Untersuchungen zur Lebensweise und Kultur der werktätigen Dorfbevölkerung in der Magdeburger Börde: Teil 2 Bauer und Landarbeiter im Kapitalismus in der Magdeburger Börde [Reprint 2021 ed.] 9783112544341, 9783112544334


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German Pages 480 [479] Year 1983

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Untersuchungen zur Lebensweise und Kultur der werktätigen Dorfbevölkerung in der Magdeburger Börde: Teil 2 Bauer und Landarbeiter im Kapitalismus in der Magdeburger Börde [Reprint 2021 ed.]
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Bauer und Landarbeiter im Kapitalismus

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER ZENTRALINSTITUT FÜR

DDR

GESCHICHTE

Veröffentlichungen zur Volkskunde u n d Kulturgeschichte B A N D 66/3

Untersuchungen zur Lebensweise und Kultur der werktätigen Dorfbevölkerung in der Magdeburger Börde Teil II

BAUER UND LANDARBEITER IM KAPITALISMUS IN DER MAGDEBURGER BÖRDE Zur Geschichte des dörflichen Alltags vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts

Herausgegeben v o n HANS-JÜRGEN RÄCH und BERNHARD WEISSEL

Mit 55 Abbildungen, 11 Tabellen und 6 Karten

AKADEMIE-VERLAG . BERLIN 1982

Redaktion:

M A R G I T PERSDOTTER

und

H A N S - J Ü R G E N RÄCH

Erschienen im Akademie-Verlag, DDR-1086 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1982 Lizenznummer: 202 • 100/146/82 Einband und Schutzumschlag: Annemarie Wagner Gesamtherstellung: VEB Druckhaus „Maxim Gorki", 7400 Altenburg Bestellnummer: 753 465 9 (2034/66/3) • LSV 0705 • P 208/78 Printed in GDR DDR 3 8 , - M

INHALT Vorbemerkung

IX

WOLFGANG JACOBEIT/HEINZ N O W A K : Zur Lebensweise und Kultur der werktätigen Dorfbevölkerung in der Zeit der Herausbildung des Kapitalismus in der Landwirtschaft vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die dreißiger/vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts

Sozialökonomische Bedingungen Produktionssphäre Klassen und Schichten Bauern Dorfhandmrker Landarmut und Landproletariat Lebensweise und Kultur Bauen und Wohnen Kleidung und Tracht Nahrung und Ernährungsweise Bildung und Schule Sitten und Bräuche Schlußbemerkungen

.

1 1 6 14 14 16 17 20 20 25 30 31 36 41

: Zur Lebensweise und Kultur der Bauern unter den Bedingungen des Kapitalismus der freien Konkurrenz (etwa 1830—1900)

43

Bäuerliche Arbeit und Wirtschaft Bäuerliches Wohnen Bäuerliche Kleidung und Nahrung Bäuerliche Feste und Feiern

46 53 60 68

HAINER PLAUL : Grundzüge der Entwicklung von Lebensweise und Kultur der einheimischen Landarbeiterschaft in den Dörfern der Magdeburger Börde unter den Bedingungen der Herausbildung und Konsolidierung des Kapitalismus der freien Konkurrenz in der Landwirtschaft

79

Die Landarbeiter unter den Bedingungen der Herausbildung des Kapitalismus der freien Konkurrenz

79

H A N S - J Ü R G E N RÄCH

Inhaltsverzeichnis

Zur Herausbildung und Struktur der Landarbeiterschaft im Untersuchungsgebiet 79 Zum Wandel in den sozialen Beziehungen und über die Arbeits- und Lebensbedingungen 87 Zur Herausbildung neuer geistig-kultureller Bedürfnisse und Zß den Möglichkeiten ihrer Befriedigung 91 Die Landarbeiter unter den Bedingungen der Konsolidierung des Kapitalismus der freien Konkurrenz 94 Zur Entwicklung der agraren Produktivkräfte und %um Wandel der Arbeitsund Lebensbedingungen 94 Zum Wandel in den Wohn-, Ernährungs- und Bekleidungsverhältnissen . . . .101 Von den Bemühungen der Landarbeiter um die unmittelbare Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen 107

CHRISTEL HEINRICH : Lebensweise und Kultur der in- und ausländischen landwirtschaftlichen Saisonarbeiter von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1918 . 117

Sozialökonomische Ursachen der landwirtschaftlichen Saisonarbeit . . . 117 Die Wanderbewegung landwirtschaftlicher Arbeitskräfte 122 Demographische Struktur der Saisonarbeiter 129 Zur Lebensweise der Saisonarbeiter 131 131 Die Saisonarbeiter im landwirtschaftlichen Produktionsprozeß Wohnverhältnisse, Nahrungs- und Konsumgewohnheiten, Kleidung und Freiheit . 144 Gemeinschaftsbeziehungen der Saisonarbeiter 149 Reflexe der periodischen Wanderungen in den Herkunftsgebieten der Saisonarbeiter 154 Die Saisonarbeiter im ersten Weltkrieg 159 GERHARD B I R K : Zur Entwicklung des regionalen Vereinswesens, unter besonderer Berücksichtigung des Kreises Wanzleben 163

Die frühen Vereine in und um Magdeburg Zur Entwicklung des Vereinswesens bis 1850 Die Entwicklung des Vereinswesens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts . Die Entwicklung des Vereinswesens auf dem Lande — dargestellt am Beispiel typischer Bördedörfer Das sozialdemokratische Vereinswesen im Kreis Wanzleben — Vereine im Klassenkampf Vereinswesen und Landarbeiterschaft Kirche und Vereinswesen Vereine der Polen Die Lichtfreunde-Vereine (Freie Gemeinden) Zur Wirksamkeit der Arbeiter-Gesangvereine im Kreis Wanzleben. . . Zur Sozialstruktur der Vereine im Kreis Wanzleben . . . , Schlußbemerkungen

166 166 171 177 181 190 193 199 200 203 206 211

Inhaltsverzeichnis

VII

HELMUT SCHÖNFELD : Die Veränderungen in der Sprache und im sprachlichen Verhalten der werktätigen Klassen und Schichten der Magdeburger Börde und der Stadt Magdeburg unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen bis 1917/18 215

Die Entwicklung der sprachlichen Verhältnisse in der Magdeburger Börde und in Magdeburg vor 1800 Das Vordringen der mitteldeutschen Mundarten und der Umgangssprache bis an den Südostrand der Magdeburger Börde Das Vordringen der hochdeutschen Literatursprache und der Umgangssprache in Magdeburg und in der Magdeburger Börde Die sprachlichen Verhältnisse in Magdeburg und in der Magdeburger Börde um 1800 Die sprachlichen Verhältnisse in Magdeburg Die sprachlichen Verhältnisse in der Magdeburger Börde Geltung und Funktion der Umgangssprache und der Mundart Die niederdeutschen Mundarten der Magdeburger Börde — %ur regionalen Gliederung und Struktur Literatursprache und Umgangssprache in der Magdeburger Börde Zu Unterschieden in den sprachlichen Erwartungen und Verhaltensweisen bei den sozialen Klassen Die sprachlichen Verhältnisse in Magdeburg und in der Magdeburger Börde von 1820 bis 1917 Die sprachlichen Verhältnisse in Magdeburg Geltung und Funktion der Umgangssprache und der niederdeutschen Mundart Zur Struktur und %ur Verwendung der Umgangssprache Die sprachlichen Verhältnisse in der Magdeburger Börde Geltung und Funktion der Umgangssprache und der niederdeutschen Mundart. . Zur Struktur und Verwendung von Literatursprache und Umgangssprache . . Die niederdeutschen Mundarten der Magdeburger Börde — %ur regionalen Gliederung und \um Wandel im Wortschatz der Bördemundarten Zur Pflege und Erforschung der Bördemundarten vor 1917 Zum Wandel bei den Rufnamen Schlußbemerkungen

215 217 219 223 223 225 225 232 237 237 239 239 239 240 242 242 249 252 261 261 262

GERHARD BIRK : Das regionale Kriegervereinswesen bis zum ersten Weltkrieg, unter besonderer Berücksichtigung des Kreises Wanzleben. . . . 265

Zur Entwicklung der Kriegervereinsbewegung im Kreis Wanzleben (in der Zeit von 1871 bis zum ersten Weltkrieg) Zum Inhalt und zur Rolle der Krieger- und Landwehrfeste Zur Bedeutung und Wirkung der kultischen Verehrung von Attributen des Militarismus durch die Militärvereine Zur sozialen Zusammensetzung der Militärvereine im Kreis Wanzleben Einige Bemerkungen zur Kriegervereinsgesetzgebung und zu den Kriegervereinsstatuten

266 277 284 287 289

VIII

Inhaltsverzeichnis Exkurs zum Schützenvereinswesen im Kreis Wanzleben Weitere im Dienste des deutschen Militarismus stehende Vereine . . . . Schlußbemerkungen

290 294 296

Die politische Entwicklung in Magdeburg vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg, unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte der Magdeburger Arbeiterbewegung 299 HELMUT A S M U S :

Magdeburg unter französischer Fremdherrschaft Magdeburg im Vormärz Die Revolution von 1848/49 und ihre Folgen Das Entstehen der sozialistischen Arbeiterbewegung Von der Gründung der ersten Arbeiterpartei (1869) bis zu ihrem Verbot (1878) Magdeburger Arbeiterbewegung unter dem Sozialistengesetz Magdeburg im kaiserlichen Vorkriegsdeutschland (1890—1914) . . . Der Kampf der Arbeiter während des ersten Weltkrieges

299 301 304 308 311 314 316 322

ANHANG Anlagen (Quellen, Dokumente) Worterläuterungen Tabellenverzeichnis Anlagenverzeichnis Abbildungsverzeichnis Quellen- und Literaturverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Ortsregister

327 403 408 409 411 414 433 434

Vorbemerkung Mit dem vorliegenden Band setzen wir die Veröffentlichung der von einem kleinen Volkskundler-Kollektiv initiierten und in Zusammenarbeit mit Kollegen verschiedener Nachbardisziplinen durchgeführten Untersuchungen zur Lebensweise und Kultur der werktätigen Dorfbevölkerung in der Magdeburger Börde fort. Nach den bereits erschienenen Studien über die physisch-geographischen Verhältnisse, die Verwaltungsstruktur und die Entwicklung der sozialökonomischen Verhältnisse vom Ende des 18. Jh. bis zum ersten Weltkrieg folgen nun die Analysen des dörflichen Alltagslebens im Untersuchungsraum. Neben Studien der Mitarbeiter des WB Kulturgeschichte/Volkskunde über die Bauern (RÄCH), die einheimischen Landarbeiter (PLAUL), die Saisonarbeiter (HEINRICH) und das

Vereinswesen (BIRK) konnten erfreulicherweise auch wieder Beiträge von Kooperationspartnern aufgenommen werden. So steuerten der Direktor des Museums für Volkskunde, Prof. Dr. W. JACOBEIT (Berlin), und der Direktor des Agrarmuseums der Magdeburger Börde, Dipl.-Ethn. H. NOWAK (Ummendorf), eine Studie über die Lebensweise der Bauern und der spätfeudalen Landarmut, der Mitarbeiter des Zentralinstituts für Sprachwissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR, Dr. H. SCHÖNFELD (Berlin), eine Analyse der Sprachentwicklung vom ausgehenden 18. Jh. bis 1917/18 und der Direktor der Sektion Geschichte der Pädagogischen Hochschule „Erich Weinert", Prof. Dr. H. A S M U S (Magdeburg), einen Überblick über die politische Entwicklung in Magdeburg bei, wofür ihnen auch an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich gedankt werden soll. Dank sagen müssen wir außerdem allen ehrenamtlichen Exploratoren und Gewährsleuten, deren aufbereitetes Material — obwohl z. B. der Fragebogen sich lediglich auf das 20. Jh.bezog — bereits für den bisher behandelten Zeitraum von Bedeutung war, was sowohl den einzelnen Texten als auch dem recht umfangreichen Anhangteil mit den Quellen und Dokumenten zugute kam. Eine sich in Laufe der Arbeit als notwendig erwiesene und darum bereits für diesen Band vorgesehene Studie über das Leben der im Dorfe ansässigen und in der städtischen Industrie tätigen Arbeiter, der sog. Pendler, bereitete unerwartete Schwierigkeiten, so daß auf eine Veröffentlichung verzichtet werden mußte. Wir werden uns bemühen, die diesbezüglichen Untersuchungen für den folgenden zu bearbeitenden Zeitraum, 1917/18 bis 1961, weiterzuführen. Wir sind uns bewußt, daß auch andere soziale Gruppen und schon gar nicht alle Sachbereiche in ausreichender Form analysiert wurden. Wir hoffen aber dennoch, mit unserem Band einen Beitrag zur Erweiterung unseres möglichst komplexen Geschichtsbildes leisten zu können. Zur Erleichterung der Lesbarkeit der folgenden Beiträge sei abschließend auf einige Besonderheiten der Manuskriptgestaltung hingewiesen: 1. Die in den Fußnoten enthaltenen Zitatennachweise beschränken sich auf eine Kurzform, die in der Regel lediglich den Autor, das Erscheinungsjahr und nach einem Doppel-

X

Vorbemerkung

punkt die zitierte Seitenzahl (in arabischer Ziffer) ausweist, mit deren Hilfe man jedoch im Quellen- und Literaturverzeichnis des Anhangs die ausführlichen bibliographischen Angaben ermitteln kann. Beispiel: BIELEFELDT, 1910: 28 = BIELEFELDT, K A R L , Das Eindringen des Kapitalismus in die Landwirtschaft unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Sachsen und der angrenzenden Gebiete. Berlip, 1910. 2. Einige, vor allem die zeitgenössischen und regional-spezifischen, aber auch verschiedene allgemeine Fachbegriffe werden im Anhang (S. 403) erläutert. 3. Die verwendeten Ortsnamen sind in unseren Texten — nicht jedoch in den zeitgenössischen Zitaten — der heutigen Schreibweise angepaßt und im Ortsregister (S. 434) zusammengestellt. 4. Die laut Duden nicht üblichen, aber von uns benutzten Abkürzungen werden im Anhang (S. 433) erläutert. Berlin, April 1978

Die Herausgeber

WOLFGANG JACOBEIT/HEINZ N O W A K

Zur Lebensweise und Kultur der werktätigen Dorfbevölkerung in der Zeit der Herausbildung des Kapitalismus in der Landwirtschaft vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die dreißiger/vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts Die Entwicklung der Magdeburger Börde zu einem der Agrargebiete Deutschlands, in denen sich die Herausbildung des Kapitalismus mit am schnellsten und konsequentesten vollzogen hat, und dies in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, ist nicht isoliert vor sich gegangen. Sie ist vielmehr und prinzipiell dem Gesamtprozeß der gesetzmäßigen Ablösung des Feudalismus durch den Kapitalismus zuzuordnen, der in dem hier zu behandelnden Zeitraum insofern seine besondere Bedeutung besitzt, als die vorwärts drängenden und auf kapitalistische Verhältnisse hinstrebenden Produktivkräfte ein solches Ausmaß — wenn auch territorial differenziert — erreicht hatten, daß sie die feudal bestimmten Produktionsverhältnisse mehr und mehr unterhöhlten und aufzulösen begannen. Die sich hierbei herausbildenden Erscheinungsformen sind mannigfaltig und werden grundsätzlich vom Charakter des unmittelbaren Übergangs zwischen den beiden großen Formationen der antagonistischen Klassengesellschaft geprägt. Sozialökonomische Bedingungen In diesem Gesamtprozeß nimmt die Magdeburger Börde insofern eine besondere Stellung ein, als sich hier — begünstigt durch natürliche Faktoren, durch die unmittelbare Nähe der Handelsmetropole Magdeburg als Hauptabsatzmarkt und Umschlagplatz für entsprechende Agrarprodukte, durch das Fehlen der Leibeigenschaft und der gutsherrlichen Abhängigkeit, wie sie in krasser Weise im ostelbischen Bereich noch lange bestanden hatten — die Produktivkräfte schneller und ungehemmter entwickeln konnten als in anderen Agrarlandschaften Deutschlands. Freilich blieb auch hier bis zur definitiven Durchführung der Agrarreformen die „Verpflichtung zu Abgaben und Diensten gegenüber den Grundeigentümern und Gerichtsherren (Landesfürsten, adlige und nichtadlige Rittergutsbesitzer, Städte, Kirchen, Stifte usw.)" weiter erhalten, und auch nichtbäuerliche Bevölkerungskreise waren hiervon teilweise mitbetroffen. Lediglich die Besitzer von Freigütern waren weder dienst- noch abgabepflichtig.1 Doch bot andererseits die gerade in der Magdeburger Börde gegebene Voraussetzung einer „kontinuierlichen Marktproduktion der Bauernwirtschaften als Quelle zur Ansammlung von Geldfonds"2 in zunehmendem Maße die Möglichkeit, die Arbeitsrente durch die Geldrente abzulösen und damit einen relativ hohen Grad der wirtschaftlichen Unabhängigkeit gegenüber den herrschenden Feudalgewalten zu erlangen. Gleichzeitig erlaubte diese Umwandlung von Arbeitsrente in Geldrente, mehr Arbeitskraft im eigenen bäuerlichen Betrieb einzusetzen — „ein zusätzlicher 1 2

PLAUL, 1 9 7 8 : 1 7 5 . HARNISCH. 1 9 7 8 : 1 2 3 .

2

Jacobeit/Nowak

Anreiz, wenn nicht sogar Zwang..., eine hohe Marktquote zu erzielen".8 Vermehrte Einnahmen bedeuteten aber auch, die Möglichkeiten zusätzlichen Landkaufs besser auszuschöpfen, was wiederum zu „Grundbesitzverschiebungen innerhalb der Klasse der Bauern" führte. 4 Wenn man berücksichtigt, daß ganze Bauerngemeinden, aber auch einzelne große Bauern oder Kossäten, die sich zusammenschlössen, Adelsgüter aufkauften bzw. in Form der Erbpacht5 übernahmen, den eigenen Zehnten verpachteten etc., so heißt dies, daß Bauern unter den spezifischen Bedingungen der Magdeburger Börde durchaus und im größeren Umfang in der Lage waren, das feudale Produktionsverhältnis, dem sie unterworfen waren, stückweise auszukaufen. Mit all diesen und ähnlichen sich in der Magdeburger Börde seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. immer rascher entwickelnden besitzmäßigen Umschichtungen ist nun auch das verbunden, was KARL MARX so formuliert hatte: „Die Verwandlung der Naturairente in Geldrente wird ferner nicht nur notwendig begleitet, sondern selbst antizipiert durch die Bildung einer Klasse besitzloser und für Geld sich verdingender Tagelöhner. Während ihrer Entstehungsperiode . . . hat sich daher notwendig bei den bessergestellten rentepflichtigen Bauern die Gewohnheit entwickelt, auf eigne Rechnung ländliche Lohnarbeiter zu exploitieren . . . So entwickelt sich nach und nach bei ihnen die Möglichkeit, ein gewisses Vermögen anzusammeln und sich selbst in zukünftige Kapitalisten zu verwandeln." 6 Was hiermit ausgedrückt wird, ist die gerade am Beispiel der Magdeburger Börde erhärtete Tatsache, daß sich der Kapitalismus im Schöße des Feudalismus entwickelt und dies in einem Ausmaß, daß Auflösungserscheinungen der feudalen Gesellschaftsordnung unverkennbar sind, auch wenn diese noch bis zu den Agrarreformen in vielen Bereichen bestimmend bleibt. — Das wiederum bedeutet, daß nunmehr zunehmend, wenn auch nicht im Sinne eines einfachen Parallelismus, die Kultur und Lebensweise der ländlich-dörflichen Bevölkerung von Übergangsformen geprägt werden. Sie tragen insgesamt einen progressiven Charakter, so daß auch und gerade für die Magdeburger Börde der Satz gilt: „Soweit die Bauern an der Entwicklung der Produktivkräfte beteiligt waren, waren sie als wichtigstes Element der Produktivkräfte revolutionär und mit ihrer Arbeit die wichtigste Grundlage des historischen Fortschritts. Sie machten damit Geschichte als Volksmassen, auch wenn ihre revolutionäre Kraft weitgehend von den reaktionären feudalen Kräften gewaltsam unterdrückt wurde. Sie haben objektiv dazu beigetragen, die kapitalistische Produktionsweise vorzubereiten." 7 Eine der wesentlichsten Erscheinungen des Gesamtvorgangs des Umwandlungs- und Übergangsprozesses ist die Zunahme der sozialen Differenzierung unter den dörflichen Klassen und Schichten und innerhalb der bäuerlichen Klasse selbst.8 Wie bereits an anderer 3 4

HARNISCH, 1978: 124. HARNISCH, 1978 123.

5

HARNISCH sagt dazu: „Ganz ohne Frage stellt das Zeitpachtverhältnis landwirtschaftlicher Grundstücke ein typisches Element kapitalistischer Produktionsverhältnisse dar und gehört zu den vielen Zügen in der sozialökonomischen Struktur unseres Gebietes, die über die feudalen Produktionsverhältnisse hinausweisen." HARNISCH, 1978: 145.

8

MARX, 1964 (1894): X X V , 807. MÜLLER, 1967: 166.

7

8

Wir vermeiden hier bewußt in Abgrenzung von reaktionär-romantischen Auffassungen in der Geschichte der bürgerlichen deutschen Volkskunde die Benutzung des Begriffes der „Dorfgemeinschaft", der die falsche Vorstellung assoziiert, als habe es wirklich eine solche intakte Gemeinschaft noch in dem hier zu behandelnden Zeitraum gegeben. In Wahrheit sind es auch auf

Lebensweise dei werktätigen Dorfbevölkerung (etwa 1780—1830)

3

Stelle ausführlich belegt, war in der Zeit zwischen 1750 und 1800 in der Magdeburger Börde die „Verteilung der Produktionsmittel in einer vorzugsweise von der Landwirtschaft lebenden Gesellschaft, also hauptsächlich des Bodens,... der Sozialstruktur geradezu diametral entgegengesetzt,"9 und dieses Verhältnis entwickelte sich bis in die Jahre nach 1840 in der Form, daß der bäuerliche Anteil innerhalb der dörflichen Sozialstruktur nur noch 15,9 Prozent, der der Landarmut (Kossäten, Häusler usw.) aber 84,1 Prozent betrug. 10 Das bedeutet, daß sich um diese Zeit die im 18. Jh. schon deutlich erkennbare Klassenstruktur innerhalb der Dorfbevölkerung voll durchgesetzt hatte. „Einerseits bildete sich jetzt die zahlenmäßig schwache, aber ökonomisch starke Schicht kapitalistischer Großbauern, die im breiten Umfang fremde Arbeitskraft ausbeutete, voll heraus ... Daneben gab es die Schicht der Mittelbauern, die eine Zwischenstellung zwischen einfachen Warenproduzenten und kleinen Ausbeutern einnahm. Andererseits gehörte aber auch zur Klasse der Bauern die breite Schicht der Kleinbauern, die von selbständigen, aus landwirtschaftlicher Arbeit lebenden Kleinproduzenten bis zu den vielfältigen Formen der ländlichen Kleinstellenbesitzer reichte, bei denen Handwerk und landwirtschaftlicher Nebenerwerb oder landwirtschaftliche Lohnarbeit und Selbstbewirtschaftung kleiner Ackerparzellen kombiniert waren. Die große Masse der Landbevölkerung waren aber landlose Produzenten, die einzig und allein vom Verkauf ihrer Arbeitskraft lebten."11 Innerhalb dieser sozialen Schichten war im Verlauf der Durchsetzung des Kapitalismus in der Landwirtschaft je nach Marktlage — und das betrifft vor allem die bäuerliche Klasse — eine Verschiebung möglich, so daß aus einem „Vollspänner" mit mindestens vier Hufen Land ein „Halbspänner" mit zwei Hufen Land und aus diesem ein Kossat mit einer Hufe und weniger Land werden konnte, wobei freilich auch die umgekehrte Richtung möglich war. Das Emporarbeiten der Landarmut in die bäuerliche Klasse war nicht leicht. Für sie gilt die Feststellung eines Zeitgenossen aus dem Jahre 1806: „Die kleinen Cossaten, Häusler und Miethünge leben von Handarbeiten, und ihre Existenz beruht auf dem Wohlstand der größeren Grundbesitzer."12 Vor diesem Hintergrund der besonderen sozialökonomischen Situation der Magdeburger Börde wird erst all das verständlich und erklärbar, was sich an Äußerungen von Kultur und Lebensweise im Dorf selbst und in den einzelnen Klassen und Schichten manifestiert. Bevor wir jedoch über diese Bereiche detailliertere Angaben zu machen versuchen, muß zuvor die Feststellung getroffen werden, daß der bisher geschilderte Prozeß der sozialökonomischen Entwicklung ein Bestandteil und ein Ergebnis der in unserem Untersuchungsgebiet,schon seit der Mitte des 18. Jh. einsetzenden Maßnahmen ist, die Land- und Viehwirtschaft aus dem Zwang der feudalen Agrarwirtschaft zu lösen. Dies dem Dorfe in zunehmendem Maße Klassen und Schichten gewesen, wie übrigens in der gesamten Geschichte der Feudalordnung, die sich in der Verteidigung und Durchsetzung ihrer Rechte gegenüberstanden. Das, was von bürgerlichen Volkskundlern als „Dorfgemeinschaft" deklariert wurde, war vor allem die rechtlich und brauchmäßig bestimmte Gemeinschaft der bäuerlichen Klasse im Feudalismus. Die ganz anderen Gesellungen der zahlenmäßig vorhandenen Dorfarmut — im Sinne der Klassifizierung von JAN PETERS, 1967) — blieben genauso unberücksichtigt, wie die sich verschärfende Ausbeutung durch große und Mittelbauern und eine daraus resultierende Klassenkampfsituation. 9

HARNISCH, 1 9 7 8 : 1 1 4 .

W PLAUL, 1 9 7 8 : 1 8 6 . 11

HARNISCH, 1 9 7 8 : 1 7 2 .

12

Zitiert nach HARNISCH, 1978: 113.

4

Jacobeit/Nowak

geschah vielfach auf Initiative der Bauern selbst (Brachbesömmerung mit Futter- und Handelspflanzen, Separierung der Felder, Abschaffung der grundherrlichen Triftgerechtigkeiten, Einführung neuer Anbaumethoden und -gewächse, Ablösung der Spann- und Handdienste etc.) — häufig gegen den Willen des Grundherren. Aber auch umgekehrte Verhältnisse, die bezeugen, daß fortschrittliche bürgerliche Pächter, auch adlige Grundherren, durch Rationalisierungsmaßnahmen im oben geschilderten Sinne Verbesserungen anstrebten und auf die Bauern zur Verbesserung deren Wirtschaften Einfluß zu nehmen versuchten, waren nicht selten und weisen auf Analogien zur Entwicklung des Agrarkapitalismus in den Ländern Westeuropas hin. Ziemlich allgemein jedenfalls war schon vor dem Einsetzen der eigentlichen Agrarreformen die Tendenz verbreitet, sich besonders von den für die eigene Wirtschaft hinderlichen Zwangsdiensten freizukaufen, um durch Anwerbung und Ausbeutung betriebsfremder Arbeitskräfte die Produktion der eigenen Wirtschaften zu steigern und einen Mehrwert zu schaffen, der vor allem in dem durch die Marktgesetze der kapitalistischen Produktion geprägten Bereich schließlich eine wesentliche Veränderung in der Lebensweise herbeiführen mußte, die Differenzierung innerhalb der bäuerlichen Klasse begünstigte und auch die Auseinandersetzung zwischen der bäuerlichen Besitzerklasse und den Angehörigen der Landarmut verschärfte.13 Die Französische Revolution spielte im Gesamtprozeß der sozialökonomischen Entwicklung unseres Untersuchungsraumes letztlich eine bedeutende Rolle. Die im Kontext ihrer Auswirkungen durchgeführten Reformen im neu gebildeten Königreich Westfalen bezeichnen eine wesentliche Zäsur. Die Gesetzesakte seiner Behörden nehmen einen wichtigen Platz im Gesamtprozeß der bürgerlichen Umwälzung in der Geschichte-des deutschen Volkes ein. Ausgeprägt bourgeoisen Charakter trägt z. B. die Konstitution J£RÖMES, in der es u. a. heißt: „Alle Leibeigenschaft, welcher Natur sie seyn möge und wie sie heißen möge, ist aufgehoben, indem alle Bewohner des Königreiches die nämlichen Rechte genießen sollen." 14 Darunter fiel dann auch die Auflösung der Feudalverhältnisse auf dem Lande im juristischen Sinne, die nun zwar nicht wie im revolutionären Frankreich entschädigungslos geschah, sondern auf reformerischem Wege vor sich ging. Wenn auch in der Folgezeit die französisch-westfälische Herrschaft sich durch hohe Kontributionen, Leistungen für die Armee15 und durch Einquartierungen als große Belastung erwies, so vermittelte das Gesetzgebungswerk bürgerlicher Reformen Anstöße und Erwartungen, die die Zeit überdauern sollten. So schreibt Pfarrer FRIEDRICH DANNEIL aus Niederndodeleben, der noch die Möglichkeit hatte, mit Zeitgenossen aus der westfälischen Zeit zu sprechen: Es „kam die westphäüsche Gesetzgebung wie ein großer Bef reiungsact über den Bauernstand und noch heute reden die alten Bauern mit Anerkennung von der westphälischen Zeit als der Geburtszeit ihrer Befreiung . . . Sein [des Bauern] Gesichtskreis wurde erweitert und sein geistiges Leben geweckt, wenn seine Familie hinfort eine Art Freizügigkeit gewann, wenn die Söhne allerlei Berufsarten wählten, Lehrer wurden, höhere Stadtschulen besuchten und in die studierten Gesellschaftsklassen ülper13 14 15

Vgl. hierzu vor allem den Beitrag: HARNISCH, 1978. Konstitution für das Königreich Westfalen vom 15.11. 1807, Artikel 13. HOLLOP, o. J . : 21, gibt an, daß z. B. der Kanton Eichenbarleben 309 Reit- und Zugpferde für den Transport von Kanonen aus Lübeck nach Magdeburg stellen mußte, und der Ort Dreileben mußte innerhalb von zehn Tagen 1600 (? — W. J.) Pferde zur Verfügung stellen.

Lebensweise der werktätigen Dorfbevölkerung (etwa 1780—1830)

5

traten."16 An anderer Stelle berichtet er, daß unter den älteren Einwohnern die Auffassung vertreten gewesen sei, daß die Franzosen „den Aberglauben mitgenommen" hätten.17 Wenn man diese Aussage D A N N E I L S auch insofern relativieren muß, als gerade in der Magdeburger Börde schon vor der Zugehörigkeit zum „Elbdepartement" die sozialökonomischen Verhältnisse zumindest in den wohlhabenderen Schichten der bäuerlichen Klasse eine Ausrichtung auf bürgerlich-städtische Verhältnisse ermöglicht hatten, so trug das westfälische, durch bourgeoise Interessen bestimmte Reformwerk in einem längeren Prozeß doch zur Auflösung alter, traditioneller Anschauungen und Verhaltensweisen bei, die durch die bis dahin herrschende feudale Agrarverfassung und ihre Sanktion im politisch-kulturellen Herrschaftssystem des preußisch-deutschen Staates verfestigt waren. — Unmittelbar wirksame Veränderungen auf Grund der Reformgesetze traten in anderen Bereichen ein. So führte die Gewerbefreiheit zur Zunahme von Gewerken, Gastwirtschaften, Brauereien und Brennereien in den Dörfern, so daß dort oft eine gewisse Monopolstellung derjenigen gebrochen wQrde, die als einzige bis dahin einen bestimmten Beruf ausgeübt oder eine Produktionsstätte betrieben hatten.18 D A N N E I L kann aber auch berichten, daß allein schon durch die Einquartierungen allgemeinere Wandlungserscheinungen hervorgerufen worden sind: So habe allmählich die Sitte des Tischgebets und das gemeinschaftliche Singen innerhalb der Familien mehr und mehr aufgehört; durch das aus militärischen Gründen erlassene Verbot des Glockenläutens sei es zu den dann üblich gewordenen „stillen" Begräbnissen gekommen, und auch die ehrbaren Mädchen seien nunmehr zum öffentlichen Tanz ins Wirtshaus gegangen, wie überhaupt, was bis dahin als unerhört gegolten hatte, das „Mannslaufen" stark zugenommen habe.19 Der gegenwärtige Forschungsstand gestattet noch keine Einschätzungen über die Ausmaße und die Tiefe des Wandels. Hier seien nur einige Tendenzen angedeutet. Daß der Kontakt mit französischen Einquartierten in bestimmten wohlhabenden Kreisen recht intensiv gewesen sein muß, kann auch daraus erhellt werden, daß eine ganze Anzahl französischer Wörter Eingang ins Bördeplatt gefunden hat, z. B. kuntant (content), kunteröhr (au contraire), awangk (avant), orjenär (originaire), kujoon (cochon), Grant malhör (grand malheur) u. a.20 Auch die Tatsache, daß die vordem nicht bekannten „klaren Suppen" erst seit der westfälischen Zeit den Küchenzettel der Bördebauern bereicherten, könnte dafür sprechen, daß der französische Einfluß nicht unbeträchtlich war. Andererseits ist davon auszugehen, daß möglicherweise bereits im 18. Jh. französische Kultureinflüsse in der Lebensweise der wohlhabenden Schichten vorhanden waren. Mit der französischen Besatzungszeit wurden diese, nun alle Bevölkerungsgruppen einbeziehenden Prozesse jedoch wesentlich beschleunigt. Resümierend wird man jedenfalls feststellen dürfen, daß das Reformwerk J £ R 6 M E S in sozialökonomischer Hinsicht einen gewissen Höhepunkt auf dem bisherigen Weg zur Entwicklung des Kapitalismus in der Magdeburger Börde bedeutet. Wenn auch nach 1815 durch die preußische Reformgesetzgebung versucht wurde, manche Errungenschaften 16

DANNEIL, 1 8 7 6 : 2 2 2 ; v g l . a u c h KRETZSCHMAR, 1 9 2 6 : 1 2 9 ; G E B A U E R , 1 9 0 5 : 4 5 f .

" DANNEIL, 1 8 7 6 : 2 3 2 .

W SCHULZE, (1938): 78f. 19

DANNEIL, 1 8 7 6 : 2 3 1 .

20

SEELÄNDER, 1927: 48; DANNEIL berichtet, daß die Knechte am Samstagabend im Wirtshaus gern „Ventin" gespielt hätten, ein französisches Kartenspiel „Vingt-un". Siehe: DANNEIL, 1872: 433.

Jacobeit/Nowak

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wieder rückgängig zu machen, und die Weiterführung der Ablösung nur schleppend als „preußischer Weg" vor sich ging, so war der gesellschaftliche Fortschritt beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus nicht mehr aufzuhalten. Für diese Entwicklung waren die Veränderungen in der Basis der sozialökonomischen Struktur ausschlaggebend. Die Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse vollzog sich vorerst jedoch in einem relativ langsamen Entwicklungstempo. Erst das nachfolgende Eindringen der Zuckerrübenkultur in die Magdeburger Börde seit etwa 1830 verhalf den kapitalistischen Produktionsverhältnissen in der Landwirtschaft dann endgültig zum Siege.

Produktionssphäre Wenn wir eine beschleunigte Entwicklung kapitalistischer Elemente konstatieren können, die auf die Zerstörung der sozialökonomischen Struktur des Feudalismus wirkten, so zeigt sich dies vor allem in der Entwicklung der Produktivkräfte seit der Mitte des 18. Jh. Hierbei ist freilich zu berücksichtigen, daß eine Verbesserung oder gar Mechanisierung der Arbeitsvorgänge bis um die Mitte des 19. Jh. noch kaum stattfand. Der übliche „altdeutsche" Pflug mit relativ flach anschneidender asymmetrischer Schar, mit Streichbrett, Sech und Radvorgestell _£>lieb das Hauptarbeitsgerät für die vorherrschenden Anbaufrüchte wie Weizen und Braugerste, die als begehrter Handels- und Exportartikel in beträchtlichem Umfang über Magdeburg verschifft wurden. Novationen im Arbeitsgerätebestand sind bis um 1800 kaum feststellbar. Was jedoch neben der hohen Bonität des Bodens zu den reichen Ernteerträgen führte, war vor allem die auf den positiven Erfahrungen der Bauern beruhende und z. T. auch von den Behörden veranlaßte Anwendung der Besömmerung der Brache mit Futterpflanzen, was eine Stallviehhaltung begünstigte. Der dadurch erhöhte Düngeranfall kam dem Boden wieder zugute und regenerierte dessen Fruchtbarkeit. Auch darin steht die Börde in den Traditionen einer progressiven Agrarkultur im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. So hoch schätzte man in der Börde die Notwendigkeit ausreichender Düngergaben ein, daß Fäkalien aus dem nahen Magdeburg und kleineren Städten herangefahren wurden, selbst dann, wenn damit die Gefahr einer Seuchenverbreitung gegeben war. Reichliche Düngergaben charakterisieren die Anbauwirtschaft auch für die späteren Jahrzehnte. Im Prinzip wird man die Feststellung H A R N I S C H S unterstreichen können, daß die „verbesserte Dreifelderwirtschaft" mit zunehmend eingeschränkter Brache, Stallhaltung und verstärkter Düngergabe das herrschende Bodennutzungssystem wurde, ein System, das mit noch feudalen Bedingungen und schon kapitalistischen Tendenzen dem Ubergangscharakter unseres Zeitraumes entspricht, und dies um so mehr, als die Brachbesömmerung nicht nur dem Anbau von Futtergewächsen diente, sondern auch dem von Handelsgewächsen, die gerade bei stadtnaher Lage großen Gewinn ermöglichten.21 Es ist wichtig, auf diese besondere Bedeutung der Brache hinzuweisen, weil ihre landwirtschaftliche Nutzung z. T . noch durch bestehende feudale, auch großbäuerliche Triftgerechtigkeiten für Schafherden geschmälert wurde, andererseits aber eine bessere Bodenbearbeitung durch den Anbau von Brachfrüchten der Intensivierung des sich entwickelnden kapitalistischen Systems entsprach, das gerade in der Börde mehr und mehr die Dominanz des Getreide21

HARNISCH, 1 9 7 8 : 8 5 .

Lebensweise dei werktätigen Dorfbevölkerung (etwa 1780—1830)

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anbaus durch vermehrten Anbau' von Hackbaufrüchten durchbrach. Damit war wiederum die Notwendigkeit einer intensivierten Bodentiefkultur verbunden, die letztlich nur durch Anwendung entsprechender Maschinen garantiert werden konnte. So weit war es hier allerdings noch nicht; noch gab es genügend Menschen, die ihre Arbeitskraft gerade für die Pflege der Hackbaufrüchte verkaufen mußten. Die Feststellung von HARTMUT HARNISCH ist nicht unwichtig, daß Gutsbesitzer und Bauern gerade dort einen vermehrten Kartoffel- und Roggenanbau trieben, wo diese landarmen und landlosen, aber für die Agrarproduktion der damaligen Zeit unersetzbaren Arbeitskräfte in größerer Zahl ansässig waren.22 Es war um 1800 eine Brachfrucht, die Zichorienwurzel, die, als begehrtes Handelsgewächs zunächst massiert im Gebiet um Magdeburg angebaut, in dieser Stadt auch im großen Stil als Kaffeesurrogat verarbeitet wurde und die eine Wende in der Bodenbearbeitungstechnik herbeiführte. Insbesondere während der. Kontinentalsperre, aber auch später erwies sich ihr Anbau als sehr lukrativ und „hat viel zur Entstehung größerer Geldvermögen auch bei den großen Bauern beigetragen. Er half ihnen ohne weitreichende Schäden auch über die Agrarkrise in den zwanziger Jahren des 19. Jh. hinweg."23 Mit dieser Pflanze war eine erste wirkliche Intensivierung der Bodenbearbeitung verbunden, denn sie setzte die Anwendung einer Tiefkultur voraus. Das Vorhandensein einer großen Zahl von landarmen Arbeitskräften ersetzte hier das Fehlen von tiefgehenden Pflügen, denn zu Hunderten rigolten diese Menschen auf den Feldern der Gutsbesitzer, der Großund Mittelbauern mit dem Spaten den Boden für die Bestellung mit Zichorienwurzeln. Es war eine — der zunehmend kapitalistischen Entwicklung der Landwirtschaft entsprechende — extensive Ausbeutung einer vorhandenen Reservearmee landarmer, aber auch schon proletarischer Arbeitskräfte. Den so betriebenen Zichorienanbau kann man wohl zu Recht als eine „grandiose Probe vor der im folgenden einsetzenden vehement agrarkapitaüstischen Entwicklung in der Magdeburger Börde" bezeichnen. „Sie wird von dem Pasadoxon begleitet, daß ein vom Typ her archaisches Produktionsinstrument, nämlich der Spaten und aus ihm entwickelte weitere Rigolhandgeräte, zum unabdingbaren Mittel des Übergangs in eine entwickeltere vollkapitalistische Produktionsweise wird."24 Die dennoch höchst intensive Bearbeitung des Bodens mit dem Spaten, durch die beispielsweise die Umgebung von Magdeburg einen hohen Kulturzustand der Felder erlangte,25 war eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Anbau einer weiteren Hackfruchtpflanze, der Zuckerrübe, durch die die Magdeburger Börde ihre volle Ausprägung als kapitalistische Landschaft im wahrsten Sinne des Wortes erfahren hat. Der Zuckerrübenanbau und seine Folgeerscheinungen sind an anderer Stelle bereits ausführlich behandelt worden.26 Trotzdem scheint es hier angezeigt, einige Bemerkungen 22

HARNISCH, 1 9 7 8 : 9 7 , 9 9 .

23

PLAUL, 1 9 7 8 : 2 0 1 .

24

NOWAK, 1969: 25. Nach 1845 wurde im landwirtschaftlichen Verein zu Alach bei Erfurt die Frage diskutiert: „Worin liegt die Ursache, daß die Spatenkultur einen höheren Ertrag gibt als der Pflug, wenn auch mit dem letzteren ebenso tief gearbeitet wird?" (ZLCV,

25

HARNISCH, 1 9 7 8 : 1 0 4 .

1847: 118). 26

Vgl. vor allem die Beiträge von MÜLLER, 1979, und DIESTEL/MÜLLER, 1979, sowie die Studien i n RACH/WEISSEL, 1 9 7 8 .

2

AK, Landarbeiter II

8

Jacobeit/Nowak

über die Anfänge einschließlich des Beginns der Verwertung bzw. der Zuckergewinnung zu machen: „Unermeßlich ... nach allen Richtungen hin ist der Segen der Rübenkultur. Für die Landwirtschaft aber bedeutet sie geradezu den Beginn einer neuen Epoche, welche von der gleichen kulturumwälzenden Bedeutung zu werden verspricht, wie es dereinst der Übergang vom Nomaden- und Hirtenleben zum Ackerbau gewesen ist: Die Epoche der Durchdringung von landwirtschaftlicher Theorie und Praxis und der weitgehendsten Anwendung der Kraftmaschinen auf die Bearbeitung des Bodens."27 Diese freilich weit spätere Einschätzung der Bedeutung des Rübenanbaues und der Zuckerfabrikation soll immerhin deutlich machen, welche Bedeutung dieser Pflanze beigemessen werden muß, die gegenüber anderen Handelsgewächsen in unvergleichlicher Weise die kapitalistische Entwicklung in der Magdeburger Börde geradezu folgerichtig abschloß und sie symbolisierte. Was sich in allen Bereichen zumindest seit der Mitte des 18. Jh. angebahnt hatte, durch die französisch-westfälische Reformgesetzgebung vorangetrieben worden war, kulminierte nunmehr in einem Boom der Rübenzuckerproduktion, dessen unmittelbare Auswirkungen in dem hier zu behandelnden Zeitraum zwar bestenfalls zu erahnen sind, seit der Jahrhundertwende bereits zur Ausprägung von Elementen und Formen der Lebensweise geführt haben, die durch die Anpassving der aktiven Lebensgestaltung an die neuen kapitalistisch bestimmten Lebensbedingungen gekennzeichnet waren. In diesem Sinne sind die Zuckerrüben und ihre Verwertung ein wesentliches Indiz für den unmittelbaren Entwicklungsprozeß des Kapitalismus in der Magdeburger Börde, der in unserem Zeitraum seinen Anfang genommen hat. Wenn auch über die dreißiger Jahre des 19. Jh. hinausgehend, scheint es in den hier behandelten Zusammenhängen gleichfalls notwendig, auf die Weiterentwicklung der Produktivkräfte, insbesondere der Tiefkulturbearbeitung einzugehen. Schon ACHARD berichtete 1803 über die guten Rübenernten im Magdeburgischen, weil dort tiefer gepflügt würde als in irgendeiner anderen Provinz. Um welche Art von tiefergehenden Pflügen es sich hier handelt, davon wird nichts berichtet. Es dürften aber vornehmlich belgisch-flandrische, englische oder französische Importpflüge gewesen sein, die in der Tat einen größeren Tiefgang hatten als die vorhin schon genannten einheimischen „altdeutschen" Geräte. Trotzdem blieb das Rigolen der Felder mit dem Spaten durch menschliche Arbeitskraft zunächst noch die vorherrschende Arbeitsweise, den Boden für den Rübenanbau in entsprechender Tiefe vorzubereiten. Die zunehmende Fluktuation der Landarmut bzw. des frühen Landproletariats in die Städte, speziell nach Magdeburg mit seiner seit den zwanziger Jahren des 19. Jh. zunehmenden Zahl an Fabriken und Gewerken, die Abwanderung auch in die nahen Kaliund Braunkohlenaufschlüsse trugen ihrerseits dazu bei, die Tiefkulturarbeiten zu mechanisieren, und dies um so mehr, als sich die Rübenanbauflächen schnell vermehrten und ausweiteten. Nach dem Stand der Produktivkräfte konnte dies nur ein mit Hilfe von Tieren gezogener Pflug mit optimal tief wendender Schar sein, zu dessen Entwicklung es gerade seit den dreißiger Jahren des 19. Jh. eine große Zahl von Versuchen gab, die meist von Handwerkern, aber auch von Bauern und bürgerlichen Pächtern unternommen wurden, um ein geeignetes Gerät nach ausländischem Vorbild nachzubauen oder ein neues zu konstruieren und zu erproben.28 Durchgesetzt hat sich schließlich — und dies erst seit den 27

KAERGER, 1 8 9 0 : 2 0 5 .

28

NOWAK, 1969, hat diese Vielzahl von Versuchen ausführlich dargestellt.

Lebensweise der werktätigen Dorfbevölkerung (etwa 1780—1830)

9

sechziger Jahren — ein von dem Schmiedemeister B E H R E N D T in Wanzleben konstruiertes Gerät mit einer Steilsturzschar nach dem Ruchadlo-Prinzip, das 1873 auf der Wiener Weltausstellung auf Grund seiner guten Leistung mit einer Goldmedaille ausgezeichnet wurde. Mit diesem sog. Wanzleber Pflug, dessen fabrikmäßige Fertigung von der Landmaschinenindustrie erst relativ spät aufgenommen wurde, war die zunehmende Ausweitung der Zuckerrübenproduktion möglich geworden. Es verdient hier abermals festgehalten zu werden, daß es Handwerker und Bauern waren, die mit der Verbesserung von anderen Tiefkulturpflügen und schließlich mit dem Wanzleber Pflug an die dreißig Jahre experimentierten, um eine entscheidende Veränderung an den Produktionsmitteln herbeizuführen und damit eine den neuen kapitalistischen Verhältnissen entsprechende Intensivierung des Zuckerrübenanbaues durchzusetzen. Obwohl schon 1863 das erste Dampfpflugaggregat auf den Feldern des Gutes Blumenberg lief, blieb der Wanzleber Pflug des Schmiedemeisters B E H R E N D T das vorherrschende Bodenbaugerät für die Zuckerrübenwirtschaften. Erst seit den achtziger Jahren setzt sich nach und nach das Dampfpflugaggregat nach dem FoWLERschen Prinzip in den Großbetrieben durch; von den Bauernäckern aber verschwindet der Wanzleber Pflug endgültig erst mit der Durchsetzung der sozialistischen Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft.29 Es verdient in diesem Zusammenhang zudem hervorgehoben zu werden, daß nicht nur die Vorbereitung des Rübenackers zu einer Pflugnovation führte, sondern daß auch neue Handgeräte für die Pflege- und Erntearbeiten entwickelt, alte Instrumente verbessert wurden etc. „Für jede einzelne Hantierung wurden besondere Spaten, Hacken, Karste, Schippen, Gabeln, Harken, Rodeinstrumente usw. verwendet. Bisweilen erfolgte auch eine Spezialisierung einzelner Geräteteile. So konnten z. B. in manche Hacken Hackblätter verschiedener Größe eingesetzt werden, je nachdem die augenblickliche Art ihrer Verwendung es erforderte."30 Die Geschichte dieser Handarbeitsgeräte ist noch zu wenig erforscht, als daß man schon Rückschlüsse auf die Beteiligung gerade der landarmen, frühproletarischen Schichten und vor allem der Saisonarbeiter, der „Sachsengänger", an der Entstehung und Entwicklung solcher Produktionsinstrumente ziehen könnte. Doch scheint sie nicht ausgeschlossen, wenn man bedenkt, in welchem Maße die werktätige Bevölkerung sich mit Novationen beschäftigte, sie ihrer gewohnten Handhabung entsprechend veränderte und verbesserte und — sich neuen Gegebenheiten anpassend — auch neue Anwendungs- und Arbeitsweisen entwickelte.31 Gerade die hier darzustellende Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus zeichnet sich durch eine allgemeine Experimentierfreudigkeit der ländlichen Bevölkerung, aber auch der Handwerker aus, um mit eigenen, ihnen gemäßen Nach- und Neuerfindungen den gegebenen Verhältnissen anderer, neuer Produktionsformen gerecht zu werden. Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte des Zuckerrübenanbaus und die der Zuckerproduktion für unseren Untersuchungsraum abzuhandeln,32 doch sei darauf verwiesen, daß sich der Anteil der bäuerlichen Klasse, der landlosen Schichten und der Handwerker nicht allein auf die zu verbessernde und intensivierende Bodenbearbeitung beschränkte. Namentlich kapitalkräftige, aber auch kleinere Bauern beteiligten sich an der Gründung von Zuckerfabriken in relativ großem Umfang, wenn auch die treibenden Kräfte „in der Regel 29

NOWAK, 1 9 6 9 .

30

BIELEFELDT, 1 9 1 0 : 5 0 .

31

V g l . u . a. JACOBEIT, 1 9 6 9 .

88

Vgl. hierzu u. a. (mit weiterführender Literatur)



BAXA/BRUHNS, 1 9 6 7 ,

sowie

MÜLLER, 1 9 7 9 .

10

Jacobeit/Nowak

kapitalistische Gutsbesitzer, Domänenpächter, und Industrielle [waren], die zumeist ... die leitenden Stellungen in den Unternehmen, Auf sichtsräten, Vorständen usw. einnahmen und einen beherrschenden Einfluß auf die Produktion und ihre Entwicklung ausübten". 33 Immerhin wird der Kapitalanteil der Bauern und anderer werktätiger Schichten an den entsprechenden Aktiengesellschaften der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jh. in den frühzeitig durch Rübenanbau kapitalisierten Landschaften Braunschweig, Hannover und in der Provinz Sachsen bis zu 80 Prozent berechnet.34 Das hervorstechendste Beispiel für solche Aktivitäten dürfte wohl die im Jahre 1838 gegründete Zuckerfabrik in Klein Wanzleben gewesen sein, die sich aus einer von 19 Groß- und Mittelbauern, Kleinbauern, Handwerkern etc. ins Leben gerufenen „Aktiengesellschaft zum Bau und Betrieb einer Zuckerfabrik in Klein-Wanzleben" zu einem Monopolbetrieb für Zuckerrübensaatgut entwickelte. Sie stand unter der Leitung des Ackermanns MATTHIAS RABBETHGE und seines Schwiegersohnes JULIUS GIESECKE, die bis 1857 die Aktienmehrheit in ihrer Hand vereinigt hatten.36 Bauern, aber auch andere Angehörige der Dorfbevölkerung, vor allem wohl der gewerblichen Mittelschichten, wurden schon in den vierziger Jahren zu Aktionären der zunächst um Magdeburg konzentrierten Zuckerfabriken, waren als solche zur Abgabe der Rübenernte an „ihre" Fabrik verpflichtet, gingen aber auch bald dazu über, auf mehrere Jahre ihren Grund und Boden an die Fabriken zu verpachten und dort Zuckerrüben in Monokultur anbauen zu lassen, ohne daß sie sich weiter um den Fortgang ihrer eigenen Wirtschaften kümmerten. Andere wieder nahmen die Bestellung des Bodens selbst vor, verpachteten das Rübenland an die Fabrik bis zum Abernten durch diese und übernahmen dann wieder den leeren Acker. So begann sich schon am Ende unseres Zeitraumes — die Anfangszeit des Experimentierens und der Rückschläge nicht mitgerechnet — der Typ des kapitalistischen Rübenbauers herauszubilden, der sich in zunehmendem Maße von der übrigen Bevölkerung distanzierte.36 Er wird zur Zentralfigur in der Entwicklung der Lebensweise und Kultur der Dorfbevölkerung und verweist auf die zunehmende Polarisierung der Klassenkräfte in der Kulturentwicklung des Kapitalismus.37 Für die Rübenbauern und Fabrikaktionäre unseres Zeitraumes trifft bereits der Inhalt jenes Gedichtes zu, das eigens zum Jubiläum des Verbandes der deutschen Zuckerindustrie verfaßt wurde: „Wachse, wachse, liebe Rübe, Wachse, wachse, werde groß, Und, o thu' es mir zu Liebe, Werde reiner Zucker bloß. 33

HAGELBERG/MÜLLER, 1974: 140.

34

HAGELBERG/MÜLLER, 1974: 133.

35

NOWAK, 1 9 5 7 ; HAGELBERG/MÜLLER, 1974: 121.

36

Bereits um 1840 reichten die stadtnahen Fluren Magdeburgs für die wachsende Zahl an Zuckerfabriken nicht mehr aus. „ . . . darum sind von den Fabrikanten in den Dörfern Westerhüsen, Fermersleben, Salbke, Dodendorf, Lemsdorf, Klein-Ottersleben, Ebendorf, Olvenstedt, Barleben fast sämmtliche Bauernhöfe gepachtet, um den Bedarf zu decken. Die Bauern sind Rentiers geworden, haben ihre 2 bis 5000 Thlr jährliche Einnahme und leben wie große Herren. Manche Zuckerfabrikanten besitzen 1200 Morgen in Zeitpacht und zahlen dafür jährlich eine Summe von 15000 Thlr." Ackerbau..., 1849: 148f.

37

V g l . hierzu ULRICH, 1925: 657.

Lebensweise der werktätigen Dorfbevölkerung (etwa 1780—1830)

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Schlage durch gleich ins Papier, Und mein Name steh' auf dir! Dann brauch' ich mich nicht zu quälen, Habe bloss das Geld zu zählen."38 Wenn wir vom Anteil weiterer sozialer Schichten am Rübenanbau und an der Zuckerfabrikation sprachen, so sei hier in erster Linie daran gedacht, daß bürgerliche Unternehmer, bürgerliche Pächter und ebenso auch Handwerker und Proletarier die durch ACHARDS Erfindung (1799) möglich gewordenen neuen Verdienstchancen erkannten. So wurden offensichtlich nach Erscheinen von ACHARDS Schriften mehrere Gesuche von Kaufleuten, Zichorienfabrikanten u. a. um Errichtung von Zuckerfabriken, um Betriebe für Alkoholherstellung etc. gestellt, die jedoch zu geringen Ergebnissen führten. Selbst Mechaniker meldeten sich zu Wort, und es erschienen Anzeigen wie die folgende: „Bei dem seit kurzem in Magdeburg etablierten Mechanikus Schatz werden nachstehende Sachen verfertigt — u. a. alle Arten von Maschinen für Fabriken, Wasch- und Reibemaschinen, große und kleine Preßen, kurz alles, was in das Maschinenwerk einschlägt."39 Aber die Maschinen waren für eine Zuckergewinnung großen Stils noch nicht geeignet. Eigentlich erst 1812 kam die erste wirkliche Anlage für Zuckergewinnung bei JOHANN WILHELM PLACKE in Magdeburg in Betrieb. PLACKE war es auch, der in seiner Fabrik eine Unterrichtsanstalt für die Gewinnung von Zucker aus Runkelrüben errichten wollte. Die Arbeitsverhältnisse jedoch waren noch nicht so entwickelt, daß sie als Vorbild hätten dienen können, denn das Waschen und Zerkleinern der Rüben geschah z. B. in dunklen Räumen durch Arbeiter, die jede Rübe einzeln in die Hand nehmen mußten, um sie zu bearbeiten.40 Demgegenüber war die von JOHANN GOTTLOB NATHUSIUS in Althaldensleben 1813 begonnene Zuckerfabrik mit moderneren Anlagen ausgestattet.41 Drei Jahre später war der Tagesablauf in Althaldensleben so : „Um 6 Uhr früh begann die Verarbeitung der vorher genau gewogenen 120 Ctr. Runkelrüben auf 7 der dazu von 14 Arbeitern in Bewegung gesetzten Doppelreiben, welche Arbeit abends 7 Uhr beendigt war, mithin 13 Stunden gedauert hatte. Die verriebene Masse wog 111 Ctr. 63 Pfd., die Rübenköpfe mit dem Abgang in den Pressen überhaupt 8 Ctr. 50 Pfd., Verlust war 27 Pfd. Das Pressen geschah durch 6 Arbeiter auf 5 Pressen in 18 Stunden, an Saft wurden erhalten 2 9 0 0 Berliner Quart. Der Saft wurde, sowie derselbe gewonnen wurde, in 6 große 500—600 Maß haltende, kupferne Kessel gefördert und hier die Klärung mittelst eines Zusatzes von 6 Pfd. gebrannten Kalk 38

LIPPMANN, 1 9 0 0 : 2 1 9 .

89

EGGEBRECHT, 1 9 2 7 : 1 5 3 .

40

ULRICH, 1 9 2 5 : 6 4 9 .

41

Nach P L A C K E , HAMMER und L A N G E sowie H E L L E war es JOHANN GOTTLOB NATHUSIUS, der in Althaldensleben im Herbst 1813 mit der Zuckerfabrikation begann. „Es befand sich die Anlage dazu in dem zu einer herrschaftlichen Domaine umgewandelten ehemaligen Nonnenkloster in Althaldensleben. Ein Teil des zum Remter oder Speisesaal bestimmt gewesenen Locals faßte die Reiben und Schraubenpressen, ein anderer davon getrennter Raum war für die Klärkessel, ein daneben befindlicher Schuppen zu einer Verdampfungsanstalt, die Klosterküche zur Siedung des Zuckers und eine daran stoßende Kammer zur Abkühlung und Füllung der Zuckermasse vorgerichtet. Uber dieser Füllstube befand sich der Zuckerboden zur Trennung der Melasse vom Zucker und zu dessen weiterer Vorbereitung, um ihn zu läutern." ULRICH, 1 9 2 5 :

651.

