den letzten Jahren waren Fahrpreiserhöhungen im RMV-Gebiet wiederholt Gegenstand medialer Debatten. Besonders die Tariferhöhungen zum Jahreswechsel 2016/2017 sorgten öffentlich für Unmut. So hatte der RMV die Fahrkartenpreise durchschnittlich um 1,9 % angehoben. Der Verkehrs­ club Deutschland e.V. (VCD) kritisierte daran, dass bei Einzelfahrscheinen ein Aufschlag von 3,6 % zu verzeichnen sei, was nicht mit gestiegenen Personal- und Energiekosten gerechtfertigt werden könne (VCD 2016). Schließlich gilt die Inflationsrate laut Fahrgastverband PRO BAHN als Richtwert für angemessene Tarifanpassungen und die Fahrpreise wurden um das Dreifache der Inflationsrate erhöht (PRO BAHN Landesverband Hessen e.V. 2016). Der RMV reagierte auf die öffentliche Kritik und erhöhte die Tarife zum folgenden Jahreswechsel lediglich um 1,5 %. Zudem wurde vom RMV-Aufsichtsrat eine Deckelung des Preisanstieges für drei Jahre vereinbart, sodass die Tarife erst zum Jahreswechsel 2020/2021 wieder um mehr als 1,5 % erhöht werden können. Weiterhin reagierte der RMV auf die Kritik, indem der Preis für Einzelfahrscheine zum Jahreswechsel 2017/2018 wieder von zuvor 2,90 € auf 2,75 € reduziert wurde, sodass der ÖPNV in Frankfurt in Zeiten des Dieselskandals2 und des Klimawandels als attraktive Alternative zum motorisierten Individualverkehr (MIV) gelten könne (RMV 12.09.2017). Im Zuge der Fahrpreisreduzierungen zum Jahreswechsel 2017/2018 wurden auch die Tarife für Tageskarten angepasst und von 7,20 € auf 5,35 € reduziert. PRO BAHN kritisiert daran, dass Tageskarten primär von Tourist*innen und weniger von der Stadtbevölkerung genutzt würden. Letztere würden vorrangig von Preisreduzierungen bei Monats- und Jahreskarten profitieren (PRO BAHN Landesverband Hessen e.V. 2017). Diese werden jedoch in Frankfurt als besonders »teuer« (FR 20.06.2019) empfunden. Die Wahrnehmung wird sowohl von Besitzer*innen der entsprechenden Tickets als auch von Personen geteilt, die den ÖPNV ohne (gültigen) Fahrschein benutzen und welche die Höhe der Fahrkartenpreise als Motiv für das Fahren ohne Ticket angeben (Schwerdtfeger 2019). Ein Vergleich der Fahrpreisänderungen zum Jahreswechsel 2017/2018 zwischen den unterschiedlichen Ticketangeboten zeigt, dass der höchste Preisanstieg in Frankfurt bei Monats- und Jahresfahrkarten zu erkennen ist und dass dieser mit je 1,95 % deutlich über der vom RMV angegebenen durchschnittlichen Preiserhöhung von 1,5 % liegt (PRO BAHN Landesverband Hessen e.V. 2017). Der Trend setzte sich in den darauffolgenden Jahren durch. So wurden die Monats- und Jahresfahrkarten zum Jahreswechsel 2019/2020 um 1,55 beziehungsweise 1,53 % erhöht, während bei den Einzelfahrscheinen sowie bei den Tageskarten keine Preiserhöhung stattfand (PRO BAHN Landesverband Hessen e.V. 2019).

ÖPNV für alle? Soziale Aspekte und aktuelle Verschiebungen

Die Entwicklung der Fahrpreise zeigt, dass die Tarife in den letzten Jahren – aufgrund der Kostendeckelung durch den RMV-Aufsichtsrat – nur moderat und in Anlehnung an die Inflationsrate angehoben wurden. Dennoch ist eine Preissteigerung vor allem bei den Zeitfahrkarten erkennbar, während die Kosten für Einzelfahrscheine und Tageskarten sogar reduziert wurden. Diese Entwicklung ist – in Anlehnung an die Kritik von PRO BAHN – kritisch zu bewerten, da Zeitfahrkarten Stadtbewohner*innen im Vergleich zu Einzelfahrscheinen eine flexiblere und kostengünstigere Nutzung des ÖPNV ermöglichen, sofern dieser mehrmals in der Woche genutzt wird. Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen einen Zusammenhang zwischen hohen Mobilitätskosten und Mobilitätsarmut und sozialer Exklusion. Zudem können sie ein Motiv für das Fahren ohne (gültigen) Fahrschein sein, was sich aufgrund des Straftatbestands armutsverstärkend auswirken kann3. Für eine nachhaltige Mobilität ist der ÖPNV ein wichtiger Bestandteil in urbanen Räumen, da er neben der kostengünstigen Nutzung auch eine positivere Umweltbelastung im Vergleich zum MIV darstellt. Gerade in Zeiten des Klimawandels ist es wichtig, dass Stadtbewohner*innen den MIV künftig seltener nutzen und auf umweltfreundlichere Alternativen umsteigen, da die negativen Folgen der MIV-Nutzung – insbesondere bedingt durch Lärm und Emissionen – gesenkt und die Aufenthalts- und Lebensqualität in Städten gesteigert werden. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Fahrpreise in Frankfurt künftig entwickeln. Schließlich läuft zum Fahrplanwechsel 2020/2021 die Deckelung der Tariferhöhungen um maximal 1,5 % aus. Für 2020 wird eine Inflationsrate in Höhe von 0,6 % diagnostiziert (Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose 2020), jedoch bleibt offen, inwiefern der RMV eine höhere Anpassung mit in den letzten Jahren gestiegenen Energie- und Personalkosten rechtfertigen und durchsetzen kann. Ein weiterer Anstieg mag aus betriebswirtschaftlicher Perspektive für den Verkehrsverbund nachvollziehbar sein, jedoch ist Mobilität ein Grundbedürfnis, weswegen die Sozialverträglichkeit künftiger Preisanstiege hinsichtlich drohender Mobilitätsarmut und sozialer Exklusion mitgedacht werden sollte. Beherbungs- und Gaststäendienstleistungen (10,76€) Gesundheitspflege (16,42€)

Innenausstaung, Haushaltsgeräte und gegenstände (26,61€)

Abbildung 4: Zusammensetzung des ALG II-Regelsatzes (Quelle: eigene Darstellung nach https://hartziv.org/ regelbedarf.html).

Bildung (1,12€)

andere Waren und Dienstleistungen (34,26€)

Nahrungsmiel, alkoholfreie Getränke (150,60€)

Verkehr (35,99€)

Bekleidung, Schuhe (37,84€)

Wohnen, Energie, Wohninstandhaltung (38,32€)

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Freizeit, Unterhaltung, Kultur (41,43€) Nachrichtenübermilung (38,62€)

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Themen und Konflikt­felder

Der Frankfurt-Pass

Tabelle 2: Vergleich der regulären Fahrkartenpreise mit den ermäßigten Tarifen für Frankfurt-PassInhaber*innen (Quelle: eigene Darstellung nach https://www.rmv.de/ auskunft/).

Der Frankfurt-Pass ist eine Sozialleistung der Stadt Frankfurt. Antragsberechtigt sind Bürger*innen mit geringen finanziellen Einkünften. Die Berechtigung ist an definierte Einkommensgrenzen gebunden. Alle Personen, die staatliche Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes erhalten, haben einen Anspruch auf den Frankfurt-Pass. Um eine Einschätzung der Finanzierbarkeit4 des Frankfurt-Passes vornehmen zu können, wird beispielhaft das Arbeitslosengeld II (ALG II) als Vergleichsdimension herangezogen, da hier detaillierte Informationen zum Regelsatz und deren Aufteilung verfügbar sind. So sind im ALG II-Regelsatz insgesamt 35,99 € für Verkehr vorgesehen (s. Abb. 4). Besitzer*innen des Frankfurt-Passes erhalten neben Vergünstigungen für Bildungs- und Freizeitzwecke einen Rabatt auf Monats- oder Jahresfahrkarten (Auszubildende erhalten zudem ermäßigte Wochenfahrkarten). In Tabelle 2 werden die regulären Kosten mit den ermäßigten Kosten für Inhaber*innen des Frankfurt-Passes verglichen. Dabei fällt auf, dass lediglich die Kosten für die 365-Euro-Tickets für Schüler*innen und Senior*innen, nach Abzug der Ermäßigung, unter dem im ALG II-Regelsatz vorgesehenen Anteil für Verkehr, also unter einem Betrag von 35,99 €, liegen. Eine besonders geringe Kostendeckung durch das ALG II liegt bei der Monatskarte für Erwachsene vor. Aber auch die Kosten für die regulären Jahresfahrkarten ohne zeitliche Einschränkung sowie für Monatsfahrkarten für Ältere, für Auszubildende sowie mit eingeschränkter Gültigkeit ab 9:00 Uhr werden nicht durch den Regelsatz gedeckt. Zwar kann der Frankfurt-Pass als Instrument angesehen werden, welches Personen mit geringen finanziellen Einkünften die Finanzierbarkeit der ÖPNV-Nutzung erleichtert, doch zeigt der Kostenvergleich, dass bei Sozialleistungsempfänger*innen – am Beispiel des ALG II – keine Kostendeckung durch den im Regelsatz berücksichtigten Anteil für Verkehr erfolgen kann. Für mehr soziale Nachhaltigkeit im Bereich Verkehr ist die Einführung eines für Berechtigte tatsächlich finanzierbaren Sozialtickets zwingend erforderlich. Eine Angleichung der Kosten an den im ALG II-Regelsatz für Verkehr vorgesehen Anteil stellt einen längst überfälligen Schritt dar. Andernfalls werden Haushalte und Personen mit niedrigem ökonomischen Status vom öffentlichen Nahverkehr ausgeschlossen und urbane Mobilität wird für viele Menschen zum Luxusgut. Sofern Frankfurt-Pass-Berechtigte nicht auf eine Monats- oder Jahresfahrkarte verzichten können, werden oft

ÖPNV für alle? Soziale Aspekte und aktuelle Verschiebungen

finanzielle Einschränkungen in anderen Bereichen des Lebens oder ›illegale Strategien‹ wie zum Beispiels das Fahren ohne (gültigen) Fahrschein in Kauf genommen, was sich wiederum negativ auf die ökonomische Situation sowie auf Teilhabe auswirken kann. Zudem werden Inhaber*innen des Frankfurt-Passes lediglich Ermäßigungen auf Monats- oder Jahresfahrkarten gewährt5, sodass ALG II-Empfänger*innen, die den ÖPNV nur sporadisch nutzen (können) und daher Einzelfahrscheine erwerben, die regulären Ticketpreise aufbringen müssen. Diese Einschränkung kann dazu beitragen, dass von Armut betroffene oder bedrohte Menschen weniger und kürzere Wege zurücklegen als Personen mit höheren Einkommen. Der RMVsmart-Tarif

Seit 2016 wird im RMV-Verbundgebiet der neue Relationstarif R ­ MVsmart getestet. Das Besondere ist, dass Ticketpreise nicht mehr an Tarifzonen geknüpft sind. Der Tarif errechnet sich aus einem Grundpreis für jede einzelne Fahrt und einem entfernungsabhängigen Betrag, der bei innerstädtischer Nutzung von U- und S-Bahnen höher ausfällt als im Regional-, Tram- und Busverkehr (Ringat 2016). Laut RMV sei der Vorteil die Vermeidung von Preissprüngen an Tarifgrenzen, die von Fahrgästen und Interessensverbänden kritisiert werden. Zudem spricht der Verkehrsverbund von einer höheren »Leistungsgerechtigkeit«, da die Fahrgäste »analog einer Fahrt mit dem Taxi oder beim Carsharing« (ebd.: 44) lediglich die Kosten für die tatsächlich zurückgelegte Strecke bezahlen müssen. Der neue entfernungsbasierte Tarif RMVsmart kann zwar als Versuch angesehen werden, die Nutzungsgebühren im ÖPNV zu senken, jedoch ist dies im aktuellen Pilotversuch lediglich auf kurzen Strecken und bei Preissprüngen an Tarifgrenzen der Fall (Ringat 2016). So ist unklar, inwiefern soziale Gerechtigkeit bei der Entwicklung des neuen Tarifs mitgedacht wurde. Schließlich ist das ÖPNV-Netz in Frankfurt durch starke Zentralisierung im Stadtkern und durch Mangel an Tangentiallinien6 gekennzeichnet, was dazu führt, dass die ÖPNV-Nutzung in Frankfurt zunächst überwiegend mit einer Fahrt in die Innenstadt und einem dortigen Umstieg auf andere Linien verbunden ist. Folglich trägt die Beschaffenheit des ÖPNV-Netzes in Frankfurt dazu bei, dass vor allem die in den Stadtrandlagen lebenden Personen oft lange Strecken zurücklegen müssen, um Ziele in anderen Stadtteilen mit dem ÖPNV zu erreichen. Die Annahme wird durch die hohe Konzentration an Dienstleistungs- und Freizeitangeboten in der Innenstadt gestärkt. Vor dem Hintergrund, dass bezahlbarer Wohnraum eher an den Stadträndern und weniger im ÖPNV-verdichteten Zentrum vorhanden ist, stellt sich die Frage, inwiefern Personen mit geringen finanziellen Einkünften vom neuen Tarifmodell profitieren werden. Da sich der Tarif noch in der Pilotierung befindet, ist hier keine abschließende Bewertung möglich. Für eine sozial nachhaltige Implementierung ist es unabdingbar, dass Aspekte sozialer Gerechtigkeit bei der weiteren Ausgestaltung des Tarifs berücksichtigt werden, sodass Mobilitätsarmut und soziale Exklusion nicht durch den neuen Tarif verstärkt werden. Darüber hinaus ist das Prinzip des neuen Tarifmodells, »zahlen, was man nutzt« (Ringat 2016: 43ff.), eher an der privaten Logik des MIV orientiert als an der solidarischeren Logik des ÖPNV. Der gegenwärtige Wabentarif definiert das Stadtgebiet Frankfurt als einheitliche Tarifzone, in der für jede Fahrt – egal wie lang und mit welchem Verkehrsmittel – dasselbe Entgelt zu entrichten ist. So hat der Wabentarif einen solidarischen Effekt, indem er eine kostengünstige öffentliche Mobilität auch für diejenigen ermöglicht, die außerhalb der innenstadtnahen Quartiere leben und arbeiten. Sofern

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das neue Tarifmodell den Wabentarif gänzlich ersetzen würde, bedürfte es Maßnahmen und Instrumenten, wie beispielsweise eines finanzierbaren Sozialtickets, sodass Mobilitätsarmut und sozialer Exklusion aufgrund von authority constraints entgegengewirkt werden kann.

Diskussion und Fazit Für die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu urbaner Mobilität im Kontext von Finanzierbarkeit lässt sich schlussfolgern, dass monetäre Aspekte in der Mobilität eine wichtige Rolle spielen, vor allem für Personen mit geringen finanziellen Ressourcen. So kann ein niedriger ökonomischer Haushaltsstatus die Nutzungsmöglichkeiten von Verkehrsmitteln und somit Mobilität und Teilhabe negativ beeinflussen. Da ein Zusammenhang zwischen Mobilität und sozialer Teilhabe besteht, ist die Vermeidung von Mobilitätsarmut und daraus resultierender sozialer Exklusion ein bedeutsames sozio-politisches Problemfeld, in dem Handlungsbedarf besteht. Hohe Nutzungsgebühren für den ÖPNV, im Sinne von authority constraints, können zum Beispiel dazu führen, dass Personen mit geringen Einkommen, für die der ÖPNV ein wichtiges Verkehrsmittel zur Bewältigung der Alltagsmobilität ist, in ihrer Mobilität und somit auch in der sozialen Teilhabe eingeschränkt werden. Vor diesem Hintergrund zeigen die skizzierten Entwicklungen politischen Handlungsbedarf auf. Letztlich wird Personen mit geringen Einkünften der Zugang zu einer flexiblen sowie ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltigen Mobilität durch zu hohe Kosten bei Zeitfahrkarten erschwert. Studien der Mobilitätsforschung zeigen, dass Personen, die ihren Mobilitätsbedarf nicht mit den eigenen finanziellen Ressourcen befriedigen können, illegale Mobilitätsstrategien – wie beispielsweise das Fahren ohne (gültigen) Fahrschein – entwickeln, um Mobilitätsarmut und sozialer Exklusion entgegen zu wirken (Daubitz 2016; Schwerdtfeger 2019). Jedoch ist das Fahren ohne (gültigen) Fahrschein in Deutschland eine Straftat, die von den Verkehrsunternehmen und -verbünden aktiv verfolgt und für welche ein erhöhtes Beförderungsentgelt fällig wird, weswegen es sich negativ auf bereits von Armut betroffene oder bedrohte Personen auswirken kann. Zusammenfassend hat die Diskussion der Problemlagen im Bereich des Ticketing in Frankfurt gezeigt, dass finanzielle Aspekte in der Alltagsmobilität eine wichtige Rolle spielen. Insbesondere Personen mit geringen Einkünften können ihre Alltagsmobilität aufgrund von authority constraints nicht immer frei und flexibel mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewältigen. Aus diesem Grund ist eine konsequente Verkehrspolitik, die auch soziale Fragen und Gerechtigkeitsaspekte berücksichtig, für das Ticketing in Frankfurt vonnöten. Vor allem mangelt es in Frankfurt an einem Sozialticketmodell, welches für Sozialleistungsempfänger*innen finanzierbar ist und so Mobilitätsarmut und soziale Exklusion in der Mainmetropole verringern kann. Darüber hinaus werden gegenwärtig progressivere Strategien, wie zum Beispiel die Entkriminalisierung des Fahrens ohne (gültigen) Fahrschein oder alternative Finanzierungsinstrumente für den ÖPNV, diskutiert, auf die hier nicht im Detail eingegangen werden kann.7 Eine Entkriminalisierung des Fahrens ohne (gültigen) Fahrschein könnte zwar exklusionsmindernd wirken, indem von Armut betroffene oder bedrohte Menschen bei der ticketlosen ÖPNV-Nutzung nicht mehr stigmatisiert würden, jedoch kann das Problem der Nichtfinanzierbarkeit von Mobilität mit Entkriminalisierungsmaßnahmen nicht behoben werden. Die gegenwärtigen Diskussionen um alternative Finanzierungsinstrumente für den ÖPNV, wie zum Beispiel

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eine Solidarfinanzierung oder Pauschalfinanzierungen, sind kontrovers, da die Umstrukturierung der komplexen ÖPNV-Finanzierung eine tiefgreifende Transformation darstellt, bei welcher gegenwärtig Fragen der ökologischen und wirtschaftlichen Nachhaltigkeit im Vordergrund stehen. Aufgrund der in diesem Beitrag geschilderten Entwicklungen und ihrer Wirkungen in Hinblick auf Armut und Armutsgefährdung besteht politischer Handlungsbedarf, sodass soziale Fragen in der kommunalen Verkehrspolitik künftig stärker und nachhaltiger berücksichtigt werden. Die Einführung eines für Sozialleistungsempfänger*innen finanzierbaren Sozialtickets stellt dabei einen ersten längst überfälligen Schritt dar.

Endnoten 1 https://mobilitaet-in-tabellen.dlr.de/mit/ 2

Im September 2015 wurde bekannt, dass die Volkswagen AG Manipulationen an der Fahrzeugtechnik von Automobilen mit Dieselantrieb vorgenommen hat, um gesetzlich vorgeschriebene Grenzwerte für Abgase zu unterschreiten. Das illegale Vorgehen wurde daraufhin auch bei weiteren Automobilherstellenden aufgedeckt. In der Folge hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass Diesel-Fahrverbote aus Gründen der Luftreinhaltung in Deutschland zulässig sind.

3

Für eine ausführliche Diskussion siehe Schwerdtfeger (2019).

4

Mit Finanzierbarkeit ist gemeint, ob sich Sozialleistungsempfänger*innen den Frankfurt-Pass leisten können.

5

mit Ausnahme der Auszubildenden (s.o.)

6

Tangentiallinien verknüpfen Stadtteile und Orte, ohne mit dem Stadtzentrum verbunden zu sein.

7

Siehe Schwerdtfeger (2019) für eine ausführliche Diskussion.

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»Nur n bisschen chillen?!« – Eigensinnige Raumaneignung als Konflikt Yagmur Mengilli ğ

Einleitung Um zu verstehen, wie sich das Leben in Frankfurt, einer wachsenden Metropole, gestaltet, ist es notwendig, Städte nicht nur als ›gebaute Stadt‹ im Sinne der gebauten Umwelt zu begreifen, sondern als dynamisches Netzwerk von Menschen, die in unterschiedlichen sozialen Beziehungen zu- und miteinander stehen. Mit dem ›Stadt-Leben‹ (Mengilli/Reutlinger/Zimmermann 2019: 23) soll ein vertiefendes Verständnis des Verhältnisses von ›gelebter‹ zu ›gebauter Stadt‹ erlangt und der Fokus auf den Umgang mit der Umwelt sowie auf die Wahrnehmung der vorstrukturierten Materialität herausgestellt werden. Bereits im Mittelalter wurden Städte von einem ›Stadtschreiber‹ entwickelt, der in der Regel ein älterer Herr war und das Interesse an Raum von Frauen und Jugendlichen außen vorließ (ebd.: 24). Gerade im Hinblick auf die Raumaneignung von jungen Menschen finden oftmals Kollisionen im Zusammenhang mit dem öffentlichen Raum und dessen vorgesehener Nutzung statt, die in Konflikten münden. Der Umgang mit Konflikten und die Lösung jener ist verbunden mit Aushandlungsmöglichkeiten und letztlich mit Machtfragen. Wer hat die Entscheidungsmacht in Bezug auf Raumaneignung? Welche Praktiken junger Menschen werden anerkannt und haben Platz in Frankfurt? Welche Ansprüche artikulieren und chiffrieren junge Menschen, wenn sie vom Chillen sprechen? Die Betrachtung der konfligierenden Momente im Hinblick auf Raumaneignung eröffnet die Möglichkeit, die darin kollidierenden Ansprüche an den Raum und letztlich an der Teilhabe an der Stadt offenzulegen und für jene zu sensibilisieren. Dieser Beitrag widmet sich den eigensinnigen Interessen junger Menschen beim Chillen an und auf Holzbänken, da diese oftmals zu Nutzungskonflikten führen. Die analytische Dimension des Eigensinns dient als Möglichkeit, sich von metastrukturellen und normativen Paradigmen freizumachen, um den »eigenwilligen Formenreichtum generations-, milieuund teilgruppenspezifischer Vergemeinschaftungsprozesse aufzuzeigen« (Bergmann/Lange 2011: 20). Der Fokus auf das alltägliche Stadt-Leben soll exemplarisch mit der Nutzung von Holzbänken die damit verbundenen Ausdrucksformen der Raumaneignung junger Menschen aufzeigen. Am Beispiel der Frankfurter Fallstudie des europäischen Forschungsprojektes PARTISPACE und meines unter anderem daraus erwachsenen Dissertationsthemas ›Chillen als jugendkulturelle Praxis‹ werden qualitativ empirische Daten herangezogen, um Konflikte unterschiedlicher Raumaneignung sowie

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damit einhergehende Ansprüche an Teilhabe und den Umgang mit diesen Prozessen aufzuzeigen. Abschließend werden alternative Arten und Weisen des Stadt-Lebens vorgestellt, um mit der Perspektive der konfligierenden Interessen an Raum Teilhabeansprüche aufzuzeigen (Mengilli/Reutlinger/ Zimmermann 2019; Von Schwanenflügel/Walther 2019).

Partizipation und Anerkennung Die Frage nach gesellschaftlicher Partizipation junger Menschen wird in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften seit Jahrzehnten im Hinblick auf pädagogische Beziehungssettings und ein ›Mehr‹ an Partizipation junger Menschen an der Gesellschaft diskutiert (Wigger et al. 2019: 1). Neu ist, dass im gesellschaftspolitischen Diskurs einige Initiativen – wie die Kinderrechtskonvention der UN oder das Weißbuch Jugend der Europäischen Kommission – Jugendpartizipation international zu fördern suchen und damit auf ihre Agenda setzen. In der Stadt Frankfurt gibt es neben dem Stadtschüler*innenrat keine Interessenvertretung junger Menschen. Das heißt, neben dem Status als Schüler*in wird die Jugend in Frankfurt strukturell nicht vertreten. Daher hat der Frankfurter Jugendring mit dem Stadtschüler*innenrat den Arbeitskreis Partizipation gegründet und den Prozess initiiert, ein Jugendparlament in Frankfurt zu etablieren (Frankfurter Jugendring 2019). Formale Beteiligungsstrukturen wie ein Jugendparlament sind aber nur eine Form der möglichen Beteiligung an der Frankfurter Stadtgesellschaft und auch nicht für alle jungen Menschen ist die Adaption der Rhetorik Erwachsener in dieser institutionalisierten Form interessant. Zudem fühlen sich auch nicht alle jungen Menschen von Räten und Parlamenten repräsentiert. Im Gegenteil: Oftmals geht diese Repräsentationsform mit einem Repräsentationsdilemma einher, das sich durch Entfremdungstendenzen auszeichnet. So widerspricht oft die Form der Repräsentation dem Deutungssystem junger Menschen und ihrer Art und Weise ihre Interessen artikulieren zu wollen. Wenn beispielsweise junge Menschen in einem Rat auftreten, geschieht das oft entsprechend des Publikums, das sich neben jungen Menschen – um jugendliche Interessen durchzusetzen – auch aus machtvollen Erwachsenen zusammensetzt. Um letzteren eine geeignete und anerkannte Form der Repräsentation zu bieten, muss eine Rolle gespielt werden, die die Repräsentierten oftmals als entfremdet empfinden (Lütgens/Mengilli 2019). Im EU-Forschungsprojekt ›PARTISPACE – Spaces and Styles of Participation: Formal, non-formal and informal possibilities of young people’s participation in European cities‹ haben wir die Frage nach der Partizipation junger Menschen ausgehend von den tatsächlichen Praktiken derselben empirisch beantwortet. Dabei haben wir in den Jahren 2015 bis 2018 in Frankfurt am Main und acht weiteren europäischen Städten Fallstudien erhoben und ausgewertet. Für diesen Beitrag beziehe ich mich nur auf die Frankfurter Erhebung, in der wir sowohl Praktiken untersucht haben, die explizit mit Partizipation überschrieben sind, als auch jene, die ganz anders oder gar nicht als solche überschrieben sind. Das Spektrum von institutionell organisierten hin zu flüchtigen alltagskulturellen Praktiken im öffentlichen Raum durch sowohl erwachsene wie auch junge Menschen spannte sich so induktiv auf. Ein zentrales Ergebnis unserer Forschung, das ich in diesem Beitrag aufgreifen möchte, ist, dass eigensinnige Praktiken junger Menschen in Frankfurt am Main wenig (informelle) Orte haben. Verkürzt lässt sich diese Erkenntnis damit erklären, dass der öffentliche Raum »keine Liegewiese für jedermann« (Reutlinger 2017: 26) ist.



»Nur n bisschen chillen?!« – Eigensinnige Raumaneignung als Konflikt

Das, was junge Menschen im öffentlichen Raum tun, wird begrenzt und ermöglicht durch machtvolle Erwachsene, welche die Stadt organisieren. Praktiken junger Menschen werden dann anerkannt und zugelassen, wenn sie den vorherrschenden Vorstellungen von allgemein relevanten Themen sowie in ihrer Form konformen Vorstellungen von Teilhabe entsprechen. Im vorliegenden Beitrag werden Praktiken junger Menschen in Form von Ansprüchen an Orte und ihre Art und Weise der Raumaneignung betrachtet und diese als Versuch der Beteiligung an der Stadtgesellschaft interpretiert. Damit wird transparent gemacht, wer was als Beteiligung sieht und wie und wann zulässt. So wird jungen Menschen ermöglicht, meist an vorab von Erwachsenen festgelegten Themen und Formen teilzuhaben und dabei werden weniger die Versuche, das eigene Leben öffentlich zu bewältigen und auf eine eigene Art und Weise an Gesellschaft teilzuhaben, gesehen. Dies wird exemplarisch an Abbildung 1 verdeutlicht: Praktiken junger Menschen im öffentlichen Raum werden gedeutet und bewertet und entsprechend als Teilhabe anerkannt oder abgewiesen. Als Partizipation werden jene Inhalte und Formen anerkannt, die von allgemeiner Relevanz sind und in einer als konform betrachteten Art und Weise geschehen. Dies wird am Beispiel der Fridays For Future-Bewegung deutlich: Junge Menschen, die für den Klimaschutz streiken und die Schule schwänzen, erleben dies als positiv und somit als Anerkennungserfahrung (Mengilli/ Walther 2019). Das Schulschwänzen wird in diesem Rahmen zugelassen, da die Schüler*innen sich für das Gemeinwohl engagieren. Praktiken wie jugendliches Rauschtrinken im öffentlichen Raum werden als hedonistische Praxis gedeutet, die nicht als Partizipation gesehen werden, obwohl sie auch im Hinblick auf Bewältigung von Jugend betrachtet werden können. Demonstrationen werden zwar als allgemein relevant betrachtet, doch werden Demonstrant*innen oftmals als Randalierende kriminalisiert. Das Shoppen gehen ist zwar eine konforme Praktik, wird jedoch nicht mit Partizipation in Verbindung gebracht, da junge Menschen damit zwar ihre Aufgabe als kapitalistische Konsument*innen erfüllen, dies jedoch nicht unmittelbar mit gesellschaftlicher Relevanz im Zusammenhang steht. Das Chillen kann als eine hybride Praxisform betrachtet werden, da sowohl auf konforme als auch auf nicht konforme Weise gechillt werden kann. Eine erkenntnisbringende Perspektive wäre jene, die eigensinnige Praktiken junger Menschen zulässt

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Abbildung 1: Idealtypen der Anerkennung von Partizipation (Quelle: eigene Darstellung nach Walther et al. 2019: 203).

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und ohne jegliche Bewertung betrachtet, welche Ansprüche junge Menschen auf ihre Art und Weise performativ artikulieren und inszenieren. Dieser Beitrag möchte sich diesen Praktiken aus der Perspektive junger Menschen nähern und das Chillen im öffentlichen Raum als Versuch und Anspruch der Raumaneignung im öffentlichen Raum betrachten. Zunächst wird dargestellt, was chillen überhaupt bedeutet.

Chillen als ein polyvalentes Phänomen »Chillen«, »chillig«, »gechillt« und »Chill dich mal!« – diese und andere jugendkulturelle Aussprüche haben sich im alltäglichen Sprachgebrauch junger Menschen etabliert, jedoch bleibt diffus, was damit gemeint ist. Die Begrifflichkeit chillen tauchte in der deutschen Sprache im Zusammenhang mit der Techno-Szene und den sogenannten Chill-Out-Räumen zum Runterkommen nach einer durchzechten Nacht erstmals Ende der 1980er Jahre auf. Etwa zeitgleich wurde in der Hip-Hop-Szene das Chillen als gemeinsame Einstellung beschrieben (Hitzler/Niederbacher 2010: 6). Gegen Ende der 1980er Jahre hat es sich in der Alltagssprache junger Menschen als Zustand »fauler Geselligkeit auf oder nach einer Party, das Sich-Zurückziehen nach wildem Tanzen, um Kräfte zu sammeln« (Androutsopoulos 2005: 1) etabliert. Im Jahr 2003 wurde es in die Ausgabe des Duden Fremdwörterbuch aufgenommen, wobei »to chill« aus dem Anglo-Amerikanischen mit »dem Nichtstun frönen; faulenzen; sich ausruhen« (Wissenschaftlicher Rat 2003: 256) übersetzt wurde. Auch heute wird der Begriff chillen in unterschiedlichen Formen aufgrund seiner Polyvalenz sowohl als Adjektiv, Verb oder gar Nomen von jungen Menschen genutzt. Das Wort chillen wird von jungen Menschen für diverse spontane, eigensinnige und jugendkulturelle Praktiken genutzt. Chillen erscheint als eine Art Code für habitualisierte Praktiken oder Aufforderungen zur Vergemeinschaftung. Es kann als Möglichkeitsrahmen und Modus zwischen »Nichts-Tun-Müssen und Etwas-Tun Können« (Cloos et al. 2009: 21) bezeichnet werden, indem unter anderem spontane, aus der Situation heraus entstehende Praktiken gefasst werden. Eine klare Definition des Begriffes chillen würde seiner Mehrdeutigkeit und der damit einhergehenden Möglichkeit der Distinktion gegenüber den Erwachsenen, Gleichaltrigen oder auch Jüngeren widersprechen. Gerade die Offenheit, Flexibilität, der Aktionismus und auch die Möglichkeit, den Inhalt des Chillens selbst zu bestimmen, macht es in seiner Mehrdeutigkeit attraktiv. Da jugendliche Praktiken nicht im leeren Raum und nur mit Gleichgesinnten stattfinden, bedeutet dies, sie stehen in Wechselwirkung zur gelebten Stadt mit allen Akteur*innen, Raumzuweisungen, -interessen und -kollisionen. Im folgenden Abschnitt wird daher konzise auf das Sitzen und Chillen auf Bänken eingegangen, um damit den Umgang mit jugendlichem Eigensinn aufzuzeigen.

»Nur ‘n bisschen chillen?!« an und auf Holzbänken Im Rahmen unserer Forschung sprachen wir mit jungen Menschen zwischen 15 und 30 Jahren, die wir subjektive Landkarten mit den für sie wichtigen Orten und Tätigkeiten zeichnen ließen. Im Anschluss an den Zeichenprozess ließen wir die Gruppen ihre Karten vorstellen. Eine der Karten zeigt exemplarisch auf, welche Orte und Tätigkeiten junge Frank­ furter*innen darstellten: Ausgehend von ihrem Tagesablauf hat diese Gruppe aus fünf männlichen Jugendlichen im Alter von 15 bis 18 Jahren diese Karte erstellt (s. Abb. 2).



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Entsprechend der Häufigkeit und Dauer des Aufenthalts an den Orten wurde das Plus als Markierung für ›viel‹ genutzt und das Minus für ›wenig bis selten‹. Neben Orten wie dem Stadtteil im Frankfurter Norden wurden pädagogische Einrichtungen wie das Jugendzentrum, die Universitätsbibliothek oder die Schule benannt. Daneben gibt es Konsumorte wie den Rewe Supermarkt, McDonalds, das Nordwestzentrum (»Nordi«) oder die Innenstadt (»Stadt«). Einige informelle Orte wie die Bushaltestelle (»BH«), der Bus oder das Zuhause (»Home«) sind ebenfalls abgebildet. Zu den Orten hat die Gruppe noch Tätigkeiten wie shoppen, Spiele spielen (»zocken«), schwimmen, Fußball spielen (»kicken«), essen, chillen und »Balkon chillen«. Es zeigt sich auch aus den Gruppendiskussionen mit anderen Gruppen, dass sich wichtige Orte und Tätigkeiten aus der Abgrenzung zur Schule begründen und in Verbindung mit gemeinsamem Essen, Chillen, Reden oder Konsumverhalten stehen. Zwei Figuren fallen dabei besonders auf: Einmal das ›Draußen(sein)‹ mit den Freund*innen, konnotiert mit Freiheit, als Bühne für Selbstinszenierung und der Schaffung von Räumen. Es steht

Abbildung 2: Subjektive Landkarte, entstanden 2016 in einem Frankfurter Jugendzentrum (Quelle: eigene Aufnahme).

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Abbildung 3: Mädchengruppe auf Bänken (Quelle: eigene Aufnahme).

im Gegensatz zum fremdbestimmten und von entfremdenden Abläufen geprägten ›Drinnen‹. Zum anderen das ›Sitzen‹ als Grundmodus der Vergemeinschaftung. Die Qualität von Orten hängt stark davon ab, ob man dort gut sitzen kann. Manche Gruppen und Situationen sind eher mit Sichtbarkeit und Selbstpräsentation verbunden, wohingegen andere Momente mit versteckten Praktiken zusammenhängen. Auch Bänke im öffentlichen Raum können zu einer Art Privatheit führen, da junge Menschen sich dort treffen und sich diese aneignen. Die Relevanz des Sitzens auf Bänken wird auch anhand der Mädchengruppe deutlich, die sich bei einem Stadtteilspaziergang im Frankfurter Norden im Rahmen des PARTISPACE-Projekts selbst auf Bänken auf die folgende Weise inszenierte (s. Abb. 3):

Die jungen Frauen sitzen nicht auf eine konforme, den Vorstellungen entsprechende Art und Weise auf den Bänken, sondern haben teilweise dort ihre Füße, wo andere sich hinsetzen und sitzen dort, wo sich andere vielleicht anlehnen. Zu den Bänken im Stadtteil erzählen sie: »Wir hatten da ‘ne Holzbank. Des war die beste Bank in [Stadtteil]. Da war ‘ne Bank, wirklich da war alles eingeritzt, alles. Da war, wir haben, jeder hat da gechillt, das war einfach unser Treffpunkt. ›Ey kommst du raus?‹ ›Ja komm Holzbank.‹ Direkt und da war jeder.« Für diese und auch viele andere Gruppen etablieren sich Holzbänke im öffentlichen Raum zu einem Treffpunkt, an dem es um das Zusammensein geht, denn »Hauptsache, man ist da so zusammen, unterhält sich, chillt, hört Musik und so. Des macht einen Platz für mich irgendwie. Auch wenn‘s jetzt nur ‘ne Bank ist oder so. Ne Bank im Nirgendwo, Hauptsache man sitzt. Man hat ja keinen Bock, die ganze Zeit zu stehen« (ebd.). Durch die starke Frequentierung der Bank und auch die Etablierung eines informellen Treffpunkts werden diese Bänke im Stadtteil zu Räumen der jungen Menschen. Weiterhin werden Erinnerungen eingeschrieben, indem beispielweise im Holz der Bank Markierungen hinterlassen werden. So schreiben sich die jungen Menschen in eine simple Holzbank ein und machen sie zu ihrem Ort. Sitzen und an oder auf Bänken chillen ist somit eine der wichtigsten sozialen Praxen junger Menschen. Dieses ›draußen Sitzen‹ ist erstmal eine konforme Praktik, der jedoch besonders von Erwachsenen keine allgemeine Relevanz zugebilligt wird und die oft nicht einmal als eine Handlung, sondern als Nichtstun klassifiziert



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wird. Im Zusammenhang mit Alkohol- oder Drogenkonsum werden die Praktiken oft als Risikoverhalten betrachtet. Wir haben im Rahmen unserer Forschung und auch danach im Stadtbild einige Konflikte um Bänke und damit auch Raumaneignung beobachtet. Wo Bänke in Parks oder auf Plätzen von der Stadtverwaltung abgebaut werden und die Thematik in Ortsbeiräten ohne jene, die den Platz frequentieren, verhandelt wird, erleben junge Menschen dies als Eingriff in ihre Lebenswelt. Eine Gruppe aus einem angrenzenden Stadtteil im Frankfurter Norden beschreibt den Abriss von Bänken folgendermaßen: »[W]ir würden gerne mehr Einfluss haben zu Sachen, die in unserer Gegend passieren […] weil wir sind ein Teil dieser Gegend. Zum Beispiel, dass Bänke einfach weggerissen werden, ohne Erlaubnis, so, wer benutzt die Bänke? […] Die Bänke werden immer benutzt von Jugendlichen, die draußen chilln. Wenn man ein[en] Stadtteil verändert, wenn man ein[en] Eingriff in einen Stadtteil will, dann nimmt man ein[en] Eingriff in ein Territorium von Jugendlichen, was 24 Stunden von diesen Jugendlichen besetzt und benutzt wird.«

Für die jungen Menschen wurden wichtige Sitzgelegenheiten abgebaut und dies erfahren, interpretieren und kritisieren sie als Eingriff in ihre Rechte als Bewohner*innen des Stadtteils und da schwingt ein – wenn auch nicht ganz klar artikuliertes – Bewusstsein von sich als Bürger*innen mit. Zudem wird deutlich, dass aus dieser alltäglichen Form des Raum-Machens der Konflikt um Raumaneignung ohne Miteinbeziehung derjenigen, die den Ort nutzen, gelöst wurde. Die Bänke wurden in Abstimmung mit dem Ortsbeirat abgerissen, so sind die Grenzen von dieser Alltagspartizipation zu politischer Partizipation fließend. Offensichtlich haben diese jungen Menschen nicht den ›richtigen Ton‹ und die ›angebrachte Form‹ gefunden, ihr Territorium zu verteidigen und sich Raum anzueignen. Im Gegensatz dazu steht der Konflikt im Frankfurter Süden am Adlhochplatz in Sachsenhausen (FNP 26.03.2019), bei dem Bänke – aufgrund nächtlicher Ruhestörung durch junge Menschen – abmontiert wurden. Hier setzten sich sowohl ein Wohlfahrtsverband als auch ein Student in Form von einer Petition und Protesten für die (Wieder-)Aufstellung der Bänke ein. Zwei unterschiedliche Interessen galten dabei als Motivation: Der Wohlfahrtsverband vertrat die Senior*innen, die als Leidtragende bezeichnet wurden. Der Student, der das Wohlergehen des Stadtteils im Blick hat, bezeichnet die Bänke als »kommunikativen Ort«. Eine Lösung des Konfliktes um die unterschiedlichen Interessen zeichnete sich nur bedingt ab, denn die Nachtruhe kehrte zwar ein, aber dafür verloren Senior*innen, Passant*innen und Schüler*innen ihre Sitzgelegenheiten. Deutlich wird hier, dass sich lediglich die Formen des Protests oder der Petition durchsetzen lassen – und zwar von besonders engagierten Interessensvertreter*innen –, immerhin brachte dies eine Diskussion mit sich und auch Versuche, den Verlust dieser Bänke durch mobile Sitzgelegenheiten zu kompensieren. Diese Ausdrucksformen sind nicht für alle Menschen interessant oder zugänglich und damit wird ein Teil des Stadtteils und der Stadtgesellschaft bei der Entscheidung über Raum ausgeschlossen. Eine niedrigschwellige Möglichkeit des sich Einbringens oder der Artikulation eigener Wünsche und Interessen von jungen Menschen zeichnet sich nicht ab. Zwar gibt es Orte, die viele Sitzmöglichkeiten bieten, wie auch die Frankfurter Innenstadt mit der Einkaufsstraße Zeil, jedoch sind diese meist von shoppenden Personen oder Straßenkünstler*innen besetzt und

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bieten kaum Möglichkeiten für nicht zweckgerichtete Tätigkeiten oder zum Chillen für junge Menschen. Grundsätzlich stellt sich im Frankfurter Raum die Frage, wo junge Menschen ohne explizite Platzzuweisungen – wie es am Sportpark an der Europäischen Zentralbank oder in Jugendeinrichtungen der Fall ist – chillen können. Konflikte um unterschiedliche Interessen der Raumnutzung oder gar Aneignung sind unvermeidbar, jedoch zeichnet sich ein klarer Umgang damit ab: Junge Menschen haben nicht teil an der Lösung der Konflikte, es wird ohne die Möglichkeit der Aushandlung über sie entschieden. Wie könnte ein Zugang zum Umgang mit Raumaneignung und unterschiedlichen Vorstellungen davon aussehen und wie kann damit umgegangen werden? Auf ein verändertes raumtheoretisches Verständnis für eigensinnige Praktiken und eine Anerkennung eigensinniger Ausdrucksformen soll abschließend mit der Heuristik des Stadt-Schreibens und -Lesens junger Menschen sensibilisiert werden.

Abschließende Gedanken: Konfligierende Raumaneignung Stadt-Schreiben und Stadt-Lesen sind heuristische Begrifflichkeiten für raumbildende Praktiken, bei denen das Lesen und Schreiben begrifflich nicht als eigenständige raumtheoretische Konzepte hervortreten, sondern als sensibilisierende Konzepte fungieren (Mengilli/Reutlinger/Zimmermann 2019: 25 f.). Im Hinblick auf das Chillen auf und an Holzbänken wird deutlich, dass zum Stadt-Leben die Möglichkeit der Aneignung gegeben sein muss – nicht im Sinne des in Besitz Nehmens, aber im Sinne einer aktiven Auseinandersetzung mit und Erschließung der Umwelt (Reutlinger 2017: 10). Die Erschließung von Raum geht dabei damit einher, die Stadt »als empirisch zu bestimmendes Kollektiv zu verstehen« (Löw 2018: 15) und die Praktiken junger Menschen als Spacing zu betrachten. Dies meint den Akt des Platzierens oder platziert Seins von materiellen Objekten, sozialen Gütern und Menschen an spezifischen Orten, in Verknüpfung mit der Syntheseleistung des aktiven Verbindens der Elemente durch Prozesse der Wahrnehmung, Vorstellung oder Erinnerung durch das Individuum (Löw 2018). Mit der Perspektive des Stadt-Lebens im Hinblick auf gemeinschaftliches Leben im urbanen Raum und entsprechende Handlungsbedingungen spannen sich eigensinnige Praktiken junger Menschen anders auf: Sie bekommen eine Relevanz, da sie die sich gegen die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums richten und der Berechtigung den Anspruch auf Teilhabe und Teilnahme an Stadt zu stellen. So geht es weniger um ein Problem des Raums als um dessen Aneignung und die damit verbundenen Macht- und Ordnungsfragen, da dominante Handlungen Erwachsener machtvoller sind als jene von beispielsweise Jugendlichen. Dort, wo sich Konflikte zeigen, dokumentiert sich Ungerechtigkeit und die Frage »Wem gehört die Stadt?« stellt sich erneut. Junge Menschen beanspruchen gesellschaftliche Teilhabe, indem sie im öffentlichen Raum auf oder an Bänken chillen. Ihre Ausdrucksweisen sind (teilweise) vom jeweiligen Gegenüber nicht dekodierbar, da sie nicht »der Sprache der Normalität bzw. Teilhabe« (Von Schwanenflügel/ Walther 2019: 111) entsprechen. Daher gilt es in konfligierenden Momenten genau hinzusehen, um die unterschiedlichen Interessen zu erkennen und die Aushandlung von Konflikten zu ermöglichen. Der Sozialgeograph Christian Reutlinger regt zu einem Perspektivwechsel an, indem er die Gestaltbarkeit der Stadt im Zusammenhang mit Normalitätsvorstellungen betrachtet und fragt: »Machen wir uns die Welt, wie sie uns gefällt?« (Reutlinger 2017).



»Nur n bisschen chillen?!« – Eigensinnige Raumaneignung als Konflikt

Dafür braucht es die Bereitschaft, sich selbst zu Selbstverständlichkeiten und Platzzuweisungen innerhalb der Stadt kritisch zu hinterfragen. Dies ist ein Plädoyer für Mut und Fantasie, um Stadt und Raum anders als aus der Erwachsenenperspektive zu betrachten, um »nur n‘ bisschen chillen« im Sinne einer ›Stadt für alle!‹ Berechtigung einzuräumen.

Endnoten Titelbild

Quelle: Goy Le

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Wildes Frankfurt – Nilgänse im Fokus räumlicher Konflikte Elisa Kornherr und Robert Pütz

»Stadt für alle«. Unter diesem Motto werden gemeinhin Probleme adressiert, die den Lebensraum Stadt, gleichberechtigten Zugang zu seinen Ressourcen, Teilhabe und soziale Gerechtigkeit thematisieren. Gemeinsam ist ihnen, dass sie – zumindest in der Mehrzahl der Fälle – ausschließlich auf Bedürfnisse des Menschen fokussieren. Der Lebensraum Stadt wird als exklusiver Lebensraum für den Menschen gedacht. Eine solche anthropozentrische Perspektive dominierte lange Zeit nicht nur die Wissenschaften, sondern auch die Stadtplanung, Stadtpolitik und die Diskurse darüber. Wie verändern sich die Fragestellungen dieses Bandes aber, wenn man anerkennt, dass nicht nur Menschen in Frankfurt leben, sondern dass auch Hunderttausende andere empfindungsfähige Lebewesen, Tiere, Frankfurt als ihren Lebensraum haben? Wie stellen sich aus einer solchen mehr-als-menschlichen Perspektive dann Fragen nach Konflikten in den »naturalcultural contact zones« (Haraway 2008: 7), nach sozialen Kämpfen, und wie darum an welchen Orten Frankfurts und mit welchen Kräfteverhältnissen gerungen wird? Was sind Konfliktfelder im Zusammenleben von Menschen und (Wild-)Tieren in der Stadt, an welchen spezifischen Orten werden sie offenbar, was für Machtverhältnisse werden hierin deutlich, aber auch welche Formen von Widerstand und Aneignung sind zu erkennen? Wir wollen mit unserem Beitrag für diese Dimension städtischer Politik sensibilisieren und illustrieren dafür die Konflikte um den Umgang mit den in Frankfurt lebenden Nilgänsen, die erst in jüngerer Zeit zugewandert sind. In der Region Frankfurt existieren viele Institutionen, die Orte geschaffen haben, welche durch jeweils sehr spezifische Mensch-Tier-Verhältnisse gekennzeichnet sind: Orte der Zurschaustellung von Tieren wie der Frankfurter Zoo, Tierparks oder Messehallen zur Präsentation züchterlicher Erfolge in der Manipulation von Tierkörpern wie Rassehundeschauen, Orte medizinischer Versuche mit Tieren wie Labore in Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen, Orte des Handels mit Tieren wie Tierbedarfsfilialen, regelmäßig in Frankfurt stattfindende Reptilienbörsen oder Parkplätze als Orte des illegalen Handels mit Welpen oder exotischen Arten, Orte des »making companions« (Pütz 2020) von Tieren wie Trainingsställe oder Hundeübungsplätze, Orte des Einsatzes von Arbeitstieren wie Gepäckkontrollen, Fußballstadien oder Demonstrationen, Orte des Tötens von Tieren wie Schlachthöfe oder Kükenzüchtungen, Orte des Entertainments durch Tiere wie Zirkusse oder Hengstkörungen, Orte des Abschieds und der Beisetzung von Tieren wie Tierfriedhöfe, Orte der Kommunikation und

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des Miteinanders mit Tieren wie Katzencafés, um nur einige zu nennen. Manche dieser Orte halten sich im Verborgenen, andere sind explizit zur Unterhaltung der Stadtbevölkerung geschaffen und dienen zuallererst ihren Freizeit- und Konsumbedürfnissen. Für alle Stadtbewohner*innen im alltäglichen Leben Frankfurts präsent sind darüber hinaus die Heimtiere, mit denen der Mensch seit Jahrhunderten zusammenlebt, mit denen er seine Wohnung teilt und teilweise auch den öffentlichen Raum nutzt. Dabei hat sich in den Städten, aber nicht nur dort, in den letzten circa 200 Jahren eine große Transformation vollzogen (Pütz/ Poerting 2020): Über Jahrhunderte war die Beziehung von Menschen und Tieren überwiegend durch Arbeitsverhältnisse geprägt. Ein großer Teil der städtischen Güterversorgung und der Personenbeförderung beruhte auf Tieren und sie ermöglichten auch in Frankfurt als »living machines« (McShane/Tarr 2007) das Aufkommen der Industrialisierung, welche sie später mit dem zunehmenden technischen Fortschritt für den Menschen verzichtbar machte. Mit der Industrialisierung verloren Tiere nach und nach ihre Rolle als Arbeitstiere. (Wenn auch nicht völlig: Tiere suchen heute Drogen und Waffen, helfen Wachdiensten oder der berittenen Polizei bei der Durchsetzung beziehungsweise Aufrechterhaltung räumlicher Ordnungen, sie arbeiten als Therapeuten für Menschen mit Behinderung, für Führungskräfte auf Fortbildungsseminaren oder für Bewohner*innen von Pflegeheimen, oder als Entertainer in tiergestützten Shows, um nur ein paar Beispiele hervorzuheben.) Sie verschwanden zu dieser Zeit gleichermaßen aus dem öffentlichen wie dem alltäglichen Leben der meisten Städter*innen. Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts fanden Tiere aber ihren Weg zurück in ihre menschlichen Beziehungen, diesmal mit veränderten Aufgaben. Sie waren nun meistens nicht mehr Arbeitskräfte, sondern wurden zu Gefährten: zu Familienmitgliedern, Partnern in erlebnisorientierten Freizeitbeschäftigungen und zu Ersatznaturen in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft. So leben alleine auf dem Frankfurter Stadtgebiet hochgerechnet knapp 94.000 Katzen, mehr als 80.000 Hunde und ebenso viele kleinere Heimtiere.1 Um die Konsumbedürfnisse dieser Stadtbewohner herum hat sich eine millionenschwere Dienstleistungsökonomie aus Futter- und Heimtierbedarf, Schönheitssalons, Trainer*innen, Tierärzt*innen, -osteopath*innen und -psycholog*innen aufgebaut. Heimtiere sind für viele Menschen die mit Abstand wichtigsten Sozialpartner geworden und erfüllen Grundbedürfnisse nach Kommunikation und Austausch. Vor allem viele Alleinlebende – die in Frankfurt über 50 % der Haushalte bewohnen – verbringen im Privatleben wohl deutlich mehr Zeit mit ihrem Hund, ihrer Katze oder einem anderen tierischen Partner als mit anderen Menschen. Die zahlenmäßig überwältigend größte Zahl tierischer Bewohner aber lebt von den meisten Menschen weitgehend unbemerkt in Frankfurt: Wildlebende Tiere. Ihre Zahl kann nicht annäherungsweise geschätzt werden. In einer europäischen Großstadt leben durchschnittlich alleine mehr als 10.000 unterschiedliche Arten. Trotz der großen räumlichen Nähe treten sie aber in der Regel nur dann ins Licht der Öffentlichkeit, wenn sie Teile der Stadtgesellschaft als Nutzungskonkurrenten, als invasive Art, als Krankheitsüberträger oder Ähnliches stören. Meist nur in diesen Fällen wird sich der Mensch ihrer Gegenwart bewusst, wird über sie in den Medien berichtet, positionieren sich Menschen für oder gegen sie. Fast immer geht damit eine Bewertung der jeweils betroffenen Spezies einher, die auch über den Umgang mit den Tieren entscheidet. Solche Bewertungen finden auf unterschiedlichen Ebenen statt – von juristischen Einordnungen (zum Beispiel im Jagd- oder Tierschutzrecht) bis hin zu historisch gefestigten Diskursen

Wildes Frankfurt – Nilgänse im Fokus räumlicher Konflikte

– und sie betreffen unterschiedliche Aspekte. Tradierte Stereotype spielen zum Beispiel eine Rolle, die Tiere als listig, dumm, fleißig oder schmutzig darstellen. Auch die Herkunft, also ob sie heimisch oder eingewandert sind, beeinflusst ihre Bewertung, wobei heimische Tiere häufig höher bewertet werden. Wesentlich zur Bewertung von Tieren trägt auch ihre Schutzwürdigkeit bei, die unter anderem von ihrer Anzahl beziehungsweise Seltenheit bestimmt wird, vor allem aber von der Frage abhängt, ob sie zum lokalen Ökosystem gezählt werden oder dieses bedrohen. Und letztlich spielt für Bewertungen auch eine Rolle, ob die Tiere den Menschen ästhetisch ansprechen, ob sie mit ihm interagieren können oder ob ihre Lebensweise ihm nah ist, was Lorimer (2007) als »nonhuman charisma« bezeichnet. Immer aber ist der Mensch Bezugspunkt. Das letztlich zentrale Kriterium der Bewertung von wildlebenden Tieren ist ihr Nutzen für den Menschen. Tiere haben beispielsweise einen Nutzen, wenn sie Teil bestimmter Naturvorstellungen sind und zu gewünschten und positiven Naturerlebnissen beitragen – Eichhörnchen im Park, Enten auf dem Teich, Bienen auf der Blühwiese. Sie können zudem nach ihrem wirtschaftlichen Nutzen bewertet werden. So wird der Schutz von Bienen zum Beispiel auch durch den hohen Wert der Ökosystemdienstleistung begründet, den sie durch ihre Bestäubung von (Nutz-)Pflanzen und die Produktion von Honig und Wachs erbringen. Demgegenüber verursachen andere Tiere finanziellen Schaden, wenn sie in der Stadt Gebäude und öffentliche Plätze mit Nestern oder Kot verschmutzen oder Gärten und Parkanlagen umgraben. Hand in Hand mit der Bewertung von Tieren geht ihre räumliche Zuordnung. Städtische Planung ist seit jeher durch das Prinzip der Territorialisierung geprägt, und das macht auch vor der Planung tierischer Lebensräume nicht halt. Die Vorgabe ist, dass sich wildlebende Tiere, je nach Bewertung und Kategorisierung, in bestimmten Räumen aufhalten dürfen, in anderen aber nicht. (Das gilt im Übrigen auch für Haustiere wie Hunde, die den öffentlichen Raum ohnehin nur in Begleitung des Menschen betreten dürfen und bei denen es ebenso raumbezogene Regeln wie Leinenzwang gibt.) De facto deckt sich die räumliche Ordnung der mensch-erdachten »animal spaces« aber häufig nicht mit den »beastly places« (Philo/Wilbert 2000), die sich Tiere – ungeachtet der planerischen Vorgaben – im städtischen Alltag aneignen. Ein Tier, an dem die anthropozentrische Bewertungs- und Zuordnungslogik, die daraus folgenden städtischen Politiken und die Einflüsse auf das Tier in Frankfurt deutlich werden, ist die Nilgans. Dabei werden erstaunliche Analogien zu anderen Konflikten um Raum deutlich, die in diesem Buch beschrieben werden, auch wenn die Protagonisten nicht nur menschlich sind. Es geht um städtische Ressourcen und das Recht ihrer Nutzung, es geht um Politiken räumlicher Zonierungen und Zuordnungen und es geht um Vertreibung und Widerständigkeiten dagegen. Die Nilgans (Alopochen aegyptiacus) zählt in Deutschland zu den Neozoen, ist also eine Tierart, die ursprünglich nicht in Deutschland angesiedelt war, sondern sich durch menschlichen Einfluss hier verbreitete. Sie wurde im 17. Jahrhundert aus ihrem Lebensraum südlich der Sahara als »lively commodity« (Collard 2014: 153) nach Großbritannien und später in die Niederlande importiert, wo sie als Ziervogel gehalten wurde. Vermutlich entkamen Nilgänse aus den Niederlanden ihrer Haltungsform und kamen über den Rhein auch nach Deutschland, wo sie seit den 1980er Jahren – nun wildlebend – vermehrt brüten. Sie besiedeln hier in vergleichsweise schnellem Tempo neue Lebensräume und wachsen in ihrem Bestand.

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Auch Frankfurt ist seit mehreren Jahren Lebensraum der Nilgänse. Sie siedeln hier unter anderem am Mainufer (s. Abb. 1), im Ostpark oder im Brentanobad. Nur selten bleibt ihr Auftreten konfliktfrei, da mehrere Faktoren zu einer negativen Bewertung der Gänse führen und sie dadurch eher als Plage, denn als gern gesehenes tierisches Inventar von Stadträumen betrachtet werden.

Abbildung 1: Neben vielen anderen Tieren dient Frankfurt auch den Nilgänsen als Lebensraum. Sie halten sich unter anderem am Mainufer zusammen mit Graugänsen, Kanadagänsen und Stadttauben auf und nutzen dort den Zugang zum Wasser (Foto: Elisa Kornherr 2020).

Ein wesentlicher Grund hierfür ist die Kategorisierung der Nilgans als gebietsfremdes und unerwünschtes Tier. 2017 wurde sie von der EU als invasive Art bestimmt, weshalb die einzelnen EU-Staaten seitdem Managementpläne für den Umgang mit der Nilgans vorweisen müssen. Eine nichtheimische Art wird als invasiv eingestuft, wenn sie das vorhandene Ökosystem negativ beeinträchtigen kann. Im Fall der Nilgans lautet die Argumentation, dass sie durch ihr aggressives Verhalten dem Bestand heimischer Wasservögel schaden würde. Ein tatsächlich negativer Einfluss auf Wasservögel ist allerdings umstritten. Der NABU vertritt beispielsweise die Position, dass Nilgänse kein aggressiveres Verhalten zeigten als andere Wasservogelarten und auf diese auch keinen bedeutsamen schädlichen Einfluss ausübten.2 Untersuchungen zum Aggressionsverhalten von Nilgänsen am Rhein und auf mehreren Teichen (Geberth 2011) sowie in Parkanlagen mit Futterplätzen in Frankfurt (Kenmogne/Schindler 2011) kamen ebenfalls zu dem Schluss, dass die Nilgänse in den Untersuchungsgebieten keine anderen Vogelarten nachhaltig negativ beeinflussten. In der medialen Berichterstattung wird die aggressive Verdrängung von heimischen Tieren dagegen von manchen Protagonist*innen als Tatsache beschrieben. Analogien zur Asyldebatte zeigen sich sehr plastisch in zuweilen fremdenfeindlichen Charakterisierungen der Gänse. Die Rede ist dann von einem »Eroberungsfeldzug« der »aggressiven afrikanischen Gänse«, von »Zuzüglern aus Afrika«, die ein »Bleiberecht« bekommen hätten und sich »unaufhaltsam« vermehren würden.3 Ähnliches ist auch aus Debatten um die Rückwanderung des Wolfes nach Deutschland bekannt (Poerting/Marquardt 2019: 148). Ein genauerer Blick auf die Auseinandersetzungen offenbart, dass hinter den Debatten um den ökologischen Status der Nilgans häufig Konflikte um räumliche Ressourcen stecken. Im vorliegenden Falle geht es um städtische Grün- und Wasserflächen und den Zugang dazu. Denn in Frankfurt

Wildes Frankfurt – Nilgänse im Fokus räumlicher Konflikte

bewohnen die Nilgänse Flächen, die sowohl die Planung in ihrer Zonierung des Stadtraums als auch Menschen in ihrem Alltag für Freizeitnutzung vorgesehen haben: Schwimmbäder (s. Abb. 2), Flussufer oder Parkanlagen. Während Menschen das hier permanent kurz gehaltene Gras als Liegefläche dient, ermöglicht es den Nilgänsen eine Nahrungsaufnahme mit freier Sicht auf mögliche Feinde. Das Wasser nutzen Menschen und Gänse zum Schwimmen, für letztere bietet es darüber hinaus Fluchtmöglichkeiten. Sind beide anwesend, reagieren Menschen unterschiedlich auf die Nähe zur Gans. Manche mögen sie, nutzen die Gelegenheit zur Beobachtung oder sogar zur direkten Interaktion und füttern die Tiere. Andere fühlen sich von den Gänsen bedrängt oder ekeln sich vor ihren Hinterlassenschaften. Ebenso uneinheitlich ist die formelle hygienische Bewertung des Gänsekots, der sich auf Liegewiesen, am Schwimmbeckenrand oder im Badewasser befinden kann. Je nach Interessensgruppe und Argumentationslinie für oder gegen die Gänse wird dieser entweder als hygienisch unbedenklich und damit rein ästhetisches Problem eingestuft, oder – aufgrund möglichen Salmonellenbefalls – als insbesondere für Kleinkinder gesundheitsschädlich. Die Bewertung einer Tierart nach menschlichen Hygienestandards ist ein typisches Muster für den Umgang mit Tieren in der Stadt (Voigt et al. 2020: 255–256). Die Art der vor allem auch rechtlichen Kategorisierung der Tiere – in Betracht kommen EU-Recht, Jagdrecht, Infektionsschutzgesetz, Tierschutzgesetz und regionale Regelungen – entscheidet dann oftmals über die Technologie ihrer Verdrängung oder Tötung. Ratten werden grundsätzlich als hohes Gesundheitsrisiko eingestuft, weshalb sie in Städten auf Privatgrundstücken und im öffentlichen Raum massenhaft getötet werden. Stadttauben gelten ebenso als unhygienisch, aber als weniger gesundheitsgefährdend als Ratten (abgesehen davon, dass sie mehr menschliche Fürsprecher*innen haben). Dementsprechend wird hier eher auf Vertreibung gesetzt: Das Entfernen von Eiern bremst ihre Vermehrung und Taubenspikes verhindern die Aneignung von Fenstersimsen und anderen Vorsprüngen als Brutplatz oder Aufenthaltsort. (Ähnliche Technologien der Vertreibung

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Abbildung 2: Häufig überschneiden sich die Flächennutzungen von Menschen und Nilgänsen. Menschen nutzen die Liegewiesen in den Frankfurter Schwimmbädern zum Sonnen und Entspannen, den Nilgänsen dienen sie dagegen unter anderem zur Nahrungsaufnahme (Foto: Elisa Kornherr 2020).

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werden übrigens auch bei Menschen angewandt, wenn Obdachlose von unerwünschten Schlafplätzen ferngehalten werden.) Nilgänse werden manchmal gezielt getötet, meist aber vertrieben. So wurden in den Frankfurter Freibädern zunächst schwarze Plastikschwäne auf dem Wasser gegen die Nilgänse eingesetzt. Die Trauerschwanattrappen sollten den Nilgänsen Respekt einflößen und sie so aus den Schwimmbädern fernhalten. Stellenweise führte dies auch zur kurzfristigen Vertreibung der Gänse, allerdings verloren die Plastikschwäne schnell ihren Abschreckungseffekt. Andere Maßnahmen waren, die Gänse mit Drohnen, Greifvogelgeräuschen und durch den Einsatz eines Jagdhundes zu verscheuchen, was jedoch auch keine langfristige Wirkung zeigte. Viele Nilgänse nutzen insbesondere das Brentanobad weiterhin als Lebensraum. In Absprache mit der Stadtverwaltung beauftragten die Bäderbetriebe Frankfurt daraufhin einen Jäger, der wiederholt einige der Nilgänse im Freibad erlegte. Während Tierschützer*innen gegen die Aktion demonstrierten und Ornitholog*innen und Umweltpolitiker*innen die Praxis als langfristig nicht zielführend kritisierten, sahen die Bäderbetriebe die Abschüsse als Erfolg, da danach wesentlich weniger Gänse das Brentanobad nutzen würden als davor. Zur Lösung der Konflikte im Umgang mit Nilgänsen fanden wiederholt Runde Tische statt, an denen unter der Leitung des Frankfurter Umweltdezernats verschiedene Behörden teilnahmen, wie die Staatliche Vogelschutzwarte, das Hessische Umweltministerium, das Grünflächenamt und die Untere Naturschutzbehörde Frankfurt. Daraus ging ein Managementplan einschließlich einer Studie zum Monitoring von Maßnahmen im Ostpark hervor. Auch wenn die Nilgänse Auslöser für das Gänsemanagement waren, betraf es ebenso Graugänse und Kanadagänse. Nutzungskonflikte treten auch im Ostpark vor allem im Sommer auf. Die Anzahl der Gänse ist in ihrer Mauserzeit zwischen Mai und Juli am höchsten, gleichzeitig nutzen mehr Menschen den Park in ihrer Freizeit. Ziel des Projektes waren Verhaltensänderungen sowohl bei den Menschen – sie sollten durch Öffentlichkeitsarbeit aufgeklärt und durch Verbotsschilder vom Füttern abgehalten werden – vor allem aber bei den Gänsen. Die auf sie zielenden diskutierten und zum Teil bereits umgesetzten Maßnahmen umfassten technologische Lösungen wie das Aufstellen von für Tiere unzugänglichen Mülleimern, biopolitische Maßnahmen wie das Entfernen von Eiern und Maßnahmen der Verhaltenssteuerung durch Grünflächenmanagement wie das Anpflanzen von bei Gänsen beliebten Futterpflanzen auf wenig von Menschen genutzten Flächen. Des Weiteren wurden klassische Territorialisierungsmaßnahmen umgesetzt, vor allem ein Zaun mit Heckenbepflanzung zwischen dem Weiher und der großen Liegewiese (s. Abb. 3). Dieser soll den Gänsen die Sicht von der Liegewiese auf den Weiher versperren, damit die Liegewiese unattraktiv machen und die Gänse in andere Parkbereiche leiten, in denen sie das Gewässer sehen und sich so sicherer vor Feinden fühlen können. Ähnlich wie Räume für Menschen atmosphärisch gestaltet werden (zum Beispiel durch Licht oder Musik) und zum Verweilen einladen oder aber dauerhaft abhalten sollen, zielen auch diese Maßnahmen auf die (angenommenen) »animals‘ atmospheres« (Lorimer/Hodgetts/Barua 2019). Die Maßnahmen sollen auch in Zukunft weiterentwickelt werden, um die Gänse in die für sie vorgesehenen Räume zu lenken (Rösler/Stiefel 2019) – mit umstrittenem Erfolg, wie im spöttischen Titel »Was für eine Endlos-Posse – Nilgänse ignorieren 48000-Euro-Hecke« einer Tageszeitung zum Ausdruck kam.4 Der durchwachsene Erfolg des Versuchs, Menschenzonen und Gänsezonen zu separieren, verdeutlicht die ambivalenten Machtverhältnisse zwischen Menschen und Nilgänsen. Der Mensch hat Vorstellungen über

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die (räumliche) Ordnung des Stadtraums, legt diese in Plänen und Verordnungen nieder und setzt sie durch ein Set an Maßnahmen von Vertreibung bis zu Tötung durch. Ziel ist es, die Gänse an Orte zu lenken, an denen sie wenig sichtbar sind und die Menschen nicht stören. Ihr Zugang zu städtischen Ressourcen wie Rasen- und Wasserflächen ist gestattet, aber den Zugangsbedürfnissen des Menschen nachgeordnet. Doch auch die Nilgänse verfügen über Handlungsmacht. Sie lassen sich nicht wie passive Objekte steuern, sie deuten planerische Maßnahmen in oft unerwarteter Weise, passen ihr Verhalten an und entwickeln neue Wege der räumlichen Aneignung. Ihr widerständiges Verhalten mag weniger intentional sein und andere Formen annehmen als Widerstand, wie er in vielen Beiträgen dieses Buches beschrieben wird. Der Widerstand der Nilgänse wird in keiner Sprache kommuniziert, die für Menschen leicht zugänglich und verständlich ist, kann aber in seiner Räumlichkeit sichtbar werden. Trotz der Vertreibung eignen sich die Gänse wiederholt die Flächen an, die sie sich als Lebensraum ausgewählt haben (s. Abb. 4), und bleiben nicht an den Orten, die ihnen zugewiesen werden. Wird die Raumaneignung von Tieren als handlungsmächtigen Subjekten anerkannt und die Stadt aus einer mehr-als-menschlichen Perspektive betrachtet, erweitert sich die Forderung nach einer »Stadt für alle« über das Menschliche hinaus. Das Recht auf Stadt würde dann nicht nur durch eine anthropozentrische Bewertungs- und Kategorisierungslogik bestimmt, die das Aufenthaltsrecht für bestimmte Räume und damit auch die Lebenswelt der Tiere beeinflusst, sondern eher im Sinne eines kritischen Anthropomorphismus. Autor*innen wie Wolch (2002) fordern deshalb, Mensch-Natur-Verhältnisse als bedeutsames Thema auch in der Stadtgeographie hervorzuheben und Tiere als Teil einer lebendigen Stadt – »anima urbis« – zu begreifen. Solche Appelle ernst zu nehmen, hätte Konsequenzen für die Wissenschaft wie für die Stadtplanung und -politik. Für erstere ließe sich mit Wolch fordern, Prozesse der Urbanisierung in ihrer Bedeutung für Tiere in der Stadt verstehen zu lernen, zu analysieren, wie Mensch-Tier-Verhältnisse im städtischen Kontext vor allem durch Wissenschaft, gesellschaftliche Diskurse und ökonomische Prozesse produziert werden und wie auch tierliche Handlungsmacht hierbei zum Tragen kommt. Für die Planung hieße es, sich des herrschenden Anthropozentrismus bewusst zu werden und zu überlegen,

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Abbildung 3: Eine große Schautafel informiert im Ostpark über die »Vergrämung der Gänse« und das Fütterungsverbot. Durch den Sichtschutzzaun mit Heckenbepflanzung zwischen dem Gehweg und dem Ufer des Weihers sollen die Gänse von der Freizeitwiese im Park ferngehalten werden (Foto: Elisa Kornherr 2020).

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Abbildung 4: Die Nilgänse lassen sich aktuell nicht komplett aus den Freibädern vertreiben. Eigentlich als Schutz vor ungebetenen menschlichen Gästen errichtet, beschert die Umzäunung des Brentanobads den Nilgänsen nach Ende des Badebetriebs exklusiven Zugriff auf Wasser- und Wiesenflächen (Foto: Elisa Kornherr 2020).

wie sich dieser in der Praxis zumindest ansatzweise überwinden ließe, zum Beispiel durch eine Konzeption von Stadt als ›Wohnung‹, die sich Menschen mit Tieren teilen. Erste Schritte in diese Richtung gibt es bereits. Städte erkennen Artenschutz und Biodiversität als wichtige Themen auch im urbanen Kontext und entwickeln Projekte hierzu. In den planungsnahen Wissenschaften werden neue Instrumente wie ›Animal-Aided Design‹ entwickelt und in ersten Pilotprojekten gestartet. Ziel ist es, »das Vorkommen von Tieren in urbanen Freiräumen explizit zu planen und in die Gestaltung einfließen zu lassen« (Hauck/Weisser 2019: 8) und die Ansprüche verschiedener Zielarten von Anfang an in die Planung zu integrieren. Es wird abzuwarten sein, inwieweit solche Ansätze auf breiter Basis umgesetzt werden und ob sie für einen echten Paradigmenwechsel stehen, oder ob sie nicht doch auf solche Tierarten und Projekte zielen, mit denen man zum Beispiel Wohnumfelder aufwerten oder in internationalen Politikbenchmarks punkten kann, kurz, die sich in die gängige Verwertungslogik unternehmerischer Stadtpolitik einpassen lassen.

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Endnoten 1

Hochrechnung einer Schätzung des Industrieverbandes Heimtierbedarf zum Heimtiermarkt 2019 (https://www.ivh-online.de/presse-medien/archiv/mitteilung-des-ivh-pressedienstes/ news/detail/News/vierbeinige-begleiter-hunde-werden-in-deutschland-immer-beliebter. html).

2

NABU Baden-Württemberg »Die Nilgans. Neubürger oder Bestandteil unserer Vogelwelt?« (https://baden-wuerttemberg.nabu.de/tiere-und-pflanzen/voegel/arten/24754.html)

3

Spiegel.de »Nilgänse erobern Deutschland« vom 12.05.2017, Arte-Reportage »Re: Die Nilgänse kommen« vom 12.05.2017

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Bild.de »Nilgänse ignorieren 48000-Euro-Hecke« vom 01.07.2019

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­ORTE UND STADTTEILE

Sex, Drogen, Alkohol – umkämpfter öffentlicher Raum im Bahnhofsviertel Jenny Künkel

Das Bahnhofsviertel – zunehmende soziale Gegensätze in Zeiten der Gentrifizierung1 Das Bahnhofsviertel ist mit gut einem halben Quadratkilometer das zweitkleinste Stadtviertel Frankfurts. Es ist bekannt für starke soziale Gegensätze auf engstem Raum. Bis in die 1990er Jahre dominierte ein Image als ›Problemviertel‹. Denn die Kommune konzentrierte hier seit der Nachkriegszeit viele Nutzungen, die in angrenzenden Wohn-, Einkaufs- und Bankenvierteln die Normalitätsvorstellungen der Mittel- und Oberschichten und mithin die Profitmaximierung störten (Beste 2000). Neben Bordellen, Drogenszene, Glücksspiel, Obdachlosen und Trinker*innen wohnten vor allem Einkommensarme und auf dem Wohnungsmarkt Diskriminierte, zum Beispiel Migrant*innen und Studierende, im Stadtteil. Diese prägten auch die lokale Ökonomie, die jenseits historisch älterer Cluster (zum Beispiel der Pelzindustrie) nicht zuletzt die Bedarfe der Diaspora deckte. Etwa seit der Jahrtausendwende verändern Gentrifizierungsprozesse den zentral gelegenen Stadtteil (Welz 2010). Diese werden von städtischen Programmen zur Förderung von Wohnen, Kultur und Sicherheit angetrieben. Das Image ist noch immer von den marginalisierten Nutzungen geprägt. Doch diese Marginalisierten gelten nicht mehr ausschließlich als Problem, sondern auch als zentrales Element einer besonderen Authentizität und mithin Attraktivität des Viertels. Diese kulturelle Aneignung der Marginalität findet im Mediendiskurs zunehmend Eingang in eine individualisierende Gentrifizierungskritik: »Das ist schon eine beispiellose Gentrifizierung. Die Leute suchen den Thrill und finden das auf perverse Weise geil. Wenn alle Obdachlosen oder Prostituierten weg wären, über die sie sich erheben können, würden sie hier auch keinen Kaffee mehr saufen« (Bahnhofsviertelnutzer zitiert in: FR 15.08.2019)

Befördert durch den Imagewandel vollziehen sich auch materielle Veränderungen. Nicht nur deuten typische Nutzungen wie ›hippe‹ neue Cafés auf Gentrifizierungsprozesse hin. Allein zwischen 2009 und 2014 stiegen die Angebotsmieten um 29,8 % (Mösgen/Schipper 2017; —Heeg/Schipper in diesem Band). Die Sozialstruktur ist im Effekt im Stadtvergleich besonders stark gespalten: 21,3 % der arbeitenden Bevölkerung zählen zu den (zu)

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Geringverdienenden (mit unter 2.000 € Bruttogehalt im Monat), 25,6 % zu den besonders Gutverdienenden (über 6.000 €; Stadt Frankfurt 2019: 136).

Neoliberale Stadt: Weniger Raum für mehr Marginalisierte Mit Blick auf den öffentlichen Raum macht sich die Gentrifizierung durch eine Zuspitzung jahrzehntelanger Konflikte um die dortige Präsenz marginalisierter Gruppen bemerkbar. Dabei sind Menschen, die mangels Zugang zu Privaträumen ihr Leben auf die Straße verlegen müssen, durchaus bis heute im Bahnhofsviertel präsent. Straßensexarbeiter*innen sowie Drogen- und Alkoholkonsument*innen, die oft Perioden der Obdach- oder Wohnungslosigkeit durchleben, nutzen den öffentlichen Raum für Arbeit, Freizeit und vereinzelt auch zum Schlafen. Verschiedentlich existierten im Bahnhofsviertel und im angrenzenden Gallus zudem temporär geduldete Obdachlosencamps von ethnischen Minderheiten aus Südosteuropa. Trotz und partiell sogar wegen Neoliberalisierung und Gentrifizierung waren diese Gruppen im Bahnhofsviertel in den letzten Jahren phasenweise sogar besonders sichtbar. Die Gründe liegen in der Sozial- und Raumpolitik. Zum einen nimmt Armut im Neoliberalismus zu. Sie wird in Westeuropa zugleich wahrnehmbarer. Denn die EU-Osterweiterung und im Zuge dessen von hiesigen Kommunen vorangetriebene Sozialstaatsausschlüsse fördern nicht nur die Ausbeutbarkeit prekarisierter Arbeitsmigrant*innen auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch sichtbare Armutsphänomene wie Obdachlosigkeit (Riedner 2017). Dabei beruht die Zunahme von Marginalität keineswegs auf einem bloßen Import von Armut, wie es der Diskurs der Armutsmigration suggeriert. Vielmehr bringt die neoliberale Stadt in einer Logik inverser Städtekonkurrenz die Armut der Migrant*innen systematisch hervor (ausführlicher: Künkel 2018): Um keine Prekarisierten anzuziehen (deren Migration allerdings anderen Logiken wie zum Beispiel Arbeitsplätzen folgt), bietet die Stadt Frankfurt nur begrenzt Notübernachtungsplätze. Auch meldete das Sozialamt, schon bevor dies bundesweit die Regel wurde, Sozialleistungsbezug regelmäßig an das Ausländeramt. Da dies bei EU-Migrant*innen zur Ausweisung führen kann, förderte diese Praxis das Verweilen in der Obdachlosigkeit. Zudem verweigert das Amt Hilfen, wenn die betroffenen Migrant*innen erst in Frankfurt obdachlos wurden und nicht schon im Heimatland. Mit solchen Praktiken drängen Städte (als Teil multiskalarer Migrationsregime) Menschen dazu, erhebliche Teile ihres Lebens auf die Straße zu verlegen: zum Beispiel das Schlafen auf die Parkbank oder die Arbeitssuche auf den (Sex-)Arbeitsstrich. Gleichzeitig verringern Gentrifizierungsprozesse die Möglichkeiten Marginalisierter, den öffentlichen Raum für Überlebensstrategien zu nutzen. Dies gilt sowohl innerhalb als auch außerhalb innerstädtischer Armutsquartiere (wie dem Bahnhofsviertel). In solchen physisch zentralen, aber sozial marginalisierten Vierteln wurden normabweichende Nutzungen in einer frühen Welle des neoliberalen ›Säuberns‹ der Innenstädte oft verstärkt konzentriert. Denn in den späten 1980er bis frühen 2000er Jahren bezog sich die Verdrängung von Straßenszenen – bei aller Heterogenität dieser Prozesse – vor allem auf zentrale Einkaufsmeilen, Bahnhöfe und erste Gentrifizierungsgebiete (Wehrheim 2002). Marginalisierte Innenstadtrandviertel dienten häufig als Ausweichräume, in die als ›störend‹ gelabelte Nutzungen verdrängt wurden. In dem Maße, wie die Gentrifizierung sich in Städten ausbreitet, nehmen in den mittlerweile profitträchtigen ehemaligen Armutsvierteln Verdrängungsforderungen zu. Soziale Bewegungen, soziale

Sex, Drogen, Alkohol – umkämpfter öffentlicher Raum im Bahnhofsviertel

Arbeit und zum Teil auch die Betroffenen selbst stellen solche Forderungen in Frage (Künkel/Schindlauer/Straub 2015; Künkel 2020a). Dies ist allerdings nicht der einzige Grund, der gegen eine Umsetzung von Verdrängungswünschen spricht. Oft fehlt außerhalb dieser Viertel Raum für weitere ›Vertreibungswellen‹. Denn durch das Mainstreaming der Gentrifizierung gibt es immer weniger Orte, an die marginalisierte Gruppen inklusive der entsprechenden Hilfeeinrichtungen verdrängt werden könnten, ohne dort größeren Protest artikulationsstarker Anrainer*innen auszulösen. So nahm etwa in Frankfurt nach der EU-Osterweiterung im Bahnhofsviertel Straßensexarbeit trotz Verbot im Sperrgebiet zu. Die migrantischen Sexarbeiter*innen wurden zum Jahreswechsel 2010/11 aufgrund der Beschwerden von Anrainer*innen und Wahlkampftaktiken des damaligen Ordnungsdezernenten in eine vorhandene Toleranzzone nahe der Messe verdrängt. Jedoch mehrten sich im Messeumfeld bereits die Anwohner*innenproteste aus umliegenden Vierteln, die durch den Bau des Europaviertels aufgewertet wurden. Auch galt der Drogenstrich wegen seiner Angebundenheit an Drogenszene und -hilfeeinrichtungen selbst der Polizei als ›unverdrängbar‹ – auch weil alternative Räume fehlten, um Szene und Infrastruktur zu verlagern (Künkel 2016). In Frankfurt wird als Ausweg aus dem Dilemma zunehmender Verdrängungsforderungen bei immer weniger Ausweichräumen eine Konzentration der Drogenszene jenseits der Wohnstraßen nach Hamburger Vorbild diskutiert. Dies erfolgte in Hamburg auf Betreiben des rechten Schill-Senats 2003 mittels einer zentralen Drogenhilfeeinrichtung an den Bahngleisen und damit zugleich am Rand des marginalisierten Bahnhofsviertels. Auf dem Vorplatz der Einrichtung ist die Szene auf engstem Raum zusammen­ gepfercht und wird in den angrenzenden Wohnstraßen nicht mehr geduldet. Im kleinen Frankfurter Bahnhofsviertel fehlt es für diese, von Sozialarbeiter*innen aufgrund ihrer repressiven Form der Konfliktlösung durchaus auch kritisierte, Herangehensweise jedoch an Raum. Daher reduziert bis dato in strukturell ähnlicher Weise nur eine Notübernachtungs- und Beratungsstelle (›Eastside‹) im Ostend vor allem nachts die Sichtbarkeit Marginalisierter im öffentlichen Raum der Innenstadt. Währenddessen wird durch die Gentrifizierung und Umgestaltung des Hauptbahnhofs auch der Raum für marginalisierte Gruppen innerhalb des Bahnhofsviertels immer enger. Vor allem die Drogenszene wurde durch das 2004 aufgelegte Programm OSSIP2, bei dem Polizei und Drogenhilfe auf eine reduzierte Wahrnehmbarkeit der Szene hinwirken sollen, aus einigen Straßenzügen im Bahnhofsviertel weitgehend verdrängt. Gruppenbildung wird dort weitgehend unterbunden. Die Konsument*innen konzentrieren sich nun verstärkt in wenigen Straßenzügen direkt vor den Drogenkonsumräumen. Dadurch ist die Szene in einzelnen Straßen – unterbrochen von Phasen verstärkten Polizierens wegen NIMBY3-Protesten – paradoxerweise noch sichtbarer. Das Zusammentreffen dieser Sichtbarkeiten mit dem Zuzug artikulationsstarker Schichten sorgt dafür, dass die ›Problemviertel‹-Diskurse mit zunehmender Gentrifizierung keinesfalls verschwinden. Die Medien zelebrieren zwar das Bahnhofsviertel als interessanten Ort der Gegensätze. Zugleich flackern – befeuert von konservativen Stimmen unter Gewerbetreibenden, Anwohner*innen, Lokalpolitiker*innen und Presse – regelmäßig Moralpaniken4 über die dortigen ›Zustände‹ auf: »[S]o schlimm war es lange nicht«, berichtet etwa Katharina Iskandar, Lokalreporterin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die das Thema regelmäßig auf die Agenda bringt, am 22.06.2020. Die Moralpaniken haben in der Regel durchaus kleinere

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materielle Anlässe, wenn sie betonen, dass die Straßenszenen jetzt gerade in diesem Moment besonders »schlimm« (gemeint ist: wahrnehmbar) seien. Denn die lokalen Szenen sind aufgrund der beschriebenen kleinräumigen Verdrängungsprozesse, aber auch durch weitere Prozesse wie Migration, Verhaftungen internationaler Drogenhandelsnetze oder zuletzt die Effekte von COVID-19 ständig in Veränderung begriffen. Gleichwohl drücken die Verdrängungsforderungen vor allem eines aus: eine zunehmende Intoleranz gegenüber Marginalisierten in der neoliberalisierten Stadt, die Marginalität vermehrt hervorbringt, aber diese, durchgentrifiziert wie sie ist, immer schwieriger vollständig aus aufgewerteten Stadtvierteln verdrängen kann (ausführlicher: Künkel 2020a). Dieser ›lock-in-Effekt‹ der Marginalität im öffentlichen Raum gentrifizierter Viertel, wie ich es in Anlehnung an ähnliche Prozesse auf dem Wohnungsmarkt nennen will, führt dazu, dass die marginalisierten Straßenszenen repressiver verwaltet werden. Im Vergleich zu früheren Formen des Containments wird auf immer kleinerem Raum die Wahrnehmbarkeit der Szenen verstärkt poliziert.

Marginalitätspolitik der neoliberalen Stadt: repressivere Verwaltung im öffentlichen Raum Dieses wahrnehmungsreduzierte Containment ist nicht ganz neu. Gerade in Frankfurt hat es inklusive des Einspannens sozialer Arbeit in Ordnungsaufgaben Tradition. So setzte die Drogenpolitik bereits seit Ende der 1980er Jahre auf eine Mischung aus Repression und Hilfe, die im ›Frankfurter Weg‹ festgeschrieben wurde. Dafür verdrängte die Polizei in Abstimmung mit kommunalen Akteur*innen 1992 die Drogenszene aus der Taunusanlage, die in eine für Mittelschichten attraktive Parkanalage umgestaltet wurde. Sie versuchte, ›Auswärtige‹ in ihre Meldekommunen zurückzudrängen. Der Rest versammelte sich angesichts der Repression in Downtown im angrenzenden Bahnhofsviertel, wo gezielt Drogenhilfe-Einrichtungen aufgebaut wurden. Dies sollte sowohl die Sichtbarkeit verringern, als auch die hohe Zahl von Todesfällen unter Konsumierenden reduzieren. Mittels Drogenkonsumräumen wurde — ähnlich wie zuvor bereits das Sexgewerbe in Bordellen im Bahnhofsviertel (Löw/Ruhne 2011) – in den Folgejahren zumindest der Konsumvorgang ›eingehaust‹. Im Zuge der Gentrifizierung wird seit Mitte der 2000er Jahre der immer schon Wahrnehmbarkeitsreduktion und Hilfe vereinende Ansatz repressiv umgestaltet. Dies begann bereits mit der Einführung von OSSIP (Bernard 2013). Die Repression wurde seither noch intensiviert. Dies geschah sowohl phasenweise mittels verstärkter Kontrollen (zum Beispiel im Rahmen der Sicherheitsoffensive Bahnhofsviertel 2010), die auf Beschwerden von Geschäftsleuten und Anwohner*innen reagierten, als auch strukturell durch Aufstockung von Polizeikräften in den Innenstadtrevieren und Schaffung von Sondereinheiten. Eingerichtet wurden zunächst Ermittlungsgruppen für Drogenkonsum (2004) und Prostitution (2009), dann die ›Besondere Aufbauorganisation‹ zum Polizieren vor allem des Drogendealens in der Innenstadt (2016). Diese wurde seit 2017 als Regionale Einsatz- und Ermittlungseinheit (D 100 REE), die mit gut 100 Beamt*innen zusätzlich zu den Revieren für die Innenstadt und insbesondere Drogendelikte zuständig ist, verstetigt. Die Polizei hält die Drogenszene in großen Teilen des Viertels möglichst weitgehend ›auf Trab‹, unterbindet Gruppenbildung und verstreut sie somit im Raum – interessanterweise aber eben nicht mit dem Ziel der vollständigen Verdrängung aus dem Viertel, sondern um die Konflikte um die Straßenszenen zu begrenzen, mithin um die Szene im Viertel zu halten (Künkel

Sex, Drogen, Alkohol – umkämpfter öffentlicher Raum im Bahnhofsviertel

2016). Im Effekt ist die Drogenszene lediglich vor den Konsumräumen noch in Gruppen ruhend sichtbar. Deren Mitarbeiter*innen sind zwar auch angehalten, Ansammlungen zu verhindern, doch die Öffnungszeiten und der Raum für den Aufenthalt jenseits des reinen Konsumvorgangs sind begrenzt. Eine ähnliche Strategie des wahrnehmungsreduzierten Containments wird mit Blick auf Alkohol angestrebt. Bezüglich bestimmter Alkoholkonsument*innen, konkret solchen ohne ausreichend Geld für den Konsum in Gaststätten sowie zuletzt auch Feiernden in Zeiten des Virus COVID-19, wurde verschiedentlich eine Verbotspolitik für den öffentlichen Raum diskutiert. Eine angedachte Einhausung Wohnungsloser in ›Trinkräumen‹ galt den Befürworter*innen der repressiven Strategie dann als soziale Begleitmaßnahme. Bis dato aber bremsten rechtliche Hürden die Implementierung von Alkoholverboten aus – dauerhafte Alkoholverbotsverordnungen scheiterten auch in anderen Städten verschiedentlich an Normenkontrollklagen (Cargnelli-Weichselbaum 2019). Insgesamt zeigt sich ein Trend zur repressiveren Verwaltung von Straßenszenen, die auf die Reduzierung der Wahrnehmbarkeit zielt. Diese ist keinesfalls unumstritten. Soziale Bewegungen, Sozialarbeiter*innen und die Linkspartei kritisieren regelmäßig Verdrängung und Kontrolle sowie in geringerem Maße auch grundlegender das Adressieren von Marginalität mittels Sicherheits- statt Sozialpolitik. In jüngeren Jahren problematisieren diese Akteur*innen, befördert durch die Gründung der Initiative Copwatch Frankfurt 2013 (—Copwatch in diesem Band), auch das damit einhergehende racial profiling (zum Beispiel durch eine verstärkte Verfolgung von Drogendealer*innen, Straßensexarbeiter*innen oder Obdachlosen, zu denen aufgrund multipler Marginalisierungsprozesse viele Migrant*innen zählen). Da die neoliberale Stadt jedoch systematisch Marginalität produziert und innerstädtischen Raum für Marginalisierte vernichtet, können deren Forderungen allerdings nur erfolgreich sein, wenn sie die neoliberalen Logiken grundlegend in Frage stellen. Aktuell bieten die Debatten um die Ausbreitung des Virus COVID-19 dafür einerseits Anknüpfungspunkte, andererseits bieten diese auch ein Möglichkeitsfenster für Verbotspolitiken (ausführlicher: Künkel 2020b). So experimentierten Städte während des Lockdowns – temporär und im Umfang begrenzt – mit sozialen Maßnahmen im Umgang mit Straßenszenen, die vorher als undenkbar galten: Sozialleistungen für alle EU-Bürger*innen (bis zur Grenzöffnung), Hotelunterbringung von Obdachlosen oder Methadon-Substitution auch für Drogenkonsument*innen ohne Krankenversicherung. Forderungen nach einer Entkriminalisierung von Drogen wurden – auch im Zuge der US-amerikanischen Debatte ›Defund the police!‹ – wieder artikulierbar. Zunehmend aber nutzen jene Akteur*innen, die immer schon Sexarbeit verbieten, das Bahnhofsviertel ›säubern‹ oder Migrant*innen loswerden wollten, die besondere Situation. So fordern etwa verschiedene Bundestagsabgeordnete das gegenwärtige Prostitutionsverbot durch eine Kriminalisierung der Nachfrage zu verstetigen (Winkelmeier-Becker et al. 2020). Die Diskussion um Drogen im Bahnhofsviertel wird, wie oben bereits beschrieben, auch mit Verweis auf COVID-19 als besonders schlimm und nun endlich (repressiv) zu lösen debattiert. Und Partys im Freien angesichts von Clubschließungen werden unter Markierung der Feiernden als nicht-deutsch zum Anlass sowohl für Debatten um Migration als auch um Alkoholverbote. Aktuell ist noch offen, welche Richtung Post-Corona-Politiken der Marginalität und des öffentlichen Raums annehmen, doch es wird großer Anstrengungen bedürfen, wenn Sozial- statt Kontrollpolitiken durchgesetzt werden sollen.

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Endnoten 1

Der folgende Beitrag stützt sich auf Sekundärliteratur sowie eine Zusammenführung früherer empirischer Beiträge der Autorin zu städtischen Marginalitätspolitiken, auf die jeweils verwiesen wird.

2

OSSIP steht für ›Offensive Sozialarbeit, Sicherheit, Intervention und Prävention‹.

3

Not in my backyard.

4

Als Moralpanik bezeichnet Cohen (2002) Debatten über marginalisierte Gruppen und Praktiken, im Rahmen derer unter Überhöhung und Emotionalisierung weitere gesellschaftliche Fragen ausgehandelt werden.

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Die gespaltene Stadt und das Erstarken der AfD. Eine Spurensuche im Riederwald und in Nied Daniel Mullis

Frankfurt ist stolz auf seine (multi-)kulturelle Vielfalt. Seit den 1960er Jahren ist die Stadt ein Zentrum linker außerparlamentarischer Politik und in den 1980ern war sie Keimzelle einer damals progressiven Grünen Partei. Dennoch, auch in Frankfurt vermochten nach 1945 Parteien der extremen Rechten immer wieder Fuß zu fassen: 1968 erzielte bei den Kommunalwahlen die Nationaldemokratische Partei Deutschland (NPD) 5,8 % und 1989 nochmals 6,6 % der Stimmen. Ebenfalls auf städtischer Ebene vereinten 1993 die Republikaner (REP) 9,3 % auf sich und in immerhin 20 der damals 45 Stadtteilen erzielten sie zweistellige Ergebnisse (Stadt Frankfurt 1993: 92 f.). 1993 kandierten mit der NPD und der Deutschen Volksunion (DVU) zwei weitere rechtsextreme Parteien. Sie blieben jeweils unterhalb der bis 1999 in Hessen geltenden Fünf-Prozent-Hürde. Mit den REP zusammengenommen entfielen jedoch 1993 insgesamt 12,9 % der Stimmen auf die extreme Rechte (ebd.: 3). 1997 erreichten die REP auf städtischer Ebene nochmals 6,2 %. An diesen Erfolg vermochten sie in den folgenden Jahren nicht mehr anzuschließen und verschwanden schließlich in der Bedeutungslosigkeit. Seit der Kommunalwahl 2016, als die Alternative für Deutschland (AfD) mit 8,9 % in das Stadtparlament einzog, sitzt erneut eine im extrem rechten Milieu verwurzelte Partei in Fraktionsstärke im Römer. Die AfD ist bundesweit die erfolgreichste rechts-außen Partei seit 1945. Keiner anderen ist es gelungen, zugleich in allen Landesparlamenten, dem Bundestag und dem Europaparlament vertreten zu sein. In der Main-Metropole erzielte die AfD bei der Bundestagswahl 2017, auf die im Folgenden fokussiert wird, 8,6 %. Damit schnitt sie deutlich schlechter ab als auf Bundesebene, wo sie 2017 12,6 % erreichte. Das unterdurchschnittliche Abschneiden ist kein Frankfurter Spezifikum: Es gilt für alle Großstädte mit mehr als 250.000 Einwohnenden, mit Ausnahme der beiden sächsischen Metropolen Leipzig und Dresden (Bernet et al. 2019: 13). Allerdings sollte dies nicht dazu verleiten, die AfD nicht auch als städtisches Phänomen zu begreifen. Die Polarisierung zwischen den Wahlergebnissen der Stadtteile ist überall groß. So auch in Frankfurt, wo die AfD 2017 im Nordend-Ost 4,5 % und in Zeilsheim 14,5 % erreichte. Isoliert lassen sich die Ergebnisse also nicht betrachten. Sie sind Indikator für eine gesamtgesellschaftliche Polarisierung, die sich entlang

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von Fragen demokratischer Teilhabe, rassistischen Ein- und Ausschlüssen sowie sozialer Deklassierung entfaltet (Mullis/Zschocke 2019: 26 ff.). Genauer betrachten möchte ich hier zwei Frankfurter Stadtteile, in denen die AfD seit 2016 bei Wahlen verhältnismäßig stark abschneidet: den Riederwald und Nied. Es geht mir darum, städtische Prozesse und Bruchlinien herauszuarbeiten, die in den Vierteln wirken und die für die Menschen vor Ort von Relevanz sind. Der Beitrag basiert auf der Analyse von sieben Interviews je Stadtteil, die ich mit lokalen Politiker*innen, Kirchenvertreter*innen und Sozialarbeiter*innen im Rahmen meines aktuellen Forschungsprojektes im Jahr 2017 führte. Berichtet wird insbesondere von einem Mangel an Investitionen, negativen Erfahrungen mit demokratischen Prozessen sowie von Gentrifizierung. Dies bedeutet nicht, dass diese Entwicklungen zwangsläufig zur Wahlentscheidung für die AfD führen. Sehr wohl befördern sie aber Erfahrungen der Desintegration und des Abstiegs, die in aktueller Forschung als relevant für das Erstarken extrem rechter Politiken beschrieben werden (Heitmeyer 2018). Zunächst werde ich hier nun die sozio-ökonomischen Spaltungen Frankfurts betrachten und den Riederwald sowie Nied kurz vorstellen. Anschließend diskutiere ich vertieft die drei für die Stadtteile benannten Prozesse. Abschließend komme ich auf das Erstarken der AfD zurück und lege einige Verbindungslinien zwischen diesem und den städtischen Dynamiken dar.

Riederwald und Nied: Zwei Stadtteile in einer gespaltenen Stadt

Tabelle 1: Verteilung monatlicher Bruttoeinkommen in der Stadt Frankfurt (Quelle: Stadt Frankfurt 2019c: 145).

Die schillernden Fassaden der Bankentürme vermitteln das Bild von Frankfurt als einer reichen Stadt. Doch der Schein trügt. Reichtum und Armut liegen in der Global City nah beieinander und die Polarisierung nimmt zu (—Stein in diesem Band; Stadt Frankfurt 2018a). Gemäß dem Arbeitskreis ›Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder‹ (zit. n. Stadt Frankfurt 2019b: 11) liegt in der Mainmetropole das erwirtschaftete Bruttoinlandsprodukt je erwerbstätige Person im Jahr 2016 mit 97.178 € weit über dem Bundesschnitt von 72.048 €. Dies ist die drittstärkste Zahl

Die gespaltene Stadt und das Erstarken der AfD

der Republik hinter München und Stuttgart. Umgekehrt liegt das verfügbare Einkommen je Einwohner*in mit 21.690 € knapp unter dem Bundesschnitt, rund 8.000 € tiefer als in München und 3.000 € geringer als in Stuttgart (Stadt Frankfurt 2019b: 18). Der monatliche Bruttomedian beträgt im selben Jahr 4.085 €, wobei 36,2 % mehr als 5.000 € verdienen, während große Teile der Bevölkerung über deutlich kleinere Einkommen verfügen. Auffällig dabei: Zwischen 2014 und 2018 nehmen der Anteil sowie auch die absoluten Zahlen an kleinen und mittleren Einkommen – also weniger als 3.000 € – sukzessive ab, während die Zahl der Menschen mit Spitzeneinkommen von mehr als 5.000 € deutlich steigt (s. Tab. 1; Stadt Frankfurt 2019c: 145). Es sind letztere, die die ökonomischen Realitäten der Stadt bestimmen und an denen sich die Politik tendenziell orientiert. Diese Polarisierung setzt sich auch in der Verteilung der Haushaltseinkommen fort: 2017 erwirtschaftet gerade mal ein Drittel der Haushalte mehr als 3.200 € netto pro Monat, während ein Fünftel mit weniger als 1.300 € auskommen muss. Die Verteilung der Einkommen legt zudem nahe, dass die Differenz innerhalb des obersten Drittels enorm groß sein muss. Wird diesen Zahlen das aktuelle Niveau der Neuvermietungsmieten von 13,07 €/m2 gegenübergestellt (FR 10.01.2020), wird deutlich, dass angemessener Wohnraum für eine Familie selbst mit einem Einkommen von 3.200 € kaum erschwinglich ist: Für 80 m2 fällt inklusive Nebenkosten von 250 € eine monatliche Miete von 1.296 € an, was 40,5 % des Haushaltseinkommen ausmacht – deutlich mehr als die 30 % Faustregel für eine tragbare Miete. Die ökonomische Spaltung übersetzt sich dann auch unmittelbar in räumliche Segregation (Stadt Frankfurt 2018a). Das resultierende Muster findet auch in der Wahlgeographie der AfD Widerhall. Es sind vor allem marginalisierte Stadtteile außerhalb des Innenstadtrings, in denen die AfD gut abschneidet, während in den eher gentrifizierten Innenstadtvierteln der Zuspruch geringer ausfällt. Tatsächlich lässt sich statistisch untermauern, dass die Zustimmungswerte der AfD in den Stadtteilen von Frankfurt signifikant mit der sozio-ökonomischen Lage vor Ort korrelieren. Auch besteht ein Zusammenhang zwischen dem Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund und der Wahl der AfD: Je höher der erste Wert, desto stärker die AfD (Geilen/Mullis 2021). Die Daten selbst geben keinen Aufschluss über die Ursachen für diese Zusammenhänge. Sie verdeutlichen lediglich statistische Korrelationen – was Hinweise auf soziale Gefüge gibt, aber keine Erklärung darstellt. Zwei Fehler sollten unbedingt vermieden werden: Zum einen extrem rechte Einstellungen als ein Problem der weniger wohlhabenden Schichten abzutun, zum anderen Rassismus vornehmlich in eher marginalisierten Vierteln zu verorten. So ist für den bundespolitischen Erfolg der Partei die Herausbildung einer »rohen Bürgerlichkeit« (Heitmeyer 2018: 293 ff.) und das damit verbundene Vordringen in die Wähler*innenschichten der oberen Schichten zentral (ebd.: 208). Hinzu kommt: Rassistische Einstellungen sind weit über die im eigentlichen Sinne extreme Rechte hinaus verbreitet und in der sogenannten ›Mitte der Gesellschaft‹ gut verankert (Decker/Brähler 2020: 49). Der Fokus liegt hier auf zwei Frankfurter Stadtteilen: Dem Riederwald und Nied, die eher marginalisiert sind, wo die AfD überdurchschnittlich stark abschneidet und die wenig zentral liegen. Die Geschichten beider Stadtteile sind eng mit der Industrialisierung, dem in den letzten vier Jahrzehnten vollzogenen Strukturwandel hin zur Dienstleistungsökonomie (Ronneberger/Keil 1995) sowie der rasanten Gentrifizierung verbunden. Im Riederwald leben knapp 5.000 Menschen und in Nied 19.780. In beiden haben die Menschen größtenteils ein unterdurchschnittliches

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Karte 1: Anteil Wähler*innen der AfD in % je Stadtteil bei den Bundestagswahlen 2017 und Anteil an Sozialwohnungen je Stadtteil (Kartographie: Institut für Humangeographie).

Einkommen (Stadt Frankfurt 2018a). Der Anteil sozialversichert Beschäftigter liegt im Vergleich zu anderen Stadtteilen jeweils im unteren Drittel (Riederwald 56,3 %, Nied 57 %). Umgekehrt liegt der Anteil an Menschen mit Minijobs im Riederwald bei 8,8 % – der höchste Wert in der Stadt – und in Nied knapp über dem Mittelwert bei 7,2 %. Bedarfsorientierte Sozialleistungen beziehen stadtweit 12,8 %, im Riederwald sind es 21,3 % und in Nied 17,6 % (Stadt Frankfurt 2019a). Der Anteil an Ausländer*innen beträgt im Riederwald 28,3 % und in Nied 37,3 %. In Frankfurt sind es insgesamt 30 %. Städtebaulich dominieren mit Ausnahme von Alt-Nied in beiden Stadtteilen große Siedlungen, die mehrheitlich in der Zwischen- und Nachkriegszeit errichtet wurden. Heute sind sie mehrheitlich im Besitz von großen privaten und öffentlichen Wohnungsunternehmen sowie einigen Genossenschaften. Im Riederwald wie auch in Nied liegt der Anteil von als Sozialwohnungen ausgewiesenen Wohnungen bei 10-20 % des Gesamtbestandes (s. Karte 1; Stadt Frankfurt 2018b: 51). Die AfD erzielte bei den Bundestagswahlen 2017 im Riederwald 13,1 % und in Nied 14,2 % der Stimmen. Ein Jahr zuvor bei den Kommunalwahlen erreichte sie dort 13,6 % beziehungsweise 15,3 %. Seither ist bei den Landtagswahlen 2018 sowie der Europawahl 2019 ein leichter Rückgang bei gleichzeitiger Konsolidierung der Ergebnisse zu beobachten. Bei der Kommunalwahl 2021 sackte die AfD jedoch deutlich auf gerade mal noch 4,5% ab. Auch wenn die Stadtteile keinesfalls von der extremen Rechten dominiert sind, fanden entsprechende Parteien dort bereits in der Vergangenheit

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immer wieder Zuspruch. So erzielte die NPD im Riederwald sowie in Nied im Jahr 1989 je rund 9 %. Neben dem Gallus (10,2 %) waren beide Stadtteile lokale Hochburgen der Partei (Stadt Frankfurt 1989: x). 1993 zogen die REP anstelle der NDP in den Römer ein und erneut waren der Riederwald mit 13,1 % und Nied mit 10,8 % – neben dem Gallus (13,6 %) – Stadtteile mit besonders starken Ergebnissen (Stadt Frankfurt 1993: 92 f.). In der Forschung werden verfestigte extrem rechte lokale Kulturen mitunter als Erklärung für aktuelle Erfolge der AfD vorgebracht (Goerres/Spies/Kumlin 2018). Jedoch sind solche Kontinuitäten keinesfalls zwangsläufig, wie das Gallusviertel zeigt: Einst Hochburg bei der Kommunalwahl der NPD 1968 und 1989 sowie 1993 der REP, erreichte die AfD bei der Bundestagswahl im Gallus 2017 nur mehr durchschnittliche Ergebnisse, was nicht zuletzt eine Konsequenz der heftigen Gentrifizierungsprozesse und der damit einhergehenden sozio-kulturellen Umwälzungen im Viertel sein dürfte (—Albrecht/ Betz/Latocha in diesem Band; Stadt Frankfurt 2018a). Die Wahlergebnisse im Riederwald und in Nied relativieren sich, wenn die absoluten Anteile an AfD-Wähler*innen sowie der Umstand berücksichtigt werden, dass knapp ein Drittel der Wahlberechtigten nicht zur Wahl geht und ein weiteres Drittel der Bevölkerung vor Ort auf Grund einer fehlenden Wahlberechtigung erst gar nicht wählen darf. In Relation zur über 18-jährigen Gesamtbevölkerung wählten 2017 im Riederwald mit 241 Stimmen und in Nied mit 937 Stimmen sodann gerade mal 6 % beziehungsweise 5,8 %, die AfD. Auch hat die extrem rechte Partei in keiner der beiden Viertel eine etablierte Präsenz, es gibt weder lokale Abgeordnete noch etablierte Stadtteilgruppen. Die Wahl der AfD ist somit eine stille Wahl, die vor Ort durch keine kollektive politische Formierung begleitet wird. In beiden Stadtteilen dominieren bis heute CDU und SPD, wenngleich beide Parteien stetig an Zuspruch verlieren, wovon neben der AfD auch die Grünen, die Linke und die FDP profitieren. Der Riederwald etwa gilt bis heute auf Grund seiner Tradition als Bastion der Linken, nach 1945 vor allem der Sozialdemokratie, als »Roter Riederwald« (Schacht 1986: 37, 71 f.). Noch bei den Kommunalwahlen 1972 erreichte die SPD hier über 67,4 % und gewann stadtweit 50,1 % – daraufhin setzte ihr Niedergang ein (ebd.: 72). 2017 erreichte sie im Riederwald gerade mal noch 29,6 % – stadtweit 20,1 % – und büßte im Vergleich zur vorherigen Wahl 11,2 % der Stimmen ein. In Nied erzielte die SPD 24,5 %, verlor aber ebenfalls 6,2 %. Der CDU, die in Nied klassischerweise stärker abschnitt, ergeht es nicht viel besser: Sie büßte 8,7 % ein und erreichte nur mehr 26,7 %. Insgesamt ist damit im Riederwald sowie in Nied der Niedergang der einstigen Volksparteien zu beobachten. Beide haben an repräsentativer Kraft eingebüßt als integrative Organisationen vor Ort sowie in der politischen Vertretung. Der Erfolg der AfD ist auch in diesem Gefüge zu verstehen.

Konfliktdynamiken: Sparpolitiken, Postdemokratie und Gentrifizierung Um die städtischen Prozesse und Bruchlinien herauszuarbeiten, die im Riederwald und in Nied wirken, um zu verstehen, in welchem sozialen Gefüge die AfD im städtischen Kontext Fuß zu fassen vermag, habe ich im Riederwald und in Nied Interviews geführt (Mullis 2019). Angesprochen auf Problemlagen und Konflikte im Viertel wurden zunächst fast durchweg Beschwerden über falsch abgestellte Autos, zu viel Verkehr und Lärm sowie illegal deponierten Sperrmüll vorgebracht. Beim Versuch, hinter diese unmittelbaren Erzählungen zu blicken, tauchen drei Aspekte auf: erstens ein

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Gefühl, dass zu wenig in die Stadtteile investiert wird – das Schlagwort heißt Austerität; zweitens die Wahrnehmung, dass es an der Einbindung in demokratische Prozesse mangelt und die eigenen Belange keine Rolle spielen; und drittens das Problem der Gentrifizierung. Zum ersten Punkt: Austerität beschreibt eine Politik, die die Staatsverschuldung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und zu deren Minimierung auf mitunter drastische Ausgabenkürzungen, Privatisierung von Staatseigentum sowie die Erhebung von leistungsbezogenen Gebühren setzt. Eine Alternative wäre Eigentum, Erbschaften oder Spitzeneinkommen stärker zu besteuern. Seit den 1990er Jahren sind Sparpolitiken ein wichtiger Bestandteil neoliberaler Umstrukturierungsprogramme. Austerität dient dabei, so betonen Tino Petzold und Felix Wiegand (2018: 142, 144), als Disziplinierungsmechanismus, insofern alle politische Betätigung – insbesondere in den Bereichen der sozialen Infrastrukturen wie Schulen und Krankenhäusern, aber auch in Angeboten im Bereich des Breitensportes und der Kultur sowie der sozialen Absicherung – unter Finanzierungsvorbehalt gestellt werden. In Deutschland ist Austerität seit 2009 über die Schuldenbremse verfassungsrechtlich institutionalisiert. Für Jamie Peck (2012: 629) ist klar, dass Städte Orte sind, an denen Austerität besonders starke Konsequenzen hat, da unersetzbare öffentliche Dienstleistungen und Infrastrukturen stark auf kollektiven Finanzierungsmechanismen beruhen. Kommunen sind in Deutschland durch die Gemeindeordnung und die Kommunalaufsicht der Länder traditionell einer »strengen Haushaltsdisziplin unterworfen« (Petzold/Wiegand 2018: 143). Infolgedessen sind es auch gerade strukturschwache Regionen, die besonders hart von den restriktiven Vorgaben betroffen sind, da ihnen die finanzpolitischen Spielräume abhandenkommen. Es ist daher nicht erstaunlich, dass Austerität regionale Ungleichheit und Standortkonkurrenz vertieft (ebd.: 145). Kommunale Austerität ist für Petzold und Wiegand insgesamt »eine spezifische Strategie der Krisenbearbeitung, die auf eine Umverteilung von Ressourcen und politischer Macht zugunsten des Kapitals und Menschen mit großem Einkommen bzw. Vermögen abzielt« (ebd.: 143). Die Gespräche im Riederwald und in Nied verdeutlichen, dass Sparpolitiken auch in eigentlich wohlhabenden Kommunen eine Realität darstellen und Konsequenzen haben. Gespart worden sei bei sozialen Einrichtungen und Angeboten sowie bei der Sanierung der öffentlichen Infrastruktur. Der Tenor in beiden Stadtteilen lautet: Wenn es um Investitionen geht, dann werden wir hier vergessen, während in der Innenstadt die Skyline boomt. Eine Interviewpartnerin in Nied (17.7.2017) formuliert es so: »Nied ist gewachsen, aber immer so unten durchgerutscht.« In beiden Stadtteilen gerät heute einiges in Bewegung, was die Problematik des Mangels an Investitionen zwar teilweise angeht, dabei aber gerade im Bereich Wohnen neue Probleme schafft – ich komme unten darauf zurück. Im Riederwald sowie in Nied werden öffentliche Plätze aufgewertet und gerade im Riederwald wird alsbald der Bestand an Wohnungen, die im Programm des Neuen Frankfurts in den 1920er Jahren errichtet wurden und die heute größtenteils im Besitz der städtischen ABG Holding sind, grundlegend saniert. Nied wurde Ende 2016 in das Bund-Länder-Programm ›Soziale Stadt‹ aufgenommen und durchläuft im Zuge dessen eine Umstrukturierung des öffentlichen Raumes. Ein großes Thema ist der Mangel an lokalen Bildungsreinrichtungen. In beiden Stadtteilen fehlt es an weiterführenden Schulen – so steht das ursprünglich geplante Gymnasium Nied heute im Westend und heißt Adorno-Gymnasium. Ein Interviewpartner bringt dies unmittelbar in Zusammenhang mit der Klassenzugehörigkeit der Kinder: »Die Nieder Kinder

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sind aus der Arbeiterschaft«, ihnen wird ein weiter Schulweg zugemutet. Die Wahrnehmung, dass das eigene Leben von Sparpolitiken geprägt wird, hängt aber nicht nur mit dem Mangel an öffentlichen Investitionen zusammen. Beklagt wird auch, dass Einzelhandel, lokale Dienstleistungen und Kneipen auf Grund der Konkurrenz und knapper werdender Mittel der Bewohner*innen verschwunden seien. Thematisiert wird gerade in Nied auch die Privatisierung von Wohnraum. Der Stadtteil sei von Werkswohnungen und gemeinnützigen Wohnungsbauunternehmen geprägt gewesen. Die Unternehmen hätten nicht nur die Siedlungen mit errichtet, sondern auch soziale Infrastruktur unterstützt. Mit der Privatisierungswelle, die Ende der 1990er einsetzte und bis Mitte der 2000er Jahre anhielt, wurden nicht nur Wohnungsbestände dem freien Markt zugeführt, sondern auch das soziale Engagement weggespart. Dies habe Lücken hinterlassen, die bis heute beklagt werden. Bemängelt wird zudem das Fehlen kollektiver Räume. Es bedürfe »Begegnungsstätten, wo man sich austauschen und niedrigschwellig treffen kann« (Interview Nied 20.7.2017). Für großen Unmut sorgt im Riederwald bis heute, dass 2011 trotz Protest die städtische Bücherei geschlossen wurde. Eingespart worden sei nicht nur der Zugang zu Büchern, sondern auch ein Ort, »wo sich Leute treffen konnten« (Interview Riederwald 12.7.2017). Dies führt mich zum zweiten Aspekt, der Wahrnehmung der mangelhaften demokratischen Einbindung. Colin Crouch (2008) beschreibt unter dem Schlagwort »Postdemokratie« die Erosion demokratischer Teilhabe. Die Gründe dafür erkennt er in der »Refeudalisierung« von Politik (ebd.: 35, 69 f.), der Ausweitung von marktförmigem Verhalten (ebd.: 59), der Flexibilisierung der Arbeitswelt (ebd.: 87) sowie in einer allgemeinen Tendenz zur Kommerzialisierung (ebd.: 103 f.). Die Verfahren und Institutionen, die Demokratie formal ausmachten – freie Wahlen, ein Rechtsstaat, Beteiligungsmöglichkeiten etc. – seien zwar weiterhin intakt, Demokratie als gesellschaftlicher Aushandlungsprozess komme aber zunehmend unter Druck. Die Autoritarismus-Studie aus dem Jahr 2020 zeigt, dass dies auch in Deutschland der Fall ist: Im Einklang mit der anhaltenden Liberalisierung von Gesellschaft (Decker/Brähler 2020: 82) geben zwar immer mehr Menschen an, dass sie »Demokratie als Idee« eine gute Sache finden – insgesamt sind es 93,1 %, die das so sehen. Umgekehrt jedoch sind gerade mal 57,6 % mit dem gegenwärtigen Zustand der Demokratie in der Bundesrepublik zufrieden (ebd.: 60 f.). 72,9 % der Befragten geben an, dass »Leute wie ich« auf die Entscheidungen der Regierenden keinen Einfluss haben und 59,1 % betonen, dass ein politisches Engagement sinnlos sei (ebd.: 69 f.). Das sind schlechte Werte, wenn auch der Trend in Sachen Zufriedenheit mit der Demokratie insgesamt eher in Richtung wachsender Zustimmung geht (ebd.: 60 ff.). Das Gefühl aus demokratischen Prozessen ausgeschlossen zu sein, taucht auch in den Erzählungen im Riederwald und Nied an zentraler Stelle auf. So berichten Gesprächspartner*innen resigniert, dass es nicht an Engagement mangle, dieses jedoch schlicht verpuffe und ignoriert werde. Positive Erfahrungen gebe es für Menschen, die sich vor Ort engagieren, fast nie. Dies ist in der Tendenz in Frankfurt insgesamt eine Realität. Das Engagement für bessere Schulen und Bildungsinfrastruktur, günstigere Mieten, den Erhalt von Grünflächen und Freiräumen, weniger Verkehr, Infrastruktur im Stadtteil, Investitionen in den öffentlichen Raum etc. mündet in Frankfurt, insbesondere wenn es um Belange weniger wohlhabenderer Menschen geht, nicht selten in der Sackgasse. Diese Erfahrungen in den Stadtteilen entfremde Menschen von demokratischer Teilhabe, betont eine Gesprächspartnerin in Nied (Interview Nied 17.7.2017). Heute gibt es im Riederwald wie auch

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in Nied zwar aktive Menschen, die sich in Initiativen für Demokratie, gegen Rassismus und für ein lokales Kulturangebot einsetzen, ihre Zahl ist aber klein, wie in den Interviews vielfach betont wird. Hinzu komme ein weiteres Problem: »Wir haben zwei Merkmale der Bevölkerung, die kriegen wir nicht eingefangen: Armut und Migrationshintergrund« (Interview Riederwald 18.7.2017). Zivilgesellschaftliches Engagement ist vielfach eine ziemlich »deutsche« Sache der Mittelschicht, formuliert es ein anderer Gesprächspartner in Nied (25.10.2017). Der dritte angesprochene Prozess ist Gentrifizierung. Mark Davidson und Loretta Lees (2005: 1170) bestimmen Gentrifizierung als Prozess der Reinvestition von Kapital, sozialen Aufwertung, Umwandlung des Stadtbildes und Verdrängung schlechter verdienender Schichten. In Frankfurt ist Gentrifizierung ein Fakt (—Schipper/Heeg in diesem Band). Riederwald und Nied haben in diesem Prozess unterschiedliche Positionen. Beide Stadtteile waren jahrelang auch auf Grund der größeren Bestände an Sozialwohnungen Orte, an die Menschen auch mit kleinem Einkommen noch hinziehen konnten, wenn sie anderswo keinen bezahlbaren Wohnraum mehr fanden. In den Gesprächen in Nied wird nahegelegt, dass der Zuzug von armen Menschen zu Spannungen führe. Im Riederwald hingegen ist der Prozess der Verdrängung bereits in vollem Gange. In Nied ist es die Verdichtung sozialer Problemlagen, die den Interviewten Sorgen bereitet: Arbeitslosigkeit, knappe finanzielle Mittel von Familien und Kinderarmut, viele haben psychische Probleme und Alkoholismus ist im Stadtteil präsent. Hinzu komme, dass, obwohl die Statistiken dies nicht untermauern würden, die Angst vor (Ausländer*innen-)Kriminalität zunehme. Gleichzeitig wird die Stadt für ihre Sozialwohnungspolitik kritisiert, die letztlich zu Segregation von Menschen mit weniger Einkommen führe: »Man kann nicht immer nur sagen: ›Zieht da hin.‹ Und die sozial Schwachen alle in einen Topf werfen« (Interview Nied 8.8.2017). Zumindest zwischen den Zeilen wird auch Kritik am Zuzug von Ausländer*innen formuliert. In Nied kam es 2016 zu rassistisch aufgeladenen Protesten, als dort eine Flüchtlingsunterkunft errichtet wurde. Die Proteste seien jedoch rasch abgeebbt und, so schildern es die Gesprächspartner*innen, von einer aktiven »Willkommenskultur« marginalisiert worden. Berichtet wird in den Interviews dennoch von einer Spaltung der Bevölkerung. Für Nied wie auch für den Riederwald gilt, dass Zuwanderung seit der frühen Phase der Industrialisierung der Stadtteile zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Realität darstellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es vor allem ›Gastarbeiter*innen‹ aus Südeuropa, die kamen. Heute ziehen neben Migrant*innen aus Europa vermehrt auch geflüchtete Menschen zu. Mehr denn je seien die Stadteile heute von deutlichen sprachlichen, konfessionellen sowie klassenbezogenen Barrieren durchzogen, wobei sich die einzelnen Gruppen zwar nicht konflikthaft, durchwegs aber unvermittelt gegenüberstünden, so die Wahrnehmung in mehreren Interviews. Künftig dürften die mit Gentrifizierung verbundenen Konflikte in Nied deutlich zunehmen. Frankfurt wächst rasant und die Verdrängungsmechanismen erfassen immer stärker auch periphere Stadtteile. In den letzten Jahren hat die Stadt wenig unternommen, um den Prozess zu bremsen, wenn sie ihn nicht gar aktiv befördert hat. Beispielhaft ist die Entwicklung des Gallus, das in der ersten Runde des ›Soziale Stadt‹-Programms gefördert wurde und heute stark gentrifiziert wird (—Albrecht/Betz/Latocha in diesem Band). Für Nied besteht die Gefahr, dass es dem Stadtteil ähnlich ergehen wird. Die im Rahmen des Programms ›Soziale Stadt‹ eingeleitete Aufwertung des öffentlichen Raums ist vor Ort willkommen. Jedoch mehren sich

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die Indizien, dass Gentrifizierung bald einsetzen könnte und der Stadtteil weitreichendere Veränderungen als erhofft durchlaufen dürfte. So werden Primärinvestitionen durch die ABG Holding am ›Nieder-Loch‹ getätigt. Wie zuvor schon im Gallus, tritt das städtische Unternehmen als Wegbereiterin für Aufwertungsprozesse am Wohnungsmarkt auf. Auch mehren sich die Hinweise, dass Nied im Zuge des generellen Booms der Stadt zunehmend an Attraktivität für Investitionen gewinnt. Die Immobilienpreise sind innerhalb von fünf Jahren »für Projekte am östlichen und westlichen Stadtrand im Schnitt um etwa 75 % gestiegen« (FR 08.01.2020). Deutlich ziehen damit die Preise auch »in lange Zeit wenig nachgefragten Stadtteilen wie Höchst, Nied und Unterliederbach« an (ebd.). Auch im Riederwald wird von ähnlichen Problemen im Zusammenhang mit Armut und durch Prekarisierung der Arbeit bedingte Stresserfahrungen berichtet wie in Nied. Dennoch hat Gentrifizierung im Stadtteil schon deutlichere Spuren hinterlassen und der Riederwald steht im Prozess an einem anderen Punkt als Nied. Dies betrifft die Siedlung im Besitz einer Genossenschaft weit weniger als die Bestände der ABG Holding. Zweifelsohne weisen gerade die Bauten des Neuen Frankfurts einen enormen Investitionsstau auf. Schon heute aber wohnen hier Menschen »teilweise zu sechst in 2-Zimmerwohnungen« (Interview Riederwald 12.7.2017), um sich die verhältnismäßig günstigen Mieten leisten zu können. Die Menschen stehen vor dem Dilemma, dass sie sich die Sanierung wünschen und ihre Notwendigkeit anerkennen, sie sich gleichzeitig aber um ihre Existenz sorgen. Befördert wird dies durch bereits umgesetzte Projekte: »Die Riederwälder werden da ausgeschlossen«, formuliert es ein Gesprächspartner (Interview Riederwald 12.7.2017). Einzelne Straßenzüge wurden bereits modernisiert, kleinere Wohnungen zu größeren zusammengelegt und andernorts wurde nachverdichtet. Berichtet wird von Mietsteigerungen von mehr als 70 %. Wesentlich befördert wird die Dynamik im Riederwald durch die Entwicklung der Mietpreise in den anrainenden Stadtteilen Nordend, Ostend sowie Bornheim. Seit Jahren steigen die Mieten dort deutlich an (—Mösgen/ Schipper in diesem Band). Der nahe Riederwald, wo im Verhältnis die Mieten selbst nach einer Modernisierung noch moderat erscheinen, erweist sich hierbei als eine Alternative. In Nied und im Riederwald werden heute Menschen zu Gentrifizierer*innen, die nicht selten selbst zuvor schon verdrängt wurden. Offenkundig sind heute nicht nur bereits gentrifizierte Innenstadtviertel von immer neuen Zyklen der Super-Gentrifizierung betroffen, sondern es ist von einer stadtweiten Verallgemeinerung der Dynamik auszugehen. Für die Menschen am Rande der Stadt wird die Lage dadurch bedrohlich. Innerstädtische Ausweichmöglichkeiten schwinden für die dort Verdrängten und sie sehen sich gezwungen, aus der Stadt rauszuziehen. Sie verlieren nicht nur ihre Wohnungen, sondern auch unerlässliche soziale Beziehungen und Sicherheitsstrukturen, kurze Laufwege, Zugang zu Arbeit und nachbarschaftliche Hilfe in den unterschiedlichen Communities. Der beschleunigte Prozess entwickelt dabei immer deutlicher Druck an den Rändern der Stadt und dringt mit Gewalt in das Leben der ohnehin prekarisierten Menschen vor.