12

Jacobeit/Nowak

auf jede 500 Quart bewirkt. Die ganze Saftmasse erforderte 34 s/4 Pfund Kalk, und das Klären geschah in 15 Stunden. Die ausgepreßte Rübenmasse wog 4608 Pfd. Nachdem der Saft von den ausgeschiedenen Teilen sich abgesetzt hatte, wurde das Klare in die Dampfpfannen gebracht und darin bis zur Syrupsdicke verdampft, was in 27 Stunden geschah. Der dünne Syrup wurde in den Siedepfannen in 36 Stunden auf Zucker verkocht und die Masse in 11 Basterformen gefüllt. Nach 48 Stunden war dieselbe soweit erstarrt, daß sich die Melasse vom gekörnten Zucker trennte. In diesem Zustande wurde das Ganze mit den tarirten Formen gewogen, der Inhalt betrug 718 Pfd. Ferner wurde der beim Versieden abgenommene Schaum mit Kalkwasser ausgekocht und der durchgegossene Saft auf Zucker versotten, welche Zuckermasse, wie die vorige in 2 Lompformen gesammelt wurde. Sie wog 90 Pfd. Der abermals beim Umsieden entstandene Schaum wurde mit Brunnenwasser ausgekocht, durchgeseiet und die klare Flüssigkeit mit zu Syrup verdampft, der erkaltet 80 Pfd. wog. Aus 122,43 Ctr. Rüben wurde nun erhalten 718 Pfd. Zucker 1er Siedung, 90 Pfd. Zucker 2er Siedung, 80 Pfd. Syrup 3er Siedung. Überhaupt Zucker und Syrup 888 Pfd."« In Althaidensleben wurden 1814/15, so heißt es in einem zeitgenössischen Bericht, „gegen 500 Centner Rohzucker fabricirt, wovon das Pfund noch keinen vollen Groschen zu stehen kam. Sic bona causa triumphat." Und so gut hatte sich bei NATHUSIUS der Betrieb eingespielt, daß es hieß: „Was bei Herrn Nathusius noch am Morgen Rüben ist, ist am darauffolgenden Morgen schon in den Formen erstarrter Zucker."43 Ohne im einzelnen die Geschichte der Zuckerfabrik in Althaidensleben vintersucht zu haben, scheint der Erfolg des Unternehmens nicht zuletzt dadurch bedingt gewesen zu sein, daß NATHUSIUS sich spezialisierter Mitarbeiter bediente, von denen sein Mechaniker lange Zeit in England tätig gewesen war. Als Siedemeister beschäftigte er ehemalige Maurer. Die Aufsicht führenden zwei Siedemeister erhielten ein Fixum von 1000 Taler pro Jahr. Im ganzen benötigte NATHUSIUS, von dem man sagte, daß es ihm der preußische Staat, ja ganz Europa zu verdanken haben werde, „wenn in einem Zeitraum von dreißig Jahren kein indischer Zucker mehr gebraucht wird"44, -elf Menschen, um 500 Zentner Runkelrüben zu verarbeiten.45 Aber 1820 ging die Fabrik ein, wie überhaupt in diese Zeit das Ende der ersten Periode der Rübenzuckerproduktion fällt, bedingt durch einen niedrigeren Rohrzuckerpreis als Folge der Aufhebung der Kontinentalsperre. Erst am Ende unseres Untersuchungszeitraumes begann eine Wiederbelebung und ein rascher Fortschritt der Rübenkultur, der fast ungehemmt bis zur großen Zuckerkrise in den achtziger Jahren anhielt. Bis dahin aber war die Gesamtentwicklung der Magdeburger Börde als eine der typischsten kapitalistischen Agrarlandschaften Deutschlands bereits abgeschlossen. Unmittelbare Nachrichten über die Fabrikarbeiten, ob bei NATHUSIUS oder in magdeburgischen Anstalten, sind spärlich überliefert. Wir erfahren lediglich, daß in Althaldensleben erwachsene Mädchen und Frauen in den ersten Jahren für das Reiben der Rüben — ob mit der Hand oder schon mechanisiert? — pro Stunde zehn Pfennige erhielten, später 42

ULRICH, 1925: 651; vgl. die Abb. „Rübenzuckergewinnung" in einem Gutsbetrieb um 1810 bei:

BAXA/BRUHNS, 1 9 6 7 : 1 3 7 . « ULRICH, 1 9 2 5 : 6 5 5 . 4 4 ULRICH, 1 9 2 5 : 6 5 5 . 45

ULRICH, 1925: 651 f. — Bei 36 Zentnern Rüben pro Tag wurden in Althaldensleben innerhalb von 10 Tagen 4 Klafter Eichenholz zu 125 rheinischen Kubikfuß verbrannt. Ein Klafter Holz entsprach 720 Pfund produzierter Zuckermasse. ULRICH, 1925: 653.

Lebensweise der werktätigen Dorfbevölkerung (etwa 1780—1830)

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für den Zentner, dann aber sicher mechanisiert, acht bis neun Pfennige. „Schließlich übernahmen Männer das Reiben und Pressen und erhielten pro Liter Saft 1 Pfg." 46 Daß bereits in einer der ersten Zuckerfabriken, nämlich in Bottendorf, Saisonarbeiter beschäftigt waren, erhellt aus der Mitteilung, „daß der Thüringer in der dortigen Gegend nichts weniger als Fabrikgeist besitzt", d. h., daß er sich in die ihm fremde Umwelt und Tätigkeit nur langsam und mit Schwierigkeiten eingewöhnen konnte.47 Als wesentlich bleibt in diesem Zusammenhang festzuhalten, daß neben den Landarbeitern und den Arbeitern in den Magdeburger Maschinenfabriken auch in den frühen Zuckerfabriken um Magdeburg, später verteilt auf den ganzen Börderaum, sich eine Schicht des Proletariats bildete, die im Verein mit ihren Klassengenossen schon in den Monaten der Revolution von 1 8 4 8 / 4 9 eindeutig Stellung gegen die herrschende Klasse bezog.48 Trugen schon die Zuckerfabriken, namentlich in und um Magdeburg, zum Anwachsen proletarischer Schichten bei — es wurden dort jeweils an die 200 bis 400 Personen beschäftigt —,49 so dürfte es bereits seit 1767 „den höchsten Anteil an der Bevölkerung einer als Frühproletariat zu bezeichnenden Schicht... in Altenweddingen gegeben haben, wo ... der Kriegsrat Gansauge das Privileg zum Betrieb eines Steinkohlenbergwerks hatte",50 in dem 1 7 9 8 4 5 Arbeiter 3 4 4 4 0 Scheffel Kohle förderten. Wenn diese Bergarbeiter in den historischen Tabellen noch als Einlieger geführt werden, so ist doch unzweifelbar, daß wir es hier genauso wie in den Steinbrüchen, den Kalkbrennereien und Ziegeleien um 1800 mit Frühproletariern zu tun haben, die ebenso wie in den entstehenden Glashütten,51 in den von NATHUSIUS um 1 8 1 7 gegründeten Maschinenfabriken52 oder in den Tonwaren- bzw. Steingutfabriken in Magdeburg58 um 1780 am Prozeß des Eindringens des Kapitalismus in der Bördelandschaft teilnahmen und damit auch einen Einfluß auf die Veränderungen in der Lebensweise der Bördebewohner ausübten. Denn was gerade die beiden zuletzt genannten Fabriken anlangt, so stellten sie eine Menge von Waren für den täglichen Bedarf, für die Wohnungsausstattung her, deren Besichtigung der Bevölkerung stets frei stand64 und sie zum Kauf anreizte. Es ist symptomatisch für den unternehmerisch-kapitalistischen Geist, der auf dem Gebiet der Geldakkumulation eingezogen war, daß bereits 1780 im 48

ULRICH, 1 9 2 5 : 6 5 3 .

47

ULRICH, 1925: 644f.

48

Vgl. hierzu u. a. NATHUSIUS, 1 8 7 5 : 303ff. Leider können wir hier keine Ergebnisse marxistischleninistischer Geschichtsschreibung vorweisen, da regional- und lokalgeschichtliche Untersuchungen weitgehend fehlen.

49

Vgl', u . a. SCHMIDT, 1 8 8 7 : 1 0 6 ; PEICKE, 1 9 0 2 : 1 0 3 , 1 9 8 .

60

HARNISCH, 1 9 7 8 : 1 3 6 ; WUNDERLING, 1 9 3 5 : 2 5 .

51

KRATZENSTEIN, ( 1 9 2 4 ) : 7 1 .

62

HARNISCH, 1978: 168. Einer der bekanntesten Unternehmer in der Landwirtschaft der Provinz Sachsen wurde GOTTLOB NATHUSIUS, Sohn eines kleinen Händlers aus Baruth, Lehrling in Magdeburg, später Chef eines großen Handelshauses daselbst (vor allem Tabakmanufaktur). Als dieses Unternehmen infolge der kriegerischen Verhältnisse zu Beginn des 19. Jh. zurückging, kaufte er das Klostergut Althaldensleben und das Gut Hundisburg. „Er verband hier mit dem Großlandwirtschaftsbetriebe allmählich alle nur möglichen industriellen Anlagen zur Verarbeitung der gewonnenen Rohstoffe, wie Zuckerfabrik, Brennerei, Ziegelei, Brauerei, öl-, Graupen-, Getreidemühle, Steingut- und Porzellanfabrik und baute .so den ganzen Güterkomplex zu einem vorbildlichen Großunternehmen aus." BIELEFELDT, 1910: 19f.

58

BERGHAUER, 1 8 0 1 : l l O f . BERGHAUER, 1 8 0 1 : l l O f .

84

14

Jacobeit/Nowak

Bernburgischen das bis dahin übliche Kirchengebet dahin abgeändert wurde, daß in die Fürbitte zusätzlich die Worte eingeschaltet wurden: „insonderheit den Feldbau und die Bergwerke, und daß alle Anschläge, die auf das Aufnehmen derselben abzielen, wohl gelingen".85 Klassen und Schichten Bauern Über dem Eingang zum Hof Nr. 27 in Klein Rodensieben war, datiert auf das Jahr 1817, eine Inschrift angebracht mit dem Text „Es blühe die Oeconomie". Diese Inschrift könnte geradezu als Motto für die gesamte sozialökonomische Entwicklung der Magdeburger Börde aufgefaßt werden, an der die bäuerliche Klasse, obwohl in sich mehr und mehr differenziert, einen beträchtlichen Anteil hatte. Das traf vor allem auf die Freisassen und großen Bauern zu, die um die Jahrhundertwende allein durch Weizenverkauf einen Erlös von ca. 900 Reichstaler jährlich erzielen konnten, wie es z. B. vom Freisassen W E L L M A N N in Domersleben nachgewiesen werden konnte.86 Als eben dieser W E L L M A N N verstarb, hinterließ er ein Barvermögen von über 3200 Reichstaler in Gold und 1163 Reichstaler in Silber. Daneben hatte er beträchtliche Summen an die königliche Bank verliehen und weitere Gelder als Hypotheken an Bauern und Handwerker in seinem Heimatort und in umliegenden Dörfern vergeben.57 Aber auch andere Schichten der bäuerlichen Klasse waren ihrer Lage entsprechend nicht weniger wohlhabend. So beliefen sich 1808 in Diesdorf die auf Hypotheken, Schuldscheinen oder an Banken ausgeliehenen Kapitalien von 34 Personen auf insgesamt 29745 Taler, „und das, obwohl die Leute natürlich [den anfordernden Behörden gegenüber] nicht wenig verheimlicht haben ... Von den 49 Kossathen geben 22 einen Kapitalbesitz von zusammen 10745 Talern an."88 Diese Zahlen sind, wenn auch nur an wenigen Beispielen demonstriert, um so instruktiver, als das bäuerliche Erbrecht in der Börde „auf die ungeschmälerte Erhaltung von Hof und Grundbesitz gerichtet [war]; es galt das Prinzip der Geschlossenheit",89 was bedeutete, daß nur eines der Kinder erbberechtigt war und die anderen durch zum Teil nicht unbeträchtliche Summen, oft in Raten über Jahrzehnte hinaus, abgefunden werden mußten. So gesehen war es auch verständlich, „daß die Bauernfamilien im Interesse der Besitzsicherung die Zahl der Kinder klein zu halten suchten. Sie schränkte [bereits vor 1800] zudem normalerweise den Heiratskreis der großen Bauern auf die Familien ein, 65

HASELBACH, 1 9 2 7 : 8 2 .

56

„Für Dreileben beispielsweise berichtet KRIEG, daß mancher Bauer dort jährlich für 200 Reichstaler Kohl in Magdeburg verkaufen würde (wohl in der zweiten Hälfte des 18. Jh.). Aus einer anonym erschienenen Reisebeschreibung vom Jahre 1791 können wir entnehmen, daß etliche Bördebauern alle Wochen Getreide, Kohl, Rüben, Kartoffeln und Flachs nach der Stadt fahren würden und ihre Frauen wöchentlich zweimal dort 8 bis 12 Pfund Butter, 1 bis 2 Schock Käse und Eier verkauften. Die sich daraus ergebenden Einnahmen müssen recht beträchtlich gewesen

57

HARNISCH, 1 9 7 8 : 1 5 0 .

58

HUSCHENBETT, 1 9 3 4 : 4 4 f .

69

PLAUL, 1 9 7 8 : 1 7 6 .

sein, . . . " HARNISCH, 1 9 7 8 : 1 4 8 .

Lebensweise der werktätigen Dorfbevölkerung (etwa 1780—1830)

15

von denen eine namhafte Mitgift zu erwarten war."60 Ein geläufiges Bördesprichwort in bezug aufs bäuerliche Heiraten lautete: „Man kann in einen Däe mer frien as sin lewe dag verdeinen."61 Ähnlich äußerte sich im Jahre 1 8 3 6 die Schriftstellerin M A R I E N A T H U S I U S : „Als echte Bauernmädchen heiraten sie in erster Stelle nicht den Mann, sondern den Hof."42 Ein daraus vielfach folgendes, von den zeitgenössischen Berichterstattern oft erwähntes und von HARNISCH aus der ökonomischen Abhängigkeit der Bördebauern heraus erklärtes Charakteristikum jener Zeit war, daß sie sich stolz und hoffärtig gaben. Wenn sie es nur zu einigem Wohlstand gebracht hatten, ließen sie z. B. die Feld- und Hofarbeit nur noch vom Gesinde und von angeworbenen Arbeitskräften machen, verbrachten den Tag eher im Wirtshaus als in der eigenen Wirtschaft und führten einen geradezu luxuriösen Lebenswandel.63 Es war also bereits vor dem Zuckerrübenanbau ein merklicher Wandel im Verhalten der Bördebauern eingetreten, der sich in den Jahren nach 1830 während des Rübenzuckerbooms weiter verstärkte.64 Als eines der typischen Merkmale hierfür mag die Tatsache gelten, daß der wohlhabende Bauer seinen alten Standesnamen bald nicht mehr führen wollte und sich seit dem letzten Drittel des 19. Jh. zumeist „Oeconom", „Gutsbesitzer", ja „Fabrikbesitzer" nannte, wenn er einen entsprechenden Aktienanteil an einer Zuckerfabrik besaß.65 Für den beobachtenden Reisenden, der um die Mitte des 19. Jh. einen Vergleich zwischen den sozialen Verhältnissen in der Altmark und in der Magdeburger Börde anstellte, mag dieser Eindruck — oberflächlich gesehen — schon zutreffen: „Der Bauer lebt hier wie ein altmärkischer Edelmann und ein Knecht besser als ein altmärkischer Bauer"66 , wobei quellenkritisch zu bemerken ist, daß hier das Zitat des Verfassers der Atzendorfer Chronik, des Pfarrers CARSTED, lediglich umgewandelt sein dürfte, denn dieser schrieb Mitte des 18. Jh. über die Bördeverhältnisse: „Der Bauer lebt hir wie ein Edelmann, der Knecht wie ein Bauer und der Encke als ein Knecht."67 8® HARNISCH,

1978: 148. „Heiraten von Kindern verschiedener sozialer Schichten wurden im allgemeinen nicht gestattet. Es kam deshalb zu vielen Verwandtenheiraten, die in der Hauptsache den Zweck hatten, die Höfe beieinander zu halten und die Besitzungen zu vergrößern. In diesen Verwandtenheiraten lag das Verhängnis vieler alter Bauernfamilien des Dorfes. Wie in anderen Gemeinden sind auch in Welsleben viele Familien völlig ausgestorben, nachdem sie vorher geistig und körperlich degeneriert waren." WUNDERLING, 1935: 10.

81

GARKE, 1 9 3 0 : 56.

82

GARKE, 1 9 3 0 : 56.

83

V g l . HARNISCH, 1 9 7 8 : 1 5 2 .

84

Hier muß zumindest angeführt werden, daß die Separationen in den dreißiger und vierziger Jahren von den Rübenbauern mit forciert wurden, weil durch sie die letzten feudalen Reste v o n Gemengelage und Flurzwang verschwanden, die noch immer ein Hemmnis waren, große Ackerflächen für den Rübenanbau zu erwerben oder zumindest zu pachten. Die enorm gestiegenen Preise für den Boden machten diesen zudem noch zum Spekulationsobjekt von Bauern und Zuckerfabriken (vgl. hierzu ausführlich PLAXJL, 1978: 191 ff.

68

BROSE, 1 9 5 3 .

88

BOTHE, 1 9 3 5 : 2 9 8 .

67

CARSTED, 1 9 2 8 ( 1 7 6 1 ) : 9 2 . A l s w e i t e r e r B e l e g f ü r d i e W o h l h a b e n h e i t d e r B ö r d e b a u e r n sei d e r

zeitgenössische Vergleich' zwischen den Bauern des Holzlandes (im Norden des Herzogtums Magdeburg gelegen, in der vorliegenden Untersuchung z. T. der Magdeburger Börde zugeschlagen) und denen der Börde zitiert: „Freylich so wohlhabend sind die Holzbauern nicht, als die Bauern in der Börde, die alle Woche zwey bis drey Wispel Getraide, und im Herbste Kohl, Rüben, Kartoffeln, Flachs und dergleichen in Menge nach der Stadt fahren können, und

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Jacobeit/Nowak

Dorfhandwerker Die gegenüber anderen Agrarlandschaften Deutschlands günstigeren Verhältnisse — besonders für einen großen Teil der bäuerlichen Klasse in dieser Zeit des Ubergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus — mußten ihren Einfluß auch auf eine soziale Schicht der Landbevölkerung ausüben, die wir bisher nur am Rande genannt haben, die aber für die entsprechenden Ausprägungen in der Lebensweise und Kultur generell von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist: die Dorfhandwerker. Ist die allgemein zu beobachtende allmähliche Unterhöhlung und Auflösung der Zunftherrschaft vor allem nach der Mitte des 18. Jh. ein wichtiger Indikator für das Vorwärtsdrängen der Produktivkräfte auch und gerade auf dem Gebiet des Handwerks, so wurde eine solche Entwicklung in einer Landschaft wie der Magdeburger Börde nur noch gefördert. Denn hier gab es größere Verdienstchancen als in dem durch Zunftgesetze reglementierten städtischen Handwerk. Und diese Verdienstchancen sowie die dann durch das Königreich Westfalen ausgesprochene Aufhebung wesentlicher Teile der Feudalherrschaft und die Ausrufung der Gewerbefreiheit führten zwangsläufig zu einem raschen Anstieg der Zahl der Dorfhandwerker, wobei vor allem darauf zu verweisen ist, daß das „traditionell"-feudale, fast stereotype Bild der dörflichen Gewerke — Schmiede, Stellmacher, Zimmerleute, Schneider und Leineweber — insofern bunter wird, als sich die Zahl der Gewerbe nun um solche erweitert, die die Herstellung von Dingen betreiben, die dem in der Börde herrschenden Lebensstandard der Bauern und Pächter, aber auch den Bedürfnissen der wachsenden Landarmut und des ländlichen Proletariats entsprechen. Diese Ausbreitung der verschiedenen Handwerkszweige über das platte Land ist damit ein weiterer Nachweis für die den Zeitverhältnissen entsprechende gesellschaftliche Arbeitsteilung und die Herausbildung warenwirtschaftlicher Beziehungen unter der Landbevölkerung selbst.68 Um 1800 beträgt nach den Berechnungen von HARNISCH der Anteil der Landhandwerker an der Gesamtbevölkerung des Bördegebietes jedenfalls schon ca. 20 Prozent,69 wobei noch zu berücksichtigen ist, daß die Landbevölkerung einen sicher nicht geringen Prozentsatz von Handwerkserzeugnissen auch aus Magdeburg und anderen kleineren Städten bezog. Wenn wir uns fragen, welche Gewerbe — zusätzlich zu den schon genannten traditionellen — hinzukamen, so sind es in auffallender Weise Bäcker, Maurer und Schuster. Besonders im Bauhandwerk ist zwischen 1778 und 1804 ein geradezu sprunghafter Anstieg festzustellen; ein Zeichen dafür, wie stark die Bautätigkeit in den Bördedörfern zugenommen hatte. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist aber auch die rapide Zunahme ambulanter Gewerbetreibender nach der Verkündung der Gewerbefreiheit durch JÉRÔME. Wenn wir im „Handbuch für die Polizei-Verwaltung im Regierungs-Bezirk Magdeburg"70 die sich immer wiederholenden Beschränkungsanweisungen und Verbote z. B. für Musiker, Harfen- und Drehorgelspieler, Tierführer, Marionetten- und Puppenspieler, Seiltänzer, Olitäten- und Arzneimittelhändler, Hausierer mit Druckschriften, aber auch für solche, die ihre Frauen zweymal wöchentlich 8 bis 12 Pfund Butter, 1 bis 2 Schock Käse und Eyer daselbst verkaufen, und dann mit den Männern einige Stunden in den Weinkeller gehn und es sich wohl schmecken lassen können." Unterhaltende ... Beschreibung, 1 7 9 1 : 161 f. 68

HARNISCH, 1 9 7 8 : 1 2 4 .

«• HARNISCH, 1 9 7 8 : 1 2 4 .

'» MERTZ, 1860: 4 1 2 f f .

Lebensweise der werktätigen Dorfbevölkerung (etwa 1780—1830)

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Stiefelwichse, Möbelpolitur etc. vertrieben, lesen, so wird deutlich, daß von diesen ambulanten Gewerbetreibenden ein nicht unbeträchtlicher Einfluß auf das gesamte Dorfleben ausgegangen sein muß. Das bezog sich natürlich nicht nur auf die äußeren, materiellen Bereiche der Lebensweise, sondern hier lagen auch die verschiedensten Einflußmöglichkeiten auf politisch-gesellschaftlichem Gebiet (Verkauf von Druckschriften, Bildern, Bilderbogen etc.). Die z. T. rigorosen Zensur- und Verkaufsbedingungen durch das oben genannte Polizeihandbuch lassen eindeutig erkennen, daß der preußische Staat gerade in der Restaurationsperiode nach 1815 besondere Befürchtungen hegte, die sich weit weniger auf die besser situierte bäuerliche Klasse als vielmehr auf die landarmen und frühproletarischen Schichten bezogen. Landarmut und Landproletariat Wie bereits in den ausführlichen Beiträgen zur sozialökonomischen Entwicklung in der Magdeburger Börde geschehen,71 so ist auch in bezug auf die Kultur und Lebensweise der hohe Anteil der landarmen bzw. landlosen Schichten in den Bördedörfern besonders zu beachten.'Ihre starke Zunahme — entstanden durch die veränderten Bedingungen im agrarischen Bereich, unterstützt durch die Nähe der Stadt Magdeburg als ein sich entwickelndes Industriezentrum sowie den beginnenden Abbau von Kohle und Salzen — ist ein eindeutiges Indiz für den Ubergang zur kapitalistischen Produktionsweise. Diese sozialen Schichten, von Besitzbauern sowie bürgerlichen Pächtern und Unternehmern ausgebeutet, sind nicht gleichmäßig zu klassifizieren. Sie sind vielmehr in sich genauso differenziert wie die bisher besprochenen und unterscheiden sich in ihren Verhaltensweisen voneinander. Die zunächst für den Landwirtschaftsbetrieb wichtigste soziale Schicht war das Gesinde im bäuerlichen wie im gutsherrlichen Bereich, das nach der nach 1789 erlassenen Gesindeordnung für das Herzogtum Magdeburg in Abhängigkeit vom jeweiligen Dienstherren gegen Bezahlung und teilweise gegen Deputat arbeitete. Für die Mitte des 18. Jh. können die jährlichen Löhne (am Beispiel von Atzendorf) folgendermaßen angegeben werden: Knecht 20 bis 22 Reichstaler, Encke 14 Reichstaler, Magd 5 Reichstaler, 2 Paar Schuhe, 15 Ellen grobe und 15 Ellen feinere Leinwand pro Jahr. Diese Löhne haben sich bis zu den Reformen 1806/07 kaum verändert, wenngleich H A R N I S C H feststellen kann, daß sie höher lagen als in anderen benachbarten Landschaften.72 Demgegenüber lag die Jahreseinnahme in der Zeit zwischen 1820/1830 für einen Knecht im bäuerlichen Dienst (Niederndodeleben) bei 20 bis 24 Taler. Er erhielt ferner Ackerland für 1/2 Scheffel Leinsaat, eine freie Fuhre für seine entfernter wohnenden Eltern, die ihm die Wäsche in Ordnung hielten. Dazu gab es noch 2 Hemden, 1 Paar Schuhe, 2 Bund Strumpfwolle, 1 Taler Mietsgeld, 1I2 Taler zu Weihnachten, dazu 1 Groschen für das Mistholen aus der Stadt. Essen und Trinken richteten sich nach der jeweiligen Hausordnung und waren frei.73 Die zunehmenden Möglichkeiten, besseren Verdiensten nachzugehen, die Konjunktur des Zichorien-, später des Zuckerrübenbaues, aber noch mehr die Aufhebung der feudalen Zwangsdienste durch die französisch-westfälischen Edikte förderten in zunehmendem Maße die Mobilität des Gesindes und erwiesen damit — trotz mancher eingeleiteter Maßnahmen 71

Vgl. vor allem HARNISCH,

72

HARNISCH, 1 9 7 8 : 1 5 4 f .

73

DANNEIL, 1 8 7 2 : 4 3 4 .

1 9 7 8 ; PLAUL, 1 9 7 8 ,

und BERTHOLD,

1979.

18

Jacobeit/Nowak

der Großbauern und Grundherren —, daß die Gesindeordnung von 1789, konzipiert nach den Grundsätzen der feudalen Agrarverfassung, zunehmend ihre Wirkung verlor. Ökonomische und juristische Grundlage für ein neues Beschäftigungsverhältnis war in unserem Zeitraum vorwiegend und bereits kapitalistischen Produktionsverhältnissen entsprechend die Geldlöhnung, die freilich so niedrig war, daß die gesamte Familie eines Tagelöhners mitzuarbeiten hatte, um das Existenzminimum zu sichern. Nicht selten war aber auch die zusätzliche Betätigung in einem handwerklichen Beruf, die Bearbeitung eines Stück Pacht- oder gar eigenen Landes, der Hausierhandel etc. Quelle zusätzlichen Gelderwerbs. Hierzu zählte auch als typisch für die Börde der Hamsterfang, der einen relativ guten Verdienst ermöglichte.74 Das hauptsächliche Bestreben der Tagelöhner usw. zielte aber doch darauf ab, selbst Landbesitz zu erwerben oder zumindest zu pachten, und wo es dem einzelnen nicht gelang, fanden sich wohl auch mehrere zusammen; so schon 1798, als in Markt Alvensleben „der Oberförster, zehn Kossäten, ein Böttcher, ein Maurer und ein Häusler Acker (pachteten). Im Dorf Alvensleben werden neben sechs Kossäten und vier Häuslern ein Stellmacher, ein Ziegelstreicher, ein Salpetersieder, ein Einlieger und ein Angestellter des Bergwerks als Pächter erwähnt. In Erxleben schließlich pachteten nach einer Geldrechnung von 1805/1806 der Justizamtmann, ein Förster, ein Chirurgius, ein Kaufmann, ein Müller, acht Kossäten, sechs Leineweber, ein Sattler, ein Bäcker, ein Krüger und ein Müller Land", wobei es sich jeweils „um Flächen von unter zehn Morgen je Pächter, meistens sogar nur um ein bis drei Morgen" handelte, deren Pachtsumme von der entsprechenden Herrschaft zwecks eigenen Verdienstes höher als gewöhnlich angesetzt wurde.75 Wenngleich diese Art gemeinsamen Pachtens von Ackerstücken durch die Landarmut relativ selten war, so ist doch auffallend, daß unter den Pächtern Einlieger so gut wie fehlten, was HARNISCH ZU der sicher richtigen Feststellung veranlaßt, daß „diese Schicht der Landbevölkerung ... demnach die ärmlichsten und unsichersten Lebensbedingungen gehabt haben" muß.76 Im ganzen dürfte aber die Schlußfolgerung zulässig sein, daß diese Art und Weise der Existenzsicherung auf der Basis des sich immer lukrativer entwickelnden Anbaues mit Handelsgewächsen als eine neue, den sich wandelnden Produktionsverhältnissen entsprechende Gemeinschaftsform anzusprechen ist, mit der sich die Landarmut und die Landproletarier gegen die „Front" der -die Dörfer weitgehend noch beherrschenden Besitzbauern und Herrschaften durchzusetzen versuchten.77 Zu erwähnen bleibt in diesem Zusammenhang auch, daß sich die Landarmut und das Landproletariat nicht nur aus den in den Dörfern jeweils Ansässigen zusammensetzte, sondern auch aus Saisonarbeitern, die nicht erst seit der Mitte des 19. Jh. zur Zuckerrübenpflege und -ernte in die Börde kamen: „Am liebsten werde Ich vernehmen, wenn Ihr viele von den Thüringern und Voigtländern, welche alljährlich nach dem Magdeburgischen zu kommen pflegen, um die Ernte allda zu verrichten, engagieren und ansetzen möchtet", 74

In einer Eintragung im Kirchenbuch von Domersleben heißt es u. a. über den Hamsterfang durch die dortigen Drescher: „Für das Schock Felle zahlet man früher 1 Thaler 12 Groschen, itzo zahlet man 4—5 Thaler und werden fleißig von den Kürschnern gesuchet. Die Dröscher müssen zwar einen Eid schwören, daß sie alles, was sie fangen, tödten wollen, aber sie kehren sich so wenig an einen Eid, dessen Erfüllung ihnen Schaden bringt. Daher lassen sie sonderlich im Frühjahr alle Weiblein von den Hamstern leben, welche sie doch vorzüglich zu tödten versprochen." Zitiert nach MERBX, 1956.

75

HARNISCH, 1 9 7 8 : 1 5 5 .

78

HARNISCH, 1 9 7 8 : 1 5 5 .

77

Vgl. u. a. für den Braunschweiger Raum die Angaben bei BUCHHOLZ, 1966: 15.

Lebensweise der werktätigen Dorfbevölkerung (etwa 1780—1830)

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schrieb FRIEDRICH II. im Jahre 1758 an den Magdeburgischen Kammerpräsidenten v. PLATEN,78 damit unterstreichend, daß er diese Saisonarbeiter im Rahmen seiner Peuplierungsmaßnahmen ansässig zu machen gedachte. Weitere Erwähnungen von Arbeitskräften außerhalb der Börde betreffen Mäher aus Sachsen und aus dem Harzgebiet, die im Register des Gutes Wanzleben 1794/1795 erwähnt werden.79 Seit 1820 haben sich dann wohl schon gewisse Gepflogenheiten der Anwerbung entwickelt, die z. B. darin bestanden, daß die anreisenden Drescher mit ihren Familien von Gespannfahrzeugen abgeholt wurden. Es handelte sich hier besonders um Arbeiter aus dem östlichen Niedersachsen, aus der Altmark und anderen mehr benachbarten Landschaften. Wieviele dieser Saisonarbeiter in der Börde blieben, welchen Einfluß sie auf die Lebensweise der einheimischen Bevölkerung hatten, darüber hat sich in den Quellen offenbar wenig niedergeschlagen. Es soll aber schon um 1750 in der Börde kein Dorf zu finden gewesen sein, in dem nicht „ausländische" Arbeiter angesiedelt waren. HANS HERMANN M E R B T berichtet in seiner Domersleber Chronik,80 daß in der Börde 12 Kolonistendörfer entstanden waren. Es ist also keine Frage, daß auch in Hinsicht auf bewußt angesetzte Kolonisten — ob sie bei günstigen rechtlichen Voraussetzungen Bauern, Drescher, Mäher, Lohnarbeiter u. a. m. waren — diese für die Entwicklung der Produktivkräfte in der Magdeburger Börde vpn nicht geringer Bedeutung gewesen sind. Ihre Geschichte zu schreiben, steht noch aus. Es erhebt sich zum Schluß dieser Betrachtung über Struktur und Rolle der Landarmut und des Landproletariats die Frage, ob, wie und gegebenenfalls in welchem Umfang die Angehörigen dieser Schicht bereits in unserem Zeitraum der Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber der herrschenden Klasse Ausdruck verliehen. HARNISCH bemerkt dazu, daß die bisher befragten Quellen hierüber keine bemerkenswerten Aussagen erlauben und daß „spontaner Widerstand ... mit Hilfe der feudalherrlichen Polizeigewalt bzw. der Patrimonialgerichtsbarkeit unterdrückt" wurde.81 Dieser Tatbestand scheint auch noch in der Zeit nach den Reformen bis zum Ende unseres Untersuchungszeitraumes im wesentlichen der gleiche geblieben zu sein, und dies um so mehr, als erst um die Zeit der Revolution von 1848/49 Berichte über die „Aufsässigkeit" des Gesindes, der Tagelöhner und der ländlichen Fabrikarbeiter relativ häufig anzutreffen sind. Wenn es auch dabei vorwiegend um Landund Lohnforderungen gegangen zu sein scheint, die auf Protestversammlungen vor den Häusern der Pächter und Unternehmer vertreten wurden, so wird doch deutlich, daß sich die herrschende Klasse der „Gefahr" einer Formierung dieser Schichten zum Proletariat bewußt geworden war und nun nach den verschiedensten Mitteln suchte, diesen Prozeß in ihrem Sinne zu beeinflussen. Stellvertretend für solche Bestrebungen mag hier der Diskussionsbeitrag des Pastors BRENNECKE stehen, den dieser auf der XIII. Versammlung deutscher Land- und Forstwirte 1850 in Magdeburg hielt und in dem es heißt: Es sei ein Preis für eine „zweckmäßige Gesindeordnung" ausgesetzt. Das bedeutet, daß es mit dem Gesinde „nicht steht, wie es stehen sollte". „In dem Gesinde wurzelt das Proletariat, aus demselben erhält letzteres jährlich einen bedeutenden Zuwachs... In einer Stadt, wo vor 10 Jahren kaum 700 Thlr. für die Armen ausgegeben sind, zahlt man jetzt jährlich 6000 Thlr. und kann die Ansprüche der Armen nicht befriedigen." Keine Gesindeordnung könne 78

LIEBE, 1908: 383.

79

CARSTED, 1 9 2 8 : 9 5 , und HARNISCH, 1 9 7 8 : 155.

80

MERBT, 1 9 5 6 : 158.

81

HARNISCH, 1 9 7 8 : 141.

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Jacobeit/Nowak

hellen und auch die Vermehrung des Proletariats nicht hindern. Aber „Unser Gesinde wird besser werden, wenn wir ihm mit einem guten Beispiel in der Gottesfurcht vorangehen. Lassen Sie mich aus Erfahrung reden. Im Jahre 1848, wo ich mich in den dichtesten Haufen der Aufrührer hineingewagt und das Wort für die gute Sache genommen habe, wurde mir oft entgegnet: Ihr habt verdient, was jetzt über Euch kommt. Ihr seid uns mit dem schlechten Beispiel vorangegangen. Ihr übertretet das lte, 2te und 3te Gebot — warum sollten wir das 4te und 7te Gebot nicht übertreten? — Darum die Bitte an Sie, meine Herren: Lassen Sie uns dem Gesinde zeigen, daß wir Achtung vor Gott und seinem heiligen Worte haben; lassen Sie uns daher kundgeben, daß wir die erste Tafel der göttlichen Gebote noch halten, das wird dem Gesinde imponiren und sie werden das 4te Gebot halten, werden die Herrschaften ehren und ihnen gehorchen; sie werden das 7te Gebot beobachten, das Eigentum heilig halten, dasselbe zu behalten und zu vermehren, Ihnen förderlich und dienstlich sein. Darum, meine Herren, gehen Sie Hand in Hand mit den Geistlichen; wirkte jeder in seinem Kreise, daß Gottesfurcht und Achtung vor seinem Worte zunimmt, so werden wir auch bald ein gutes Gesinde haben."82 In ähnlicher Weise spricht sich auf der gleichen Versammlung ein Graf von der RECKE-VOLMERSTEIN aus.83 Lebensweise und Kultur Wenn die soziale Differenzierung sowohl innerhalb der bäuerlichen Klasse als auch — und dies in noch krasserer Weise — innerhalb der Dorfbevölkerung überhaupt ein wesentliches Indiz für den Übergang vom Feudalismus zu kapitalistischen Formen der Ausbeutung in der Magdeburger Börde seit etwa 1750 war, so nahm dieser Prozeß mit der Zuckerrübenwirtschaft nicht nur zu, sondern er verschärfte auch die Klassengegensätze in starkem Maße. Es ist nunmehr im folgenden zu untersuchen, wie sich im Ubergangsstadium der Herausbildung des Kapitalismus bei den besprochenen Klassen und Schichten „traditionelle" Formen der Lebensweise und Kultur wandelten, wie Neues entstand, Altes erhalten blieb bzw. wie letztlich Lebensweise und Kultur Widerspiegelungen der sozialökonomischen Prozesse und Reaktionen auf sie waren, mit denen wir es bisher zu tun hatten.84 Bauen und Wohnen Zunächst ist einmal zu bemerken, daß bis auf den heutigen Tag in den Kerngebieten der Magdeburger Börde schon von der Siedlungsstruktur her der bisher gezeigte Entwicklungsprozeß in der Weise sichtbar wird, wie er z. B. in den vom Volksmund geprägten Straßennamen von Altenweddingen seinen Niederschlag findet. Dort weist schon der seit dem Spätfeudalismus nachweisbare Begriff „Gold- und Silberstraße" darauf hin, daß hier die „großen Bauern", die Ackermänner, wohnten, daß in einer weiter abgelegenen 82 83 84

Amtlicher Bericht..., 1851: 96. Amtlicher Bericht..., 1 8 5 1 : 1 2 7 f f . ; vgl. auch SCHÖNE, 1853: 392ff., undNATHUsnjs,1875:303ff. In diesem Zusammenhang kann freilich nicht das theoretische Problem erörtert werden, ob und wie im allgemeinen oder in Einzelbereichen Formen der Kultur und Lebensweise zeitgleiche Widerspiegelungen des sozialökonomischen oder historisch-politischen Geschehens sind. Diese Frage wird erst für mehrere Territorien und Landschaften mit unterschiedlicher sozialer, ökonomischer und kultureller Struktur zu untersuchen sein, bevor Verallgemeinerungen zulässig sind.

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Straße, der „Lüttgenstraße", die Kossäten, also die Kleinbauern, angesiedelt waren und daß sich, wiederum separiert von den beiden anderen „Siedlungskomplexen", in der „Saustraße" die Armen- und Hirtenhäuser befanden.86 Dieses hier herausgegriffene Beispiel des Dorfes Altenweddingen ließe sich — als für unseren Untersuchungszeitraum zutreffend — auch für weitere Dörfer in ähnlicher Weise anwenden. Es zeigt, daß eine S'eparierung der einzelnen Klassen und Schichten im äußeren Dorfbild immer deutlicher wurde; sichtbar vor allem insofern, als schon die Hausformen und damit ein wesentlicher Teil und eine wichtige Voraussetzung der klassenbedingten Wohnweise86 für bestimmte Zeiträume die soziale Schichtung, aber auch entsprechende Verhaltensweisen, Einstellungen zu den Gegebenheiten, Aktivitäten und Auseinandersetzungen zur Veränderung der „Lage" etc. erkennen lassen. Sehen wir einmal davon ab, daß staatliche Reglementierungen — hierzu gehört auch die Versicherungspflicht durch Feuersocietäten —, die sich verändernde Situation im ländlichen Baugewerbe, neue Arten von Baumaterialien, beginnende Baufachliteratur u. a. m. einen nicht unwesentlichen Einfluß auf das gesamte Baugeschehen in der Magdeburger Börde ausübten,87 so gilt noch insgesamt für die erste Hälfte des 19. Jh. ein starkes Festhalten an der traditionellen, der Spätfeudalzeit entsprechenden ländlichen Bauform des sogenannten „mitteldeutschen Ernhauses".88 Wenn auch die Tendenz zum reinen Massivbau namentlich bei den großen Bauern zunimmt, so bleibt bei den Klein- und Mittelbauern das Fachwerk, bei den landarmen Schichten der sogenannte Pisebau (Wände aus gestampftem Lehm) beherrschend.89 In den verschiedenen Baumaterialien und ihrer Verwendung sowie in der Größe der Gebäude zeigt sich zunächst die differenzierte soziale Stellung der Dorfbewohner am deutlichsten.90 Und diese Faktoren waren es auch, die „erhebliche Auswirkungen auf die Realisierungsmöglichkeiten der Wohnansprüche" hatten,91 die ihrerseits bis nach 1815 kaum über die „Befriedigung elementarer Bedürfnisse wie Schlafen, Kochen und Essen, Kinderaufziehen usw. [hinausgingen], ... immerhin [aber] bei beiden Gruppen der Bauernklasse voll erfüllt werden (konnten), während die Landarmut ... nur unter größten Schwierigkeiten dazu in der Lage war".92 Man wird am ehesten bei den großen Bauern unseres Untersuchungszeitraumes eine Tendenz nach neuen Raumordnungen zu vermerken haben, die auf die beginnende Separierung der bäuerlichen Familie hinweist und sich u. a. darin äußert, daß die Küche aus der Mittelzone des Hauses in die seitlichen Partien verlegt wird, so daß ein durchlaufender Flur entstehen kann.93 Weitere Unterschiede, in denen die soziale 86 86

Vgl. dazu u. a. N O W A K , 1 9 7 0 ; speziell für Altenweddingen: Anm. 1 4 0 . versteht unter dem „Wohnen", also der Wohnweise, die „Summe aller zur Befriedigung der in der Wohnung zu realisierenden Lebensbedürfnisse durchgeführten aktiven Handlungen" (RÄCH, 1974: 29). — MOHRMANN bezeichnet das Wohnen als die neben der Arbeit wichtigste Seite der Lebensweise, nämlich als Bestandteil der physischen Reproduktionssphäre, die freilich vom Gebäude allein nicht darstellbar ist, wenn auch die gegebenen Wohnmöglichkeiten eine wesentliche Bedeutung haben (MOHRMANN, 1969: 145). RÄCH

87

RÄCH, 1 9 7 4 : 5 f f .

88

RÄCH, 1 9 7 4 : 1 2 , 4 6 .

89

RÄCH, 1 9 7 4 : 4 6 .

»» RÄCH, 1 9 7 4 : 27, 1 0 2 f f . 91

RÄCH, 1 9 7 4 : 3 3 .

98

RÄCH, 1 9 7 4 : 3 3 .

93

RÄCH, 1 9 7 4 : 5 8 f .

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Jacobeit/Nowak

Differenzierung zum Ausdruck kommt, sind der Umstand, daß gleichfalls bis um 1815 der Innenausbau (Türen, Fenster, Dielung usw.) der Bauernhäuser meist durch den Tischler geschieht, während sich hierbei die unteren sozialen Schichten mit der Arbeit des Zimmermannes begnügen mußten bzw. bei ihnen Gips-, Lehmestrich oder Ziegelboden die „bäuerliche Dielung" ersetzte.94 Wollen wir versuchen, nach diesen allgemeinen Bemerkungen zur sozialen Differenzierung und ihres Niederschlages in der Gestaltung der Hausformen bzw. in der Raumordnung detailliertere Angaben zu den Gebäuden der einzelnen Schichten zu machen, so muß für die Wohnhäuser der großen Bauern in der ersten Hälfte des 19. Jh. betont werden, daß sie zumeist in den Jahren um 1815 errichtet wurden und sich durch eine gewisse Gediegenheit in der Bauausführung auszeichneten. Die wirtschaftlichen Erfordernisse machten in der Folgezeit vor allem die Errichtung zusätzlicher Wirtschaftsgebäude notwendig, so daß die Weiterentwicklung der Wohnbauten entsprechend der sich weiterhin zu städtisch-bürgerlichen Formen entwickelnden Lebensweise eigentlich erst am Ende unseres Untersuchungszeitraumes einsetzte. — Was aber schon für die ersten Jahrzehnte des 19. Jh. charakteristisch ist, sind die in zunehmendem Maße feststellbaren äußeren Repräsentationsbedürfnisse, die an und in den Häusern zu verzeichnen sind und die eine soziale Abgrenzung gegenüber den anderen sozialen Schichten des Dorfes markieren. Genannt seien hier nur der Ausbau der Keller zu ganzen Kelleranlagen, die — wie schon erwähnt — vom Tischler gefertigten Haus- und Zimmertüren sowie die vierteiligen Fenster, ferner Natur- und Ziegelsteinplatten in Flur und Küche, die gute, breite Dielung in den Wohnräumen, die technisch einwandfreien Treppenanlagen, oft mit schmuckvollem Geländer, die repräsentativen steinernen Außentreppen, die stets üblichen „eingeschobenen" Zimmerdecken, die oft reich verzierten Fassaden, die aufwendig gestalteten Torbögen mit z. T. klassizistisch nachempfundenem Zierat u. a. m.95 Hinsichtlich der Nutzung der Wohnmöglichkeiten stellen wir am Ende unseres Untersuchungszeitraumes die folgende, sich später ausweitende Tendenz der Wohnweiseentwicklung bei den Bördegroßbauern fest: Da prinzipiell genügend Raum für die Familie und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse vorhanden war, gibt es eine relativ klare Gliederung: Schlafzimmer, Kinderzimmer, Aufenthaltsräume sowie der Wirtschaftsbereich von Küche und Keller. Das offene Herdfeuer wird durch abgedeckte Herde und die Koksgrude — begünstigt durch die nahen Braunkohlevorkommen — ersetzt. Damit verschwindet der offene Schornstein, und es kann eine Decke eingezogen werden. Das wiederum bewirkt, daß ein zusätzlicher warmer Raum — die Wohnküche — vornehmlich als Aufenthaltsplatz für das Gesinde geschaffen worden ist. Demgegenüber gestaltet der Bauer — und das gilt auch für das Altenteil im Hause — die Wohnstube weiter aus: Kachelöfen sind vorhanden, Rüböllampen mit hohlem Runddocht verbreiten gutes Licht. Tisch, Stühle, mindestens ein großer Schrank, Ofenbank, Truhe, mitunter auch schon Tapeten an den Wänden94 vervollständigen die Einrichtung. Durch neue Schornsteinführung

94 96 96

RÄCH, 1974: 26. Räch, 1974: 59f. Um 1840 gab es in Halberstadt bereits zwei Tapetenfabriken (Räch, 1974: 62). Im Jahre 1859 wird in einer Verordnung sogar vor der gesundheitsschädigenden Wirkung einiger mit arsenhaltiger grüner Farbe versehener Tapeten, Rouleaus, Gardinen und anderer mit der gleichen Farbe gestrichener Einrichtungsgegenstände gewarnt. Mertz, 1860: 459.

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werden Schlaf- und Kinderzimmer im Obergeschoß heizbar. Demgegenüber bleiben aber die sanitären Anlagen weiterhin unzureichend.97 Betrachten wir die Wohnungen der Mittelbauern,98 so stellen wir zumeist fest, daß auch hier Neubauten relativ selten sind. Akkumuliertes Kapital fließt — wie bei den Großbauern — zunächst in die Erweiterung der Wirtschaftsgebäude. Erst um die Mitte des 19. Jh. beginnt bei ihnen der Umbau und die Verwendung neuer Bauelemente mit der Tendenz, dem Ausstattungsstandard der großen und Großbauern nachzueifern, was ihnen bei entsprechenden Verdienstmöglichkeiten auch gelang. Es erübrigt sich hier also, auf die Ausstattung der Wohnungen einzugehen oder die Raumaufteilung zu schildern. Wichtiger ist vielmehr die Tatsache, daß bei zunehmender Konjunktur gerade die Mittelbauern bestrebt sind, die Einlieger aus ihren Häusern zu verdrängen, um das ganze Gebäude allein für sich benutzen zu können, wobei hier die „Altenteiler" noch mit zur Familie zu rechnen sind, während bei den Großbauern bereits die Tendenz sichtbar wird, für die alten Leute ein eigenes Haus zu errichten oder für sie ein Hofgebäude entsprechend umzufunktionieren. Bis ca. 1815 nehmen die Häuser der Landarmut relativ rasch zu. Es entstehen oft ganze Ensembles, eine gewisse Zahl von Häusler-Hofstellen, sofern etwas Besitz vorhanden ist, an freien Plätzen im Dorf oder verstreut. Durch die Bauten der „Neuanbauer" (Proletarier, Handwerker) in der ersten Hälfte des 19. Jh. kam „das zahlenmäßige Übergewicht dieser sozialen Schicht auch im Baubestand [der Dörfer] richtig klar zum Ausdruck. Es entstanden, da die Dörfer bereits sehr eng besiedelt waren, vielfach ganze Komplexe mit diesen kleinen Häuschen am damaligen Ortsrand, nahezu einen eigenen Gemeindebezirk bildend."99 (Bebauung auch der z. T. funktionslos gewordenen alten Gemeindeplätze.) Bei Anlage der Gebäude, die trauf- oder giebelseitig zur Straße standen, spielte vor allem die günstige Ausnutzung des zur Verfügung stehenden Hofraumes und der möglichst bequeme Zugang zu den Wirtschaftsräumen die entscheidende Rolle.100 Wie es in einem solchen Haus aussah, schildert der Kgl. Bauinspektor H E D E M A N N noch für 1850 folgendermaßen: „Die gewöhnliche Bauart dieser Häuser ist sehr einfach und besteht gewöhnlich aus einer Stube von 15—16 Fuß lang und tief, ein Flur von 8—9 Fuß breit, in dessen hinterem Theile die Heizung liegt, neben dem Flur noch eine Kammer von etwa 8 Fuß breit... Die Wände werden einmal verriegelt, gestakt und gelehmt, das Dach mit Schindeln oder Schoben gedeckt, der Fußboden mit Lehm gestampft, einige kleine Fenster in den äußeren Wänden angebracht, ein Schornstein von Ziegeln, oft sogar von Lehmpatzen mit Lehm aufgeführt, ein Öfen von Mauerziegeln auf der hohen Kante gesetzt, und die Wohnung ist fertig."101 Wir können es bei diesem Beispiel bewenden lassen, denn auch die Wohnungen der frühen Landarbeiter, der Tagelöhner etc. waren kaum anders. Kennzeichnend für sie alle ist die Enge, in der sich die Reproduktionssphäre nicht im entferntesten so ausdehnen konnte, 97

RÄCH, 1 9 7 4 : 6 2 .

98

„Die Wohnhäuser der .kleinenBauern' [aus der Zeit bis 1815] ... sind heute oft nicht mehr exakt zu bestimmen, da gerade dieser Teil der Bauernklasse..." später nur zu oft ins Landproletariat absank. RÄCH, 1974: 15.

99

RÄCH, 1 9 7 4 : 5 3 .

100

RÄCH, 1 9 7 4 : 5 3 .

101

RÄCH, 1 9 7 4 : 6 0 , A n m . 1 0 3 .

3

AK, Landarbeiter II

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Jacobeit/Nowak

wie wir es bei den Vertretern der bäuerlichen Klasse hatten feststellen können. Hier spielte sich in Flur, Küche, Stube, Kammer und dem Hausvorraum alles ab, und alle notwendigen Tätigkeiten wurden in diesen Räumlichkeiten 2usammengedrängt. Die Küchen waren infolge des offenen Schornsteins genau so wenig heizbar wie die Kammern, die durch Fehlen eines Kellers häufig genug auch noch als Vorratsraum zu dienen hatten. Die Wohnsituation war gerade im Winter besonders prekär, da sich das ganze Leben auf die einzige heizbare Stube konzentrierte, in der die Betten,102 möglicherweise auch noch ein Webstuhl den größten Platz einnahmen. — Erwähnenswert dürfte an dieser Stelle auch der Grudeherd, „die Grude", sein. Denn das auf ihr beruhende Kochprinzip des langsamen Dünstens und Garkochens von länger vorhaltenden, sättigenden Speisen mußte sich gerade dort und bei den Schichten entwickeln, bei denen auch die Frauen ständig zur Arbeit gehen mußten, die Kinder sich also selbst überlassen blieben, die Grude aber für warmes Essen sorgte. So wurde „die Zubereitung spezifischer, häufig angerichteter Speisen bald ,Tradition'" in der Börde bzw. setzte sich das Grudekochprinzip auch bei anderen sozialen Schichten durch.103 — Für die Zeit um 1800 ist eine Zusammenfassung aus der Diesdorfer Chronik über das Interieur einer Landarbeiterstube unter den hier gegebenen Verhältnissen sehr aufschlußreich und um so interessanter, als gleichzeitig Vergleiche zu wohlhabenderen Einrichtungen gezogen werden: „Die neugebauten Häuser waren allerdings recht ärmlich, einstöckig, meist nur mit 2 Stuben,und alle mit Strohdach... Man hatte weder Gardinen noch Stores, weder Trumeaus noch Vertikos, weder Teppiche noch Polstermöbel. Sofas mit Sprungfedern kamen überhaupt erst um 1840 auf, früher saß man auf heugestopften Kissen und Holzstühlen. Stühle mit Rohrgeflecht kommen auch erst seit etwa 1840 auf. Der Stolz der Hausfrau waren blankgeputzte Zinngeschirre, Messing- und Kupferkessel und vor allem die Truhen voll duftender Leinwand aus selbstgesponnenem Garn."104 Zur Landarmut zählten ferner die Einlieger, die, wie bereits festgestellt, mit zunehmender Herausbildung kapitalistischer Verhältnisse aus den Wohnungen der Bauern verdrängt wurden und nun meist in den schon überzählig belegten Häusern und Wohnungen anderer Schichten der Landarmut Aufnahme fanden. Aber auch das Gesinde gehörte zur Landarmut, das sich wie die Einlieger dadurch von den anderen unterschied, daß es über keine eigene Wohnung verfügte. So waren auf den Gütern und bei den Bauern bis etwa 1815 für die Knechte nur Schlafmöglichkeiten in den Ställen gegeben, und erst danach gab es — selten genug — Gesindekammern, die auch als Aufenthaltsraum genutzt werden konnten und zumeist über den Futterkammern waren. Bei den Mägden änderte sich kaum etwas, da sie schon im Spätfeudalismus in eigenen Kammern im Haus des Bauern gewohnt bzw. geschlafen hatten.106 Von einer Wohnweise bei den Einliegern und dem Gesinde im vorher erwähnten Sinne kann also kaum die Rede sein, da ihre Unterkünfte so gut wie ausschließlich der Reproduktion der Arbeitskraft durch Bereitstellung lediglich einer Schlafmöglichkeit dienten. 102

103

„Wesentlichste Aufgabe dieser Tagelöhnerwohnungen war ... die Beschaffung von ausreichendem Schlafplatz, denn das Schlafen war die Beschäftigung, die den meisten Zeitraum im Hause beanspruchte... Die Betten nahmen [daher auch] den größten Platz ein." RÄCH, 1974: 32 RÄCH, 1974: 64.

104

HUSCHENBETT, 1 9 3 4 : 4 0 f .

10 s

RÄCH, 1974: 21, 56.

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Zur Widerspiegelung der sozialökonomischen Entwicklung der Börde in bezug auf die Wohnweise der einzelnen Klassen und Schichten sind noch einige Sätze über die Bauhandwerker notwendig, deren Zahl, wie wir bereits festgestellt haben, durch die Gewerbefreiheit in den Dörfern rasch gewachsen war. Sie spielten also im Baugeschehen keine geringe Rolle, wenngleich gesagt werden muß, daß sich dieser Umstand erst am Ende unseres Untersuchungszeitraumes wesentlicher bemerkbar macht und dann auch vorwiegend auf die Bauten der bäuerlichen Klasse bezieht. Die Angehörigen der Landarmut und des Proletariats hingegen nahmen Bauhandwerker kaum in Anspruch und errichteten ihre Häuser in Pise-Bauweise meist allein oder mit Hilfe ihresgleichen. Wenn hier auch nicht in aller Ausführlichkeit die Rolle der Bauhandwerker behandelt werden kann,106 so dürfte mit am bedeutsamsten sein, daß sie es vor allem waren, die bei steigender Ausbildung an Bauschulen, bei der Zunahme an Fachliteratur etc. die städtisch-bürgerlichen Elemente etwa der Fassadenverzierung, aber auch die Verwendung neuer Baumaterialien ins Dorf brachten, d. h., daß sie es letztlich waren, die die traditionellen Hausformen — freilich auch begünstigt durch die feuerpolizeilichen Maßnahmen und andere behördliche Anweisungen — mit verdrängten. Für eine Landschaft wie die Magdeburger Börde mußte dies um so mehr zutreffen. Zusammenfassend können wir feststellen, daß bereits in unserem Untersuchungszeitraum die Wohnweise der großen und Großbauern durch Vorhandensein eines genügenden Raumvolumens hinsichtlich der Zugehörigkeit zur künftigen Dorfbourgeoisie geprägt wurde. Der Trend zur Separierung vom Gesinde, selbst von den „Altenteilern", war unverkennbar. Nach 1815 wurde — hierfür ganz typisch — das „Auszugshaus" fast überall üblich. Diese Tendenzen setzten sich — je nach den vorhandenen Möglichkeiten — namentlich bei den Mittelbauern fort, wenn diese auch noch keine speziellen Gebäude für die „Altenteiler" bauen konnten. Hatten sie aber vor 1815 den größten Einliegeranteil gehabt, so verdrängten sie diese Angehörigen der Landarmut jetzt, um mehr eigenen Wohnraum zu gewinnen. — Die Schichten der Landarmut wohnten in den stets überbelegten Unterkünften — ganz gleich welcher Art — am erbärmlichsten. Ihre Not auch in dieser Hinsicht mit den entsprechenden Konsequenzen für ihre gesamte Lebensweise wuchs seit den dreißiger Jahren des 19. Jh. mit der Zuckerrübenwirtschaft und mit zunehmender Ausbeutung. So gesehen ist — auf unseren gesamten Zeitraum bezogen— die hier dargestellte Wohnweise ein Teil der Wiedergabe der Lebensweise der für die Magdeburger Börde relevanten Klassen und Schichten unter den sozialökonomischen Bedingungen des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus.

Kleidung und Tracht „Die Bauernkleidung der Magdeburgischen Landbevölkerung hatte im Anfange des 19. Jh. ihre Blütezeit und höchste Vollendung erreicht. Schön, farbengrell und farbenfroh, charaktervoll, ausgesprochen heimatlich, so recht sinnig und innig sich in die Stimmung der Bördelandschaft einschmiegend, wundervoll in harmonischer Zusammenstellung. Es steckte Rasse in der Tracht unserer Altvorderen."107 So und in anderen Versionen kann man häufig weitschweifige Schilderungen der Bördetracht in der sogenannten Heimatliteratur 106

Zur zeitgenössischen Baupraxis vgl. RÄCH, 1974: 5 — 12 und 38—46.

lu'

HECHT, 1 9 0 7 : 2 4 2 .

3*

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seit Beginn des 20. Jh. lesen, und nur wenige gehen darauf ein, daß sich gerade in der Kleidung der sozialökonomische Entwicklungsprozeß und die daraus resultierenden unverkennbaren Klassengegensätze für unseren Zeitraum widerspiegeln. Ein wesentliches Indiz für die Einschätzung der Kleidung in der Börde dürfte zunächst die relativ enge Verbindung des Dorfes und seiner Einwohner zum nahen Magdeburg sein, d. h., daß der Einfluß der städtischen Mode — ob durch den direkten Einkauf oder durch die jeweiligen Dorfhandwerker vermittelt — sehr stark war, und es ist auffallend, daß sich namentlich in der reichen bäuerlichen Frauen- bzw. Hochzeitstracht die gleichen Schmuckelemente finden (protzige Bernsteinketten, Silberfiligran, silberne Knöpfe und Spangen aller Art), wie sie in anderen Gebieten auftreten, die in ähnlicher Weise wie die 'Börde einen rascheren Weg bei der Herausbildung kapitalistischer Produktionsverhältnisse gingen (z. B. Dithmarschen, Danziger Werder u. a.). Und gerade solche, die Wohlhabenheit ihrer Träger zum Ausdruck bringenden Schmuckelemente sind es, die mit dem hierfür gebräuchlichen Begriff der „Volkskunst" überhaupt nichts zu tun haben. Es waren jeweils von Handwerkern, z. T. auf Bestellung hergestellte Erzeugnisse108 bzw. in Manufakturen oder Fabriken gefertigte Produkte, die in gleicher Weise dem Schmuckbedürfnis (auch mit als Statussymbol verstanden) der weniger wohlhabenden sozialen Schichten in Dorf und Stadt dienten. In diesem Sinne schreibt auch STEGMANN : „So ist es [bei der engen Verbindung zur Stadt] verständlich, wenn der wohlhabende Bördebauer auch die flandrischen Modestoffe der Kauf- und Geschlechterherren zu tragen begehrte und von dem heimischen groben Tuche nichts wissen wollte."109 Ob und in welchem Maße man davon sprechen kann, daß sich die bäuerliche Tracht langsam aus der Einfachheit zu jener allgemein bekannten Formenmannigfaltigkeit im 19. Jh. entwickelte, müßte für die Magdeburger Börde noch näher erforscht werden. Ziemlich sicher dürfte sein, daß seit der Zeit der Französischen Revolution bzw. seit den französisch-westfälischen Reformen die bäuerliche Tracht eine besondere Entfaltung, z. T. durch die sich wandelnden Modeeinflüsse, erfuhr und damit als Zeugnis für den wachsenden Wohlstand in der Börde und die zunehmende Aufgeschlossenheit ihrer Besitzer — zumindest in bezug auf die großen Bauern — gewertet werden kann. Wenn auch der Höhepunkt der Trachtenentwicklung offenbar im ersten Drittel des 19. Jh. liegt, so zeigt doch schon CARSTEDS beinahe die Bördeverhältnisse verallgemeinernde „Die Schmucksac|hen, die im Magdeburgischen Lande getragen wurden, können sich getrost den besten Erzeugnissen der deutschen Goldschmiedekunst anreihen. Wir finden in den verschiedenen Halsketten, Ringen, Brustgehängen, Spangen, Schließen, Schnallen, Filigranarbeiten, den silbernen Kittelknöpfen usw. so allerliebste Formen, so entzückende Kleinarbeit, eine solche Anpassungsfähigkeit an den Geschmack und die Sitte der Gegend, daß es ein wahres Vergnügen für den Kenner ist, sich dem Studium altheimischen Bauernschmucks zu widmen. Am bekanntesten und beliebtesten waren die schweren Halsketten aus Bernstein, die Kralenschnur. Einzelne dieser geschliffenen Bernsteinstücke wogen bis 600, ja 700 Gramm und stellten ein beträchtliches Kapital dar. In gewissen Zwischenräumen kam der Kralenputzer auf die Dörfer und verlieh den blind gewordenen Stücken durch Putzen neuen Glanz. Beliebt waren ferner die Halsketten aus ,Mondscheinperlen'." HECHT, 1907: 253. 109 STEGMANN, (1936): 79. „Entzückende [!] Kleinarbeit lassen die vielfach auf den Magdeburger Dörfern getragenen Schmuckstücke aus Edelmetall erkennen: Halsketten, Brustgehänge, Ohrringe, Verschlüsse usw. Beliebt waren noch immer die schweren leuchtenden Bernsteinketten, die .Krallenschnüre'. Vielerorts ersetzte billiger Halsschmuck aus böhmischen Glasperlen die teueren Bernsteinstücke." STEGMANN, (1936): 87. 108

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Beschreibung der Atzendorfer Tracht, daß sie schon um die Mitte des 18. Jh. als recht repräsentativ bezeichnet werden kann: „Die Tracht der Männer bestand in einem langen blauen Futterhemde (eine Art Weste) ohne Taschen und Aufschläge, unter dem Futterhemd trug man ein Latz oder ein Brusttuch von allerlei Farbe. Des Sonntags wurde über dem Futterhemd ein langer, schwarzer, rotgefütterter Rock mit Aufschlägen getragen. Lederne Hosen, graue oder weiße Strümpfe und Schnallenschuhe vervollständigen die Mannestracht. Auf dem Kopfe saß beim Kirchgang der Dreimaster, die breite Seite nach vorn, daß man die Hutschnalle sehen konnte. Bei Reisen bediente man sich des Roqueleurs, eine Art Uberrock, wie ihn auch der Bürger des 18. Jahrhunderts trug ... Besonders reich war die Frauentracht. In den Werktagen ging alles, [angeblich] auch die Mägde im roten Friesrock, Mieder, blauer Schürze, schwarzer Mütze. Sonntags legte man prunkvollen Staat an: Seidene oder samtene Mützen, feine leinene, an den Ärmeln ausgenähte Halstücher, seidene Mieder, halbseidene Röcke, feine Nesseltuchschürzen, samtene, vorn mit Gold bestickte Handmuffen (eine Art Pulswärmer), rote, gewebte Strümpfe und Corduanschuhe."110 Mit dieser Beschreibung dürften die Grundelemente der Bördekleidung bzw. -tracht fixiert worden sein. Was sich in der Folgezeit ändert, ist in erster Linie die Verwendung von noch feineren und teureren Stoffen, die Zunahme an Zierat und modischen Designs aus der Stadt. Und es muß dabei ausdrücklich festgestellt werden, daß diese Zutaten, Ergänzungen, Verfeinerungen etc. sich vornehmlich auf die großbäuerliche Festtagskleidung konzentrierten. Die Klein- und Mittelbauern konnten hier nicht mithalten. Sie liehen sich häufig die notwendigen Utensilien, z. B. für die Hochzeitstracht, kopierten den echten Schmuck der großbäuerlichen Frauenkleidung durch Surrogate aus Blech oder Glas und versuchten so, dem Repräsentationsbedürfnis ihrer Klasse zu genügen.111 Als dann zwischen 1840 und 1870 auch die Bauerntracht ihrem Ende entgegenging, hatten die Angehörigen der Landarmut oder gar die Proletarier derlei Dinge nicht aufzugeben, da sie ohnehin keine bäuerliche Kleidung trugen und — sofern überhaupt vorhanden — auch zu festlichen Anlässen städtisch-kleinbürgerliche Anzüge und Kleider vorzogen.112 Zu den Stücken, die sich im ersten Drittel des 19. Jh. am meisten als Teile einer Prunkkleidung auszeichneten, gehörten die „Bostdäuker" (Brusttücher) der Frauentracht, die wohl in den seltensten Fällen von den Bäuerinnen selbst genäht und bestickt wurden, sondern beim Dorf- oder Stadthandwerk bestellt worden sind oder später ganz einfach im Laden gekauft werden konnten. Auch hier ist in der Ausstattung und Stoffverwendung der soziale Unterschied deutlich erkennbar, wie aus der folgenden Beschreibung hervor-

110

KRATZENSTEIN, ( 1 9 2 4 ) : 1 1 1 ; v g l . ferner CARSTED, 1 9 2 8 : 9 8 — 1 0 0 . F ü r die rasche A u f n a h m e -

bereitschaft modischer Neuerungen bzw. für das Ablegen modisch-gesellschaftlich überholter Dinge sei hier angeführt, daß der Dreispitz um 1815 durch den rauhhaarigen, zylinderartigen „Timpenhut" mit gebogener Krempe verdrängt wurde. In der Neuhaldensleber Gegend hatte sich zur gleichen Zeit eine als „Russenmütze" bezeichnete Kopfbedeckung mit Schirm eingebürgert, deren Ursprung auf eine Uniformmütze aus den Freiheitskriegen zurückging (STEGMANN, ( 1 9 3 6 ) : 8 5 ; MERBT, 1 9 5 6 : 2 0 2 ) . 111

Auch in der Verwendung der Stoffe gab es je nach der sozialen Lage der Betreffenden die folgende Abstufung: Die ärmeren Frauen trugen Kattun, die der Mittelbauern Dreiviertelseide und erst die reichen Besitzersfrauen ließen aus schweren Tuchen und aus Samt arbeiten. Nach

112

HECHT, 1 9 0 7 : 2 4 3 ; STEGMANN, ( 1 9 3 6 ) : 7 7 .

HOLLOP, ( 1 9 2 4 ) : 4 7 .

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geht: „Die Bostdäuker sind quadratisch. Je nach Reichtum mißt eine Seite 80—100 cm. Die Ärmeren durften sich Satin leisten, die Mittleren Dreiviertelseide, die Reichen Seide und Samt. Eigentümlich ist nun die zweifache Stickerei. Das kennzeichnet auch die strenge Überlieferung. Ein Bostdauk muß dreieckig zusammengeklappt werden. Dann zeigt eine Seite den schwarzen Untergrund mit weißer Seidenstickerei. Diese Seite wurde in Zeiten tiefster Trauer getragen. Die anderen Seiten zeigen mehr Leben. Sie waren entweder der Halbtrauer oder der Freude zugeeignet. Das Halbtrauertuch zeigt Blumen in weiß, blau und lila. Zum Fest entwickelte die dritte Seite höchsten Glanz. Alle Farben treiben ihr Spiel miteinander. Die Armen leisteten sich gestanzten Blechschmuck als Flitter. Die Reichen hatten ihre Tücher mit Gold und Silber durchstickt. Die Bostdäuker aus Samt sind meistenteils nur dreieckig. Sie zeigen entweder die Freudenseite oder die Trauerseite... Die Bostdäuker verdeckten fast ganz die Bluse oder das Wamms. Sie war daher ohne Schmuck. In das Futter waren aber 1/2 cm starke Fischbeinstäbe eingenäht, weil diese sehr knapp sitzen mußten. Kragen fehlt, weil Hals für Kralenkette frei bleiben muß."113 Ein weiterer, attraktiver Bestandteil der bäuerlichen Frauenkleidung dieses Zeitraumes waren die Kopfbedeckungen, die immer wieder als „wahre Wunder bäuerlicher Kunst"114 beschrieben werden, in Wirklichkeit aber von der in fast jedem Dorf wohnenden „Mützenmakerschen", also einer Putzmacherin, angefertigt wurden. „Verstand diese ihre Kunst gut und meisterlich, so hatte sie meilenweit in der Runde ihren Kundenkreis." 115 Eine dieser Kopfbedeckungen war die Schnabelmütze oder spitzbäckige Haube, über deren Herstellung durch eine „Mützenmakersche" HOLLOP den folgenden Bericht gibt: „Sie hatte dazu eine Kopfform aus Holz. Um diese Form wurde die Pappe gedrückt und gebunden. Wenn sie trocken war, hatte sie die Kopfform. Es wurden dann drei Schnäbel herausgeschnitten. Einer lief vom Scheitel zur Stirn. Die beiden anderen gingen über die Ohren und endeten bei den Schläfen. Die rohe Pappe wurde mit Satin überzogen. Die Schnäbelränder waren mit kleinen weißen Rüschen besetzt. Da nun der Hinterkopf kahl war, so wurden Schleifen angesteckt. Diese Bänder waren von bester Güte. Ein solches Band ist aus Seide, gänzlich mit Gold durchwirkt und hat eine stolze Länge von zwei Metern. In der Mitte ist es zu einem rechten Winkel genäht. Neben dem Winkel liegen etwa 6—10 Falten. Die freien Enden hängen den Rücken herunter. Die Hauben der Armen hatten wohl einfache Seidenbänder, die den Dißbändern sehr ähnlich sahen."116 Da diese Utensilien recht kostbar und teuer waren117 und nicht täglich getragen wurden, verwahrte man sie in den Hauben- oder Mützenschachteln. Sie waren in jedem größeren Laden zu erstehen118 und wurden erst später unter ästhetisierender Betrachtung als Volkskunst deklariert, obwohl (1924): 50; vgl. auch HECHT, 1907: 249f. STEGMANN erklärt, daß die im städtischen Laden zu kaufenden Tücher als Fabrikware an Schönheit hinter den handgestickten Tüchern zurückgeblieben seien. STEGMANN, (1936): 86.

113

HOLLOP,

114

V g l . MERBT, 1 9 5 6 : 2 0 4 .

115

MERBT, 1 9 5 6 : 2 0 4 ,

116

HOLLOP, (1924): 48. Besonders prunkvoll war die Ausstattung bei den großbäuerlichen Hochzeiten, und oft wurde für Material und Herstellung nur einer Brautkrone ein Betrag von 100 Talern berechnet. „Oft mußte der halbe Ernteertrag den Kaufleuten überlassen werden, um die Hochzeitskleider bezahlen zu können." HECHT, 1907: 252f.

117

118

HECHT, 1 9 0 7 : 2 5 1 .

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sie von Heimarbeitern hergestellte und von Verlegern und „Manufacturiers" verbreitete Massenerzeugnisse waren. Wir haben hier vorwiegend von der großbäuerlichen Tracht gesprochen, die in den Quellen und in der Literatur ausführlich beschrieben worden ist. Kaum wissen wir jedoch etwas über die Kleidung der Landarmut und des Proletariats dieser Bördelandschaft. Daß die Tracht im eigentlichen Sinne Requisit allein der bäuerlichen Klasse war und bis zur Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse auch blieb, dürfte unzweifelbar sein. Landarmut und Proletariat aber, denen der Zugang zur bäuerlichen Klasse ohnehin versperrt war, die auch zunehmend vom bäuerlichen Haushalt separiert wurden, hatten gar keine, auch nicht die finanziellen Möglichkeiten, zu besonderen Festlichkeiten etwa Trachten zu tragen. Es war daher nur zu selbstverständlich, daß sie es in der Tat waren, die als erste städtische Kleidung im Dorf trugen. 119 Wie weit Tracht-Tragen bäuerliches Status-Denken beeinflußte und prägen konnte, mag daraus ersichtlich werden, daß man am Unterlauf von Bode und Saale noch um 1840 nicht gern über die Flüsse hinüber zu heiraten pflegte, „weil damit die Aufgabe der lieb gewordenen [Börde-]Tracht mit ihrem oft recht kostbaren Schmuck verbunden war". 120 Wenn wir uns des Eingangszitats zu diesem kurzen Abriß über Kleidung und Tracht erinnern, so können wir den Schluß ziehen, daß von den dort geschilderten „Gefühlswerten" in der Realität kaum etwas festzustellen ist. Das Repräsentationsbedürfnis überwiegt und entspricht in diesem Punkt der Eigenart des reich gewordenen Bördebauern, der selbst nicht mehr im Sinne des volkskünstlerischen Schaffens kreativ ist, der diesen fast ausnahmslos durch Handwerker und deren Fähigkeiten bestimmten Prozeß nur noch als Konsument mit beeinflussen kann, und dies in zunehmendem Maße nach städtisch-bürgerlichem Vorbild und Status. Auf der anderen Seite aber ist es wiederum der Handwerker und sind es auch Manufaktur und Fabrik, die den Bauern durch Anpreisen von eigens gefertigten Trachtenteilen in möglichster Buntheit und bei hohem Preis zum „Mitmachen" bei einer hypertrophen Trachtenrenaissance als ihr Geschäft verleiten bzw. beeinflussen, denn in Wahrheit ist die Tracht schon in unserem Zeitraum, wenn sie auch ihren Höhepunkt in der Magdeburger Börde erlebt, von der sozialökonomischen Entwicklung her gesehen, ein Anachronismus. 121 Eigentlich nur das Zur-Schau-Tragen-Wollen protzigen Reichtums durch die großen und die Großbauern — angestachelt durch Handwerker und Kaufleute — ist die Triebkraft für ihre Kulmination, d. h. einer ihrem Ende zueilenden Entwicklung. Wie sehr sich das Verhältnis zu diesem im Eingangszitat so verherrlichten Tracht-Tragen gewandelt hat, als der Zuckerrübenanbau auch dieses Überbleibsel einer feudal bestimmten Ordnung hinwegfegte, mag damit belegt werden, daß bis auf die Bernsteinketten am Ende des 19. Jh. vom Schmuck der Bördetracht aus den dreißiger Jahren nur noch wenig anzutreffen war. „Das übrige Geschmeide hat größtenteils sein Ende beim Goldschmied wieder gefunden, der es einschmolz und ,moderne' Sachen daraus arbeitete."128 119

In dieser Weise gesehen, ist das Tracht-Tragen allein durch die Bauern nicht nur eine Frage der finanziellen Möglichkeiten. Es ist vielmehr ein Klassenproblem, das entsprechend eingeschätzt werden muß.

12» WINTER, 1 8 7 4 B : 9 8 . 121

Die mit den Fragen der Volkskunst zusammenhängenden Probleme sind ausführlich dargestellt bei: NOWAK, 1968. HECHT, 1 9 0 7 : 2 5 4 .

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Nahrung und Ernährungsweise Neben Wohnung und Kleidung sind Nahrung und Ernährungsweise ein weiteres Element, an dem Aufschlüsse über das Verhältnis von materiellen Lebensbedingungen und Lebensweise gewonnen werden können. Wenn wir uns jetzt diesem Bereich zuwenden, so können wir feststellen, daß die Kost im allgemeinen zwar deftig, aber nicht gerade üppig war. Eine Ausnahme bildeten hier — und das vorwiegend aus Repräsentationsgründen erklärbar — vor allem die großbäuerlichen Gastereien bei Hochzeit und Taufe, die fast durchweg als reine Völlerei und geradezu Verschwendungssucht geschildert werden. Davon abgesehen möchte man fast meinen, daß sich die Alltagskost in der Börde während unseres Untersuchungszeitraumes qualitativ kaum von der anderer Landschaften abhebt und unterscheidet. Auch der städtische Einfluß scheint hier nicht allzu groß gewesen zu sein, denn am Anfang des 19. Jh. lebten die Bauern noch weitgehend autark. Die wenigen Kram- und Kaufläden wurden in erster Linie von der Dorfarmut frequentiert und hatten ein weites Einzugsgebiet. Daß allerdings gerade die wohlhabenden Bauern von ihren Verbindungen zur Stadt insofern Gebrauch machten, als sie auf den Märkten und in den Kaufläden die Dinge „en gros" einkauften, die sie selbst nicht produzierten, die sie aber durchaus schon als notwendigen Bestandteil der Lebensweise der jeweiligen Zeitperiode benötigen zu müssen glaubten — und das waren mehr Luxuswaren, wie der feine Tabak „lasijäna" (aus Lousiana stammend), Spirituosen u. a. —, daß auch die Bauernfrauen beim Verkauf ihrer Produkte auf den magdeburgischen Märkten, wo sie übrigens in ihrer malerischen Tracht das Marktund Straßenbild ungemein belebt haben,128 die Gelegenheit nutzten, um selbst einzukaufen — sogar Brot sollen sie bisweilen mitgebracht haben —, gehört mit zu diesen Gewohnheiten der Angehörigen der bäuerlichen Klasse. Dennoch galt für die Börde noch bis in unseren Untersuchungszeitraum hinein die dörfliche Gewohnheit, daß am gemeinsamen Tisch die Morgenkost in Form von Mehlsuppe oder Brei eingenommen wurde. Kaffee gab es bestenfalls am Sonntag Nachmittag, und die Sonntagsgerichte wiederholten sich ständig in einem solchen Maße, daß man oft in jedem Haushalt die gleichen Gerichte vorfinden konnte, und dies waren vor allem „Bratgen un Klump", „Suern Kohl un Klump" und im Winter außerdem „Braunkohl und Klump".124 Diese Speisenzusammensetzung und vor allem der „Klump" ist für die Börde noch lange Zeit typisch gewesen und ohne die Grude nicht denkbar. Was ist das Besondere an „Bratgen un Klump"? Birnen, Pflaumen, Rosinen ( = Bratgen) wurden mit Speck, geräucherten Rippchen etc. geschmort. Im gleichen Topf wurde dann über den Bratgen und dem Fett eine Art Hefekuchen in der Weise gar gebacken, daß nach dem Prinzip des Grudekochens der ganze Topf mit glühender Asche umgeben wurde und sein Inhalt so gar werden konnte. „Uberhaupt spielte der Klump in den [damaligen] Haushaltungen eine ganz hervorragende Rolle. Es gab in vielen Ortschaften keine Mahlzeit, zu der man nicht Klump genoß, ganz gleich, ob heiß oder kalt, ob zur Suppe, zum Braten, züm Frühstück oder zum Vesperbrot."125 Neben diesen Klumpspeisen waren auch Hülsenfrüchte wichtig, die man als dicke Breie aß. Wie groß MS

Vgl. hierzu in bezug auf die Vierländer Bäuerinnen in Hamburg auch BAUCHE, 1 9 7 3 , und BAUQHE, 1 9 7 5 .

124

HECHT, 1907a: 67. HECHT, 1 9 0 7 a : 7 0 .

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hiervon der Verbrauch war, mag aus einer Zusammenstellung von 1798 aus Ummendorf

hervorgehen, wo auf dem ZiMMERMANNschen Hof für den eigenen Bedarf nicht weniger als 200 Pfd. Erbsen, 225 Pfd. Linsen und 300 Pfd. Bohnen angebaut wurden.126 Was die Getränke anlangt, so war der „Kovent" oder „Bräuhahn" als ein meist selbst gebrautes, aber auch durch Brauereien (vor allem in Egeln) hergestelltes Bier sehr beliebt, namentlich in der Erntezeit.127 Im Prinzip war auch das Essen zu den Hochzeiten zunächst einmal recht einförmig — meist war Hühnersuppe und Schweinebraten mit „rismaus" das traditionelle „Gedeck" —, wenn auch quantitativ sehr reichhaltig, und es dauerte lange, bis s;ch der Bauer daran gewöhnte, sich am städtischen Vanille-Eis nicht die Zähne zu „verbrennen" oder eine BaiserTorte nicht mit den Worten von sich zu schieben: „Waik'n Kese kömmwe te hüse ok et'n."128 Bildung und Schule Zur Ausprägung einer bestimmten Lebensweise gehört nicht zuletzt der Bildungsgrad der jeweiligen Klassen und Schichten. Dieser spielte in unserem Untersuchungszeitraum eine besondere Rolle; ohne dessen Kenntnis können zahlreiche Erscheinungen, die bereits behandelt wurden und noch zu behandeln sind, nicht erklärt werden. Wichtige Aufschlüsse über die geistigen Verhältnisse bei den großen Bördebauern um 1800 enthält z. B. der Bericht eines „reisenden Dorfpredigers": „Der hiesige Bauer liebt Lektüre. In den Dörfern, die zunächst um Magdeburg liegen, finden sich sogar Lesegesellschaften, die mit vielem Eifer unterhalten werden. Hie und da trifft man wirklich helldenkende und solide Bauern an, die Bewunderung erregen. Haben sie einen vorzüglich guten Prediger, so zeichnen sie sich die Hauptsätze seiner Rede auf und sprechen darüber mit vieler Klugheit. Zeitungen und Journale werden fast in jedem Dorfe gelesen, und die meisten Einwohner räsonnieren nach ihrer Art mit Eifer über die neuesten politischen Begebenheiten. In den Gasthöfen findet man Tabellen [Karten] von den vorzüglichsten Städten in Europa, besonders von denen, die in den Zeitungen vorkommen, so daß, wenn ihnen ein Ort fremd ist, sie sich gleich aus der Tabelle Rats holen. In den Schulen wird die Jugend außer dem Christentum, Rechnen und Schreiben auch in der Geschichte, Geographie und Naturgeschichte unterrichtet. Die Schullehrer sind in dieser Gegend oft sehr gebildete Männer... Die meisten Schulstellen nähren ihren Mann, so daß er kein Nebenhandwerk zu treiben braucht.129 Viele Bauernsöhne sind in Magdeburg iauf der Schule gewesen und haben nachher den Hof ihres Vaters übernommen oder ein Gut erheiratet. Aus dem Gesagten erhellet, daß man hier allerdings viele Bauern finden kann, die vernünftig denken und urteilen und in ihrem Stande Kenntnisse besitzen, die man bei ihnen nicht sucht. Der Umgang mit den Magdeburgern, den sie sehr suchen, trägt auch zu ihrer Bildung gewiß nicht wenig bei. Außerdem sind sie sehr aufmerksam, und es ist ein wahres Vergnügen, die Attention dieser Leute zu bemerken, wenn man ihnen etwas aus der Geschichte, Erdbeschreibung, von den Gebräuchen der Völker usw. erzählt. Die mehresten sind Freunde 126

HECHT, 1 9 0 7 a : 7 1 .

127

V g l . u . a. HUSCHENBETT, 1 9 3 4 : 4 3 .

128

WEGENER, 1878/79: 193. Andere Quellen berichten — wie noch zu zeigen sein wird — das Gegenteil.

128

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Jacobeit/Nowak

der Religion und der Andacht. Ernst herrscht auf ihrem Gesichte in der Kirche. An den Feiertagen beschäftigen sie sich mehrere Stunden mit Andachtsübungen. Ihr Gesinde halten sie ebenfalls 2ur Kirche an. Der allgemeine Charakter des Landmannes ist gut. Indessen läßt sich doch mancher von der Sinnlichkeit beherrschen und zu mancherlei Ausschweifungen verleiten. Das Gesinde ist roh, oft grob und vielerlei Lastern ergeben." 130 Was hier in dem Bericht des zeitgenössischen Chronisten festgestellt wird, ist der Umstand, daß die Bördebauern — und hier handelt es sich um große Bauern, die es sich bereits leisten können, ihre Höfe nur noch durch Anweisungen zu leiten und nicht unbedingt selbst mit Hand anlegen zu müssen — nicht nur ein auffallend hohes Grundwissen besitzen, sondern es auch zu artikulieren, anzuwenden und zu erweitern verstehen. Das bedeutet, daß ihnen bereits Bildungschancen auf Grund ihrer guten sozialökonomischen Situation gegeben waren, die ihnen auch eine weitere Sonderstellung gegenüber Angehörigen anderer sozialer Schichten — auch denen ihrer eigenen Klasse — einräumten, die es ihnen gestatteten, ihre Kinder entsprechend ausbilden zu lassen, und die es ihnen vor allem ermöglichten, ihre Landwirtschaft nach den für die damalige Zeit neuesten wissenschaftlichen und ökonomischen Grundsätzen zu führen. Man wird also behaupten dürfen, daß der reiche Bördebauer in diesem Bildungsbereich seiner Lebensweise und unter den Bedingungen seiner Zeit ein durchaus „aufgeklärter" Mensch war, der als Produktivkraft im Sinne der kapitalistischen Entwicklung wirksam sein konnte, auch wenn durch sein größeres Wissen und seine Bildungsmöglichkeit sein „Standesdünkel" stieg. Fragen wir indessen nach den damals gegebenen Bildungsmöglichkeiten, die für diese Schicht der Bördebevölkerung gegeben waren, so sind die Berichte über die Schulverhältnisse sehr unterschiedlich, und es liegt die Annahme nahe, daß sich die reichen Bauern auch schon am Ende des 18. Jh. Hauslehrer halten konnten, die Geistlichen des Dorfes um spezielle Unterrichtung ihrer Kinder baten oder diese auch einfach in die nahe Stadt mit ihren besseren Bildungsmöglichkeiten schickten. Hierüber müßten noch intensivere Forschungen angestellt werden, da die Frage der Bildungschancen ganz offensichtlich diffiziler ist, als es die Berichte über negative und kümmerliche Schulverhältnisse etc. auf den ersten Blick erkennen lassen, wie sich aus dem Bildungswesen überhaupt wichtige Rückschlüsse auf Vorstellungen und Weltbild der werktätigen Klassen und Schichten ergeben. — Und in welchem Maße die Bildungsmöglichkeiten der Bevölkerung gerade in der Zeit nach 1848 die staatlichen Organe beschäftigten, geht wiederum aus den Bestimmungen des „Handbuchs für die Polizeiverwaltung im Regierungsbezirk Magdeburg" von 1860 hervor, nach denen die Gewerbepolizei u. a. denjenigen besondere Beschränkungen auferlegt hatte, die sich „zur Abfassung schriftlicher Aufsätze für Andere" anboten. In gleicher Weise ist es aufzufassen, wenn Beschränkungen für den Buchhandel ausgesprochen wurden, wenn es immer wieder neuer Genehmigungen für die Betriebe der Buch- und Kunsthändler, der Buch- und Steindrucker, für Inhaber von Lesekabinetten, für Verkäufer von Zeitungen, Flugschriften, Bildern, für Händler von Musikalien und Gesangstexten bedurfte. Desgleichen wurde der Verkauf von „selbstgebundenen Schul-, Gebet- und Erbauungsbüchern, auch gebundener und broschierter Hauskalender" von einer entsprechenden Konzessionserteilung abhängig gemacht. 131 Trotz dieser Beschränkungen bzw. Verbote für den Vertrieb von Literatur im allgemeinen — Bestimmungen, die seit Jahrzehnten immer wiederholt wurden — gelang es insbesondere den großen Bauern, aber auch anderen 180 131

Zit. nach HUSCHENBETT, 1 9 2 8 : 1 5 7 f . MERTZ, 1860: 378f. (Tit. X X V , § 24).

Lebensweise der werktätigen Dorfbevölkerung (etwa 1780—1830)

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Teilen der Bevölkerung, ihr Bildungsbedürfnis einigermaßen zu befriedigen. Für das Verständnis der Gesamtsituation der Zeit, die wir hier behandeln, ist dieser Umstand von nicht zu unterschätzender Bedeutung und typisch für den Übergangscharakter der Epoche zwischen Feudalismus und Kapitalismus. Verkennen dürfen wir freilich nicht, daß die eigentlichen Bildungschancen für die Kinder der Dorfarmut und des Proletariats ungleich schwerer waren als für die Knaben und Mädchen der bäuerlichen Klasse. Einmal waren sie gezwungen, zumindest in Zeiten der Arbeitsspitzen, die Eltern bei der Tagelöhnerarbeit zu unterstützen bzw. den verschiedenen Möglichkeiten der Fabrikarbeit nachzugehen und damit die Schule bewußt zu versäumen; zum anderen waren die äußeren Schulverhältnisse selbst, die Betätigung der Lehrer, die völlig ungenügenden Lehrpläne und der Einfluß der Obrigkeit bzw. der Streit zwischen den reaktionären Auffassungen etwa des Ministers W Ö L L N E R und den aufklärerischen Ideen PESTALOZZIS und seiner wachsenden Anhängerschaft triftige Gründe für die mangelnden Bildungschancen der Kinder aus den unteren Sozialschichten. Einige Beispiele mögen diese Feststellungen verdeutlichen: Bezeichnend dafür, daß in den Dörfern eigentlich nur vom späten Herbst ab, also in den Wintermonaten, ein halbwegs kontinuierlicher Schulbesuch möglich war, ist das in der Börde verbreitete Sprichwort „Okuli steckt de Bücher by".132 In der Tat war der Schulbesuch in den Sommermonaten so gering, daß die Kinder, wenn überhaupt, nur ein bis zwei Stunden zur Schule kamen, und es ist,, wie in Niederndodeleben, vorgekommen, daß tageweise gar kein Kind anwesend war (1809). Natürlich machte man sich behördlicherseits darüber Gedanken, drohte den Eltern mit Strafe für den versäumten Schulbesuch ihrer Kinder, aber trotz allem zählte gerade bei der Dorfarmut und beim Proletariat die Arbeitskraft des Kindes mehr; ja der Schulbesuch ging noch weiter zurück, als die Zuckerrübenwirtschaft in Gang kam und die Unternehmer „ganze Scharen von Schulkindern beim Verziehen und Hacken auf dem Felde beschäftigten, nicht bloß werktags, sondern auch sonntags". Dies gilt in gleicher Weise für die Pflege der Zichorie wie für die Übernahme von Fabrikarbeit.133 Ein markantes Beispiel bietet für die Zeit um 1830 das stadtnah gelegene Diesdorf, von dem es in der Ortschronik heißt: „In hiesiger Gemeinde sind alle arm, die nicht Grund und Boden besitzen. Kinder solcher Eltern zum vollen Schulbesuch zu zwingen, ist unmöglich, viele Arbeiten können gerade kleine Kinder am besten verrichten, sie müssen im Felde helfen, auch jüngere Geschwister warten."184 Die Berichte über schlechte äußere Schulverhältnisse bzw. über die mangelnde Ausstattung der Schulräume sind auch aus anderen Territorien ähnlich und zu bekannt, als daß sie hier näher beschrieben werden müßten. Nur hervorgehoben sei, daß es in erster Linie wieder die Kinder der Landarmut und des Proletariats betraf, die bei ohnehin schon beschränkter Stundenzahl unter den oft erbärmlichen Zuständen — Ausnahmen bestätigen die Regel! — am meisten zu leiden hatten. 132

VORBRODT, 1 9 2 0 : 4 6 .

133

HUSCHENBETT, 1 9 3 4 : 7 7 .

184

HUSCHENBETT, 1934: 77. Zu welchen Folgen schon zehn bis fünfzehn Jahre später die Kinderarbeit führen konnte, zeigt folgender Satz aus einer unternehmerischen Mahnung, Kleinkinderbewahranstalten einzurichten, denn „sie sind nöthig und entstehen immer mehr, Großkinderbewahranstalten [jedoch] sind eine Forderung unserer Zeit [um 1850] und dürften die Rettungshäuser und Zwangsarbeitshäuser mehr und mehr entbehrlich werden lassen." Ackerbauschulen..., 1853: 365ff.

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Hierzu gehörten auch die in gleicher Weise lamentablen Verhältnisse, unter denen die Lehrer zu einem großen Teil zu leben gezwungen waren. Schon 1780 schrieb der Garnisonsprediger ZUNKER in seinem „Handbuch der gemeinnützigen Kenntnisse" über das Verhältnis zwischen Dorfschullehrern und großen Bauern: „Bedauernswert sind überhaupt viele Dorfschulmeister zu jetziger Zeit, wo der Landmann sich durch fortwährend gute Getreidepreise zu immer größerem Wohlstande hebt und gewöhnlich diejenigen als weit unter sich betrachtet, welche nicht in eben dem Wohlstande stehen wie er; wenn sie, um sich und ihre Familien kümmerlich durchzubringen, sich aus Not zu allen Handarbeiten verstehen, welche sie nur einigermaßen leisten können, daß sie, wie uns Beispiele bekannt sind, Gefäße binden, in der Ernte mähen und hierdurch wahre Handarbeiter der Bauern werden und sich das von ihnen wieder verdienen müssen, was ihnen am Schulgeld unverantwortlich abgebrochen wird." 138 Die materielle Basis für die Lehrer war auch in der Börde das von den Eltern an die Lehrer zu zahlende Schulgeld, das diese meist noch wöchentlich, von Haus zu Haus ziehend, einzutreiben versuchten. Um 1800 hatte das zuständige Magdeburger Konsistorium als Existenzminimum für Lehrer 100 Taler jährlich angesetzt. „Unter diesem blieben aber 175 Stellen zurück; davon hatten 52 ein Einkommen von weniger als 50 Thlrn." 186 Es ist daher nur zu verständlich, wenn unter der dörflichen Lehrerschaft in unserem Untersuchungszeitraum eine große Fluktuation herrschte und daß die Notwendigkeit zusätzlichen Verdienstes, u. a. durch Singen bei Taufen, durch Schreiben von Gevatterbriefen, durch Übernahme der Funktion eines Hochzeitsbitters, durch Glockenläuten und Wecken des Gesindes, durch das Neujahrssingen, das nichts weiter als Bettelei war, genutzt werden mußte.187 All dies war aber dem ohnehin schon unzureichenden Schulunterricht unzuträglich, und es kommt außerdem hinzu, daß nicht auf dem Konsistorium ausgebildete Lehrkräfte das Schulamt übernehmen konnten, wie z. B. Berufsschneider, denen FRIEDRICH WILHELM I. bei Übernahme des Lehramtes gewisse Privilegien eingeräumt hatte.188 Was nun die Lehrpläne anlangt, so galt bis zu den französisch-westfälischen Reformen das alte Landschulreglement von 1763, das den Kindern nicht viel mehr als die Anfangsgründe des Lesens, Schreibens und Rechnens vermittelte, sie aber dafür umso mehr in Religions- und Katechismuslehre unterwies. (Entsprechende Originallehrpläne sind vorhanden.)189 Als sich um die Jahrhundertwende und unter dem Einfluß der Französischen Revolution auch unter der Lehrerschaft der Bördedörfer aufklärerische Gedanken im Sinne PESTALOZZIS Bahn brachen, war es kein Geringerer als der in landwirtschaftlichgewerblichen Fragen sonst so aufgeschlossene Staatsminister WÖLLNER, der „das bekenntnismäßige Christentum im Gegensatz zur Aufklärung durch staatlichen Zwang auf Kanzel und Katheder wiederherzustellen oder aufrecht zu erhalten" suchte. Hierfür wurde eigens eine Revisionskommission für den Religionsunterricht auf den höheren Schulen Magdeburgs gebildet. „Um die niederen Schulen kümmerte sich die Revisions-Kommission gar nicht, weil sie wußte, daß hier die Gefahr der Aufklärung nicht vorlag." 140 In welchem Umfang die Zugehörigkeit der Börde zum Königreich Westfalen einen Ein186

VORBRODT, 1 9 2 0 : 4 4 F .

136

VORBRODT, 1 9 2 0 : 4 1 f .

187

Vgl. u. a. VORBRODT, 1920: 36;

188

VORBRODT, 1 9 2 0 : 3 6 .

1938: 314ff.;

189

BOCK,

140

VORBRODT, 1 9 2 0 : 2 8 .

MAGNUS,

LAUMANN,

1881: 22ff.

1927: 33ff.;

GARKE,

1930: 21.

Lebensweise der werktätigen Dorfbevölkerung (etwa 1780—1830)

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fluß auf das Unterrichtswesen hatte, läßt sich offenbar noch nicht feststellen. Sicher dürfte aber sein, daß der Geist der Aufklärung sich rascher ausbreiten konnte, denn nicht ohne Grund beeilte sich der eingesetzte preußische Zivilgouverneur für das Herzogtum Magdeburg, „unter dem 14. Juli 1814 darauf hinzuweisen, daß das alte Landschulreglement vom 12. August 1763 nach wie vor zu Recht bestehe".141 Dennoch sah sich 1815 die preußische Regierung zur Beantwortung der Frage gezwungen: Hat die Volksbildung Grenzen oder nicht? Der König beantwortete die Frage so, daß „zwar die religiöse und sittliche Bildung keine Grenzen kenne, wol aber die Ausbildung für das gewöhnliche Leben". Und hier galt das Wort des ehemaligen Hofpredigers SACK, „daß man besonders bei den Kindern der Landleute mit der notdürftigen Ausbildung für den spätem Stand als Landmann, Arbeiter u. s. w. zufrieden sein müße".142 Gegen die Erweiterung der Lehrpläne nach Ideen PESTALOZZIS schrieb der König: „Man erzeigt dem Menschen und der menschlichen Gesellschaft keine Wohltat, wenn man über die Gränzen seines Standes und Berufes hinaus ihn belehrt und ihm Kenntnisse beibringt, die er nicht braucht, und Ansprüche und Bedürfnisse anregt und weckt, welche zu befriedigen seine Lage nicht gestattet... Offenbar ist über das jetzt lebende Geschlecht ein trüber Geist der Unruhe und Aufgeregtheit, der Zerrung und des Jagens, gekommen. Ein Stand will es dem andern gleich und zuvor thun und ein Jeder will über seine Grenzen hinaus. Woher dieser Drang mit seinen Stacheln?"143 Aber diese reaktionären aus der Zeit des Feudalsystems stammenden Vorstellungen wurden mehr und mehr durchlöchert, und überall zeigte sich Widerstand z. B. gegen solche Maßnahmen, wie „Sittengerichte" über das Verhalten der Jugend einzuführen oder „Sittentafeln" in den Schulen aufzuhängen u. a. m. Der Protest gegen solche Versuche — und hierzu gehörte auch die Zwangskatechisation der schon konfirmierten Jugend — nahm solche Ausmaße an, daß sich z. B. Handwerksgesellen — wie für Hadmersleben belegt ist — sträubten, zu den dortigen Meistern zu ziehen, daß sich das Gesinde andere Arbeitsorte suchte und junge einheimische Männer sich vorzeitig zum Militärdienst meldeten, um diesen Katechisationen zu entgehen. Diese hatten bereits in westfälischer Zeit an Bedeutung verloren, ihre Wiederbelebung wurde nun von der Jugend als Kennzeichen der wieder erstandenen Reaktion aufgefaßt und in entsprechender Weise bekämpft.144 Im ganzen aber wird man sagen dürfen, daß sich das Bemühen um einen erweiterten und verbesserten Unterricht im Sinne PESTALOZZIS und der Aufklärung durch allgemein belehrende Bücher, durch Verbesserung der Unterrichtsmethoden, durch Einführung auch eines gewissen musischen Unterrichts, zumindest auf dem Gebiet des Gesanges, nicht mehr unterdrücken ließ und sich seit der Mitte des 19. Jh. immer stärker durchsetzte, dann freilich auch schon gestützt und gefördert durch die handwerklichen Bildungsvereine und die ersten Organisationen der Arbeiterklasse. Bis dahin war der Spielraum für höhere Bildungschancen der Landarmut und des Landproletariats nicht groß,, weil er lediglich auf die Institution der Dorfschule gegründet war, die unter Leitung eines vom reaktionären Staat abhängigen Konsistoriums arbeitete und den Kindern nur das AUernötigste vermittelte. Demgegenüber standen den Angehörigen der bäuerlichen Klasse mit ihren besseren Bil111

DANNEIL, 1 8 7 6 : 2 6 9 .

142

DANNEIL, 1 8 7 6 : 2 6 1 .

143

Z i t . n a c h DANNEIL, 1 8 7 6 : 2 6 1 .

144

DANNEIL, 1 8 7 6 : 2 7 3 .

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dungsmöglichkeiten im Verlauf der Entwicklung auch weitere Institutionen 2Ur Verfügung, in denen sie lernen und sich beraten konnten, in denen sie durch Erfahrungsaustausch andere effektivere Arbeitsmethoden und Arbeitsgeräte kennenlernten u. a. m. Wir meinen damit die landwirtschaftlichen Vereine vornehmlich am Ende unseres Untersuchungszeitraumes, die einen sehr großen Anteil an der Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte hatten — gedacht sei nur an den 1840 gegründeten „Verein zur Aufstellung landwirtschaftlicher Maschinen und Instrumente in Magdeburg" —, die sich darüber hinaus aber auch mit den immer brennenderen Fragen der Behandlung des Gesindes und der Landarbeiter beschäftigten etc.145 und sich Gedanken über eine bessere Ausbildung der landwirtschaftlichen Arbeiter durch Ackerbau- und Arbeiterschulen machten. Abschließend wird man jedenfalls sagen können, daß das Bildungsniveau entsprechend den Anforderungen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung auch bei den nichtbäuerlichen Schichten stieg, obwohl die eigentlichen Schulverhältnisse für sie noch lange Zeit sehr schlecht blieben und einem Vergleich mit denen für die Kinder der bäuerlichen Klasse nicht standhielten. So gesehen widerspiegelt auch das Bildungswesen die Klassensituation in unserem Untersuchungszeitraum — eine Klassensituation, die anfangs noch vom Gegensatz zwischen Grundherren und Bauernschaft und gegen Ende der hier behandelten Periode bereits von dem zwischen Junkern sowie Groß- bzw. Mittelbauern als Angehörige der Dorfbourgeoisie und dem Landproletariat geprägt war. Sitten und Bräuche Der sozialökonomischen Entwicklung entsprechend sind auch die Veränderungen zu werten, die im Bereich der Sitten und Bräuche eintraten und die von den Zeitgenossen häufig als Lockerung der Sitten u. ä. bezeichnet werden. Auffallend sind zunächst die Bemühungen der Obrigkeit, daß die kirchlichen Feste wieder in gehöriger Weise zu begehen seien und nicht zum Anlaß genommen würden, an diesen Tagen „lauter Allotria" zu treiben. So wiederholen sich seit der Mitte des 18. Jh. Klagen und Verbote, wie etwa dieses Beispiel von 1810: „Da dem alten Verbote, am Palmsonntage und in der Charwoche Tanzmusik zu halten hin und wieder zuwidergehandelt wird, so ist zu bestimmen, daß dessen Übertretung mit soviel Thalern Strafe, als Musikanten gebraucht worden sind, belegt werde."148 Es gab aber auch Anordnungen zur Feiertagsbeschränkung, die — auf das Gesinde und die Tagelöhner bezogen — deutlich zum Ausdruck bringen, daß für diese sozialen Schichten die Bindungen, die die bäuerliche Klasse an kirchliches Brauchtum oder Sonntagsheiligung noch hatte, nicht existierten und nicht mehr existieren konnten. So heißt es schon 1780: „Da der höchsten Intention entgegen ist, daß der dritte Festtag von denen Unterthanen, sonderlich von denen Ackerknechten und Gesinde im Müßiggang hingebracht und bloß zu Saufen und Ueppigkeiten angewendet, als wird anbefohlen, daß ein jeder sein Gesinde zu der ordentlichen und gewöhnlichen Arbeit anhalten solle."147 Aus ähnlichem Grunde wird schon 1750 das Einläuten der hohen christlichen Feste untersagt, „weilen ... 145

konnten uns hier kurz fassen, weil in diesem Sammelwerk noch ein eigener Beitrag zum Vereinswesen erscheinen wird. Es sei aber dennoch auf die „Zeitschrift des landwirtschaftlichen Central-Vereins für die Provinz Sachen" (1845—1893) verwiesen, die eine einzigartige, noch nicht ausgeschöpfte Quelle für das bäuerliche Ausbildungswesen darstellt.

148

HASELBACH, 1 9 2 7 : 80. HASELBACH, 1 9 2 7 : 82.

117

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an wenigen Orten um Mitternacht zu den hohen Festen vom Kirchturme Lieder gesungen und Früh-Metten gehalten worden, solches aber zu vielen Ausschweifungen Anlaß gegeben. Als sollen dergleichen abgeschaffet seyn".148 Ging es hier um die hohen Feste, zu denen Landarmut und Proletariat eine, wie zuvor gesagt, andere Einstellung haben mußten als die Bauern, so weist die Verletzung der Sonntagsheiligung durch die werktätige Dorfbevölkerung eindeutig auf das Profitstreben der kapitalistischen Unternehmer hin, die ihre Arbeiter und Knechte zwangen, diesen Ruhetag nicht zur Reproduktion der Arbeitskraft zu nutzen, sondern ihn im Interesse der Unternehmer voll einzusetzen. Der Pfarrer aus Diesdorf schreibt dazu 1846: „Es wird Sonntag und Alltag jahraus jahrein gearbeitet in den Zucker- und Zichorienfabriken, auf den großen Ackerplänen der Rüben- und Zichorienkulturen usw. Unser Dorf sendet dazu hunderte von Arbeitern. Sie sind nicht bloß durch den Broterwerb dazu angereizt, sondern werden dazu gezwungen durch die Drohung: Wer Sonntags nicht kommt, wird entlassen!"149 Wenn die in der Literatur erwähnten Jahresfeste der Börde sich vom äußeren Ablauf her kaum von denen anderer Landschaften unterscheiden, so fällt doch auf, daß die Heischegänge der Knechte und Enken, der Lehrer und der Kinder der Dorfarmut recht häufig Erwähnung finden. Die Annahme dürfte nicht ganz ungerechtfertigt sein, daß die Träger dieses Brauchtums eben die Angehörigen der Landarmut waren (beispielsweise zu Silvester), die auf diese Weise — ähnlich wie die Schnitter zur Erntezeit — ihren vielfältigen Forderungen Ausdruck verliehen.150 Auch die bei solchen Anlässen gesungenen Heischeverse sind eindeutige Beweise dafür, daß die Sänger nicht der bäuerlichen Klasse angehörten, z. B.: Rosen roth, Rosen roth 1 Drei auf einem Stengel Der Herr ist gut, der Herr ist gut Die Frau die ist ein Engel. Der Herr der hat eine große Mütze Die hat er voll Dukaten sitzen Er wird sich wohl bedenken Uns einen Gulden schenken. (aus Schwaneberg) Oder: Olle [Name] issn rieker Mann, Hai künn uns wol wat gaeben Hai daitet nich, hai daitet nich Hai soll sick man wat schaemen. (aus Althaldensieben)151 Im Gegensatz dazu dominieren in der Literatur bzw. in den Schilderungen über die Familienfeste die der Großbauern; denn nur sie konnten sich einen so großen Aufwand bei Hochzeiten, Taufen usw. leisten, daß diese Feste in der Erinnerung der Gewährspersonen länger erhalten und überliefert blieben als die weit bescheidener ausgestatteten der Kleinbauern und der Landarmut. Repräsentationsbedürfnis, Renommiersucht und Protzerei bestimmten die Tauffeste, über deren Aufwand es schon 1750 in einer Verordnung hieß, „daß 148

HASELBACH, 1 9 2 7 : 8 0 .

149

HUSCHENBETT, 1 9 3 4 : 7 8 .

160

V g l . u . a . W E G E N E R , 1 8 8 0 a : 2 4 7 , 2 5 1 , 3 8 7 ; DANNEIL, 1 8 7 2 : 4 3 9 .

151

WEGENER, 1 8 8 0 a : 387.

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Jacobeit/Nowak

Niemand mehr ein Pathengeschenke geben, oder auch dasselbe nehmen, vielmehr ein jeder Kind-Taufe-Vater dahin sehen solle: sich durch keinen unnöthigen Aufwand und Ueberfluß in Essen und Trinken in seiner Nahrung zu schwächen".152 Aher solche Anordnungen — mehrfach wiederholt — fürchtete man wenig. Vielmehr berichten die reisenden Chronisten immer wieder: „Die Kindtaufen in der Börde sind prächtig und dauern oft zwei Tage unter der gaukelndsten Musik" (1790).153 Besonders typisch dürfte die Schilderung folgender Szene (um 1800) sein: „Vor dem Essen besah und bewunderte man zunächst noch einmal alle Patengeschenke, die zu diesem Zwecke am Ofen aufgehängt waren. Jeder mußte diese loben, und jeder suchte schon aus Furcht vor dieser öffentlichen Kritik bei seinem eigenen Geschenk die anderen zu übertrumpfen."154 Man kann sich unschwer vorstellen, wie sich diese Renommiersucht, bei der es nur noch um das öffentliche Prestige ging, steigerte, als der Zuckerrübenboom das Leben in den Bördedörfern bestimmte. Nicht minder prächtig verliefen die Hochzeiten, zu denen ein Beispiel, das den Aufwand schildert, aus dem Jahre 1763 zitiert sein soll: „Um 9.00 Uhr vormittags versammelten wir uns alle bei dem Domherrn Bredow, frühstücken dort und fahren dann ab. Man kann die Hochzeit nur mit der des Gamache im ,Don Quichote* vergleichen. Es sind mehr als 300 Personen eingeladen. Gleich nach meiner Ankunft erkundigte ich mich nach den Vorräten zur Beköstigung dieser Menschenmenge, und ich höre, daß 42 Kapaunen zur Bouillon, 36 Scheffel Weizen zu Kuchen, für 150 Taler Karpfen, 2 Rinder, 14 Kälber, für 150 Taler Branntwein usw. verzehrt werden sollen. Die Ausstattung der Braut, was Kleider und Leinenzeug anbetrifft, übersteigt den Wert von 3000 Talern, ihre Mitgift beträgt 14000 Taler. Diese reichen Bauern, die noch ihre alten Privilegien besitzen, sind Untertanen des Domes. Ich amüsiere mich auf diesem ländlichen Fest vortrefflich, besonders freue ich mich, daß diese Leute mit ihrer Lage zufrieden sind und sich eines behaglichen Wohlstandes erfreuen. Wir gehen der Braut entgegen und begleiten sie in die Kirche. Die Leute sind von unserer Liebenswürdigkeit und wir von ihrer Treuherzigkeit so befriedigt, daß wir bis zum Schluß des ganzen Festes dort bleiben und erst um 3 Uhr früh nach der Stadt zurückkehren."155 Noch detailliertere Berichte dieser Art finden sich in den folgenden Jahrzehnten immer wieder. Auffallend dürfte aber der Umstand sein, daß in denen aus den zwanziger/dreißiger Jahren des 19. Jh. häufiger auch die Dorfarmut erwähnt wird, die bei den Hochzeitsgastereien nicht vergessen und für die auch noch bisweilen Geld gesammelt wurde. Hatte gerade sie sich am Vorabend schon ihren Kuchenanteil „erpoltert", so wurde sie während des Hochzeitsmahles an besonderen Tischen und in mehreren Abteilungen abgefertigt. Meist gab es Reisbrei, von dem sie essen konnte, soviel sie wollte, nur durfte sie im Gegensatz zu den anderen bäuerlichen Gästen nichts mitnehmen. „Fritt dick dicke — awer stick nist in de ficke", sagt hierzu ein treffendes Sprichwort.158 Besonderes Essen erhielten an Hochzeitstagen der Bauernfamilie das Gesinde und die Dienstleute. Sie bekamen auch, so noch in den vierziger Jahren, die gleichen Speisen wie die Hochzeitsgesellschaft, selbst wenn der

" 2 HASELBACH, 1 9 2 7 : 8 2 . STEGMANN, (1936): 58. i " GARKE, 1 9 3 0 : 3 4 . 166 MÜLLER, 1 9 3 6 . "6 HECHT, 1907a: 77 f.

Lebensweise der werktätigen Dorfbevölkerung (etwa 1780—1830)

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Bauer „die Mahlzeit von einem großstädtischen Koche in Magdeburg ausrichten läßt, der sich gewöhnlich das Couvert mit 3 Thalern berechnet.. ." 167 Groß war natürlich auch der Aufwand an Brautkleidung, bei der ein Kleid meist nicht reichte, da sich die Braut während der Feierlichkeiten drei- bis viermal umzog. Dementsprechend waren die Kosten für diesen Brautstaat bisweilen so hoch, daß schon um 1800 der halbe Ernteertrag hierfür geopfert werden mußte.158 Die trachtähnlichen Requisiten der Brautkleidung machten im Laufe der Zeit immer mehr den modischen Details aus der Stadt Platz, bis in den siebziger Jahren des 19. Jh. z. B. das schwarze Samtkleid die vordem hellen Stoffe verdrängte. Auch die Brautkrone mit dem teuren Flitter und den langen seidenen Bändern in einer Länge von 50 Ellen und mehr verschwand und machte nach 1815 dem frischen Myrthenkranz Platz. Gleichfalls veränderte sich das hochzeitliche Brauchtum nach 1850 rasch. So gab es um diese Zeit kaum noch den Freiwerber, der früher eine der wichtigsten Personen gewesen war. Jetzt übernahmen einfach Botenfrauen oder Händler, die viel umherkamen, diese Funktion.159 Die Bauernhochzeiten waren reine Geld- und Besitzheiraten, wobei Kopulationen mit Angehörigen der Stadtbourgeoisie schon im ersten Drittel des 19. Jh. durchaus möglich wurden. Der folgende „Volksreim" ist ein Beispiel dafür: „Mine mudder hat geseggt: süer schmeckt nich säute; nimm dik keinen ossenknecht, der hat schwarte foite; nimm dik einen üt de Stadt, der geputzt schtebbel hat." 180 Wesentlich war in unserem Untersuchungszeitraum außerdem neben dem Geld — eine reiche Aussteuer an selbstgesponnenen und selbstgewebten Sachen. Dementsprechend heißt es um 1800 in einem Polterabendgedicht:

Oder: Oder:

„Wenn de Mäkens wollen Hochtid maken, Denn hebenn se sau vel Handäuker, Salvetten un Laken, Dat se de Kisten un Kasten nich können regen. Drei Mannslüe mött'n sick op en Deckel legen, Wenn se'n tau maken woll'n. Ja, unse Sinn Steit bloß na wat Soliden hin." „Spinne, Mäk'n spinne sehen, Bald wirstu den Freier sen." „Mäk'n, spinnste fine, Sosste wern mine." 161

Es ist in diesem Zusammenhang nicht unwichtig zu erwähnen, daß auch die Mägde bestrebt waren und all ihren Fleiß aufwandten, „wenigstens einen großen Holzkoffer mit 157

WEGENER, 1 8 7 8 / 7 9 : 193.

158

GARKE, 1930: 71.

159

V g l . u . a. G A R K E , 1 9 3 0 : 57.

LEO W I N T S R , 1 8 7 5 : 3 3 2 . 1,1

GARKE, 1930: 62.

4

A K , Landarbeiter II

Jacobeit/Nowak

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Leinenzeug und Wäsche und dazu ein vollständiges Bett mit in die Ehe zu bringen". 162 Die Betonung liegt hier sicher nicht unbewußt auf dem Wort „wenigstens", was zum Ausdruck bringen soll, wie schwer es die Angehörigen der Landarmut hatten, für ihre künftige Ehe vorzusorgen. Sie konnten es letztlich genau so wenig wie die Proletariermädchen in den Städten, und so haben auch diese Hochzeiten des „dienenden Standes" auf dem Lande, von denen kaum berichtet wird, nichts mit den bäuerlichen Kopulationsfeiern zu tun, die in ihrer zunehmenden Pomphaftigkeit jedoch ein Kennzeichen unseres Untersuchungszeitraumes sind. — Wenn wir schließlich noch die Begräbnisse erwähnen wollen, so sind auch sie wieder Spiegelbild der sozialen Differenzierung im Dorf. Das Typische für die hier ebenfalls geübte Prunksucht mag die folgende Verordnung um 1800 illustrieren: „Da man an einigen Orten die Leichen der Jünglinge und Jungfrauen mit Cräntzen und Cronen zu beehren und solche in der Kirche aufzuhängen pflegte, So sollen selbige bey Seite gestellt werden, daß sie niemand im Prospekt hindern und somit auch keine Deformität in der Kirche verursachen."163 — Es scheint in diesem Zusammenhang angebracht, darauf zu verweisen, daß die Armenbestattungen aus Magdeburg und Umgegend bis in die zwanziger Jahre des 19. Jh. auf ehemaligen Hutplätzen, in Überschwemmungsgebieten und anderswo lagen und die Leichen durch weidendes Vieh oder Hochwasser teilweise wieder freigelegt wurden. Erst 1827 fanden die Toten dieser unteren Sozialschichten auf dem Magdeburger Nordfriedhof einen endgültigen Ruheplatz.164 Diese Unterschiede zwischen arm und reich im Begräbniswesen stammen nicht erst aus dem 19. Jh. Schon 1750 heißt es in einer Verordnung : „Die notorisch Armen mögen ihre Leichen des Abends in aller Stille, doch ohne Laternen und Leichenceremonie hintragen und beysetzen."165 Die Bestattungen der Dorfhonoratioren fanden hingegen am Nachmittag mit den üblichen Zeremonien statt. Der Dorfarmut war auch diese Bestattungszeit untersagt. Die zunehmende Polarisierung der Dorfbevölkerung in die beiden Grundklassen des Kapitalismus führte nicht nur zur stärkeren Abgrenzung dieser beiden Klassen voneinander, sie förderte auch den Zusammenhalt innerhalb dieser Klassen. Die Groß- und Mittelbauern als Bestandteil der dörflichen Bourgeoisie z. B. bildeten Gemeinschaften, die sich aus dem Besitz an Grund und Boden und dem daran geknüpften Mitspracherecht ergaben. So ist für Hadmersleben belegt, daß nur die „Besitzbauern" einer sogenannten Rottgemeinschaft angehörten, durch die die dortigen Bruchwiesen jährlich durch Los untereinander aufgeteilt wurden.166 Selbst die Nachbarschaftshilfe — eine einst alle Dorfbewohner relativ gleich verpflichtende Auflage zur gegenseitigen Unterstützung — wurde jetzt nur noch innerhalb einer sozialen Schicht praktiziert. Feste Organisationsformen nahmen sogar die in der Magdeburger Börde weit verbreiteten und offenbar nach dem Zunftvorbild entstandenen „Bruderschaften der Ackerknechte" an, die schon nach dem Dreißigjährigen Krieg entstanden sein sollen, im 18. und 19. Jh. eine erhebliche Rolle spielten und sich erst Mitte des 19. Jh. auflösten bzw. durch proletarische Vereinigungen ersetzt wurden. Ähnlich waren die Enken organisiert. Beide Vereinigungen wirkten unter der Jugend der Dörfer als ein gewisses Ordnungselement. Ihr 182

GARKE, 1 9 3 0 : 62. HASELBACH, 1 9 2 7 : 8 4 . TILGER, 1 9 2 7 : 1 0 4 .