Städtische Dynamiken und das Erstarken der AfD: Was tun? Zum Schluss möchte ich nochmals einen Blick auf die Entwicklung der extremen Rechten werfen und die für die Stadtteile beschriebenen Dynamiken in Beziehung zum Erstarken der AfD setzen. Die AfD vermochte in

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den letzten Jahren in der Stadt Fuß zu fassen, wenn auch auf eher niedrigem Niveau. Im Vergleich zu früheren Erfolgen der NPD oder der REP stellt das aktuelle Abschneiden der AfD dennoch eine neue Qualität dar – die Entwicklungen sind also nicht zu unterschätzen. Hinzu kommt, dass das Erstarken der Partei nicht isoliert zu betrachten ist. Erfolge der extremen Rechten sind keine gesellschaftlichen Randphänomene. Sie sind Produkt und Beschleuniger gesellschaftlicher Polarisierungen und Konflikte, welche die Gesellschaft insgesamt verändern (Mullis/Zschocke 2019: 13 ff.). So sind heute zwar bedeutende Erfolge einer gesellschaftlichen Liberalisierung zu verzeichnen: Deutschland gilt vielen als Einwanderungsland, die ›Ehe für alle‹ ist möglich und post-koloniale Kontinuitäten sowie der tradierte Rassismus werden zumindest thematisiert. Gleichzeitig erwachsen in jenem Teil der Gesellschaft, der sich gerne als ›Mitte‹ versteht, autoritäre Tendenzen. Rassismus ist weit verbreitet, Antisemitismus eine Realität und immer wieder ist tödliche Gewalt wie in Halle oder Hanau das Ergebnis (Decker/ Brähler 2020). Was die geschilderten Prozesse in den Stadtteilen angeht, so ist mir wichtig zu betonen, dass diese nicht per se zu extrem rechten Einstellungen führen. Was sie aber mit Sicherheit befördern, sind Gefühle der Entsicherung, der Exklusion und der Desintegration aus der Gesellschaft. Apathie ist die wohl am weitesten verbreitete Reaktion, während wiederum andere sich politisch vor Ort in eher progressiven Initiativen von Bürger*innen organisieren. Jedoch sind diese Gefühle, wie Wilhelm Heitmeyer in seinem gleichnamigen Buch (2018: 20 f.) betont, auch absolut zentral für die Herausbildung »Autoritärer Versuchungen« und die Festigung extrem rechter Einstellungen. Insgesamt haben diese Gefühle, so Heitmeyer (ebd.: 186 ff.), in diversen Krisen seit 2007/08 zugenommen, wobei sie zuerst in Ängsten und stiller Opposition Ausdruck fanden und heute immer öfter in offen rechte Praxis umschlagen. Hinzu kommt, dass die städtischen Problemlagen das Potential bieten, rassistisch und sozialchauvinistisch aufgeladen zu werden – und dies geschieht auch, was wiederum ein weiteres Einfallstor für die extreme Rechte darstellt. Artikuliert werden die Problemlagen vor Ort dann als Verteilungskonflikte um soziale Zuwendungen, wobei Migrant*innen über die Maßen profitieren würden, wohingegen die angestammte Bevölkerung leer ausgehe. Ansätze dafür habe ich im Fortgang meiner eigenen Forschung zum Riederwald und zu Nied durchaus gefunden (Mullis/Zschocke 2019: 23 ff.). Für deutsche Städte haben dies Johannes Hillje (2018) sowie Peter Bescherer et al. (2019) bereits deutlicher beschrieben: Hillje (2018: 9) verweist darauf, dass in den untersuchten AfD-Hochburgen Migration als das »größte Problem« benannt wird, wobei nur wenige einen mangelnden Zusammenhalt der Gesellschaft kritisieren. Problematisiert wird die angeblich hohe Zahl an Migrant*innen, die zu einer sozialpolitischen Benachteiligung deutscher Staatsbürger*innen bei finanziellen Zuwendungen führe. Bescherer et al. (2019: 23) arbeiten heraus, dass Stadt im Kontext der AfD und der extremen Rechten insgesamt als »Kampffeld« inszeniert wird, wobei »hauptsächlich sozial Benachteiligte gegeneinander« ausgespielt werden. Das Resultat: »Die ständige Betonung, dass Geflüchtete durch Steuergelder finanziert würden, sowie der rechte Vorwurf, dass die aktuelle Politik Geflüchteten am Wohnungsmarkt Vorteile verschaffe, produzieren Sozialneid und das Gefühl einer Benachteiligung der Einheimischen« (ebd.: 24). Gefühle der Entsicherung, der Exklusion und der Desintegration aus der Gesellschaft sind aber nicht nur dann problematisch, wenn sie in Stimmen für die AfD umschlagen. Sie minimieren gesellschaftlichen Zusammenhalt, untergraben Möglichkeiten einer pluralistischen Solidarität und befördern

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Vereinzelung. An anderer Stelle habe ich dies als Herausbildung einer regressiven Kollektivität bezeichnet, welche die Gesellschaft insgesamt betrifft und Politiken anderer Parteien verändert (Mullis 2019: 14). Um diesen Tendenzen entgegenzuhalten, wäre es zentral, gerade auf lokaler Ebene – dort wo Gestaltungsspielräume und Kollektivität unmittelbar ausgehandelt, erfahren und gelebt werden – positive Erfahrungen von Demokratie und sozialem Zusammenhalt über die unterschiedlichen Communities hinweg zu befördern. Dies bedeutet aber auch, dass die Stadt Frankfurt insgesamt gut daran täte, der sozialen Polarisierung in der Stadt stärker entgegenzuwirken – insbesondere im Bereich der Wohnungsfrage. Soziale Inklusion löst das Problem extrem rechter Einstellungen nicht, aber sie nimmt Druck aus dem Kessel und schafft Zeit, um verstärkt an Themen wie Rassismus und Chauvinismus zu arbeiten. Darüber hinaus sollte das Engagement progressiver sozialer Bewegungen ernster genommen werden, sonst drohen gerade jene Menschen verloren zu gehen, die sich noch für Demokratie und Zusammenhalt einsetzten. Engagement muss sich auch für weniger wohlhabende Menschen lohnen und sollte nicht vornehmlich in bitteren Niederlagen münden. Vor Ort in den Stadtteilen muss Rassismus und Antisemitismus klar und deutlich widersprochen werden – diskriminierende Äußerungen dürfen nicht stehen bleiben. Es muss klar sein, dass rechte Provokationen und Übergriffe das Problem sind und nicht deren Adressat*innen und Opfer. Die Akteur*innen und Institutionen in den Stadteilen müssen ermächtigend wirken, so dass Gestaltungsräume erwachsen. Dies bedeutet letztlich auch, dass öffentliches Personal in Verwaltungen, Schulen und den Sicherheitsbehörden verpflichtend Weiterbildungen und Trainings besuchen müsste, um eine antirassistische und soziale inklusive Praxis in der Fläche zu verankern. In der Stadt bedarf es zudem mehr Freiräumen, Orten, die Menschen selbst gestalten können und wo der Streit über Gesellschaft seinen Platz hat. In jeder Siedlung und in jedem Viertel müssten nicht kommerzielle Gemeinschaftsräume zur Verfügung gestellt werden, die mit einem selbstverwalteten Budget arbeiten können. Es braucht nicht nur Orte zum Zusammenkommen, sondern auch Orte, wo gemeinsam gehandelt werden kann. Unabhängig vom weiteren Erfolg oder Misserfolg der AfD sollte dies als langfristige Strategie angelegt werden, denn die polarisierenden Tendenzen in der Gesellschaft bestehen fort.

Literaturverzeichnis Bernet, Tobias/Bescherer, Peter/Beurskens, Kristine/Feustel, Robert/Michel, Boris (2019): »Stadt von Rechts?«, in: sub\urban 7 (1/2), S. 7-22. Bescherer, Peter/Burkhardt, Anne/ Feustel, Robert/Mackenroth, Gisela/Sievi, Luzia (2019): Antiurbane Utopien. Die Stadt im Diskurs der Rechten, http://podesta-projekt.de/wp-content/uploads/2019/06/2019_06_21_WP2-Antiurbane-Utopien-webversion.pdf (Zugriff: 22.02.2021). Crouch, Colin (2008): Postdemokratie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Davidson, Mark/Lees, Loretta (2005): »New-build ›gentrification‹ and London’s riverside renaissance«, in: Environment and Planning A 37(7), S. 1165-1190. Decker, Oliver/Brähler, Elmar (2020): Autoritäre Dynamiken, Gießen: Psychosozial-Verlag. FR, Frankfurter Rundschau (08.01.2020): ›Ein reines Luxusprodukt‹, https://www.fr.de/frankfurt/ frankfurt-wohnen-wird-immer-teurer-preise-eigentumswohnungen-steigen-zr-13424660. html (Zugriff: 09.01.2020). FR, Frankfurter Rundschau (10.01.2020): Mieten in Frankfurt steigen weiter, https://www.fr.de/ frankfurt/wohnen-in-frankfurt-sti903943/miete-frankfurt-steigen-hat-folgen-12847478. html (Zugriff: 28.09.2020). Geilen, Jan L./Mullis, Daniel (2021: »Polarisierte Städte: die AfD im urbanen Kontext«, in: Geographica Helvetica (angenommen).

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Drogenhandel in der Frankfurter Platensiedlung – Entmietungspraxis einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft Luise Klaus und Bernd Werse

Im Sommer 2019 erreichten die Diskussionen um Drogenhandel in der Frankfurter Platensiedlung einen vorläufigen Höhepunkt, als die städtische Wohnungsbaugesellschaft ABG Frankfurt Holding sechs Familien ihre Wohnungen kündigte. Da in den Wohnungen mit illegalisierten Drogen gehandelt wurde, konnte die ABG den Familien aufgrund einer unrechtmäßigen Zweckentfremdung des Wohnraums kündigen – und zwar schon vor einer Verurteilung der angeklagten Personen. Diese Entmietungspraxis ist in Frankfurt bis dato neu und stellt eine Ersatzstrafhandlung dar, die weitreichende Folgen für die Betroffenen haben kann sowie kritische Fragen nach der Exekutivfunktion ziviler Akteure aufwirft.

Wohnungskündigung wegen Drogenhandel – Was war passiert? Im Rahmen unserer Forschungsarbeiten zu Drogenkonsum und Drogenhandel im urbanen öffentlichen Raum wurden wir im Sommer 2019 auf die Platensiedlung in Frankfurt aufmerksam: Verschiedene Tageszeitungen diskutierten die Wohnungskündigungen von sechs Familien, bei denen einzelnen Familienmitgliedern Drogenhandel vorgeworfen wurde. Wir beschlossen, dazu Erkundungen vor Ort einzuholen sowie Recherchen in Medien und anderen online verfügbaren Quellen durchzuführen. Zunächst legen wir dar, wie sich nach unserer Recherche die Situation entwickelte. Der Handel mit illegalisierten Substanzen in der Platensiedlung ist kein neues Phänomen. Die Lage spitzte sich jedoch zu, als eine Gruppe junger Männer, die sich regelmäßig in den öffentlichen Grünabschnitten sowie auf der Straße in der Siedlung aufhielt und augenscheinlich mit Drogen handelte, die Aufmerksamkeit von Anwohnenden und schließlich auch der Polizei weckte. Als besonders problematisch wurde dabei thematisiert, dass die jungen Männer sich ›auf der Straße breitmachen‹ würden, Grünflächen und einen Spielplatz okkupierten, Kund*innen von außerhalb (der Siedlung sowie Frankfurts) anlockten und Anwohnende verängstigten (Lang 2018). Ab April 2018 befasste sich eine eigens dafür gegründete Arbeitsgruppe der Polizei, die AG Siedlung, mit der Situation in der Platensiedlung. Die AG bestand 15 Monate bis zum August 2019 und verfolgte verschiedene

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Strategien, um den örtlichen Drogenhandel zu unterbinden. Intensive Personenkontrollen von Kund*innen, die meist für den Eigenbedarf bei den Dealern kauften und dazu die Siedlung aufsuchten, dienten in erster Linie dazu, den Markt ›trockenzulegen‹. Zudem fokussierte sich die Polizei auf die Dealer und führte mehrere Hausdurchsuchungen in deren Wohnungen durch, die zu diesem Zeitpunkt alle mit ihren Familien lebten. Die Hausdurchsuchungen hatten weitreichende Folgen: Die Polizei fand nicht geringe Mengen illegaler Drogen (vor allem Cannabis und Kokain), Verpackungsmaterial, Handys, Waffen (wie zum Beispiel eine Schreckschusspistole) sowie größere Mengen Bargeld. Insgesamt sechs Beschuldigte wurden daraufhin angeklagt, mit illegalen Substanzen Handel zu betreiben. Soweit zu den altbekannten, wenn auch in unseren Augen nicht zielführenden, Arbeitsweisen der Polizei im Kontext einer prohibitionistischen Drogen- und Sicherheitspolitik. Bemerkenswert ist jedoch, was daraufhin geschah: Durch die bei den Durchsuchungen von der Polizei eingetretenen Wohnungstüren wurde die ABG Frankfurt Holding indirekt darüber informiert, in welchen Wohnungen die Polizei Beweismittel sichergestellt hatte. Über offizielle Kanäle, also die Polizei, hätte die Wohnungsgesellschaft aus Datenschutzgründen nicht erfahren dürfen, wer welches Vergehens beschuldigt wird. Dennoch kündigte die ABG aufgrund dieser Informationen aus ›zweiter Hand‹ den jeweiligen Familien die Wohnungen. Dass dieses Vorgehen noch vor einer rechtmäßigen Verurteilung der Täter gültig ist, ergibt sich aus einem Urteil des Bundesgerichtshofs von 2016, das feststellte, dass »ein Mieter die Grenze vertragsgemäßen Gebrauchs [überschreitet] und gegen seine mietvertragliche Obhutspflicht (§§ 535, 538, 241 Abs. 2 BGB) [verstößt], wenn er in der angemieteten Wohnung illegale Betäubungsmittel aufbewahrt« (Bundesgerichtshof 2016). Diese Entmietungspraxis der ABG wurde dabei in großen Teilen der (medialen) Öffentlichkeit als effizientes Vorgehen bewertet, gegen kleinräumliche kriminelle Strukturen vorzugehen. So war in der lokalen Presse von einer »Sicherheitskoalition« zwischen Polizei und ABG die Rede, deren »schärfste Waffe« das Mietrecht sei (Allgemeine Zeitung 13.09.2019). Die Aktion diene einer Befriedung der Lage und habe zudem eine »abschreckende« Wirkung, merkt der stellvertretende Ortsvorsteher an (FAZ 25.09.2018). Frank Junker, Geschäftsführer der ABG, pries in einem Sicherheitsgespräch mit den Anwohner*innen der Platensiedlung an, dass »wenn jemand seine Wohnung verliert, wenn er und seine Familie die Wohnung verlieren, [dann] ist das ein nachhaltigere Strafe« als die oftmals in seinen Augen zu »laschen« Urteile der Frankfurter Justiz, wie er ergänzend hinzufügt. Ein Anwohner äußerte sich in eben jenem Sicherheitsgespräch und nannte es eine »schöne Genugtuung, das mitzuerleben«1. Sicherheitsdezernent Markus Frank sah in dem Vorgehen »ein Beispiel, das Schule machen sollte« und zum »Standardvorgehen« in ganz Frankfurt werden könne. Er verlautbarte: »So knapp wie der Wohnraum in unserer Stadt ist, sollten wir nirgendwo dulden, dass Drogenbarone ihn als Hauptquartier nutzen. Das ist ganz klar eine Zweckentfremdung« (FNP 28.08.2019).

Diese scheinbar unisono befürwortete Entmietungspraxis der ABG ist bemerkenswert. Im Folgenden wollen wir darlegen, wie diese Einstimmigkeit zu erklären ist, warum wir diese kritisch betrachten und welche weitreichenden negativen, gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen sich daraus ergeben können.

Drogenhandel in der Frankfurter Platensiedlung

Die Platensiedlung Die Frankfurter Platensiedlung liegt im Stadtteil Ginnheim. Die Siedlung wurde in den 1950er für Soldaten der US-Armee erbaut, 1996 kaufte die ABG Frankfurt Holding die Gebäude und vermietet dort seitdem sozial geförderten Wohnraum. Die dreistöckigen Wohneinheiten bestehen überwiegend aus 4-5-Zimmer-Wohnungen. Die Wohnanlagen sind für Frankfurter Verhältnisse großzügig angelegt: Zwischen jedem Wohnhaus gibt es geräumige Grünstreifen, an den Straßenrändern große Bäume; zudem gibt es keine stark frequentierten Hauptstraßen, weshalb es in der Siedlung insgesamt vergleichsweise ruhig ist. Mit einer von der ABG seit 2017 avisierten Nachverdichtung sollen zu den derzeit bestehenden 342 Wohnungen 650 weitere, vor allem kleinere Wohnungen auf die Häuser aufgestockt werden (ABG Frankfurt Holding o.J.) und dazu beitragen, die Siedlung mittels ›sozialer Durchmischung‹2 aufzuwerten. Kioske und Gastronomie, die bislang nicht vorhanden sind, sollen die Wohngegend attraktiver machen, zudem soll nur noch ein Drittel des Wohnraums, der durch die Nachverdichtung entsteht, sozial gefördert sein, da laut Ortsvorsteher Friedrich Hesse auch »andere soziale Gruppen rein [sollen]«, wobei er direkt ausführt, welche Gruppe er dabei im Sinn hat: »Es ist schon ein Ruf vorhanden über die Platensiedlung, aber mit den Studenten könnte das was bringen« (FR 01.01.2020).

Der »Ruf« der Platensiedlung, den Hesse an dieser Stelle erwähnt, bezieht sich auf einen öffentlichen Diskurs, in dem die Platensiedlung häufig als ›Problemviertel‹, ›sozialer Brennpunkt‹ oder ›Ghetto‹ bezeichnet wird. Produziert wird dieser unter anderem durch die mediale Berichterstattung, wie dieser Ausschnitt aus einem Zeitungsartikel beispielhaft zeigt: »Die Platensiedlung verkommt zum Ghetto. Gewalt und Drogenhandel prägen den sozialen Brennpunkt« (FAZ 02.11.2018)3.

Der öffentliche Diskurs fokussierte sich dabei einerseits auf Ausschreitungen von Jugendlichen in der Platensiedlung, die insbesondere in der Halloweennacht 2018 stattfanden. Hier kam es zu Sachbeschädigungen, auf einen Linienbus wurden Steine geworfen und beim Eintreffen der Polizei bauten die Jugendlichen eine Straßenbarrikade und zündeten Mülleimer an. Zusätzlich gab es in jüngerer Vergangenheit einige Fälle, bei denen Minderjährige in Ginnheim (dem Stadtteil, zu dem die Siedlung gehört) Autos aufgebrochen hatten, um damit durch die Gegend zu fahren und sie dabei willentlich oder aufgrund mangelnder Fahrkenntnisse zu beschädigen und schließlich an einem anderen Ort stehen zu lassen. Diese Vorkommnisse sind jedoch offenbar unabhängig vom Drogenhandel zu betrachten; wie aus dem Umfeld zu hören war, distanzieren sich die um einige Jahre älteren Drogendealer vielmehr von dem Vorgehen und stehen der zusätzlichen medialen Aufmerksamkeit kritisch gegenüber. Zurecht, wie sich zeigt, denn in der Diskussion um das ›Problemviertel‹ werden die Geschehnisse rund um die Platensiedlung häufig pauschalisiert. Hier zeigt sich die Krux der verräumlichten Stigmatisierung einer ganzen Siedlung: Akteure und Geschehnisse werden nicht mehr differenziert voneinander betrachtet, vielmehr gilt fortan ein ganzer Raum als ›gefährlich‹ oder ›kriminell‹. Bei dieser »(kollektive[n]) Wahrnehmung von Stadtteilen, aber auch von einzelnen Straßenzügen, Parks und Plätzen« (Belina/Wehrheim 2011: 213) wird

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häufig vom Individuum abgesehen; fortan ist jede*r, die*der sich im Raum aufhält (in diesem Fall insbesondere junge Männer), qua Lokalisierung verdächtig. Dies hat wiederum Auswirkungen auf die dort lebenden Menschen: Bei Erkundungen vor Ort unterhielten wir uns mit einem Jugendlichen, der genervt davon war, dass er aufgrund der ›Kiffer‹ beziehungsweise eines Generalverdachts gegenüber den Jugendlichen aus dem Viertel jederzeit damit rechnen müsse, von der Polizei kontrolliert zu werden und er deshalb immer schon früher aus dem Haus gehen müsse. Die räumlich fokussierte polizeiliche Kontrollpraxis schränkt somit den Alltag und die Raumpraxis auch unbeteiligter Menschen ein, welche allein aufgrund ihres Aufenthalts an einem Ort verdächtigt werden (Thompson 2018). Andere Anwohnende wiederum, die aufgrund ihres Alters oder ihres Aussehens weniger von den unmittelbaren Folgen polizeilicher Sozial­ raumorientierung (Hunold 2011) betroffen sind, fühlen sich und ›ihren‹ Stadtteil als ›sozialen Brennpunkt‹ stigmatisiert. Die Schuldigen sind in ihren Augen schnell ausgemacht. Da es vor allem die Dealer zu sein scheinen, die das schlechte Image der Siedlung hervorgerufen haben, erklärt sich die eingangs zitierte Genugtuung eines Anwohnenden über die Wohnungskündigung und die damit erhoffte Wiederherstellung des Rufs der Siedlung. An dieser Stelle sei hervorgehoben, dass bei einem Gang durch das Stadtviertel zu einer beliebigen Tageszeit der Eindruck eines ruhigen Wohnviertels dominiert – die eingangs erwähnten Beeinträchtigungen des öffentlichen Raums waren offenbar zeitlich und örtlich stark begrenzt.

Das Image des Dealers Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die Vorfälle, an denen sich die Diskussion um das ›Problemviertel‹ Platensiedlung entzündete, allenfalls zum Teil mit den Deal-Aktivitäten bestimmter Bewohner zusammenhängen. Umso auffälliger ist gerade im Zusammenhang mit den Wohnungskündigungen die Fokussierung auf eben diese Thematik. Dies lässt sich auf allgegenwärtige Kategorisierungen von Drogendealern als ›Problemgruppe‹ (Negnal 2019; Egger/Werse 2019) zurückführen. Die (in der Regel als männlich imaginierte) Figur des Dealers ist dabei nicht nur im allgemeinen Diskurs mit Skrupellosigkeit, Gewaltbereitschaft und anderen negativen Zuschreibungen assoziiert (Schmidt-Semisch/Paul 1998), sondern teilweise auch unter Drogenkonsumierenden und sogar bei Personen, die selbst in kleinem Rahmen mit Drogen handeln, als Negativfolie präsent (Jacinto et al. 2008). Nicht selten ist eine solch ablehnende Haltung mit rassistischen Stereotypen über bestimmte ethnisierte Gruppen verknüpft, die in Teilen des Drogenhandels aktiv sind. Dies wiederum steht in einer unseligen ›Tradition‹, was den Drogendiskurs generell betrifft: So zielten bereits vor Inkrafttreten der globalen Prohibition diverser Substanzen im 20. Jahrhundert zahlreiche lokale Drogenverbote auf die Ausgrenzung bestimmter, oft ethnisch definierter Gruppen. Offen rassistisch war dann unter anderem die US-Kampagne gegen Cannabis in den 1930er-1940er Jahren, die maßgeblich zur Durchsetzung des weltweiten Cannabisverbots beitrug: Neben mexikanischen Immigrant*innen waren es seinerzeit unter anderem schwarze Jazzmusiker, unter denen Cannabis verbreitet war und auf welche die Kampagne direkt abzielte (Werse 2007). Tatsächlich zeigt sich in der Forschung (exemplarisch: Egger/Werse 2019) ein differenziertes Bild: Zum einen findet ein Großteil des Handels mit illegalisierten Substanzen nicht in der Öffentlichkeit, sondern im privaten Rahmen statt, wobei hier der lebensweltliche Abstand zu kriminellen

Drogenhandel in der Frankfurter Platensiedlung

Klischees recht groß ist. Handel in der Öffentlichkeit stellt mithin nur einen kleinen Teil des gesamten Geschehens dar, der aber ungleich stärker mit Gewalt untereinander wie auch einem ›kriminellen‹ Selbstverständnis, aber auch mit einem deutlich höheren Strafverfolgungsrisiko einhergeht. Dieser sichtbare Teil des Dealens wird mehrheitlich von Personen aus unterprivilegierten, oft migrantischen Milieus betrieben, für welche diese Tätigkeit eine der wenigen Optionen ist, regelmäßig an ausreichend Geld zu gelangen. Am Anfang einer solchen Karriere steht dabei im Übrigen fast immer die Möglichkeit, den eigenen Drogenkonsum finanzieren zu können. Der weitere Verlauf ist dann charakterisiert durch ein Wechselspiel von Kriminalisierung und Übernahme einer devianten Identität. Die entsprechenden Tatverdächtigen aus der Platensiedlung passten vermutlich gut in dieses negativ belegte Klischee. Grundsätzlich bietet das Drogenverbot und die damit nach wie vor verbreitete Assoziation mit unerwünschter sozialer Abweichung eine Voraussetzung dafür, das Viertel in den Fokus der Bemühungen zu stellen und im Namen der Deal-Aktivitäten ›aufzuräumen‹.

Die Akteurskonstellationen in der Platensiedlung4 Vieles deutet darauf hin, dass sich beim Vorgehen der Wohnungs­ kündigungen verschiedene stadtpolitische und gesellschaftliche Prozesse verdichtet haben: Die weitgehend unwidersprochene Befürwortung der Entmietungspraxis, die wir zu Beginn dieses Artikels anhand einiger Zitate dargelegt haben, lässt sich aus der spezifischen Akteurskonstellation in der Platensiedlung erklären. Ein Blick auf die jeweiligen Interessen der ABG, der Anwohnenden und der Polizei zeigt, weshalb es in der Frage der Entmietung von Drogendealern zu einer punktuellen Übereinkunft kommen konnte. Die ABG hat 2019 Bauarbeiten zur Nachverdichtung der Platensiedlung in Auftrag gegeben, im Rahmen derer die bislang dreistöckigen Häuserzeilen um je zwei Stockwerke aufgestockt werden sollen. Die ›soziale Durchmischung‹ der Siedlung, welche der Neubau fördern soll, bedeutet im Umkehrschluss, dass besserverdienende oder eben studentische Personengruppen in den neu entstehenden und nicht mehr geförderten Wohnraum einziehen und so zu einer Aufwertung des Viertels beitragen5. Die Wohnungskündigung von unliebsam gewordenen Mieter*innen kommt für die ABG also im rechten Moment. Die Anwohnenden wiederum, die durch das Vorgehen der ABG potenziell auch auf ihr eigenes Mietverhältnis und die zukünftige Entwicklung der Platensiedlung mit Sorge schauen könnten, haben erfahren, welche handlungsrelevanten Auswirkungen es hat, in einem als ›problematisch‹ oder ›kriminell‹ stigmatisierten Wohngebiet zu leben. Hier dürfte also nicht selten die Hoffnung bestehen, durch die Entmietung und Vertreibung der kriminalisierten Familien den eigenen Status aufwerten zu können. Die Polizei hingegen steht in Frankfurt einer vergleichsweise milde urteilenden Justiz in Bezug auf Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtmG) entgegen. So konnten wir bereits feststellen, wie einige Polizist*innen fast wehmütig auf die deutlich härteren Urteile in beispielsweise Bayern blicken, während in Frankfurt die von ihnen aufgedeckten BtmG-Delikte im Eigenbedarfsbereich oftmals nicht ausreichen, ein Strafverfahren einzuleiten. Auch der Nachweis des Handels mit Drogen bedeutet für die Frankfurter Polizei einen erheblichen Aufwand. Die diesbezügliche Frustration auf Seiten der Frankfurter Polizei kann eine Erklärung für deren ›Zusammenarbeit‹ mit der ABG sein: Bei dem bereits erwähntem Sicherheitsgespräch gab ABG-Chef Frank Junker bekannt, dass »sowohl bei der

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Polizei als auch der ABG eine vertrauliche Anzeige« erstattet werden könne, wobei eine Anzeige bei der ABG den »Vorteil« habe, dass »noch vor strafrechtlicher Verurteilung die ABG vorgehen kann, dann werden die aus ihrer Wohnung rausgeworfen«6. Von polizeilicher Seite wurde diese Aussage nicht nur kommentarlos hingenommen, sondern sogar die Entmietung durch die ABG befürwortet. Diese unterschiedlichen Positionen und Interessenlagen haben sich in der Platensiedlung verdichtet und so erst möglich gemacht, dass ein Handlungsspielraum entsteht, in dem die Entmietungen der ABG beinahe kritiklos durchgesetzt werden konnten.

Drogenprohibition und die Tradition der Ersatzstrafhandlung Seitdem das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1994 beschloss, dass nicht alle Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz mit einer Strafe belegt werden müssen, weshalb insbesondere bei geringen Mengen Strafverfahren oftmals durch die Staatsanwaltschaft eingestellt werden, gibt es Bestrebungen aus der Politik, dies mittels Ersatzstrafen zu unterlaufen. Prominentestes Beispiel ist hier die Fahrerlaubnis-Verordnung, nach der bereits bei einmaligem Konsum illegaler Drogen außer Cannabis sowie beim ›regelmäßigen‹ Konsum von Cannabis – unabhängig davon, ob jemals berauscht gefahren wurde – der Führerschein entzogen werden kann. Dadurch sind Drogen konsumierende Führerscheinbesitzer*innen praktisch unabhängig von ihrer Konsumhäufigkeit permanent vom Verlust der Fahrerlaubnis bedroht. Bei der hier thematisierten Praxis der Entmietung handelt es sich unseres Wissens nach um eine neuartige Ersatzstrafe – beziehungsweise sogar Zusatzstrafe, wenn mit einberechnet wird, dass angesichts der gefundenen Mengen ohnehin mit gerichtlichen Strafen zu rechnen ist. Insofern ist in den betreffenden Fällen das Argument von Polizei und Anwohnenden, dass es generell schwierig sei, Drogenhandel nachzuweisen (da in der Öffentlichkeit zumeist nur geringe Mengen mit sich getragen werden), obsolet. Die Täter werden mithin doppelt bestraft, und die Ersatzstrafe betrifft obendrein im Sinne einer ›Sippenhaft‹ auch die anderen Familienmitglieder. Das hat für alle Beteiligten fatale Folgen. Die Familien verlieren ihre Wohnungen, die sie lange Zeit bewohnt haben und werden aus ihrem sozialen Umfeld gerissen. Auch ist davon auszugehen, dass zunehmende Gentrifizierung und steigende Mieten es ihnen sehr schwer machen werden, neuen Wohnraum zu finden.

Fazit und Ausblick Insbesondere die mediale Darstellung der zeitweilig in der Platensiedlung auftretenden Probleme hat dafür gesorgt, dass innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums deviante Handlungen zur Definition einer abweichenden Gruppe (Becker 1963) und letztlich zur Konstruktion eines »kriminellen Raums« (Belina 2011: 123) in einem eigentlich ansonsten eher unauffälligen Stadtviertel geführt haben. Mit der neuartigen Praxis der Entmietung noch vor einem rechtskräftigen Urteil, inklusive Kollektivbestrafung, wurde schweres Geschütz gegen die identifizierten Störenfriede aufgefahren – eine Praxis, die zwecks Wiederherstellung von Ruhe und gutem Ruf der Siedlung auf breiter Ebene unterstützt wurde. Inwiefern das eigentliche ›Problem‹ hiermit gelöst wurde, ist indes fraglich, da anzunehmen ist, dass die betreffenden Personen sich auch nach ihrem Auszug noch im Viertel aufhalten, zumal

Drogenhandel in der Frankfurter Platensiedlung

dort ihre Peergroup ist und die Möglichkeiten, anderweitig unterzukommen, vermutlich stark begrenzt sind. Die Entmietungspraxis der ABG indes kann als eine Ersatz- oder Zusatzstrafe verstanden werden, die jedoch nicht – und das stellt die besondere Brisanz dieses Vorgehens dar – von einer Ordnungsbehörde, sondern von einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft initiiert wird. Dass das Mietrecht »zur schärfsten Waffe« (Allgemeine Zeitung 13.09.2019) einer restriktiven (Drogen-)Politik ernannt wurde, ist eine sehr bedenkliche Entwicklung (unter anderem im Hinblick auf Unschuldsvermutung, Kollektivbestrafung, Datenschutz etc.), auch wenn zu bezweifeln ist, dass diese als ›Standardvorgehen‹ durchsetzbar ist, wie von einigen Involvierten gewünscht. Erschütternd ist dabei die weitgehende Einmütigkeit, mit der die Übernahme von Exekutivaufgaben durch einen zivilen Akteur begrüßt wird. Die Spirale von gesellschaftlicher Armut, Stigmatisierung, Drogenkonsum und -handel wird vermutlich durch solche repressiven Maßnahmen eher verstärkt; soziale und politische Ursachen bleiben im Diskurs hingegen weitgehend ausgeblendet.

Endnoten 1

Notizen aus dem Beobachtungsprotokoll des 2. Sicherheitsgesprächs des Präventionsrats Ginnheim, welches am 17. Juni 2019 in Frankfurt stattfand.

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Die ›soziale Durchmischung‹ ist ein stadtplanerisches Konzept, welches vor allem das ›Durchmischen‹ eines Quartiers mit einkommensschwachen und -starken Bevölkerungsgruppen zum Ziel hat. Kritische Initiativen und Wissenschaftler*innen merken jedoch zurecht an, dass mit dem Konzept keine sozialen Probleme und Ungleichheiten zu lösen seien und es hauptsächlich der Anlockung renditenorientierter Investor*innen diene (Stadt für Alle Bochum 2018).

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Gut ein Jahr nachdem dieselbe Journalistin die Platensiedlung als »Ghetto« diffamierte, bemerkt sie beinahe besorgt und sich anscheinend keiner Schuld bewusst, »wie lange es dauern kann, eine Siedlung wieder attraktiv werden zu lassen, wenn sie erst einmal als Ghetto stigmatisiert ist« (FAZ 30.08.2019).

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Wir bedanken uns an dieser Stelle bei Bernd Belina für den anregenden Austausch über das Thema, dem wir unter anderem den Begriff der Akteurskonstellation entnommen haben.

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Zur Kritik der ›Sozialen Durchmischung‹ siehe Endnote 2.

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Notizen aus dem Beobachtungsprotokoll des 2. Sicherheitsgespräch des Präventionsrats Ginnheim, welches am 17. Juni 2019 in Frankfurt stattfand.

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Die neue Altstadt: Erlebnis, Erinnerung und Wirtschaft. Ein Rundgang Lidia Monza

Einführung Immer mehr Städte haben in den letzten Jahren eine historische Rekonstruktion geplant oder durchgeführt. Die Medien bezeichnen diesen Trend als »Zeitströmung des Erinnerungskultes« (FAZ 01.06.2007; Die Welt 18.09.2008). Dies ist nicht nur ein einfaches Phänomen, sondern das Ergebnis eines langfristigen politischen und sozialen Prozesses, im Zuge dessen die Städte nach Markenzeichen suchen, um einen einzigartigen Charakter zu gewinnen und so ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken zu können. Seit Ende der 1970er Jahre hat die Stadt Frankfurt an ihrer Attraktivität auf nationaler und internationaler Ebene gearbeitet. Jüngster Ausdruck dieser kontinuierlichen Arbeit ist die Altstadtrekonstruktion. In dem folgenden Beitrag möchte ich hinter die Kulissen des Dom-­RömerProjektes schauen. Das Ziel ist einerseits, die ästhetische Rekonstruktion als Ergebnis politischer und historischer Entscheidungen herauszuarbeiten. Anderseits möchte ich die Altstadtrekonstruktion in eine breitere politische Strategie der Stadt Frankfurt einbetten und die sozio-politischen Folgen der Rekonstruktion darstellen. Stilistisch nimmt die Darstellung die Form eines kritischen Rundgangs durch die neue Altstadt an. Vorab werden jedoch zunächst die Phasen der Rekonstruktion seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vorgestellt. Es wird dargelegt werden, wie soziale Kontrolle durch Architektur, die konsumorientierte Stadt sowie Erinnerungsprozesse etabliert und implementiert werden.

Am Römerberg Von den Trümmern zur ›Höckerzone‹ Am Ende des Zweiten Weltkriegs war Frankfurt zu 90 % zerstört, insbesondere die Innenstadt glich einem Trümmerhaufen. Von vornherein eskalierte die Debatte um den Wiederaufbau der Innenstadt, die vor dem Krieg die größte erhaltene mittelalterliche Stadt Deutschlands war. Exemplarisch wurden nach Kriegsende zwei für die Stadt und für die Bundesrepublik bedeutende Gebäude wiederaufgebaut: die Paulskirche und das Goethehaus. Diese verkörpern zwei Pole in der Debatte um architektonische Erinnerung: Die Paulskirche steht für einen Wiederaufbau, der an die nationalsozialistischen Verbrechen erinnern sollte, indem Elemente der Zerstörung in die neue Architektur mitaufgenommen wurden. Sie symbolisierte damit die

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Abbildung 1: Römer 1947 (Quelle: Institut für Stadtgeschichte).

Abbildung 2: Dom-Römerberg-Bereich 1961 (Quelle: Institut für Stadtgeschichte).

demokratische Erneuerung Deutschlands. Mit der historischen Rekonstruktion des Goethehauses wurden die Spuren des Krieges verwischt und ein Zustand wiederhergestellt, der vor dem Nationalsozialismus lag (ausführlich zu dieser Debatte Durth/Gutschow 1988: 479 ff.). Erst später wurden weitere Gebäude wie das Rathaus, der Kaiserdom und die Nikolaikirche wiederaufgebaut. Die Fläche zwischen Dom, Römer, Braubachstraße und Saalgasse blieb jedoch lange unberücksichtigt. Bis in die 1950er Jahre blieben die Trümmer der Bombenangriffe auf dem Römerberg liegen (s. Abb. 1), später wurde die Fläche als Parkplatz genutzt (s. Abb. 2; Müller-Raemisch 1996: 341).

Die neue Altstadt: Erlebnis, Erinnerung und Wirtschaft

Da die Wohnungs- und Infrastrukturnot der Stadt nach wie vor groß war, begann die Debatte um die zukünftige Gestaltung des Altstadtareals in der Stadtverordnetenversammlung erst in den 1960er Jahren mit der Gründung des Sonderausschusses ›Bebauung Dom-Römer-Bereich‹. Auf Beschluss der Stadtverordnetenversammlung stimmte der Magistrat der Vorlage der ›Bebauung Dom-Römer-Bereich‹ zu. Die Zustimmung löste jedoch heftige Diskussionen in der Stadtverordnetenversammlung aus. Besonders umstritten war die Planung des Technischen Rathauses. FDP und CDU stimmten geschlossen allen Bebauungsplänen ausschließlich des Technischen Rathauses zu. Trotzdem erreichte die SPD-Fraktion im Jahr 1970 die Mehrheit für die gesamte Bauvorlage und konnte somit das Bauprojekt für den Dom-Römer-Bereich beschließen. 1972 wurde dicht an der Braubachstraße das Technische Rathaus errichtet (Balser 1995: 367). Umstritten war das Gebäude wegen seiner imposanten Waschbetonarchitektur im Stil des Brutalismus. Zeitgleich entstanden eine Tiefgarage sowie die U-Bahnstation ›Römer‹ und zwischen dem Technischen Rathaus und der Saalgasse wurde mit der sogenannten ›Höckerzone‹ ein Plateau geschaffen (s. Abb. 3). Die ›Höckerzone‹ konnte nicht lange Zeit so bleiben, da an dieser Stelle das geplante Ausstellungshaus (Frankfurter Verein) entstehen sollte. Gegen moderne Hochhäuser und imposante Waschbetongebäude gab es eine große Protestwelle.

Schon Mitte der 1970er Jahre gab es seitens des Oberbürgermeisters Arndt (SPD) die Überlegung, eine historische Rekonstruktion gegenüber vom Römer und der Alten Oper vorzunehmen. Trotz der überwiegend positiven Resonanz auf das Projekt herrschten unterschiedliche Meinungen in der Stadtverordnetenversammlung. Die FDP wollte einen großen freien Platz zwischen Dom und Römer; die CDU möglichst viel Wohnbebauung und die SPD war geteilter Meinung. Daher konnte sich die Stadtverordnetenversammlung nicht eindeutig für den Wiederaufbau der zwei Projekte entscheiden. Dann verlor die SPD die Kommunalwahl im Jahr 1977. Dieses Ereignis bedeutete eine Wende der Frankfurter Kommunalpolitik, deren Hauptakteur nun die CDU-Regierung unter Oberbürgermeister Walter Wallmann war (Balser 1995: 369 f.).

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Abbildung 3: Die sogenannte ›Höckerzone‹ am Römerberg (Quelle: Presseund Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main).

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Die Römerberg-Ostzeile Die Ära Wallmann und die Stadtmarketingstrategie

Abbildung 4: Rekonstruierte Fachwerkhäuser an der Ostzeile 1983 (Quelle: Hasse 2007: 42).

Während der 1970er Jahre hatte sich das Image Frankfurts verschlechtert, die Stadt wurde als ›Krankfurt‹ oder ›Bankfurt‹ bezeichnet. Die Hochhäuser formten das Image einer Stadt, die danach strebte, ein nationaler und internationaler Finanzstandort zu sein. Unter der Führung Wallmanns (CDU) erlebte die Stadt Frankfurt eine radikale Veränderung in der Stadtpolitik. Eine ›neue Urbanität‹ sollte das Erscheinungsbild Frankfurts wandeln, damit die Stadt ihren negativen Ruf loswerden konnte. Die Wallmannsche Politik strebte eine Veränderung des Stadtimages an, ohne sich vom alten Erscheinungsbild komplett zu verabschieden. Aus diesem Grund kann die damalige Frankfurter Politik des ›Bewahrens und Erneuerns‹ auf zwei Ebenen definiert werden: »Auf der ökonomischen Ebene setzt er [Wallmann] auf die internationalen Kapitalfraktionen der sich restrukturierenden Weltmarktökonomie, indem er die ›weltstädtischen‹ Elemente des städtischen Raumes in der Perspektive einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft ausbaut (Hochhäuser, Messe, Flughafen [...]); auf der kulturellen Ebene nimmt er die Kritik der modernen Großstadt auf, indem er den zentralen Raum mit traditionellen Kulturinstitutionen in der Perspektive einer postmodernen Kulturgesellschaft reurbanisiert (Museumsufer, Alte Oper, Römerberg)« (Prigge 1988: 227). Die Vermarktung der Stadt und ihrer Kultur waren, zusammen mit der postindustriellen Organisation, die Kennzeichen der stadtpolitischen Transformationskonzepte, die Frankfurt zum Exportmodell für »metropolitane Urbanität« (ebd.) machten.

Einer der Pläne der Wallmannschen Politik war es, den Römerberg nach fast dreißig Jahren fertig zu gestalten. Geplant war der Wiederaufbau der Ostseite des Römerberges. Acht Fachwerkhäuser nach historischem Vorbild wurden zwischen 1980 und 1984 wiederhergestellt (s. Abb. 4; Stadtplanungsamt 2006: 47).

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Das Ergebnis wurde von vielen als ›Disneyland‹ bezeichnet, als ein Ort, der nur für Tourist*innen gestaltet worden war und der respektlos die Geschichte der Stadt ›zitierte‹ (Noller/Ronneberger 1995). Im Jahr 1986 wurde die Kunsthalle Schirn im postmodernen Stil errichtet. Mit der Rekonstruktion endete – zumindest vorläufig – eine lange Zeit der Diskussionen über die Funktion der historischen Stadtmitte. Der wiederaufgebaute Römerberg sollte ein kultureller Attraktionspunkt für Einwohner*innen und Tourist*innen sein, der die Stadt revitalisieren und ihr ein Zentrum wiedergeben sollte, mit dem sie sich identifizieren konnte (Prigge 1988: 228). Mit der Rekonstruktion der Ostzeile am Römerberg begann eine neue Phase für die Stadt. Um diese Phase einzuleiten, wurde eine Image- und Werbekampagne mit dem Motto »Die Stadt, die ihre Menschen mag« entwickelt, die sich sowohl auf die Altstadt als auch auf das neuaufgebaute Museumsufer und die Erneuerung des Mainufers bezog (Scholz 1989: 133).

Vorgeschichte: Daten und Fakten über das Dom-RömerAreal » In den 1980er Jahren wurde das Technische Rathaus für 148 Millionen DM an die Deutsche Immobilien Leasing, eine Tochtergesellschaft der Deutschen Bank, verkauft. Mit dem Auslaufen des Mietvertrages 2007 wurde das Gebäude von der Stadt für 72 Millionen € zurückgekauft. Im selben Jahr entschied sich die Stadtregierung für einen Abriss, der ab 2010 erfolgte. » Nach einem durchgeführten städtebaulichen Wettbewerb entschied sich die Stadtverwaltung im Jahr 2004 für einen Entwurf im Stil moderner Architektur. Das löste massive Proteste von der Jungen Union und den Freien Wählern aus, die eine historische Stadtmitte anstrebten. » 2005 reichte Wolfgang Hübner für die Freien Wähler BFF (Bürgerbündnis für Frankfurt) einen von Rechtsextremen formulierten Antrag für die Bebauung des Dom-Römer-Areals in historischem Stil ein. » Im selben Jahr organisierten die Freien Wähler eine öffentliche Veranstaltung mit dem Titel ›Altstadt 2.0. – Städte brauchen Schönheit und Seele‹, um ihr Konzept für eine historische Rekonstruktion zu präsentieren. Es bildete die Grundlage dessen, was später von der schwarz-grünen Koalition auf den parlamentarischen Weg gebracht wurde. Der Idee der Rechtsextremen zufolge soll die Altstadtrekonstruktion, so Stefan Trüby, die Frankfurter »Seele« heilen, sodass sich Volk und Heimat durch die Architektur wiedervereinigen können (FAZ 16.04.2018; Trüby 2018: 173). Trüby kritisiert, wie diese Initiative einer völkischen Rechten zum Wiederaufbau eines scheinbar bruchlosen Stadtviertels verholfen hat. » Nach einer Planungswerkstatt im Jahr 2006 fiel die Entscheidung auf einen ›schöpferischen Nachbau‹, eine Rekonstruktion nach historischem Vorbild. Es handelt sich um Stahlbetonbauten, die den heutigen architektonischen Voraussetzungen folgen: Insgesamt wurden 35 Häuser wiederaufgebaut, fünfzehn davon als ›schöpferische Nachbauten‹ und eine ›originaltreue‹ Rekonstruktion (vgl. 5. Etappe). » 2009 erfolgte die Gründung der Dom-Römer-GmbH, einer Tochtergesellschaft der Stadt, die für die Entwicklung, die Planung und die Gestaltung des Areals zuständig ist. Das Unternehmen ist auch für das Marketing und den Immobilienverkauf verantwortlich. » Die Dom-Römer-GmbH legte die Nutzung des Areals mit einer Gestaltungssatzung fest. Diese sah eine Mischnutzung durch Wohnen, Gewerbe

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und Kulturmöglichkeiten vor. Die Gewerbeflächen dürfen nicht von Franchising-Ketten gemietet werden. » 2009 wurde ein Gestaltungsbeirat gegründet, der für die Stadt beratend zur Verfügung stand. Aufgabe des Gestaltungsbeirats ist die Sicherstellung der Qualität des neuen Areals. Das Gremium sollte über Fachkompetenzen und Erfahrung im Hinblick auf die Gestaltung des historischen Stadtquartiers und die baugeschichtlichen Bedingungen verfügen. Der Gestaltungsbeirat hat fünf Mitglieder.

1. Etappe: Zu den drei Römern Das Technische Rathaus und die Erinnerungspolitik

Abbildung 5: Zu den drei Römern (Quelle: eigene Aufnahme, 2020).

Den Eingang zur neuen Altstadt markiert das Gebäude Zu den drei Römern (s. Abb. 5). Das Haus befindet sich an der Gabelung zwischen der Gasse Hinter dem Lämmchen und dem Krönungsweg und repräsentiert die Idee des Dom-Römer-Projektes sehr gut. Es handelt sich um ein neues Gebäude, das mit historischen und architektonischen Erinnerungen spielt. In dem Haus befinden sich historische Spolien, das heißt wiederverwendete, ›originale‹ und historische Bauteile, zum Beispiel Säulen oder Bögen, die aus anderen Bauwerken stammen. Beispiel dafür ist das oberste Fenster, in dem ein Säulenfragment verbaut wurde, das Dieter Bartetzko (1949 – 2015), Mitglied des Gestaltungsbeirates, in seinem Garten verwahrt hatte. Im Erdgeschoss wurden drei Renaissance-Bögen aus rotem Sandstein verbaut, welche aus einem anderen im Krieg zerstörten Gebäude stammen (Körner 2018: 187). Die Integration von Spolien ist ein wesentliches, erinnerungspolitisch relevantes Charakteristikum des Dom-Römer-Projektes. Die Rekon­ struktion der Altstadt ist ein politischer Akt. Die Nutzung von Spolien soll Besucher*innen den Eindruck eines ›originalen‹ Altstadtbilds vermitteln. Der Einbau der ›Originalspolien‹ soll die Herausbildung kollektiver Erinnerungen unterstützen und verkörpert selektiv städtische Geschichte, die jedoch nur fragmentarisch die vergangene Lebensweise der Frankfurter Altstadt vor dem Zweiten Weltkrieg wiedergibt. Die Lebensbedingungen waren damals elend und die hygienischen Zustände sehr schlecht. Aus diesem Grund wurden Teile der Altstadt schon Ende des 19. Jahrhunderts abgerissen. Ersetzt wurde die Altstadt durch eine Stadtgestaltung, die jener der Haussmannschen Planungen ähnelt. Die Brauchbachstraße wurde zur großen Verkehrsachse. Die Rekonstruktion lässt zwar die mittelalterliche Stadt erahnen, ist aber eine romantisierende Erinnerung daran. Dass diese Art der Erinnerungskultur gewählt wurde, war eine politische Entscheidung der Stadt Frankfurt.

2. Etappe: Vor der Pergola Das Dom-Römerprojekt: Soziale Kontrolle durch Architektur Teil des Dom-Römer-Projektes ist die Wiederbelebung des alten Krönungswegs, der vom Römerberg zum Kaiserdom führte. Es handelt sich hier um die ›Hauptstraße‹ der Frankfurter Altstadt und sie soll die Erinnerung an die Kaiserzeit anstoßen. Auf dem Krönungsweg befinden sich zwei ›originalgetreu‹ rekonstruierte Häuser. Die anderen Häuser sind Neubauten, welche gemäß der detaillierten Gestaltungssatzung mit dem Ziel errichtet wurden, ein ästhetisch stimmiges Altstadtbild zu schaffen. Darüber hinaus wird in der Satzung die Flächennutzung festgelegt. Die Wohnungen fallen in das Luxussegment des Wohnungsmarkts und wurden teilweise durch Steuergelder subventioniert. Die Immobilien wurden komplett an Privatleute verkauft,

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nachdem die Dom-Römer-GmbH eine finanzielle Prüfung der Liquidität der Bewerber*innen durchgeführt hatte. Der Zuschuss für die hochwertigen Immobilien lag bei etwa 9000 €/m², sodass die Käufer*innen ›nur‹ noch 5000 bis 7000 €/m² zu zahlen hatten (Merkur 27.08.2018). Die Nachfrage für die Wohnungen war hoch, weshalb die Dom-Römer-GmbH die letzten freien Wohnungen per Losverfahren vergeben hat. Die historisierende Architektur und Ästhetik fördern nicht nur die Bildung einer kollektiven Erinnerungskultur, sie zwingen auch Formen sozialer Kontrolle auf. Ein Beispiel dafür ist die Pergola auf dem Krönungsweg (s. Abb. 6). Ihre räumliche Funktion ist die Verbindung der unterschiedlichen Höhenniveaus zwischen der Kunsthalle Schirn und dem Krönungsweg. Um den Höhenunterschied zu begleichen, wollte der Gestaltungsbeirat eine offene Treppe bauen, doch die Dom-Römer-GmbH schlug die Pergola vor und konnte sich damit schließlich durchsetzen. Der Grund dafür ist, dass Treppen Personen anziehen könnten, die – etwa durch unerwünschtes Sitzen – das einheitliche idyllische Bild stören würden. Durch den Aufbau der Pergola konnte die Dom-Römer-GmbH dies vermeiden. Die Architektur wird hier als Mittel für subtile soziale Kontrolle eingesetzt. Einen ähnlichen Zweck erfüllen die geringe Zahl an Mülleimern und die wenigen öffentlich zugänglichen Sitzmöglichkeiten.

3. Etappe: Altstadtmitte – Hühnermarkt und das Rote Haus Die tourismus- und konsumorientierte Rekonstruktion Geht man den Krönungsweg weiter entlang, erreicht man die Altstadtmitte, den sogenannten Hühnermarkt. Kurz davor befindet sich auf der rechten Seite das Rote Haus. Dieses Gebäude ist ›schöpferisch‹ nachgebaut. Der Name Rotes Haus bezieht sich auf die Funktion der Straße: Sie markierte den Eingang zum Metzgerviertel (Röger 2018: 197). Der Name möchte auf das rotfarbige Fleisch der Läden hinweisen und erinnert gleichzeitig daran, dass die Lebensqualität einer mittelalterlichen Stadt niedrig war. Die Altstadtrekonstruktion stieß diese Erinnerung zwar an, ist aber ein modernes städtebauliches Projekt, das Tourist*innen und Interessierte mit einem ruhigen Stadtbild anzuziehen versucht. Am Hühnermarkt findet der Stoltze-Brunnen seinen Platz, benannt nach einem Frankfurter Mundartdichter, der in der Altstadt lebte. Der Brunnen

Abbildung 6: Pergola (Quelle: eigene Aufnahme, 2020).

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Abbildung 7: Hühnermarkt (Quelle: eigene Aufnahme, 2020).

wurde an seiner ursprünglichen Stelle rekonstruiert. An ihn grenzen drei Gebäude, die ›schöpferisch‹ nachgebaut sind. Diese drei Häuser waren ursprünglich nicht von der Dom-Römer-GmbH für eine historische Rekonstruktion geplant, aber die drei Eigentümer*innen beschlossen, die ›originaltreue‹ Rekonstruktion auf eigene Kosten zu finanzieren (s. Abb. 7). Die anderen Gebäude um den Platz herum sind neue Konstruktionen, welche die Gestaltungsvorgaben der Dom-Römer-GmbH interpretiert und individuell umgesetzt haben, wie das Haus zum Paradies, das durch den Kubismus von Josef Chochol und den Neoklassizismus des Palazzo dei diamanti in Ferrara inspiriert wurden (Fankhänel 2018: 207). Die kommerzielle Nutzung ist das Hauptmerkmal des Platzes. Eine konsumfreie Nutzung des öffentlichen Raums ist hier kaum möglich. Das Flanieren ist mit Einkaufen oder kulturellen Aktivitäten gegen Bezahlung (Museen besuchen oder an Stadtführungen teilnehmen) verbunden. Cafés, Bars oder Juweliergeschäfte lassen sich hier finden. Es ist ein Platz ohne Bänke. Die von den Stadtverordneten angekündigte Schaffung einer europäischen Stadt lässt sich hier nicht erkennen (Der Begriff europäische Stadt ist hierbei unpräzise verwendet worden; was aber damit gemeint war, war eine Stadt mit mediterranem Flair).

4. Etappe: Hinter dem Lämmchen – Haus Esslinger Die Suche der Frankfurter Identität Am Ende des Hühnermarktplatzes öffnet sich mit dem Haus Esslinger der Eingang zur Gasse Hinter dem Lämmchen. Durch die dortigen Symbole der Stadt ist der Ort Ausdruck der Suche nach und Vermittlung von Frankfurter Identität. Das Haus Esslinger zählt zu den 15 Gebäuden, die ›schöpferisch‹ nachgebaut wurden (s. Abb. 8). Es wurde erstmals 1320 als Besitz von Albertus de Esselingen vermerkt. Seine Bedeutung für die Stadtwuchs, nachdem der Kaufmann Georg Adolf Melber das Gebäude 1766 in ein gotisches Fachwerkhaus umbaute. Georg A. Melber war Goethes Onkel, weshalb das Gebäude als ›Goethestätte‹ bekannt ist. Das Haus wurde 1950 komplett abgerissen. Die Rekonstruktion des Hauses Esslinger im gotischen

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Stil ist somit Abbild eines umgebauten und nicht ›original‹ mittelalterlichen Gebäudes (Unterholzner 2018: 201). Für den Diskurs über die Rekonstruktion der Altstadt sind beim Haus Esslinger zwei Punkte zentral: die Frankfurter Symbole ›Goethe‹ und ›Struwwelpeter‹. Der Struwwelpeter ist die Titelfigur des vom Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann geschaffenen, gleichnamigen Bilderbuchs. Im Haus Esslinger hat das Struwwelpeter Museum seinen Sitz. Das Gebäude ist von großer Bedeutung bei der Produktion eines Diskurses über die Wiederherstellung einer städtischen Identität. Damit kann die Altstadtrekonstruktion von der Stadtregierung legitimiert werden. Im Laufe der Jahrzehnte behaupteten Mitglieder der Stadtregierung immer wieder, dass Frankfurt seit dem Zweiten Weltkrieg seine Identität verloren habe. Assoziiert wird dieser Verlust mitunter mit dem Bau von Hochhäusern und moderner Architektur sowie dem Mangel eines historischen Zentrums, in dem die Geschichte der Stadt sich widerspiegeln könne. Die Frage nach der Suche der Identität bleibt umstritten: Wer soll sich mit der Stadt identifizieren? Wie erfolgt eine Identifikation mit einem Raum beziehungsweise einem Stadtteil? Warum ist es für eine Stadt überhaupt wichtig, dass sich ihre Bewohner*innen mit ihr identifizieren?

5. Etappe: Die Goldene Waage Die Kosten des Projektes, das Wohnen und die Mieten Am Ende des Krönungsweges liegt das Highlight des Dom-RömerProjektes: die Goldene Waage (s. Abb. 9). Für deren Realisierung wurde ein auf historische Bauten spezialisiertes Unternehmen beauftragt. Allein die Rekonstruktion des Gebäudes Goldene Waage hat 9 Millionen € gekostet. Die hohen Kosten des Hauses lassen sich mit der detaillierten, ›originalgetreuen‹ Rekonstruktion begründen. Die ›originalgetreue‹ Rekonstruktion war hier im Gegensatz zu allen anderen Gebäuden möglich, weil die Goldene Waage schon früher eine touristische Sehenswürdigkeit und deswegen die Dokumentation über das Haus ausreichend war, um diese durchzuführen. Das gesamte Altstadtrekonstruktionsprojekt kostete um die 214 Millionen €. Die Finanzierung der rekonstruierten Häuser wurde von der Stadt Frankfurt übernommen und teilweise durch deren Verkauf refinanziert. Aktuell werden die an private Investor*innen verkauften Wohnungen oft weitervermietet. Der Durschnittpreis liegt hier zwischen 21 und 25 €/m², während er im ganzen Stadtgebiet laut dem IHK Wohnungsmarktbericht 2018/2019 für Wohnungen mit mittlerer bis guter Ausstattungsqualität zwischen 7,50 €/m² und 18 €/m² liegt (IHK Frankfurt am Main 2019). Somit wurden die unteren und mittleren Schichten durch die Preisgestaltung von der neuen Altstadt ferngehalten und ein Luxusquartier geschaffen. Seitens der Dom-Römer-GmbH wurde oft argumentiert, dass die Altstadt ein Stadtteil gemischter Bevölkerungsgruppen sein sollte. Offenbar sollte dem Rekonstruktionsprojekt so Legitimität verliehen werden. Gleichzeitig fügen sich die Wohnungen in der Altstadt in die übergeordnete Immobilienmarktstrategie der Stadt Frankfurt ein, die eher an Luxuswohnen ausgerichtet ist. Diese Strategie zielt darauf ab, internationale Investoren und zahlungskräftiges Klientel in die Stadt zu locken, um Frankfurt auf dem globalen Markt wettbewerbsfähig zu platzieren.

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Abbildung 8: Das Haus Esslinger (Quelle: eigene Aufnahme, 2020).

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Abbildung 9: Die Goldene Waage (Quelle: eigene Aufnahme, 2020).

6. Etappe: Der Archäologische Garten Musealisierungsprozess versus öffentlicher Raum Neben der Goldenen Waage befindet sich das umstrittene Stadthaus am Dom. Es ist eine mächtige Konstruktion, die den im Jahr 1972/73 gefundenen Archäologischen Garten überdeckt. Der Archäologische Garten war bis zur Rekonstruktion der Altstadt ein frei zugänglicher, öffentlicher Raum. Von Jugendlichen wurde er oft für Parcours sowie als Treffpunkt genutzt. Auch wenn dem Platz nicht immer die gleiche Popularität zukam und die Ruinen der römischen Therme nicht ausreichend geschützt wurden, wurde der Platz dennoch von den Bürger*innen angeeignet. Mit der Altstadtrekonstruktion entschied sich die Dom-Römer-GmbH dafür, eine Abdeckung zum Schutz der Ruinen zu bauen. So entstand das Stadthaus am Dom. Viele Befürworter*innen der Altstadtrekonstruktion waren gegen dieses Gebäude, da es die Blickachse zwischen Römer und Dom versperrt. Umstritten war auch die Nutzung des Stadthauses: Bis kurz vor der Eröffnung der Altstadt (2018) wusste die Stadt nicht, welche Funktion das Gebäude haben sollte. Mittlerweile ist es ein Bürgerhaus mit extrem teuren Tagesmietsätzen. Durch die Überdachung des Archäologischen Gartens ist ein öffentlicher Raum verschwunden. Der Archäologische Garten ist nur tagsüber zugänglich. In der Nacht und an Feiertagen werden die Gitter runtergezogen.

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Darüber hinaus ist der öffentliche Raum zu einem Museum geworden. Ähnlich wie bei der Pergola werden hier unerwünschte Personen und Verhaltensweisen verdrängt. Der Archäologische Garten war ein Aufenthaltsraum ohne Konsumzwang. Heute ist er ein kostenloses Museum geworden. Der Musealisierungsprozess der Stadt Frankfurt wird mit der neuen Altstadt fortgeschrieben und abgerundet.

7. Etappe: Spin-off – die Saalgasse Eine Alternative zur Altstadtrekonstruktion Zum Ende des Altstadtrundganges möchte ich eine Alternative zur neuen Altstadt aufzeigen, die dennoch mit der Rekonstruktion in Verbindung steht. Es handelt sich um die Saalgasse. Die kleine Gasse hinter der Kunsthalle Schirn wurde in den 1980er Jahren im Zuge der Rekonstruktion der Fachwerkhäuser auf dem Römerberg aufgebaut. Die Besonderheit der Saalgasse besteht darin, dass die neun Gebäude als Beispiel für postmoderne Architektur gelten, in denen sich Tradition und Popkultur treffen. Neben Spitzdächern und klassischen Kapitellen sind goldene Drachen, Star-Wars-Briefkästen und umgekippte Kapitelle zu sehen. Die Gasse ist ein Beispiel dafür, wie Architektur spielerisch gestaltet und interessant gemacht werden kann. Eine Alternative zur neuen Altstadt.

Kurze Reflexion über die Altstadtrekonstruktion Die Altstadtrekonstruktion hat primär einen wirtschaftlichen Aspekt. Nach dem Willen der Entscheidungsträger*innen muss Frankfurt weiterhin auf der globalen Ebene wettbewerbsfähig bleiben. Die Stadt ist international bekannt als Bankensitz, Messestadt, Flughafenstadt und als Veranstaltungsort für große Sport- und Kulturevents. Manche beklagten jedoch das Fehlen eines sehenswerten und erfahrbaren historischen Stadtzentrums, in dem Tourist*innen und Kurzbesucher*innen ihre Zeit beim Flanieren und Konsumieren verbringen können. Durch die Altstadtrekonstruktion versicherte Frankfurt sich der Teilnahme an der globalen neoliberalen Stadtpolitik und somit seiner Ausrichtung auf Luxusklientel und internationale Kapitalströme. Unter wirtschaftlichen und kulturellen Gesichtspunkten bietet die Altstadtrekonstruktion eine »Erlebniswelt«, die Kunst und Kommerz, Historie und Moderne verbindet (Noller 1994: 208). Diese Erlebniswelt stellt ein Wahrnehmungsangebot für Einwohner*innen und Besucher*innen dar, das eine historische Identität der Stadt Frankfurt schaffen soll. Es ist ein verdrehtes Bild einer realen Stadt. Um es mit den Worten von Umberto Eco zu sagen, es ist eine Hyperrealität der Raumorganisation, in der alles so fiktiv ist, dass es wiederrum real und vor allem käuflich ist (Eco 2003: 54 f.). Hier wird die Altstadtrekonstruktion, wie bereits von Hasse (2007: 41) beschrieben wurde, zu »einer romantisierenden Einfühlung ins Alte inmitten der wirklichen Realität einer Finanzmetropole«. Die Dom-Römer-GmbH hat eine urbane Landschaft kreiert, die sich auf eine vergangene Zeit beruft, in der vermeintlich mehr Sicherheit und mehr Zivilkultur bestand (Zukin 1995: 52 f.). Dies geschieht durch architektonische Kontrolle, die die Verhaltensweisen einschränkt, Heterogenität der Bevölkerung reduziert und gleichzeitig einen Raum kreiert, in dem das Erlebnis komplett und andauernd ist.

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Gentrifizierung im Ostend. Stadtpolitisch forcierte Aufwertung und Verdrängung Andrea Mösgen und Sebastian Schipper

Einleitung Spätestens seit dem Zuzug der Europäischen Zentralbank (EZB) im Jahr 2015 steht das Frankfurter Ostend – zusammen mit anderen Stadtteilen wie dem Gallus (—Betz et al. in diesem Band) und dem Bahnhofsviertel (—Künkel in diesem Band) – im Zentrum der Gentrifizierungsdiskussionen in Frankfurt. Im vorliegenden Beitrag werden Verlauf und Hintergründe des Gentrifizierungsprozesses sowie aktuelle Entwicklungen vorgestellt. Entstanden ist das heute innerstädtisch gelegene Ostend seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wobei die Prägung als Arbeiterviertel eng mit der Einweihung des Osthafens 1912, dem Bau der Großmarkthalle in den 1920er Jahren und dem Ausbau der Eisenbahn zusammenhängt (Bischoff 2007: 196 ff.). Insbesondere seit den 1950er Jahren fungierte das Ostend in Frankfurt als »Entlastungsraum für den unteren Wohnungsteilmarkt« (Ronneberger/Keil 1995: 329), wo Menschen mit niedrigem Einkommen bezahlbaren Wohnraum finden konnten. Einfacher Gebäude- und Wohnstandard, Lärm durch Gewerbe, Industrie und Verkehr sowie ein negatives Image führten zum Ausbleiben von Sanierungen und Wohnungsneubau sowie zu unterdurchschnittlichen Miet- und Bodenpreisentwicklungen bis Mitte der 2000er Jahre (Mösgen/Schipper 2017). Seither hat sich die Situation im Ostend grundlegend geändert, umfassende Sanierungen und gehobene bis luxuriöse Neubauten mit entsprechend hohen Kauf- und Mietpreisen prägen das Bild. Inwiefern dies Teil von Gentrifizierungsprozessen ist, wird im folgenden Abschnitt näher betrachtet. Als wesentliche Merkmale der Gentrifizierung gelten »a) die Investition von Kapital, b) die soziale Aufwertung durch Zuzüge, c) die Veränderung des Nachbarschaftscharakters sowie d) die Verdrängung« (Davidson/Lees 2005: 1187, Übersetzung Holm 2018: 154). Marcuse (1986) bezeichnet dabei die Verdrängung einkommensschwacher Schichten aus einem Wohnviertel als das Wesen von Gentrifizierungsprozessen und unterscheidet verschiedene Formen der Verdrängung. Hierzu zählt die direkte Verdrängung, bei der wiederum unterschieden wird in einerseits physische Verdrängung zum Beispiel durch Abriss oder Kernsanierung und andererseits ökonomische Verdrängung, bei der Haushalte aufgrund von Mietsteigerungen oder der Umwandlung in eine Eigentumswohnung gezwungen sind, ihre bisherige Wohnung aufzugeben. Exkludierende Verdrängung liegt dagegen vor, wenn Schließungsprozesse auf dem Mietwohnungsmarkt stattfinden, wenn

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also in einem traditionell relativ günstigen Viertel die Angebotsmieten so stark steigen, dass einkommensschwachen Haushalten der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum verwehrt wird. Unter Angebotsmiete wird dabei der Mietpreis bei der Neuvermietung verstanden, also der Preis, mit dem Menschen konfrontiert sind, wenn sie eine Wohnung suchen. Im Unterschied dazu bezeichnet die Bestandsmiete die Miethöhe bestehender Mietverträge. Bestandsmieten sind in der Regel niedriger als Angebotsmieten, da letztere die jüngere Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt abbilden. Eine Folge steigender Bestandsmieten ist die Verdrängung aus dem Lebensstandard, wenn Haushalte also versuchen, trotz Mieterhöhungen ihre Wohnung zu halten, etwa weil aufgrund stadtweit steigender Mieten ein Umzug in eine bezahlbare Wohnung nicht möglich ist. Dann sind Haushalte gezwungen, in anderen Lebensbereichen zu sparen, um die gestiegene Miete finanzieren zu können. Im Folgenden wird anhand statistischer Daten zunächst der Gentrifizierungsprozess genauer beleuchtet und die Entwicklungen im Ostend in Bezug zu gesamtstädtischen Trends eingeordnet. Anschließend wird skizziert, warum sich die Boden- und Mietpreisdynamik so grundlegend geändert hat, dass daraus insbesondere in jüngerer Zeit massive Verdrängungsprozesse resultieren.

Gentrifizierungsprozesse im Ostend im Spiegel der Statistik Gentrifizierung und insbesondere Verdrängung lassen sich nicht direkt messen. Mit Hilfe verschiedener statistischer Indikatoren können dennoch die Veränderungsprozesse in einem Viertel sichtbar gemacht werden, vor allem, wenn man die Entwicklungen mit anderen Stadtvierteln oder der Gesamtstadt vergleicht. Da Verdrängungsprozesse vor allem einkommensschwächere Haushalte betreffen, wird die Veränderung der Bevölkerungsstruktur mit Hilfe von Daten zu Armut (Sozialleistungsbezug1) und Wohlstand (Bruttoarbeitsentgelte sozialversicherungspflichtig beschäftigter Personen2) aus der amtlichen Statistik analysiert. Für die Veränderungen auf dem Wohnungsmarkt stehen Daten des Instituts für Wohnen und Umwelt (IWU) in Darmstadt zur Höhe und Entwicklung der Angebotsmieten zur Verfügung. Exkludierende Verdrängung

Prozesse der exkludierenden Verdrängung bezeichnen den zunehmenden Ausschluss von einkommensschwächeren Haushalten vom Wohnungsmarkt angesichts steigender Angebotsmieten. Im Folgenden wird mit Hilfe von Daten zur Miethöhe3 2017 und Mietentwicklung 2008 bis 2017 die Situation im Ostend im Vergleich zu anderen Stadtteilen und zur Gesamtstadt analysiert. Karte 1 zeigt in Rottönen das Mietniveau, dessen höchste Werte in den inneren Stadtteilen eine markante intensivrote Fläche bilden. Die Angebotsmieten im Ostend zählen mit über 15 €/m² zu den höchsten in Frankfurt. Lediglich die Mietangebote in Innenstadt und Westend verzeichnen noch höhere Kaltmieten. Der städtische Durchschnitt liegt mit 13,67 €/m² deutlich niedriger. Zum Stadtrand hin sinken die Mietpreise, wobei sich ein Keil mit hohen Werten von der Innenstadt bis in den Norden zum Riedberg zieht. Auch bei den Mietsteigerungen, die in der Karte durch Pfeile symbolisiert werden, zählt das Ostend mit um 51 % gestiegenen Preisen seit 2008 zur Spitzengruppe. Noch höhere Steigerungsraten weisen lediglich zwei Stadtteile auf: Kalbach-Riedberg (+64 %) mit dem großen Neubaugebiet des

Gentrifizierung im Ostend. Stadtpolitisch forcierte Aufwertung und Verdrängung

Riedbergs im Frankfurter Norden und das innerstädtische Gallus (+62 %), das ebenfalls von Gentrifizierungsprozessen betroffen ist (—Betz et al. in diesem Band; Schipper/Latocha 2018). Diese Mietsteigerungen weisen klar auf den Prozess der zunehmenden exkludierenden Verdrängung im Ostend und auch im Gallus hin. Angesichts des mittlerweile hohen Mietniveaus ist in diesen Stadtteilen für Wohnungssuchende mit niedrigen bis mittleren Einkommen von einer Schließung des Wohnungsmarkts auszugehen, auch wenn im Gallus das Niveau der Angebotsmieten mit 13,81 €/m² noch nicht ganz so hoch ist wie in der übrigen Frankfurter Innenstadt (s. Karte 1). Auffallend ist, dass in den anderen innerstädtischen Stadtteilen bei einem durchweg hohen Mietniveau die Mietsteigerungen leicht unter dem städtischen Durchschnitt von 35 % liegen. Dagegen steigen die Mieten in zahlreichen äußeren Stadtteilen stark an. Das bedeutet, dass es auch am Stadtrand für einkommensschwache Haushalte immer schwieriger wird, eine bezahlbare Wohnung zu finden (—Mullis in diesem Band), zumal die mittleren Angebotsmieten nahezu stadtweit über 10 €/m² liegen (einzige Ausnahme: Harheim mit 9,80 €/m²). Folglich sind Haushalte mit geringen Einkommen in der gesamten Stadt mit exkludierenden Verdrängungsprozessen konfrontiert und müssen daher tendenziell ins Umland ausweichen (—Stein in diesem Band). Zieht man den Mietspiegel 2020 als Indikator für die Bestandsmieten heran, so wird das südliche Ostend mit Ausnahme des direkten Mainufers nach wie vor als mittlere Wohnlage eingestuft (Stadt Frankfurt 2020) – also als ein Gebiet, in dem aktuell noch eher preisgünstige Wohnungen vorhanden

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Karte 1: Mietpreise in den Frankfurter Stadtteilen 2017 und Änderung der Mietpreise 2008 bis 2017 (Quelle: Eigene Darstellung nach Berechnungen des IWU, auf Datenbasis IDN Immodaten 2019).

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sind. Die seit Jahren stark steigenden Preise einerseits und die deutliche Abnahme einkommensschwächerer Bevölkerungsgruppen andererseits (s. nächster Abschnitt) weisen jedoch darauf hin, dass das preisgünstige Wohnungsmarktsegment stark rückläufig ist, sich also die Schere zwischen Angebots- und Bestandsmieten immer weiter schließt und die Bevölkerung immer weniger von den vormals niedrigen Bestandsmieten profitiert.4 Direkte Verdrängung

Der Blick in die Statistik liefert Hinweise über das Ausmaß der direkten Verdrängung im Ostend. Da von der Verdrängung vor allem einkommensschwache Haushalte sowie zunehmend auch Haushalte mit mittleren Einkommen betroffen sind, werden im Folgenden der Sozialleistungsbezug als Armutsindikator und die Bruttoarbeitsentgelte als Wohlstandsindikator hinsichtlich ihrer aktuellen Höhe und der Entwicklung seit 2009 näher betrachtet. So lässt sich darstellen, wie sich die Sozialstruktur im Ostend verändert hat. Tabelle 1 zeigt den Anteil von Sozialleistungsbezieher*innen an der Bevölkerung im Jahr 2018 und die Entwicklung dieses Anteils 2009 bis 2018. Im Ostend sank in diesem Zeitraum der Anteil der Sozialleistungsbezieher*innen (-23,0 %) sehr stark. Dieser Rückgang ist nicht nur deutlich stärker als in der gesamten Stadt Frankfurt (-8,1 %), sondern sticht auch im Vergleich zu den anderen innerstädtischen Stadtteilen (-10,1 %) heraus. Hinzu kommt, dass nicht nur der relative Anteil der Sozialleistungsbezieher*innen stark abgenommen hat, sondern auch ihre absolute Anzahl (-16,7 %) – und dies trotz einer insgesamt steigenden Zahl an Einwohner*innen im Stadtteil. Aufgrund dieser klar überdurchschnittlichen Entwicklung muss von Prozessen der direkten Verdrängung ärmerer Haushalte aus dem Ostend ausgegangen werden. Sozialleistungsbezug Anteil an der Entwicklung Bevölkerung 2018 2009-2018 Ostend 9,3 % -23,0 % Innere Stadt* 11,1 % -10,1 % Äußere Stadt* 13,6 % -0,8 % Gesamtstadt 12,2 % -8,1 % *Abgrenzung s. Karte 1

Tabelle 1: Sozialleistungsbezug und Bruttoarbeitsentgelte im Ostend im Vergleich (Quelle: eigene Berechnungen nach Stadt Frankfurt am Main, Bürgeramt, Statistik und Wahlen; IWU 2018).

Bru�oarbeitsentgelte Entwicklung 2009-2018 4.342 € 27,1 % 4.565 € 28,5 % 3.614 € 16,7 % 3.970 € 21,3 %

Median 2018

Diese Tendenz der Verdrängung von Armut wird verstärkt durch einen Zuzug wohlhabenderer Personen mit höheren Erwerbseinkommen. So haben die Bruttoarbeitsentgelte der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Ostendbewohner*innen zwischen 2009 und 2018 überdurchschnittlich zugenommen: Der Median erhöhte sich um 27,1 %, während er in ganz Frankfurt um 21,3 % stieg (s. Tab. 1). Im Vergleich der inneren Stadtteile weisen nur das Gallus mit einer extremen Steigerung um 56 % und die Altstadt (+38,1 %) eine stärkere Einkommenszunahme auf. In der Folge lag das Medianeinkommen 2018 im Ostend mit 4.342 € deutlich über dem Frankfurter Durchschnitt von 3.970 €. Dies ist eine bemerkenswerte Steigerung, auch wenn die Einkommen noch nicht die Werte von Westend und Nordend erreichen und weiterhin unter dem Durchschnitt der inneren Stadtteile liegen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Sozialstruktur im Stadtteil grundlegend ändert, und zwar nicht nur aufgrund des Zuzugs zahlungskräftiger Haushalte im Rahmen des Bevölkerungswachstums, sondern auch durch Verdrängung bisheriger Bewohner*innen. Der noch im Jahr 2017 (mit Daten bis 2014) diagnostizierte Prozess einer schleichenden

Gentrifizierung im Ostend. Stadtpolitisch forcierte Aufwertung und Verdrängung

Veränderung der Sozialstruktur (Mösgen/Schipper 2017) hat sich in den letzten Jahren offensichtlich deutlich beschleunigt. Ergebnis dieser Veränderungen ist ein mittlerweile sehr geringer Anteil von 9,3 % Sozialleistungsbezieher*innen, sowohl im Vergleich zur Gesamtstadt (12,2 %) als auch zu den inneren Stadtteilen (11,1 %). Umzugsziel der verdrängten Haushalte sind möglicherweise äußere Frankfurter Stadtteile mit noch etwas niedrigeren Mieten, aber angesichts der stadtweit exkludierend hohen Angebotsmieten (s. Karte 1) sicherlich auch Gemeinden im Umland. Als Zwischenfazit sind fortgeschrittene Gentrifzierungsprozesse im Ostend festzustellen. Hohe und weiter stark steigende Angebotsmieten haben zu Schließungsprozessen auf dem Wohnungsmarkt und damit zu exkludierender Verdrängung geführt, sodass der Zuzug ins Ostend einkommensstarken Haushalten vorbehalten ist. Hinzu kommt die direkte Verdrängung ansässiger Bewohner*innen durch Mietsteigerungen im Bestand und die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen. Ergebnis sind die beschriebenen grundlegenden Änderungen der Sozialstruktur im Ostend.

Die Rolle der Stadtpolitik Seit Mitte der 1980er Jahre hat die Frankfurter Stadtpolitik die Aufwertung des Ostends aktiv forciert. Aus ihrer Sicht bestand »aufgrund immer deutlicher werdender gravierender Missstände im Ostend […] dringender Handlungsbedarf zur Umkehr dieser negativen Entwicklung« (Stadt Frankfurt 2015: 7), da das Quartier im Vergleich zu anderen zentral gelegenen Stadtteilen durch eine geringe Wohnqualität, fehlende private Investitionen und einen nicht vorhandenen wirtschaftlichen Druck zur Aufwertung gekennzeichnet sei. Legitimiert wurden die Aktivitäten mit dem Ziel, durch eine »ausgewogene soziale Mischung« die »einseitige und instabile« Bevölkerungsstruktur des Viertels stabilisieren und »für einen sozialen Ausgleich« sorgen zu wollen (ebd.: 38, 83 f.). Im Folgenden wird erläutert, wie die Stadtpolitik in einem 30 Jahre andauernden Prozess eine breite Palette von Planungsinstrumenten eingesetzt (Abschnitt 3.2) und damit die Gentrifizierung eines Viertels maßgeblich initiiert hat, das früher als ungentrifizierbar galt. Das Ostend als nicht-gentrifizierbarer Stadtteil?

Das Ostend galt lange Zeit aus vier Gründen als nicht gentrifizierbar: Erstens war der Stadtteil durch einen Mangel an öffentlichen Infrastrukturen und sozialen Dienstleistungen wie öffentlichen Verkehrsmitteln, Bildungseinrichtungen, Grünflächen, Parks und Spielplätzen gekennzeichnet. Zweitens waren im Umfeld der Großmarkthalle und des Osthafens eine Vielzahl an lärm- und umweltbelastenden Gewerbebetrieben ansässig. Insbesondere die Großmarkthalle verursachte ein hohes Verkehrsaufkommen, was das Gebiet für einkommensstärkere Bevölkerungsgruppen unattraktiv machte. Drittens war das Ostend trotz des bestehenden Preisunterschieds gegenüber dem Mietniveau und den Grundstückspreisen in anderen zentral gelegenen Stadtteilen (Mösgen/Schipper 2017) nie mit einer spekulativen Boden- und Immobilienpreisdynamik konfrontiert. Zurückzuführen ist die lange Zeit moderate Preisentwicklung unter anderem auf die fragmentierte Eigentümerstruktur, welche durch viele kleine Grundstückseigentümer*innen gekennzeichnet war, die zudem nur sehr bedingt über das notwendige Investitionskapital für Aufwertungsmaßnahmen verfügten. Diese Eigentümerstruktur bewirkte, dass das Ostend bis Mitte der 2000er Jahre keinem Gentrifizierungsdruck ausgesetzt war, wie er in den meisten anderen innerstädtischen Stadtteilen Frankfurts schon länger herrschte. Die relativ niedrigen Mieten und die

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oft geringe Wohnqualität waren somit eine Folge der Zurückhaltung der privaten Vermieter*innen, ihren Wohnungsbestand baulich aufzuwerten. Viertens war das Ostend durch ein nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenes negatives Image gekennzeichnet (Bischoff 2007). Das Bild von einem verwahrlosten Quartier »mit geringem Wohnwert und […] im Laufe der Jahrzehnte immer wieder Konzentrationen armer, gering integrierter und sozial schwacher Gruppen« (Freund 2002: 162) sowie Medienberichte, die das Ostend als »Verbrecherviertel der Stadt« (FR 30.11.1957) problematisierten, führten zu einer territorialen Stigmatisierung, die allerdings die ansässigen Bewohner*innen aus der Arbeiterklasse wirksam vor dem Zuzug höherer Einkommensgruppen und vor Mieterhöhungen schützte. Stadtpolitische Aufwertungsstrategien

Abbildung 1: Hochpreisiger Neubau am Mainufer in Nachbarschaft zur EZB, November 2017 (Quelle: eigene Aufnahme).

Seit Mitte der 1980er Jahre hat die Frankfurter Stadtpolitik aktiv versucht, diese vier Barrieren zu überwinden und die Aufwertung zu forcieren. So wurden Gebiete im südlichen Ostend teils im Rahmen der ›Einfachen Stadterneuerung‹ (1985 – 1994) gefördert und teils über eine ›Städtebauliche Sanierungsmaßnahme‹ (1987 – 2015) grundlegend neu strukturiert. Bemerkenswert an den beiden Programmen ist, dass die Aufwertungsmaßnahmen bis Ende der 1990er Jahre noch von Instrumenten flankiert waren, die Verdrängungsprozesse verhindern sollten (Mösgen/Schipper 2017). Bei den späteren Sanierungsschritten ab 2000 ist dies nicht mehr der Fall. In einem ersten Schritt stellte die Stadt ab Ende der 1980er Jahre Fördermittel zur Renovierung privater Wohngebäude bereit. Zunächst war die Vergabe öffentlicher Fördermittel mit einer auf 12 Jahre befristeten Mietpreisbindung, dem Verzicht auf die Umlage der Modernisierungskosten auf die Miete und einem Umwandlungsverbot in Eigentumswohnungen verbunden. Nach dem Jahr 2000 dagegen dominierte eine neoliberale Ausrichtung von Stadtentwicklung, die Maßnahmen gegen Verdrängung entfielen. Parallel zu den Sanierungen der Wohngebäude begannen umfangreiche Investitionen in die öffentliche Infrastruktur wie Kultur- und Bildungseinrichtungen,

Gentrifizierung im Ostend. Stadtpolitisch forcierte Aufwertung und Verdrängung

öffentliche Plätze sowie Grünflächen und Freizeitanlagen. Zusätzlich zu den städtebaulichen Programmen verbesserte sich die Nahverkehrserschließung des Ostends erheblich durch den S-Bahnanschluss (1990) und die U-Bahn-Erweiterung in Gestalt der Stationen Zoo (1986) und Ostbahnhof (1999). In den 1990er Jahren ermöglichte die Stadtregierung mit Hilfe öffentlicher Subventionen erfolgreich die Verlagerung lärm- und umweltbelastender Industrien in periphere Gebiete der Stadt. In diesem Zusammenhang wurden die Großmarkthalle stillgelegt und der Osthafen verkleinert. Das freigewordene Mainufer wurde zu öffentlichen Grünanlagen umgestaltet, die angrenzenden Flächen für hochpreisige neue Wohnbebauung genutzt. Gleichzeitig trieb das Stadtplanungsamt im Sanierungsgebiet eine komplette Restrukturierung des bisher stark fragmentierten Grundbesitzes voran. Die Stadt kaufte für 43 Millionen € kleinparzellierte Flächen, riss Gebäude ab und entsorgte Altlasten, um die neugeordneten Grundstücke an die Meistbietenden zu verkaufen. Die infrastrukturellen Aufwertungsmaßnahmen sollten sich auf diese Weise selbst finanzieren. Nach Abschluss des Sanierungsverfahrens verblieb dennoch ein Defizit von 11,3 Millionen € bei der Stadt (Stadt Frankfurt 2015: 78). Bis Mitte der 2000er Jahre wurden auf diesen reprivatisierten Flächen im südlichen Teil des Ostends über 700 gehobene bis luxuriöse Wohnungen gebaut, davon zwei Drittel als Eigentumswohnungen. Dennoch blieben große Teile des Ostends bis Mitte der 2000er Jahre für Haushalte mit niedrigem Einkommen erschwinglich. Aufgrund der Trägheit des negativen Images des Viertels zögerten Haushalte der Mittelund Oberschicht, in dieses Gebiet zu ziehen. Im Jahr 2002 beschlossen die Stadtregierung und die Europäische Zentralbank jedoch, den Sitz der EZB ins Ostend auf das Gelände der ehemaligen Großmarkthalle zu verlegen. Seitdem hat sich das Image des Viertels radikal verändert. Bereits kurz nach der Entscheidung zum neuen EZB-Standort wurde das Quartier für die Immobilienwirtschaft deutlich attraktiver. So beschreibt die FAZ (04.01.2002): »Spätestens seitdem sich die Europäische Zentralbank (EZB) entschieden hat, ihren Sitz auf dem Gelände des Großmarktes im Osten der Stadt zu errichten, ist der Stadtteil ins Blickfeld der Immobilienbranche gerückt.« Elf Jahre später wird ein verändertes Image diagnostiziert: »Nun wächst hier die neue Europäische Zentralbank in den Himmel. Und plötzlich wird es schick.« (FAS 25.08.2013). Diese symbolische Aufwertung des Viertels ermöglichte der Immobilienwirtschaft rentablere Investitionen, da mehr einkommensstarke Haushalte bereit waren, ins Ostend zu ziehen und höhere Mieten und Wohnungspreise zu zahlen. Zusammenfassend kann diese jahrzehntelange Entwicklung als ein stadtpolitisch initiierter Gentrifizierungsprozess charakterisiert werden, da der Wohnungsneubau (s. Abb. 1 und 2) für niedrige und mittlere Einkommensgruppen unerschwinglich ist und zu Mietpreissteigerungen in den umliegenden Gebieten geführt hat. Zudem durchlaufen lokaler Einzelhandel, Gastronomie und Dienstleistungen einen tiefgreifenden Wandel. Die Konsumlandschaft richtet sich – etwa in Gestalt hochpreisiger Restaurants oder Kaffeebars – mittlerweile zunehmend an eine gehobene Klientel und verändert so den Charakter des Viertels. Durch die Sanierungs- und Aufwertungsmaßnahmen wurden umfangreiche private Investitionen mit entsprechend spekulativen Preisentwicklungen ausgelöst, die – wie im vorherigen Abschnitt dargestellt – nun seit einigen Jahren exkludierende und direkte Verdrängungsprozesse zur Folge haben.

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Abbildung 2: Hochpreisiger Neubau gegenüber der EZB, Juni 2015 (Quelle: eigene Aufnahme).

Neubau im Ostend – Schutz vor Verdrängung? Die Mitte der 1980er Jahre initiierten städtischen Sanierungsmaßnahmen im Ostend waren zu Beginn mit Instrumenten verknüpft, die Verdrängung verhindern sollten. Demgemäß erfolgte auch der Neubau bis in die 1990er Jahre noch vorwiegend im sozialen Wohnungsbau. Ziel war eine Aufwertung des Viertels ohne Verdrängung. Dies hat sich allerdings seit der Jahrtausendwende grundlegend geändert. Zum einen liefen zu diesem Zeitpunkt die zeitlich befristeten Mechanismen zum Schutz vor Verdrängung aus und wurden auch nicht verlängert. Zum anderen liegt der Wohnungsneubau seitdem ganz in der Hand privater gewinnorientierter Investoren und erfolgt primär in Form von hochpreisigen Miet- und Eigentumswohnungen. Ein aktueller Schwerpunkt des Neubaus mit insgesamt rund 1.000 Wohnungen liegt im Gebiet östlich des Ostbahnhofs auf ehemaligen Flächen des Güterbahnhofs sowie südlich davon bis hin zum Hafenpark am Rand des Osthafens. Obwohl hier neues Baurecht geschaffen wurde, hat die Stadt Frankfurt diese Möglichkeit nicht im Sinne ihrer 2014 verabschiedeten sozialen Bodenordnung genutzt (—Schipper/Heeg in diesem Band), um Investoren zum Bau von 30 % gefördertem Wohnraum zu zwingen. Vielmehr wurde von der Stadtplanung festgestellt, dass »die Investoren […] nicht über Gebühr belastet werden« (FAZ 06.11.2014) dürften; mit dem Ergebnis, dass dort keine einzige Sozialwohnung entstanden ist. Lediglich im Hafenpark werden zumindest 100 Mittelschichtwohnungen gebaut, die zeitlich befristet für 15 % unter dem Marktpreis angeboten werden (FAZ 12.04.2018). Damit liegen sie jedoch immer noch weit über dem Niveau von Sozialwohnungen und sind für viele Haushalte unerschwinglich. Diese Entwicklung ist eine Folge der neoliberalen Agenda auf Bundesebene mit der Abschaffung der Wohngemeinnützigkeit 1990 und dem Rückzug aus dem sozialen Wohnungsbau seit den 1980er Jahren, welche sich seit gut zwei Jahrzehnten auch auf der lokalen Ebene fortsetzt. So hat sich die Zahl der Sozialwohnungen (1. Förderweg) in ganz Frankfurt seit Anfang der 1990er Jahre von knapp 70.000 Wohnungen auf rund 25.000 im Jahr 2018 reduziert (—Schipper/Heeg in diesem Band). Die im Jahr 2018 im Ostend verbliebene Zahl von noch 887 Sozialwohnungen geht ebenso weiter

Gentrifizierung im Ostend. Stadtpolitisch forcierte Aufwertung und Verdrängung

drastisch zurück. Allein in der Zoopassage sind zum 1. Januar 2019 über 200 Wohnungen aus der Bindung gefallen – mit der Folge einer direkten Mieterhöhung um 15 % (FR 15.03.2019). Ende 2020 haben weitere 257 Sozialwohnungen im Bereich Waldschmidtstraße/Jakob-Carl-Junior-Straße die Bindung verloren, auch hier hat der Vermieter bereits Mieterhöhungen um 15 % angekündigt (FR 28.09.2020). In beiden Fällen haben sich Mieter­ initiativen gegründet, die für eine Verlängerung der Sozialbindungen und gegen ihre drohende Verdrängung kämpfen. Verhandlungen der Stadt über einen Ankauf von kommunalen Belegrechten in den Gebäudekomplexen sind jedoch gescheitert, da sich die jeweiligen Eigentümer nicht in ihren Verwertungsmöglichkeiten beschränken lassen wollen. Auch wenn in jüngster Zeit wieder geförderter Wohnraum im Ostend gebaut wird, beispielsweise 81 Wohnungen am Schwedler-Carré (FR 20.02.2020) und 121 Wohnungen auf dem ehemaligen Mercedes-Areal, so können diese die parallel wegfallenden Sozialwohnungen nicht annähernd ersetzen, zumal sie nur rund zur Hälfte im 1. Förderweg (5,50-6,50 €/m²) und zur anderen Hälfte im Mittelschichtprogramm (8,50-10,50 €/m²) vermietet werden. Auf Druck von Mieterinitiativen hat die Stadtregierung angesichts des wachsenden Verdrängungsdrucks im Februar 2015 beschlossen, im Ostend eine Milieuschutzsatzung einzuführen. Bis zur tatsächlichen Umsetzung dieses Beschlusses im Dezember 2018 vergingen allerdings fast vier Jahre und zudem wurde die Satzung im Laufe des Prozesses räumlich stark auf einen sehr begrenzten Bereich im westlichen Ostend verengt. Die schwachen Kriterien bezüglich der Nichtzulässigkeit von baulichen Aufwertungsmaßnahmen und die seltene Anwendung des kommunalen Vorkaufsrechts führen zudem zur Kritik, dass der Milieuschutz in Frankfurt Verdrängungsprozesse nur bedingt verhindern kann (—Schipper/Heeg in diesem Band). Der fortgeschrittene Gentrifizierungsprozess im Ostend lässt sich so definitiv nicht aufhalten. Notwendige wäre eine deutliche Ausweitung des Sozialwohnungsbestandes, eine Veränderung der Eigentümerstruktur zugunsten nichtprofitorientierter Akteure sowie eine bundes- und landesrechtliche Verschärfung des Mietrechts, die Spielräume für Mieterhöhungen radikal begrenzt sowie die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen generell unterbindet.

Endnoten 1

Zu den bedarfsorientierten Sozialleistungen zählen die Grundsicherung für Arbeitsuchende (ALG II) sowie im Alter und bei Erwerbsminderung, die Hilfe zum Lebensunterhalt und Asylbewerberleistungen.

2

Mit diesen Daten werden nicht alle Arten von (Erwerbs-)Einkommen der Bevölkerung erfasst. Ein umfassenderer Einkommensindikator steht jedoch nicht zur Verfügung (—Stein in diesem Band).

3

Es wird die Medianmiete verwendet, das heißt jeweils die Hälfte der Mieten im Stadtteil liegen unter beziehungsweise über diesem Mittelwert. Es handelt sich um Kaltmieten in €/m².

4

Zur Entwicklung einer immobilienökonomischen Ertragslücke als Ausgangspunkt für die Gentrifizierung im Ostend siehe auch Mösgen/Schipper 2017.

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Literaturverzeichnis Bischoff, Werner (2007): Nicht-visuelle Dimensionen des Städtischen. Olfaktorische Wahrnehmung in Frankfurt am Main, dargestellt an zwei Einzelstudien zum Frankfurter Westend und Ostend, Oldenburg: BIS-Verlag. FAS, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (25.08.2013): Tagelöhner trifft Notenbanker, S. 25. FAZ, Frankfurter Allgemeine Zeitung (12.04.2018): Baubeginn auf Honsell-Dreieck, S. 30. FAZ, Frankfurter Allgemeine Zeitung (06.11.2014): Ostend. Hier sollten nicht nur Reiche wohnen, S. 38. FAZ, Frankfurter Allgemeine Zeitung (04.01.2002): Frankfurts Ostend zieht Investoren an, S. 49. FR, Frankfurter Rundschau (28.09.2020): Kampf um Wohnraum. Mieterinnen und Mieter protestieren im Ostend, S. F5. FR, Frankfurter Rundschau (20.02.2020): Wohnen am Ostbahnhof. Die ABG lässt an der Gref-Völsing-Straße 81 geförderte Wohnungen und eine Kita bauen, S. F9. FR, Frankfurter Rundschau (15.03.2019): Mietpreisbindung ausgelaufen. Bewohner der Zoo-Passage befürchten höhere Mieten wegen Modernisierung, S. F10. FR, Frankfurter Rundschau (30.11.1957): Ein Stadtteil im Schatten. Trümmer und Menschen ohne Bleibe rund um den Ostbahnhof, S. 7. Freund, Bodo (2002): Hessen. Perthes Länderprofile, Gotha: Klett-Perthes. Holm, Andrej (2018): »Gentrification«, in: Bernd Belina/Matthias Naumann/Anke Strüver (Hg.), Handbuch kritische Stadtgeographie, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 152–158. Marcuse, Peter (1986): »Abandonment, Gentrification, and Displacement. The Linkages in New York City«, in: Neil Smith/Peter Williams (Hg.), Gentrification of the City, Boston: Unwin Hyman, S. 153–177. Mösgen, Andrea/Schipper, Sebastian (2017): »Gentrifizierungsprozesse im Frankfurter Ostend. Stadtpolitische Aufwertungsstrategien und Zuzug der Europäischen Zentralbank«, in: Raumforschung und Raumordnung 75 (2), S. 125–141. Ronneberger, Klaus/Keil, Roger (1995): »Ausser Atem – Frankfurt nach der Postmoderne«, in: Hansruedi Hitz/Ute Lehrer/Roger Keil (Hg.), Capitales Fatales. Urbanisierung und Politik in den Finanzmetropolen Frankfurt und Zürich, Zürich: Rotpunktverlag, S. 286–353. Schipper, Sebastian/Latocha, Tabea (2018): »Wie lässt sich Verdrängung verhindern? Die Rent-Gap-Theorie der Gentrifizierung und ihre Gültigkeitsbedingungen am Beispiel des Frankfurter Gallus«, in: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 6 (1), S. 51–76. Stadt Frankfurt (2020): Mietspiegel 2020, Frankfurt am Main. Stadt Frankfurt (2015): Abschlussbericht zur Sanierungsmaßnahme Frankfurt am Main ›Ostendstraße‹. Baustein 3/15, Frankfurt am Main.

Gentrifizierung im Gallus. Ein polit-ökonomischer Spaziergang durch das ehemalige Arbeiter*innenviertel Tjark Albrecht, Johanna Betz und Tabea Latocha

In diesem Beitrag laden wir zu einem kritischen Stadtspaziergang durch das Gallus ein. Anhand von sechs Stationen möchten wir aufzeigen, wie sich das klassische Arbeiter*innenviertel durch strukturelle Transformationen, vor allem aber auch durch die unternehmerische Stadtpolitik Frankfurts, die Privatisierung von öffentlichen Liegenschaften und die profitorientierte Vermarktung von Wohnraum sozial, politisch und baulich-räumlich verändert hat. Insbesondere seit 2010 steht das Gallus unter starkem Gentrifizierungsdruck, was in den letzten Jahren zu einer Veränderung der Sozialstruktur und städtebaulichen Identität geführt hat. Der Wandel im Stadtteil lässt die sozialen und ökonomischen Widersprüche deutlich hervortreten, welche den Übergang Frankfurts von einer Industriestadt zur Global City sowie von fordistischer zu finanzmarktorientierter Wohnungswirtschaft kennzeichnen. Im Kontrast zu seiner über 100-jährigen Geschichte als Arbeiter*innenviertel sind die Mieten im Gallus in den letzten zehn Jahren so stark gestiegen, dass die Angebotsmieten mittlerweile das durchschnittliche Preisniveau Frankfurts übertreffen (—Mösgen/Schipper in diesem Band) und Haushalte mit niedrigen und mittleren Einkommen es sich nicht mehr leisten können, hier zu wohnen. Während bis Ende der 1980er Jahre rund 60 % des Wohnungsbestandes im Gallus gemeinnützig vermietet wurde und der Stadtteil somit vor Gentrifizierung geschützt war, gibt es heute nur noch einen verschwindend geringen Anteil, der durch die Eigentümerstruktur vor profitabler Vermarktung sicher ist (Schipper/Latocha 2018). Pro­ fitorientierte Akteure haben auf stillgelegten Gleisflächen das hochpreisige Europaviertel entwickelt (s. Abb. 1) und an Stelle ehemaliger Industriebrachen innerhalb des älteren Stadtteils ragen nun exklusive Wohntürme in den Himmel. Mit Concierge-Service und Tiefgarage ausgestattet werden diese an eine internationale, zahlungskräftige Klientel verkauft oder für 15-30 €/m², mitunter sogar über 40 €/m², vermietet. Auch der ehemals ortsansässige Industriebetrieb Adlerwerke verwandelte sich in ›Adler Real Estate‹, einen der bundesweit größten börsennotierten Immobilienkonzerne. Dies führt in der Nachbarschaft zu einem starken Anstieg der Boden-, Immobilien- und Mietpreise. Im Zuge dieser von einer ökonomischen Rationalität angetriebenen Entwicklung ist das Stadtviertel zunehmend von einer monotonen,

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vermarktungsorientierten Wohnbebauung vereinnahmt worden, bei deren Projektentwicklungen die Partizipation lokaler Bevölkerung weder vorgesehen noch erwünscht war oder möglich gemacht worden ist (Schipper/Wiegand 2015: 18 f.). Nicht zuletzt aufgrund dieser drastischen Entwicklungen ist das Gallus in den letzten Jahren auch ein Ort des Widerstands gegen all jene neoliberalen Politiken geworden, die Mietanstieg und Verdrängung Tür und Tor geöffnet haben.

Station 1. Die Hellerhofsiedlung – Wohnen im Arbeiter*innenviertel »Diese Siedlung liegt […] inmitten eines vorwiegend von Arbeiterschaft bewohnten Stadtviertels und ist mit der Innenstadt durch gute Verkehrsverbindungen verbunden.« Ernst May 1930a: 127

Abbildung 1: Wohnungsneubau im Gallusviertel um den Europagarten (Quelle: eigene Aufnahme).

Unser Rundgang beginnt im alten Gallus, dem traditionellem Arbeiter*innenviertel, das sich entlang mehrerer Verkehrskorridore entwickelt hat. Der Start der Entwicklung einzelner Siedlungsstrukturen hin zu einem Stadtviertel lässt sich genau datieren. Im Jahr 1888 wurden im Frankfurter Westen zwei Bahnhöfe fertiggestellt: Der Centralbahnhof als großer Knotenpunkt für den Personenverkehr, der bis heute als Frankfurter Hauptbahnhof Bestand hat, und der Hauptgüterbahnhof, der auf der Fläche des heutigen Europaviertels gelegen war und in den 1990er Jahren aufgegeben wurde. Entlang der Gleisbetten siedelten sich auf zuvor landwirtschaftlich genutzten Flächen Industrie­, Gewerbe- und Handwerksbetriebe an; die Wohnbebauung für die in den Betrieben beschäftigten Arbeiter*innen folgte. Die Grenzen des heutigen Stadtteils ergeben sich aus seiner historischen Entwicklung: Südlich wird das Gallus durch das Gleisbett des Hauptbahnhofs zum Gutleutviertel begrenzt, östlich bildet der Hauptbahnhof die Grenze zum Bahnhofsviertel, nördlich lag der Bereich des Güterbahnhofs, der heute durch das Europaviertel und die Messe bebaut ist und die Grenze zu Bockenheim bildet. Im Westen verläuft die Bundesautobahn A5, hinter der sich der Stadtteil Griesheim anschließt. In diesem Gebiet wohnten im Jahr 2019 insgesamt 41.851 Menschen, zudem war im genannten Jahr nirgendwo in der Stadt das Bevölkerungswachstum so stark wie im Gallus (Stadt Frankfurt am Main 2020). Heute ist nur noch wenig von der Industriegeschichte des Stadtteils zu spüren. Die großen Werke von damals, zum Beispiel Adlerwerke

Gentrifizierung im Gallus. Ein polit-ökonomischer Spaziergang

(Fahrzeug- und Maschinenbau), Mayfarth & Co. (Eisengießerei) und Teves (Maschinen- und Armaturenfabrik) sind nicht mehr in Betrieb und durch Bürogebäude sowie Wohnungsbau ersetzt worden. In der Hellerhofsiedlung hingegen sehen wir noch ein Relikt dieser Zeit. Neben der Friedrich-Ebert-Siedlung ist sie eine von zwei erhaltenen Siedlungen aus dem ›Neuen Frankfurt‹ im Gallus. Auf Initiative des damaligen Frankfurter Baustadtrates Ernst May wurde diese zwischen 1929 und 1936 im Rahmen des gesamtstädtischen Wohnungsbauprogrammes errichtet. Das ›Neue Frankfurt‹ als international bedeutendes Wohnungsbauprojekt beschreibt eine kurze Epoche der Frankfurter Stadtpolitik. Überregional wurden damals erstmals massive staatliche Förderprogramme im Wohnungsbau beschlossen und kommunale Wohnungsbaugesellschaften gegründet. Als wichtigste wohnungspolitische Innovation der Weimarer Republik gilt die Herausbildung eines ›gemeinwohlorientierten Sektors‹. In diesem Zuge wurden neben den kommunalen Wohnungsunternehmen auch Genossenschaften gestärkt, die bereits während der Industrialisierung als Selbsthilfeprojekte von Mieter*innen gegründet worden waren. Ausschlaggebend für Frankfurt war die Wahl von Ludwig Landmann zum Oberbürgermeister im Jahr 1924, der im darauffolgenden Jahr Ernst May als Baustadtrat einsetzte. Mit dem Ziel, die durch die Urbanisierungsprozesse des frühen 20. Jahrhunderts ausgelöste Wohnungsnot in der Stadt zu bekämpfen, wurde durch einen breit aufgestellten Planer*innen- und Architekt*innenstab ein Masterplan erstellt, auf dessen Grundlage Siedlungen im ganzen Stadtgebiet mit insgesamt rund 12.000 Wohnungen entstanden (Welzbacher 2016). Das von May formulierte Ziel war nicht ein Wohnungsbau für eine Mittel- oder Oberschicht, sondern eine »Wohnung für das Existenzminimum« (May 1930b). Die Hellerhofsiedlung ist eines der frühen Beispiele für den modernen Wohnungsbau. Nach Plänen des niederländischen Architekten Mart Stam entstanden etwa 1.200 Wohnungen in kleinteiliger Siedlungsstruktur, ausgestattet mit 2 ½ Zimmern, einer ›Frankfurter Küche‹, Bad und Balkon sowie einer Wohnfläche zwischen 43 und 48 m² (May 1930a: 126 ff.). Die Ausstattung entsprach ganz dem Duktus des Stadtbaurats: »Schafft uns Wohnungen, die, wenn auch klein, doch gesund und wohnlich sind und liefert sie vor allem zu tragbaren Mietsätzen« (May 1930b: 11). Doch das ›Neue Frankfurt‹ blieb hinter seinen Zielen zurück. Steigende Baukosten führten dazu, dass die niedrigen Mietsätze nicht eingehalten werden konnten und die meisten Wohnungen wurden eher für Facharbeiter*innenhaushalte gebaut anstatt als »Wohnung für das Existenzminimum« (Welzbacher 2016: 78 ff.). Die Weltwirtschaftskrise 1929 und die daraus resultierende Schuldenlast für den städtischen Haushalt machte dem großangelegten Projekt schließlich den Garaus. Das ›System Landmann‹ wurde öffentlich von konservativen und nationalsozialistischen Kräften angegriffen, wobei auch die jüdische Herkunft des Oberbürgermeisters und die sozialdemokratische Ausrichtung des ›Neuen Frankfurts‹ eine Rolle spielten. Dennoch zeigt sich in dieser kurzen Epoche eine andere Ausrichtung der Stadtpolitik, als wir sie seit den 1980er Jahren beobachten. Der ursprünglich nicht auf Kapitalverwertung ausgerichtete Wohnungsbau in der Hellerhofsiedlung ist heute im Besitz der städtischen Wohnungsbaugesellschaft ABG Frankfurt Holding. Der Bodenwert in der Siedlung liegt bei 1.300 €/m² und ist damit deutlich niedriger als in den umliegenden Gebieten (Europaviertel: 3.300 €/m²; Hessische Verwaltung für Bodenmanagement und Geoinformation 2020).