166

HASELBACH, 1 9 2 7 : 8 5 .

" « HASSELMANN, 1 9 2 8 : 2 4 0 f f .

Lebensweise der werktätigen Dorfbevölkerung (etwa 1780—1830)

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eigentlicher Sinn aber lag im Zusammenschluß und in der gegenseitigen Hilfe von Angehörigen jener sozialen Schichten.187 Auch in den mehr geselligen Vereinigungen der Jugend, so in den Spinnstubengesellschaften, in den „Convivchen" oder im kleinen bzw. im großen „Chor", herrschten „ständische" Trennung und Distanz, wenn die eine oder andere Vereinigung nicht sogar unmittelbar bestimmten sozialen Schichten zugeordnet war. Letzteres mag für die seit der Mitte des 18. Jh. bestehenden „Convivchen" der Knechte und Mägde zutreffen, die man möglicherweise als Pendant zur mehr bäuerlich bestimmten Spinnstubengesellschaft klassifizieren kann.168 — Das Vereinswesen nahm in unserem Untersuchungszeitraum wohl noch keine überragende Bedeutung ein. STADELMANN nennt für die Zeit von 1820 bis 1840 lediglich acht landwirtschaftliche Vereine für die Provinz Sachsen.169 Ihre Bedeutung für die Folgezeit wächst jedoch außerordentlich und fördert die Produktivkraft-Entwicklung in der Börde beträchtlich. Schlußbemerkungen Abschließend können wir feststellen, daß der hier behandelte Zeitraum als Übergangsepoche zwischen der niedergehenden Feudalordnung und dem sich herausbildenden Kapitalismus im allgemeinen und für die Magdeburger Börde im besonderen zu klassifizieren ist. Damit wird er als eine Periode gekennzeichnet, in der die Differenzierung innerhalb der bäuerlichen Klasse, aber auch unter den sozialen Klassen und Schichten des Dorfes überhaupt steigende Bedeutung erfährt; die Ausbildung des dem Kapitalismus entsprechenden Klasengegensatzes ist unübersehbar. Dieser Prozeß wird durch die Reformmaßnahmen des Königreichs Westfalen vorangetrieben, wenn auch nicht ausgelöst, da die sozialökonomischen Verhältnisse in der Magdeburger Börde wenigstens schon seit der Mitte des 18. Jh. in Richtung auf eine Entwicklung zur kapitalistischen Produktionsweise vorgeprägt sind. In zunehmendem Maße — auch an den verschiedenen Ausprägungen von Kultur und Lebensweise der einzelnen Klassen und Schichten exemplifiziert — tritt namentlich nach den Reformen mehr und mehr an die Stelle des den Feudalismus bestimmenden Gegensatzes Bauer — Grundherr der zwischen dem zum Bourgeois tendierenden Großbauern und der Landarmut bzw. dem Landproletariat als eine für den Kapitalismus gesetzmäßige Erscheinung. In unserem Untersuchungszeitraum bleibt das bäuerliche Element noch bestimmend. Dementsprechend dominiert es auch in den verschiedenen Bereichen und Äußerungen von Kultur und Lebensweise; aber die jeweiligen Erscheinungen tragen Ubergangscharakter. 167

HECHT, 1 9 0 7 / 0 8 ; DANNEIL, 1 8 7 2 .

168

GARKE,

1,9

STADELMANN, 1 8 7 4 : 7 f f .

4*

1930: 50ff.; WEGENER, 1878/79: 228.

HANS-JÜRGEN RÄCH

Zur Lebensweise und Kultur der Bauern unter den Bedingungen des Kapitalismus der freien Konkurrenz (etwa 1830—1900) In Anlehnung an den Titel eines Buches von J O S E P H W E I G E R T 1 und dieses gewissermaßen rekapitulierend, erschien am 10. Juni 1931 in der Heimatbeilage zur „Magdeburger Tageszeitung" ein Artikel mit der Überschrift: Untergang der Dorfkultur2. Illustriert durch zwei Fotos, die einen „jüngeren Börde-Bauern in der Tracht seines Großvaters" und eine „junge Bäuerin in einer Tracht, die in der Gegend von Halberstadt getragen wurde", zeigen, wird in diesem Beitrag auf die Problematik des Versiegens zahlreicher, bis ins 20. Jh. typischer dörflicher Kulturelemente hingewiesen. In Übereinstimmung mit dem oben genannten Buch-Autor betont der Verfasser jenes Artikels, daß die „Notlage der dörflichen Kultur" zwar nicht erst nach 1918 („durch den Umsturz [sie!] und die Nachfolgezeit") entstanden sei, sondern sich als Folge der historisch gewordenen Verhältnisse bereits viel früher herausgebildet habe, doch sei sie in den letzten Jahren eben noch „beschleunigt und vermehrt worden".3 Gemeint ist also der mit der Durchsetzung des Kapitalismus in der Landwirtschaft verbundene Prozeß der Verdrängung traditioneller, oft jahrhundertealter und im wesentlichen aus der Feudalzeit stammender Elemente dörflicher Lebensweise und Kultur durch neue zeitgemäße Formen seit der Mitte des 19. Jh. Um nicht in den Ruf eines reaktionären Verherrlichers der „guten alten Zeit" zu geraten, bekennt der Autor zwar, daß auch früher nicht alles gut gewesen sei, doch habe „der Bauer es (immerhin) verstanden, trotz vielfacher Unfreiheiten und Bedrückung sein Leben nach innen und außen eigentümlich und schön zu gestalten". Gewiß, auch wir bewundern und würdigen die allerdings meist in erbitterten Klassenauseinandersetzungen mit den feudalen Grund- und Gutsherrschaften errungenen Leistungen der Bauern unter den Bedingungen des Feudalismus, doch müssen wir uns entschieden gegen eine hiermit ausgesprochene Idyllisierung jener Epoche wenden. Bereits die Ubergangsphase vom Spätfeudalismus zum Kapitalismus (von etwa 1789 bis 1830), die an anderer Stelle ausführlicher dargestellt wurde,4 macht die Überlegenheit der neuen, wenn sich auch in den deutschen Landen nur mühsam und im Kampf gegen die überlebten Herrschaftsstrukturen durchsetzenden Produktionsverhältnisse deutlich. Einerseits charakterisierte jene Periode eine — sich z. B. auch in der Bau- und Wohnkultur der Magdeburger Börde5 klar abzeichnende — Blüte der noch weitgehend traditionellen, d. h. hier feudal geprägten Volkskultur, andererseits wurde bereits in jenen Jahren mit der Beseitigung verschiedener an das Feudalsystem gebundener Hemmnisse auch die Überwindung 1

WEIGERT, 1 9 3 0 .

2

Dt., 1 9 3 1 : 1.

3

Dt., 1 9 3 1 : 1.

4

V g l . h i e r z u d e n B e i t r a g v o n JACOBEIT/NOWAK in d i e s e m B a n d .

5

V g l . RÄCH, 1 9 7 4 : 1 0 4 .

Räch

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etlicher Grenzen und Schranken in der Entwicklung zu einer der Kulturstufe des Kapitalismus entsprechenden Lebensweise und Kultur eingeleitet. Dieser sich in den folgenden Jahren der weiteren Konsolidierung des Kapitalismus noch um ein Vielfaches verstärkende Prozeß verlief durchaus gesetzmäßig. Um eine volle Entfaltung der Produktivkräfte zu erreichen, mußte die Bourgeoisie alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstören. Bereits im „Kommunistischen Manifest" schrieben M A R X und ENGELS : „Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst", und sie ergänzten im Hinblick auf die sich notwendigerweise laufend verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus, daß „alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können". 6 Die Bourgeoisie „schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde", 7 und sie schuf sie sich vor allem in der Stadt, wo die beiden Grundklassen des Kapitalismus, Bourgeoisie und Proletariat, konzentriert sind, aber auch auf dem Dorfe, wo diese Polarisierung seit der Mitte des 19. Jh. ständig zunahm. Diese neue, eben kapitalistische Welt und ihre jeweiligen Erscheinungsformen fanden — dem Wissenschaftsverständnis der bürgerlichen Volkskunde entsprechend — in der Forschung bis in die jüngste Vergangenheit kaum Beachtung. 8 Zwar wurden die Veränderungen, die sich im 19. Jh. vollzogen, durchaus bemerkt, doch interpretierte man sie stets als Verfall, Verlust und mit großem Bedauern. Vielfach gaben sie geradezu den Anstoß, die bereits im Absterben befindlichen Zeugnisse „in letzter Stunde" noch zu sammeln, zu dokumentieren und gegebenenfalls sogar wiederzubeleben. Gegenwartsforschungen bedeuteten in diesem Falle zumeist Untersuchungen an Relikterscheinungen. Das Herausarbeiten des progressiven Neuen in der Überwindung des überholten Alten war jenen Autoren fremd. So kommt es, daß die Volkskunde, die sich ja lange durchaus als die Kulturgeschichte der Bauern empfand, bis heute kaum Arbeiten zur Kultur und Lebensweise der Bauern unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen aufweisen kann. Die Kritik ENGEXBERGS, es mangele der bisherigen Volkskunde vielfach noch am materialistischdialektischen Historismus,9 erweist sich in diesem Zusammenhang als vollauf berechtigt. Das demonstriert die hier vorhandene Forschungslücke auf eklatante Weise. Daß diese allgemeine Feststellung auch für die Magdeburger Börde zutrifft, verwundert keineswegs. Wird in bürgerlichen volkskundlichen Arbeiten vom Leben der werktätigen Dorfbevölkerung berichtet, so konzentriert sich das Interesse auf die Zeit vor Einbruch des Kapitalismus oder auf Relikte in der Gegenwart. Das 19. Jh. wird als unglückliche Periode charakterisiert, in der — wie z. B. STEGMANN schreibt — „mit dem gesteigerten Reichtum ... manch schönes Brauchtum (schwand)", „die Abgeschlossenheit der Dörfer (auf)hörte", 10 „Gebäude städtischen Charakters, kasernenartig angelegt, mit flachem Papp• MARX/ENGELS, 1 9 5 9 ( 1 8 4 8 ) : 4 6 3 . ' MARX/ENGELS, 1 9 5 9 ( 1 8 4 8 ) : 4 6 4 . 8

Innerhalb der bürgerlichen Volkskunde setzte sich DÜNNINGER zwar bereits 1954 für eine stärkere Berücksichtigung des 19. Jh. ein, doch gibt es — abgesehen von einzelnen Studien (WEBERKELLERMANN, 1965; KRAMER, 1974, u. a.) — bisher kaum größere Untersuchungen zum Leben der Bauern unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Auch die marxistische Volkskunde in der DDR hat sich erst in den letzten Jahren verstärkt der Problematik des 19./20. Jh. zugewandt (BENTZIEN, 1 9 6 1 ; JACOBEIT/NEDO, 1 9 6 9 ; WEISSEL/STROBACH/JACOBEIT, 1 9 7 2 ; BAUMGARTEN, 1 9 7 3 ; RÄCH, 1 9 7 4 ) .

• ENGELBERG, 1 9 7 3 : 9 7 5 . 10

STEGMANN, 1 9 3 5 : 3 9 .

Lebensweise der Bauern (etwa 1830—1900)

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dach ... gar nicht so selten Dorf und Landschaftsbild in erschreckender Weise (verunstalteten)",11 viele Dorfbewohner „städtisches Wesen nachahmten und gute Traditionen vergessen" ließen, kurz, die „bäuerliche Kultur ... verkümmern mußte".12 Inwieweit diese Feststellung tatsächlich zutrifft, welche Etappen gekennzeichnet werden können und wie dieser Prozeß zu bewerten ist, soll Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen sein. Zunächst sei daran erinnert, daß bereits im 18. Jh. — wie übrigens in der gesamten Feudalepoche — die Dorfbevölkerung in der Magdeburger Börde sozial keineswegs mehr undifferenziert war. Erhebliche und sich gerade in jenen Jahren weiter ausprägende Unterschiede bestanden nicht nur ^wischen der Bauernschaft und der Landarmut, sondern selbst innerhalb dieser sozialen Gruppierungen.13 Beachtet man ferner, daß die Bauern um 1780 nur etwa ein Drittel der Dorfbevölkerung in unserem Untersuchungsgebiet bildeten,14 so wird klar, daß auch zu diesem Zeitpunkt „bäuerliche" Kultur nicht identisch mit „dörflicher" Kultur und in sich nicht homogen war. Trotz gemeinsamer, d. h. alle Dorfbewohner belastender feudaler Abhängigkeit gab es erhebliche Unterschiede, die sich auch in Bereichen der Lebensweise und Kultur ausdrückten.15 Unter den Bedingungen der Durchsetzung des Kapitalismus in der Landwirtschaft auf „preußischem Wege" in der ersten Hälfte des 19. Jh. verstärkte sich nun der soziale und kulturelle Differenzierungsprozeß. So gab'ds bereits seit den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts nicht nur vielfältige, sozial gebundene Modifikationen eines an sich gleichartigen Grundtyps, wie etwa beim Hausbau,16 bei der Tracht und im Brauchtum,17 sondern es entstanden in einigen Teilbereichen sogar schon verschiedenartige Erscheinungsformen,^die nur für bestimmte Klassen bzw. Schichten charakteristisch waren. Sowohl zwischen den sich zur Dorfbourgeoisie formierenden Groß- und Mittelbauern und den werktätigen Kleinbauern als auch zwischen der gesamten Bauernschaft und dem sich herausbildenden Landproletariat vergrößerten sich die Klüfte immer mehr. Seit der in der Magdeburger Börde im wesentlichen in der Mitte des 19. Jh. vollendeten Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft standen sich nunmehr die für diese Gesellschaftsformation entscheidenden antagonistischen Klassen, Bourgeoisie und Proletariat, direkt gegenüber, wenngleich die Polarisierung der Dorfbevölkerung in diesen beiden sozialen Gruppierungen zunächst auch noch vielfach durch mancherlei traditionelle Elemente und Bindungen überlagert war und sich erst im weiteren Verlauf des 19. Jh. klarer herausbildete. Dennoch offenbarte sich bereits im Revolutionsjahr 1848, als sich auch in der Magdeburger Börde die werktätige Dorfbevölkerung regte und z. B. in Groß Ammensieben, Groß Ottersleben, Gutenswegen und anderen Orten ihre „kommunistischen Forderungen"18 anmeldete, ganz deutlich die Klassenspaltung der Dorfbevölkerung. Bis zu diesem 11

STEGMANN, 1 9 3 5 : 5 5 .

12

STEGMANN, 1 9 3 5 : 6 7 .

13

Vgl. hierzu die Beiträge von HARNISCH, 1978, und BERTHOLD, 1979.

14

RÄCH, 1 9 7 4 : 5 .

15

Vgl. hierzu den Beitrag von JACOBEIT/NOWAK in diesem Band; die Bau- und Wohnkultur betreffend siehe auch RÄCH, 1974.

18

V g l . RÄCH, 1 9 7 4 : 1 0 4 - 1 0 5 .

" Vgl. CARSTED, 1928: 103, 106, 129 passim. W PEICKE, 1 9 0 2 : 1 0 3 .

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Zeitpunkt im antifeudalen Kampf noch weitgehend gemeinsam agierend, führte der von nun an sich immer stärker ausprägende Gegensatz dazu, daß unterschiedliche, ja gegensätzliche Positionen im Klassenkampf bezogen wurden. So deutete sich bereits jetzt der unheilvolle Kompromiß zwischen Bourgeoisie und Feudaladel an, dem sich die Dorfbourgeoisie zunehmend anschloß, obwohl die Groß- und Mittelbauern unseres Untersuchungsgebietes sogar noch in den folgenden Jahren, in verschiedenen Punkten, z. B. der kommunalen Machtausübung und Gesetzgebung, mit dem Feudaladel nicht konform gingen. 1 9 D a s Proletariat dagegen, das bisher die antifeudalen Bestrebungen dieses Teils der Bourgeoisie voll unterstützt hatte, stand nach dem Sieg der kapitalistischen Produktionsverhältnisse objektiv vor der Aufgabe, dem Großgrundbesitz — einschließlich der Großbauern — den Kampf anzusagen, die werktätigen Kleinbauern aber als Bündnispartner zu gewinnen, 2 0 um in Zukunft mit ihnen gemeinsam für den Sturz der kapitalistischen und die Errichtung sozialistischer Produktionsverhältnisse zu wirken.

Bäuerliche Arbeit u n d Wirtschaft D i e Arbeit „ist die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, daß wir in gewissem Sinne sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen." 2 1 Sie stellt in allen Gesellschaftsordnungen die wichtigste Lebenstätigkeit der Menschen dar und bildet somit einen wesentlichen Bestandteil der Lebensweise, deren Ausgestaltung bzw. Veränderung wiederum letztlich v o m Stand der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse determiniert wird. Das gilt uneingeschränkt auch für die bäuerliche Produktion. 2 2 Z u Beginn des 19. J h . befand sich die Magdeburger Börde innerhalb eines Umwandlungsprozesses, des Übergangs zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen, dessen Etappen und Auswirkungen auf die Lebensweise und Kultur wir bereits an anderer Stelle verfolgen konnten. 2 8 Seit den dreißiger Jahren des 19. J h . verstärken sich diese Tendenzen erheblich. Dabei gilt zwar für alle bäuerlichen Schichten, daß sie als kapitalistisch charakterisiert werden können, doch zwingt der erreichte Stand des Differenzierungsprozesses dazu, Groß-, Mittel- und Kleinbauern getrennt zu behandeln. D i e zunächst fast ausschließlich mit den Ackerleuten identischen Großbauern vollzogen am deutlichsten und konsequentesten den Übergang von der Daseinsweise als feudalabhängige Agrarproduzenten in die als kapitalistische Agrarunternehmer, als Dorfbourgeoisie. Sie waren es in erster Linie, die den „neuen G e i s t " in die Dörfer trugen. Der bereits für das Jahr 1817 als Tafel-Inschrift am Torbogen des Hofes von CHRISTIAN KÖRNER 19

20

21

22

23

Vgl. dazu ausführlich PLAUL, 1978: 218. Kompliziert wurde die Situation ferner dadurch, daß die deutsche städtische Bourgeoisie, deren Bundesgenossen die Groß- und Mittelbauern objektiv waren, diese 1848 im Stich gelassen hatte und — im Unterschied zur französischen Bourgeoisie 1789 — nicht revolutionär von den Feudallasten befreite. Dennoch paktierte die sich herausbildende Dorfbourgeoisie äus Furcht vor dem Proletariat mit der städtischen Bourgeoisie und dem Junkertum. Vgl. hierzu die ausgezeichnete, allerdings nicht direkt auf unser Untersuchungsgebiet bezogene Studie v o n FRITZ SCHAAF, 1962. ENGELS, 1962 (1896): 444.

Vgl. hierzu z. B. JACOBEIT, 1965. Vgl. HARNISCH, 1978, und PLAUL, 1978, sowie den Beitrag von JACOBEIT/NOWAK in diesem Band.

Lebensweise der Bauern (etwa 1830—1900)

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in Klein Rodensieben belegte Wahlspruch: „Es lebe die Oeconomie"24 weist recht anschaulich auf diesen Wandel hin. Allein in der Verwendung des Begriffs „Oeconomie" manifestiert sich eine neue Denk- und Verhaltensweise, die für den Übergang vom feudalabhängigen zum selbständigen und marktorientierten Produzenten charakteristisch ist. Unter allen Schichten des Dorfes sich am ehesten und auch am leichtesten von den Feudallasten befreiend, begannen sie seit den dreißiger Jahren des 19. Jh. wohl immer mehr und seit der Jahrhundertmitte fast generell als Ökonomen zu wirtschaften. Das bedeutete zunächst einmal, daß sie die durch die jahrhundertelange Belastung mit feudalen Diensten und Zehnten geprägte Einstellung zur Arbeit und die damit verbundene geringe Bereitschaft zur Produktionssteigerung überwinden mußten.25 Dieser Wandel vollzog sich mit der Einführung der Zuckerrübenkultur in einem erstaunlich schnellen Maße. Schon bald nämlich suchten sie — dem aufstrebenden städtischen Bürgertum in vieler Hinsicht durchaus vergleichbar — selbst nach entsprechenden Möglichkeiten und zeigten sich dabei vielfach ähnlich geschäftstüchtig und dementsprechend risikobereit. So waren die meisten Großbauern z. B. nicht nur bereit, neben den traditionellen Hauptanbaufrüchten wie Weizen, Gerste und anderen schlagartig auch neue gewinnversprechende Kulturen (nach und neben der Zichorie vor allem die Zuckerrübe) anzubauen, sondern sie strebten zunehmend auch danach, die Bearbeitung der Felder zu intensivieren, neue Mittel, Methoden und Techniken einzuführen und sich sogar an Einrichtungen zur Verarbeitung der Produkte zu beteiligen (z. B. als Aktionäre an Zichorien- und Zuckerfabriken,26 später auch an Molkereien27). Vielfach beteiligten sie sich ferner an Gewerben und Industrien, deren Produktion keine unmittelbare Beziehung zur Landwirtschaft hatte. Als Beispiel sei nur die 1 8 5 3 von den fünf „Ackerleuten" MEYER, KNOKE, HEINRICHS, KOCH und OTTO gegründete Ziegelei in Eichenbarleben genannt.28 Um aber wirklich als „Oeconom" — wie sie sich seit der Mitte des 19. Jh. zunehmend, seit den siebziger Jahren dann fast generell selbst gern nannten29 — wirtschaften zu können, bedurfte es weiterer zeitgemäßer, einen kapitalistischen Unternehmer kennzeichnender Eigenschaften. So konnte ein solcher Dorfbourgeois nicht mehr mit den vom Vater und Großvater vermittelten landwirtschaftlichen Erfahrungen und Kenntnissen seinen Betrieb führen. Als Geschäftsmann, der immer weniger auf dem Felde oder im Stall selbst wirkte, benötigte er jetzt weit mehr Fähigkeiten in der Buchführung, mehr Wissen von den Neu24 26

Zitiert nach TILSE, 1933: 98. Dieser Wandel vollzog sich — wie auch der spätere Ökonomie-Rat K I E H L in seinen Erinnerungen bestätigt — durchaus nicht automatisch. In bezug auf das sorgfältige Pflügen der Bauern in Schlesien um 1850 z. B. hebt er ausdrücklich hervor, daß es „... nichts Kleines (war), Schlendrian und Faulheit, in jahrhundertelanger Robottarbeit groß gezogen, zu beseitigen." (KIEHL, 1918: 80).

26

V g l . dazu PLAUL, 1 9 7 8 , u n d BANDOLY, 1 9 7 8 , s o w i e MÜLLER, 1 9 7 9 .

27

BIELEFELDT, 1 9 1 0 : 9 1 .

28

Die Ziegelei existierte jedoch nur bis zum Jahre 1901 (vgl. dazu femer das Fragebogenmaterial von A L W I N L A U E , Eichenbarleben). Den Wechsel der Bezeichnungen macht z. B. ein im Fragebogenmaterial von H A N S HERMANN MERBT, Domersleben, enthaltener Ubergabe-(Altenteil-)Vertrag von 1867 deutlich, in dem der 62jährige Vater J . W . S. W E B E R sich noch „Ackermann", der Sohn J. A . S. W E B E R aber bereits „Ökonom" nennt. Seit dem Ende des 19. Jh. kam dann noch die Bezeichnung Gutsbesitzer bzw. Bauerngutsbesitzer hinzu. „Der gute Name Bauer gilt heute schon als Beleidigung ...", KRATZENSTEIN (1924): 106.

29

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heitenauf dem Gebiet der Landtechnik, mehr Einblick in die Steuer- und auch Spekulationsgeheimnisse, mehr Kenntnisse von den Absatzmöglichkeiten auf dem „Markt". Sein Arbeitsplatz war schon seit etwa 1850 immer häufiger nur noch das „Kontor", das seitdem in keinem der immer prächtiger errichteten „Zuckerrübenpaläste" fehlen durfte und dort fast generell an der Hofecke (mit dem Blick über den Hofwirtschaftsraum) angelegt war.30 Um diesen veränderten Anforderungen gerecht werden zu können, waren weitere Neuerungen nötig. Schul- und Fachausbildung mußten wesentlich verbessert werden, denn noch bis etwa 1820 wurde z. B. in Niederndodeleben das Schreiben „... höchstens von den Kindern der Bauern erlernt",31 das Rechnen gar mußte 1817 und dann erneut 1828 von der Regierung in Magdeburg überhaupt erst „... zu einem wirklichen Lehrgegenstand der Dorfschule erhoben" werden,32 wobei im allgemeinen nur die vier Grundrechenarten und lediglich „die Anfänge der Bruchrechnung und die Regel de tri [der Dreisatz] ... geübt (wurden)".33 Es ist daher nur zu verständlich, daß zahlreiche Kinder der Groß- und Mittelbauern in städtische Schulen geschickt,34 vereinzelt — vor allem natürlich bei den größten Bauern und Gutsbesitzern — aber auch durch Privatlehrer unterrichtet wurden. Für Niederndodeleben ist bereits für das Jahr 1848 belegt, daß sich „einige Familien zur Annahme eines Privatlehrers für ihre Kinder (vereinigten)". Diese Neuerung hat offenbar jedoch nicht lange bestanden.36 Immerhin zeugt diese Quelle von der besonders seit den dreißiger Jahren des 19. Jh. gewachsenen Einsicht in die Notwendigkeit des Schulbesuches, der Verbesserung der „rationellen Bildung".36 Diese erwarben sich die Bauernsöhne nach dem Besuch der Grundschule zwar weiterhin vorrangig auf dem Wege der Vermittlung praktischer Erfahrungen in der väterlichen Wirtschaft. Doch erlangte seit der Mitte des 19. Jh. das Fachbuch, der Besuch einer Landwirtschaftsschule — in Einzelfällen sogar der Universität — immer größere Bedeutung. Für die Wende vom 19. zum 20. Jh. kann G U T K N E C H T daher bereits den Börde-Bauern als einen durchaus qualifizierten Geschäftsmann charakterisieren, dessen geistiges Niveau vor allem durch den Zuckerrübenanbau erhöht worden ist. Da die meisten Rübenbauern zugleich Aktionäre oder Miteigentümer einer Zuckerfabrik seien, wären sie geradezu „darauf angewiesen, sich um den kaufmännischen Betrieb mehr als bisher zu kümmern; sie lernen die Rechnungsmethoden des Kaufmannes auf den Betrieb der Landwirtschaft zu übertragen und sie gewinnen einen Einblick in das ganze Gebiet des Absatzgeschäftes, der ihnen sicherlich auch bei dem Verkauf ihrer^sonstigen Produkte sehr zu Statten kommt. — Jedenfalls ist der so beliebt gewordene Vorwurf, daß der Landwirt den Rechenstift nicht genügend 30

V g l . RÄCH, 1 9 7 4 : 7 7 u n d 9 7 .

31

DANNEIL, 1 8 7 6 : 3 0 1 .

32

DANNEIL, 1 8 7 6 : 2 9 1 .

33

DANNEIL, 1 8 7 6 : 2 9 2 .

34

Bereits um 1800 war es durchaus nicht ungewöhnlich, daß einzelne Bauernkinder in städtische Schulen geschickt wurden. Aus Löderburg z. B. wird berichtet, daß der 1791 geborene Sohn JOH. S E B . PHILIPP des A c k e r m a n n e s CHRISTIAN PHILIPP FIEDLER „ s e h r b e g a b t " g e w e s e n sei

und man ihn deshalb die Domschule in Magdeburg besuchen ließ, „um fremde Sprachen zu l e r n e n " . (FIEDLER, 1 9 3 9 : 1 1 ) . » DANNEIL, 1 8 7 6 : 3 2 8 . 38

KNAUER glaubte {eststeilen zu können, daß die Bauern auch in der Provinz Sachsen bis etwa 1830 noch ungebildet gewesen seien (KNAUER, 1873: 11).

Lebensweise der Bauern (etwa 1830—1900)

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zu handhaben wisse, hier keinesfalls am Platze."37 Das Profitstreben führte bei den Großbauern im Verlaufenes 19. Jh. nicht nur zur Beherrschung einzelner ökonomischer Grundkenntnisse, sondern es prägte ihr Leben und Wirtschaften in viel umfassenderem Maße. Ihr gesamtes Denken und Handeln konzentrierte sich zunehmend allein auf die Vermehrung ihres Kapitals. Die wichtigste Quelle war dabei die Ausbeutung fremder Arbeitskräfte, um deren Sicherstellung sie sich auf vielfältige Weise bemühten.38 Der Suche nach noch größeren Gewinnchancen, aber auch deren Sicherstellung diente ferner die Mitgliedschaft in landwirtschaftlichen Vereinen, deren wichtigster der im Jahre 1842 auf Anregung des „Vereins für Ausstellung landwirtschaftlicher Maschinen in Magdeburg" gebildete „Landwirtschaftliche Centraiverein der Provinz Sachsen" wurde. Die von diesem Verein jährlich durchgeführten Maschinenschauen trugen ebenso wie die Vereins-Zeitschrift39 wesentlich zur Verbreitung der neuen Technik bei. Zwar konnten sich selbst viele Großbauern diese oft teuren und nur in Großwirtschaften voll ausnutzbaren Maschinen kaum leisten, so daß sie zunächst nur auf den Gütern oder genossenschaftlich, wie z. B. in den seit 1861 recht zahlreichen bäuerlichen Dampfdruschgenossenschaften, angeschafft und genutzt wurden. Dessen ungeachtet erhöhte sich im allgemeinen der Grad der Technisierung der Landwirtschaft, der hier innerhalb der preußischen Provinzen bis zur Jahrhundertwende fraglos die höchste Stufe erreichte. Gleichzeitig stieg schlagartig die Verwendung nicht im Eigenbetrieb gewonnener, z. T. bereits künstlich hergestellter chemischer Düngemittel, so daß in einer Statistik des Kreises Wanzleben für das Jahr 1864 festgestellt werden konnte : „Die Anwendung von landwirtschaftlichen Maschinen und Geräthen, als : Drillmaschinen, Hackmaschinen, Dreschmaschinen (Locomobilen), Ringelwalzen, tiefgehenden Pflügen und der Umstand, daß sowohl die größeren als die kleineren Landwirthe außer selbst gewonnenen Stalldünger, auch Guano und künstliche Düngemittel, wie: phosphorsauren Kalk, Knochenmehl und Superphosphat verwenden, hat den Ackerbau auf eine hohe Stufe gebracht."40 Daraus ergab sich zugleich eine ganz neue Marktabhängigkeit, der eine zusätzliche Marktorientiertheit folgte. Diese dehnte sich insbesondere hinsichtlich der Bedeutung des produzierten und exportierten Zuckers bald schon auf den Weltmarkt aus, dessen Preistendenzen und -Schwankungen zunehmend verfolgt und beachtet wurden. Dieser Marktorientiertheit mußten und konnten die Großbauern ebenso wie die Gutsbesitzer dank ihrer ortspolitischen Macht durch die Förderung und Unterstützung des Straßen- und z. T. des Eisenbahnbaues entsprechen,41 wenngleich sie auch der besseren verkehrsmäßigen 37

38 39 19 41

GUTKNECHT, 1907: 38. Der einzige Antrieb zur Erringung einer höheren Bildung sei jedoch, wie KRATZENSTEIN für Altenweddingen berichtet, lediglich die Einsicht gewesen, daß mit dem vom Vater und Großvater übernommenen Wissen „... aus dem Acker (nicht) noch mehr klingendes Metall herauszuholen ist ... Der Interessenkreis des Bördebauern erhebt sich noch heute kaum über den Dienst des Wirtschaftshofes ... Höheres geistiges Streben ist ... wenig im Schwünge." KRATZENSTEIN, (1924): 107. Vgl. hierzu u. a. P L A U L , 1978, und den Beitrag von P L A U L in diesem Band. ZLCV, 1845 ff. Statistik, 1867: 42. In einer Denkschrift des Kreises Wanzleben von 1860 werden dazu folgende Formen genannt: 1. Durchsetzung des Beschlusses zum Bau auf Gemeindekosten, z. B. die Straße Diesdorf— Magdeburg durch die Gemeinde Diesdorf, 2. Unterstützung beim Bau von „Kreis-Chausseen ... durch freiwillige Beiträge von Interessenten", z. B. aus Bahrendorf, Altenweddingen und Stemmern sowie den Besitzern der Wanzleber Zuckerfabrik (Denkschrift, 1860: 8), 3. Gewäh-

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Erschließung ihres Raumes vielfach recht skeptisch entgegensahen. Die Gefahr einer möglichen Abwanderung der ländlichen Arbeitskräfte erschien ihnen größer und gewichtiger als der Nutzen, ihre Produkte „ab nächstem Bahnhof" liefern bzw. die eingekauften Futtermittel, Handelsgüter etc. „frei nächsten Bahnhof" beziehen zu können. Auf jeden Fall — und das sollten die vorangestellten wenigen Beispiele verdeutlichen — war die Führung einer großbäuerlichen Wirtschaft nach traditionellen bäuerlichen, lediglich auf dem überlieferten Erfahrungswissen beruhenden Prinzipien nach 1850, z. T. sogar bereits nach 1830, kaum noch möglich. Als kapitalistischer Agrarunternehmer mußte der Großbauer, auch um gegen den Druck des Großgrundbesitzers und der Fabrikwirtschaften bestehen zu können, „mit allen Wassern gewaschen" sein, d. h., er mußte in der Lage sein, seinem Betrieb ausbeutbare Arbeitskräfte zu sichern, die Intensivierung der Landwirtschaft voranzutreiben, und sich bemühen, den Besitz an Grund und Boden durch Kauf, Pacht oder Heirat zu vergrößern. Zum anderen galt es, die konjunkturelle Entwicklung zu verfolgen und zu beachten. Hinzu kam seine orts- bzw. regionalpolitische Tätigkeit, die er — falls er die Funktion eines Amts- oder Gemeindevorstehers bzw. Schoppen ausübte — sogar als direkter und besoldeter Vertreter der Polizei- und Staatsgewalt zu erfüllen hatte. Die aktive, womöglich manuelle Mitwirkung im landwirtschaftlichen Produktionsprozeß reduzierte sich bei den Großbauern auf ein Minimum. Sie wurde nun fast ausschließlich von den bei ihm angestellten Arbeitern erfüllt, wobei im Laufe des 19. Jh. große Wandlungen zu verzeichnen waren. So ging die Zahl der Mägde und Knechte ganz allgemein zurück. An ihre Stelle trat das sog. verheiratete Gesinde, dessen sozialer Status weitgehend mit dem der Deputatlandarbeiter42 übereinstimmte. Ein wesentlicher Unterschied bestand lediglich darin, daß letztere zumeist ausschließlich Feldarbeit zu verrichten hatten und erstere mehr im Stall oder als Gespannführer tätig waren. Dafür wirtschafteten im Haus neben anderem „Personal" meist Dienstmädchen, welche bei diesen Herrschaften bereits als junge Mädchen „in Stellung" gegangen waren, in der Regel aber — ebenso wie früher die Mägde — nach einem Jahr „wanderten", d. h. sich eine neue „Herrschaft" suchten. Die Hauptarbeiten auf dem Felde, aber auch beim Dreschen und auf dem Hofe, erledigten — wie oben angeführt — die Deputatlandarbeiter, deren Zahl sich gegen Ende des 19. Jh. jedoch verringerte. Sie wurden im Zusammenhang mit dem zunehmenden Saisoncharakter der Landwirtschaft zur weiteren Erhöhung des Profits nach dem Vorbild der Güter nun auch von den Großbauern immer mehr durch Saisonarbeiter48 ersetzt und bei Bedarf durch die sog. freien, d. h. nichtbetriebsintegrierten Landarbeiter ergänzt. Von den einheimischen betriebsintegrierten Landarbeitern blieben besonders die „Spezialisten" ganzjährig beschäftigt. Die freien Landarbeiter bekamen allerdings nur „in Spitzenzeiten" eine Beschäftigung, während sie in der restlichen Zeit eine andere Arbeit suchen mußten. Den Männern mag das — zumeist nur in der Stadt, auf jeden Fall jedoch in einem artfremden Beruf — noch leichter gelungen sein44 als der Vielzahl der Frauen, die, besonders wenn sie

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rung von Darlehen durch einzelne Güter, Fabriken und auch Gemeinden, z. B. das zinslose Darlehen der „Rittergutsbesitzer Köhne und Fabrikbesitzer Lömpke, beide zu Domersleben" für den Bau der Chaussee Domersleben — Wanzleben (Denkschrift, 1860: 9). Vgl. hierzu vor allem PLAUL, 1978, und den Beitrag von PLAUL in diesem Band. Vgl. hierzu den Beitrag von HEINRICH im vorliegenden Band. Der größte Teil dieser ehemaligen Landarbeiter fand zwar vielfach in der städtischen Industrie, im Baugewerbe, im südlichen Teil der Börde auch im Bergbau Beschäftigung, mußte jedoch auf Grund der geringen Qualifikation mindestens in der Anfangszeit mit körperlich schwerer oder weniger gut bezahlter Arbeit vorliebnehmen. Da diese anfangs nur als Notlösung betrachtete

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kleinere Kinder hatten, auf das Angebot an Hilfsarbeiten im Dorf angewiesen waren. Unabhängig davon, wer auf dem großbäuerlichen Betrieb die Arbeit ausführte, die Aufsicht, Einteilung und Kontrolle aller Tätigkeiten — mit Ausnahme der häuslichen Aufgaben — unterlag allein dem Unternehmer. Mehrfach jedoch übertrug er auch einzelne Aufgaben dem „Hofmeister", der als eine Art Vorarbeiter eine Sonderstellung unter den „Leuten" einnahm. Die „Bäuerin", die nach jahrhundertealter Tradition eine wesentliche Aufgabe in der Landwirtschaft — und zwar bei der Betreuung des Viehs — zu erfüllen gehabt hätte, war bei den Großbauern in keiner Weise mehr mit der agrarischen Produktion direkt verbunden. Ihr Wirkungsbereich konzentrierte sich allein auf das Haus, und zwar im wesentlichen auf die Aufsicht; denn Saubermachen, Kochen, Waschen, Plätten usw. gehörte nicht mehr zu ihren, sondern zu den Aufgaben des Dienstpersonals. Selbst das Aufziehen der Kinder — soweit das ökonomisch besonders günstige Ein-Kind-System45 überhaupt durchbrochen war — überließ man weitgehend den Hausangestellten, zumeist speziellen Kindermädchen. Die Mittelbauern rekrutierten sich im wesentlichen aus der Schicht der Halbspänner, deren Grundbesitz schon im Spätfeudalismus mit Hilfe fremder, d. h. nicht zum Familienverband gehörender, Arbeitskräfte bewirtschaftet werden mußte.46 Mit dem Ubergang von der Dreifelderwirtschaft zum Fruchtwechselsystem (gewöhnlich in vier Feldern: „1. Futterkräuter, Hülsenfrüchte usw., 2. Winterung = Roggen, Weizen, Raps, 3. Hackfrucht = Zuckerrüben, Kartoffeln, Cichorien usw., 4. Sommerfrucht = Gerste, Hafer usw.")47 erhöhte sich der Bedarf an landwirtschaftlichen Hilfskräften sogar, so daß auch die Mittelbauern, die sich seit dem letzten Drittel des 19. Jh. ebenfalls gern Ökonom nannten, häufig die Position eines Agrarunternehmers einnahmen. Dennoch blieben sie — im Gegensatz zum Großbauern — noch relativ eng mit der unmittelbaren agrarischen Produktion verbunden. Zwar ließen auch sie sich z. T. ein „Kontor" oder einen entsprechenden Platz im Wohnhaus einrichten, wo sie ihre Buchführung erledigen konnten, zwar wurden auch von ihnen etliche bäuerliche Arbeiten nicht mehr selbst verrichtet (dafür hatte man „seine Leute"), doch legten sie fraglos mehr mit Hand an, als sie in der Öffentlichkeit zugaben. Das Bemühen, den Großbauern gleich zu sein oder zu werden, wurde mehrfach erschwert. So mußten sie schon im Hinblick auf die Ablösung der Feudallasten entschieden mehr leisten als jene. Aber auch nach Beendigung jener durch die Ablösung bedingten finanziellen Belastungen standen sie vor der nicht leichten Aufgabe, im wachsenden Konkurrenzkampf zu bestehen. Wollten die Mittelbauern ihn nicht verlieren, so mußten sie nach allen Möglichkeiten der Gewinnsteigerung suchen und diese nutzen. Das bedeutete z. B., daß es gerade

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Tätigkeit in der Stadt in vielen Fällen zu einem Dauerzustand wurde, vergrößerte sich seit dem letzten Drittel des 19. Jh. die Gruppe der „ungelernten" Arbeitskräfte, die nun ebenso wie jene / Dorfbewohner, welche bereits „städtische Berufe" erlernt hatten, täglich als Pendler in die Stadt fuhren. Spezielle historisch-demographische Untersuchungen, z. B. zur Zahl der Kinder bei den verschiedenen sozialen Gruppierungen, sind in der Magdeburger Börde bisher noch nicht durchgeführt worden. Offensichtlich ist jedoch der Fakt, daß seit dem 19. Jh. in den Familien der Großbauern und z. T. sogar der Mittelbauern zunehmend nur ein Kind vorhanden war, um die Teilung des Hofes bzw. das „Auszahlen" der nicht realerbenden Geschwisterkinder zu vermeiden, während bei den kleineren Bauern oft eine größere Kinderzahl durchaus erwünscht war, um deren Arbeitskraft für ihre Wirtschaft nutzen ?u können.

46

V g l . HARNISCH, 1 9 7 8 , u n d BERTHOLD, 1 9 7 9 .

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So angegeben in der Statistik, 1867: 42.

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die Mittelbauern waren, die vielfach noch Land hinzupachteten, um mit Hilfe der Ausbeutung weiterer Landarbeiter und durch die nun mögliche noch rentablere Ausnutzung ihrer Maschinen den Gewinn zu erhöhen. Dazu gehörte aber auch, daß sie Teilhaber an den gewerblich-industriellen Unternehmen sein mußten, und nicht zuletzt, daß sie den geringeren Grundbesitz vielfach durch bessere Fachkenntnisse auszugleichen suchten. Den schwersten Stand innerhalb der Bauernschaft hatten die Kleinbauern, deren Grundbesitz zwar im allgemeinen genügte, um die Familie zu ernähren, der jedoch kaum ausreichte, um den Einsatz der modernen Technik, vor allem der größeren Maschinen, und die Anwendung effektiverer Arbeitsmethoden zu ermöglichen. So war für sie von Anfang ihres Daseins als kapitalistisch-wirtschaftender Bauer an charakteristisch, daß sie um ihre Existenz zu kämpfen hatten. Bereits beim Ubergang vom feudalabhängigen Bauern im Range eines Groß-Kossaten zum selbständigen Bauern erwuchsen ihnen besonders große Schwierigkeiten, da sie am wenigsten für den „Markt" produzierten und die Ablösungssummen vielfach nur unter weitgehendem Verzicht auf die Befriedigung eigener Bedürfnisse aufgebracht werden konnten. Selbst nach 1850, als der allgemeine konjunkturelle Aufschwung ihnen manche Gewinne ermöglichte, die Kleinbauern anderer Gebiete, in denen keine Zuckerrüben angebaut wurden, höchst selten erringen konnten, waren sie unter dem Druck des harten Konkurrenzkampfes weiterhin gezwungen, ihre persönlichen materiellen und kulturellen Bedürfnisse den wirtschaftlichen Erfordernissen unterzuordnen. So war für diese Kleinbauern unter anderem typisch, daß sie nicht nur gemeinsam mit den Familienmitgliedern selbst tätig, sondern sogar nicht selten zu umfangreicher Mehrarbeit bereit bzw. verurteilt und obendrein zu größter Sparsamkeit gezwungen waren. Ständig dem Druck der rentabler und billiger produzierenden Großbetriebe ausgesetzt, den Agrarkrisen weit stärker als die Großbauern und Gutsbesitzer ausgeliefert und die Gefahr der Zwangsversteigerung vor Augen, suchten sie oft verzweifelt nach einem Ausweg: Mal glaubten sie, ihn durch zeitweises Verpachten der Ländereien an Zuckerfabriken oder Güter, mal durch die Übernahme zusätzlicher handwerklicher, z. T. sogar proletarischer Tätigkeit einzelner Familienmitglieder gefunden zu haben. Dann wieder bemühten sie sich um Aufnahme von Krediten, strebten den Zusammenschluß zu Genossenschaften oder die Teilnahme an Aktiengesellschaften an. Auch sollte die Orientierung auf einzelne, noch nicht mit Maschinen bearbeitbare Spezielkulturen (besonders in Stadtnähe ) helfen usw. usw. Und in der Tat gelang es vielen Kleinbauern, auf diese oder jene Weise ihre Existenz zu erhalten und damit der Gesetzmäßigkeit vorübergehend entgegenzuwirken, nach der sie am ehesten ein Opfer des kapitalistischen Konkurrenzkampfes hätten werden müssen. Obwohl auch sie gegen Ende des 19. Jh. mehr und mehr zur maschinellen Bearbeitung in einzelnen Bereichen übergingen, so stellten sie noch am ehesten den Typ des traditionellen Bauern dar, weil sie in der Tat weiterhin mit dem Pflug hinter dem Ochsen oder Pferd aufs Feld gingen, mit dem Sätuch über den Acker schritten, mit der Sense das Korn mähten und mit der Gabel die Rüben aus dem Boden hoben, mit dem Dreschflegel das Korn auf der Tenne ausdroschen usw. usf. Damit blieb aber nicht nur die traditionell schwere Arbeit erhalten, sie füllte nach wie vor den ganzen Tag von den frühen Morgen- bis in die späten Abendstunden aus. Selbstverständlich war die Frau darin miteinbezogen und auch die Kinder, die nicht nur in den Ferien, sondern während des ganzen Jahres helfen mußten. Die Ferien wurden übrigens nach der am 21. 9. 1823 erlassenen und 1829 ergänzten Ordnung geregelt, in der die Regierung in Magdeburg bezeichnenderweise erlaubte, „daß die Schulkinder, welche ihren Eltern nach der Überzeugung des Pastors und des Orts- oder Schulvorstandes für die ländlichen Arbeiten nötig waren, im Sommer für die Dauer der

Lebensweise der Bauern (etwa 1830—1900)

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Arbeit nur 6 Stunden wöchentlich" die Schule besuchen, wobei jeweils festgelegt werden konnte, ob diese an einem Tag oder über die Woche verteilt zu absolvieren sind.48 Nach der Ferienordnung von 1891/1892 hatte sich der Beginn der Ferien sogar direkt nach den landwirtschaftlichen Arbeiten zu richten. In der Schul-Chronik von Hundisburg heißt es dazu: „Die Ferien des Sommerhalbjahres werden so verteilt, daß acht Tage zur Zeit des Rübenverziehens gegeben werden und die übrigen vier Wochen in die Zeit der Kartoffelernte fallen."49 Ohne Frage werden nicht nur die Kinder der Landarbeiter und kleinen Parzellenbesitzer entsprechende Arbeiten zu verrichten gehabt haben, sondern auch die der Kleinbauern. Das bedeutet nun aber keineswegs, daß diese eine geringere Lernbereitschaft gehabt hätten. Die uns vorliegenden Schulhefte beweisen eher das Gegenteil, ebenso die Aufzeichnungen eines Kossäten aus Hohenwarsleben über die täglich ausgeführten Arbeiten, das Wetter und die besonderen Ereignisse.50 Fassen wir die Aussagen über die bäuerliche Arbeit und Wirtschaft zusammen, so müssen wir konstatieren, daß die sich im 19. Jh. verstärkende soziale Differenzierung zwischen den einzelnen bäuerlichen Schichten zu gravierenden Unterschieden auch im Alltagsleben führte, die zwischen den Groß- und Mittelbauern jedoch nur gradueller Art, zwischen diesen und den Kleinbauern aber grundsätzlicher Natur waren. Die von der bürgerlichen Literatur gewöhnlich ebenfalls zu den Klein- bzw. Kleinstbäuern gezählten kleinen Par%ellenbesit%er, die richtiger als Halbproletarier einzustufen sind, weil ihre Haupttätigkeit nicht in der eigenen Landwirtschaft lag und diese nur als Zusatz betrieben wurde, können im folgenden nicht berücksichtigt werden. Es sei ausdrücklich darauf verwiesen, daß sich ihre „bäuerliche" Tätigkeit lediglich auf das Halten von Kleinvieh und das Bearbeiten einer Parzelle beschränkte, wobei sogar das Pflügen häufig auch noch von einem Großbetrieb übernommen wurde, der sich dadurch eine — gewöhnlich weibliche — Arbeitskraft für die Erntezeit sicherte, während der diese dann das Pflügen „abarbeiten" mußte. Bäuerliches Wohnen Ebenso wie das Bild des mit dem Sätuch übers Feld schreitenden Landmannes nicht mehr charakteristisch ist für die Arbeitssphäre der Börde-Bauern im 19. Jh., so ist auch die Vorstellung vom Spinnen am Herdfeuer nichts anderes als eine Idyllisierung für das Wohnen im Bauernhaus der Börde nach 1830. Zwar galt für die ersten Jahrzehnte des 19. Jh. noch, daß die Dörfer unseres Untersuchungsgebietes rein äußerlich weitgehend traditionell, nämlich aus zahlreichen Fachwerkbauten bestehend, überwiegend mit Strohdächern gedeckt und kleinen Fenstern versehen, anmuten, doch täuschte dieser Eindruck, denn der Zerfall des Feudalsystems war ebenso wie z. B. die soziale Differenzierung schon recht weit vorangeschritten, nur konnten sich diese Veränderungen auf Grund des geringen Entwicklungsstandes der Produktivkräfte im ländlichen Bauwesen noch nicht deutlich genug im Dorfbild ausweisen. Seit den dreißiger Jahren des 19. Jh. trat nun auch ein äußerlicher Wandel im Anblick des Dorfes ein. Dieser äußerte sich nicht nur in der Errichtung von ZichorienDarren und Zuckerfabriken, neuen größeren Ställen und Scheunen, dem Ausbau des Straßen- und Eisenbahnnetzes, er trat ebenfalls bei den Wohnhäusern in Erscheinung. 18

DANNEIL, 1 8 7 6 : 2 9 8 .

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Auszugsweise im Fragebogenmaterial von WILHELM L A U E , Magdeburg, enthalten. Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von MAX BÖSCHE, Hohenwarsleben.

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Die Großbauern, die sich bereits gegen Ende des 18. Jh. oftmals ihre Wohnhäuser nicht mehr in Fachwerk, sondern bereits aus Bruch- oder Ziegelstein errichten ließen, bevorzugten seit den dreißiger Jahren fast ausschließlich Massivbauten. Diese stets zweistöckigen, vielfach unterkellerten und mit einem Ziegeldach versehenen Wohnhäuser gehörten mit den immer sorgfältiger und aufwendiger gestalteten Torbogen zu den imposantesten baulichen Leistungen in den Dörfern jener Zeit. Sich durch ihre Größe, Höhe und Gediegenheit, aber auch durch den Aufwand an Schmuckelementen wie Tür- und Fenstergewänden, Ziervasen und Inschrifttafeln deutlich von allen anderen dörflichen Wohnhäusern abhebend, verbleiben sie jedoch in der Grundrißgestaltung noch relativ eng an die überlieferte Norm gebunden.51 Der einzige, wenn auch wesentliche Punkt der Veränderung war die deutlich spürbare Tendenz der Verdrängung der Küche aus ihrer ursprünglich generell üblichen Lage im Mitteltrakt des Hauses im Anschluß an den Hausflur. Sie wird seit 1830 immer häufiger seitlich des Flures, allerdings noch in der gleichen Etage angelegt. Die Aufgabe der ursprünglichen Mittellage, die den Vorzug gehabt hatte, daß alle Feuerstellen des Hauses an den dort befindlichen zentralen .offenen Schornstein angeschlossen werden konnten, zwang dazu, daß nunmehr mehrere Rauchableitungsmöglichkeiten geschaffen werden mußten. Dies war wiederum relativ leicht möglich, da die Anlage der engen, sogenannten russischen Rohre seit 1822 baupolizeilich zugelassen war,52 nun allerdings eine zusätzliche Räucherkammer angelegt werden mußte, deren Funktion bisher der offene Schornstein mitübernommen hatte. Nicht minder bedeutsame Wandlungen vollzogen sich in der Nutzung der einzelnen Räume: War es noch bis in das 19. Jh. hinein üblich, daß die Elterngeneration nach der Übergabe bzw. dem Verkauf ihres Hofes an den Sohn noch im Hause, und zwar in einem speziellen Altenteil, wohnen blieb, so siedelte sie jetzt — offenbar e^n Indiz für den mit dem Kapitalismus sich weiter ausprägenden Individualismus — fast immer in andere Gebäude über. In der Magdeburger Börde war es zwischen 1820 und 1870 allgemein üblich, daß dieses spezielle „Auszugshaus" am Giebel des Stalles angelegt wurde, von diesem aber durch eine Brandmauer deutlich getrennt. Trotz der vielfach in den Altenteilverträgen vereinbarten Nutzungsrechte und anderer familiärer Bindungen oder Traditionen kam es immer deutlicher zu einer vollständigen Trennung der Generationen, wenn auch z. B. der Zugang zum Altenteil noch vom gemeinsamen Hof aus erfolgte. Die sich im Verlaufe des 19. Jh. verstärkende Tendenz der Trennung der Generationen kommt ferner in den seitdem üblichen eigenen Küchen in den beiden Wohnungen zum Ausdruck. Gegen Ende des 19. Jh. gehen die Großbauern schließlich zur Errichtung separater Auszugshäuser mit eigenem Hofbereich über, die Loslösung aus den familiären Bindungen gewissermaßen krönend. Die vor allem von den Großbauern betriebene, aber auch im Interesse der bei ihnen Beschäftigten liegende Auflösung des patriarchalischen Verhältnisses führte ebenfalls zu einem Wandel in der Raumnutzung. So war man nach 1830 immer weniger bereit, nach traditioneller Sitte mit allen im HauSe bzw. in der Wirtschaft Tätigen gemeinsam z. B. die Mahlzeiten einzunehmen, den Feierabend zu verbringen usw. Dafür tauchen seit dieser Zeit immer häufiger die „Gesindestuben" auf, in denen die Knechte und Mägde ihr Essen bekamen, wo sie sich aber auch abends aufhalten durften. Vereinzelt befand sich dieser Raum zwar im Wohnhaus, zumeist jedoch lagen die Gesindestuben über dem Altenteil, das wie der Stall zweistöckig war. Da außerdem die bei den Großbauern beschäftigten 51 Vgl. 52

dazu ausführlicher bei RÄCH, 1974: 59.

RÄCH, 1974: 44.

Lebensweise dei Bauern (etwa 1830—1900)

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Arbeiter und auch die Knechte ja nicht im Hause wohnten, stand das gesamte Haus — abgesehen von der häufig noch vorhandenen Mägdekammer — allein der bäuerlichen Familie zur Verfügung. Die Bedingungen für das Wohnen waren im Haus der Großbauern also bereits in der ersten Hälfte des 19. Jh. sehr günstig, zumal durch die verbesserten Schornsteinanlagen nun auch die Stuben im Obergeschoß beheizbar und damit voll nutzbar wurden. Dadurch konnten die einzelnen Bereiche des Wohnens auf verschiedene Räume verteilt werden. So gab es gesonderte Zimmer zum Schlafen, Tagesaufenthalt und zum Kinderaufziehen, geräumige Küchen und Vorratsräume usw. Die Küchen erfuhren in der ersten Hälfte des 19. Jh. erhebliche Veränderungen. Anstelle des Herdfeuers und der Aschegrude,53 die noch unterhalb der offenen Schornsteine angelegt werden konnten, wurden Herde und Koksgruden mit Eisenrosten gebaut, die wegen des erforderlichen erhöhten Zuges beim Brennvorgang an die engeren Schornsteinrohre angeschlossen werden mußten. Wesentliche Impulse für die relativ schnelle Verbreitung der Herde und Koksgruden gingen von der seit etwa 1805 möglichen Braunkohlefeuerung, insbesondere im hallensisch-magdeburgischenRaum, aus, wo permanenter Holzmangel herrschte und man bereits damals mit dem Abbau der relativ reichen Braunkohlelager begann. Der Verzicht auf den offenen gewölbten Schornstein erlaubte ferner, daß die Küche größer und mit einer Decke versehen angelegt werden konnte. „Die in der Küche arbeitenden Personen (werden) ... weder durch den, vorzüglich dem Auge so höchst nachtheiligen Rauch, noch den aus dem offenen Schornstein herabströmenden Windzug belästigt ...", heißt es dazu in einer zeitgenössischen, die Braunkohleheizung propagierenden Schrift.54 Tatsächlich wurde der seitdem warme, der Stube durchaus ähnliche Raum fortan auch als Aufenthaltsraum für das Hausgesinde genutzt. In vielen Fällen wurde daraus eine Art Wohnküche, die jedoch vornehmlich den Mägden, dem Dienstpersonal vorbehalten blieb. Demzufolge befanden sich neben der Feuerungsanlage in diesem mit Ziegeln gepflasterten Raum ein langer Tisch, eine Bank, mehrere Hocker und das Mobiliar zur Aufbewahrung des Koch- und Eßgerätes. Die Wohnstuben wurden allein von der bäuerlichen Familie genutzt. Sie waren mit Fußbodendielen, relativ großen, aber einfachen Fenstern, einem Kachelofen (auf Eisenuntersatz), der von der Stube aus zu heizen war, ausgestattet. Mehr und mehr drangen jetzt auch schon „feinere Möbel" in die Bauernstube ein. Zwar dominierten bis zur Mitte des 19. Jh. noch die alten Formen wie Ofenbank, Truhe, Tisch und Schemel, doch begannen bereits in den vierziger Jahren „... der Großvaterstuhl dem Sopha, der Schemel dem Polsterstuhle, das Zinn dem Silber, das irdene Geschirr dem Porcellan ... Platz" zu machen.55 Ahnliches gilt auch für die Schlafräume, für das Kinderzimmer usw. Seit der Mitte des 19. Jh. ist eine Beschleunigung dieser Prozesse zu beobachten. Begünstigt durch die oft erstaunlich schnelle Geldakkumulation, wurden sogar die an sich konstruktiv und funktionell voll ausreichenden Wohnbauten vielfach schon nach kurzer Zeit durch Neubauten ersetzt. Den Hauptantrieb bildeten weniger die inzwischen gewachsenen wohnkulturellen Bedürfnisse, sondern vor allem das gestiegene Repräsentationsbedürfnis, das Streben, den Gutsbesitzern bzw. der städtischen Bourgeoisie nachzueifern. Einerseits sollte der Komfort dem der Herrenhäuser nicht nachstehen, andererseits versuchte man, wie der städtische Kapitalist in seiner Villa, durch die Dekoration der Ge53 64 85

5

RÄCH, 1 9 7 4 : 3 0 . MEERFELS, 1 8 3 7 : 3 1 . SCHULZE, 1 8 4 4 : 1 9 8 . AK, Landarbeiter II

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bäude mit dem Formengut vergangener Epochen den Eindruck historischer Tiefe zu erwecken. Dieser der herrschenden bourgeoisen Geschmacksrichtung entsprechenden Tendenz folgten vor allem natürlich die Vertreter der herrschenden Klasse, also auch die Großbauern, da sie einmal die finanziellen Mittel dazu besaßen, zum anderen mit Hilfe dieser Verkleidung eine historische Rechtfertigung ihrer Herrschaft und deren Aufrechterhaltung auszudrücken suchten. Die zwar stets aufwendigen, um 1850/1860 jedoch noch recht maßvollen „Paläste" („Zucker rübenpaläste") waren bereits damals durch ihre gegenüber den Vorgängern noch größer angelegten Ausmaße aufgefallen. Hinzu kam in den folgenden Jahren die Verwendung modischer (in der volkskundlichen Literatur „städtisch" genannter) Schmuckelemente und nichtortsgebundener Baumaterialien, die im Dorfe besondere Aufmerksamkeit erregten. Aus allen möglichen Stilen entlehnte, fabrikmäßig hergestellte Ornamente und Schnörkel an manch einer Wohnhausfassade gehörten seitdem ebenso zum dörflichen Bild wie etwa Teerpappendächer, Zinkbleche, Glasveranden und Eisengitter vor den Kellerfenstern.56 Die Bauten entsprachen nicht nur äußerlich dem herrschenden Geschmack, den Idealen und Vorstellungen der Bourgeoisie in dieser Zeit; sie waren es auch vom Innenausbau und der Raumordnung her. Zwar unterschied sich der Grundriß etwas von dem an sich üblichen der städtischen Bourgeoisie, indem offenbar mehr das seit dem Ende des 18. Jh. in der Bauliteratur propagierte ländliche Herrenhaus als Vorbild diente als die städtische Villa,57 doch ist damit nur auf eine Variante, die spezifisch ländliche Ausprägung, verwiesen. Diese ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß die Gebäude zumeist mehr rechteckig als quadratisch, vom Hof aus zugänglich, durch einen Längsflur geprägt und kaum mit sanitären Einrichtungen ausgestattet waren. Für die ländlichen Paläste und die städtischen Villen gemeinsam war ferner typisch, daß sie neben einem Festsaal mehrere Gesellschaftsräume und die eigentlichen Wohnräume besaßen, die Küche und auch andere Wirtschaftsräume im Kellergeschoß untergebracht und gegen Ende des 19. Jh. immer häufiger sog. zweite Eingänge zum Kellergeschoß angelegt wurden, so daß neben dem „herrschaftlichen" jetzt auch ein sogenannter „Dienstboten-Eingang" vorhanden war. Zwar wurde bereits im Feudalismus die Architektur, einschließlich der Volksbauweise, zur Repräsentation ökonomischer und politischer Machtverhältnisse genutzt, doch erlangte diese Funktion der Baukunst erst im Kapitalismus eine derart große Bedeutung, daß man geradezu von einer neuen Qualität sprechen muß. Der Repräsentation dienten nicht nur die prunkvolle Fassadengestaltung und der aufwendige Innenausbau, der oft durch pompöse Stuckdecken, reiche Bemalung, umfangreiche Verzierungen an Fenstern, Türen, Treppen und Wänden usw. gekennzeichnet war.58 Der Reichtum wurde auch mit Hilfe einer Vielzahl von Räumen, die entsprechend der ihnen zugedachten Nutzung mit ganz spezifischen. Möbeln ausgestattet wurden, demonstriert. So gab es als repräsentativsten Festraum einen 66

Vgl. RÄCH, 1974: 7 7 - 8 2 und 134-137.

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RÄCH, 1 9 7 4 : 9 2 .

Selbst auf den Friedhöfen sollte die errungene soziale Position, die ökonomische Macht, demoni striert werden. Es wurden Familien-Begräbnisstellen eingerichtet, die mit schweren Eisengittern umfriedet und meistens mit prächtigen Denkmälern ausgestattet, mehrfach sogar mit Mausoleen bebaut waren. Eines der frühesten Mausoleen ist das „Erbbegräbnis der Familie des Ackermannes Valentin Griesemann" in Niedemdodeleben aus dem Jahre 1863, weitere stehen in Gutenswegen und anderen Orten. Vgl. KLÖTZSCHER, 1900: 87.

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Lebensweise der Bauern (etwa 1830—1900)

„Saal", der mit einer „Tafel" (einem Ausziehtisch und zahlreichen Polsterstühlen) ausgestattet, durch zahlreiche Ölbilder in Goldrahmen auf großgemusterter Tapete, verzierte Kachelöfen und Brokatgardinen geschmückt und wohl immer mit einer Stuckdecke und Parkettfußboden versehen war. Ihm folgten die verschiedenen „Salons", die eigentlichen „Wohnzimmer", das „Schlaf"-, das „Arbeits"- und das „Kinderzimmer", vereinzelt sogar — je nach Neigung und Vermögen — ein „Jagd"-, „Garten"-, „Musik"-, „Billard"oder sonstwie genanntes Zimmer. In keinem dieser Räume befanden sich auch nur annähernd an die bäuerlichen Vorfahren erinnernde Möbel. 69 Es gab ausschließlich dem jeweiligen modischen Trend entsprechende Einrichtungsgegenstände, die nur z. T. fabrikmäßig hergestellt, zumeist dagegen nach speziellen Wünschen gefertigt waren. Die Fragwürdigkeit der Schaffung einer solchen Vielzahl von Räumen kommt jedoch nicht selten in der Häufigkeit der Verwendung zum Ausdruck; sie blieben weitgehend ungenutzt, standen fast das ganze Jahr über leer und wurden lediglich — wie z. B. auch die hin und wieder angelegten „Paradeküchen" — zu Festlichkeiten genutzt. In eklatantem Widerspruch zu den aufwendigen Gestaltungselementen des Hauses steht nun aber die geringe Qualität der sanitären Verhältnisse. Nur selten gab es Z. B. (auch noch nach 1918) eine eigene Hauswasserversorgung. Das gesamte Wasser mußte vom Brunnen bzw. von der Pumpe geholt werden. Einfache Kastenaborte auf dem Hof in gemauerten oder Bretter-Häuschen (u. a. auch im Taubenturm) mußten genügen.80 Trotz der Fragwürdigkeit in ihrer Funktion stellen die Zuckerrübenpaläste der Börde, die überwiegend zwischen 1860 und 1914errichtet wurden, durchaus beachtliche Leistungen des dörflichen Baugewerbes dar. Sie, die ländlichen Maurer- und Zimmermeister, waren es nämlich, die mit Hilfe ihrer Arbeiter diese aufwendigen Bauten errichteten und damit nicht nur dem erhöhten Stand der Produktivkräfte im Baugewerbe Rechnung trugen, sondern auch ihre eigene gestiegene Leistungsfähigkeit unter Beweis stellten.81 Die Mittelbauern konnten auf Grund der geringeren finanziellen Überschüsse bis zur Mitte des 19. Jh. kaum neue Wohnhäuser errichten. Sie waren zunächst eher bereit und in der Lage, neue und verbesserte Wirtschaftsgebäude zu erbauen. Erst nach 1850 begannen auch sie, ihre Wohngebäude zu erneuern. In der Mehrzahl geschah dies jedoch durch den Umbau, z. B. das Ersetzen ehemaliger Fachwerkwände durch Ziegel- oder Bruchsteinwände, die Herausnahme des offenen Schornsteins usw.; nur selten erfolgten Neubauten, wenn der Altbau noch nutzbar war. Selbst dann, wenn — z. B. als Folge eines Brandes — ein Neubau notwendig wurde, blieb man noch bis Ende der sechziger Jahre aus finanziellen und bautechnischen Gründen den traditionellen bäuerlichen Hausformen verbunden, wenngleich auch hier der Massivbau immer mehr das Fachwerk verdrängte.82 In weit stärkerem Maße als die Mittelbauern waren die Kleinbauern gezwungen, mit den ihnen überlieferten Wohngebäuden auszukommen. Sie bauten im 19. Jh. fast gar keine 59

60

Diese fanden bestenfalls im Altenteil oder beim Gesinde, meistens jedoch in Keller- oder Wirtschaftsräumen ihren neuen Platz. „Es giebt Bauern, die in Kaleschen fahren, aber kein Apartement haben. Viele Familien verrichten ihre Notdurft ohne Scheu auf dem gemeinsamen Mist oder im Scheunengang", heißt es z. B. noch 1 8 9 5 auf Grund einer Erhebung für den Reg.-Bez. Magdeburg. HÜCKSTÄDT, 1 8 9 5 :

102. 41

Stellvertretend für alle seien die Betriebe von Bahrendorf genannt.

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RÄCH, 1 9 7 4 : 4 1 .

5*

KÜHNE

in Hohenwarsleben und

KARSTEN

in

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neuen. Wohnhäuser und konnten auch eine Modernisierung durch Umbau nur schwer realisieren. Dieser Zustand ist Ausdruck der sich gerade bei dieser Schicht besonders bemerkbar machenden Polarisierung in die beiden Grundklassen.63 Während einigen wenigen nämlich der Aufstieg zum Mittelbauern, ja in Ausnahmefällen sogar zum Großbauern gelang, sank der größere Teil zum Lohnarbeiter herab. Diejenigen werktätigen Bauern jedoch, die ihren Besitz infolge des schweren kapitalistischen Konkurrenzkampfes nur eben gerade halten konnten, traten selten, ja fast nie als Bauherren in Erscheinung. Erst gegen Ende des 19. Jh. kam eine neue Gruppe von Landwirten hinzu, die sich durch Zukauf von Land — zumeist in Kombination mit einem Gewerbe (Fuhrbetrieb, Vieh- oder Düngerhandel etc.) — etablieren konnte und vielfach neue Höfe einschließlich Wohnbauten errichten ließ. Ihre kleinen, stets eingeschossigen Wohnhäuser ähnelten aber mehr einer Handwerker- oder auch sogenannten Häuslerstelle als einem Bauernhof. Obwohl also sowohl die Mittel- als auch die Kleinbauern relativ selten neue Wohngebäude errichten ließen, veränderte sich das Wohnen im Hause selbst recht erheblich. Die bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jh. noch zahlreich bei den kleineren Bauern vorhandenen „Einlieger" wurden nämlich aus dem Hause „gedrängt", d. h., sie waren gezwungen, sich eine neue Unterkunft zu suchen.64 Dadurch gewannen auch diese Bauern in ihren Wohnhäusern nun etwas mehr Platz, den sie im wesentlichen als Altenteil nutzten. Seit den sechziger/siebziger Jahren dann verstärkte sich etwas die Umbautätigkeit, die — vor allem durch die Herausnahme der offenen Schornsteine und die Anlage neuer Züge — wiederum zu einer Raumvergrößerung führte. Das Bemühen der kleinen Bauern, wie die Großbauern, aber auch die Handwerker und Gewerbetreibenden mit entsprechenden „Repräsentationsmitteln" einen gewissen Wohlstand auszuweisen, führte dazu, daß man sich dazu in Anbetracht der geringen finanziellen Möglichkeiten nur selten der verwendeten Baumaterialien, der Gebäudegröße, des Aufwandes für die Fassadengestaltung und anderer Elemente bediente. Vielmehr trat für diese soziale Gruppe die Anlage einer „guten Stube" in Nachahmung großbürgerlicher und großbäuerlicher Festsäle und Salons als ein allgemein übliches kleinbürgerliches Ideal charakteristisch hervor. Die dafür erforderliche Umgestaltung des Wohnhauses begann zumeist im Küchentrakt. Seit der hier vorgenommenen Verbesserung der Feuerungsanlagen diente die bis dahin durch den offenen Schornstein nur in begrenzter Weise nutzbare „Schwarze Küche" zunehmend als Wohnküche. Sie wurde bei den kleineren Bauern seit dem letzten Drittel des 19. Jh. zum Hauptaufenthaltsort, während die ehemalige einfache Wohnstube gewöhnlich die Aufgabe eines Festraumes übernahm und als „gute Stube" lediglich bei besonderen Anlässen betreten wurde.65

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V g l . d a z u BERTHOLD, 1 9 7 9 u n d BANDOLY, 1 9 7 8 .

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Vielfach fanden sie diese im Ort nur bei anderen nichtbäuerlichen Hausbesitzern, die einen Teil ihres ohnehin kleinen Gebäudes vermieteten, um ihre finanzielle Lage durch die damit verbundene Geldeinnahme etwas zu verbessern. Da es oft nicht gelang, eine Mietwohnung zu bekommen, andererseits aber der Bau eigener Häuser seit dem ersten Drittel des 19. Jh. rechtlich möglich war, begannen viele dieser „kleinen Leute" unter großen Mühen und Entbehrungen, sich selbst ein Heim zu schaffen. Diese waren anfangs sehr klein und oft aus primitiven Materialien (z. B. Stampflehm) errichtet, um deren Verbesserung und Vergrößerung sich die Familien vielfach ihr Leben lang mühen mußten. Diese „Gute Stube" soll gegen Ende des 19. Jh. zwar meist „mit den unvermeidlichen Nußbaummöbeln und der ,Plüschgarnitur'" ausgestattet gewesen sein, hat aber hier in der Börde offensichtlich „mehr als irgendwo ein beschauliches Dasein" geführt. GERLOFF, 1902: 250..

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Die für den Kapitalismus typischen Ware-Geld-Beziehungen bewirkten zwar generell, also auch bei den Klein- und Mittelbauern, die Auflösung der traditionellen patriarchalischen Verhältnisse, doch sollen bei ihnen derartige Bindungen weit länger als bei den Großbauern erhalten geblieben sein. So wurde von etlichen Exploratoren berichtet, daß gerade in den kleinen Wirtschaften noch bis ins 20. Jh. hinein das Gesinde mit der bäuerlichen Familie gemeinsam aß und z. T. auch die Abende verbrachte.66 Offenbar war diese Tatsache jedoch nicht nur Ausdruck der geringeren sozialen Differenzierung bzw. der noch nicht so klar ausgeprägten kapitalistischen Produktionsverhältnisse, sondern scheint durchaus die für jene Bauernschicht adäquate kapitalistische Form gewesen zu sein. So war bei der Beschäftigung nur weniger Hilfskräfte die Anlage einer spezifischen „Gesinde"- oder „Leute-Stube" weder rentabel noch ohne Platzsorgen im Haus realisierbar. Zudem wurde diese Gemeinschaft von jenen Bauern offensichtlich bewußt geplegt, um — ähnlich der für das städtische Hauspersonal beim mittleren und Klein-Bürgertum typischen Variante: „mit Familienanschluß" — auf diese Weise die Arbeitskräfte an sich zu binden. Wenn in bezug auf die im 19. Jh. erfolgten Veränderungen im ländlichen Bauen und Wohnen in der volkskundlichen Literatur überwiegend vom Verfall, von Zerstörung oder gar von Verunstaltung gesprochen wurde und teilweise noch wird, dann scheint es wohl angebracht, einmal genauer zu prüfen, was nun eigentlich unterging und was an seine Stelle trat. In der Gesamtbilanz wird man zweifellos zugeben, daß im 19. Jh. nicht nur immer mehr Straßen gepflastert und die Dörfer an das Eisenbahnnetz angeschlossen wurden, auch immer mehr Strohdächer wurden durch Ziegeldächer, das Fachwerk durch Bruch- oder Ziegelstein, Lehmschlag durch Stein- oder Zementboden bzw. Holzdielung oder gar Parkett ersetzt. Nicht nur die Fenster wurden größer, die Räume heller, die Küchen sauberer und gesünder, die Keller geräumiger angelegt usw., auch konnte der übliche Strohsack durch Matratzen, die alte Lade (Truhe) durch einen Kleiderschrank, die Ofenbank und die Schemel durch z. T. sogar gepolsterte Stühle usw. ausgetauscht werden. Neuerungen wie Schreibtisch und Tresor, aber auch neue Einrichtungsgegenstände wie Büffet, Sessel, Teppiche und andere konnten hinzukommen. Insgesamt stellen sich diese ausgewählten Elemente fraglos als recht bedeutsame Verbesserungen in den Bereichen Bauen und Wohnen dar, wenn auch nicht vergessen werden darf, daß nicht alle Dorfbewohner gleichmäßig in den Genuß dieser Errungenschaften kamen, daß sich die Verhältnisse bei einzelnen proletarischen Schichten sogar verschlechterten oder erst infolge der Klassenauseinandersetzungen, einschließlich des Kampfes gegen die Dorfbourgeoisie, veränderten.67 Man denke nur an die zahlreichen Proteste der einheimischen Landarbeiter gegen die kellerlosen Wohnungen, von denen z. B. selbst der Amtsrat K Ü H N E aus Wanzleben im Jahre 1892 berichten mußte, daß sie nicht nur „die Ausdünstungen aus dem Erdboden aufnehmen müssen", sondern in ihnen „durch den noch hinzutretenden Duft der in der Wohnung nothwendig aufgespeicherten Vorräthe wie Kohl, Kartoffeln, Rüben etc. eine Athmosphäre erzeugt (wird), die wenn nicht geradezu unerträglich, so doch im höchsten Grade ungesund" ist.68 Damit verweisen wir aber lediglich auf die Zwiespältigkeit des Kulturfortschritts im Kapitalismus, der der herrschenden Minderheit bisher nicht geahnte Möglichkeiten eröff66

87

69

Fragebogenmaterial v o n WOSYLUS, Osterweddingen, FINKE, Großmühlingen, SOMMERMEIER,

Ochtmersleben, und anderen. Zu den wichtigsten Protestformen gehörten im 19. Jh. die Abwanderung in die Industrie, der Kontraktbruch u. a. Vgl. dazu auch die Beiträge von PLAUL und HEINRICH in diesem Band. STAM, Rep. C 28 l i l a , Nr. 5013: 270.

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nete, deren Nutzung jedoch auch im Dorf vielfach zu fragwürdigen Formen — wie etwa den überdimensionalen und z. T. ungenutzten Zuckerrübenpalästen — führte, während der Mehrzahl der Werktätigen diese Entfaltungsmöglichkeiten vorenthalten wurden. Bei aller Zwiespältigkeit, die Durchsetzung des Neuen und die Überwindung des Alten war nicht nur Ausdruck, sondern eine notwendige Voraussetzung für die sich entwickelnden neuen Produktivkräfte. Bäuerliche Kleidung und Nahrung In Anbetracht der Bedeutung, die von den Klassikern des Marxismus-Leninismus dem Essen, Trinken, Wohnen und Sich-Kleiden beigemessen wird,69 ist es geradezu unverständlich, wie unvollkommen unsere Kenntnisse selbst über diese Bereiche immer noch sind. So wissen wir z. B. hinsichtlich der Kleidung für die Magdeburger Börde lediglich, daß in der 2. Hälfte des 18. Jh. die Dorfbevölkerung noch grundsätzlich eine Tracht getragen hat. Sie hatte sich allerdings — wie CARSTED schreibt — „sowohl in Ansehung der Farbe als auch der Form" in den letzten fünfzig Jahren „sehr verändert".70 Wichtiger als verschiedene Einzelheiten der Kleidung ist in diesem Zusammenhang der Hinweis CAKSTEDS, daß selbst die Knechte damals die „bäuerliche" Tracht trugen, „also von jungen Bauern nicht zu unterscheiden" waren. „Selbst die Encken haben und tragen täglich ein Laz und ein blaues Futterhemde und mit allen andern lederne Hoosen, graue, auch weiße Strümpfe."71 Eine weitgehende Übereinstimmung in der Kleidung hätte nach dieser Quelle auch bei den weiblichen Dorfbewohnern bestanden, wobei allerdings gewisse Unterschiede unübersehbar gewesen wären. So hätten die reicheren Frauen und Mädchen besonders die „großen und kostbaren Corallen von Bernstein" bevorzugt, „weil sie theuer sind, weil die Dienstmägde solche nicht wohl bezahlen und also der Bauerfrau was voraus laßen müßen".72 Aus dem Gesagten geht einmal hervor, daß trotz der in der zweiten Hälfte des 18. Jh. bereits ziemlich weit vorangeschrittenen Auflösung der Feudalverhältnisse und der sich verstärkenden sozialen Differenzierung die bäuerliche Tracht noch generell von allen feudalabhängigen Dorfbewohnern getragen und als standesgemäß richtig empfunden wurde. Es zeigt sich ferner aber auch, daß die Kleidung neben ihrer Schutz- und Schmuckfunktion zunehmend eine sozial-repräsentative Funktion zu erfüllen hatte, indem sie beispielsweise als eindeutiges Indiz für die „Rangordnung" genutzt wurde. Das gilt sowohl für die dörfliche Tracht generell, deren Träger durch die herrschende Feudalklasse auf vielfältige Weise, z. B. mit Hilfe der sogenannten Kleiderordnungen, von der Mode der Herrschenden ausgeschlossen werden sollten, das gilt aber auch für die Modifikationen und Differenzierungen innerhalb der trachttragenden Bevölkerung. So wurde z. B. die Tatsache, daß sich die uneheliche Stieftochter eines „Dröschers" als Dienstmagd für ihren ge69

E s sei n u r auf d i e W o r t e v o n FRIEDRICH ENGELS a m G r a b e v o n K A R L M A R X v e r w i e s e n : „ W i e

Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, daß die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können..." ENGELS, 1 9 6 2 ( 1 8 8 3 ) : 3 3 5 . 70

CARSTED, 1 9 2 8 : 9 8 .

N

CARSTED, 1 9 2 8 : 1 0 0 .

72

CARSTED, 1 9 2 8 : 1 0 8 .

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samten Jahreslohn einen derartigen oben genannten Schmuck kaufte, den sonst nur die „Bauersfrauen" trugen, nicht nur vom Pfarrer CARSTED als „Mißbrauch" gebrandmarkt, sondern von der ganzen Dorfbevölkerung kritisiert und als eben nicht standesgerecht empfunden. 73 Im Gefolge der bürgerlichen französischen Revolution von 1789, durch die die Privilegien der Kleidung, die Standestrachten, abgeschafft wurden, und mit der allmählichen Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse in der ersten Hälfte des 19. Jh. in unserem Untersuchungsgebiet verlor jene traditionelle Tracht nun jede Berechtigung bzw. Notwendigkeit. Die sich zur Dorfbourgeoisie entwickelnden Groß- und Mittelbauern z. B. brauchten keine Beschränkungen dieser Art mehr zu akzeptieren, sondern konnten sich an der herrschenden Mode, die eben die Mode der Herrschenden, d. h. in dieser Zeit der Bourgeoisie, war, orientieren. Die Kleinbauern wiederum versuchten, den Großbauern nachzueifern, und für die proletarischen Schichten bestand keinerlei Anlaß und — was wichtiger ist — immer weniger die Möglichkeit, die von den Bauern verworfene Tracht als die ihre anzuerkennen und zu tragen. Zu Beginn des 19. Jh. war es jedoch noch einmal zu einer — auch in anderen Bereichen nachweisbaren — „letzten Blütezeit kostbarer Bauernkleidung" 74 gekommen, die nicht nur innerhalb des Dorfes den Stolz des sich aus den feudalen Fesseln befreiten Bauern, sondern auch in der Stadt den jetzt gleichberechtigten und nicht mehr wie früher vom Städter überheblich verlachten, zumeist arm und dumm gescholtenen Bauern demonstrieren sollte. Bald erwies sich aber, daß die Tracht gerade den umgekehrten Effekt, nämlich den Eindruck dörflicher Rückständigkeit erweckte. Die Folge war, daß die Bauern zunehmend auf dieses Status-Symbol verzichteten. Bereits in den vierziger Jahren können wir die Absage an die traditionelle bäuerliche Kleidung bei den Großbauern registrieren, 75 derem Beispiel bald die Mittelbauern und schließlich auch die Kleinbauern folgten, so daß bereits dreißig Jahre später, also um 1870/1871 in der Magdeburger Börde kaum noch Trachten getragen wurden. Das sich im gleichen Zeitraum herausbildende Proletariat wiederum war überhaupt nicht in der Lage, sich derart aufwendige Kleidung zu leisten, was außerdem durch den Rückgang des Flachsanbaus und den Mangel weiterer Ausgangsstoffe unterstützt wurde. Dafür traten zunehmend industriell hergestellte Stoffe und nach 1850 auch schon mit Nähmaschinen angefertigte Kleidungsstücke hinzu. Der Ubergang zur „städtischen", d. h. eigentlich bürgerlichen Bekleidungsmode vollzog sich jedoch durchaus nicht so schlagartig, wie es nach der obigen Schilderung den Anschein haben könnte. Vielmehr wurden nach und nach immer mehr Elemente der neueren städtischen Mode in die Tracht „eingeschmolzen", bis eines Tages auf jegliche Eigenständigkeit verzichtet wurde. So ist für die männliche Bördetracht der ersten Hälfte des 19. Jh. z. B. charakteristisch, daß ihre Festtagsvariante neben traditionellen Kniehosen, Futterhemd und Kniestrümpfen bereits Leibrock und modisches Halstuch (Krawatte) enthielt. 76 Bis zur Übernahme der langen Pantalons und der Weste war kein weiter Weg mehr. Die weiteren, zur Ausstattung eines bürgerlichen Ökonomen gehörenden Bestand73 74 75

76

CARSTED, 1 9 2 8 : 109. STEGMANN, 1 9 3 5 : 77. SCHULZE, 1 8 4 4 : 198.

Von den Schuhen berichtet bereits CARSTED, daß sie „nach der Mode gemacht und alle zugeschnallt (sind)". Die „Stiefeln, so sie im Winter tragen, sind so schön, als sie nur in der Stadt

gemacht werden können." CARSTED, 1928: 101.

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teile der zeitgemäßen Bekleidung wie etwa Zylinder und Lederschuhe werden auch den Agrarunternehmern seit der Mitte des 19. Jh. nicht mehr gefehlt haben. Entsprechend den seitdem ständig wachsenden Kommunikationsbeziehungen mit der Stadt, dem häufigen Aufenthalt vor allem in Magdeburg und den ausgesprochen günstigen finanziellen Verhältnissen galt für die Großbauern von nun an die allgemeine modische Entwicklung als verbindlich. Die seitdem modisch-aktuelle Kleidung war zwar — verglichen mit den höfischen Moden vergangener Epochen — von „bürgerlicher Einfachheit" und hätte theoretisch von jedem getragen werden können, doch wurde der Zuschnitt ebenso wie die Stoffart und Auszier der Kleidung bei den „Spitzen der Gesellschaft" schon bald so anspruchsvoll, daß sich doch wieder nur die Wohlhabenden diese Ausführungen leisten konnten. Hinzu kam seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. — als Ausdruck und Produkt kapitalistischer Produktionsweise in der Bekleidungsindustrie — ein bisher nicht gekannter häufiger und schneller Modewechsel, vor allem in der Frauenkleidung, den die „kleinen Leute" ebenfalls nur höchst selten mitmachen konnten. Die Großbauern unseres Untersuchungsgebietes allerdings versuchten, „auf dem laufenden zu bleiben". Dafür waren, abgesehen von der offenbar erfüllbaren Grundbedingung, nämlich ausreichend Geld zur Verfügung zu haben, noch weitere Voraussetzungen erforderlich: Der Erwerb der modischen Stoffe mußte möglich sein, was in Magdeburg in der Regel der Fall war, die neuen Modetrends mußten bekannt werden, was sowohl durch die Bekanntschaft mit Vertretern der städtischen Bourgeoisie als auch durch Modejournale wohl garantiert war, und schließlich mußte das Schneiderhandwerk zahlreich und qualifiziert genug sein, um diesen Ansprüchen gerecht werden zu können. Auch dies scheint — zumindest in quantitativer Hinsicht — gewährleistet gewesen zu sein, da bereits 185877 die Schneider im Kreis Wanzleben mit 242 Meistern, 49 Gesellen und 34 Lehrlingen neben den Schuhmachern (289 Meister, 107 Gesellen und 62 Lehrlinge) und Maurern (16 Meister, 671 Gesellen,78 54 Lehrlinge) zu den am stärksten vertretenen Handwerkern gehörten. So verwundert es nicht, daß uns jene dörflichen Ökonomen sowohl auf den frühen, in Öl gemalten Porträts79 wie auf den späteren Fotos80 vollkommen der herrschenden städtischen Mode entsprechend gekleidet entgegentreten. Sie präsentieren sich als Geschäftsleute mal mit ein- oder zweireihigem Jackett, dazugehörigem steifen Hemdkragen und Krawatte, mal in feiner Weste mit darunter hervorschimmerndem Chemisette (einem zumeist weißen Vorhemd) und anknöpfbaren Manschetten („Röllchen") oder gar in einem einfarbigen, wenn auch z. T. gemusterten Anzug mit einem durch eine wertvolle Nadel gehaltenen Tuch („Plastron") anstelle der Krawatte, seit den neunziger Jahren dann überwiegend mit Stehkragen („Vatermörder"). Stets wurde auch das entsprechende modische Beiwerk beachtet. Je nachdem, was gerade aktuell war, stattete man sich mit einem Spazierstock, 77 78

79

80

Die Angaben beruhen auf einer 1860 vom Landrat herausgegebenen Denkschrift, 1860: 4—5. Die ungewöhnlich große Zahl von Maurergesellen erklärt sich einmal aus den bereits in jenen Jahren zahlreichen „Pendlern", deren Betrieb und Hauptwirkungsbereich in der Stadt Magdeburg war, zum anderen aus dem Umstand, daß viele sogenannte Häusler und Kleinkossaten als Halbptoletarier neben ihrer landwirtschaftlichen Tätigkeit im Nebenberuf als Maurer oder Zimmermann — und zwar (seit Einführung der Gewerbefreiheit 1810) als „freischaffende" Flickarbeiter bzw. Flickmeister — tätig waren. Vgl. dazu auch RÄCH, 1974: 38ff. Leider sind bisher erst relativ wenig Exemplare erfaßt worden,* deren Dokumentation jedoch eingeleitet werden sollte. Die uns bekannten Fotos zeigen die Personen leider allerdings fast immer nur bei „festlichen Anlässen".

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einer — möglichst goldenen — Uhrkette für die Taschenuhr in der Westentasche, einem Zylinder81 oder Krempenhut usw. aus. Von besonderer Wichtigkeit schien aber offenbar die Haar- und Bartmode zu sein, die im allgemeinen durch kurzes, vielfach gescheiteltes Haar und einen dafür um so üppigeren Bart gekennzeichnet war. Dabei fiel auf, daß die Übernahme des von den jeweiligen Herrschern gegebenen Vorbildes in der Barttracht — z. B. der Knebelbart NAPOLEONS I I I . , der ausrasierte Backenbart WILHELMS I. oder der kunstvoll aufgezwiebelte Schnurrbart WILHELMS I I . — vielfach mit einem politischen Bekenntnis verbunden, mindestens aber als Hinweis für die „Treue zum Vaterland", gedacht war. Da die „Arbeit" jener Ökonomen immer weniger in einer körperlich-praktischen, traditionell-bäuerlichen Tätigkeit bestand, gab es für den „Herrn" kaum noch eine spezielle Arbeitskleidung. Man ging möglichst modisch-elegant, besaß jedoch für besonders festliche Anlässe zusätzlich auch noch Festanzüge, d. h. einen Frack oder Smoking etc. Die bereits in den vorangegangenen Epochen übliche Gleichsetzung von „vornehm" mit „nicht arbeitend" hatte bereits damals insbesondere in der Frauenmode zu verschiedenen weithin bekannten Extravaganzen in der Mode der Herrschenden geführt.82 Aber auch im Kapitalismus des 19. Jh. kam der Frauenkleidung die Aufgabe zu, „Geld und Besitz und damit die Grundlagen der neuen Ordnung zu demonstrieren".83 Das galt uneingeschränkt und besonders für die Frauen der Großbauern. Sie präsentierten sich nicht nur bei besonderen gesellschaftlichen Höhepunkten des Dorfes, wie etwa dem Schützenfest, dem Sedantag, dem Erntedankfest u. a., in ihrer vornehmen Kleidung, die — trotz aller Wandlungen — stets dadurch charakterisiert war, daß man in ihr auf Grund der übermäßigen Länge oder Weite niemals eine körperliche Arbeit verrichten konnte. Sie trugen auch im Hause zumeist eine „feine Kleidung", die der gesellschaftlichen Repräsentation diente und lediglich eine Aufsichts-„Arbeit" zuließ.84 Die weitgehende Übereinstimmung mit der allgemein üblichen Kleidung der Bourgeoisie jener Zeit bezog sich sogar auf den Schmuck, das modische Beiwerk ganz allgemein und selbst auf die Kinderbekleidung. Der bereits um die Jahrhundertwende in der Stadt allgemein übliche und selbst in den entlegensten Bördedörfern nachweisbare Matrosenanzug mag als Beispiel dafür genügen. Die Mittelbauern versuchten zwar, es den Großbauern gleichzutun, doch waren sie auf Grund ihrer ökonomischen Situation an sich kaum in der Lage dazu. Bei der Männerkleidung, die ja nicht ganz so stark dem Wandel der Mode unterlag wie die der Frauen, fielen die etwas geringeren finanziellen Möglichkeiten noch nicht so sehr ins Gewicht, wenngleich man anhand des Aufwandes für die Nebensächlichkeiten auch die sozialen Unterschiede deutlich wahrnehmen konnte. Ferner waren die Mittelbauern mehrfach gezwungen, noch selbst mitzuarbeiten, so daß sie neben ihrem „guten Anzug" fast immer auch Arbeitskleidung besitzen mußten, die gegen Ende des 19. Jh. bereits zunehmend von der Konfektion geliefert wurde. Größere Probleme bestanden jedoch hinsichtlich der Frauenkleidung. Aus den Antworten in den Fragebogen der Exploratoren und zusätzlichen 81

82

Der Zylinder zählte, besonders in der Variante des „Chapeau claque" bis ins 20. Jh. zum unentbehrlichen Requisit des „eleganten Herrn". Man denke nur an den Reifrock oder die Schleppe.

83

THIEL, 1 9 6 0 : 9 .

84

So jedenfalls lauten die Fragebogen-Angaben, die aber offensichtlich höchstens bis in die achtziger/neunziger Jahre zurückreichen.

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eigenen Befragungen geht hervor, daß mindestens seit der Jahrhundertwende die Kleidung der Frauen der Mittelbauern im allgemeinen „bescheidener, den ländlichen Verhältnissen mehr entsprechend"86 gewesen ist. Es wird ferner darauf verwiesen, daß andererseits gerade die Mittel- und Kleinbauern versuchten, ihre Töchter besonders „rauszuputzen", um sie als „gute Partie" vor allem den Großbauernsöhnen „schmackhaft zu machen".86 Die Kleinbauern blieben — nach unseren bisherigen Ermittlungen — nicht nur in der ersten Hälfte des 19. Jh. weitgehend der traditionellen Tracht verbunden. Sie haben z. T. sogar erst in den sechziger/siebziger Jahren auf diese Kleidung verzichtet und modische Formen übernommen. Dabei spielte weniger eine besonders konservative Haltung als vielmehr das geringere finanzielle Vermögen die entscheidende Rolle. Hinzu kam, daß die Kleinbauern normalerweise ja den ganzen Tag über arbeiteten, in der Woche also stets ihre Arbeitskleidung tragen mußten, deren bescheidene Ausformung wenig Ähnlichkeit mit den Festtrachten hatte. Lediglich sonntags — wahrscheinlich sogar nur vormittags zum Kirchgang — trug man eine Festkleidung, so daß also lange Zeit kein zwingender Anlaß bestand, diese oft zu erneuern. Zudem konnte.die traditionelle Kleidung noch weitgehend von der Familie selbst hergestellt und brauchte nicht beim Schneider bestellt und bezahlt zu werden. Im Gegensatz zur Festkleidung wurde die Arbeits- und Gebrauchskleidung bald ersetzt, und zwar durch die billigere Konfektionsware. Diese war „erschwinglich", obwohl die Nähmaschine87 erst in den achtziger/neunziger Jahren in Fabriken eingesetzt und bis dahin alle Konfektionskleidung von Heimarbeiterinnen hergestellt wurde, deren Arbeitsund Lebensbedingungen ganz besonders schlecht waren. Als sich seit der Mitte des 19. Jh. dann auch immer mehr Kleinbauern einen „guten Anzug" anschafften, waren sie bemüht, wenigstens diesen beim Schneider anfertigen zu lassen. Ahnlich dem städtischen Kleinbürgertum, aber auch großen Teilen des Proletariats, strebten die Kleinbauern seitdem verstärkt nach einer repräsentativen Sonntagsbekleidung, um sich wenigstens einmal in der Woche nicht durch das ständige Tragen der Arbeitskleidung bzw. der jetzt schon als altmodisch empfundenen sonntäglichen Tracht diskriminiert zu fühlen. Zunächst wird sicher erst einmal der „Herr des Hauses" als repräsentatives Kleidungsstück einen „Sonntagsanzug" erhalten haben. Der Mann wurde jedoch nicht etwa deshalb bevorzugt, weil er innerhalb der bäuerlichen Wirtschaft eine besonders wichtige Rolle spielte, sondern in weit stärkerem Maße, weil auf Grund der gesellschaftlichen Beschränkungen und dadurch bedingter traditioneller familiärer Arbeitsteilung nur er die außerfamiliären gesellschaftlichen Rechte wahrnehmen und Pflichten erfüllen durfte bzw. sollte. Hinzu kam, daß durch die relative Beständigkeit der Herrenmode der einmal angeschaffte Anzüg lange Zeit ausreichte. Auf das erst in den dann folgenden Jähren angefertigte „gute Kleid" mußte und konnte anfangs verzichtet werden, weil die Frau eines Kleinbauern ohnehin während der ganzen Woche und selbst am Sonntag eine Vielzahl von Arbeiten in Haus und Stall, zeitweise aber auch auf dem Felde zu verrichten hatte und daher noch weniger als der Mann „aus den alten Sachen" herauskam. Das dadurch seltener getragene Kleid wurde in der Folgezeit viel häufiger als der Anzug „umgearbeitet", um es über Jahre hinweg nutzen zu können und wenigstens einigermaßen den Modetrends angepaßt zu sein. 85

Fragebogenmaterial von

OTTO W O S Y L U S ,

Osterweddingen; ferner mündliche Auskunft durch

MAX BÖSCHE, Hohenwarsleben. 86 87

Mündliche Auskunft durch W A L T E R F I N K E , Großmühlingen. Die Nähmaschine wurde bereits im 18. Jh. entwickelt, um 1820 in Frankreich patentiert und hatte sich um 1850 bereits voll durchgesetzt (als Produktionsmittel der Heimindustrie).

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Fassen wir zusammen, so können wir feststellen, daß die Großbauern sich auch hinsichtlich der Kleidung — ähnlich dem Bereich Bauen und Wohnen — am ehesten und intensivsten von den traditionellen Elementen lösten und sich den städtisch-bürgerlichen Entwicklungen anzupassen versuchten. Die von den städtischen Normen abweichenden Modifikationen bezogen sich offenbar lediglich auf das Schuhwerk (der Halbschuh konnte sich nur langsam bzw. gar nicht durchsetzen, dafür dominierte neben dem hohen Schnürschuh stärker der Schaftstiefel) und auf die Mantelform, die vielfach zur Joppe (z. T. mit Pelzkragen) verkürzt wurde. Sie standen damit den Junkern näher als den Klein- und selbst den Mittelbauern, die sich zwar auch zunehmend und seit etwa 1870 völlig an den städtischen Entwicklungstendenzen orientierten. Letztere ließen ihre Kleidung jedoch nur selten vom Schneider anfertigen, sondern kauften überwiegend die billigere Konfektionsware. Diese doch erheblichen Unterschiede verdeutlichen recht anschaulich, wie stark sich im Verlaufe des 19. Jh. die Bauernschaft differenziert hatte. Sie würden sich sogar noch klarer darstellen lassen, wenn man die proletarischen, die sogenannten unterbäuerlichen Schichten miteinbezöge.88 Dann nämlich würde sich zeigen, daß die der kapitalistischen Klassenstruktur entsprechende Polarisierung im sozialökonomischen Bereich sich auch in der Kleidung relativ deutlich widerzuspiegeln begann. Die Kleinbauern, die auf Grund ihrer objektiven sozialökonomischen Stellung89 dem Proletariat relativ nahe bzw. näher standen, als sie in der Regel zugeben wollten, versuchten allerdings seit dem ausgehenden 19. Jh. nur zu häufig, durch einen ihre realen finanziellen Verhältnisse überfordernden Aufwand für das Repräsentationsmittel Kleidung ihre wahre Position zu vertuschen und mindestens einen mittelbäuerlichen Status vorzutäuschen. Die Kleidung konnte diese Aufgabe — allein schon wegen der größeren „Öffentlichkeit" — weit mehr erfüllen als z. B. das alltägliche Essen und Trinken, obwohl auch diese Bereiche vielfach zur Repräsentation genutzt wurden. Man denke nur an die einen großen Kreis von Beteiligten einbeziehenden Feste, wie Hochzeit, Taufe, Begräbnis und andere. Im allgemeinen jedoch waren Essen und Trinken wohl nur alltägliche, zur Reproduktion der physischen Arbeitskraft einfach notwendige Tätigkeiten, deren Art und Umfang nun aber ebenfalls wesentlich von der sozialökonomischen Stellung der Angehörigen der verschiedenen Klassen und Schichten abhingen. Allen Gruppen der Bauernschaft war bis in die dreißiger Jahre des 19. Jh. offenbar noch gemein, daß sie fast ausschließlich selbst hergestellte, d. h. in ihren Wirtschaften produzierte Lebensmittel konsumierten, zu deren Zubereitung, z. B. von Wurst, allerdings seit längerem auch zu kaufende Zutaten wie Pfeffer und Salz verwendet wurden.90 Zu den bekanntesten und beliebtesten Gerichten gehörten Pökelfleisch, Pottsuse (in Schweineschmalz eingelassene, zuvor gebratene Fleischstücke), Fliesen-, Leber- und Blutwurst, zudem Sauerkohl, Klump (ein speziell zubereiteter Hefekloß) und Hirsebrei. Bei allen bäuerlichen Schichten wird auch die Bereitungsweise annähernd gleich gewesen sein, denn die Grude blieb selbst bei den meisten Großbauern noch bis ins 20. Jh. als wichtigste Feuerstelle in der Küche 88

Am Beispiel der Bau- und Wohnkultur exemplifiziert; siehe RÄCH, 1974. In bezug auf die Kleidung sei ferner auf die Beiträge von PLAUL und HEINRICH in diesem Band verwiesen. MARX charakterisiert den Bauern als einen in zwei Personen zerschnittenen Bürger: „Als Besitzer der Produktionsmittel ist er Kapitalist, als Arbeiter ist er sein eigener Lohnarbeiter."

80

CARSTED nennt ferner Muskatnüsse, Rosmarin, Rosinen, Reis, Zitronen und Zimt, die jedoch nur bei besonderen Anlässen verwendet wurden.

MARX, 1 9 6 5 ( 1 8 6 3 ) : 3 8 3 .

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erhalten. Wesentliche Unterschiede sind freilich in bezug auf die Häufigkeit und Reichhaltigkeit der Mahlzeiten zu vermuten. Während in den großen Wirtschaften sicherlich mehrmals in der Woche Fleisch zu den Hauptmahlzeiten gereicht wurde, dominierten in den kleineren Wirtschaften fraglos Hirse- und andere Breie sowie Klump u. a. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jh. begann sich ein Wandel anzubahnen, der vor allem darin bestand, daß die Nahrungsmittel einmal nun nicht mehr unbedingt im Eigenbetrieb produziert werden mußten und zum anderen allmählich durch andere ergänzt werden konnten. So blieb zwar der vor allem zwischen Martini (11. 11.) und Weihnachten viel beschäftigte Hausschlächter91 weiterhin eine wichtige Person im Dorfe, doch stieg die Zahl der Fleischer ungemein. Allein in den vier Städten (Egeln, Hadmersleben, Seehausen und Wanzleben) und den 46 Dörfern des Kreises Wanzleben, des Kernkreises der Börde, existierten bereits im Jahre 1856 genau 76 Meister.92 1864 gab es sogar 81, davon 59 in den Dörfern !98 Noch größer war die Zahl der Bäcker, die sich im Jahre 1858 aus 133 Meistern und 78 Gesellen, 1864 aus 124 Meistern und 87 Gesellen, darunter 95 Meister und 50 Gesellen in den Dörfern, zusammensetzten.94 Es gab also bereits im zweiten Drittel des 19. Jh. durchschnittlich mehr als einen Fleischer und zwei Bäcker pro Dorf dieses Kreises95. War wesentlichere Ursache für diese Entwicklung auch die allgemeine Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse, der Anstieg der proletarischen, auf den Kauf von Lebensmitteln angewiesenen Dorfbevölkerung, so wird doch ebenso die Bauernschaft die sich hieraus ergebenen neuen Möglichkeiten — natürlich auch als Absatzmarkt — genutzt haben. Ganz ohne Frage konnte schon hierdurch die Gleichförmigkeit der Nahrung etwas aufgelockert werden, weit stärker jedoch durch die Angebote der sich seit der Mitte des 19. Jh. in den meisten Dörfern immer mehr ausbreitenden Geschäfte. Die Statistiken weisen immerhin für 1858 — wieder für den Kreis Wanzleben — bereits 302 und für 1864 sogar 348 „Victualienhändler" aus, von denen 254 in den Dörfern, also durchschnittlich mehr als fünf Geschäfte je Dorf, existierten.98 Obwohl zu bezweifeln ist, ob tatsächlich „in früherer Zeit ... die Frauen und erwachsenen Töchter unserer Ackerleute und Kossathen mit der Kiepe nach der Stadt (gingen) und ... dort die Wirthschaftserzeugnisse (verkauften), für deren Erlös sie dann wieder die nothwendigsten Waaren nach Hause brachten", wie PEICKE in seiner Chronik vermutet,97 so ist doch mit dem „Kaufmannsladen", der nicht nur Syrup, Zichorien, Zucker, Rosinen, Mandeln und dergleichen, sondern auch andere Erzeugnisse führte, „ein Stück Stadt ins Dorf gehölt" worden. Während des zweiten Drittels des 19. Jh. verbesserten sich in den Bördedörfern also nicht nur die Einkaufsmöglichkeiten für etliche Grundnahrungsmittel (Brot, Fleisch, Wurst, 91

92 93 94 95

96 97

Hausschlächter war gewöhnlich der Winter-, also Zweitberuf von Maurern oder anderen „kleinen Leuten". Schon CARSTED wies darauf hin, daß er eine hoch geachtete Person im Dorf sei. Denkschrift, 1860: 4 - 5 . Statistik, 1867: 47, Denkschrift, 1860: 4, sowie Statistik, 1867: 47. Aus Hohenwarsleben im benachbarten Kreis Wolmirstedt berichtet der Chronist H. BÖSCHE für das ausgehende 19. Jh., daß bis dahin „das Fleisch ... in Fässern eingesalzen (wurde), um dann als Pökelfleisch der Familie das Jahr hindurch zu helfen. Späterhin behagte den Leuten das eingesalzene Fleisch nicht mehr, beim Fleischer war wöchentlich frisches zu haben und auch diese Sitte ging ein. Auf ähnliche Weise ist auch das Brod backen abgekommen". BÖSCHE, 1930: 126 ff. Denkschrift, 1860: 5, sowie Statistik, 1867: 53. PEICKE, 1 9 0 2 : 2 4 2 .

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Mehl, Zucker etc.), es wurde gleichzeitig der Kauf bisher lediglich in den Städten erwerbbarer Waren und Lebensmittel wesentlich erleichtert. Eine Folge war, daß die in relativ starker dörflicher Abgeschiedenheit entstandenen Gerichte, die im einzelnen sicher sehr schmackhaft waren, durch ihre häufige Verwendung aber doch zu einer gleichförmigen und einseitigen Ernährung führten, zunehmend durch neue ersetzt wurden und — wenigstens theoretisch — eine größere Vielfalt der Speisen üblich werden konnte. Uneingeschränkt galt das für die Großbauern, die auf Grund ihrer Kontakte mit der städtischen Bevölkerung und der finanziellen Möglichkeiten bereits vorher begonnen hatten, manch eine diesbezügliche Neuerung einzuführen, die nun beibehalten wurde. Die Klein- und selbst die Mittelbauern dagegen blieben anfangs, da sie zumeist „nicht genügend Geld locker hatten", noch dem Herkömmlichen weitgehend ausgeliefert. Sie waren vielfach auf die traditionellen Gerichte geradezu angewiesen und folgten den neueren Trends nur zögernd.98 Für die Großbauern der Magdeburger Börde kann es aber seit den sechziger/ siebziger Jahren des 19. Jh. als durchaus charakteristisch bezeichnet werden, daß sie neben den offensichtlich weiterhin beliebten traditionellen Gerichten, wie z. B. gepökeltes Schweinefleisch mit Sauerkohl und Klump, den Speisezettel abwechslungsreicher gestalteten, indem sie während des ganzen Jahres frisches Rind- oder Schweinefleisch sowie Geflügel oder sonstiges Wild, verschiedenste Gemüsesorten und zunehmend auch Kartoffeln hinzunahmen. Parallel dazu verlief nicht nur der bereits genannte Prozeß der Verdrängung des Hausgesindes von der gemeinsamen Tafel (das Gesinde bekam seitdem auch nicht mehr das gleiche Essen wie die „Herrschaften"), es wurde auch statt von Holztellern bzw. Steingut zunehmend von Porzellangeschirr, statt mit einfachen Messern und Löffeln möglichst mit vornehmem Besteck gegessen. Der Versuch, mit einer entsprechenden Eßkultur zu repräsentieren, wurde nun begonnen bzw. verstärkt. Man ließ sich spezielle Eßzimmer einrichten, wo das „Essen angerichtet" werden sollte, kaufte umfangreiche Porzellan-Service für große Feierlichkeiten usw. Und an möglichst repräsentativen Festen beteiligt zu sein, war durchaus ein erstrebenswertes Ziel der Bauernschaft. Es gehörte aber auch zu den geradezu obligatorischen gesellschaftlichen Pflichten in bestimmten „Kreisen", jährlich mehrere Feste selbst auszugestalten, an denen nicht nur die engere Verwandtschaft, sondern ein „erlesener Kreis" von Gästen teilnahm. So erlangten Jagd-Vergnügen, Vereinsfeste und ähnliche Veranstaltungen gegenüber den traditionellen Festen wie Weihnachten, Ostern, Geburtstag und Kindtaufe immer größere Bedeutung. Die bei diesen Anlässen gebotenen Festessen bestanden stets aus mehreren „Gängen". Als Beispiel soll das aus Anlaß des 50jährigen Geschäfts-Jubiläums der 1872 gegründeten Aktien-Zuckerfabrik in Niederndodeleben gegebene Festmahl angeführt werden. Der überlieferte gedruckte Speisezettel sah wie folgt aus: „Krebssuppe — Karpfen blau, zerl. Butter, Meerettich, Kartoffeln — Lendenschnitte, Bearnaise-Tunke, Pommes frittes, Spargel, Erbsen — Getrüffelter Puter, Salat, eingemachte Früchte — Vanille-Eis, warme Schokoladentunke — Käse, Gebäck."99 Außerdem wurden verschiedene edle Weinsorten angeboten. Gewiß war dies auch für die Groß- und erst recht für die Mittelbauern nicht die alltägliche Kost. Sie war fraglos bescheidener. Doch wir wissen z. Z. noch zu wenig, um allgemein verbindliche Angaben machen zu können. 98

Bezüglich des Wandels in der Ernährung der proletarischen Schichten sei auf die Beiträge von und HEINRICH im vorliegenden Band verwiesen. Das Original, das uns unser Gewährsmann, Herr SOMMERMEIF.R, Ochtmersleben, freundlicherweise zur Verfügung stellte, befindet sich im Besitz des Aators. PLAUL

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Hinsichtlich der Festessen aber wird seitens der Exploratoren immer wieder darauf hingewiesen, daß die Klein- und Mittelbauern bei entsprechenden „notwendigen" Gelegenheiten, wie z. B. Hochzeiten, einen nicht vertretbaren Aufwand getrieben hätten, mit dem man sich gegenseitig übertrumpfen wollte. Eine oft Jahre währende Sparsamkeitswelle war dann die Folge. Im hier behandelten Zeitraum, der von etwa 1830 bis zum ersten Weltkrieg reicht, traten ganz allgemein erhebliche Veränderungen in der Gestaltung der Speisezettel ein. Zu den Haupttendenzen gehörte das allmähliche Ersetzen der morgendlichen Breikost durch Brot und Butter, die generelle Zunahme der Kartoffelspeisen (vor allem als Mittagsbeilage), das Verdrängen des Pökelfleisches durch frisches (beim Fleischer gekauftes) oder eingewecktes Fleisch (seitdem es mit Hilfe der Einwecktechnik konserviert werden konnte) sowie die Übernahme neuer Lebens- und Genußmittel wie Kaffee, Kakao und überhaupt der gegen Ende des 19. Jh. immer häufiger angebotenen „Kolonialwaren". Dabei gingen fraglos ebenfalls die Großbauern voran, während die kleineren aus ökonomischen Gründen gezwungen waren, noch weit länger an den traditionellen Nahrungsmitteln wie Pökelfleisch, Sauerkohl und Klump festzuhalten und die ganz kleinen Bauern u. U. sogar auf Surrogate wie Margarine und Kunsthonig zurückgreifen mußten. In das 19. Jh. fällt ferner die Übernahme des Kaffees als Getränk. Aus Glöthe wird berichtet, daß dort die Familie DIESING den Kaffee „erst bei der Frau Pastorin kennen" lernte. Offenbar schmeckte er ihnen gut, denn „sie brachten nun selbst von Magdeburg ungebrannten Kaffee mit. Sie brühten die grünen Kaffeebohnen auf und waren überrascht, daß er ganz abscheulich schmeckte. Verzweifelt holten sie Rat bei der Frau Pastorin, die ihnen empfahl, den Kaffee erst zu brennen. Das taten sie dann auch und zerklopften die gebrannten Bohnen in einem Lederbeutel mit dem Hammer, denn Kaffeemühlen gab es damals noch nicht. Kaffee wurde damals nur sonntags und an hohen Feiertagen getrunken."100 Leider sind uns keine Angaben bekannt geworden, ab wann auch die kleineren Bauern begannen, den Bohnenkaffee zu trinken. Größtenteils blieben neben Milch und verschiedenen Teesorten die meisten wohl noch beim Zichorienkaffee. Ein weiterer Wandel in den Nahrungsgewohnheiten kommt ferner in dem von den Gutsbesitzern bzw. dem städtischen Bürger übernommenen Weinkonsum anstelle des bis dahin dominierenden Bier- und Branntweinverbrauchs zum Ausdruck, wobei weniger der Geschmackswandel als wohl mehr das Repräsentationsbedürfnis die entscheidende Rolle gespielt haben mag. Auf jeden Fall sind seit den sechziger/ siebziger Jahren Weinkeller in den Zuckerrübenpalästen der Großbauern keine Seltenheit mehr. Bäuerliche Feste und Feiern Wie in anderen dörflichen Regionen gab es auch in der Magdeburger Börde seit Jahrhunderten im wesentlichen drei Gruppen von festlich begangenen Anlässen. Einmal waren es die mit den einzelnen Abschnitten des Familienlebens verbundenen Gelegenheiten, zu denen wir Geburt, Taufe, Hochzeit, Ehejubiläen und den Tod rechnen. Zum anderen entstanden sie aus wirtschaftsbedingten Einschnitten oder Sonderaufgaben, wie sie Saatbeginn, Ernteabschluß oder etwa das Schlachten darstellten. Und schließlich ergaben sich derartige Anlässe aus dem christlichen Jahreskalender, dessen wichtigste Termine die Geburt Christi (Weihnachten), die Auferstehung Christi (Ostern) und die Ausgießung; des Heiligen Geistes (Pfingsten) bildeten. W» FIEDLER, 1 9 3 9 : 5 .

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Alle diese Festgruppen waren jedoch mehrfach miteinander verquickt, so wie etwa die Taufe gleichzeitig ein kirchliches und ein Familienfest darstellte. Auch einzelne ältere, vermutlich heidnische Traditionen101 konnten die Festwahl und -gestaltung oft mitprägen, wie es z. B. beim Anschlagen von „frischem Grün" an die Ställe zu Pfingsten, bei etlichen Osterbräuchen und beim Viehaustrieb zum Ausdruck kam. Ferner galt wohl, daß diese Feste mindestens bis ins 18. Jh. von allen Dorfbewohnern akzeptiert und in der Regel auch nach den gleichen Prinzipien begangen wurden. Die Unterschiede im Aufwand auf Grund der Möglichkeiten der einzelnen sozialen Gruppen freilich erwiesen sich als durchaus bedeutend. Im Prozeß der Durchsetzung des Kapitalismus in der Landwirtschaft seit den dreißiger Jahren des 19. Jh. begann sich nun, ein erheblicher Wandel anzubahnen. Er drückte sich vor allem darin aus, daß ein Teil der bisherigen Feste seine Bedeutung verlor, während ein weiterer eine manchmal erheblich veränderte Funktion erhielt und schließlich immer mehr andere, neue Feste zu den wichtigsten im Ort wurden. Entscheidenden Antrieb erfuhr diese Entwicklung durch den für die kapitalistischen Produktionsverhältnisse charakteristischen Individualismus, der die traditionell-genossenschaftlichen, kollektiven Elemente weitgehend verdrängte und neue Formen der „Geselligkeit" hervorrief. Am deutlichsten und wohl auch am frühesten wurde dieser Wandel bei jenen Festen sichtbar, die mehr oder weniger direkt mit der agrarischen Produktion verbunden waren. Vor der — für die kapitalistische Wirtschaftsweise dann so dringend erforderlichen — Separation konnten auf Grund der Gemengelage der Felder zahlreiche Arbeiten nur gemeinsam begonnen, durchgeführt und beendet werden. Daraus folgte, daß alle beteiligten Bauern sich gemeinsam sorgen und beraten mußten, aber auch gemeinsam — etwa wenn die letzte Garbe eingebracht war — freuen konnten. Da ferner sowohl Gesinde als auch Deputatarbeiter damals noch weitgehend in den bäuerlichen Betrieb integriert waren, ist verständlich, daß sich an diesen Festen auch sie und damit die meisten Dorfbewohner beteiligten. Mit der Separation der Felder wurde aber mehr als nur der Grund und Boden getrennt. Jeder Bauer konnte und wollte für sich getrennt wirtschaften, hatte zu einem anderen Zeitpunkt als der Nachbar Grund zum Feiern usw. Gleichzeitig gewann der ökonomische Konkurrenzkampf derart an Bedeutung, daß an die Stelle mancher althergebrachter Gemeinsamkeiten zunehmend egoistische Gewinnsucht und nachbarliche Mißgunst traten. Aber auch innerhalb der bäuerlichen Wirtschaften traten durch die Aufgabe der patriarchalisch geprägten Bindungen und die Zunahme der reinen Ware-Geld-Beziehungen die Gegensätze zwischen Herr und Knecht immer deutlicher zutage. Die Feste der Herren waren nicht mehr die Feste der Knechte. Das zeigte sich schon bei der Taufe, dem ersten wichtigen Fest im Lebenslauf, das in Anbetracht der besonders in den vorangegangenen Jahrhunderten erschreckend hohen Kindersterblichkeit auch noch während des gesamten 19. Jh. zumeist nur wenige Tage nach der Geburt des Kindes gefeiert wurde. Es war zwar bereits Ende des 18. Jh. der Stolz eines Börde-Bauern, durch die aufwendige Festgestaltung und die Fülle der Speisen seiner Wohlhabenheit Ausdruck zu verleihen,102 doch als Taufpate kamen nun nur noch „standesgemäße" Personen in Frage. Diese Paten oder Gevatter wurden durch spezielle Auf diese komplizierte Problematik kann hier nicht eingegangen werden. STEGMANN, 1 9 3 5 : 5 9 . „Die Kindtaufen in der Börde sind prächtig und dauern oft zwei Tage unter der gaukelndsten Musik", heißt es bei K A R L PLATO im Jahre 1 7 9 1 . C A R S T E D betont, daß diesen Aufwand nur „Bauern und Halbspänner" treiben könnten. C A R S T E D , 1 9 2 8 : 1 2 0 .