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Station 2. Quartierspavillon ›Quäkerwiese‹ auf der Frankenallee – ›Soziale Stadt‹ und Aufwertungspolitik »Das Frankfurter Gallus ist kein Vorzeigeviertel.« Santifaller 2009

Wir befinden uns jetzt am Quartiersplatz ›Quäkerwiese‹, an der Kreuzung Frankenallee/Schwalbacher Straße. An dem Platz, wo jetzt der ›hübsche‹ Quartierspavillon steht, der im Sommer Eis und Kaffee verkauft, war früher eine Trinkhalle, ein Frankfurter ›Wasserhäuschen‹. Die Umgestaltung des Quäkerplatzes und der Frankenallee waren zwei zentrale Projekte der gezielten städtebaulichen und sozialen Aufwertung des Gallus im Rahmen des Programms ›Soziale Stadt Gallus‹. Von 2001 bis 2014 wurde das Gallus in das sogenannte ›integrierte Erneuerungsverfahren‹ nach dem Bund-Länder-Programm ›Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt‹ (§ 171e BauGB) aufgenommen. Dieses Städtebauförderungsprogramm des Bundesministeriums für Bau, Heimat und Inneres wird in Stadtteilen implementiert, die aufgrund ihrer relativen sozio-ökonomischen Marginalisierung gegenüber umliegenden Gebieten als ›soziale Brennpunkte‹ ausgemacht werden. Seit 1999 haben knapp 1.000 Gebiete in über 500 Städten und Gemeinden in der BRD an diesem Programm teilgenommen. Beschränkt auf einen Zeitraum von 13 Jahren sind im Gallus durch dieses Programm vor allem städtebauliche Aufwertungsmaßnahmen finanziert worden. ›Echt Gallus‹ wurde zum Markennamen der Aufwertungspolitik. Von 2001 bis 2014 flossen in das Gallus so insgesamt 30 Millionen € aus Bundes-, Länder- und städtischen Mitteln, unter anderem in die Aufwertung öffentlicher Plätze und Spielanlagen, aber auch in zahlreiche soziale und kulturelle Projekte zur ›Stabilisierung‹ des Zusammenlebens, zur Verbesserung der Bildungs- und Berufschancen der Bewohner*innen sowie zur Imageverbesserung des Viertels. Hintergrund für die Aufnahme des Gallus in das Programm ›Soziale Stadt‹ Ende 2001 war, dass der Stadtteil durch seine industriell geprägte Entstehungsgeschichte besonders stark vom Strukturwandel betroffen war. Durch die Deindustrialisierung setzten hier tiefgreifende ökonomische und soziale Transformationsprozesse ein. In der Folge zogen die besserverdienenden, mehrheitlich deutschen (Fach-)Arbeiter*innen, Angestellten und Beamt*innen an den Stadtrand oder ins Umland, um den überwiegend kleinen und renovierungsbedürftigen Wohnungen und der starken Umwelt- und Lärmbelastung im Viertel zu entfliehen. Dadurch stieg die Zahl der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger*innen im Gallus deutlich an und das Viertel erhielt »ein negatives, häufig klassistisch und rassistisch konnotiertes Image« (Schipper/Wiegand 2015: 14). Ziel war es, durch das integrative Programm ›Soziale Stadt‹ nicht nur neue städtebauliche Entwicklungen anzustoßen, sondern auch den Ruf des Gallus zu verbessern (Stadtplanungsamt 2016). Seit 2015 wird die Arbeit durch das Stadtteilbüro im Auftrag des städtischen Programms ›Aktive Nachbarschaften‹ fortgeführt, das gemeinsame Identität stiften soll und die Bewohner*innen dazu einlädt, ehrenamtlich im Viertel tätig zu werden. Anstelle der kontinuierlichen Arbeit an einer flächendeckenden sozialen Absicherung und Verbesserung der Infrastruktur sind punktuelle aufwertungsorientierte Maßnahmen und die Anrufung der Selbstaktivierung der Bürger*innen getreten. Der Schwenk hin zu einer positiven Erzählung über die Entwicklung des Gallus dominiert inzwischen die öffentliche Wahrnehmung. Das gezeichnete Bild vom sozio-ökonomischen Niedergang ist größtenteils abgelöst worden durch jenes eines bunt durchmischten, hippen

Gentrifizierung im Gallus. Ein polit-ökonomischer Spaziergang

Stadtteils. Immobilienwirtschaftliche Akteure werben mit dieser zuvor negativ gedeuteten sozialen und ethnischen Vielfalt des Viertels als spezifisch urbaner Standortqualität – der ›bunte Mix‹ des Gallus. Trotz dieses Imagewandels sind einkommensschwache und marginalisierte Haushalte heute noch immer überrepräsentiert. Umso schwerer wiegt die Tatsache, dass die städtebauliche und soziale ›Aufwertung‹, die unter anderem durch die öffentlichen Gelder und investiven Maßnahmen der ›Sozialen Stadt Gallus‹ vorbereitet wurden, der folgenden Gentrifizierung im Viertel den Weg geebnet hat.

Station 3. Praedium und Grand Tower – Wohnungsneubau im Europaviertel »LIVING THE HIGH LIFE« Vermarktungsslogan des Grand Tower

Unser dritter Stopp ist das Wohnobjekt Praedium, ein 66 m hohes Wohnhochhaus mit 242 ›exklusiven Eigentumswohnungen‹ zu Preisen zwischen 3.500 und 9.000 €/m² (s. Abb. 2). Als Projektentwicklerin trat die Nassauische Heimstätte auf, ein öffentliches Wohnungsunternehmen, das zum größten Teil im Besitz des Landes Hessen ist. Inzwischen sind alle 242 Eigentumswohnungen verkauft, viele stehen jedoch leer (Fuldaer Zeitung 05.06.2020). Andere werden möbliert für 30 €/m² vermietet. Wir stehen hier am sogenannten ›Boulevard Mitte‹ des Europaviertels. Dieser neue Teil des Gallus ist auf den Flächen des ehemaligen Güterbahnhofs entstanden und ein Paradebeispiel für die investorenfreundliche Planungspolitik der Stadt Frankfurt. Durch das Zusammenspiel von immobilienwirtschaftlichen Verwertungsstrategien im Anschluss an die Finanzkrise von 2007/08 und der städtischen Rahmenplanung sind auf dem Areal insgesamt 6.000 überwiegend gehobene und luxuriöse Wohnungen realisiert worden. Durch den relativen Anstieg der Mietpreise ist das Niveau der Bodenpreise und der ortsüblichen Vergleichsmieten im Gallus derart stark gewachsen, dass sich Prozesse der »Neubau-Gentrifizierung« (Schipper/Wiegand 2015) beobachten lassen. Die Neuvermietungsmieten sind laut dem Portal Immobilienscout 24 GmbH (2020) innerhalb der letzten drei Jahre (3. Quartal 2017 bis 2. Quartal 2020) um 19,7 % gestiegen, womit die durchschnittliche Preisentwicklung Frankfurts übertroffen wird (17,9 %; —Mösgen/Schipper in diesem Band). Um die Entwicklungen des Gallus gemäß dem Selbstverständnis der Stadt Frankfurt als Global City voranzutreiben, wurden brachliegende Industrieflächen Anfang der 2000er Jahre in Wohngebiete umgewidmet und im Anschluss an die Finanzkrise durch internationale Investoren gewinnorientiert vermarktet (Schipper/Wiegand 2015). Dabei hatte die Stadt das übergeordnete Ziel, die Nachbarschaft ›sozial aufzuwerten‹. Um dies zu erreichen, wurden verschiedene planerische Instrumente eingesetzt, um sicherzustellen, dass im neuen Europaviertel hauptsächlich gehobener Wohnungsbau entsteht. Die Differenz der Preise zwischen dem alten und neuen Gallus ist erheblich: Zum Zeitpunkt der Entstehung 2013 waren die Mieten im Europaviertel um 40 % und die Eigentumspreise um 70 % höher als im alten Teil des Gallus. Eine eigens für diesen Artikel durchgeführte Auswertung aktueller Angebote aus verschiedenen Immobilienportalen aus den Monaten Juli bis Oktober 2020 hat ergeben, dass die Angebotsmieten im gesamten Gallus im Durchschnitt bei 20 €/m² liegen. Der Nettokaltmietpreisunterschied zwischen dem alten Baubestand im Gallus (im Schnitt 18 €/m²) und den Neubauprojekten – sowohl auf den

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ehemaligen Brachflächen des alten Teils als auch im Europaviertel (im Schnitt 23 €/m²) – liegt nun etwas unter 30 %. Aber nicht nur sozialpolitisch, sondern auch städtebaulich stellt die neue Entwicklung einen Bruch mit der urbanen Struktur des alten Gallus dar: Im Unterschied zu der dichten, kleinteiligen Bebauung und dem hohen Anteil gewerblicher Nutzungen im alten Teil des Stadtviertels ist das neue Gallus ein weitläufiges Wohnquartier; mit rund 145 Hektar Fläche ist es sogar eines der größten Stadtentwicklungsprojekte Europas. Aufgrund der homogenen Typologie des Europaviertels (s. Abb. 1) ist der Städtebau des neuen Gallus immer wieder in den Fokus öffentlicher Debatten gerückt. Das neue Viertel

Abbildung 2: Das Praedium – »Eigentumswohnungen als lukrativer Wertspeicher« (Fuldaer Zeitung 05.06.2020; Quelle: eigene Aufnahme).

wirkt trist, ausgestorben und ohne Identität. So titelt ein Autor der taz über die Wohnquartiere des Europaviertels: »Klumpen aus steindummem Beton, Rotz und Ramsch« (taz 18.05.2016). Laura Weißmüller konstatiert in der SZ: »Es wirkt, als hätte hier jemand Stadt spielen wollen, aber nur eine Klötzchenform zur Verfügung gehabt« (SZ 25.01.2016). Betrachtet man die konkreten Projekte, die im Europaviertel realisiert worden sind, handelt es sich hauptsächlich um Gebäudekomplexe in geschlossener Blockrandbebauung, die hochpreisige Miet- und Eigentumswohnungen sowie Büroflächen beherbergen (Schipper/Wiegand 2015: 17). Um einen sechs Hektar großen Park, den sogenannten Europagarten, sind verschiedene Wohnquartiere

Gentrifizierung im Gallus. Ein polit-ökonomischer Spaziergang

errichtet worden. Dominiert wird das Bild von Projekten wie der gehobenen Wohnanlage ›Central & Park‹ oder dem selbsternannten ›Edelquartier Parkend‹, die Mietpreise von 20 €/m² beziehungsweise Kaufpreise von 10.000 €/m² aufweisen und mit Angeboten wie ›Service Wohnen‹ oder Hundewaschplätzen werben. Sozial vermietet werden nur verschwindend geringe 3 % des Wohnungsneubaus in einem randgelegenen Projekt von Sahle Wohnen (Schipper/Latocha 2018). Lassen wir den Blick vom Praedium die Europa Allee hinunterschweifen, sticht ein weiteres Paradebeispiel für Luxusneubau ins Auge: der Grand Tower (s. Abb. 3). Dieses Objekt gilt als erstes und höchstes Wohnhochhaus Deutschlands, das global und vor allem im asiatischen, arabischen und nordamerikanischen Raum vermarktet wurde (SCMP 11.09.2019). Auf der Website heißt es: »Hinter der luftig gestalteten Fassade des 172 m hohen Wohnturms entstehen Premium-Wohnwelten, die keine Wünsche offen lassen […]. Spektakuläre Aussichten bietet auch die rund 200 m² große Sunset Terrace im 43. Obergeschoss, und der etwa 960 m² große Grand Garden in der 7. Etage dient als privater Garten für die Bewohner. Der erstklassige Concierge-Service in der 5-Sterne-Lobby macht das neue Wohngefühl im Grand Tower perfekt« (JLL Residential 2019).

Es stellt sich nur die Frage, für wen – wohl eher für das globale Kapital als für die Frankfurter Bevölkerung.

Station 4. Knorrstraße – Hohe Mieten für die Renditen »So nicht Vonovia! Hier gilt Milieuschutz! Wir fordern sofortigen Bau­ stopp.« Banner in der Knorrstraße

Neben den Neubauprojekten auf ehemaligen Brachflächen spielt sich die profitorientierte Umgestaltung des Stadtraums auch im Bestand ab. Beispiel hierfür ist die Vonovia Siedlung Knorrstraße und das FIZZ auf der Mainzer Landstraße (Station 5). Die Knorrstraße umfasst 110 ehemalige Eisenbahnerwohnungen und liegt zentral, in der Nähe der Galluswarte, direkt an der Grenze zum neuen, hochpreisigen Europaviertel. Während bereits 2018 die Nettokaltmiete in der Knorrstraße durchschnittlich bei 9,61 €/m² und damit weit über den Frank­ furter Bestandsmieten (7,63 €/m²) lag, führen neuere Modernisierungsarbeiten und damit verbundene Mietsteigerungen bei vielen Bewohner*innen der Knorrstraße – ebenso wie bei jenen der nahegelegenen Vonovia Siedlung Wallauer Straße – zu existenziellen Sorgen. Bei Vonovia handelt es sich um das größte DAX-gelistete Wohnungsunternehmen Deutschlands. Es verwaltet rund 480.000 Einheiten. Als finanzmarktorientierter Investor zeichnet sich Vonovia dadurch aus, Wohnungsbestände rücksichtslos gewinnmaximierend zu bewirtschaften und einer Finanzmarktlogik zu unterwerfen (bisheriger Rekordgewinn des Unternehmens: 1 Milliarde 2019; Vonovia 2019). Für die Mieter*innen in der Knorrstraße bedeutet dies konkret, dass das Unternehmen die Siedlung mit 40 Wohneinheiten zu Mieten von circa 13 bis 16 €/m² nachverdichtet hat. Zudem wurde im Bestand mit umfangreichen Modernisierungsmaßnahmen begonnen. So soll laut Aussage des Unternehmens »die ästhetische Lücke zum Europaviertel« (ebd.) geschlossen werden. Vor allem aber führen diese Maßnahmen zu einem deutlich höheren Mietniveau.

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Bevor Vonovia mit der Modernisierung der Wohnungen begonnen hat, wurden durchschnittliche Mieterhöhungen von 122 € pro Monat und Wohnung angekündigt. Wie eine von Betz et al. (2019) durchgeführte Befragung der Bewohner*innen zeigt, resultiert dies in großen Sorgen und Unmut. Diese ergeben sich nicht nur aufgrund des Lärms und Drecks der Bauarbeiten, kaum gesicherter Wegeführung innerhalb der Siedlung und intransparenter Kommunikation seitens des Unternehmens, sondern auch in Form von Angst vor Verdrängung und unfreiwilligem Wegzug aufgrund schlichtweg unbezahlbarer Mietsteigerungen. Ein Großteil der Bewohner*innen der Knorrstraße lebte dort schon, bevor die jüngste Mietpreisexplosion mit zeitlicher Verzögerung nach der Finanzkrise einsetzte. Hinsichtlich der Einkommensverhältnisse zeigt die Studie, dass bereits zum Zeitpunkt der Befragung (Ende 2018) viele Haushalte an ihre finanzielle Belastungsgrenze stießen. Nach der Modernisierung wird dieser Anteil nochmals deutlich steigen, da in diesem Fall 60 % der dort ansässigen Haushalte mehr als 30 % ihres Einkommens für die Kaltmiete aufwenden werden müssen. Das bedeutet, dass sich dann weit über die Hälfte der Bewohner*innen ihre Wohnung kaum mehr leisten kann, sodass sie entweder zum Auszug oder zu deutlichen Einschnitten in anderen Lebensbereichen (Lebensmittel, Kleidung, Freizeitgestaltung etc.) gezwungen sind. Aufgrund der vulnerablen Sozialstruktur sind viele Mieter*innen auf bezahlbaren Wohnraum angewiesen. Trotz eines hohen Anteils an

Abbildung 3: Living the high life? – Der Grand Tower, das erste global vermarktete Wohnhochhaus Deutschlands (Quelle: eigene Aufnahme).

Gentrifizierung im Gallus. Ein polit-ökonomischer Spaziergang

Vollzeitbeschäftigten haben 70 % der Befragten Anspruch auf eine klassische Sozialwohnung (stadtweit betrifft das 50 % aller Frankfurter Mieter*innenhaushalte) und damit auf eine Miete von maximal 6,50 €/m². Über 80 % der Bewohner*innen haben eine Migrationsgeschichte, sodass sie bei der Wohnungssuche potenziell mit rassistischer Diskriminierung konfrontiert sind. Schließlich wohnen in der Knorrstraße überdurchschnittlich viele kinderreiche Familien, für die es am Wohnungsmarkt oft eine besondere Herausforderung darstellt, eine angemessene und gleichzeitig bezahlbare Wohnung zu finden. Knapp die Hälfte der Befragten hat große Sorgen, zukünftig die Wohnung verlassen zu müssen. Der bereits bestehende Verdrängungsdruck hat sich mit den angekündigten Mieterhöhungen noch einmal deutlich verschärft. Insgesamt haben fast zwei Drittel oft oder manchmal Angst, aus ihrem angestammten Stadtteil verdrängt zu werden. Dementsprechend groß sind die Sorgen und der Unmut der Bewohner*innen, die mehrheitlich sehr gerne im Gallus und der Knorrstraße leben. Die heutige prekäre Wohnsituation eines Großteils der Bewohner*innen der Knorrstraße ist auf verschiedene bundes- und kommunalpolitische Entscheidungen zurückzuführen. Wie früher viele Wohngebäude im Gallus unterlagen auch die Wohnungen in der Knorrstraße jahrzehntelang einer doppelten Preisbindung, sodass dort auch einkommensschwache Bevölkerungsschichten Zugang zu bezahlbarem Wohnraum finden konnten. Zum einen sind die Wohnungen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus entstanden und waren somit dessen Preis- und Belegungsbindungen unterworfen. Zum anderen befanden sich die Gebäude im öffentlichen Eigentum der gemeinnützigen Eisenbahnerwohnungsbaugesellschaft. Somit bestand eine zusätzliche unternehmensbezogene Preisbindung, da die Eigentümerin gesetzlich zu einer rein kostendeckenden Mietpreisbildung verpflichtet war und keine Marktmieten verlangen durfte. Seit längerem sind allerdings die befristeten Sozialbindungen ausgelaufen. Zudem hat die CDU/FDP-Bundesregierung bereits 1988 die Wohngemeinnützigkeit abgeschafft. Folglich unterliegen die Wohnungen der Knorrstraße keinerlei Preisbindung mehr. Hinzu kommt, dass die rot-grüne Bundesregierung Anfang 2001 deutschlandweit circa 65.000 ehemalige Eisenbahnerwohnungen an Vonovia SE (damals Deutsche Annington) verkauft hat, 6.622 davon allein in Frankfurt. Durch die Deregulierung des Kredit- und Wohnungsmarktes in den 1990er und 2000er Jahren wurden sukzessive Hindernisse zur profitorientierten Verwertung des Gebäudebestands aus dem Weg geräumt.

Station 5. Das private Studierendenwohnheim The FIZZ Rechtlich nicht besonders geschützt, doch dafür möbliert, bewohnen zahlungskräftige Studierende, postgraduates, interns oder trainees in der Mainzer Landstraße 323 flächensparsam 18 m² Apartmentfläche für rund 723 € im Monat (s. Abb. 4). Sie mieten damit eine der ›günstigsten‹ der insgesamt 382 Wohneinheiten im Gebäude. Das Wohnheim öffnete 2015 seine Pforten – im Gebäude des ehemaligen städtischen Ordnungsamtes im Gallus. Entwickelt und betrieben werden alle FIZZ Studierendenwohnheime unter Federführung der International Campus AG (IC), die in der Blumenstraße 28 in München gemeldet ist. Deren Tätigkeitsfeld umfasst »Grundstücks­ akquisition, Immobilienentwicklung und -konstruktion, Vermarktung und Betrieb sowie die Bereiche Asset und Property Management« (International Campus AG 2020). Außer in Frankfurt am Main befinden sich IC Immobilien, welche sich durch »flexible Wohn- und Arbeitswelten« (ebd.) auszeichnen

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Abbildung 4: The FIZZ – Living cum laude (Quelle: eigene Aufnahme).

sollen, auch in Berlin, Wien, Amsterdam, Bremen und Darmstadt. Die IC AG hat ein »Ziel: Mehr als 20.000 Apartments in Zentraleuropa« (ebd.). Bei der Bereitstellung von möblierten Mini-Apartments und Gemeinschaftsflächen für die Studierenden, die von Study Helpern unterstützt werden, welche Rezeptionsdienste und Hilfsarbeiten erledigen, steht vor allem eins im Vordergrund: Profitmaximierung (Hahn 2016: 15). Doch warum lassen sich die Bewohner*innen darauf ein, 800 € im Monat für ein enorm flächenreduziertes Apartment auszugeben? Zunächst werden viele vermutlich großzügig von den Eltern unterstützt. Doch aus einer Befragung ging auch hervor, dass die Bewohner*innen der Mainzer Landstraße 323 – ebenso wie die anderer privat betriebener Studierendenwohnheime, welche zunehmend den Markt erobern – den übrigen Wohnungsmarkt bereits oftmals aufgegeben haben. Die IC AG scheut sich nicht, bei Bewerbung ihrer Immobilien auf die Ausweglosigkeit der Situation auf dem Wohnungsmarkt zu verweisen (Hahn 2016). Zum Vergleich: 2019 betrug die durchschnittliche Warmmiete in den WG-Zimmern des Studierendenwerks Frankfurt 241 €, in entsprechenden Einzelapartments, die häufig deutlich größer als 20 m² sind, 344 € (Hessischer Landtag 2020). Doch die Unterbringungsquote in den Wohnungen des Studierendenwerks lag im Wintersemester 2018/19 gerade einmal bei 4,38 % aller in Frankfurt Studierenden. Der bundesweite Schnitt der Unterbringungsquote beträgt 9,6 % (Deutsches Studentenwerk 2018: 23). Auf dem ›freien‹ Markt herrschen deutlich höhere Preise: Für eine universitätsnahe, hypothetische Musterwohnung von 30 m² Größe zahlen Studierende in Frankfurt 505 € Miete und damit nach München und Stuttgart den höchsten Preis bundesweit. In Frankfurt am Main beziffert eine Studie den Anstieg der Mietpreise für Studierendenwohnraum zwischen 2018 und 2019 auf 8 % (MLP/IW 2019: 21). Während die Einkommen der Studierenden stagnieren, sinkt mit den steigenden Mieten und Mietbelastungsquoten die Möglichkeit, überhaupt ein bezahlbares Zuhause zu finden. Das FIZZ – ebenso wie die Knorrstraße – erwächst geradezu paradigmatisch der Finanzialisierung der Wohnraumversorgung, also der Ausrichtung der Wohnraumversorgung an Finanzmarktlogiken. Globale Finanzmärkte werden in diesem Zuge zur Triebkraft in der Wohnraumversorgung.

Gentrifizierung im Gallus. Ein polit-ökonomischer Spaziergang

Mikroapartments gelten als neue, attraktive und in Zeiten der Mietpreisbremse gar ›geniale‹ Assetklasse, denn durch die möblierte Vermietung kann die Mietpreisbremse umgangen werden. Außerdem wird die Rendite über Staffelmietverträge in die Höhe getrieben, welche durch die zeitliche Befristung die Ausschöpfung maximaler Mieterhöhungen möglich machen.

Station 6. Die Adlerwerke und das dortige KZ – Verdrängt, Verbaut, Vergessen? »Verantwortung aber gebietet, das Leiden der Opfer zu begreifen.«1 Rafael Seligmann, Schriftsteller und Zeithistoriker

Nicht weit entfernt vom FIZZ und der Galluswarte thront der Schriftzug ›ADLERWERKE‹ über dem Gallus. In dem ehemaligen Industriegebäude sehen wir heute ein Relikt aus der Zeit des Arbeiter*innenviertels. Aktuell sind in dem Gebäude vor allem Büros der unterschiedlichen Tochterfirmen der Deutschen Bahn AG untergebracht, aber auch Kulturbetriebe wie das Gallustheater und der Club ›Horst‹, der allerdings aufgrund Corona-­ bedingter Einnahmenausfälle schließen musste. Wenig erinnert an die Produktion der Fahrräder und Automobile der Firma Adler in früheren Zeiten. Wenig erinnert daran, dass in der Zeit des Nationalsozialismus viele Menschen unter der Zwangsarbeit im ›KZ Adlerwerke‹ gelitten haben und ermordet worden sind. Eine kleine Gedenktafel an der Außenfassade verweist auf die NS-Verbrechen und das große Leid der Zwangsarbeiter*innen, die hier in der Zeit von August 1944 bis März 1945 arbeiten mussten. Über 1.600 Häftlinge verschiedener Nationalitäten wurden in diesem Zeitraum unter SS-Bewachung im Werk I der Adlerwerke AG gefangen gehalten. In der Endphase des ›Totalen Krieges‹ wurden sie in der Rüstungsproduktion und bei Aufräumarbeiten eingesetzt. 528 starben in Frankfurt am Main an Hunger und Kälte oder wurden hingerichtet und ermordet. 245 wurden als ›Arbeitsunfähige‹ selektiert. Sie starben im Konzentrationslager Dachau, im Sterbelager Vaihingen; Hunderte weitere bei der Räumung des Lagers und der anschließenden Überführung in die Konzentrationslager Bergen-Belsen und Buchenwald. Die wenigen überlebenden Häftlinge, unter ihnen der Anfang des Jahres 2020 verstorbene Andrzej Branecki, berichten von unmenschlichen Bedingungen, skrupellosen Wärtern, von unermesslichem Leid und willkürlichem Morden. »Ich möchte nicht erzählen, wie wir hier gelebt und gearbeitet haben, für mich, aber auch für die anderen war es eines der schlimmsten Arbeitslager. Jeden Tag starben dutzende Leute. Ich wusste nicht, dass mich noch schlimmere Erlebnisse erwarteten« (Branecki 1999).

In diesem Rundgang möchten wir auf dieses grausame Kapitel Frank­ furter Stadtgeschichte vor allem deswegen eingehen, weil es in der Stadt­ öffentlichkeit kaum sichtbar ist und viele Frankfurter*innen nichts von der Existenz des ehemaligen KZ in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft wissen. Bezeichnend ist, dass erst in den 1980er Jahren begonnen wurde, die Geschichte der Adlerwerke aufzuarbeiten. Eher zufällig stießen damals Schüler*innen im Rahmen eines Schulprojekts auf Akten, die auf die Existenz eines KZ hinwiesen. Daraufhin begannen Michael Knorn und Ernst Kaiser die Geschichte der Adlerwerke wissenschaftlich aufzuarbeiten (Knorn/Kaiser 1998). Wer sich heute über die Geschichte der Adlerwerke informieren

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will, kann dies auf der gut recherchierten Website (kz-adlerwerke.de) der ›Initiative gegen das Vergessen‹ und des Vereins ›Leben und Arbeiten im Gallus und in Griesheim‹, der aus einer Betriebsratsinitiative bei Triumph Adler hervorgegangen ist, tun. Es ist auch der Initiative von Ernst Kaiser zu verdanken, dass ein Platz vor den Adlerwerken seit 1998 ›Golub-­LebedenkoPlatz‹ heißt. Der 19-jährige Adam Golub und der 21-jährige Georgij Lebedenko waren zwei Zwangsarbeiter, die in den Adlerwerken inhaftiert waren. Ihnen war es am 14.03.1945 gelungen, aus dem Gebäudekomplex zu fliehen und sich im Viertel zu verstecken. Nach einer Suchaktion, an der auch Anwohner*innen aus dem Gallus beteiligt waren, wurden beide von der Gestapo am Ort des heute nach ihnen benannten Platzes erschossen. Der Arbeit der Initiativen zum Trotz spielt die Geschichte der Adlerwerke kaum eine Rolle in den Chroniken der Stadt. Symbolisch dafür werden die Adlerwerke nun von den neoliberal anmutenden Fassaden eines weiteren Neubauprojekts verdeckt. Das luxuriöse Bauprojekt ›Wings‹ wird Ende 2020 fertiggestellt sein und bietet ›smarte‹ Wohneinheiten ›mitten im trendigen Gallus-Viertel‹ zu Preisen ab 600.000 € an.

Fazit Durch die neoliberale Restrukturierung des Städtischen seit den 1980er Jahren hat sich in Frankfurt eine ›Wachstumsethik‹ manifestiert, die die profit­orientierte Vermarktlichung des Stadtraums durch eine investorenfreundliche Planungspolitik gezielt gefördert hat (Heeg 2013). Das Selbstverständnis als sogenannte Global City (—Ronneberger in diesem Band) bedeutet, dass die Stadt versucht, sich im globalen Wettbewerb um die Ansiedlung von Unternehmen und den Zuzug einkommensstarker Bevölkerungsgruppen zu behaupten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die unternehmerische Stadtpolitik die Identität des ehemals sozialdemokratisch geprägten Arbeiter*innenviertels nachhaltig gewandelt hat. Die mit dem neoliberalen Selbstverständnis Frankfurts einhergehende Stadtplanung hat die Privatisierung ehemals öffentlicher Flächen (des Güterbahnhofs sowie weiterer Industriebrachen) und Wohnungsbestände an profitorientierte Investoren zum Zweck der ›Aufwertung‹ des Gallus gefördert. Durch die Gentrifizierung hat sich der Stadtteil in dreierlei Weise verändert: Erstens ist ein baulich-räumlicher Wandel zu verzeichnen. Der städtebaulich homogene Wohnungsneubau im Europaviertel weist keinen Bezug zur kleinteilig-urbanen Struktur und dem sozialpolitischen Erbe des ehemaligen Arbeiter*innenviertels auf. Zweitens hat sich die soziale Struktur gewandelt: Steigende Bodenpreise und Angebotsmieten haben zu Verdrängungsprozessen geführt und die Gentrifizierung des Gallus hat die Bevölkerungsstruktur verändert (Schipper/Wiegand 2015; Betz/Kubitza/Schipper 2019). Drittens ist durch die Privatisierung des Stadtraums demokratisch-politische Handlungsmacht verloren gegangen, denn das Viertel fungiert nicht als sicherer Hafen für seine Bewohner*innen, sondern primär als Geldanlage. Die Ideologie »Privat vor Staat« hat die Infrastruktur des Gallus, vor allem das Wohnen, zur Ware gemacht (Heeg 2013). Diese auf den Tauschwert fokussierte Kommodifizierung des Stadtraums bricht mit dem sozialpolitischen Erbe des Viertels als Arbeiter*innenhochburg, welches insbesondere unter Ernst May im Rahmen des ›Neuen Frankfurts‹ entstanden ist. Wie sich gezeigt hat, ist es eine lokalpolitische Entscheidung gewesen, dieses historische Erbe zugunsten einer unternehmerischen Stadtpolitik zu verdrängen (Schipper/ Wiegand 2015). Die Entwicklungen im Gallus offenbaren aber auch, dass die soziale Ausrichtung der Stadtentwicklungs- und Wohnungspolitik den

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entscheidenden Schlüssel darstellt, um den Zusammenhalt und die historisch gewachsene Identität zu erhalten und partizipativ weiterzuentwickeln. Heute manifestiert sich aufgrund der bereits fortgeschrittenen Gentrifizierung im städtischen Diskurs ein polarisiertes Bild: Während bei Immobilieninvestoren rund um den Globus Freude über die Vermarktung des Gallusviertels ausbricht, heißt es im Merkurist vom 24.07.2016: »Wohnraum für Wohlhabende«. Ein Autor der taz kommentiert am 18.05.2016 sogar: »Das entsetzlich verhunzte Großdorf am Main besticht durch immer neues Schandwerk in sämtlichen Stadtteilen. Im Gallus, einst anmutiges Arbeiterquartier, wuchert rund um die Zentralachse ›Stalinallee‹ (Volksmund), ein gigantisches ›Klötzchenspiel‹ [...] geistig und moralisch infinit verkommener Investoren«.

Die gespaltene Rezeption der Entwicklungen in den Medien, die gewaltsamen Verdrängungsprozesse, doch auch vielfältiger Protest dagegen legen nahe, dass sich in Zukunft an der Wohnungsfrage entscheiden wird, ob das Gallus an sein sozialpolitisches Erbe anknüpfen wird oder sich weiter von diesem entfernt. So wird sich auch entscheiden, ob dieser facettenreiche Ort in Zukunft ein Raum des Austauschs und der Aneignung ›der Vielen‹ bleiben kann und ob die zahlreichen Versuche lokaler Vereine und Initiativen, das ›Recht auf Stadt‹ gegen private Profitinteressen durchzusetzen, gelingen werden.

Endnoten 1 https://www.kunst-im-oeffentlichen-raum-frankfurt.de/de/page238.html

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Orte der Prekarisierung: Wohnen am ›Rand‹ der Global City. Das Beispiel Sossenheim Tabea Latocha

Mit dem Fahrrad braucht man für eine Fahrt von der Hauptwache zum Altstadtkern Sossenheims gute 50 Minuten. Der Weg führt vorbei an gläsernen Büro-Fassaden, globalem City-Lifestyle, ordnungswütigen Kleingartensiedlungen und ruralen Ackerlandschaften. Dabei legt man eine Strecke von 11 km zurück und erreicht am Ende die wahre Skyline der Stadt: die Großwohnsiedlungen der Moderne im Frankfurter Westen. Die große Entfernung, die man dabei überwindet, drückt sich jedoch auch in einer ganz anderen Differenz aus: 2.990 € durchschnittliches monatliches Bruttoeinkommen liegen zwischen dem Westend-Süd und Sossenheim1. Schon in den 1990er Jahren haben die Comics Chlodwig Poths (1993) mit dem Titel »Last Exit Sossenheim« das manifestiert, was den Diskurs über diesen Frankfurter Stadtteil bis heute prägt: Er gilt als städtische Peripherie (Körner 1997). Mit den Worten Kuschinskis (2019) könnte man sagen, dass in Sossenheim die »Anderen« wohnen, die als »Globalisierungsverlierer*innen« nicht in das konstruierte Bild der Stadt Frankfurt als aufstrebender Finanz- und Dienstleistungsmetropole passen beziehungsweise es sich schlichtweg nicht (mehr) leisten können: migrantische communities, große Familien mit unterdurchschnittlichen Nettoeinkommen, Personen, die existenzsichernde Mindestleistungen beziehen, und Langzeitarbeitslose (Jugend- und Sozialamt der Stadt Frankfurt 2017: 214 f.). Obwohl das Mietniveau in den beiden Ortsbezirken Sossenheims deutlich niedriger ist als in Innenstadtlagen, sind 2019 auch hier die Angebotsmieten um knapp 4 % gestiegen, die Verkaufspreise von Eigentumswohnungen zwischen dem 1. Quartal 2019 und dem 1. Quartal 2020 sogar um 9 %.2 In Anbetracht der geplanten ›Regionaltangente West‹, die einen direkten S-Bahn-Netz­ anschluss von Sossenheim an die Innenstadt, den Flughafen und den Taunus vorsieht3, ist mit einer Neubewertung der Wohnlagen im Stadtteil und einem weiteren Anstieg der Miet- und Eigentumspreise zu rechnen.4 Nach vielen Jahren der planerischen »Vernachlässigung« (Stadtplanungsamt Frankfurt am Main 2020) ist hier jüngst ein Moment der »autoritären Fürsorglichkeit« (Mönninger 2019: 43) angebrochen: Mit der Aufnahme Sossenheims in das ›Soziale Stadt‹-Programm will sich die Planung um die attestierte Prekarität der Wohnverhältnisse und die sozialen Verwerfungen im Stadtteil ›kümmern‹. Sossenheim und sein Image sollen aufpoliert werden (Stadtplanungsamt Frankfurt am Main 2020). Dies bietet Anlass dazu, die historische Gewordenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse am ›Rand‹ der Global City einer kritischen Betrachtung zu unterziehen.

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Abbildung 1: Radweg von der Hauptwache nach Sossenheim (Quelle: eigene Darstellung).

Sozialräumliche Brüche an der Peripherie der Global City Das ehemalige Bauerndorf Sossenheim, das 1928 in Frankfurt eingemeindet wurde, liegt am westlichen Rand des Stadtgebietes und ist heute gekennzeichnet durch eine aus der Geschichte der Siedlungsentwicklung resultierende städtebauliche und soziale Fragmentierung (Ronneberger/ Keil 1995: 323). War das Straßendorf noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts durch ein bäuerliches Einwohnermilieu und eine kleinteilige mittelalterliche Dorfstruktur geprägt, so veränderte die Industrialisierung des Frankfurter Westens, insbesondere die Betriebsaufnahme des nah gelegenen Chemiekonzerns Höchst und der Bau von zwölf großen Ziegelbrennereien, die räumlich-bauliche und soziale Beschaffenheit des Stadtteils. Die Herstellung der Farben und das Brennen von jährlich 15 Millionen Backsteinen wurde hauptsächlich durch Saison- und Wanderarbeiter*innen aus dem Ausland ausgeführt, die in »schäbigen Baracken untergebracht waren« (Poth 1993: 16). Die Schornsteine, Ringöfen und Arbeitersiedlungen der Chemiewerke galten als ›sichtbares Wahrzeichen‹ für die sozialen Missstände, die den Arbeitsmigrant*innen zugeschreiben wurden, jedoch wohl eher als Produkt der desaströsen Wirtschafts- und Wohnverhältnisse gelesen werden müssen. In den 1950er Jahren »wurde es dann richtig städtisch im Ort, und zwar rasant« (ebd.: 18). Um Sossenheim als Arbeiterwohnstandort zu etablieren, entstanden hier in den 1950er, -60er und -70er Jahren mehrere große Siedlungseinheiten, »fast ausschließlich Projekte des sozialen Wohnungsbaus« (ebd.), die im Osten und Westen des städtebaulich homogenen und kleinbürgerlich geprägten Altstadtkerns durch öffentliche Wohnungsunternehmen errichtet wurden (Körner 1997). Diese »doch relativ brachial[e] Siedlungstätigkeit« (Interview mit einem Mitarbeiter des Begegnungszentrums Sossenheim)5 führte dazu, dass der Stadtteil in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von 8.000 auf knapp

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16.000 Einwohner*innen anwuchs. Schon damals kam es hier durch die Belegungspraxis der Sozialwohnungen und die steigenden Wohnungspreise in der Innenstadt Frankfurts zu einer Konzentration migrantischer und einkommensschwacher Haushalte, was eine »Erosion des Integrationsmilieus in den Großwohnsiedlungen« (Körner/Ronneberger 1994: 59) bewirkte. Die Dichte von Siedlungseinheiten des sozialen Wohnungsbaus in Sossenheim (beziehungsweise insgesamt im Frankfurter Westen) muss im Kontext der Frankfurter Stadtentwicklungspolitik gelesen werden (Körner 1997: 113). Ein Mitglied des Ortsbeirats erklärt: »[...] eigentlich zählt der gesamte Frankfurter Westen als Rand Frankfurts. Insofern, das unterstreicht, glaube ich, so ein bisschen diese Einschätzung, dass es tatsächlich drum ging, wo anders sauber zu machen und dafür musste man irgendwo halt die Leute auch hinschaffen. Aber bestimmt hat auch der Bodenpreis eine Rolle gespielt.«

Wie durch ein Brennglas zeigt sich hier ein folgenreiches Symptom des Zusammenwirkens von Globalisierungs- und Neoliberalisierungskrisen: die sozialen Verwerfungen der tiefgreifenden sozialen und ökonomischen Transformationsprozesse und die räumliche Verdrängung der davon besonders stark betroffenen einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen an den peripheren Stadtrand. Den planerischen und wohnungspolitischen Umgang mit Sossenheim beschreiben kritische Wissenschaftler daher »als Verlagerung ›Frankfurter Probleme‹ nach Sossenheim« (Ronneberger/Keil 1995: 324). Die ohnehin bestehende baulich-räumliche Trennung zur Innenstadt Frankfurts, welche durch die Autobahnen A66 und A648 infrastrukturell manifestiert wird, wurde durch den planungspolitischen Umgang mit dem Stadtteil verstärkt, der bis heute »eher stiefmütterlich behandelt wird« (FR 03.07.2017). Diese politisch hergestellte und durch die Bewohner*innen als basales Gefühl der Zurücksetzung wahrgenommene ›Peripherisierung‹ erzeugt sozialräumliche Brüche, die sich innerhalb des Stadtteils fortsetzen. Als »eigenständige Raum-Einheiten« (Beste 2013: 177) jenseits der morphologisch kleinteiligen Altstadt Sossenheims weisen die Großwohnsiedlungen Carl-Sonnenschein-Siedlung, Henri-Dunant-Siedlung,

Abbildung 2: Schwarzplan von Sossenheim mit Großwohnsiedlungen (Quelle: eigene Darstellung).

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Abbildungen 3 und 4: Vertikales Wohnen hinter Waschbeton: die RobertDißmann-Siedlung (Quelle: eigene Aufnahmen).

Otto-Brenner-Siedlung und Robert-Dißmann- beziehungsweise Toni-Sender-Siedlung kaum Bezug zum Ortskern auf und sind gekennzeichnet durch einen Mangel an sozialen Einrichtungen, qualitätvollen Aufenthaltsflächen und Nahversorgung. Die Wahrnehmung dieser Siedlungen und ihrer Bewohner*innen als »Fremdkörper« (Körner/Ronneberger 1994: 59) wird verstärkt durch die baulich-räumliche Gestaltung. Auffällig ist der spezifische lokale Problemdiskurs, der die Stadt Frankfurt als »übermächtige Instanz [darstellt], deren Entscheidungen und Maßnahmen meist zu Ungunsten des Stadtteils ausfallen« (Körner/ Ronneberger 1994: 59), und der die Großwohnsiedlungen als ursächlich für die relative soziale Benachteiligung Sossenheims im gesamtstädtischen Kontext identifiziert. Das Gefühl des individuellen Abstiegs und eines »Verlustes der kulturellen Hegemonie und territorialen Kontrolle« (ebd.: 60) findet hier Ausdruck in einer »regressiven politischen Subjektivierung«6 der Bewohner*innen, die auch in anderen peripheren Stadtteilen zu finden ist (—Mullis in diesem Band). In den 1990er Jahren galten die Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus als »Braune Hochburgen« (Poth 1993: o. S.; Beste 2013: 179) und auch heute zeigt sich für den Ortsteil Sossenheim-Ost, in dem ein Großteil der Wohnanlagen liegt, ein überdurchschnittlich hoher Anteil an AfD Wähler*innen7 (Mullis/Zschocke 2019: 12). An dem dargestellten negativen Problemdiskurs über Sossenheim hat sich bis heute wenig geändert: Die einseitige Darstellung Sossenheims als »soziale[m] Brennpunkt« (FR 15.06.2011) wird in den Medien, aber auch in dem planungspolitischen Kümmerprogramm ›Soziale Stadt Sossenheim‹ immer wieder aufgegriffen. Auffällig ist, dass bei diesen Beschreibungen auf einen engen Prekarisierungsbegriff rekurriert wird, der auf die Kumulation bestimmter Merkmalsausprägungen in den statistischen Daten verweist, aber weder die Sicht der Bewohner*innen zu Wort kommen lässt, noch die zugrundeliegenden Prozesse erklärt, die diese Verhältnisse konstituieren. Nicht die Prekarisierung der Bevölkerung, sondern die »Präsenz des Prekären« (Künkel 2018: 285) gilt als Problem.

Sozialräumliche Struktur Sossenheims Bei einem Blick in das statistische Jahrbuch der Stadt Frankfurt zeigt sich, dass in Sossenheim tatsächlich Armut, Erwerbslosigkeit und sozialer Unterstützungsbedarf aufeinandertreffen: Sossenheim hat nach Fechenheim und dem Gutleutviertel mit 5,8 % die dritthöchste Arbeitslosenquote in der Stadt (der Frankfurter Durchschnitt liegt bei 3,8 %); wobei mehr als jede*r zweite Arbeitslose zu den Langzeitarbeitslosen zählt (Bürgeramt, Statistik und Wahlen 2019: 140). Gegenüber durchschnittlich 9,1 % sind hier knapp 17,2 % der Bevölkerung leistungsberechtigt nach dem SGBII (ebd.: 152), wobei fast jedes zweite Kind als armutsgefährdet gilt. Außerdem ist Sossenheim mit 65,5 % einer der Stadtteile Frankfurts mit dem höchsten Anteil nicht-deutscher und deutscher Bevölkerung mit Migrationshintergrund (ebd.: 32). Um durchschnittlich 20 % ist das monatliche Bruttoeinkommen der Vollzeitbeschäftigten geringer als im Frankfurter Durchschnitt; sogar nur halb so hoch wie im Stadtteil Westend-Süd (ebd.: 138). Insbesondere unter Frauen ist die Beschäftigungsdichte gering, rund 7 % geringer als im Rest der Stadt (ebd.: 124). Betrachtet man die statistischen Daten zur lokalen Wohnraumversorgung, fällt auf, dass die Wohnfläche pro Person hier durchschnittlich um ganze 6 m2 kleiner ist als im Rest der Stadt Frankfurt (ebd.: 74). Da es absolut gesehen in Sossenheim mit 478 Haushalten die größte Anzahl an Haushalten mit mehr als fünf Personen in ganz Frankfurt

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gibt, gleichzeitig aber nur eine vergleichsweise geringe Anzahl von großen Wohnungen zur Verfügung steht, ist zu erwarten, dass die Wohnraumversorgung nicht für alle Haushalte bedarfsgerecht sichergestellt ist. Dies ist vor allem auch deshalb anzunehmen, weil der Anteil der Wohnungen, die einer Sozialbindung unterliegen, in den letzten Jahren stark gesunken ist (Jugendund Sozialamt der Stadt Frankfurt 2017: 214).

Vom Reformprojekt zur »Sorgenimmobilie«: die Robert-Dißmann-Siedlung Diskursiv marginalisiert wird im öffentlichen Problemdiskurs über Wohnverhältnisse in Sossenheim vor allem die Robert-Dißmann-Siedlung, der sogenannte ›Tatzelwurm‹. Geplant als soziales Reformprojekt nach dem »Bremer Modell« (Körner/Ronneberger 1994) wurden die rund 330 Wohneinheiten der zwölf Waschbetontürme der Siedlung mit Fördergeldern des sozialen Wohnungsbaus durch die Regionaltochter des gewerkschaftseigenen Wohnungsunternehmens ›Neue Heimat Südwest‹ Anfang bis Mitte der 1970er Jahre errichtet. Durch ihre Geschossigkeit hebt sich die Siedlung von ihrer Umgebung ab (6–12 Geschosse) »und ist damit gleichsam vertikal isoliert« (Ronneberger/Keil 1995: 323). Die drei geschwungenen Gebäudekomplexe bestehen jeweils aus fünf, vier und drei miteinander verbundenen Türmen von unterschiedlicher Höhe. Auch die Waschbetonfassade der Siedlung macht diese zu einem aus dem Kontext herausragenden Architekturobjekt (s. Abb. 3) und verstärkt den visuellen Eindruck von Monotonie, Uniformität und der für die Zeit der Entstehung charakteristischen Funktionalität. Nach dem Vorbild der Bremer Reformarchitektur wurden seinerzeit 14 Gemeinschaftsräume und ein Mieterbeirat mit weitreichenden Mitbestimmungsrechten eingeführt, dessen Tätigkeit jedoch im Anschluss an die Privatisierung der Siedlung Anfang der 1990er aufgegeben wurde. Heute befindet sich die Siedlung in Streubesitz von Kleineigentümer*innen, organisiert in zwei Wohnungseigentümergemeinschaften (WEG), wobei circa die Hälfte der Wohnungen durch die Besitzer*innen selbst bewohnt und die andere Hälfte vermietet wird. Auffällig ist dabei, dass die Mietpreise verdächtig nah an den Bemessungssätzen der ›Kosten der Unterkunft‹ liegen, aber die zu zahlenden Nebenkosten teilweise höher als die Kaltmieten ausfallen.

Der Siedlung haftet heute ein spezifischer, auf den Nexus von Wohnsituation und Sozialstruktur der Bevölkerung rekurrierender, raumdeterministischer Problemdiskurs an. Sowohl in den regionalen Medien als auch den lokalpolitischen Diskursen wird die Robert-Dißmann-Siedlung als ›sozialer Brennpunk‹ hervorgehoben. Dabei wird immer wieder auf die Eintönigkeit der uniformen Fassadengestaltung und die Dichte der Bebauung verwiesen.

Abbildung 5: Visualisierung des ›Tatzelwurm‹ von Süden (Quelle: eigene Darstellung).

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Es heißt zum Beispiel: »Die grau-braunen Betonklötze bewohnen überwiegend Menschen aus sozial schwachen Verhältnissen, die meisten mit Migrationshintergrund« (FR 15.06.2011). Der Zustand der Gebäude, ihre monotonen Waschbetonfassaden und ihre modernistische Bauform werden als Ausdruck der sozialen Verhältnisse gesehen, als Endpunkte einer negativen Wohn- wie Sozialkarriere. Die Wohnadresse Robert-Dißmann-Straße wird durch diesen ›Brennpunkt‹-Diskurs für die Diskreditierten zu einem Problem. Eine Bewohnerin erzählt: »Meine große Tochter hat immer gesagt: ›Mama, ich gebe meine Kinder dir nicht, weil du lebst im Ghetto.‹« Die Siedlung wird im Stadtteil als »Angstraum« und als »[Ort] urbaner Hässlichkeit wahrgenommen – verschmutzt, verwahrlost, ungepflegt, sanierungsbedürftig« (Frieling 2020), von dem sich auch die Bewohner*innen umliegender Viertel versuchen abzugrenzen und fernzuhalten. Vor dem Hintergrund der anstehenden Aufwertungsmaßnahmen im Rahmen des ›Soziale Stadt‹-Programms scheint es umso dringlicher, das Stigma des ›Problemviertels‹ aufzubrechen und die Konstitution der Prekarisierung ›on the ground‹ zu ergründen.

Abbildung 6: Ausblick von der Dachterrasse auf die Skyline der Innenstadt (Quelle: eigene Aufnahme).

Aufgrund des am 8. Februar 1982 durch den ›Spiegel‹ aufgedeckten Neue Heimat Skandals (Kunz 2003: 448) wurden die Bestände des Unternehmens, zu denen auch die 337 Sozialwohnungen in der Robert-Dißmann-Siedlung gehörten, zwischenzeitig von der Volksfürsorge (VoFü) verwaltet und anschließend durch die Beteiligungsgesellschaft der Gewerkschaften (BGAG Holding) verkauft. Obwohl das Land Hessen als erstes Bundesland in der BRD sein regionales Unternehmen ›Neue Heimat Südwest‹ samt der dazugehörigen Wohnungsbestände im Dezember 1986 übernahm (Kunz 2003: 415; heute Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft GmbH, GWH), wurden die Einheiten im »Tatzelmonster« (Poth 1993: 19) 1991 an einen privaten Immobilieninvestor aus München verkauft. Für 20 Millionen DM soll Graf Rüdiger von Künsberg die Sozialwohnungen – neben weiteren Immobilien auf der Berger Straße – zur »Arrondierung seines Immobilienbesitzes« erworben haben (FR 11.04.1991). Eine Internetrecherche zeigt, dass die Kommanditgesellschaft Domizil Planbau Baubetreuung und Verwaltung KG – über welche die Einheiten in Sossenheim damals von

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Künsberg erworben wurden (FR 07.12.1998) – durch den An- und Verkauf von Immobilien ,vor allem in den 1990er Jahren, große Umsätze gemacht hat. Sie hat seitdem mehrmals ihren Sitz und Namen verändert und operiert heute als Imandra Vermögensverwaltungsgesellschaft mbH mit jährlich rund 50.000 € Gewinn. Nicht unbeachtet sollte dabei bleiben, dass von Künsberg nicht nur bei der Robert-Dißmann-Siedlung, sondern beispielsweise auch im Fall des Technischen Rathauses Dresden notwendige Sanierungsarbeiten und Umbauten an den erworbenen Immobilien vor dem Weiterverkauf unterließ beziehungsweise wenn überhaupt nur »schlampig« ausführte, indem Brandschutz- und Bauvorschriften missachtet wurden (DNN 09.09.2015). Deshalb schien für ihn beim Ankauf die Verschuldung der Immobilie auch kein Problem darzustellen. Die schwarz-gelbe Landesregierung hatte sich im Fall der Robert-Dißmann-Siedlung Anfang der 1990er Jahre aufgrund des damals bereits bestehenden Millionen DM hohen Betriebskostendefizits gegen den Ankauf entschieden. Auch die SPD geführte Stadtregierung Frankfurts, welche bis 1991 noch die Möglichkeit der Kommunalisierung über eines der städtischen Wohnungsbauunternehmen erwogen und im Parlament diskutiert hatte, ließ von einer Übernahme der Wohneinheiten Anfang der 1990er Jahre ab. Die hohe Verschuldung der damals schon »heruntergekommenen Siedlung« (FR 12.04.1991) war den politischen und wirtschaftlichen Eliten ein Dorn im Auge. Daher wurden die sozialen Folgen der Veräußerung trotz Empörung der Opposition und der Mieter*innen, die vor dem Hintergrund der anschwellenden Immobilienblase der 1990er Angst vor dem Verlust ihrer abgesicherten Wohnverhältnisse äußerten, in Kauf genommen. De facto wurde durch die Privatisierung das finanzielle Risiko auf die Kleineigentümer*innen abgewälzt und die Siedlung-als-Zuhause zu einem Ort der Unsicherheit und Marginalisierung. Obwohl die »Sorgenimmobilie« 1991 privatisiert wurde (HKB 21.08.2003), verblieb die Hochhaussiedlung bis 1996 zunächst in einheitlicher Bewirtschaftung durch die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft Hessen (GWH). Die GWH verwaltete die Wohnungen für den Investor Freiherr von Künsberg; auch an den Mietverhältnissen der 330 Sozialwohnungen änderte sich zunächst nichts. Erst als die Firma Nichtern & Strobach die Einheiten en bloc von der Münchner Domizil Planbau KG für den Zweck der profitorientierten Umwandlung in Eigentumswohnungen erwarb, kam es 1993 zu einer Teilung der Siedlung in einzelne private Eigentumswohnungen und zu einer Übertragung der Verwaltung an die private Firma Ludwig & Partner (LuP). Durch das gezielte Entmieten der Sozialmieter*innen, die eigentlich bis zum Jahr 2000 hätten in ihren weiterhin einer Belegungsbindung unterliegenden Wohnungen in der Robert-Dißmann-Siedlung verbleiben dürfen (FR 07.12.1998), wurde die Siedlung von Nichtern & Strobach in eine Wohnungseigentümergemeinschaft (WEG) mit 330 Parteien überführt, die seitdem in geteilter Haftung für die Betriebskosten und Organisation der Verwaltungsaufgaben aufkommen müssen. Die gemeinschaftlich genutzten Versorgungsräume und sozialen Treffpunkte wurden im Zuge dieser doppelten Privatisierung (Besitz und Verwaltung) ebenfalls geschlossen und stehen bis heute leer. Durch diesen Verlust an sozialen Orten sind Möglichkeiten zum Erfahren von Kollektivität und Gemeinschaft in der Siedlung gänzlich verschwunden, was zu einem Fortschreiten der Dekollektivierung der Bewohnerschaft beigetragen hat. Unter dem Namen ›Schöne Aussicht‹ verkaufte die genannte Firma Nichtern & Strobach ab 1996 die Wohneinheiten an Kleineigentümer*innen, und zwar ohne die hohe Verschuldung und die anstehenden Sanierungskosten und das damit einhergehende Risiko für die

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Käufer*innen zu erwähnen. Stattdessen wurden die Einheiten als Möglichkeit zur Altersvorsorge und Kapitalanlage für ›die kleinen Leute‹ beworben. In der Originalbroschüre von damals heißt es: »Wenn der ›Euro‹ kommt! Keiner weiß genau, was uns die neue europäische Währung bringen wird. Wird sie so stabil sein wie die Deutsche Mark? Wie wirkt sich ein gemeinsames Zahlungsmittel für ganz Europa auf die Inflationsrate in unserem Land aus? Selbst Fachleute sind sich darüber nicht im Klaren. Eines aber steht fest: Schon immer wurde in Deutschland auf die Immobilie gesetzt, wenn Währungsschwankungen zu erwarten waren. Denn nur Grundbesitz bietet in einem solchen Fall Sicherheit für Ihr Geld, das zeigt die Geschichte. Nach jeder Währungsreform standen Immobilienbesitzer als Gewinner da. Diesmal sollten auch sie auf der richtigen Seite sein« (Nichtern & Strobach o.J.).

Mehrere Zeitungsberichte und Aussagen von Interviewpartner*innen – sowohl von Expert*innen aus dem Ortsbeirat als auch von betroffenen Eigentümer*innen, die ihre Wohnung direkt von Nichtern & Strobach erworben haben – legen offen, dass die Finanzierung der Wohnungen 1996/1997 über 120 % Kredite erfolgte. Diese Form der kreditbasierten Vollfinanzierung ermöglicht den Kauf von Immobilien ohne Eigenkapital, da sowohl für die Kaufsumme als auch für die Kaufnebenkosten wie Notargebühren das Geld von der Bank geliehen wird. Diese Kredite wurden Mitte der 1990er beim Verkauf der umgewandelten Einheiten auch an solche Haushalte vergeben, die aufgrund geringer Bonität »eigentlich keine Finanzierung hätten bekommen dürfen« (FR 16.09.2004). An dieser Stelle ist ein Herauszoomen auf den (inter-)nationalen Kontext notwendig: Daniel Mertens (2015) erläutert in seiner historischen Rückschau auf die Privatverschuldung in Deutschland, dass bereits in den 1980er Jahren die Verschuldungsmöglichkeiten für private Haushalte durch die Schaffung von ›Allfinanz‹-Modellen ausgeweitet wurden. Mitte der 1990er Jahre hätten sich für kurze Zeit auch in der BRD »die Konturen eines Subprime-Marktes ab[gezeichnet]« (ebd.: 202). Diese Entwicklung führt Mertens vor allem auf den Immobilienboom der 1990er und die dort angewandten Kreditvermittlungsmodelle zurück. Er erklärt: »Vollfinanzierungen sind vor allem für die Bausparkassen eine Herausforderung, da sie nicht mehr als 80 Prozent des Beleihungswertes als Kredit gewähren dürfen und darüber hinaus der für ihr Finanzierungsmodell konstitutive Ansparvorgang unterlaufen wird. [...] Die Bausparkassen reagierten damals auf diese Entwicklung mit dem verstärkten Angebot von Zwischenund Vorschaltkrediten. Dadurch konnten Bausparer den Ansparvorgang mit einem Darlehen vorfinanzieren und dann ein Bauspardarlehen aufnehmen, dass die Vorfinanzierung als Eigenkapital betrachtete. Dementsprechend stieg der Anteil dieser Zwischenkredite an den Gesamtdarlehen zwischen 1981 und 1993 von 5 auf 18 Prozent. [...] Die systematische Ausweitung dieser Kreditvergabepraxis hatte vor allem von neuen staatlichen Förderprogrammen zur Ankurbelung des Immobilienmarktes profitiert. Spätestens als Ende der 1990er-Jahre diese Sonderprogramme zurückgefahren wurden und sich negative Schlagzeilen über Anbieter wie die Bausparkasse Badenia häuften, war von einem fortdauernden Subprime-Boom nichts mehr zu spüren« (ebd.).

Zoomen wir wieder auf die Ebene der Wohnsiedlung in Sossenheim zurück, kann auf Grundlage der Interviews davon ausgegangen werden, dass genau

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dieses ›Allfinanzierungs‹-Modell dort zur Anwendung kam. Zwei lang­ jährige Bewohner*innen erläutern: »Das ging, über die Banken ging das damals. Ich weiß nämlich noch, dass Eigentümer, die haben ihre Wohnungen damals mit 120 % finanziert und so weiter. Irgendwann sind sie dann zwangsversteigert worden und diese ganzen Geschichten.« »Ja, die Sparkasse! Die Sparkasse hat 120 % finanziert. Und dann sind die Leute nicht mehr hinterhergekommen.«

Diese Aussagen deuten bereits an, dass die erhoffte ›Altersvorsorge‹ sich in vielen Fällen nicht materialisiert, sondern in das Gegenteil umgekehrt hat: Die Eigentümer*innen gerieten aufgrund der hohen Tilgungsraten ihrer Kredite und zusätzlich anfallenden Nebenkosten und Sonderumlagen für Sanierungsarbeiten in eine finanzielle Abwärtsspirale. Ein Zeitungsbericht zitiert einen ehemaligen Verwalter der Siedlung: »Hier wurden Schrottwohnungen von skrupellosen Investoren, die heute im Gefängnis sitzen, an ahnungslose Leute verkauft, die gar nicht zahlen können« (FR 30.03.2006). Der Kauf der Einheiten hat sich deshalb später für viele der Kleineigentümer*innen nicht als die ersehnte finanzielle Absicherung, sondern als eine höchst riskante Investition herausgestellt. Die hohen Kosten trieben Haushalte in den finanziellen Ruin: Allein im Jahr 2000 gab es von insgesamt 175 Zwangsversteigerungen im gesamten Stadtgebiet Frankfurts 100 in der Robert-Dißmann-Siedlung; 40 % der Wohnungen standen in diesem Jahr unter Zwangsverwaltung (FR 22.05.2002). Damals eskalierte die Situation, da ein ausländischer Großinvestor, der knapp 70 Wohnungen in der Siedlung als Kapitalanlage erworben hatte, in die Insolvenz ging und die Wohnkosten für seine Anteile an der WEG nicht mehr zahlte (FNP 21.08.2003). Aufgrund der in der Teilungserklärung festgeschriebenen gemeinschuldnerischen Haftung mussten die verbliebenen Eigentümer*innen für dessen Nebenkosten und Anteile an den Sonderumlagen aufkommen, die sich 2006 auf 700.000 € Schulden aufsummiert hatten. Die damalige Verwaltungsfirma forderte die ausstehende Geldsumme bei der ausblutenden WEG ein und leitete aufgrund von deren Zahlungsunfähigkeit Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen die nicht zahlenden Besitzer*innen ein. Zunächst stimmte das Amtsgericht der Stadt Frankfurt dem restriktiven Vorgehen des Verwalters zu und bestätigte die Rechtmäßigkeit der eingeforderten Sonderumlagen trotz einer sich zunehmend verschärfenden Versorgungslage in der Siedlung. Da die Eigentümergemeinschaft den Forderungen des Gläubigers nicht nachkommen konnte, wurden das Warmwasser und die Heizung mehrere Wochen lang abgeschaltet (FR 30.03.2006). Es ist zu vermuten, dass nur deshalb ein vollständiger finanzieller Ruin der Bewohnerschaft verhindert werden konnte, weil sich engagierte Bewohner*innen zu einer Anwohnerinitiative zusammenschlossen und ein Rechtsverfahren gegen den säumigen Großinvestor der 70 Wohneinheiten sowie gegen die Firma Nichtern & Strobach einleiteten. Obwohl die Eigentümergemeinschaft der Siedlung 2006 den gerichtlichen Prozess gegen den Großeigentümer gewann (FR 28.04.2006), bestehen nach wie vor Probleme bei der Rücklagenbildung und Finanzierung grundlegender Versorgungsausgaben. Auch heute findet noch ein Drittel der inzwischen nur noch circa 15 – 20 jährlichen Zwangsvollstreckungsverfahren in Frankfurt, die Eigentumswohnungen betreffen (Gutachterausschuss FFM 2020: 18), in der Robert-Dißmann-Straße statt. Außerdem hat der Gerichtsprozess zu internen Konflikten in der Bewohnerschaft geführt, die sich 2006 in zwei getrennte Eigentümergemeinschaften

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Abbildung 7: Ansicht der Siedlung von Norden: Bei genauem Hinschauen ist zu erkennen, dass die Spitzenvorhänge in jeder Wohnung ein klein bisschen anders aussehen (Quelle: eigene Aufnahme).

aufgesplittet hat, die Anwohnergemeinschaft Robert-Dißmann-Siedlung (durch eine private Firma verwaltet) und die selbstverwaltete Eigentümerschutzgemeinschaft Toni-Sender-Straße e.V. Die Zweiteilung der Bewohnerschaft steht beispielhaft für einen vielschichten Prozess der Dekollektivierung und des ›Auseinandersplitterns‹, der die Governance und Machtstrukturen, aber auch die Identifikationsprozesse und sozialen Beziehungen in der Siedlung charakterisiert. Obwohl die genaue Rekonstruktion der Kooperationskonstellationen zwischen Nichtern & Strobach, dem Verwalter LuP, der Stadt und den Banken zum heutigen Zeitpunkt nicht mehr nachvollzogen werden kann, bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass die Privatisierung der Wohneinheiten ein zentrales Moment der neoliberalen Einhegung und Individualisierung von Risiken rund um die Wohnung-als-Zuhause darstellt. Denn die finanziellen Mehrfachbelastungen aus steigenden Wohnkosten, notwendigen Sonderumlagen für Großinvestitionen wie zum Beispiel. eine neue Fassade, eine neue Heizung und die Reparatur der Aufzüge sowie anfallende Kredittilgungsraten beziehungsweise Mietkosten sind für viele Bewohner*innen nur schwer aufzubringen. Für viele ist wahr geworden, was die die FR am 22.05.2003 über die Siedlung titelt: »Von der Eigentumswohnung in die Sozialhilfe«. Das Risiko der Verschuldung und des baulichen Verfalls, welches 1990/91 ausschlaggebendes Kriterium für die Entscheidung der politischen Eliten gegen die Kommunalisierung gewesen war, wurde auf die Kleineigentümer*innen abgewälzt und der politische Handlungsspielraum, den sozialen und baulichen Problemen mithilfe öffentlicher Mittel entgegenzuwirken, ausgeräumt. Dass der Verlust der Möglichkeit öffentlicher Einflussnahme sich heute als fatal erweist, zeigen der anhaltende Kampf der Bewohner*innen gegen den Verfall der Gebäude, wiederholt aufflammende Konflikte mit einer inzwischen anderen Verwaltungsfirma – gegen die aktuell auch wieder ein Rechtsverfahren durch die Eigentümergemeinschaft in die Wege geleitet worden ist – und die Auseinandersetzungen zwischen den Bewohner*innen, zum Beispiel. über Kriminalität, hygienische

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Missstände und illegale Untermietverhältnisse. Die Entscheidungen der Vergangenheit haben Pfadabhängigkeiten hergestellt, die den Gebrauchswert der Wohnungen einschränken, die Bewohner*innen existenziellen Risiken aussetzen und das zukünftige Bestehen der baulichen Substanz gefährden. Das Kümmerprogramm ›Soziale Stadt‹ erscheint vor diesem Hintergrund als planerische Aufwertungskosmetik, die – wenn überhaupt – nur den durch das Planungsamt ersehnten zuziehenden Mittelschichtfamilien entgegenkommt.

Fazit Diese kurze Darstellung verdeutlicht, dass die Konstitution der prekären Wohnverhältnisse am ›Rand‹ der Global City keineswegs auf einen sozialen oder kulturellen ›Mangel‹ der betroffenen Bewohner*innen zurückgeführt werden kann. Die attestierte »Präsenz des Prekären« (Künkel 2018: 285) in der ›Problemsiedlung‹ muss vielmehr als Produkt eines spezifischen Zusammenwirkens von sozialen, politischen und materiellen Elementen gelesen werden. Hierbei werden Zusammenhänge zwischen Prekarisierung und Privatisierungspolitik deutlich. Das »Versprechen des Privateigentums« stellt sich im Fall der Robert-Dißmann-Siedlung, wie Sabine Nuss es formuliert, als »vergiftet« heraus (Nuss 2019), denn es institutionalisiert die Dekollektivierung und materialisiert die Individualisierung von Lebensrisiken (Mertens 2015: 321 ff.). Der »Sieg des Immobilienmarktes über den Wohlfahrtstaat« (Holm 2011: 15) wirkt als Motor der Konstitution prekärer Wohnverhältnisse. Dass »[d]ie Wohnungen in der Robert-Dißmann-Straße zum Albtraum geworden [sind]« (FR 16.09.2004), entkräftet den Mythos des Nexus von Eigentum und sozialer Absicherung. Ein unglücklicher Zufall? Eine Recherche zeigt, dass es sich bei der untersuchten Siedlung keineswegs um eine Ausnahme handelt, die sich nur in Sossenheim ereignet hat. Erstens hat die inzwischen insolvente Firma Nichtern & Strobach nicht nur in der Robert-Dißmann-Siedlung, sondern auch bei anderen ehemals öffentlichen Immobilien, welche die Spekulanten zum Zweck der profitablen Weiterveräußerung in den 1990er Jahren erworben hatten, die im WEG-Recht festgeschriebene gemeinschuldnerische Haftung der oft ahnungslosen Eigentümer*innen zu ihren Gunsten genutzt, um mit ›Schrottimmobilien‹ Profit zu machen. Die finanzielle Abwärtsspirale, mit der sich Bewohner*innen in der Folge konfrontiert sahen, trieben auch anderenorts Existenzen in die Verzweiflung und den Ruin (FTOR 2005). Skandalöserweise ist das Geschäft mit ›Schrottimmobilien‹ jedoch nicht allein auf die Geschäftspraxis einzelner kleiner Mittelsfirmen wie Nichtern & Strobach zu begrenzen. Vielmehr waren kurzfristige Bewirtschaftungsstrategien mit geringen Haltedauern zum Ziel der Weiterveräußerung und Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen fester Bestandteil der Praxis privater Investoren, die in der Privatisierungsperiode der 1990er und 2000er Bestände der öffentlichen Hände akquirierten (Müller 2012). Was bleibt? Das Aufdecken und öffentlich machen der falschen Versprechen neoliberaler Wohnungspolitik. Nur so können gemeinsam solidarische Alternativen aufgezeigt und das toxische Versprechen des Privateigentums entkräftet werden. Hierbei lohnt sich ein Blick ›from the outside in‹, denn: » ›Ausgrenzung‹, das ist nicht nur ein Ort am Rande oder außerhalb der Gesellschaft, sondern umfasst auch den dazugehörigen Prozess, der nicht in die Mitte, sondern an die Ränder der Städte führt« (Hillmann/Bernt/Calbet i Elias 2019: 141).

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Endnoten 1

Nach Daten aus den »Materialien zur Stadtbeobachtung Heft 28« der Stadt Frankfurt am Main liegt das durchschnittliche monatliche Bruttoeinkommen bei Vollbeschäftigung für das Westend-Süd bei 6.166 € und für Sossenheim bei 3.176 € (Bürgeramt Statistik und Wahlen der Stadt Frankfurt 2019: 138).

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https://atlas.immobilienscout24.de/adresse/65936-frankfurt-am-main-robert-dißmann-str-10?searchQuery=robert-di&marketingFocus=APARTMENT_BUY#/

3

https://www.rtw-hessen.de/die-strecke/

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Bereits im Mietspiegel 2018 erfolgte eine Anpassung der Wohnlagen in Sossenheim von einer Klassifizierung als »sehr einfache« Wohnlage im gesamten Stadtteil (Amt für Wohnungswesen der Stadt Frankfurt 2014) zu »einfachen« (Großwohnsiedlungen) beziehungsweise »mittleren« (Altstadtkern und Einfamilienhausgebiete) Wohnlagen (Amt für Wohnungswesen der Stadt Frankfurt 2018).

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Alle Interviews wurden im Rahmen meiner Masterarbeit zwischen April und Juli 2020 geführt.

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Daniel Mullis und Paul Zschocke (2020, 2019) arbeiten mit dem Begriff der »regressiven politischen Subjektivierung«, um zu verstehen, wie sich alltägliche soziale Erfahrungen und Krisendeutungen in politischen Entscheidungen artikulieren. Sie betonen mit der Konzeptionierung die Verschränkung von ökonomischen und kulturellen Faktoren in alltäglichen Erfahrungen und Handlungspraxen.

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2017 lag der Zweitstimmenanteil der AfD bei der Bundestagswahl in Sossenheim bei knapp 14 % – gegenüber gerade einmal 4,5 % im Nordend und anderen sozioökonomisch bevorteilten Innenstadtbezirken.

Literaturverzeichnis Amt für Wohnungswesen der Stadt Frankfurt (2014): Mietspiegel 2014, Frankfurt am Main: der Magistrat. Amt für Wohnungswesen der Stadt Frankfurt (2018): Mietspiegel 2018, Frankfurt am Main: der Magistrat. Beste, Hubert (2013): Morphologie der Macht: Urbane ›Sicherheit‹ und die Profitorientierung sozialer Kontrolle, 3. Aufl., Wiesbaden: Springer VS. Bürgeramt, Statistik und Wahlen (2019): Frankfurt am Main Stadtteildaten 2018, Materialien zur Stadtbeobachtung Heft 28, Frankfurt. Dresdner Neueste Nachrichten (DNN) (09.09.2015): Altes Technisches Rathaus in Dresden: Behördenversagen beim Brandschutz, https://www.dnn.de/Dresden/Lokales/Altes-Technisches-Rathaus-in-Dresden-Behoerdenversagen-beim-Brandschutz (letzter Zugriff: 18.07.2020). FNP, Frankfurter Neue Presse (21.08.2003): Hier will keiner mehr wohnen. Käufer in der Robert-Dißmann-Siedlung fielen auf windige Investoren rein, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Signatur 12.927. FR, Frankfurter Rundschau (11.04.1991): Sossenheimer besorgt nach Verkauf der Siedlung, S. 17. FR, Frankfurter Rundschau (12.04.1991): Stadt hätte die Sossenheimer Siedlung gekauft – aber ohne Defizit, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Signatur 12.927. FR, Frankfurter Rundschau (07.12.1998): Mieter fühlen sich rüde zum Auszug gedrängt. Angst und Unruhe im Wohnpark ›Schöne Aussicht‹, S. 13. FR, Frankfurter Rundschau (22.05.2002): Wenn einer nicht zahlt, müssen die anderen Eigentümer bluten. Inhaber von 40 Apartments einer Wohnanlage zahlt kaum Wohngeld / Gesetz lässt Pfändung der Immobilien nicht zu, S. 34. FR, Frankfurter Rundschau (22.05.2003): ›Von der Eigentumswohnung in die Sozialhilfe‹. Geprellte Wohnungsbesitzer helfen sich gegenseitig – und bekommen einen Preis, S. 30. FR, Frankfurter Rundschau (16.09.2004): Eigentümer kämpfen verzweifelt gegen Pleite. Die Wohnungen in der Robert-Dißmann-Straße sind zum Albtraum geworden, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Signatur 12.927. FR, Frankfurter Rundschau (30.03.2006): Hunderte Menschen ohne Heizung. Firma stellt 154 Wohnungen in Sossenheim das Wasser ab, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Ziffer 12.927.

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30 Jahre LesbischSchwules Kulturhaus: Queere Stadtgeschichte in der Klingerstraße Julia Bieber, Franca Feil, Carolin Mezes, Katharina Müller und Ka thrin Schleich

2021 wird ein wichtiger, aber in den letzten Jahren wenig beachteter Ort der Frankfurter Schwulen- und Lesbenbewegung 30 Jahre alt: Das Lesbisch-Schwule Kulturhaus (LSKH) in der Klingerstraße. Das LSKH ist seit den frühen 1990er Jahren ein Community-Haus, das heute viele verschiedene lesbische, schwule und queere Gruppen und Initiativen beherbergt. Es stellt einen der wenigen konstant verfügbaren Orte der queeren Bewegung in Frankfurt dar. Dieser Beitrag gibt einen kleinen Überblick darüber, wie erstens Lesben und Schwule das Haus von der Stadt Frankfurt erstritten haben, warum zweitens das Lesbenarchiv im LSKH eine zentrale Institution der lesbischen Kulturarbeit Frankfurts ist und warum drittens das LSKH auch heute noch einen wichtigen Ort für queeres Leben in Frankfurt darstellt. Dabei möchte dieses Kapitel kein großangelegter Rundumschlag zur aktuellen Situation ›der queeren Szene‹ Frankfurts und auch kein akademischer Beitrag zur Beobachtung der Stadtentwicklung sein. Vielmehr soll an einem konkreten Beispiel deutlich werden, dass die Forderung nach einem ›Recht auf Stadt‹ schon in den 1980er und -90er Jahren ein wesentlicher Teil der Frankfurter lesbisch-schwulen Bewegung war. An der Geschichte und der Gegenwart des LSKH zeigt sich, was ›Eine Stadt für alle‹ ganz konkret heißen kann und welche Kämpfe heute weiterhin notwendig sind, damit ein bereits erstrittener Raum für queeres Leben in Frankfurt trotz Kommerzialisierung, steigender Mieten und Verdrängungsprozessen erhalten bleiben kann.

Vom Kachelladen zum Kulturhaus Schwule und Lesben erkämpften Anfang der 1990er Jahre mit Unterstützung der rot-grünen Stadtregierung in Frankfurt einen alten Kachelladen in der Klingerstraße 6. Dem war ein längerer Prozess vorausgegangen: Bereits Ende der 1980er, also Jahre bevor ein lesbisch-schwules Kulturhaus in den stadtpolitischen Gremien diskutiert wurde, bildete sich ein Zusammenschluss aus ehemaligen Besetzer*innen der Gaugrafeninsel in Rödelheim, des Plenum Frankfurter Schwulengruppe, des Schwulenvereins Emanzipation e.V., der Arbeitsgemeinschaft Schwule bei den Grünen Frankfurt, der Aids-Hilfe Frankfurt sowie von Lesben aus dem Kreis der Lesben

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Abbildung 1: Eindruck aus der Zeitschriftensammlung im Lesbenarchiv am LSKH (Foto privat).

Informations- und Beratungsstelle und der Frankfurter Frauenschule. In einem Positionspapier forderte das Bündnis den Magistrat der Stadt Frankfurt auf, für die Gründung eines lesbisch-schwulen Kulturhauses die leerstehenden städtischen Gebäude in der Klingerstraße und in der Stoltzestraße zu übergeben. Warum gerade der stark sanierungsbedürftige Häuserkomplex in den Fokus des Bündnisses geriet, ist in Anbetracht des zeitlichen und räumlichen Kontextes offensichtlich: Unweit der Konstablerwache befanden sich bereits in den 1980er und -90er Jahren zahlreiche schwule und lesbische Orte und Einrichtungen (zum Beispiel die Oscar Wilde Buchhandlung, die Lesbenkneipe Madame oder die vorwiegend schwule Kneipe Na Und?). Die Nähe zu weiteren relevanten Einrichtungen der Bewegung war jedoch nur einer der zentralen Gründe für die Aneignung des Hauses für lesbische und schwule Kulturarbeit. Im Vordergrund stand das Anliegen, im Zentrum der Stadt einen repressions- und diskriminierungsfreien Ort zu gestalten, in dem sowohl politische Vernetzung und Organisation als auch Selbsterfahrung und Gemeinschaftsleben jenseits kommerzieller Zwänge möglich waren. Vor allem im Hinblick auf Anfeindungen im Zusammenhang mit der AIDS-Krise berichten Aktive aus der Gründungszeit über ein politisches Klima des drohenden ›Roll-Backs‹, der es nötig machte, Errungenschaften der Bewegung zu verteidigen und Raum für weitere Organisation zu sichern. Über die AG Schwule bei den Grünen Frankfurt gingen 1989 drei konkrete Forderungen in die rot-grünen Koalitionsverhandlungen ein: Finanzierung für die AIDS-Hilfe, ein Mahnmal zum Gedenken der Homosexuellenverfolgung (Frankfurter Engel, seit 1994 am Klaus-Mann-Platz) sowie ein Haus für lesbisch-schwule Kulturarbeit. Auf diesem Wege wurde dem Bündnis Lesbisch-Schwules Kulturhaus schließlich vom Magistrat und der Stadtverordnetenversammlung die städtische Liegenschaft in der Klingerstraße 6 zur Miete überlassen sowie finanzielle Unterstützung für kulturpolitische Projekte und für die anstehenden Renovierungs- und Umbaumaßnahmen zugesprochen.

30 Jahre Lesbisch- Schwules Kulturhaus

Im Frühling 1991 öffneten die Türen des LSKH mit einem feierlichen Empfang. Während die NPD im Römer noch die Finanzierung des Hauses zu verhindern versucht hatte, sprachen zur Eröffnung des Hauses Vertreter*innen aus vier verschiedenen städtischen beziehungsweise Landesbehörden ihre Grußworte. Anerkennung und Sichtbarkeit in der Mehrheitsgesellschaft Frankfurts war eines der wichtigsten Anliegen für viele der Aktivist*innen, die sich für das LSKH eingesetzt hatten. Die beiden Trägervereine Emanzipation e.V. und Lebendiges Lesben Leben e.V. (LLL e.V.) sahen besonders in kulturpolitischen Veranstaltungen die Chance, lesbische und schwule Lebensentwürfe und Kulturarbeit als selbstverständlichen Teil der Stadtgesellschaft zu etablieren. Ursprünglich hatte es Pläne gegeben, zusammen mit der AIDS-Hilfe auch ein Wohnprojekt für an AIDS erkrankte Menschen in den Gebäuden der Stoltze- und Klingerstraße einzurichten – diese Pläne mussten, wie viele andere Gestaltungsideen für das Haus, aufgrund fehlender finanzieller Mittel und der Streichung von Geldern durch die Stadtverordnetenversammlung aufgegeben werden. Mit der Einrichtung des LSKH in der Klingerstraße ist auch ein anderes Stück Bewegungsgeschichte Frankfurts verbunden. ›Eine Stadt für alle!‹ – das meint auch sich Raum nehmen, sich zeigen und die eigene Lebensrealität in der Stadt sichtbar machen. Beispielsweise auf Demonstrationen, Straßenfesten und Paraden, wie sie heute am ›Christopher Street Day‹ (CSD) stattfinden. Im Zusammenhang mit dem Frankfurter CSD spielt auch das LSKH eine wichtige Rolle: Seinen Anfang nahm der Frankfurter CSD nämlich in der Klingerstraße. Zwischen 1991 und 1994 fand dort das zunehmend gut besuchte Klingerstraßenfest statt, meist als Abschluss der Demons­ trationen zur ›Homosolidarität‹. 1991 wurden in diesem Zusammenhang bereits die so genannten ›Lesbisch-Schwulen-Kulturtage‹ ausgerichtet: Das Lesbisch-Schwule Kulturhaus organisierte mit anderen Einrichtungen das Straßenfest und ein Veranstaltungsprogramm, das verschiedene Orte der Stadt bespielte. Erst einige Jahre später zog das Fest auf die Konstablerwache um und wurde dort gemeinsam von LLL e.V., Emanzipation e.V. und Community e.V. ausgerichtet. Inzwischen hat sich der CSD Frankfurt zu einer kommerziellen Massenveranstaltung entwickelt und wird von einem eigenen Verein, CSD Frankfurt e.V., organisiert. Demgegenüber lebt der Kulturbetrieb am LKSH seit der Gründung von der Eigeninitiative der Nutzer*innen: Sie veranstalten Kunstaktionen und Workshops, organisierten in den 1990ern ein Frühstück beim wöchentlichen Brunch und bis heute Kaffee und Kuchen beim ›LesCafé‹, sie singen und sangen im Chor der Liederlichen Lesben, und unterhalten im 2. Stock des LSKH das Frankfurter Lesbenarchiv.

Das Lesbenarchiv Frankfurt Das Lesbenarchiv, das sich seit 1991 im LSKH befindet, war und ist ein wichtiger Ort für lesbische Bewegungs- und Kulturgeschichte in Frankfurt. Es ist, neben dem Spinnboden – Lesbenarchiv und Bibliothek in Berlin, das deutschlandweit einzige ehrenamtlich betriebene Archiv für lesbische Geschichte. Bereits 1989, wenige Jahre vor Gründung des LSKH, hatten sich einige Frauen* zusammengeschlossen, um in den Räumen der Lesben Informations- und Beratungsstelle (LIBS), damals noch in der Rotlintstraße im Frankfurter Nordend, ein Archiv zur Dokumentation von lesbischem Leben zu schaffen. Den Mitbegründer*innen des Lesbenarchivs ging es nicht allein darum, in der Vergangenheit nach unbeachteten Lesben zu forschen,

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sondern vor allem darum, im ›Hier und Jetzt‹ lesbisches Leben für die Zukunft zu dokumentieren und so weitere Überlieferungsbrüche zu verhindern. Mit diesem Vorhaben waren sie Teil einer internationalen Archivbewegung innerhalb der Frauen-, Lesben- und Schwulenbewegung. Bereits 1974 hatten sich in New York City die Lesbian Herstory Archives gegründet. Bedingt durch die globale AIDS-Krise in den 1990er Jahren gewann das Bedürfnis, die Geschichte der lesbisch-schwulen Bewegung vor dem Vergessen zu bewahren, noch einmal an enormer Dringlichkeit. Die Gründer*innen des Lesbenarchivs schreiben dazu 1990 in einem Konzeptpapier: »Das LesbenArchiv entstand aus dem dringenden Bedürfnis, die verschwiegene, verschüttete, verfälschte Geschichte der Lesben, ihrer Lebensverhältnisse in Vergangenheit und Gegenwart, die von ihnen geleistete Arbeit und das von ihnen erarbeitete Wissen sichtbar zu machen und zu dokumentieren.« »Wir wollen im Lesbenarchiv die Lesben in ihrer Gesamtheit darstellen, in ihrem privaten, kulturellen, sozialen und politischen Lebenszusammenhang und nicht […] aus einzelnen Perspektiven der Psychologie, Medizin oder gar der Kriminologie heraus. Wir […] verstehen uns deshalb als Politikum mit dem Ziel der Öffentlichkeitsarbeit.«

Die Sammlung des Lesbenarchivs beinhaltet nach aktuellem Stand 4.800 Bücher von, über und mit Lesben, 120 VHS Kassetten, 330 DVDs, circa 120 TV-Kopien im VHS Format, 140 Musik-CDs, 720 Plakate sowie ein großes Zeitschriftenarchiv. Kern des Lesbenarchivs bildet die Literatursammlung lesbischer und queerer Autor*innen. Im Vergleich zu den übrigen Sammlungen im Zeitschriftenarchiv, die stärker gegenwarts- und ortsbezogen sind, war hier der Anspruch, eine historische Bestandsaufnahme lesbischer Autor*innen zu versuchen und ihre Werke, soweit möglich, vollständig in den Bestand des Archivs aufzunehmen. Für diese Bestandsaufnahme wurden Sybille Brüggemann und Anke Schäfer, zwei zentrale Protagonistinnen der Frauenbuchladen-Bewegung, beauftragt, eine möglichst umfassende Bibliografie lesbischer Literatur zu erstellen. Diese wurde 1991 im Selbstverlag des Lesbenarchivs Frankfurt unter dem Titel »Deutschsprachige Literatur von 1950-1991 für lesbische und andere neugierige Frauen zusammengetragen und erstellt von Sybille Brüggemann« veröffentlicht. Seitdem wächst der Literaturbestand des Lesbenarchivs kontinuierlich um neue Publikationen an, sei es durch Neuanschaffungen oder durch Buchspenden aus der Community. Bedingt durch die jeweiligen Netzwerke der Archivfrauen* finden sich im Bestand auch viele englischsprachige, holländische und andere nicht-deutschsprachige Bücher, die dem Archiv gespendet wurden. Nicht nur in Hinblick auf die Sammlungspolitik, sondern auch in Hinblick auf die Zugänglichkeit des Literaturbestands folgt das Lesbenarchiv dem Prinzip des Living Archives: Es lebt von der Beziehung zur lesbisch-­ queeren Community in Frankfurt und Umgebung. Alle Bücher können im Sinne einer Bibliothek auch ausgeliehen und zuhause gelesen werden. Die Sichtbarkeit von queeren Autor*innen und Geschichten fördert das Lesbenarchiv außerdem durch öffentliche Veranstaltungen wie die jährlich stattfindende lesbisch-schwule Lesenacht im Zusammenhang mit der Frankfurter Buchmesse oder durch einen Bücherstand auf dem CSD. Aktuell steht das Archiv vor einem Generationenumbruch, der eine große Herausforderung darstellt. Die Gründerinnen aus den 1990er Jahren sind inzwischen nicht mehr aktiv und langjährige Archivarinnen sind aufgrund von Krankheit oder Alter nicht mehr lange in der Lage, die seit Jahren

30 Jahre Lesbisch- Schwules Kulturhaus

unentgeltlich verrichteten Arbeiten im Archiv fortzuführen. Auch die Lage des Archivs – im dritten Stock ohne Aufzug – bildet hier eine große Barriere. Ferner werden die Räumlichkeiten zu klein, die Technik braucht Updates und die Öffentlichkeitsarbeit kostet heute mehr Zeit und Fertigkeiten als jemals zuvor. Zu den Herausforderungen eines Generationenumbruches gehören außerdem oft Debatten, die eigentlich schon seit Generationen und quer durch alle Altersgruppen geführt werden – vor allem die Frage, wer in die lesbische Bewegung eingeschlossen und wer ausgeschlossen wird. Wie lassen sich in einem historisch als Lesbenarchiv gewachsenen Ort auch das Leben und die Kämpfe von jenen Menschen dokumentieren, denen bei der Geburt zwar ein weibliches Geschlecht zugeteilt wurde und die nicht (nur) mit cis-Männern1 romatisch-sexuelle Beziehungen möchten, die sich aber trotzdem nicht als Frauen* und Lesben* bezeichnen wollen? Verliert das

Archiv seine lesbische Identität, wenn auch (Lebens-)Geschichten queerer Menschen, Schriftstücke zu nicht-binären und trans Identitäten oder Medien von und für aromantische/asexuelle und intersexuelle Personen aufgenommen werden? Geht mit den vermehrt im Archiv aktiven jungen Leuten womöglich die lesbische Tradition, Sprache und Symbolik verloren? Oder kann durch diese neuen Impulse tatsächlich ein inklusiver, vielfältiger Raum geschaffen werden, in dem sich der lesbischen Kultur verbundene Personen unterschiedlichster Identitäten wiederfinden und sicher fühlen?

Ein queeres Community-Haus Dieser Generationenumbruch lässt sich nicht nur im Lesbenarchiv, sondern im gesamten Lesbisch-Schwulen Kulturhaus spüren. Vom alten Fliesenladen, der vor dem LSKH in der Klingerstraße 6 war, ist heute nicht mehr viel übrig: 30 Jahre sind eine lange Zeit und sowohl das Haus als auch die im Haus aktiven Menschen sind gealtert, einige sind nicht mehr aktiv, andere sind hinzugekommen und viele Dinge haben sich verändert und verändern sich weiter. Um, bei aller notwendigen Veränderung, die

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Abbildung 2: Einladung zum Archivsalon Dezember 2019 (Design Ka thrin Schleich).

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Abbildung 3: Das LSKH im Sommer 2020 (Quelle: privat).

30-jährige Geschichte des Hauses nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, wurde unter anderem Anfang 2020 die Ausstellung ›Vom Kachelladen zum Regenbogenmosaik – das LSKH, eine lesbisch, schwule, queere Geschichte‹ organisiert. Mittelpunkt der Ausstellung waren persönliche Geschichten von im LSKH aktiven Personen: Fünf Personen der ›Gründer*innengeneration‹ wurden in Fotos, Objekten und Interviewausschnitten portraitiert und fünf Personen der ›jungen Generation‹ erzählten live auf der Vernissage von ihrer Beziehung zum und ihren Wünschen für das LSKH. Damit war ein erster Schritt getan, um zwischen den Generationen und Gruppen im Haus in einen Dialog darüber zu kommen, was die queere Community bewegt, warum sie das LSKH braucht und was am Haus als einem wichtigen Ort der lesbisch-schwul-queeren Bewegung Frankfurts noch immer wichtig ist. Fragen zu gesellschaftlicher Akzeptanz, die für die ältere Generation zentral waren, als sie das Haus erstritten haben, stellen sich heute für die jüngere Generation teilweise immer noch, aber meistens anders als damals. Zum Beispiel gibt es viele der Konfliktlinien zwischen Schwulen und Lesben für die jüngere Generation nicht mehr auf dieselbe Art. Hier und da scheinen Altlasten der früheren Auseinandersetzungen jedoch noch in einer staubigen Ecke des Hauses festzusitzen. Für viele aus der jüngeren Generation (aber nicht

30 Jahre Lesbisch- Schwules Kulturhaus

nur der jüngeren) stellen sich heute Fragen der Identität anders. Was heißt es also, am LSKH queer, nicht-binär, trans, bi-, inter- oder asexuell zu sein? Ist das Sternchen* zwangsläufig der Untergang der lesbisch-­feministischen Errungenschaften? Wieso stellen sich ›die Schwulen‹ eigentlich dieser ›Sternchen*-Frage‹ nicht auf dieselbe Weise? Wieso sind am Haus vor allem weiße Schwule und Lesben aktiv geworden und wieso haben migrantische Gruppen das Haus weniger stark genutzt oder es wieder verlassen? Diese und andere Fragen bestimmen aktuell die Auseinandersetzungen im LSKH. Verändert haben sich in den letzten 30 Jahren aber auch das alternde Haus selbst und die Anforderungen daran: Nach vielen Jahren sind die Böden abgenutzt und springen auf, einige der kaputten Lampen können nicht mehr nachbestellt werden, der Raum des Archivs ist eigentlich lange schon zu klein, Anstriche müssen erneuert werden und die Toilettensituation ist ungünstig. Vor allem aber: Das Haus, inklusive des Lesbenarchivs und der Büroräume im 2. Stock, ist immer noch nicht barrierefrei. Das war für Menschen mit körperlicher Behinderung schon immer ein Problem, aber es wird zusehends auch für jene zum Hindernis, die lange am LSKH aktiv waren und das Haus nun aufgrund fortgeschrittenen Alters oder Krankheit nicht mehr so nutzen können wie vor einigen Jahren. Hieran muss sich dringend etwas ändern. »Alle wollen alt werden, keiner will es sein! Wir schon!« – das ist seit den 1990ern das Motto der schwulen Gruppe 40+ am LSKH. Ein Anfang wurde mit ehrenamtlich organisierten Streicharbeiten im Frühling 2020 gemacht, aber es gibt noch viel zu tun und die finanziellen Ressourcen für Renovierungsmaßnahmen sind knapp. Neben dem physischen Gebäude besteht das Haus natürlich auch aus einer Verwaltungsstruktur, die bisher von wenigen Menschen ehrenamtlich gestemmt wird. Es fallen eine Menge administrativer, organisatorischer und buchhalterischer Arbeiten an, die erledigt werden müssen, um das Alltagsgeschäft des Hauses am Laufen zu halten. Um diese Arbeiten kümmert sich seit 2012 allein der lesbische Trägerverein LLL e.V. – wie an den meisten Orten unserer Gesellschaft stemmen auch im LSKH vor allem die Frauen* den ›Haushalt‹. LLL e.V. trägt die Finanzierung des Hauses nicht nur durch Mitgliedsbeiträge, sondern auch durch die Koordination der Vermietung von Räumen, ohne die sich das LSKH trotz der Förderung der Stadt Frankfurt nicht tragen kann. Zu dem Alltagsgeschäft und den Arbeiten, die zum Erhalt eines Community-Hauses nötig sind, gehört nicht nur die Haushaltsführung im Sinne der Buchhaltung, sondern gehören natürlich auch die ›banalen‹ Haushaltsaufgaben: Das Mülltonnen-Rausstellen, das Pfandflaschen-Sortieren, das Toilettenpapier-Besorgen und so weiter. Wie das bei ehrenamtlicher Arbeit meist so ist, erledigt auch hier eine sehr kleine Personenzahl für viele andere eine erhebliche Menge an Arbeit, damit viele verschiedene Gruppen am LSKH zuhause sein können. Seit gut drei Jahren gibt es deswegen Versuche am LSKH, die Vorteile der Trägerschaft durch die Vereinsstruktur zu nutzen und dennoch die Arbeit auf mehr Schultern zu verteilen und die Organisation transparenter zu gestalten, damit sich mehr Menschen einbringen können. Dazu gehört seit 2018 ein offenes Hausplenum, das regelmäßig stattfindet und zu dem alle Gruppen eingeladen sind. Durch ein gemeinsames Forum soll es langfristig möglich werden, wichtige Entscheidungen gemeinschaftlich treffen zu können und kollektiv Verantwortung für das Haus zu übernehmen. Die Fähigkeit, ein Community-Haus gemeinsam zu gestalten und Verantwortung zu teilen, ist etwas, das gelernt werden kann: Einzelne können lernen, wie die Buchhaltung funktioniert und Gemeinschaften können lernen, sich zuzuhören und sich kollektiv zu organisieren. Aber für das politische Projekt

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der Community-Bildung braucht es Geduld, Zeit und Kapazitäten. Vor allem Zeit haben viele der Jüngeren nur wenig und viele der Älteren schaffen nicht mehr so viel wie früher. Anders als bei vielen etablierten Einrichtungen und Trägervereinen in Frankfurt gibt es am LSKH keine festen geförderten Stellen. Neben dem aufwendigen Alltagsgeschäft ehrenamtlich und über kollektive Zusammenarbeit die Strukturen am Haus für die Zukunft fit zu machen, ist keine einfache Aufgabe. Obwohl das Haus und seine ›Bewohner*innen‹ in 30 Jahren gealtert sind, kommen seit einigen Jahren wieder mehr jüngere Menschen dazu. Im Moment wird das Haus von über 20 verschiedenen Gruppen genutzt und es werden kontinuierlich mehr – das Haus ist von außen zwar unscheinbar und hat keine festen Öffnungszeiten, es ist aber stark genutzt und teilweise voll ausgelastet. Es ist ein Ort für Selbsthilfe- und politische Gruppen, für gemeinsam verbrachte Freizeit von Spieleabenden über Voguing bis zu Chorsingen, für Lesungen und Partys und immer wieder auch für einmalige Veranstaltungsreihen wie die ›Queeren Generationendialoge‹ 2019/2020. Dabei ist das Haus gleichermaßen ein Ort für langjährige Institutionen wie das ›LesCafé‹ und das Lesbenarchiv und für neue Ideen wie die regelmäßigen queeren Barabende. Es geht, wie früher auch, um Selbstorganisation, um politische Arbeit und um Kultur: Tanz, Chor, Film, die lesbisch-schwule Lesenacht, die legendären Silvesterpartys, die Sommerfeste in der Klingerstraße. Es geht darum, zusammenkommen und am sozialen und kulturellen Leben teilhaben zu können, auch wenn nicht viel Geld da ist – denn Prekarität, Arbeitslosigkeit und (Alters-)Armut spielen auch am LSKH eine Rolle. Es geht darum, angstfrei und unbeschwert mit anderen Lesben, Schwulen und queeren Menschen zusammen sein zu können, einen Raum zu haben, an dem alle sein dürfen und zwar auch in ihrer Unterschiedlichkeit, denn nicht alle haben dieselben Bedürfnisse. Das LSKH versucht seit vielen Jahren einen Balanceakt zu schaffen – einen Schutzraum zu bieten, in dem Gruppen die Jalousien geschlossen haben dürfen und andererseits die Türen öffnen können, um in einem Rudel wundervoller queerer Menschen mit einem Drink auf der Klingerstraße in der Sonne zu sitzen. Das LSKH war und ist ein wichtiger Baustein in einem viel größeren Prozess, den es braucht, um ›Städte für alle!‹ zu lebenswerten Orten, zu Lebensorten zu machen. Dabei gilt es, die vielen unterschiedlichen Bedürfnisse der Nutzer*innen im Blick zu behalten und immer wieder Fragen nach Zugang und Ausschlüssen zu stellen. Der erkämpfte Raum muss erhalten und verteidigt werden: Bücher archiviert und gelesen, Geschichte bewahrt und neuen Ideen ausprobiert werden. Dies gelingt im LSKH durch die kontinuierliche finanzielle Unterstützung der Stadt Frankfurt und Unmengen ehrenamtlicher Arbeit. Doch viele andere queere Orte, vor allem für FLINT* (Frauen*, Lesben*, intersexuelle, nicht-binäre und trans Personen), sind in Frankfurt inzwischen verschwunden oder von steigenden Mieten und Verdrängungsprozessen bedroht, Raum für neue Treffpunkte und Projekte ist nur schwer zu erschließen. Die Forderung ›Recht auf Stadt‹ ist für die queere Community Frankfurts also heute so aktuell wie vor 30 Jahren, als die Gründer*innen das LSKH aus seinen Kacheln schälten. Die Autor*innen dieses Beitrages sind seit Anfang 2019 im Lesbenarchiv und dem LSKH aktiv, verkaufen Bücher am Bücherstand des Lesbenarchivs auf dem CSD, schieben hier und da Barschichten auf dem queeren Barabend, unterstützen den Beirat des Trägervereins LLL e.V. und organisieren den Archivsalon im Lesbenarchiv.

30 Jahre Lesbisch- Schwules Kulturhaus

Dieser Artikel wurde auf der Grundlage von Interviews mit dem ehemaligen Vorstand von LLL e.V. und einer langjährigen Mitarbeiterin des Archivs, Gisela aus Isseborsch, erarbeitet. Außerdem dienten als Quellen: » Material aus der Ausstellung »Vom Kachelladen zum Regenbogenmosaik – das LSKH: eine lesbisch, schwule, queere Geschichte« » der Radiobeitrag »LLL e.V. im Interview«, Freies Radio Frankfurt, 1997 » der bibliografische Katalog »Deutschsprachige Literatur von 1950 - 1991 für lesbische und andere neugierige Frauen zusammengetragen und erstellt von Sybille Brüggemann im Auftrag des LLL-Verein, Frankfurt«, im Selbstverlag publiziert 1991 » Diplomarbeit von Andreas Klinkert: »Lesbisch-Schwules Kulturhaus«, Darmstadt: Fachhochschule Darmstadt, 1991 » die Chronik des Frankfurter CSD, wie sie auf der Homepage des CSD dargestellt wird: https://csd-frankfurt.de/chronik/

Endnoten Titelbild 1

Quelle: Ka thrin Schleich

Cis-Mann/cis-Frau bezeichnet jene Personen, die sich mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde und dieses Geschlecht als solches leben.

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Ein Gespräch über das Autonome Frauenhaus als feministischer Ort zwischen Hilke Droege-Kempf, Doris Feld und Stella Schäfer

Das Autonome Frauenhaus in Frankfurt am Main entstand in den 1970er Jahren durch die Kämpfe der Frauenbewegung. Das Gewaltverhältnis zwischen den Geschlechtern war zu dieser Zeit ein zentrales Thema. Die Bewegung zeichnete sich unter anderem dadurch aus, dass Frauen durch Erfahrungsberichte und den gemeinsamen Austausch Ungleichheiten und Diskriminierungen nicht länger als persönlichen Schicksalsschlag hinnahmen. Das Recht über den eigenen Körper, Sexualität, Verhütungsmittel und Abtreibungen selbst zu bestimmen und ein gewaltfreies Leben waren zentrale Forderungen. Die feministische Bewegung kritisierte die Akzeptanz der Gewalt gegen Frauen, wie bei Vergewaltigungen und Sexismus, der Gewalt in der Familie sowie durch Partner, aber auch Vorurteile gegenüber gewaltbetroffenen Frauen. Für den Austausch über diese tabuisierten Themen wurden Frauenzentren gegründet. Diese Orte wurden basisdemokratisch und autonom von Frauen betrieben. Von hier aus wurden Räume für eine praktische Unterstützung erschlossen, wie zum Beispiel Frauengesundheitszentren, psychologische Beratung, Frauenhäuser, Notruf und Beratung für von Gewalt betroffene Frauen und Mädchen und Kurse in Selbstverteidigung. Autonome Frauenhäuser machten das Thema Gewalt gegen Frauen zu einer Zeit öffentlich, als der staatliche Schutz von Ehe und Familie keineswegs den Schutz der Ehefrauen und Kinder vor männlicher Gewalt vorsah. Ihr Ziel war es, die Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen zu beenden. Das Autonome Frauenhaus in Frankfurt am Main ist ein feministischer Ort, der das Recht auf Teilhabe und Leben für Frauen in der Stadt ermöglichen soll. Seit einigen Jahren nimmt die Zahl gewaltbetroffener Frauen in Deutschland zu. So wurden im Jahr 2019 laut Statistik des Bundeskriminalamtes insgesamt 141.792 Personen (2017: 138.893) Opfer versuchter und vollendeter Gewalt in Paarbeziehungen: 81 % davon sind Frauen, 19 % Männer (Bundeskriminalamt 2020). Die Ergebnisse der letzten Prävalenzstudien deuten jedoch an, dass jede vierte Frau im Verlauf ihres Lebens Gewalt erfährt. Durch die Statistiken des Bundeskriminalamtes wird also nur ein Ausschnitt der tatsächlichen Gewaltbetroffenheit dargestellt (Schröttle 2017). Gleichzeitig kritisieren feministische Bewegungen zunehmend den Sexismus und die Frauenfeindlichkeit in der Gesellschaft. In den letzten Jahren sorgten zum Beispiel das Hastag #metoo, das auf die Betroffenheit durch sexualisierte Gewalt aufmerksam machte, oder die Prosteste gegen Femi(ni) zde, das heißt gegen die Tötungen von Frauen aufgrund des Geschlechts, für

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Aufmerksamkeit. Der Kampf gegen Gewalt an Frauen ist also immer noch aktuell. Frauen können im Frauenhaus Schutz vor Gewalt finden. Durch das Gemeinschaftsleben, die gegenseitige Unterstützung und den parteilichen Ansatz der Mitarbeiterinnen erfahren sie, dass sie keine Verantwortung für die erfahrene Gewalt tragen und ihnen das Recht auf ein gewaltfreies Leben zusteht. Durch einen praktischen Feminismus wollen die Frauenhäuser dieses Leben ermöglichen. Orte wie Frauenhäuser stehen deswegen beispielhaft für die Möglichkeit einer offenen, solidarischen und sozial gerechten Stadt. Erzählt doch bitte etwas zu der Geschichte des Autonomen Frauenhauses in Frankfurt. Wo und wann beginnt sie? Wie wurde aus einer Bewegung eine bekannte Einrichtung?

Abbildung 1: 1978 die Initiatorinnen renovieren das Frauenhaus mangels Unterstützung selbst (Quelle: Verein Frauen helfen Frauen).

Der Frankfurter Verein Frauen helfen Frauen gehört zu den ersten deutschen Initiativen, die das Problem Gewalt gegen Frauen praktisch angingen. Der Verein entstand im Frühjahr 1976 und wurde von engagierten Frauen aus der Frauenbewegung gegründet. Die Gründung von Frauenhäusern war ein wichtiges Ziel der Frauenbewegung in Deutschland. Hilfe und Unterstützungsnetzwerke für misshandelte Frauen waren vor der Gründung der ersten Frauenhäuser in der BRD nicht vorgesehen und institutionalisiert,

Ein Gespräch über das Autonome Frauenhaus als feministischer Ort

darüber hinaus waren die Frauen quasi rechtlos. Die Bewegung in Frankfurt forderte also ein Haus, in dem Frauen sich gegenseitig unterstützen können. Um das zu erreichen, fanden zahlreiche Demonstrationen und unter anderem auch ein Besuch im Sozialdezernat statt. Zwischen 1976 und 1978 konnte der Verein Frauen helfen Frauen, in Ermangelung einer geeigneten Liegenschaft mit Wohnmöglichkeiten, erst einmal nur Beratungen in der ersten Frauenberatungsstelle des Vereins in der Zeißelstraße anbieten. Durch die Hilfe und Vermittlung einer SPD-Stadtverordneten konnte 1978 ein geeignetes Haus angemietet werden. Die Gründerinnen verstanden ihre Arbeit vorrangig als politische Arbeit, die ehrenamtlich im Rahmen eines Selbsthilfeprojektes geleistet werden sollte. Bis 1980 gab es für den Verein, aber auch für viele andere Autonome Frauenhäuser, keine staatlichen Gelder. Die Finanzierung lief hauptsächlich über Spenden, Bußgelder1 und Mieteinnahmen durch die Bewohnerinnen. Es zeigte sich bald, dass auf der Basis der Ehrenamtlichkeit weder eine kontinuierliche Arbeit mit den Frauen und Kindern noch die Verwaltung des Vereins zu leisten war. Zudem ließ sich die ehrenamtliche Arbeit nicht mit den frauenpolitischen Forderungen der Frauen- und Frauenhausbewegung vereinbaren. Ehrenamtliche Arbeit in der Gesellschaft wurde in der Zeit vor der Frauenbewegung, und zum Teil auch heute noch, in erster Linie von Frauen geleistet. Die Projektgruppen forderten deswegen eine Finanzierung der Frauenhäuser und der dort geleisteten Arbeit. Der erste Antrag auf Finanzierung wurde 1978 an die Stadt Frankfurt gestellt und abgelehnt. Weitere Anträge folgten. Im April 1980 wurde im Ausschuss für Jugend und Soziales die Finanzierung von Personalkosten endgültig abgelehnt mit der Begründung: »Kein Geld für Radikalfeministinnen«. Dennoch erhielten der Verein sowie alle anderen hessischen Frauenhäuser 1980 die erste finanzielle Unterstützung durch das Land Hessen. Erst seit 1990 erhält das Autonome Frauenhaus Frankfurt zusätzliche Mittel von der Stadt Frankfurt. Der feministische Slogan »Das Private ist politisch!« stammt aus dieser Zeit. Das wichtigste Anliegen der Frauenbewegung war, durch die Proteste zu zeigen, dass Gewalt kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem ist und dass die Ungleichheiten zwischen Mann und Frau Ausdruck eines tief verwurzelten, alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfassenden Herrschaftssystems, des Patriarchats, sind. Wie muss man sich die Situation zu der Entstehungszeit vorstellen?

Alles, was sich innerhalb der Ehe und Familie abspielte, wurde in der Zeit der Gründung der Frauenhäuser, aber auch noch lange danach – praktisch bis 1994 – durch den Staat geschützt. Dies bedeutete konkret, dass bei einem Polizeieinsatz wegen häuslicher Gewalt der Täter oder das Opfer gefragt wurden, ob sie verheiratet sind. Wurde diese Frage bejaht, zog die Polizei sofort wieder ab. Physische Gewalt in der Ehe war keine Straftat beziehungsweise bedurfte einer Anzeige durch die Geschädigte. Vergewaltigung in der Ehe war ebenfalls keine Straftat, sondern das Recht des Ehemannes auf Beischlaf. Erst 1994 verständigten sich die Justizminister der Länder darauf, das öffentliche Interesse bei einfacher Körperverletzung zu bejahen, 1997 wurde Vergewaltigung in der Ehe zum Offizialdelikt erklärt. Zum Erlass eines Gewaltschutzgesetzes kam es im Jahr 2002. Die Feministinnen haben all diese Missstände öffentlich gemacht und angeprangert. Ohne die unermüdliche Darstellung der Missstände in vielen Lebensbereichen von Frauen und den damit verbundenen politischen Forderungen nach Veränderungen hätten sich die Lebensumstände vieler Frauen bis heute nicht verändert. Der

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Slogan »Das Private ist politisch!« bedeutete also, auf die gesellschaftlichen Missstände im Privaten aufmerksam zu machen und Veränderungen zu ermöglichen. Mittlerweile ist die Situation eine andere. Heutzutage ist zum Beispiel Gewalt in Paarbeziehungen keine rein private Sache mehr, sondern der Staat mischt sich ein. Autonome Frauenhäuser sind zwar immer noch in Vereinen organisiert, aber inzwischen sind es anerkannte Institutionen. Was hat sich eurer Meinung nach verändert? Was ist geblieben?

Bezogen auf das Autonome Frauenhaus Frankfurt und die Beratungs- und Interventionsstelle des Vereins sind wir aus der sozialen Landschaft der Stadt Frankfurt nicht mehr wegzudenken. Die Wogen sind schon lange geglättet. Die Zusammenarbeit zwischen dem Verein Frauen helfen Frauen, der Polizei und Justiz, den sozialen Einrichtungen und Beratungsstellen der Stadt Frankfurt und vielen privaten Trägern funktioniert heute sehr gut und ist von gegenseitiger Wertschätzung geprägt. Heute sind wir als Spezialistinnen beziehungsweise Fachfrauen im Bereich häuslicher Gewalt anerkannt und arbeiten in Kooperation mit Ämtern und der Polizei. Im Jahr 1985 eröffnete der Verein ein zweites Frauenhaus mit 20 Plätzen. Im Jahr 2004 wurden die insgesamt 60 Plätze für Frauen und Kinder in einer restaurierten denkmalgeschützten Hofreite als nunmehr einzigem Standort zusammengelegt. Die Frauenhäuser haben sich in den letzten Jahrzehnten professionalisiert und gleichzeitig den Projektcharakter erhalten. So sind zum Beispiel alle Autonomen Frauenhäuser in Hessen in Dachverbänden wie der Landesarbeitsgemeinschaft der Autonomen Frauenhäuser und bundesweit in der Zentralen Informationsstelle der Autonomen Frauenhäuser (ZIF) organisiert. Auch rechtlich und in der Praxis der Polizei wurde einiges erkämpft. Am 05.07.1997 erließ der Gesetzgeber eine Neufassung des §177 StGB, der den Tatbestand Vergewaltigung in der Ehe endlich unter Strafe stellte. Im Jahr 2002 wurde das Gewaltschutzgesetz2 erlassen, das unter dem Motto »Wer schlägt, der geht« Wegweisungen3 der gewalttätigen (Ex-)Partner ermöglicht. Es gab aber auch negative und problematische Entwicklungen für die betroffenen Frauen. Im Jahr 2008 wurde in der Kindschaftsrechtsreform, welche die Kinderrechte stärken sollte, das Wohl von Kindern aus Misshandlungsbeziehungen nicht berücksichtigt – und das ist bis heute der Fall. Die Regelung des Umgangsrechts für die Väter wurde erleichtert. Was zunächst positiv klingt, brachte fatale Folgen mit sich – denn die Stärkung der Väterrechte wurde ohne den Schutz vor dem gewalttätigen Vater und Ehemann vorangebracht und schwächt somit die Rechte von Frauen und Kindern. Das führt zu Problemen in der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt. Wie sieht die Arbeit des Frauenhauses aus? Was bedeutet es, wenn Frauenhäuser sich professionalisieren, aber gleichzeitig einen Projektcharakter beibehalten?

Charakteristisch für den Verein Frauen helfen Frauen, aber auch für die meisten anderen Autonomen Frauenhäuser ist, dass die Arbeit nach wie vor in einem gleichberechtigten Frauenteam organisiert ist. Wir begreifen unsere Arbeit im Frauenhaus nicht nur als Soziale Arbeit mit Klientinnen, sondern wir begreifen uns seit jeher als feministisches Projekt. Das bedeutet, das Team stellt das Management und leistet gleichzeitig die konkrete Arbeit vor Ort. Die Arbeit im Verein wird als politische Arbeit begriffen. Der Verein Frauen helfen Frauen ist Ausbildungsstätte für Diplompädagoginnen und Sozialarbeiterinnen im Anerkennungsjahr. Von den jungen Frauen in

Ein Gespräch über das Autonome Frauenhaus als feministischer Ort

Ausbildung bekommen wir durchweg sehr positive Rückmeldungen für diese Organisationsform. Wir sind in unserer Arbeit im Frauenhaus und in der Beratungsstelle mit Kernthemen menschlichen Lebens, nämlich Liebe und Partner*innenschaft, in all ihren Ausformungen konfrontiert und damit auch immer mit uns selbst, mit unseren Werten und Wünschen. Fragen, die man sich stellen muss, sind: »Wie lebe ich als Frau in unserer Gesellschaft, was kritisiere ich, wie lebe ich in meiner Partner*innenschaft, was möchte ich für mich und Frauen im Allgemeinen verändern?« Wir Mitarbeiterinnen im Verein Frauen helfen Frauen sind Anhängerinnen eines praktischen Feminismus, der die Lebensbedingungen von Frauen fokussiert. Das bedeutet für unsere Arbeit, dass wir das Thema Gewalt gegen Frauen immer wieder in die Öffentlichkeit tragen, immer wieder thematisieren, aufklären, Veränderungen und Konsequenzen fordern. Wir setzen uns dafür ein, dass Frauen, die von partnerschaftlicher Gewalt betroffen sind, in vielfältiger Weise vom Gesetz geschützt werden und lassen in der Umsetzung der Istanbul-Konvention4 nicht locker. Wir setzen uns dafür ein, dass Frauen ihre Partner*innen selbst wählen dürfen; kurz wir setzen uns für das Selbstbestimmungsrecht von Frauen ein, auch im Zusammenhang mit § 218 des Strafgesetzbuches, das heißt dem Recht auf Abtreibung. Wir setzen uns für gleichen Lohn, für gleiche Arbeit und gleiche Chancen am Arbeitsmarkt und in den Unternehmen ein. Wir setzen uns dafür ein, dass die Lebensbedingungen für Frauen mit Kindern berücksichtigt werden, dazu gehören ausreichende und qualitativ gut entwickelte Kindergarten- und Krippenplätze. Wir setzen uns für ein Recht auf bezahlbaren Wohnraum ein. Die meisten der eben genannten Punkte sind bis heute nicht zufriedenstellend erfüllt – für die Gleichstellung der Geschlechter sind sie aber unbedingt notwendig.

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Abbildung 2: Demonstration Anfang der 2000er in Wiesbaden. Die Finanzierung der Autonomen Frauenhäuser ist bis heute nicht zufriedenstellend gelöst (Quelle: Verein Frauen helfen Frauen).

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Wie gestaltet sich das Leben für die Bewohnerinnen im Frauenhaus?

Die erste Zeit im Frauenhaus ist bestimmt durch das Einleben in die Frauengemeinschaft und die Stabilisierung der emotionalen und körperlichen Verfassung. Insbesondere langjährige Misshandlungen haben bei den Frauen Spuren hinterlassen. Die zuständige Mitarbeiterin hilft der Frau, alle anfallenden Aufgaben und Herausforderungen zu bewältigen und durch Gespräche Klärungs- und Verarbeitungshilfen anzubieten. Oberstes Gebot aller Unterstützungsmaßnahmen ist dabei, die Eigenständigkeit der Frau zu stärken. Für viele Frauen ist es das erste Mal, dass sie die Erfahrung machen, dass sie es sind, die über ihr jetziges und zukünftiges Leben entscheiden. Das Frauenhaus hat keinen Heimcharakter. Es ist grundsätzlich Sache der Frauen, wie sie ihr Leben dort gestalten. Sie führen einen eigenen Haushalt und versorgen sich und ihre Kinder selbst und in Eigenverantwortung. Das Zusammenleben der Bewohnerinnen und ihrer Kinder gestaltet sich wie in einer großen Wohngemeinschaft. Küchen, Wohnräume, Spielzimmer, Toiletten und die Bäder werden gemeinschaftlich genutzt. Alle Frauen sind für die Hygiene des Hauses gemeinsam verantwortlich. Eine 14-tägige Hausversammlung regelt die Organisation und hilft, Probleme des Zusammenlebens zu klären. Was bedeutet der Slogan »Frauen helfen Frauen« der Autonomen Frauenhäuser?

Der Slogan ist bereits mehr als 40 Jahre alt und ist Ausdruck eines Bewusstseins. Heute bedeutet er vor allem noch, dass nur Frauen im Frauenhaus arbeiten und nur Frauen Mitglieder im Verein und Vorstand werden können. In der Gründerzeit der Frauenhäuser waren die Unterschiede im Geschlechterverhältnis, die Macht der Männer noch viel ausgeprägter als heute. Auch in den Institutionen der Sozialen Arbeit waren die Chefetagen von Männern besetzt und sind es zum Teil heute noch. Die Frauen arbeiten mit den Hilfesuchenden an der Basis und diese Jobs sind oftmals schlecht bezahlt. Diese Missstände haben sich in der Corona-Krise ganz deutlich in den mit Frauen besetzten Arbeitsfeldern gezeigt, wie beispielsweise in Krankenhäusern, Kindertagesstätten und Pflegeeinrichtungen. Welche Rolle spielt Solidarität im Frauenhaus?

Die Frauenhäuser arbeiten unter dem Motto »Hilfe zur Selbsthilfe«. Die Beratung ist ressourcenorientiert, sie soll den Frauen das schon Erreichte bewusst machen, im Feedbackgespräch Stärken betonen, kleinste Fortschritte würdigen und benennen. Ein weiterer Arbeitsgrundsatz ist das Recht auf Selbstbestimmung. Die Frau entscheidet, wie ihre Zukunft aussehen soll. Die Beratung soll Rechte, Optionen und Wahlmöglichkeiten eröffnen. Sich gegenseitig zu stärken ist eine große Ressource im Frauenhaus. Die Frauen erleben hier, dass sie mit diesem Thema nicht alleine sind. Oftmals sprechen sie hier zum ersten Mal über das Erlebte. Sie unterstützen sich gegenseitig, indem sie beispielsweise auf die Kinder aufpassen oder neue Bewohnerinnen bei Behördengängen begleiten. Häufig halten im Frauenhaus entstandene Freundschaften noch jahrelang. Wichtig ist, dass keine neuen Abhängigkeiten von Personen und Institutionen geschaffen werden. Was macht für euch das Frauenhaus als feministischen Raum aus?