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Briefe eingeladen, die zunächst handgeschrieben, seit den zwanziger Jahren des 19. Jh. aber bereits gedruckt sein konnten.103 Seit der Mitte des 19. Jh. war die Wahl eines Knechtes zum Taufpaten auch bei den Kleinbauern unüblich geworden, stattdessen wurde es Mode, daß die Deputatlandarbeiter ihren „Herrn" oder die „Herrin" als Pate (mit entsprechendem Patengeschenk) zu gewinnen suchten. Unabhängig vom Grad der Religiosität war es bei allen Teilen der Bauernschaft im 19. Jh. selbstverständlich, ihre Kinder taufen zu lassen und diesen Festakt mit einer entsprechenden Feier zu begehen. Auch bei den Bauernhochzeiten konnte CARSTED für die zweite Hälfte des 18. Jh. erhebliche Unterschiede zwischen Ackermann, Halbspänner und Kossat feststellen, aber immerhin war es damals noch möglich, daß diese untereinander heirateten.104 Mit dem Loskauf aus den feudalen Bindungen setzte sich nun ein Besitzdenken durch, das keinerlei „Vermischung" mehr zuließ. „Geld muß zu Geld" war das Motto. Eine Kleinbauerntochter und ein „Halbspänner"-Sohn z. B. konnten nur heiraten, wenn sie ein Einzelkind war und damit das „Land einbrachte".105 Meistens jedoch vermählten sich nur die Söhne und Töchter der Groß- und Mittelbauern untereinander, die heiratsfähigen Kinder der Kleinbauern blieben ebenfalls unter sich. Der „Spielraum" verengte sich derart, daß unter einigen Bauerngeschlechtern bald Inzuchterscheinungen offensichtlich wurden.108 Es kann geradezu als Regel formuliert werden, daß im 19. Jh. und in der ersten Hälfte des 20. Jh. bei der Partnerwahl der Bördebauern die emotionale Zuneigung eine geringere Rolle spielte, je größer der Grundbesitz bzw. das Kapital war. Das ökonomische Geschäftsinteresse dominierte und förderte auf diese Weise erneut die für die Bourgeoisie allgemein typische „Moral mit dem doppelten Boden". Selbst bei den Großbauern enthielten die Feierlichkeiten noch lange manch traditionellen Brauch, angefangen vom „Polterabend"107 über das „Freikaufen" auf dem Wege von der Kirche zum Hochzeitshaus108 bis zum großen Festschmaus und Tanz bis in den Morgen. Allerdings nahm nun immer weniger das ganze Dorf Anteil, es gab „geladene Gäste", mit denen man ohnehin „verkehrte", während die restliche Dorfbevölkerung ausgeschlossen 104

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Vgl. die Exemplare von 1823, 1828 und 1861 im Anhang. Zwar heirateten bereits damals (im 17. und 18. Jh.) überwiegend Bauern = Ackerleute und Halbspänner bzw. Kossäten untereinander, doch sind auch Ehen z. B. zwischen Ackermannssohn und Windmüllerstochter, Kossatentochter und Bauernsohn, Bauernsohn und Gastwirtstochter belegt. CARSTED, 1928: 505, 507 und 508. Die Entwicklung spiegelt sich nicht nur in den Grundbuchakten und Kirchenbüchern wider, sie ist bis in die jüngste Vergangenheit auch im Bewußtsein der Dorfbevölkerung lebendig geblieben. Als ein Beispiel sei die Familiendynastie SCHERPING in Olvenstedt genannt. Vgl. dazu auch die Angaben für Sommersdorf von GASTMANN, 1937: 95. Es ist dies der Vorabend vor der Trauung, an dem „geladene" und „ungeladene" Gäste ihre Geschenke ins „Hochzeitshaus" bringen und an dem — insbesondere die Kinder und Jugendlichen — durch Zerschlagen von alten Töpfen, Kannen, Schüsseln, Tellern und anderes Poltern dem Brautpaar Glück gewünscht wird, wofür sie von der Braut zumeist Kuchen erhalten. CARSTED beschreibt zwar ausführlich den Polterabend, nennt auch den Begriff, doch scheint das Zertrümmern von Geschirr vor dem Hause der Braut damals noch unbekannt gewesen zu sein. CARSTED, 1928 (1761): 121 ff., vgl. auch PLATO, 1 7 9 1 : 201.

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Heischebrauch der Kinder, die ein Seil über den Weg sperren, um den Hochzeitszug aufzuhalten. Erst nachdem der Bräutigam sich durch einen Pfennigregen „freigekauft" hat, wird die S p e r r e a u f g e g e b e n . V g l . z. B . KRATZENSTEIN, ( 1 9 2 4 ) : 1 2 0 ; STEGMANN, 1 9 3 5 : 6 3 ; MERBT, 1 9 5 6 : 196.

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blieb oder mit Freibier, Kuchen und ähnlichem „abgefunden" wurde. Gegen Ende des .19. Jh. unterschied sich das Hochzeitszoremoniell kaum noch von dem der städtischen Bourgeoisie; man war modisch gekleidet, tanzte nach neuen Weisen, die oftmals eine städtische Kapelle spielte,109 aß mit silbernem Besteck von edlem Porzellan, trank Wein aus wertvollen Gläsern und amüsierte sich über eine speziell für dieses Fest angefertigte, zumeist gedruckte Hochzeitszeitung.110 Kaum ein Anlaß schien derart gut geeignet zu sein, den errungenen Wohlstand und das soziale Prestige zu repräsentieren, wie eben eine solche Eheschließung. Wurde bis ins 18. Jh. die Mitgift der Braut noch auf einem Festwagen, der die mit wertvollen Stoffen gefüllten Truhen, Federbetten und allerlei Hausrat aufnahm bzw. an dem die Brautkuh und sonstiges Vieh hinten angebunden war, zur Schau gestellt, so wurde sie jetzt zumeist geheim ausgehandelt, kam jedoch fraglos im Aufwand der Festlichkeiten zum Ausdruck. Die Mittelbauern konnten zwar mit der Prachtentfaltung, die bei einer Großbauernhochzeit sichtbar wurde, kaum mithalten, dennoch versuchten sie mehrfach, ihnen möglichst nahe zu kommen, und oft haben sie sich dabei — wie bereits angedeutet — übernommen. Die Kleinbauern benutzten bei derartigen Gelegenheiten ihre „gute Stube", doch reichte der Platz meistens nicht aus, und man feierte auf dem Hof oder im Gasthaus, wo seit den siebziger Jahren in fast allen Dörfern große Säle „für Vergnügungen" angebaut wurden. Viele dieser Bauern nutzten die Gelegenheit, um mit Hilfe einer möglichst prunkvollen Hochzeit zu demonstrieren, daß sie „etwas Besseres" sind. Wie die Taufe und die Hochzeit, so übernahmen auch die meisten anderen Feste immer mehr die Funktion, die ökonomischen Machtpositionen und den „gesellschaftlichen Stand" zu unterstreichen bzw. zu verdeutlichen. Der Wunsch, mit Hilfe einer entsprechenden Ausgestaltung der Feste das soziale Prestige zu festigen und möglichst noch zu erhöhen, und die Illusion, dieses Ziel mit solchen Schaustellungen erreichen zu können, waren weitere wesentliche Triebkräfte für jegliche bäuerliche Festgestaltung. Weit wichtiger als die traditionellen Feste, selbst das Erntefest, das Schlachtefest und etwa die Fastnathtsfeiern, wurden im letzten Drittel des 19. Jh. die von den Vereinen getragenen, z. T. nationalen Festtage. Solche offiziellen staatlichen Feiertage waren z. B. der „Sedantag", der in Erinnerung an die siegreiche Schlacht gegen die Franzosen am 1. 9. 1870 jedes Jahr feierlich begangen wurde, und „Kaisers Geburtstag". Eine große Rolle im Dorfleben spielten ferner die von den Sänger-, Krieger-, Turner-, Schützen- und anderen Vereinen organisierten, nicht an feststehende Termine gebundenen Feste und Feiern, die allerdings von den Festen der zumeist nach 1864 bzw. 1866 oder 1870/71 gegründeten Landwehrvereine noch übertroffen wurden. Sie galten vielfach als „Gipfel aller Freuden" und hießen schlechtweg „das Fest".111 In all diesen Vereinen bildeten zumeist die Groß- und Mittelberichtet, daß seit dem letzten Drittel des 19. Jh. „an Stelle des Spielmannes, welcher früher bei Tanzlustbarkeiten mit seiner Geige aufspielte,... ein Musikmeister mit seiner Kapelle getreten (ist)", der reichlich Beschäftigung findet, da „an Bällen und Festlichkeiten ... kein Mangel (ist)", zumal zu den Hochzeiten und „privaten Vergnügen" noch die Feste der zahlreichen Vereine hinzukommen. PEICKE, 1902: 243. 110 Vgl. dazu das Beispiel einer Hochzeitszeitung aus dem Jahre 1911 im Anhang, Abb. 21 bis 24. 111 EBELING, 1889: II, 241; zitiert nach STOCKMANN, 1962: 187. Wie auch in den anderen Bördeorten war. in Domersleben das Landwehrfest „das Hauptfest des Jahres ... Es dauerte eine Woche. Während des Festes wurde ein Schützenkönig ermittelt, die Veteranen hielten Paraden ab, bei denen der Gutsbesitzer als ehemaliger Offizier selbstverständlich die Parade abnahm. Musik und Tanz wechselten mit fröhlichen Zechereien, Tingeltangel und Festessen. Das ganze

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PEICKE

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bauem im Bunde mit dem Pastor, dem Lehrer und einigen Gewerbetreibenden die Führungsgruppe. Obwohl sich diese Vereine gewöhnlich als nach außen hin offen präsentierten — man versuchte z. T. durch Einbeziehung proletarischer und kleinbäuerlicher Vertreter diese Gruppen zu integrieren —, stellten sie doch zumeist elitäre Absonderungen dar. 112 Die Durchführung von Veranstaltungen in jetzt überall in den Dorfgaststätten vorhandenen „Vereinszimmern", die Feier als „Geschlossene Gesellschaft" usw. kennzeichnen diese Entwicklung. Lediglich bei einmal im Jahr durchgeführten größeren Festen, die dann öffentlich begangen wurden, waren Nichtmitglieder geduldet und sogar erwünscht. — Daß diese Aktivitäten gegen die sich auch auf dem Lande, insbesondere in den Orten mit einem großen Anteil von Industriependlern113, ausbreitende Arbeiterbewegung gerichtet waren, war offensichtlich. Wenn auch nicht immer — wie bei den Kriegervereinen — obrigkeitliche „Maßregeln zur Verhütung des Eindringens regierungsfeindlicher Elemente"114 erlassen wurden, so ist die gegen die Sozialdemokratie gerichtete Grundhaltung doch allen, selbst den kleinen, sich harmlos gebenden „Geselligkeitsvereinen" gemein. 115 Eine logische und konsequente Antwort waren die sich gegen Ende des 19. und zunehmend im 20. Jh. bildenden proletarischen Vereine, die jedoch — abgesehen von einigen Jahr lang wurde für dieses Fest gespart. Die anderen festlichen Anlässe wie Ostern, Pfingsten und Erntefest traten dagegen in den Hintergrund." M E R B T , 1 9 5 6 : 1 9 7 . 112 Für die Jahrhundertwende berichtet HUSCHENBETT aus Diesdorf : „Das .Bürgertum' zählte 15 Vereine, in denen die Absonderung von der Sozialdemokratie zum teil scharf zur Erscheinung kam. Es verkehrte natürlich auch nur in besonderen Lokalen." HUSCHENBETT, 1934: 85. 113 Hauptanziehungspunkte der Pendler waren sowohl die später eingemeindeten Vororte wie Buckau, Fermersleben, Salbke usw., in denen sich im Verlaufe des 19. Jh. vielfach große Industriebetriebe niederließen, als auch jene stadtnahen Gemeinden wie Groß Ottersleben, Olvenstedt, Barleben und Diesdorf, deren Einwohnerzahlen trotz fehlender Industrie vom Jahre 1812 bis 1900 stetig stiegen. Groß Ottersleben: 1812 = 1660; 1840 = 3295; 1871 = 6401; 1900 = 10689; Olvenstedt: 1812 = 1303; 1840 = 1897; 1871 = 3112; 1900 = 4182; Barleben: 1812 = 1417; 1840 = 2613; 1871 = 2816; 1900 = 4105; Diesdorf: 1812 = 738; 1840 = 2613; 1871 = 2816; 1900 = 4105. 114 STAM, Rep. C 31 Wanzleben, Nr. 108: 15. Vgl. dazu auch WESTPHAL, 1891, und den Beitrag von BIRK über die Kriegervereine in diesem Band. 115 Bereits vor 1870/71 haben die -verschiedensten, sich z. T. noch heftig befehdenden bürgerlichkonservativen und -reformistischen Kräfte versucht, durch die Belebung des scheinbar unpolitischen Vereinswesens die proletarischen und kleinbürgerlichen Teile der Dorfbevölkerung dem Einfluß der progressiven Arbeitervereine zu entziehen. „Die sozialistische Bewegung fürchtete man mehr als die liberale", schreibt BOCK über die Konservativen in der Provinz Sachsen von 1848 bis 1870 (BOCK, 1932: 361). — Wie erfolgreich die sich seit dem letzten Drittel des 19. Jh. verstärkenden antisozialistischen Bemühungen bei den kleinbürgerlichen Schichten waren und deren Verhaltensweisen im Alltag prägten, mag der folgende erhaltene anonyme Brief an den Vorsitzenden des Skatvereins in Hohendodeleben belegen : „Geehrter Herr Fruth, Mehrere Skatfreunde sind geneigt, sich an Sie zu wenden weshalb das soviel Mitglieder angenommen werden. Es war erst recht gemütlich, wir unter uns, Mittelstand Geschäftsleute und Angestellte alles anständige Leute aber jetzt Knechte Arbeiter Sozialisten und alles was bei will wird angenommen, dazu der Holze so ein Bengel wir lauter Verheiratete ein echter Sozialdemokrat list Volksstimme ist auf auf alle deinen Vergnügen paßt uns nicht sind ja noch andere die uns nicht passen die müssen raus. Der Paul Meier, Manecki u noch mehrere wollen sich melden werden wohl auch angenommen es wird immer schöner. Also Herr Fruth bitte für Ordnung zu sorgen sie wissen doch wie die Statuten lauten und diesen Brief in der nächsten

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Vororten Magdeburgs — in den meisten Dörfern erst nach 1918 größere Bedeutung erlangten.116 Neu im dörflichen Gemeinschaftsleben — wie die Vereinsfeste — war, daß sich einzelne Gruppen — vor allem die Großbauern — zu verschiedenen Gelegenheiten trafen und z. B. eine Rebhuhn- oder Hasenjagd veranstalteten, einen festlichen „Ball" gaben und dergleichen,117 stets jedoch „unter sich blieben". Und diese Betonung des sozialen Status wurde im 19. Jh. zum kennzeichnenden Element in allen dörflichen Gemeinschaftsbeziehungen. So wie das Gesinde nicht mehr mit an dem Tisch essen durfte, bald auch keine Mahlzeit mehr in die „Leutestube" bekam und dafür schließlich „Kostgeld" erhielt, das mietfreie Wohnen der Mägde und teilweise der Deputatlandarbeiter in „Mietgeld" umgewandelt wurde, die Deputatlandarbeiter Geldlohn anstelle ihres früher üblichen Dreschanteils erhielten, so wurden auch alle anderen gesellschaftlichen Bindungen immer mehr von den Ware-Geld-Beziehungen geprägt. Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jh. freilich verstärkte sich eine scheinbar gegenläufige Tendenz, die sich z. B. darin ausdrückte, daß verschiedene Gutsbesitzer und Großbauern wieder zur anteiligen Naturallöhnung zurückkehrten, kein „Mietgeld" mehr zahlten, dafür aber wieder Wohnraum zur Verfügung stellten,118 teilweise sogar gerade erst zusammengerafftes Land verpachteten usw. Mit der Rückkehr zu gleichen oder ähnlichen Erscheinungsformen verband sich jedoch nicht eine Wiederbelebung patriarchalischer Verhältnisse, vielmehr sollten die angewandten Methoden fast ausschließlich dem Binden der Arbeitskräfte an den Betrieb, der Bekämpfung der Landflucht — einem wichtigen Mittel im Klassenkampf der Landarbeiter — dienen.119 Gewisse Apologeten des kapitalistischen Herrschaftssystems — wie z. B. GOLTZ, K N A P P , SOHNREY, SERING U. a.120 freilich versuchten, diesen Funktionswandel zu vertuschen, indem sie die klaren Ware-Geld-Beziehungen als Auswüchse kritisierten und die mit Hilfe der „altbewährten" Mittel verbrämten Zustände als „Gesundung" bzw. die noch erhaltenen Reste als erfreuliche Tradition charakterisierten. Seit RIEHL haben auch zahlreiche VolksVersammlung vorzulesen. Das möchten wir alle. Es geht nicht über die Gemütlichkeit Ihre Freunde (P. s.) Es wollten sich noch ein paar bessere melden aber die vergeht ja der Appetit wenn sie davon hören." (Original des Briefes im Besitz des Autors). IIS VGI_ hierzu den Beitrag von BIRK über das Vereinswesen in diesem Band. 117 In Einzelfällen wurden auch Theateraufführungen in kleinerem Kreise durchgeführt. Im Hause des Großbauern LÖBER in Diesdorf befand sich z. B. ein speziell für diese Zwecke angelegter kleiner Festsaal mit Bühne. 118 Gemäß dem Motto „Schaffen wir uns Blitzableiter, ehe es einschlägt" (KNAUER, 1873: 118), versuchte die dörfliche Bourgeoisie u. a. durch Bereitstellung von relativ guten Wohnungen der Gefahr zu begegnen, daß „die ländlichen Arbeiter mit den städtischen gemeinschaftliche Sache machen..." KNAUER, 1873: 28. 119 GUTKNECHT schreibt 1907, daß es in der Magdeburger Börde immer seltener gelingt, „die einheimischen Leute an der Arbeitsstelle festzuhalten", und er fährt fort: „Ebensowenig [wie langfristige Verträge mit den Arbeitern] dürften sich die von mancher Seite gemachten Vorschläge bewähren, durch Übergang zum Jahreslohn und zu vermehrter Naturallöhnung den Arbeiter zu binden." Weit mehr Erfolg hätte die Vergabe von Geschenken und Prämien, „welche nach Beendigung besonders arbeitsreicher Zeiten gezahlt werden ... Um den Eindruck des Geschenkes hervorzuheben, findet die Nachzahlung gewöhnlich zu Weihnachten statt." GUTKNECHT, 1 9 0 7 : 1 2 8 . GOLTZ, 1 8 7 2 ; GOLTZ, 1 8 9 3 ; KNAPP, 1 8 9 1 ; SOHNREY, 1 8 9 4 ; SERING, 1 9 3 2 . 6*

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kundler diese Position bezogen (für die Magdeburger Börde z. B. STEGMANN). Während z. B. in einem auch in der Börde weit verbreiteten Bauhandbuch von 1891 im Hinblick auf die Anlage von Knechtsunterkünften klar gesagt wird, daß diese „natürlich im Stall" zu sein und aus einem Kasten unter der Decke zu bestehen haben, ja „in schönen, gewölbten Viehställen, die man durch einen solchen weniger angenehmen Anblick nicht verunstalten will [sie!], ... in der Wand nach dem Nachbarraum (in) einer Nische unter der Decke"181 angelegt werden sollen, schreibt SCHIER nach mehr als fünfzig Jahren: „Auch der Brauch mittel- und oberdeutscher Knechte, im Stall zu schlafen und hier zum Zwecke geselligen Beisammenseins Tisch und Stühle aufzustellen, ist als ein bedeutsamer Rest des vorgeschichtlichen Nebeneinanderwohnens von Mensch und Tier zu betrachten.. ."122 Die Tatsache, daß die Knechte vielfach bis ins 20. Jh. hinein iml Stal hausen mußten, ist nun aber absolut kein Ausdruck uralten Brauchtums, sondern bezeichnend für die Polarisierung der Beziehungen von Bauern und Gesinde, für die sich verschärfenden Klassenantagonismen. Waren nämlich im Mittelalter die Unterschiede zwischen der Unterkunft des Bauern und des Knechtes im gemeinsam bewohnten Wohn-Stall-Haus durchaus nicht so gravierend und das „Wohnen" im Stall dem Wohnen im Hause weitgehend gleich, so gab es im 19./20. Jh. — und nicht nur in dieser Beziehung — so gut wie keine Gemeinsamkeiten mehr. Diese Polarisierung betraf keineswegs nur den Wohnkomfort und die Wohnweise, sie bezog sich auf alle Bereiche des Lebens. Die Knechte waren ebenso wie die Mägde, die Deputatlandarbeiter, die Saisonarbeiter usw. beim Gutsbesitzer, Groß- und Mittelbauern beschäftigte, kapitalistisch ausgebeutete Arbeitskräfte, die bezahlt wurden und die man auf verschiedenste Weise an den Betrieb binden, mit denen man aber sonst nichts zu tun haben wollte. Schon in der Produktionssphäre begegneten sich die Groß- bzw. Mittelbauern und die bei ihnen beschäftigten Arbeiter als ungleiche Partner, als „Chef" und Auftraggeber zum Abhängigen und Ausführenden. Die Kommunikation reduzierte sich immer mehr auf die Kommandovergabe und den Kommandoempfang; gleichberechtigter gedanklicher Austausch konnte sich nur noch unter den (ökonomisch) Gleichgestellten entfalten. Aber auch nach Feierabend blieb der Kreis der Kontaktpersonen im wesentlichen auf den sozial gleichgestellten Teil der Dorfbewohner beschränkt;123 man wohnte in verschiedenen Häusern, z. T. sogar Straßen oder „Vierteln", man besuchte unterschiedliche Gaststätten, hatte andere häusliche Aufgaben, ganz zu schweigen von den Sorgen und Nöten.. Die scheinbar der scharfen sozialen Abgrenzung entgegenstehende und vor allem von der Dorfbourgeoisie angestrebte Einbeziehung weiter Teile der Dorfbewohner in die 121

TIEDEMANN, 1 8 8 1 : 3 1 5 .

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SCHIER, 1 9 6 6 : 3 6 9 .

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Bis ins 20. Jh. war es üblich, daß man sich gegenseitig besuchte. Aus Altenweddingen wird berichtet, daß sich befreundete Ehepaare sonntags abends häufig trafen, „und zwar immer dieselben, so daß es hübsch nach der Reihe geht. (Man geht zur Fete, man lept in't Chor, in't Kränzchen). Alltags abends werden dann weitere Bekannte eingeladen. Dazu wurden noch in den letzten Jahren vor dem [ersten Welt-] Kriege große Mengen Pfannkuchen (Schmaltkauken, Pannekauken, Prilleken) gebacken. In letzter Zeit hat man angefangen, feines Konditorgebäck aus der Stadt zum Kaffee zu reichen. Nach einigen Tassen strammen Bohnenkaffees setzten sich die Männer an den Kartentisch, um Schafskopf oder Skat zu spielen ..." KRATZENSTEIN, (1924): 122.

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„nationalen" Vereine wie Krieger- und Landwehrvereine, die im letzten Viertel des 19. Jh. vielfach gelang, 124 entsprach jedoch niemals gleichberechtigten Interessen. Einerseits war nämlich Voraussetzung für die Mitgliedschaft, daß man nicht Anhänger der Sozialdemokratie war (was bezeichnenderweise die jeweiligen Vertreter der Dorfbourgeoisie selbst überprüften), andererseits blieb die im ausgehenden 19. Jh. vom Militär auf weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens übertragene Kommandostruktur allein dadurch erhalten, daß die Gutsbesitzer-, aber auch Groß- und Mittelbauernsöhne Offiziers- bzw. Unteroffiziers-Reservisten waren, während die „kleinen Leute" lediglich ihren Wehrdienst absolviert hatten.145 Wenn also seit dem Sieg der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in den Dörfern der Magdeburger Börde die sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen eine neue Ausformung erfuhren, die von nüchterner Repräsentation ökonomischer Macht bis zu ausschweifendem Standesdünkel reichten, so entsprach dieser Wandel eben nicht nur städtischen Vorbildern, sondern prinzipiell kapitalistischen Verhaltensnormen.128 Sie wurden in unserem Untersuchungsgebiet fraglos zuerst von den Vertretern der Dorfbourgeoisie demonstriert, denen sich bald die Kleinbauern, das Handwerk und die Gewerbetreibenden anschlössen, die aber auch ins Proletariat getragen und von diesem z. T. selbst nachgeahmt wurden. Der Pferdeknecht wollte etwas Besseres sein als der Ochsenknecht, der Gespannführer wiederum dünkte sich mehr als diese, eine Köchin war noch lange nicht Mamsell oder gar Gesellschafterin. Schweizer, Lokomobilenfahrer, Aufseher über eine Gruppe Saisonarbeiter, Hofmeister oder gar Brennermeister auf den Gütern usw. fühlten sich fast als Elite unter den Arbeitern. Der Verdeutlichung ihrer Stellung wurde von allen Bevölkerungsteilen große Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Verhaltensweisen waren keineswegs Augenblickserscheinurigen, etwa eine Art Mode. Insbesondere bei den Bauern steckten oft handfeste, zumeist ökonomische Interessen dahinter. So war es schon nicht unwichtig, mit wem man verkehrte, welche Heiratsmöglichkeiten sich ergaben, wer auf Grund des demonstrierten Reichtums (vom Zuckerrübenpalast über das Festgelage bis zu den Mausoleen auf den Friedhöfen) zu den geeigneten Partnern gerechnet werden konnte, wie man also ökonomische Macht mit sozialem und politischem Prestige zu verbinden verstand. In abgeschwächter Form galt diese Zielstellung auch für die kleinbürgerlichen Schichten der Dorfbevölkerung, bei denen ebenfalls möglichst etwas „hinzugeheira124

125

126

Als Beispiel sei der 1895 gegründete Krieger- und Landwehrverein von Hohendodeleben an geführt, dem 1898 bereits 136 Dorfbewohner angehörten. Neben dem damaligen „Halbspänner" und Amtsvorsteher A L B E R T DITTMAR, dem Gastwirt A. PASEMANN, dem Bäckermeister O . BONTE und anderen waren z. B . der Arbeiter A U G U S T ENGEL, der Maurer CHRISTIAN K L I N DER und der Pferdeknecht FRIEDRICH R I E C K E Mitglied. Insgesamt betrug der Anteil der proletarischen Schichten etwa 50 Prozent. STAM, Rep. C 30 Wanzleben A, Nr. 227. Die Rolle, die die Militärzeit im -Leben aller Schichten der werktätigen Dorfbevölkerung — insbesondere im 19. Jh. — gespielt hat, war erheblich. Genauere Untersuchungen stehen vorerst noch aus, wären jedoch eine lohnende Aufgabe. Wenn die Bemerkung KRATZENSTEINS, daß bei den Großbauern „von allen Tugenden ... wenig zu finden" sei, auch übertrieben sein mag, so trifft die folgende Schilderung doch recht anschaulich die neuen Verhältnisse: „Geblieben ist der Dickkopf, der nur langsam zu denken vermag und für ideelle Güter nichts übrig hat. Hinzugekommen ist aber ein furchtbarer, widerwärtiger, protzenhafter Dünkel; Alles, Schweine sowohl wie die Menschen, werden nach Geldwert geschätzt. Dumm darf der Mensch sein, sehr sogar, das schadet nichts, nur nicht arm". KRATZENSTEIN, ( 1 9 2 4 ) : 1 0 6 .

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Räch

tet" werden sollte usw. Selbst große Teile des ländlichen Proletariats, die sich an diesen vom Kapitalismus hervorgerufenen Verhaltensweisen orientierten, glaubten an deren Richtigkeit und Notwendigkeit, besonders dann, wenn man eben schon „etwas Besseres" war und den Kindern einen „Aufstieg" ermöglichen wollte. Wie sollte sich unter solchen Bedingungen das „schöne alte Brauchtum" erhalten? Gab es doch immer weniger ökonomische, soziale und selbst kulturelle Gemeinsamkeiten innerhalb der Trägerschichten, wo z. B. bereits die Kinder der Großbauern nicht mehr mit den anderen in eine Schule gingen, geschweige gemeinsam spielten, wo die Ökonomen die von ihren Vorfahren überlieferten Sitten und Bräuche vielfach ablehnten und durch die rationelle Praxis widerlegt fanden, die Landarbeiter aber nur einen spezifischen Teil, vorrangig die Heischegänge, so z. B. das Wurstsingen beim Schlachtfest, übernahmen. Selbst bei der Pflege weit weniger mit den ökonomischen und sozialen Zuständen verbundener Bereiche, etwa des Volksliedes, sind die gleichen Wandlungen wie in anderen Komplexen nachweisbar: Die Dorfbourgeoisie etwa war immer weniger allein auf diese Liedgruppe angewiesen. Sie konnte sich weitere kulturelle Bereiche aneignen. Dem Proletariat genügten diese Lieder ebenfalls immer weniger, und es begann — vor allem seitdem auf dem Lande proletarische Gesangvereine entstanden —, neben z. T. minderwertigem zunehmend proletarisches Liedgut zu rezipieren. PARISIUS stellte bereits 1857 fest, daß „nicht blos im Magdeburgischen, (sondern) auch in der Altmark . . . in allen Dörfern, die ich für meine Sammlung auszubeuten Gelegenheit hatte,... die Volkslieder, und vorzüglich die erzählenden romanzenartigen Lieder seit 10 Jahren und darüber immer mehr aus der Mode gekommen sind, und daß deshalb die meisten Lieder, nach denen ich forschte, jetzt nicht mehr gesungen werden".127 Dafür wären offenbar jetzt „Bänkelsänger- und Opernlieder und die guten und schlechten kunstmäßigen Lieder aus den Westentaschenliederbüchern . . . " populär. Leider sind uns bis heute keine genaueren Angaben über das tatsächlich gesungene Liedgut jener Jahre in die Hände gefallen. Relativ gut und zahlreich sind uns dagegen die Inschriften bekannt, die in speziellen Tafeln an die — vor allem bäuerlichen — Gebäude aus Anlaß ihrer Fertigstellung bzw. des Wiederaufbaus angebracht wurden. Diese steinernen Tafeln wurden zumeist an Wohnhäusern, Ställen und Scheunen, aber auch an Taubentürmen und anderen Wirtschaftsgebäuden, vor allem aber an Torbogen angebracht und enthielten außer den Namen beider Eheleute und den Zeitangaben zur Beendigung des Baues vielfach mehr oder weniger umfangreiche Sprüche. Diese Tafeln wurden zumeist von Steinmetzen angefertigt und im gesamten l9. Jh. zusätzlich mit umfangreichen, zumeist künstlerisch bedeutsamen Schmuckelementen versehen, deren Dokumentation einmal ebenso notwendig wäre wie eine Analyse der Texte selbst. Zwar werden diese vielfach vom Pfarrer oder einem anderen „Gebildeten" bis in die 30er Jahre noch den Bauern vorgeschlagen worden sein, aber immerhin konnte dieser mit seiner Auswahl durchaus Einfluß nehmen. Später dann werden die Bauern immer mehr selbst ihre Texte ausgesucht' bzw. selbst geschaffen haben, so daß sich ihre Haltung weit direkter artikuliert hat. Dem kapitalistischen Leitspruch „time

127

Aus dem unveröffentlichten Manuskript zitiert von I. WEBER-KELLERMANN. An anderer Stelle heißt es, daß in der Altmark und im Magdeburgischen sich zum großen Teil ein Bauernstand erhalten hat, „der wunderbar zäh an allem altüberlieferten festhält", wobei jedoch ausdrücklich „die Zuckerfabrikdistrikte im Magdeburgischen [also unser Untersuchungsgebiet!] ausgenommen" werden. W E B E R - K E L L E R M A N N , 1 9 5 7 : 4 3 .

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is money" entsprechend, können wir Ende des 19. Jh. z. B. an einem Stall in Meseberg lesen: „Sag, was du willst, kurz und bestimmt, Lass alle schönen Phrasen fehlen Wer nutzlos unsere Zeit uns nimmt Bestiehlt uns, und du sollst nicht stehlen. Erbaut im Jahre 1895 Christian Schulze Dorothee Schulze, geb. Studte."128 Gewiß, häufiger sind Sprüche wie „An Gottes Segen ist alles gelegen" oder „Ich baue nicht aus Lust und Pracht, die Feuersglut hat mich so weit gebracht", doch ist damit bei weitem nicht die ganze Vielfalt erfaßt. Auffallend ist, daß die Religiosität in den Sprüchen zunächst etwas abnimmt,189 dann seit den siebziger/achtziger Jahren jedoch wieder erheblich zunimmt. Schrieb der eine kurz: „Fürchte Gott, Thue recht, Scheue Niemand, Anno 1840",130 so hieß es beim anderen: „Ein braver Nachbar an der Hand, ist eine edle Gabe, und Freunde übern weitem Land kann man in Noth nicht haben."131 In Zens heißt es ausführlich: „Versäume nicht in früher Morgenstund, zu loben Gotte mit Herz und Mund auch baue fleißig stets das Land so segnet Gott mit milder Hand, erbaut 1887, Christoph Kühne Dorothee Kühne, geb. Kühne."132 Wären damit auch durchaus erste Indizien für das Weltbild der Bauern gegeben, so müssen wir doch bekennen, daß wir gerade darüber noch relativ wenig wissen. Eins scheint jedoch gewiß, daß nämlich der zum kapitalistischen Unternehmer gewordene Groß- und z. T. auch der Mittelbauer immer weniger überlieferte Elemente in der Lebensweise und Kultur behielt und sich stattdessen sehr schnell die weiterentwickelten Formen aneignete, die geprägt waren durch die Überwindung vorwissenschaftlicher, ausschließlich auf Erfahrung beruhender Kenntnisse, durch die Übernahme allgemein-bürgerlicher Verhaltensweisen und den Verzicht auf traditionell-bäuerliche Normen. 128 129

130

131

Meseberg, Kr. Wolmirstedt, Winkel Nr. 16. In der Chronik von Diesdorf heißt es für 1854 sogar generell, daß „eine Anzahl der wohlhabenden Bauern, die ja fast alle ihre Äcker an die Zuckerrübenunternehmer verpachtet hatten und im Müßiggang lebten, die Kirche nicht mehr achteten und mit Freigeisterei sich brüsteten, wenn sie im Dorfkrug saßen." HUSCHENBETT, 1934: 79. Steintafel am Tor des ehem. Ackermannshofes CONERT, später zum Gut von LÖMPKE in Domersleben gehörig, Bottmersdorf, Nr. 68. Steintafel am Tor eines ehem. Ackermannshofes in Bottmersdorf, Nr. 20 (bis 1905 Hof BUSCH, bis 1945 dann zum Hof NIEMANN).

132

Steintafel am Stall eines ehem. Großbauernhofes in Zens (um 1968 der MTS-Hof).

HAINER PLAUL

Grundzüge der Entwicklung von Lebensweise und Kultur der einheimischen Landarbeiterschaft in den Dörfern der Magdeburger Börde unter den Bedingungen der Herausbildung und Konsolidierung des Kapitalismus der freien Konkurrenz in der Landwirtschaft1 Die Landarbeiter unter den Bedingungen der Herausbildung des Kapitalismus der freien Konkurrenz Zur Herausbildung und Struktur der Landarbeiterschaft im Untersuchungsgebiet Das Untersuchungsgebiet, die Magdeburger Börde, gehört von den natürlichen Gegebenheiten her zu den begünstigten Agrarlandschaften Mitteleuropas. Seine schon sprichwörtlich hohe Bodenfruchtbarkeit garantiert in der Regel überdurchschnittliche Ernteerträge. Dieser Umstand in Verbindung mit der Existenz relativ günstiger besitz- und erbrechtlicher Verhältnisse förderte die Ausbildung eines stabilen regionalen Marktes in entscheidendem Maße und führte auf Grund der vorteilhaften geographischen Lage in unmittelbarer Nähe des Handelszentrums Magdeburg an der Elbe auch schon relativ früh zur Herstellung durabler Verbindungen zu anderen Märkten. Eine zunächst bescheidene, später wachsende und anhaltende Geldakkumulation war die Folge. Welchen Umfang sie schon bald erreicht hatte, geht daraus hervor, daß die meisten Börde-Bauern bereits im 18. Jh. die feudale Arbeits- und Produktenrente in Geldrente umzuwandeln vermocht hatten.2 Aber die „Verwandlung der Naturairente in Geldrente wird ... nicht nur notwendig begleitet, sondern selbst antizipiert durch Bildung einer Klasse besitzloser und für Geld sich verdingender Taglöhner. Während ihrer Entstehungsperiode ... hat sich daher notwendig bei den besser gestellten rentepflichtigen Bauern die Gewohnheit entwickelt, auf eigne Rechnung ländliche Lohnarbeiter zu exploitieren, ganz wie schon in der Feudalzeit die vermögenderen hörigen Bauern selbst wieder Hörige hielten. So entwickelt sich nach und nach bei ihnen die Möglichkeit, ein gewisses Vermögen anzusammeln und sich selbst in zukünftige Kapitalisten zu verwandeln".3 Im Untersuchungsgebiet hatten sich im Laufe der historischen Entwicklung folgende Hauptgruppen landarmer und landloser Agrarproduzenten herausgebildet: 1. Gesinde

1

Der Beitrag stellt die um eine knappe Darlegung wesentlicher Seiten der geistig-kulturellen Aktivität der untersuchten Arbeiterkategorie erweiterte Zusammenfassung der Dissertation des Verfassers dar: Landarbeiterleben im 19. Jahrhundert. Eine volkskundliche Untersuchung über Veränderungen in der Lebensweise der einheimischen Landarbeiterschaft in den Dörfern der Magdeburger Börde unter den Bedingungen der Herausbildung und Konsolidierung des Kapitalismus in der Landwirtschaft. Tendenzen und Triebkräfte. Inzwischen unter dem gleichen Titel veröffentlicht: Berlin 1979 ( = Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte, Bd. 65)

2

V g l . HARNISCH, 1 9 7 8 : 1 3 7 - 1 4 0 , u n d PLAUL, 1 9 7 8 :

3

MARX, 1964 (1894): X X V , 807.

176-177.

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(Mägde, Knechte, Enken); 2. Deputatarbeiter (Drescher); 3. Tagelöhner. Im weiteren Sinne können hierzu ferner 4. die Kleinkossaten gerechnet werden, deren relative wirtschaftliche Selbständigkeit im wesentlichen nur auf dem Nutzungsrecht an der Allmende gegründet war. 4 Wie die Bauern, so waren im Spätfeudalismus auch die verschiedenen sozialen Gruppen der Landarmut einem Gesamtsystem außerökonomischer Bindungen und Zwangsmaßnahmen unterworfen. Im Untersuchungsgebiet war dieses System, das hier nicht mit dem Status der Leibeigenschaft, sondern mit dem der Gerichtsherrschaft zusammenhing,, in der „Churfürstl. Brandenburgl. Policey-Ordnung des Herzogthums Magdeburg" von 1688 niedergelegt. Dieses Herrschaftssystem bestand ungebrochen fort, bis das Gebiet im Jahre 1807 dem Königreich Westfalen zugeschlagen und damit der fortschrittlichen französischen Gesetzgebung unterstellt wurde. Für die werktätige Landbevölkerung hatte die Fremdherrschaft die Befreiung aus der feudalen preußischen Unterdrückung, andererseits freilich auch zusätzliche Steuerlasten und Söldnerdienste zur Folge. Aber im Unterschied zu den franzö-. sisch besetzten linksrheinischen Territorien wurde hier nicht der revolutionäre Weg der Bauernbefreiung beschritten. Das westfälische Regime stützte sich nicht auf das Bürgertum, sondern auf die reaktionäre Adelsklasse. 5 Die feudalen Lasten wurden nicht mit einem Schlage beseitigt, sondern konnten auf dem Wege des Loskaufs lediglich „abgelöst" werden. Entschädigungslos aufgehoben wurden dagegen alle persönlichen Dienste und Abhängigkeiten, der Gesindezwangsdienst, sämtliche ungemessenen Dienste, Beschränkungen der Freizügigkeit, ferner die Zahlung des von den nichteingesessenen Einwohnern für obrigkeitlichen Schutz zu erlegenden Schutzgeldes, alle Dienste, die aus diesem Schutzuntertanenverhältnis hervorgegangen und abgeleitet worden waren und ähnliches.6 Die Folgen und die Bedeutung der westfälischen Agrarreformen bestanden für die aus existentiellen Gründen auf Lohnarbeit angewiesenen landarmen und landlosen Agrarproduzenten also vornehmlich darin, daß sie nun die juristische Verfügungsgewalt über ihre eigene Arbeitskraft erhielten. Während für die spätfeudale Landarmut der Verkauf ihrer Arbeitskraft über die ökonomische Notwendigkeit hinaus noch durch ein System von Zwängen und Abhängigkeiten außerökonomisch geregelt wurde, war der kapitalistisch ausgebeutete Landarbeiter von dieser Art Zwang frei. Daher und weil ebenfalls wie die Angehörigen der spätfeudalen Landarmut nicht im Besitz von Produktionsmitteln, war er im Vergleich zu diesen doppelt frei. Darin besteht der konstitutive Unterschied zwischen den beiden Klassen ländlicher Lohnarbeiter. Preußen, das sich auf dem Wiener Kongreß große Teile des ehemaligen Königreichs Westfalen sichern konnte, erkannte alle verfassungsmäßig zustandegekommenen Rechtsakte der westfälischen Regierung, darunter auch die Agrargesetzgebung, prinzipiell an. Über eine Sondergesetzgebung wurde versucht, die durch die westfälischen Agrarreformen geschaffene Rechtslage mit den durch die inzwischen in Preußen selbst eingeleiteten Reformmaßnahmen im Agrarbereich entstandenen Rechtsverhältnissen in Einklang zu bringen. 7 Die spätfeudale Landarmut ist von den feudalen Zwängen also durch dieselbe Reform4

Vgl. den Beitrag JACOBEIT/NOWAK in diesem Band.

V g l . HEITZER, 1 9 5 9 : 98. V g l . LÜTGE, 1 9 5 7 : 2 4 3 - 2 5 2 . ' V g l . PLAUL, 1 9 7 8 : 1 7 9 - 1 8 1 . 8 6

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gesetzgebung in der ersten Hälfte des 19. Jh. freigesetzt worden, durch die auch fundamentale Veränderungen in den Eigentumsverhältnissen ermöglicht und bewirkt worden sind. Damit erweist sich der hierdurch verursachte Wandel im Charakter dieser Werktätigen, das heißt die Entstehung des Landproletariats in ihrer historisch ersten Erscheinungsform, als kapitalistische Landarbeiter, als Teilprozeß jenes umfassenden gesellschaftlichen Vorgangs, an dessen Ende die Ablösung der feudalen und die Herausbildung kapitalistischer Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft standen. Die kapitalistische Landarbeiterschaft ging aus diesem Prozeß allerdings nicht als eine fest geschlossene, in sich durchweg vereinheitlichte, homogene Gruppe hervor. Vielmehr spiegelt sich zunächst in ihr noch jene Differenziertheit wider, die schon für die landarmen und landlosen Agrarproduzenten des Spätfeudalismus charakteristisch war. Aber alle Vielfalt, durch die sich das Bild des kapitalistischen Landarbeiters insbesondere in seiner Entstehungsphase auszeichnet, läßt sich im Grunde auf zwei Hauptmerkmale zurückführen, und zwar erstens: auf den Grad seiner Integration in den Betrieb dessen, an den er seine Arbeitskraft verkaufen muß, und zweitens: auf die Existenz oder Nichtexistenz von Gebäudeeigentum und Bodenanteilen. Unter Zugrundelegung dieser Klassifikationskriterien und damit im Unterschied zu den in der bürgerlichen, aber auch weitgehend noch in der neueren marxistischen Literatur üblichen Gliederungsprinzipien und Benennungen, die sich gewöhnlich an den zeitgenössischen Bezeichnungen orientieren, lassen sich im Untersuchungsgebiet innerhalb der einheimischen kapitalistischen Landarbeiterschaft bei einer dem Wesen nach gleichen Stellung zu den Produktionsmitteln in der Hauptsache folgende vier Sozialgruppen unterscheiden: 1. betriebsintegrierte Landarbeiter ohne Gebäudeeigentum und Bodenanteile; 2. betriebsintegrierte Landarbeiter mit Gebäudebesitz und Bodenanteilen oder nur mit Bodenanteilen; 3. freie, das heißt nicht betriebsintegrierte Landarbeiter ohne Gebäudeeigentum und Bodenanteile oder nur mit Bodenanteilen; 4. freie, nicht betriebsintegrierte Landarbeiter mit Gebäudeeigentum und Bodenanteilen oder nur mit Gebäudeeigentum.8 Unter betriebsintegrierten kapitalistischen Landarbeitern ohne Gebäudeeigentum und Bodenanteile ist das von jeglichen feudalen Zwängen und Bindungen befreite Gesinde zu verstehen, wobei in soziologischer Hinsicht zwischen ledigen und verheirateten Mägden und Knechten zu unterscheiden ist, deren Lebensweisen natürlich in erheblichem Maße voneinander abweichen. Während z. B. die ledigen Dienstboten keinen eigenen Haushalt führen, bildet das verheiratete Gesinde durchaus eine von der Wirtschaft des Unternehmers, in dessen Dienst es steht, zumindest räumlich getrennte, wenn auch von ihr nicht unabhängige Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft. Dadurch war seine Einbindung in den fremden Betrieb aber schon graduell schwächer als die des ledigen Gesindes. Grad, Umfang und Charakter der Betriebsintegration des Gesindes ist durch ein besonderes System von Rechtsvorschriften, die Gesindeordnung, geregelt, durch die es auch unter den neuen, veränderten Bedingungen einem außerökonomischen Zwang unterworfen bleibt. Als betriebsintegrierte Landarbeiter mit Gebäudeeigentum und Bodenanteilen oder nur mit Bodenanteilen sind jene kapitalistischen Landarbeiter zu betrachten, die in einem relativ stabilen und in der Regel auch längerfristigen arbeitskontraktlichen Verhältnis stehen 8

Diese Klassifikation ist in Anlehnung und Weiterführung der von PETERS, 1967: 255—302, am Beispiel Ostelbiens für die landarmen und landlosen Agrarproduzenten des Spätfeudalismus vorgenommenen Einteilung erfolgt. — Vgl. außerdem PLAUT., 1977: 149—163.

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ünd aus diesem Verhältnis heraus entweder über einen gewissen Anteil am Ertrag der Wirtschaft dessen verfügen, der aus dem Verkauf ihrer Arbeitskraft Nutzen zieht, oder als Bestandteil ihres Lohnes feste Naturallieferungen — Deputat — beziehen, in jedem Fall aber auf der Grundlage dieses Verhältnisses Bodenanteile zur eigenen Bewirtschaftung nutzen können. Es handelt sich also um eine Sozialgruppe, die als Teil der Landarmut auch im Spätfeudalismus schon vorhanden war und für die als Sammelname die Bezeichnungen „Deputanten", „Deputatisten" oder „Deputatarbeiter" üblich geworden sind. Unter Aufnahme dieser Benennungen sei für ihre kapitalistisch ausgebeuteten Nachfahren der Terminus „Deputatlandarbeiter" vorgeschlagen. Im Untersuchungsgebiet, wie auch in anderen Landschaften, waren Deputatlandarbeiter insbesondere die Drescher, jedenfalls bis zur Einführung des Dampfdruschs. Sofern sie auf den Domänen und Rittergütern in Arbeit standen, waren sie entweder in Wohnungen untergebracht, die ihnen von jenen Unternehmern kontraktlich zur Nutzung überlassen wurden (Gutsarbeiter), oder sie wohnten in eigenen Häusern auf Gutsland, wofür sie einen Erbzins entrichten und außerdem Dienste leisten mußten (Rittergutshäusler). Sofern sie in bäuerliche Wirtschaften integriert waren, bewohnten sie gewöhnlich ein eigenes Haus auf Gemeindeland (Häusler und proletarisierte, ehemalige Kleinkossaten). Vereinzelt, später unter dem Druck des Arbeitskräftemangels weit häufiger, stellten aber auch die Bauern (Groß- und teilweise die Mittelbauern) und die Aktiengesellschaften der Zuckerfabriken ihren Deputatlandarbeitern Wohnraum zur Verfügung. Die Grundlage ihrer Betriebsintegration bildet der mündlich vereinbarte oder schriftlich ausformulierte und unterschriebene Arbeitskontrakt; denn unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen kann Betriebsintegration nur auf der Basis von Verträgen Zustandekommen. In der Periode der politischen Reaktion, insbesondere nach Inkrafttreten des „Gesetzes, betr. die Verletzungen der Dienstpflicht des Gesindes und der ländlichen Arbeiter" vom 24. April 1854, vor allem von den Großgrundbesitzern zur besseren Absicherung ihrer Interessen in schriftliche Form gebracht, wurde der Kontrakt immer mehr zu einem Herrschaftsinstrument umfunktioniert. Aber ebenso wie durch die Gesindeordnung konnte ein außerökonomischer Zwang durch den Unternehmer auch mittels des Kontraktes nur dann ausgeübt werden, wenn der Arbeiter, zwar ökonomisch dazu gezwungen, im juristischen Sinne aber freiwillig ein Vertragsverhältnis mit diesem eingegangen war. Darin besteht auch der entscheidende Unterschied zum feudalen außerökonomischen Zwang, der seinem Inhalt nach ein prästabilisierter und kollektiv-verbindlicher Zwang war. Neben den beiden Sozialgruppen der betriebsintegrierten kapitalistisch ausgebeuteten Landarbeiterschaft, dem Gesinde und den Deputatlandarbeitern, existiert im Kapitalismus ferner ein Typus von Agrarproletariern, der von solchen Bindungen frei ist und der deshalb als „freier Landarbeiter" bezeichnet wird. Der Begriff „Landarbeiter" impliziert außer dem Sachverhalt: „frei von Produktionsmitteln" auch den Tatbestand: „frei von feudalen außerökonomischen Zwängen". „Freier Landarbeiter" besagt deshalb: nicht in einem relativ stabilen, verbindlichen Vertragsverhältnis stehend und damit auch frei von fremdbetrieblicher Einbindung, also nicht betriebsintegriert. Auch beim „freien Landarbeiter" können wiederum zwei Sozialgruppen abgehoben werden. Die eine Gruppe bilden die freien Landarbeiter ohne Gebäudeeigentum und Bodenanteile oder nur mit Bodenanteilen. Bei ihnen handelt es sich hauptsächlich um die historischen Nachfahren der im Agrarbereich produktiv tätigen spätfeudalen Einlieger (Mieter, Hausgenossen), die in der Regel mit der Leistung eines Äquivalents für obrigkeitlichen, meist gerichtsherrlichen Schutz belastet waren und darum auch häufig als

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„Schutzuntertanen" bezeichnet wurden. Sie besaßen kein eigenes Haus, sondern wohnten zur Miete. Diesen „freien Landarbeitern ohne Hauseigentum" standen als die andere Sozialgruppe des kapitalistisch ausgebeuteten freien Agrarproletariats die „freien Landarbeiter mit Hauseigentum" gegenüber. Sie entwickelten sich nicht nur aus der Gruppe der spätfeudalen Häusler, einer Teilgruppe der landlosen bzw. landarmen Tagelöhner. In starkem Maße waren es auch ehemalige Kleinkossaten, die infolge der Teilung der Gemeinheiten ihrer relativen wirtschaftlichen Selbständigkeit verlustig gegangen und direkt zu Lohnarbeitern herabgedrückt worden waren. Außer über ein eigenes Wohnhaus und zum Teil über kleinere Wirtschaftsgebäude verfügten die Angehörigen dieser Sozialgruppe der „freien Landarbeiterschaft" meist noch über etwas Land, das allerdings gewöhnlich kaum mehr als ein kleines Stück Gartenland war (Parzellenbesitz). Und auch dies war häufig genug nur ein Privileg der sogenannten vormaligen Althäusler. Ehemalige Neuhäusler bzw. Neuanbauer erkämpften sich — zumindest im Untersuchungsgebiet — vielfach erst im Zusammenhang mit der Separation etwas Land. So finden sich in der Sozialgruppe der „freien Landarbeiter mit Hauseigentum" in der Tat verschiedene Untergruppen zusammen. In den zeitgenössischen Quellen des Untersuchungsgebietes und vermutlich auch anderer Landschaften werden diese Varianten allerdings kaum unterschieden. In der Regel ist fast ausschließlich nur von „Häuslern" die Rede, wie auch bei den„Einliegern" kaum zwischen den vornehmlich in der Landwirtschaft produktiv tätigen Angehörigen dieser Gruppe und beispielsweise den im Mietverhältnis stehenden Handwerkern, Witwen oder Invaliden differenziert wird. Auch deshalb dürfte es geraten erscheinen, sowohl den unscharfen „Häusler" wie den verschwommenen „Einlieger"-Begriff zur Kennzeichnung bestimmter Gruppen ländlicher Lohnarbeiter aufzugeben. Außer diesen vier Kategorien des einheimischen Agrarproletariats existiert innerhalb der kapitalistisch ausgebeuteten Landarbeiterschaft noch eine weitere wichtige Sozialgruppe, nämlich die der Saisonarbeiter (Sachsengänger). Im Untersuchungsgebiet traten ihre ersten Vertreter bereits gegen Ende des 18. Jh., dann — in etwas größerer Anzahl — im Zusammenhang mit dem Wechsel von der extensiven zur intensiven Wirtschaftsweise in den vierziger Jahren des 19. Jh. auf. Wirkliche Bedeutung erlangten sie hier allerdings erst nach 1870.9 Das System außerökonomischer Zwänge, Bindungen und Abhängigkeiten, dem die landarmen und landlosen, aber auch die bäuerlichen Agrarproduzenten im Feudalismus unterworfen waren, schloß auch ein bestimmtes Gefüge sozialer Beziehungen in sich ein, das vor allem durch das Abhängigkeitsverhältnis der Bauern und der Landarmut vom feudalen Grund- bzw. Gerichtsherrn charakterisiert war. Hinter diesem Klassenantagonismus traten die sozialen Unterschiede zwischen der bäuerlichen Klasse, speziell den großen und mittleren Bauern (Voll- und Halbspännern), und den landlosen und landarmen Agrarproduzenten zunächst noch zurück. Der niedrige Stand der Produktivkräfte, die feudale Bedrückung und ein erst unvollkommen entwickelter Markt hatten dauerhafte größere Vermögensunterschiede innerhalb der werktätigen Landbevölkerung noch nicht entstehen lassen. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. traten in dieser Beziehung im Untersuchungsgebiet jedoch bereits merkbare Veränderungen zutage. Die stetig fortschreitende Ausbildung stabiler Marktbeziehungen veranlaßte viele Bauern, vor allem in der unmittelbaren Um' Vgl. den Beitrag

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in diesem Band.

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gebung des Handelszentrums Magdeburg, schön gegen Ende des 18. Jh. sich einer praktisch ausschließlich auf den Markt orientierten Produktion, nämlich dem Anbau der Zichorie, zuzuwenden. Die entscheidenden Veränderungen vollzogen sich aber erst ab Mitte der dreißiger Jahre des 19. Jh. mit der Einführung des Zuckerrübenanbaues und der Rübenzuckerproduktion und im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Agrarreformen. Dabei war von großer Bedeutung, daß der neue Produktionszweig nicht in den Händen der Großgrundbesitzer konzentriert blieb, wie etwa die Brennereien; auch die Bauern, zum Teil sogar die Kleinbauern, waren daran beteiligt, und zwar sowohl an der Erzeugung der Ware „Zuckerrübe" wie auch — als Mitglieder von Aktiengesellschaften — an der Herstellung des Rübenzuckers.10 Alle Besonderheiten, durch die im Untersuchungsgebiet der Prozeß der Herausbildung und Konsolidierung des Kapitalismus in der Landwirtschaft charakterisiert wird, sind mit der Einführung und der Entwicklung dieser Produktionsrichtung verbunden. In dem Anbau und der Verwertung der Zuckerrübe konnte sich das erwachende und rasch steigernde Profitinteresse der Großgrundbesitzer und großer Teile der Bauernschaft am ehesten und in ganz besonderem Maße realisieren. Dabei konnten nicht nur aus dem Rüben- und Zuckergeschäft im engeren Sinne große Gewinne erzielt werden* sondern im Zusammenhang damit erreichten auch die Pacht- und Bodenpreise eine nie gekannte Höhe. Jahrespachtpreise von 30 Talern in Gold pro Morgen (um 1850) 11 waren keine Seltenheit (im Vergleich dazu in der benachbarten Altmark zum selben Zeitpunkt: 1 Taler pro Morgen vor, 3 Taler pro Morgen nach beendeter Separation12.) Die bäuerlichen Grundbesitzer konnten die hier sich darbietende Möglichkeit, hohe Gewinne zu erzielen, freilich nur dann verwirklichen, wenn Flurzwang und Dreifelderwirtschaft aufgehoben und die Verfügungsgewalt über ihren Grundbesitz vollständig in ihre Hände übergegangen sein würden. In der Tat besteht im Untersuchungsgebiet zwischen der Einführung und dem weiteren Ausbau der Produktion von Zuckerrüben und Rübenzucker und dem konkreten Verlauf der Durchsetzung der Agrarreformen ein unmittelbarer Zusammenhang.13 So kann festgestellt werden, daß hier die Herausbildung agrarkapitalistischer Verhältnisse im wesentlichen bereits um 1850, also rund ein Dezennium früher als z. B. im ostelbischen Deutschland, zum Abschluß gekommen war. Dies drückt sich sowohl im Stand der Durchführung von Gemeinheitsteilung und Separation als auch im Stand der bis dahin erfolgten Ablösungen aus. Besonders deutlich kommt jener Zusammenhang im Fortgang der Separation zum Ausdruck: Waren im Kernkreis des Untersuchungsgebietes und der Zuckerrübenproduktion, im Kreis Wanzleben, zwischen 1821, als die preußische Gemeinheitsteilungsordnung in Kraft trat, und 1840 erst 25,18 Prozent der landwirtschaftlichen Gesamtnutzfläche separiert, so stieg dieser Anteil zwischen 1840 und 1848, also in weniger als der Hälfte des vorherigen Zeitraums, um fast das Doppelte auf 73,26 Prozent. Entscheidender noch als diese Kriterien ist jedoch die Existenz bereits zu diesem Zeitpunkt (1850) voll ausgebildeter kapitalistischer Marktbeziehungen; mehr noch: das Vorhandensein einer entwickelten, ausschließlich auf den Markt orientierten Produktion, durch die Verlauf und Ergebnis der Agrarreformen wesentlich mitbestimmt 10

Vgl. MÜLLER, 1 9 7 9 : 36ff.

11

Entnommen dem Bericht „Die Rübenzucker-Industrie im Zollverein in den Campagnen 1848/49 und 1849/50", in: ZVRI, 1851:1, 471. Einige Nachrichten ..., 1850: 32.,

12 13

V g l . PLAUL, 1 9 7 8 :

191-206.

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worden sind. Daher trifft hier nicht nur zu, was für die übrigen deutschen Territorien mit Ausnahme der linksrheinischen Gebiete sonst auch gilt, nämlich daß die Agrarreformen gleichsam den „Regler" darstellen, durch den der Prozeß der Herausbildung kapitalistischer Verhältnisse in der Landwirtschaft gewissermaßen gesteuert, kanalisiert wird, und zwar im Interesse der alten feudalen Großgrundbesitzer und künftigen Junker, sondern hier tritt der Fall zutage, daß die in den Grundlagen bereits vorhandene kapitalistische Produktionsweise ihrerseits ebenfalls „regelnd" auf den Verlauf und das Resultat der Reformen Einfluß nimmt. Außer der schon erwähnten Tatsache, daß hier die Agrarreformen bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt zum Abschluß gebracht wurden, kommt dies besonders darin zum Ausdruck, daß die Ablösung der feudalen Dienste und Abgaben hauptsächlich in Geld erfolgte (bis 1848 waren in den vier am Untersuchungsgebiet teilhabenden Kreisen Calbe, Neuhaidensieben, Wanzleben und Wolmirstedt rund 1 Million Taler als Ablösungssumme gezahlt; ihr standen gerade 462 Hektar Landabfindung gegenüber; im Kernkreis Wanzleben betrug die Landentschädigung, bezogen auf seine LN, lediglich 0,3 Prozent), daß unter den großen und mittleren Bauern kein massenhafter Ruin eintrat (die bäuerlichen Grundbesitzer vereinigten auch jetzt noch den größten Teil der LN des Untersuchungsgebietes in ihren Händen) und daß, wie der Großgrundbesitz, sie im Zusammenhang mit der Hinwendung zur Intensivkultur, dem Zuckerrübenanbau, ebenfalls in großem Umfang zur Ausbeutung fremder Arbeitskräfte übergegangen waren. Der Grundtypus der Entwicklung von der feudalen zur kapitalistischen Produktionsweise in der Landwirtschaft ist auch hier der preußische Weg. Gleichzeitig bestimmen jedoch mehrere, für diesen Weg untypische Faktoren den Entwicklungsgang, deren Hauptursachen in dem Nebeneinanderbestehen von Gutsherrschaft und ökonomisch starker bäuerlicher Wirtschaft, im Überwiegen des bäuerlichen Besitzes und im Fehlen der Leibeigenschaft und Gutsuntertänigkeit liegen. Folgenschwer waren die Auswirkungen dieser Umwälzung im sozialen Bereich. Innerhalb der bäuerlichen Klasse setzte sich der Differenzierungsprozeß — hier noch als bloße Zunahme der Vermögensunterschiede, als einfache, bloße Differenzierung — weiter fort. Entscheidende Veränderungen traten vor allem speziell im Zusammenhang mit der Durchführung der Gemeinheitsteilung und Separation auf. Infolge des Verlustes der AllmendeNutzung büßte ein großer Teil der Kleinkossaten seine wirtschaftliche Selbständigkeit vollends ein und sank direkt zu betriebsintegrierten oder freien Landarbeitern mit Gebäudeeigentum und Bodenanteilen herab. Die Separation sprengte auch die auf Grund der Dreifelderwirtschaft bisher notwendig gewesene koordinierte Bebauung der Bauernäcker. An die Stelle der Gemeinheitsregelung trat die Vereinzelung der bäuerlichen Produzenten. Es bildete sich ein Zustand, in dem „nicht die gesellschaftliche, sondern die isolierte Arbeit vorherrscht".14 Getrieben von Gewinnsucht, standen sich die Produzenten nun stärker denn je als ökonomische Konkurrenten gegenüber. Die alte Dorfgemeinde, ein vornehmlich aus den ansässigen grundbesitzenden Einwohnern gebildeter Wirtschaftsverband, wandelte sich immer mehr zur politischen Gemeinde um.15 14 16

MARX, 1964 (1894): X X V , 821. Schon im Jahre 1843 wurde in einem Bericht des Generalsuperintendenten der Provinz Sachsen an das Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten auf der Grundlage von 89 Kreissynoden-Protokollen erklärt: „Die Schulzen, die Schoppen, die Dorfgerichte fangen an ein Gefühl von der politischen Gemeinde zu bekommen, aus welcher sie den Geist-

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Diese Entwicklung hatte nicht nur eine Verschärfung des Klassenwiderspruches zwischen den Großgrundbesitzern auf der einen sowie der bäuerlichen Klasse und der Landarbeiterschaft auf der anderen Seite zur Folge. Das durch keine feudalen außerökonomischen Zwänge mehr gehemmte Profitstreben der bäuerlichen Grundbesitzer und seine Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse der von ihnen ausgebeuteten Landarbeiter sowie das Bemühen jener Arbeiter um die Befriedigung ihrer historisch gewachsenen und sich entwickelnden Bedürfnisse führten vielmehr auch zwischen Landarbeitern und den fremde Arbeitskräfte exploitierenden Bauern zur Herausbildung unvereinbarer Interessengegensätze. Dieser Klassenantagonismus kam in verschiedener Weise zum Ausdruck. Zum einen in der Verengung und Verarmung der Kommunikationsbeziehungen. Heiraten zwischen den Angehörigen der beiden Klassen wurden immer seltener, Kontakte außerhalb der Arbeitssphäre, etwa bei Geselligkeiten, reduzierten sich auf ein Minimum18; selbst im kirchlichen Bereich scheiterten Versuche einer Zusammenarbeit (so etwa bei der Bildung von Gesangvereinen17). Es gab sogar Gemeinden, wo die wohlhabenden Bauern dazu übergegangen waren, für sich und ihresgleichen eigene Friedhöfe anzulegen.18 Zum anderen nahm das Ausbeutungsverhältnis neue Formen an. Die Bauern griffen zu anderen, den veränderten Bedingungen angepaßten Mitteln der Exploitation, etwa zum schriftlichen, oft diskriminierende Bestimmungen enthaltenden Arbeitskontrakt, neben der Gesindeordnung zum Gesindebuch und vor allem zur Akkordlöhnung, gekoppelt mit dem aus dem ökonomischen Grundgesetz des Kapitalismus sich herleitenden Bestreben, den Preis der Ware Arbeitskraft ständig unter ihren Wert herabzudrücken. Die Landarbeiter ihrerseits entwickelten neue Formen und Methoden der Auseinandersetzung und des Widerstandes. Beziehungen persönlicher Art, wie sie noch im Feudalismus zwischen Bauer und Landarmut bestanden hatten, lösten sich auf. An die Stelle des alten „Patriarchalismus" trat das reine Vertragsverhältnis, die Ausbeutung in ihrer ungeschminkten, unverschleierten Form.

16 17

18

liehen als ausgeschlossen ... betrachten." In: STAM, Rep. C 81 I, Nr. 28: 35 (Acta betr. die Kreis-Synoden. 1 8 4 3 - 1 8 9 0 ) . Vgl. die Beiträge BIRK in diesem Band. So heißt es beispielsweise in dem Protokoll über die vom Generalsuperintendenten der Provinz Sachsen am 6. 6. 1886 in Vahldorf abgehaltene Gemeinde-Visitation : „Die Vahldorfer Gemeinde hat sich mehr, wie die benachbarten Gemeinden, in einer gewissen Abgeschlossenheit gehalten. Sie steht in dem Ruf, in der Bildung etwas zurückgeblieben zu sein ... Wenn in einigen der reichen Bauernfamilien hier noch die alte bäuerliche Einfachheit und Sitte herrscht, so ist das nur zu loben: aber diese Sitte weicht immer weiter zurück. Auch die strenge Festhaltung der Unterschiede von Bauer, Grundbesitzer, Einliegern und Arbeitern hat ihre guten Seiten, freilich auch ihre üblen, manche gemeinsame Einrichtung für Zwecke des Reiches Gottes scheitert daran, daß die Bauern, ihre Söhne und Töchter, nicht mit Leuten aus anderen Ständen zusammenzubringen sind; es trat das recht hervor, als über die Bildung eines kirchlichen Gesangvereins verhandelt wurde." In: STAM, Rep. C 81 IV, Nr. 56: Ì81 (Acta, Superintendentur Neuhaidensleben. IV. Visitations-Berichte. 1836—1886). Beispiel Ummendorf aus dem Jahre 1835 : „Zwei Kirchhöfe sind da. Beide befriedigen. Der große, bei der Kirche, ... der kleine liegt hinter dem Pfarrwittwenhause. Auf beiden werden die Todten nach der Reihe beerdigt; und zwar auf dem großen, neben der Kirche, die Grundbesitzer mit ihren Angehörigen, auf dem kleinen die Einlieger, Taglöhner und Armen." Aus dem Bericht der „Kirchen- und Schul-Visitation zu Ummendorf vom lten bis 4ten May 1835", in: STAM, Rep. C 8 1 IV, Nr. 24: l b (Acta, Superintendentur Eilsleben. IV. Visitationsberichte. 1835 bis 1884).

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In diesen Prozeß der Herausbildung des Klassengegensatzes zwischen den fremde Arbeitskräfte ausbeutenden bäuerlichen Grundbesitzern und der Landarbeiterschaft waren grundsätzlich alle Sozialgruppen des Landproletariats einbezogen. In bezug auf die beiden sozialen Gruppen des betriebsintegrierten Agrarproletariats, dem Gesinde und den Deputatlandarbeitern, wies dieser Vorgang allerdings gewisse Besonderheiten auf. Zum Wandel in den sozialen Beziehungen, md über die Arbeits- und Lebensbedingungen Das Verhältnis zwischen Großgrundbesitzer und Gesinde, aber auch zwischen Bauer und Gesinde, änderte sich von Grund auf im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Agrarreformen, insbesondere mit der Aufhebung des Gesindezwangsdienstes. Jetzt, wo der bisherige, das heißt der feudale außerökonomische Zwang beseitigt war, rückte für die Mägde, Knechte und Enken mehr denn je die wirtschaftliche Seite ihres Dienstverhältnisses und die Frage der Arbeits- und Lebensbedingungen in den Vordergrund. Die Forderung nach höherem Lohn und nach größerer Selbständigkeit wurde zunehmend zur bestimmenden Maxime ihres Verhaltens. Die Realisierung dieser Forderung wurde möglich, als sich mit der Einführung des arbeitsintensiven Zuckerrübenanbaues und der Begründung zahlreicher Rübenzuckerfabriken sowie — etwa ab Mitte des 19. Jh. — infolge der Entwicklung Magdeburgs und seiner Vororte zu einem industriellen Zentrum die Zahl der Arbeitsplätze zunächst ungemein erhöhte. Auch der mit Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jh. im Untersuchungsgebiet einsetzende Aufschwung im Berg-, Eisenbahn- und Chausseebau schuf neue Arbeitsmöglichkeiten. Die Unternehmer reagierten auf die Forderungen ihres Gesindes nicht selten mit harten Gegenmaßnahmen, etwa mit einer strengen Auslegung der Gesindeordnung, mit Drohungen, Ausgehverboten, Beleidigungen, miserabler Unterkunft und Kost, mit Tätlichkeiten usw., und mit der Einführung von Gesindebüchern, mit denen im Unterschied zu den bisher üblich gewesenen Dienstattesten das Verhalten und die Leistungsfähigkeit der Gesindepersonen über einen weit größeren Zeitraum hinweg kontrolliert werden konnten. („Dienstbotenverbesserungsvereine", die Ende der dreißiger Jahre des 19. Jh. in der Provinz Sachsen entstanden und sich bald über ganz Preußen und darüber hinaus verbreiteten, mit denen das Gesinde mittels Vergabe von Prämien — auch Buchprämien — und öffentlichen Belobigungen korrumpiert werden sollte, haben sich im Untersuchungsgebiet infolge des schon früh zutage tretenden Dienstbotenmangels dagegen nicht durchsetzen können.) Eine wirkliche Verbesserung ihrer wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Lage konnten daher die Mägde und Knechte nur dadurch erzielen, daß sie aus ihrem bisherigen Lebensbereich überhaupt ausschieden und in andere Sozialgruppen überwechselten, vornehmlich in die der freien Ländarbeiter oder des Fabrik-, Berg-, Eisenbahnoder Chausseebau-Proletariats. Die Folge davon war, daß außer einem spürbaren Mangel an Mägden und Knechten nun eine wesentliche Verschiebung in der Alterszusammensetzung des Gesindes eintrat. War es zuvor die Regel gewesen, daß ländliche Dienstboten noch in ihrem dreißigsten Lebensjahr im Gesindedienst standen, so wurde es jetzt üblich, mit Erreichen der Volljährigkeit aus diesem Verhältnis herauszutreten. Zu dieser Entwicklung lief eine andere parallel, an deren Ende die Aufhebung des herkömmlichen Gesindeverhältnisses überhaupt stand. Sie betraf vor allem jene landwirtschaftlichen Großbetriebe, aber auch groß- und teilweise mittelbäuerliche Unternehmen, die mit Zuckerfabriken verbunden waren. Da deren gesamte, auch immer mehr mechanisierte Produktion in zu7

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nehmendem Maße einzig auf die Erzeugung des Finalprodukts, des Rübenzuckers, ausgerichtet war, alle anderen landwirtschaftlichen Produktionszweige, wie Getreidebau oder Viehhaltung, diesem Ziel mehr oder weniger untergeordnet waren, wandelten sich diese Wirtschaften immer mehr zu Saisonbetrieben; eine Tendenz, die im Untersuchungsgebiet nach 1850, in der Phase der Konsolidierung der kapitalistischen Produktionsweise in der Landwirtschaft, voll zum Durchbruch kam. Da Saisonunternehmen nicht ständig, sondern nur in den Spitzenzeiten eine sehr große Anzahl von Arbeitskräften benötigen, gingen die ausgesprochenen Rübenwirtschaften immer mehr dazu über, anstelle von ganzjährig unter Kontrakt stehenden (betriebsintegrierten) Agrarproletariern zunächst freie Landarbeiter und — seit den achtziger Jahren des 19. Jh. massenhaft — Saisonarbeiter zu beschäftigen. Schon um 1880 gab es daher in diesen Unternehmen Gesinde im herkömmlichen Sinne so gut wie keines mehr. Allerdings zog man hier zu Gespannarbeiten sowie zur Fütterung und Pflege des Viehs vielfach spezielle Futterknechte heran, die jedoch nicht im bisherigen, alten Gesindeverhältnis standen, sondern in der Regel verheiratet und ihrem Status nach praktisch Deputatlandarbeiter waren. Die Mägde ersetzte man mehr und mehr durch Hauspersonal (Hausmädchen, Mamsell, Gesellschafterin usw.). Diese Entwicklung führte auch zur Auflösung der sogenannten Knechtebrüderschaften, zunftähnlich organisierte Vereinigungen des unverheirateten männlichen Gesindes, die maßgeblich als Brauchträger (z. B. Hänselbräuche) in Erscheinung traten, daneben aber auf ihre Mitglieder auch erzieherisch einwirkten und zur Herausbildung eines (beruflichen) Gruppenbewußtseins beitrugen. „Die Uberhand nehmende Industrie, der neuzeitliche Wirtschaftsbetrieb mit seinen zahllosen landwirtschaftlichen Maschinen und die hierdurch bedingte Verringerung des Personals waren die Ursachen zum Verfall der Brüderschaften auf unseren Dörfern!" 1 9 In den siebziger Jahren des 19. Jh. waren sie im Untersuchungsgebiet bereits nicht mehr anzutreffen. Der Wandel der landwirtschaftlichen Betriebe zu Saisonunternehmen hatte auch für die Angehörigen der anderen Sozialgruppe des betriebsintegrierten Agrarproletariats, die Deputatlandarbeiter, bedeutsame Folgen. Da bekanntlich im Untersuchungsgebiet das Hauptkontingent dieser Gruppe von den Dreschern gebildet wurde, leitete für sie bereits der Übergang zum Maschinendrusch, insbesondere — seit Ende der fünfziger Jahre des 19. Jh. — zum Dampfdrusch, eine neue Etappe ein. Damit hatte sich auch in der Getreideproduktion der Arbeitsprozeß zeitlich erheblich zusammengedrängt: Für die Unternehmer ein weiterer Grund, auf die betriebsintegrierten Landarbeiter zu verzichten und sie durch freie ländliche Arbeiter zu ersetzen. Sofern möglich, versuchten viele der Deputatlandarbeiter in ein anderes, dem bisherigen durchaus ähnliches arbeitskontraktliches Verhältnis einzutreten, und zwar in die erwähnte Gruppe der Pferde- bzw. Futterknechte. Die Mehrzahl von ihnen, insbesondere jener Teil, der über Gebäudeeigentum und etwas Land verfügte, wanderte als Pendler in die nahegelegenen Industrien ab. 20 Diesem Prozeß voraus ging eine Entwicklung, in der sich die geschilderte Tendenz bereits ankündigte, durch die andererseits aber zugleich die Herausbildung bzw. Verschärfung des Klassenantagonismus zwischen den großen und mittleren Agrarunternehmern und der ländlichen Arbeiterschaft, hier speziell den Deputatlandarbeitern, in hervorragendem Maße mitbewirkt worden ist. 19

HECHT, 1 9 0 7 / 0 8 : 4 7 .

20

Eine erste Studie von H.-J. RÄCH über das Leben dieser auf dem Lande ansässigen und in der städtischen Industrie tätigen Arbeiter liegt im Manuskript vor und soll nach entsprechender Erweiterung und Vertiefung an anderer Stelle publiziert werden.

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Zudem demonstriert dieser Vorgang in geradezu exemplarischer Weise, daß in antagonistischen Klassengesellschaften Klassengegensätze und Klassenkämpfe keine Erfindungen des unterdrückten werktätigen Volkes sind, sondern inhärentes Moment dieser Gesellschaftsformationen selbst. Wie in anderen Territorien, so waren auch im Untersuchungsgebiet die Beziehungen zwischen Großgrundbesitzer bzw. Bauer und Deputatlandarbeiter (Drescher) zunächst noch durch das im Feudalismus entstandene sogenannte Zehntverhältnis und die Gewährung eines bestimmten Erdruschanteils charakterisiert. Als zu Beginn der dreißiger Jahre des 19. Jh. die fast ein Jahrzehnt anhaltende Agrarkrise überwunden war, als sich infolge des generellen Bevölkerungszuwachses und der tendenziell rascheren Zunahme der nichtagrarischen gegenüber der agrarischen Bevölkerung der Markt für landwirtschaftliche Erzeugnisse ständig erweiterte und zu einer allgemeinen Produktionssteigerung führte, waren Großgrundbesitzer und Bauern nicht mehr länger bereit, ihren Arbeiter am Ertrag der Produktion, einer vorerst fortwährend steigenden Produktion, teilhaben zu lassen. Sie drängten darauf, die für sie unter diesen Bedingungen nachteilig gewordene Anteil-Entlohnung durch die Geldlöhnung zu ersetzen. Zunächst erzwangen sie die Aufhebung des Zehntverhältnisses, was ihnen im Untersuchungsgebiet bereits bis 1845 fast durchweg gelang. An der Gewährung des Erdruschanteils hielten sie dagegen noch bis in die sechziger Jahre des 19. Jh. hinein fest; und zwar einmal deshalb, weil ihnen diese Regelung bei Vorherrschen des Handdrusches den Vorteil eintrug, daß der Drusch sorgfältig ausgeführt wurde und die Ausbeute dementsprechend hoch war. Zum anderen stieß ein solcher Versuch auf den z. T. heftigen Widerstand der Drescher, die nach dem Verlust des „Zehnten" wenigstens noch an dieser Leistung festhalten wollten. Sobald der Unternehmer jedoch die Möglichkeit hätte, den Drusch ebenso sorgfältig, ja noch weit ergiebiger ausführen zu können als bisher, und daraus außerdem eine Reihe weiterer Vorteile zu ziehen vermochte, ging er dazu üher, den Erdruschanteil nach und nach einzuschränken und schließlich ganz zu beseitigen. Diese Möglichkeit trat ein mit dem Ubergang zum Maschinendrusch, insbesondere mit der Einführung der Dampfdreschmaschine, woran infolge der Bildung von Dampfdreschmaschinengenossenschaften und durch den Aufbau eines spezifischen Verleihsystems auch mittlere und teilweise sogar kleine bäuerliche Betriebe partizipierten. Mit diesem Pachtsystem wurde außerdem eine spezielle Form der Drusch-Vergütung entwickelt, die es den Unternehmern ermöglichte, den Widerstand der Deputatlandarbeiter gegen die Abschaffung des Erdruschanteils zu brechen. Verpächter der Maschine und Wirtschaftsinhaber arbeiteten dabei Hand in Hand. Diese Vergütung geschah in der Weise, daß der bisher den Deputatlandarbeitern gewährte Erdruschanteil jetzt auf den Verpächter als Drescherlohn übertragen wurde, während die Drescher ausschließlich in Bargeld entlohnt wurden, und zwar raffinierterweise nicht vom Unternehmer, in dessen Dienst sie ständen und der sie auch unter Kontrakt genommen hatte, sondern vom Vermieter der Maschine. Die Folge dieser Manipulation bestand für die Drescher vor allem darin, daß der bare Geldlohn, den sie nun erhielten, im Vergleich zum Wert ihres früheren Erdruschanteils bis um die Hälfte niedriger zu liegen kam. Mit dem Übergang zum Maschinendrusch verschwanden auch die meisten der bisher geübten Drescherbräuche,21 die in der Provinz Sachsen „zum größten Teil reine Hänselbräuche" waren.22 Die Dominanz gerade dieses aus dem Bereich des zünftigen Handwerks entlehnten Brauchkomplexes macht übrigens deutlich, daß ähnlich wie beim unverheirate21

Vgl.

22

WEBER-KELLERMANN, 1967: 369.

7*

WEBER-KELLERMANN;

1965: 210—216; außerdem bei B E N T Z I E N , 1964: 37.

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ten männlichen Gesinde auch bei den Dreschern ein gewisser Grad berufsmäßiger Organisiertheit bestanden haben muß, so daß den Unternehmern damit offensichtlich eine relativ geschlossene Sozialgruppe gegenüberstand, 23 deren Widerstand gegen den Abbau der Anteilentlohnung nur durch eine trickreiche Verschwörung von Unternehmern und Maschinenverpächtern gebrochen werden konnte. Der Status der Deputatlandarbeiter hatte durch diese Entwicklung eine einschneidende Veränderung erfahren. Ihre bisherige, relativ feste betriebliche Integration, die sich hauptsächlich darauf gründete, daß sie .durch ihre Anteilberechtigung am Bruttoertrag über das rein kontraktliche, also juristische Verhältnis hinaus noch in ökonomischer Beziehung mit der Wirtschaft dessen, dem sie ihre Arbeitskraft verkauften, eng verbunden waren, wurde aufgebrochen, die wirtschaftliche Bindung gesprengt und weitgehend durch ein Geldverhältnis ersetzt: in der Phase der Herausbildung agrarkapitaüstischer Verhältnisse durch die Abschaffung des „Zehnten", in der Phase der Konsolidierung des Kapitalismus in der Landwirtschaft durch die Beseitigung des Erdruschanteils. Das Deputat blieb zwar auch fernerhin erhalten, doch schloß es jetzt keine Anteilberechtigung mehr ein. Zugleich war durch den Fortfall des „Zehnten" und des Erdruschanteils der Geldanteil am Gesamtlohn gegenüber dem Naturalanteil erheblich vergrößert worden. Damit war zugleich ein weiterer und umfassenderer Prozeß eingeleitet, der in der Folgezeit, unter den Bedingungen des vollentfalteten Kapitalismus und Imperialismus, immer stärker zum Durchbruch gelangte, nämlich der Prozeß der tendenziellen Unifikation der Landarbeiterschaft: Durch den Wegfall der Anteilberechtigung und durch die Vergrößerung des Geldanteils an der Gesamtlöhnung der Deputatlandarbeiter waren wesentliche Unterschiede zwischen ihnen und den freien Landarbeitern beseitigt worden; mit dem Übergang zur Mechanisierung der Landarbeit und der dadurch bewirkten Verstärkung des Saisoncharakters der landwirtschaftlichen Betriebe löste sich das herkömmliche Gesindeverhältnis auf, wurde die Zahl der betriebsintegrierten Landarbeiter überhaupt geringer; freie Landarbeiter und Saisonarbeiter traten an ihre Stelle, und die Naturallöhnung wurde in zunehmendem Maße durch die Geldlöhnung ersetzt. Die unter feudalen Bedingungen entstandene Differenzierung innerhalb der landarmen und landlosen Agrarproduzenten wird infolgedessen immer mehr abgebaut. Es entsteht eine Landarbeiterschaft, die sich in der Tendenz mehr und mehr vereinheitlicht. Die Unterschiede zwischen ihren verschiedenen Sozialgruppen werden immer unwesentlicher, die Gemeinsamkeiten dagegen immer bestimmender. Auf diese Weise tritt dem Großgrundbesitz und den Groß- und teilweise den Mittelbauern in zunehmendem Maße ein in sich geschlossenes Agrarproletariat gegenüber, wodurch der Klassenantagonismus zwischen ihnen eine noch stärkere Ausprägung erfährt. Allerdings ist dabei zu beachten, daß sich innerhalb der bäuerlichen Klasse unter kapitalistischen Bedingungen gerade der gegenteilige Vorgang, nämlich eine zunehmende Differenzierung, vollzieht (bis zur völligen „Entbauerung"), wodurch das Verhältnis zwischen dem immer einheitlicher werdenden Agrarproletariat und den verschiedenen Schichten der Bauernschaft sich im Konkreten immer etwas anders — enger oder weiter, schärfer oder weniger antagonistisch — gestalten kann.

23

BIELEFELDT, 1910: 123, spricht geradezu von einem „fest organisierte(n), in sich abgeschlossene^) Drescherverband", der in diesem Zusammenhang „das größte Hindernis ... für alle Neuerungen im landwirtschaftlichen Betrieb" gebildet habe.

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Andererseits ermöglichte der im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung ständig fortschreitende Unifizierungsprozeß der Landarbeiterschaft einen leichteren sozialen Austausch, d. h. den Wechsel von der einen in eine andere Sozialgruppe, sowohl innerhalb der verschiedenen Schichten des Agrarproletariats als auch zwischen diesen und anderen, nichtagrarischen proletarischen Sozialgruppen (Fabrik-, Berg-, Eisenbahn-, Chausseebauarbeiter usw.). Am häufigsten kam es dabei zu zeitweiligen Übertritten des Gesindes in die Gruppe der freien Landarbeiter ohne Hausbesitz sowie zur Fluktuation beider Gruppen in die Schicht der Fabrikarbeiter (seit 1836 in die zahlreich entstehenden Zuckerfabriken, nach 1850 insbesondere auch in die sich in und um Magdeburg in verstärktem Maße etablierenden metallverarbeitenden Betriebe). Infolge dieser Mobilität erfuhren auch die Kontakte des Landproletariats zur Stadt eine Intensivierung. Die Entstehung und Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft führten also nicht nur zu einer Verengung der gesellschaftlichen Kommunikationsbeziehungen, hervorgerufen durch die Herausbildung bzw. Verschärfung des Gegensatzes zwischen dem Großgrundbesitz bzw. den verschiedenen Schichten der bäuerlichen Klasse und der Landarbeiterschaft, sondern auch zugleich zu einer Expansion und Intensivierung, allerdings nur innerhalb der eigenen Klasse, Schicht und Gruppe und zwischen den nichtantagonistischen Klassen. Dabei kam es zu einer Verdichtung der Land-Stadt-Beziehungen, was sich beim Landproletariat z. T. auch in Veränderungen seiner Verhaltensweise niederschlug. Zur Herausbildung neuer geistig-kultureller Bedürfnisse und den Möglichkeiten ihrer Befriedigung Ein recht sinnfälliger Ausdruck dafür war das in Teilen der hiesigen Landarbeiterschaft erwachende Bemühen zur Herstellung eines engeren Kontaktes zur Literatur, id. h. die beginnende Artikulierung eines gewissen Lesebedürfnisses, verbunden mit dem Versuch, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Schon im Jahre 1843 machten mehrere Kreissynoden der Provinz Sachsen auf die „ungeregelte Leselust im Volke" aufmerksam und empfahlen die Gründung spezieller „Lesebibliotheken für das Volk". 24 Einige Geistliche und Kantoren hatten bereits von sich aus derartige Einrichtungen ins Leben gerufen. Im Untersuchungsgebiet existierten solche Institutionen, meist sogenannte Schullesebibliotheken, an denen allerdings — sofern der Wunsch bestand — fast überall auch die Erwachsenen partizipieren konnten, zu diesem Zeitpunkt in Langenweddingen, Förderstedt, Groß Germersleben, Barleben, Klein Ammensieben, Dahlenwarsleben, Dreileben, Ebendorf, Gutenswegen, Olvenstedt, Groß Rodensieben, Wellen, Hillersleben, Dorf Alvensleben und Pömmelte. 25 In anderen Gemeinden (Groppendorf, Elbeu, Groß Ammensieben, Althaidensleben, Ackendorf, Emden) waren die Geistlichen dazu übergegangen, Lesezirkel einzurichten, 24 25

STAM, Rep. C 811, Nr. 28: 36b und 48 b. STAM, Rep. C 28 II, Nr. 565: 15b, 23, 6 0 - 6 0 b , 112, 114b, 1 2 5 - 1 2 5 b , 145 (Acta der Kgl. Regierung zu Magdeburg betr. Anstalten zur Fortbildung des Volkes durch zweckmäßige Volksschriften. 1844—1896). — Im Bericht über die Bibliotheken in Barleben, Klein Ammensleben, Dahlenwarsleben, Dreileben, Ebendorf, Gutenswegen, Olvenstedt, Groß Rodensieben und Wellen hieß es ausdrücklich: „Sämmtliche Bibliotheken sind Schul-Lesebibliotheken... Auch lesen in allen Gemeinden auch Erwachsene, in einigen sehr viele aus diesen Bibliotheken". In: STAM, Rep. C 28 II, Nr. 565: 115. — Und aus Hillersleben wurde berichtet: Hier „war schon im Jahre 1832 eine Schullesebibliothek ... gegründet, aus welcher auch die Erwachsenen Bücher zum Lesen erhielten." In: STAM, Rep. C 28 II, Nr. 565: 125.

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deren Mitglieder sie vorwiegend mit Büchern aus der eigenen Bibliothek versorgten.26 Aus der Diözese Uhrsleben im Kreis Neuhaidensleben wurde im Jahre 1844 berichtet, daß einige Titel, wie beispielsweise „die Neuhaldensleber Kreis-Chronik von Behrend, das Handbuch des Regierungs-Bezirks Magdeburg, Noth und Hülfs Büchlein von Becker, welche auf Anrathen des Herrn Landraths von fast allen Ortsvorstehern angeschafft sind", tatsächlich auch „von vielen gelesen" würden.27 Einen Aufschwung erlebte diese gesteuerte Lesebedürfnisbefriedigung in den vierziger Jahren des 19. Jh. im Zusammenhang mit dem Aufkommen der sogenannten Volksschriftenvereine. Als Teil der liberal-bürgerlichen Volksbildungsbewegung trugen diese Vereine nicht nur die Finanzierung und die Organisation der Buchbeschaffung, sondern bestimmten vor allem auch maßgeblich die Auswahl der Titel und damit die Zusammensetzung der Buchbestände in den durch sie angeregten und geförderten Volksbibliotheken. Ihre konkrete ideologische Stoßrichtung war freilich ebenso wenig uniform wie die damaligen liberalen Auffassungen in Deutschland selbst.28 Ihr Angebot reichte von aufklärerischutilitaristischen und moralisierend-didaktischen Schriften bis zu religiös-konservativer Literatur. Ubereinstimmung bestand in der Abwehr revolutionär-demokratischen Gedankengutes sowie in der Verbreitung und Verteidigung der auf den Positionen des nachrationalistischen „positiven Christentums" gegründeten Moraltabus. Von daher erklärt sich auch ihre z. T. harte Frontstellung gegen die vor allem durch Ritter-, Räuber- und Schauerromane repräsentierte zeitgenössische Trivialliteratur, die hauptsächlich durch die seit Mitte des 18. Jh. bestehenden privaten gewerblichen Leihbüchereien und auf dem Wege der Kolportage verbreitet wurde. Von einem Erfolg, namentlich in der Bekämpfung des Einflusses der trivialen Literatur, konnte allerdings kaum die Rede sein. „Gewiß sind Volks- und Lesebibliotheken nützlich", bemerkte im Jahre 1845 der Superintendent der unmittelbar an Magdeburg angrenzenden Diözese Barleben, „allein der Roman-Leserei thun sie doch nicht so viel Abbruch, als ich anfänglich geglaubt habe, und dies kommt mit daher, daß die Leihbibliotheken ganze Ladungen von Büchern auf das Land schicken u. v. den Colporteuren gegen ein geringes Lesegeld austheilen lassen. Ich weiß nicht, wie das gehindert werden könnte, u. wird es gehindert, so öffnen sich schon andere Wege, um zu Ritter-Romanen u. Räuber-Geschichten zu gelangen."29 In ähnlicher Weise hatte sich kurz zuvor auch der Ephorus der in südwestlicher Nachbarschaft von Magdeburg gelegenen Diözese Groß Ottersleben ausgesprochen: „Der bei Weitem größere Theil der Leute mag für die Lektüre kein Geld ausgeben, und wenn der Betrag auch noch so geringe ist, und der sehr kleine Theil derselben, welcher um die lange Weile in den Wintermonaten loszuwerden, zu dieser Zeit nach einem Buche greift, verschafft sich ein solches aus den Leihbibliotheken zu Egeln oder Magdeburg etc. Bei den letzteren sucht er nicht vergebens nach derartigen scriptis, die seinem Geschmacke zusagen, und ihn amüsieren."30 Zwar erklärte er ferner, um das geringe Lesebedürfnis der Landbevölkerung seiner Ephorie zu unterstreichen: „Selbst unter den bemittelten Landleuten hiesiger Gegend, den Ackerleuten, Halbspännern u. Großkossathen, lesen nui wenige die Magdeburger Zeitung, und auch diese halten dieselbe nur derjenigen Artikel 26 27

STAM, Rep. C 28 II, Nr. 565: 22, 8 7 b - 8 8 , 1 2 5 b - 1 2 6 . STAM, Rep. C 28 II, Nr. 565: 22.

28

Vgl. OBERMANN, 1 9 6 3 : 123—126.

29

STAM, Rep. C 2 8 II, Nr. 565: 1 1 6 - 1 1 6 b . STAM, Rep. C 28 II, Nr. 565: 15 b.

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wegen, die sich auf ihre nächste Umgebung beziehen", fügte andererseits aber hinzu, daß „die Prediger der Diöcese es sich zur Pflicht machen (werden), das Lesen tüchtiger und in jeder Hinsicht geeigneter Volksschriften unter der der Schule entwachsenen Jugend und dem Volke überhaupt zu befördern." 81 In der zu jener Diözese gehörenden Gemeinde Langenweddingen bildete sich daraufhin ein Verein zur Errichtung einer Dorfbibliothek: „Es ist der Zweck des Vereins, dem faden Romanlesen, was auch hier sehr verbreitet ist, entgegen zu wirken, und dem Volke eine verständliche, allseitig veredelnde und bildende Leetüre darzubieten und ... das vorhandene Lesebedürfniß zu einem wahrhaften Hebel des Fortschritts, der Sittlichkeit und der Loyalität zu benutzen." 32 Dazu wurden hier wie andernorts, wo man ähnliche Vorhaben in die Wege leitete, vornehmlich die Dienste der Volksschriftenvereine in Anspruch genommen. Im Untersuchungsgebiet waren hierbei insbesondere der bereits in den dreißiger Jahren des 19. Jh. gegründete „Christliche Verein im nördlichen Deutschland", 83 der 1841 errichtete „Verein zur Verbreitung guter und wohlfeiler Volksschriften" in Zwickau 34 und vor allem der 1844 in Magdeburg zusammengetretene „Zschokke-Verein" aktiv. 35 Gründung und Tätigkeit dieser Vereine erfolgten — schon wegen der bestehenden Vereinsgesetzgebung und der herrschenden Zensurbestimmungen — in mehr oder weniger engem Kontakt mit den Staatsbehörden. 36 Dadurch war ihrer Arbeit und den durch sie initiierten Gemeindebibliotheken, neben der ohnehin gewollten Beschränkung auf ein bestimmtes Schrifttum, eine weitere Restriktion auferlegt, was angesichts der nicht selten andersgearteten Lektürebedürfnisse ihrer potentiellen Leser ohne Zweifel eine Verminderung ihrer Wirksamkeit zur Folge hatte: „Alle technologischen u. landwirthschaftlichen Bücher werden weniger gelesen, als ich vermuthete", bekannte z. B. im Jahre 1845 der schon zitierte Ephorus der Diözese Barleben, „dagegen werden Mährchen u. Erzählungen (z. B. Gustav Schwabs Volksbücher, Grimms Kinder-Mährchen, Schuberts Erzählungen etc.) in kurzer Zeit zerlesen [siel]. Will der Bibliothekar das Interesse rege erhalten u. das Entnehmen v. Büchern aus seinem Vorrath befördern, so muß er sich in Etwa nach dem Geschmacke seiner Leser richten [sie 1]; d. h. wir Geistliche in so weit, als es mit uns. Zwecke vereinbar ist." 37 Um diesen Geschmack in die gewünschte Richtung umzulenken, gingen einige jener Bibliothekare sogar dazu über, regelrechte Leseraussprachen zu organisieren. 38 Im Feuer der Revolution und unter dem 31 32 33

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STAM, Rep. C 28 II, Nr. 565: 15b. STAM, Rep. C 28 II, Nr. 565: 76. Über seine Wirksamkeit im Untersuchungsgebiet: STAM, Rep. C28 II, Nr. 565: 23 (Biere, Glöthe, Eickendorf), 87b (Elbeu), 1 2 5 - 1 2 5 b (Hillersleben); außerdem: STAM, Rep. C 81 I, Nr. 154: 5 1 - 5 1 b , 5 7 - 5 7 b , 5 9 b - 6 0 , 69b, 7 0 b - 7 1 , 76b (Acta betr. Vereine zur Verbreitung nützlicher Volksschriften, 1843—1854). — Eine Abteilung des Vereins existierte in Biere, wo eines der Verwaltungsausschuß-Mitglieder, F. A. B. W E S T E R M E I E R (1800—1870), als Pfarrer tätig war; Zweigvereine bestanden in Gnadau, Klein Oschersleben und Santersleben. STAM, Rep. C 28 II, Nr. 565: 1 4 5 b - 1 4 6 (Pömmelte, Werkleitz, Tornitz). STAM, Rep. C 28 II, Nr. 565: 15 (Langenweddingen), 23 (Atzendorf), 46 (Altenweddingen), 46b (Beyendorf), 87b—88 (Groß Ammensieben), 145b—146 (Werkleitz, Tornitz). Das geht eindeutig aus dem bereits zitierten Aktenbestand (STAM, Rep. C 28 II, Nr. 565) hervor. Vgl. auch Anlage Nr. 10. STAM, Rep. C 28 II, Nr. 565: 116b. — Über den Buchbestand und die Tätigkeit der Barleber „Schul-Lesebibliothek" (Gemeindebibliothek) vgl. Anlage Nr. 10. STAM, Rep. C 28 II, Nr. 565: 15: „In Langenweddingen existirt seit wenigen Monaten ein Gesangverein, den der dortige Cantor Vahldieck dirigirt und dessen Mitglieder schon constionirte Jünglinge aus der dortigen Gemeinde sind. Dieser Verein ist der Zschokke-Stiftung bei-

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Druck einer verschärften Preß- und Vereinsgesetzgebung in der Periode der politischen Reaktion sanken die Volksschriftenvereine und mit ihnen, zumindest auf dem Land, die Gemeindebibliotheken jedoch rasch zur Bedeutungslosigkeit herab. Leihbibliothekare und Kolporteure übernahmen das Terrain. Trotz der bestehenden Zensurverfügungen gelang es ihnen, sich endgültig durchzusetzen; das Bedürfnis der Leser war auf ihrer Seite. Die zur Herrschaft gekommene Bourgeoisie unterwarf in einem bislang nicht bekannten Ausmaß nun auch die Literatur ihren ökonomischen Interessen. Die allgemeine Verbesserung der Verkehrsverhältnisse, die Fortschritte in der Buchproduktion, die Erleichterungen im Vertrieb, insbesondere nach der Reichseinigung,39 die zunehmende Verdichtung der LandStadt-Beziehungen und der fortschreitende soziale Austausch vor allem zwischen den verschiedenen Sozialgruppen des ländlichen und städtischen Proletariats brachten auch die Landarbeiter im Untersuchungsgebiet noch näher an die Literatur heran, und zwar vorwiegend an die Produkte ästhetisch geringwertiger, trivialer Literatur. Als im Jahre 1894 die „Allgemeine Konferenz der deutschen Sittlichkeitsvereine" eine Umfrage über „die geschlechtlich sittlichen Verhältnisse der evangelischen Landbewohner im Deutschen Reiche" durchführte und dabei in Auswertung der Ergebnisse aus dem Regierungsbezirk Magdeburg einschließlich des Untersuchungsgebietes zu dem Schluß kam, daß von den Berichterstattern dem Einfluß sogenannten „schlechten Lesestoffes" auf die sittliche Qualität der Befragten offensichtlich nur ungenügend nachgegangen worden sei, sah sie sich angesichts der Mitteilungen aus anderen Gegenden zu der Feststellung veranlaßt, daß es befremden müßte, „wenn eine verderbliche Kolportage nicht in Übung wäre. Weniger optimistische Augen dürften doch mehr schlechten Lesestoff entdecken und manche laxen Ansichten und viel unsittliches Wesen darauf zurückführen können. Es wird auch von den ländlichen Arbeitern mehr gelesen, als viele sich einreden."40 Die Landarbeiter unter den Bedingungen der Konsolidierung des Kapitalismus der freien Konkurrenz Zur Entwicklung der agraren Produktivkräfte und \um Wandel der Arbeits- und Lebensbedingungen Der mit dem Fortschreiten der kapitalistischen Entwicklung im Untersuchungsgebiet zur Regel werdende soziale Austausch innerhalb des Agrarproletariats sowie zwischen Landarbeiterschaft und nichtagrarischen proletarischen Sozialgruppen war außer dem Umstand,

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getreten, und werden die von der letzteren verabreichten Bücher in dessen Versammlungen vorgelesen. An das Gelesene wird eine Conversation geknüpft, und tragen die Mitglieder die dießfälligen Kosten." — STAM, Rep. C 28 II, Nr. 565: 126: „In der Parochie Akendorf hat der Predigtamts-Kandidat Winter in der Art einen Lesecirkel gebildet, daß er den jungen Leuten, welche die Fortbildungsschule besuchen, lehrreiche Bücher, besonders geschichtlichen Inhalts, in die Hände giebt, welche von Zeit zu Zeit durch andere ersetzt werden. Die Bücher cirkuliren unter den jungen Leuten, und in jeder Versammlung erstattet einer der jungen Leute Bericht über einen gelesenen Abschnitt." — Auch nach dem Vorlesen aus Büchern, wie es z. B. im Jahre 1844 „in einem Wirthshause" der Gemeinde Atzendorf durch den „Lieutenant Haberhauffe" mehrere Abende in der Woche geschah, und beim Bücherwechsel dürfte es zu Gesprächen mit den Lesern gekommen sein. Vgl. STAM, Rep. C 28 II, Nr. 565: 23. In diesem Zusammenhang sei vor allem auf das Reichs-Preßgesetz vom 7. Mai 1874 hingewiesen. (Gesetz-Sammlung, 1874). Geschlechtlich sittlichen Verhältnisse, Die, 1895: 105.

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daß sich die Verkehrsverhältnisse zunehmend verbesserten, nur deshalb möglich, weil infolge der fortschreitenden Industrialisierung und der weiteren Ausdehnung der intensiven Wirtschaftsweise in der Landwirtschaft, vor allem im Zusammenhang mit dem vermehrten Hackfruchtbau, trotz genereller Bevölkerungszunahme ein fühlbarer Mangel an Arbeitskräften bestand, weshalb in Krisenzeiten diese Mobilität auch notwendigerweise abklingen mußte. Hervorgerufen wurde die Fluktuation der Landarbeiter durch die zunehmende Verschlechterung ihrer sozialen Lage. Sie war Ausdruck ihres Bemühens, unter Ausnutzung der Mechanismen des kapitalistischen Arbeitskräftemarktes ihrer ständig wachsenden Verelendung entgegenzuwirken. Die Etappe der Herausbildung und Durchsetzung des Kapitalismus der freien Konkurrenz war in Deutschland durch die fortschreitende Verelendung des werktätigen Volkes charakterisiert. Im Untersuchungsgebiet vollzog sie sich deutlich in zwei Phasen, die im wesentlichen den beiden Entwicklungsstadien des vormonopolistischen Kapitalismus in der Landwirtschaft, dem seiner Herausbildung und dem seiner Konsolidierung, entsprachen. In zeitlicher Hinsicht bestand zwischen dem Ubergang vom entstehenden zum vollentfalteten Kapitalismus der freien Konkurrenz und dem Eintritt einer sprunghaften Verschlechterung in den Lebensverhältnissen der ländlichen Arbeiter allerdings keine Übereinstimmung. Während die Konsolidierungsphase des vormonopolistischen Kapitalismus hier schon um 1850 einzusetzen begann, vollzog sich der qualitative Sprung im Prozeß der relativen und absoluten Verelendung des Agrarproletariats erst um die Mitte der sechziger Jahre des 19. Jh. Diese zeitliche Phasendifferenz von rund eineinhalb Dezennien ist ein Ausdruck der Tatsache, daß zwischen den allgemeinsten Prozessen in der ökonomischen Sphäre und den Vorgängen im Bereich der Lebensweise der Werktätigen in der Regel kein direkter, sondern ein vermittelter Wirkungszusammenhang besteht. Die Durchführung der Gemeinheitsteilung und Separation und die Ablösung der Feudallasten hatte auch den Bauern im Untersuchungsgebiet — bei den verschiedenen Schichten freilich in unterschiedlichem Maße — viel von ihrer ökonomischen Potenz genommen. Die Gewinne, die sie aus ihrer Beteiligung am Zuckergeschäft erzielen konnten, hatten sie hauptsächlich zur raschen Ablösung ihrer Lasten und zur Erhaltung ihres Besitzareals benutzt. An Mechanisierung und Chemisierung war in diesen Wirtschaften daher vorerst noch nicht zu denken. Noch zu Beginn der Konsolidierungsphase des vormonopolistischen Kapitalismus dominierte in den bäuerlichen Wirtschaften, die hier auch nach den durch Geld- und nicht durch Landentschädigung zum Abschluß gebrachten Agrarreformen noch den größten Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche auf sich vereinigt hatten, die Handarbeit. Dabei herrschten immer noch Zeit- und Naturallöhnung vor; bei den Dreschern sogar die Anteil-Entlohnung. Zwar hatten die Unternehmer schon in den vierziger Jahren des 19. Jh. im Zusammenhang mit der Einführung des Zuckerrübenanbaues und dem damit erfolgten Übergang zur intensiven Wirtschaftsweise damit begonnen, zur Akkordlöhnung überzuleiten, doch standen ihrer allseitigen Anwendung zu diesem Zeitpunkt noch eine Reihe hemmender Faktoren entgegen, wie die Existenz verschiedener Arbeiterkategorien mit uneinheitlichen Entlohnungsweisen, das Nebeneinanderbestehen von Geld- und Naturallöhnung und die Komplexität vieler landwirtschaftlicher Arbeiten selbst, deren akkordmäßige Ausführung (im Gruppenakkord bei möglichst .optimal gleichmäßig zusammengesetzten Gruppen) aus Mangel an Vorbildern und Erfahrungen noch auf große organisatorische Schwierigkeiten stieß. Die Art und Weise der Arbeitstätigkeit bzw. der Charakter der Ausbeutung hatte sich demnach im ersten Jahrzehnt der Konsolidierungsphase des Kapitalismus der freien Kon-

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kurrenz im Untersuchungsgebiet kaum geändert. Aber gerade die Arbeitssphäre, d. h. im weiteren Sinne die Art der Ausbeutung, stellt eine wichtige Zwischenstufe, eine Art Transmission dar, über die Veränderungen, die auf der allgemeinsten ökonomischen Ebene vor sich gehen, im Bereich der Lebensweise der Werktätigen zur Wirkung gelangen. Der relativ frühe Abschluß der Agrarreformen und die ungeschmälerte Erhaltung ihres Landbesitzes ermöglichten im Untersuchungsgebiet auch den bäuerlichen Wirten, vornehmlich den Groß- und Mittelbauern, an dem großen wirtschaftlichen Aufschwung, den Deutschland zwischen 1853 und 1857 erlebte und der sich nach beendigter Weltwirtschaftskrise, im Jahre 1859, in abgeschwächtem Tempo weiter fortsetzte, ohne große Verzögerung zu partizipieren. Dies kam vor allem in ihrer Beteiligung am Zuckergeschäft zum Ausdruck, an einem Produktionszweig, der sich jetzt zu einer der ergiebigsten Profitquellen im Agrarbereich entwickelte. Zwischen 1850 und 1867 erhöhte sich die Zahl der Zuckerfabriken in Gesämt-Preußen von rund 150 auf etwa 30041; allein im Untersuchungsgebiet stieg in diesem Zeitraum ihre Zahl von 40 auf 70 an.42 Das bedeutete, daß sich im Jahre 1867 rund ein Viertel aller preußischen Zuckerfabriken in einem Gebiet zusammendrängte, dessen Areal gerade ungefähr ein halbes Prozent der Fläche der Preußischen Monarchie ausmachte. Von den hier vorhandenen 27 Junkerwirtschaften mit einem Grundbesitz von über 100 Hektar waren 24, d. h. rund 89 Prozent, direkt mit Zuckerfabriken verbunden.43 Diese enorme Zusammenballung von Unternehmungen, denen die durch das Wirken des ökonomischen Grundgesetzes des Kapitalismus bestimmte Tendenz zur Expansion und damit zur Konzentration und Zentralisation der Produktion immanent war, auf einem relativ kleinen Territorium mußte zwangsläufig zu einer Verschärfung des Konkurrenzkampfes führen. Der Kampf um Maximalprofite und um marktbeherrschende Positionen zur Sicherung dieser Profite wurde hier besonders hart geführt. Erst infolge dieser Entwicklung kam es zu jener außerordentlichen Verschlechterung in den Lebensverhältnissen der einheimischen Landarbeiterschaft, die hier für die Phase der Konsolidierung des Kapitalismus der freien Konkurrenz charakteristisch war. Dies geschah auf zwei Wegen: zum einen durch den breiten Ubergang zur intensiven Ausbeutung des Agrarproletariats, insbesondere durch die beginnende Mechanisierung und durch die allgemeine, allseitige Anwendung der Akkordlöhnung, und zum anderen durch direkte Eingriffe der Unternehmer in die Lebensverhältnisse der werktätigen Landbevölkerung. Mit den bisherigen Produktions- und Ausbeutungsmethoden war eine weitere Ausdehnung des Zuckerrübenanbaues, durch die sich die Profiterwartungen der Junker, Groß- und Mittelbauern allein realisieren ließen, nicht mehr zu erreichen. Schon in den vierziger Jahren des 19. Jh. waren die „Rübenbauern" durchgehend zur Eruchtwechselwirtschaft übergegangen: Ende der fünziger bzw. Anfang der sechziger Jahre hatte sich im Untersuchungsgebiet vielfach sogar eine freie Bewirtschaftung ohne bestimmte Fruchtfolge durchgesetzt. Vor allem auf den Pachtgütern bildete sich zunehmend die Tendenz zur Monokultur aus. Der Anteil der Brache ging auf ein Minimum zurück (im Jahre 1878 betrug er z. B. im Kreis Wanzleben, dem Hauptdistrikt des Zuckerrübenanbaues im Untersuchungsgebiet, nur 0,3 Prozent; in Gesamt-Preuß'en demgegenüber zum selben Zeitpunkt noch 8,8 Prozent).44 Die mineralische Düngung war darum schon in den fünfziger Jahren 41

ENGELBERG, 1 9 6 4 : 5 3 .

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Nach zusammengestellten Angaben bei PLAUL, 1979: 71, Tabelle 23. PLAUL, 1979: 79. Diese Angaben beziehen sich auf den Kreis Wanzleben im Jahre 1888. Angaben nach ZIEGENHAGEN, 1965: 12—14; vgl. auch S. 24—30.

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keine Ausnahme mehr. Vom selben Zeitpunkt datiert hier auch der eigentliche Beginn der Anwendung von Maschinerie. Zunächst wurden die aufwendigsten Bestellarbeiten beim Rübenanbau mechanisiert: Das früher üblich gewesene Umgraben des Ackers von Hand wurde durch das Tiefpflügen mittels des bezeichnenderweise im Untersuchungsgebiet selbst entwickelten berühmten „Wanzleber Pfluges" ersetzt; das manuelle Auslegen der Rübenkerne wurde durch die rasch sich ausbreitende Drillkultur abgelöst. Wenig später kamen Hand- und Göpeldreschmaschinen, Klee- und Rapssämaschinen sowie Handsämaschinen für die meisten übrigen Feldfrüchte zur Anwendung; außerdem Rübenschneider und Rübenkernlegemaschinen für Handbetrieb. Ende der fünfziger Jahre folgten Dampfdreschmaschinen und Anfang der sechziger Jahre Rübenheber, Pferdehacken und — allerdings fast ausschließlich beim Großgrundbesitz — Dampfpflüge. Ab Ende der sechziger Jahre fanden in den Junkerwirtschaften auch Mähmaschinen Eingang. Durch die Beteiligung am Zuckergeschäft gelang es aber selbst kleinen Grundbesitzern, in bescheidenem Umfang Maschinen einzusetzen (so hatten in den Jahren 1881/82 an Maschinen benutzt: Von den Parzellen- und Kleinbesitzern [0 bis 2 Hektar] im Reg.-Bez. Magdeburg 3,46 Prozent, dagegen im Reg.-Bez. Breslau 0,14 und im Reg.-Bez. Königsberg 0,00 Prozent; von den Kleinbauern [2 bis 5 Hektar] im Reg.-Bez. Magdeburg 13,67 Prozent, dagegen im Reg.-Bez. Breslau 4,16 und im Reg.-Bez. Königsberg 0,02 Prozent).45 Die Verschlechterungen, die durch die beginnende Mechanisierung in der Landwirtschaft, vermittelt über die dadurch ausgelösten Veränderungen in der Arbeitssphäre, in den Lebensverhältnissen des Agrarproletariats herbeigeführt wurden, bestanden hauptsächlich im Folgenden. Erstens: Durch die breitere Anwendung von Maschinerie wurde der zeitliche Aufwand für eine Reihe landwirtschaftlicher Tätigkeiten bedeutend verkürzt. Dies aber hatte eine Verstärkung des Saisoncharakters der Landarbeit insgesamt zur Folge. Und zweitens: Die Maschinerie setzte Arbeitsplätze und damit auch Arbeitskräfte frei. Andererseits darf allerdings nicht übersehen werden, daß durch den Einsatz von Maschinen beim sie bedienenden Landarbeiter in gewissem Maße eine Verminderung der körperlichen, muskulären Anspannung und eine Erhöhung der geistigen, intellektuellen Tätigkeit bewirkt wurden. Letztere erstreckte sich nicht allein auf eine geforderte größere Aufmerksamkeit oder auf das Erlernen neuer Handgriffe und Fertigkeiten, sondern führte bis hin zur Ausbildung von Spezialisten. Die Herausbildung des technikkundigen landwirtschaftlichen Arbeiters nahm hier ihren Anfang. Mechanisierung und Verstärkung des Saisoncharakters der Landarbeit wirkten sich auch fördernd auf den Unifizierungsprozeß des einheimischen Agrarproletariats aus. Der Erdruschanteil der Deputatlandarbeiter wurde beseitigt, die Naturallöhnung zugunsten der Geldlöhnung eingeschränkt und schließlich — im Untersuchungsgebiet bereits zu Beginn der achtziger Jahre des 19. Jh. — durchgehend abgeschafft, das überkommene Gesindeverhältnis löste sich auf, und überhaupt wurde das betriebsintegrierte Agrarproletariat immer mehr durch freie Landarbeiter und Saisonarbeiter ersetzt. Dieser Prozeß und die beginnende Mechanisierung erleichterten den Unternehmern auch die Einführung des Akkordlohnsystems, durch dessen allseitige Anwendung der Saisoncharakter der landwirtschaftlichen Produktion wiederum verstärkt wurde. Für die Arbeiter hatte die Durchsetzung der Akkordlöhnung gegenüber der Zeitlöhnung eine immense Mehrverausgabung ihrer körperlichen Kräfte zur Folge. Aber die Aussicht auf einen Mehrverdienst war ihnen 48

Landwirtschaftliche Betriebsstatistik, 1885 : 204, 207—210. — Die Prozentwerte sind auf der Grundlage der hier angegebenen absoluten Zahlen vom Verfasser errechnet worden.