Die oben genannten Arbeitsgrundsätze tragen dazu bei, dass die Frauen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Sie lernen hier sowohl durch die anderen Bewohnerinnen als auch durch die Mitarbeiterinnen verschiedene

Ein Gespräch über das Autonome Frauenhaus als feministischer Ort

Lebenskonzepte kennen. Sie lernen ein Projekt kennen, das von Frauen ermöglicht, aufgebaut und durch ein Frauenteam geleitet wird. Was sind heute wichtige Themen für die Frauenhäuser?

Zunächst möchten wir, dass die Frauenhäuser für alle misshandelten Frauen zugänglich sind. Das ist leider nicht der Fall. Die Autonomen Frauenhäuser haben bis heute keine pauschale Finanzierung der Plätze. Bis heute besteht das Modell der Mischfinanzierung der Frauenhäuser. Das bedeutet, dass ein Teil des Geldes vom Land Hessen, ein Teil durch den freiwilligen Zuschuss der Stadt Frankfurt und Teil über Spenden und Bußgelder finanziert wird. Ein weiterer, nicht unerheblicher Teil muss über die Miete durch die einzelne Bewohnerin finanziert werden. Die meisten Bewohnerinnen sind erst einmal nicht berufstätig und das Jobcenter übernimmt die Mietkosten. Eine langjährige Forderung der ZIF ist, dass die Frauenhäuser grundsätzlich eine solide Finanzierung erhalten. Gleichzeitig haben wir jetzt in der Corona-Krise den Status als ›systemrelevant‹ erhalten, das ist natürlich sehr widersprüchlich. Durch das bisherige Modell der Mischfinanzierung werden bestimmte Frauen aus der Finanzierung ausgeschlossen. Zum Beispiel kann der Schutz von Studentinnen und Auszubildenden, Frauen deren Aufenthaltsstatus ungeklärt ist und EU-Bürgerinnen, die noch nicht lange genug in Deutschland gearbeitet haben, nicht bezahlt werden. Sie alle haben keinen Anspruch auf ALG II oder andere soziale Transferleistungen. Manche Geograph*innen gehen davon aus, dass Frankfurt aufgrund der Warenströme und Migrationsbewegungen die Funktion einer Global City erfüllt, was sich besonders auf die Bewohner*innen der Stadt auswirkt. Denkt ihr, das Frauenhaus in Frankfurt unterscheidet sich zu anderen in Deutschland? Inwiefern unterscheidet sich die Situation für Frauen zu der in anderen Städten?

Großstädte wie Frankfurt waren schon immer attraktive Wohnorte für Menschen, die auf der Suche nach Arbeit sind und Frankfurt ist bereits seit den 1970er Jahren eine multikulturelle Stadt. Die Zusammensetzung der Bewohnerinnen im Frauenhaus war schon lange ein Spiegelbild der globalen gesellschaftspolitischen Entwicklungen und Missstände. Die ersten Migrantinnen im Frauenhaus gehörten den Gastarbeiter-Anwerbestaaten an, gefolgt von Asylbewerberinnen, Frauen aus Kriegsregionen und Frauen, die über den Heiratsmarkt ins Land kamen. Bereits Ende der 1980er Jahre hatten 80 % der Bewohnerinnen im Frauenhaus Frankfurt einen Migrationshintergrund. Wie in allen Großstädten in der Bundesrepublik sind bezahlbarer Wohnraum und Kindergartenplätze rar. Die Wohnungsnot führt dazu, dass die Verweildauer, also wie lang eine Bewohnerin im Frauenhaus lebt, wesentlich länger ist als in Frauenhäusern in ländlichen Regionen. Bereits zu den Anfangszeiten der Frauenhäuser wurde kritisiert, dass strukturelle Ungleichheiten als individuelle Problem dargestellt werden. Fallen euch aktuelle Beispiele ein?

Unsere Zusammenarbeit mit dem Buchprojekt ist in eine Zeit gefallen, in der die Corona-Pandemie auf ihrem ersten Höhepunkt war. In der Krise haben sich strukturelle Probleme in einer Deutlichkeit gezeigt, die nicht mehr ignoriert werden können. Bezogen auf unsere Arbeit im Frauenhaus und der Beratungsstelle bedeutet dies, dass gravierende Mängel in der Versorgung mit Frauenhausplätzen noch deutlicher wurden, aber auch hinsichtlich der Finanzierung der Unterbringung und Beratung von misshandelten Frauen, die in der BRD aufgrund ihres Aufenthaltsstatus keinen Anspruch auf

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Leistungen haben und deshalb auch keinen Gewaltschutz erhalten. Die steigenden Fallzahlen von Gewalt gegen Frauen in all ihren Facetten in einer progressiven, gut organisierten Gesellschaft werfen Fragen auf und erfordern Maßnahmen. Was die seit Jahrzehnten thematisierte ungleiche Bezahlung zwischen Männern und Frauen anbelangt, hat sich auch da in der Krise gezeigt, dass in der Regel die Frauen zuhause blieben und die Kinder versorgten. Das Einkommen der Männer liegt meist über dem der Frauen. Dies führt im Moment dazu, dass viele berufstätige Frauen sich dort wiederfinden, wo sie nicht hinwollten, nämlich zurück am Herd. Die Bearbeitung der wirtschaftlichen, mit der Pandemie verbundenen Probleme wird zeigen, ob unsere Gesellschaft diese Herausforderungen unter Berücksichtigung der Gleichheit zwischen den Geschlechtern meistert. Die Gleichstellungspolitik, in der viele Themen im Moment sehr stark diskutiert werden, muss dafür Sorge tragen, dass jahrzehntelange Forderungen endlich strukturell umgesetzt werden. Welche Rolle spielen Vorurteile und Misogynie für Frauenhausbewohnerinnen? Ist der Slogan »Das Private ist politisch!« noch aktuell?

Wir möchten zwei Faktoren nennen, die die Situation für Frauenhausbewohnerinnen zusätzlich belastend machen. Erstens die Arbeits-, Wohnungs- und die Kindergartenplatzsuche. Sie sind für alle Menschen in Frankfurt eine Herausforderung. Jedoch werden alleinstehende Frauen, vor allem mit mehreren Kindern, häufig diskriminiert. Hinzu kommt, dass viele Frauenhausbewohnerinnen rassistisch diskriminiert werden. Auf dem Wohnungsund Arbeitsmarkt haben sie es schwerer. Zweitens die Fragen nach dem Sorge- und Umgangsrecht. Für Frauen mit Kindern folgt nach der Trennung meistens eine Auseinandersetzung um das geteilte Sorge- und Umgangsrecht mit dem Vater. Wie bereits vorhin erwähnt, wurden die Rechte von Vätern 2008 durch die Reform des Kindschaftsrechts gestärkt und dabei sowohl eine gemeinsame Definition von häuslicher Gewalt als auch die Folgen jener Gewalt für Kinder durch den Gesetzgeber ausgeblendet. In der Praxis bedeutet dies, dass Väter häufig innerhalb weniger Wochen das begleitete Umgangsrecht bewilligt bekommen. Die Begleitung ist zeitlich befristet und die von Gewalt betroffenen Frauen müssen sich darauf einstellen, einen dauerhaften Kontakt mit den gewalttätigen Ex-Partnern aufrechterhalten zu müssen. Das stellt für die Frauen und die Kinder eine hohe Belastung dar. Leider fehlt im Jugendamt und im Familiengericht häufig die fachliche Ausbildung in Fragen von häuslicher Gewalt und die Frauen sind von der persönlichen Einstellung der Sachbearbeiter*innen abhängig. All diese Probleme, denen gewaltbetroffene Frauen begegnen, werden häufig als individuelle wahrgenommen, obwohl sie strukturell angelegt sind. Anders als in den 1970er Jahren wird ein gewaltfreies Leben für Frauen als gesellschaftliche Aufgabe anerkannt. Strukturell sind die Bedingungen dafür jedoch nicht gegeben. Was müsste sich in der Stadt Frankfurt ändern, damit Frauen sich selbstbestimmt ein gewaltfreies Leben gestalten können?

Zunächst denken wir, dass sich der Fokus verlagern muss, denn häufig wird nur die Forderung nach ausreichenden Frauenhausplätzen debattiert. Selbstverständlich sollten alle Frauen ein Anrecht auf einen Frauenhausplatz haben. Unser Ziel ist jedoch nicht, durch eine ausreichende Zahl an Plätzen eine Institutionalisierung der Gewalt zu ermöglichen! Nach wie vor gilt, dass wir der Gewalt gegen Frauen ein Ende setzen möchten.

Ein Gespräch über das Autonome Frauenhaus als feministischer Ort

Das kann zum einen ermöglicht werden, indem das Gewaltschutzgesetz stärker umgesetzt wird. Momentan in der Corona-Krise bitten wir die Polizei, verstärkt Wegweisungen durchzuführen. Wir wünschen uns eine Verschärfung des Gewaltschutzgesetzes und eine konsequente Anwendung. Die Täterarbeit muss ausgebaut werden. Es muss unbedingt stärker mit den Männern gearbeitet werden. Es ist für Männer notwendig, neue Rollenmodelle kennen und schätzen zu lernen. Eine Emanzipation von Rollenbildern kann auch für Männer eine positive Erfahrung sein, für die allerdings Mut aufgebracht werden muss. Für die Frauen müssen die finanzielle Unabhängigkeit und die Handlungsmöglichkeiten vergrößert werden. Frauen sollten zum Beispiel nicht aufgrund von fehlenden Sprachkenntnissen isoliert sein und die Aufklärung zu ihren Rechten sollte selbstverständlich Teil von Deutsch- und Integrationskursen sein. Letztendlich müssen die Jugendämter und Familiengerichte mit uns gemeinsam einen Gewaltbegriff entwickeln, der die Familien schützt. Wir fordern zum Beispiel die Einführung des sogenannten Hamburger Modells in Frankfurt. In Hamburg gibt es im Jugendamt eine spezielle Abteilung für Fälle häuslicher Gewalt. Die Mitarbeiter*innen sind auf diese Fälle spezialisiert und haben ihren Arbeitsplatz an einem anonymen Ort. Treffen mit dem Täter, dem Opfer und den Kindern finden im Jugendamt des Stadtteils statt, in dem die betroffene Frau wohnt. Die Tatsache, dass der Ort, an dem diese Mitarbeiter*innen sitzen, geheim gehalten wird, trägt der Gefährlichkeit des Themas häuslicher Gewalt Rechnung. Was wünscht ihr euch für die Zukunft der Autonomen Frauenhäuser?

Die Frage, wie die Zukunft der Autonomen Frauenhäuser aussieht, können wir genauso wenig beantworten, wie die Frage nach unserer Zukunft. Auch stellt sich die Frage: Zukunft in welcher Hinsicht – finanziell, ideologisch, strukturell? Eines ist sicher: Gewalt gegen Frauen und Mädchen wird nicht in absehbarer Zeit beendet werden. Frauenhäuser werden leider auch in Zukunft voll belegt sein, Beratungsstellen stark frequentiert. In den meisten Autonomen Frauenhäusern hat in den letzten Jahren ein Generationswechsel stattgefunden. Hierfür gilt, wer die Zukunft gestalten will, muss die Vergangenheit kennen. Junge Frauen lernen die Vor- und Nachteile der kollektiven Strukturen kennen, die in den meisten Autonomen Frauenhäusern noch vorhanden sind. Die allermeisten schätzen sie, weil sie Gestaltungsmöglichkeiten bieten. Standpunkte, Sichtweisen und neue Ideen werden diskutiert und gegebenenfalls umgesetzt. Für die Zukunft des Vereins Frauen helfen Frauen wünschen wir uns neben dem, was wir in den oben gestellten Fragen bereits beantwortet haben, auf jeden Fall den Erhalt der kollektiven Struktur. Und wir wünschen uns, dass der derzeitige Diskurs über Geschlecht, Sprache, Autonomie, Gleichheit und Gleichberechtigung weniger verbissen, mit Humor und gegenseitigem Respekt für die jeweilig andere Position geführt wird.

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Endnoten Titelbild



Demonstration Ende der 1970er Jahre. Heute arbeitet das Frauenhaus mit der Polizei im Kampf gegen häusliche Gewalt zusammen (Quelle: Verein Frauen helfen Frauen).

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Bußgelder sind durch Staatsanwält*innen oder Richter*innen erwirkte Geldzahlungen von Tätern, die in der Regel an gemeinnützige Einrichtungen oder Organisationen gehen.

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Das Gesetz zur Verbesserung des zivilrechtlichen Schutzes bei Gewalttaten und Nachstellungen sowie zur Erleichterung der Überlassung der Ehewohnung bei Trennung ist ein zivilrechtlicher Weg, um Gewaltbetroffenen Schutz zu ermöglichen. So kann die eigene Wohnung auf bestimmte Zeit dem Opfer zur alleinigen Nutzung zugewiesen werden.

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Die Polizei kann bei Gefahr im Verzug den Täter aus der Wohnung verweisen, die Praxis ist im Polizeirecht geregelt.

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Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die sogenannte Istanbul-Konvention ist ein völkerrechtliches Abkommen, welches 2018 in Deutschland in Kraft getreten ist. Ziel des Abkommens ist geschlechtsspezifischer Gewalt zu begegnen und diese zu mindern. Um dieses Ziel zu erreichen sind diverse Präventionsmaßnahmen, Schutzmaßnahmen und strafrechtliche Maßnahmen vorgesehen.

Literaturverzeichnis Bundeskriminalamt (2020): Kriminalstatistische Auswertung zu Partnerschaftsgewalt 2019, https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/Lagebilder/Partnerschaftsgewalt/partnerschaftsgewalt_node.html (Zugriff: 11.11.2020). Schröttle, Monika (2017): Gewalt in Paarbeziehungen. Expertise für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, https://www.gleichstellungsbericht.de/kontext/controllers/ document.php/35.b/6/895b92.pdf (Zugriff: 11.06.2019).

Drahtseilakt: Der ewige Kampf um den Erhalt der eigenen Lebenswelt von Schausteller*innen, Zirkusangehörigen und reisenden Händler*innen Sonja Keil

Mit diesem Beitrag gehe ich der Frage nach, auf welche Weise Menschen, deren Lebenswelt von der gesellschaftlichen Norm der Sesshaftigkeit ab­ weicht, um eine Anerkennung ihrer Lebensform kämpfen müssen.1 Erläutert wird dies am Beispiel der Geschichte der Bewohner*innen des heutigen Wohnwagenstandplatzes (WSP) in der Bonameser Straße in Eschersheim, die fast ausnahmslos zu der Gruppe der Reisenden zu zählen sind. Sie setzen sich seit Generationen für die Akzeptanz ihrer Lebensform ein, die zugleich ihre existenzielle Grundlage darstellt, und sahen und sehen sich da­ bei mit Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung konfrontiert. Noch heute begegnen viele den Bewohner*innen des WSP mit tief verwurzelten Vorurteilen. Bereits seit Jahrhunderten sind Reisende oder Fahrende, wie sich Schau­ steller*innen, Zirkusangehörige und reisende Händler*innen nennen, ein fester Bestandteil der Gesellschaft. Gleichzeitig wird in der historischen Betrachtung die Verdrängung von deren Lebensform aus dem Stadtraum deutlich. Während sich die Mobilität im Spätmittelalter noch als eine Grunderfahrung breiter Gesellschaftsschichten zeigte und die Künste und Dienste der Fahrenden im Alltag unverzichtbar waren, nahm mit der raschen Urbanisierung im 19. Jahrhundert die Akzeptanz für die Lebensformen der ambulanten Gewerbetreibenden ab. Dies führte zu tiefgreifenden Verände­ rungen, die sich vor allem auf ordnungspolitischer Ebene manifestierten. So war mit der Reichsgründung 1871 ein bedeutender Einschnitt für die Fahrenden verbunden, da seitdem Ausgrenzung und Diskriminierung zunah­ men. Betroffen waren davon nicht nur die ambulanten Gewerbetreibenden, sondern auch wandernde Fotograf*innen und wandernde Heilkundige wie Apotheker*innen und Ärzt*innen. Letztere verfolgten durch einen Prozess der Professionalisierung und der Etablierung von Zugangshürden das Ziel, sozial aufzusteigen und einen anderen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Die Fahrenden stellen die Leitbilder der Mehrheitsgesellschaft in Frage, was von dieser als bedrohlich empfunden wird. Die Ausgrenzung erfolgt

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daher aufgrund kultureller Merkmale, die ihren Ausdruck vor allem in der Lebensform finden, und dient der Stabilisierung der gesellschaftlichen Herr­ schaftsverhältnisse und Normvorstellungen. Bis heute werden ambulante Gewerbetreibende oft unter dem Begriff des ›Zigeuners‹ subsumiert – eine Zuordnung nach einer ethnischen Kategorie, die jeglicher Grundlage ent­ behrt. Im Nationalsozialismus wurden die Menschen zum Teil als ›Asoziale‹ verfolgt. Aus nationalsozialistischer Sicht wurden mit diesem Sammelbegriff Menschen bezeichnet, welche die ›Volksgemeinschaft‹ vermeintlich schädi­ gen und für welche die Mehrheit aufkommen müsse. Diese Fremdbezeich­ nungen stellen eine Zuschreibung für Individuen und Gruppen dar, die von einer konstruierten gesellschaftlichen Norm abweichen. In Frankfurt am Main standen die ambulanten Gewerbetreibenden an ver­ schiedenen Plätzen – zum Beispiel im Gallus, im Ostend oder in Griesheim. Aufgrund eines Beschlusses der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung entstand 1953 die heutige ›Wohngemeinschaft Bonameser Straße‹ gegen die Widerstände der Anwohner*innen und der circa 250 Menschen, die dort zu­ künftig leben sollten. Seit fast 70 Jahren leben die Familien inzwischen am Stadtrand. Heute sind es noch circa 80 Personen. Die zugewiesene Stellung am gesellschaftlichen Rand zeigt sich durch die räumliche Randlage.

Abnehmende Akzeptanz der Lebensform Fahrender

Abbildung 1: Familie F. auf der Reise in den 1930er Jahren (Quelle: Privat).

Durch eine Änderung der preußischen Gesetzgebung tauchte 1842 erstmals der Begriff ›Unterstützungswohnsitz‹ auf, mit dem 1870/1871 reichsweit das sogenannte Heimatrecht abgelöst wurde. Damit ging für die Gemein­ den die Verpflichtung einher, für die Armen der Gemeinde zu sorgen; gleichzeitig schränkte das Gesetz die Möglichkeiten der Ausweisung ein. Personen, die unmittelbar von der Gesetzgebung betroffen waren, galten als unterstützungsbedürftig und fielen der Gemeinde, in der sie sich länger auf­ hielten oder in der sie geboren waren, ›zur Last‹. Gemeinden, die ›Zigeuner‹ ehemals auf ihrem Grund und Boden duldeten, legten nun Wert darauf, dass diese weiterzogen (Hildebrandt 1986: 27).

Drahtseilakt: Der ewige Kampf um den Erhalt der eigenen Lebenswelt

Ab den 1870er Jahren gab Bismarck die Leitlinien der ›Zigeunerpolitik‹ vor. Die Behandlung der Gruppe wurde als ordnungspolitisches Problem be­ trachtet, die Durchsetzung oblag den Ländern. Hier waren die mittleren und unteren Verwaltungsebenen zuständig. Vor allem Bayern und Preußen, zu dem Frankfurt gehörte, trieben den Ausbau sowie die Koordinierung dieser Politik voran. Die im Jahre 1869 eingeführte Gewerbeordnung ermöglichte die Erteilung eines Wandergewerbescheines nur an Personen mit Besitz eines festen Wohnsitzes im Inland. Mit dieser Vorgabe wollte man auf poli­ tischer Ebene den vermeintlichen Gefahren der Gewerbefreiheit, vor allem im Hausierhandel, vorbeugen und erschwerte oft die legale Ausführung des Gewerbes (Arnold 1958: 45). Zusätzlich wurde der untere Mittelstand von erheblichen wirtschaftlichen Existenzsorgen bedrückt, was durch die Klagen der lokalen Gewerbetreibenden zum Ausdruck kommt: Kleinere Geschäfte könnten der Konkurrenz nicht standhalten, da die Kunden den bequemen Handel an der Haustür vorziehen würden (Reemtsma 1996: 87). In der Weimarer Republik folgte Mitte der 1920er Jahre durch die Ver­ schärfung staatlicher Maßnahmen eine weitere Einschränkung der Rechte Fahrender. Mit den 1928 durch den Leiter der Grundbesitzverwaltung der Stadt Frankfurt am Main formulierten Forderungen nach Abschiebung beziehungsweise Vertreibung der ›Zigeuner‹ oder deren Überwachung und ›Konzentrierung‹ werden bestehende gegensätzliche Strategien des Umgangs deutlich. Die Innenministerien und staatlichen Behörden neigten eher zur sogenannten ›Konzentrierung‹, wohingegen auf kommunaler Ebene und Kreisebene die Bemühungen auf Abschiebung gerichtet waren (Sandner 1998). Obwohl das ›Nichtsesshaftenproblem‹ sich in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg intensivierte, galt die Sesshaftigkeit weiterhin als Norm der sozialen Ordnung (Hohmann 1990: 79 f.). Mit der Verabschiedung des ›Gesetzes zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen‹ im Jahr 1926 im Bayerischen Landtag, welches 1929 auch vom Volksstaat Hessen übernommen wurde, be­ gann eine neue Ära. Das Gesetz mit Ausnahme- und Präventivcharakter bezog sich auch auf die ›nach Zigeunerart umherziehenden‹ Personen. Unter der Bezeichnung ›vorbeugende Verbrechensbekämpfung‹ legiti­ mierte es erstmals Maßnahmen ohne Vorliegen einer Straftat und ermög­ lichte es, Landfahrer*innen, Schausteller*innen, Komödiant*innen und Jenische (hier als Fahrende bezeichnet) unter dem Begriff ›Zigeuner‹ zu sub­ sumieren. Das Ziel lag in der Vernichtung dieser Lebensform. Dies wandelte sich unter den Nationalsozialisten in die Vernichtung von Menschen (Reemtsma 1996: 98 f.). In den folgenden Erlässen wurden ›Zigeuner‹, wie auch Reisende, immer mehr als potentielle Verbrecher*innen betrachtet und von den Sicherheits­ behörden entsprechend behandelt. Hier finden sich die Grundlagen der generationsübergreifend verfestigten Denkmuster in Bezug auf die Aus- und Abgrenzungsprozesse der Mehrheitsgesellschaft gegenüber den hier betrach­ teten Gruppierungen, die bis heute das Denken und Handeln beeinflussen. Ab 1933 ermöglichten neue NS-Gesetze die Diskriminierung und Verfolgung dieser Menschen, was bei den ›Volksgenossen‹ ein Gefühl der Zusammen­ gehörigkeit und Überlegenheit erzeugte (Hörath 2017: 89 ff.). Die erfolgte Grenzziehung zwischen ›Volksgenossen‹ und ›Gemeinschaftsfremden‹ dien­ te der Definierung einer zu verfolgenden Menschengruppe: Der Reisenden.

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Abbildung 2: Verbotsschild, vermutlich 1920er-Jahre (Quelle: Hohenloher Freilandmuseum).

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Fortsetzung dieser Strategie nach 1945: ›Bekämpfung der Zigeunerplage‹ In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sahen die Stadtverwaltungen gegen­ über den Fahrenden ihre Aufgabe erneut in der ›Bekämpfung der Zigeuner­ plage‹ und verfolgten, wie schon nach 1871, das Ziel der Vertreibung von Landfahrer*innen und anderen Minderheiten aus ihrem Verwaltungsgebiet. Die für die nationalsozialistische Politik der Verfolgung und Vernichtung auf Reichsebene verantwortlichen ›Rasseforscher*innen‹ Robert Ritter und Eva Justin traten nach 1945 in den Dienst der Stadt Frankfurt ein und er­ möglichten damit die Fortsetzung rassenideologisch geprägter Handlungen auf kommunaler Ebene. Ritter, der im Jahre 1947 seinen Dienst bei der Stadt Frankfurt am Main antrat, war ein halbes Jahr später bereits Beamter im Range eines städtischen Obermedizinalrates. Justin folgte Ritter im Frühjahr 1948 als Kriminalpsychologin in den Dienst des Gesundheitsamtes der Stadt Frankfurt am Main. Trotz der Proteste überlebender Opfer blieb die Kriminalpsychologin Justin bis zu ihrem Tod im Jahr 1966 dort beschäf­ tigt. Ritter schied 1949 im gegenseitigen Einvernehmen aufgrund einer Krankheit aus dem städtischen Dienst aus und verstarb im Jahr 1951. Eva Justin war zuständig für die Erziehungsberatung. Im Februar 1964 wurde ihr innerhalb der Stadtverwaltung eine Aufgabe übertragen, die sie auch auf den Wohnwagenstandplatz Bonameser Straße führte. Ihr Auftrag bestand darin, die sozialen, wirtschaftlichen und erzieherischen Verhältnisse der in Notunterkünften und Übergangswohnstätten der Sozialverwaltung lebenden Familien zu untersuchen und Vorschläge zur Verbesserung zu entwickeln. Ähnliche Kontinuitäten gibt es auch etwa in Gestalt der Person Rudolf Prestel, der bis zu seiner Pensionierung 1966 leitender Mitarbeiter des Fürsorge- und Jugendamtes sowie des Gesundheitsamtes, hauptamtlicher Stadtrat und Dezernent für Fürsorge und Gesundheit war. Bis zu seinem Amtsaustritt forderte er das harte Durchgreifen von polizeilicher Seite in dem Gebiet des Wohnwagenstandplatzes und lehnte eine Zuständigkeit des Fürsorgeamtes ab. Drei Jahre nach seinem NSDAP-Beitritt im Mai 1933 wurde Prestel als juristische Hilfskraft bei der Stadt Frankfurt am Main beschäftigt, im Februar 1937 wurde er als Magistratsrat verbeamtet. Sein Tätigkeitsbereich lag bis Kriegsende überwiegend im Fürsorge- und Jugendamt. Prestel war damit enger Mitarbeiter des nationalsozialistischen Stadtrats und Leiter des Gesundheitsamts Fischer-Defoy, der bei der Ausgestaltung sozialrassistischer Diskriminierungsmechanismen und der Enteignung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Frankfurt eine maßgebliche Rolle einnahm. Im April 1945 wurde dem Magistratsrat Pre­ stel das Dezernat des Fürsorge- und Gesundheitswesens übertragen. Seine von der alliierten Militärregierung aufgrund der NSDAP-Mitgliedschaft veranlasste Entlassung erfolgte nur zwei Monate später im Juni 1945. Mit dem Spruchkammerentscheid des Großhessischen Ministeriums für Wiederaufbau und politische Befreiung vom 27.08.1946 erfolgte jedoch schnell die ›Entnazifizierung‹. Prestel wurde als ›Entlasteter‹ eingestuft. Ihm wurde bescheinigt, dass sein Beitritt zur NSDAP nur erfolgte, um der Fürsorge hierdurch einen Dienst zu erweisen. Eine Wiedereinstellung und Aufnahme seiner bisherigen Tätigkeit wurde bedenkenlos befürwortet. Als CDU-Mitglied wurde Rudolf Prestel mit Beschlussfassung vom 26.09.1946 von der Stadtverordneten-Versammlung zum hauptamtlichen Beigeordneten gewählt und erhielt die Ernennung als besoldeter Stadtrat. Der Empfehlung des Hessischen Ministerpräsidenten folgend wurden dem neuen Magistrats­ mitglied die Dezernate für die Fürsorge und die Gesundheit in die Hand

Drahtseilakt: Der ewige Kampf um den Erhalt der eigenen Lebenswelt

gelegt. Zu den Aufgaben des Sozialdezernenten zählten die wirtschaftliche Fürsorge, die Sonderfürsorge sowie Beratungs- und Unterstützungsleistun­ gen. Aus dem Bereich des Jugendamtes sind Amtsvormundschaft, Adopti­ onsverfahren sowie die Beratung in Fragen der Erziehung und Gesundheit zu nennen. Ebenfalls war das Dezernat für die Versorgung von Kriegsop­ fern, Hinterbliebenen, Flüchtlingen, Vertriebenen sowie der Menschen zuständig, die aus Konzentrationslagern oder Zwangsarbeitsverhältnissen entlassen wurden, also ehemals Verfolgten des NS-Regimes. Anstrengungen zur Verbesserung der Situation auf dem Wohnwagenstandplatz Bonameser Straße versuchte Prestel regelmäßig zu unterbinden, da nach seiner Ansicht ein gewisses Abschreckungsmoment erhalten bleiben müsse. Verbunden mit dem Sozialdezernenten Prestel ist eine Fortsetzung der strukturellen Aus­ grenzung auf kommunaler Ebene bis in die 1960er Jahre zu beobachten, die bestimmte Lebensweisen als kulturelle ›Abweichungen‹ stigmatisiert und nicht duldet (Keil 2018).

Kampf um die eigene Lebenswelt Während vor allem die Bewohner*innen des WSP, die durch Bombenangrif­ fe im Zweiten Weltkrieg ihre Wohnungen verloren hatten, das Ziel verfolg­ ten, wieder in reguläre Wohnungen zu ziehen, kämpfte der Personenkreis mit Reisendentradition um den Erhalt der Siedlung und seiner Lebensform. Die Menschen errichteten in Eigenarbeit Wohnbauten zum kontinuierlichen Verbleib auf dem Gelände. Das Scheitern der bisherigen Strategien der Vertreibung führte Anfang der 1960er Jahre zur Entwicklung anderer ›Lösungsmodelle‹. Diesen lag die Einsicht zugrunde, dass man sich auf kommunaler Ebene mit der Situation abzufinden habe. Die Probleme wurden in einem neuen Zusammenhang gedeutet und konkurrierten mit den alten repressiven Strategien. In der Zeit nach 1945 verfügten die kommunalen Vertreter*innen der Abschreckungs­ politik in den Ordnungs-, Liegenschafts- und Bürgermeisterämtern in der Regel über das Definitionsmonopol und legten den institutionellen Rahmen zur ›Bekämpfung der Zigeunerplage‹ fest. Die neuen Strategien auf kommu­ naler Ebene fanden ihren Ausdruck in der Umverteilung der behördlichen Kompetenzen. Die Federführung sollte nun zukünftig bei der Sozialverwal­ tung liegen, die weiterhin eine enge Zusammenarbeit mit der Polizei, dem Liegenschafts-, Gesundheits- und Schulamt anstrebte. Damit vollzog sich

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Abbildung 3: Wohnwagenstandplatz Bonameser Straße, 1965 (Quelle: Heidi Guischard).

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Abbildung 4: Artist*innen der Camilla MayerHochseiltruppe, die teilweise auch auf dem WSP lebten 1949 (Quelle: Albert Georg Riethausen 1920, Frankfurt am Main, s/w-Fotografie auf Barytpapier; MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main, Schenkung des Künstlers).

eine Abkehr von der Politik der Vertreibung. In diesem Zusammenhang muss auf das Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) am 01.06.1962 hingewiesen werden, mit dem ein Funktionswandel der Fürsorge einherging. Während das Instrument einer existenzminimalen Einkommenssicherung an Gewicht abnahm, stieg die Bedeutung der individuellen Hilfe in besonderen Lebenslagen. Vor diesem Hintergrund schlossen sich die Bewohner*innen zusammen und gründeten einen Bewohnerrat, um die Interessen der Wohnwagenge­ meinde nach außen besser vertreten zu können. Der gemeinschaftliche, organisierte Einsatz für den Erhalt der Lebenswelt hatte positive Auswirkun­ gen. Der Magistrat beschloss in den 1960er Jahren Sanierungsmaßnahmen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse. Eine ehemalige Bewohnerin beschreibt ihre Erfahrungen: »Die haben ewige Jahre versucht schon unser Gelände da also wegzukriegen, die ganzen Leute da ... wegzukriegen, die weiß was ich, wie viele mit denen die schon vor Gericht waren.«

In Eigeninitiative nahmen die Bewohner*innen Einfluss auf ihre Situati­ on, indem sie die Wege, Waschgelegenheiten, den Brandschutz und ihre Wohnbauten verbesserten. Das Verlegen eigener Wasserleitungen im Jahr 1968 mussten die Behörden zur Kenntnis nehmen. Da die Bewohner*innen ohne vorherige Antragsstellung an einem Wochenende den Kanal und die Leitungen für das Wasser legten und somit für vollendete Tatsachen sorg­ ten, wurde ihnen von behördlicher Seite der Vorwurf gemacht, sich nicht regelkonform verhalten zu haben. Als eine Zumutung empfunden wurde von den Bewohner*innen der bisherige Zustand, der nur eine zentrale Wasser­ stelle mit kaltem Wasser für alle Haushalte bot und an dem auch die Wäsche gewaschen werden musste.

Drahtseilakt: Der ewige Kampf um den Erhalt der eigenen Lebenswelt

Die 1970er Jahre waren von Auseinandersetzungen um Bestimmungen und Auflagen zur Betreibung des an den WSP angrenzenden Schrottplatzes geprägt. Auf kommunaler Ebene war man bemüht, über die Ausweitung des Schrotthandels die Kontrolle zu behalten, da der Schrott- und Altwarenhan­ del zu dieser Zeit für die Kommune eine wichtige Einnahmequelle darstellte. Teilweise erfolgten die Arbeiten, wie zum Beispiel die Entfernung von Fahrzeugen aus dem Stadtbild oder die Entrümpelung von Bürogebäuden, im Auftrag der Stadt. Seit den 1960er Jahren konnten gewerbliche Parzellen am Rand des Geländes zu diesem Zweck genutzt werden. Allerdings brachte dies stetige Auseinandersetzungen mit sich und führte in der Folge zu dem Vorwurf, dass die Schrottverwertung ursächlich sei für die Ende der 1980er Jahre festgestellten Bodenverunreinigungen. Dabei erfolgte die Ursachen­ zuschreibung durch die städtischen Verantwortlichen zum größten Teil einseitig. Die in den 1960er und 1970er Jahren mit Genehmigung der Stadt aufgefahrenen größeren Mengen Schlacke aus der Müllverbrennungsanlage, bei denen es sich um stark verseuchte, schwermetallhaltige Abfälle handelte, blieben zumeist unerwähnt (Keil 2018). Ein von 1977 bis 1979 an der TH (heute TU) Darmstadt im Fachbereich Architektur realisiertes Entwurfsprojekt mündete in einen Stadtverordneten­ beschluss, der den zukünftigen Betrieb durch das städtische Wohnungsbau­ unternehmen regelte. Zur Erschließung des Geländes wurde in der Studie unter anderem empfohlen, die Straßen- und Wegflächen zu befestigen und die öffentlichen WC- und Duschanlagen durch WC und Bad/Dusche in jeder Wohneinheit zu ersetzen (King 1979). Gleichzeitig bestätigte der amtierende Sozialdezernent Martin Berg (SPD) den Erhalt des Geländes: »Die meisten von ihnen wollen nicht von dort fort. Wir wollen niemanden vertreiben. Deshalb ist es nach der Meinung des Sozialdezernenten müßig, sich über diesen Standort noch weiter den Kopf zu zerbrechen« (FAZ 22.4.1978).

Ein Teil der Ergebnisse des Entwurfsprojektes wurde nach der Übergabe des Geländes im Jahr 1983 an die städtische Wohnheim GmbH umgesetzt. Gleichzeitig sollte der WSP als ein Wohngebiet mit besonderer Prägung einen legalen Status erhalten. Letzteres wurde jedoch nicht realisiert. Bis heute kämpfen die auf dem WSP lebenden Menschen für ihren Platz in der Gesellschaft und in der Stadt. Obwohl es in den zurückliegenden Jahrzehnten immer wieder positive Signale gegeben hat, ist die Unsicherheit geblieben. Daher wünschen sich die Bewohner*innen, dass ihre Lebenswelt endlich als Wohngebiet mit besonderer Prägung einen rechtlich abgesicher­ ten Status erhält.

Forderung um Anerkennung Nicht nur in Frankfurt, sondern im gesamten Land fordern Reisende die Anerkennung ihrer Lebensform und die Jenischen, die ihre Zahl auf 400.000 schätzen, die Anerkennung als nationale Minderheit. In der Schweiz konnten die staatlichen Repressionen seit den 1970er Jahren zu einem Groß­ teil abgebaut werden. Während dort die Fahrenden als nationale Minderheit anerkannt sind, erhalten die Jenischen, die in der Schweiz den größten Teil der Fahrenden darstellen, im restlichen Europa keine Anerkennung als Minderheit. Vor allem in der Schweiz ist der ökonomische Beitrag der Fahrenden zur Versorgung der ländlichen Bevölkerung mit Waren und Dienstleistungen unumstritten. Die Unterstützung des Staates zeigt sich

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Abbildung 5: ›Wohngemeinschaft Bonameser Straße‹, 2015 (Quelle: Rolf Oeser).

in der Ausweisung von Plätzen in den Gemeinden für diese Gruppe. Mit der Änderung des deutschen Bundesmeldegesetzes im Juli 2017 bezüglich der Meldepflicht von Angehörigen reisender Berufsgruppen wurde einem Problemfeld, welches sich für beruflich Reisende im Rechtsverkehr ergibt, bereits Rechnung getragen. Meldebehörden haben nun eine Anmeldung entgegenzunehmen, wenn ein ausreichender örtlicher Anknüpfungspunkt der im Wohnwagen lebenden beruflich Reisenden besteht. Von der sich wiederholenden Praxis der Vertreibung sollten sich Gesellschaft und Politik verabschieden und stattdessen einer Haltung von Akzeptanz gegenüber abweichenden Wohn- und Lebensformen Raum geben. Der europäische Vergleich zeigt, dass dies, wie am Beispiel der Schweiz ausgeführt wurde, möglich ist.

Endnoten 1

Grundlage für die folgende Darstellung bildet meine im Jahr 2018 veröffentlichte Studie zur »Soziale[n] Wirklichkeit und Geschichte des Wohnwagenstandplatzes Bonameser Straße in Frankfurt am Main«.

Literaturverzeichnis Arnold, Hermann (1958): Vaganten, Komödianten, Fieranten und Briganten, Stuttgart: G. Thieme. FAZ, Frankfurter Allgemeine Zeitung (22.4.1978): Aus der Unterkunft ins Eigenheim. Für den Wohnwagenplatz in Bonames werden 1,7 Millionen aufgewendet. Hildebrandt, Eckart (1986): Internationale Beschäftigungskonkurrenz. Zur Konkurrenz nationaler Arbeitsbevölkerungen am Beispiel der Ausländerbeschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main: Campus Verlag. Hohmann, Joachim (1990): Robert Ritter und die Erben der Kriminalbiologie, Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag. Hörath, Julia (2017): ›Asoziale‹ und ›Berufsverbrecher‹ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Keil, Sonja (2018): Soziale Wirklichkeit und Geschichte des Wohnwagenstandplatzes Bonameser Straße in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel. King, Luise (1979): Studie zum Wohnwagenstandplatz Bonames der Fachgruppe Stadt. TH Darmstadt, FB Architektur WS 1977 – WS 1979, Darmstadt. Reemtsma, Katrin (1996): Sinti und Roma. Geschichte, Kultur, Gegenwart, München: Beck. Sandner, Peter (1998): Frankfurt. Auschwitz. Die nationalsozialistische Verfolgung der Sinti und Roma in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel.

ÜberLeben in der AUtopie – von Liebeskummer & Vietcong Billy Setzer

Frühsommer 2020, Vögel zwitschern, Bienen summen, die Autobahn rauscht lieblich im Hintergrund: Wir sind heute im Garten des vermutlich ältesten besetzten Hauses Deutschlands zusammengekommen, um ein nicht repräsentatives Interview über die AU zu führen. Die AU ist ein seit 1983 besetztes linkes Wohn- und Kulturprojekt in Frankfurt Rödelheim. Vielen Dank auch für das vorbildliche Sozialverhalten, dass ihr auch lange nach dem Höhepunkt der Corona-Pandemie zum Schutz eurer Mitmenschen Mund- und Nasenschutz sowie schwarze Sonnenbrillen tragt.

Danke. Wir propagieren diesen Look aus Sicherheitsgründen ja schon seit Jahrzehnten, aber das Bundeskanzleramt scheint erst jetzt dafür bereit zu sein. Besser spät als nie. Es ist doch immer wieder schön, die Früchte jahrzehntelanger Arbeit und den Vorbildcharakter linksradikaler Lebenspraktiken erleben zu dürfen. Und der Lobbyarbeit von Antifa e.V. natürlich. Das bringt mich schon zu meiner ersten Frage. Seit 1983, also seit 37 Jahren, ist die AU besetzt – wieso, weshalb, warum?

Nun ja, Anfang der 80er war ganz schön viel los in der Stadt, allein der Widerstand gegen die Startbahn West machte irgendwie Aufbruchsstimmung. Wir hatten Träume, anders zu leben, selbstbestimmt… Und gleich mal ‘ne Mark ins Phrasenschwein! … statt alleine in irgendwelchen Buden dahinzusiechen, zwischen Lohnarbeit, Lehre, Schule und sich abends mit den Freund*innen zu treffen. Wir träumten davon, mit vielen zusammen unser Leben selber in die Hand zu nehmen. Man muss bedenken, wie die 80er in Frankfurt waren. Verdrängung, Entstehung von Luxussegmenten in Wohnvierteln, Entmietung, Leerstand – die Widersprüchlichkeit von theoretischen und tatsächlichen Möglichkeiten zu leben,

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klaren Vorstellungen von Falsch und Richtig und ein bisschen Trotz und Chaos haben eine ganze Generation von Linken geprägt. Alles gegen die vorgegebenen Lebenskonzepte des Establishments. Karten auf den Tisch: Wie kam es denn dann zur Besetzung der AU?

Der Häuserkampf in Europa war zu der Zeit auf einem Höhepunkt. Das hat uns natürlich inspiriert. Aus schulischem und politischem Freundeskreis entstand damals die ›Besetzergruppe wilde 15‹. Wir waren alle recht jung, 16 bis 25 oder so, und es ging uns auch viel darum, einfach loszuleben – 80er Leichtigkeit eben mit Spaß an Subversion. Naja, und wenn wir ganz ehrlich sind: Wer vermietet schon an Jugendliche? Die alten Häuser in der Stadt wurden abgerissen und durch Büros und Banken, im besten Fall durch unbezahlbare Neubauwohnungen, ersetzt. Und dann gab es da diese olle Villa mit dem riesigen Garten in der Rödelheimer Peripherie und der Traum drohte Wirklichkeit zu werden.

Und dann begannen die ersten Tage der AU?

Ja. Allerdings muss man sagen: Die Art und Weise, wie heute Widerstand und damit auch Besetzungen gedacht und geplant werden müssen, ist seit den 80ern und der Entstehung der AU viel akribischer geworden. Damals haben wir ein Haus gesucht. Wir haben ein wenig die Umstände, den Besitzer und so weiter eruiert und dann praktisch geplant, Flugblätter vorbereitet und einen guten Termin gesucht und darauf geachtet, den Kuhfuß und ausreichend gescheites Werkzeug an der Hand zu haben. An dem Tag, als wir die AU besetzt haben, trafen wir uns an der Nidda und spazierten dann in euphorischem Hochgefühl mitten auf der Straße hin zum Objekt der Begierde. Dass dies die Nachbarschaft dazu bringen würde, die Polizei schon anzurufen, bevor die Tür überhaupt offen war, ist uns nicht in den Sinn gekommen. Das war ein Lebensgefühl. Das war absolut.

Für die Normalbürger*innen waren schon WGs Brutstätten von Subversion und freier Liebe. Das gab es einfach nicht. Wir besetzten ganze Häuser und hängten unsere Forderungen in einfachen und provokativen Worten an die Fassade.

ÜberLeben in der AUtopie

Abbildung 1: Zeitungsartikel Frankfurter Nachrichten 05.08.1983.

Abbildung 2: Zeitungsartikel Frankfurter Neue Presse 13.08.1983.

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Ja, die Anfänge waren auf eine Art naiv, wild und radikal. Wir waren neugierig aufeinander und auf ein anderes Leben. Die gesellschaftliche Realität war etwas, was kritisch hinterfragt und analysiert wurde. Wir fühlten uns frei von Herrschaftsstrukturen und gesellschaftlichen Zwängen. Wir lebten irgendwie mehr so von Luft, Liebe und Nutella, hatten irgendwelche Jobs mit 300 DM im Monat – keine Autos, ein Festnetztelefon für 40 und mehr Leute, null Konsum – und oft auch keine Krankenversicherung oder Ähnliches. Irgendwie ließ sich aber auch fast alles anders organisieren und hinbiegen. Wir wollten andere Formen des Zusammenlebens ausprobieren, mit viel Anti, um diese dann als erfolgreiche Alternative nach ›außen‹, also in die Gesellschaft hinein, authentisch vorleben zu können. Das war unser Ansatz: Nur das nach ›außen‹ vertreten zu können, was du selbst wirklich ehrlich und überzeugend leben kannst. Ja, du hast es vorhin schon gesagt: Wir wollten einfach losleben! Selbstverwirklichung durch learning by doing, Schrauben, Gartenarbeit, das Haus in Stand besetzen, Malen, Schreiben, Diskutieren, Lieben, Streiten, Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und so weiter. Irgendwie sind dabei im Laufe der Zeit Häuser, Bauwägen, Gärten, Werkstätten, die Vokü1, auch viel anderes Gutes und mancher Schwachsinn entstanden. Und zum Glück teilweise auch wieder verschwunden! Ja. All das ist immer eine Momentaufnahme, weil die AU konstant in einem Prozess steten Umbaus und der Bewegung ist. Es gab zum Beispiel auch mal eine Motocross-Strecke im Garten, aber mittlerweile ist das ganze Grundstück bewohnt. Ja, manchmal holt dich die Realität eben doch ein... Es ging halt vor allem darum, was jede*r braucht und wie der Platz ›sinnvoll‹ genutzt werden kann. Nach einer Weile hatten manche von uns zwar Schrumpfmägen, weil mit ohne Geld das mit dem Futter auch nicht so üppig ausfiel. Auf das Sozialamt oder Ähnliches bauten die wenigsten. Bis auf diejenigen von uns, die in Ausbildungen waren oder noch ihre Schule fertig machten, jobbten wir so wenig wie möglich, weil wir das Wertvollste – unsere Zeit – behalten wollten. Aber gleichzeitig waren wir damals – zumindest theoretisch – hoch moralisch, mit sehr idealistischen Vorstellungen und das in eher unreflektierten Kommunikationsstrukturen, sowohl innerhalb der AU als auch in der Frankfurter Politszene. Das ergab ein ziemlich explosives, aber auch lustvolles und förderndes Gemisch.

ÜberLeben in der AUtopie

Oh ja, wisst ihr noch, als die Amis mit ihrem Hubschrauber bei uns gelandet sind, weil sie die riesige Vietcongfahne auf unserem Dach mit ihrer eigenen verwechselt haben? Ich muss immer noch lachen, wenn ich daran denke, dass wir, zum Teil noch im Nachthemd, die mit Maschinengewehren bewaffnete Besatzung wieder in ihren Heli und zurück in die Luft gejagt haben, einfach köstlich!

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Abbildung 3: Zeitungsartikel Frankfurter Rundschau März 1987.

Aber was war noch mal die andere Frage? Warum die AU seit 37 Jahren besetzt ist? Aus dem einfachen Grund, dass in der ganzen Zeit kein Räumungsversuch erfolgreich war, wenngleich es welche gab. Die Menschen blieben trotz der Angriffe, der Gewalt von außen und der Unsicherheit. Sie schufen auf einem Gelände temporäre und dauerhafte Kunstwerke, in und auf denen gelebt und geschaffen wird. Alles fügt sich irgendwie organisch ineinander oder wenigstens nebeneinander, weil nach Bedürfnissen gehandelt wird und nicht nach Genehmigungen. Und was ist draus geworden?

PPfffffffffffFFffffffffffffffffffffffhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh… Es hat sich bald herausgestellt, dass es mit dem kollektiven Wohnen (und Arbeiten) gar nicht so einfach ist, weil Menschen doch sehr unterschiedliche Bedürfnisse und Ansprüche haben. So hat sich die Gruppe immer weiter aufgeteilt, ›Gleichgesinnte‹ haben in kleineren Gruppen versucht, zusammen ihren Alltag zu organisieren. Da war und ist die AU schon ein großes

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Experimentierfeld. Träume und Schäume halt. Auf der einen Seite ist es DIE große Freiheit. Dass es aber auf der anderen Seite von heute auf morgen vorbei sein kann, ist schon eine belastende Situation, die echt gewöhnungsbedürftig ist. Hey, als wir das erste Mal unser Holz für den nächsten Winter vorbestellt haben (nach acht! Jahren), fühlten wir uns echt verwegen. Nach immerhin sieben Wintern mit tiefgefrorenem Brennholz war jetzt klar: DIE AU BLEIBT! Die ›Besetzung‹ hat in unserem Jargon eigentlich nur einen zeitgemäßeren Arbeitstitel bekommen, war aber schon immer ein Projekt. Von Besetzung sprechen wir selber fast nie, außer – und dann sehr gerne – an unserem Geburtstag, dem legendären AU Fest! Eher nennen wir es Instandbesetzung2, was präziser unseren Anspruch, die Herausforderungen und die Aufgaben ausdrückt. Und das in jedwedem Sinne, nicht nur handwerklich, würde ich sagen! Und wie du ja schon gesagt hast, Zusammenwohnen ist immer eine Aufgabe. Das frisst Zeit und Nerven. Und wer Platz hat, muss sich auch darum kümmern. Deshalb reparieren wir so viel wie möglich selber. Wirklich cool ist, dass wir so die Beiträge zum Unterhalt des Hauses niedrig halten können. Ja und auch gut ist, dass sich die Bewohner*innen, weil sie nicht 40 bis 60 Stunden für die Miete lohnarbeiten müssen, politisch und sozial engagieren. Egal, ob sie sich lieber in der Nachbar*innenschaft einbringen, Demos organisieren oder in verschiedenen Projekten gesellschaftlich relevante Arbeit für die Menschen leisten. Naja, die Ausgangsidee war eigentlich, dass sich in der AU – von den Vorgaben der Gesellschaft ziemlich unbeeinflusst – neue soziale Lösungswege entwickeln können, die aber sehr wohl die Außenwelt dann beeinflussen. Tja, das hat leider nicht so geklappt. Zum Teil schon, oder? Unsere Art des Zusammenlebens hat viele Besucher*innen immer wieder sehr beeindruckt und beeinflusst. Außerdem bieten und nutzen wir unseren Raum als Freiraum, ob für Vokü, Gruppentreffen, Konzerte, Workshops, Sport, Werkstätten oder den Solawi3-Verteiler im Vorgarten. Und alles hat sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt: Vom ›oldschool Containern‹ am Anfang über die Lebensmittelkooperative4 in den 90ern. Und jetzt steht eine Hütte der Solidarischen Landwirtschaft bei uns. Das Ziel war und ist es, die Form selbst zu bestimmen.

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Stimmt schon! Es entsteht ja dann doch immer wieder eine Entwicklung hin zu den ursprünglichen Zielen. Vielleicht kann es für viele Menschen eine Zwischenstation, wie ein Traum, sein. Aber ich sehe auch einen extremen Verschleiß an ambitionierten Menschen mit Utopien und Hoffnungen und auch schlicht das Verpassen vieler Möglichkeiten. Wir haben hier viel Irrationalität, ein Diktat des kleinsten gemeinsamen Nenners. Das verhindert oft das Blühen der Utopie. Trotz vieler Möglichkeiten sind wir eben häufig auch nur ein Spiegel der Gesellschaft. Alles, was wir dort ändern wollen, müssen wir hier bei und in uns ändern. Hmm... es ist wie ein gelebtes Soziologiestudium: Bezahlt mit Lebenszeit und zeitweiliger Desillusionierung in unserem Minilabor der Gesellschaft und leider niemals abgeschlossen. Oder zum Glück? Hat die AU Frankfurt beeinflusst und andersrum?

Ich bin in Frankfurt aufgewachsen und linkspolitisch sozialisiert worden. Das war sowohl von Träumen gegen den Mainstream zu leben wie von auch äußeren Zwängen geprägt: hohe Mieten, drohende Studiengebühren, Exzellenzcluster, Moloch Lohnarbeit, Scheiße. Szenetreffpunkte wie das Montagscafé im Ex, die VoKü, das jährliche AU Fest, Barabende oder Sommerfeste im Klapperfeld ermöglichten es, sich auszutauschen, auseinanderzusetzen, zu spinnen, zu träumen, auch zu streiten. Wir waren wild. Wir waren wütend. Der Wunsch, ähnliche politische und gesellschaftliche Träume auch praktisch zu leben, hat uns zusammengeschweißt. Bis heute ist es ein vielfältiges Durcheinander von Jung und Alt und mittlerweile ehemals Jung. Diese bunte, stachelige Szene-Identität stärkt total, führt aber auch manchmal zu einer Ikonisierung linker Kultobjekte. Um dies zu kurieren, ist oftmals jedoch nur die blanke Realität nötig. Denn das Hamsterrad des Arbeitsethos und kleinfamiliäre Strukturen machen natürlich nicht vor unseren Toren halt. Aber der Zauber dieses großen, so unwirklich und auch unmöglich erscheinenden Ortes mitten in meiner Heimatstadt der Banken und Börsen ist bis heute ungebrochen. Alle, die in die AU kommen, sind total geflasht von dieser Art zu leben und der Infrastruktur, die wir hier aufgebaut haben. Ich glaube, hier ist Rödelheim als Stadtteil hervorzuheben, der sowohl ein Zuhause für die AU als auch für andere Wohnprojekte wie die Assi, Treffpunkte wie die Raumstation, das Centro, WGs, andere Wagenplätze, Gartenprojekte und so weiter ist. Das ist ja nicht überall in Frankfurt so. Rödelheim ist nicht nur der ›Stadtteil gegen Rassismus‹, sondern auch der Stadtteil für gelebte linke Solidarität. Aber wenn es um die AU geht, muss man eigentlich zurückgehen in die 80er, wo die gesellschaftlichen Kämpfe – Startbahn

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West, Schwarzer Block, Anti-AKW, Besetzerbewegungen, um nur einige Beispiele zu nennen – ein Fundament gelegt haben, aus dem sich bis heute gut organisierte und über Stadtund Landesgrenzen hinaus vernetzte Projekte entwickelt haben. Viele davon sind auch Wohnprojekte! Die AU ist das älteste besetzte Haus in Frankfurt. Ein beständiger Anteil der verschiedenen Facetten der linken Szene in Frankfurt, das prägt! Die lange Geschichte spannt durch die Generationen hindurch einen Bogen über einen Teil der linken, widerständigen Politszene in Frankfurt und all die Veränderungen, die diese in den letzten 37 Jahren durchlebt hat. Stichwort Vielfalt! Vom vermeintlichen Punker-Paradies zu Peter Lustig, da gibt’s die unterschiedlichsten Projektionsflächen. Eine Vielfalt, die durchgehend existiert, aber besonders in Ausnahmesituationen richtig wahrnehmbar greift. Wo oder wie wird das dann wahrnehmbar?

In Frankfurt findet seit Jahren parallel zu steigenden Mieten und Lebenshaltungskosten ein massiver Versuch der Verun­ glimpfung und Kriminalisierung alternativer Zentren und Projekte statt. Nicht zuletzt, um dieser Räume habhaft zu werden und alternative Lebensformen zu zerstören. Da halten dann die AU, das ExZess in Bockenheim und die Initiative ›Faites votre jeu!‹ im Klapperfeld richtig zusammen. Mit all dem Papier, welches Gegner unserer Art zu leben in den letzten Jahren für Anträge und Verunglimpfungen verschwendet haben, könnte man bald die Festhalle tapezieren. Eben. Wir fühlen uns natürlich geehrt davon, dass die Verantwortung für jede neue Besetzung aufgrund des Vorbildcharakters bei der AU gesehen wird. Wir schreiben uns gerne jede Besetzung der letzten 37 Jahre in Deutschland und auch weltweit auf die Fahnen. Aber mal im Ernst, was hier ersichtlich wird, ist doch Folgendes: Die fortlaufenden Angriffe gegen die AU durch konservative und rechte Kräfte der Stadtpolitik haben eins zum Ziel, nämlich langfristig alle linken Wohnund Kulturprojekte zu zerstören, um damit diese Lebensform aus der Gesellschaft zu entfernen. Wer sich heute gegen den Fortbestand der AU ausspricht, ist auf lange Sicht gegen vielfältige Lebensweisen und gegen persönliche Entfaltungsfreiheit und für autoritär durchgesetzte Vereinheitlichung. Ausnahmslos alle Besetzungen der letzten 10 Jahre wurden geräumt. Die meisten Häuser stehen seitdem als Spekulationsobjekte leer! Seit Jahren könnte dort Raum für die Menschen sein, die sich Wohnen und Leben in dieser Stadt nicht mehr oder kaum noch leisten können. Es ist nicht unsozial, diese Räume auch gegen den Willen von Eigentümer*innen zugänglich und nutzbar zu machen. Es ist unsozial, sie den Menschen, die sie brauchen, vorzuenthalten.

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Und das passiert überall! Jeden Tag! Nach Logik der Bankenmetropole sollte es keine seit 37 Jahren geduldete Besetzung geben. Zitierst du gerade CDU, AfD, FDP und BFF? Na, nicht nur die! Aber zum Glück gibt es auch die vielen anderen, die uns seit Jahrzehnten unterstützen. DIE AU BLEIBT UND DIE HÄUSER DENEN, DIE DRIN LEBEN! Wieso beinhaltet euer Titel eigentlich Liebeskummer?

Liebeskummer, weil die Diskrepanz zwischen dem, was die AU sein könnte (und ja immer wieder auch ist) und dem, was alles möglich wäre, so gigantisch ist. Das ›High‹ der Möglichkeiten – so euphorisierend – wird häufig erstickt von der dumpfen Decke des Minimalkonsenses. Oh ja, Anspruch und Realität klaffen weit auseinander. Es ist einfach richtig schwierig, gemeinsam Entscheidungen zu treffen, wenn mensch so ein großes Projekt mit vielen Individualist*innen leben möchte.

Abbildung 4: Solidarität ohne Grenzen (Quelle: eigene Aufnahme).

Genau, und das erzeugt dann Herzschmerz. Es gibt den Traum vom gleichberechtigten, achtungsvollen und damit befähigenden Miteinander, aus dem prägende Aktionen und Realitäten entstehen können. Der regelmäßig zerlegt wird vom genauen Gegenteil dessen. Die Verletzung und die Ungerechtigkeit, die mensch dadurch erlebt, erzeugen wirklich Schmerzen in der Brust, Herzschmerz also.

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Liebeskummer, weil nicht alle Blütenträume reiften?

Weil wir auch hier vor allem weiß und heteronormativ sind, weil ›unity in diversity‹ so hübsch klingt, aber so schwer umsetzbar ist, zugerichtet, wie wir alle von dieser Gesellschaft sind. Da zahlen wir sozusagen Herzschmerzensgeld. Und natürlich wurde und wird hier auch immer wieder großer Liebeskummer gemeinsam und einsam, Tage und Nächte, durchlebt. Als ich euren Titel las, habe ich mich genau das gefragt: Geht es da jetzt um klassische Liebe oder um was Anderes?

Liebeskummer trifft‘s für mich nicht. Passender wäre ›tiefer Herzschmerz‹, einer, der entsteht, wenn Träume platzen. Mindestens einmal im Jahr ›Gehen Sie zurück auf Los, ziehen Sie nicht 2.000 € ein‹ und irgendwann einzusehen, dass wir eigentlich ein Spiegelbild der Gesellschaft sind. Mit Oben und Unten, Gut und Böse, Männer und Frauen. Also durchziehen hierarchische und patriarchale Strukturen durchaus unseren gemeinsamen Alltag. Für mich hat das Leben in der AU schon auch mit Liebe zu tun. Ich verbinde mich ja mit meinem ganzen Ich mit dem, was ich tue – vor allem, wenn es nicht entfremdet ist, sondern selbstbestimmt und dem entspricht, was ich richtig, sinnvoll und gut finde. Das hat für meine Identität und meine Ziele einen echten Wert und gibt mir Kraft. Das so leben zu können, erzeugt ein Gefühl der Liebe und eben des Kummers, wenn es gegen die Wand läuft. Und diese Gefühle können sich durchaus auch auf meine Mitbewohner*innen beziehen. Liebe ist ein starkes Wort. Wie Schmerz und Kummer auch. Wir sprachen eben von Ambivalenzen, voilà, da sind sie wieder. Ich hätte mir nie vorstellen können, einem Ort und den Menschen dort so starke und gegenläufige Gefühle entgegenzubringen. Manchmal verstehe ich auch erst beim dritten Mal Hinhören, was vermeintlich verwirrte Mitbewohnis eigentlich wollen. Was den einen Tag schön ist, will ich vielleicht am nächsten Tag kaputtschlagen. Eine Zeit lang ist das doch immer mal wieder passiert. Ich kann mich gut erinnern, wie ich vom Lärm geweckt in die Küche kam, weil eine*r von uns seinen Frust mit der Axt am Mobiliar ausgelassen hat. Echt? Krass. Naja, natürlich streiten wir auch und im Winter wünsch ich mir manchmal eine Zentralheizung und in einer Mietwohnung hätte ich einfach weniger Verantwortung. Vielleicht geht Liebe ohne Schmerz ja nicht?

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Was macht eigentlich die aktuelle Corona-Situation mit euch in der AU?

Es ist sehr schade, dass wir zum ersten Mal in all den Jahren den AU Geburtstag, das AU Fest, nicht mit unseren Freund*innen und Unterstützer*innen feiern können. Ich finde, dass der Grundgedanke der Besetzung von vor 37 Jahren, nicht vereinzelt, sondern gemeinsam und solidarisch die Welt wahrzunehmen und darin positive Veränderungen erreichen zu wollen, gerade jetzt immens zum Tragen kommt. Das ist ein Fazit, welches ich, nach den ersten Schockwochen, von vielen höre, die in ähnlichen Solidarzusammenhängen leben. Voll! Gerade in dieser absurden, irritierenden und auch in vielerlei Hinsicht gefährlichen Situation stimmt für mich meine Entscheidung für solidarische Lebens- und Arbeitszusammenhänge mehr denn je! Das gibt mir Mut und Kraft, die ich auch weitergebe.

Jede Ähnlichkeit mit real existierenden oder verstorbenen Personen, Handlungen und Orten ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Endnoten 1

Volxküche: Heutzutage wird es auch KüfA genannt, also ›Küche für Alle‹. Die Idee dahinter ist, einen Treffpunkt für viele Menschen zu bieten. Kleine Gruppen – oder wer sonst noch Lust hat – kochen abwechselnd für alle, dann wird gemeinsam gegessen und getrunken. Um allen den Besuch zu ermöglichen, basiert das Ganze auf Spendenbasis. In der AU jeden Donnerstag seit 1988!

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Hausbesetzung mit dem Ziel, leerstehenden oder unbewohnbar gemachten Wohnraum wieder bewohnbar zu machen. 1980 auf Platz 3 beim Wort des Jahres: ›Instandbesetzer!‹

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Solidarische Landwirtschaft (Solawi), Kooperation zwischen einem landwirtschaftlichen Betrieb und Endverbraucher*innen. Mehr Infos: www.solidarische-landwirtschaft.org

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Gemeinsame Organisierung zur Nahrungsmittelbeschaffung.

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Frequently Answered Questions 1. 2. 3.

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Oh ja, ich durfte sogar meine eigene Zahnbürste behalten und benutze sie auch. Wer mit Holz heizt, friert nicht, sondern schwitzt. Unsere Kinder wachsen unter Lebensgefahr auf einem großen Abenteuerspielplatz auf und vermissen die kindgerechte Umgebung auf Frankfurts Hauptstraßen. Nein, wir schlafen nicht alle in einem Bett. Wir zahlen Müllabfuhr, Strom, Wasser und Abwassergebühren selbst(verständlich). Und zwar vom ersten Tag an! Kein Vertrag, keine Miete, kein Knebel! Das heißt aber nicht, dass wir für lau wohnen: Instandhaltungsbedarf gibt es immer. Und Reparaturkosten werden einfach durch alle geteilt. Das wäre doch echt cool! Dann gäbe es viel mehr Orte, an denen Menschen selber bestimmen können, wie sie leben. Und es würden viel mehr schöne Transpis von Balkonen hängen! Wenn mein Fenster kaputt ist, gehe ich in die Holzwerkstatt und repariere es. Oder bin hartgesotten und schlafe mit Mütze... Viele :-) Fast alles, womit wir bauen und basteln, bekommt hier ein zweites Leben eingehaucht: Das Material kommt vom Flohmarkt, Sperrmüll, von Haushaltsauflösungen oder als Geschenk, Spende oder Tauschware zu uns, wurde vergessen oder zurückgelassen. Die Dinge können hier einen ganz anderen Sinn bekommen. Wir sind aktiv und kreativ, früher waren wir dazu noch pleite... Wissen wir selber nicht... Beim Chef auf keinen Fall! Ja wirklich, wir duschen regelmäßig. Gerne und sogar warm. Oh je, das ist hochkomplex: Wir würden sagen, idiomatisch sinnvoll müsste diese Frage mit einem klaren Jain beantwortet werden, um eine doppelte Verneinung zu vermeiden! Ja, es ist NICHT ILLEGAL, und nein, es ist nicht ILLEGAL. Nicht direkt, versteht ihr? Es ist das Königreich der Grauzone. Es gibt natürlich Leute, die das ganz anders sehen, aber: LEGAL, ILLEGAL, SCHEISSEGAL...

Ei, derf isch Sie maa was fraache? 1. Benutzt ihr eigentlich alles gemeinschaftlich? Oder habt ihr zum Beispiel eigene Handtücher? 2. Habt ihr’s denn warm im Winter? 3. Ist das denn nicht gefährlich für eure Kinder? 4. Schlaft ihr alle beieinander? 5. Habt ihr Strom und was macht ihr mit eurem Müll? 6. Und die Miete? Habt ihr überhaupt einen Vertrag? 7. Ja und wenn jetzt jede*r einfach ein Haus besetzen würde? 8. Willst du nicht mal dem Vermieter Bescheid sagen wegen des kaputten Fensters? 9. Wie viele Mitbewohnis hast du denn? 10. Und wo kommt das ganze Zeug her? 11. Wer ist denn euer Chef? 12. Und wenn ich nun einziehen will, wo beantrage ich dann eine Wohnung oder ein Zimmer? 13. Habt ihr auch ein Badezimmer? 14. Aber ist das nicht illegal??

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Wem gehört nochmal die Stadt? Der Campus Bockenheim und der sehr langwierige Versuch einer Rückeroberung des Raums Tim Schuster

Taschenspielertricks oder Eine öffentliche Hand wäscht die andere Der Campus Bockenheim, gelegen entlang der ehemaligen Frankfurter Landwehr zwischen den Stadtteilen Westend und Bockenheim, ist ein 16,7 Hektar großes Gelände in unmittelbarer Nähe zu Innenstadt und Messe. Während großer Teile des 20. Jahrhunderts war er der Hauptsitz der Frankfurter Universität, die sich, 1914 als Stiftungsuniversität auf einem Teilgrundstück gegründet, in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg nach und nach auf dem gesamten Gelände und auf Einzelgrundstücken im umliegenden Westend ausgebreitet hatte. Nachdem die Naturwissenschaften bereits in den 1970er Jahren an den Stadtrand gezogen waren, stieß das rasante Wachstum der Universität hier Anfang der 1990er Jahre endgültig an seine Grenzen. 1996 wurde daher die Gelegenheit ergriffen, auf ein weiträumiges, bislang von den amerikanischen Streitkräften und zuvor vom IG-Farben-Konzern genutztes Gelände im etwas entfernteren oberen Teil des Westends umzuziehen. Seitdem befindet sich die Universität auf dem Rückzug von ihrem alten Campus, der nach jetzigem Stand 2023 abgeschlossen sein soll. Das Areal ist unterdessen zu einem Ort geworden, an dem sich die Auseinandersetzungen um eine ›Stadt für alle!‹ wie unter einem Brennglas bündeln. Entscheidend für das Verständnis ist dabei die Eigentumsfrage: War das Gelände zunächst im Besitz der Stadt Frankfurt, so hatte diese es 1967, als die Universität zur Landesuniversität wurde, dem Land Hessen kostenlos überlassen. Im Jahr 1999 verzichtete die Kommune schließlich auf ihre Grundstücksansprüche und ebnete dem Land damit den Weg zu deren Vermarktung. Das Ziel dieses im sogenannten ›Kulturvertrag‹ vereinbarten Deals war, dass das Land mit den Erlösen aus dem Verkauf der Flächen den Bau des neuen Uni-Campus finanzieren konnte. Ein Jahrzehnt später schließlich beauftragte die Stadt Frankfurt ihre Wohnungsbaugesellschaft ABG Frankfurt Holding mit dem abermaligen Kauf der Flächen vom Land, das sich diesen nach den inzwischen gestiegenen Bodenpreisen bezahlen ließ. Diese Konstruktion, bei der eine zentrale urbane Fläche zwischen Körperschaften der öffentlichen Hand hin und her gereicht wurde, erweist sich bis heute als die entscheidende Ausgangsbedingung. Sie führte dazu,

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dass ein eigentlich die gesamte Zeit über im öffentlichen Besitz befindliches Gelände in die Marktlogik hineingeriet – was alle weiteren Entwicklungen bis heute bestimmt.

Umkämpfte Traditionen Doch der Reihe nach: Spätestens seit die Universität ab 2001 mit ihrem Umzug auf den neuen Campus begann, wuchsen die Befürchtungen, dass auf dem freiwerdenden Areal ein Investoren-Ghetto entstehen würde, das den Stadtteil seine Identität verlieren ließe. Und tatsächlich schienen sich die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen, als 2004 ein erster Rahmenplan veröffentlicht wurde: Geplant waren 60 % Bürobebauung, ein Anteil Eigentumswohnungen und ein beinahe vollständiges Ausradieren der Geschichte. Außer dem neobarocken Hauptgebäude sollten sämtliche Bestandsbauten vom Campus verschwinden – allen voran die architektonisch bedeutenden Gebäude des ehemaligen Universitätsbaumeisters Ferdinand Kramer wie das Philosophicum, das Studierendenwohnheim an der Bockenheimer Warte, die ehemalige Mensa ›Labsaal‹, die Universitätsbibliothek und das Hörsaalzentrum. Dem außerhalb des Planungsfeldes gelegenen Institut für Anglistik und Amerikanistik, das damals als ›Institut für vergleichende Irrelevanz‹ (IvI) besetzt war, drohte ein ähnliches Schicksal. Das vom Büro Otto Apels entworfene und zwischen 1951 und 1953 errichtete Studierendenhaus schließlich sollte einem Grünstreifen weichen, der die historische Bockenheimer Landwehr symbolisch markieren würde. Dass mit diesem historisierenden Rückgriff auf eine im frühen 19. Jahrhundert verschwundene Stadtmarke paradoxerweise ein bedeutendes, denkmalgeschütztes Bauwerk aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – und vor allem eine noch immer lebendige Praxis – ausgelöscht würde, schien den Stadtplaner*innen und großen Teilen der kommentierenden Öffentlichkeit noch nicht einmal aufzufallen. Mehrere Bürger*inneninitiativen entstanden, deren Protest sich zu Beginn vor allem gegen diesen Umgang mit den Bestandsbauten richtete. Was diesen Protest jedoch von einem rein konservativen Bewahren um des Bewahrens willen unterschied, waren die besondere Tradition sowie die Diskurse, mit denen daran angeknüpft wurde: Vor allem die Kramer-Bauten und das Studierendenhaus stehen als architektonische Zeugen für die kritische Tradition der frühen Bundesrepublik und insbesondere Frankfurts. Ferdinand Kramer, der in den 1920er Jahren als Mitarbeiter von Ernst May am Neuen Frankfurt mitgewirkt hatte, war 1952 von Max Horkheimer aus dem amerikanischen Exil zurückgeholt und zum Baudirektor der Universität ernannt worden. Als solcher steht er für den architektonischen Aufbruch der Frankfurter Universität in die Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg, der zugleich weit mehr war als ein rein architektonisches Unternehmen. Vielmehr sollte in ihm der demokratische Aufbruch als Antwort auf die Verbrechen des Nationalsozialismus einen adäquaten Raum zur Entfaltung bekommen. Indem die Bürger*inneninitiativen diese Aspekte hervorhoben, und darin insbesondere die personelle wie ideelle Verbindung zu den Protagonisten der Frankfurter Schule betonten, wurde die Auseinandersetzung um die Gebäude zu einer Frage mit dem Umgang des Erbes der Kritischen Theorie – und das nicht nur an der Frankfurter Universität, die sich zur selben Zeit eben jener Tradition zunehmend entledigte, sondern der Stadt Frankfurt als Ganzer. Das Studierendenhaus, das noch vor Kramers Berufung geplant worden war, steht exemplarisch für dieses Erbe und dessen kämpferisches Potential

Wem gehört nochmal die Stadt? Der Campus Bockenheim

in der Gegenwart: Es ist Symbol für die Redemokratisierung nach dem Krieg und war über die wechselvollen Zeiten hinweg ein Hort der kritischen Auseinandersetzung mit dem Bestehenden und der utopischen Praxis einer anderen Gesellschaft. Als solches hat es die Frankfurter Geschichte geprägt wie wenige andere Gebäude. Seine Errichtung war unmittelbar mit der Erfahrung von Diktatur und Krieg verbunden. Und sie ist im Rückblick nicht nur ein Meilenstein in der Redemokratisierung der Hochschule, sondern steht symbolisch für die Rückkehr der Frankfurter Schule aus dem Exil und die damit verbundenen emanzipativen Bestrebungen. Die exilierten Wissenschaftler des Instituts für Sozialforschung um Horkheimer und Adorno waren mit dem klaren Willen und der vagen Hoffnung nach Deutschland zurückgekommen, dieses Land auf lange Sicht zu verändern (Gödde/Lonitz 2005, 2006; Demirovic 1989). Sie waren sich durchaus bewusst, dass die formale Existenz eines demokratischen Staates noch lange keine Demokratie ausmachte, sondern dass Demokratie nur in einer sich immer wieder neu vollziehenden aktiven Praxis bestehen könne. Doch eine solche demokratisierende Praxis brauchte, das war für die im historischen Materialismus geschulten Denker klar, zuallererst materielle Grundlagen. Und das ›Studentenhaus‹ sollte eine solche neu zu schaffende Grundlage sein. In seiner Eröffnungsrede 1953 widmet Horkheimer den Neubau »der Erziehung einer akademischen Jugend, die sich nicht bloß wissenschaftliche Verfahrensweisen aneignet, sondern die zugleich den Umgang mit Menschen anderer Nationen, Religionen und Rassen [sic!], freiwillige Hingabe an soziale, künstlerische, sportliche Tätigkeiten, Liebe zum Denken und Forschen, zum Diskutieren, zur kreativen Muse, kurz die den Geist der realen und tätigen Demokratie praktiziert.« Und das Haus sollte keinesfalls eine studentische Nische am Rande des eigentlichen Hochschulbetriebs werden. Im Gegenteil: »Wie unendlich klein auch das Ausmaß dieses Hauses im Hinblick auf so hochgesteckte Ziele erscheint, die Wirkung dieser Zelle wird sich aufs Ganze der Universität und weiterhin erstrecken, es wird ihr Zentrum werden« (Horkheimer 1953). Dieser hochgesteckte Anspruch scheint sich in den folgenden Jahrzehnten in mancherlei Hinsicht eingelöst zu haben. Einzelne Initiativen und Projekte haben aus diesem Haus heraus nicht nur in die Universität, sondern auch in die Stadt Frankfurt und die ganze Bundesrepublik hinein gewirkt (Filla-Raquin/Keppler 2019). Entscheidend und außergewöhnlich ist jedoch, dass an diesem von immer wieder neuen Generationen geprägten Ort eine kritische Tradition über viele Jahrzehnte lebendig geblieben ist und sich immer wieder erneuert hat. So war es dann auch kein Zufall, dass sich in dem Moment, als der Campus in den Strudel des Stadtumbaus gerissen wurde, der Widerstand gerade um dieses Haus herum gruppierte. Die Auseinandersetzung geschah dabei von Beginn an unter Berufung auf das ›Recht auf Stadt‹, und umgekehrt fanden die Kämpfe um ein ›Recht auf Stadt‹ in Frankfurt hier über die gesamten 2010er Jahre immer wieder einen wichtigen Referenzpunkt wie auch einen ganz konkreten Versammlungsraum.

Bullshit-Bingo versus Konsensmilch Bei dieser im Stadtteil lebendigen kritischen Tradition verwundert es nicht, dass die Pläne der Stadtplaner*innen nicht lange unbeantwortet blieben. 2009 gründen sich die Bürger*inneninitiativen ›Zukunft Bockenheim‹ und ›Ratschlag Campus Bockenheim‹. In Bürger*innenversammlungen, Campusspaziergängen und Manifesten wird über die Pläne informiert und die städtische Politik kritisiert. Über diese Kritik hinaus wird die im Stadtteil

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vorhandene Fantasie aktiviert und rasch eine alternative Planung entwickelt. Durch die Öffnung des Studierendenhauses für den Stadtteil in Form von Diskussionen, Filmen, Tanzperformances und Ausstellungen wird vielen Bürger*innen bewusst, welches Juwel hier vorhanden ist und welches Potential zu verschwinden droht. Bald schon nimmt die alternative Planung Schwung auf: 2010 wird die Initiative für ein ›Offenes Haus der Kulturen‹ gegründet und erarbeitet erste Konzepte für die Weiternutzung des Gebäudes als selbstorganisiertes soziokulturelles Zentrum. Anfang der 2010er Jahre verschärft sich die Auseinandersetzung um den Campus und wird zeitweise zum zentralen Thema der Stadtpolitik. Der Protest entfacht sich nun an der Logik einer unternehmerischen Stadt, die das Gelände unter dem 2010 geborenen Schlagwort ›Kulturcampus‹ als Leuchtturmprojekt innerhalb einer internationalen Standortkonkurrenz vermarkten möchte. Dahinter verbirgt sich eine Konzentration verschiedener, bislang über die Stadt verstreuter Kultureinrichtungen rund um einen Neubau der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, aber auch größere Flächen für Wohnen und Büros. Als sich im Juni 2011 das Netzwerk ›Wem gehört die Stadt?‹ gründet, findet das zentrale Happening des Aktionstags auf dem Campus statt. Unter Beteiligung der Gruppe ›Schwabinggradballett‹ aus dem Hamburger ›Recht auf Stadt‹-Netzwerk und der Frankfurter Performancegruppen ›Arty Chock‹ und ›LaLaHey‹ wird ein alternativer Kulturcampus eröffnet, in dessen Eröffnungszeremonie die Energien der unternehmerischen Stadt zeremoniell ausgetrieben werden. Die lauten und kreativen Proteste zeigen Wirkung: Nach einer durch ein ›Bullshit-Bingo‹ sabotierten Informationsveranstaltung von Stadt, Land und ABG Holding entschließt sich die Kommune zur Einrichtung von Planungswerkstätten, um die aufkommenden Konflikte zu befrieden (Dzudzek 2016). Die Bockenheimer Bürger*inneninitiativen nehmen trotz großer Bedenken am Scheincharakter der dort inszenierten Partizipation an den ›Werktstätten‹ teil. Die dahinterstehende Strategie ist es, die von einem großen Medieninteresse begleiteten Veranstaltungen als öffentliche Plattform für die eigenen Anliegen zu nutzen und parallel über Demonstrationen, Protestaktionen und Diskussionen den politischen Druck zu erhöhen. Diese Doppelstrategie geht zum Teil auf: Während sich an den Rahmenbedingungen des Stadtentwicklungsprojektes und der dahinterstehenden Logik der unternehmerischen Stadt zwar erwartungsgemäß nichts Wesentliches ändert, können einzelne Teilerfolge erzielt werden. Unter anderem gelingt es, im ›Konsensplan‹ der Planungswerkstätten und später im Bebauungsplan für das Areal, den Abriss des Studierendenhauses zu verhindern und seine weitere Nutzung als ›Sondergebiet Wissenschaft und Kultur‹ festzuschreiben. Damit ist der Kampf um das Gebäude zwar noch lange nicht gewonnen, aber eine deutlich verbesserte Ausgangsposition für die weitere Auseinandersetzung geschaffen. 2011 bis 2013 verdichten sich die Auseinandersetzungen um den Campus. Regelmäßig gibt es Demonstrationen, Besetzungen einzelner leerstehender Institutsgebäude und weitere Aktionen aus dem Umfeld der Bürger*inneninitiativen und des Netzwerks ›Wem gehört die Stadt?‹, die zu dieser Zeit von einer aktiven Studierendenschaft mitgetragen werden, welcher der Wandel ihrer Universität zur zunehmend betriebswirtschaftlich orientierten Stiftungsuniversität im Kontrast des alten und des neuen Campus plastisch vor Augen steht. Zwei Ereignisse bilden den Höhepunkt, markieren aber auch das Ende dieser Phase: die Besetzung des Philosophicums und die Räumung des ›Instituts für vergleichende Irrelevanz‹. Inspiriert vom Beispiel des Hamburger Gängeviertels kommt es beim Sommerfest des ›Offenen Haus der Kulturen‹ und der Initiative ›Zukunft

Wem gehört nochmal die Stadt? Der Campus Bockenheim

Bockenheim‹, bei dem 2012 hunderte Menschen auf der Wiese vor dem Philosophicum bunt und ausgelassen feiern, zur Besetzung des seit zehn Jahren leerstehenden ehemaligen geisteswissenschaftlichen Seminargebäudes. Für einen kurzen Moment scheint vieles möglich – doch die Besetzung kann sich nicht halten und auch sonst sind die Erfolge eher begrenzt. Der Abriss des Gebäudes kann zwar in der Folge verhindert werden, doch die Gruppe von über hundert Menschen, die hier in jahrelanger Arbeit ein Konzept für gemeinschaftliches und solidarisches Wohnen entwickelt hatte, wird im letzten Moment von einem Investor ausgestochen. Dieser erwirbt das Gebäude von der ABG Holding, die sich in den Verhandlungen mit der Wohngruppe geweigert hatte, vom Marktpreis abzuweichen, und errichtet in Folge hochpreisige Mikroappartments. Eine weitere Niederlage ist im April 2013 die Räumung des ›Instituts für vergleichende Irrelevanz‹, das seit 2003 das ehemalige Institut für Englandund Amerikastudien besetzt gehalten hatte. Über zehn Jahre hatte hier unter dem Motto »Kritisches Denken braucht und nimmt sich Zeit und Raum« ein Programm aus Theorie, Praxis und Partys stattgefunden. Die Besetzung des zuvor seit 2001 leerstehenden Gebäudes war von der Universität langjährig toleriert worden, bis diese das denkmalgeschützte Haus für einen relativ geringen Preis an den Investor Franconofurt AG veräußerte, der es später mit hohem Gewinn weiterverkaufte. Seitdem steht es leer und verrottet, vermutlich solange bis die Rendite abermals stimmt und der Denkmalschutz aufgehoben wird. Der normale Wahnsinn also. Die Räumung vollzog in jedem Fall eine weitere Etappe im Abschied der Universität von ihrem alten Campus. Nur wenige Wochen zuvor waren die Gesellschaftswissenschaften aus dem gegenüberliegenden AfE-Turm ausgezogen. Die Sprengung des brutalistischen Baus, in dem Generationen von Studierenden Politologie, Soziologie und Erziehungswissenschaft in einem kritischen Umfeld studiert hatten, wird im Februar 2014 als großes Spektakel mit rund 40.000 Schaulustigen und Live-Übertragung im Fernsehen inszeniert. Sie markiert symbolisch das Ende der alten Frankfurter Universität.

Zwischenräume Die beiden Niederlagen und der Wegzug der von einer kritischen Grundhaltung geprägten Studierenden der Gesellschaftswissenschaften nehmen dem Protest auf dem Campus einiges an Wind aus den Segeln. Der Kampf geht zwar weiter, doch die jahrelange, nur von wenigen greifbaren Erfolgen gekrönte Auseinandersetzung hinterlässt nun ihre Spuren in Frustration und Erschöpfung. Die Mobilisierung wird schwieriger, manche geben auf, die überschaubare Anzahl der verbleibenden Aktiven dreht sich häufig im Kreis. Immer wieder gibt es Versuche, der Stagnation zu entkommen. So zum Beispiel beim Aktionskongress ›Neustart Campus Bockenheim‹, zu dem sich 2015 mehrere Initiativen aus dem ›Recht auf Stadt‹-Spektrum zusammenschließen. Der mehrtägige Kongress möchte die vorhandenen Ideen sammeln und mit alternativen Planungen einen neuen Aufbruch erzeugen. Doch die Zahl der Teilnehmer*innen bleibt überschaubar und der erhoffte Impuls bleibt aus. Die immer wieder von Verzögerungen bestimmte Länge des Planungsprozesses kann von städtischen Verwaltungen offenbar problemlos verarbeitet werden; eine politische Basisbewegung stellt sie jedoch vor extreme Herausforderungen. Während die Entwicklung des Kulturcampus stagniert, konzentriert sich das ›Offene Haus der Kulturen‹ zunehmend auf ein soziokulturelles

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und politisches Programm, das in den Ritzen des vor sich hin dämmernden Campus seine Blüten treibt. Diskussionen, Ausstellungen, Filmreihen, Feste und Konzerte setzen sich mit einem in Bewegung geratenen Verständnis von kultureller Identität auseinander, werfen einen kritischen Blick auf die Gesellschaft und zeugen von der Möglichkeit eines anderen Miteinanders. Zusätzlicher Schwung entsteht zwischenzeitlich aus einer gänzlich unvorhergesehenen Entwicklung: Am Ende des ›Sommers der Migration‹ bekommt der brachliegende Campus neue Bewohner*innen. Der ›Labsaal‹, die seit über zehn Jahren leerstehende ehemalige Mensa, wird Ende 2015 zur eilends hergerichteten Notunterkunft für knapp 200 Geflüchtete. Schnell bildet sich im Stadtteil ein breites Netz von Unterstützer*innen. Als zu einem spontan organisierten Willkommensfest über 500 Menschen ins Studierendenhaus kommen, ist schnell klar, an welchem Ort sich das Engagement bündeln wird. Rund um das wöchentliche Sonntagscafé des ›Netzwerks Bockenheim mit Geflüchteten‹ etabliert sich eine Struktur aus Beratung, Hilfsangeboten und gemeinsamen Aktivitäten. Mit dem Projekt ›Good Morning Deutschland‹ gründet sich ein Radio von und für Geflüchtete, das der neuen Vielfalt eine Stimme gibt. Die vermeintliche gesellschaftliche ›Krise‹ – auf dem Campus wird sie zum unerwarteten Aufbruch. Indem der Campus zu einem Ort des Ankommens wird, knüpft er in gewisser Weise an seine Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg an. Symbolischen Ausdruck findet dies 2017 im Projekt ›Signal Labsaal‹, bei dem die Bürger*inneninitiativen gemeinsam mit Streetart-Künstlern und Geflüchteten die komplette Außenfassade der Unterkunft gestalten. Die Motivik greift die Geschichte der Frankfurter Schule auf, deren Protagonisten nach dem durch die Nazi-Diktatur erzwungenen Exil an die Frankfurter Uni zurückgekehrt waren und deren Wiederaufbau und Demokratisierung maßgeblich vorangetrieben haben. In den folgenden Jahren vermag das ›Offene Haus der Kulturen‹, mittlerweile mit Unterstützung aus dem städtischen Haushalt, seine Aktivitäten weiter auszubauen. Der dahinterstehende Anspruch ist es, sich als öffentlich sichtbare Institution zu behaupten und die Nachnutzung des Studierendenhauses aus dem bestehenden Betrieb heraus zu entwickeln. So treffen sich zwischen Herbst 2018 und Sommer 2019 über 30 Initiativen in regelmäßigen Workshops, Arbeitsgruppen und auf Plena und erarbeiten ein gemeinsames Trägerkonzept für das selbstorganisierte Kulturzentrum. Daneben bleibt es der Anspruch, die sich mittlerweile über zwei Jahrzehnte erstreckende Übergangszeit auf dem Campus auch weiterhin kritisch zu begleiten und immer wieder nach Möglichkeiten für Interventionen zu suchen. So gelingt es etwa im Verbund mit anderen Initiativen im Frühjahr und Sommer 2020 in der ehemaligen Akademie der Arbeit eine solidarische Stadtteilkantine einzurichten (—Bleckmann/Jakobi/Kordes in diesem Band). Angesichts des mittlerweile vor dem Scheitern stehenden Projekts Kulturcampus wird hier deutlich, was dieser jenseits großspuriger Rhetorik tatsächlich sein könnte: nämlich ein lebendiger Ort sozialer und kultureller Praxis.

Warum noch Stadt entwickeln, wenn die Preise von allein steigen? Während sich Stadt und Land bei der Realisierung des Kulturcampus seit Jahren blockieren und zentrale Teile des Areals weiterhin von der Universität genutzt werden, schafft die ABG Holding an den Rändern Fakten. Bereits 2014 stellt sie am nördlichen Ende einen Block mit überwiegend Eigentumswohnungen, einigen hochpreisigen Mietwohnungen und einem

Wem gehört nochmal die Stadt? Der Campus Bockenheim

Vollsortimenter-Supermarkt fertig. Im Philosophicum am westlichen Rand entstehen die bereits erwähnten Mikroappartments eines privaten Investors, in denen sich Studierende und junge Berufstätige mit entsprechendem Geldbeutel temporär für Quadratmeterpreise ab 22 € Kaltmiete einmieten können. Am südlichen Ende des Campus, dort, wo zuvor der AfE-Turm stand, entsteht unterdessen das bislang spektakulärste Projekt des ›Kulturcampus‹-Areals: ›One Forty West‹, ein sogenannter Hybridturm, also eine 145 m hohe Mischung aus Fünf-Sterne-Luxus-Hotel in den unteren Stockwerken, sehr teuren Mietwohnungen darüber und Eigentumswohnungen in den obersten Etagen, die im Schnitt bei selbst für Frankfurter Verhältnisse absurd teuren 14.500 €/m² liegen. Der Immobilieninvestor Commerz Real Investment hat das Grundstück von der ABG Holding – deren Geschäftsführer noch bei den Planungswerkstätten versprochen hatte, es würden keine Grundstücke privatisiert werden – zu einem unbekannten Preis erworben. Daneben entstehen derzeit zwei weitere Bürotürme, die eine Erweiterung des Büroclusters rund um die Messe auf das ehemalige Universitätsareal vollziehen. Während hier also Wohn- und Gewerberaum der höchsten Preisklasse vorrangig für Kapitalanleger geschaffen wird, sind auf dem Gelände bislang so gut wie keine geförderten Wohnungen entstanden. Und auch die sechs Wohngruppen, die bereits 2014 den Zuschlag für Grundstücke zum gemeinschaftlichen Wohnen erhalten hatten, warten weiterhin auf die Realisierung ihrer Projekte. Zu welchen Konditionen dies irgendwann geschieht, ist unklar und könnte durchaus noch zu unangenehmen Überraschungen führen. Am Beispiel der von der Stadt im Konzeptverfahren für gemeinschaftliches Wohnen ausgeschriebenen, neben dem Studierendenhaus gelegenen ehemaligen Akademie der Arbeit wird deutlich, wo das Problem liegt. Die Wohngruppen sollen neben hohen Kosten für Gebäude und Umbau einen Erbbauzins von 2,5 % auf das Grundstück bezahlen. Dessen Preis bemisst sich jedoch nach dem gegenwärtigen Bodenrichtwert und der ist in den letzten zehn Jahren förmlich explodiert. Betrug er 2012 auf dem Kerngebiet des Campus noch 2.400 €/m², so liegt er dort 2020 bereits bei 4.400 €/m². Tendenz steigend (Gutachterausschuss für Immobilienwerte für den Bereich der Stadt Frankfurt am Main 2021). Diese Bodenpreisexplosion macht die Realisierung von günstigem Wohnraum oder anderer nicht kommerzieller Nutzungen heute überaus schwer bis beinahe unmöglich. So bekennt das Studentenwerk bereits mehr oder weniger offen, dass es seine beiden seit fast 70 Jahren auf dem Campus betriebenen Wohnheime unter den neuen, von der ABG Holding bestimmten Konditionen nicht wird halten können. Und ironischerweise scheint es derzeit so, als ob zuletzt auch der Kulturcampus am ›Erfolg‹ der eigenen Vermarktungslogik scheitern wird. Dessen Vision wird öffentlich zwar weiterhin aufrechterhalten, doch dürfte mittlerweile den meisten Politiker*innen klar sein, dass die Stadt die dafür notwendigen Kosten – seien es Mieten oder Pachtzinsen – aus dem städtischen Haushalt nicht wird bezahlen können oder wollen. Der lange Zeitraum, der für die Entwicklung des immer noch unter dem Label ›Kulturcampus‹ vermarkteten Areals mittlerweile verstrichen ist, hat sich also durchaus gelohnt – zumindest für die Investoren, die eines der begehrten Grundstücke aus diesem ›Leuchtturmprojekt‹ erworben haben. Gelohnt haben dürfte es sich auch für die Immobilienentwickler des Landes Hessen und nicht zuletzt für die ABG Holding, die den Zuwachs der Bodenpreise in ihren Bilanzen und bei den bislang und in Zukunft getätigten Verkäufen verbuchen kann. Verlierer*innen allerdings sind all jene, die

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gehofft hatten oder immer noch hoffen, hier wohnen zu können, ein Kulturprojekt zu realisieren oder etwas umsetzen wollten, das mit dem enormen Verwertungsdruck nicht länger mithalten kann. Durchaus bemerkenswert ist, dass all dies auf einem Areal geschieht, das seit vielen Jahrzehnten in öffentlicher Hand liegt und auf dem es folglich überhaupt keine Notwendigkeit gegeben hätte, irgendeinen Kostendruck zu erzeugen. Während sich Stadt und Land bei der Realisierung des Kulturcampus seit Jahren gegenseitig blockieren, hat ihr Umgang mit Grund und Boden, der qua politischer Entscheidung einer gewinnorientierten Logik verpflichtet ist, zu dieser im Kontrast höchst dynamischen (Preis-) Entwicklung geführt. Vor diesem Hintergrund zeigt sich die Funktionsweise der unternehmerischen Stadt tatsächlich wie unter einem Brennglas: Es handelt sich weder um eine bedauerliche noch um eine irgendwie ›natürliche‹ Entwicklung, sondern vielmehr um rekonstruierbare und bewusst getroffene politische Entscheidungen, die zu dem heute herrschenden Dilemma geführt haben.

Ja und wem gehört sie denn nun, die Stadt? Am Ende ist also tatsächlich die Frage »Wem gehört die Stadt?« entscheidend. Sie zeigt auf, was falsch läuft in unseren Städten – weist aber zugleich den Weg zu einer möglichen anderen Stadt. Denn wenn die Geschichte des Campus Bockenheim eines zeigt, dann, dass es keine abstrakten Diskussionen, sondern praktische Kämpfe um sehr konkrete Orte sind, an denen die Probleme unserer Städte erkennbar werden und an denen folglich die Auseinandersetzung um ein ›Recht auf Stadt‹ geführt werden muss. Zugleich wird deutlich, dass keiner dieser Kämpfe dauerhaft erfolgreich sein kann, wenn nicht die dahinterliegenden Logiken und Eigentumsverhältnisse analysiert, öffentlich gemacht und praktisch angegangen werden. Dies kann keine Gruppierung und kein Projekt alleine schaffen, sondern es bedarf der solidarischen Vernetzung der Kämpfe und der gegenseitigen Unterstützung. Ein solcher Kampf kann sich manchmal über viele Jahre ziehen. Um ihn dauerhaft führen zu können, bedarf es Strukturen und Räume. Und es bedarf der glaubhaften Erzählung, dass eine andere Gesellschaft möglich ist. All dies ist auf dem Campus Bockenheim (noch) vorhanden. Das Zeitfenster wird enger – doch noch immer gibt es vieles zu gewinnen.

Wem gehört nochmal die Stadt? Der Campus Bockenheim

Literaturverzeichnis Demirovic, Alex (1989): Das Glück der Wahrheit. Die Rückkehr der ›Frankfurter Schule‹, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 36 (1989), S. 700–707. Dzudzek, Iris (2016): Kreativpolitik. über die Machteffekte einer neuen Regierungsform des Städtischen, Bielefeld: Transcript. Filla-Raquin, Michaela/Keppler, Andrea Caroline (2019): Kunst der Revolte // Revolte der Kunst. Perspektiven auf die langen 60er Jahre in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main: Hochschule für Gestaltung. Gutachterausschuss für Immobilienwerte für den Bereich der Stadt Frankfurt am Main (2021): Bodenrichtwerte 2020, https://geoinfo.frankfurt.de/mapbender/application/bodenrichtwerte-2020 (Zugriff: 25.02.2020). Gödde, Christoph/Lonitz, Henri (Hg.) (2005): Theodor W. Adorno. Max Horkheimer. Briefwechsel 1927 – 1969. Band III: 1945 – 1949, (= Briefe und Briefwechsel, Band 4), Frankfurt am Main: Suhrkamp. Gödde, Christoph/Lonitz, Henri (Hg.) (2006): Theodor W. Adorno. Max Horkheimer. Briefwechsel 1927 – 1969. Band IV: 1950 – 1969, (= Briefe und Briefwechsel, Band 4), Frankfurt am Main: Suhrkamp. Horkheimer, Max (1953): Einweihung des Studentenhauses. Ansprachen, gehalten am 21. Februar 1953 beim Akademischen Festakt (=Frankfurter Universitätsreden, Heft 9), Frankfurt am Main: Klostermann.

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›Faites Votre Jeu!‹ Stadtpolitische Kämpfe für ein kulturpolitisches Zentrum oder: Wie eine Hausbesetzung im Knast endet Personen, die seit mehreren Jahren in der Initiative ›Faites votre jeu!‹ aktiv sind

Das selbstverwaltete Kulturzentrum Klapperfeld befindet sich in einem ehemaligen Polizei- und Abschiebegefängnis in der Frankfurter Innenstadt. Die Initiative ›Faites votre jeu!‹ nutzt seit Ende April 2009 das Gebäude und ermöglichte es, dass dieser Raum zu einem sozialen und selbstverwalteten Zentrum wurde. Es gilt das Motto: »Das Klapperfeld ist nicht, das Klapperfeld wird gemacht.« Danach ist die Entwicklung des Raums das Ergebnis der vielfältigen Aktivitäten derer, die ihn mitgestalten und dadurch lebendig machen (Initiative ›Faites votre jeu!‹ 2010). Das Klapperfeld ist Treffpunkt einer Vielzahl unterschiedlicher Gruppen und Initiativen, die sonst in der Stadt kaum Räume zur Verfügung haben. Das Kulturzentrum bietet neben Räumen für Gruppentreffen und Veranstaltungen auch Platz für Musikproberäume, Holz-, Druck- und Fahrradwerkstätten sowie Ateliers. Zwei Dauerausstellungen dokumentieren die Geschichte des im Jahr 1886 als Polizeigefängnis errichteten Gebäudes. Mit dessen Aneignung ist im Zentrum Frankfurts, nur 100 m entfernt von der Shoppingmeile Zeil, ein Freiraum geschaffen worden. Hier wird kulturelle Entfaltung ohne Konsumzwang ermöglicht und mitten im Frankfurter Gerichtsviertel politische Positionen zur Vergangenheit und Gegenwart von antisemitischer, rassistischer, sexistischer Gewalt und staatlicher Repression bezogen. Doch wie kam es dazu, dass ein ehemaliges Gefängnis zu einem Kulturzentrum wurde?

›Faites Votre Jeu!‹ Besetzung des ehemaligen JUZ Bockenheim Die Initiative ›Faites Votre Jeu!‹ besetzte im August 2008 ein seit Jahren leerstehendes ehemaliges Jugendzentrum im Frankfurter Stadtteil Bockenheim. Das JUZ Bockenheim war als selbstverwaltetes Jugendzentrum im Jahre 1974 aus einer Hausbesetzung hervorgegangen, dann jedoch Anfang der 2000er Jahre an einen anderen Standort gezogen. Das Gebäude in städtischem Eigentum stand sieben Jahre lang leer, bevor ›Faites Votre Jeu!‹ einzog und den maroden Bau renovierte. Der Kontext der Besetzung waren dabei steigende Mieten und eine zunehmende Kommerzialisierung des öffentlichen Raums, die immer mehr Menschen eine selbstbestimmte Gestaltung ihres Alltags und kulturelle Entfaltung verunmöglichten. Dagegen

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formulierte die Initiative ›Faites Votre Jeu!‹ die Aufforderung, ›das Spiel selbst zu machen‹ – und setzte dies im ehemaligen JUZ Bockenheim mit der Aneignung von Räumen für selbstorganisierte und unkommerzielle Kultur, Ateliers und Veranstaltungen um. Verantwortlich für die Liegenschaft war die damalige Bürgermeisterin Jutta Ebeling von den Grünen. Im Mai 2008 hatte sie im Sonntagstalk des Hessischen Rundfunks zum 40-jährigen Jubiläum der Ereignisse um 1968 geäußert, dass sie jungen Menschen heute wünsche, die von ihr so erlebte Zeit eines Aufbruchs ›mit dem Gefühl, die Welt aus den Angeln heben zu können‹, ebenfalls erfahren zu können. Ein halbes Jahr nach diesen Worten stellte sie gegen die Besetzer*innen des ehemaligen JUZ Bockenheim Strafanzeige wegen Hausfriedensbruch. Hier kommt ein für die Frankfurter Grünen typischer biographischer Bruch zum Ausdruck. Die politische Sozialisation begann für viele der Grünen-Parteigänger*innen in den 1960er und 1970er Jahren in linken Bewegungen. Heute befindet sich die Partei im Frankfurter Stadtparlament in einer langjährigen Koalition mit der CDU. Indem sie gezielt auf diesen Widerspruch anspielte, gewann die Kampagne der Besetzer*innen des ehemaligen JUZ Bockenheim die Sympathien des linksalternativen Milieus an der Basis der Frankfurter Grünen (Initiative ›Faites votre jeu!‹ 2009). So gelang es der Initiative durch öffentlichkeitswirksame Demonstrationen sowie Veranstaltungen im ehemaligen JUZ Bockenheim, eine breite Unterstützung zu gewinnen. Jutta Ebeling und das Frankfurter Bildungsdezernat traten schließlich in Verhandlungen mit den Hausbesetzer*innen ein und boten der Initiative verschiedene Ersatzobjekte an, um die Haus­besetzung zu beenden. Neben anderen Objekten, die aus verschiedenen Gründen nicht annehmbar schienen, wurde der Initiative schließlich im Januar 2009 ein Umzug in das ehemalige Polizeigefängnis in der Klapperfeldstraße vorgeschlagen. Ein letztes Angebot, das die Initiative nach Meinung des Frank­ furter Bildungsdezernates nicht ablehnen konnte (FR 27.01.2009).

Hausbesetzer*innen ›gehen in den Knast‹ Die Fortführung des Kulturzentrums im Klapperfeld war jedoch innerhalb der Initiative umstritten. Einige empfanden die Beendigung der Besetzung als Niederlage und fürchteten mit einer Legalisierung des Projektes und der damit verbundenen Gründung eines eingetragenen Vereins die Herausbildung von hierarchischen Entscheidungsstrukturen im Kulturzentrum. Zugleich erschien es nicht einfach, sich ein linkes, selbstverwaltetes Projekt in einem ehemaligen Gefängnis vorzustellen. Zumal viele Frankfurter Linke das Klapperfeld noch kannten, als es während Demonstrationen und Protesten gegen Naziaufmärsche und rassistische Zustände in den 1990ern und 2000er Jahren als Stätte für Polizeigewahrsam diente. Der Kontrast von den Räumen der Gründerzeitvilla im JUZ Bockenheim zur Gewaltarchitektur der Hafträume sowie der marode Zustand des im Jahr 1886 errichteten Polizeigefängnisses riefen ebenfalls Bedenken hervor. Zuspruch erhielt die Initiative jedoch von Zeitzeug*innen, die selbst während des Nationalsozialismus im Klapperfeld in Gestapohaft waren. Den Kontakt zu den ehemaligen Gefangenen und deren Angehörigen hatte die Initiative bereits während der Verhandlungen mit der Stadt gesucht. Demgegenüber war eine Aufarbeitung der Geschichte des ehemaligen Polizeigefängnisses für die Vertreter*innen der Stadt bis dahin kein Thema gewesen. Letzten Endes beschloss die Initiative, das Angebot zum Umzug unter der selbst auferlegten Bedingung anzunehmen, dass die Auseinandersetzung mit

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der Vergangenheit des ehemaligen Polizei- und Abschiebegefängnisses eine dauerhafte Aufgabe des selbstverwalteten Kulturzentrums wird.

Aneignung des Klapperfelds und geschichtspolitische Auseinandersetzungen Der Umzug in die Klapperfeldstraße im Frühjahr 2009 veränderte die inhaltliche Ausrichtung der Arbeit der Initiative. Die Aneignung des Raumes fand nicht nur durch die Sanierung und Nutzbarmachung der ehemaligen Hafträume für kulturelle und politische Veranstaltungen statt, es wurde auch ein auf Dauer angelegter Prozess der Auseinandersetzung mit der Historie des Ortes begonnen. Vor dem Umzug von ›Faites Votre Jeu!‹ fand das Gebäude in der öffentlichen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Frankfurt nur eine marginale Beachtung oder es wurde gar bestritten, dass das Klapperfeld diesbezüglich überhaupt eine größere Bedeutung gehabt habe.1 Entgegen dieser Auffassung konnte ›Faites Votre Jeu!‹ durch Recherchen in Archiven und der Befragung von Zeitzeug*innen aufzeigen, dass im Klapperfeld in der Zeit von 1933 bis 1945 tausende Menschen durch Polizei und Gestapo inhaftiert und von dort meist in weitere Haftstätten und Konzentrationslager verschleppt wurden. Diese Erkenntnisse wurden der Öffentlichkeit erstmals im Sommer 2010 im Rahmen einer Dauerausstellung präsentiert, die seitdem kontinuierlich weiterentwickelt wird. 2014 wurde ein zweiter Abschnitt der Dauerausstellung eröffnet, der die Geschichte des sogenannten Abschiebetraktes dokumentiert. Vor allem seit den 1980er Jahren wurde das Klapperfeld verstärkt als Abschiebegefängnis genutzt. Mit der Dauerausstellung ›Raus von hier‹ werden Inschriften und andere Erinnerungen an die Abschiebegefangenen in den Hafträumen übersetzt und mit einer Audioinstallation zugänglich gemacht. Wie alle Tätigkeiten im Kulturzentrum ist auch die geschichtspolitische Arbeit

Abbildung 1: Austellungstafeln im Keller (Quelle: eigene Aufnahme).

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Abbildung 2: Transparente gegen Knäste (Quelle: eigene Aufnahme).

unkommerziell und wird über das wöchentlich stattfindende offene Plenum der Initiative organisiert. Hier werden Aufgaben der Selbstverwaltung des Projektes koordiniert und Anfragen zur Nutzung der Räume besprochen. Die beiden Dauerausstellungen setzen sich von musealen Geschichtsdokumentationen in vieler Hinsicht ab. Öffentlich zugänglich sind die Ausstellungen bei allen Veranstaltungen im Kulturzentrum, also auch bei Partys oder Konzerten. Besucher*innen sollen damit konfrontiert werden, dass sie sich nicht nur auf einer Party oder in einer Ausstellung, sondern an einem politischen Ort befinden, an dem die Strukturen der Selbstorganisation der Nutzer*innen vielfach lesbar sind. Teil der Kämpfe um die Aneignung des Klapperfelds ist auch die Frage, für welche Zwecke die Räume genutzt werden können. Anfragen, die immer wieder an die Initiative herangetragen werden sind beispielsweise: Unternehmen und Verbände, die ihre Jahreshauptversammlung in dieser ›aufregenden Atmosphäre‹ abhalten oder für einen Betriebsausflug eine Art Dungeon-Erlebnistour buchen wollen, Medienagenturen, die einen Drehort für den nächsten Tatort suchen, Erlebnishungrige, die einfach nur eine Nacht in einem Gefängnis verbringen wollen, ein Psychologiedozent, der

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mit seinen Studierenden das Stanford-Prison-Experiment nachinszenieren möchte ebenso wie Künstler*innen aller Genres, die eine Kulisse für ihr Musikvideo suchen, das vielleicht davon handelt, dass eine romantische Zweierbeziehung auch zu einer Art Gefängnis werden kann. Solche Nutzungen, die sich affirmativ der Gewaltarchitektur der Hafträume als Stilmittel bedienen, schließt das Selbstverständnis der Initiative explizit aus.

Anhaltende Konflikte um das Klapperfeld Die Existenz des selbstverwalteten Kulturzentrums Klapperfeld wurde in der Frankfurter Stadtpolitik wiederholt öffentlich in Frage gestellt. Denn die städtebauliche Entwicklung dieses »immobilienwirtschaftliche[n] Filetstückes« – so Uwe Schulz, Stadtverordneter der FDP (FR 12.01.2020) – im Besitz der Stadt Frankfurt ist so umstritten wie begehrt. Im Sommer 2010 stellte das Frankfurter Stadtplanungsdezernat ein Konzept für die Entwicklung innerstädtischer Räume vor. Im so betitelten ›Innenstadtkonzept‹ war ein Abriss des ehemaligen Polizeigefängnisses vorgesehen. An dessen Stelle sollte ein Wohnhochhaus entstehen. Nach anderen Planungen soll das Klapperfeld zur Erweiterung der Frankfurter Justizbauten genutzt oder an einen privaten Investor veräußert werden. In diesem Zusammenhang schlug die Frankfurter FDP vor, das Gebäude zu einem Hostel umzubauen, in dem Gäste in Sträflingskleidung übernachten könnten. Der mittlerweile durch das Landesdenkmalamt bekundete Denkmalschutz, unter welchen das Gebäude in der Klapperfeldstraße 5 fällt, schützt es vorläufig vor Abriss und kommerzieller Umnutzung. Obwohl die Leistung der Initiative bei der Aufarbeitung der Historie des Gebäudes mittlerweile parteiübergreifend auf Anerkennung stößt, blieb die Fortsetzung des Vertrags mit der Initiative in der bisherigen großen Koalition in der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung zwischen Grünen, CDU und SPD umstritten. Während von Seiten der Grünen die Überführung der Hausbesetzung in ein legalistisches Kulturprojekt und einen Gedenkort als Erfolg verbucht wurde, beklagten sicherheitspolitische Akteur*innen in der CDU eine Förderung von ›Rechtsbrüchen‹ der ehemaligen Hausbesetzer*innen. Politische Akteur*innen aus konservativen und rechten Parteien setzen sich ebenfalls öffentlich dafür ein, den Vertrag mit der Initiative zu beenden. Im Nachgang der Unruhen während des G20 Gipfels in Hamburg im Sommer 2017 wurden in der Frankfurter Kommunalpolitik aufgeregte Debatten über ein Graffito am Klapperfeld geführt.2 Die Fassadengestaltung des Kulturzentrums sei ein »Affront für den Rechtsstaat« meinte ein Frankfurter CDU-Politiker in einem Zeitungsinterview.3 Mit dem Klapperfeld konnte erstmals seit längerer Zeit in Frankfurt eine Hausbesetzung einen politischen Erfolg erzielen und einen Anlaufpunkt für unkommerzielle Kultur und radikale linke Organisierung mitten in der Innenstadt schaffen. Durch diesen Standort kann das Klapperfeld eine radikale Kritik an den herrschenden Verhältnissen für viele Menschen sichtbar machen. Tausende Passant*innen auf dem Weg zur Einkaufsmeile Zeil und Justizangestellte auf dem Weg zu den unmittelbar angrenzenden Gerichtsgebäuden blicken täglich auf die Fassaden des Klapperfelds. An diesen wird mit großen Transparenten die öffentliche Aufarbeitung rassistischer Polizeigewalt gefordert und für eine Gesellschaft ohne Knäste eingestanden.

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Endnoten 1

So zum Beispiel von einem Frankfurter Polizeihistoriker (Kraus 2007).

2

Das Wandbild unbekannter Künstler*innen zeigt den aus der Serie The Simpsons bekannten Polizisten Clancy Wiggum, wie er sich mit einem Revolver Donuts in den Mund stopft. Daneben wird die Rostocker Band ›Feine Sahne Fischfilet‹ zitiert mit der Textzeile: »Niemand muss Bulle sein.« Die städtische Liegenschaftsverwaltung ließ das Wort ›Bulle‹ überstreichen. Nachdem der Schriftzug durch unbekannte Künstler*innen erneut hergestellt wurde, beschmierten Mitglieder der Frankfurter FDP das Graffito mit dem Spruch: »Niemand muss radikal sein.«

3

»Das ganze verwahrloste Gebäude ist ein Affront für den Rechtsstaat. Es steht mitten im Frankfurter Gerichtsviertel. Richter, Polizisten und rechtsuchende Bürger müssen daran vorbeigehen. Ich würde es daher begrüßen, wenn der Mietvertrag mit der Hausbesetzerinitiative nicht verlängert wird.« CDU-Stadtverordneter will Klapperfeld-Vertrag beenden (FNP 27.06.2018).

Literaturverzeichnis FNP, Frankfurter Neue Presse (27.06.2018): CDU-Stadtverordneter will Klapperfeld-Vertrag beenden, https://www.fnp.de/lokales/cdu-stadtverordneter-will-klapperfeld-vertrag-beenden-10385027.html (Zugriff: 16.03.2021). FR, Frankfurter Rundschau (12.01.2020): Wieder Diskussionen über Klapperfeld in Frankfurt, https://www.fr.de/frankfurt/wieder-diskussionen-ueber-klapperfeld-frankfurt-13434865. html (Zugriff: 16.03.2021). FR, Frankfurter Rundschau (27.01.2009): Gefängnis für Hausbesetzer, https://www.fr.de/rheinmain/gefaengnis-hausbesetzer-11537464.html (Zugriff: 16.03.2021). Initiative ›Faites votre jeu!‹ (2009): Offener Brief an Jutta Eberling, http://faitesvotrejeu.blogsport.de/2009/01/07/07012008-brief-unserer-anwaelt_innen-an-jutta-ebeling/ (Zugriff: 16.03.2021). Initiative ›Faites votre jeu!‹ (2010): Wie läuft das hier? Was im Klapperfeld geht, was nicht geht und wer das entscheidet, https://faitesvotrejeu.org/selbstverstaendnis/ (Zugriff: 12.03.2021). Kraus, Kurt (2007): »Das Frankfurter Polizeigewahrsam – ein Relikt aus wilhelminischer Zeit«, in: Arne Winkelmann/Jörg Förster (Hg.), Gewahrsam. Räume der Überwachung, Heidelberg/Frankfurt a.M.: DAM, Deutsches Architekturmuseum, S. 8–13.

Zufluchtsort Frankfurt? Leben in der Sammelunterkunft Martina Blank1 und Soliana Hannes2

14:54 Uhr: Hast Du Zeit, mich mal wieder auf einen Kaffee zu treffen? Ich möchte Dir vorschlagen, mit mir zusammen einen Text darüber zu schreiben, wie es ist, als Geflüchtete in Frankfurt zu wohnen :) 17:40 Uhr: =) Wir können uns am Freitag treffen. Aber Du musst schreiben, okay? 18:03 Uhr: Ja, klar, kann ich machen :) 19:23 Uhr: Okay, wir treffen uns bei Dir.

Als Soliana und ich uns treffen, lesen wir erstmal gemeinsam die Anfrage der Herausgeber*innen. ›Recht auf Stadt‹, klar, damit kann jede*r irgendwie was anfangen und gerade für Geflüchtete sind Rechte ein sehr wichtiges Thema. Aber der Rest des Buchkonzepts ist für uns harte Arbeit. Schwieriges Akademikerdeutsch und komplizierte politische Entwürfe, die nicht jeder*m geläufig sind. Über drei Stunden sitzen wir zusammen, dann beschließen wir: Lass uns das machen, aber ohne diese ganzen Konzepte. Als Martina mir vorschlägt, dass wir über meine Wohnsituation in Frankfurt schreiben, bin ich sofort dabei. Ich möchte davon erzählen. Nach über vier Jahren in Frankfurt habe ich jetzt endlich seit kurzem eine eigene Wohnung. Wenn ich daran denke, wie viele Jahre ich im Flüchtlingsheim gewohnt habe, wie mein Tag war, das ist unglaublich. Das war echt hart. Und noch bin ich nah genug dran, um davon zu erzählen. In einem Jahr oder so interessiert mich das Thema hoffentlich gar nicht mehr. Aber bis jetzt trage ich es mit mir herum und ich möchte, dass andere wissen, wie es ist.

Einleitung Für Menschen, die Zuflucht in Deutschland suchen, gibt es selbst als legalisierte Asylbewerber*innen wenig ›Recht auf Stadt‹. Geflüchtete dürfen, solange das Asylverfahren läuft, nicht über ihren eigenen Wohnort bestimmen, sondern werden ohne Ansehung ihrer Präferenzen nach einem festgelegten Schlüssel zunächst den Bundesländern und dann den Kommunen zugewiesen. Dort müssen sie bis zur Erlangung eines Aufenthaltstitels verbleiben. In dieser Zeit müssen sie in der Regel in Sammelunterkünften wohnen, wo sie vom Rest der Gesellschaft wohnräumlich getrennt sind und besonderen

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Regeln unterliegen. Oftmals sind diese Unterkünfte fernab städtischer Zentren im Wald, an Stadträndern oder in Gewerbegebieten gelegen. Und wenn Geflüchtete dann nach mehreren Stationen in verschiedenen Unterkünften endlich eigene Wohnungen beziehen dürfen, treffen sie auf einen Mietmarkt, der sie mehrfach diskriminiert. Wir möchten im Folgenden erzählen, was es heißt, im Rahmen des deutschen Asylsystems nach Frankfurt zu kommen, und wie sich Wohnen und Leben nach dieser Ankunft gestaltet. Wir, das sind Soliana, die 2015 mit ihrer älteren Tochter Sinnit als subsidiär Schutzberechtigte3 nach Frankfurt kam, und Martina, die wissenschaftlich zur Aufnahme von Geflüchteten in Frankfurt arbeitet. Wir haben uns 2017 über eine ehrenamtliche Initiative zur Lernbegleitung von Geflüchteten kennengelernt und seitdem zusammen gelernt, mit Behörden gerungen, uns ausgetauscht und angefreundet. Unser Bericht ist von diesem Zusammentreffen geprägt, wir möchten unsere Erfahrungen und unser Wissen zusammenbringen, um einen Einblick zu geben, wie die Aufnahme von Asylbewerber*innen in Frankfurt funktioniert und was das für Betroffene bedeutet. Wie wohnen und leben Geflüchtete in Frankfurt? Was heißt es, in einer Flüchtlingsunterkunft zu wohnen? Wie gestaltet sich der Alltag an so einem Wohnort? Diese Fragen wurden schon in anderen Büchern und Texten für andere Städte behandelt. Dazu gehören neben zahllosen Beiträgen in Zeitungen und Zeitschriften auch wissenschaftliche Untersuchungen (für zwei Klassiker siehe: Pieper 2008; Täubig 2009; für eine niedrigschwellige Einführung: Scherr 2019) und Verlautbarungen von Bewohner*innen (zum Beispiel Break Isolation Group 2020; Karawane 2006; Women in Exile 2020). Für Hessen gibt es einen knappen Überblick des Hessischen Flüchtlingsrats (2018). Dies möchten wir um eine Frankfurter Perspektive erweitern (dazu auch Blank 2019a, 2019b) und am Beispiel der Unterbringung von Geflüchteten zeigen, wie sich die Entrechtung von Menschen auf der Flucht vor Ort als Verweigerung eines ›Rechts auf Stadt‹ fortsetzt. Dabei möchten wir allgemeine Informationen mit persönlichen Erzählungen zusammenbringen. Letztere drucken wir kursiv und halten sie in Ich-Form, um sie als einzelne Erfahrungen kenntlich zu machen. Wir verzichten auf die namentliche Zuordnung, weil die Erlebnisse auch über uns als Einzelne hinausweisen und wir nicht Geflüchtetenerfahrung gegen Wissenschaftler*innenwissen stellen möchten. Wir haben diesen Text in Gesprächen, die wir aufgezeichnet haben und die eine von uns dann ausformuliert hat, gemeinsam konzipiert und überarbeitet.

Frankfurt als Zufluchtsort: Von der Erstaufnahme über die Sammelunterkunft zur eigenen Wohnung Menschen, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, unterliegen genauen Vorschriften zu ihrer Einreise und ihrem Aufenthalt4 und dürfen ab ihrer ersten Registrierung bis zur Erlangung eines Aufenthaltstitels – teils für Jahre – nicht über ihren eigenen Wohn- und Aufenthaltsort bestimmen. Zunächst werden Geflüchtete in von den Ländern verwalteten Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE) untergebracht. Dabei handelt es sich in der Regel um fernab städtischer Zentren gelegene Großlager, die den Geflüchteten wenig Kontakt zu ihrer gesellschaftlichen Umgebung bieten. Als wir 2015 ankamen, wurden wir in einer vorübergehenden (Not-)Außenstelle der EAE Gießen untergebracht. In Biebesheim. Dort waren wir einen Monat in einer Tennishalle mit 350 Leuten. Anschließend werden Geflüchtete dann – sofern sie nicht direkt abgeschoben oder anderweitig zum Verlassen Deutschlands

Zufluchtsort Frankfurt ?

bewegt werden – auf die Landkreise, Städte und Gemeinden verteilt, wo sie bis zum Abschluss ihres Verfahrens bleiben müssen. Wo die Betroffenen so lange leben, entscheiden sie nicht selbst, sondern die zuständigen Behörden. So ergeht es auch den Geflüchteten, die der Stadt Frankfurt zugewiesen werden. Als wir in Gießen ankamen, wurde ich auch danach gefragt, ob ich Familie in Deutschland hätte. Ich habe eine Schwester in Darmstadt und habe ihre Adresse angegeben. Aber ich durfte nicht nach Darmstadt. Frankfurt war für mich extrem groß. Und ich kannte hier niemanden. Deshalb war es sehr hart für mich, mit Sinnit nach Frankfurt zu ziehen. Aber nicht nur im Wo, sondern auch im Wie gibt es für einmal in Frankfurt angekommene Geflüchtete wenig ›Recht auf Stadt‹. Das Asylgesetz schreibt die Sonderung von Geflüchteten durch Sammelunterbringung vor (§ 53 AsylG). Das Gesetz ermöglicht allerdings Ausnahmen, die von einigen Kommunen sehr weit ausgelegt werden, um Geflüchtete anders unterzubringen. Offiziell verfolgt die Stadt Frankfurt eine Politik der dezentralen Unterbringung von Geflüchteten »in Wohnungen und Apartments, die eine selbstständige Lebensführung ermöglichen« (Frankfurter Stadtverordnetenversammlung 2017: 6). Allerdings ist dies nicht die Praxis der Stadt. Schon bevor im Sommer 2015 die Zahl der Schutzsuchenden plötzlich deutlich anstieg, waren Geflüchtete häufig nicht in normalen Wohnungen, sondern in Übergangsunterkünften der Wohnungslosenhilfe untergebracht. Nach 2015 begann die Stadt mit der Einrichtung und dem Bau neuer Sammel­ unterkünfte exklusiv für Asylbewerber*innen. Insgesamt gibt es in Frankfurt 90 Unterkünfte und 120 Wohnungen für Asylbewerber*innen. Im März 2020 lebten rund 4.500 Geflüchtete in städtischer Unterbringung, die meisten von ihnen in zwei Not- sowie zwölf Übergangsunterkünften mit mehr als 100 Bewohner*innen (Stabsstelle 2020). Auch in Frankfurt sind die Unterkünfte zumeist in Gewerbegebieten oder am Stadtrand gelegen und werden von Wohlfahrtsorganisationen im Auftrag der Stadt betrieben. Einige von ihnen sind sehr schlecht ausgestattet. Dies galt in besonderem Maße auch für die – größtenteils inzwischen wieder aufgelösten – Notunterkünfte, in denen viele der hier lebenden Asylbewerber*innen zunächst unterkamen. Wir waren in einer dreistöckigen Containeranlage in Sachsenhausen mit fast 500 Leuten. Sinnit und ich wohnten zusammen mit 13 anderen Frauen in einem 3er-Container. Wir hatten keine Waschmaschinen und mussten unsere Wäsche von Hand waschen. Bettwäsche, Kleidung, alles. Auch das Essen war völlig unzureichend, wir hatten kaum Auswahl und mussten 30 Minuten oder länger anstehen und wenn man Pech hatte und als letztes drankam, war oft gar nichts mehr übrig. Und es gab nur fünf Duschen für alle Frauen in der Unterkunft, obwohl wir mehrheitlich Frauen waren. Wir haben dagegen protestiert und einen kleinen Hungerstreik gemacht und unsere Forderungen ein paar Journalist*innen gezeigt, aber das hat nichts geändert. Knapp fünf Monate waren wir dort. Danach wurden wir in die nächste Unterkunft verlegt. Diese weitere Unterkunft wird von der Stadt ebenfalls als Notunterkunft geführt, ist aber bis heute ein zentraler Baustein des Frankfurter Unterbringungsmanagements. Dabei handelt es sich um ein altes Fabrikgelände mit mehreren Gebäudeeinheiten. Im September 2018 wohnten hier 230 Menschen. Es gibt eine Hallenunterbringung, in der die einzelnen Wohnbereiche nur durch Vorhänge getrennt sind, Baracken mit Mehrbettzimmern sowie ein Wohnhaus für alleinreisende Frauen mit Kindern. Jede Etage bildet eine Wohngemeinschaft mit je vier Einzelzimmern und gemeinschaftlich genutztem Wohnzimmer und Küche. Die Bewohner*innen der WGs sind im Vergleich zu jenen in der Hallenunterbringung und in den Baracken relativ

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Abbildung 1: Frankfurter Unterkunft für Geflüchtete (Quelle: eigene Aufnahme von Martina Blank).

bessergestellt, aber das Leben auf so engem Raum ist für alle Beteiligten eine große Belastung. Für mich waren die anderen Kinder ein Problem. Mit meiner eigenen Tochter konnte ich Absprachen treffen, aber mit den Kleinkindern der Mitbewohnerinnen? Und auch mit den Müttern war es oft schwer. Wenn andere umziehen, wartest du, wer jetzt als nächstes kommt und denkst nur: Oh Gott, bitte bring uns eine nette Frau. Du lebst nicht einfach nur dein eigenes Leben, sondern auch immer das deiner Mitbewohnerinnen. Gemäß kommunaler Standards (Frankfurter Stadtverordnetenversammlung 2017), die sich an den Vorgaben des Hessischen Wohnungsaufsichtsgesetzes orientieren (HWoAufG), steht Geflüchteten pro Erwachsenem eine Wohnfläche von 9 m² zu, bei Zimmern in Wohngemeinschaften mit weiteren Räumen sind es 6 m². Eine alltägliche Lebensführung ist unter diesen Bedingungen sehr schwer, zumal sich zum Platzmangel mangelnder

Lärmschutz durch provisorische Baustrukturen gesellt. Viele denken, ein Zimmer, in dem man schlafen und essen und sitzen kann, reicht. Und dann könne man da auch lernen. Ich habe mein Bett in den Keller geräumt und nur mit der Matratze auf dem Boden geschlafen. Morgens habe ich die Matratze dann auf Sinnits Bett geräumt und so hatten wir einfach ein bisschen mehr Platz in dem kleinen Zimmer. Aber die Zimmer sind wahnsinnig hellhörig. Und wenn dann draußen vier Kinder laut spielen, wie sollst du dich konzentrieren können? Wie soll Sinnit da für die Schule lernen? Ich selbst hatte auch große Probleme damit, in diesem Zimmer für meine Deutschprüfung und meinen Hauptschulabschluss zu lernen. Ich wollte keine große Wohnung. Aber Ruhe. Wo man, egal wann, schlafen kann. Und wo man auch egal was machen kann. Egal wann Besucher einladen kann. Denn ein weiteres

Zufluchtsort Frankfurt ?

Problem in Sammelunterkünften ist die fehlende Selbstbestimmung in der alltäglichen Lebensführung. Dies zeigen unter anderem die Besuchsregeln, die in Frankfurt für alle Geflüchtetenunterkünfte gelten. Grundsätzlich sind die Unterkünfte nur für die Bewohner*innen und Betreiber*innen sowie weitere Dienstleister*innen zugänglich. Die Bewohner*innen können innerhalb fester Zeiten Besuch empfangen. Für mich waren die Besuchsregeln sehr störend. Bei uns im Haus durften wir bis 20:00 Uhr Besuch empfangen. Und das wurde sehr strikt umgesetzt. Auch wenn zum Beispiel meine Schwester und ihre Kinder zu Besuch waren, musste ich sie um Punkt 20:00 Uhr rauswerfen. Einmal habe ich deutsche Freunde eingeladen. Dieser Tag ist für mich unvergesslich. Es war Sommer und in der Wohnung war es tagsüber immer sehr heiß, deshalb konnten wir uns erst am frühen Abend treffen. Und ich dachte, weil meine Gäste Ehrenamtliche waren, die in der Unterkunft viel unterstützen, würden die Betreiber sie nicht pünktlich rauswerfen. Ich habe für alle gekocht und nach einer Stunde kamen schon die Rausschmeißer und sagten: Schluss jetzt, die Besucherzeit ist um. Uns blieb dann nichts anderes übrig, als alles zusammenzupacken, das Essen, den Kaffee und uns draußen einen Platz zu suchen. Und während wir zusammengepackt haben, standen die ganze Zeit die zwei Mitarbeiter mit verschränkten Armen im Zimmer und haben gewartet bis alle raus waren. Dabei liegt es oft in der Hand der Betreiberorganisation, wie streng Vorgaben ausgelegt werden. Kommunen und Betreiber haben durchaus Spielräume, die auch zur Unterstützung von Geflüchteten und der Gewährung von mehr Freiraum ausgelegt werden könnten. Oft wird jedoch auf Regeln beharrt, die für die Geflüchteten zusätzliche Zumutungen bedeuten. Wir hatten vier verschiedene Mülleimer zur Mülltrennung. Aber wir waren 12 Frauen plus Kinder aus verschiedenen Ländern und nicht alle haben sofort verstanden, wie die deutsche Mülltrennung funktioniert. So kam es, dass die Müllabfuhr den Müll nicht mitnehmen wollte. Da sind die Betreiber zu uns gekommen und haben uns gesagt, dass wir den Müll sortieren müssen. Das waren große Container, die wurden ausgekippt und dann mussten wir sortieren. Das ist insgesamt vier oder fünf Mal passiert. Das erste Mal habe ich das einfach gemacht. Beim zweiten Mal habe ich dann schon gesagt, dass die anderen Bewohner*innen der Unterkunft auch einfach nur einen großen Restmüllcontainer für den gesamten Müll haben und gefragt, warum das bei uns anders ist, warum wir sortieren müssen. Aber das war für die kein Argument. Dann habe ich gesagt, na gut, dann gebt uns für jede Etage eigene Mülleimer. Das wollten sie auch nicht, sondern haben einfach auf ihre Regeln bestanden. Das mit dem Müllsortieren, aber auch all die anderen Regeln, die Gängelung im Alltag, das ständige Überprüfen, ob wir auch alle Regeln befolgen, das war auch eine Art, uns immer wieder zu sagen: Du bist nur ein Flüchtling. Sicherheitsdienst und Sozialarbeiter*innen zur Betreuung der Bewohner*innen werden teils von den Betreiberorganisationen selbst gestellt, teils handelt es sich um externe Dienstleister. Dieses Personal kann unterstützend wirken, aber auch zusätzliche Probleme verursachen. Zuweilen haben sie sich sehr abfällig uns gegenüber verhalten. Manchmal kamen sie zu uns in die Wohnung und haben sich mit angewidertem Gesicht die Nase zugehalten, wenn wir gekocht haben. Einmal habe ich eine leere Kaffeetasse in unserer Küche auf dem Tisch stehen lassen. Dann kam eine Angestellte rein und meinte »Die Küche stinkt. Wem gehört diese Tasse? Warum haben Sie das nicht abgespült?« Darauf habe ich gefragt: »Was für einen Geruch meinen Sie denn überhaupt? Wie stinkt denn eine leere Kaffeetasse?« Es erschien mir völlig absurd. Ich habe mich dann mit der Mitarbeiterin gestritten und ihr gesagt: »Ja, das hier ist ein Flüchtlingsheim,

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aber das ist auch meine Wohnung, mein eigener Platz. Wenn ich zu dir nach Hause komme und sage, bei dir stinkt es, wie fühlst du dich dann?« Die systematische Entrechtung von Menschen auf der Flucht durch das deutsche Asylregime findet so seine Entsprechung in der Sammelunterkunft, die einem ›Recht auf Stadt‹ diametral gegenübersteht. Anstelle von Zentralität steht die Sonderung und anstelle von Teilhabe und gemeinschaftlicher (Selbst-)Organisation Gängelung. Wir haben immer versucht, uns untereinander zu verständigen und unsere eigenen Regeln zu leben. Egal, wer zum Beispiel gerade laut Vorgabe der Betreiber mit Putzen dran ist. Ich bin nicht im Gefängnis. Ja, es ist ein Flüchtlingsheim, aber es ist auch meine Wohnung und in meiner Wohnung will ich auch nach meinen Regeln leben. Aber die Betreiber haben immer versucht, sich in alles einzumischen. Regelmäßig haben sie uns einen neuen Putzplan hingehängt, den wir aber einfach nie ausgefüllt haben. Sammelunterkünfte sind für Außenstehende deutlich von anderen Wohnformen unterscheidbar und stigmatisieren damit auch ihre Bewohner*innen als gesellschaftlich nicht zugehörig. Unter diesen Bedingungen ist es sehr schwer, am sozialen Leben einer Stadt teilzuhaben, denn nicht nur die Besuchsregeln, sondern die gesamte Wohnform erschweren den Austausch mit anderen Stadtbewohner*innen. Sinnit hat zum Beispiel viele Freund*innen in der Schule und die haben sie auch immer zu sich nach Hause eingeladen, aber sie ist nie hingegangen. Weil sie gesagt hat: ›Wenn ich sie besuche oder sogar bei ihnen übernachte, dann muss ich sie umgekehrt auch einladen und das will ich nicht.‹ Vier Jahre lang hatte sie keinen Besuch und hat auch niemanden besucht, weil sie nicht wollte, dass die anderen wissen, wie sie wohnt. So funktionieren Sammelunterkünfte als außerstädtischer Raum innerhalb von Städten, als Wartezimmer auf ein ›Recht auf Stadt‹. Du lebst in diesem Kreis, immer mit den Regeln, mit der gleichen Situation. Und ich verstehe nicht, warum das so lange dauert. Ich habe mich von Anfang an bemüht, mich zu verbessern. Ich habe Deutsch gelernt, einen Hauptschulabschluss gemacht, eine Ausbildung angefangen, aber meine Situation hat sich nicht verändert. Du sitzt in diesem Flüchtlingsheim, wartest und fragst Dich: ›Wann wird mein Tag kommen?‹ Gemäß städtischer Richtlinien sollten Geflüchtete nicht länger als ein Jahr in Notunterkünften leben (Frankfurter Stadtverordnetenversammlung 2017: 5). Doch während andere Städte teilweise ihre Unterbringungskapazitäten schon wieder zurückbauen, fehlen in Frankfurt bis heute angemessene Unterbringungsmöglichkeiten, weshalb Geflüchtete oft sehr lange in Notunterkünften leben. Deshalb verlegt die Stadt Geflüchtete regelmäßig von Unterkünften mit niedrigen Standards in jeweils besser ausgestattete. Für die Betroffenen bedeutet dies, wiederholt den Stadtteil zu wechseln. Das erschwert auch die Zusammenarbeit von Geflüchteten und Ehrenamtlichen. Als Ehrenamtliche haben wir immer wieder erlebt, dass Leute, mit denen wir zusammengearbeitet haben, plötzlich nicht mehr aufgetaucht sind. Und dann kam irgendwann über ein paar Ecken raus, dass sie von einem Tag auf den anderen in eine andere Unterkunft am anderen Ende der Stadt verlegt worden sind und nicht mehr dazu gekommen waren, sich zu verabschieden. Das frustriert, da wurden ja gerade entstehende Beziehungen einfach plötzlich unterbrochen. Dabei bringen diese Umzüge, die auch für Geflüchtete sehr belastend sein können, oft gar keine echten Verbesserungen. Besonders krass fand ich es, als ihr Ende letzten Jahres plötzlich umziehen solltet. – Mittwochabend hatte ich den Brief bekommen, dass wir am Dienstag darauf in eine andere Sammelunterkunft am anderen Ende der Stadt müssten. Und dabei war das überhaupt keine Verbesserung, sondern wieder nur ein Zimmer

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für uns zusammen, obwohl Sinnit inzwischen 14 Jahre ist und ich auf den Nachzug meiner jüngeren Tochter Hiyab warte. – Und dann kam raus, dass die Wohngemeinschaft kleiner war, es weniger gemeinschaftlich nutzbaren Raum gab und die Wohnungen nicht mal Türen hatten. – Und es gab ja auch keine Ausstattung, keine Bettdecken oder Kochgeschirr, nichts und keine Zeit mehr, rechtzeitig Geld für den Umzug vom Jobcenter zu bekommen. – Als ich dann mit der Stabsstelle Unterbringungsmanagement telefoniert habe, hieß es nur, dass sich da nichts machen ließe, dass die Umzugslisten »fix« seien und »zu viel Druck auf dem System«, weshalb »Einzelwünsche« nicht respektiert werden könnten. Und dann sagte die Frau am Telefon noch: »Vorher gibt es immer Knatsch, aber wenn die Leute dann erst einmal da sind, ist es auch gut.« Was für eine Entmündigung! Zum Glück sind wir ja dann nochmal zum Wohnungsamt, weil ich rausgehört hatte, dass Hiyabs Nachzug vielleicht was ändern könnte. Soliana hatte ihre jüngere Tochter Hiyab auf der Flucht bei entfernten Bekannten in Äthiopien zurücklassen müssen und wartet seitdem darauf, sie nachholen zu dürfen. 2016 wurde der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte ausgesetzt, erst seit August 2018 ist die Familienzusammenführung in Deutschland wieder möglich. Seitdem wird der Fall immer wieder verschleppt. Und wie sich in dem Gespräch mit dem Sachbearbeiter im Wohnungsamt dann herausgestellt hat, hatte er noch gedacht, er würde was Gutes tun, weil er weder die alte noch die neue Unterkunft wirklich kannte und die Beschreibungen fehlgedeutet hatte. Außerdem hatte er die zweite Tochter einfach vergessen. Wenigstens hat er dann auf unser Drängen den Umzug in die noch schlechtere Unterkunft gestoppt. Eine Alternative konnte er aber wieder nicht bieten. Nach fast vier Jahren in Notunterkünften! So lange Geflüchtete keinen Aufenthaltstitel haben, müssen sie in den ihnen zugewiesenen Unterkünften wohnen. Danach dürfen sie ausziehen und eigene Wohnungen beziehen. Aber selbst dann ist ein Umzug oft aufgrund der sozialen Diskriminierungen auf dem Mietmarkt nicht möglich. In einer Stadt wie Frankfurt gesellt sich dazu ein massiver Wohnraummangel (—Schipper/Heeg in diesem Band). Wie den meisten anderen Wohnungssuchenden in Frankfurt bleiben auch Geflüchteten letztlich nur die völlig überfüllten Listen des Wohnungsamts oder zufällige Tipps durch Bekannte. Bei mir hat das fast drei Jahre gedauert, von 2017 bis 2020. Dabei hatte ich schon ganz früh Aussicht auf eine Wohnung. Die Wohnung eines Bekannten wurde frei und ich hätte dort einziehen dürfen. Wir sind extra zusammen zum Sozialamt gegangen, aber die sagten ganz klar, ich sei erst ein paar Monate in Deutschland, ich hätte noch keinen Aufenthaltstitel und dürfe deshalb nicht in eine eigene Wohnung ziehen. Danach habe ich mit Hilfe von deutschen Freunden versucht, eine Wohnung zu finden. Aber immer, wenn wir was Passendes gefunden haben, wollten die Vermieter nicht an jemanden vermieten, dessen Miete vom Jobcenter bezahlt wird. Sie haben das immer so indirekt gesagt. Wo die Verweigerung eines ›Rechts auf Stadt‹ durch das Asylgesetz endet, da übernimmt der Mietmarkt mit seinen sozialen Ausschlüssen und setzt die Geflüchteten weiter in den Sammelunterkünften fest. In Frankfurt betraf das Ende des Jahres 2018 rund 2.500 Geflüchtete. Solche ›Fehlbeleger*innen‹ müssen dann für ihre Unterbringung in der Sammelunterkunft Miete zahlen – in Frankfurt sind das aktuell 710 €/Person. Wer arbeitet muss dafür selbst aufkommen, bei SGBII-Bezug zahlt das Amt. Für Soliana endet dieser unhaltbare Zustand völlig überraschend Anfang des Jahres 2020. Soliana findet eine Wohnung über das Wohnungsamt. Ich kann gar nicht erklären, was das für mich bedeutet. So eine Ruhe! Ich kann machen, was ich möchte, ich kann Besuch haben, wann ich will. Aber diese

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Orte und Stadtteile

Zeit, die ich im Heim verbracht habe, wird mich noch lange verfolgen. Nur meine Sachen und mein Körper ziehen um, aber meine Gefühle bleiben noch im Heim. Es ist vorbei, es ist endlich besser geworden, aber es war nicht okay. Aber es war auch nicht alles schlecht! Sinnit und ich haben sehr viel Unterstützung von draußen bekommen, von den Ehrenamtlichen, die in die Unterkunft kamen und die wir sonst gar nicht getroffen hätten. Martina und ich haben uns so zum Beispiel kennengelernt, ich habe dort auch Freunde gefunden. Und manche Mitarbeiter*innen der Unterkunft waren auch sehr verständnisvoll, auch wenn sie nichts ändern konnten, gab es manchmal auch unerwartete Unterstützung.

#LeaveNoOneBehind Wie in allen gesellschaftlichen Bereichen, funktionierte die Corona-Krise auch für die Unterbringungssituation von Geflüchteten wie ein Brennglas: Während bei einer von Seebrücke Frankfurt organisierten Aktion im April 2020 gegen die Situation in den Flüchtlingslagern an den EU-Außengrenzen selbst zwei Meter Abstand den Behörden nicht als Schutzmaßnahme reichten, wurden überall in Deutschland Geflüchtete in Sammelunterkünften schutzlos der Ansteckungsgefahr durch den Virus ausgeliefert, in kollektive Quarantäne verbannt und durch zusätzliche Umzäunung von der Außenwelt abgeschottet. Diese krasse Ungleichbehandlung von Schutzsuchenden und europäischen Staatsbürger*innen in der Seuchenprävention offenbarte erneut den zutiefst rassistischen Charakter im Umgang mit Geflüchteten in Deutschland. Auch in Frankfurt wurden die Unterkünfte im Zuge der Corona-Pandemie nicht etwa geräumt und den Bewohner*innen angemessenere Unterbringungen zur Verfügung gestellt. Stattdessen wurde weiter abgeriegelt und der Zugang zu den Unterkünften zum Beispiel für ehrenamtliche Unterstützer*innen gesperrt. So wurde auch das zaghafte Zusammenkommen der Stadtbevölkerung diesseits und jenseits der Unterkunftsgrenzen wieder im Keim erstickt. Gleichzeitig wurden die Außengrenzen der EU abgeriegelt und Flüchtlingen mit allen Mitteln und gegen geltendes Recht der Zugang zu Asyl verweigert. Das betraf auch den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte, der ohnehin nur sehr schleppend voranging. Als im August 2018 der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte wieder möglich wurde, hätten wir eigentlich gleich drankommen müssen. Hiyab ist jetzt elf Jahre alt und lebt seit bald fünf Jahren getrennt von mir und ihrer großen Schwester in einem fremden Land bei entfernten Bekannten. Aber erst wurde mein Fall zehn Monate lang überhaupt nicht bearbeitet, dann musste ich DNA-Tests und alle (un)möglichen Papiere aus dem Ausland beschaffen. Immer wieder hat sich der Nachzug verzögert. Und meine Familie bleibt weiter getrennt. Und so bleiben Teile der Frankfurter Stadtbevölkerung systematisch ausgegrenzt und um Grundrechte wie allgemeine Handlungsfreiheit, körperliche Unversehrtheit und den Schutz der Familie beraubt. ›Recht auf Stadt?‹ An der Situation von Geflüchteten in Frankfurt offenbart sich in besonderer Deutlichkeit der weite Weg, der für eine ›Stadt für Alle‹ noch zu gehen ist.

Zufluchtsort Frankfurt ?

Endnoten Titelbild Protestaktion der Initiative »Seebrücke« gegen die Situation in den Flüchtlingslagern an den

EU-Außengrenzen, am 5. April 2020 in Frankfurt (Quelle: Protestfotografie. Frankfurt). 1

Für Feedback zur Textgestaltung danken wir Jan Kordes und Robert Pütz sowie Afra Höck, die uns außerdem mit Recherchen unterstützt hat.

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Bei diesem Namen, wie auch denen der Kinder, handelt es sich um Pseudonyme, um Probleme mit Behörden zu vermeiden.

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Dabei handelt es sich um eine besondere Schutzform nach § 4 des Asylgesetzes (AsylG). Die meisten Menschen, die seit 2015 als Geflüchtete nach Deutschland kamen, sind subsidiär schutzberechtigt.

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Das deutsche Recht unterscheidet hauptsächlich vier verschiedene Schutzformen, die im Detail jeweils unterschiedlich geregelt sind: Asylberechtigung (Art. 16a GG), Flüchtlingsschutz (§ 3 AsylG), subsidiärer Schutz (§ 4 AsylG) und Abschiebungsverbot (§ 60 IV+V AufenthG).

Literaturverzeichnis Blank, Martina (2019a): »Räume des Asyls«, in: Reinhard Johler/Jan Lange (Hg.), Konfliktfeld Fluchtmigration, Bielefeld: Transcript, S.173–188. Blank, Martina (2019b): »›Wir Schaffen Das!‹?«, in: Social Sciences 8 (5), S.161–176. Break Isolation Group of International Women* Space (2020): Corona-Reports: Women report about their situation in the Lagers, https://iwspace.de/corona/lager-reports/ (Zugriff: 17.04.2020). Frankfurter Stadtverordnetenversammlung (2017): Kommunale Standards und Rahmenbedingungen für die Unterbringung und Integration von Flüchtlingen in Frankfurt am Main, Beschlossen am 4. Mai 2017, Frankfurt am Main. Hessischer Flüchtlingsrat (2018): Zufluchtsorte: Zu den Unterbringungssituationen geflüchteter Menschen in Hessen, Frankfurt am Main: Förderverein Hessischer Flüchtlingsrat. Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen (2006): Stichwortsuche ›Camp‹, http://thecaravan.org/search/node/camp (Zugriff: 09.03.2020). Pieper, Tobias (2008): Die Gegenwart der Lager, Münster: Westfälisches Dampfboot. Scherr, Albert (2019): »Flüchtlingsheim«, in: Jürge Hasse/Verena Schreiber (Hg.), Räume der Kindheit, Bielefeld: Transcript, S.58–63. Stabsstelle Unterbringungsmanagement und Flüchtlinge (2020): Aktuelle Zahlen, https://fluechtlinge-frankfurt.de/aktuelle-zahlen/ (Zugriff: 27.03.2020). Täubig, Vicki (2009): Totale Institution Asyl, Weinheim: Juventa. Women in Exile (2020): Pressemitteilungen, https://www.women-in-exile.net/category/pm/ (Zugriff: 09.03.2020).

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­KÄMPFE UND INITIATIVEN

Racial Profiling und antirassistischer Widerstand: ›We look out for each other‹ Copwatch FFM

Was ist eigentlich Racial Profiling?1 » Wenn junge oder auch alte Schwarze oder kanackische Männer in Gruppen hier an der Konstablerwache oder sonst wo in der Stadt kontrolliert werden, dann ist das Racial Profiling. » Wenn Schwarze Personen von Polizist*innen grundlos kontrolliert werden und permanent Platzverweise bekommen, dann ist das Racial Profiling. » Wenn Rom*nija im öffentlichen Raum ständig kontrolliert werden, dann ist das Racial Profiling. » Wenn migrantisierte Familien sich als einzige im Zug, in der Bahn oder am Flughafen ausweisen müssen, dann ist das Racial Profiling. » Wenn Schwarze oder migrantisierte Männer zu Unrecht inhaftiert werden und dort folgenlos für die Täter*innen zu Tode kommen, dann ist das Racial Profiling und Mord. » Wenn Gesetze vorgeben, dass sogenannte Ausländer*innen/Personen ohne deutschen Pass kontrolliert werden sollen und die Polizei Schwarze und People of Color kontrolliert, dann ist das Racial Profiling. » Wenn Sachbearbeiter*innen in der Arbeitsagentur gleich den Sicherheitsdienst rufen, sobald eine nicht-weiße Personen bloß eine Frage stellt, dann ist das Racial Profiling. » Wenn Schwarze Frauen die Polizei rufen und dann in ihren Wohnungen von dieser Polizei verprügelt werden, dann ist das Racial Profiling. » Wenn Schwarze Menschen und Personen of Color im Gesundheitssystem nach Hilfe suchen und dort vom Sicherheitsdienst zu Tode geprügelt werden, dann ist das Racial Profiling und Mord. » Wenn nach einem Streit die Polizei eine Wohnung mit dem Sondereinsatzkommando stürmt, dann ist das Racial Profiling. » Wenn Polizist*innen in Laufhäusern Razzien durchführen, in denen 80 % der Sexarbeiter*innen migrantisch und nicht-weiß sind, dann ist das Racial Profiling. » Wenn sich manche Personen in der Nähe von Polizei unsicher fühlen, dann ist auch das Racial Profiling. » Wenn der Zoll auf einer Baustelle oder in Restaurants migrantisierte Arbeitende kontrolliert oder verhaftet, dann ist das Racial Profiling.

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Kämpfe und Initiativen

» Wenn Medien von ›Döner-Morden‹ oder wie nach den rassistischen Anschlägen in Hanau von ›Shisha-Morden‹ schreiben, dann ist das Racial Profiling. » Wenn Leute kein Fahrrad, kein Auto oder keine Bahn fahren können, um zur Arbeit oder zur Verabredung zu kommen, ohne von der Polizei belästigt zu werden, dann ist das Racial Profiling. » Wenn Kriminalpolizist*innen Angehörige von Opfern rassistischer Morde terrorisieren, dann ist das Racial Profiling. » Wenn Politiker*innen aus FDP, CDU, AFD und weiteren Parteien ›der Mitte‹ migrantische Orte wie zum Beispiel Shishabars kriminalisieren, dann ist das Racial Profiling. » Wenn unser Leben unter Generalverdacht gestellt wird und wir damit aufwachsen, der Polizei nicht vertrauen zu können, dann ist das Racial Profiling. Diese staatlichen, rassistischen Angriffe auf unser Leben, auf kanackisches Leben, auf migrantisches Leben, auf Schwarzes Leben sind Racial Profiling! Racial Profiling ist Gewalt für diejenigen, die davon betroffen sind und bietet eine Bühne, um tagtäglich diese Gesellschaft in Gewünschte und Unerwünschte aufzuteilen. Wir lassen uns aber nicht teilen!

Abbildung 1: Copwatch FFM against Borders (Quelle: eigene Aufnahme).

Racial Profiling und antirassistischer Widerstand

Polizeiliches Racial Profiling in Frankfurt am Main und Deutschland Racial Profiling bezeichnet (polizeiliche) Kontrollmaßnahmen, die anhand diskriminierender Zuschreibungen stattfinden anstatt aufgrund konkreter Straftaten oder tatsächlicher Verdachtsmomente (Friedrich/Mohrfeldt/ Schultes 2016: 10). Es umfasst Identitätskontrollen und Durchsuchungen ohne konkrete Indizien auf Grundlage von Hautfarbe und rassifizierten Merkmalen, Zuschreibungen wie (unterstellter) nationaler Herkunft oder auch Sprache. Davon betroffen sind sichtbar minorisierte Personen, People of Color, Schwarze Menschen und Rom*nija. Gelebte Erfahrungen von Racial Profiling beinhalten unter anderem für kriminell gehalten, öffentlich gedemütigt und bloßgestellt, mit rassistischer Sprache adressiert zu werden und/oder körperliche Gewalt zu erfahren, bis hin zu Tötung und Mord (Thompson 2018: 204). Diese Praxis hat auch in Deutschland eine lange Geschichte und ist nur im Kontext historischer Kontinuitäten und dem kolonialen Erbe in postkolonialen Gesellschaften – wie der deutschen – zu verstehen (El-Tayeb/Thompson 2019). Der Begriff wurde im deutschen Kontext durch Aktivist*innen und Beratungsstellen wie die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) in Berlin2, die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD)3 und die Initiative im Gedenken an Oury Jalloh4 in den öffentlichen Diskurs eingebracht. Bereits 2012 forderten Mitstreiter*innen in einer Petition im Bundestag die Praxis des Racial Profiling zu beenden. Seitdem ist einiges passiert. Jedoch wird weiterhin durch eine weitgehende Leugnung von strukturellem Rassismus eine systematische Auseinandersetzung erheblich erschwert. Exemplarisch zeigt sich dies nicht nur an der wiederholten Aussage der Bundesregierung, dass Racial Profiling nicht existiere, weil es verboten sei5 (Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland 2011) oder aktuell wenn der Innenminister Horst Seehofer daran festhält, dass die Bundesregierung eine Studie zu Rassismus in der Polizei ablehne (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat 2020), sondern auch an einer Szene auf dem Frankfurter Opernplatz im Rahmen von Protesten gegen Racial Profiling. In einer verbalen Auseinandersetzung zwischen dem Frankfurter Sicherheitsdezernenten Markus Frank und einer Aktivistin bezeichnete Frank die Aussage dieser, dass Racial Profiling existiere, als »Bullshit«. Auf dieses Beispiel werden wir später genauer eingehen. In Frankfurt am Main, wie in anderen Städten, gehören rassistische Polizeikontrollen zum Alltag. Racial Profiling ist alltägliche Lebensrealität für einen Großteil der Frankfurter*innen – nicht erst seit den Black Lives Matter Protesten 2020 oder dem Aufdecken des NSU 2.0 Skandals.6 Seitdem erfährt das Thema jedoch zunehmend Aufmerksamkeit: Waren Racial Profiling und rassistische Polizeigewalt lange Themen, die ignoriert oder an den Rand gedrängt wurden, scheinen nun auch Teile der weiß-deutschen Dominanzgesellschaft einen Zugang zum Thema gefunden zu haben. Widerstände gegen rassistische Polizeikontrollen und alltägliche Kriminalisierungen sind immer auch die Forderung auf ein ›Recht auf Stadt‹. Denn durch Racial Profiling wird das Recht auf Bewegungsfreiheit, das Recht auf Differenz und das Recht auf Teilhabe an der Stadt verwehrt. Nicht nur, aber auch im öffentlichen Raum unterscheidet die Polizei mittels selektiven Polizierens: Wer kann sich dort ungestört aufhalten und wer wird beobachtet und kontrolliert? Polizeihandeln funktioniert grundsätzlich nach einer differentiellen Operationslogik. Sie ist »Freund und Helfer nur einiger Menschen, aber Feind und Ärgernis anderer« (Loick 2018: 10). Einige können

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Kämpfe und Initiativen

sich einem Schutz durch die Polizei sicher sein, während ›Anderen‹, die als gefährlich und verdächtig gelten, dieser Schutz verwehrt wird. Was heißt das für ein ›Recht auf Stadt‹ aus einer rassismuskritischen und intersektionalen Perspektive? Wir fordern ein ›Recht auf Stadt‹, das nicht nur kapitalistische Urbanisierungsprozesse und darauf basierende Ausschlüsse analysiert und kritisiert – so wie es oftmals verkürzt passiert –, sondern grundlegend feministische, dekoloniale und intersektionale Perspektiven einbezieht (Ha 2016: 32). Was heißt das für uns und unsere Arbeit als Copwatch Frankfurt? Welche Perspektive haben wir auf die Polizei? Und schließlich, wie sieht für uns ein ›Recht auf Stadt‹ aus?

Diese Polizei brauchen wir nicht oder auch: Racial Profiling existiert – End of Discussion Im Rahmen von antirassistischen Demonstrationen und Protesten gegen Racial Profiling in Frankfurt im Juli 2020 konfrontierte eine Aktivistin den Sicherheitsdezernenten Markus Frank (CDU) mit der simplen Feststellung: »Racial Profiling existiert.« Dieser antwortete mit: »Das ist doch Bullshit, Entschuldigung.« Worauf sie noch recht freundlich mit »Wie bitte?« reagierte und Frank bestätigte: »Bullshit ist das, ja.« Sie konterte daraufhin richtigerweise »Bullshit? Solche Antworten sind Bullshit« (ZDF 25.07.2020).

Racial Profiling existiert – End of Discussion. So lautet die Frage nicht: Ist die Institution Polizei rassistisch? Sondern: Wie kann verhindert werden, dass in der und durch die Polizei Rassismus reproduziert wird? Dafür muss eine systematische Auseinandersetzung stattfinden, die aber nur funktionieren kann, wenn anerkannt wird, dass es ein Problem gibt. So kritisiert Vanessa Thompson in einem Interview die fehlende Auseinandersetzung und die Fokussierung auf ein »individualisiertes und ahistorisches Verständnis von Rassismus« und schlussfolgert: »Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Dies ist eine systematische Aberkennung der eigenen Verantwortung in der Herstellung von Ungleichheiten« (taz 06.07.2020). Neben dieser in der weißen Dominanzgesellschaft verbreiteten Ignoranz gegenüber dem offensichtlichen Problem lautet eine Kritik in der Debatte um Rassismus in der Polizei häufig, man würde generalisieren und wenn, dann würde es sich um Einzelfälle handeln. Diese Haltung offenbart ein auf Individuen fokussiertes Verständnis von Rassismus und ignoriert die Stimmen und Analysen von People of Color, Schwarzen Menschen und Rom*nija, Aktivist*innen und rassismuskritischen Forscher*innen. Rassismus ist ein gesellschaftliches Machtverhältnis, das in postkolonialen Gesellschaften wie der unseren in allen Institutionen verankert ist. Bei unserer Kritik geht es nicht um einzelne Polizist*innen, sondern um eine Benennung von und Kritik an institutionellem Rassismus. In Frankfurt sind der Hauptbahnhof, die Konstablerwache, die Hauptwache oder auch der Flughafen offensichtliche Orte des Racial Profilings. Es sind oftmals Orte migrantischer Communities oder solche, an denen migrantisierte und prekarisierte Sexarbeit stattfindet, die im Fokus der Polizei stehen und kriminalisiert werden. Aber auch Stadtteile, die weniger zentral liegen, wie etwa Griesheim, Höchst oder die Nordweststadt, sind Orte, an denen Personen, die von der Polizei als migrantisch wahrgenommen werden, oft unbegründete Pass- und Personenkontrollen auf dem Weg zur Schule, zur Arbeit oder nach Hause erleben. Immer wieder werden insbesondere Jugendliche of Color und Schwarze Jugendliche schikaniert

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und kriminalisiert, indem Jugendclubs oder Orte des Chillens (—Mengilli in diesem Band) vermehrt im polizeilichen Fokus stehen. Viele dieser Orte sind von der Polizei als sogenannte ›gefährliche Orte‹ ausgewiesen. Dies ist ein polizeiliches Instrument, das verdachtsunabhängige Identitätskontrollen an ausgewiesenen Orten ermöglicht (in Hessen § 18 Abs. 2 Nr. 1 HSOG). Es handelt es sich um ein präventives Instrument, bei dem die Polizei unabhängig von einer konkreten Gefahr Personen kontrollieren darf. In Frankfurt werden diese Orte nicht veröffentlicht, sodass der*die Bürger*in nicht weiß, wo sich diese Orte befinden und wo dementsprechend die Polizei diese Maßnahme durchführen darf (Hessisches Innenministerium 2018; 2020). Die Polizei entscheidet selbst, wo diese Orte sind und wen sie dort kontrolliert und hat daher eine enorme Definitionsmacht inne. Dieses Instrument öffnet den Raum für diskriminierende Kontrollen, bei denen insbesondere marginalisierte Bevölkerungsgruppen im Fokus stehen und intersektional verwobene Zuschreibungen (wie etwa rassistische, klassistische, sexistische) für das Polizieren herangezogen werden (Bruce-Jones 2015; Keitzel 2020; Thompson 2018). Die Diskussion zwischen der Aktivistin und Sicherheitsdezernent Frank war jedoch noch nicht zu Ende: Aktivistin: »Sie wurden nicht kontrolliert. Sie werden nicht an die Wand gestellt und abgetastet. Wegen ihrer Herkunft, wegen ihres Aussehens.« Und daraufhin Frank: »Selbst wenn ich kontrolliert werden würde, ich fände es gut. Ich fände es gut. Ich finde jede Kontrolle gut, sie dient unserer Sicherheit« (ZDF 25.07.2020).

Erstens, er wird eben nicht kontrolliert. Er weiß nicht, wie es sich anfühlt in der Öffentlichkeit bloßgestellt und kriminalisiert zu werden. Personen, die dem Bild der Dominanzgesellschaft entsprechen, in diesem Fall ein weißer und älterer, in der Regel ›gut‹ gekleideter Mann, haben das Privileg, seltener bis nie von solchen polizeilichen Kontrollen betroffen zu sein. Dies geht einher mit dem Privileg sich nicht mit der Thematik auseinander­setzen zu müssen, sondern die Möglichkeit zu haben, sich zu entscheiden, ob sie dies tun. Betroffene haben dies nicht, da sie ungewollt immer wieder persönlich mit Racial Profiling konfrontiert werden. Offensichtlich hat sich der Sicherheitsdezernent gegen eine Auseinandersetzung entschieden und den Betroffenen nicht aufrichtig zugehört. Zweitens, verdachtsunabhängige

Abbildung 2: Copwatching in der U-Bahn (Quelle: eigene Aufnahme).

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Identitätskontrollen sind laut dem Bundesverfassungsgericht erhebliche Eingriffe in die Grundrechte (Tomerius 2017) und sind daher nicht grundsätzlich gut, so wie Frank es konstatiert. Und drittens, von wessen Sicherheit spricht er eigentlich? Frank wird, wenn überhaupt, nur Zeuge von Racial Profiling. Wenn er eine Polizeikontrolle sieht, nimmt er diese nicht als Racial Profiling wahr, sondern geht davon aus, dass diese Kontrollen »unserer Sicherheit« dienen. Dies hat mit folgendem Phänomen zu tun: Rassistische Kontrollen senden zwei Signale. Zum einen vermitteln die Kontrollen bei den Betroffenen eine ständige Beobachtung in ihrem alltäglichen Leben. Die Person wird in der Öffentlichkeit als kriminell dargestellt, egal ob sie eine Straftat begangen hat oder nicht. Die Person wird aus der Masse herausgepickt, da die Polizei sie für kontrollwürdig hält. Mit der Kontrolle manifestiert sich ein gesellschaftlicher Ausschluss. Bei der Mehrheit der Beobachter*innen, die wiederum nie kontrolliert wird, bewirkt die Kontrolle sichtbar marginalisierter Personen ein ›Wir‹-Gefühl: Wir, die die nicht kriminell sind, daher nicht kontrolliert werden und vor den ›Anderen‹ beschützt werden. Damit wird eine Distanzierung von rassifizierten Personen geschaffen (Basu 2016). Dieser Prozess funktioniert relational, denn durch das Polizieren der ›Anderen‹ verstehen sich die nicht-kontrollierten Personen erst als zu beschützende Subjekte. Frank fühlt sich demnach sicher, wenn die Polizei kontrolliert, denn dadurch wird er vor den ›Anderen‹ geschützt. Franks Sicherheit bedeutet also die Verunsicherung ›Anderer‹ und umgekehrt: Durch polizeiliches Handeln werden gezielt Machtverhältnisse verteidigt. Und zugleich bestätigen die Kontrollen empirisch zwar nicht haltbare, aber im Raum stehende, rassistische Annahmen und Diskurse. Sicherheit für die einen, bedeutet gleichzeitig Unsicherheit für die ›Anderen‹.7 Für viele Frankfurter*innen gilt die Polizei also keineswegs als ›Freund und Helfer‹, sondern löst Ängste und Misstrauen aus und bedeutet Gewalt. Wir trauern um Betroffene und Opfer, wie etwa Christy Schwundeck, die 2011 im Jobcenter von einer Polizistin erschossen wurde (FR 02.06.2019) oder Savas K., der 2017 bei einem Polizeieinsatz in Höchst in seiner Wohnung stirbt (ebd. 18.08.2020).8 Wir solidarisieren uns mit Derege Welvesiep, der 2012 nach einem Streit mit einer Fahrkartenkontrolleurin, die rassistische Aussagen machte, die Polizei zur Hilfe ruft und im Anschluss von dieser geschlagen und beleidigt wurde (Hessenschau 15.06.2020). Gleichzeitig streut der NSU 2.0 seinen Hass in unterzeichneten Drohbriefen, die seit 2018 an antirassistisch engagierte Personen, insbesondere Frauen, versandt wurden und im Zuge dessen zuvor persönliche Daten von Polizeicomputern, unter anderem vom 1. Revier an der Konstablerwache, abgerufen wurden (FR 13.12.2019; Tagesschau 20.07.2020; FR 16.07.2020). Die vielen Fälle von erschreckender Brutalität, die an uns herangetragen werden und die vielen normalisierten Kontrollen und Blicke im Alltag, all diese Beispiele stehen für eine Polizei in Frankfurt, die für sichtbar minorisierte Personen, People of Color, Schwarze Menschen und Rom*nija, aber auch arme Menschen, (migrantisierte) Sexarbeiter*innen und Drogennutzer*innen eine Bedrohung darstellt. Die betroffenen Communities, die in den hessischen Großstädten einen Großteil der Bevölkerung ausmachen, wissen durch eigene Erfahrungen mit der hessischen Polizei, dass diese Institution für sie keine Sicherheit bedeutet.

Copwatch FFM: ›We look out for each other‹ Frankfurt ist eine Stadt mit vielfältiger Geschichte an migrantischer Selbst­ organisation und antirassistischem Widerstand. Die Kritik an der Polizei und

Racial Profiling und antirassistischer Widerstand

die Einforderung von einem ›Recht auf Stadt‹ spielten dabei immer eine zentrale Rolle. Bereits in den 1990er Jahren kritisierten FeMigra (Feministische Migrantinnen, Frankfurt) beispielsweise die rassistischen Kontrollen und Kriminalisierungen von Jugendlichen insbesondere an der Konstablerwache (FeMigra 1995). Auf dem jährlich stattfindenden Afrikanischen Kulturfest finden Workshops zum Thema Racial Profiling statt. Die Initiative Christy Schwundeck9 hat ab 2011 enorme Arbeit geleistet und für das Thema in Frankfurt und darüber hinaus sensibilisiert. Über diese frühen Aktivitäten aus mehrheitlich migrantisierten Bündnissen vernetzten sich Einzelpersonen und Gruppen, die sich stärker mit den Themen Racial Profiling und rassistischer Polizeigewalt auseinandersetzen. Auch Copwatch FFM gründete sich aus der Initiative Christy Schwundeck heraus. Die politische Gruppe gründete sich 2013 mit dem Ziel, gemeinsam der Normalität von Racial Profiling die konkrete Unterstützung für Betroffene, die solidarische Aktivierung von Passant*innen und eine politische Öffentlichkeitsarbeit entgegenzusetzen. Unsere Arbeit hat drei politische Schwerpunkte: die Telefonhotline, die Informationsstelle und die Dokumentation rassistischer Polizeikontrollen in Frankfurt. Wenn rassistische Polizeikontrollen, Übergriffe oder andere Formen von Racial Profiling erlebt werden, sind wir unter 069 - 34 877 315 erreichbar. Wir dokumentieren den Vorfall anonym und beantworten erste Fragen. Auch wenn man als Passant*in rassistische Übergriffe beobachtet, kann bei uns angerufen werden. So können wir diese Fälle dokumentieren und man wird zur aktiven Zeug*in oder kritischen Beobachter*in. Wichtig hierbei ist an die Situation mit Fingerspitzengefühl heranzugehen. Nicht jede kritische Intervention ist von den Betroffenen erwünscht. Auch kann diese dazu führen, dass die Polizist*innen dies als Provokation wahrnehmen und sich die Situation für die betroffene Person verschlechtert. Wir bieten Betroffenen im Rahmen einer Informationsstelle ehrenamtlich kostenlose, unterstützende Begleitung an. Wichtig ist uns dabei insbesondere, dass diese dezidiert mit rassismuskritischen und juristisch informierten Person besetzt ist. Wir bieten Raum, um Erlebnisse zu schildern und darüber zu sprechen. Gleichzeitig entwerfen wir gemeinsam Handlungsmöglichkeiten. Ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist die Dokumentation und Sichtbar­ machung von Racial Profiling in Frankfurt am Main. Durch Öffentlichkeitsarbeit, die jährlich stattfindenden Aktionen am 15. März und Workshops für

Abbildung 3: ›We look out for each other‹ – am Hauptbahnhof und überall (Quelle: eigene Aufnahme).

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Betroffene sowie solidarische Beobachter*innen schaffen wir Räume für Empowerment und Interventionen.

Was heißt das für ein ›Recht auf Stadt‹? Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Racial Profiling und die Anerkennung des Problems sind mehr als überfällig. Die globalen und auch hiesigen Black Lives Matter Proteste lösten ein politisches Feuer aus, welches auch in Frankfurt tausende Menschen auf die Straße brachte und immer noch bringt. Trotz der starken Proteste, des Aufdeckens der Verstrickungen von hessischen Polizeibeamt*innen in das neonazistische Milieu (zum Beispiel NSU, NSU 2.0) und rechtsextremer Chatgruppen hält sich das Gerede von Einzelfällen hartnäckig. Dies ist Ausdruck der systematischen Verweigerung einer Anerkennung von strukturellem Rassismus im Polizeiapparat und in der Dominanzgesellschaft. Aber es sind auch Brüche erkennbar und neue politische Allianzen organisieren sich. ›Recht auf Stadt‹ bedeutet eine grundlegende Kritik an der Institution Polizei zu üben und über Alternativen zu dieser – wie etwa transformative Alternativen (transformative justice) – nachzudenken. Diese Ansätze streben grundlegendere gesellschaftliche Transformationen und polizeiliche ›Lösungen‹ auf der Basis eines entkriminalisierenden Verständnisses von Sicherheit an. Sie stützen sich auf die Erfahrungen und Wissensbestände von strukturell mehrfachmarginalisierten Gruppen, rassifizierten/LGBT*IQ/ geflüchteten/mittellosen Personen und Kollektiven, für welche die Institution Polizei historisch und gegenwärtig stets eine Gefährdung statt Sicherheit und Schutz bedeutet. Das Infragestellen des Rufes nach Polizei als vermeintlicher Sicherheitsgarantin eröffnet die Frage, »was macht uns wirklich sicher« (Brazzell 2018, eigene Hervorhebung) und die Suche nach Alternativen, Perspektiven und Visionen transformativer Praxis. In dem Konzept werden Handlungsstrategien erarbeitet, die auf dem Wissen basieren, dass die Institution Polizei nach intersektional verwobenen Machtverhältnissen und Dominanzlogiken funktioniert. Demnach bietet sie keine Sicherheit für mehrfachmarginalisierte Gruppen oder rassifizierte/LGBT*IQ/geflüchtete/ mittellose Personen. Eine FLINT* Person of Color, die sexualisierte Gewalt im eigenen Haushalt erlebt, traut sich womöglich nicht, die Polizei zu rufen, weil dies keine Sicherheit, sondern weitere traumatische Einschnitte wie beispielsweise einen Sorgerechtsentzug bedeuten kann. In transformativen Ansätzen wird Gewalt als etwas, was überall – auch in der eigenen Community – existiert, betrachtet. Ziel ist es, Gewalt als systematisch und komplex anzuerkennen und nicht als etwas, was durch das Wegsperren einzelner Gewalttäter*innen gelöst werden kann. In Deutschland stellt LesMigraS eine wichtige Gruppe für die Community-basierte Unterstützung Betroffener dar.10 Kämpfe gegen alltäglichen Rassismus sind Kämpfe um ein ›Recht auf Stadt‹. Kleine und große Widerstände sind Kämpfe um das ›Recht auf Stadt‹! Antirassismus muss intersektional gedacht werden. Es ist Zeit, unsere gemeinsamen Kämpfe stärker zusammenzuführen, damit sich alle in der Stadt bewegen, dort leben und sein können. ›Recht auf Stadt‹ bedeutet ›we look out for each other‹ und deshalb fordern wir: » Ein Ende aller rassistischen Polizeikontrollen. » Eine systematische Auseinandersetzung mit dem institutionellen und alltäglichen Rassismus in der Polizei, der Justiz und anderen staatlichen Behörden.

Racial Profiling und antirassistischer Widerstand

» Die Schaffung einer unabhängigen Kontroll- und Beschwerdestelle statt wachsender Befugnisse für die Polizei. » Die Abschaffung sogenannter ›verdachtsunabhängiger Kontrollen‹ und ›gefährlicher Orte‹. » Ein Recht nicht kriminalisiert zu werden. » Ein Recht auf Differenz. » Ein Recht auf Sicherheit (vor der Polizei).

Endnoten 1

Auszug aus einem Redebeitrag von Copwatch FFM vom 15.03.2020, dem Internationalen Tag gegen Polizeigewalt. Dieser sollte eigentlich an der Konstablerwache in Frankfurt am Main stattfinden, wurde aber kurzfristig aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt. Teile sind unter https://15mrz.org/?page_id=10 veröffentlicht.

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https://kop-berlin.de/

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http://isdonline.de/

4 https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/ 5

Racial Profiling ist in Deutschland eine verbotene Praxis, woran mehrere Gerichtsurteile (Oberverwaltungsgericht NRW 2018; Verwaltungsgericht Koblenz 2012; Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz 2016) erinnern, und verstößt grundsätzlich gegen das Grundgesetz Art. 3 Abs. 3, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention.

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ş Am 2. August 2018 erhält die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz ein Drohschreiben, in welchem sie und ihre Tochter unter anderem rassistisch bedroht werden (Bebenburg/Voigts 2019). Bis September 2020 wurden insgesamt 105 Drohungen an sich in der Öffentlichkeit gegen Rassismus engagierende Personen verschickt, insbesondere an Frauen und nichtbinäre Personen. In mehreren Fällen wurden die in den Drohschreiben verwendeten Daten von Polizeicomputern abgerufen (ZEIT 18.09.2020). Im Zuge der Ermittlungen stieß man auf interne Chatgruppen, in denen sich Polizeibeamt*innen, unter anderem des 1. Polizeireviers in Frankfurt, gegenseitig rassistische und neonazistische Inhalte schickten (Bebenburg/Voigts 2019). Bis heute (Ende 2020) tauchen bundesweit beinahe täglich neue solcher Skandale auf..

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Die Folgen sind vielfältig und reichen von alltäglichen Kontrollen und Kriminalisierungen bis hin zum Tod. Zwei Beispiele, bei denen Polizeieinsätze tödlich endeten: Am 18.06.2020 schießen Polizist*innen auf einen 54-jährigen Marokkaner. Durch die zwei Schüsse in den Oberkörper stirbt dieser. Auf einem Handy-Video ist zu sehen, wie das spätere Opfer die Beamt*innen zuvor mit einem Messer bedroht. Die Staatsanwaltschaft untersucht den Fall. Am 13.04.2018 wird der damals 19-jährige Mattiullah J. mit 12 Polizeischüssen getötet. Zuvor kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen J. und einem Lieferanten einer Bäckerei. Darius Reinhardt und Leila Robel halten fest: »Öffentliche Angaben dazu, wie es dann zu den Todesschüssen kam, wieso der Jugendliche mehrere hundert Meter entfernt in der Eisenhowerstraße erschossen wurde und warum es den 4 Beamt*innen nicht möglich war, den Angreifer ohne Einsatz einer Schusswaffe in Gewahrsam zu nehmen, gibt es bis heute nicht« (Belltower.News 29.04.2019).

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Die Initiative Death in Custody recherchiert, dokumentiert und skandalisiert Todesumstände von BIPOC in Gewahrsam. Weitere Informationen: https://deathincustody.noblogs.org/

9 http://initiative-christy-schwundeck.blogspot.com/p/startseite.html 10 https://lesmigras.de/

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Project Shelter: Practices of Solidarity between visions of liberation and boundaries of integration Project Shelter

Project Shelter ist eine seit 2014 bestehende Initiative in Frankfurt, in der Menschen mit und ohne Migrations- und Fluchterfahrung gemeinsam gegen Obdachlosigkeit und Rassismus arbeiten. Das Projekt organisiert Schlafplätze, finanzielle und soziale Unterstützung sowie Öffentlichkeitsarbeit für neu ankommende Migrant*innen, die von staatlichen Strukturen ausgeschlossen sind. Die Gruppe versteht ihre Soli-Arbeit als politisch, da sie nicht nur kurzfristige Lösungen sucht, sondern langfristig die strukturellen Bedingungen verändern will, die Menschen in solche Lagen bringen. Project Shelter setzt sich außerdem für ein selbstverwaltetes Zentrum ein, in dem Menschen sicher und in Ruhe ankommen und ihr Leben organisieren können. Im folgenden englischsprachigen Beitrag blickt die Initiative auf ihre Entstehung zurück, gibt einen Überblick über ihre bisherigen Aktivitäten und Aktionen und vermittelt einen Eindruck von den gesetzlichen Hürden und Diskriminierungen, denen hier lebende Migrant*innen im Alltag ausgesetzt sind, die auch die gemeinsame Arbeit der Gruppe erschweren. Der Text zeigt eindrucksvoll, wie Project Shelter es trotzdem gelingt, ihre Vision eines solidarischen Zusammenlebens in der Praxis umzusetzen und welche Perspektiven die Initiative für die Zukunft sieht – auch wenn diese durch die Coronakrise mehr denn je unsicher ist.

How we started and why this article matters In late 2014, it became apparent to some people‘s eyes that there are more and more people sleeping under bridges or other places in the city of Frankfurt. They got in touch with each other and got to know each other’s situation. Most of those who were sleeping outside had a legal status in another EU country, mostly Italy or Spain. This means legally they have no right to receive social support from the government here. But in these countries the job situation has been difficult since the economic crisis of 2008. People had lost their jobs and could not find a new one. As the economic situation in Germany was better, they decided to come here with the hope for a better, self-determined life. So we, the newly arrived people and the ones who had already been living in Frankfurt for quite some time, started to work together. The ones who already had a network in Frankfurt tried to provide rooms in private apartments. Very quickly we realised that there were not enough rooms available.

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Also, the reasons why some of us struggle with homelessness and workplaces are structural and cannot be fought only by individual support. This is why we decided that we need to find short-term solutions like sleeping places, but we also should work on long-term solutions by political means. This is how Project Shelter Frankfurt came into existence. Since January 2015, regular meetings have been taking place, where we exchange ideas, network with other political groups and individuals and plan our future actions. Our idea has always been not to be a charity organisation, but to change the restrictions and conditions that people face everyday at their roots, together. We have a vision of a society in solidarity which we try to live in everyday life. As a first step towards this vision, our goal has always been a self-organised center in Frankfurt. And we want to make people aware and learn about the situation some of us face and the structures that bring us into these circumstances. All our activities are, on the one hand, inspired by our visions of a self-determined life for everybody and the empowering moments in our common struggle and achievements. But, on the other hand, we regularly face boundaries and setbacks due to systemic and structural exclusions. Therefore, this text aims at showing our everyday struggles and at making visible where we can’t create solutions but only seem to find dead ends. However, this text should also demonstrate our political vision of a solidarity society. We noticed that, although people might have heard about Project Shelter and may have also been to some of our actions and events, they hardly know the struggles we face as a group in different areas. In our group we understand ourselves as activists who work together in solidarity towards our common goal of a house that stands for so much more than just a house. We have different backgrounds, experiences and voices. So, this text also contains different perspectives and styles.

What we have done so far and which impact we used to have and now have To reach our goal of a self-organised migrant center, we organised a demonstration with more than 1,700 people in Frankfurt, set up a 24 hours stand in front of the city parliament, set up a petition which was signed by more than 8,500 people, organised a camp for one week on Campus Bockenheim with workshops, music and podium discussion and much more. We created awareness among the people living in Frankfurt. We addressed the city, demanding the city officials to speak with us about a self-organised center. As the representatives of the ruling parties were not eager to talk to us, we decided to take houses which had been empty for quite some time. In December 2015 we squatted a building in Bornheim at Berger-/ Höhenstraße, which was owned by ABG Holding, the city owned housing association (—Heeg/Schipper in diesem Band). This occupation lasted only several hours and ended violently because the head of the ABG Holding, Frank Junker, gave the police the permission to evict the house. In February 2016 we squatted the Paradieshof in Alt-Sachsenhausen, which is also city-owned. This house was evicted right away, we were inside for not even one hour. Afterwards we found out that the city had given the police the pre-permission to evict the building right away. Only after these squattings, the city government started talking to us. We had meetings with the Social Democrats and the Green Party about a house for us. First, they told us that they did not have a house with more than 60 possible sleeping places. When we said we would also be willing to take a

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smaller house, the party representatives told us that we would need to set up a structure with social workers and that nobody who does not have a legal status in Germany could stay there. We told them that this is against our political principles and then we stopped the talks with them. Meanwhile, we squatted another house in July 2016 at Berger Straße in Bornheim, which was privately owned. The owner let us stay in the house, but we were only allowed to use the ground floor, which was a former small restaurant. We stayed in our so called ›Bistro‹ for one year, organising talks and having a self-organised cafe there. In December 2016, our bistro was attacked by neo-Nazis. They smashed the front door window and sprayed bitumen inside our cafe at night. We found the whole place covered in sticky black fluid and with a threat letter to our group, telling us that they would come to our houses if we dared to squat again any other building. The solidarity after this attack was great, a lot of people donated their time and money to make the cafe usable again. In July 2017, the time of the shortterm use (›Zwischennutzung‹), we had agreed on for the bistro, had come to an end. Within the group we decided to leave the cafe, as it was not the self-organised center we wanted. Nobody could sleep in the house and the room at the ground floor was too small for bigger events. Since then, we organised political actions and demonstrations with our friends and networks in Frankfurt and Germany. We set up reading circles and internal workshop on different topics. We established together with other groups the Com.Space at the house project Nika in Bahnhofsviertel,

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Figure 1: Activist of the group holds up their symbol for a house (Source: own photo).

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which since then is a place for meeting and organising for different communities and groups that try to set up solidarity structures in Frankfurt. We also worked together with other groups, for example Seebrücke or Solidarity City Frankfurt, and organised demonstrations and sleep-ins. Another pillar of our work is to cook at street festivals and other occasions and organise parties to get money for our solidarity work. In 2020, we have started a new campaign for our self-organised center. We organised actions in front of Paradieshof, which has been empty ever since the eviction of our squatting in 2016. A discussion in the city parliament about this building and about us has started again, as the Left Party submitted a request to give the house to us. This process is still ongoing at the moment we are writing this article. Meanwhile we also focused on our internal structures and the work as a group. This is a broader and complex discussion, which will never be fin­ ished as we need to reflect our work constantly due to several reasons. Some of these reasons will be discussed in the next chapter in a broader sense.

Our daily struggles In the following interview, one of us talks about how, due to his legal status, he was obliged to go through a process that is called ›Vorrangprüfung‹ (priority examination) and which challenges one faces getting a job while having to obey the rules and regulations of immigration in Germany. Vicious circle: no Anmeldung, no working contract, no flat!

Interview person (I): Can you please explain how the situation is like for someone having a legal status in another EU country who wants to start their live in Germany? B: Basically, how I passed through is like if you have a legal status in any European country for over five years then you are allowed to seek for work in Germany. So, you first have a working contract, but before having the working contract you need to have an Anmeldung (Meldeadresse, registration at an apartment) here in Germany. It is just like that, anywhere you go and want to rent a house, they ask you about your working situation. So, this puts you in a vicious circle. Since you don’t have a working contract, nobody will give you a flat or house to rent. And if you don’t have a house to rent, to get an Anmeldung, you also can’t get a work to do. So, you pass through a different series of struggle. If you have the Anmeldung, then you can search for the working contract. ›Vorrangprüfung‹

B: Actually, if you get the working contract, you send it to Ausländerbehörde (authority for foreigners), they will send the contract to Arbeitsamt (job centre) to approve that there is no German (or EU-citizen) who can fulfil that contract, only then they will inform Ausländerbehörde that they can permit you to take that contract. But if Arbeitsamt denies your contract, then it is up to you again to go and search for another contract and bring it back to Ausländerbehörde.1

I: How long can that process take? One week, two days, three months? B: I think for some people it takes half a year. For some people it takes three or five months.

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I: And what is the experience with companies when you search for work and explain to the companies that you have to go through this process? B: Sometimes the company really needs the people to work immediately. So, they give you the contract to go to the Ausländerbehörde so you can confirm and bring it to them. So, in this context where you are likely to work, [but] the company wants you to work immediately, you will lose the work. Some people lose three, four, even six contracts. They lose it because it was too late; the time Ausländerbehörde confirms, the company has already taken somebody else. Other companies also see it as an opportunity for them to exploit the migrants in this system. The company will tell you, »Ok, no problem, we can give you the contract« because they know that you have to stay with them for one year. Because the first visa is combined, it is bound to this specific working contract of that company. The name of the company is written in your visa, in your passport. With this visa you are allowed to work in this company for one year. So, most companies take advantage of that, since they know that you have to stay there for one year before Ausländerbehörde will kind of expand your status, your stay. They will let you work for overtime without getting paid, they will make you face shitty conditions that you can’t complain about. Because they know you have to stay there for the full year. And if you kind of complain about shitty conditions at the work place, they know that the company has the power to cancel your visa. So, if you stop working, you have to go and search for another contract, by that time, this contract has already been cancelled. So, you need to bring another contract to Ausländerbehörde. Ausländerbehörde takes it to Arbeitsamt to approve, and then come back again. So, the whole process starts again. And they know that this process is so difficult for us migrants, that we are 99 % likely to not complain about shitty working conditions, since we have to stay there for the whole year. And imagine one year somebody exploiting you like hardcore. You know how much these people get for an extra exploitation. No breaks, no paid extra hours. Imagine all this extra money the company can keep in that one year. They can build another company with it. So yeah. This is how it is. One company takes advantage of it, not one, most of them take advantage of this Vorrangprüfung process. And it is very unfortunate for people who were made poor. ›Vorrangprüfung‹ is still ongoing

I: And do you know if it is still ongoing? Because many people think it was abolished for all status groups and it doesn’t exist anymore. But do you know of people who still go through this process or even start this process at the moment? B: I know a lot of people who still have to go through Vorrangprüfung right now. It exists in the heart of Frankfurt.

How this affects our group These daily struggles of some of our members directly affect our group. The process of arriving and starting a life here is extremely exhausting. Some people are forced to leave the country again after maybe too many contracts have been denied. Others move on to different cities to try their luck there. And even if you have a flat and workplace, the fights with employers and

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Figure 2: 1st demonstration for a self-organised center, June 2015 (Source: own photo).

Ausländerbehörde hardly stop, so your head is troubled with all the stress and to find capacities and energy for being active in the group can be challenging. And yet, so many of us manage to do so! In addition to the working obstacles, the politically neoliberalised city and the policing of the streets as a constant structuring of public space along various mechanisms of repression poses a constant threat (—Copwatch in diesem Band). The city is therefore not easy to inhabit. People who are racialised are controlled constantly in certain areas of the city, mainly in Bahnhofsviertel and around Konstablerwache. Some of our members were racially profiled and controlled by the police, sometimes arrested, brought to deportation prison and/or directly deported within 24 hours as they did not have a legal permit to stay. So, in certain spaces it is very difficult for some of us to stay. Even though these spaces, both material and social, are central points of reference in the city, staying there can be accompanied by extreme caution and concern. The lived space, with its life-supporting links, can thus in some cases become a sudden no-go area and then become accessible again. The ones of us who are affected by this situation create certain strategies how to move around in this area without being under the radar of the police, as Bahnhofsviertel and Konstablerwache are important places for us for meeting people in bars or buying groceries as there are shops for goods from around the world. Also, moving around in public transport is made more difficult if you do not have a ticket and get controlled. During a check, the staff will call the police if you cannot pay the money right away and do not have a German ID card, with the reason, »it could be a fake one and then we cannot get the money from you.« Thus, border policies are not only effective at the external borders of Europe or the nation states. They also emerge within cities, even if not perceived by everyone and not necessarily as a visible, material barrier. The housing market is another barrier that regulates life in the city. Dynamics of gentrification and the increase in rents interlink racism and

Project Shelter: Practices of Solidarity

poverty to a great extent and many people are excluded from finding (decent) housing. Our short-term solutions of private, mostly temporary emergency sleeping places is embedded in these social circumstances of racist and class exclusions. Of course, as a group we have also experienced lots of positive examples, no doubt, and not having to sleep outside is good. But still, also our supporters, who provide sleeping places and host people for a while, have limited capacities and our members come to stay as guests. It is also in this context, that our struggle and our demand for a self-organised center is based on. In this sense, the idea of sharing a self-organised center is a hope and a concrete struggle that has kept us constantly busy as a group over the last few years. The many actions through which we have drawn attention to our situation have not yet led the city to start serious negotiations with us. This process and the disillusionment it has brought about have cost us many resources and energy. All these conditions and experiences described above, are created due to structural circumstances. With our work as a group we aim to change these conditions and structures, but we still have to live with them until they are changed. The vision we have and practice and the reality we face do not always match and therefore we struggle a lot of times. Still, we do not give up our solidarity work. What solidarity means to us and how we try to live it, will be part of the next chapter.

Our vision of a solidary community and cooperation In our group we want and must create what the city, our immediate living space, denies to many of us. We meet at least weekly on plenaries, workshops, demonstrations or (cooking) actions. The weekly Project Shelter plenary is an open one, so new people can join whenever they want. Nevertheless, it is not and cannot be a space where only political discussions are held, or demonstrations are planned. And it cannot always be an easy nice space where new people feel easily ›included‹. Getting to know how people feel and what their struggles are is a crucial part of every plenary and defines the structure of every meeting. And it requires a lot of sensitivity towards each other and the conditions each and everyone of us is facing. We care for each other and we find principles and structures on how to do that as a group – in the sense of for example finding a buddy to talk to as well as sharing the resources that we organise together. It means taking decisions collectively on how to support our people if their needs require more money than the little they are able to earn, if people need a ticket or have to get out of Germany. So, we try to tackle those structural forms of discrimination in society. Through this practice, we create a community that in its diversity and solidarity opposes the pressing and current struggles. Society puts us in many different boxes according to legal status, skin colour, educational background, class or gender. While we reflect on those, we still focus on how to overcome those separations together, where we want to go together and how we want to live together. In this way, among other things, hierarchies between people who have several privileges obtained by birth and those without or less of them can reflect and work together and hereby come closer to dismantling the power relations between or around them. For us, it is important to tear down the hierarchies by sharing knowledge or trying to support each other when a certain privilege can be useful. This can be the case when a white, German-speaking person will accompany a BIPoC person who does not speak German to Ausländerbehörde. Or when

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somebody who is not affected by racist discrimination and has a German passport will learn from somebody who is racialised and has a non-EU passport about the laws and restrictions in Germany. Being a group with people from different backgrounds and experiences is a challenge and a chance at the same time. Therefore, we constantly discuss the obstacles and contradictions which are put on us in society that are also present in our group.

Corona and us With the Covid-19 pandemic, the struggles and obstacles our members are facing are felt even heavier now. People who had finally entered the process of seeking permit of stay, have lost their recently approved jobs and have to start from the beginning. Some were close to finish the year bound to one employer and also have to restart ›all fresh‹. Many were sent into ›Kurzarbeit‹ (short-time work), many didn’t receive the salaries for the last days in March 2020, when they still were able to work. Most of the usual employers and companies who would normally be up for employing migrants are the ones that had to cut down their staff due to corona – for example hotels, gastronomy and cleaning facilities. Now, in this crisis, of course the people losing their jobs first are migrants/non-European citizens in the low-wage sector. We experienced a tendency in offering sleeping places which went down to almost zero in springtime, when Corona first hit Germany. During the summer months, people were slowly willing to host again, also because many were leaving for holidays. At the moment, in December 2020, we experience the second wave of the pandemic in Germany. And again, some of us lose our jobs again. Our procedure for getting a right to stay is therefore postponed until an unknown time. And we do not know how long our visas will be prolonged by Ausländerbehörde without a job. The ones of us who still have a job mostly have to go into ›Kurzarbeit‹. At work some of us face dangerous working conditions, as our employers do not take sufficient measurements to protect us from the disease. Either they do not tell us when somebody who we worked with is in quarantine or they do not give us enough protection equipment. Due to this reason when someone of our colleagues had the virus, most of our co-workers also got it. Concerning donations, we feel that in the beginning of the pandemic there was a lot of solidarity towards projects like ours but it got less very fast. In the last months we were broke and could not hold up with our support-level of before, moneywise. This created a difficult situation within our group, as some of us face losing their apartments, jobs and their right to stay which puts us into a lot of stress. Plus, for the first time we have not been having our face-to-face public meeting, but were holding the plenary online. Despite our wish to enable all members to take part, there are still some excluded from these online meetings. A positive side effect is that some of our members, that due to the reasons described above are no longer living in Frankfurt, where able to join. So, since Corona people from Italy and even Ghana were joining us on a weekly basis.

How to go on? As you could read in this article we constantly try to find a balance between the restrictions we are facing and the political aims and principles that we

Project Shelter: Practices of Solidarity

want to follow in order not to lose ourselves in the sphere of bureaucratic and unworthy labyrinths of the European system. It is difficult to evolve, after six years of struggle, to uphold hopes and not to fall into traps of institutionalisation. On the other side, there are so many positive impacts that our work has had and that we can build upon: After all those years, we are still here. We can look back on six years of creating a different practice of solidarity within Frankfurt. We have had an impact on city politicians, they needed to react to us. And we influence processes which are still going on. Within our group we have created an atmosphere in which we support each other and, at the same time, change the restrictions that are put upon us. Our project is unique and inspirational for other movements in Frankfurt and beyond, since our inclusive political and solidary work everyday follows the visions we have and is yet based on the living realities we face. These realities and the life that comes with it, we feel that this kind of life here for many of us is not something you wish to aim for: a constant life of exploitation, discrimination, exclusion; a life in a capitalist center, that makes it hard to survive, not speaking of a life that one could really enjoy and feel yet only a hint of pleasure, self-determination and freedom. However, we believe in the realisation of our initial goal, the self-organised migrant center, a safe space, here in Frankfurt. We still want to politicise this kind of life, we want to fight for the better and we want to leave no one behind who seeks for this. No matter where and how we continue this fight, Project Shelter has been and continues to be a space where we learn, grow and build upon, a stepping stone and a glimpse into a future that is still to come.

Footnotes 1

To facilitate access to the labour market for asylum seekers and ›tolerated‹ persons, the ›Vorrangprüfung‹ (priority examination) was suspended in many regions of Germany for a period of three years. However, § 38a of the Law on the Residence, Employment and Integration of Foreigners in the Federal Republic of Germany states that this does not apply to »long-term holders of the residence permit in other Member States of the European Union.« Here the ›Vorrangprüfung‹ still applies. For further information check the following webpages: https://www.arbeitsagentur.de/datei/dok_ba013628.pdf https://www.gesetze-im-internet.de/aufenthg_2004/__38a.html https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Meldungen/2016/hintergrundpapier-zum-integrationsgesetz.pdf?__blob=publicationFile&v=1

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Unterbrechungen in der Global City. Arbeitskämpfe im Baugewerbe und am Flughafen Karin Zennig

Frankfurt generiert sich als und ist auch tatsächlich eine Global City. Trotz einer gewissen Provinzialität spricht die Konzentration von Börse, international agierenden Großbanken, europäischen Internetknotenpunkten und Flughafen dafür, Frankfurt als eine internationale Schaltstelle des globalen Kapital-, Waren- und Personenverkehrs zu bezeichnen (—Ronneberger in diesem Band). Die Stadt ist auch ein Paradebeispiel für die Umstrukturierung des Arbeitsmarktes in den letzten Jahrzehnten, die zum Verlust von Arbeitsplätzen im gewerblichen Bereich geführt hat. Dieser wurde jedoch durch die massive Zunahme von Dienstleistungstätigkeiten um ein Vielfaches kompensiert. Ruft man ›Frankfurt‹ als Banken- und Versicherungsstadt auf, geht damit eine bestimmte Vorstellung neu entstandener Dienstleistungstätigkeiten im hochqualifizierten Sektor einher. Tatsächlich resultiert die Beschäftigungszunahme in der Stadt allerdings wesentlich aus einer Zunahme prekärer, undokumentierter und schlecht bezahlter Arbeit (—Ouma/Lindner in diesem Band).1 Frankfurt bildet damit einen für Deutschland besonderen Ort der Gleichzeitigkeit hochqualifizierter, teurer (Kopf-)Arbeit und prekärer, systematisch unterbezahlter Beschäftigung. Der globale Arbeitsmarkt kommt hier zusammen, mit ihm treffen die Absurditäten unterschiedlicher rechtlicher Standards zwischen Kontingentarbeiter*innen, EU-entsandten Beschäftigten und hiesigen Arbeitnehmer*innen aufeinander. Scheinselbstständige, Angestellte, Werkverträgler*innen – alle an einem Ort. Globalisierung im lokalen Raum. Kein leichtes Pflaster für Arbeitskämpfe. Es ist nicht überraschend, dass Frankfurt für vieles, aber nicht unbedingt als Hochburg von Streiks und Arbeitskämpfen bekannt ist – auch wenn diese regelmäßig auf stabilem Beteiligungsniveau stattfinden. Umso interessanter ist deshalb die Betrachtung von Arbeitskämpfen, in denen es unabhängig von ihrer Größe gelingt, die Funktionsweise Frankfurts offenzulegen und auf eine bestimmte Weise eine Unterbrechung dieses business as usual zu schaffen. Um zwei solcher in diesem Sinne spektakulären Arbeitskämpfe der letzten Jahre soll es im Folgenden gehen.

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Der Schatten der Türme Frankfurt ist nicht nur Global City, sondern nach München auch die zweitteuerste Stadt Deutschlands. Raum und vor allem Wohnraum ist extrem verdichtet und die Preise hierfür sind in den letzten Jahren ins Unermessliche gestiegen (—Heeg/Schipper in diesem Band). Während zehntausende Wohnhäuser aus der Mietpreisbindung gefallen sind und mit den daraus zu erwartenden Mietsteigerungen für die aktuell dort lebenden Menschen weitestgehend unerschwinglich werden, verzeichnet Frankfurt seit vielen Jahren eine unglaubliche Bauaktivität. Allerdings nicht um verloren gehende Sozialwohnungen auf neuestem Standard zu ersetzen, sondern um Luxuswohnungen, Bürokomplexe oder Tower mit Eigentumswohnungen zu schaffen. Es wird gebaut für die Brexit-Bänker*innen, die Versicherungsmakler*innen, die Prozessoptimierer*innen, die EZB-Mitarbeiter*innen – für die Kopfarbeiter*innen der Global City. Dass diejenigen, die diese Gebäude bauen, niemals in ihnen werden leben können, scheint keine politische, vielleicht noch nicht einmal mehr eine irritierende Feststellung zu sein. Dass der Bau dieser Gebäude aber die systematische praktische Unterlaufung von Arbeits- und Sozialrechten und die Überausbeutung der oftmals osteuropäischen Arbeitsmigrant*innen in organisierter Form geradezu voraussetzt, ist in seiner Dimension zwar nicht unbekannt, aber weitestgehend unbeachtet. Frankfurt ist nicht der einzige Ort, an dem diese Verhältnisse im Baugewerbe vorherrschen. Allerdings liegen hier die räumliche Gleichzeitigkeit und innere Verwobenheit von Reichtum und Armut, von Hochpreis-Kopfarbeiter*innen und entrechteten Subalternen in besonders verdichteter Form vor.

Wie ist das Baugewerbe organisiert? Nach der EU-Vergaberichtlinie müssen öffentliche Aufträge ab einer bestimmten Höhe öffentlich ausgeschrieben werden. Im Vergleich der dann vorliegenden Angebote ist das Prinzip der Wirtschaftlichkeit oberstes Kriterium, das heißt qualitative Kriterien wie Tariftreue, Arbeits- und Gesundheitsstandards, betriebliche Interessenvertretungen etc. zählen nicht oder nur nachrangig als Wert und gereichen den Konkurrent*innen zum Nachteil, da sie tendenziell Kosten verursachen und den Angebotspreis erhöhen. Wird ein Bauauftrag vergeben, gewinnt also die Firma den Zuschlag, die den Auftrag am kostengünstigsten umsetzen kann. Das ist keine Überraschung, auch wenn diesem Umstand der Dumpingkonkurrenz bei der Vergabepraxis von Aufträgen weder im Baugewerbe noch in anderen Branchen Rechnung getragen wird. Denn wenn die kostengünstigsten Anbieter*innen gewinnen und sich in Abhängigkeit davon die Bedingungen der dafür zu erbringenden Arbeit strukturieren, sind bereits in der Auftragsausschreibung ein massiver Druck auf die Arbeitsbedingungen und der Zwang, Arbeitsund Sozialrecht zu unterlaufen, angelegt.2 Arbeitgeber*innen haben vielfältige Strategien entwickelt, um diesem Druck durch die Senkung von Lohnkosten beizukommen. Einerseits wird sozialversicherungspflichtige Beschäftigung generell verhindert und mit dem Konstrukt der Scheinselbstständigkeit gearbeitet. Das heißt Personen werden zu Selbstständigen erklärt, um den Arbeitgeber*innen generell die Entrichtung der Sozialversicherungsbeiträge zu sparen. Eine andere Option bilden sogenannte Kontingentverträge. In diesen werden Werkverträge an Firmen von Nicht-EU Ländern vergeben. Diese werben Arbeiter*innen der Herkunftsländer an und setzen sie über Entsendegesetze auf Baustellen in

Arbeitskämpfe im Baugewerbe und am Flughafen

Deutschland zur Erledigung des Gewerks ein. Für diese gilt zwar formal das Prinzip des equal pay, was im Baubereich nicht nur der gesetzliche Mindestlohn, sondern sogar der allgemeinverbindlich erklärte Branchenmindestlohn ist. Die sozialrechtlichen Regelungen richten sich allerdings nach den Regelungen des Herkunftslandes mit viel niedrigerem Niveau. Eine andere, verbreitetere Variante, Lohnkosten ›zu sparen‹, besteht im systematischen und kalkulierten Arbeitszeitbetrug – ganz unabhängig vom vorliegenden Vertragsverhältnis. Was heißt das konkret? Bauarbeiter*innen in Hessen erhalten mit 16,14 €/Stunde bereits durchschnittlich 1 € weniger Lohn als ihre Kolleg*innen in anderen westdeutschen Bundesländern (DPA 7.10.2019). Der Schnitt beinhaltet aber hier wie dort keine realistische Wiedergabe des Verhältnisses von Arbeitszeit und Entgelt und ist vor diesem Hintergrund völlig fiktiv. In der Realität arbeiten die Kolleg*innen regelmäßig das Drei- bis Vierfache der formal abgerechneten Stunden undokumentiert. Das heißt oft: Es werden nicht wie abgerechnet 80, sondern 260 Stunden und mehr pro Monat gearbeitet – mit entsprechenden Auswirkungen auf den Stundenlohn. Das sind immerhin sechs Tage mit durchschnittlich 10 Stunden. Die Arbeiter*innen leben in der Stadt. In Autos im Gutleut oder Gallus am Straßenrand. Oder sie leben mitten unter uns im Bahnhofsviertel, in riesigen Männerwohnheimen in Griesheim, in Sammelunterkünften im Westend oder in Bockenheim – mit Doppelstockbetten in verschimmelten Zimmern, 8-10 Personen auf 10-15 m² – die über ihre Auftraggeber*innen angemietet sind und deren völlig überteuerte Miete (200-300 € pro Bett) automatisiert vom Lohn einbehalten wird und sie in einer doppelten Abhängigkeit gefangen hält. In der Regel sind diese Arbeiter*innen auch nicht in der Lage, selbst von basalen Rechten wie Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall oder Urlaubsansprüchen Gebrauch zu machen. Das ist der Normalzustand, um den es keinen Arbeitskampf und wenig Aufsehen gibt. Die Rekrutierung vorwiegend migrantischer, in diesem Fall osteuropäischer Arbeiter*innen kalkuliert ihre Vulnerabilität und mangelnde Rechts- und Sprachkenntnisse zur Inanspruchnahme von equal pay systematisch ein. Dass dieser Zustand auch von den rekrutierten Arbeiter*innen in der Regel billigend in Kauf genommen wird, sagt viel über deren finanzielle und materielle Not aus. Er ist auch Ausdruck des Drucks, unter dem sie sich gezwungen fühlen, sich auf die Bedingungen einzulassen. Es ist der Normalzustand, der organisiert, systematisiert und flächendeckend vorherrscht. Halten sich die Unternehmen an die Absprachen dieser Knebelverträge, passiert in aller Regel nichts. Zum Arbeitskampf kommt es nur bei noch frappierenderen Formen des Betruges. Denn oft genug wird den Arbeiter*innen weniger, manchmal auch schlicht gar nichts gezahlt, die Wohnungen werden bei Problemen mit den Arbeitgeber*innen gekündigt und die Ansprechpartner*innen sind nicht mehr auffindbar.

Kampf in der Hattersheimer Hier beginnt die Auseinandersetzung von 30 rumänischen Bauarbeitern, die 2015 allen Widrigkeiten zum Trotz in der Hattersheimer Straße im Gallus beziehungsweise Europaviertel mit einem bemerkenswerten Arbeitskampf von sich reden machen.3 Die Liegenschaft wird damals von Aurelius verwaltet, einem Immobilienentwickler, der überwiegend mit ehemaligen Liegenschaften der Deutschen Bahn operiert und diese aufwertet (—Albrecht/Betz/Latocha in diesem Band). Vergeben wird der Bauauftrag

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an die D&B Bau GmbH, die ihrerseits eine Nachunternehmerkette bildet. Wenn jemandem dieser Name bekannt vorkommt, dann weil die Hattersheimer Straße nicht die einzige Baustelle der Firma in Frankfurt ist – und, wie sich im Laufe des Arbeitskampfes herausstellt, auch nicht die einzige Baustelle mit extremen Formen der Ausbeutung. Die Systematik des Betrugs wird auch daran offensichtlich, dass die Auftraggeber*innen private Investmentfirmen sein können oder auch öffentliche Bauherren, wie die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft Neu-Isenburg im Jahr 2018. Egal. Auch nach der öffentlichen Skandalisierung der Vorfälle in der Hattersheimer erhält die D&B Bau GmbH weiter problemlos Aufträge. Es ist wie mit der Jeans im Laden. Alle wissen, unter welchen Bedingungen sie hergestellt wird, aber gekauft wird sie trotzdem. In der Hattersheimer ist es wie immer. Es wird gearbeitet, die monatlichen Löhne sind versprochen. Aber sie bleiben aus. Den ersten Monat, den zweiten. Dann den dritten. Währenddessen ist der Ansprechpartner des Subunternehmens mit den an ihn ausgezahlten Vorschüssen abgehauen. Die Arbeiter wenden sich wütend an die Faire Mobilität, eine gewerkschaftliche Beratungs- und Anlaufstelle für mittel- und osteuropäische Arbeitnehmer*innen.4 Auch das ist besonders. Nur weil Beschäftigte Ungerechtigkeit ausgesetzt sind, ergibt sich daraus nicht immer ein gemeinsamer Impuls. Im Gegenteil – die Normalität des Betrugs an ihnen schafft auch eine Normalität des Ertragens: Angst, den Job zu verlieren, auf den man angewiesen ist; der Glaube, mit Zurückhaltung und Übererfüllung mehr Chancen zu haben. Der Fragmentierungsprozess, in dem man nicht glaubt, gemeinsam handeln zu können oder nicht mehr die Hoffnung hat, dass Handeln überhaupt zu etwas führt, wird durch eingeschleuste Spitzel in der Belegschaft oder oft genug auch engagierte Schläger unterstützt. Dadurch wird Solidarität praktisch zersetzt. Die für einen Arbeitskampf nötige Einigkeit zwischen den Arbeiter*innen kommt oft nur in besonderen Extremsituationen zu Stande und ist unter diesen Umständen schon ein Wert für sich. In der Hattersheimer ist das wie folgt. Die Arbeiter organisieren sich und wollen sich wehren. In Zusammenarbeit mit der IG BAU, der zuständigen DGB-Gewerkschaft, ziehen die Beschäftigten vor die Baustelle und blockieren, sodass dort nicht weitergearbeitet werden kann. Über eine Woche hält die Blockade an. Sie wird mit kontinuierlicher Öffentlichkeitsarbeit flan­kiert, um auf den strukturellen und konkreten Skandal aufmerksam zu machen. Der öffentliche Druck zielt auf den Generalunternehmer, die D&B Bau GmbH, die formaljuristisch für die Nettolöhne und die Sozialversicherungsbeiträge haftet. Doch auch hier darf man mit der Illusion über den deutschen Rechtsstaat nicht zu voreilig sein. Es reicht nicht, offensichtlich im Recht zu sein, man muss sein Recht auch vor Gericht geltend machen und dafür ist man in der Nachweispflicht. Arbeitszeitbetrug nachzuweisen heißt nachzuweisen, dass man real gearbeitet hat, wenn man ›offiziell‹ nicht auf der Baustelle war. Wie macht man das mit geringen Sprach- und Rechtskenntnissen, ohne Zeiterfassungssysteme, oft nur mit groben Aufzeichnungen der eigenen Stunden? Und wenn es zum Beispiel keine Dokumentation über die Unterkunftskosten gibt? Wie und wo macht man seine Rechte geltend, wenn man alle sechs Wochen auf einer anderen Baustelle in Turin, Marseille, Frankfurt und Düsseldorf eingesetzt wird? Und wovon bezahlt man die Anwält*innen für das Verfahren? Gewerkschaftlicher Rechtschutz besteht nach drei Monaten der Mitgliedschaft, die aber in jedem Land neu eingegangen werden müsste. Es gibt zwar einen transnationalen Arbeitsmarkt, aber keine Rechtsverhältnisse oder Organisationsformen, die in der

Arbeitskämpfe im Baugewerbe und am Flughafen

Lage sind, in diesem Zustand die Rechte der Beschäftigten zu sichern.5 Gleichzeitig sind die Regelungen für den Zugang zu Prozesskostenhilfe in einem Ausmaß verkompliziert worden, dass kaum freie Anwält*innen zu finden sind, die zu diesen Konditionen arbeiten. Für wen gilt dann die vielbeschworene Rechtsweggarantie – nur für Personen mit privater Rechtsschutzversicherung? Die Hürden liegen generell hoch, aber für diese Asymmetrie der Arbeitsbeziehungen noch höher. Dies bedeutet eine strukturelle Verunmöglichung von Recht. Die öffentliche Skandalisierung ist deswegen keine Makulatur. Das Spiel über Bande, zum Beispiel über die Medien, ist oft der einzige realistische Schlüssel zum Erfolg. Je stärker der öffentliche Druck oder die Empfindlichkeit des Generalunternehmers ist, desto mehr ist möglich. Nicht immer werden die vollen, von der IG BAU ausgerechneten Beträge gezahlt. Da der Generalunternehmer nur für die Nettolöhne zuständig ist, generieren die angenommenen Steuerklassen den Verhandlungsfaktor. Es wird so rumgerechnet, dass am Ende gezahlt wird, was das Unternehmen bereit ist beziehungsweise zu welchem Zugeständnis es sich zur Wiederherstellung seines Images gezwungen fühlt. Oft wählen die Bauunternehmen auch die Exitstrategie der Insolvenz. Mit einem solchen Schritt treten eine weitere Entrechtung der Beschäftigten und ein weiterer Betrug ein. Können die Ansprüche der Beschäftigten nicht aus der Insolvenzmasse beglichen werden, was in diesen Konstellationen eigentlich immer der Fall ist, bleibt nur noch die Möglichkeit des Insolvenzgeldantrags bei der Agentur für Arbeit. Grundlage für die Veranschlagung sind die existierenden Arbeitsverträge, die aber nicht die real gearbeiteten Stunden widerspiegeln.6 Kann das Insolvenzgeld zum Glück für die Beschäftigten durchgesetzt werden, bezahlt faktisch der*die Steuerzahler*in über die Agentur die Lohndumpingpolitik der Bauindustrie. Obwohl diese Praxen bekannt sind, gibt es wenige Kontrollen, geschweige denn Razzien, um dieser Form der Unterlaufung arbeits- und sozialrechtlicher Standards entgegenzuwirken. Die staatlichen Behörden sind stark unterbesetzt und das Ausloten ihrer Möglichkeiten folgerichtig sehr vom persönlichen Engagement Einzelner abhängig.7 Dieses Vollzugsdefizit wird von den Unternehmen einkalkuliert und das Restrisiko, einer Kontrolle unterworfen zu sein, eingepreist. Genau diese Konstellation aber, die Unfähigkeit und Unwilligkeit des Staates, dies strukturell zu unterbinden, macht jede betroffene Person darin zum*zur Einzelkämpfer*in und jede öffentlich wahrnehmbare Konfrontationssituation zu einer Ausnahmeerscheinung. Aber man kann nicht für jede Baustelle eine Unterstützer*innengruppe gründen, nicht wegen jedem Fall dieser beschriebenen Normalität das Fernsehen anrufen. Nicht zuletzt auch, weil Skandalisierung als Strategie eben auch nur dann funktioniert, wenn sie nicht der Normalzustand ist. Dieser liegt in diesem Fall aber vor. Die Kollegen in der Hattersheimer Straße haben ihre Auseinandersetzung gewonnen. Durch die Besetzung und die Länge ihres Arbeitskampfes war er trotz der vergleichsweise wenigen Betroffenen besonders: Er hat auch weitere Arbeiter*innen motiviert, ihren Rechten nachzugehen und geholfen, eine Kette weiterer Auseinandersetzungen mit D&B Bau anzuzetteln.8 Die Öffentlichkeit, auch wenn sie nur gelegentlich eintritt, hat in diesen Konstellationen aber auch noch eine andere Funktion. Sie macht sichtbar, was ansonsten unsichtbar geblieben wäre, sie legt die Funktionsweise einer Stadt, einer Global City wie Frankfurt offen und wirft sie auf sich selbst zurück. Die durch diesen besonderen Arbeitskampf entstandene Öffentlichkeit ermöglicht eine Konfrontation auch mit der Form der Stadtpolitik, das heißt

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mit der Frage, für wen durch wen gebaut wird. Wer willkommen ist und wer unsichtbar gemacht wird. Wer zu seinem Recht kommt und wessen Recht strukturell behindert wird.

Stillstand im Zentrum. Streiks am Flughafen Eine Konfrontation mit der Global City kann aber auch ganz anders aussehen. Kern der Attraktivität Frankfurts ist der seit den 1960er Jahren stark ausgebaute, mittlerweile viertgrößte Flughafen Europas. Mit rund 70 Millionen Fluggästen und weit über 2 Millionen Tonnen Frachtumschlag ist er die Verkörperung eines internationalen Handels- und Verkehrskontenpunktes. Weit über 80.000 Beschäftigte arbeiten dort, sie bilden eine Stadt in der Stadt. Den Flughafen zum Stillstand zu bringen ist, als würde Frankfurt, dieser globale Kontenpunkt, einen Herzstillstand erleiden. Genau das, was eigentlich unvorstellbar erscheint, was selbst der Finanzkrise 2007/2008 nicht und auch der Coronakrise nur zum Teil gelungen ist, hat der Arbeitskampf des Wach- und Sicherheitspersonals am Frankfurter Flughafen auf spektakuläre Art geschafft: Zum ersten Mal 2014 und dann erneut 2019 wurde der Frankfurter Flughafen mit einem vierundzwanzigstündigen Warnstreik praktisch und vollständig zum Erliegen gebracht. Das Streikziel lag 2014 bei 16 €/Stunde. Das sind bei einer Vollzeitstelle, die häufig gar nicht vorliegt, 2.600 € brutto im Monat – wohlgemerkt als Ziel, nicht als Zustand. Damit gehören die Sicherheitskräfte gelinde gesagt nicht zum privilegierten Teil der Global City, sondern zu genau jenen Menschen im Rhein-Main-Gebiet, die mehr als ein Drittel bis die Hälfte ihres Gehaltes für Miete ausgeben müssen. Oder zu denjenigen, die sich Frankfurt nicht mehr leisten können und die deswegen in Vororte ziehen und wesentlich längere Wege, schlechtere Anschlüsse und fehlende soziale Infrastruktur in Kauf nehmen (müssen). Die Kolleg*innen der Luftsicherheit sind prekär beschäftigt und die Tätigkeiten an den Schleusen der Personen- oder Warenkontrolle, die Leute auf dem Weg in ihren Urlaub oder zum Geschäftsmeeting passieren müssen, gehören in aller Regel nicht zu ihrer ersten Wahl. Der überwiegende Teil der Beschäftigten ist vorher anderen Arbeiten nachgegangen. Viele der Kolleg*innen haben gebrochene oder unterbrochene Erwerbsbiographien. Sie kommen aus dem Osten9, haben Erfahrungen entwerteter Qualifikationen, waren vorher in jetzt geschlossenen, abgewickelten Betrieben und Unternehmen oder haben persönliche ›Knicke‹ in ihrer Erwerbsbiographie durchgemacht. Ein hoher Teil hat das, was man Migrationshintergrund nennt. Die Einstiegshürden für die Flugsicherung sind formal niedrig, die Bedingungen nicht rosig. Deswegen werden auch immer Arbeitskräfte gesucht. Die Kolleg*innen können mit einem Kurs von einigen Tagen bis wenigen Wochen eine neue Tätigkeit beginnen. Die Arbeit unterliegt hohen Anforderungen. Nicht nur die unbequemen und langfristig gesundheitsschädlichen Arbeitsund Schichtzeiten: Der Arbeitstag hat 24 Stunden. Auch ist die Arbeit, die ohnehin der Überwachung von Flugsicherheit und Terrorschutz unterliegt, ständigen Kontrollen ausgesetzt und mit entsprechendem Druck verbunden. Irgendein Sicherheitsaudit ist immer, in dessen Rahmen die eigene Arbeit penibel genau der Beobachtung und Leistungskontrolle unterworfen ist. Die Fluktuation der Arbeiter*innen ist hoch. Organisiert sind die Kolleg*innen trotzdem nicht in dem Maße, wie es die Bedingungen vielleicht nahelegen würden. Und doch passiert in Frankfurt, was unter solchen Umständen eher unwahrscheinlich ist: Es wird zum Streik aufgerufen. Die Gewerkschaft ver.di hat im Vorfeld viel für die Mobilisierung und Organisierung getan,

Arbeitskämpfe im Baugewerbe und am Flughafen

aber es bleibt ein Poker, wie viele Menschen sich am Streik beteiligen. Und dann kommen am Tag des Streiks nicht nur die erwarteten Gewerkschaftsmitglieder. Es sind einfach alle da. Man könnte sagen, die Streikbeteiligung liegt bei über 100 %, weil sogar diejenigen vor Ort sind, die eigentlich frei gehabt hätten. Alle wollen dabei sein. Es ist überwältigend. Diesem Streik sind die ermutigenden Arbeitskämpfe der Lokführer*innen und der Fluglotsen vorausgegangen. Sie haben gezeigt, dass es möglich ist. Zusammen ist man stärker, zusammen ist man weniger allein. Solche Beispiele, auf die man blicken und mit denen man sich Hoffnung machen kann, helfen. Aber es hat in diesem Fall auch funktioniert, die Wut über die Arroganz und Herablassung der Arbeitgeber*innen, in den Tarifverhandlungen keinerlei Erhöhung anzubieten, die Ohnmacht angesichts der eigenen vermeintlichen Schwäche in Handlung und Stärke zu transformieren. Am Ende ziehen 6.000-8.000 Streikende mit einer Demo durchs Terminal und treiben der Fraport die Schweißperlen auf die Stirn. Der Streik 2014 ist in diesem Ausmaß bis dato einmalig und auch in diesem Sinne bedeutend. Die Stimmung ist außergewöhnlich – unter den Streikenden, aber auch am Flughafen und in der Stadt generell. Man merkt den Stillstand sofort. Eine Atempause auch für alle Fluglärmgeplagten. Vielleicht ist es zu sozialromantisch, diese Geschichten so zu erzählen. Aber es ist schon etwas dran an der David-gegen-Goliath-Assoziation. Ein Arbeitskampf unterbezahlter Sicherheitskräfte verunmöglicht kurzzeitig auch den EZB-Mitarbeiter*innen oder den PwC-Vertreter*innen ihren Beat. Gerade das macht ihren Arbeitskampf so einflussreich. Und am Ende gewinnt man auch noch. Sogar zweimal. 2019 noch einmal. Nach so einem Auftritt reicht der einen Seite die Drohung, weil die Attraktivität für alle Beteiligten, wieder dabei sein zu wollen, so groß ist, dass sich der Streikerfolg fortsetzt. Durchgesetzt werden Lohnsteigerungen von zum Teil 25 %.

Organisierter Arbeitskampf für ein ›Recht auf Stadt‹ Zugegeben, mit beiden Beispielen hat sich wenig an der beschriebenen Asymmetrie der Arbeitsverhältnisse in Frankfurt verändert. Es ist aber in beiden Fällen gelungen, über die unmittelbare Durchsetzung der eigenen Rechte, was oft schon viel ist, auch eine zusätzliche Konfrontation zu

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Abbildung 1: Warnstreik am Flughafen Frankfurt am Main 2019 (Quelle: Ursula Lerche ).

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erzeugen – mit der Global City Frankfurt. Es ist dieser Aspekt, der dazu führt, auch den Kampf um die Höhe der Bezahlung besser führen und gewinnen zu können. Sicher, das ist weder für alle Arbeitsauseinandersetzungen herstell- noch in dieser Form durchhaltbar. Aber vielleicht ist es doch gerade in Zeiten sich reorganisierender Gewerkschaften eine Anregung für die eigene Strategiebildung, die Kämpfe um Lohn, Tarifverträge und Anerkennung stärker als bisher mit der Frage der Lebensbedingungen, der Zusammenhänge von Arbeit und Leben und damit auch der Frage des ›Rechts auf Stadt‹, der Suche nach einer symbolischen oder auch ganz konkreten Konfrontation mit der Funktionsweise des Ortes, an dem man kämpft, zusammenzubringen. Das Verlassen des kalkulierbaren Rahmens der Auseinandersetzung ist dabei in jedem Fall ein Verhandlungsvorteil.

Endnoten 1

Nach Aussage der Stadt Frankfurt war die Zunahme sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zwischen 2014 und 2019 am stärksten auf die Zunahme in Helfer*innen-Berufen zurückzuführen. 78,1 % des Zuwachses erfolgte in Teilzeit. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stieg in Hoch- und Tiefbauberufen um 52,8 % und in Innen-/ Ausbauberufen um 41,3 %. Die Zahl der Beschäftigten mit einem Verdienst im Minijobbereich ist von 2006 bis 2017 um 40,6 % gestiegen, während die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im selben Zeitraum nur um 23 % gestiegen ist (Stadt Frankfurt am Main 2019).

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Aufgrund des vorgegebenen Kostendrucks kommt es vor allem im Bau, im Reinigungsund Sicherheitsgewerbe und in Callcenter-Betrieben zu einer Zunahme von Sozialversicherungsbetrug und Lohndumping. Die Versuche des Gesetzgebers, dies einzudämmen und Vergaberichtlinien zu erlassen, sind dabei bisher eher hilflos. Zum einen gelten diese nur für öffentliche Aufträge und damit nur für einen Bruchteil der Wirtschaftsaktivitäten. Zum anderen wurden Versuche, mit der föderalen Vergabegesetzgebung eine Haftbarkeit für die Einhaltung von arbeits- und sozialrechtlichen Standards zu schaffen, in Hessen bedauerlicherweise in sehr problematischer Form umgesetzt. Die Regelung sieht vor, dass Subunternehmen bis ins letzte Glied – das heißt bis zur Ebene der Selbstständigen – haftbar gemacht werden können (siehe Landtag Hessen 2014). Im Klartext heißt das: Scheinselbstständige laufen bei einer Beschwerde über die Verletzung sozialversicherungspflichtiger Standards Gefahr, am Ende selbst für die Zahlung der Beiträge und anfallenden Steuern verantwortlich gemacht zu werden – keine Regelung, die in Branchen mit florierender und prekärer Scheinselbstständigkeit die Bereitschaft erhöht, auf das Unrecht aufmerksam zu machen. In Frankfurt haben sich CDU, SPD und Grüne in ihrem Koalitionsvertrag für die Regierungsperiode 2016 bis 2021 vorgenommen, die Kontrolle der Vergabekriterien insbesondere im Hinblick auf Tariftreue erhöhen zu wollen. Dafür wurde die Einrichtung einer unabhängigen Kontrollstelle angekündigt (CDU, SPD, Die Grünen 2016: 51). Von den insgesamt drei vorgesehenen Stellen wurden im Sommer 2019 und im Februar 2020 zwei besetzt, wovon eine bereits nach wenigen Monaten erneut vakant wurde und bis jetzt aus Mangel an »geeigneten Bewerber*innen« unbesetzt blieb (Anfrage in der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung vom 27.08.2020, F 2793).

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Für eine Kurzdarstellung des Konflikts und ein Interview mit dem zuständigen Gewerkschaftssekretär der IGBAU siehe: https://www.faire-mobilitaet.de/faelle/++co++9947bcea-c306-11e8-95b7-52540088cada

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Faire Mobilität sind Beratungsstellen für Beschäftigte aus mittel- und osteuropäischen EU-Staaten auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Faire Mobilität startete 2011 als gewerkschaftsnahes Projekt (unterstützt von DGB und Mitgliedsgewerkschaften wie IGBAU und ver.di). Beschäftigte werden in ihren Herkunftssprachen arbeitsrechtlich und sozialrechtlich informiert, beraten und in Auseinandersetzungen unterstützt. Mittlerweile gibt es deutschlandweit elf Büros. Darüber hinaus hat sich ein breit aufgestelltes Anlauf- und Beratungsstellennetzwerk von kirchlichen Trägern, Sozialverbänden und gewerkschaftsnahen Bildungsträgern wie Arbeit und Leben etabliert.

Arbeitskämpfe im Baugewerbe und am Flughafen

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Natürlich versuchen transnationale Organisationen wie die Wanderarbeitervereinigung dem gerade mit dem Aufbau von Beratungsstellen für faire Mobilität entgegenzuwirken. Durch fehlende Verbandsklagerechte liegt die Verantwortung für den Rechtsweg allerdings trotzdem weiterhin bei der Einzelperson, die dies bei den zuständigen juristischen Instanzen am jeweiligen Einsatzort vorbringen muss.

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Auch hier wären die Einzelpersonen in der Nachweispflicht einen anderen Status quo zu beweisen als den, der in ihrem Arbeitsvertrag festgehalten ist.

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Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit hat einerseits nur eingeschränkte eigenständige Ermittlungsbefugnisse und ein bedingtes Zugangsrecht zu Betrieben. Andererseits ist sie personell mehr als unterbesetzt. Dies gilt insbesondere seit 2015, als mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns mehr Kontrollnotwendigkeiten entstanden, Stellen aber nicht ausgebaut, sondern sogar in erheblichen Anteilen abgebaut wurden. Im Baugewerbe, in dem auch bisher unzureichende Kontrollen stattgefunden hatten, sanken diese um fast 20 %, wie aus einer Anfrage der Grünen beim Bundesfinanzministerium hervorgeht. Die verbleibenden Kapazitäten der Behörde werden auf ›große Fische‹ konzentriert. Dies führt nicht nur zur Ausweitung von Kontrolllücken, sondern zu praktischer Kontrolllosigkeit auf der Ebene mittelständiger Betriebe oder Unternehmen (DPA 20.03.2017; Die Welt 19.04.2020).

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Die öffentlich gemachte Auseinandersetzung auf einer Baustelle kann auch dazu führen, dass sich Kolleg*innen weiterer Baustellen desselben Generalunternehmers melden, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben.

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Mit Osten sind sowohl das Gebiet der ostdeutschen Bundesländer als auch die osteuropäischen Nachbarländer gemeint.

Literaturverzeichnis CDU, SPD, Die Grünen (2016): Koalitionsvertrag 2016 – 2021, Frankfurt am Main, https:// www.gruene-frankfurt.de/fileadmin/fraktion/2016_Dateien_Bilder/Koalitionsvertrag_2016_2021.pdf (Zugriff: 22.02.2021). DPA (20.03.2017): Finanzkontrolle Schwarzarbeit. Wie häufig sind Kontrollen wegen Schwarzarbeit und Mindestlohn?, https://www.impulse.de/wirtschaftspolitik/finanzkontrolle-schwarzarbeit/3560619.html (Zugriff: 22.02.2021). DPA (07.10.2019): Bauarbeiter in Hessen mit geringstem Lohn, https://www.sueddeutsche.de/ wirtschaft/bau-wiesbaden-bauarbeiter-in-hessen-mit-geringstem-lohn-dpa.urn-newsmldpa-com-20090101-191007-99-186660 (Zugriff: 22.02.2021). Die Welt (19.04.2020): Für Schwarzarbeitskontrollen mangelt es an Personal, https://www.welt. de/wirtschaft/article207339557/FKS-Zahlreiche-unbesetzte-Stellen-bei-Finanzkontrolle-Schwarzarbeit.html (Zugriff: 22.02.2021). Stadt Frankfurt am Main (2019): Statistik Aktuell, Ausgabe 18/2019, https://frankfurt.de/-/media/frankfurtde/service-und-rathaus/zahlen-daten-fakten/pdf/ pdf-fsa/2019/2019_18-600000-beschaeftige.ashx (Zugriff: 22.02.2021). Landtag Hessen (19.12.2014): Hessisches Vergabe- und Tariftreuegesetz, http://www.absthessen. de/pdf/HVTG.pdf (Zugriff: 22.02.2021).

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Die Stadt gehört nicht allen! Roma in Frankfurt Gabi Hanka

Als zum Anfang des Jahres 2020 die Anfrage kam, einen Artikel für das vorliegende Buch zu schreiben, wussten wir noch nicht, dass am Abend des 19. Februar 2020 in Hanau neun Menschen von einem Rassisten ermordet werden würden. Unter ihnen waren drei Menschen, die der Minderheit der Roma angehörten. Dieser Anschlag erschütterte uns sehr. Kurz darauf veränderte sich die Welt durch den Ausbruch der Corona-Pandemie. Obwohl alle Lebens- und Arbeitsbereiche mit den Auswirkungen konfrontiert sind, trifft die Pandemie nicht alle Menschen gleichermaßen. Neben den gesundheitlichen Folgen werden auch durch die zur Bekämpfung der Pandemie getroffenen Maßnahmen viele Existenzen bedroht und teilweise zerstört. Besonders schwierig ist es für Menschen, die sich schon vorher in prekären Lebenslagen befanden. Deswegen erscheint es uns umso unerlässlicher, unsere Arbeit in der Sozialberatung des Fördervereins Roma trotz der Pandemie aufrechtzuerhalten. Verunsichert durch das Infektionsrisiko, versuchten wir es zunächst mit einer Notberatung. Tatsächlich nahm der Beratungsbedarf zu – so, dass ab März 2020 täglich bis zu 40 Klient*innen die Beratungsstelle aufsuchten. Sie warteten teilweise bereits Stunden vor der Öffnungszeit auf der Straße. Der hohe Andrang führte zu sehr langen Wartezeiten und dementsprechend auch zu Unmut. Da es bereits etliche Corona-Erkrankungen bei RomaFamilien in Frankfurt gab, teilweise mit sehr schweren Verläufen bis zum Todesfall, mussten wir sehr auf die Sicherheitsabstände und das Tragen von Mund-Nasen-Masken achten. Die Probleme haben sich unter anderem deswegen vervielfältigt, da viele Roma von Kündigungen oder Kurzarbeit betroffen sind. Die Reinigungsarbeiten an Schulen oder Hotels, ein großer Leiharbeitssektor für Textilfirmen, all das fiel während des Lockdowns vollständig weg. Die Notlage von Menschen, die auf den Straßen von Betteln, Flaschensammeln oder Straßenmusik lebten, verschärfte sich. Gerade im Bahnhofsviertel ist die bittere Not für alle sichtbar. Während wir, wie andere soziale Einrichtungen, die Arbeit weiterführten, wurden andererseits die meisten Ämter geschlossen. Unsere Arbeit wurde dadurch zusätzlich mit Aufgaben belastet, die eigentlich von den Mitarbeiter*innen der Ämter geregelt werden müssten. Mit den Jobcentern war seit Mitte März nur ein schriftlicher oder telefonischer Kontakt möglich. Alle Roma-Familien mit Jobcenteranliegen mussten unsere Beratungsstelle in

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Kämpfe und Initiativen

Anspruch nehmen, da sie persönlich nicht mehr vorsprechen konnten und in der Regel nicht die Möglichkeit haben, E-Mails zu schreiben. Nur die wenigsten unserer Klient*innen können die Behördenbriefe lesen und verstehen. Erschwerend kam hinzu, dass unsere Klient*innen häufig weder den letzten Lohn noch die Abrechnung oder Kündigung erhielten, diese Unterlagen aber für eine Prüfung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II von den Jobcentern verlangt werden. Manche Firmen waren überhaupt nicht mehr erreichbar, sodass etliche Familien längere Zeit unterhalb des Existenzminimums leben mussten. Große Sorgen machten wir uns um die Familien, die in Sammelunterkünften mit gemeinsamen sanitären Anlagen und Küchen untergebracht sind. Seit Beginn der Pandemie fordern wir und andere soziale Träger sowie der Hessische Flüchtlingsrat seitens der Stadt eine Anmietung von Räumen in den leeren Hotels oder der Jugendherberge, damit ausreichend Schutz durch physische Distanz gewährleistet werden kann. Die bisherig einzige Maßnahme lag aber in der Bereitstellung von so genannten Quarantänezimmern für bereits Infizierte. Und das, obwohl diese Bedingungen immer wieder neu zu COVID-19 Ausbrüchen in Sammelunterkünften führen, oft in der Kombination mit prekären Arbeitsverhältnissen wie bei Paketauslieferungsdiensten oder in Schlachthöfen. Die Situation der Menschen, die obdachlos sind oder seit Jahren in Notunterkünften leben und die Umgangsweise der Stadt Frankfurt mit dieser Problematik, auch in Bezug zur Arbeit des Fördervereins Roma, werden der Schwerpunkt dieses Artikels sein. Da die so genannten ›rechtlichen Voraussetzungen‹ eine große Rolle bei der Vergabe von Unterkünften spielen, wird es einen kurzen Einblick in die Rechte von EU-Bürger*innen geben. Zunächst folgt aber eine kurze Vorstellung des Fördervereins Roma.

Der Förderverein Roma Der Förderverein Roma wurde 1989 gegründet. Die Initiative entstand aus dem Arbeitskreis Roma, dessen Mitglieder (Pädagog*innen, Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen und Aktivist*innen aus der Flüchtlings-, Menschen- und Bürgerrechtsarbeit) sich darin einig waren, dass ein organisiertes Engagement effektiver ist als einzelnes Handeln. Sie bündelten ihre Kräfte in der Sozial- und Flüchtlingsberatung und Öffentlichkeitsarbeit. Dadurch wurde erreicht, dass beim Frankfurter Stadtgesundheitsamt eine Mahntafel zum NS-Terror, an dem es maßgeblich beteiligt war (—Keil in diesem Band), angebracht wurde. Das Ziel eines Gemeindezentrums für Roma hat sich leider bis heute nicht verwirklicht. Bis 1999 arbeitete der Förderverein Roma mit der selbstorganisierten Roma-Union in einer Bürogemeinschaft. Mit der Eröffnung der Kindertagesstätte ›Schaworalle‹ (deutsch: ›Hallo Kinder‹) wurden eigene Räume bezogen. Die Einrichtung wird von den Roma-Familien sehr gut angenommen, da sie nicht zuletzt als ein Schutzraum vor Diskriminierung für ihre Kinder empfunden wird. 2013 entstand noch eine Krabbelstube. Der Verein trägt außer der Sozialberatung im Bahnhofsviertel noch das 2003 eröffnete Jugendberufsbildungsprojekt, das 2010 gegründete Erwachsenenbildungsprojekt sowie die Jugendhilfe, die seit 20 Jahren tätig ist. Insgesamt arbeiten 42 Personen für den Verein, die Hälfte der Beschäftigten sind Roma. Regelmäßig werden Publikationen zu aktuellen Geschehnissen veröffentlicht und Gedenkveranstaltungen für die im Nationalsozialismus ermordeten Roma organisiert. Der Verein ist sowohl in Frankfurt als auch überregional gut vernetzt und bekannt. Seine Hilfsangebote sind sehr gut frequentiert und werden auch von verschiedenen

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Behörden regelmäßig in Anspruch genommen. Das Angebot, die Beratungen auf Romanes durchzuführen, ist ein Alleinstellungsmerkmal und erleichtert den Zugang nicht nur auf der sprachlichen, sondern auch auf der Ebene des Vertrauens. Trotzdem ist die Arbeit des Vereines vielen Hürden ausgesetzt. Die Finanzierung der Stellen und Projekte muss immer wieder mühsam gesichert werden, auch die Anmietung von Räumen gestaltet sich schwierig und stand für mehrere der Einrichtungen eine Zeitlang auf der Kippe. 2016 wurden die Räumlichkeiten des Fördervereins Roma, die sich über zwei Etagen in der Kaiserstraße in Frankfurt erstreckten, aufgrund von Gentrifizierungsmaßnahmen gekündigt. Die lange vergebliche Suche nach neuen Räumen machte deutlich, dass die Arbeit des Fördervereins Roma im Bahnhofsviertel von verschiedensten Immobilienverwaltungen nicht erwünscht ist. Nachdem auch von der Stadt keine Abhilfe geschaffen wurde, stellte der bisherige Vermieter eine befristete Ausweichmöglichkeit im benachbarten Gebäude zur Verfügung. Um der Dringlichkeit der Raumsuche Nachdruck zu verleihen, organisierte der Förderverein mit seinen Klient*innen, Kindergartenkindern und Schüler*innen eine Protestaktion vor dem Römer (s. Abb. 1 und 2). Nach monatelangen Prüfungen kam es mithilfe des Liegenschaftsamtes zu einem Angebot in Bornheim. Da die Räumlichkeiten nicht für alle Projekte des Fördervereines ausreichten, mussten die Geschäftsstelle und die Jugendhilfe zusätzliche Räume anmieten. Die lange und arbeitsintensive Suche nach Räumlichkeiten war im Verbund mit den zahlreichen Absagen ein zermürbender Prozess und stand im eklatanten Widerspruch zur Bedeutung der Aufgaben, die der Förderverein Roma mit seinen verschiedenen Arbeitsbereichen in Frankfurt übernimmt. Seit 2019 befindet sich die Sozialberatung wieder im Bahnhofsviertel, da sie vom Wohnprojekt NIKA Räume anmieten konnte. Damit liegt sie zentral und ist für alle gut erreichbar.

Die Sozialberatung Im Sommer 2012 begann ich meine Arbeit als Sozialberaterin beim Förderverein Roma. Ich hatte zuvor kaum Kontakt mit Roma-Familien gehabt und freute mich sehr darauf. Die ersten beiden Jahre arbeitete ich allein auf einer halben Stelle, zusammen mit muttersprachlichen Kolleg*innen, die aber nicht vor Ort waren, sondern die Klient*innen zu den jeweiligen Behörden

Abbildung 1: Protestaktion des Fördervereins Roma mit Klient*innen, Kindergartenkindern und Schüler*innen vor dem Römer im Jahr 2016 (Quelle: eigene Aufnahme).

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Abbildung 2: Protestaktion des Fördervereins Roma mit Klient*innen, Kindergartenkindern und Schüler*innen vor dem Römer im Jahr 2016 (Quelle: eigene Aufnahme).

begleiteten. Das war eine große Herausforderung, weil die Zeit und Kapazitäten nie den Problemlagen der hilfesuchenden Menschen genügten. In den folgenden Jahren konnten mithilfe von Anträgen für verschiedene Projekte der EU oder von ›Aktion Mensch‹ zusätzliche Stellen für die Sozialberatung geschaffen werden. Leider waren und sind diese immer zeitlich befristet. Zur Zeit arbeiten parallel zwei Teams, bestehend aus einer Fachberatung und einer/m muttersprachlichen Kollegin/en. Die meisten unserer Klient*innen sind EU-Bürger*innen, überwiegend aus Rumänien, aber auch aus Polen, Bulgarien, Slowenien oder Ungarn. Im Jahr 2019 suchten über 500 Roma-Familien und alleinstehende Menschen die Sozialberatung auf. Das betrifft einen Personenkreis von über 1.500 Menschen, davon 700 Kinder. Die Hälfte von ihnen waren Neuankömmlinge, die direkt aus Rumänien nach Deutschland eingereist waren. Insgesamt waren von 2012 bis heute über 3.000 Roma-Familien an die Beratungsstelle angebunden. Die meisten der neu eingereisten Roma lebten in ihren Herkunftsländern unter sehr prekären Verhältnissen und erhoffen sich hier Arbeit zu finden, um ihren Familien eine bessere Lebensperspektive ermöglichen zu können. In der Regel reisen die Eltern zunächst allein ein, da sie nicht mit ihren Kindern in Frankfurt auf der Straße leben wollen. Diese bleiben bei Verwandten oder Bekannten in Rumänien zurück. Die Lebenssituation der Familien, die zur Beratung kommen, ist sehr unterschiedlich: Manche leben schon seit vielen Jahren in Frankfurt, sind hier geboren, haben eigene Wohnungen oder leben in Notunterkünften. Die Menschen, die neu nach Deutschland einreisen, haben nichts. Allen gemein ist, dass sie Hilfe für ihre Existenzsicherung benötigen. Dadurch, dass gerade von den älteren Roma viele Analphabet*innen sind, benötigen sie bei jedem Schreiben, das sie erhalten, Hilfe und Beratung.

Die Zusammenarbeit mit der Stadt beziehungsweise dem ausführenden Sozialamt gestaltete sich bezüglich des Umgangs mit wohnsitzlosen Menschen, die keinen deutschen Pass besitzen, von Beginn an sehr schwierig. Diese Problematik zieht sich bis heute wie ein roter Faden durch die Arbeit des Fördervereins und bringt uns – und vor allem unsere Klient*innen, die obdachlos sind – zur Verzweiflung. Die Forderung nach einem ›Haus für Roma‹, einem Ort, an dem Menschen ankommen und sich orientieren können, wird bis heute von der Stadt Frankfurt abgelehnt. Das Motto lautet:

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Rumänische Ärzt*innen sind willkommen, aber die ›Armen‹ sollen draußen bleiben. Diese Haltung spiegelt sich gerade auch in restriktiven Maßnahmen gegenüber Menschen, die auf der Straße leben, wider. Diese werden von öffentlichen Orten vertrieben, mit Bußgeldern sanktioniert, ihre selbstgebauten Brachsiedlungen werden geräumt. Von den Diskriminierungen, denen alle Roma im Alltag mal mehr oder weniger ausgesetzt sind, ganz zu schweigen. Zu den schlimmsten Maßnahmen, die ich im Laufe der Jahre erlebt habe, gehören Inobhutnahmen von Kindern aufgrund der Obdachlosigkeit der Familie. Damit wird Armut auf eine perfide Art und Weise bestraft und großes Leid produziert. In manchen Fällen konnte bis heute keine Rückführung der Kinder zu ihren Eltern erreicht werden.

Rechtliche Rahmenbedingungen Das Sozialrecht für EU-Bürger*innen ist an das Aufenthaltsrecht gekoppelt. Deswegen werden bei ihnen andere Maßstäbe angelegt als bei deutschen Bundesbürger*innen. Das EU-Recht ist hochkomplex. Neben den Gesetzen gibt es noch zig Verordnungen und Richtlinien, die bei Gerichtsurteilen zum Tragen kommen. In den letzten Jahren gab es diesbezüglich ständig neue Regelungen durch Beschlüsse der Sozialgerichte auf Landes- und Bundesebene, des Europäischen Gerichtshofes sowie durch Entscheidungen der Bundesregierung. Eine Gleichstellung von EU-Bürger*innen mit ›Inländer*innen‹ wurde auf diesem Wege immer weiter untergraben. Besonders hervor getan hat sich dabei die ehemalige Bundesministerin für Arbeit und Soziales Andrea Nahles (SPD). Sie stellte sich 2016 mit ihrem ›Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in die Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II und in der Sozialhilfe nach dem SGB XII‹ gegen eine Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes, die eine Grundsicherung für alle Menschen vorsah. Mit dem neuen Gesetz wurden allein so genannte Überbrückungsleistungen für vier Wochen in Aussicht gestellt, die weit unter dem Sozialhilfeniveau liegen – mit der Auflage anschließend Deutschland wieder zu verlassen. Ein Rechtsanspruch auf weitere Sozialleistungen besteht nur, wenn ein Arbeitnehmer*innen­status oder ein bereits fünfjähriger Aufenthalt in Deutschland gegeben ist. Das dahinterstehende politische Kalkül ist klar: Macht es den Leuten so schwer wie möglich, hungert sie aus, damit sie wieder nach Hause gehen! (—Böhm in diesem Band).

Was bedeutet dies für unsere Arbeit? Jede Gesetzesänderung hat unmittelbare Auswirkungen auf unsere Beratungspraxis. Während sich die Sozialgerichte im Jahr 2014 an der Gleichstellung von EU-Bürger*innen orientierten und viele unserer Klient*innen dadurch Leistungen vom Jobcenter und eine Unterkunft erhielten, wurde ab 2015 alles wieder zurückgedreht. Die Leistungen wurden eingestellt, zurückgefordert und die Unterkünfte aufgekündigt. Das Elend und Leid wuchs immens. Aktuell ist es so, dass wir nur diejenigen Menschen dabei unterstützen können, sich hier eine Perspektive aufzubauen, die bereits eine Arbeit haben oder seit fünf Jahren nachweisbar in Deutschland leben. Für Menschen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, keine Unterkunft haben und von Diskriminierung betroffen sind, ist es außerordentlich schwer, eine Arbeitsstelle zu finden. Eine Vermittlung in Arbeit durch das Jobcenter findet nur in den seltensten Fällen statt. Andererseits wird das

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Erwachsenenbildungsprojekt vom Jobcenter finanziert und damit der Zugang zu Arbeit wesentlich erleichtert. Insgesamt schaffen es erstaunlich viele Roma allein durch gegenseitige Hilfe einen Arbeitsplatz zu finden. Häufig sind es miese Jobs in der Leiharbeit. Aber es gibt auch positive Beispiele von Selbstorganisierung mit eigenen Kleinunternehmen, in denen andere Roma dann eine Arbeit finden können. Alle Menschen, die aus verschiedensten Gründen nicht arbeiten können, weil sie krank sind oder Behinderungen haben, weil sie alleinerziehend oder zu alt sind, werden aus diesem System ausgegrenzt, müssen weiter auf der Straße schlafen, vom Betteln und Flaschensammeln leben. Menschen, die besonders verletzlich und auf Hilfe angewiesen sind, werden so aus dem sozialen Gefüge gedrängt. Uns sind einige Menschen bekannt, die trotz schwerer Erkrankungen oder Behinderungen auf den Frankfurter Straßen, in Gartenhütten oder leerstehenden Häusern leben müssen. Von diesem Ausschluss sind auch Frauen, die mit häuslicher Gewalt konfrontiert sind, betroffen: Der Zugang zum Schutzraum Frauenhaus ist nur ›Leistungsberechtigten‹ möglich. Lediglich die Bescheinigung einer Reiseunfähigkeit durch das Stadtgesundheitsamt führt dazu, dass Hilfemaßnahmen auch in Form einer Unterbringung erfolgen müssen. Ansonsten verbleibt das zuständige Sozialamt bei seinem Angebot einer Rückreisefahrkarte mit der Begründung, dass damit ein Hilfsangebot erfolgt sei. Zugänglich für alle bleibt allein die Winterübernachtung in der B-Ebene der U-Bahn, ein an Armseligkeit kaum zu übertreffendes Übernachtungsangebot. Das Kalkül, dass die Menschen wieder aus Frankfurt verschwinden, geht aber trotzdem nicht auf. Manche Roma gehen in ihre Herkunftsländer zurück und kommen später wieder, andere ziehen das Leben hier auf der Straße dem Leben in ihren Herkunftsländern vor – und das jahrelang.

Obdachlos in Frankfurt: Brachen und kleine Platten Über die Hälfte der durchschnittlich 500 Roma-Familien, die jährlich die Beratungsstelle aufsuchen, verfügen über keinen eigenen Wohnraum. 2019 lebten 185 Familien in Notunterkünften der Stadt Frankfurt, die Mehrheit von ihnen in Hotels und 42 Familien in Wohnheimen. Diese sind die weitaus besseren Unterkünfte, da sie aus eigenen Wohneinheiten bestehen. Die Hotels im Bahnhofsviertel dagegen sind für Familien mit Kindern allein schon aufgrund der Lage eine Zumutung. Häufig gibt es keine Kochmöglichkeiten, dafür aber Ungeziefer in den Zimmern. 2019 erlebten wir zum ersten Mal, dass Roma-Familien in Sammelunterkünften für Geflüchtete untergebracht wurden. Der Mangel an Intimsphäre und die fehlende Infrastruktur in diesen Unterkünften verletzt die Menschenwürde einer jeden Person, die gezwungen ist, dort zu leben. Ablehnungen von Anfragen auf eine Unterbringung oder auch Verlegung werden seitens des Sozialamtes entweder mit fehlenden Anspruchsvoraussetzungen oder der Überbelegung aller Notunterkünfte begründet. Die Vergabe von freien Plätzen erfolgt über die Zentrale des Evangelischen Vereines für Wohnraumhilfe, ist für uns nicht transparent und entsprechend auch nicht nachprüfbar. Der Mangel an guten Unterkünften ist ein strukturelles Problem, das seit Jahren von den zuständigen Stellen konsequent ignoriert wird. Es ist nicht nachvollziehbar, wie seit Jahren Unsummen für teilweise schäbige Hotelzimmer ausgegeben werden, anstatt anständigen Wohnraum anzumieten. Eine vom Dezernat für Bildung in Auftrag gegebene qualitative Studie zur

Die Stadt gehört nicht allen! Roma in Frankfurt

Situation von Migrant*innen aus Osteuropa, die vor allem die Lage von Roma untersuchte, hat massive Versorgungsengpässe festgestellt und differenzierte Handlungsmöglichkeiten vorgeschlagen. Seit zwei Jahren wird diese wegen Auseinandersetzungen mit dem Ordnungsamt zurückgehalten. Das Hessische Sicherheits- und Ordnungsgesetz sieht eine generelle Unterbringung für Menschen ohne Wohnsitz vor, da Obdachlosigkeit gegen die Menschenwürde verstößt und damit eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellt. Außerdem ergibt sich aus dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und Gesundheit die staatliche Schutzpflicht, obdachlose Menschen unterzubringen. Wie wenig diese Rechte ihre Anwendung finden, wurde eben beschrieben.

Selbstorganisierung Im Jahr 2012 hielt ein Camp der Occupy-Bewegung eine Grünanlage in der Nähe des Willy-Brandt-Platzes für mehrere Monate besetzt. Auch einige wohnsitzlose Roma-Familien bewohnten Zelte auf dem Platz. Das Vorhandensein von »Roma, Ratten und Müll« auf dem Platz, wie damals in mehreren Medien berichtet wurde, war eine der Begründungen für die Räumung des Camps von Seiten der Stadt. Diese Gleichsetzung von Roma mit Schmutz folgt einer jahrhundertealten Hetze gegen Sinti und Roma und wird systematisch bei jeder Räumung aufs Neue präsentiert. Im Winter 2013/14 erfuhren wir, dass mehrere, überwiegend aus Rumänien stammende Menschen in ›Verschlägen‹ auf einer Industriebrache im Gutleutviertel lebten. Wir suchten den Ort auf, um Kontakt zu den dort lebenden Menschen zu bekommen, ihnen Nahrungsmittel zu bringen und Unterstützung anzubieten. Als wir dort ankamen und sahen, wie die Menschen in kniehohen Betonverschlägen wohnten, waren wir erschüttert. Obwohl die Besitzverhältnisse ungeklärt waren, wurde seitens der Behörden eine Räumung angeordnet. Die Betonverschläge wurden abgerissen und das Gelände verschlossen. Einige Zeit später siedelten sich ungefähr 30 Menschen, unter ihnen viele Roma, erneut auf dem Gelände an, dieses Mal in selbstgebauten Hütten. Nach einem Brandanschlag auf sechs Menschen, die unter einer Brücke nahe der Rosa-Luxemburg-Straße schliefen, zogen diese es vor, auch in die Gutleutbrache zu ziehen, da sie sich besseren Schutz erhofften. Die menschenunwürdigen Lebensumstände der Menschen auf der Brache sorgten für eine Sensationsberichtserstattung in den lokalen Medien. Besonders hervorgehoben wurden wieder mal die Ansammlung an Müll und der Mangel an sanitärer Versorgung. Leider führte die mediale Aufmerksamkeit nicht dazu, dass den Menschen von städtischer Seite aus Hilfe zuteilwurde. Die Bereitstellung von Dixieklos musste vielmehr durch private Unterstützer*innen erfolgen. Als im Februar 2017 auf dem Gelände ein Feuer ausbrach, war der Anlass für eine Räumung gefunden. Ordnungsdezernent Frank teilte mit, dass »bei den Bewohnern die Sensibilität mit Feuer umzugehen, offenbar nicht vorhanden sei« (FAZ 14.02.2017). Dem Ordnungsamt war diese erneute Brache seit langem ein Dorn im Auge. Aber da es sich um ein Privatgelände handelte, der Besitzer inhaftiert war und keine Anzeige gestellt hatte, war es bis dahin nicht möglich, die Menschen einfach zu vertreiben. Nach der Räumung, bei der die selbstgebaute und selbstorganisierte Infrastruktur entweder platt gewalzt oder beschlagnahmt wurde, kamen die Bewohner*innen der Brache für eine kurze Zeit in einer Unterkunft für Geflüchtete unter. In Sammelterminen wurden bei dem zuständigen Jobcenter

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Abbildung 3: Protestaktion des Fördervereins Roma mit der Initiative ›Solidarity City Frankfurt‹ vor dem Frankfurter Sozialdezernat im März 2018 (Quelle: eigene Aufnahme).

und Sozialamt in Windeseile die so genannten Anspruchsvoraussetzungen geprüft und für einen Monat Überbrückungshilfe angeboten. Unsere Sozialberatungsstelle unterstützte die ehemaligen Brachenbewohner*innen in allen Bereichen und für einzelne, die einen Arbeitsplatz hatten, konnte ein Leistungsbezug erreicht werden. Alle anderen standen wieder vor dem Nichts. Die nächste Brachsiedlung ließ nicht lange auf sich warten. Ende März 2018 erfuhren wir durch eine andere Beratungsstelle, dass seit Monaten wieder 40 Menschen in selbstgebauten Bretterhütten im Frankfurter Gutleutviertel lebten. Sie befanden sich auf einem stillgelegten Gelände des Chemiekonzerns Ferro, der bereits Anzeige wegen Hausfriedensbruches gestellt hatte. Wir besuchten die Menschen dort, unterstützen sie gemeinsam mit der Initiative ›Solidarity City Frankfurt‹ bei ihrer Versorgung und organisierten eine Protestaktion vor dem Frankfurter Sozialdezernat. Einige der Brachenbewohner*innen sprachen dort öffentlich über ihre Situation und darüber, was es gerade als Frau bedeutet, wohnsitzlos zu sein und im öffentlichen Raum ohne geschützte Intimsphäre zu leben. Leider nahmen an den Protestaktionen außer den Betroffenen und der Initiative ›Solidarity City Frankfurt‹ nur wenige andere teil (s. Abb. 3).

Friede den Hütten! Im Mai 2018 wurde auch dieses Hüttendorf polizeilich geräumt. Während die übliche Prüfung erfolgte, lebten die Menschen in der Notunterkunftsstätte im Ostpark. Einige nahmen schließlich die wiederholt angebotenen Rückfahrkarten nach Rumänien an, weil sie nach der erneuten Zerstörung ihrer selbstgebauten Hütten völlig desillusioniert waren. Sie hatten nie etwas verlangt und wurden dennoch nur ausgegrenzt und vertrieben. Mit den hiergebliebenen ehemaligen Bewohner*innen stehen wir immer noch in enger Verbindung. Sie arbeiten seit fast zwei Jahren bei einer Reinigungsfirma und leben in einem Wohnheim. Hilfe durch die Sozialberatung nehmen sie nur noch selten in Anspruch. Die jahrelange Zusammenarbeit und gemeinsame Protestaktionen haben die Beziehung auf eine andere Ebene gebracht. Den ehemaligen Brachenbewohner*innen ist es sehr wichtig, ihre Erfahrungen zu teilen und sich für obdachlose Menschen einzusetzen – unter

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anderem durch ihre aktive Teilnahme an den so genannten ›Sleep Outs‹, die in den letzten drei Jahren von der Initiative ›Solidarity City Frankfurt‹ organisiert wurden, oder durch Mitwirkung an Filmen und Ausstellungen über die Situation von Roma.

Fazit Mittlerweile sind fünf Monate vergangen, seit ich diesen Artikel geschrieben habe. Seit dem 1. September 2020 arbeite ich nicht mehr in der Sozialberatung des Fördervereins Roma. Die Verbindung der sozialen mit der politischen Arbeit war mir stets ein wichtiges Anliegen, da nach wie vor in der gesellschaftlichen Linken die Situation von Roma zu wenig wahrgenommen wird und deren Unterstützung noch keinen wirklichen Platz hat. Die Arbeit mit den Roma-Familien war für mich persönlich in vielerlei Hinsicht eine Bereicherung und ich bin dankbar für das Vertrauen und die Offenheit, die mir als Gadze (deutsch: Nichtromni) entgegengebracht wurde. Ich habe großen Respekt davor, unter welch schwierigen Lebensumständen sie sich behaupten und zusammenhalten. Ich habe gelernt, die Stadt Frankfurt mit anderen Augen zu sehen und nachzuempfinden, was es bedeutet, einer Minderheit anzugehören und systematisch ausgegrenzt zu werden – soweit dies als nicht direkt Betroffene überhaupt möglich ist. Von Verboten Geschäfte zu betreten, Kindern, die rassistisch beschimpft werden, bis zu ständigen polizeilichen Kontrollen: Vieles wurde von den Betroffenen in der Beratung gar nicht mehr mitgeteilt, weil es für sie alltäglich ist. Im Fall einer extrem rassistischen, frauenfeindlichen und entwürdigenden Kontrolle zweier Romni im Frankfurter Hauptbahnhof protestierten wir dort gemeinsam mit einer lautstarken Frauendemo. Diese Solidarität war für die beiden Frauen, die diese demütigende Erfahrung machen mussten, so wichtig und half ihnen auch weitere Schritte gegen diese Maßnahme zu unternehmen. Ich erwähne dieses Beispiel, weil es zeigt, wie es sein könnte und sein müsste.

Zum Abschluss: Gemeinsame Aktivitäten und offene Fragen In den Jahren 2017 bis 2019 haben wir mit der Initiative ›Solidarity City Frankfurt‹ dreimal ein so genanntes ›Sleep Out‹, eine Kundgebung plus angekündigtem anschließendem demonstrativem Lagern in der Grünanlage am Willy-Brandt-Platz und der Alten Oper durchgeführt. Wir wollten damit die auf Vertreibung angelegte Stadtpolitik, konkret die Barverwarnungen wegen ›Lagerns im öffentlichen Raum‹, bekannt machen und anprangern. Bei eisiger Kälte kamen im Jahr 2017 im Laufe des Abends rund 200 Leute vorbei, darunter viele Betroffene, die letztendlich den Abend gestaltet und geprägt haben. Anders gesagt: Ohne sie wäre es ziemlich öde geworden. Ein knappes Jahr später wurde das zweite ›Sleep Out‹ mit Absicht eine Woche vor die Demo von ›Mietenwahnsinn Hessen‹ gelegt, mit vermeintlichem Rückenwind durch die ›Sei kein Horst‹-Mobilisierung von Seebrücke und der Hoffnung, dass sich diesmal mehr Menschen aus linken Zusammenhängen beteiligen würden. Diese Hoffnung hat sich leider weder in diesem noch im folgenden Jahr erfüllt. Stattdessen springt die Diskrepanz zwischen Zuspruch, Anerkennung und guten Worten aus der Szene für unsere Initiativen bei gleichzeitiger Abwesenheit im Konkreten ins Auge. Es wird zwar häufig bemängelt, dass

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zu wenige direkt Betroffene bei antirassistischen Demos, Veranstaltungen und Strukturen vertreten sind. Die ›Sleep Outs‹ boten eine Gelegenheit, das mal anders zu erleben und Seite an Seite mit den Ausgegrenzten zu agieren. Allein die Chance wurde sehr zaghaft genutzt. Warum fällt es offensichtlich schwer, sich an Aktionen zu beteiligen, in denen man sich Erfahrungen mit Menschen aussetzt, die eine Sozialisation jenseits der Politszene repräsentieren? Gibt es Berührungsängste? Wird solchen Aktionen zu wenig politische Bedeutung zugemessen? Ist die Spannung zwischen der eigenen privilegierten Lebenssituation und der extremen Armut zu groß? Diese Fragen stehen für mich immer noch im Raum und ich hoffe, dass dieser Artikel dazu beiträgt, dass solidarische Unterstützung von Roma einen größeren Platz in der Linken einnimmt.

Literaturverzeichnis FAZ, Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.02.2017): Stadt erwägt Auflösung des Roma-Lagers, https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt-gutleutviertel-stadt-erwaegt-aufloesung-des-roma-lagers-14876844.html (Zugriff: 04.12.20).

»Sich Räume einfach nehmen«: Raven als Widerstandspraxis? Luise Klaus und Jennifer Martens

Raves: Zwischen Widerstand, politischem Raum und Mainstream Während Städte wie Berlin oder Leipzig für ihre Vielzahl an Partykollektiven1 und nicht angemeldeten Techno-Partys beziehungsweise Raves bekannt sind, scheinen diese in Frankfurt weniger relevant zu sein. Doch der Schein trügt, auch im Raum Frankfurt veranstalten Partykollektive bereits seit den 2000er Jahren ›illegale‹ beziehungsweise nicht angemeldete Partys an immer wechselnden Orten im öffentlichen Raum. Die Raves und das dort praktizierte Feiern können als Ausdrucksform des Ablehnens von aktuell vorherrschenden Gesellschaftsnormen und -zwängen fungieren. So organisierte ein Frankfurter Kollektiv bewusst Raves an prominenten Stellen im öffentlichen Raum (beispielsweise U-Bahn-Stationen). Mittels dieser temporären provokanten Präsenz wird auf die Problematik, den »stadt­ entwicklungsbedingten Zwang, Räume nur temporär nutzen zu können« (Schwanhäußer 2010: 11), aufmerksam gemacht. Oftmals werden Raves mit linken, antikapitalistischen und alternativen Lebensweisen in Verbindung gebracht und als eine Widerstandspraxis innerhalb der neoliberalen Stadt gelesen. Doch ist dem wirklich so? Inwiefern ist der temporär erschaffene Raum des Raves umkämpft und welche Widersprüche materialisieren sich in ihm? Die Bedeutung dieser Fragen und des Hinterfragens von Feiern als einer politischen Praxis verdeutlicht ein Youtube-Video, in welchem ein bekannter Frankfurter ›Pick-Up-Artist‹2 sich als offizieller Promoter eines Rave-Kollektivs vorstellt. Er bewirbt besagtes Kollektiv, in dem er mit seiner Kamera sich und andere Partygäste auf einem Rödelheimer Rave filmt und dabei Tipps gibt, wie man(n) »auf einem Rave richtig flirtet«3. Ein durch und durch sexistisches ›Werbevideo‹ eines Kollektivs, welches sich zugleich mit linkspolitischen Themen und Gruppen identifiziert und beispielsweise im Rahmen der ›Save the Rave‹-Demonstration von 2016 für ein ›Recht auf Stadt‹ plädierte4, mag erstaunen. Während unserer Forschungsarbeit sind wir auf eine Vielzahl von inneren Widersprüchen gestoßen, die wir im vorliegenden Beitrag mittels der Theorien des französischen Philosophen Henri Lefebvre analysieren wollen. In den folgenden Abschnitten betrachten wir dafür zunächst die Entwicklung der Frankfurter Rave-Szene der letzten zwei Jahrzehnte und beschreiben dabei insbesondere aktuelle Veränderungen und Herausforderungen. Anschließend gehen wir näher auf unsere eigenen Erhebungen in

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der Frankfurter Rave-Szene ein und legen dar, welches emanzipatorische Moment im Sinne Lefebvres das Feiern im öffentlichen Raum bieten kann.

Die Produktion von Raum

Abbildung 1 und 2: Der Rave als gesellschaftliche Utopie (Quelle: Anton Sahler).

Nach Lefebvre wird Raum als Produkt einer gesellschaftlichen Praxis und somit als politisch verstanden. In ihm werden abstrakte Prozesse und Strukturen (wie beispielsweise Inklusion, Geschlechtergleichheit, Antirassismus) auf spezifische Weise konkret und wirkmächtig, können überwunden oder aber reproduziert werden. Dabei ist die Produktion von Raum ein anhaltender Prozess, Subjekte gestalten durch ihren Alltag und ihre Raumaneignung den urbanen Raum aktiv mit (Lefebvre 2016). Lefebvres Ansatz »auf der Grundlage des Vorgefundenen Möglichkeiten und gesellschaftliche Utopien [zu] entwickeln, die einen emanzipatorischen Weg aus der kapitalistischen

Gesellschaft hin zu einer egalitären und freiheitlichen Form der Kollektivität weisen« (Mullis 2017: 335), bedeutet, dass sich bei der Praxis des Ravens nicht einfach nur ein Partyraum angeeignet wird, sondern bedacht wird, welche Forderungen damit einhergehen. Kein Sexismus, kein Rassismus, feministische Perspektiven im Nachtleben, die räumliche wie soziale Zugänglichkeit und ein solidarisches Preissystem sind wichtige Impulse, die Frankfurter Partykollektive in den öffentlichen Raum und das Nachtleben getragen haben und welche dazu beitragen, die gegebenen Herrschaftsverhältnisse zu hinterfragen und temporär hinter sich lassen zu können. Es gilt allerdings zu beachten, dass die Produktion von temporären Freiräumen umkämpft und widersprüchlich ist. Denn einerseits beschränkt sich die Praxis des Ravens für viele lediglich auf einige Stunden und ist, sobald die Party vorbei ist, genauso schnell vergessen. Anderseits kann das Raven gesellschaftliche Ausschlüsse und diskriminierende Praxen nicht komplett auflösen. Welchen Umgang Frankfurter Kollektive mit diesen Widersprüchen finden und inwiefern sich der Anspruch Lefebvres, gesellschaftliche Utopien zu entwickeln und emanzipatorische Wege der Kollektivität im Feiern zu finden, umsetzen lassen, diskutiert dieser Beitrag.

»Sich Räume einfach nehmen«: Raven als Widerstandspraxis ?

Raves in Frankfurt: Ein Blick in die jüngere Vergangenheit Die Frankfurter MoSyD-Studie (Monitoring System Drugs) des Centre for Drug Research befasst sich seit 2003 unter anderem mit dem Bereich ›Party-Untergrund/illegale Partys‹ (Kemmesies et al. 2003). Basierend auf dieser Studie geben wir einen Einblick in die lokale Szene und die dort vorherrschenden Entwicklungen und Diskussionen seit Beginn der 2000er Jahre bis heute. Die Szene in Frankfurt zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass die Frage nach Möglichkeiten der Raumnutzung und -aneignung zentral ist. Eng damit verbunden sind behördliche, vor allem polizeiliche Repressalien, welche Mitte der 2000er zu weniger Partys im öffentlichen Raum führten. Um dem behördlichen Druck entgegenzuwirken, gab es 2006 Bestrebungen einzelner Veranstalter*innen, mittels einer Vereinsgründung eine Basis für legale Partys zu schaffen, welche jedoch letztlich nicht umgesetzt werden konnten. Von 2008 bis 2011 gab es eine Vielzahl nicht-angemeldeter Partys an (öffentlichen) Orten wie Baustellen, Autobahnunterführungen, U-Bahn-Stationen oder besetzten Häusern, die mit dem Anspruch veranstaltet wurden, sich den öffentlichen Raum zurückzuerobern – ›Reclaim the City‹. Dies trug dazu bei, dass einzelne linkspolitische Organisationsgruppen stärker miteinander kooperierten und zu dieser Zeit eine vergleichsweise starke Politisierung der Szene stattfand. Mit der Schließung mehrerer sogenannter ›Off-Locations‹ (oftmals abgelegene Orte mit ursprünglich anderer Funktion, zum Beispiel Fabrikhallen, die zumeist temporär für Veranstaltungen nutzbar sind) aufgrund behördlichen Drucks und der vermehrten Räumung ›illegaler‹ Open-Air-Partys, kam es 2015 zu mehreren Tanzdemos (wie sie bereits seit den 1990er Jahren in unregelmäßigen Abständen in der Stadt abgehalten wurden) in der Frankfurter Innenstadt. 2016 veranstaltete ein Kollektiv, das aus einer Vielzahl von Veranstalter*innen aus dem Raum Frankfurt bestand, eine Tanzdemo unter dem Motto ›Save the Rave‹, um für mehr Freiraum und Selbstverwaltung zu demonstrieren. In den darauffolgenden Jahren war jedoch Verdruss über behördliche Hürden und polizeiliche Repression und eine gewisse Desillusionierung in der Szene beobachtbar. Die Szene bemängelte zudem, dass es kaum jungen Nachwuchs gebe, der mit neuen Ideen weitere Partys etablieren wolle. In jüngster Zeit kam es in Frankfurt zur vermehrten Schließung von Clubs und Veranstaltungsorten des Nachtlebens. Unter anderem geschlossen

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wurden die Clubs ›U60311‹ und ›Coocoon‹, die deutschlandweit bekannte Technoclubs waren, oder auch das ›Living XXL‹, ein Club, der ehemals am Willy-Brandt-Platz angesiedelt war. Als eines der jüngsten Beispiele kann das ›Horst‹ genannt werden, das als erster Frankfurter kommer­zieller Veranstaltungsort im Juli 2020 bekannt gab »Corona nicht überlebt« (Horst 2020) zu haben. Dieses Clubsterben ist immer wieder Thema in öffentlichen Debatten und beschränkt sich nicht nur auf die Stadt Frankfurt, sondern wird bundesweit diskutiert (Wagner 2020). Gründe für die Schließungen sind neben Problemen mit Lärm- beziehungsweise Schallschutz vor allem steigende Mietpreise, Wohnverdichtung oder die Stellung der Clubs im Baurecht, aber auch ein Wandel im Ausgehverhalten spielt eine Rolle. All dies sind Gründe, warum Raves heute wieder eine beliebte Alternative zum regulären Clubbesuch darstellen und als Erklärung herangezogen werden können, warum die Szene auch in Frankfurt wieder aktiver ist.

Aktuelle Herausforderungen Im Sommer 2019 wurden insgesamt 13 Interviews mit Partykollektiven in Frankfurt und München geführt.5 Während sich manche der Kollektive, nachdem sie einige Jahre Raves veranstalteten, zu dem Zeitpunkt des Interviews bereits wieder aufgelöst haben, hatten andere sich erst ein halbes bis dreiviertel Jahr vor dem Interview gegründet. In diesem Abschnitt werden erste Ergebnisse aus den Interviews mit Frankfurter Kollektiven vorgestellt. Motiv: Freiraum schaffen, Spaß haben oder Spaß haben, Freiraum schaffen? Philipp: »Weg vom Club und so, das war irgendwie so das [Motiv], ihr habt Bock auf Open Air, aber auch Bock auf Freiräume.« Anna: »Genau, nicht so nur dieser kommerzielle Mist, den es halt als Open Air gab, sondern eher eine eigene Welt schaffen, auf die wir Bock haben.«

Gefragt nach den Gründungsmotiven, gibt die Mehrheit an, unzufrieden mit den vorhandenen Angeboten und Strukturen gewesen zu sein. Zu kommerziell, zu teuer, zu wenig offizielle Räume wie Clubs oder andere Veranstaltungsorte, in denen es überhaupt möglich sei, im Rahmen der eigenen Vorstellungen und Ideale, Partys zu feiern oder zu veranstalten. Dieser Missstand war für viele der Anlass, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, sich in Gruppen zusammenzufinden und die Party in den öffentlichen Raum zu tragen. Immer wieder wurde aber auch der Grund genannt, die eigene Musik hören und/oder selbst auflegen zu können. Neben hedonistischen Motiven ist das Schaffen von Freiräumen ein zentrales Motiv der Kollektive. Beispielsweise ist es für jedes der interviewten Kollektive mittlerweile Standard, auf Raves Flyer an gut sichtbaren Orten zu platzieren (Kassenbereich, Bar), auf denen sich klar gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie und Ähnliches ausgesprochen sowie dazu aufgerufen wird, dass sich die Gäste an die Veranstalter*innen wenden sollen, sobald sie sich unwohl oder belästigt fühlen. Eine weitere Praxis unter einigen Veranstalter*innen ist das bewusste Booking von nicht männlichen DJs, um die männerdominierte Elektroszene aufzubrechen. Im Zuge dessen hat sich in Frankfurt auch eine weibliche DJ-Crew gegründet, die neben dem Auflegen auch Partys veranstaltet. Die Abgrenzung von der Mainstream Club- und Festivalkultur und das Produzieren eines Raumes, in welchem sich abstrakte Wertvorstellungen

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zumindest für den Moment des Raves etablieren lassen, stellen für die Kollektive jedoch mitnichten eine bierernste (politische) Angelegenheit dar, sondern machen vor allem eins: Spaß. Bei allen Herausforderungen birgt das Moment des Produzierens eines eigenen Freiraums, der ›eigenen Welt‹, eine bereichernde Erfahrung, die immer wieder hervorgehoben wurde. Der oft explizit politische Anspruch sich Raum zu nehmen, um ein Statement gegen Prozesse wie Kommodifizierung und Gentrifizierung zu setzen, muss aber nicht zwangsläufig als ein Widerspruch hinsichtlich des Motivs – Spaß zu haben – gesehen werden. Diesen Spagat wagte ein Frankfurter Partykollektiv mittels Vereinsgründung.6 Das Kollektiv formulierte in der Vereinssatzung das Ziel, die aktive Gestaltung des öffentlichen Lebens unter Einbezug aktueller Lebenswirklichkeiten zu fördern. Dass sich hierfür nicht zwangsläufig auf Raves – als Form der Abgrenzung gegenüber dem kommerziellen Clubbetrieb – beschränkt werden muss, bewies besagtes Kollektiv über mehrere Jahre. Beispielsweise kam es zu einer Anmietung einer festen ›Vereinsstätte‹, um neben Partys auch Raum für Kunst und Kultur zu schaffen. Jedoch mussten die Veranstalter*innen mit der Zeit resigniert feststellen, dass die Vereinsstätte »ein Kompromiss zwischen dem Traum eines eigenen autonomen Zentrums und einer leicht kommerziellen Räumlichkeit« (Jaeger 2019) war. Party für wen: Eigener Schutzraum versus ›Rave für alle‹ Josh: »Also, ich möchte grundsätzlich niemanden ausschließen. Und das mache ich auch nicht. Da gibt es wahrscheinlich andere Adressen, wo eher ausgeschlossen wird.« Ludwig: »Da hast du dann den Druck gehabt, dass die Subkultur-Partys immer mehr das Anlaufbecken für die Leute waren, die woanders nicht mehr reinkamen und das hat dann auch irgendwann dazu geführt, dass man tatsächlich Türpolitik machen musste.«

Damit eine solche ›eigene Welt‹ geschaffen werden kann, ist die Frage nach dem Zutritt unerlässlich. Hier sehen sich die Kollektive in einem ständigen Widerspruch zwischen dem Ideal einer inklusiven (Party-)Gemeinschaft, die nicht wie an anderen Orten (zum Beispiel in Clubs) schon anhand des Äußeren Menschen aussortiert, und dem eigenen Schutzraum. Manche Absprachen orientieren sich hierbei an geltenden Normen, welche recht

Abbildung 3: »Eine eigene Welt schaffen« (Quelle: Anton Sahler).

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unhinterfragt übernommen werden (müssen), so zum Beispiel die Kontrolle beziehungsweise die Einschränkung, dass sich keine Minderjährigen auf dem Rave befinden dürfen. Andere Absprachen werden situativ getroffen und stellen ein Abwägen zwischen einem ›Rave für alle‹ und dem Schutzraum für das eigene soziale Umfeld dar. Es lässt sich feststellen, dass es hier zunehmend Veränderungen gibt, je länger Partykollektive aktiv sind. Sind sich alle theoretisch darüber einig, dass ein Rave barrierefrei (im Sinne von räumlich wie sozial zugänglich) sein sollte und in Abgrenzung zu einem Club jede*r willkommen ist, so stößt dieses Verständnis im Laufe der Zeit immer mehr auf praktische Widersprüche, welche sich nur schwer auflösen lassen: Anna: »Ähm, gibt auch immer Grundsatzdiskussionen, natürlich, nicht alle sind der gleichen Meinung, wie offen sind wir, Menschen reinzulassen? Gibt es vielleicht noch, wenn wir Menschen reinlassen, wo wir sagen würden, oh, der hat aber andere Denkansätze und Ideen von der Gesellschaft. Da gibt’s den einen Teil, der sagt: Ja, aber gerade die sollten wir doch auch mit reinlassen, um denen eine andere Idee zu zeigen. Und es gibt Leute im Kollektiv, die sagen: Ne, aber ich habe keinen Bock, dass diese Menschen auf den Partys sind.« Philipp: »Oder aber auch: Ich habe keinen Bock MEHR, dass die Leute auf meiner Veranstaltung sind, weil ich das einfach seit Jahren so mache und weil ich einfach keine Lust mehr habe, mich dauernd mit solchen Idioten abzugeben.«

Zudem soll an dieser Stelle erwähnt sein, dass Raves selten öffentlich beworben werden (können), da es sich um nicht angemeldete Veranstaltungen handelt. Informationen zu den teils sehr versteckten Veranstaltungen werden häufig über E-Mail- und Messenger-Verteiler gesendet. Diese Nicht-Öffentlichkeit führt generell zu einer Exklusivität potentieller Teilnehmer*innen und zeigt auf, welche Schwierigkeiten sich beim Versuch der konkreten Umsetzung von abstrakten Prozessen im Kontext der Nutzung von temporären Räumen ergeben. Orte: Einmaligkeit und Verdrängung an die Stadtgrenzen

Ob ein Rave in der Stadt oder außerhalb der Stadt stattfindet, liegt nicht zwangsläufig in der Hand der jeweiligen Kollektive. Besonders Kollektive, die bereits langjährige Erfahrungen im Organisieren von Raves gesammelt haben, müssen sich aufgrund behördlicher Repressalien vermehrt aus dem Stadtgebiet zurückziehen: Philipp: »Und da vielleicht auch einfach, möglichst weit ab vom Schuss. Damit einem halt nicht die Stadt auf den Sack geht in irgendeiner Form. Es sei denn, man muss halt wieder anmelden oder so, ne, aber…« Anna: »Früher wären wir immer gerne in die Stadt gegangen, aber da es nicht möglich ist, haben wir uns da irgendwie zurückgestuft, zurückgezogen auf möglichst weit weg, um möglichst wenig Stress zu haben.«

Zudem wird die Frage nach einmaliger Nutzung des Ortes oder der Suche nach einer festen Location von den Partykollektiven diskutiert. Neben der relativen Sicherheit, dass es mit einer festen Location tendenziell weniger zu Stress mit Anwohner*innen oder Polizei kommt, geht damit eine

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gewisse Professionalisierung einher. Ein fester Raum bietet Möglichkeiten zur Lagerung von Equipment, der immense Zeitaufwand des Auf- und Abbaus entfällt und eine gewisse Grundstruktur, wie das Vorhandensein von sanitären Anlagen, einer Bar und Stromversorgung ist gewährleistet. Das bereits erwähnte Partykollektiv musste neben den Vorteilen einer festen Location aber auch die Nachteile erfahren. Da Kollektive nicht jenseits der kapitalistischen Verwertungslogik agieren, müssen für die Räumlichkeiten Mieten gezahlt und diese auch instand gehalten werden. Zudem müssen den Helfer*innen mit steigendem Zeitaufwand Gehälter gezahlt werden. Und so hat sich das Kollektiv schnell gezwungen gesehen, mehrmals wöchentlich Veranstaltungen zu machen, um die immensen Fixkosten zu decken. Die Kollektivmitglieder hatten zwar in der Theorie den gewünschten kreativen Freiraum in den Räumlichkeiten, in der Praxis fehlte jedoch die Zeit, diesen auch voll ausschöpfen zu können. Es werden aber auch andere Gründe für immer wechselnde Orte genannt: Trick, Tick und Tack: »Weil unser Konzept von Anfang an war, dass wir halt schon auch alternative Party-Erlebnisse anbieten wollen und das funktioniert halt nicht, wenn man dann die zehnte, 15. Party an einem Ort macht.«

Rave wird hier als besonderes Erlebnis verstanden, das durch die Vergänglichkeit des geschaffenen Ortes Ausdruck findet: »Diese neue Form der Raumnutzung [zielt] auf eine Verflüssigung räumlicher Grenzen, bei der Locations im Stadtraum produziert werden, um sie anschließend wieder aufzulösen« (Schwanhäußer 2010: 11). Während dieser bewusst temp­oräreren Raumnutzung wird der Raum oftmals symbolisch durch Dekoration angeeignet. An diesem Punkt kommt es vermehrt zu internen Diskussionen innerhalb der Kollektive: Feste Räumlichkeiten stehen im Widerspruch zur Intention einer Aneignung und »Verflüssigung« (ebd.) von Raum. Der Handlungsspielraum der Polizei Anna: »Dann hatten wir auch schon die [Polizist*innen], die mit uns versucht haben zu überlegen, wie wir die Boxen ausrichten können, dass es nicht mehr den einen Anwohner stört, der immer wieder anruft. Und dann sind wir aber auch schon geräumt worden, und das richtig hart mit Leute vom Gelände Schleifen.«

Diesem Umstand, dass Raves mehrheitlich ›illegale‹ beziehungsweise nicht angemeldete Veranstaltungen sind, ist zum einen eine gewisse Handlungsfreiheit und ein größerer Gestaltungsspielraum zu verdanken, jedoch führt es auch dazu, dass die Veranstalter*innen und Gäste in Auseinan­dersetzungen mit der Polizei zu einem großen Teil auf den Ermessensspielraum der jeweiligen Polizist*innen angewiesen sind. Dieser Konflikt wird zum Teil noch dadurch verschärft, dass die Partygäste das Bestreben der Veranstalter*innen, die polizeiliche Kontrolle möglichst straffrei und ohne weitere Konsequenzen zu beenden, keinesfalls teilen müssen: Ludwig: »Das waren, glaube ich, dann auch immer so Machtspiele, weil ja denen irgendwie ja klar war, dass das augenscheinlich linke Szene ist und dass […] man sich kabbeln will. Umgekehrt war es dann natürlich auch so bei den Gästen, dass man da gucken musste, dass man auch die deeskaliert. Also, man musste beide Seiten deeskalieren.«

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Hier bedarf es an Erfahrungswerten, die insbesondere jüngere Kollektive auch von jenen mit mehr Erfahrung lernen könnten. Verschiedene Strategien im Umgang mit der Polizei scheinen sich bewährt zu haben: So wurde häufig davon berichtet, dass die Kollektive im Rotationsprinzip pro Veranstaltung eine*n Verantwortliche*n benennen, diese Person bleibt in der Regel nüchtern und ist für die Kommunikation mit der Polizei vor Ort verantwortlich. Hierbei hat sich ein höflicher Umgang, aber auch eine sichere Verhandlungsbasis mit der Polizei als hilfreich erwiesen: Fabian: »Es gab ja nie einen [offiziellen] Veranstalter. Das war immer, wenn die [Polizist*innen] jetzt zum Beispiel sagen: ›Wir räumen das hier alles und nehmen alles mit‹ – was ja natürlich eine Standard-Drohung ist. Dann ist aber auch das Gegending so: ›Dann ist euch klar, dass jedes einzelne Kabel jetzt hier einer einzelnen Person gehört und euer bürokratischer Aufwand SO wird.‹«

Insgesamt wurde von den Interviewpartner*innen hervorgehoben, dass die Polizei ihren Handlungsspielraum oftmals zugunsten der Raver*innen nutzt und diese unter der Auflage, alles wieder aufzuräumen und (weiterhin) niemanden zu belästigen, gewähren lässt.

Fazit: Zwischen innerem Widerspruch und gesellschaftlicher Utopie Eingangs haben wir die Frage gestellt, welche Widersprüche sich durch das Erschaffen von temporären Räumen als Raves ergeben und inwiefern diese Räume als umkämpft zu verstehen sind. Das Raven und die Raumaneignung qua Feiern stehen in wechselseitiger Abhängigkeit zum gesamtgesellschaftlichen Wertesystem. Das Raven kann in diesem Kontext als politische Praxis verstanden werden (Lefebvre 2016). Durch das Feiern im öffentlichen Raum wird sich die Stadt – für den Moment, aber auch darüber hinaus – zurückerobert. Der Rave erschafft einen alternativen, zum Teil utopischen Raum, in welchem kollektive, egalitäre und antikapitalistische Werte aufleben können. Dies geschieht jedoch nicht widerspruchsfrei, der Rave ist immer auch ein umkämpfter Raum. In ihm werden abstrakte Prozesse und Strukturen wirkmächtig, können überwunden oder aber ebenso reproduziert werden (ebd.). Nicht für alle Feierenden ist dieses politische Bewusstsein Teil der Party. Das zu Beginn angeführte Beispiel des Frankfurter ›Pick-Up-Artists‹ als Promoter eines Partykollektivs zeigt auf eindrückliche Weise, wie das teilweise linke Selbstverständnis eines Kollektivs im Widerspruch zu der Kooperation mit einem offensiv sexistischen und frauenverachtenden Weltbild steht. Aber auch allgemeinere Aushandlungen der Kollektive, beispielsweise bezüglich der erwünschten Gäste, der Finanzierung oder der Auseinandersetzungen mit Sicherheitsbehörden, bergen das Risiko, übergeordnete politische Forderungen, welche im Zusammenhang mit Raves laut werden, in den Hintergrund zu rücken. Mechanismen der In- und Exklusion sind der Szene immanent und die relative Homogenität der Raver*innen kann kritisch betrachtet werden. Nichtsdestotrotz sehen wir im Raven auch das Potenzial, städtische und soziale Kämpfe (fort)zuführen und auszuweiten. Insbesondere in einer Stadt wie Frankfurt, deren neoliberal geprägte Stadtpolitik sich primär an den Bedürfnissen der bürgerlichen Mittelschicht und einer kapitalistischen Marktlogik orientiert, ist es wichtig, um das ›Recht auf Stadt‹ zu kämpfen – beziehungsweise dafür zu tanzen.

»Sich Räume einfach nehmen«: Raven als Widerstandspraxis?

Endnoten 1

Partykollektive zeichnen sich im Gegensatz zum regulären Clubbetrieb dadurch aus, dass in der Regel der Mehrwert der Veranstaltungen nicht im finanziellen Profit, sondern in der Schaffung von Freiräumen gesehen wird. Zudem besteht in Partykollektiven kein klassisches Verhältnis zwischen Chef*in und Angestellten. Stattdessen wird der Anspruch erhoben, sich in nicht hierarchischen Strukturen zu organisieren.

2

Der Begriff ›Pick-Up-Artist‹ beschreibt Männer, die mittels manipulativer und frauenfeindlicher ›Tricks‹ versuchen, Frauen zu verführen und zu demütigen.

3

Hierbei handelt es sich um ein wörtliches Zitat aus dem Video, welches wir an dieser Stelle nicht als Quelle angeben wollen, um die Re-Produktion und Weiterverbreitung von Sexismus nicht zu unterstützen.

4

Bereits Mitte der 1990er Jahre wurden mehrere Nachttanzdemonstrationen in der Frankfurter Innenstadt veranstaltet, um das Feiern mit dem Protest gegen Sicherheitswahn und Ausgrenzung zu verbinden. Sowohl Ort und Uhrzeit als auch Form der Tanzdemos wurden bewusst gewählt, um ›Ruhe und Ordnung‹ im öffentlichen Raum zu stören (https:// jungle.world/artikel/1997/52/fight-your-right-party). Die Organisator*innen der ›Save the Rave‹-Nachttanzdemo fordern in ihrem Aufruf explizit Räume für eine »Partybewegung, die jegliche Form von Diskriminierung ablehnt, sei es nach Herkunft, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung oder finanziellen Verhältnissen« (https://www.toxicfamily.de/2016/06/28/save-the-rave-tanzdemo-am-09-juli-2016/).

5

Die Interviews wurden im Rahmen der DRUSEC-Studie (Drug Use and Urban Security) geführt. Die BMBF-geförderte Studie mit einer Projektlaufzeit von August 2017 bis September 2020 hatte zum Ziel, Drogen und Alkoholkonsum im öffentlichen Raum in Bezug auf etwaige Sicherheitsrisiken zu untersuchen. Die hier zitierten Interviews wurden anonymisiert.

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An dieser Stelle wird nicht die missglückte Vereinsgründung aus dem Jahr 2006, die im Abschnitt zuvor erwähnt wurde, beschrieben.

Literaturverzeichnis Horst (2020): Statement zur Schließung unserer Räume in den Adlerwerken, http://www.horstffm.de/ (Zugriff: 04.09.2020). Kemmesies, Uwe E./Werse, Bernd/Müller, Oliver/Prinzleve, Michael (2003): Jahresbericht MoSyD (Monitoring-System Drogentrends) Drogentrends in Frankfurt am Main, Frankfurt a.M.: Centre for Drug Research, Goethe-Universität, https://www.uni-frankfurt. de/57482320/MoSyD_Daten (Zugriff: 04.09.2020). Lefebvre, Henri (2016): Das Recht auf Stadt, Hamburg: Edition Nautilus. Mullis, Daniel (2017): »Henri Lefebvre: Das Recht auf Stadt «, in: Frank Eckardt (Hg.), Schlüsselwerke der Stadtforschung, Wiesbaden: Springer VS, S. 355–361. Schwanhäußer, Anja (2010): Kosmonauten des Underground. Ethnografie einer Berliner Szene, Frankfurt a.M.: Campus-Verlag.

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Tower to the People? Verdrängung durch Modernisierung. Erfahrungen aus dem BrentanoHochhaus in Frankfurt Rödelheim Conny Petzold und Anna Steenblock

»Wir bleiben alle!« war der kämpferische Slogan, den wir1 ab 2018 auf jeden Flyer druckten, um die Öffentlichkeit, die Schader-Stiftung als Eigentümerin sowie die Stadt Frankfurt auf unsere drohende Verdrängung aus dem Brentano-Hochhaus in Frankfurt Rödelheim (s. Abb. 1) aufmerksam zu machen. Wir kannten das Muster der Verdrängung durch Modernisierung und wir wollten es durchbrechen. Viele befürchteten mit Blick auf die Preise auf dem Wohnungsmarkt, dass sich ihre eigene Wohnsituation nach dem drohenden Auszug verschlechtern würde. Trotz der solidarischen Vernetzung im Haus und zahlreicher Teilerfolge zeigt sich fast drei Jahre später: Wir konnten die Verdrängungsspirale nicht stoppen. Der voranschreitende Entmietungsprozess und die massiven Modernisierungsmieterhöhungen, die uns zu allem Überfluss in der Hochphase der Corona-Krise erreichten, zeugen davon. Trotz der bitteren Erkenntnis lassen sich die verbleibenden Mieter*innen die zermürbenden Praktiken der Eigentümerin und Hausverwaltung noch immer nicht gefallen. Der folgende Text berichtet davon, wie wir uns als Hausgemeinschaft organisierten, welche Momente des kollektiven Handelns wir erlebten, warum die Forderung »Wir bleiben alle!« nicht Wirklichkeit wurde und wie es dennoch weitergeht.

Eine gemeinnützige Stiftung im Geschäft der Luxusmodernisierung? Eigentümerin des in den 1970er Jahren erbauten Brentano-Hochhauses ist seit den 1980er Jahren die gemeinnützige Schader-Stiftung aus Darmstadt, die sich laut Selbstdarstellung der »Kommunikation und Kooperation der Gesellschaftswissenschaften mit der Praxis« verschrieben hat und dabei unter anderem »Gemeinwohl und Verantwortung« sowie »Stadtentwicklung und Wohnen« als ihre zentralen Themenfelder benennt.2 Mit unserer Vermieterin hatten wir in den davorliegenden Jahren kaum Kontakt, da die Verwaltung des Hauses an VEGIS Immobilien ausgelagert ist. Das Haus, das wir bewohnen, ist die Ertragsimmobilie der Stiftung, mit der sie ihre Aktivitäten finanziert. Als 2017 Sanierungsarbeiten angekündigt wurden, war das für alle Bewohner*innen zunächst keine Überraschung. Der bauliche Verfall des 15-stöckigen Hauses mit 153 Wohnungen war nicht zu

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Abbildung 1: Das Brentano-Hochhaus in der Thudichumstraße 18-22 in Frankfurt Rödelheim (Quelle: Fabian Stieb).

übersehen. Jahrelang beschränkten sich Baumaßnahmen in dem Wohnblock auf das Minimum. Das machte sich bemerkbar an der verwitterten Fassade, defekten Aufzügen, häufigen Wasserschäden, einem heruntergekommenen Treppenhaus und auseinanderfallenden Briefkästen.3 Dennoch wohnt die Mehrheit der Mieter*innen gern im Hochhaus und nicht wenige sind auf die Vorteile der Wohnsituation angewiesen. Der barrierefreie Zugang zur Wohnung ist für ältere und mobilitätseingeschränkte Mieter*innen ebenso unverzichtbar wie die gute Nahversorgung, die Anbindung an den ÖPNV im Stadtteil oder die Nähe zum Grüngürtel. Zudem bot – so war es zumindest in der Vergangenheit – die eher unübliche, nicht-diskriminierende Vermietungspraxis der Hausverwaltung und der Wohnungsschnitt einen Ort für alle, die es ansonsten schwer haben auf dem Wohnungsmarkt: Wohngemeinschaften, Menschen mit Rassismus­ erfahrungen, Haustierhalter*innen und große Familien. Nicht wenige der Mieter*innen, die regelmäßig an unseren Versammlungen und Aktionen teilnahmen, wohnen seit 20, 30 oder sogar 40 Jahren in dem Haus. Bereits vor der Modernisierung war das Wohnen im Hochhaus nicht gerade billig, sondern lag mit Quadratmeterpreisen von 8 bis 10 € für die Nettokaltmiete an der Obergrenze dessen, was der Frankfurter Mietspiegel für Wohnungen vergleichbarer Lage und Ausstattung hergibt. Es gibt keine Sozialwohnungen, wenngleich viele Mieter*innen über unterdurchschnittliche Einkommen verfügen. Es handelt sich bei der Bewohner*innenschaft um die berühmte »gute soziale Durchmischung«, die auch jenen Expert*innen, die im Juni 2017 im Tagungshaus der Darmstädter Schader-Stiftung die »Rückkehr der Wohnungsfrage« erörterten, als erstrebenswert gilt (Böhler/Kayser 2017: 11). Dass eine »heterogene Bevölkerungsstruktur« den »Garant für die soziale Stabilität eines Wohnquartiers« (Kirchhoff 2013) darstellt, propagiert die Stiftung auch in eigenen Publikationen, unter anderem nachzulesen auf der Homepage.

Tower to the People? Verdrängung durch Modernisierung

Gerade weil die Mehrheit von uns Bewohner*innen bereits vor der Modernisierung am Limit dessen war, was wir im Monat für die Miete ausgeben konnten, betrachteten wir die Mietpreisentwicklung in Frankfurt und Rödelheim mit Sorge. Rödelheim galt schon 2016 als »Viertel im Aufschwung« (FAZ 20.05.2016) und wir wussten, dass dies die Ertragserwartungen von Immobilienbesitzer*innen beeinflusst. Die »Renaissance der Wohntürme« (DFPA 2018) als neue Luxuswohnform war zu Beginn der Bauarbeiten bereits in aller Munde. Für die Vermarktung des Brentano-Hochhauses als modernem Wohnturm wäre allerdings eine Rundumerneuerung des Wohnblocks aus den 1970er Jahren notwendig. Da die Verantwortlichen in der Schader-Stiftung wissen, dass »die Wohnungsfrage auch immer eine soziale Frage« (Böhler/Kayser 2017: 8) und eng verknüpft mit »sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe« (ebd.: 10) ist, ja sogar ein »existentielles Grundbedürfnis« (ebd.) darstellt, gingen wir davon aus, dass unsere Vermieterin die potentiellen sozialen Folgen der geplanten umfassenden Modernisierung kennt und in ihren Plänen bedenkt. Denn »die Aufwertung eines Quartiers darf nicht dazu führen, dass die angestammte Bevölkerung aufgrund der Wohnkostenentwicklung dort nicht mehr leben kann und massive Gentrifizierungsprozesse eintreten« (Kirchhoff 2013), fasst die wissenschaftliche Referentin der Stiftung zusammen. Deswegen suchten wir bereits kurz nach Abriss des angrenzenden Gewerbetraktes im Frühjahr 2017, der eine größere Bauphase ankündigte, das direkte Gespräch mit der Schader-Stiftung als Eigentümerin. Unser Ziel war, transparente Informationen über die anstehenden Bauplanungen zu erhalten und eine sozialverträgliche Sanierung zu vereinbaren.

Learning by doing – das Leben auf der Baustelle beginnt Informationen zur mittelfristigen Bauplanung ließen jedoch auf sich warten. Stattdessen wurden wir mit der Realität der beginnenden Bauarbeiten im Haus konfrontiert. Ab September 2017 begann der Umbau der Warmwasserversorgung, wozu in jeder Wohnung Durchlauferhitzer eingebaut und Starkstromkabel auf Putz verlegt wurden. Mieter*innen waren tageweise ohne Strom, teilweise wochenlang ohne Warmwasserversorgung, was uns zwang, auf vier provisorisch eingerichtete Duschen im 15. Stock auszuweichen. Ende des Jahres 2017, kurz vor Abschluss dieser ersten Bauphase, meldete die Hausverwaltung VEGIS einen Asbest-Fund. Die Feststellung, dass eine vorherige Überprüfung offenbar nie stattgefunden hat, ließ das Vertrauen in die Hausverwaltung schwinden und die Wut hochkochen (FR 22.01.2019). Zwar handelt es sich bei diesen Arbeiten, die teilweise fast vier Wochen in unseren Wohnungen andauerten, um Instandsetzungen, mit denen keine Mieterhöhung begründet werden darf. Für die chaotische Durchführung der von der Hausverwaltung betreuten Baustelle ›zahlten‹ wir aber trotzdem: mit massiven Einschränkungen der Privatsphäre, andauerndem Baulärm, überlasteten Aufzügen, der Sorge um die Gesundheit wegen der Asbestfunde, der eingeschränkten Küchennutzung durch die Strom- und Wasserausfälle – vor allem für Eltern, behinderte und ältere Menschen eine Zumutung.4 In Reaktion auf die überforderte bis ignorante Hausverwaltung, die telefonisch kaum zu erreichen war und deren Informationspolitik sich auf kurzfristige Aushänge im Treppenhaus und wenig aussagekräftige Informationsschreiben beschränkte, organisierten wir im Oktober 2017 unsere erste Versammlung mit 60 Mieter*innen. Wir trugen unsere Forderungen in einem offenen Brief zusammen: eine umfassende Transparenz über die Pläne unter Einbeziehung der Mieter*innen in Form eines Beirats, eine

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sozialverträgliche Durchführung der Baumaßnahmen sowie eine monatliche Mietminderung von 10 % für alle als Entschädigung. Mit einer Delegation übergaben wir unseren Brief in Darmstadt an einen Vertreter der Schader-Stiftung und erhofften uns davon den Einstieg in einen offenen Dialog. Die Antwort der Stiftung erhielten wir prompt: Eine kollektive Mietminderung wurde abgelehnt mit dem Verweis auf unser Recht als Mieter*innen, diese nachträglich individuell – in wohlgemerkt langwierigen Prozessen – geltend machen zu können. Immerhin wurde auf unser Drängen hin eine Informationsveranstaltung für Januar 2018 angekündigt, auf der dann allerdings über die »Entwicklung der Mieten« informiert werden sollte. Unsere Vermieterin, mit der wir gerne über diese »Entwicklung« gesprochen hätten, war auf der Veranstaltung nicht anzutreffen. Stattdessen setzten uns Mitarbeiter*innen der Hausverwaltung VEGIS, ohne ein Wort über die vorangegangenen Monate zu verlieren oder auf unsere Forderungen einzugehen, in Kenntnis über eine jahrelange »Modernisierung« des Hauses, die uns bevorstünde. Daraus resultiere eine dreistufige »Entwicklung der Mieten«, sprich Mieterhöhungen. In Stufe 1 sollte eine Anpassung an den Mietspiegel um 15 % erfolgen, in Stufe 2 eine Mieterhöhung nach Modernisierungsphase I um 2,50 €/m2 sowie in Stufe 3 eine dritte Mieterhöhung nach der Modernisierungsphase II, die bis dato nicht terminiert wurde. Unumwunden wurden wir angesichts dieser Mietpreisspirale auf unser Sonderkündigungsrecht hingewiesen und einige Tage später – der Bohrlärm dröhnte in den Wohnungen – lag die erste Mieterhöhung in unseren Briefkästen. Dass es sich bei VEGIS Immobilien um ein renditeorientiertes Unternehmen handelt, das »Werte steigern«5 möchte, überrascht nicht. Dass aber auch die gemeinnützige Schader-Stiftung diese gewinnmaximierende Strategie verfolgt und die Mieterhöhungen von dem Stifter Alois Schader eigenhändig unterzeichnet wurden, schockiert uns bis heute.6

Selbstorganisierte Mietrechtsberatung bei den Waschmaschinen – Momente kollektiven Handelns Uns wurde klar: Nur zusammen können wir uns gegen diese unsozialen Praktiken zur Wehr setzen und die Zeit durchstehen. Die bisher unregelmäßig stattfindenden selbstorganisierten Versammlungen verstetigten sich. Der 15. Stock bei den Waschmaschinen wurde zu unserem Versammlungsort (s. Abb. 2), wo wir uns teilweise wöchentlich über den Fortgang der Bauarbeiten austauschten, Beschwerden und Fragen sammelten und unsere kollektive Wut und Verzweiflung über den psychisch belastenden Baulärm rausließen (s. Abb. 3). Neben dem relevanten Informationsaustausch lernten wir uns als Nachbar*innen auch besser kennen, was durch informelle Treffen bei Getränken und mitgebrachtem Essen verstärkt wurde. Sprachbarrieren versuchten wir durch behelfsmäßige Flüsterübersetzungen ins Englische, Türkische oder Farsi zu überbrücken. Es entstand das wichtige Gefühl, nicht allein zu sein. Und die Hürden wurden geringer, sich auch im Alltag, vor dem Aufzug, der Haustür oder über den Email-Verteiler anzusprechen. Auf die Weise schafften wir es, die erste Mieterhöhung um 15 % auf Grundlage des Mietspiegels gemeinsam abzuwehren. Wir sammelten Fakten, fragten unsere Mietervereine und Anwält*innen und tauschten uns über dieses Wissen aus. An einem Samstag fand die erste selbstorganisierte Mietrechtsberatung im Haus statt, bei der dutzende Mieterhöhungen durchgerechnet und mit der gültigen Rechtslage verglichen wurden. Schnell wurde klar: Die Mieterhöhungen waren falsch berechnet und deswegen in keinem Fall zustimmungspflichtig. Mit unserer Weigerung, die Mieterhöhung zu

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akzeptieren, riskierten wir eine Klage auf Zustimmung durch die Vermieterin – ein Risiko, das nicht alle eingehen wollten. Ein Großteil fühlte sich durch den Zusammenhalt und das kollektive Vorgehen aber gestärkt – und behielt Recht. Die Vermieterin unterließ eine Klage wegen mangelnder Erfolgsaussichten und verschickte stattdessen korrigierte Mieterhöhungen, die allerdings erst ein Jahr später eingefordert werden konnten. Dieser Erfolg war nur möglich, indem wir die Schritte gemeinsam gingen. Der kollektive Moment förderte das Selbstbewusstsein gegenüber der Vermieterin beziehungsweise Hausverwaltung und den Kampfgeist im Haus. Im Frühjahr 2018 schrieben wir unseren dritten offenen Brief und führten Haustürgespräche, die – es ist Wahlkampfzeit – vom Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) begleitet wurden (RTL Hessen 2018a). Mieter*innen aus über 100 Wohnungen unterschrieben den Brief und schlossen sich den Forderungen an die Schader-Stiftung: »Wir fordern weiterhin von Ihnen, dass Sie mit uns in einen Dialog treten und eine gemeinsame Entscheidungsfindung beginnen. Die angeblichen Modernisierungsmaßnahmen sind in der Tat Instandsetzungen der Mängel, die sich in den vergangenen 40 Jahren angehäuft haben. […] Wir erwarten, dass Sie entsprechend Ihrer Verantwortung als gemeinnützige Stiftung, die im Bereich Stadtentwicklung tätig ist und die Problemlage nur zu gut kennt, das Gebäude, in das seit den 1970er Jahren nicht investiert wurde, so instand setzen, dass wir hier ohne gesundheitliche Gefahren leben können. Wir können und wollen diese Behebung der offensichtlichen Mängel im Haus nicht bezahlen. Sie als Besitzerin sind verantwortlich für diese Investition.«

Mit einer Delegation von 20 Mieter*innen fuhren wir gemeinsam nach Darmstadt und übergaben den Brief im April 2018 an Alexander Gemeinhardt, den geschäftsführenden Vorstand der Schader-Stiftung. Anlass war die thematisch passende Veranstaltung ›Sozialer Zusammenhalt in der Stadt: Was kann Integrierende Stadtentwicklung leisten?‹7, wo sich Expert*innen in der Schader-Stiftung über »partizipative Stadtentwicklung ›von unten‹«, »gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten« und »lokale Gestaltungsoptionen« austauschten. Als Dialogpartner*innen aus der Praxis hätten wir viel zum Thema zu sagen, dachten wir. Mit Nachdruck wiesen wir im Gespräch mit Alexander Gemeinhardt darauf hin, was die Bausituation für unseren

Abbildung 2: Die Waschmaschinen im 15. Stock – häufiger Versammlungsort (Quelle: eigene Aufnahme).

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Abbildung 3: Selbstorganisierte Mieter*innenversammlung (Quelle: eigene Aufnahme).

Alltag bedeutet und dass die Mieterhöhungen einen Großteil der Mieter*innen aus dem Haus treiben wird. Die Situation war aufgeladen und viele Mieter*innen ließen ihre angestauten Emotionen raus. Gemeinsam konnten wir ihm schließlich das Versprechen abringen, sich bei einer Begehung im Haus ein eigenes Bild zu machen. Der Besuch fand, begleitet von vier Delegierten der Hausgemeinschaft, im Juni 2018 statt. Die Erwartungen waren groß, das Ergebnis ernüchternd. Alexander Gemeinhardt ließ keinen Zweifel aufkommen, an den geplanten Modernisierungsmieterhöhungen festzuhalten. Auf den Hinweis auf soziale Härtefälle im Haus und den Verdrängungseffekt der Maßnahmen reagiert er mit einem Verweis auf die Funktionsweise des Frankfurter Wohnungsmarktes – als Folge einer natürlichen, nicht zu ändernden Logik. Selten erlebten wir den Konflikt zwischen Hausbesitzer*innen und Mieter*innen und das darin bestehende Machtgefälle so individuell, so persönlich.

Wenn Politik, Behörden und Wissenschaft versagen Unsere offenen Briefe an die Stiftung, unsere Öffentlichkeitsarbeit, die Ansprache der wissenschaftlichen Kooperationspartner*innen der Stiftung in Rundschreiben sowie die Einbeziehung von städtischen Behörden zielten darauf ab, an einem runden Tisch in einen konstruktiven Dialog einzutreten. Unsere Ideen waren kreativ und gingen von der Absetzung der VEGIS als dezidiert profitorientierter Hausverwaltung über die Entwicklung eines partizipativen Forschungsprojektes zu sozial-ökologischer Bestandsmodernisierung bis hin zu Formen gemeinschaftlichen Wohnens – die dafür notwendige »hohe soziale Selbstverwaltung der Menschen« (Böhler/Kayser 2017: 11), wie es auf jener Tagung in der Stiftung etwas umständlich hieß und womit vermutlich die Fähigkeit gemeint sein soll, sich gemeinschaftlich über das eigene Zusammenleben zu verständigen, hatten wir bereits unter Beweis gestellt. Es sind Themen, die die Schader-Stiftung ihrem Selbstverständnis nach aktiv fördert und mit uns als Praxispartner*innen hätte realisieren können. Die Ausgangslage und der Zugang zu Expert*innenwissen hätten nicht besser sein können.

Tower to the People? Verdrängung durch Modernisierung

In unseren Bemühungen spielten weitere Akteur*innen eine zentrale Rolle. Von Beginn an hielten wir die wissenschaftlichen Kooperationspartner*innen der Schader Stiftung über unsere offenen Briefe und Pressemitteilungen informiert. Bei öffentlichen Veranstaltungen in der Stiftung suchten wir das direkte Gespräch mit den Besucher*innen und verteilten Flyer, wie beim großen Konvent im November 2018.8 Wir verwiesen auf unsere Instagram-Kampagne, in der wir die Gesichter hinter den Wohnungstüren zeigten und für jede Wohnung vorrechneten, um wieviel Prozent die Miete steigen würde (instagram.com/hochhaus.roedelheim). Ein Zurückweisen der Zahlen war so nicht mehr möglich. Die wissenschaftlichen Kooperationspartner*innen der Stiftung zeigten Interesse, es gab gezielte Nachfragen und die Stiftungsvertreter*innen wurden mehrfach auf das Thema angesprochen. Aber die gewünschte Wirkung, eine Kooperation mit der Schader-Stiftung kritisch zu überdenken, blieb aus. Allein die Sektion Politische Ökonomie der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft positionierte sich öffentlich zu der fraglichen »Sozialverträglichkeit der Modernisierung« und sprach sich für eine Moderation des Konflikts und eine Beobachtung für die Planung weiterer Konferenzen aus.9 Insbesondere bei den politisch Verantwortlichen der Stadt Frankfurt vermissen wir bis heute eine Strategie im Umgang mit den zahlreichen Fällen von Verdrängung durch Modernisierung. Anders als etwa in Berlin10 gibt es in Frankfurt weder für die Aushandlung von Modernisierungsvereinbarungen, die die Miete nach Modernisierung begrenzen, noch für die Durchführung eines Sozialplanverfahrens zur Erfassung von Härtefällen und zur Vermeidung beziehungsweise Milderung von Härten ein geordnetes Verfahren oder auch nur klare Ansprechpartner*innen. Vom Ortsbeirat bis hin zum Planungsdezernat hörten wir stattdessen immer wieder den Satz: »Bei Privatvermieter*innen sind uns die Hände gebunden.« Nur aufgrund unserer Hartnäckigkeit unterbreitete Oberbürgermeister Peter Feldmann der Schader-Stiftung überhaupt das Angebot, einen runden Tisch zu begleiten. Die Ablehnung dieses Angebots durch die Stiftung blieb aber folgenlos. Genau wie ihre Blockadehaltung bei dem von uns angeregten Vorschlag, die Mieten im Brentano-Hochhaus nach der Modernisierung auf 30 % des Nettoeinkommens zu begrenzen, den die städtische ›Stabsstelle Mieterschutz‹ erst mehr als ein Jahr nach Baubeginn unterbreitete. Auch gemeinsame Überlegungen mit dem städtischen Planungsamt unter Mike Josef (SPD), für Teile des Hochhauses Belegungsrechte für den geförderten Wohnungsbau zu erwerben und so die Miete für Anspruchsberechtigte zu subventionieren, wurden nicht weiterverfolgt oder scheiterten an dem Unwillen der Stiftung. Dies verwundert umso mehr, als doch Alois Schader als Bauingenieur selbst jahrelang als Berater für Kommunen im Bereich sozialer Wohnungsbau tätig war – und auf der mehrfach erwähnten Tagung im Darmstädter Stiftungsgebäude gerade die Sozialbindung als zentrales wohnungspolitisches Instrument zur Bereitstellung günstigen Wohnraums hervorgehoben wurde (Böhler/Kayser 2017: 12). Allein die städtische Bauaufsicht brachte uns im Umgang mit der Baustelle kleine, spürbare Verbesserungen. Durch unsere telefonischen Beschwerden wegen der täglichen Lärmbelastung und den massiven Einschränkungen im Alltag veranlasste die Bauaufsicht schließlich die Einführung mehrerer Lärmpausen pro Tag. Diese kurzen Auszeiten waren eine enorme Entlastung. Im Sommer 2018 sah sich die Bauaufsicht sogar gezwungen, die Baustelle für mehrere Wochen stillzulegen. Vorangegangen war unter anderem der wiederholte Defekt des einzigen Aufzugs. Einige Bewohner*innen konnten über 24 Stunden das Haus nicht verlassen, andere

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mussten bei knapp 35 Grad Außentemperatur die Treppe nutzen. Dass wir diese essentiellen Alltagserleichterungen, wie die Lärmpausen, erst mühevoll erkämpfen mussten und Bauanträge für Modernisierungsmaßnahmen von der Bauaufsicht nicht von Anfang an kritisch auf Verdrängungseffekte hin geprüft und mit Auflagen versehen wurden, offenbart für uns einen Mangel an Problembewusstsein bei den städtisch Verantwortlichen. Daran ändert auch die im Frühjahr 2019 eingerichtete ›Stabsstelle Mieterschutz‹ nichts, solange sie im Kampf gegen Verdrängung ohne politisches Mandat ausgestattet bleibt und lediglich zusätzliche Rechtsberatung anbietet.

Mietrechtliche Erfolge verhindern keine Verdrängung Das einzige Angebot, das die VEGIS auf Druck der Mieter*innen als Entschädigung je verschickt hat, ist eine pauschale ›Ausgleichsvereinbarung für Mietminderungsrechte‹, die je nach Wohnungsgröße zwischen 500 € und 1.000 € als Einmalzahlung variierte. Nicht nur, dass der Betrag nach Einschätzung unserer Rechtsbeistände unter dem bleibt, was uns rechtlich zustünde. Er kann auch nicht ausgleichen, dass die Bauarbeiten der Modernisierungsphase I über ein Jahr länger andauerten als angekündigt und erst im Februar 2020 abgeschlossen wurden. Dennoch ist dieses Angebot als Erfolg zu bewerten, da für viele Mieter*innen eine aufwändige nachträgliche Mietminderungsklage keine Alternative darstellt. Solche kleinen Erfolge können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Ende 2018 Erschöpfung und Ernüchterung breitmachten. Zwar schafften die gemeinsame Teilnahme an einer Demo im Oktober 2018 (s. Abb. 4), bei der mehrere tausend Menschen – darunter viele betroffene Mieter*innen – in Frankfurt gegen den ›Mietenwahnsinn‹ in Hessen auf die Straße gingen,11 und soziale Momente bei einem festlichen Jahresausklang im Haus Solidarität und Zusammenhalt. Aber der Alltag auf der Baustelle blieb psychisch belastend und die ausbleibende Unterstützung durch Politik und Wissenschaft ließ die Hoffnung auf eine sozialverträgliche Einigung schwinden. Angesichts der neuen, korrigierten Mieterhöhung auf Basis des Mietspiegels, die uns zum Jahresabschluss 2018 erreichte, dachten viele ans Ausziehen, aber nur ein Bruchteil konnte tatsächlich eine neue, bezahlbare Wohnung finden. In dieser Situation war die Nachricht, dass auch die neue Version der Mieterhöhung rechtlich angreifbar ist, für die meisten kaum noch ein Grund zur Freude. Die Zahl derjenigen, die wider besseren Wissens zustimmten, stieg an. Im Juli 2019 feierten wir dennoch den ersten gemeinschaftlich errungenen Sieg vor Gericht: Das Frankfurter Amtsgericht bestätigte das Jahr 1977 als Baualter des Hauses. Bisherige Mieterhöhungen, deren Berechnung auf dem vermeintlichen Baualter 1978 beruhte, waren damit fehlerhaft. Dieser juristische Sieg war nicht nur wichtig, weil er die verlangte monatliche Erhöhung um 0,29 €/m2 senkte, sondern auch, weil er gemeinschaftlich erreicht wurde. Verschiedene Dokumente, die Mieter*innen zusammengetragen und der Gemeinschaft zur Verfügung gestellt hatten, wurden in den Gerichtsverfahren als Beweise herangezogen. Der Erfolg um die gerichtliche Auseinandersetzung enthielt aber einen Beigeschmack: Erstmals seit Beginn der Bauarbeiten war eine ausgesprochene Mieterhöhung teilerfolgreich und musste, mit Abschlägen, akzeptiert werden. Die Tatsache, dass wir während der belastenden Bausituation nicht etwa angemessen entschädigt wurden, sondern Mieterhöhungen hinnehmen mussten, war für viele Beteiligte eine bittere Nachricht und eine große finanzielle Belastung.

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Unsere Erfahrungen zeigen, dass das deutsche Mietrecht nur eingeschränkt mieterschützend wirkt. Die Möglichkeit, jährlich 8 % der Investitionskosten einer Modernisierung über Mieterhöhungen dauerhaft von den Bewohner*innen bezahlen lassen zu können, ist ein Konstruktionsfehler des deutschen Mietrechts. Auf einem angespannten Wohnungsmarkt wird diese Möglichkeit zu einem zentralen Verdrängungsfaktor für Haushalte mit mittlerem und unterem Einkommen. Zudem sind mietrechtliche Auseinandersetzungen, um etwa Mietminderungen einzuklagen, langwierig und undurchsichtig. Die komplizierten Verfahren verhindern von vornherein, dass eine nennenswerte Anzahl an Mietparteien zu ihrem Recht kommt. Darüber hinaus muss jede Mietpartei individuell in den Rechtsstreit ziehen. Wie wir im Hochhaus schmerzlich erfahren mussten, verfügen Eigentümer*innen und Hausverwaltungen über weitere Mittel, Mieter*innen aus ihren Wohnungen zu vertreiben und juristische Nebenschauplätze zu eröffnen. So versucht die Hausverwaltung VEGIS bis heute, vertragliche Änderungen von Hauptmieter*innen in Wohngemeinschaften zu verhindern und Protest gegen die steigenden Mieten zu kriminalisieren.12

Trotz Mieterhöhungen in der Corona-Krise: Wir geben nicht auf Als die Modernisierungsarbeiten Ende Februar 2020 nach zweieinhalb Jahren täglichem Baulärm endlich offiziell abgeschlossen wurden, war den im Haus Verbliebenen kaum nach Feiern zu Mute. Mitten in der Corona-Pandemie erhielten alle Mieter*innen im März die lang befürchtete Moder­ nisierungsmieterhöhung. Während bundesweit Möglichkeiten zur Abmilderung der sozialen Folgen der Pandemie debattiert und in Gesetzesform gegossen wurden, versandte die Schader-Stiftung Mieterhöhungen: Bis zu 2,80 €/m2 soll die Miete ab April 2021 steigen, das sind nach unseren Berechnungen 20 bis 45 %. Einmal mehr ist in der Corona-Pandemie deutlich geworden, was das Zuhause bedeutet: ein sicherer Rückzugsort, Ort der Gemeinschaft und des Arbeitens. Der Mehrzahl der Bewohner*innen ist diese Sicherheit mit der angekündigten Mieterhöhung genommen worden. Sie wird die verlangte Erhöhung schlichtweg nicht aufbringen können. Neben Einkommensverlusten und der Ansteckungsgefahr durch das Virus droht also eine weitere existentielle Sorge: das eigene Zuhause zu verlieren.13

Abbildung 4: Mieter*innen aus dem Hochhaus nehmen an der ›Mietenwahnsinn‹Demonstration im Oktober 2018 teil (Quelle: eigene Aufnahme).

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Zudem ist ernüchternd zu sehen, was uns die Modernisierung an ›Wohnwertverbesserungen‹ gebracht hat. Es wurden Arbeiten im Eingangsbereich, im Treppenhaus und den Etagenfluren durchgeführt sowie die Aufzüge ausgetauscht, um den Brandschutz des Hauses zu ertüchtigen. In den bewohnten Wohnungen sind aber immer noch die zugigen Holzfenster und abgewohnten Badezimmer ohne Belüftung aus den 1970ern zu finden. Außerdem zeugen die verwitterte Fassade und die nicht erneuerten Türen im Treppenhaus von der angekündigten Modernisierungsphase II, über deren Auftakt wir weiterhin im Unklaren gelassen werden. Es wird allerdings fraglicher, ob der ursprüngliche Investitionsplan tatsächlich aufgeht. Der Leerstand im Haus ist im Frühjahr 2020 auf circa ein Drittel angewachsen und die modernisierten Wohnungen lassen sich auf dem Frankfurter Wohnungsmarkt offenbar kaum vermieten. So stehen einige dieser Wohnungen seit August 2019 zur Vermietung zur Verfügung und sind ein Jahr später noch immer nicht bewohnt. In der Zwischenzeit wurden die Kaltmietpreise sogar um 200 € gesenkt (Stand Mai 2020) und es finden sich Hochglanzplakate am Frankfurter Hauptbahnhof, welche die freien Wohnungen bewerben – eine Maßnahme, die angesichts der sonst hohen Nachfrage am Frankfurter Wohnungsmarkt erstaunlich wirkt. Die Enttäuschung über die mangelnde Unterstützung seitens der Stadt Frankfurt und der Wissenschaftscommunity sowie die Blockadehaltung der Schader-Stiftung haben eine zermürbende Wirkung entfaltet. Diejenigen, die können, ziehen aus. Wir hätten uns zu Beginn der Auseinandersetzung nicht vorstellen können, dass die gemeinnützige Schader-Stiftung selbst gegenüber sozialen Härtefällen bis zuletzt nicht einlenkt und einigen von uns schlicht der Wohnungsverlust droht. Ein harter Kern an Bewohner*innen ist aber im Haus geblieben und die unter neuen Herausforderungen im Juni 2020 wieder aufgenommene monatliche Mieter*innenversammlung zeugt davon, dass die Auseinandersetzung in eine neue Phase eintritt (FAZ 04.06.2020). Die Mieterhöhungen zähneknirschend hinzunehmen, ist keine Option mehr. Die juristischen Angriffspunkte, die die Abrechnung der Modernisierungskosten bietet, werden wir nutzen. Jetzt liegen die Mieterhöhungen schwarz auf weiß vor und allen Beteiligten wird die Dringlichkeit zu handeln schmerzlich bewusst. Wir setzen darauf, dass dies neue Energien freigesetzt, um unser Recht auf ein Zuhause unabhängig von Einkommen und Herkunft zu verteidigen.

Kontakt zur Mieter*innen-Initiative: [email protected]

Endnoten 1

Die Autor*innen wohnen beziehungsweise wohnten selbst im Haus. Hinter dem ›Wir‹ verbergen sich eine Vielzahl weiterer Nachbar*innen. Verantwortlich für den Text sind aber ausschließlich die Autor*innen.

2

www.schader-stiftung.de/stiftung/zweck-und-ziele

3

Siehe www.instagram.com/hochhaus.roedelheim

4

So stellte eine Mutter, die ihren Lebensunterhalt vom Jobcenter bezieht, auf den Versammlungen immer wieder die Frage: »Und wie soll ich meinen Kindern das Essen zubereiten? Ich habe nicht das Geld, um jeden Tag auswärts zu essen!« Auf solche alltäglichen Probleme gab es von der VEGIS nie eine Antwort.

5 https://vegis-immobilien.de

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6

Verstärkt wird dieser Eindruck durch den Austausch mit unseren unmittelbaren Nachbar*innen aus dem gemeinschaftlichen Wohnprojekt ›Assenheimer Straße‹, wo die SchaderStiftung schon einmal gezeigt hat, wie ›sozial‹ sie als Vermieterin agiert (taz 16.01.2003). Bevor das Haus im Jahr 2006 über das Mietshäuser Syndikat gekauft und das Projekt so gerettet werden konnte, war es ebenfalls im Besitz der Stiftung. Diese drohte ihr in einem jahrelangen Rechtsstreit mit der Zwangsräumung, da sie den angebotenen Verkehrswert als Kaufpreis nicht akzeptierte und »nun mal die Gewinne der Stiftung maximieren müsse« (ebd.).

7 www.schader-stiftung.de/veranstaltungen/aktuell/artikel/sozialer-zusammen-

halt-in-der-stadt-was-kann-integrierende-stadtentwicklung-leisten/ 8

Dort erschien sogar der 91-jährige Stifter Alois Schader persönlich. Er verweigerte aber das Gespräch mit uns, wie im TV-Beitrag »Dicke Luft im Frankfurter Hochhaus« (RTL Hessen 2018b) eindrücklich zu sehen ist.

9

www.dvpw.de/fileadmin/user_upload/sek_politische_oekonomie/Tagungsbericht_PolOEk2018_Nachbeben.pdf

10

Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin (2018).

11

www.hessenschau.de/tv-sendung/hessenschau---ganze-sendung,video-75102.html

12

So erhielt eine Mietpartei nach dem Anbringen eines Protestplakats am Balkon umgehend eine Anzeige und Abmahnung (FAZ 04.06.2020).

13

Darüber hinaus gingen auch die Bauarbeiten in den leerstehenden Wohnungen, die nicht zu den abgeschlossenen Modernisierungsarbeiten zählen, in dieser Zeit unvermindert weiter.

Literaturverzeichnis Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin (2018): Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg und Deutsche Wohnen vereinbaren erneut Maßnahmen zur sozialverträglichen Sanierung, Pressemitteilung Nr. 48, https://www.berlin.de/ba-friedrichshain-kreuzberg/aktuelles/ pressemitteilungen/2018/pressemitteilung.687675.php (Zugriff: 04.12.2020). Böhler, Heike/Kayser, Max (2017): »Die Rückkehr der Wohnungsfrage? Ein Konferenzbericht«, in: Schader-Stiftung (Hg.), Die Rückkehr der Wohnungsfrage. Ansätze und Herausforderungen lokaler Politik, Darmstadt: Schader-Stiftung, S. 7–13. DFPA, Deutsche Finanz Presse Agentur (2018): Renaissance der Wohntürme in Deutschland – 30 neue Wohnhochhäuser bis 2023, https://www.dfpa.info/sachwertinvestments-news/renaissance-der-wohntuerme-in-deutschland-30-neue-wohnhochhaeuser-bis-2023.html (Zugriff: 09.06.2020). FAZ, Frankfurter Allgemeine Zeitung (04.06.2020): Protest gegen Mieterhöhungen: Kampf ums Brentano-Hochhaus, https://www.faz.net/1.6798861 (Zugriff: 25.06.2020). FAZ, Frankfurter Allgemeine Zeitung (20.05.2016): Viertel im Aufschwung: Last Exit Rödelheim, https://www.faz.net/1.4242771 (Zugriff: 09.06.2020). FR, Frankfurter Rundschau (06.09.19 2019): Rödelheim: Schader-Stiftung lenkt ein, https://www. fr.de/frankfurt/roedelheim-schader-stiftung-lenkt-12980033.html (Zugriff: 25.06.2020). FR, Frankfurter Rundschau (22.01.2019): Mieter fürchten um ihre Gesundheit, https://www.fr.de/ frankfurt/roedelheim-ort904342/mieter-fuerchten-ihre-gesundheit-11006962.html (Zugriff: 09.06.2020). Kirchhoff, Gudrun (2013): Internationale Stadtgesellschaft – Neue Herausforderungen für das Leben und Wohnen in unseren Städten, https://www.schader-stiftung.de/themen/ vielfalt-und-integration/fokus/internationale-stadtgesellschaft/artikel/internationale-stadtgesellschaft-neue-herausforderungen-fuer-das-leben-und-wohnen-in-unseren-st (Zugriff: 09.06.2020). RTL Hessen (2018a): Desolate Mietverhältnisse in Rödelheim, https://www.rtl-hessen.de/beitrag/ desolate-mietverhaltnisse-in-rodelheim-19065 (Zugriff: 25.06.2020). RTL Hessen (2018b): Dicke Luft im Frankfurter Hochhaus: Mieter und Schader-Stiftung im Konflikt, https://www.rtl-hessen.de/beitrag/dicke-luft-im-frankfurter-hochhaus-mieterund-schader-stiftung-im-konflikt (Zugriff: 09.06.2020). Taz, die tageszeitung (16.01.2003): Wie sozial ist die ›Soziale Stadt‹?, https://taz.de/!823211/ (Zugriff: 25.06.2020).

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Ein Erfolgsmodell: Die Nachbarschaftsinitiative Nordend-Bornheim-Ostend (NBO) Jürgen Ehlers

Mieterinitiativen verschwinden oft genauso schnell, wie sie entstehen. Oder sie existieren jahrzehntelang, sind aber nur noch ein blasses Abbild ihrer ursprünglichen Gründungsidee und sind kein Anziehungspunkt mehr für bedrängte Mieter*innen, die Rat suchen und um ihre Wohnung kämpfen wollen. Die Nachbarschaftsinitiative Nordend-Bornheim-Ostend in Frankfurt am Main (NBO) hat auch nach sieben Jahren nichts von ihrer Anziehungskraft verloren. Ihr Aktionsradius ist längst nicht mehr auf nur drei Stadtteile begrenzt. Das hat Gründe, die es wert sind, genauer betrachtet zu werden, weil die seit 2013 gesammelten Erfahrungen auch für andere von Bedeutung sein können, die in Initiativen gegen Mietervertreibung und für bezahlbaren Wohnraum kämpfen. Es geht dabei nicht um die Initiierung von Kampagnen durch Parteien, Gewerkschaften oder politische Netzwerke, sondern darum, Menschen zu ermutigen und zu befähigen, gemeinsam zu kämpfen. Die Entstehungsgeschichte der NBO ist schnell erzählt. Eine kleine Gruppe von nur drei Mietparteien wehrte sich gegen die Vertreibung aus ihren Wohnungen durch einen Umwandler, der den Altbau aus der Gründerzeit, in einem der begehrtesten Stadtteile Frankfurts gelegen, mit seinen vergleichsweise preiswerten kleinen Mietwohnungen in luxuriöse große Eigentumswohnungen umwandeln wollte. Darüber berichtete die Lokalpresse und schuf so die Voraussetzung dafür, dass die ersten Unterstützer*innen von außen – fast alles Mitglieder der Linkspartei – auf den Konflikt aufmerksam wurden. Die Kontaktaufnahme zu den Mieter*innen war mit dem Angebot verbunden, Unterstützung im Kampf gegen den Spekulanten zu leisten. Dazu wurden wöchentliche Treffen vereinbart. Der kurze Rhythmus und die Regelmäßigkeit haben sich als sehr wirksam erwiesen, um den Zusammenhalt zu stärken und schnell auf unerwartete Entwicklungen reagieren zu können. Der immer gleiche Wochentag machte es außerdem leicht, andere Interessent*innen auf die Treffen hinzuweisen, deren Attraktivität bis heute auf zwei Aspekten beruht, immer kurz und ergebnisorientiert sowie ein sozialer Treffpunkt zu sein. Die wöchentlichen Treffen haben sich schnell herumgesprochen, handfeste Erfolge blieben aber in den ersten Monaten trotz einiger öffentlichkeitswirksamer Aktionen aus. Die Bauarbeiten in dem Haus gingen weiter, die Wohnsituation für die Mieter*innen wurde immer belastender. Besonders für eine in der Gründungsphase befindliche Gruppe ist das sehr

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problematisch, weil es zu dem Zeitpunkt für die Initiative nur um das eine Haus ging und sie jeden Tag demonstriert bekam, dass sich ihr Widerstand nicht zu lohnen schien. Die Gruppe drohte sich aufzulösen. In dieser Phase zeigte sich, wie wichtig es war, dass die Treffen über Handzettel trotzdem immer weiter in Briefkästen und an Laternenmasten beworben wurden. Dadurch stieß eine sehr engagierte Mietergemeinschaft, die ebenfalls von Verdrängung bedroht war, zu der kleinen Kerngruppe. Damit war ein sehr wichtiges Etappenziel erreicht, weil sich mit den neuen Unterstützer*innen ein erster Erfolg der mühsamen Öffentlichkeitsarbeit zeigte. Sehr viele von Verdrängung bedrohte Hausgemeinschaften wollen gar nicht gemeinsam kämpfen, weil entweder die einzelnen Mietparteien nach einer individuellen Lösung suchen oder sich nicht trauen, Widerstand zu leisten. Dieses Problem ist besonders groß, wenn es sich um Menschen mit einem Migrationshintergrund handelt, die der deutschen Sprache nur eingeschränkt mächtig sind und ihre Rechte als Mieter*innen nicht kennen. Oder aber Betroffene holen sich auf den Treffen der NBO nur Ratschläge für den juristischen Widerstand gegen den Umwandler ab und wollen nicht die politische Dimension ihres Kampfes sehen. Das sind Widrigkeiten, mit denen alle Unterstützer*innen von Mieterinitiativen zu kämpfen haben, die ein gesellschaftspolitisches Anliegen mit ihrem Engagement verbinden, das über die Hilfe zur Selbsthilfe hinausweist. Hier werden die politischen Grenzen deutlich, die auch in der Vergangenheit von Mieterbewegungen nur in begrenztem Umfang überwunden worden sind. Wären alle zu Unterstützer*innen der NBO geworden, die im Laufe der letzten sieben Jahre mit ihren Problemen zu einem der vielen wöchentlichen Treffen gekommen sind (s. Abb. 1), das politische Gewicht der Mieterbewegung in Frankfurt wäre heute um ein Vielfaches höher.

Harter Kern und weiche Schale Trotzdem trifft sich inzwischen seit Jahren wöchentlich ein harter Kern von 20 – 30 Mieter*innen, der nicht nur neue Fälle berät, sondern sich auch seit 2015 mit politischen Forderungen und Aktionen an die Öffentlichkeit und an die im Stadtparlament und den Ortsbeiräten vertretenen Parteien wendet. Eine Erklärung für die erfolgreiche Entwicklung der NBO ist ihre Zusammensetzung, die ein bisschen den sozialen Querschnitt der Frank­ furter Wohnbevölkerung widerspiegelt und damit authentisch wirkt. Mit einer wichtigen Ausnahme: Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund ist sehr gering. Dieses Manko ist ein Indiz dafür, dass sich diese Mieter*innen aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen in Deutschland sehr schnell mit einer Opferrolle abfinden und sich aus ihrer Wohnung drängen lassen. Es sei denn, es gibt eine starke Hausgemeinschaft, die das auffangen kann. Aber die eigentliche Erfolgsbasis ist das Ergebnis einer beharrlichen Arbeit, die das Politische und das Soziale miteinander verknüpft. Das Soziale ist die gelebte Solidarität, die für die notwendige Nestwärme sorgt, um Menschen, die durch den drohenden Verlust ihrer Wohnung existenziell bedroht sind, den Rücken zu stärken. Die Nestwärme ohne die Verbindung mit politischer Arbeit wäre auf Dauer jedoch viel zu wenig gewesen. Die Initiative hätte sich möglicherweise zu einer rein karitativen Einrichtung entwickelt oder sich aufgelöst. Ob es zu einem gemeinsamen Widerstand von Mieter*innen in einem Haus kommt, hängt davon ab, ob es zu Beginn des Konfliktes bereits eine funktionierende Hausgemeinschaft gibt oder ob es möglich ist, innerhalb kurzer Zeit vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Bedrohung eine zu

Ein Erfolgsmodell: Die Nachbarschaftsinitiative Nordend-Bornheim-Ostend

entwickeln. Neben diesem sozialen Aspekt, den eine Hausgemeinschaft charakterisiert, spielt eine überzeugende Perspektive des gemeinsamen Widerstands eine entscheidende Rolle. Damit ist die Frage verbunden, ob es allen um das gleiche Ziel geht; oder will eine Mietpartei eigentlich sowieso ausziehen und hofft nur auf eine Abfindung und spricht das aber nicht offen aus, während die anderen auf jeden Fall ihre Wohnung behalten wollen. Darüber muss offen geredet werden können, denn davon hängt es ab, wie tragfähig die Solidarität untereinander ist. Das bedeutet, dass eine Vertrauensbasis geschaffen werden muss, die es ermöglicht, offen über Zweifel zu reden, ob sich der gemeinsame Kampf, der immer lange dauert und sehr belastend ist, am Ende wirklich lohnt. Geschieht das nicht, dann kann es schnell passieren, dass sich eine Mietpartei vom Eigentümer herauskaufen lässt und damit die Position aller anderen entscheidend schwächt. Während des gemeinsamen Kampfes muss deswegen immer wieder überprüft werden, ob eine veränderte Situation es erforderlich oder ratsam macht, das Ziel des Kampfes zu korrigieren. Geschieht das nicht, kann das in eine Niederlage führen, dann haben die Mieter*innen zwar das Mitgefühl und die Presse auf ihrer Seite, stehen aber vielleicht mit leeren Händen da. Eine Korrektur des Kampfzieles nach unten fühlt sich mit Blick auf den politischen Anspruch der Unterstützer*innen von außen, aber auch für die betroffenen Mieter*innen wie eine Niederlage an. In manchen Fällen ist die Auflösung des Mietverhältnisses zwar durch sehr hohe Abfindungen versüßt worden, die der Spekulant nach langem Ausharren der Mieter*innen bereit war zu zahlen, um endlich ungehindert mit seinem Projekt zu Ende zukommen, aber das eigentliche Ziel – die Wohnung zu halten – ist eben nicht erreicht worden. Wie sich diese Niederlage auf eine Initiative auswirkt, hängt entscheidend davon ab, ob es sich um einen geordneten Rückzug handelt, um an anderer Stelle wieder angreifen zu können, oder einfach nur um ein klein beigeben.

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Böhmerstraße 4 Berger Straße 155 Böttgerstraße 2 Böttgerstraße 18 Burgstraße 70-74 Dahlmannstraße 20 Fichardstraße 45 Friedberger Landstr. 117 Friedrichstr. 50 Germaniastraße 30 Gluckstraße 29 Grüne Straße 30 Hebelstraße 23 Heidestraße 24 Humboldtstraße 3 Keplerstraße 14 Kinkelstraße 9 Lersnerstraße 7 Linnéstraße 31 Luisenplatz 28 Martin-Luther-Straße 61 Martin-Luther-Straße 63 Martin-Luther-Straße 62 Mercatorstraße 27 Neuhofstraße 9 Prüfling 62 Saalburgstraße 3 Schoppenhauer Str. 11

Farmakis Alon Meyer Franconofurt Franconofurt/Bauwerte Herle Architekten Mainopolis City 1 Property Franco-Habitat Franconofurt/Bauwerte Vesta Immobilien ? Petrovic und Anastaidis Grüneburg Invest Bock und Stahl-Bock Aspera Beteiligungsberatung Brazel, Stuttgart Erbengemeinschaft Franconofurt Meyer, Wiesbaden Primo-Select Franconofurt/Bauwerte Franconofurt Franconofurt/Stennen Holding Farmakis Zwangsversteigerung Franconofurt Franconofurt Farmakis

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Abbildung 1: Von der NBO unterstützte Hausgemeinschaften und Mieter*innen , Stand 2019 (Quelle: NBO; Karte: Elke Alban).

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Schwarzburgstraße 54 Phenecia Real Estate Schwarzburgstraße 67 Franconofurt Schwarzburgstraße 70 Dr. Oelschläger Spessartstraße 2 Appel Weberstraße 12 Tanja Jost/Franco-Habitat Weiherstraße 50 Franconofurt/Bauwerte Wielandstraße 34 ? Wingertstraße 21 Rohleder und Paz Darmstädter Landstr. 27-31 Franconofurt Konrad-Boßwitz-Str. 39 ? Mörfelder Landstr. 118 Franconofurt

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Kämpfe und Initiativen

Frankfurter Erklärung Ob es gelingt, die politischen Kräfteverhältnisse nach links zu verschieben, um Verbesserungen im Interesse aller Mieter*innen in der Wohnungspolitik durchzusetzen, hängt von vielen Faktoren ab, die weder die Mieter*innen noch die Unterstützer*innen von außen alle in der Hand haben. Die Skandalisierung einer Vertreibung von Mieter*innen durch Presseartikel und das Auftreten der Betroffenen in politischen Gremien als erste Schritte sind wichtig, führen aber in der Regel noch nicht zu konkreten Ergebnissen, die über geheucheltes Mitgefühl und unkonkrete Hilfsangebote hinausgehen. Erst wenn die Betroffenen auf die politische Verantwortung für die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die von Spekulant*innen genutzt werden, hingewiesen und mit dem Verlangen nach sofortiger Unterstützung für ihr Anliegen verbunden haben, entsteht beim politischen Establishment der Eindruck: Die meinen es ernst und wissen, wovon sie reden. Aber nur wenn die Betroffenen ihre Forderungen selbst vorbringen, entsteht Druck auf die Parlamentarier*innen. Wenn politische Unterstützer*innen von außen als Stellvertreter*innen auftreten, wird immer wieder versucht werden, sie zu ignorieren, sie politisch zu isolieren und zu diskreditieren. Das eigentliche Anliegen bleibt dabei schnell auf der Strecke. Die Unterstützung von außen muss sich deswegen darauf konzentrieren, den Menschen Mut zu machen, ihre Stimme zu erheben, und sie auf das, was sie dabei erwartet, gut vorzubereiten. Die Erfahrung zeigt, dass der Kontakt mit der harten sozialen Realität etwas ist, mit dem die meisten politischen Repräsentant*innen nicht umgehen können. Sie fühlen sich in parlamentarischen Sitzungen mit festen Regeln und vielen Akten sicher und geborgen. Wenn sie plötzlich in ihrer Rolle als gewählte Volksvertreter*innen mit dem Vorwurf konfrontiert werden, die eigene Wählerschaft im Stich zu lassen, ist das für sie eine völlig ungewohnte Situation. Die daraus resultierende partielle Verunsicherung führt zwar noch nicht sofort zu konkreten Ergebnissen, löst aber Diskussionen vor allem in den Parteien aus, die noch über einen Flügel verfügen, der einen sozialen Anspruch vertritt. Das Wichtigste aber ist, dass die Menschen, die das erste Mal in der Öffentlichkeit reden, die Erfahrung machen, dass ihr Auftreten eine Wirkung hat. Das öffentliche Auftreten für die eigenen Belange kann deswegen Lust auf mehr machen und das Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein stärken. Das Gefühl, dass es sich lohnt zu kämpfen, braucht über den Einzelfall hinaus eine Verallgemeinerung von Forderungen, mit denen politische Ziele abgesteckt werden, die einen Beitrag dazu leisten können, die Misere am Wohnungsmarkt wenigstens etwas zu entschärfen. Die 2014 diskutierte und 2015 veröffentlichte ›Frankfurter Erklärung‹ der NBO, die auch von anderen Mieterinitiativen mitgetragen worden ist, erfüllte genau diese Aufgabe. Die Forderungen nach Milieuschutzsatzungen, dem Verbot Wohnraum leer stehen zu lassen und Miet- in Eigentumswohnungen umzuwandeln und einer massiven Verstärkung des sozialen Wohnungsbaus sind auch schon von anderen erhoben worden. Der Unterschied besteht in der Präambel, weil sie die wohnungspolitischen Forderungen mit einem Aufruf zum sofortigen Handeln verbindet: »Wir stellen uns mit dieser Erklärung nicht nur vor alle Mieterinnen und Mieter, die von Vertreibung bedroht sind, sondern wir bieten auch ausdrücklich unsere Unterstützung an und fordern alle von Vertreibung betroffenen Mieter auf, sich uns anzuschließen. […] Die Umwandler und ihre Methoden müssen öffentlich gemacht werden.«

Ein Erfolgsmodell: Die Nachbarschaftsinitiative Nordend-Bornheim-Ostend

Zahlreiche Einzelpersonen ohne Parteibuch, darunter auch Prominente, sowie Funktionsträger*innen und Mitglieder der SPD und der Linken, Migrantenvereine, die DIDF Frankfurt, Frauen helfen Frauen, ver.di-Vertrauensleute und viele andere mehr haben diese ›Frankfurter Erklärung‹ unterschrieben. Die Aufforderung zum Handeln ist als solche verstanden worden und hat dazu geführt, dass Vertreter*innen der Grünen, die den eigenen Planungsdezernenten damit unterstützten wollten, die Erklärung nicht unterzeichnet haben. Bis heute hat diese für die NBO die Bedeutung eines kleinen Manifestes. Das Signal nach außen war klar, uns reichen keine warmen Worte, wir wollen endlich Taten sehen. Fast alle Parteien waren sich bis dahin darin einig, dass der Rückzug des Staates aus der Wohnungspolitik, der nicht erst in den 1980er Jahren eingesetzt hatte, aber zu der Zeit noch einmal beschleunigt worden ist, richtig gewesen ist. Die Niedrigzinspolitik der EZB seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 wirkt bis heute wie ein Brandbeschleuniger auf dem Immobilienmarkt und hat die verheerenden Folgen der Liberalisierung des Wohnungsmarkts, an der CDU, SPD, Grüne und ein Teil der Linken mitgewirkt haben, schonungslos offengelegt (—Schipper/Heeg in diesem Band). Durch die niedrigen Zinsen und die Suche nach sicheren und gleichzeitig hochprofitablen Anlagemöglichkeiten wird der Verdrängungsprozess durch Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen oder das Herausmodernisieren beschleunigt. Von dieser verheerenden Entwicklung sind auch Mitglieder der CDU, der Grünen und der SPD betroffen oder erfahren davon aus ihrem sozialen Umfeld, was die kontroversen Diskussionen in deren eigenen Reihen verstärkt hat.

Etappensieg – Mietenstopp Der linke Flügel der Frankfurter SPD hat daraus die Konsequenz gezogen, darin eine Chance zu sehen, wieder in die Rolle des ›Anwalts der kleinen Leute‹ zu schlüpfen. Mit dem Thema Wohnungspolitik hat Peter Feldmann 2012, wie er selbst seitdem immer wieder betont, die Wahl zum Oberbürgermeister gewonnen. Bis 2014 hatte er zu dem Thema keine Erfolge vorzuweisen und stand unter dem wachsenden Erwartungsdruck seiner Wähler*innen. Die NBO wollte das ausnutzen und hat ihn zu einem Pressetermin in eines der Häuser eingeladen, das noch von den ursprünglichen Mieter*innen bewohnt war, während die Umbauarbeiten durch den Umwandler bereits begonnen hatten. Feldmann war auf der Suche nach einem pressewirksamen Auftritt, um sich vor Mieter*innen, die von Vertreibung bedroht waren, als ›Anwalt der kleinen Leute‹ zu repräsentieren und nahm die Einladung gerne an. Wie zu erwarten war, beklagte er das rücksichtlose Vorgehen des Spekulanten, um dann anzuschließen, dass er leider keine Möglichkeit sehe, etwas Wirksames dagegen zu unternehmen. Dieses Szenario entsprach genau der Vordiskussion auf einem der wöchentlichen Treffen der NBO. Diese Diskussion hatte zum Ergebnis, dass der Pressetermin des OB mit einer Unterschriftenkampagne für einen Mietenstopp, organisiert von Mieter*innen der städtischen Wohnungsbaugesellschaft ABG Frankfurt Holding, in Verbindung gebracht werden sollte (s. Abb. 2). Das gelang deswegen, weil der OB vor laufenden Kameras und Journalist*innen mit der Forderung und der Bitte um Unterstützung konfrontiert wurde. Er musste sich, um glaubhaft zu sein, damit auseinandersetzen, ist doch der OB – Kraft seines Amtes – der Vorsitzende des Aufsichtsrates der städtischen Wohnungsbaugesellschaft. Die sehr kleine Initiative der Mieter*innen war unabhängig von der NBO

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Abbildung 2: ABGMieter*innen übergeben Oberbürgermeister Peter Feldmann ihre Forderung für einen Mietenstopp, 04.02.2014 (Quelle: Annette Sievers).

entstanden, weil die ständigen Mieterhöhungen der ABG dazu geführt hatten, dass Mieter*innen um ihre Wohnung fürchteten, weil sie diese aufgeben müssten, falls es zu weiteren Erhöhung kommen sollte. Das ist das vielleicht eindrucksvollste Beispiel in der Geschichte der NBO dafür, wie wichtig Diskussionen sind, die versuchen, das eigene Vorgehen zum Durchsetzen von Forderungen zu den politischen Rahmenbedingungen in Beziehung zu setzen. Die Überlegung war, wenn die kommunale Wohnungsbaugesellschaft das wirksamste Instrument gegen Vertreibung und Mietwucher sein kann, dann muss es auch sofort eingesetzt werden. Die Initiative der Mieter*innen aus der ABG-Siedlung und ihr Auftreten gegenüber dem OB war der Beginn einer erfolgreichen Kampagne für einen Mietenstopp bei der ABG-Frankfurt Holding. Der OB erkannte die Chance für sich, endlich einen ersten wohnungspolitischen Erfolg vorweisen zu können, machte sich die Forderung zu eigen und spannte die sozialdemokratische DGB-Führung zu seiner Unterstützung mit einer eigenen Unterschriftenkampagne ein. Fast zwei Jahre lang war die Forderung nach einem Mietenstopp ein wichtiges Element im gemeinsamen Kampf der Frankfurter Mieterinitiativen und der Gruppe ›Eine Stadt für alle! Wem gehört die ABG?‹, unterstützt durch öffentlichkeitswirksame Aktionen sowie durch Beiträge in Form von Presseinterviews und Publikationen von Wissenschaftler*innen.

CDU und Geschäftsführung der städtischen Wohnungsbaugesellschaft gaben angesichts des großen Zuspruchs beim Sammeln der Unterschriften, der sehr hohen Gewinne der ABG, die in den veröffentlichten Bilanzen seit vielen Jahren ausgewiesen wurden, und einer Demonstration von Mieter*innen kurz vor der Kommunalwahl 2016 ihren monatelangen Widerstand auf. Seitdem gibt es diesen Mietenstopp, der ursprünglich nur auf fünf Jahre begrenzt war, inzwischen aber bis zunächst 2026 verlängert worden ist.

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An der konkreten Umsetzung (maximal 1 % Mieterhöhung pro Jahr) gab es berechtigte Kritik. Der größte Schwachpunkt aber ist bis heute, dass es mit dem Mietenstopp keine Absenkung der Miete für Menschen gibt, deren Einkommen so gering sind, dass sie Anspruch auf eine Sozialwohnung haben. Die Mieten in den vielen Wohnungen der ABG, die in den meisten Fällen einmal Sozialwohnungen gewesen sind, die heute aber nicht mehr der Mietpreisbindung unterliegen, sind so hoch, dass die Mieter*innen in einigen Fällen an ihre Ersparnisse gehen müssen. Das Wissen darum und die Mitarbeit von Betroffenen bei der NBO waren die Gründe dafür, dass die NBO die Forderung nach einer Mietsenkung mit in den Forderungskatalog des Mietentscheids eingebracht hat (—Hahn/Hemmerich in diesem Band). Diese Forderung ist von großer Bedeutung, weil ihre Umsetzung eine unmittelbare und sofortige Auswirkung für viele Menschen hat und ist mit Sicherheit für viele ein wichtiger Grund gewesen, den Mietentscheid mit ihrer Unterschrift zu unterstützen.

Stabstelle Mieterschutz Eine der wichtigsten Spielregeln bei allen Aktivitäten ist, dass es keine Stellvertreteraktionen gibt. Die NBO will keine Dienstleisterin sein, sondern bietet Hilfe zur Selbsthilfe. Eine Ausnahme von dieser Regel ist, dass bestimmte Aktionen den betroffenen Mieter*innen in der Auseinandersetzung mit den Eigentümer*innen, vor allem bei laufenden Gerichtsverfahren, schaden können und sie deswegen im Hintergrund bleiben müssen. Eine weitere Regel lautet, dass Informationen zu einem Konflikt um ein Haus nur dann über politische Auseinandersetzungen an die Öffentlichkeit getragen werden, wenn ausnahmslos alle betroffenen Mieter*innen dem zustimmen. Das ist verständlich, weil alle Mieter*innen die daraus folgenden Konsequenzen mittragen müssen. Das bedeutet aber, dass gegebenenfalls eine einzige Mietpartei allein eine Öffentlichkeitsarbeit blockieren kann. Das parteiische Verhalten von Mitarbeiter*innen der Bauaufsicht und des Wohnungsamtes, das in der Empfehlung eines städtischen Vertreters gegenüber den drangsalierten Mieter*innen mündete: »Sie müssen sich daran gewöhnen, dass sie auf einer Baustelle wohnen«, blieb so ohne Folgen. Damit wurden durch Fotos belegte Beschwerden über nicht passierbare Treppenhäuser und funktionslose Badentlüftungen beiseitegeschoben, anstatt dem Eigentümer entsprechende Auflagen zu machen und Verstöße dagegen mit einem sofortigen Baustopp und einem Bußgeld zu ahnden. Mit diesem Verhalten spielten die Fachämter den Umwandlern in ganz Frankfurt jahrelang in die Hände. Dem Zeitungsartikel, der diesen Skandal ausführlich behandelt hätte, wäre eine Welle der Empörung gefolgt und der OB als Chef der Kommunalverwaltung wäre unter Rechtfertigungsund Handlungsdruck geraten. Auf Grund dieser Erfahrungen mit Bauaufsicht und Wohnungsamt ist von der NBO schon sehr früh die Forderung nach einer ›Taskforce‹ zum Mieterschutz erhoben worden, die von der Stadt finanziert, aber unabhängig von der kommunalen Verwaltung sein sollte, vergleichbar einem Anwaltsplaner. Den gab es früher in einigen Sanierungsgebieten, der wurde zwar auch von der Stadt finanziert, seine politische Legitimation resultierte aber viel stärker aus seinem Engagement für die Betroffenen, weil er nicht Teil der städtischen Verwaltungsstrukturen war. Daraus ist 2019 die sogenannte ›Stabstelle Mieterschutz‹ geworden, die Teil der Verwaltung ist, aber bei aller Kritik durchaus ihre Wirkung hat. Sie leitet bedrängte Mieter*innen durch den Behördendschungel und macht es den Mitarbeiter*innen von

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Bauaufsicht und Wohnungsamt schwerer, bei Problemen von Mieter*innen, mit der Behauptung, nicht zuständig zu sein, abzutauchen. Die unregelmäßig stattfindenden Treffen zwischen Vertreter*innen der Stabstelle und der NBO ermöglichen eine Überprüfung, inwieweit diese Institution die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt, weil die wichtigen Konfliktfälle in der Regel bekannt sind. Diese Stabstelle wäre möglicherweise schneller gekommen, hätte vielleicht einen anderen Charakter und würde vor allem von CDU und FDP nicht so vehement bekämpft, wenn die Passivität und die in einigen Fällen offene Parteinahme von Teilen der Ämter für das rücksichtlose Verhalten von Spekulanten öffentlich gemacht worden wären.

Fazit Aus dem Kampf von Mieter*innen um ihre Wohnung folgt nicht automatisch ein kritischer Blick auf den Kapitalismus, das ist auch in der NBO nicht anders. Der Blick auf unsere Gesellschaft bleibt widersprüchlich. Die Spekulant*innen werden nicht immer als Produkt einer kapitalistischen Stadtentwicklungs- und Wohnungspolitik gesehen. Sie werden stattdessen als Hausbesitzer*innen wahrgenommen, die ihre Mieter*innen schlecht behandeln, so wie es auf der anderen Seite auch Hausbesitzer*innen gibt, die ihre Mieter*innen gut behandeln. Oder es werden Genossenschaften als Gegenentwurf zum individuellen Hausbesitz empfohlen, ohne zu sehen, dass mangelnde Kontrolle des Vorstandes durch die Mitglieder dazu führen kann, dass auch Genossenschaften der Versuchung erliegen, renditeorientiert zu handeln. Genossenschaften sind außerdem auch auf preiswerte Grundstücke und eine Subventionierung der Baukosten angewiesen, wenn ihr Wohnraum wirklich bezahlbar sein soll. Es kommt also vor allem darauf an, dass diese entsprechenden politischen Rahmenbedingungen durchgesetzt werden. Die Diskussionen um den politischen Stellenwert und die Perspektiven von Mieterinitiativen wurden bereits in den frühen 1970er Jahren geführt und unterscheiden sich im Kern nicht von den heutigen. Die Arbeit der Unterstützer*innen von außen ist immer mit der Hoffnung verbunden gewesen, Menschen über Konflikte, ausgelöst durch einen drohenden Verlust der Wohnung oder den Mangel an bezahlbarem Wohnraum, politisieren zu können. Mit der Politisierung ist zudem stets die zweite Hoffnung verknüpft gewesen, dass ein Prozess initiiert wird, an dessen Ende die Erkenntnis steht, dass der Kapitalismus als Ursache allen Übels überwunden werden muss. Der gemeinsame Kampf verändert bei allen, die sich in einer Mieter­ initiative engagieren, den Blick auf die Welt, weil das eigene Leben völlig unerwartet aus den Fugen zu geraten droht. Aber diese veränderte Sicht ist zunächst vor allem von einer tiefen Enttäuschung und Verunsicherung bestimmt, weil man die böse Erfahrung macht, wie schnell soziale Sicherheit im Kapitalismus verloren gehen kann. Eine in dieser Krisensituation dringend notwendige Soforthilfe wird aus verständlichen Gründen zunächst nicht in einer langfristigen Perspektive, an deren Ende die Überwindung des Kapitalismus steht, gesucht. Das ist das Einfallstor für Reformismus und Stellvertretertum, über das die SPD versucht, verloren gegangenen Boden gutzumachen. Auch die Linke ist nicht völlig frei davon, in ihren Reihen gibt es unterschiedliche Vorstellungen, welchen Stellenwert man Bewegungen beimisst und wie man sich ihnen gegenüber verhält. Vorherrschend ist die Vorstellung, dass Bewegungen zur Unterstützung der parlamentarischen Arbeit sehr nützlich sein können, aber nicht die Voraussetzung sind, um die politischen Kräfteverhältnisse nach links zu verschieben. Davon ist auch das Auftreten gegenüber Initiativen geprägt. Bei Regierungsbeteiligungen

Ein Erfolgsmodell: Die Nachbarschaftsinitiative Nordend-Bornheim-Ostend

führt das immer wieder zum Verrat an Forderungen, die man vorher noch gemeinsam mit Initiativen aufgestellt hat. Die gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen, unter denen Mieter­ initiativen entstehen und auch wieder verschwinden, müssen mitbetrachtet werden, wenn man den darin engagierten Menschen gerecht werden will. Es gibt ein krasses Missverhältnis zwischen der breiten Zustimmung, die man erfährt, wenn man mit dem Thema ›Wohnen‹ auf die Straße geht, und der geringen Bereitschaft, sich dafür auch zu engagieren. Die Versuchung ist groß, darauf entweder mit Publikumsbeschimpfung oder Voluntarismus zu reagieren, beides führt in eine Sackgasse. Das krasse Missverhältnis spiegelt die wachsenden sozialen Verwerfungen auf der einen und den Verlust der Vorstellung, dass es sich lohnt zu kämpfen, auf der anderen Seite wider. Das ist Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre anders gewesen; der Blick zurück zeigt aber auch, dass es auch damals keine zwangsläufige Entwicklung vom Kampf der Mieter*innen um die unmittelbaren eigenen Interessen hin zu einem Klassenbewusstsein gab. So gab es 1973 in Frankfurt einen von Mieterräten aus fünf Stadtteilen getragenen erfolgreichen Mietstreik bei zwei kommunalen Wohnungsbaugesellschaften, um Mieterhöhungen infolge von Modernisierungen zu deckeln. Der Versuch der Mieterräte, die Mieter*innen für ein weiterführendes Engagement in der Wohnungspolitik und eine Solidarisierung mit den parallel laufenden Hausbesetzungen zu gewinnen, scheiterte aber. Auch die NBO besetzt keine leer stehenden Häuser, blockiert keine Baustellen von Luxuswohnungen oder stört die Stadtverordnetenversammlung, auch wenn das starke angemessene Signale wären, um zu zeigen, dass es so wie bisher nicht weitergehen darf. Da sich die soziale und politische Situation heute wesentlich von der zu Beginn der 1970er Jahre unterscheidet (—Engelke in diesem Band), lässt sich die weitere Entwicklung nicht aus der damaligen ableiten. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind seitdem sehr instabil geworden, die sozialen Spannungen haben zugenommen und die Identifikation mit dem kapitalistischen System schwindet. Mieterinitiativen, so wie andere Initiativen auch, sind deswegen eine Chance, die Basis für eine Verbreiterung und damit Stärkung von Widerstand gegen die Folgen des Kapitalismus in allen Lebensbereichen zu legen. Diese Chance zu nutzen, bedeutet vor allem, die Selbstaktivität und das sich Organisieren für den gemeinsamen Kampf von Menschen zu unterstützen sowie politische Perspektiven aufzuzeigen, die das Übel an der Wurzel packen.

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Frankfurt Westhausen – Prekäres Wohnen und Prozesse politischer Kollektivierung Falk Künstler

Einleitung Eine Skizze der wohnungspolitischen Situation von einkommensschwachen Haushalten in deutschen Großstädten wie Frankfurt ergibt etwa folgendes Bild: Das zu geringe Angebot auf den städtischen Wohnungsmärkten wird überwiegend um teuren Wohnraum ausgeweitet. Durch den liberalisierten Handel mit Wohnraum wirken rasante Aufwertungsdynamiken und explodierende Mietpreise auf die Wohnraumversorgung in innerstädtischen Gebieten ein und verursachen eklatante Verdrängungsprozesse (Schipper 2018: 21). Das verbliebene Angebot an sozialem Wohnungsbau dezimiert sich immer weiter, da der Neubau die aus der Bindung fallenden Wohnungen bei weitem nicht aufwiegt und noch vorhandene Bestände nicht langfristig geschützt werden (ebd. : 99 f.). Die betroffenen Bürger*innen selbst sehen sich oft zusätzlich den Implikationen neoliberaler Arbeitsmärkte und damit prekären Beschäftigungsverhältnissen, Lohnstagnation sowie privatisierten Risiken ausgesetzt (Nachtwey 2016: 120 ff.). Anstatt Verdrängungsprozesse effektiv zu stoppen und sozialen und günstigen Wohnraum in angemessenem Ausmaß voranzutreiben, lassen Großstädte ihre politischen und stadtplanerischen Einflussmöglichkeiten oftmals weiterhin ungenutzt (—Schipper/Heeg in diesem Band). Knapp die Hälfte aller Mieter*innen in Frankfurt haben in dieser Situation bereits Anspruch auf eine Sozialwohnung gemäß den Einkommensgrenzen des Hessischen Wohnraumfördergesetzes (Schipper 2018: 83). Für einen großen Teil der Bevölkerung in Großstädten funktioniert das aktuelle Modell der Wohnraumversorgung damit nicht und weist gravierende Missstände auf. Diese Feststellung bestärken gut besuchte Demonstrations­veranstaltungen (zum Beispiel des ›Aktionsbündnisses gegen Mietenwahnsinn‹), die hohe Resonanz auf Aktionen wohnungspolitischer Initiativen in Großstädten (zum Beispiel: ›Frankfurter Mietentscheid‹, ›Deutsche Wohnen & Co Enteignen‹, ›Kotti & Co‹) und ein starkes mediales Interesse an der Thematik. Angesichts der offensichtlichen Missstände, der massenhaften Betroffenheit von Wohnungsnot und der existenziellen Bedrohung, die der Verlust des eigenen Wohnraums für viele Menschen bedeutet, erscheint das politische Aufbegehren gegen die fehlgeleitete Wohnungspolitik und profitorientierte Wohnungswirtschaft gesamtgesellschaftlich betrachtet jedoch verblüffend schwach ausgeprägt. Wieso werden nicht die Bevölkerungsteile öfter politisch sichtbar, deren materielle Bedürfnisse strukturell übergangen werden?

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Kämpfe und Initiativen

Bestehende mietenpolitische Initiativen rekrutieren sich immer noch überwiegend aus Mieter*innen der Mittelschicht. Gerade marginalisierte Bevölkerungsgruppen, für welche die aktuelle wohnungspolitische Lage häufig existenzgefährdend ist, scheinen an diesen selten zu partizipieren. Den Ausgangspunkt dieses Textes bildet deshalb die Frage, weshalb gesamtgesellschaftlich nicht häufiger ein Aufbegehren gegen die wohnungspolitische Situation zu beobachten ist. Verschiedene sozialwissenschaftliche Forschungsfelder schließen an diese Frage an – beispielsweise stadtgeographische Arbeiten zu Gentrifizierung, aber auch Untersuchungen neuer sozialer Bewegungen mit Wohnraumbezug. Die einschlägigen Arbeiten haben jedoch einen ›blinden Fleck‹, der ihnen gemeinsam ist: Ausgeklammert finden sich meist die betroffenen Subjekte selbst beziehungsweise die Frage danach, wie sie als Betroffene von Verdrängung und prekären Wohnsituationen mit dieser spezifischen Situation umgehen; vor allem, wenn aus dieser keine wahrnehmbar politische Reaktion hervorgeht. Sozialstrukturanalytische Befunde diagnostizieren prekär lebenden Menschen bereits in anderen Zusammenhängen, dass diese häufig von sozialer Desintegration betroffen sind, oftmals isoliert leben, Resignation zeigen und sich politisch kaum organisieren würden (Hoffmann 2009: 320; Böhnke 2010). Doch solche Befunde haben wenig Aussagekraft darüber, was prekäre Wohnverhältnisse oder eine akut bedrohte Wohnsituation unter Betroffenen tatsächlich auslösen, welche Handlungs- und Denkmuster sie anstoßen, festigen oder auch aufbrechen. Abseits von theoretischen Überlegungen zu Prekarität, zu politischen Subjekten und Politisierungsprozessen stellt dieser Beitrag1 deshalb den Versuch dar, empirisch einmal genauer hinzuschauen. Im Folgenden werden die speziellen Bedingungen prekärer Wohnverhältnisse für politische und kollektive Reaktionen von Mieter*innen in einem mikrosoziologischen Verfahren am Fallbeispiel Westhausen in Frankfurt untersucht. Die Entscheidung, die Analyse auf eine konkrete Wohnsiedlung zu fokussieren, in welcher potenziell Verdrängungsprozesse, aber auch anders geartete Formen prekären Wohnens anzunehmen sind, resultiert aus methodischen Überlegungen. Gerade von Verdrängung betroffene Personen sind – dies bedingt das Forschungsfeld selbst – schwer aufzufinden, insbesondere dann, wenn sie politisch nicht in Erscheinung treten. Meine Arbeit schließt an eine Studie Lisa Vollmers zu »Mieter_innenbewegungen in Berlin und New York« (2019) an, in der sie eine äußerst aufschlussreiche Darstellung erfolgreicher politischer Kollektivierungsprozesse liefert, die als Vorbild für zukünftige Formierungsprozesse von Mieter*inneninitiativen dienen können. Ich widme mich dagegen einer Frage, die auch nach der Arbeit Vollmers noch eine Leerstelle darstellt: Weshalb gelingt die kol­lektive Organisierung von Mieter*innen in prekären Wohnsituationen so selten?

Die Siedlung Westhausen Innerhalb der Wohnsiedlung Westhausen – deren größter Teil sich bislang noch in der Hand der städtischen beziehungsweise landeseigenen Wohnungsgesellschaften ABG Frankfurt Holding und Nassauische Heimstätte befindet – wurden 2002 insgesamt 260 Wohneinheiten privatisiert und gehören aktuell dem größten deutschen Immobilienkonzern Vonovia SE. Im Gegensatz zum älteren Siedlungsteil aus der Ära des Frankfurter Städtebauprogramms ›Neues Frankfurt‹2 wurden die hier betrachteten Wohneinheiten in den 1950er Jahren in Plattenbauweise errichtet. Nach Jahren vernachlässigter Instandhaltungsmaßnahmen durch die private Eigentümerin ist der

Frankfurt Westhausen – Prekäres Wohnen und Prozesse politischer Kollektivierung

bauliche Zustand der Häuser zum Zeitpunkt meiner Feldforschung äußerst schlecht – dazu gehören beispielsweise nasse Keller, bröckelnde Fassaden, rostige Geländer, kaputte Briefkästen oder Sprechanlagen. Ende 2018 werden die Mieter*innen benachrichtigt, dass umfangreiche Baumaßnahmen stattfinden sollen. Dabei handelt es sich allerdings nicht um die seit Jahren von Bewohner*innen eingeforderten Instandhaltungen, welche von der Vermietungsgesellschaft selbst zu finanzieren wären, sondern vor allem um Modernisierungen. Diese beinhalten den Austausch von Fenstern und Eingangstüren, Wärmedämmung oder größere Balkone. Die Kosten sollen nach Abschluss der Arbeiten auf die Mieter*innen umgelegt werden, woraus monatliche Mieterhöhungen von circa 60 bis 120 € pro Wohneinheit resultieren. Um die angekündigten Maßnahmen zu diskutieren, trifft sich, auf Initiative eines in der Siedlung tätigen Sozialarbeiters sowie der Mitarbeiterin eines Frankfurter Mieterschutzvereins, im Dezember 2018 erstmalig eine Gruppe von Mieter*innen. Dieses Treffen bildet den Startpunkt der Mieter*inneninitiative Westhausen.

Methodisches Vorgehen Um mich meinem übergeordneten Forschungsinteresse anzunähern, erhob ich im Zeitraum von April 2019 bis Januar 2020 in teilnehmender Beobachtung und verschiedenen Interviewformaten empirische Daten. Die Modernisierung startete kurz nach Beginn meiner Feldforschung. Der inhaltliche Fokus der empirischen Forschung liegt auf den individuellen Lebensrealitäten von Mieter*innen der Siedlung Westhausen, darauf, wie sie ihre Wohnsituation wahrnehmen, welche Erwartungen und Annahmen sie mit der Frage nach Wohnraum verbinden und welche individuellen Handlungsmöglichkeiten sich ihnen darstellen. Ziel ist, mehr darüber zu erfahren, wie (wohnungs-)politische Handlungsfähigkeit entsteht und welche konkreten Denk- und Handlungsmuster ihr entgegenwirken.

Wirkungsweisen sozialstruktureller Faktoren Von besonderem Einfluss hinsichtlich der Beurteilung der aktuellen Wohnsituation sowie der bereits begonnenen, umfangreichen Modernisierung der Siedlung zeigen sich im Westhausener Fallbeispiel sozialstrukturelle Merkmale und unterschiedliche persönliche Ressourcen der Mieter*innen. Ein erster Überblick ergibt bereits, dass innerhalb des Siedlungsteils überdurchschnittlich viele Personen(-gruppen) wohnen, die aus Sicht der Wohnungsforschung als tendenziell von Verdrängung gefährdete Haushalte angesehen werden müssen – Geringverdiener*innen, alleinstehende ältere Menschen, alleinerziehende Haushalte, aber auch einkommensschwache Familien mit mehreren Kindern. Zugleich wird deutlich, dass die Bewohner*innen­ struktur Westhausens nach sozioökonomischen Gesichtspunkten als äußerst heterogen eingestuft werden muss und homogenisierende Zuschreibungen wie, dass es sich um ein insgesamt ›sozial schwaches Viertel‹ handele, als widerlegt gelten können. Obwohl eine Aussage über das Durchschnitts­ einkommen der betroffenen 260 Haushalte aufgrund meiner qualitativen Erhebungsmethode schwerfällt, ergibt sich der Befund, dass die Einkommen der Bewohner*innen in sehr vielen Fällen mit persönlichen Merkmalen wie Alter und nationaler Herkunft zu korrelieren scheinen. Insbesondere ältere, deutschsprachige und langjährige Bewohner*innen leben oft von sicheren Gehältern und Pensionen. Viele jüngere Haushalte sind hingegen erst in den letzten Jahren in die Siedlung gezogen, sehen sich mit Sprachbarrieren

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konfrontiert, arbeiten häufiger in prekären Beschäftigungsverhältnissen und zahlen gleichzeitig – durch neue Verträge bedingt – höhere Mieten. Gerade jene ressourcenschwächeren Haushalte, für welche die Gefahr einer Verdrängung in besonderem Maße besteht, sind in der Mieter*inneninitiative jedoch wenig präsent. Aus Sicht sozioökonomischer Faktoren erweisen sich dafür insbesondere die massiven Sprachbarrieren als ursächlich, welche zwischen den Bewohner*innen im Siedlungsteil bestehen. Ohne dass die Siedlung Westhausen einen außergewöhnlich hohen Anteil von Bewohner*innen mit Migrationshintergrund aufweisen würde, lassen sich diese Barrieren auf den kurzen Zeitraum zurückführen, in dem viele migrantische Haushalte in die Siedlung gezogen sind, auf die große Anzahl gesprochener Sprachen sowie auf die geringen Fremdsprachenkenntnisse deutschsprachiger Nachbar*innen. Bei anderen Mieter*innen verhindern schlicht fehlende zeitliche Ressourcen, beispielswiese aufgrund prekärer Beschäftigungsverhältnisse (Mehrfachbeschäftigung, Schichtarbeit), einen Besuch der Initiative. Insgesamt scheint die Kommunikation auf einen kleinen Teil – meist langjährige, deutschsprachige Mieter*innen – beschränkt zu bleiben, viele Haushalte wirken im Siedlungsgefüge hingegen sozial isoliert. Damit einhergehend lassen sich teilweise gravierende Informationsmängel beobachten, was die geplante Modernisierung und ihre Konsequenzen für die Mieter*innen betrifft. Generell weist der Informationsbezug von Mieter*innen eine starke Abhängigkeit von Sprachkenntnissen, Bildungsgrad, Zugang zu juristischer Unterstützung und wiederum sozialer Eingebundenheit in das Siedlungsgefüge auf. So zeigt sich auch, dass viele der Personen, welche hinsichtlich der Modernisierungsarbeiten sowie diesbezüglicher Handlungsmöglichkeiten besonders schlecht informiert und auf schnelle Unterstützung angewiesen sind (zum Beispiel bei der fristgerechten Geltendmachung von Härtefallregelungen), von existierenden Angeboten der Initiative oftmals gar nicht oder erst im Nachhinein erreicht werden. Berichten zufolge bleiben den Treffen zudem einige ältere Bewohner*innen aus gesundheitlichen Gründen fern, andere Personen aus vermeintlichem Desinteresse, ebenso gibt es Personen, welche die Modernisierungsmaßnahmen in Gänze begrüßen und dahingehend keinen Anlass zu gemeinschaftlichem Austausch sehen. Bei beiden letztgenannten Perspektiven erweisen sich ausreichende persönliche finanzielle Ressourcen als wichtiger, dennoch nicht alleiniger Einflussfaktor. Die in der Initiative engagierten Mieter*innen äußern als ausschlaggebendes Motiv für ihr Kommen hauptsächlich pragmatische Gründe, vor allem die Kompensation der allgemeinen, schlechten Informationslage bezüglich der Modernisierung. Politisch begründete Motive werden hingegen kaum ersichtlich. Die wenigen bekannten Fälle, in denen Mieter*innen privaten Mieter*innenschutz oder juristische Hilfe in Anspruch nehmen, lassen sich letztlich auf ein spezifisches Erfahrungswissen oder einen entsprechenden Bildungshintergrund zurückzuführen. Die Initiative wiederum entscheidet mehrheitlich zu einem frühen Zeitpunkt, die Modernisierungsmaßnahmen zu akzeptieren und eine Reduktion individueller Einschränkungen durch die baulichen Maßnahmen zur Kernaufgabe der Gruppe zu machen. Die finanziellen Mehrbelastungen nach Abschluss der Modernisierung werden kaum thematisiert. Über die Betrachtung sozioökonomischer Faktoren und persönlicher Ressourcen wird neben der Heterogenität der Mieter*innenschaft also vor allem die materielle Prägung der subjektiven Handlungsmöglichkeiten und die Positionen gegenüber der Modernisierung sichtbar.

Frankfurt Westhausen – Prekäres Wohnen und Prozesse politischer Kollektivierung

Paradoxe Reaktionen auf die Modernisierung Gleichzeitig zeigen sich Haltungen und Reaktionen gegenüber der Modernisierung, die nicht unmittelbar auf bestimmte sozialstrukturelle Indikatoren zurückgeführt werden können und paradox wirken. Zu diesen zählt, dass Mieter*innen die Modernisierungsmaßnahmen begrüßen und gegenüber der Vermieterin eine kooperative Haltung einnehmen, obwohl sie bereits vor Umlage der Modernisierungskosten unter sehr hohen Mietbelastungen leiden. Ebenso widersprüchlich erscheint die Zustimmung zur kostenpflichtigen Modernisierung vor dem Hintergrund, dass Vonovia seit Jahren die Aufforderungen von Mieter*innen ignoriert, dringend notwendige Instandhaltungsarbeiten durchzuführen. Für einige Mieter*innen resultiert Prekarität aus dem Zusammenspiel hoher Mietbelastungsquoten, den angekündigten zusätzlichen Mietkosten und fehlenden Alternativen bezahlbaren Wohnraums im stadtweiten Vergleich – schließlich liegen die Mietpreise der meisten Wohnungen auch nach der Modernisierung immer noch unter städtischem Durchschnitt. Dies deckt sich mit meiner anfänglichen Konzeption prekärer Wohnverhältnisse. Meine Beobachtungen zeigen jedoch, dass die Heterogenität der Mieter*innen auch verschiedene Erfahrungen von Prekarität impliziert und dementsprechend unterschiedliche Bedürfnisse hinsichtlich der Modernisierung hervorruft: Um die kommenden Mietbelastungen zu kompensieren, suchen viele Haushalte nach neuen Arrangements mit weiteren Einsparungen in ihrer Lebensführung. Für andere Mieter*innen erweist sich die Modernisierung als existenzielle Bedrohung ihres Mietverhältnisses. Hier werden Lebensmodelle sichtbar, in denen die Erwerbs- und Einnahmequellen passgenau auf die Lebenshaltungskosten abgestimmt sind, nun aber aufgrund der drastischen Mieterhöhungen zu zerfallen drohen. Zusammen mit der Unsicherheit, ob ihre Wohnung weiterhin zu halten ist, löst das Wissen um die generelle Knappheit bezahlbaren Wohnraums gerade bei finanzschwächeren Mieter*innen Zukunftsängste aus. Angesichts dieser Perspektivlosigkeit herrscht bei den betroffenen Haushalten der Eindruck vor, ihre Wohnung ›um jeden Preis‹ halten zu müssen. Der Mangel an Alternativen bewirkt weitere Versuche finanzieller Kompensation, schürt aber auch Ängste vor den Konsequenzen einer konfrontativen Haltung gegenüber Vonovia. Für andere Mieter*innen steht hingegen das Problem des vernachlässigten baulichen Zustands und der damit einhergehenden öffentlichen Wahrnehmung der Siedlung im Vordergrund. Diese Phänomene weisen eine langjährige Kontinuität auf. Immer wieder haben Mieter*innen versucht, vorhandene Mängel gegenüber der Vermietungsgesellschaft zu artikulieren und Instandhaltungen einzufordern, bleiben darin aber ignoriert. Mieter*innen empfinden Scham und Stigmatisierung aufgrund der optischen Zustände der Siedlung und verinnerlichen einen abwertenden Blick auf ihr Wohnumfeld. Die mit der Modernisierung subjektiv verbundene Aussicht, nicht länger als sozial abgehängtes Wohnmilieu wahrgenommen zu werden, ruft bei vielen Mieter*innen Zustimmung und Freude über die Modernisierungsmaßnahmen hervor – selbst bei Haushalten, für welche die Mieterhöhungen eine gravierende finanzielle Belastung bedeuten. Die von der Vermietungsgesellschaft dauerhaft übergangenen Bedürfnisse tragen so zur beobachteten Zustimmung der Modernisierungsarbeiten bei. Dass die ursprünglich geforderte Instandhaltung nun in Gestalt einer umfangreichen Modernisierung auf Kosten der Mieter*innen erfolgt, scheint dabei sekundär. Schnell hat sich zudem die Ansicht gefestigt, es handle sich um eine ohnehin nicht abwendbare Entscheidung, auf die im besten Falle noch partieller Einfluss

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Kämpfe und Initiativen

genommen werden kann. Infolge immer wieder enttäuschter Erwartungen hat sich viel Frust und eine pessimistische Einschätzung ihrer individuellen und kollektiven Handlungsmöglichkeiten eingestellt. Vor diesem Hintergrund setzt sich innerhalb der Mieter*inneninitiative über einen längeren Zeitraum eine kooperative Haltung gegenüber der Vermietungsgesellschaft durch. Ihr zugrunde liegt die Idee einer konstruktiven Zusammenarbeit, über die eine möglichst schnelle und reibungsfreie Verbesserung der konstatierten Zustände erzielt werden soll. Auch der Kooperationswille lässt sich nicht schlicht durch eine finanzielle Unbeschwertheit einzelner Mieter*innen erklären. Hingegen erzielen Mieter*innen mit partiellen, individuellen Aushandlungen Erfolge und bringen gerade dem charismatischen Bauleiter Vonovias persönliches Vertrauen entgegen. Individuelle Absprachen bestätigen vor allem artikulationsstarke Mieter*innen in ihrem Vorgehen und lassen kollektive Verhandlungen als vergleichsweise unergiebig und persönlich weniger zielführend erscheinen. Dies verstärkt die Auffassung, die individuelle Ausgangslage einzelner Haushalte würde verschiedene Bedürfnisse erzeugen und so einem gemeinsamen Vorgehen widersprechen. Die zeitweise Ausrichtung der Initiative auf dieses Vorgehen kann auch auf die einflussreiche Position einiger Mieter*innen innerhalb der Initiative zurückgeführt werden. Zunächst paradox erscheinende Handlungspraxen werden damit in großen Teilen durch die spezifischen Wirkungsweisen und Erfahrungen von Prekarität letztlich doch erklärbar. Auch wenn sich manche Annahmen der allgemeinen Prekaritätsforschung bestätigen – gemeint sind isolierte Lebensweisen, als gering eingeschätzte Einflussmöglichkeiten und die fehlende Bereitschaft zu widerständigen Praktiken – so erweisen sich diese in meiner Untersuchung überwiegend als Konsequenzen der spezifischen Wohn- und Lebensverhältnisse. Da die ressourcenschwächsten Haushalte zwar am schwersten von den Folgen der Modernisierung getroffen, jedoch wenig in die Struktur der Mieter*inneninitiative eingebunden werden, artikuliert sich ihre Positionen gegenüber der Vermietungsgesellschaft kaum. Gleichzeitig wird die zunehmende Belastung beziehungsweise die Bedrohung der Wohnsituation von vielen Mieter*innen lange als individuelles Problem reflektiert. Weshalb können sich somit innerhalb der Mieter*inneninitiative nicht früher und in einem stärkeren Maße gemeinschaftliche und solid­arische Vorstellungen etablieren? Zunehmend deutlicher zeichnet sich ab, dass einem solidarischen, gemeinsamen Vorgehen im Sinne aller Mieter*innen, aber auch der generellen Ausbildung sozialer Beziehungen in der Siedlung bestimmte Vorstellungen und Handlungspraxen aktiv entgegenwirken.

Spaltende Vorstellungen und Abgrenzungsversuche Insbesondere in der Initiative organisierte Mieter*innen scheinen sich immer wieder auf Grundlage spaltender Vorstellungen gegenüber bestimmten Personen oder Positionen abzugrenzen, wodurch sich bestehende sozialstrukturelle Unterschiede reproduzieren. Abgrenzung und mangelnde Akzeptanz zeigen sich mitunter gegenüber Mieter*innen, welche die Modernisierung ablehnen und konfrontativere Perspektiven einnehmen. Große Teile der restlichen Bewohner*innen werden in Bezug auf die Geschehnisse innerhalb der Siedlung für desinteressiert, phlegmatisch gehalten. Spaltende Wirkung erzeugt auch die, gerade von langjährigen Mieter*innen betriebene, Glorifizierung und Verklärung der ›früheren‹ Siedlung, die in Kontrast zur aktuellen Situation reaktionäre Perspektiven befeuert. Die derzeitige Situation stellt sich vielen Mieter*innen über fehlende Kommunikation, Egoismus,

Frankfurt Westhausen – Prekäres Wohnen und Prozesse politischer Kollektivierung

Rücksichtslosigkeit oder zunehmende Belästigungen (zum Beispiel durch Müll und Lärm) dar. Diese Phänomene setzen einige Bewohner*innen in Zusammenhang mit dem verstärkten Zuzug von Nachbar*innen mit Migrationshintergrund. Probleme innerhalb des sozialen Gefüges der Siedlung präsentieren sich ihnen als mangelnde Anpassungsfähigkeit an die vorgefundene ›Kultur‹. Dieses essentialistische Kulturverständnis vertieft Spaltungstendenzen zwischen alteingesessenen und neu zugezogen Mieter*innen und wirkt förderlich auf die Verbreitung von Schuldzuweisungen und diskriminierenden Zuschreibungen. Mieter*innen befürchten eine weitere Abwertung und Stigmatisierung der Siedlung und fühlen sich in ihren Bedürfnissen durch die Vermietungsgesellschaft ignoriert. Es muss konstatiert werden, dass die Überforderung der Mieter*innen mit wahrgenommenen kulturellen Differenzen und massiven Sprachbarrieren ein omnipräsentes und ernstzunehmendes Phänomen des Siedlungslebens darstellt. Während regelmäßiger Kontakt nur zwischen wenigen Mieter*innen besteht, scheint der weitere Austausch sich oftmals auf konfliktive Kommunikation oder Beobachtungen zu beschränken. Als Grund für die unbefriedigende Kommunikation zeigt sich, neben Sprachbarrieren und persönlichen Vorbehalten einiger Mieter*innen, vor allem die weggefallene gemeinsame Infrastruktur. Soziale Knotenpunkte sind im Siedlungsleben kaum noch sichtbar. Die Mischung aus diskriminierenden Stereotypen, prekären Wohnverhältnissen in der Siedlung, aus Überforderung im Umgang miteinander, Ignoranz der Vermietungsgesellschaft und frustrierten Abgrenzungsmechanismen hat eine politisch äußerst heikle Konstellation geschaffen. Trotz dieser spaltenden Handlungspraxen und Umstände existiert paradoxerweise unter allen Mieter*innen ein starkes Bedürfnis nach mehr Zusammenhalt und Gemeinschaft.

Dynamik in der Initiative Die zeitlich versetzte – wenn auch kurze – zweite Beobachtungsphase im Januar 2020 bringt hingegen eine deutliche Entwicklung der Initiative zum Vorschein. Einige Mieter*innen sind aktiver geworden, wodurch verstärkt auch andere Positionen wirksamer zum Zug kommen. Die kontinuierlichen Treffen der Initiative haben dazu beigetragen, die starken Informationsgefälle zwischen den Anwesenden anzugleichen, aber auch die organisatorischen Fähigkeiten und das argumentative Selbstbewusstsein einiger Mieter*innen deutlich zu stärken. Auch die Ausrichtung der Initiative scheint sich gewandelt zu haben. Da die Modernisierung selbst nun viel deutlicher als Aushandlungsprozess betrachtet wird, festigen sich auch konfrontativere Positionen. Die Mieter*innen haben ein deutlich strategischeres, aber auch politisches Verständnis ihrer Aufgaben entwickelt. Stellvertretend können die Verwendung politischer Druckmittel wie Pressearbeit, Unterschriftenlisten mit Forderungskatalogen oder auch Kontakte zu unterstützenden außenstehenden Institutionen angeführt werden. Die längerfristige Beobachtung zeigt, dass die Initiative letztlich als ein Spannungsfeld zwischen konfrontativen und kooperativen Positionen betrachtet werden muss. Gleichzeitig setzen sich zunehmend auch universellere Forderungen im Sinne aller Mieter*innen durch, wie die nach einer Deckelung aller Mieten auf 30 % der Nettohaushaltseinkommen. In kleinen Verhandlungserfolgen gegenüber der Vermietungsgesellschaft kommt allmählich zum Vorschein, dass sich der anhaltende und verstärkt kollektive Druck der Mieter*inneninitiative auch bewährt, wie die Offenlegung von abgerechneten Betriebskosten durch Vonovia in Folge einer Unterschriftensammlung belegt. Gerade in kollektiven

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Praxen der Initiative scheinen auch die zuvor beschriebenen Disparitäten und Nachteile einzelner Bewohner*innen teilweise aufgefangen werden zu können. Diese Beobachtungen machen einerseits deutlich, dass die Erforschung von Initiativen sozialer Bewegung es erfordert, ihre prozesshafte Entwicklung in den Blick zu nehmen, andererseits, dass Aktivität und Passivität keine konstanten Handlungsweisen sind, sondern Progression aufweisen. In meiner Studie werden Hürden und Mechanismen sichtbar, welche den fehlenden Anschluss weiter Teile der Mieter*innen sowie die Schwerfälligkeit solidarischer und gemeinschaftlicher Praxen im Falle der Westhauser Siedlung erklären können. Diese sichtbar zu machen bietet, mögliche Ansatzpunkte für die (Weiter-)Entwicklung des Beschriebenen sowie weiterer Kollektivierungsprozesse.

Über die ›Vergemeinschaftung‹ von Perspektiven zur politischen Kollektivität Mit der Erweitung des Begriffs der Prekarität zeigt sich, dass trotz aller skizzierten Unterschiede fast alle Mieter*innen mit unterschiedlich erfahrener Prekarität konfrontiert sind: in Form von hohen Mietbelastungen, von Verdrängung und Zukunftsängsten, von Ignoranz ihrer Bedürfnisse durch die Vermieter*in, von isolierten Lebensweisen, in Form von Frust und Scham über den optischen Zustand der Siedlung, aber auch in Form diskriminierender Zuschreibungen. Lisa Vollmer (2019: 125) verweist im Anschluss an Ernesto Laclau darauf, dass Kollektivierung aus äußerst unterschiedlichen Erfahrungen hervorgehen kann, sofern es gelingt, Erlebnisse und Perspektiven zu »vergemeinschaften« und von einer individuellen Betroffenheit zu abstrahieren. Nur über den gemeinsamen Austausch kann sich Toleranz und ein Verständnis für anders erfahrene Prekarität ausbilden und allmählich ein geteiltes strukturelles und auch politisches Verständnis der erlebten Einschränkungen und Bedrohung wachsen. Konkret könnte dieses im Fall Westhausen beispielsweise darin bestehen, dass Vonovia trotz kontinuierlicher Mietsteigerungen ihre Instandhaltungspflichten über Jahre verletzt hat, damit die schlechte Wohnqualität und die Bedürfnisse der Mieter*innen ignoriert und nun die durch Mieterhöhungen finanzierten Modernisierungen zur strategischen Aufwertung ihres eigenen Wohnungsbestandes nutzt. Ein solches Verständnis verlässt die Ebene individueller Einschränkungen, beugt Einzellösungen vor und kann letztlich als allgemeine Erklärung der Prozesse für Anschlussfähigkeit sorgen. Als wichtigste und zugleich schwierige Voraussetzungen erscheinen dabei jedoch immer wieder soziale Interaktion und die Ausbildung sozialer Netze, welche über einzelne kleine Personengruppen hinausgehen. Nur in diesen können unterschiedliche Erfahrungen vergemeinschaftet, aber auch Differenzen zwischen den Mieter*innen aufgedeckt, damit verhandelbar gemacht und abgebaut werden. Gerade letzterer Punkt ist angesichts der verbreiteten Stigmatisierung, aber auch der Abgrenzungsversuche gegenüber einigen Personen(-gruppen) essenziell. Als äußerst nachteilig für die Ausbildung breiterer sozialer Netze in der Siedlung Westhausen erweisen sich neben sprachlichen Barrieren vor allem die fehlende gemeinsame Infrastruktur (Gemeindetreff, Cafés, öffentliche Sitzflächen oder Ähnliches). Möglichkeiten zur sozialen Interaktion mit niedrigschwelligem Zugang existieren abgesehen vom Jugendtreff der Siedlung kaum noch. Der fehlende Dialog zwischen Bewohner*innen kristallisiert sich immer

Frankfurt Westhausen – Prekäres Wohnen und Prozesse politischer Kollektivierung

wieder als zentrales Problem heraus, erweist sich gleichzeitig aber auch als per­spektivisch wichtigster Anknüpfungspunkt, um die Vereinzelung aufbrechen zu können. Auch wenn in der Siedlung kaum übergreifende oder abstrakte Vorstellungen von Solidarität zu finden sind – oftmals eher ein Gegeneinander –, blitzen gerade im Alltag zwischen einzelnen Mieter*innen immer wieder kleine solidarische Handlungspraxen (Flurgespräche, gegenseitige Einladungen oder kleine Geschenke) auf sowie Ideen für die Errichtung und Nutzung gemeinsamer Infrastrukturen, die ein Anknüpfen möglich erscheinen lassen. Auch die gemeinschaftliche Entwicklung eines positiven Ortsverständnisses scheint in Westhausen einen zentralen Wert zu bekommen, um dem stigmatisierenden Blick auf die Siedlung als ›Ghetto‹ oder der Glorifikation vergangener Tage ein inklusives, lebendiges und auf Vielfalt beruhendes Ortsverständnis entgegenzusetzen. Bei allem sichtbaren Frust und diskriminierenden Verallgemeinerungen werden in fast allen Gesprächen positiv konnotierte Erfahrungen des aktuellen Siedlungslebens sichtbar, an denen ebenfalls angeknüpft werden könnte. Abschließend betrachtet, scheint das Politische somit der Gemeinschaft nicht vorgelagert, sondern nachgeschaltet zu sein und nur aus vergemeinschafteten Erfahrungen heraus erwachsen zu können (Vollmer 2019: 218). Im Kern will diese Arbeit bei kleinteiligen zwischenmenschlichen Praktiken sowie materiellen Wirkungsweisen prekärer Wohnverhältnisse ansetzen, helfen diese aufzudecken, aufzubrechen und auf diese Weise kollektiv verhandelbar zu machen.

Endnoten 1

Dieser Beitrag fasst die wichtigsten Erkenntnisse meiner im Juni 2020 eingereichten Masterthesis zusammen. Weitgehend verzichtet wird an dieser Stelle auf die dort erfolgte theoretische Reflexion und eine Kontrastierung meiner empirischen Ergebnisse mit Lisa Vollmers Studie (2019) zur Berliner Mieter*innenbewegung ›Kotti & Co‹.

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Unter Leitung des damaligen Frankfurter Stadtbaurates Ernst May sind zwischen 1925 und 1929 in der Siedlung Westhausen 1.116 Mietwohnungen entstanden.

Literaturverzeichnis Böhnke, Petra (2010): Ungleiche Verteilung politischer und zivilgesellschaftlicher Partizipation, https://www.bpb.de/apuz/33571/ungleiche-verteilung-politischer-und-zivilgesellschaftlicher-partizipation?p=all (Zugriff: 05.10.2019). Hoffmann, Michael (2009): »Die (Un-)Solidarischen – Partizipation und Selbstorganisation der Unorganisierbaren. Zur Einführung«, in: Robert Castel/Klaus Dörre (Hg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag, S. 319–323. Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin: Suhrkamp. Schipper, Sebastian (2018): Wohnraum dem Markt entziehen. Wohnungspolitik und städtische soziale Bewegungen in Frankfurt und Tel Aviv, Wiesbaden: Springer VS. Vollmer, Lisa (2019): Mieter_innenbewegungen in Berlin und New York. Die Formierung politischer Kollektivität, Wiesbaden: Springer Fachmedien.

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Mietentscheid Frankfurt: Direktdemokratisch für mehr bezahlbaren Wohnraum Lisa Hahn und Luca Hemmerich

»Für eine gute Wohnung zahlst du gerne mehr? Hier sind auch die schlechten unbezahlbar.«

Ob auf Plakaten oder Aufklebern, in Geschäften oder in den sozialen Medien – Slogans wie dieser waren 2018 in Frankfurt allgegenwärtig. Der Grund? Der Mietentscheid Frankfurt, ein breites Bündnis aus über 40 Organisationen, hatte ein Bürger*innenbegehren für mehr bezahlbaren Wohnraum initiiert. Gemeinsam haben wir im Herbst 2018 innerhalb von vier Monaten 25.000 Unterschriften für einen Bürger*innenentscheid in Frankfurt gesammelt. Doch was sich in der Hessischen Gemeindeordnung machbar anhört (wenn auch etwas trocken), ist weitaus langwieriger, als wir es bei der Idee zum Mietentscheid im Dezember 2017 ahnten. Seitdem ist viel passiert und davon berichten wir – zwei der Mitinitiator*innen des Mietentscheids1 – im Folgenden. Den Beitrag haben wir chronologisch aufgebaut: Nachdem wir kurz die Vorarbeiten zum Mietentscheid erläutern, berichten wir über die Phase der Unterschriftensammlung von August 2018 bis Januar 2019 und darüber, wie es nach der Unterschriftenabgabe weiterging. Unser Ziel ist, einen Einblick zu geben, wie der Prozess eines Bürger*innenbegehrens praktisch abläuft, und von unseren Erfahrungen zu berichten.

Was bisher geschah: Beweggründe und Entstehung In Frankfurt fehlt bezahlbarer Wohnraum. Das ist nichts Neues und kein Geheimnis (—Schipper/Heeg in diesem Band). Die Mietpreise sind nur in München höher und eine Wohnung zu kaufen, ist selbst für viele doppelt verdienende Haushalte mit unteren und mittleren Einkommen utopisch. Besonders gravierend ist der Mangel an Sozialwohnungen: Seit den 1990er Jahren ist der Bestand von circa 70.000 auf gut 25.000 zurückgegangen (Stadt Frankfurt 2019a: 67). Gründe für diesen Rückgang sind die kurzen Bindungsdauern von meist nur 20 Jahren sowie die geringen Neubauzahlen. So wurden 2017 in Frankfurt gerade einmal 65 Sozialwohnungen fertiggestellt (FAZ 02.10.2019). Während das Angebot an vorhandenen Sozialwohnungen also abnimmt, steigt die Nachfrage: Immer mehr Menschen sind beim Amt für Wohnungswesen für eine Sozialwohnung registriert; Ende 2018 waren es 24.020 Personen (Stadt Frankfurt 2019a: 65). Und der tatsächliche Bedarf liegt sogar noch höher: Im Jahr 2015 schätzte das Institut

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Wohnen und Umwelt (IWU) aus Darmstadt, dass 49 % aller (!) Haushalte, die in Frankfurt zur Miete wohnen, vom Einkommen her Anspruch auf eine Sozialwohnung haben (IWU 2015: 13). Dieser Missstand betrifft also fast die halbe Stadt! Dementsprechend viele spüren in ihrem Alltag das Fehlen bezahlbarer Wohnungen. Unter ihnen sind auch diejenigen, deren Mieten steigen, die in beengten Verhältnissen leben und sich keinen Umzug in eine größere oder barrierefreie Wohnung leisten können oder die ganz direkt von Verdrängungspraktiken seitens der Wohnungseigentümer*innen betroffen sind. Neben diesem generellen Missstand in der Wohnungsversorgung und der gefühlten Machtlosigkeit gegenüber der profitorientierten Wohnungswirtschaft haben 2017 zwei Erfahrungen maßgeblich zur Entstehung des Mietentscheids in Frankfurt beigetragen: Erstens gibt es schon seit Jahren verschiedene Proteste gegen Wohnungsnot (—Schipper/Heeg in diesem Band). Zum einen haben sich Hausgemeinschaften aus unmittelbarer Betroffenheit zusammengeschlossen, um die konkrete Verdrängung aus ihren Wohnungen zu verhindern. Einige dieser Auseinandersetzungen zogen sich über viele Jahre hin. Die daran beteiligten Mieter*innen haben stadtteilweite Vernetzungen etabliert und kontinuierlich Formate für einen Austausch von Erfahrungen organisiert (zum Beispiel in der Nachbarschaftsinitiative Nordend-Bornheim-Ostend [NBO]; —Ehlers in diesem Band). Zum anderen haben sich verschiedene stadtweit aktive Initiativen und Stadtteilgruppen gegründet, um für einen grundsätzlichen Wandel in der Wohnungspolitik zu kämpfen. Ein solcher Zusammenschluss ist beispielsweise unter dem Namen ›Eine Stadt für alle‹ aktiv. Als Beinamen wählte diese Initiative – angelehnt an den Slogan ›Wem gehört die Stadt?‹ – den Frankfurt-spezifischen Zusatz ›Wem gehört die ABG?‹. Dieser Beisatz bezieht sich auf die stadteigene Wohnungsgesellschaft ABG Frankfurt Holding (ABG). Insgesamt existiert in Frankfurt somit eine jahrelange Tradition und Vernetzung wohnungspolitischer Kämpfe, auf denen der Mietentscheid aufbauen konnte. Deren Forderungen zielten unter anderem darauf ab, dass die Stadt ihren Einfluss auf die Mietenpolitik der ABG wahrnehmen sollte, um mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Gemeinsam mit anderen Mieter*inneninitiativen setzte sich ›Eine Stadt für alle!‹ vor der Kommunalwahl 2016 für einen Mietenstopp bei der ABG ein. Dieser wurde dann auch tatsächlich im Koalitionsvertrag zwischen CDU, SPD und Grünen vereinbart. Seitdem dürfen die Mieten bei der ABG nur noch um 1 % pro Jahr erhöht werden. Ein Erfolg im mühsamen Kampf um bezahlbaren Wohnraum! Im Jahr 2017 machte das Bündnis ›Eine Stadt für alle!‹ mit der Kampagne ›Wir sind die halbe Stadt‹ auf den hohen Anteil der Menschen aufmerksam, die Anspruch auf eine Sozialwohnung haben. Mit öffentlichen Veranstaltungen, Straßenständen und auf Mieter*innenversammlungen wurden die Probleme des fehlenden sozialen Wohnraums deutlich gemacht. Das Wissen zu Sozialwohnungen und den entsprechenden Förderprogrammen und -richtlinien, das in diesem Kontext in der Mietenbewegung zusammengetragen wurde, ist für die Arbeit des Mietentscheids nicht zu unterschätzen. Trotz der wichtigen Erfolge der Mietenbewegung blieb die Lage am Wohnungsmarkt in Frankfurt extrem angespannt und auch die ABG machte weiterhin Jahresgewinne im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich (2017: 94,3 Millionen €; 2018: 112,7 Millionen €; ABG 2019: 2). Neben den lokalen Entwicklungen in der Mietenbewegung in Frankfurt gab es zweitens immer mehr Beispiele aus anderen Städten, die direktdemokratische Verfahren als Instrumente in stadtpolitischen Kämpfen für mehr bezahlbaren Wohnraum einsetzten. So wurde in Berlin 2015 der

Mietentscheid Frankfurt: Direktdemokratisch für mehr bezahlbaren Wohnraum

Mietenvolksentscheid zum Umgang mit den landeseigenen Wohnungsunternehmen initiiert. Zwei Jahre später gab es in Bielefeld den Einwohner*innenantrag ›Bezahlbares Wohnen für alle‹, in dessen Rahmen über 11.000 Unterschriften gesammelt wurden. Und auch über das Thema Wohnen hinaus konnten in Frankfurt bereits Erfahrungen mit einem Bürger*innenbegehren zur Verbesserung der Radinfrastruktur gesammelt werden.

Ein Bürger*innenbegehren für Frankfurt Vor diesem Hintergrund stellte sich die Frage, wie man die bisherigen Erfahrungen nutzen und mit direktdemokratischen Instrumenten verbinden könnte, um den Druck auf die Stadtpolitik zu erhöhen. Von diesem Impuls ausgehend wurde Ende 2017 zu einem ersten Treffen eingeladen, um die Möglichkeit eines Bürger*innenbegehrens für bezahlbaren Wohnraum in Frankfurt zu erkunden. Beim Bürger*innenbegehren handelt es sich um ein Instrument direkter Demokratie auf kommunaler Ebene, mit dem Bürger*innen unmittelbar Einfluss auf die städtische Politik nehmen können. Der genaue Prozess unterscheidet sich je nach Bundesland und ist in den Flächenländern in der jeweiligen Gemeindeordnung geregelt. Im Folgenden wird kurz das Verfahren in Hessen erläutert, das aus zwei Stufen besteht. Den Kern der ersten Stufe bildet eine Unterschriftenliste mit einer verbindlichen Fragestellung, einer Begründung und einem Finanzierungsvorschlag. Diese muss von 3 % aller Wahlberechtigten2 – das sind in Frankfurt etwa 15.000 Bürger*innen – unterschrieben werden. Anschließend werden die Listen bei der Stadt eingereicht, die die Unterschriften zählt und die juristische Zulässigkeit des Begehrens prüft. Wenn es für zulässig befunden wird, kann die Stadtverordnetenversammlung dem Begehren entweder direkt entsprechen oder muss innerhalb eines halben Jahres einen Bürger*innenentscheid ansetzen. In dieser zweiten Stufe muss nun die Mehrheit der Abstimmenden und ein bestimmtes Quorum aller Wahlberechtigten – in Großstädten wie Frankfurt sind das 15 % – mit Ja stimmen, damit der Bürger*innenentscheid erfolgreich ist. Im Erfolgsfall wird die Forderung rechtswirksam und kann frühestens nach drei Jahren wieder von der Stadtverordnetenversammlung gekippt werden. Die Attraktivität des Bürger*innenbegehrens gegenüber anderen Kampagn­en- und Aktionsformen besteht somit in der konkreten Erfolgsperspektive: Bürger*innen können direkten Einfluss auf die (kommunale) Politik nehmen und verbindliche Entscheidungen herbeiführen. Allerdings handelt es sich um eine rechtlich vergleichsweise stark geregelte Aktionsform, sodass insbesondere die Arbeit an der Fragestellung und am Finanzierungsvorschlag einige fachliche und juristische Expertise erfordert. Im Fall des Mietentscheids vergingen unter anderem aus diesem Grund vom ersten Treffen bis zum Beginn der Unterschriftensammlung etwa acht Monate, während derer eine öffentlichkeitswirksame Kampagne sowie die zentralen Forderungen des Bürger*innenbegehrens entwickelt wurden.

Schritt 1: Die Forderungen Die beiden wichtigsten Kriterien für die Fragestellung waren für uns die inhaltliche Wirksamkeit und zugleich die rechtliche Zulässigkeit. Durch die wichtige Vorarbeit von Mieter*inneninitiativen lagen bereits zahlreiche Forderungen an die Stadtpolitik auf dem Tisch, um mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.3 Eine ungleich höhere Hürde stellte hingegen das zweite Kriterium dar, da in der Hessischen Gemeindeordnung eine Reihe

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von Politikfeldern – etwa die Bauleitplanung oder der kommunale Finanzhaushalt – grundsätzlich von der Möglichkeit eines Bürger*innenbegehrens ausgeschlossen werden. Auch erfordert die Gemeindeordnung die Vorlage eines »nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren Vorschlag[s] für die Deckung der Kosten der verlangten Maßnahme« (§ 8b Abs. 3 HGO). Diese Anforderung war besonders deshalb schwierig zu erfüllen, weil die ABG nicht dazu bereit ist, ihre Mietkalkulationen offenzulegen (FR 17.2.2019). Die Entwicklung von Fragestellung und Finanzierungsvorschlag nahm daher im Bündnisprozess einiges an Zeit, Energie und Geld (für eine anwaltliche Prüfung) in Anspruch. Nach mehreren Monaten intensiver Arbeit einigten wir uns auf eine Fragestellung, die aus drei Teilen besteht: Erstens soll die ABG dazu verpflichtet werden, im Neubau zu 100 % geförderte Wohnungen für untere und mittlere Einkommensgruppen zu bauen. Zweitens sollen die Mieten für Bestandsmieter*innen der ABG, die nach ihrem Einkommen Anspruch auf eine Sozialwohnung haben, auf die Sozialmiete von 6,50 €/m² gesenkt werden. Schließlich sollen drittens Wohnungen, die bei der ABG frei werden, zu den Bedingungen des geförderten Wohnraums wiedervermietet werden. Insgesamt würde die ABG mit dieser – rechtlich zulässigen – Fragestellung dazu verpflichtet, im Bestand und im Neubau deutlich mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Nach unseren Schätzungen würden von der Umsetzung dieser Forderungen über 12.000 Haushalte unmittelbar und viele weitere indirekt durch die folgende Entspannung des Wohnungsmarktes profitieren. Parallel zu den inhaltlichen Fortschritten wuchs das Bündnis um den Mietentscheid. Schließlich sind wir auf inzwischen 46 Organisationen angewachsen, die ein breites Spektrum abdecken von Mieter*inneninitiativen, Gewerkschaften, Vereinen, Nachbarschaftsgruppen, Studierendenvertretungen, Jugendorganisationen, Parteien und vielen engagierten Einzelpersonen.

Schritt 2: Unterschriften sammeln Im August 2018 war es schließlich so weit: Mit einer Informationsveranstaltung und dem Start der Online-Kampagne ging der Mietentscheid an die Öffentlichkeit und fand auf Anhieb ein großes Medienecho. Von Beginn an wurde dabei deutlich, dass das Vorhaben bei der regierenden Koalition aus CDU, SPD und Grünen auf großen Widerstand stoßen würde. In einem höchst ungewöhnlichen Vorgang äußerte etwa der stellvertretende Leiter des Rechtsamts der Stadt Frankfurt gegenüber der Presse, dass das Amt den Mietentscheid für nicht zulässig halte (FR 16.08.2018). Die rechtliche Zulässigkeitsprüfung eines Bürger*innenbegehrens findet formal erst nach der Einreichung der Unterschriftenlisten statt. Die spätere Dauer des Prüfungsprozesses (siehe unten) zieht die Fundiertheit der sehr frühen öffentlichen Einschätzung erheblich in Zweifel. Ohne uns von diesen Aussagen verunsichern zu lassen, begann die Unterschriftensammlung für den Mietentscheid Frankfurt am 25. August 2018 mit stadtweit 20 Ständen und einem gemeinsamen ›Kick-off‹-Fest auf dem Merianplatz. In den kommenden vier Monaten trugen zahlreiche Aktive von Mitgliedsorganisationen des Bündnisses regelmäßig Unterschriften auf der Straße zusammen – und viele weitere engagierte Bürger*innen sammelten in ihrem Bekanntenkreis. Höhepunkte der Kampagne waren mehrere ›Super-Sammel-Samstage‹, bei denen an fünf bis zehn über das Stadtgebiet verteilten Ständen gleichzeitig um Unterschriften geworben wurde. Außerdem war die vom Bündnis ›#Mietenwahnsinn-Hessen‹ im Vorlauf der

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hessischen Landtagswahl im Oktober 2018 organisierte Demonstration mit über 8.000 Teilnehmer*innen ein wichtiges Ereignis für die Mietenbewegung in Frankfurt und den Mietentscheid. Die Demonstration konnte zum Sammeln hunderter Unterschriften genutzt werden. Parallel zum eigentlichen Sammeln der Unterschriften wurde mit kontinuierlicher Social-Media- und Pressearbeit die Präsenz des Mietentscheids in der öffentlichen Diskussion sichergestellt. Ein ebenso wichtiger Teil der Öffentlichkeitsarbeit waren auch Plakate und Aufkleber mit einem hohen Wiedererkennungswert und eingängigen Slogans wie »Dein Kind findet Nemo – Du keine Wohnung«. Kurz vor Weihnachten 2018 hatten wir zum selbstgesetzten Abschlusstermin 22.000 Unterschriften gesammelt und konnten damit sicher sein, das Quorum von etwa 15.000 auch mit einer gewissen Quote ungültiger Unterschriften4 erreicht zu haben. Nachdem uns in den kommenden Wochen noch zahlreiche volle Unterschriftenlisten zugesandt wurden, konnten wir Mitte Januar 2019 schließlich 25.000 Unterschriften bei der Stadt einreichen und unsere Forderungen mit einer Kundgebung vor dem Bürger*innenamt bekräftigen.

Abbildung 1: Plakat des Mietentscheids Frankfurt zur Unterschriftensammlung 2018.

Dein Kind findet Nemo. Du keine Wohnung.

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Schritt 3: Von der Rechtsprüfung bis zur Untätigkeitsklage In jüngerer Vergangenheit gab es in Frankfurt kaum Bürger*innenbegehren.5 Anhaltspunkte beziehungsweise Erfahrungswerte bezüglich der Dauer der Rechtsprüfung, von der Abgabe der Unterschriften bis zum Beschluss des Rechtsgutachtens durch die Stadtverordnetenversammlung, fehlten uns also. Erst nach und nach konnten wir das zeitliche Ausmaß des Verfahrens absehen: Beim Mietentscheid dauerten allein die Unterschriftenauszählung durch die Stadt (ein Monat), die Rechtsprüfung durch die zuständigen städtischen Ämter (elf Monate) und die Beschlussfindung des Magistrats (ein Monat) insgesamt länger als ein Jahr. Unseren ursprünglich angestrebten Abstimmungstermin zur Europawahl am 26. Mai 2019 verpassten wir durch diese Verzögerungen mehr als deutlich. Zudem haben wir gelernt: Druck auszuüben kostet Zeit und Nerven – und nicht zuletzt Geld. Das ist in einer rein ehrenamtlichen Struktur wie dem Mietentscheid nicht immer einfach zu stemmen gewesen. Zeit und Nerven haben wir während dieser Phase in eine sehr umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit investiert, denn wir wollten möglichst präsent und transparent bleiben. Dazu haben wir unter anderem Aktionen und Veranstaltungen organisiert: Zum Beispiel die Frankfurt-Premiere des Dokumentarfilmes ›Push – für ein Grundrecht auf Wohnen‹, der im Mai 2019 in die Kinos kam, und eine Diskussionsveranstaltung zur Wohnungsnot Studierender in Kooperation mit dem AStA der Goethe-Universität im Dezember 2019. Wir waren auf Podiumsdiskussionen vertreten, haben Pressearbeit geleistet und die Kanäle in den sozialen Netzwerken gepflegt. Neben öffentlichen Anlässen haben wir auch als Bündnis immer wieder Vollversammlungen einberufen, um alle Bündnisorganisationen auf den aktuellen Stand zu bringen und gemeinsam das weitere Verfahren abzustimmen. Außerdem haben wir uns überregional vernetzt; etwa beim jährlichen Recht-auf-Stadt-Forum stadtpolitischer Initiativen in Deutschland oder indem wir als Mietentscheid aktiver Teil der landes- und bundesweiten Bündnisse ›Mietenwahnsinn Hessen‹ und ›Wohnen ist Menschenrecht‹ geworden sind. Zusätzlichen Rückenwind haben wir durch die allgemein gesteigerte mediale Aufmerksamkeit für wohnungspolitische Kämpfe durch das Berliner Volksbegehren ›Deutsche Wohnen und Co. Enteignen‹ im April 2018 und die Einführung des Mietendeckels im Januar 2020 – ebenfalls in Berlin – erfahren. Im November 2019 ging außerdem in Stuttgart die durch uns inspirierte Initiative für ein dortiges Bürger*innenbegehren unter dem gleichen Namen (Mietentscheid) an den Start. Neben der außerparlamentarischen Vernetzung haben wir die parlamentarischen und später die juristischen Vorgänge zum Mietentscheid verfolgt. Dabei war es uns ein Anliegen, denjenigen, die unterschrieben hatten, möglichst transparent zu machen, warum das Verfahren sich verzögert und wann mit einer Abstimmung zu rechnen ist. Zugleich sind wir auf Gesprächsangebote des Planungsdezernenten Mike Josef (SPD) und einzelner Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung eingegangen. Dabei mussten wir feststellen, dass selbst für einzelne unserer Forderungen (zum Beispiel Mietsenkungen) keine Mehrheit in der Koalition aus CDU, SPD und Grünen besteht. Es wurden durch die Stadtregierung während der Prüfung des Mietentscheids auch keine anderen Maßnahmen ergriffen, die zu einer deutlichen Entspannung des Wohnungsmarktes beigetragen hätten. Schließlich wurde das Verfahren zum Mietentscheid so lange von der Stadt verzögert, dass wir keine andere Möglichkeit sahen und neben den

Mietentscheid Frankfurt: Direktdemokratisch für mehr bezahlbaren Wohnraum

politischen Aktionen (außerparlamentarischen wie parlamentarischen) auch auf juristischer Ebene aktiv wurden: Am 23. Januar 2020 haben wir den Magistrat auf Untätigkeit verklagt, nachdem dieser nach fast einem Jahr noch immer kein Rechtsgutachten vorgelegt hatte und auf öffentliche Nachfragen hin noch nicht einmal verbindliche Zusagen zu einem Veröffentlichungszeitpunkt machen wollte. Auf unsere Klage hin beschloss der Magistrat schließlich am 7. Februar 2020 das Rechtsgutachten zum Mietentscheid, welches den Mietentscheid als unzulässig einstuft. Das Rechtsgutachten ist im parlamentarischen Informationssystem der Stadt Frankfurt einsehbar (Stadt Frankfurt 2020). Insgesamt blieb der Mietentscheid Frankfurt auch in der langen ›Warte‹-Zeit ein relevanter politischer Akteur in der Frankfurter Wohnungspolitik und konnte über den gesamten Zeitraum die Aufmerksamkeit für das Verfahren in der Stadtgesellschaft hochhalten. Als Herausforderung in der Zeit zwischen Unterschriftenabgabe und Abstimmung der Stadtverordneten haben wir vor allem erlebt, dass es nach der aktiven Phase des Unterschriftensammelns immer schwieriger wurde, neue Mitglieder zu gewinnen. Zudem drohte der Mietentscheid durch die Fokussierung auf das städtische Rechtsgutachten und juristische Feinheiten ein Expert*innen-Projekt zu werden. Durch diese Tendenz, die in den rechtlichen Vorgaben für Bürger*innenbegehren angelegt zu sein scheint (Diesselhorst 2018), wurde es schwieriger, Kontakt zu denjenigen zu halten, die für den Mietentscheid unterschrieben hatten. Immerhin waren seit der Unterschrift bereits bis zu 18 Monate vergangen.

Wie geht es weiter? (Aktueller Stand Frühjahr 2021) Laut dem Rechtsgutachten der Stadt sei der Mietentscheid nicht zulässig, da er gegen einige Regelungen der Hessischen Gemeindeordnung verstoße. Am 26. März 2020 hat sich die Mehrheit der Stadtverordneten der Darstellung des Magistrats angeschlossen. Die Abstimmung erfolgte im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in einer extrem verkürzten und verkleinerten Notsitzung des Stadtparlaments. Eine Diskussion der Forderungen fand nicht statt. Die Einschätzung der Rechtsungültigkeit des Begehrens teilen wir nicht. Zum Beispiel äußert die Stadt im Rechtsgutachten die Ansicht, dass die ABG gegen ihren Zweck »eine sichere und sozial verantwortbare Wohnungsversorgung der breiten Schichten der Bevölkerung« verstoße, wenn sie – wie von uns gefordert – ausschließlich geförderte Wohnungen bauen würde (Stadt Frankfurt 2020: 10). Da 68 % der zur Miete wohnenden Haushalte in Frankfurt Anspruch auf eine geförderte Wohnung (klassische Sozialwohnung plus Mittelschichtsprogramm) haben (IWU 2015: 13), ist die städtische Auslegung »breiter Schichten der Bevölkerung« mehr als fraglich. In einer ursprünglichen Version des Rechtsgutachtens der Stadt widersprechen sich zudem die Kostenschätzungen zum Mietentscheid: Während das Stadtplanungsamt die Kostenschätzung des Mietentscheids als »realistisch« bezeichnet, ist das stadteigene Wohnungsunternehmen ABG der Ansicht, die Kosten für den Mietentscheid seien deutlich höher. Eine Berechnungsgrundlage für diese Ansicht wird nicht dargelegt. Aus der endgültigen Version des Rechtsgutachtens ist der Satz zwar gestrichen worden, der die Bestätigung des Stadtplanungsamtes enthält, aber auf der Internetseite der Mietentscheid-Bündnisorganisation ›Eine Stadt für alle!‹ ist die ursprüngliche Version des Rechtsgutachtens noch einsehbar (Stadt Frankfurt 2019c: 5).

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Abbildung 2: Zeitstrahl der bisherigen Etappen des Mietentscheids (Quelle: Felix Sauer).

Das Rechtsgutachten der Stadt werden wir vor Gericht anfechten. Die juristische Auseinandersetzung ist für uns jedoch nur ein Mittel neben anderen, um unsere Forderungen durchzusetzen. Denn auch im Laufe des Jahres 2020 reißen die Berichte über steigende Mieten in Frankfurt nicht ab. Und selbstverständlich kämpfen Menschen weiterhin für mehr bezahlbaren Wohnraum – sei es trotz des trägen Verfahrens um den Mietentscheid oder gerade wegen des Mietentscheids, der eine zusätzliche Möglichkeit bietet, gegen steigende Mieten aktiv zu werden.

Fazit: Konkrete Forderungen mit Rückhalt Ein Bürger*innenbegehren zum Thema bezahlbarer Wohnraum zu initiieren, ist sehr aufwendig, langwierig und richtet sich an eine oft träge parlamentarische Stadtpolitik. Nichtsdestotrotz konnten wir mit dem Mietentscheid ein Thema aufgreifen, das den Alltag vieler Menschen bestimmt. Die breite Unterstützung und Vernetzung für eine konkrete Veränderungsperspektive gab und gibt uns viel Rückhalt. In Frankfurt hat der Mietentscheid die Mietenbewegung um konkrete Forderungen zur Geschäftspolitik der stadteigenen Wohnungsgesellschaft ABG erweitert. Zur Kommunalwahl im März 2021 ist unser Vorschlag, die Mietenpolitik der ABG zu verändern, nicht vom Tisch. Abschließend möchten wir allen danken, die sich für den Mietentscheid Frankfurt engagiert haben und weiter engagieren – ob in der Kampagne oder beim Unterschriftensammeln. Wir sind davon überzeugt, dass wir unserem Ziel nähergekommen sind, mehr bezahlbaren Wohnraum in Frankfurt zu schaffen, und werden auch in Zukunft weiter dafür kämpfen!

Mietentscheid Frankfurt: Direktdemokratisch für mehr bezahlbaren Wohnraum

Endnoten 1

Wir, die Autor*innen dieses Beitrags, sind von Beginn an beim Mietentscheid dabei gewesen. Wir haben an den Forderungen mitgearbeitet, Unterschriften gesammelt, die Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen mitorganisiert. Aber der Mietentscheid ist natürlich ein Gemeinschaftsprojekt, das ohne das ehrenamtliche Engagement von hunderten Unterschriftensammler*innen und Unterstützer*innen nicht möglich gewesen wäre.

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In Gemeinden unter 100.000 Einwohner*innen gelten höhere Quoren.

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Ein Punkt, der in der politischen Diskussion immer wieder gegen den Mietentscheid auftaucht, kann damit leicht entkräftet werden: Und zwar entlassen die Forderungen des Mietentscheids nicht etwa private Immobilienunternehmen aus der Pflicht, eine soziale Wohnraumversorgung sicher zu stellen. Tatsächlich beinhaltet der Mietentscheid diesen Punkt gar nicht, da er schlicht gesetzlich nicht zulässig ist – denn eine solche Form der Beschränkung liegt außerhalb der rechtlichen Möglichkeiten eines Bürger*innenbegehrens.

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Beispielsweise sind Unterschriften von Nicht-EU-Bürger*innen formal ungültig. Nicht-EU-Bürger*innen sind vom Kommunalwahlrecht ausgeschlossen und ihre Stimme wird auch bei direktdemokratischen Verfahren wie Bürger*innenbegehren nicht gehört. Viel Unterstützung erhielten wir außerdem von Menschen, die aufgrund der hohen Mieten in Frankfurt bereits in die Umlandgemeinden verdrängt worden sind. Auch ihre Unterschriften waren nicht gültig.

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Eine – nicht zuletzt für den Mietentscheid – wichtige Ausnahme ist zu nennen: Im August 2018 übergaben die Organisator*innen des Radentscheids Frankfurt 40.000 Unterschriften an die Stadt. Das Begehren für eine bessere Fahrradinfrastruktur wurde allerdings nicht den Bürger*innen zur Abstimmung gestellt, sondern wurde in einer geänderten Version von der Stadtverordnetenversammlung am 29.08.2019 beschlossen (Stadt Frankfurt am Main 2019b).

Literaturverzeichnis ABG Frankfurt Holding (2019): Geschäftsbericht 2018. Vision und Wirklichkeit, https://www. abg.de/unternehmen/der_abg_konzern/geschaeftsberichte/ (Zugriff: 20.03.2020). Diesselhorst, Jonathan (2018): »Wenn stadtpolitische Bewegungen das Terrain des Staats betreten. Zwischen Berliner Mietenvolksentscheid und ›Wohnraumversorgungsgesetz‹«, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 48 (2), S. 265–282. FAZ, Frankfurter Allgemeine Zeitung (02.10.2019): Explodierende Mieten sind die Ausnahme, https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt/sozialwohnungen-in-grossstaedten-die-mietpreisbindung-16412352.html (Zugriff: 20.03.2020). FR, Frankfurter Rundschau (16.08.2018): Streit über Mietentscheid in Frankfurt, https://www.fr.de/ frankfurt/wohnen-in-frankfurt-sti903943/streit-ueber-mietentscheid-frankfurt-10956140. html (Zugriff: 08.04.2020). FR, Frankfurter Rundschau (17.02.2019): Frankfurt: ABG will Kalkulation nicht offenlegen, https://www.fr.de/frankfurt/wohnen-in-frankfurt-sti903943/legt-keinezahlen-offen-11769380. html (Zugriff: 13.05.2020). IWU, Institut für Wohnen und Umwelt (2015): Schätzung der im Frankfurter Programm für familien- und seniorengerechten Mietwohnungsbau berechtigten Haushalte. Institut Wohnen und Umwelt, Darmstadt. Stadt Frankfurt (2019a): Tätigkeitsbericht 2018. Amt für Wohnungswesen, https://frankfurt.de/-/ media/frankfurtde/service-und-rathaus/verwaltung/aemter-und-institutionen/amt-fuer-wohnungswesen/pdf/taetigkeitsberichte/taetigkeitsbericht-2018.ashx (Zugriff: 20.03.2020). Stadt Frankfurt (2019b): § 4424 Beschlussausfertigung aus der 35. Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 29.08.2019, https://www.stvv.frankfurt.de/download/PAR_4424_2019. pdf (Zugriff: 09.06.2020). Stadt Frankfurt (2019c): Bürgerbegehren: Bezahlbarer Wohnraum in Frankfurt am Main (Mietentscheid Frankfurt am Main). Magistratsvorlage zum Beschluss im Magistrat in der Version vom 20.12.2019, https://www.stadt-fuer-alle.net/?p=1675 (Zugriff: 09.06.2020). Stadt Frankfurt (2020): Bürgerbegehren: Bezahlbarer Wohnraum in Frankfurt am Main (Mietentscheid Frankfurt am Main). Magistratsvorlage M 23 vom 07.02.2020, https://www.stvv. frankfurt.de/download/M_23_2020.pdf (Zugriff: 20.03.2020).

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Hausbesetzungen – Mietstreiks – ›Häuserkampf‹. Urbane Kämpfe in Frankfurt 1970 bis 1975 Rolf Engelke

Der Ruf von Frankfurt am Main in den 1970er Jahren war vor allem in konservativen Kreisen BRD-weit ausgesprochen schlecht. Als die Polizei im Januar 1974 in der Heidelberger Altstadt ein von einer Frauengruppe besetztes Gebäude räumt, gibt der damalige Ministerpräsident Filbinger (CDU) dazu eine Erklärung, die für sich sprechen soll: »Wir werden es nicht zulassen, daß es in irgendeiner Stadt in Baden-Württemberg zu Frankfurter Verhältnissen kommt« (Stuttgarter Zeitung 24.1.1974). Für die Law-and-Order-Fraktion in Frankfurt selbst, ihre Parteien und Medien, gelten die »Frankfurter Verhältnisse« ebenso als Synonym für Chaos, Unregierbarkeit und Zerfall. Die Orte dieser »Zustände« sind schnell ausgemacht: der Campus Bockenheim mit den Uni-Hörsälen, der AStA und das »Studentenhaus«, ganz allgemein »die Straße«, die rebellischen Viertel mit hoher WG-Dichte, die seit 1970 im Frankfurter Westend besetzten Häuser vor allem. Die Akteur*innen sind ebenso eindeutig definiert: ›langhaarige Protest-Studenten‹, eine antiautoritäre Jugendkultur und ihr Drogenkonsum, Aktivist*innen der 68er Bewegung, die sich abseits des von Kanzler Brandt zugesagten »mehr Demokratie wagen« organisieren, anstatt den Weg der ›konstruktiven Mitarbeit‹ in die Parteien zu suchen, zu guter Letzt noch die ›Gastarbeiter‹, die mit ›wilden Streiks‹ ohne Genehmigung durch die DGB-Gewerkschaften gegen ihre Arbeitsbedingungen und gegen ihre Unterbringung in teuer zu bezahlenden ›Bruchbuden‹ mit Mietstreiks rebellieren. Dazu kommt seit Anfang der 1970er Jahre eine BRD-weit einmalige jugendliche Hausbesetzer*innenbewegung. Das Organ des verängstigten Frankfurter Kleinbürgertums, die Frank­ furter Neue Presse, befürchtet im Frühjahr 1973 vor allem in den besetzten Häusern »Brutstätten der politischen Kriminalität«, ja geradezu »Bürgerkriegsnester«, die dabei seien, eine »Nebenregierung« zu bilden – »heute die Häuserräte, morgen vielleicht die ›Räte der besetzten Fabriken‹«. Des sich dort konzentrierenden Bürgerkriegspotentials müsse man einfach Herr werden. Vergleichbare Reaktionen, die an Panik grenzen, kommen aber nicht nur von konservativen Medien oder Parteien; auch bei den in Frankfurt seit 1945 herrschenden Sozialdemokraten, insbesondere bei deren Magistratsmitgliedern, dominieren Bilder der Unordnung, verursacht durch »linksradikale Politrocker«, gegen die »mit harte[r] Hand« vorgegangen werden müsse. OB Arndt (SPD) lässt es auch nicht an starken Worten fehlen, wenn er etwa in der Boulevard-Presse militante Aktionen der Hausbesetzer*innenbewegung als »schlimmer als von SA-Horden« brandmarkt. Die Reaktionen

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der vor allem jugendlichen Protestszene auf derartige Aburteilung durch die herrschende Politik äußert sich ebenso unmissverständlich, Ausdruck einer als fundamental begriffenen Konfrontation in der Stadt: »Banken, SPD und Magistrat – sind ein Gangstersyndikat!«, so das plakative Fronttransparent einer Demonstration gegen eine polizeiliche Hausräumung im Februar 1974, das das (vorläufige) Ende eines politischen Diskurses zwischen politischen Akteuren markiert.

Vorgeschichte(n) der urbanen Kämpfe von 1970 bis 1975 Vorgeschichte beziehungsweise Hintergrund für die Auseinandersetzungen der 1970er Jahre stellen offensichtlich die Umbrüche in Frankfurt von der Handelsstadt zur Global City zwischen 1960 und 1968 dar. Die Umstrukturierungen von Frankfurt zu »Bankfurt« beziehungsweise »Mainhattan« sind oft analysiert worden und gelten in der »Global City«-Forschung als exemplarisch (Stracke 1980; Ronneberger/Keil 1995; —Ronneberger in diesem Band). Sie sind nach der unmittelbaren Wiederaufbauphase der kriegszerstörten Stadt nach 1945 und der Konzentration aller westdeutschen Bankenzentralen in der ›Wirtschaftshauptstadt‹ Frankfurt zunächst gekennzeichnet durch das Vordringen des tertiären Sektors in innenstadtnahe Bereiche der Stadt. Notwendig wird damit die Vertreibung von großen Teilen der innenstädtischen Bevölkerung Frankfurts durch Bürobau am Rande der Altstadt, insbesondere aber durch die ab 1970 folgende Expansion der (Büro-)Hochhausbebauung. Vorangetrieben wird dieser Prozess eines Strukturwandels vom Magistrat selbst und der ihn tragenden ›Wachstumskoalition‹ von SPD bis Industrieund Handelskammer (IHK). Er erscheint geradezu als ein Erfolgsmodell für das ›moderne Frankfurt‹ – und ihre beiden ›Chefplaner‹, beide SPD-Mitglieder, Stadtplanungsdezernent Hans Kampffmeyer, seit 1956 im Amt und 1962 für eine ungewöhnlich lange Amtszeit von 12 Jahren wiedergewählt, und Verkehrsdezernent Walter Möller vom ›linken Flügel‹ der Frankfurter SPD, sind über Parteigrenzen hinweg anerkannt und ausgesprochen populär. Ab 1962 nimmt die Entwicklung Frankfurts zum kontinentaleuropäischen Bankenstandort Fahrt auf; umfassende kommunale Planungsprozesse werden angemahnt. Laut ›Fingerplan‹ von 1967, der die Planungen im City-Erweiterungsgebiet konkretisiert, soll eine ›intensive Bebauung‹ mit (Büro-)Hochhäusern am westlichen Rande der Innenstadt fingerförmig an fünf ›Entwicklungsachsen‹ erfolgen. Damit kommt zum ersten Mal auch das Westend als Stadtteil in den Blick; umfassende kommunale Planungsprozesse werden angemahnt. Die Aussicht auf umfangreiche Baumaßnahmen setzt dort eine Spirale von spekulativen Bodenaufkäufen in Gang. »Die Verdrängung der Bevölkerung aus den innerstädtischen Quartieren und die Verwandlung von Wohnungen in Büroraum wurden zu den zentralen Streitpunkten des städtischen Diskurses« (Ronneberger/Keil 1995: 293). Insbesondere die Interessen der von den Umstrukturierungsmaßnahmen betroffenen Mieter*innen drohen den Verwertungsinteressen der Akteure der City-Erweiterung, den Banken, Investor*innen, Immobilienhändler*innen, der Bauindustrie sowie der Stadtpolitik mit einem dominierenden Interesse an Gewerbesteuermaximierung geopfert zu werden. »Mit der Forcierung des Strukturwandels durch die Politik der Kommune zugunsten der gewerblichen Nutzung von City und City-Erweiterungsgebiet und der Verlagerung des Wohnens an die Peripherie der Stadt […] nimmt die Zahl der von den negativen Konsequenzen Betroffenen zu« (Stracke 1980: 40). Denn durch

Hausbesetzungen – Mietstreiks – ›Häuserkampf‹

die geplante Umwandlung eines bürgerlich-großbürgerlichen und vor allem von einer Vielzahl von Villen geprägten Stadtteils zum Büro- und Bankenviertel – mit Ansiedlung von Headquarter-Ökonomie in der (erweiterten) Innenstadt – ergeben sich für die bisherigen Wohnungseigentümer*innen und vor allem die neuen, von den Banken mit Krediten versorgten Investor*innen neue Möglichkeiten. Auf der einen Seite gilt als ›unvermeidlich‹, dass durch Abriss und ›Kahlschlagsanierung‹ ganzer Straßenzüge viele Menschen ihre Wohnungen verlieren werden, zugleich erschließen sich aber die zum Abriss freigegebenen Westend-Großbürger-Villen für ihre Noch-Besitzer*innen beziehungsweise für die Immobilieninvestor*innen als profitable Zwischennutzungsformen: Etwa durch Unterbringung von Studierenden mit befristeter Mietdauer in den vielfach großzügig-gutbürgerlichen Wohnungen, entweder als WG (›Kommune‹) oder als klassische ›Studentenbude‹, oder durch Umwandlung der Wohnungen in Unterkünfte für ›Gastarbeiter‹, die aus kasernenartiger Unterbringung in firmeneigenen Baracken und Wohnheimen in die Stadt drängen. Die Wohnungen sind zumeist überbelegt und mit überteuertem Mietzins belastet. Sie sollen ›abgewohnt‹ werden, bis die

Abbildung 1: Plakat Demonstration und Mieter*innenversammlung, April 1972 (Quelle: Sammlung Reiner Diederich/Richard Grübling)

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Abrissbirne kommt. In Teilen des Westends herrschen seit Ende der 1960er Jahre zunehmend Wohnungselend und krasse Verwahrlosung; entmietete Häuser verfallen zu Ruinen. Der Leerstand wird offenkundig für die umliegenden Westendbewohner*innen, aber auch für Studierende, die auf dem Weg in die Uniinstitute an den leerstehenden Wohnungen vorbeilaufen, die geradezu zur Besetzung einladen. Gegen diese Entwicklung ›ihres‹ Viertels gründet sich als parteiübergreifende und heute noch präsente ›Bürgerinitiative‹ die AG Westend (AGW), der um 1970 honorige Westend-Bürger*innen, oft »mit Schlips und Kragen«, Rechtsanwält*innen, Pfarrer, auch Mitglieder der Westend-SPD und der FDP angehören. Ihre Protestform ist zunächst ausschließlich die Petition und der Versuch der Einflussnahme auf städtische Entscheidungen durch Hinterzimmergespräche mit den ›Verantwortlichen‹. Ab 1969/70 radikalisieren sich ihre Protestartikulationen. In Demos mit ›schwarzen Fahnen‹ und der Verbreitung eines feuerroten Plakats im Viertel mit dem Titel »Mieter, habt den Mut um eure Wohnungen zu kämpfen!« orientiert sich ein Teil der gutbürgerlichen Westend-Einwohner*innenschaft an Aktionsformen, die aus der Student*innenbewegung entnommen sind. Die Kritik der AGW macht sich inhaltlich an der Dominanz der Finanzindustrie und der Investor*innen in Frankfurt fest, und reibt sich vor allem an der Verantwortlichkeit der Politik für Leerstand, Zerstörung und Verfallen Lassen eines denkmalschützerisch wertvollen Viertels. Hauptadressat der Forderungen ist der SPD-­dominierte Magistrat, der zum Handeln aufgefordert wird; als personifizierter ›Feind des Westends‹ wird Planungsdezernent Kampffmeyer (SPD) ausgemacht. Seine Entlassung ist eine der zentralen Forderungen der AGW. Aus den Objekten der städtischen Veränderungsprozesse werden im Konflikt mit Investor*innen und mit der Stadtverwaltung selbstbewusste Subjekte, die in die Prozesse der Stadtentwicklung intervenieren. Hauptkritikpunkt der AGW an der Politik der Stadt ist deren Unfähigkeit zur Regulation der Auseinandersetzung um die Wohnungsfrage. Mit der Forderung nach wirksamen regulativen Momenten in der Stadtentwicklung unterscheidet sich die AGW zugleich von den Hausbesetzer*innen nach 1970, die ganz eindeutig auf die Selbstorganisierung der Mieter*innen setzen und für die städtische Instanzen (fast) ohne Bedeutung sind.

Vom SDS zum ›Roten Gallus‹ Für die weitere Zuspitzung der urbanen Konflikte in Frankfurt ist die Präsenz der antiautoritären, protesterfahrenen post-68er Frankfurter Jugendund Student*innenbewegung in der Stadt von fundamentaler Bedeutung. Sie bringt ihre Erfahrungen mit militantem Widerstand in den Auseinandersetzungen an der Uni ein, zeigt Respektlosigkeit gegenüber der Staatsmacht und deren ›Handlangern‹, zum Beispiel bei Versuchen der Besetzung beziehungsweise Aneignung von Räumen, der Sprengung von Lehrveranstaltungen im Rahmen des Kampfes gegen die Notstandsgesetze (1968) und im ›Aktiven Streik‹ im Wintersemester 1968/69. In diesen Kämpfen hatte sich gerade in der Frankfurter Bewegung eine grundsätzliche Widerstandsbereitschaft gegen Staat, Stadt und Polizei herausgebildet, allerdings hatte der Kern der antiautoritären Bewegung, insbesondere der 1967/68 noch so dominante Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) als organisatorischer Rahmen der Protestbewegung, bereits um 1969 sichtbar an Bedeutung verloren. Die Auseinandersetzungen auf den Mitgliederversammlungen des Frankfurter SDS werden von Aktiven an der Basis nicht selten als ›Matadorenkämpfe‹ praxisferner ›Theoretiker‹ wahrgenommen – ohne

Hausbesetzungen – Mietstreiks – ›Häuserkampf‹

Relevanz für eine radikale Praxis vor Ort. Ein größerer Teil des ehemaligen SDS verlässt auch in Frankfurt nach und nach die Uni (und die akademischen Diskurse) und macht sich in einem ziemlich unübersichtlichen Suchprozess an die ›Organisationsfrage‹, zunächst an den Aufbau von Stadtteilbasisgruppen. Auf dem Höhepunkt dieser Suchbewegung (um 1969/70) existieren in der Stadt 14 derartige Gruppierungen, die teilweise deutlich unterschiedliche politische Zielsetzungen verfolgen; die diversen linksradikalen Organisierungsansätze, neben marxistisch-leninistischen (Ziel: Parteiaufbau) sind operaistische Positionen (Ziel: Entwicklung von ›Arbeiterautonomie‹ nach italienischem Vorbild) in Frankfurt dominierend, tragen zur Unübersichtlichkeit der ›Szene‹ bei. Eine Fraktion in der Stadtteilbasisgruppe Bockenheim versucht sich in Mieter*innenpolitik im Stadtteil Gallus, der nach Ansicht der Protagonist*innen für Frankfurter Verhältnisse vergleichsweise ›proletarisch‹ geprägt ist – sie gibt sich um 1969/70 den Namen ›Roter Gallus‹. Die ›Flucht‹ der antiautoritären Bewegung aus der Hochschule, die schon nach der Niederlage des SDS im ›Aktiven Streik‹ einsetzt, verstärkt sich mit den Septemberstreiks von 1969. Diese ›wilden‹ Arbeitskämpfe – vor allem in der Stahlindustrie und im Bergbau an Ruhr und Saar – ohne den Segen der DGB-Gewerkschaften scheinen zu belegen, dass entgegen Thesen von der ›Verbürgerlichung‹ des Proletariats nicht nur im ›Pariser Mai‹, sondern auch in der BRD Klassenkämpfe real stattfinden. Für viele Aktive der antiautoritären Jugendbewegung sind die Septemberstreiks Initialzündung für eine Suche nach neuen Handlungsfeldern abseits der vermeintlichen Isoliertheit der Bewegung in den Hochschulen, die entweder in der Betriebsarbeit selbst oder im ›proletarisch homogenen‹ Stadtteil Gallus gefunden werden. Für beide Ansätze gilt zunächst das ›Primat der Betriebsarbeit‹. Der ›Rote Gallus‹ versteht seine Intervention als »Versuch, die bisherigen Bemühungen dieser Gruppen, praktische Arbeit in einem Stadtteil vorzubereiten, inhaltlich zu verbinden und einen gemeinsamen praktischen Ansatz zu erarbeiten.« Stadtteilarbeit bekomme von daher seine Bedeutung, weil »die Lebensverhältnisse des Proletariats außerhalb des Betriebes […] konstituierendes Moment von Klassenherrschaft« seien. »In der gegenwärtigen Phase noch nicht einheitlicher, wenigstens lokaler Organisation« aber könne »sozialistische Praxis nur arbeitsteilig geleistet werden, zum Beispiel von Betriebsgruppen einerseits und andererseits Gruppen, die die übrigen Bereiche der konkreten Lebensverhältnisse des Proletariats erfassen«, zum Beispiel ihre Wohnsituation als Mieter*innen (Roter Gallus 1970). Die Arbeit im ›Roten Gallus‹, vor allem die Organisierung von Mieter*innen, gestaltet sich allerdings recht mühsam und auf Dauer frustrierend. Im Juni 1970 ruft die Gruppe in einem Flugblatt zu einer »Mieterprotestveranstaltung« im Gallus auf, wo in einer Resolution die »Rücknahme von Mieterhöhungen« bei der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Hellerhof AG gefordert wird. Aber es bleibt beim papierenen Protest, die nötige »massenhafte Solidarität« auf der Straße und in Aktionen bleibt aus: An einer Demo durch den Stadtteil nehmen lediglich 200 Gegner*innen der Mieterhöhung teil, überwiegend wohl aus dem engeren Sympathisant*innenumfeld der linken Szene, ein sehr begrenzter Erfolg. Im Lauf des Sommers und des Frühherbstes 1970 verbreitet die Gruppe noch zwei Ausgaben ihrer Stadtteilzeitung ›Roter Gallus‹ in relativ hoher Auflage. Im Winter 1970/71 scheint sich der ›Rote Gallus‹ aufgelöst zu haben. Er fand keine Ausdrucksform, die Mietfrage als Moment von urbanen Kämpfen mit konfrontativen Aktionen

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öffentlich wahrnehmbar zu präsentieren und Organisierungsprozesse über die eigene linksradikale Klientel hinaus in Gang zu setzen.

Die erste Hausbesetzung im September 1970 – Aneignung von Häusern als neue Protestform Ein erster wohnungspolitischer Interventionsversuch – von der ›Nur-Betroffenheit‹ zum sichtbaren Protest und zur Aktion –, der bewusst die Grenzen der gesetzlich fixierten Eigentumsordnung durchbricht und die Vermittlung der Institutionen des kommunalen Staates ablehnt, ist die wohl erste bundesdeutsche Hausbesetzung in der Eppsteiner Str. 47 im Frankfurter Westend. Sie wird im September 1970 eher aus einem linken sozialarbeiterischen Projekt mit Obdachlosen und ›Gastarbeitern‹ geboren denn aus aktivistischen linksradikalen Gruppen wie der Stadtteilgruppe ›Roter Gallus‹, die einen Tag nach der erfolgreichen Hausbesetzung gerade die zweite (und letzte) Ausgabe ihrer Zeitung herausgibt. Die Hausbesetzung ist aber zugleich ohne die militante Vorgeschichte der antiautoritären Frankfurter Bewegung wie der Suche nach neuen Lebensformen in neuen Wohnformen nicht denkbar. Der an der Besetzung beteiligte Til Schulz (1972: 88 f.) beschreibt im Nachhinein das »bunte Gemisch« der Hausbesetzer*innen: »Hippiehafte Jugendliche, die unter der Repression der Polizei litten und insgeheim vom bewaffneten Kampf träumten, Versprengte der antiautoritären Bewegung, Adornoschüler auf der Suche nach der ›richtigen‹ Praxis, die Angehörigen eines Filmkollektivs, die in der Aktion ihre eigenen Probleme zu bekämpfen suchten, dann die anarchistischen Sozialhelfer, welche die Zustände, unter denen sie ›sozial‹ arbeiten sollten, zu radikalen Worten und Taten trieben – für sie alle war das Wohnungsproblem zentral.« Unter den Stichworten »Wohnungskampf, Hausbesetzung, Wohnkollektiv« wirft Schulz einen skeptischen Blick auf das »arbeitende Hauskollektiv«, wo es unter anderem nicht gelungen sei, die migrantischen Familien in das Kollektiv zu integrieren: »Kollektive können nur im Kampf entstehen und sich bewähren; unser Kollektiv siegte zu schnell und mußte sich im täglichen Einerlei bewähren. Dazu war es von seiner Zusammensetzung her nicht in der Lage« (ebd.). Offensichtlich lässt sich der Kollektivgedanke in der widersprüchlichen Bedürfnislage zwischen jugendlichen WG-Bewohner*innen und den zumeist am Existenzminimum lebenden Arbeiter*innenfamilien kaum realisieren, die Probleme im ›täglichen Einerlei‹ wachsen den Beteiligten über den Kopf. Gleichwohl existiert die Eppsteiner Str. 47 trotz zahlreicher Brüche innerhalb des Kollektivs und in stark veränderter personeller Zusammensetzung bis zum heutigen Tage – mittlerweile aber eher in der Form von Mietwohnungen üblicher Art. Dem ›schnellen Sieg‹ der ersten Hausbesetzung in der Eppsteiner Str. 47 folgen noch im gleichen Jahr in rascher Folge weitere Besetzungen: Corneliusstr. 24 und Liebigstr. 20, letztere wird nach einer Vereinbarung mit der Stadt über die Zuweisung von ›Ersatzraum‹ von den Besetzer*innen verlassen. Der studentische ›diskus‹ solidarisiert sich mit diesen Aktionsformen, die auf ein höheres Konfrontationsniveau mit den Verantwortlichen der Wohnungsnot abzielen, und ruft dazu auf, massenhaft Häuser im Westend zu besetzen. Die in Frankfurt erscheinende fraktionsübergreifende linksradikale ›Socialistische Correspondenz‹ fordert die Unterstützung des »Versuchs von deutschen und ausländischen Arbeiterfamilien, sich selbst gegen die Wohnungsmisere zu organisieren und dem Makler- und Mietterror Widerstand zu leisten.« Eine Dokumentation des Häuserrats von 1974/75 versteht die Hausbesetzungen des Jahres 1970 im Nachhinein als »so etwas

Hausbesetzungen – Mietstreiks – ›Häuserkampf‹

wie ein erster Kampfzyklus der Wohnungsbewegung in Frankfurt« (Häuserrat Frankfurt 1974: 31), mit den besetzten Häusern Eppsteiner Str. 47 und Corneliusstr. 24 als »Kristallisationspunkt[en] für die weiteres Bewegung« (Stracke 1980: 85). Sie hätten »die Bedingung für die weitere Entwicklung« geschaffen, die bis 1974 tatsächlich ein urbanes Konfliktfeld mit »massenhafter« Beteiligung ausmachte (Häuserrat Frankfurt 1974: 31). Vor allem im Westend stößt die Besetzung über die Studierendenszene hinaus auf Sympathie und materielle Unterstützung. Entgegen der konservativen Presse, die OB Möller (SPD) auffordert, hier endlich einzuschreiten, es habe genug der »Rechtsbrüche, […] genug der Willkür« gegeben, werten Möller wie mehrheitlich die Frankfurter SPD die ersten Hausbesetzungen noch als ein nachvollziehbares »demonstratives Signal«, ja als eine »Aktion der Selbsthilfe« gegen die »Entvölkerung« des Westends durch »profitgierige Spekulanten«. Diese Zurückhaltung des OB ist nicht zuletzt den bevorstehenden hessischen Landtagswahlen geschuldet, für die Möller eine geeinte SPD – inklusive Jusos und SPD-Ortsverein Westend – benötigt. So lässt Möller bei den Hausbesetzer*innen einerseits eine »Demonstrationsabsicht« gelten, verweist aber gleichzeitig auf den »illegalen Charakter der Aktionsform« (Stracke 1980: 85). Unmittelbar nach den Wahlen betont Möller dann mit Nachdruck, dass weitere Besetzungen auf jeden Fall verhindert und gegebenenfalls geräumt würden. Insgesamt ist der Umgang Möllers mit den Hausbesetzungen Ausdruck einer in sich widersprüchlichen Politik der SPD in der Stadt: einerseits Duldung der Besetzungen als »demonstrative« (und in der Regel befristete) Aktionen gegen Wohnungsnot, Verdrängung und drohende Obdachlosigkeit, andererseits prinzipielle Wahrung der rechtlich fixierten Ansprüche der Hauseigentümer*innen und Investor*innen. Eine Grenze für das Nachgeben der SPD, deren Spektrum ja vom ›Chefplaner‹ der Bankenmetropole Frankfurt am Main, Kampffmeyer, bis zu Sympathisierenden mit der Hausbesetzer*innenbewegung unter den Jusos reicht, ist die Funktionsfähigkeit von Frankfurt als künftiges kontinentaleuropäisches Finanzzentrum, die nicht in Frage zu stellen ist. Dieses Konzept, für das die Frankfurter SPD (wie die gesamte ›Wachstumskoalition‹ in der Stadt gleichermaßen) und die Politik (weitsichtiger) kommunaler Gewerbesteuermaximierung steht, bleibt unantastbar, was freilich von der entstehenden urbanen Bewegung nicht akzeptiert werden kann. Die örtliche Politik der SPD hier, die vor allem auf die Verknüpfung von »Wirtschaftswachstum« und Gewerbesteuereinnahmen zielte, verschärfte die Konfliktlage zwischen Stadtpolitik und von Wohnungsnot Betroffenen, »die Wohnungspolitik wurde zur Achillesferse der für den Stadtumbau Verantwortlichen« (Sedlmaier 2018: 304).

Zyklen des Häuserkampfs Vor allem in Frankfurt am Main und ab 1979/80 in West-Berlin stand »der wachsende Bedarf an Wohnraum in scharfem Kontrast zu kalkuliertem Leerstand und Abriss, der Platz schaffen sollte für […] Bürohochhäuser und Verkehrsknotenpunkte, während Politiker versuchten, den Wohnraum in neue gebaute Trabantenstädte an der Peripherie zu verlagern«. Seitens der Betroffenen »erschienen Hausbesetzungen als provokative Alternative zur Konsumgesellschaft« (Sedlmaier 2018: 295). »Provisorische Behausungen wurden zum Symbol für jugendliche Autonomie, und die Hausbesetzerszene wollte diese Lebensform verteidigen« (ebd.: 296). Die Realgeschichte des zur Legende gewordenen »Frankfurter Häuserkampfs«, also der »zweite Kampfzyklus der Wohnungsbewegung in

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Abbildung 2: Demonstration in der Frankfurter Innenstadt zur Unterstützung der Mietstreiks, 1972/73 (Quelle: Rückseite der Broschüre ›Der Wohnungskampf geht weiter‹ von ›Unione Inquilini‹)

Frankfurt« (Häuserrat Frankfurt 1974: 31), beginnt mit dem Versuch der Besetzung der Selmi-Villa im Grüneburgweg 113 im September 1971, die sich eine studentische Szene als Ort der Entfaltung einer alternativen Lebensweise gewählt hat. Durch einen massiven Polizeieinsatz, den OB Möller zu verantworten hat, wird die Hausbesetzung verhindert. Nicht nur für die Frankfurter Rundschau (FR 30.9.1971) stellt sich das Vorgehen der Polizei gegen die Besetzer*innen als der »härteste Einsatz der Polizei seit 1968« dar; Kritik in den Medien und natürlich auch in großen Teilen der SPD drängen Möller und den Magistrat erneut in die Defensive. Für Möller ist die ein knappes Jahr zuvor formulierte Maxime, Hausbesetzungen »als Teil einer breit angelegten Aktion mit dem Ziel, Sicherheit und Ordnung zu gefährden«, zu sehen und dagegen konsequent mit »polizeilichen Mitteln« »einzuschreiten«, nicht mehr zu halten. Ihm sei »die Gesundheit von Polizisten und Demonstranten zu schade, um sie für die Interessen von Hausbesitzern aufs Spiel zu setzen, die ihre sozialen Verpflichtungen aus dem Eigentum so entscheidend vernachlässigen« (Häuserrat Frankfurt 1974: 42), so in sozialdemokratischem Duktus die Begründung des OB für ein künftig defensiveres Vorgehen gegen Hausbesetzungen. Es bleibt aber nicht bei defensiver Symbolik. In dem Bemühen, für die Stadt bessere Voraussetzungen in möglichen Konflikten bei Haus­besetzungen zu verschaffen, schaltet der Frankfurter Magistrat eine vermeintlich neutrale Institution in die Konfliktlösungsstrategie ein, die Wohnheim GmbH. »Sie soll die Zwischenvermietung der […] leerstehenden Häuser an ›flexible‹ Bewohner wie Emigranten und Studenten übernehmen und so weitere Besetzungen verhindern« (Stracke 1980: 86). Mit zeitlicher Befristung wird damit einerseits eine vorübergehende Legalisierung von durch Besetzung angeeigneten Wohnungen inklusive Nutzungsverträgen ermöglicht – den

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Hausbesitzer*innen wird aber zugleich zugesagt, zu einem späteren Zeitpunkt, zum Beispiel wenn eine Baugenehmigung konkret vorliegt, wieder Zugriff auf das besetzte Haus zu erhalten. Mit der »Verlagerung der Problematik von der politischen auf die juristische Ebene« (ebd.) soll dann gegebenenfalls auch die Räumung besetzter Häuser quasi als Verwaltungsakt ›wasserdicht‹ möglich werden, wenn nötig mit polizeilichen Mitteln zur Durchsetzung des Rechts. Geplant wird die – polizeilich verhinderte – Besetzung des Grüneburgweg 113 im studentischen Umfeld des ›Revolutionären Kampfs‹ (RK), durchgeführt von einer organisierten Gruppe vor allem aus der am RK orientierten ›Rote Zelle Jura‹ (Rotzjur). Die Kerngruppe des RK war um 1969/70 aus der SDS-Betriebsprojektgruppe (BPG) hervorgegangen und hatte nach der Erarbeitung eines operaistisch inspirierten Konzepts für die betriebliche Untersuchungsarbeit mit einer Betriebsintervention bei den Opel-Werken im nahen Rüsselsheim begonnen. Zum Zeitpunkt des misslungenen Besetzungsversuchs im Grüneburgweg war für zahlreiche Mitglieder des RK die Arbeit bei Opel immer noch das Hauptbetätigungsfeld der Gruppe (Arps 2011: 90 f.). Die nur eine Woche nach der ›Straßenschlacht‹ und als prompte Reaktion der Hausbesetzer*innen auf den Polizeiterror im Grüneburgweg 113 durchgeführte, erfolgreiche Besetzung der Bockenheimer Landstr. 111 macht sichtbar, dass der RK nach einem Operationsfeld für Interventionen außerhalb der Fabrik suchte. Die Hausbesetzung in der Bockenheimer Landstraße begründet das Renommee des RK als verlässliches Kollektiv für erfolgreiche Hausbesetzungen. Aus einer Protestdemo von »über 3.000 Genossen« heraus gegen die gewaltsame Verhinderung der Grüneburgwegbesetzung wird das repräsentative und vom Abriss bedrohte Gebäude an der Bockenheimer Landstraße besetzt »und sofort verbarrikadiert« (Häuserrat Frankfurt 1974: 42). Mit der handstreichartigen, aber gut geplanten Besetzung werden der RK und sein studentisches Sponti-Umfeld zum »Platzhirsch« (Koenen 2001: 340) innerhalb der radikalen Linken in Frankfurt – und darüber hinaus. Es wurde »schick, sich mit dem Label Sponti zu schmücken« (ebd.: 341). Der linksradikale Flügel der Jugendbewegung, der sich seit 1969/70 vor allem auf die Fabrikintervention bei Opel in Rüsselsheim konzentriert hatte, wird mit der Besetzung ›der Bockenheimer‹ zum Akteur im Ensemble der sich zuspitzenden urbanen Konflikte, grenzt sich aber zugleich von den Akteuren der Wohnungskämpfe wie der AG Westend oder den Jusos ab, die eine Strategie institutioneller Regulation seitens der Stadt anmahnen. Ein Autor der RK-nahen ›Roten Zelle Jura‹ betont in einer Darstellung der linksradikalen Intervention die Diskrepanz mit den Aktionen der AGW und den antikapitalistischen Grundkonsens der Besetzer*innen ›der Bockenheimer‹: »Seinen politischen Wert und […] seine neue Qualität hatte dieser Aktionszusammenhang der jüngsten Vergangenheit in seiner dezidiert antireformistischen Stoßrichtung: Nicht die Auswüchse der kapitalistischen Verhältnisse gilt es anzugreifen, sondern diese Verhältnisse selbst und deren Spielregeln. […] Macht kaputt, was euch kaputt macht [...]!« (Eisenhardt 1971: 38). Im Bewegungszyklus der Häuserkämpfe wird die Spontibewegung zur politisch hegemonialen Kraft in der Frankfurter (radikalen) Linken mit ihren eigenen Orten, von den WGs über besetzte Häuser bis zu politisch-sozialen Zentren, die sie dominiert, und in Abstimmung mit dem gleichfalls sp­onti-dominierten Häuserrat (›Rat der besetzten und bestreikten Häuser‹) als weithin anerkanntem Beratungs- und Entscheidungsort. Auch wenn der Häuserrat, der je nach Bewegungskonjunkturen prekär aufgestellt ist oder, wenn eine polizeiliche Räumung drohte, auch Vollversammlungscharakter

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für die Bewegung hat, nicht als ›Rat‹ im Sinne des Rätegedankens missverstanden werden sollte. Er entspricht zu keinem Zeitpunkt einem wirklichen »repräsentativen Delegiertengremium«, sondern »variierte je nach Konfliktlage« (Stracke 1980: 103). Ebenso wie in den Plena des RK werden die Entscheidungsprozesse im Häuserrat durch informelle (Herrschafts-) Strukturen und Akteure aus den ›wichtigen‹ WGs vorbereitet. Dabei verleihen das dichte Netzwerk von (noch) besetzten Häusern, die untereinander verknüpften WG-Strukturen, die ›Szene‹ als ›Dorf‹ sowie die regelmäßigen Demos als Treffpunkte der Bewegung der Spontibewegung eine nachhaltige relative Stabilität. Innerhalb des Häuserrats, der Bezugspunkt nicht nur für die Hausbesetzer*innen, sondern auch für die über die Stadt verteilten WGs ist, werden RK-›Kader‹ zu anerkannten Sprechern und ›Praktikern‹ der Bewegung. Die linksradikale politische Konkurrenz der ›K-Gruppen‹, insbesondere die Vorläufergruppen des KBW (zum Beispiel der Kommunistische Studentenverband Frankfurt – KSV) und ab 1973 der KBW selbst, kritisiert (und denunziert) mit bissigen Kommentaren erfolglos die enge Szeneorientierung des Häuserkampfs als pure »studentische Selbsthilfeaktionen« – von Bewegten für Bewegte – und isoliert sich mit dieser Kritik als praxisferner »besserwissender Lieblingsfeind« (»KBWichtig!«) der Spontis schon ab 1971 und auf längere Sicht von den Bewegungsaktivisten (Koenen 2001). Die Bewohner*innenkollektive der besetzten Häuser stellen sich aber als ›bunter‹ dar, als die ›herrschende‹ Berichterstattung der Sponti-Presse vermuten lässt. Laut der autobiographischen Darstellung bei Ulrike Heider (2001) leben in den besetzten Häusern eine »wilde« Mischung unter anderem von Anarchist*innen, Lotta Continua-Aktivist*innen und Angehörigen der RK-nahen MAO (Marxistische Aufbau-Organisation) sowie von ›K-Gruppen‹ neben bekennenden Schwulen der ›Rotzschwul‹ und Sympathisant*innen des RK oder des bewaffneten Kampfes, allerdings nicht selten auf unterschiedliche Stockwerke verteilt. Im Mai 1973 besetzt ein Frauenkollektiv eine Etage in der Freiherr-vom-Stein-Straße 18 und erklärt, dort eine »Frauen-Wohnung« einrichten zu wollen. Die Räume werden allerdings bereits am folgenden Tag durch die Polizei gestürmt und 53 Besetzerinnen werden vorübergehend festgenommen. Das Frauenkollektiv stellt im Nachhinein selbstbewusst fest, dass sie mit ihrer Aktion »eine falsche Orientierung an Männermilitanz« überwunden hätten; stolz wird zugleich betont, dass mehrere Frauen in der Aktion die eigene Angst überwunden hätten, indem sie auf die eindringende Polizei »mit Farbbeuteln, Eiern und Mehl schmissen«, zum ersten Mal in ihrem Leben. Mit der (›nach und nach‹-)Erweiterung der Bockenheimer Landstr. 111 durch das benachbarte Haus 113 und der Häuser Schumannstr. 69-71 zum ›Block‹ werden die vier Häuser (mit circa 80 Bewohner*innen) am Rande des Westends und in Uni-Nähe zu einer Art Bastion der Bewegung. Erst durch die Sponti-Interventionen werden die diversen Besetzungen, bis Ende 1972 mindestens elf an der Zahl, zum militanten Häuserkampf mit Massendemonstrationen inklusive ›Straßenschlachten‹ als Orten der Integration der Bewegung, mit ›Tribunalen‹ gegen Magistrat und ›Spekulanten‹, unerwünschten Besuchen von Institutionen, Zumauern von Behördeneingängen, Sprengung von Veranstaltungen der Gegenseite etc. Vor allem im Häuserrat wird diese Palette von phantasievollen neuen Aktionsformen, die die Gegenseite ›nerven‹ sollen, diskutiert und in Abstimmung mit diversen Besetzer*innenkollektiven geplant. Mit der Besetzung des ›Blocks‹ beginnt eine Serie von zunächst weitgehend erfolgreichen Besetzungsaktionen (zum Beispiel Kettenhofweg 51, Bockenheimer Landstr. 93), auf die die SPD-­ geführte Kommunalpolitik unter OB Rudi Arndt (SPD; nach dem Tode von

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OB Möller im November 1971) zunächst vergleichsweise defensiv, ja konzeptionslos reagiert, zumal eine Welle von Mietstreiks den Aktionsradius der Besetzer*innenbewegung über die eigentliche jugendliche Hausbesetzer*innenszene hinaus in die migrantischen Communities erweitert.

Zwei Erscheinungsformen von Mietstreiks in Frankfurt In Kooperation mit den italienischen Gruppen Lotta Continua und Unione Inquilini werden Mietstreiks als politisches Kampfmittel gegen unerträgliche Wohnbedingungen, gegen unverhältnismäßig hohe Mieten, schikanösen Vermieter*innenterror, Räumungen und Verdrängungsprozesse diskutiert und ab Sommer 1971 vor allem durch die Unione Inquilini realisiert – einer linken, überwiegend von italienischen Mieter*innen getragenen Mieterunion, deren Vorsitzender Raffaele Navarretta die Parole ausgibt: »Lotta dura senza paura!« [»Harter Kampf – ohne Angst!«]. Die Mietstreikhäuser befinden sich nicht nur im Westend. Sie sind über die ganze Innenstadt verteilt und liefern die Grundlage dafür, in Frankfurt mittlerweile von einem stadtweiten Wohnungskampf zu sprechen. Die Agitation der organisierenden Gruppen mündet in Forderungen wie »Schluss mit den zu hohen Mieten! Wir wollen nicht in Löchern wohnen! Die Bosse beuten uns Emigranten auch hier noch zusätzlich aus! Wehrt euch gemeinsam durch Mietstreiks! Nicht mehr als 10 Prozent des Lohns für Miete!« (Stracke 1980: 110 f.). Die letzte Forderung ist unmittelbar den Forderungskatalogen italienischer Mietstreiks entnommen, die Lotta Continua im Sommer 1971 in ihrem Programm »Prendiamoci la cittá!« [»Nehmen wir uns die Stadt!«] auf den Punkt zu bringen sucht. Im April 1972 versuchen migrantische Mietstreikende mit einer tribunalartigen Mieter*innenversammlung (›Assemblea Popolare‹) und einer ersten

Abbildung 3: ›Trümmer sind keine Argumente‹, nach der Zerstörung des besetzten ›Blocks‹ Schumannstraße/ Bockenheimer Landstraße, Februar 1974 (Quelle: Archiv Gisela Ludat)

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größeren Mieter*innendemo »Gegen Mietterror – für Mietstreik« in Frankfurt mit über 1.200 Demonstrierenden gegen unzumutbare Mieten und die absehbare Räumung besetzter Häuser die Proteststimmung in der Stadt zu koordinieren und auf die Straße zu bringen. Organisiert wird die Demo vom ›Rat der besetzten Häuser‹, der Roten Hilfe, Lotta Continua und der Unione Inquilini. Der Zug geht an allen besetzten und bestreikten Häusern vorbei – inhaltlich werden die Wohnungskämpfe mit Arbeitskämpfen bei Opel verknüpft. Im Verlauf der Demo kommt es vor einigen besetzten Häusern im Westend und vor der Selmi-Bank zu heftigen Zusammenstößen mit der Polizei, eine Parole lautet »Gegen Spekulanten-Schweine helfen nur die großen Steine!« »Neben Hausbesetzungen und Mietstreiks als Aktionsformen bildeten sich in einzelnen Stadtteilen […] auch Stadtteilgruppen, die in Anlehnung an Erfahrungen aus den jüngeren italienischen Kämpfen an dem in den einzelnen Stadtteilen vorfindbaren Konfliktpotential anknüpften, um die Protestbewegung im Reproduktionsbereich weiter zu verbreiten« (Stracke 1980: 86). Organisatorisch getrennt, aber angeregt durch die Mietstreiks der migrantischen Community kommen ab Ende 1972 unter anderem in den Hellerhof-Siedlungen im Gallus deutsche wie migrantische Mieter*innen der städtischen Wohnungsbaugesellschaft, die sich gegen drastische Mieterhöhungen von bis zu 60 % zur Wehr setzen, in Bewegung und initiieren gleichfalls Mietstreiks mit massenhafter Beteiligung. Diese werden getragen und unterstützt vor allem von Jusos und der DKP, aber auch von den mit dem Häuserrat assoziierten Stadtteilgruppen. »Der Verweis auf diesen Konflikt ist umso notwendiger, als in seinem Verlauf […] in Frankfurt in der Nachkriegszeit erstmals in einem derartigen Ausmaß deutsche Mieter die Zahlung von Mieterhöhungen verweigerten und damit Konflikte im Wohnbereich erstmals nicht mehr nur auf sogenannte ›Randgruppen‹ (Studenten, Emigranten, Obdachlose) beziehungsweise auch relativ privilegierte soziale Gruppen […] beschränkt blieben« (Stracke 1980: 178; s. auch Herding 1978). In ihren Kampfformen sind die migrantischen Streikenden durchaus mit den überwiegend deutschen Mieter*innen der städtischen Wohnungsbaugesellschaften vergleichbar. ABG- und Hellerhof-Mieter*innen ziehen beispielsweise im Februar 1973 zum Unterbezirksparteitag der SPD und setzen dort bei der anwesenden Parteibasis gegen die Magistratsvertreter durch, dass ein Sprecher der Mietstreikenden vom Podium aus die Verantwortlichen der Stadt ins Visier nehmen kann. Aber trotz ähnlicher Forderungen, die auf eine Verweigerung der Mieterhöhung, in den italienischen Mietstreiks als ›autoriduzione‹ populär geworden, abzielt, gelingt es wohl nicht (so jedenfalls Herding 1978: 262), eine »Gegen-Infrastruktur« in den betroffenen städtischen Wohngebieten aufzubauen, die den Kämpfen Rückgrat und Konstanz verschaffen könnte. Im Frühjahr 1973 erreicht die Welle der Mietstreiks mit rund 1.000 Beteiligten ihren Höhepunkt. Die auf diese Welle folgenden massenhaften Auseinandersetzungen auf der juristischen Ebene überfordern die Mietstreikenden und auch die Jurist*innen im Häuserrat, die versuchen, Prozesse vor den Frankfurter Amtsgerichten zu gewinnen und Kündigungen der Streikenden möglichst zu verhindern. Das mit einer Verlagerung der Wohnungskämpfe von der politischen auf die juristische Ebene verbundene grundsätzliche Problem, die Individualisierung der einzelnen Mietstreikenden im Gerichtsverfahren, lässt sich aber selbst mit einer erfolgreichen Prozessführung vor den Gerichten nicht aus der Welt schaffen.

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Phase 3 der Wohnungskämpfe – Wende und Defensive Während in den Mietstreikprozessen noch Kompromissmöglichkeiten zu bestehen scheinen, zum Beispiel was die Miethöhe oder eventuell angebotene Ersatzwohnungen betrifft, geht es bei den sich ab 1973 zuspitzenden Auseinandersetzungen um die Hausbesetzungen ums Ganze: Entweder setzen sich die Hauseigentümer*innen mit ihrem Räumungstitel durch, dann geht es nur noch um die Terminfrage, oder die Besetzung wird auf der politischen Ebene durchgesetzt, wobei die Stadt als Vermittlungsagentur gefragt ist. Nach ersten (juristischen) Niederlagen der Mietstreikbewegung wird die ›Schlacht‹ um den seit Februar 1972 besetzten Kettenhofweg 51 im April 1973 zu einem ersten Höhepunkt der Hausbesetzer*innenbewegung in Frankfurt und leitet zugleich eine Wende im Häuserkampf ein – der kommunale Staat schlägt mit Justiz, Polizei und Unterstützung durch die Medien gegen die ›Gewaltbereiten‹, die ›Polit-Rocker‹, ›Chaoten & Maoten‹ zurück. Die Offensive der Stadt zur Beendigung des »Hausbesetzerproblems« durch Justiz und Polizei beginnt mit der Ankündigung einer unmittelbar bevorstehenden Räumung des Kettenhofweg 51; die Besetzer*innen hätten ihre Zusage im gerichtlichen Vergleich, in einer bestimmten Frist das Haus zu verlassen, nicht eingehalten. Aktive des Häuserrats stellen die Legitimation der Räumung prinzipiell in Frage und rufen anlässlich der bevorstehenden Polizeiaktion gemeinsam mit allen linksradikalen Organisationen der Stadt zu Demo und Tribunal gegen die »Geldehe von Finanzmafia und Römer« auf. Diese Polemik zielt eindeutig auf die SPD, die in Wahlkämpfen stets erklärt hatte, dass die Zukunft für Frankfurt nur in einer »menschlichen Stadt« zu gewinnen sei – und sich nun anschicke, das Wohnungsproblem mit der Abrissbirne und der Vertreibung kollektiver Wohnformen aus der Stadt zu lösen. Das offensive Vorgehen der ›Szene‹ und der gesamten linken Strukturen in der Stadt, die hier an einem Strick ziehen und versuchen, in großen Teilen der Stadt ständige Präsenz zu zeigen, macht die angesetzte Räumung zum Problem. Gegen die Räumung des Kettenhofwegs 51 finden in Frankfurt die bis dahin größten Protestdemonstrationen mit 5.000 beziehungsweise 8.000 Teilnehmer*innen gegen die Wohnungspolitik des Magistrat und die Polizei statt. Mit zwei abgebrochenen Räumungsversuchen hätten sich die Verantwortlichen »in eine politische Niederlage hineingeknüppelt«, so der RK in einem Flugblatt. Dagegen versucht Polizeipräsident Müller (SPD, ehemaliger Juso) der Bewegung jede Legitimation zu entziehen, indem er sie im März 1973 quasi pathologisiert als ›Szene‹, die sich in militanter Verteidigung der besetzten Häuser und »Straßenschlachten« formiere: »Eine Mischung von politisch engagierten Anarchisten, Chaotikern, pseudokommunistischen Gruppierungen, Ausgeflippten, Psychopathen und Kriminellen, wobei die Ausgeflippten sicherlich die Mehrheit bilden.«1 Wenig später wird das – fast vollständig verlassene Haus – von 700 Polizist*innen umstellt und im dritten Anlauf am 4.4.1973 ›erfolgreich‹ geräumt. Für den Häuserrat scheint der Verlust des Kettenhofwegs 51 durch »Bürgerkrieg von oben« dennoch kein Anlass für Resignation oder Depression: »Wenn die SPD meint, die Auseinandersetzung um die Frankfurter Wohnungssituation militärisch führen zu müssen, dann wird sie ihren politischen Bankrott noch an sieben weiteren besetzten Häusern zeigen müssen und an dutzenden von bestreikten Häusern, deren Räumung ebenfalls ansteht. Der Kettenhofweg war erst der Anfang« (Häuserrats-Zeitung 1973: 1). Gerade nach der Räumung des Kettenhofwegs 51 kommt es zu einem deutlich wahrnehmbaren Aufschwung der Bewegung in Frankfurt, was vor allem an der

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Entstehung neuer Stadtteilgruppen festgemacht wird. Ein unbekannter Autor des studentischen ›diskus‹ (1973: 7) beschreibt die politische »Stimmung in der Stadt« nach der Kettenhofwegräumung wie folgt: »Würde sich der Häuserrat heute zu kommunalen Wahlen stellen, so wären ihm einige Sitze im Stadtrat sicher« – eine politisch-strategische Option, die den Aktiven der Sponti- wie der Hausbesetzer*innenbewegung um 1973 noch völlig zuwiderzulaufen scheint. Mit der gewaltsamen Räumung des Kettenhofwegs 51 wird durch den SPD-Magistrat dokumentiert, dass die Zeit für Kompromisse abgelaufen ist, die Ära der Hausbesetzungen in Frankfurt beendet werden soll, entweder durch die Gewalt der juristischen Entscheidung oder durch die Polizei. Für beide Optionen steht der Magistrat unter OB Rudi Arndt. Im Ergebnis setzt sich eine immer »repressivere lokalstaatliche Politik« durch, exekutiert durch die herrschende SPD. »Obwohl die Stadtregierung Formen von ›Bürgerbeteiligung‹ in den Planungsprozess einführte, intensivierte sich gleichzeitig die politische Repression gegenüber der Häuserkampfbewegung« und »geriet in eine tiefe Legitimationskrise« (Ronneberger/Keil 1995: 293). Diese sollte erst 1977 »mit der Auflösung der lokalen sozialdemokratischen Hegemonie« ihr Ende finden (ebd.: 294).

Abbildung 4: Die gefakte ›Frankfurter Schundschau‹, Februar 1976 (Quelle: Frankfurter Archiv der Revolte)

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Seit Herbst 1973 bereitet der Frankfurter Magistrat die ›Entscheidungsschlacht‹ gegen die Besetzer*innenbewegung vor, den Kampf um die vier besetzten Häuser des ›Blocks‹ Bockenheimer Landstr./Schumannstr., in dem nicht nur circa 80 Aktive des Häuserkampfes leben, sondern der auch Treffpunkt des Häuserrats und Standort eines Mieterzentrums ist (s. auch Häuserrat Frankfurt 1974: 82 ff.). »Kriminalisierungs- und Diffamierungskampagnen« gegen den »gewalttätigen Mob« der Besetzer*innen leiten die letzte Phase des Häuserkampfes ein (Stracke 1980: 168). Im Februar 1974 entscheiden Polizei und kommunaler Staat nach einer Serie von Scheinräumungen die Auseinandersetzung um den ›Block‹ mit teilweise exzessiver Polizeigewalt für sich, zerstören die vier Häuser und machen das Gelände dem Erdboden gleich. Für den Frankfurter Konflikt um Hausbesetzungen in den frühen 1970er Jahren kann mit Bini Adamczak konstatiert werden: »Die Bewegungen gegen städtische Vertreibungen und Gentrifizierung unterliegen dort, wo sie unterliegen, nicht in erster Linie der Überzeugungskraft des Privateigentums, sondern seiner gewaltigen sozialen und polizeilichen Macht« (Adamczak 2016: 236). Um der Häuserkampfbewegung und den linken Strukturen in der Stadt Schläge zu versetzen, von denen sie sich nicht mehr erholen können, wird nach der Räumung des ›Blocks‹ die Repression weiter hoch gefahren: Demonstrationen linker Gruppen werden verboten, dem AStA werden durch den Unipräsidenten die Gelder gestrichen, gegen den AStA-Vorsitzenden Michael Krawinkel wird wegen ›schwerem Landfriedensbruch‹ ermittelt. Ergebnis ist neben resignativen Tendenzen ein sich beschleunigender Rückzug der ›Szene‹ aus der stadtpolitischen Arena in die verbliebenen eigenen Orte (WGs, Kooperativen, Kneipen, Versammlungsorte etc.), in die ›Szene‹ halt. Diese entzieht sich nach und nach den Zumutungen der stadtpolitischen Auseinandersetzungen und sucht nach Fluchtpunkten. Gegen die Massivität der Repression können die Bewegung und ihre organisatorischen Kerne keine erfolgreiche politische Gegenstrategie entwickeln. Insofern ist 1974 sowohl das Jahr wirklich massenhafter Kämpfe als auch ein Jahr entscheidender Niederlagen. Während Daniel Cohn-Bendit in der im März 1974 erscheinenden Broschüre »Zerstörung, Terror, Folter« praktischen Linksradikalismus noch als Ausdruck purer ›Notwendigkeit‹ definiert (»Wir haben leider keine Wahl, denn die Alternative, und das zeigt die Geschichte aller Sozialdemokratien, ist nicht zwischen Reform und nichts, sondern die Alternative ist: Barbarischer Kapitalismus oder revolutionäre Veränderung dieser Gesellschaft, dazwischen gibt es nichts!« [Wenzel/Roth/Häuserrat Frankfurt 1974: 96]), wird in Teilen der spontaneistischen Linken kritisiert, dass vor allem der RK im Häuserkampf dem Rausch einer losgelösten und unpolitischen Militanz erlegen sei. Die weitere Entwicklung dieser Debatte innerhalb der spontaneistisch orientierten Linken kann an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden. Die Kritik am linken »Militantismus« (J. Fischer) gehört zur Vorgeschichte der Verparlamentarisierung des Linksradikalismus, die ihre Vollendung in der Beteiligung führender Vertreter*innen der Spontibewegung am Gründungsprozess der Grünen Partei findet: einer neuen Variante interventionistischer Politik, die im Unterschied zum Interventionismus des Häuserkampfes schließlich auf Partizipation und die Integration linker Bewegungen in den herrschenden Politikbetrieb zielt. Unter den Aktiven des Frankfurter Wohnungskampfes wird nach 1974 immer mehr zum Gemeinplatz, dass der Kampf um die Stadt in die Defensive geraten ist. Die Prozesse gegen Mietstreikende aus den migrantischen Communities ziehen sich teilweise noch jahrelang hin; diese werden durch den Häuserrat und sympathisierende Jurist*innen unterstützt, die

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zumindest erreichen können, dass den Streikenden in der Regel durch die Stadt wenigstens Wohnraum an der Frankfurter Peripherie angeboten wird und Abschiebungen dadurch verhindert werden. Zugleich zerfallen ebenso wie Aktivist*innenkerne der Sponti-Linken die politischen Strukturen der migrantischen Communities bis auf wenige Restbestände. Gerade diejenigen Häuser, die im Wohnungskampf eine zentrale organisierende Rolle spielten, werden noch 1974 polizeilich geräumt, ohne dass es zu massenhaftem Widerstand kommt. Der Häuserrat selbst sieht sich am Jahresende 1974 am Ende. Als letzte Aktivität erscheint zum Jahresende 1974/75 im Sponti-­nahen Trikont-Verlag die fast 250-seitige Dokumentation »Wohnungskampf in Frankfurt« (Häuserrat Frankfurt 1974). Danach scheinen in Frankfurt für mehrere Jahre Wohnungskämpfe, insbesondere Hausbesetzungen, außerhalb jeder Vorstellungskraft – auch bei linken Aktivist*innen – zu liegen. Als sich im Februar 1976 für kurze Zeit ein neuer ›Häuserrat‹ bildet (dessen Zusammensetzung völlig im Unklaren bleibt), der vollmundig erklärt, »steht die Kündigung in Haus – häng‘ die rote Fahne raus!«, ist die Reaktion der ›Szene‹ sehr zurückhaltend. »Die Zeiten des Häuserkampfes sind ja wohl vorbei, ich weiß, kein Hahn kräht mehr danach«, heißt es in einer Flugschrift zur bevorstehenden Räumung des Hauses Siesmayerstr. 3, eines der wenigen verbliebenen besetzten Häuser. Im ›Pflasterstrand‹ vom Januar 1978 wird in einem Streitgespräch festgestellt, dass die Rest-Sponti-Linke sich wegen des »Gefühl[s] von Ohnmacht« keinen ernsthaften Widerstand gegen ihre Vertreibung aus der Innenstadt mehr vorstellen könne. »Eskalation – Putz [...] – das traut sich keiner mehr zu [...]« (M/G/F 1978: 36, Herv.i.O.). Ein Jahr später beginnt mit den ersten Hausbesetzungen ausgehend von West-Berlin eine neue Phase militanter ›Häuserkämpfe‹ (Anders 2010), und mit der autonomen Bewegung tritt zudem eine neue Generation von Aktiven auf, die um 1980 auch in Frankfurt zum Akteur wird. Ein neues Kapitel urbaner Kämpfe wird geschrieben.

Endnoten 1

Das Zitat aus der FNP vom 30.03.1973 konnte von den Herausgebenden verifiziert werden, allerdings liegen keine genaueren Angaben zur Publikation, wie etwa Titel oder Seitenzahl, vor.

Literaturverzeichnis Adamczak, Bini (2016): »Solidarität ist der Ansatz für ein Kommunistisches der Zukunft«, in: Ernst Kaltenegger/Leo Kühberger/Samuel Stuhlpfarrer (Hg.), Alle Verhältnisse umzuwerfen … Gespräche & Interventionen zu Krise, globaler Bewegung und linker Geschichte, Wien: Mandelbaum, S. 223–241. Anders, Freia (2010): »Wohnraum, Freiraum, Widerstand. Die Formierung der Autonomen in den Konflikten um Hausbesetzungen Anfang der achtziger Jahre«, in: Sven Reichardt/Detlef Siegfried (Hg.), Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983, Göttingen: Wallstein, S. 473–498. Arps, Jan Ole (2011): Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren, Berlin/Hamburg: Assoziation A. Eisenhardt, Thomas (1971): »Hausbesetzungen: Polizeiterror im Westend«, in: diskus. frankfurter studentenzeitung, 21 (5), S. 1 und 38. FR, Frankfurter Rundschau (30.09.1971): Schwere Zusammenstöße in Frankfurt. Polizei räumt besetztes Haus. Bei erbitterten Auseinandersetzungen mehrere Verletzte, S. 1.

Hausbesetzungen – Mietstreiks – ›Häuserkampf‹

Häuserrat Frankfurt (1974): Wohnungskampf in Frankfurt, München: Trikont. Häuserrats-Zeitung (1973): Ausgabe Nr. 5, Frankfurt, S. 1. Heider, Ulrike (2001): Keine Ruhe nach dem Sturm, Hamburg: Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins. Herding, Richard (1978): »Sozialdemokratie und kommunale Konflikte: Die Frankfurter Mieterbewegung 1973/74 bei zwei städtischen Wohnungsbaugesellschaften«, in: Rainer Deppe/ Richard Herding/Dietrich Hoß (Hg.), Sozialdemokratie und Klassenkonflikte. Metallarbeiterstreik – Betriebskonflikt – Mieterkampf, Frankfurt/New York: Campus, S. 197–265. Koenen, Gerd (2001): Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution. 1967 – 1977, Köln: Kiepenheuer & Witsch. M/G/F (1978): »Stadtgespräch. Eine zufällige Kneipendiskussion«, in: Pflasterstrand. Zeitung für Bankfurt, Nr. 22, S. 36–38. Ronneberger, Klaus/Keil, Roger (1995): »Ausser Atem – Frankfurt nach der Postmoderne«, in: Hansruedi Hitz/Ute Lehrer/Roger Keil (Hg.), Capitales Fatales. Urbanisierung und Politik in den Finanzmetropolen Frankfurt und Zürich, Zürich: Rotpunktverlag, S. 286–353. Roter Gallus (1970): Ausgabe Nr. 1, Frankfurt. Unbekannter Autor (1973): »Räumungsnacht – alles kracht!«, in: diskus. frankfurter studentenzeitung, 23 (5), S. 6–7. Schulz, Til (1972): »Zum Beispiel Eppsteiner Straße 47. Wohnungskampf, Hausbesetzung, Wohnkollektiv«, in: Hans Magnus Enzensberger/Karl Markus Michel (Hg.), Kursbuch 27. Planen Bauen Wohnen, Berlin: Wagenbach, S. 85–97. Sedlmaier, Alexander (2018): Konsum und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik, Berlin: Suhrkamp. Stracke, Ernst (1980): Stadtzerstörung und Stadtteilkampf. Innerstädtische Umstrukturierungsprozesse, Wohnungsnot und soziale Bewegungen in Frankfurt am Main, Köln: Pahl-Rugenstein. Stuttgarter Zeitung (24.1.1974): Regierung läßt besetztes Haus unbewohnbar machen, S. 22. Wenzel, Axel/Roth, Jürgen/Häuserrat Frankfurt (Hg.) (1974): Frankfurt. Zerstörung – Terror – Folter. Im Namen des Gesetzes. Mega-Flugschrift Nr. 1, Frankfurt: edition mega.

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Die feministische ›Stadt für alle!‹: Über Alltag, Sorgearbeit und die Verbindung von Kämpfen Anna Lisa Jakobi, Jana Bleckmann und Jan Kordes

Am 20. Juni 2020 fand ein bundesweiter Aktionstag der ›Recht auf Stadt‹-Bewegung statt, der in Frankfurt unter dem Motto ›Eine Stadt für alle! – Aktionstag‹ stand. Ein breites Bündnis aus Gruppen und Initiativen hat den Kampf für eine andere Stadt auf die Straße getragen: Es ging dabei um Wohnungspolitik und Mieter*innenschutz, um Ökologie und Klimagerechtigkeit, migrantische und antirassistische Kämpfe, Hochschulpolitik und solidarische Stadtteilbezüge. Die zentralen Forderungen des Aktionstags waren dementsprechend (1) Mietenwahnsinn stoppen! (2) Solidarität und Antirassismus ernst nehmen! (3) Klimagerechtigkeit durchsetzen! (Stadt für Alle Aktionsbündnis 2020). Es ist beeindruckend, wie viele der Kämpfe inhaltlich miteinander verbunden werden konnten. Uns1 ist jedoch aufgefallen, dass keine explizit queeren und feministischen Gruppen Teil des Bündnisses geworden sind und keine queer-/feministischen Forderungen aufgestellt wurden. Diese Beobachtung soll nicht als Kritik an der Organisation des konkreten Bündnisses verstanden werden, sondern bringt uns vor allem zu der Frage: Was würde in den Blick geraten, wenn dies anders wäre? In diesem Beitrag begeben wir uns auf die Suche nach den Wegen und Visionen zu einer feministischen ›Stadt für alle!‹. Denn Sorgebeziehungen und Reproduktionsarbeit2 sind ein großer Teil des Alltags in der Stadt. Im Zuge neoliberaler Politik verschlechtern sich die Rahmenbedingungen hierfür seit einiger Zeit. Die Arbeitsbelastung für viele, insbesondere für Frauen*3, steigt. Die Verantwortung für das Sorgetragen wird individualisiert, obwohl die Bedingungen sozialer Reproduktion politisch sind. Einige Autor*innen sprechen daher von einer gesellschaftlichen Krise der Reproduktion (Federici 2012; Fraser 2016). Nicht zuletzt hieran entzünden sich aktuell globale feministische Kämpfe, unter anderem der feministischen Streikbewegung. In diesen Bewegungen fehlen unserer Ansicht nach allerdings häufig die explizit stadtbezogenen Problematisierungen und Forderungen – trotz einer langen Geschichte raumbezogener Kritik von Frauen*, beispielsweise an gebauter Umwelt oder der Vorstellung getrennter öffentlicher und privater Räume. Im Zentrum dieses Beitrages steht unser Anliegen, die Grundlagen einer Verbindung von Kämpfen – feministischer Kämpfe und jener um ›Eine Stadt für alle!‹ – zu durchdenken und dies auf aktuelle Auseinandersetzungen in Frankfurt zu beziehen. Daher fragen wir zunächst: Wofür und wie könnte eine ›Recht auf Stadt‹-Bewegung streiten, damit in unserem Alltag andere Beziehungen lebbar werden? Wir wenden uns dem Stand der

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Debatte um ein feministisches ›Recht auf Stadt‹ zu und diskutieren dies mit besonderem Augenmerk auf Sorgebeziehungen und Beziehungsweisen (Adamczak 2017). Im nächsten Schritt gehen wir auf den lokalen Kontext ein und stellen anhand des Frankfurter F*Streik-Bündnisses4 und der ada kantine in Bockenheim Überlegungen zu möglichen Verbindungen in Frankfurt an. Wir werden uns in diesem Beitrag nicht mit den Hürden aktueller politischer Organisation oder bisher fehlenden Überschneidungen befassen, sondern diskutieren: Wo können die Auseinandersetzungen um ›Eine Stadt für alle!‹ mit den Kämpfen um Reproduktionsbedingungen inhaltlich verknüpft werden? Wie kann die feministische ›Stadt für alle!‹ eingefordert, greifbar und realisiert werden?

Konturen einer feministischen ›Stadt für alle!‹

Abbildung 1: 8M – Wie hier am 8. März 2018 versammelt sich die Ni Una Menos-Bewegung jährlich in Buenos Aires (Quelle: Ni Una Menos Argentinien).

Wir sehen, dass sich in Städten Proteste und Kämpfe lokal artikulieren, was oftmals erst die Grundlage einer Vernetzung auch über Städte hinaus darstellt. Wir schließen uns Niels Boeing (2018: 193 f.) darin an, dass Kämpfe um das ›Recht auf Stadt‹ »viele Erfahrungen von Selbstermächtigung [schaffen], die das bloße Nachdenken über Alternativen verändern« und »im Idealfall Räume schaffen, in denen eine andere Logik als die des Neoliberalismus erprobt werden kann«. Hier knüpfen wir an, denn auch wir gehen davon aus, dass Städte das Potenzial konkreter »utopischer Praxis« (Adamczak/Neupert-Doppler 2018: 33) bergen. Leslie Kerns kürzlich erschienenes Buch »Feminist City« (2020) handelt eindrücklich von den Potenzialen und Grenzen eines feministischen ›Rechts auf Stadt‹. Ganz konkret geht es ihr um eine nicht-sexistische Stadt – um eine barrierefreie Stadt ohne Angsträume, in der tägliche Anforderungen gemeinsam bestritten werden können und das kollektive Zusammenleben funktioniert. Es sind die räumliche Nähe und die Zentralität der Stadt, die ein Leben in Gemeinschaft eröffnen. Anne Vogelpohl (2018) zieht in ihrer feministischen Auseinandersetzung mit Henri Lefebvres ›Recht auf Stadt‹

Die feministische ›Stadt für alle!‹

die Verbindung zu einer »politischen (Alltags-)praxis« (ebd.: 153), die auch in feministischen Konzepten bedeutsam ist. In der Stadt verdichtet sich unser Alltag, worin ein großes (auch feministisches!) Potenzial für Kollektivität besteht. Es können Differenzen gelebt werden, sprich, Menschen mit unterschiedlichen Identitäten und Bedürfnissen können zusammenkommen und gemeinsam agieren, sorgen, den Alltag bestreiten, solidarisch sein, sich unterstützen. Auch das gemeinsame politische Kämpfen ist wichtig. Allerdings erzeugt (das Leben in der) Stadt nicht automatisch Kollektivität, sondern kann auch Vereinzelung bedeuten. Dies wird sichtbar an gegenwärtigen Wohnformen, an den höchstens auf Familien beschränkten Sorgebeziehungen und am Essen, das vorwiegend am eigenen Küchentisch stattfindet. Kern geht noch weiter und zeigt patriarchale Aspekte des städtischen Raums auf, indem sie auf verschiedene Körper und deren alltägliche Bewegung im (Stadt-)Raum hinweist. Hindernisse, Benachteiligungen und Gefahren zeigen, dass die Stadt nach weiß-männlichen, nicht körperlich beeinträchtigten, heteronormativen Bedürfnissen ausgerichtet ist. Aus ihrer intersektionalen5 Perspektive macht Kern deutlich, dass all jene, die von dieser Norm abweichen, entlang mehrfacher Achsen der Unterdrückung im Erleben ihrer Städte eingeschränkt sind (Kern 2020: 49 ff.). Für diese Verhältnisse innerhalb der Stadt ist nicht die gebaute Umwelt der Stadt an sich verantwortlich. Eine Sichtweise, die Raum als alleinige Erklärung versteht, ließe sich als raumfetischisierend bezeichnen. Kern stellt jedoch fest: Unsere gebaute Umwelt ist durchaus auf den Erhalt bestehender Verhältnisse von Geschlecht, Rassifizierung, Klasse oder Sexualität ausgerichtet (ebd.: 33 f.). Die verdichteten räumlichen Verhältnisse sollten wir daher als Potenzial für eine kollektivere Organisierung unseres Alltags ernst nehmen, aber nicht überschätzen. Es geht darum, unsere Arbeitsorganisation oder allgemeiner unsere Beziehungsweisen kollektiver zu gestalten und davon ausgehend darüber nachzudenken, wie gebaute Umwelt diesen entgegensteht. Kern beschreibt dieses Verhältnis sehr treffend: »Es gibt unterschiedliche Nutzungswege für die gebaute Umwelt, die wir haben. Und es gibt unendliche Möglichkeiten, andere und neue Räume zu kreieren« (ebd.: 176, eigene Übersetzung). Wir gehen davon aus, dass eine Neugestaltung des Alltags bei den Sorgebeziehungen ansetzen sollte – und dass diese in der ›Recht auf Stadt‹-Bewegung ebenfalls zentraler Bestandteil der Idee einer ›Stadt für alle!‹ sein müssen. In Teilen findet diese Reflexion bereits statt, wenn es beispielsweise im Aufruf des ›Recht auf Stadt‹-Forums 2020 in Weimar heißt: »Das Recht auf Stadt ist ein Recht auf eine feministische Stadt, in der Care-Arbeit wertgeschätzt und gerecht verteilt ist, in der soziale Beziehungen nicht von Verwertungslogiken bestimmt werden« (Kollektiv Raumstation 2020). Und auch in akademischen Debatten werden Fragen der Fürsorge und Reproduktion mit Blick auf Stadt thematisiert, so bei Nina Schuster und Stefan Höhne (2017) oder bei Anne Vogelpohl (2018). In der Debatte wird für eine Stadt plädiert, die sich nach Bedürfnissen ausrichtet, vor allem dem Bedürfnis nach funktionierenden, kollektiven und solidarischen Care-Beziehungen. Die Bedingungen der (Selbst-)Sorge, des Essens, des Schlafens etc. sind politisch! Aus unserer Sicht kann eine solche Politisierung transformatorisches Potenzial entfalten. Dies bekräftigt auch das Plädoyer von Bini Adamczak (2017) zu neuen Beziehungsweisen (siehe auch Freshinski 2019: 19). Adamczak (2017: 274) argumentiert für eine grundsätzliche Veränderung der Art und Qualität, wie Beziehungen gelebt und gesehen werden: »von einer hierarchischen Beziehung zu einer egalitären, von einer versachlichten zu einer

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sachbezogenen, von einer unsicheren Beziehung zu einer sicheren. Von einer indifferenten oder konkurrenten zu einer kooperativen und solidarischen Beziehung«. Sie stellt solidarische Beziehungsweisen als Triebmotor für gesellschaftliche Veränderung in den Vordergrund (ebd.: 266). Die Kollektivierungen unserer Beziehungen seien auch deshalb kleine revolutionäre Akte, weil sie die Ausschließlichkeit binärer Aufteilung in der Gesellschaft durchkreuzen (ebd.: 247). Kern argumentiert auf die feministische Stadt bezogen ähnlich, wenn sie schreibt: »Wir müssen den radikalen Wandel in den Räumen und Gemeinschaften suchen, die bereits jetzt Sorgebeziehungen pflegen, welche die Binaritäten von bezahlter und unbezahlter Arbeit, von öffentlichen und privaten Räumen sowie Produktion und sozialer Reproduktion sprengen« (Kern 2020: 53, eigene Hervorhebung und Übersetzung). Hinsichtlich der Care-Beziehungen interpretieren wir dies so, dass ihre Organisation unbedingt auch außerhalb der Kleinfamilie stattfinden muss. Mike Laufenberg nutzt hierfür den Begriff vom »grenzüberschreitenden Sorgetragen« (Kessler, zit. n. Laufenberg 2014: 331, eigene Übersetzung), um jene Sorgebeziehungen in Gemeinschaft und Kollektiven zu beschreiben, die über die ›Kernfamilie‹ hinausgehen. Für uns ist es von zentraler Bedeutung, die Gesamtheit von Arbeit und solidarischen Beziehungsweisen zu thematisieren. In Frankfurt am Main tun dies aktuell das F*Streik-Bündnis, aber auch die ada kantine. Beiden Beispielen wenden wir uns im folgenden Abschnitt zu.

Kollektive Reproduktion — Perspektiven aus Frankfurt am Main F*Streik-Bündnis in Frankfurt

Das F*Streik-Bündnis in Frankfurt hat sich 2018 gegründet und am 8. März 2019 das erste Mal zum Streik aufgerufen. Wie viele feministische Streikbewegungen in anderen Städten weltweit war auch das Bündnis von der in Argentinien entstandenen Ni Una Menos-Bewegung inspiriert. Ni Una Menos wurde 2015 als Reaktion auf den Femi(ni)zid6 an Daiana García in Buenos Aires ins Leben gerufen (Kiechle 2019: 11; s. Abb. 1). Das Frankfurter Bündnis sieht sich daher als Teil einer lokal und global vernetzten Frauen*bewegung mit langer Geschichte.7 Ein zentrales Ziel des F*Streik-Bündnisses in Frankfurt ist, die normalisierte, aber ungerechte und individualisierte Aufteilung von Reproduktionsarbeit zu politisieren (Bleckmann et al. 2020: 29). Reproduktionsarbeit soll stattdessen in solidarischen Strukturen gesamtgesellschaftlich gerecht verteilt werden. Politische Inhalte des Streiks sind außerdem Alltagssexismus und sexualisierte Gewalt, der Kampf für körperliche Selbstbestimmung und gegen Körpernormen (s. Abb. 2). Mit dem Slogan »Wenn wir streiken, steht die Welt still« werden Straßen besetzt, verlängerte Mittagspausen gemacht, mit Töpfen aus den Fenstern der Wohnungen geklappert und Demonstrationen veranstaltet. Die F*Streik-Bewegung eignet sich das Streiken abseits von gewerkschaftlichen Tarifstreiks an. Diese sogenannten politischen Streiks experimentieren mit diversen Formen, die an die jeweiligen Lebensrealitäten und – angesichts prekärer Arbeitsbedingungen oder Sorgeverpflichtungen – an die zum Teil beschränkten Möglichkeiten der Teilnahme angepasst sein müssen. Dies wird als Herausforderung, aber auch als Chance betrachtet: Der Streik kann viele Formen annehmen und soll dadurch potenziell allen zugänglich sein. Auch das F*Streik-Bündnis in Frankfurt arbeitet daran, intersektionale Perspektiven einzubeziehen (Bleckmann et al. 2020: 30).

Die feministische ›Stadt für alle!‹

Die Teilnahme an Versammlungen oder gemeinsamen Aktionen ist vielen Frauen* erst dann möglich, wenn beispielsweise die Betreuung und Versorgung von Familienangehörigen oder Kindern gesichert ist. Für Aktionen wie die feministischen Streikcafés am 8. März 2020 organisierten beispielsweise solidarische Cis-Männergruppen die Kinderbetreuung und die Verpflegung. Darüber hinaus arbeitet das F*Streik-Bündnis mit anderen queeren und feministischen Gruppen oder Gewerkschaften zusammen, um Aktionen zu organisieren und durchzuführen. Eine gute lokale und internationale Vernetzung ist für die politische Arbeit in vielerlei Hinsicht unerlässlich – beispielsweise, um die Reichweite zu erhöhen und um Forderungen Nachdruck zu verleihen. Aber auch Freundinnen*schaften bilden die Basis für die eigene Politisierung und dafür, die eigene Handlungsmacht wahrzunehmen (ebd.). Das F*Streik-Bündnis baut also auf solidarischen Beziehungen und Bündnissen auf, um handlungsfähiger zu sein – sowohl im sogenannten Privaten als auch in globaler Vernetzung durch zeitgleiche Kämpfe und gemeinsame Forderungen. In den Streiks werden sogenannte private Themen öffentlich und unsichtbare Arbeit als die Basis gesellschaftlicher Reproduktion sichtbar gemacht. So können vermeintliche Gegensätze miteinander verbunden werden: das Politische mit dem Privaten, das Lokale mit dem Globalen, die Produktion mit der Reproduktionsarbeit, Alltagserfahrung mit struktureller, abstrakter patriarchaler Gewalt, Identität mit Klasse. Herrschende Binaritäten werden in Frage gestellt und in feministischen Streiks durch ihr Miteinander-in-Beziehung-setzen aufgelöst. Das ist, nach Adamczak, ein Knüpfen neuer Beziehungsweisen. Es wird nicht nur mit neuen Formen des Streikens experimentiert, sondern es werden auch neue Formen des Miteinanders und

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Abbildung 2: Corona-konforme Fahrraddemo gegen religiöse Fundamentalist*innen und für körperliche Selbstbestimmung (Quelle: F*Streik-Bündnis Frankfurt).

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Kämpfe und Initiativen

Abbildung 3: Die professionelle Küchenausstattung erleichtert die kollektive Essensversorgung vieler Menschen im Stadtteil (Quelle: Über den Tellerrand e.V.).

der Kollektivität ausprobiert, die diverse Positionen einbeziehen: »Wir [...] verändern die Welt und zugleich unser Leben« (Menéndez Díaz 2018: 104). Diese theoretische, inhaltliche und aktivistische Perspektive auf eine Umwälzung der Sorgearbeitsverhältnisse kann zur ›Recht auf Stadt‹-Bewegung beitragen. Welche Anknüpfungspunkte würden sich ergeben, wenn Sorgebeziehungen als zentrales Element für gesellschaftliche Transformation – auch in der Stadt – betrachtet werden? Beispielsweise ließe sich das so wichtige Thema Wohnraum feministisch neu verhandeln (Reichle/Kuschinski 2020). Aus der Perspektive der alltäglichen Organisation von Care sollten wir das Wohnen selbst queeren. Mit ›queeren‹ meinen wir, Heteronormativität aktiv zu verlernen. Das heißt, zum Beispiel Grundrisse komplett anders zu denken: nicht ausgehend vom ›Zwei-Eltern-zwei-Kinder-Familienmodell‹, sondern ausgehend von der Nutzung durch Wahlfamilien und größerem kollektiven Wohnen. Auch bezüglich des städtischen Raums gibt es wichtige Themen wie die Notwendigkeit von mehr öffentlich zugänglichen Toiletten für unterschiedliche Bedürfnisse. Dahinter stehen grundlegende Fragen danach, für welche Körper der öffentliche Raum konzipiert und gebaut ist und wie Differenz und die Anerkennung von Unterschiedlichkeiten auch hier möglich sein kann. Im Umkehrschluss lässt sich unserer Auffassung nach in der Stadt mit Forderungen des F*Streik-Bündnisses besonders gut experimentieren: Durch die räumliche Dichte lassen sich die Vielfalt verschiedener Lebensweisen über solidarische Beziehungen – gerade auch im Alltag – kollektiv verknüpfen. Letztendlich braucht auch das F*Streik-Bündnis Orte der Versammlung und der kollektiven Reproduktion und könnte durch einen Einbezug der lokalen, räumlichen Dimension ihre politische Praxis und ihre Forderungen schärfen.

Die ada kantine

Die ada kantine auf dem alten Unicampus Bockenheim, eine solidarische Stadtteilkantine in der leerstehenden Akademie der Arbeit, zeugt von der ersehnten Verbindung feministischer Alternativen mit dem ›Recht auf Stadt‹. Aufgrund der langjährigen Organisierung im Stadtteil war die vorhandene Kantinen-Infrastruktur bekannt (s. Abb. 3), als das Gebäude von der Stadt Frankfurt erworben und im April 2020 zur Bewerbung für Nutzer*innen ausgeschrieben wurde. Ein Bündnis aus der Initiative Zukunft Bockenheim,

Die feministische ›Stadt für alle!‹

Project Shelter, Über den Tellerrand e.V., andpartnersincrime und dem Offenen Haus der Kulturen bewarb sich mit der Idee einer Stadtteilkantine. Sie wurde als Zwischennutzung genehmigt, einen langen Prozess der Selbstverständigung gab es nicht. In einem Interview mit Engagierten vor Ort wurde deutlich, dass das Projekt keinen explizit feministischen Ansatz hat. Dennoch liefert es eine mögliche Antwort, wie die Idee einer anderen Arbeitsaufteilung in der Stadt und fürsorgender, solidarischer Beziehungsweisen erreicht werden kann. In der ada kantine bekommen alle Menschen an drei Tagen der Woche Drei-Gänge-Menüs mit Service am Tisch – auf Spendenbasis. Einmal wöchentlich gibt es ein ›On-boarding‹ für interessierte Menschen, die sich engagieren wollen, und ein Plenum mit allen AGs. Dort wird über Öffentlichkeitsarbeit, den Garten, das Besorgen von Lebensmitteln und Finanzen gesprochen. Ein Kern von Aktivist*innen wird durch einen Kreis von Unterstützer*innen ergänzt, die im laufenden Betrieb Schichten übernehmen. Im Gespräch mit den Aktivist*innen der ada kantine wurde jedoch auch deutlich, dass die Organisation des Projekts ein enormer Kraftakt ist. Einiges an Arbeit wird bisher nicht in Strukturen und Absprachen abgebildet und bleibt unsichtbar. Ein feministischer Anspruch an politische Praxis erinnert daran, auch diese Arbeiten sichtbar zu machen. Gestaltet von der Kunstgruppe andpartnersincrime wirkt die ada kantine nicht wie eine Großküche, sondern vielmehr wie ein liebevoll gestaltetes Café (s. Abb. 4). Die ada kantine lässt sich als offener Ort der kollektiven Reproduktionsarbeit im Stadtteil beschreiben. Existenzielle Grundbedürfnisse werden hier ohne Konsumzwang befriedigt. Das ist schon unter ›normalen‹ Bedingungen für viele Menschen in Frankfurt nicht selbstverständlich. Während der Corona-Pandemie sind viele dann vollends durch soziale Versorgungssysteme gefallen. Sicherlich ließe sich anmerken, dass die ada kantine dort einspringt, wo staatliche Vorsorge unter Bedingungen neoliberaler Sparpolitik entzogen wird.8 Wir sehen ebenfalls diese Ambivalenz des Engagements, möchten aber ergänzen: Die Offenheit und willkommen heißende Atmosphäre der ada kantine schafft einen Rahmen, in dem sich sehr unterschiedliche Menschen und Lebensrealitäten begegnen können. Es entsteht ein Lernort und Experimentierfeld neuer solidarischer Beziehungen: Die Akademie der Arbeit bleibt also Akademie.

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Abbildung 4: Neben dem Innenraum ist gerade in Corona-Zeiten das Außengelände für Begegnungen essentiell (Quelle: Marc Behrens).

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Ein feministisches Frankfurt für alle – Brücken schlagen, Kämpfe verbinden In diesem Beitrag wollten wir die Grundlagen einer Verbindung von Kämpfen in Frankfurt im Hinblick auf eine feministische ›Stadt für alle!‹ durchdenken. Darin müssen unseres Erachtens Sorgebeziehungen und Reproduktionsarbeit zentral gestellt werden. Im Folgenden diskutieren wir dies entlang zweier Dimensionen: Wie wir kämpfen sollten und worum es dabei aus stadtpolitischer Perspektive gehen muss. Das Wie des Kämpfens berührt die Frage, wie unterstützend persönliche Beziehungen und Solidaritäten wirken. Wenn alltägliche Bedürfnisse im solidarischen Kümmern gestillt werden, lassen sich auch Kapazitäten für gemeinsame Kämpfe und Kollektivierung freisetzen. Das Mitdenken von Sorgearbeit ermöglicht an sich schon Teilhabe, beispielsweise für Menschen, die Sorgeverantwortung tragen und ansonsten von Kämpfen ausgeschlossen wären. Insbesondere das F*Streik-Bündnis zeigt dies mit dem Fokus auf solidarische Strukturen, die dazu dienen, mehr Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Zudem ist es elementar, über Arbeitsaufteilungen zu reflektieren und Privilegien aktiv abzugeben. Eine intersektionale Perspektive, die anerkennt, dass es unterschiedlich ausdifferenzierte Betroffenheiten gibt, ist Voraussetzung dafür, dass Machtverhältnisse nicht reproduziert, sondern reflektiert und gebrochen werden. Das Wie des Kämpfens sollte auch eine nachhaltige Antwort geben auf die Frage: »Wie geht es den Einzelnen im Projekt dabei?«. So zählt in städtischen Kämpfen beispielsweise nicht nur die Zahl gewonnener Häuser, sondern wie bestärkt wir aus einem Plenum gehen, geben Freshinski (2019) zu bedenken. Wir halten auch daran fest, dass Veränderungen im ›Kleinen‹, also in alltäglichen Praxen, wichtig sind, um neue Beziehungsweisen zu knüpfen und zu erlernen. Sorgebeziehungen sind nicht Mittel zum Zweck umfassender politischer Beteiligung – sie sind zentraler Lebensinhalt des guten Lebens in der Zukunft! Adamczak (2017) zeigt, dass das Erlernen solidarischer, fürsorgender Beziehungsweisen elementar für ein Neudenken der Gesellschaft und das Experimentieren mit utopischer Praxis ist. Die hierfür notwendige politische Alltagspraxis muss bedürfnis- statt verwertungsorientiert sein und sollte das Kümmern in den Vordergrund stellen. Entscheidend dabei ist, dass sich Räume eröffnen, in denen ausprobiert, erlebt und gelernt werden kann, wie andere Beziehungen und eine andere, kollektive Organisation von Bedürfnisbefriedigung funktionieren können. All dies lässt sich unseres Erachtens in den Städten besonders gut experimentieren. Denn wir alle »erträumen, erdenken und praktizieren schon lange alternative Formen für das gemeinsame Leben in der Stadt. Tatsächlich haben wir alle das Vermögen, neue – feministische – urbane Welten zu erschaffen« (Kern 2020: 21, eigene Übersetzung). Worum muss es also stadtpolitisch gehen? Wir möchten zwei Aspekte vorschlagen: um konkrete Orte und um unsere Nachbar*innenschaften. Nachbar*innenschaften bieten die entsprechende Nähe für ein Ausprobieren dieser solidarischen Beziehungsweisen. Niels Boeing (2020: 23) hat kürzlich argumentiert, die Organisierung des Alltags im Stadtteil sei eine vordergründige Aufgabe städtischer sozialer Bewegungen, denn: »[d]en Alltag zu transformieren, kann nur auf der Ebene der Nachbarschaften und Stadtteile gelingen«. Wir begrüßen diesen Aufruf und möchten ergänzen: Alltäglich ist vor allem Care-Arbeit! Die Vernetzung sollte unseres Erachtens ein größeres Augenmerk auf die solidarische Organisation von Reproduktionsarbeit legen. Und in dieser Frage spielen auch Bezüge zu konkreten Orten im Stadtteil eine

Die feministische ›Stadt für alle!‹

Rolle. Sie sollten offen, selbstverwaltet und ohne Konsumzwang zugänglich sein. Nur dann können sie als »materielle Grundlage für eine kollektive Gestaltung des guten Lebens mit bedeutungsvollen sozialen Beziehungen« (Freshinski 2019: 19) dienen. Für uns ist die ada kantine ein solcher Ort in Frankfurt, wo Erfahrungen gesammelt und mit Beziehungsweisen experimentiert wird, die explizit Reproduktionsarbeit zum Gegenstand haben. Wie kann es nun von hier aus weitergehen mit den Kämpfen um eine feministische ›Stadt für alle!‹? Genau diese Fragen möchten wir Gruppen und Bündnissen für zukünftige Prozesse mitgeben. In ›Eine Stadt für alle!‹-Kontexten sollte unserer Ansicht nach überlegt werden, was eine feministisch-intersektionale Perspektive für die eigene Arbeit und Forderungen bedeutet. Feministische Gruppen wie das F*Streik-Bündnis könnten über konkrete Räume, die sie für ihre Arbeit brauchen, und über das Alltagsleben in unseren Nachbar*innenschaften im Hinblick auf eine Kollektivierung reflektieren. Bestenfalls geschieht dies nicht nebeneinanderher, sondern mit einem gemeinsamen Fokus in Bündnissen und im Alltag. Auf dass sich zukünftig auf Frankfurt bezogene, stadtpolitische Forderungen entwickeln, in der Gewissheit, dass die ›Stadt für alle!‹ eine feministische sein muss.

Endnoten 1

Wir schreiben aus einer privilegierten Position als weiß, cis-gender, abled, akademisch verortet und mit deutschen Pässen. Die empirische Arbeit zum F*Streik-Bündnis haben Jana und Anna Lisa gemeinsam mit Hanna Große Vorholt und Nana Melling geleistet und an anderer Stelle veröffentlicht (Bleckmann et al. 2020). Danke an euch für die Möglichkeit, hier in neuer Konstellation weiterzudenken.

2

Reproduktions-, Sorge- und Care-Arbeit meinen Tätigkeiten wie »Putzen, Wäsche machen, Kochen, Einkaufen oder den Haushalt organisieren. Dazu gehört auch, sich um Kinder, Ältere und andere Menschen, die Unterstützung brauchen, zu kümmern und sie zu versorgen. Auch die Selbstsorge und Lebensberatung von Freund*innen ist mitgemeint« (Konzeptwerk Neue Ökonomie 2020: 34). Arbeit denken wir mit Bhattacharya (2017) als einen integrativen Prozess der Produktion von Gütern und Leben. Dieser Prozess spannt sich als ein Netzwerk sozialer Prozesse und Beziehungen auf, die die gesamtgesellschaftlichen Lebens- und Existenzbedingungen produzieren.

3

Das Sternchen soll irritieren und daran erinnern, dass Geschlecht zwar sozial konstruiert, aber dennoch wirkmächtig ist.

4

Im Bündnis sind eine Vielzahl von Gruppen und Einzelpersonen aktiv. Das ›F‹ im Namen kann je nach Verortung als ›Frauen*‹ oder ›feministisch‹ gelesen werden; die Namensgebung ist dabei Teil von Aushandlungs- und Lernprozessen.

5

Intersektionalität meint das Zusammenwirken von Diskriminierungen wie Sexismus oder Rassismus, die nicht isoliert voneinander betrachtet werden, sondern sich überschneiden (engl. intersection: Kreuzung oder Überschneidung). Der Fokus liegt also darauf, wie verschiedene Diskriminierungsformen in Wechselbeziehung miteinander stehen und welche neuen Diskriminierungserfahrungen sich daraus ergeben.

6

Femizid/Feminizid beschreibt die Ermordung von Frauen* und Mädchen* im Rahmen geschlechterspezifischer Gewalt. Es handelt sich hier um Verbrechen innerhalb einer patriarchalen Struktur mit kollektiven Geschlechtervorstellungen, ungleichen Machtverhältnissen und strukturellem Sexismus.

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7

Mehr zu vergangenen feministischen Streiks: https://frauenstreik.org/wir-sind-nicht-dieersten-blicke-zurueck/.

8

Emma Dowling und Silke van Dyk (2018) beispielsweise problematisieren die Einverleibung von Engagement fürs nahräumliche Umfeld als »Community-Kapitalismus« und setzen als politische Perspektive die Einforderung sozialer Rechte entgegen.

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»Den Nazis auf die Pelle rücken« – Bedeutung und Geschichte des Antifaschismus in Frankfurt P.M. Banane/Frieder Kahlo

Im folgenden Beitrag möchten wir nachzeichnen, wie sich durch eine jahrzehntelange hartnäckige Wühlarbeit von Antifaschist*innen in der Frank­furter Stadtgesellschaft heute eine belastungsfähige antifaschistische Haltung ausgebildet hat. Dass Nazis weder im Waldstadion noch auf dem Wochenmarkt, weder in Bornheim noch in Griesheim ungehindert auftreten können, ist ganz wesentlich dem selbstorganisierten konfrontativen Antifaschismus zu verdanken. Um die Geschichte des Antifaschismus für die politische Landschaft der Frankfurter Stadtgesellschaft besser strukturieren und seine Bedeutung herausarbeiten zu können, schlagen wir die folgenden Punkte und Konfliktlinien vor. Dynamik und Veränderung des Antifaschismus als Feld der gesellschaftlichen Auseinandersetzung in Frankfurt lassen sich besser verstehen, wenn man sich erstens die Spannung zwischen einem appellativen und einem konfrontativen Antifaschismus vor Augen führt; zweitens die Konflikte dargestellt werden, die sich im Zuge von Wiedervereinigung und der Welle rassistischer Gewalt Anfang der 1990er Jahre ergaben; drittens die Geschichte des polizeilichen Umgangs mit einem engagierten Antifaschismus kurz beleuchtet und viertens die Rolle der Erinnerungspolitik in den Auseinandersetzungen der 1990er Jahre und danach betrachtet wird.

Antifaschismus seit den 1970er Jahren – ein Überblick Antifaschistische Politik (im weiten und engen Sinn) ist und wurde in Frankfurt stets von der politischen, meist außerparlamentarischen Linken getragen. Seit den 1970er Jahren wurde die antifaschistische politische Szene in Frankfurt zunächst vor allem von den diversen sozialistischen und kommunistischen Gruppen und deren ›Antifaschismus-Kommissionen‹ geprägt, ebenso von der in Frankfurt relativ starken ›Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten‹ (VVN-BdA). Neben dem direkten Kampf gegen Nazis und Rassist*innen in der BRD gab es einen bedeutenden antifaschistischen Internationalismus, der sich beispielsweise in der Solidarität mit Chile und mit spanischen Antifaschist*innen ausdrückte. Obwohl in den frühen 1980er Jahren die Rhein-Main-Autonomen sich vor allem an der Bewegung gegen die Startbahn West und an der Anti-AKW-Bewegung beteiligten, war in dieser Bewegung Antifaschismus beiläufig präsent. Zwar nicht zentral in der Bestimmung der politischen Ausrichtung, war er dennoch beständig im

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Hintergrund anwesend und – zumindest für einen großen Teil der Aktiven – selbstverständlicher Teil des politischen Selbstverständnisses.1 Ab Mitte der 1980er Jahre bildeten sich dann auch im Rhein-Main-Gebiet zunehmend autonome Antifa-Gruppen heraus. Von diesem Zeitpunkt bis heute bildet der selbstorganisierte (post-)autonome Antifaschismus das Rückgrat der aktiven Politik gegen Nazis im Frankfurter Raum. Rückblickend lassen sich dabei zwei Stränge identifizieren, die die Herangehensweise an das Politikfeld Antifaschismus seit den 1970er Jahren charakterisieren. Erstens ging es in der antifaschistischen Politik natürlich um ein direktes Zurückdrängen und Bekämpfen von faschistischen und rassistischen Gruppen und Parteien. Von daher entwickelte sich die antifaschistische Politik stark in Bezug auf deren Aktivitäten, Kampagnen und Strategien. Dies erklärt sich aus der strategischen Überlegung, dass eine wirkungsvolle Politik gegen Nazis deren Pläne und Vorhaben durchkreuzen sollte und somit ein hohes Wissen über deren Strukturen, Politikansätze und Verbindungen erforderlich war. Diesem Strang stand zweitens das Verständnis von Antifaschismus als Politisierungs- und Aufklärungsfeld zur Seite. Der Kampf gegen Nazis wurde hier immer auch als eine Gelegenheit verstanden, sowohl über die gesellschaftlichen Ursachen des Faschismus aufzuklären als auch aufzuzeigen, wo und inwiefern viele bürgerliche Parteien selbst mit ihrer Politik einen Rechtsradikalismus stützen und befördern. So sollte deutlich werden, dass es gerade keine strikte Abgrenzung zwischen dem konservativen und dem rechtsradikalen politischen Milieu gab, sondern vielmehr einen fließenden Übergang. Dabei ging es darum, sichtbar zu machen, inwieweit eine stark kapitalistische, rassistische und patriarchalisch-heteronormative Gesellschaft beständig faschistische Akteure hervorbringen muss und wo die inhaltlichen und personellen Überschneidungen und Verbindungen zwischen (manchen) bürgerlichen Parteien wie der CDU und dem offen nationalsozialistischen Spektrum lagen. Die Geschichte und Bedeutung des Frankfurter Antifaschismus lässt sich natürlich nur unzureichend ohne eine Geschichte des rechtsradikalen Aktivismus rekonstruieren. Frankfurt war und ist für die Nazis stets eine Provokation. Als Finanzmetropole, Ort eines lebendigen intellektuellen Milieus und Verlagswesens und einer wachsenden jüdischen Gemeinde, deren Mitglieder sich eine aktive politische und journalistische Rolle im öffentlichen Leben eroberten, gilt die Stadt den Nazis als ›verjudet‹. Als Stadt, in der (mittlerweile) die Hälfte der Einwohner*innen den berüchtigten Migrationshintergrund haben, gilt die Stadt den Nazis als ›überfremdet‹. Als Stadt, in der seit den späten 1960er Jahren eine deutliche wahrnehmbare linke Bewegung existiert, gilt die Stadt den Nazis als ›rot‹. Dieses Bild von Frankfurt findet sich immer wieder in den verschiedenen Nazi-Strömungen, wenn sie erklären, warum sie in der Stadt demonstrieren oder öffentlich präsent sein wollen: von den ›Deutschlandtreffen‹ der 1970er Jahre bis zu den Demonstrationen der ›Freien Kameradschaften‹ der 2000er Jahre. In der aktuellen Wahrnehmung vieler und in der Berichterstattung über faschistische Gewaltpolitik in der BRD wird häufig eine Chronologie von Körperverletzung, Totschlag und Mord präsentiert, die ab dem Jahr 1990 beginnt. Die sogenannte Wiedervereinigung stellte natürlich insofern einen Bruch dar, da es weder in der Geschichte der BRD noch der DDR zuvor eine solche Welle von Pogromen und Brandanschlägen gegeben hatte. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass faschistische Gewalt ein durchgängiges Phänomen gewesen ist. So waren gerade die 1970er und 1980er Jahre in Frankfurt durch eine Vielzahl von faschistischen Aktivitäten und Gewalttaten – und den antifaschistischen Widerstand dagegen – geprägt. Die

Bedeutung und Geschichte des Antifaschismus in Frankfurt

offene Naziszene im Rhein-Main-Gebiet war seit den 1970er Jahren auf der einen Seite politisch isoliert, trat auf der anderen Seite jedoch sehr gewalttätig und offensiv auf. Dabei deckte sie das ganze Spektrum ab: von der gezielten Straßengewalt, insbesondere Angriffen auf Antifaschist*innen, bis hin zu terroristischen Anschlägen. Illustrieren lässt sich dies zum Beispiel anhand des Angriffs von 20-30 Nazis auf Gegendemonstrant*innen am 12.1.1980 an der Katharinenkirche. Nachdem sich einige Dutzend Antifaschist*innen versammelt hatten, um gegen den Informationsstand der ›Volkssozialistischen Bewegung Deutschlands‹ zu protestieren, griff ein mit Schlagstöcken, Axtstielen und Gaspistolen bewaffneter Nazitrupp diese an und verletzte einige von ihnen. 1982 griffen, Nazi-Parolen grölend, 250 Fußballfans wenige Stunden vor dem DFB-Pokalendspiel die 1.-Mai-Kundgebung des DGB auf dem Römerberg an, wobei 140 Personen verletzt wurden. Heute fast in Vergessenheit geraten ist die sogenannte Hepp-Kexel-Gruppe, die am 13.12.1982 Sprengsätze unter den Autos von US-Soldaten im RheinMain-Gebiet deponierten, wobei diese zum Teil schwer verletzt wurden. Aber die Region war auch hinsichtlich der Organisation der offen nationalsozialistischen Parteien insbesondere in den 1980er Jahren von Bedeutung. Unter anderem kam es in Frankfurt 1983 unter der Führung von Michael Kühnen zu einem Zusammenschluss etlicher Nazigruppierungen zur ANS/ NA (Aktionsfront Nationaler Sozialisten). Die ANS/NA spielte, zusammen mit der nachfolgenden FAP, eine wichtige Rolle in der Neuorganisierung der bundesdeutschen Naziszene und dieses Spektrum prägte bis weit in die 1990er Jahre hinein insbesondere deren aktivistisch ausgerichteten Flügel. Seit den späten 1960er Jahren durchzieht das wechselhafte Verhältnis zwischen einer ›rechtsbürgerlichen‹ und einer offen nationalsozialistisch ausgerichteten Politik den organisierten Rechtsradikalismus. Als wechselhaft lässt sich das Verhältnis der beiden Strömungen deswegen bezeichnen, da es – insbesondere in Zeiten, in denen die Rechte das politische Moment auf ihrer Seite hatte – von einer produktiven Zusammenarbeit über eine friedliche Koexistenz bis hin zu offenen Spannungen reicht. Korrespondierend lässt sich als ein festes Element innerhalb der verschiedenen Spielarten der antifaschistischen Strategien das Bemühen finden, entweder deutlich zu machen, dass die jeweiligen Parteien, Vereine oder ›Institutionen‹ trotz ihrer rechtsbürgerlichen Fassade einen faschistischen Kern haben oder aber auf eine mögliche innere Zerrüttung der Parteien hinzuwirken, indem versucht wird, das Bündnis von offenen Faschisten und Rechtsbürgerlichen aufzubrechen. Im Falle der CDU, die gerade im hessischen Raum bis in die 2000er Jahre hinein einen offen rechtsradikalen Flügel hatte, aus dem sich heute ein Teil des Führungspersonals der AfD rekrutiert, war diese Strategie mehr oder minder erfolglos. Sie scheiterte unter anderem daran, dass die CDU ihre Aufgabe durchaus darin sah, einen Teil des rechtsradikalen politischen Spektrums durch ein partielles politisches Entgegenkommen zu integrieren und zu binden.2 Allerdings wird diese Strategie derzeit im Kampf gegen die AfD wieder prominent. Die Annahme ist dabei, dass die politische Dynamik, die die AfD entfaltet, in dem Brückenschlag der rechtsbürgerlichen und -radikalen Spektren begründet ist und gebrochen werden würde, wenn diese Verbindung zerstört werden könnte.

Appellativer und konfrontativer Antifaschismus Was die praktische Haltung angeht, so durchzieht der Widerspruch zwischen einem appellativen und einem konfrontativen Antifaschismus die gesamte Geschichte des Antifaschismus in Frankfurt. Wichtig ist, dass

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der appellative Antifaschismus anfänglich als eine Gegenreaktion zum konfrontativen Antifaschismus entstand, sich dann als eine ausdrückliche Alternative zu ihm präsentierte, um schließlich als seine Ergänzung zu enden. Es ist eine These dieses Artikels, dass diese Entwicklung als ein Erfolg der langjährigen Bemühungen gerade der linksradikalen antifaschistischen Bewegung zu werten ist. Der appellative – in den Auseinandersetzungen der 1980er und 1990er Jahren auch ›staatstragend‹ genannte – Antifaschismus trat im Vergleich zum konfrontativen immer punktuell und als Reaktion auf Nazi-Aufmarschvorhaben auf. Seine Vertreter*innen verließen sich, was die Informationsarbeit anging, weitgehend auf Polizei und Verfassungsschutz und sahen Aufklärungsarbeit als schulische Angelegenheit. All dies sowie das Bemühen, eine antifaschistische Haltung im Alltag der Stadtgesellschaft ­ zu verankern, wurde von Vertreter*innen des konfrontativen Antifaschismus wesentlich in Eigenregie unternommen. Die stärker in der öffentlichen Aufmerksamkeit stehenden Verhinderungsversuche von Nazi-Aufmärschen waren in eine umfassende alltägliche ›Wühlarbeit‹ eingebunden. Diese reichte von der Recherche zu Nazi-Strukturen, der Aufklärung in Form von Publikationen, Flugblättern, Veranstaltungen, dem couragierten und robusten Einsatz für ein antifaschistisches Fußballerlebnis im Waldstadion, dem entschiedenen Entgegentreten, wo immer sich Nazis in Frankfurt und seinem Umland zeigten, bis hin zur Bündnisarbeit und der solidarischen Vernetzung mit anderen progressiven Kämpfen sowie einer umfassenden eigenen Theorie- und Bildungsarbeit. Die Bedeutung für die Frankfurter Stadtgesellschaft, die diese beiden sehr unterschiedlichen Verständnisse von Antifaschismus haben, lässt sich gut zeigen, wenn man einen Bogen von der erfolgreichen Verhinderung des ›Deutschlandtreffens‹ der NPD 1979 bis zur Blockade des NPD-Demonstrationsversuchs am 1. Mai 2013 schlägt. Auch wenn heute eine relativ klare Haltung gegen Nazis und Faschisten zum Selbstverständnis vieler Politiker*innen der bürgerlichen Parteien gehören, lässt sich dies kaum für die späten 1960er und 1970er Jahre behaupten. In diesen Jahren versuchte die 1964 gegründete NPD, die ein Sammelbecken aus Nationalliberalen, Deutschnationalen, alten und neuen Nazis war, durch eine Reihe von Demonstrationen und Veranstaltungen Frankfurt »zur ersten nationaldemokratischen Stadt Deutschlands« zu machen. Am 25.7.1969 durfte sie dafür den städtischen Cantate-Saal nutzen und dankte es, indem sie ihren Ordnerdienst mit Eisenstangen und Helmen auf die wenigen antifaschistischen Gegendemonstrant*innen einprügeln ließ. Bemerkenswert ist, dass der damalige SPD-Polizeipräsident Gerhard Littmann die beiden anwesenden Polizeihundertschaften ausdrücklich anwies, nicht einzugreifen. Die vermeintlich passive Rolle der Polizei ändert sich bei dem ersten ›Deutschlandtreffen‹ der NPD 1974, das an dem damaligen ›Tag der deutschen Einheit‹, dem 17. Juni, stattfand. Während die Nazis durch die Stadt marschieren konnten, waren antifaschistische Gegendemonstrationen per Verfügung durch SPD-Oberbürgermeister Rudi Arndt3 verboten; ein Verbot, dass die Polizei prügelnd und unter Wasserwerfereinsatz durchsetzte. Die NPD marschierte nun jährlich durch Frankfurt und schaffte es schließlich bis 1977, kontinuierlich mehr und mehr Nazis zu mobilisieren. In diesem Jahr wurden aus der mit 3.000 Teilnehmer*innen bis dahin größten Nazi-Demonstration in der Frankfurter Nachkriegsgeschichte heraus immer wieder kleinere Gruppen von Antifaschist*innen angegriffen. Schließlich traf die NPD am Römerberg auf circa 1.000 Gegendemonstrant*innen, die ein Bündnis aus K- und anderen kleinen linksradikalen Gruppen mobilisiert hatte. Die Polizei beendete die Auseinandersetzungen, zu denen es daraufhin kam, erneut mit Knüppeln und Wasserwerfern vor allem gegen

Bedeutung und Geschichte des Antifaschismus in Frankfurt

die Antifaschist*innen. Ein Jahr später demonstrierte die NPD erneut mit 3.000-4.000 Leuten durch Frankfurt, wurde aber von Protesten gestoppt. Ein Bündnis linker und linksradikaler Gruppen schaffte es mit 10.000 Leuten, den Römerberg zu besetzen, auf dem die Abschlusskundgebung der Nazis stattfinden sollte. Der damalige Polizeipräsident Knut Müller (SPD), der für seine Prügel- und Gewaltpolitik gegen die linken Bewegungen in Frankfurt berüchtigt war, ließ daraufhin den Römerberg unter Wasserwerfer-, Tränengas- und Knüppeleinsatz brutal räumen, was zu zahlreichen Verletzten und Schwerverletzten führte. Als Reaktion darauf kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Antifaschist*innen und der Polizei. Um den erneuten Aufmarsch der NPD ein Jahr später zu verhindern und die antifaschistischen Gegendemonstrant*innen vor der Polizeigewalt zu schützen, entwickelte ein Bündnis aus linken Gruppen und Aktivist*innen eine neue Strategie. Eine Verbindung aus einem großen Rockkonzert, als Ausgangspunkt und Rückzugsort für eine Vielzahl von Gegenprotesten, sollte aus dem gesamten Bundesgebiet Antifaschist*innen zusammengebringen. So sollte ein Bündnis aus Kultur und Politik geschmiedet werden, das in der Lage wäre, durch eine große Mobilisierung den erneuten Aufmarsch der NPD in Frankfurt tatsächlich zu verhindern. Im Vorfeld der Nazi-Demonstration verfügte der Oberbürgermeister Wallmann (CDU) (—Monza in diesem Band) zunächst ein Verbot aller NPD-Veranstaltungen, was das Verwaltungsgericht jedoch später aufhob. In Reaktion darauf versuchte Wallmann das nunmehr unter dem Namen ›Rock gegen Rechts‹ angekündigte antifaschistische Konzert sowie alle weiteren Demonstrationen zu verbieten, was jedoch dieses Mal an der sich im Stadtparlament mittlerweile in der Opposition befindlichen SPD und dem Widerstand des DGB scheiterte, die sich insbesondere gegen das Verbot des Konzertes aussprachen. Unter harten Auflagen und Einschränkungen wurde das Konzert erlaubt, musste jedoch vom ursprünglich angemeldeten Römerberg auf das fernab

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Abbildung 1: Polizeiliche Räumung des Römerbergs anlässlich antifaschistischer Proteste gegen die NPD, 17. Juni 1978 (Quelle: Flugblatt des AstA der Universität Frankfurt; Archiv des Infoladens, ExZess, Frankfurt).

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der Innenstadt – und damit des Aufmarschgebiets der NPD – gelegene Rebstockgelände ausweichen. Einen Tag vor dem NPD-Aufmarsch wurden unter Berufung auf einen vermeintlichen polizeilichen Notstand schließlich alle antifaschistischen Kundgebungen und Demonstrationen verboten, was auch eine Kundgebung des DGB einschloss. In gewisser Weise war diese Begründung durchaus zutreffend, denn die ›Rock gegen Rechts‹ Initiative schaffte es, mehr als 40.000 Antifaschist*innen nach Frankfurt zu mobilisieren. Das Vorhaben, das Konzert für die Mobilisierung und als Ort zu nutzen, an dem sich Antifaschist*innen treffen und koordinieren können, um den Protest in die Innenstadt zu tragen, ging auf: Mehr als 40.000 Antifaschist*innen ignorierten das Demonstrationsverbot, durchkreuzten die Polizeistrategie und verhinderten so den Aufmarsch der NPD. Tatsächlich setzte die erfolgreiche antifaschistische Strategie den Aufmarschversuchen der NPD in Frankfurt für fast 10 Jahre ein Ende.4 Eine weitere Folge der erfolgreichen Gegenmobilisierung war die Gründung des Römerbergbündnisses, zu dem SPD, Kirchen und Gewerkschaften aufriefen. Dieses halbinstitutionalisierte und bis heute bestehende Bündnis verfolgte zwei Ziele: Erstens sollte eine Form bürgerlichen Protests gegen die faschistischen Kräfte organisiert werden, womit zweitens eine Alternative zu dem ›linksextremen Antifaschismus‹ geschaffen werden sollte. Auch wenn sich im Laufe der Jahre die Bedeutung des Römerbergbündnisses deutlich abgeschwächt hat und es in den letzten Jahren kaum mehr als starker politischer Zusammenhang auftrat, muss es in seiner Gründungsintention als ein aktiver Versuch verstanden werden, einen linken, konfrontativen Antifaschismus zu verhindern. Die Herausbildung des appellativen Antifaschismus lässt sich rückblickend gut anhand der Reaktion von zentralen Vertreter*innen von SPD, Kirchen und Gewerkschaften auf die Ereignisse während der antifaschistischen Proteste der 1970er Jahre zeigen. Diese lassen bei aller Ablehnung der NPD erkennen, dass man nicht nur wegen der demonstrierenden Nazis besorgt war, sondern zu gleichen Teilen wegen der Gegendemonstrant*innen, die als ihre Protestformen Platzbesetzungen, die Blockade von Demonstrationsrouten sowie den militanten Widerstand gegen die faschistische Gewalt wählten. Die Form des Protestes, die das Römerbergbündnis entwickelte, bestand demgegenüber im Wesentlich darin, fernab der Demonstrationsrouten und Versammlungsorte der Nazis von Unterhaltungsprogramm, Bier und Würstchen gerahmte Kundgebungen zu veranstalten. Dort hielten dann Vertreter*innen der am Bündnis beteiligten Organisationen und Parteien Reden und appellierten an die Allgemeinheit, doch Nazis irgendwie doof zu finden und nicht zu unterstützen. Diese Form des bürgerlichen Protestes sollte nicht nur einfach eine Alternative zu dem konfrontativen Antifaschismus bieten, sondern diesen damit auch delegitimieren. Da sich antifaschistischer Protest nunmehr in geordneten bürgerlichen Bahnen artikulieren konnte, ließ sich dem konfrontativen Antifaschismus noch stärker seine politische Berechtigung absprechen, wodurch er zu einem mit polizeilichen Mitteln zu begegnendem Phänomen gemacht werden konnte. Insbesondere von der rechten Sozialdemokratie, die sich durch ein stark autoritäres Verständnis von Ordnung und Politik auszeichnete, wurde der konfrontative Antifaschismus in erster Linie nicht als bemüht um die effektive Zurückdrängung der faschistischen Kräfte verstanden, sondern vor allem als Politik linker und linksradikaler Gruppen – und das war in den Augen der autoritären Sozialdemokratie das vorrangige Problem. Antifaschistische Politik in Frankfurt war von nun an auch immer von der Verteidigung und Begründung der angemessenen antifaschistischen

Bedeutung und Geschichte des Antifaschismus in Frankfurt

Strategie geprägt. Die starke Delegitimierung des konfrontativen Antifaschismus schwächte sich erst in den 2000er Jahren ab. Dies lag einerseits daran, dass gerade der sich in den 1980er Jahren ausbildende und sich ab den frühen 1990er Jahren bundesweit verankernde autonome Antifaschismus durch seine lange praktische Erfahrung und die Kontinuität des Engagements zu einer festen politischen Größe wurde. Dieser bestand nicht nur aus dem stets mit plausiblen Argumenten verteidigten Vorhaben, den Faschisten keinen Fußbreit öffentlichen Raums zu gewähren, sondern ganz wesentlich in einer umfassenden Informations- und Aufklärungsarbeit, die die bürgerlichen Akteur*innen in der Regel Polizei und Verfassungsschutz überließen (was, gelinde formuliert, wenig erkenntnisfördernd war). Infolgedessen hatte sich der autonome Antifaschismus bei vielen Frankfurter*innen einen guten Ruf erarbeitet. Der appellative Antifaschismus hingegen verlor mit den Jahren zunehmend an Einfluss. So kam es am 1. Mai 2001 zu einer ›Abstimmung mit den Füßen‹ hinsichtlich der Frage, ob eine konfrontative oder appellative Strategie die angemessene Antwort auf faschistische Aufmärsche ist. Nach einer Reihe kleinerer Kundgebungs- und Aufmarschversuche der faschistischen ›Bürgerbewegung für unser Land‹, die überwiegend in der Innenstadt stattfanden und aufgrund der Militanz von Antifas und ›Frankfurter Jugendlichen‹ in einem völligen Desaster für die Nazis endeten, wollten die ›Freien Kameradschaften‹ am 1. Mai 2001 unter dem Motto »Globalisierung stoppen« aufmarschieren. Wesentlich initiiert von autonomen antifaschistischen Gruppen bildete sich ein linkes Bündnis, das mit einer so umfassenden wie vielschichtigen Aufklärungs- und Mobilisierungskampagne für die aktive Verhinderung des Vorhabens der Faschisten warb. Das Römerbergbündnis und vor allem der DGB versuchten dagegen politische Hegemonie auszuüben und den konfrontativen Antifaschismus zu delegitimieren. Sie setzen auf Kundgebung, große Reden und Bratwurst fernab der Demonstrationsroute der Nazis.5 Am Tag selbst gelang es dem linksradikalen Bündnis, 3.0004.000 Antifaschist*innen in die unmittelbare Nähe der Aufmarsch­route zu bringen, die Anreise der Nazis zu blockieren, zu verzögern und immer wieder auch militant anzugreifen. Obwohl die Polizei versuchte, mit Wasserwerfer- und Prügeleinsätzen den Nazis den Weg frei zu räumen, wurde der Tag für die Nazis eher zu einem Misserfolg. Dies lag sicherlich auch an der heftigen Militanz, auf die sie stießen und die häufig nicht von autonomen Antifas, sondern von den Jugendlichen aus den anliegenden Stadtvierteln ausging. Dennoch kam es in den 2000er Jahren zu einer Reihe weiterer Aufmarschversuche aus dem Spektrum der ›Freien Kameradschaften‹, die ebenfalls zu verhindern versucht wurden. Allerdings scheiterte dies weitgehend an der in Reaktion auf den 1. Mai 2001 entwickelten Polizeistrategie, die auf eine weiträumige Absperrung der Aufmarschroute setzte. Haltung und Strategie der konfrontativen Verhinderung von Nazi-Aufmärschen hatten allerdings 2013 nochmals Erfolg. Der Versuch der NPD, am 1. Mai in Frankfurt zu demonstrieren, wurde durch Gleis- und andere Blockaden und vielfältige andere Aktionen verhindert. Tausende Frankfurter*innen beteiligten sich daran und am Ende kam es schließlich zu offenen Sympathiebekundungen des SPD-Oberbürgermeisters Feldman und damit auch des Römerbergbündnisses. Obwohl er auf der einen Seite seine Basis und Akzeptanz insgesamt verbreitern konnte, kam der konfrontative Antifaschismus auf der anderen Seite in den 2000er Jahren bundesweit, aber auch in Frankfurt in eine Krise. Dies lag vordergründig an der geänderten Strategie der Polizei, die durch weiträumige und oftmals geradezu hermetische Absperrungen, die den Einsatz

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Abbildung 2: Mobilisierungsplakat des Bündnisses gegen den Naziaufmarsch am 1. Mai in Frankfurt, 2002 (Quelle: Archiv des Infoladens, ExZess, Frankfurt).

mehrerer tausend Beamt*innen erforderte, Blockaden und andere Formen direkter Konfrontation zunehmend erschwerte beziehungsweise gänzlich verhinderte. Dem konfrontativen Antifaschismus ist es bisher trotz des relativen und punktuellen Erfolgs nicht gelungen, sich derart als eine ausdrücklich politische Position zu etablieren, dass seine Delegitimierung und Klassifizierung als ›polizeiliches Problem‹ misslingen würde. Auch führte die Lehre, die viele Antifaschist*innen aus ihren weitgehend schlechten Erfahrungen mit den bürgerlichen Parteien und der Polizei zogen, dass man ›die Arbeit eben selbst machen müsse‹6, mitunter dazu, dass das politische Ziel der Schaffung eines breiten gesellschaftlichen Klimas des Antifaschismus im Verhältnis zu den taktischen Versuchen der unmittelbaren Sabotage von Nazi-Aktivitäten aus den Augen geriet. Den polizeilich-politischen Hürden, denen der konfrontative Antifaschismus begegnet, hat er lange versucht, mit taktischer Fantasie zu begegnen. Dass dies nicht hinreichend ist, zeigte sich jedoch zunehmend in den 2010er Jahren. Zwar erwies sich die Strategie des konfrontativen Antifaschismus als nachhaltiger Erfolg, als es

Bedeutung und Geschichte des Antifaschismus in Frankfurt

darum ging, einen möglichen Frankfurter Ableger der Dresdener Pegida-Bewegung zu verhindern. Die Grenzen des konfrontativen Antifaschismus zeigen sich aber deutlich in seiner mangelnden Handlungsfähigkeit, was den Widerstand gegen die AfD angeht. Vor allem seit dem Jahr 2015 hat sich mit der AfD (und in deren erweitertem Dunstkreis) eine in der Geschichte der BRD in der Weise bis dato unbekannt dynamische Rechte konstituiert, die es bisher geschafft hat, ein strategisches, wenn auch teilweise prekäres Bündnis von offen faschistischen bis rechtskonservativen Kräften zu organisieren. Gerade der konfrontative Antifaschismus hat sich im Kampf gegen das politische Projekt der AfD als erstaunlich inflexibel in der Wahl seiner Strategie und politischen Ausrichtung gezeigt. Dass eine erfolgsorientierte antifaschistische Militanz in Bezug auf die AfD gerade nicht in der tradierten Verhinderungsstrategie bestehen kann, ist offensichtlich. Worin aber genau eine Alternative bestehen kann, die über die klassische Aufklärungsarbeit oder den Versuch, eine interne Spaltung herbeizuführen, hinausgeht, ist derzeit unklar.7

Der Tod von Günter Sare und das Verhältnis zu den Grünen Ein einschneidendes Erlebnis für viele Frankfurter Antifaschist*innen der 1980er Jahre war die Tötung von Günter Sare bei einem Wasserwerfereinsatz. Obwohl der polizeiliche Umgang mit der antifaschistischen Bewegung in Frankfurt fast durchgängig von Gewalt und Gängelei geprägt war und ist, ragt dieses Ereignis doch heraus. Damals wurde ein polizeiliches Handeln, bei dem die Tötung von Demonstrant*innen offensichtlich billigend in Kauf genommen wurde, weder rechtlich noch politisch geahndet. Eine besonders armselige Haltung legten dabei die Frankfurter Grünen um Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer an den Tag, was schließlich zu einem dauerhaften Bruch der sozialen Bewegungen mit den Grünen führte. Am 28. September 1985 wollte die NPD im Bürgerhaus Gallus, wo 1964/65 der erste Ausschwitz-Prozess stattgefunden hatte, ihren Bundestagswahlkampf eröffnen. Antifaschist*innen versuchten den Zugang zum Haus zu blockieren, um die NPD-Veranstaltung zu verhindern. Nachdem die Polizei die NPD-Veranstaltung bereits durchgesetzt hatte, preschte auf einmal der Hochdruckwasserwerfer IV/1 unter dem Kommando von Wilfried Reichert vor und überfuhr den 36-jährigen Antifaschisten Günter Sare an der Kreuzung Hufnagelstraße/Frankenallee. Die Polizei leistete keinerlei Hilfe bei dem Versuch, den Schwerletzten zu versorgen. Der Notarztwagen brauchte 20 Minuten, Günter Sare verstarb, bevor er in ein Krankenhaus kam. Die Zeit danach war erstens dadurch geprägt, dass die außerparlamentarische Linke in ihrer Forderung nach politischen Konsequenzen aus dem tödlichen Polizeieinsatz weitgehend auf sich allein gestellt war. Insbesondere die hessischen Grünen waren nicht bereit, in den laufenden Koalitionsverhandlungen mit der SPD die Forderung nach der Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Bedingung zu machen. Zweitens gab es eine überraschend massive Reaktion seitens der Bewegung: In den Tagen nach dem 28. September kam es zu zahlreichen militanten Demonstrationen, Krawallen und Attacken auf Polizeiwachen im gesamten Bundesgebiet. Bei vielen Aktivist*innen aus den sozialen und autonomen Bewegungen herrschte der Eindruck vor, dass ›einer von uns‹ getötet wurde und Polizei und Bürger*innentum dies zulassen. Bestätigt wurde dieser Eindruck im Nachhinein dadurch, dass der Wasserwerferfahrer nicht einmal wegen fahrlässiger Tötung rechtlich belangt wurde. Die Reaktion des Lagers

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des appellativen Antifaschismus in Frankfurt war eine der Entsolidarisierung beziehungsweise des Nicht-Verhaltens. Die Grünen hingegen, die zuvor im Rahmen ihrer Tolerierung der SPD-Landesregierung den Wasserwerfer mit bewilligt hatten, waren auch angesichts eines toten Demonstranten nicht gewillt, die Koalition mit der SPD zu gefährden. Dies führte zu einem Bruch der linken Bewegung insbesondere mit den Realo-Grünen, der auf einem von den Grünen organisierten teach-in mit Eierwürfen auf Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer symbolisch vollzogen wurde. Es ist bis heute auffällig, dass im Frankfurter Antifaschismus die Grünen keine bedeutende Rolle spielen; weder kommen sie als Kandidat*innen für mögliche Bündnisse in Frage noch treten sie selbst mit irgendeinem diesbezüglichen Engagement großartig in Erscheinung. Für viele Aktivist*innen aus der autonomen Bewegung des Rhein-Main-Gebiets stellte der Tod Günter Sares einen tiefen Einschnitt dar. Insbesondere das Verhältnis zu den Grünen ist seit dieser Zeit in vielfacher Weise zerrüttet.8 Während es in anderen bundesdeutschen Städten immer wieder zu strategischen Bündnissen zwischen linken Antifaschist*innen und Grünen kam, ist dieses Tuch seit Mitte der 1980er Jahre in Frankfurt weitgehend zerschnitten.

Die harten Jahre des Antifaschismus In den Jahren nach der Wiedervereinigung kam es in der BRD zu einer Welle rassistischer Hetzjagden und Pogrome, von denen Hoyerswerda und Rostock nur die bekanntesten sind. In Frankfurt bildeten sich schon seit dem Ende der 1980er Jahre eigenständige autonome Antifa-Gruppen heraus, die neben dem unmittelbaren Engagement im Rhein-Main-Gebiet auch eine vielfältige praktische Solidarität mit Antifaschist*innen und Flüchtlingen in den neuen Bundesländern ausübten. Darüber hinaus organisierten sich in Reaktion auf die Welle der rassistischen Gewalt ab 1991 in Frankfurt mehrere hundert Leute, überwiegend aus der linken und linksradikalen Szene, zu einem antirassistischen und antifaschistischen Notruf- und Infotelefon. Gruppenübergreifend wurde sich in Stadtteilgruppen organisiert, welche wiederum untereinander vernetzt waren. Es gelang dadurch, einen handlungsfähigen Zusammenhang zu schaffen, der schnell auf Aktionen und Ansammlungen von Faschisten und Rassist*innen reagieren konnte. Die Nummer des Notruf- und Infotelefons wurde in der Öffentlichkeit breit bekanntgemacht, vor allem auch bei von rassistischer Gewalt betroffenen Personen, und konnte zumindest an den Wochenenden tatsächlich auch in Notfällen angerufen werden. Stadtteilgruppen und Telefon existierten bis 1995 und aus diesem Zusammenhang wurde eine Vielzahl von (direkten) Aktionen, Demonstrationen und Veranstaltungen heraus durchgeführt. Besonders bedeutsam für die antifaschistische Szene Frankfurts war die schnelle Mobilisierung Anfang Juni 1992 nach Mannheim-Schönau. Dort griffen am 28. Mai 1992 hunderte Einwohner*innen des Stadtteils die auf einem ehemaligen Kasernengelände befindliche Flüchtlingsunterkunft an. Scheiben wurden eingeschmissen und die Flüchtlinge massiv bedroht. Obwohl die Polizei relativ schnell vor Ort war und die Stürmung des Geländes verhinderte, ließ sie zu, dass sich mehr als eine Woche lang jeden Abend eine rassistische Menschenmenge vor der Unterkunft versammelte und die Flüchtlinge in einen völligen Ausnahmezustand versetzte. In Mannheim zeigte sich die gleiche Reaktion der offiziellen Politik wie bei den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen: Der SPD-Bürgermeister nahm die Angreifer*innen als Bürger*innen mit verständlichen Sorgen und nachvollziehbaren Anliegen in Schutz und verkündete, das eigentliche

Bedeutung und Geschichte des Antifaschismus in Frankfurt

Problem läge in der großen Zahl der Flüchtlinge. Unter starker Beteiligung des Frankfurter Notruf- und Infotelefons wurde rasch zu Gegenaktionen und zur Solidarität mit den Flüchtlingen mobilisiert und es wurden mehrfach Demonstrationen in Mannheim organisiert. Während die Polizei sich gegen den rassistischen Mob eher zurückhaltend verhielt (und am Ende alle Strafverfahren gegen Beteiligte eingestellt wurden), knüppelte sie am 6. Juni mit großer Härte eine antifaschistische Demonstration in der Mannheimer Innenstadt auseinander – mit dem Ergebnis von mehreren Schwerverletzten und 140 Festnahmen. Die Ausschreitungen von Mannheim-Schönau sind rückblickend vor allem aus zwei Gründen von Interesse. Erstens zeigte sich ein (oftmals medial flankiertes) Agieren von Politik und Polizei, das prägend für die erste Hälfte der 1990er Jahre, aber letztlich bis zum Ende des Jahrzehnts war: Während rassistische und faschistische Gewalt, insbesondere wenn sie von Bürger*innen mit ›verständlichen Sorgen‹ ausging, bagatellisiert wurde, agierte die Polizei mit großer Härte gegen Antirassist*innen und Antifaschist*innen. Bemerkenswert ist auch, dass der appellative Antifaschismus zumindest bis zur faktischen Abschaffung des Asylrechts 1993 kaum in Erscheinung trat – und als er dies in Form von ›Lichterketten‹ dann doch tat, war deutlich erkennbar, dass hier nicht eine klare antifaschistische und antirassistische Haltung zum Ausdruck gebracht, sondern gemahnt werden sollte, dass das Gewaltmonopol beim Staat liegt und das ›Ausländerproblem‹ auf geordnetem parlamentarischem Weg gelöst werden wird.9 Praktisch wurde der Antifaschismus der 1990er Jahre zunehmend von der autonomen Bewegung getragen, die immer wieder die Erfahrung einer starken Repression und Feindseligkeit machte.

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Abbildung 3: Beitrag des antirassistischen und antifaschistischen Notruf- und Infotelefons in Frankfurt (Quelle: Antifa-Infoblatt Frankfurt, November 1992; Archiv des Infoladens, ExZess, Frankfurt).

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Zweitens trat damals eine Kontroverse hervor, die im Zuge der heutigen Diskussionen um ein linkes Verhältnis zu Flucht und Migration, aber auch der Rolle einer Klassenanalyse und -politik, um die Erklärung von Trump und ›Rechtspopulismus‹ etc. erneut eine große Rolle spielt. Aktivist*innen aus den Zusammenhängen der operaistisch geprägten Zeitschrift Wildcat interpretierten die Ausschreitungen in Mannheim-Schönau als fehlgeleiteten Ausdruck eigentlich berechtigter sozialer Anliegen und versuchten insgesamt, diese aus einer klassenanalytischen Perspektive heraus zu erklären. Obwohl ein möglicher Zusammenhang zwischen Rassismus und Kapitalismus bei vielen linken Antifaschist*innen vermutet wurde, lehnte die überwiegende Zahl der autonomen Linken die Herangehensweise der Wildcat ab. Stattdessen plädiert sie dafür, Rassist*innen als verantwortliche Akteur*innen ernst zu nehmen und diesen nicht mit sozialtherapeutischen, sondern wesentlich handfesteren Mitteln zu begegnen. Diese Position vertrat auch die Frankfurter Gruppe ›Café Morgenland‹, die stark an der antifaschistischen Mobilisierung nach Mannheim beteiligt war. Aus der linksradikalen und autonomen Szene stammend, warb das ›Café Morgenland‹ für eine migrantische Selbstorganisation und war bis Ende der 1990er Jahre ein kleiner, aber bundesweit einflussreicher Zusammenhang, der viele (polemische) Impulse in der Debatte um eine mögliche antideutsche und strikt antirassistische Ausrichtung des linken Antifaschismus gab. Die vielen kontrovers geführten Diskussionen der 1990er Jahre um Flucht und Migration, Rassismus und Kapitalismus haben ganz wesentlich dazu beigetragen, dass innerhalb des heutigen außerparlamentarischen Antifaschismus eine antirassistische, kosmopolitische Haltung tief verankert ist und Versuche der explanatorischen Rückführung rassistischer auf soziale Motivlagen im Allgemeinen als dramatisch verkürzt abgelehnt werden. Viele Antifaschist*innen machten in den 1990er Jahren die Erfahrung, dass ihnen feindselig begegnet und das Anliegen des Antifaschismus als Störung betrachtet wurde. Daher lag allein lebensweltlich die Diagnose des weit verbreiteten Rassismus in der deutschen Bevölkerung nahe. Gleichzeitig sah man sich aber vor das Dilemma gestellt, dass eine solche Diagnose praktisch noch stärker in eine politische Isolation führe und sich damit der Spielraum antifaschistischen Engagements und der Schutz vor Repression noch weiter einschränke. Die Debatte um die praktische Ausrichtung antifaschistischer Politik, die sich zwischen den Polen von antideutschen und bündnisorientierten Ansätzen bewegte, prägte auch in Frankfurt die 1990er Jahre, verlor jedoch Anfang der 2000er Jahre zunehmend an Bedeutung. An Bedeutung nicht verloren hat hingegen die Frage, ob, und wenn ja, in welcher Weise sich Faschismus und Rassismus aus der Grundverfassung kapitalistischer Gesellschaften heraus erklären lassen. Es ist sicherlich auch ein Resultat der langen und sehr kontrovers geführten Diskussionen der 1990er Jahre, dass in der antifaschistischen Linken diesbezüglich einfachen Erklärungsansätzen bis heute mit einer großen Skepsis begegnet wird.

Von »Nie wieder Deutschland« zu »Deutschland wiedergutgemacht« – Erinnerungspolitik und Antifaschismus in den 1990er Jahren Ab den 1990er Jahren lässt sich rückblickend eine zunehmende Bedeutung der Erinnerungspolitik im Bereich des Antifaschismus beobachten. Natürlich war die antifaschistische Politik stets vom Imperativ des »Nie wieder!« geprägt. Von daher gab es immer schon ein erinnerungspolitisches Element innerhalb des bundesdeutschen, insbesondere des Frankfurter

Bedeutung und Geschichte des Antifaschismus in Frankfurt

Antifaschismus. So prägten Überlebende und ehemalige Widerstandskämpfer*innen stark die VVN und insbesondere Peter Gingold wurde in Frankfurt zu einer treibenden und öffentlich präsenten Stimme. In den 1990er Jahren verstärkte sich die Bedeutung einer Erinnerungspolitik zunehmend. Aus der Frankfurter antifaschistischen Perspektive fing dieses Jahrzehnt mit der Forderung »Nie wieder Deutschland!« an und hörte schließlich 1999 mit dem Urteil »Deutschland wiedergutgemacht« auf. Dazwischen lag ein Jahrzehnt, in dem die Fragen, wie dem Nationalsozialismus und dessen Erbe erinnert werden sollte und welche Rolle diese Erinnerung im Selbstverständnis und der Politik Deutschlands, das heißt auch der Städte und Gemeinden, spielen sollte, eine große Bedeutung zukam. Die erinnerungspolitischen Kontroversen reichten damals unter anderem von der auch in Frankfurt gezeigten Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht über die Walser-Bubis-­ Debatte, die 1998 durch Walsers Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels provoziert wurde, bis schließlich hin zu den Protesten gegen die I.G. Farben in Liquidation (i. L.) und den Kampf für die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter*innen. Die Proteste gegen die in Frankfurt-Dornbusch ansässigen I.G. Farben i. L. und der Kampf für eine Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter*innen spielten in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eine zunehmend große Rolle für die antifaschistische Politik in Frankfurt. So führte die Beteiligung von autonomen Antifa-Gruppen dazu, dass die wesentlich von Peter Gingold mit großer Beharrlichkeit organisierten Proteste gegen die Aktionärsversammlung der I.G. Farben i. L. an Dynamik gewannen und eine Bedeutung annahmen, die weit über die Stadtpolitik hinausging. Über das Bündnis gegen die I.G. Farben ergab sich ein enger Kontakt zwischen VVN und autonomen Antifa-Gruppen, der in dieser Form in den 1980er Jahren undenkbar gewesen wäre. Dadurch beteiligten sich auch Antifa-Gruppen an dem Kampf und den Bündnissen für die Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter*innen. Anfang der 2000er Jahre beendete die rot-grüne Bundesregierung diesen Kampf schließlich ohne eine Zuerkennung von Rechtsansprüchen der ehemaligen Zwangsarbeiter*innen. Teile der bundesdeutschen Wirtschaftsunternehmen, die von der Zwangsarbeit profitierten, schlossen sich zusammen, um unter der ausdrücklichen Betonung ihrer Freiwilligkeit einen Bruchteil der geforderten Summe in eine Stiftung zu zahlen. An der politischen Erledigung der Entschädigungsansprüche durch die Nichtanerkennung einer rechtlichen Verpflichtung bei gleichzeitiger freiwilliger Selbstverpflichtung zu geringer Zahlung ließ sich ablesen, wie sich ein neues erinnerungspolitisches Selbstverständnis in Deutschland etablierte. Eine bundesweite antifaschistische Konferenz zur Zwangsarbeiter*innenentschädigung, an deren Organisation und Durchführung auch stark Frankfurter Antifaschist*innen aus der autonomen Linken sowie aus dem VVN- und DKP-Spektrum beteiligt waren, kritisierte dieses neue Selbstverständnis bündig unter der Parole »Deutschland wiedergutgemacht«. Aber auch in einem weiteren Sinn waren die 1990er Jahre wesentlich durch eine erinnerungspolitische Perspektive geprägt. Im Zentrum stand in diesem Jahrzehnt die Frage, ob und wenn ja in welcher Weise das wiedervereinigte Deutschland an eine nationalistische Machtpolitik anknüpft und inwieweit Antisemitismus und Rassismus Bewusstsein und Haltung der Eliten sowie breiter Bevölkerungsschichten bestimmen. In welches Verhältnis sich die politische und wirtschaftliche Klasse, ›Land und Leute‹, zu den Verbrechen und dem Erbe des NS setzen, galt als ein Gradmesser dessen, was als zukünftiges Handeln zu erwarten wäre. Als eine erste politische Reaktion auf die Wiedervereinigung fand am 12. Mai 1990 die von einem

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Kämpfe und Initiativen

linksradikalen Bündnis getragene »Nie wieder Deutschland«-Demonstration statt, mit der für den »Wiederzusammenbruch Deutschlands« geworben wurde. Die Herangehensweise, die damalige politische Situation stark in Bezug auf den historischen Nationalsozialismus zu interpretieren, war auch innerhalb der Linken nie unumstritten – und in der Rückschau lassen sich schnell deren Begrenzungen und Fehlannahmen erkennen. Der polemische Überschuss und die moralische Empörung, die mit dieser Herangehensweise verbunden waren, hatten sicherlich hohe Kosten hinsichtlich der zeitdiagnostischen Treffsicherheit und haben auf lange Jahre hin die Möglichkeiten einer präzisen linken und antifaschistischen Analyse verstellt. Aus dem Handgemenge der 1990er Jahre heraus war es jedoch für viele Aktivist*innen schwer einzuschätzen, in welche Richtung sich das wiedervereinigte Deutschland entwickeln würde. Dies zeigte sich auch anhand außenpolitischer Fragen, insbesondere anhand des heute fast vergessenen, aber die 1990er Jahre stark prägenden Jugoslawienkriegs. So wurde die Rolle der BRD bei der Desintegration Jugoslawiens häufig vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus und alter Freund*innenschaften, Verbindungen und Allianzen zwischen Nazi-Deutschland und den jugoslawischen Teilstaaten analysiert. Die Frage, ob angesichts der nationalsozialistischen Vergangenheit von deutschem Boden je wieder Krieg ausgehen dürfe, spielte eine zentrale Rolle bei der Entscheidung über eine deutsche Beteiligung an dem NATO-Angriff auf die Bundesrepublik Jugoslawien. Auch wurde heftig diskutiert, ob im Jugoslawienkrieg ein Völkermord vonstattengeht, wie es der damalige SPD-Außenminister Scharping behauptete. Die Auseinandersetzungen um den NATO-Einsatz, an dem Deutschland schließlich teilnahm, waren auch deswegen so heftig, da von den ›Bellizist*innen‹ in der Begründung der Notwendigkeit des Kriegseinsatzes immer wieder die Verhinderung eines ›neuen Auschwitzes‹ angeführt wurde. Insbesondere der Frankfurter Grüne Joschka Fischer, der seit den 1980er Jahren für deren rechten Flügel stand und Ende der 1990er Jahre Außenminister war, scheute vor einer offensichtlichen Instrumentalisierung von Auschwitz nicht zurück. Wie schlecht das Verhältnis war, das seit dem Tod von Günter Sare zwischen den Frankfurter autonomen Antifaschist*innen und Grünen bestand, zeigte sich einmal mehr bei der versuchten Blockade der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen im Jahr 1999 in Bielefeld. Unter starker Beteiligung aus Frankfurt versuchte eine bundesweite autonome Mobilisierung, diese Konferenz, auf der die Grünen über ihre Haltung zu einer deutschen Beteiligung am NATO-Kriegseinsatz entschieden, zu behindern und zu stören. Waren die 1990er Jahre erheblich von erinnerungspolitisch geprägten Debatten bestimmt, nahm deren Bedeutung in den 2000er Jahren allmählich ab. Zwar waren Frankfurter Antifaschist*innen an den von 2002-2009 anhaltenden Protesten gegen das jährliche Traditionstreffen der Gebirgsjäger in Mittenwald beteiligt. Ebenso engagierten sie sich beim ›Zug der Erinnerung‹ – einer Kampagne, die in den Jahren 2007-2013 die Rolle der Reichsbahn bei der NS-Vernichtungspolitik thematisierte. Nach und nach aber wurden diese Debatten und Auseinandersetzungen weniger.

Der kurze Sommer der Antifa Im Jahr 2000 kam es in der Bundesrepublik zu einer erneuten Welle heftiger faschistischer Gewalt, die insbesondere im Sommer eine starke mediale Berichterstattung nach sich zog. In Reaktion darauf befürwortete die rot-grüne Bundesregierung schließlich eine breite Förderung diverser Projekte gegen

Bedeutung und Geschichte des Antifaschismus in Frankfurt

›Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit‹. Die Perspektive der Opfer sollte unterstützt und die rassistische Gewalt nicht mehr als ein Problem von Einzeltäter*innen, sondern als Problem der gesellschaftlichen Mitte verstanden werden. Konkret auf die Antifa-Bewegung bezogen bedeutete diese spöttisch als ›Antifa-Sommer‹ bezeichnete Initiative, dass sich etliche Projekte und Initiativen langfristig institutionalisieren konnten und dass mehr und mehr Aktivist*innen ihr Engagement professionalisierten. Aus einer Vielzahl von Gründen heraus kam die Antifa-Bewegung der 1990er Jahre in dieser Zeit jedoch zu ihrem Ende. Die noch existierenden bundesweiten Organisationsversuche (Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation und Bundesweites Antifa-Treffen), an denen schon lange keine Frankfurter Gruppe mehr teilnahm, hörten in den folgenden Jahren auf zu existieren und auch die Praxis eines militanten Antifaschismus wurde nach und nach weniger. In Frankfurt trat eine neue Generation linksradikaler Antifaschist*innen hervor, die langsam eine Abkehr von der ›Anti-Nazi-Politik‹ zugunsten eines ›revolutionären‹ und ›Pop‹-Antifaschismus einläuteten. So

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Abbildung 4: Demonstration ›Wir sind 100 Jahre Antifa‹ am 7. Mai 2021 in Frankfurt (Quelle: Protestfotografie. Frankfurt).

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attraktiv dieser für eine neue Generation von Aktivist*innen war, so sehr ging er mit einer zunehmenden Verengung antifaschistischer Politik einher. Zwar wurde an den Grundpfeilern eines konfrontativen Antifaschismus festgehalten, aber dieser in keiner Richtung weiterentwickelt. Nachdem sich die autonome Politik in den 1990er Jahren stark auf den Antifaschismus konzentrierte, kam es insbesondere in den 2010er Jahren zu einer Ausrichtung auf neue Politikfelder: von den Blockupy-Protesten bis hin zur Klimabewegung. In gewisser Weise lässt sich sagen, dass für viele Aktivist*innen der Antifaschismus, ähnlich den frühen 1980er Jahren, wieder beiläufiger wird. Dies schien sich kurzfristig zu ändern, als sich in Folge des rassistischen Mordanschlages in Hanau Anfang 2020 im Rhein-Main-Gebiet ›Migrantifa‹-Gruppen bildeten, die auch an den im Frühjahr desselben Jahres nach Europa schwappenden ›Black-Lives-Matter‹-Protesten beteiligt waren. Was aus diesen Organisationsversuchen werden wird und inwiefern von ihnen neue strategische Impulse für eine antifaschistische Politik in Frankfurt ausgehen werden, ist noch offen.

¿Quién pasará? – Wer kommt durch? Es bleibt abzuwarten, welchen Platz der Antifaschismus auf lange Sicht in der Frankfurter Stadtgesellschaft und in Haltung und Selbstverständnis der Einwohner*innen haben wird. Ganz wesentlich dem langjährigen Engagement linker und linksradikaler Aktivist*innen zu verdanken, findet sich bei vielen Frankfurter*innen heutzutage eine klare antifaschistische Haltung. Dass Nazis nicht unbehindert im öffentlichen Raum Frankfurts auftreten dürfen, ist für viele eine Selbstverständlichkeit. Antifaschismus muss jedoch organisiert werden, wenn er praktisch relevant werden soll. Eine ganze Generation Frankfurter Antifaschist*innen, die oftmals über Jahrzehnte eine Kontinuität und Weitergabe von Wissen und Erfahrungen möglich gemacht hat, ist schon oder geht langsam in den politischen Ruhestand. Die (post-)autonome Antifa, die, sowohl was die Recherche und Aufklärungsarbeit als auch die praktische Organisation von Gegenaktionen anging, das Rückgrat des konfrontativen Antifaschismus bildete, steckt seit Jahren deutlich in einer inhaltlichen und strategischen Krise – und dies, obwohl sich im bundesdeutschen und europäischen Maßstab der Einfluss eines organisierten politischen und sozialen Rechtsradikalismus deutlich erhöht hat. Wohin sich der Antifaschismus in Frankfurt entwickeln wird, ist somit unklar. Klar ist jedoch: ¡No pasaran!

Endnoten 1

Anlassbezogen trat er in den Vordergrund. So kam es etwa aus der Demo gegen die Räumung des Hüttendorfs im November 1981 heraus zu der nachhaltigen Zerstörung eines Nazibuchladens im Frankfurter Nordend. Auch war es für viele aus der autonomen Szene eine Selbstverständlichkeit, 1984 zu den Protesten gegen die Treffen der SS-Veteranenverbände im nordhessischen Oberaula zu fahren.

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Dass man kein Nazi sein muss, um trotzdem eine strikt rassistische Politik zu machen, stellte der damalige Frankfurter Oberbürgermeister Walter Wallmann im Kommunalwahlkampf 1985 unter Beweis. Auf den Wahlplakaten der CDU wurde darauf hingewiesen: »Das Ausländerproblem liegt in Ihrer Hand.« Als hessischer Ministerpräsident war Wallmann dann zusammen mit seinem Chef der Staatskanzlei, Alexander Gauland, für die ›Affäre Gauland‹ verantwortlich. Diese nahm ihren Ausgang darin, dass Wallmann und Gauland versuchten,

Bedeutung und Geschichte des Antifaschismus in Frankfurt

ein Mitglied der revanchistischen sudetendeutschen Landsmannschaft und des rechtsradikalen Witikobundes zum Leiter der Verbindungsstelle zwischen Landesregierungen und Kirchen zu ernennen. Einen wesentlichen Beitrag zu der Verhinderung dieses Kandidaten leistete damals Ignatz Bubis. Die Stadt Frankfurt war sich unter der Oberbürgermeisterin Petra Roth nicht zu blöde, Wallmann aufgrund seiner großartigen Verdienste für Verständigung und Toleranz im Jahr 2007 den Ignatz-Bubis Preis zu verleihen. Man sorgt für die seinen. 3

Arndt kam aus einer sozialdemokratischen Familie, sein Vater war im KZ Sachsenhausen interniert und wurde höchstwahrscheinlich von der SS ermordet. Er selbst trat 1944 der NSDAP bei, war bei Kriegsende HJ-Führer.

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Die NPD blieb aber durch zahlreiche Informationsveranstaltungen im öffentlichen Raum und Landesparteitage im städtischen Räumen weiterhin in Frankfurt präsent.

5

Interessanterweise bildete sich parallel ein Aktionskreis all jener Organisationen und Einzelpersonen heraus, die weder in dem Römerberg- noch in dem autonomen linksradikalen Bündnis engagiert waren. Diese verfolgten zunächst noch den Versuch, für eine Art ›Volksfront‹ von SPD bis zu den autonomen Antifas zu werben, ließen dies aber aufgrund der absehbaren Erfolglosigkeit nach dem 1. Mai 2001 sein und vertraten von da an ebenfalls einen konfrontativen Antifaschismus. Später entwickelte sich daraus die ›Anti-Nazi-Koordination‹, die ein paar Jahre lang existierte und aktiv war. Obwohl sie nicht dem autonomen Antifaschismus zuzurechnen war und ihre Aktivitäten weitgehend auf die Verhinderung von Aufmärschen und öffentlichen Nazi-Kundgebungen konzentrierte (das heißt einen wesentlich ›schmaleren‹ Antifaschismus propagierte), verfolgte sie aber auch überwiegend eine Strategie des konfrontativen Antifaschismus.

6

Das Wissen um die Mischung aus massiver Inkompetenz und politischem Unwillen bis hin zur offenen Unterstützung und Sympathie, die in den bundesdeutschen Exekutivbehörden existiert, hat durch den NSU-Komplex, den selbsterklärten ›NSU 2.0‹ und weitere Fälle eine neuerliche Bestätigung erfahren.

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Einen ersten Ansatz einer solchen Strategie stellt die wesentlich unter Beteiligung von Frankfurter Antifaschist*innen entwickelte bundesweite Kampagne ›Nationalismus ist keine Alternative‹ (www.nationalismusistkeinealternative.net) dar.

8

Dass dieses Verhältnis im Bereich des Antifaschismus auch nicht besser werden sollte, zeigte sich bei der Kommunalwahl am 12.3.1989. Die NPD erhielt bei der Kommunalwahl 6,6 % der Wähler*innenstimmen und konnte mit sieben Abgeordneten in den Römer einziehen. Nachdem das Wahlergebnis bekannt wurde, versammelten sich immer mehr Menschen auf dem Römer und schließlich demonstrierten 5.000 Antifaschist*innen durch die Stadt in Richtung der NPD-Parteizentrale. Dort stellten sich Grüne und andere schützend vor die Räume der NPD.

9

Lichterketten hatten, polemisch formuliert, den Spirit von ›gegen Nazis und Überfremdung‹.

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Autor*innenverzeichnis

Tjark Albrecht hat Humangeographie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main studiert und arbeitet im Bereich Stadtentwicklung in Hessen. Mit dem AK Kritische Geographie leitet er Stadtrundgänge zu Gentrifizierung im Gallus. P.M. Banane hat sich Anfang der 1990er Jahre im Kontext von Sozialabbau und den rassistischen Pogromen in Norddeutschland politisiert und ist seitdem Teil der (post-)autonomen Bewegung. Seine 2001 an der Universidad de La Habana erfolgte Promotion »Von der Paradiesfeige zur Normbanane: Musa acuminata als herrschaftsbiologisches Instrument« wurde am Weltbananentag 2003 mit dem Ehrenpreis der Asociación de Amantes del Plátano Anticolonial ausgezeichnet. Bernd Belina ist Professor für Humangeographie am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Schwerpunkte sind Politische Geographie, geographische Stadtforschung und Kritische Kriminologie. Johanna Betz ist Humangeographin und befasst sich mit Themen der Kritischen Stadtforschung, (öffentlicher) Infrastruktur und der Wohnungsfrage. Sie ist Teil der Initiative ›Eine Stadt für alle!‹ und arbeitet am Institut für Politikwissenschaften der Universität Tübingen. Julia Bieber arbeitet als freie Kuratorin und Filmemacherin in Frankfurt am Main. Neben ihrer Arbeit im Lesbenarchiv kollaboriert sie unter anderem mit dem feministischen Filmkollektiv ›orlando‹ und der Wikipedia-Initiative ›who.writes.his_tory?‹ und erprobt mit dieser kollektive und queere Formen von Geschichtsschreibung. Martina Blank arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main zur Aufnahme von Geflüchteten in Frankfurt am Main und engagiert sich auch ehrenamtlich in diesem Bereich. Jana Bleckmann studiert Humangeographie mit Fokus auf feministische Perspektiven und Stadt im Master in Frankfurt am Main und Kunst in Offenbach. Sie beschäftigt sich mit kollektiven Prozessen, die Kunst, Aktivismus und Interventionen im Raum verbinden.

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Frankfurt am Main - Eine Stadt für a lle?

Benjamin Böhm, Politologe und Sozialarbeiter, arbeitet in einer Beratungsstelle für wohnungslose Männer und ist als Straßensozialarbeiter tätig. Als Wissenschaftler, Berufspraktiker und Publizist ist er daran interessiert, Kritische Soziale Arbeit weiterzuentwickeln. Café 2Grad – Für ein ganz anderes Klima! Das Café 2Grad Frankfurt entstand 2010 in der Anfangszeit der Klimabewegung und sollte einen Ort für die Diskussion über Ursachen, Zusammenhänge und Folgen des globalen Klimawandels schaffen. Ziel war und ist es, eigene Positionen zu reflektieren und ökologische und soziale Kämpfe miteinander zu verknüpfen. In letzter Zeit liegt der Fokus auf der Analyse und Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang gesellschaftlicher Stadt- und gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Copwatch Frankfurt ist eine politische Gruppe, die sich 2013 zusammengeschlossen hat, um der Normalität von Racial Profiling die konkrete Unterstützung für Betroffene, solidarische Aktivierung von Passant*innen und politische Öffentlichkeitsarbeit entgegenzusetzen. Viele von uns engagieren sich seit Jahren in antirassistisch-feministischen Kontexten und wir sind eine heterogene Gruppe. Einige von uns müssen als Schwarze Personen und People of Color Rassismus erfahren (und kämpfen schon immer dagegen), andere nicht. Manche von uns haben eine Migrations- oder Fluchtgeschichte. Wir verstehen uns als Teil von kleinen und großen Widerständen gegen Racial Profiling und institutionellen Rassismus – aus intersektionaler, antikapitalistischer und dekolonialer Perspektive. Hilke Droege-Kempf ist seit 1982 Mitarbeiterin im Verein ›Frauen helfen Frauen‹ und als Sozialarbeiterin im Frauenbereich und in der Öffentlichkeitsarbeit des Frauenhauses engagiert. Jürgen Ehlers ist Architekt, war schon während des Studiums Mitte der 1970er Jahre in Mieter*innenbewegungen in Hannover aktiv und ist Mitglied der Linken. Rolf Engelke, Historiker, seit 1968/69 in linken Organisationen in Mainz, Heidelberg und Wiesbaden aktiv, aktuell Mitarbeit in der Initiative ›Eine Stadt für alle!‹ in Frankfurt am Main. Sein Beitrag wurde im Kontext des ›Frankfurter Archivs der Revolte‹ (www.archiv-der-revolte.de) für ein Ausstellungsprojekt zur Geschichte der Frankfurter Häuserkämpfe 1970-1974/75 verfasst und diskutiert. Faites votre jeu! ist ein offener Zusammenschluss von Einzelpersonen und Gruppen im Frankfurter autonomen Zentrum ›Klapperfeld‹. Franca Feil arbeitet für die Landesvereinigung Kulturelle Bildung Hessen e.V., forscht und schreibt zu queerer Repräsentation in Bilderbüchern und Comics und ist Teil von queer(feministisch)en Strukturen in Frankfurt am Main, unter anderem dem FLINT*-Barabend ›fransenbar‹, dem Vernetzungsstammtisch ›queerfeministisch bier*trinken‹ und unterschiedlichen Gruppen im LSKH.

Autor*innenverzeichnis

Doris Feld gehört zur zweiten Generation von Mitarbeiterinnen im Verein ›Frauen helfen Frauen‹ und arbeitet seit 2010 hauptsächlich als Sozialarbeiterin im Frauenbereich. Lisa Hahn hat an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Humangeographie studiert und ist bei ›Eine Stadt für alle!‹ und beim ›Mietentscheid Frankfurt‹ aktiv. Sie hat bis 2021 bei der Fraktion ›Die Linke im Römer‹ in den Bereichen Wohnungspolitik und Stadtplanung gearbeitet. Gabi Hanka, Sozialarbeiterin, seit 1983 in linken Gruppen in Frankfurt am Main aktiv. Seit 2018 engagiert sie sich in der Initiative Seebrücke Frankfurt für die Aufnahme und menschenwürdige Unterbringung von Geflüchteten. Soliana Hannes kam 2015 aus Eritrea nach Deutschland und lebt seit 2016 mit ihrer älteren Tochter als subsidiär Schutzberechtigte in Frankfurt am Main. Sie kämpft für den Nachzug ihrer jüngeren Tochter und arbeitet an ihrer Weiterbildung und beruflichen Integration in Deutschland. Susanne Heeg ist Professorin für geographische Stadtforschung am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Vorstandsmitglied bei ›Mieter helfen Mietern Frankfurt e.V.‹ und aktiv bei der Plattform ›kritischer Immobilienaktionär*innen‹. Ihre Forschungsinteressen umfassen die Finanzialisierung der gebauten Umwelt, Globalisierung von Immobilieninvestments und die Neoliberalisierung des Städtischen. Luca Hemmerich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der TU Darmstadt und Mitinitiator des Frankfurter Mietentscheids. Anna Lisa Jakobi studiert und arbeitet am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Themenschwerpunkte liegen in feministischen Ansätzen politischer Ökonomie und dem digitalen Raum als Agitationsfeld der neuen und extremen Rechten. Frieder Kahlo ist seit Anfang der 1980er Jahre Teil der autonomen Bewegung. Nachdem er zuerst im Widerstand gegen Atomkraft und die Startbahn West aktiv war, hat sich im Zuge der Wiedervereinigung sein politischer Schwerpunkt zu Antifaschismus und erinnerungspolitischen Themen verschoben. Er lebt als freischaffender Künstler in Kronberg und forscht derzeit zur Möglichkeit eines antiskulpturalen Ansatzes in der Bildhauerei. Sonja Keil ist Sozialpraktikerin, Lehrbeauftragte und Coach. Mit ihrer sozialwissenschaftlichen Milieuanalyse zur Personengruppe der ›ambulanten Gewerbetreibenden‹ promovierte sie an der TU Darmstadt in Soziologie und Neuerer Geschichte. Svenja Keitzel promoviert zu alltäglichen Polizeipraxen und Racial Profiling in Frankfurt am Main an der Goethe-Universität. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Stadt- und Raumforschung, Kritische Kriminologie sowie feministische und postkoloniale Analysen der Polizei.

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Luise Klaus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Drug Research an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie beschäftigt sich mit feministischer Geographie, Kritischer Kriminologie, Polizeiund Drogenforschung. Elisa Kornherr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie interessiert sich in ihrer Forschung für Geographien von Mensch-Tier-Verhältnissen in Verbindung mit phänomenologischer Raumforschung. Jan Kordes arbeitet am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er befasst sich vorrangig mit Fragen von Arbeit, Migration und Geschlecht aus der Perspektive feministischer politischer Ökonomie und Kritischer Migrationsforschung. Jenny Künkel arbeitet als Postdoc am Centre National de la Recherche Scientifique in Bordeaux und befasst sich wissenschaftlich und aktivistisch unter anderem mit Drogen, Polizieren, sich wandelnden Herrschaftsverhältnissen in Zeiten der Neoliberalisierung und Stadtpolitik. Falk Künstler hat am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main seinen Masterabschluss gemacht, wo er derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der geographischen Stadtforschung – mit Fokus auf Wohnraumfragen – tätig ist. Tabea Latocha hat Humangeographie und Stadtplanung in Frankfurt am Main, Weimar und London studiert und promoviert seit Oktober 2020 am Centre for Urban Research on Austerity (CURA), Leicester, UK zu feministischen Perspektiven auf die Finanzialisierung von Wohnen und sozialer Reproduktion in der Stadt. Peter Lindner ist Professor für Wirtschaftsgeographie am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Globalisierungs-, Ökonomisierungs- und Transformationsforschung. Er ist Mitautor des ersten Kreativwirtschaftsberichts sowie einer Industriestudie für die Stadt Frankfurt. Jennifer Martens ist studentische Mitarbeiterin am Centre for Drug Research an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Neben ihrer Arbeit in der Drogenforschung beschäftigt sie sich in ihrem Bachelorstudium der Soziologie an der Goethe-Universität mit Ressourcenökonomien und Biopolitik. ğ Yagmur Mengilli, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Fachbereich Erziehungswissenschaft, Institut für Erwachsenenbildung und Sozialpädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Themenschwerpunkte sind Jugendforschung, Offene Kinder- und Jugendarbeit, Partizipationsforschung im europäischen Kontext und die Rekonstruktion jugendkultureller Praxen. Carolin Mezes arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der Philipps-Universität Marburg, lebt in Frankfurt am

Autor*innenverzeichnis

Main und bringt sich in queerfeministischen Kulturprojekten wie zum Beispiel dem Filmfestival Spectrale oder dem Lesbenarchiv ein. Daniel Mullis ist Humangeograph und arbeitet bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Er forscht zu politischer Philosophie, Sozialprotesten sowie Krisendynamiken, aktuell insbesondere zum Neuen Autoritarismus. Andrea Mösgen ist Akademische Rätin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und leitet am Institut für Humangeographie die Arbeitsgruppe Geoinformation. Ihre Schwerpunkte sind urbane Ungleichheiten und Wohnen, speziell Gentrifizierung, sowie die GIS-gestützte Sozial­ raumanalyse. Lidia Monza ist Quartiersmanagerin im Frankfurter Programm ›Aktive Nachbarschaft‹, selbständige Altstadtführerin und Lehrbeauftragte am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Sie promovierte am Institut für Humangeographie in Frankfurt am Main als Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung. Zuvor studierte sie ebenfalls in Frankfurt am Main und Mailand. Forschungsinteressen: Privatisierungsprozesse in urbanen Räumen, Stadtpolitik, Stadt- und Regionalentwicklung, Kulturgeographie. Katharina Müller ist Geographin und als freie Mitarbeiterin in der Stadtplanung in Frankfurt am Main tätig. Sie beschäftigt sich politisch und akademisch mit urbanen Prozessen und Queerfeminismus. Stefan Ouma ist Professor für Wirtschaftsgeographie an der Universität Bayreuth. Sein generelles Forschungsinteresse liegt im Bereich einer kultur- und gesellschaftstheoretisch informierten Wirtschaftsgeographie. Momentan beschäftigt er sich mit den Themen globale Warenketten und Kritische Geographien der Logistik, industrielle Arbeit im digitalen Zeitalter und landwirtschaftliche Transformationen im Kontext von Finanzialisierung und Digitalisierung. Er war an der Erarbeitung der Industriestudie Frankfurt (2013) beteiligt. Conny Petzold ist Politikwissenschaftlerin und war bis 2019 Mieterin im Brentano-Hochhaus. Sie engagiert sich für eine soziale Wohnungspolitik im Rahmen des Frankfurter Bündnisses ›Eine Stadt für alle!‹, des Bürger*innenbegehrens ›Mietentscheid Frankfurt‹ und arbeitet bei ›Mieter helfen Mietern Frankfurt e.V.‹. Project Shelter ist eine seit 2014 bestehende Initiative in Frankfurt am Main, in der Menschen mit und ohne Migrations- und Fluchterfahrung gemeinsam gegen Obdachlosigkeit und Rassismus arbeiten. Das Projekt organisiert Schlafplätze, finanzielle und soziale Unterstützung sowie Öffentlichkeitsarbeit für neu ankommende Migrant*innen, die von staatlichen Strukturen ausgeschlossen sind. Die Gruppe versteht ihre Soli-Arbeit als politisch, da sie langfristig die strukturellen Bedingungen verändern will, die Menschen in solche Lagen bringen. Project Shelter setzt sich außerdem für ein selbstverwaltetes Zentrum ein, in dem Menschen sicher und in Ruhe ankommen und ihr Leben organisieren können.

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Frankfurt am Main - Eine Stadt für a lle?

Robert Pütz ist Professor für Humangeographie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt Stadt- und Migrationsforschung. Aktuelle Forschungsinteressen liegen im Bereich Geographien von Mensch-Tier-Verhältnissen und Globalisierung in der Weinwirtschaft. Klaus Ronneberger, Dr., Studium der Kulturanthropologie und europäischen Ethnologie, der Soziologie und Politikwissenschaften in Frankfurt am Main. In den letzten Jahren Lehrtätigkeiten an den Universitäten Frankfurt am Main und Kassel. Lebt und arbeitet heute als freier Publizist in Frankfurt. Arbeitsschwerpunkt: Henri Lefebvre und Kritische Stadtforschung. Stella Schäfer, M.A. Humangeographie, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der FRA UAS zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Hessen. Außerdem beschäftigt sie sich mit intersektionalen Methoden, Gewalt im Geschlechterverhältnis und feministischen Geographien. Jürgen Schardt ist Gesellschaftswissenschaftler und Humangeograph. Arbeitsschwerpunkte: Geographien sozialer Ungleichheit, materialistische Architekturkritik. Sebastian Schipper ist Professor für geographische Stadtforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Stadtpolitik, politische Ökonomie des Wohnens, Gentrifizierung und städtische soziale Bewegungen. ›Er ist beim Miet­ entscheid Frankfurt‹ aktiv und Teil der Initiative ›Eine Stadt für alle!‹. Ka thrin Schleich ist Informatiker_in in progress und stürzt sich regelmäßig in Projekte, die eines, mehrere oder alle der folgenden Schlagworte enthalten: Bleistift | Tusche | Lötkolben | Fahrrad | Comics | Schraubendreher | Pinsel | Queer. Sara Schmitt Pacífico ist Stadtgeographin und arbeitet im Bereich gemeinschaftliches Wohnen in Frankfurt am Main. Sie beschäftigt sich mit realpolitischen Möglichkeiten einer solidarischen Quartiersentwicklung und der Frage, welchen Beitrag Wohnprojekte zu einer ›Stadt für alle!‹ leisten können. Tim Schuster ist freier Performancekünstler und Dramaturg. Er hat 2009 die Initiative für ein Offenes Haus der Kulturen mitbegründet und arbeitet seit 2017 für den gleichnamigen Verein an der Weiterentwicklung des Studierendenhauses zu einem selbstorganisierten soziokulturellen Zentrum. Stefanie Schwerdtfeger ist humangeographische Mobilitätsforscherin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie promovierte zum Fahren ohne (gültigen) Fahrschein und forscht unter anderem zu sozialen Aspekten in der urbanen Alltagsmobilität. Billy Setzer, geboren am 04.06.1983 in Frankfurt am Main, studierte Utopie-Management ohne Abschluss, gilt als Expert*in im Thema Wohn- und Besetzungsfragen und führte für diesen Sammelband ein Interview mit wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen der AU. Die AU

Autor*innenverzeichnis

ist ein seit 1983 besetztes linkes Wohn- und Kulturprojekt in Frankfurt Rödelheim. Anna Steenblock ist Mieterin im Brentano-Hochhaus und seit einigen Jahren aktiv gegen steigende Mieten und unsoziale Entmietungspraktiken in Frankfurt Rödelheim. Darüber hinaus promoviert sie zu sozialen Kämpfen im Kontext sozialer Reproduktion an der Universität Kassel. Christian Stein ist Geograph und Städtestatistiker. Er forschte und lehrte zu Themen wirtschaftlicher und sozialer Stadtentwicklung sowie empirischer Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seit 2016 leitet er unter anderem die Bereiche Arbeitsmarkt- und Sozialstatistik bei der Stadt Frankfurt am Main. Bernd Werse, Dr. phil., ist Soziologe und leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre for Drug Research an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Themenschwerpunkte sind unter anderem Drogentrends und neue Drogen, Drogenpolitik, ›harte‹ Drogenszenen und Drogenkleinhandel. Felix Wiegand ist Sozialwissenschaftler, Stadtforscher und politischer Aktivist. Er arbeitet als Referent für Kommunal- und Wohnungspolitik für die Fraktion DIE LINKE. im Hessischen Landtag und ist Teil der Initiative ›Eine Stadt für alle!‹. Karin Zennig ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet seit zehn Jahren als Gewerkschaftssekretärin bei ver.di. Sie engagiert sich in der gewerkschaftspolitischen Zeitung express und ist in verschiedenen sozialpolitischen Initiativen aktiv.

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