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trotz der enormen Anspannung der Kräfte Ansporn, die Arbeitszeit maximal auszunutzen oder sie gar zu verlängern: „Den Stücklohn gegeben ist es natürlich das persönliche Interesse des Arbeiters, seine Arbeitskraft möglichst intensiv anzuspannen ... Es ist ebenso das persönliche Interesse des Arbeiters, den Arbeitstag zu verlängern, weil damit sein Tagesoder Wochenlohn steigt."46 In der Landwirtschaft, wo während der Arbeitsspitzen eine tägliche Arbeitszeit bis zu 17 Stunden keine Ausnahme darstellte, war eine Ausweitung der Arbeitszeit praktisch nur noch durch Schmälerung oder Wegfall der Arbeitspausen zu erreichen. Als die Unternehmer der Vorteile des Akkordlohnsystems und speziell der hierdurch bewirkten höheren Leistungen ihrer Arbeiter gewahr wurden, begannen sie ebenfalls zu jenem Mittel zu greifen, das schon dem englischen Manufakturisten großen Nutzen beschert hatte, nämlich dazu überzugehen, den Stücklohnsatz Schritt für Schritt herabzusetzen. Dies war ihnen vorzüglich dadurch möglich, weil dem Akkordlohn infolge des größeren Spielraumes, den er der Individualität des Arbeiters gewährt, die Tendenz innewohnt, „mit der Erhebung individueller Arbeitslöhne über das Durchschnittsniveau dies Niveau selbst zu senken."47 Gewinnsucht und Konkurrenzdruck veranlaßten die Unternehmer aber noch zu weiteren Maßnahmen, mit denen sie direkt Einfluß auf das Lebensniveau ihrer Arbeiter nahmen. Noch um die Mitte des 19. Jh. war es im Untersuchungsgebiet allgemein üblich, daß nicht nur der Deputatlandarbeiter, sondern auch das Gesinde seine ausreichende Flachs- und Kartoffelkabel besaß. Selbst dem freien Landarbeiter ohne Hauseigentum war nicht selten der Erwerb von Pachtland möglich gewesen. Mit der weiteren Ausdehnung des Hackfrucht-, speziell des Zuckerrübenanbaues, waren die Grundbesitzer aber immer weniger bereit, Land abzugeben. Das Maximum, das sie ihren Arbeitern, vornehmlich ihren betriebsintegrierten Landarbeitern, zustanden, war eine Parzelle zum Kartoffelbau. Auf der anderen Seite schnellten infolge der Ausweitung des Zuckerrübenanbaues die Pachtpreise derart in die Höhe, daß für die Landarbeiter ein Hinzupachten unerschwinglich war. , Eine weitere Maßnahme der Unternehmer, die sich verhängnisvoll auf die Lage der einheimischen Landarbeiterschaft auswirkte, war die im Zuge der Verstärkung des Saisoncharakters der Landarbeit zunehmende Verpflichtung von Saisonarbeitskräften. Von April bis November zur Arbeit beim Großgrundbesitz und in den Betrieben der Großbauern unter Kontrakt genommen, war dem Unternehmer, der sie verpflichtet hatte, logischerweise vor allem daran gelegen, zuerst sie zu beschäftigen und, wenn aus seiner Sicht ökonomisch erforderlich, einheimische Arbeitskräfte hintenanzustellen. Dabei wurden diese Saisonarbeiter (Sachsengänger) nicht nur für die Arbeiten auf dem Rübenfeld herangezogen, sondern im großen Maße auch zur Getreideernte eingesetzt. Denn sie waren nicht nur billiger als die ansässigen Arbeiter (und beanspruchten z. B. auch keine Bodenanteile), sondern der Unternehmer war aus diesem Grunde gerade auch sehr daran interessiert, sie in der Zeit nach dem Hacken und vor dem Roden der Rüben, in der also auf dem Rübenacker relativ wenig, auf den Getreidefeldern dagegen um so mehr zu tun war, ebenfalls rentabel zu beschäftigen; denn ihre Kontrakte verpflichteten diese Arbeiter zum durchgehenden Verbleib vom Frühjahr bis zum Spätherbst. Besonders die einheimischen Landarbeiter-Frauen wurden dadurch benachteiligt. Oft erhielten sie jetzt erst mit Beginn der Pflegearbeiten (Rübenhacken und Rübenverziehen) Beschäftigung; denn seit der Einführung der Drillkultur war auch das arbeitsaufwendige manuelle Auslegen der Rüben«• Marx, 1962 (1867): XXIII, 577-578. « MARX, 1962 (1867): XXIII, 579.

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kerne, eine ausgesprochene Frauenarbeit, überflüssig geworden. Schließlich wurden die fremden Saisonarbeiter, eine Art agrarische Reservearmee, entstanden aus der für den Kapitalismus charakteristischen Ungleichmäßigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung, von den Unternehmern auch als Lohndrücker mißbraucht.48 Die sprunghafte Verschlechterung der Lage der Landarbeiter im Untersuchungsgebiet in den sech2iger Jahren des 19. Jh. wurde demnach im wesentlichen durch folgende Faktoren verursacht, die ihrerseits aus dem ökonomischen Grundgesetz des Kapitalismus resultierten, das hier während der Konjunktur der fünfziger Jahre voll zur Wirkung kam. Erstens: durch die vollständige Beseitigung des Naturallohns und seine „Ersetzung" durch die reine Geldlöhnung. Die Lage eines ausschließlich in Bargeld entlohnten Landarbeiters ist natürlich viel unsicherer, da ihn Preiserhöhungen, wie in den siebziger Jahren des 19. Jh., und Geldentwertungen viel härter treffen, als die eines zumindest teilweise noch Naturalien empfangenden Landarbeiters, obwohl andererseits die Naturallöhnung den Arbeiter in seiner Freizügigkeit einschränkte, ihn vom Unternehmer abhängig machte. Außerdem stand sich der nur auf Bargeld gestellte Arbeiter im abseits zentraler Verkehrswege gelegenen Dorf mit dem konkurrenzlosen Krämer insofern schlechter, als er Lebensmittel, Kleidung usw. gewöhnlich teurer bezahlen mußte als der Arbeiter in den Städten. Hinzu kam, daß die Unternehmer die Verwandlung des Naturallohns in Geldlohn dazu benutzten, den Preis der Ware Arbeitskraft unter ihren Wert zu senken, jedenfalls eine zu ihren Gunsten nicht äquivalente Umwandlung durchzusetzen. Zweitens: durch die gänzliche oder teilweise Aufkündigung von Deputat- und Pachtland seitens der Unternehmer bzw. durch die Beschränkung auf eine Kartoffelkabel und die Unmöglichkeit für die Landarbeiter, Ackerstücke hinzupachten zu können. Drittens: durch die Modifizierung des jährlichen Arbeitszyklus in der Form der absoluten Verkürzung des Arbeitsjahres infolge der Mechanisierung (erinnert sei nur an die enorme Verkürzung der Druschzeit durch den Einsatz von Dampfdreschmaschinen) und durch den Übergang zum Akkordlohnsystem. Von einer Kontinuität der landwirtschaftlichen Arbeit konnte ab jetzt keine Rede mehr sein; die bisherige Geschlossenheit des Arbeitsjahres war gesprengt und dieses selbst faktisch um mindestens zwei bis drei Monate verkürzt. Auch jener Teil der Landarbeiterschaft, dem es gelang, nach der Rübenernte in den Zuckerfabriken unterzukommen, war ohne ausreichende Beschäftigung, sobald diese ihre Tätigkeit beendet hatten, was im letzten Drittel des 19. Jh. trotz ausgedehnten Rübenanbaues auf Grund verbesserter Technologien gewöhnlich bereits Ende Januar der Fall war. In den Wintermonaten, bis in den April hinein, war daher für den Landarbeiter im Untersuchungsgebiet ein regelmäßiger Verdienst kaum zu finden. Dabei trat als Besonderheit hinzu, daß sich unter den Bedingungen der mechanisierten Intensivkultur und des Einsatzes von Saisonarbeitern der jährliche Arbeitszyklus bei den einheimischen männlichen und den einheimischen weiblichen landwirtschaftlichen Arbeitskräften jeweils unterschiedlich gestaltete. Selbst bei einem Ansteigen der Reallöhne sinkt in diesem Fall der Preis der Ware Arbeitskraft unter ihren Wert, da „die Zahl der Verdiener innerhalb der Familie zurückging, während natürlich die Reproduktionskosten der Arbeitskraft im Familienrahmen die gleichen blieben".49 Viertens: durch die Ausweitung und allgemeine Durchsetzung der intensiven Ausbeutung (Akkordlöhnung und Mechanisierung), durch die sich der Wert der Ware Arbeitskraft erhöht, weshalb wiederum selbst ein Steigen der Reallöhne sinkende Bezahlung der Arbeitskraft 48

Vgl. den Beitrag HEINRICH in diesem Band.

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KUCZYNSKI, 1 9 6 8 : 7 3 .

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bedeuten kann und im Untersuchungsgebiet auch bedeutet hat. Einer Erhöhung des Arbeitsverdienstes bei Anwendung intensiver Mittel der Ausbeutung steht permanent der aus dem ökonomischen Grundgesetz des Kapitalismus sich herleitende Versuch des Unternehmers entgegen, den Preis der Ware Arbeitskraft schrittweise unter ihren Wert zu drücken, z. B. in Form einer sukzessiven Senkung der Akkordlohnsätze (eine beliebte Methode auch im Untersuchungsgebiet). Daneben kann er aber auch „nur" die durch das Ansteigen der Arbeitsintensität notwendig werdende Lohnaufstockung — zumindest teilweise — verhindern, wozu ihm im Untersuchungsgebiet insbesondere der massenhafte Einsatz von Saisonarbeitskräften verhalf. Und schließlich fünftens: durch die Verminderung des betriebsintegrierten Agrarproletariats und seine Ersetzung durch freie Landarbeiter und Saisonarbeiter. Der erst-, zweit- und letztgenannte Faktor weisen noch auf eine andere Konsequenz dieser Entwicklung hin. Auch bevor sich die Lage der hiesigen einheimischen Landarbeiterschaft in den sechziger Jahren des 19. Jh. sprunghaft verschlechterte, konnte von Wohlstand keine Rede sein. Aber es existierten gewisse Unterschiede im Lebensniveau der verschiedenen sozialen Gruppen. Am stärksten ausgeprägt waren dabei die Unterschiede zwischen den beiden Kategorien des betriebsintegrierten Agrarproletariats und den beiden Gruppen der freien Landarbeiterschaft. So konnten die Deputatlandarbeiter (Drescher), da sie zu ihren Geldeinkünften noch Naturalien erhielten (den „Zehnten" [bis etwa 1845] und einen Erdruschanteil), da sie gewöhnlich eine Möglichkeit zur Kleinviehhaltung besaßen und da ihnen in der Regel auch ein ausreichend großes Stück Ackerland — ungefähr 1 bis 1 1 / 2 Morgen — zur Eigenbewirtschaftung zur Verfügung stand, durchaus das zu ihrem Unterhalt nötige Einkommen zusammenbringen. Auch das unverheiratete Gesinde, das Unterkunft und Kost von der „Dienstherrschaft" erhielt, meist außerdem eine Kartoffelund Flachskabel, war keinesfalls in so unsichere Verhältnisse gestellt, wenn es auch sein legitimes Streben nach höherem Geldlohn und größerer persönlicher Ungebundenheit nur unter der Bedingung seiner eigenen Aufhebung realisieren konnte. Aber unter dem Druck des wachsenden Arbeitskräftemangels infolge des Übergangs zur Intensivwirtschaft und der beginnenden industriellen Revolution vermochte es doch manche seiner Forderungen gegen den Widerstand seiner „Herrschaft" durchzusetzen. Viel schlechter war dagegen die soziale Lage der freien Landarbeiter beschaffen. Allerdings existierten auch zwischen den Angehörigen dieser beiden Sozialgruppen wieder gewisse Unterschiede. So besaßen die freien hausbesitzenden Landarbeiter in den meisten Fällen die Möglichkeit zur Kleinviehhaltung und auch etwas Gartenland, und wo nicht (vornehmlich die sogenannten Neuhäusler), hatten sie sich im Zuge der Durchführung der Separation einige Bodenanteile zu ertrotzen gewußt. Am traurigsten war es um die freien Landarbeiter ohne Hauseigentum und ohne oder gegebenenfalls mit nur geringen Bodenanteilen bestellt. Sie waren praktisch ausschließlich auf ihre unsicheren Geldeinkünfte angewiesen. Und wurde ihnen pachtweise Flachs- und Kartoffelland zugestanden, dann in der Regel nicht ohne Verdienstabzug. Man darf annehmen, daß diese Arbeiterfamilien — im Durchschnitt des Jahres — hart an der Grenze und teilweise sogar unter dem Existenzminimum vegetiert haben müssen. Eine bescheidene Aufbesserung ihres Einkommens vermochten sie allenfalls durch häufige Akkordarbeit zu erlangen. Nicht zufällig repräsentierten sie den mobilsten Teil des einheimischen Agrarproletariats. Mit der Beseitigung der Naturallöhnung, mit der Einziehung von Pacht- und Deputatland durch die Unternehmer, infolge der Aussichtslosigkeit, überhaupt noch Land erwerben zu können, und auch auf Grund der Verminderung des betriebsintegrierten Agrarproletariats zugunsten freier Landarbeiter und Saisonarbeiter nahm die absolute und relative Verelendung des Land-

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Proletariats nicht nur an Intensität, sondern auch an Breite zu. Sie erfaßte jetzt sämtliche agrarproletarischen Sozialgruppen in fast demselben Maße: die tendenzielle Unifikation der einheimischen Landarbeiterschaft war zugleich eine tendenzielle Unifikation ihres Elends. Zum Wandel in den Wohn-, Ernährungs- und Bekleidungsverhältnissen Diese Entwicklung fand natürlich besonders in den Elementarbereichen der sozialen Lage, in den Wohn-, Ernährungs- und Bekleidungsverhältnissen, ihren konkreten Niederschlag. Allerdings ist zu beachten, daß insbesondere im Bereich des Wohnens bestimmte Unterschiede zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen des Agrarproletariats trotz aller Nivellierungstendenzen auch weiterhin bestehen blieben. Vor allem der Grad der Betriebsintegration und die Frage nach dem Besitz eines Hauses, das in der Regel ja auch die eigene Wohnving beherbergte, bleiben dabei von Belang. Für das Wohnen des ledigen Gesindes waren unterschiedslos zwei Merkmale charakteristisch: das Fehlen eines eigenen Haushaltes und das räumliche Auseinanderfallen von Schlaf- und Aufenthaltsstätte. Beide Unterkünfte wurden von der „Dienstherrschaft" bereitgestellt: Das Gesinde, am stärksten fremdbetrieblich integriert, vermochte den geringsten Einfluß auf die Qualität seines Wohnens auszuüben. Das gilt sowohl für das Gutsais auch für das Bauerngesinde. Während aber die Beschaffenheit der Schlafstellen bei beiden Gesindegruppen kaum Unterschiede aufwies, traf dies hinsichtlich der Aufenthaltsstätten nicht zu. Auf den Domänen und Rittergütern, die zwischen achtzehn und dreißig Knechte und darüber und ebenso viele Mägde beschäftigten, wo sich daher ein Verhältnis persönlicher Art ähnlich dem zwischen Gesinde und Bauern nie hatte herausbilden können, waren vermutlich schon von jeher spezielle Gesindestuben für den Aufenthalt der Knechte, Mägde und Enken eingerichtet gewesen. Anders in den bäuerlichen Wirtschaften, wo entweder — bei den großen Bauern — lediglich ein bis zwei Knechte und dieselbe Anzahl Mägde und Enken oder — bei den mittleren Bauern — gar nur je ein Knecht, Enke und eine Magd beschäftigt waren. Hier hatte sich im Verlauf der historischen Entwicklung jene Form der Ausbeutung herausgebildet, die unter der Bezeichnung „Patriarchalismus" bekannt geworden ist. Das Gesinde war nicht nur in die Wirtschaft, sondern darüber hinaus auch in die Familie seines „Brotherrn" integriert, was bedeutete, daß es nicht nur die Mahlzeiten mit ihm teilte und diese, wenn schon nicht am selben Tisch, so doch wenigstens im selben Raum wie er einnahm, sondern daß es in dessen Wohnstube auch während der arbeitsfreien Stunden, mit Ausnahme der Schlafzeit, gewöhnlich seinen Aufenthalt nahm. Dieses Verhältnis war im Untersuchungsgebiet, wo der bäuerliche Grundbesitz überwog, zunächst das vorherrschende. Im Zuge der Herausbildung kapitalistischer Produktionsverhältnisse wurde es jedoch bald aufgebrochen, wobei vor allem zwei Prozesse unmittelbar darauf einwirkten, erstens: die Ablösung des feudalen Zwangsverhältnisses durch das kapitalistische Vertragsverhältnis und zweitens: die Entstehung des Klassenantagonismus zwischen der bäuerlichen Klasse und der Landarbeiterschaft. Die Beziehungen zwisthen Bauer und Gesinde bildeten sich infolgedessen immer stärker zu einem von Bindungen persönlicher Art nicht mehr überlagerten, offenen Ausbeutungsverhältnis um. Der Ausschluß der Mägde, Knechte und Enken aus der bäuerlichen Familiengemeinschaft war daher zwangsläufig und logisch. Die großen und wohlhabenden Bauern mit vier bis sechs Gesindepersonen gingen dabei voran. Sie richteten als erste nach dem Beispiel gutsherrlicher Gesindehaltung separate. Gesindestuben ein. Bauern mit nur einem Knecht und einer Magd folgten, wenn überhaupt, wesentlich später, zumal sie oft auch nicht über den not-

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wendigen Gebäude- bzw. Raumbestand verfügten. Auf der anderen Seite darf aber nicht übersehen werden, daß dieser Ausschluß nicht zum wenigsten auch im Interesse des Gesindes selbst lag; hatte dieser Vorgang doch zugleich seine Entlassung aus einer als lästig empfundenen Beaufsichtigung und Bevormundung zur Folge. Man wird daher nicht fehl gehen in der Annahme, daß in vielen Fällen das Heraustreten des Gesindes aus der bäuerlichen Familiengemeinschaft auch das Ergebnis seines bewußten Strebens nach Durchsetzung größerer persönlicher Freiheit und Selbständigkeit gewesen ist. Seit den sechziger Jahren des 19. Jh., mit der Verstärkung des Saisoncharakters der Landarbeit, trat auch in den Beziehungen zwischen den Unternehmern und dem Gesinde eine neue Entwicklung ein. Die großen Rübenwirtschaften (Fabrikwirtschaften) gingen bekanntlich immer mehr dazu über, das betriebsintegrierte Agrarproletariat, darunter auch das Gesinde, einzuschränken und durch freie Landarbeiter und Saisonarbeitskräfte zu ersetzen und nur die unbedingt notwendige Stammbelegschaft beizubehalten, in der Regel verheiratete Futterbzw. Pferdeknechte, deren Status dem der Deputatlandarbeiter sehr angenähert war. Diese Entwicklung, ein Charakteristikum der Konsolidierungsphase des Kapitalismus in der Landwirtschaft, spiegelte sich auch in den Wohnverhältnissen wider. Gleich einem Teil der in den rübenanbauenden Junker- und Großbauernwirtschäften auch fernerhin verbleibenden Deputatlandarbeiter wohnte auch die Mehrzahl der verheirateten Mägde und Knechte hier in Wohnungen, die ihnen von den Unternehmern meist in speziellen Arbeiterhäusern kontraktlich bereitgestellt wurden. Ehemalige Drescher, sofern sie ein eigenes Haus besaßen, das heißt der vormals andere Teil der Deputatlandarbeiter, die sich nun als Pferdeknechte verdingen konnten, blieben auch weiterhin in ihrem Haus wohnen. Außerdem wohnte ein weiterer Teil dieser gewöhnlich verheirateten Knechte wohl auch bei kleineren Bauern und bei den Landarbeitern mit Hauseigentum zur Miete. Charakteristisch für die Wohnweise dieser Gesindegruppe im Unterschied zum Wohnen der ledigen Mägde und Knechte war das Vorhandensein eines selbständigen Haushaltes und damit die Einheit von Wohn- (Aufenthalts-) lind Schlafstätte. Soweit noch ledige Gesindepersonen beschäftigt wurden, z . B. Enken oder ein bis zwei Mägde und Knechte, hauptsächlich in den mittelbäuerlichen Wirtschaften, so galt für diese entweder auch ferner die Trennung von Schlafstelle und Aufenthaltsstätte oder aber sie blieben im Hause ihrer Eltern wohnen. Die Tendenz zur Unifikation der einheimischen Landarbeiterschaft wird also auch an dieser Entwicklung deutlich. Für die Deputatlandarbeiter (Drescher) existierten im Untersuchungsgebiet im wesentlichen zwei Wohnmöglichkeiten: Entweder sie wohnten in Gebäuden, die ihnen der Grundbesitzer, in dessen Wirtschaft sie integriert waren, kontraktlich zur Nutzung überlassen hatte (Deputat-Arbeiterhäuser), oder sie wohnten im eigenen Haus und dann entweder auf Gutsland (als „Rittergutshäusler" mit der Verpflichtung zu Erbzins und Diensten) oder — ähnlich den freien Landarbeitern mit Hauseigentum — auf Gemeindeland. Bis in die sechziger Jahre des 19. Jh. nahmen vor dem Hintergrund des allgemeinen Bevölkerungswachstums die hausbesitzenden Deputatlandarbeiter hier zahlenmäßig stärker zu als jene Drescher, die in speziellen Arbeiterhäusern untergebracht waren. Dies war offenbar in erster Linie nur auf Grund der bis dahin noch bestehenden Anteil-Entlohnung möglich. Mit der Beseitigung des Erdruschanteils, aber auch mit dem Übergang zur reinen Geldlöhnung und mit der allgemeinen Reduzierung des Deputat- und Pachtlandes verminderte sich diese Bautätigkeit. Dadurch und infolge des im Zusammenhang mit der fortschreitenden Verelendung der Landarbeiter immer spürbarer werdenden Arbeitskräftemangels gingen jetzt auch die Großbauern und die Aktiengesellschaften der Zuckerfabriken in stärkerem Maße als zuvor dazu über, für ihr Stammpersonal Arbeiterhäuser anzulegen. Um

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die Jahrhundertwende existierten im Untersuchungsgebiet schon überhaupt keine Deputatlandarbeiter mehr, die nicht in unternehmereigenen Häusern gewohnt hätten; die vormals hausbesitzenden Deputatlandarbeiter waren in ihrer Mehrzahl Industriependler geworden. Unter dem Druck der Landflucht, vornehmlich seit den sechziger Jahren des 19, Jh., sahen sich zwar die Unternehmer zu gewissen Verbesserungen der Wohnverhältnisse ihrer Deputatlandarbeiter gezwungen, andererseits aber unternahmen sie alles, um die dadurch entstandenen Mehrausgaben durch kostensparende Überbelegung ihrer Arbeiterhäuser wieder wettzumachen. Raumnot war daher auch das auffallendste Charakteristikum jener Wohngebäude. Mangel an Raum und Räumlichkeiten herrschte auch in den Wohnungen der hausbesitzenden Deputatlandarbeiter und der hausbesitzenden freien Landarbeiter, doch erreichte hier die Überbelegung nicht ganz jene Dichte, wie sie für die Arbeiterwohnungen in den Gutsbezirken kennzeichnend war.50 Dieselbe Raumnot wie in den Wohnungen der hausbesitzenden Landarbeiter charakterisierte während des gesamten untersuchten Zeitraumes auch die Unterkünfte der zur Miete wohnenden, in der Regel freien Landarbeiter. Anfang des 19. Jh. waren sie noch überwiegend in den Wohngebäuden der kleinen Bauern untergebracht. In der Folgezeit drängten diese jedoch immer stärker darauf, jene Räumlichkeiten als Altenteil zur Verfügung zu haben. Offenbar setzte sich nun auch in dieser bäuerlichen Schicht eine Lockerung der Familienbande durch, wie sie sich vorher bei den großen und mittleren Bauern mehr oder minder schon vollzogen hatte. Infolge dieser Entwicklung fanden die Angehörigen jener Sozialgruppe jetzt gewöhnlich bei den hausbesitzenden Landarbeitern Unterkunft, daneben aber auch in den Wohngebäuden der mit einem Haus im Dorf angesessenen Handwerker und Gewerbetreibenden. Zum Hauseigentümer aufzusteigen, dürfte nur wenigen dieser freien Landarbeiter gelungen sein, stellten sie doch bekanntermaßen die wirtschaftlich schwächste Sozialgruppe des einheimischen Agrarproletariats dar. Der fortschreitende Verelendungsprozeß der Landarbeiterschaft mit seiner expansiven und nivellierenden, alle Sozialgruppen nach und nach gleichermaßen erfassenden Tendenz mußte zwangsläufig auch in der Ernährungsweise dieser Arbeiterkategorie seinen Niederschlag finden. Auch im Untersuchungsgebiet bildeten die Kosten für Ernährung die größte Ausgabensumme im Haushaltsetat einer ländlichen Arbeiterfamilie. Im untersuchten Zeitraum belief sich ihr Anteil, gemessen am Jahresgesamtunterhaltsbedarf, im Durchschnitt auf rund 60 Prozent, was übrigens voll und ganz der durchschnittlichen Quote in den Arbeiter-Haushaltbudgets im gesamten vormonopolistischen Deutschland .entsprach.51 Dennoch wiesen die Speisezettel der verschiedenen Sözialgruppen zunächst gewisse Abweichungen auf, die sich aus den Besonderheiten ihrer sozialökonomischen Stellung herleiteten. Bestimmte Unterschiede bestanden vor allem zwischen der Kost der Deputatlandarbeiter (Drescher) und der freien Landarbeiter. Graduelle Differenzen existierten daneben auch in der Ernährung zwischen den hausbesitzenden freien Landarbeitern, die außer über etwas Pachtacker gewöhnlich noch über eine zum Hause gehörende Parzelle Gartenland verfügten, und den zur Miete wohnenden freien Landarbeitern, die bestenfalls nur ein Stück Pachtacker bewirtschafteten. Schon die Versorgung mit den Grundnahrungsmitteln, mit Brotgetreide und Kartoffeln, war uneinheitlich. Solange noch die Anteil-Entlohnung bestand und beim Flegeldrusch etwa der 16. Scheffel und beim Maschinendrusch noch der 20. Scheffel gegeben wurden, waren z. B. die Drescher nicht nur ausreichend mit Brot60

Vgl.

51

GRAFFUNDER, 1 9 6 0 :

8

GOLDSCHMIDT,

AK, Landarbeiter II

1899: 41—43. 128.

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getreide für den Eigenbedarf versorgt, sondern in der Regel wurde bei diesen Sätzen sogar noch ein Überschuß erzielt, der verkauft oder gegen andere Waren eingetauscht werden konnte. Dagegen erhielten die freien Landarbeiter bei bestehendem „Zehntverhältnis" gewöhnlich nur dann ihr Getreidequantum, wenn sie zum Abbringen des Sommer- und Winterkorns mit herangezogen wurden. Allerdings dürfte diese Menge ohne Hinzutritt des Erdruschanteils nicht immer ausreichend gewesen sein. Ein Hinzukauf von Getreide, Mehl oder Brot war in diesen Fällen wohl unerläßlich. Betriebsintegrierte Landarbeiter mit Deputat- und außerdem oft noch mit etwas Pachtland waren gewöhnlich auch mit Kartoffeln ausreichend versorgt, was bei den freien Landarbeitern nur dann der Fall war, wenn sie die infolge der Ausweitung des Hackfrucht-, insbesondere des Zuckerrübenanbaues, immer höher steigenden Pachtpreise aufbringen konnten. Etwas besser standen sich die hausbesitzenden freien Landarbeiter, die in der Regel am Haus noch eine Parzelle Gartenland besaßen. Ebenso differenziert verhielt es sich in bezug auf die Sicherstellung des Gemüsebedarfs. Der Fleischkonsum richtete sich in Art und Menge fast ausschließlich nach dem Gewicht des selbst gemästeten Schweines und bestenfalls einer oder zweier Ziegen. Fleisch zusätzlich käuflich zu erwerben, stellte die Ausnahme dar. Fleischmahlzeiten waren darum allgemein selten; sie blieben gewöhnlich auf die Erntemonate, die Zeit besonders großer Anstrengungen, und auf die Feiertage beschränkt. Schweine- und Ziegenhaltung war jedoch nur jenen Landarbeitern möglich,, die über entsprechende Stallungen und über eine ausreichende Futtergrundlage verfügten. Davon hing weitgehend auch der Verbrauch von Ziegenmilch und -käse ab. Andere Produkte, wie Butter, vielfach auch Eier, da Hühnerhaltung nicht überall gestattet wurde, ferner Salz, Zucker, Schmalz, Fisch, Reis, Graupen, Bier, Kaffee, Branntwein usw., mußten gekauft werden. Die Qualität der Ernährung bestimmte sich also im wesentlichen nach Ausmaß und Güte des bewirtschafteten Ackerstückes, nach Art und Größe des Naturallohnanteils, nach dem Umfange der eigenen Viehhaltung, aber natürlich auch nach der Höhe des Realeinkommens. So hatte bereits die seit 1851 anhaltende Erhöhung der Lebenshaltungskosten einschneidende Veränderungen zur Folge. Dabei wirkte sich weniger die Preissteigerung bei Kartoffeln nachteilig aus, da ja fast jeder Landarbeiter eine eigene Kartoffelkabel besaß, als vielmehr die Verteuerung des Roggens. Denn seit der Aufhebung des „Zehntverhältnisses" (um 1845) verfügten auf Grund des ihnen zunächst noch gewährten Erdruschanteils nur die „Drescher" über ein hinreichend großes Quantum an Zerealien. Das Ergebnis war ein bemerklicher Rückgang des Brotkonsums und eine starke Zunahme der Kartoffelnahrung. Ab Mitte der sechziger Jahre des 19. Jh., mit der Beseitigung des Erdruschanteils, mit der durchgängigen Abschaffung der Naturallöhnung, mit der flächenmäßigen Reduzierung der Deputat- und Pachtäcker — bezeichnenderweise beließen die Unternehmer eine Kartoffelkabel in jedem Falle — und infolge der Unmöglichkeit, Land hinzupachten oder käuflich erwerben zu können, wurde das Vorherrschen der Kartoffelnahrung zu einer allgemeinen Erscheinung. Durch die Verminderung der Bodenanteile fiel fast durchweg der Anbau von Futterpflanzen und damit auch die eigene Viehhaltung weg. Dadurch ging aber sowohl der Fleischkonsum als auch der Verbrauch an Milch und Milchprodukten allgemein zurück. Schließlich reduzierte sich infolge der Dezimierung des Deputat- und Pachtlandes auch der Verzehr von anderen Feld- und Gartenfrüchten, z. B. von Gemüse. Fett- und fleischarme Kost sowie ein Überwiegen der Kartoffelnahrung bildeten daher für die Jahrzehnte der Konsolidierung des vormonopolistischen Kapitalismus in der Landwirtschaft im Untersuchungsgebiet den Standard der Ernährung der einheimischen Landarbeiterschaft. Ein relativ größerer Brotverbrauch trat jetzt gewöhnlich

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nur in den Sommermonaten ein, da der höhere Akkordverdienst in dieser Jahreszeit ökonomisch einen solchen Aufwand ermöglichte und weil andererseits nun auch der Kartoffelvorrat zur Neige ging. Von dieser enormen Verschlechterung der Ernährungsverhältnisse waren hier alle sozialen Gruppen des Agrarproletariats betroffen, auch das Gesinde. Allerdings ist dabei eine gewisse Differenzierung zwischen der Kost der Mägde, Knechte und Enken beim Großgrundbesitz, bei den Großbauern und in den Wirtschaften der mittleren Bauern unverkennbar. Schon vor Eintritt des qualitativen Sprungs im Prozeß der Verelendung des einheimischen Agrarproletariats bestanden in der Ernährung des Gutsund Bauerngesindes Unterschiede. Über magere und unzureichende Kost wurde besonders von seiten des- Gutsgesindes geklagt, während das Bauerngesinde, zumindest bis zur Aufhebung der Tischgemeinschaft, im allgemeinen zufriedenstellend versorgt wurde; erhielt es doch dieselbe Kost wie der Bauer. Mit seinem Auszug in die Gesindestube verschlechterte sich jedoch in der Regel seine Beköstigung. Auch darin drückt sich die Verschärfung des Klassenantagonismus zwischen Bauer und Gesinde aus. Allerdings beschränkt sich diese Entwicklung im wesentlichen auf die Betriebe der Großbauern. In den mittelbäuerlichen Wirtschaften blieb die Tisch- oder wenigstens die Stubengemeinschaft vorerst auch weiterhin bestehen, weshalb hier kaum eine Verschlechterung in der Gesindeernährung zu verzeichnen war. Beim Großgrundbesitz vollzog sich in den sechziger Jahren des 19. Jh. in bezug auf die Gesindekost ein anderer Prozeß. Dafür den im großen Stil kapitalistisch wirtschaftenden Agrarunternehmer die Geldlöhnung die ökonomischste und vorteilhafteste Entlohnungsweise darstellt, ging er jetzt dazu über, auch die Beköstigung seiner Dienstboten in Geld umzuwandeln. Damit war aber zugleich ein entscheidender Schritt auf dem Wege zur völligen Beseitigung der Naturallöhnung getan. Aber wie schon die Aufsprengung der Gemeinschaft mit der bäuerlichen Familie nicht zuletzt im Interesse der Mägde, Knechte und Enken gelegen hatte, so widersprach auch die Umwandlung der Kost in Kostgeld durchaus nicht ihren Intentionen. Berechtigte Klagen über schlechte Ernährung vermischten sich darum bei ihnen nicht selten auch mit gezielten und provokatorischen Beschwerden; mehr Bargeld verhieß ihnen größere persönliche Unabhängigkeit und Freiheit. Auch das hier wenig später an ihre Stelle tretende verheiratete Gesinde erhielt keine Kost mehr, sondern einen das Kostgeld eingerechneten höheren Bargeldlohn. Im Untersuchungsgebiet ist demnach seit den sechziger Jahren des 19. Jh. in der Art der Beköstigung des Gutsgesindes eine deutliche Angleichung an die Beköstigungsweise der Deputatlandarbeiter und der freien Landarbeiter erfolgt. Die dadurch gewonnene größere Selbständigkeit der Mägde, Kiiechte und Enken hatte andererseits aber auch eine erhöhte Unsicherheit ihrer wirtschaftlichen Existenz zur Folge: ein Zusammenhang, in dem die beginnende tendenzielle Unifikation der einheimischen Landarbeiterschaft ebenfalls zum Ausdruck kommt. Die zunächst unterschiedlichen, später — im Zuge der Konsolidierung des vormonopolistischen Kapitalismus — sich aneinander immer mehr angleichenden Einkommen der verschiedenen Sozialgruppen der Landarbeiterschaft spiegelten sich auch in der Bekleidung wider. Allerdings handelte es sich dabei mehr um Unterschiede im Bestand und in der Tragedauer der Kleidungsstücke. Eine spezielle, eigentümliche Kleidung für Landarbeiter kann im Untersuchungsgebiet zu keiner Zeit nachgewiesen werden. Ihre Uniformität bestand höchstens in ihrer durchgängigen Dürftigkeit. Die Tracht, die hier etwa noch bis um die Mitte des 19. Jh. getragen wurde, war ein Charakteristikum der bäuerlichen Bekleidungsweise.52 Die Landarbeiter haben sie weder aufgenommen noch etwa eine eigene 52 Vgl.

8*

den BeitragRACH über Veränderungen in Lebensweise und Kultur derfiauern in diescmBand.

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Tracht entwickelt. Sie folgten in ihrer Kleidung überwiegend dem Angebot der Städte. Typisch für die Bekleidungsweise der gesamten einheimischen Landarbeiterschaft im Untersuchungsgebiet war die sorgfältige Unterscheidung zwischen einer Sonntagskleidung für den Kirchgang sowie für festliche und andere besondere Anlässe und einer Arbeitskleidung ; eine Trennung, an der, sofern möglich, unbedingt festgehalten wurde. Während bei der sonntäglichen Kleidung vornehmlich auf Dezenz, aber natürlich auch auf eine angemessene Qualität geachtet wurde, kam als Arbeitskleidung zur Verwendung, was vor allem billig zu erhalten war. In Teuerungsjahren, so etwa 1848, bildeten Kleidungsstücke zuweilen sogar einen Teil des Naturallohnes. Andere Erwerbsquellen waren der Trödler und karitativ gesinnte „Wohlhabende". Auch auf diesem Wege gelangte damit „städtische Kleidung" ins Dorf. Neben der Wohlfeilheit der Kleidungsstücke, insbesondere der relativ schnell verschleißenden Arbeitskleidung, waren für die Landarbeiter vor allem auch deren Haltbarkeitsgrad und Strapazierfähigkeit außerordentlich wichtig. Als infolge des sich rasch ausbreitenden Zuckerrübenanbaues in den vierziger Jahren des 19. Jh. im Untersuchungsgebiet der Flachsbau stark zurückging und dadurch sowie auf Grund der allgemeinen Marktlage in der Textilproduktion in zunehmendem Maße die bisherige solide Kleidung aus selbstgefertigtem Leinen der weniger widerstandsfähigen Tuchbekleidung wich, bedeutete dies für die Familie des Landarbeiters unbedingt eine Verschlechterung ihres Kleidungszustandes und wegen der geringeren Haltbarkeit jenes Gewebes darüber hinaus auch eine Mehrbelastung ihres Ausgabenbudgets. Als sich dann seit den sechziger Jahren des 19. Jh. ihre Lebensverhältnisse radikal und allseitig verschlimmerten, kam dies in bezug auf die Bekleidung sowohl in einer Verringerung des Bestandes als auch in einer Verlängerung der Gebrauchsdauer der Kleidungsstücke zum Ausdruck. 53 Die schlechten Wohnbedingungen, insbesondere die ungenügenden hygienischen und sanitären Verhältnisse, die immer einseitiger und nährstoffärmer werdende Ernährung, die dürftige und nicht selten unzureichende Bekleidung, vor allem aber die Arbeitstätigkeit hatten auch Konsequenzen für den Gesundheitszustand der Landarbeiter. Besonders verheerend wirkte sich dabei die gesetzmäßige Koinzidenz zwischen der zunehmenden Verschlechterung der Einkommensverhältnisse und dem Übergang zur allseitigen Anwendung intensiver Methoden der Ausbeutung aus. Als Folge der überaus anstrengenden, meist in gebückter Haltung auszuführenden Akkordarbeit beim Rübenhacken, Verziehen, Ausroden und Einmieten, im Sommer bei Staub und Hitze, im Winter bei Nässe, Schmutz und Kälte, traten neben Muskel- und Gliederschmerzen besonders Rheumatismen, Lungenleiden, Bronchial-, Magen- und Darmkatarrhe auf; Krankheiten, die sich vor allem deshalb als hartnäckig und langwierig herausstellten, weil die Betroffenen aus ökonomischen Gründen oft nicht rechtzeitig einen Arzt konsultieren • oder Medikamente beschaffen konnten. Aber je länger die Leiden anhielten, desto bedrohlicher wirkten sie sich für die Familie auch in wirtschaftlicher Hinsicht aus. Während im Krankheitsfalle des Mannes sich hauptsächlich der Verdienstausfall schmerzlich bemerkbar machte, trat bei Arbeitsunfähigkeit der Ehefrau außerdem zwangsläufig die Schwierigkeit hinzu, Haushalt und Familie nicht mehr in der bisherigen Weise versorgen und betreuen zu können.54 In derartigen Fällen hätte nur eine spezielle Krankenpflege wirksame Hilfe gebracht. Aber eine solche Einrichtung existierte im Untersuchungsgebiet nicht. Weder der Staat noch die Kirche, noch gemeinnützige, karitative Vereinigungen haben hierbei helfend eingegriffen. 53

Vgl. Anlage Nr. 9 und GOLDSCHMIDT, 1899 : 49—50. Vgl. Anlage Nr. 31.

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Auch andere Institutionen einer sozialen Fürsorge fehlten. So gab es weder sogenannte Kinderbewahranstalten noch Fürsorgeheime für alte und gebrechliche, aus dem Arbeitsprozeß ausgeschiedene Menschen, noch spezielle Altersversorgungskassen.58 Seit Ende der fünfziger Jahre des 19. Jh. existierten allerdings für die Arbeiter in den Zuckerfabriken betriebseigene Unterstützungs- bzw. Krankenkassen, zu deren Errichtung sie selbst auf Grund ihrer Kenntnis der Vorteile ähnlicher Institutionen in anderen industriellen und gewerblichen Unternehmen, z. B. in den nahegelegenen Salinen und Bergwerken, sicherlich nicht unwesentlich beigetragen haben. Aber nur die in jenen Betrieben (Fabrikwirtschaften) tätigen betriebsintegrierten Landarbeiter und die dort etwa halbjährlich (im Winter) beschäftigten Fabrikarbeiter im engeren Sinne konnten diesen Kassen beitreten. Die Masse der hiesigen einheimischen Landarbeiterschaft blieb davon ausgeschlossen.84 Auch bestand kein ausgesprochener Versicherungszwang. Erst das Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz vom 22. Juni 1869, das mit dem 1. Januar 1891 in Kraft trat, bezog die gesamte werktätige Bevölkerung des Deutschen Reiches — auch auf dem Lande — vom 16. Lebensjahr an, bei bestehender Versicherungspflicht, in die Fürsorge bei Krankheit und Invalidität sowie beim Erreichen der Altersgrenze (70. Lebensjahr) ein.

Von den Bemühungen der Landarbeiter um die unmittelbare Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen Die Lage der Landarbeiter unter dem Kapitalismus, d. h. „die Gesamtheit der Bedingungen ihres ausgebeuteten, dem Kapital ausgelieferten, Lebens", 57 ist in ihrer konkreten Ausformung nicht nur Resultat und Reflexion des Wirkens des ökonomischen Grundgesetzes dieser Gesellschaftsformation, nicht nur Ergebnis und Widerspiegelung der Ausbeutung durch die (ländliche) Bourgeoisie, sondern auch Folge und Ausdruck ihrer dagegen gerichteten, unter den gegebenen Verhältnissen jeweils objektiv möglichen, eigenen bewußten Lebenstätigkeit. Die Landarbeiter im Untersuchungsgebiet haben hierbei im wesentlichen drei komplexe Aktivitäten entwickelt bzw. überkommene fortgeführt oder diese den veränderten Bedingungen des vormonopolistischen Kapitalismus entsprechend umgebildet, und zwar erstens: gewisse Modalitäten der familiären Selbsthilfe, zweitens: verschiedene Formen der Solidarität und drittens: bestimmte Methoden des Klassenkampfes auf ökonomischem Gebiet. Während es sich bei Streiks und noch mehr bei Revolutionen bekanntlich immer um Höhepunkte in der Klassenauseinandersetzung handelt, die an ganz bestimmte Prämissen geknüpft sind, stellen die genannten Aktivitäten das Instrumentarium der täglichen Opposition der Werktätigen gegen die unmittelbaren Folgen der Ausbeutung dar. Ohne diese „Opposition im Alltag" hätten sie die vielen Notzeiten vermutlich nicht einmal überleben können. Aber hierbei Erfolg zu haben, das tägliche, gefährliche, zermürbende Ringen auf die Dauer durchzustehen, verlangte eine 56

V g l . PLAUL, ( 1 9 7 9 ) :

56

Vgl. Das Gesetz, betr. die gewerblichen Unterstützungskassen, vom 3. April 1854 (GesetzSammlung, 1854). — Im Kreis Wanzleben, wo das erforderliche Kreis-Statut zur Errichtung derartiger Kassen am 7. November 1857 in Kraft trat, bestanden im Jahre 1864 solche Unterstützurtgskassen, z. B. in Bahrendorf, Bleckendorf und Domersleben, insgesamt in 18 der 21 Zuckerfabriken und -raffinerien. Angaben nach: Statistik . . . Wanzleben, 1867: 52, 69.

230-234.

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KUCZYNSKI, 1 9 6 8 : 1.

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hohe sittliche Kraft, daneben aber auch Klugheit, Mut und Entschlossenheit. Eine große Leistung, die durchaus gleichrangig neben den aufsehenerregenden organisierten Massenaktionen steht. Über die Jahrhunderte hinweg, von jeder Generation ge2wungenermaßen aufs neue vollbracht, legt auch sie von der moralischen Stärke, der Intelligenz und der Schöpferkraft des werktätigen Volkes Zeugnis ab. Die von den einheimischen Landarbeiterfamilien im Untersuchungsgebiet praktizierte Selbsthilfe bestand hauptsächlich in Folgendem, erstens: in einer ökonomischen Haushaltung, zweitens: in der gegenseitigen Hilfe aller Mitglieder und drittens: in dem ständigen Bemühen, durch Erlangung eines zusätzlichen oder höheren Verdienstes bzw. einer Nebeneinnahme das Gesamteinkommen der Familie zu mehren. Ökonomisch haushalten bedeutete vor allem, keine Ausgaben zu tun, die nicht unbedingt notwendig war, und wo immer es möglich, durch die eigene Tätigkeit Kosten einsparen zu helfen. Dazu gehörte insbesondere die Eigenfabrikation des Jahresbedarfs an Kohlensteinen, deren Rohmaterial aus den im Untersuchungsgebiet selbst befindlichen Gruben herangeschafft wurde, zählte weiterhin die Schonung der Kleidung und Wäsche durch ständiges Ausbessern und sorgsames Pflegen, gehörte auch die Weitervergabe der Kinderkleidung an die jüngeren Geschwister und das Selbstumarbeiten von Kleidungsstücken, ferner das Einsparen von Beleuchtungs- und Heizmaterial durch frühes Zubettgehen oder — bei Verrichtung häuslicher Nebenerwerbsarbeiten wie Flachsspinnen oder Federnschleißen — durch ein außerdem Geselligkeit und Kommunikation förderndes Zusammenkommen mehrerer Familien bei einem ihrer Nachbarn. Bevor die Zuckerrübenkultur den Flachsanbau verdrängt hatte, war es auch üblich, viele der für den Eigenbedarf benötigten Kleidungsstücke selbst herzustellen. Spinnstuben waren daher auch hier verbreitet gewesen. Als sie sich infolge der zunehmenden Verringerung des Flachsanbaues auflösten, verschwand damit auch ein wichtiges Element einer unerläßlichen Voraussetzung für das Gedeihen lebendiger Volkspoesie, nämlich eine der häufigsten und bevorzugten Erzählgelegenheiten. Im Jahre 1882 schrieb ein Beobachter: „Wie der Sinn für moderne Cultur ... in der Börde im Wachsen begriffen ist, so schwindet das Interesse am Althergebrachten dort mehr und mehr: Sinn für Sagen und Volksmärchen existiert in dieser Gegend fast gar nicht mehr, und das Volkslied findet außer in der Schule keine Pflege."58 Es ist allerdings zu fragen, ob mit dem Niedergang der lebendigen Volksdichtung auf Grund nicht mehr bestehender Prämissen in jedem Fall zugleich auch das Interesse, der Sinn für diese Art Poesie geschwunden war. Als in den vierziger Jahren des 19. Jh. die Volksschriftenvereine, wie erwähnt, auch einige Märchenbände anboten (z. B. Grimms Kinder- und Hausmärchen), gehörten gerade diese mit zu jenen Büchern, die am eifrigsten gelesen wurden. — Eine sehr verbreitete Form familiärer Selbsthilfe war ferner das Abstoppein abgeernteter Flurareale, z. B. Ährenlesen. In ausgesprochenen Notzeiten, wie in den vierziger Jahren und nochmals zwischen Mitte der sechziger und Mitte der siebziger Jahre des 19. Jh., als sich die Lebensverhältnisse sprunghaft und radikal verschlechterten, nahm die Selbsthilfe hiesiger einheimischer Landarbeiterfamilien sogar ungesetzliche Formen an. Besonders der Felddiebstahl nahm jetzt an Verbreitung ungemein zu. Davon waren nicht nur Felder, Obstbäume und Getreidediemen betroffen. Im Winter wurden vor allem die ZuckerrübenMieten aufgebrochen und geplündert: „Wir gehen in die Rüben" war bald zur stehenden Redewendung geworden. Als die (preußische) Feldpolizei-Ordnung vom 1. November 58

MEYER-MARKAU, 1 8 8 2 : 682.

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1847 diese bereits im Allgemeinen Landrecht verbotene Praxis nochmals ausdrücklich unter Strafe stellte, nutzten die Landarbeiter gern das Abstoppein als willkommene Gelegenheit für ihre verständlichen diebischen Übergriffe, weshalb die Unternehmer lautstark, jedoch ohne Erfolg, die Einführung von durch die Ortsobrigkeit kontrasignierten Erlaubnisscheinen zum Betreten abgeernteter Flurareale verlangten. Als dann das Preußische und später das Reichs-Strafgesetzbuch (1. Januar 1872) Personen unter zwölf Jahren in allen Fällen Straffreiheit zusicherten, hielten die Landarbeiter in besonderem Maße ihre Kinder zum Felddiebstahl an. Eine andere Form krimineller Selbsthilfe stellt der Versicherungsbetrug dar, das vorsätzliche Feuerlegen im eigenen Wohngebäude, was freilich logischerweise nur von den hausbesitzenden Landarbeitern praktiziert werden konnte. Die gegenseitige Hilfe der Familienmitglieder bestand vor allem in der Zusammenarbeit auf dem eigenen, kleinen Ackerstück, in der Beaufsichtigung der Kleinkinder durch die älteren Geschwister oder die Großeltern, in der Betreuung der alt, krank oder invalid gewordenen Familienangehörigen und in der Mithilfe der Alten bei kleinen häuslichen Verrichtungen. Mit zunehmender Verschlechterung der Lebensbedingungen gewann die Hilfeleistung bei der Suche nach neuen und möglichst einträglicheren Arbeitsmöglichkeiten an Bedeutung. Auf den familienmäßig ausgeführten Felddiebstahl wurde schon hingewiesen. Die stärksten Aktivitäten waren natürlich auf die Erhöhung des familiären Einkommens gerichtet. Müßiggang war nicht nur ökonomisch unvertretbar, sondern hier auch seitens der Landarbeiter selbst verpönt. Nirgends kam diese Haltung vielleicht deutlicher zum Ausdruck als in der Mäßigkeit ihres Branntweinkonsums. Ein erstaunliches Phänomen angesichts der Tatsache, daß seit Beginn des 19. Jh. in Deutschland der durchschnittliche Branntwein-Pro-Kopfverbrauch ständig zugenommen hatte. Mäßiger Branntweingenuß war freilich nicht immer die Regel gewesen. So wurde etwa zu Beginn der dreißiger Jahre des 19. Jh. auch hier beispielsweise von Seiten der Geistlichkeit zum Teil noch recht heftig über eine Zunahme der Trunksucht Klage geführt. Die Tendenz zur Mäßigung trat bezeichnenderweise im Zusammenhang mit der Einführung des Zuckerrübenanbaues und dem Übergang zur Akkordlöhnung in Erscheinung. Offensichtlich lösten die vergleichsweise guten Verdienstmöglichkeiten in der Anfangsphase des neuen Produktionszweiges und die neu gewonnene Erfahrung, bei Akkordarbeit durch Intensivierung der eigenen Tätigkeit einen höheren Verdienst als bei der Taglöhnung zu erzielen, im Bewußtsein der Landarbeiter gewisse Wohlstandserwartungen aus. Eine verständliche Regung, wenn man bedenkt, daß der Drang nach einem besseren Leben schon immer zu den allgegenwärtigen Sehnsüchten des unterdrückten werktätigen Volkes gehört hat. Und wie immer, so wurden sie auch in dieser Erwartung betrogen. Spätestens in den sechziger Jahren des 19. Jh. mußten sie erkennen, daß trotz ihres großen Einsatzes ihre Lage ständig schlimmer geworden war und sich nun, mit der allseitigen Einführung der Akkordlöhnung, d. h. mit der Intensivierung der Ausbeutung, ganz besonders elend gestaltete. Dennoch blieben ausgesprochene Demoralisierungserscheinungen Seltenheiten. Auch der Branntweinkonsum nahm nicht zu. Nicht zuletzt dürfte dazu die Einführung des Kaffees beigetragen haben, zumal sich infolge der damit verbundenen Möglichkeit, ihn mit solchen Surrogaten wie Zichorie, Rübenschnitzel, Roggen- und Gerstenkörner „strecken" zu können, (die hier, im Anbaugebiet dieser Früchte, relativ billig zu beschaffen waren), eine weitere Quelle für Einsparungen erschließen ließ. Die hiesigen Landarbeiter verwendeten einen derartigen Kaffee-Ersatz anstelle des bis dahin üblich gewesenen teuren Bieres, sofern es auf die Löschung des Durstes und auf die Funktion als Beigabe zu fester Nahrung abgesehen war,

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in größerem Maße erstmals etwa seit Beginn der vierziger Jahre des 19. Jh., d. h. genau zu dem Zeitpunkt, als mit dem Kartoffelbranntwein ein wesentlich Wohlfeileres und kräftigeres Reiz- und Stärkungsmittel als Bier angeboten wurde und als die Unternehmer dazu übergingen, bei bestimmten Arbeitsverrichtungen, zunächst vornehmlich beim Umgraben der Rübenäcker und bei der Getreidemahd, intensive Ausbeutungsmethoden, speziell die Akkordlöhnung, einzuführen. Diese doppelte Koinzidenz war sicherlich kein Zufall. Neben der ,im Vergleich zu anderen Speisen billigeren Herstellung der KaffeeMahlzeit (Kaffee und Brot bzw. Kaffee und Kartoffeln) hat offensichtlich auch der Zeitfaktor eine wichtige Rolle gespielt. Das bei der Zeitlöhnung übliche Arbeitspausen-Volumen konnte nun, bei Anwendung der Stücklöhnung, vom Arbeiter selbst auf ein Minimum reduziert und damit eine maximale Ausnützung der Arbeitszeit und ein höherer Verdienst erzielt werden. Kaum ein anderes Mittel erwies sich dafür als so geeignet wie gerade der relativ billige Kaffee-Ersatz, der morgens nicht nur schnell zubereitet war, sondern der — in Kannen und Krügen mit auf das Feld genommen — auch den zeitaufwendigen Gang zum Mittagessen ins Dorf überflüssig machte. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, daß mit dem Fortfall der warmen Mittagsspeise — und nicht nur während der Ernte — eine nicht unwesentliche Verschlechterung der täglichen Ernährung verbunden war. Seit den sechziger Jahren des 19. Jh. wurde im Untersuchungsgebiet der Branntwein auch als Reizund Stärkungsmittel immer mehr verdrängt und durch das inzwischen wohlfeiler gewordene Bier ersetzt. Sicherlich hat zu dieser Entwicklung nicht zum wenigsten die beginnende Mechanisierung beigetragen. Eine Maschine zu bedienen erforderte kaum durch Branntwein angefeuerte, rohe Muskelkraft, dafür um so mehr Aufmerksamkeit und Geschicklichkeit. Die Unternehmer fügten darum nicht selten in die schriftlichen Arbeitskontrakte Bestimmungen ein, die das Branntweintrinken vor und während der Arbeit ausdrücklich verboten, wobei ihnen natürlich auch an der Erhaltung der Funktionsfähigkeit ihrer teuren Maschinen gelegen war. Daneben betrachteten insbesondere die jüngeren Landarbeiter Bier in zunehmendem Maße auch als eine Art Statussymbol; Bier zu trinken hielten sie für nobler als Branntweintrinken. Trotz mangelnder Voraussetzungen versuchten auch im Untersuchungsgebiet die Geistlichen, Mäßigkeits- und Enthaltsamkeitsvereine ins Leben zu rufen. Erfolg hatten sie damit nicht. Die hiesigen einheimischen Landarbeiter bemühten sich aber nicht nur, durch ausdauernde Akkordarbeit, durch optimales Ausschöpfen der Arbeitszeit und durch eigene Verlängerung • des Arbeitstages zu einem höheren Verdienst zu gelangen. Sie versuchten dasselbe Ziel, worauf schon hingewiesen worden ist, auch durch geschicktes Ausnutzen der Mechanismen des kapitalistischen Arbeitskräftemarktes zu erreichen, oft unter Zuhilfenahme von Familienangehörigen, aber auch von Freunden und Bekannten. Sofern sie noch Flachsland zur Verfügung hatten, verschafften sie sich durch den Verkauf des selbst gesponnenen Garns eine kleine Nebeneinnahme. Eine große Bedeutung kam in diesem Zusammenhang der Kleinviehhaltung zu. Selbst als ihnen die Unternehmer das Pacht- und Deputatland weitgehendst entzogen, und damit auch die Futtergrundlage für ihre Viehhaltung, hielten sie verbissen daran fest, indem sie die benötigte Futtermerige größtenteils durch Felddiebstähle herbeizuschaffen suchten. Dies war auf die Dauer ein untaugliches Mittel. Die größte und zugleich sicherste Nebeneinnahme erwuchs den Landarbeitern aus der Bewirtschaftung ihrer erpachteten oder im Eigenbesitz befindlichen oder zeitweise von den Unternehmern zur Nutzung überlassenen Bodenanteile. Der Regelmechanismus der Preise und das Interesse des Unternehmers, nämlich mit der Vergabe von Deputatland die Arbeiter an seinen Betrieb zu fesseln, ohne daß daraus für ihn ein Verlust

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an Arbeitskraft entstand, verhinderten, daß diese Bodenstücke eine bestimmte Größe überstiegen. An den Werktagen sollte der Proletarier seine Arbeitskraft zum Verkauf, zur Ausbeutung anbieten müssen. Dies aber hatte zur Folge, daß dem Arbeiter zur Bebauung des eigenen, kleinen Ackers nur die Sonn- und Feiertage blieben, in der Ernte oft noch nicht einmal diese. Aber der Sonntagsarbeit standen die zahlreichen Verordnungeh über die Heilighaltung der Sonn- und kirchlichen Fest- und Feiertage entgegen.89 In einer Zeit, in der noch keine gesetzliche Regelung der Arbeitszeit existierte, hätten diese Bestimmungen, insofern sie die normale Arbeitswoche auf sechs Werktage begrenzten, zwar auch für die Landarbeiter von Vorteil sein können, doch indem sie von der tatsächlichen Lage der Werktätigen abstrahierten, erwiesen sie sich als Maßnahmen, die praktisch gegen die Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung gerichtet waren. Während die Unternehmer zur Erledigung der notwendigen Arbeiten die ganze Woche, Tag für Tag, von morgens bis abends, bis zu zehn, zwölf, ja sogar bis zu siebzehn Stunden fremde Arbeitskräfte ausbeuten konnten, blieben den Landarbeitern für Verrichtungen in der eigenen kleinen Wirtschaft zwangsläufig nur die Sonn- und Feiertage übrig. Eine humane, christliche Gesinnung — und die Eiferer für die würdige Heilighaltung der Sonn- und Feiertage gaben ja vor, eine solche zu vertreten — hätte auf die existentiellen Bedürfnisse der werktätigen Landbevölkerung Rücksicht nehmen und das Verbot der Sonntagsarbeit unbedingt verbinden müssen mit einer Arbeitszeitregelung, durch die es den Landarbeitern möglich gewesen wäre, zur Besorgung ihrer individuellen Wirtschaft ebenfalls schon gewisse Stunden der Arbeitswoche zur Verfügung zu haben. Erst dann hätten die Sonn- und Feiertage wirklich für sie auch Reproduktionstage sein können. Doch dies war nicht der Fall. Die Gewinnsucht der Unternehmer verbot eine solche Regelung. Da ihnen aus demselben Grund aber auch an der Erhaltung einer leistungsfähigen Arbeiterbevölkerung gelegen sein mußte, hielten sie gewöhnlich an der verordneten Einrichtung, die Sonn- und Festtage als Ruhetage zu betrachten, fest und unterstützten ihrerseits diese Bestimmungen. Außerdem sollte auf diese Weise ein wichtiger Kommunikationskanal zuverlässig und sicher offengehalten werden, durch den die mit der herrschenden Religion — hier der protestantischen Orthodoxie — durchtränkte Ideologie der herrschenden Klasse besonders eindringlich im Bewußtsein aller Schichten des werktätigen Volkes verbreitet und befestigt werden konnte. Nicht zuletzt spielte dabei auch die Frage nach der Wehrtüchtigkeit der Bevölkerung eine Rolle. Doch trotz Strafandrohung und Strafexekution durchbrachen im Untersuchungsgebiet die Landarbeiter jene Verordnungen über die Heilighaltung der Sonn- und Feiertage, und zwar offen und permanent. Infolgedessen waren auch die Befürchtungen der herrschenden Klasse und der mit ihr verbündeten orthodoxen Geistlichkeit, die Arbeiter könnten auf Grund der dauernden Sonntagsarbeit von der Kirche und damit von einem wesentlichen Teil der herrschenden Ideologie entfremdet werden, nicht unbegründet. Die Kirchlichkeit ging hier unter der Landarbeiterschaft im Laufe der Zeit tatsächlich zunehmend zurück. Nicht ohne Einfluß war dabei allerdings auch der bis in die erste Hälfte des 19. Jh. unter den hiesigen Predigern 59

Hingewiesen sei insbesondere auf das Zirkular der Kgl. Regierung zu Magdeburg vom 22. März 1822 (z. B. in: STAM, Rep. C 2 8 II, Nr. 340: 33), auf das „Publicandum, betr. die Feier der Sonn- und Festtage" vom 17. September 1839 (Amts-Blatt, 1839: 343ff.), auf die Verordnungen vom 14. September 1847 und vom 15. Mai 1854 (Amts-Blatt, 1854: 208 ff.) sowie auf die „PolizeiVerordnung, betreffend die äußere Heilighaltung der Sonn- und Festtage" vom 21. März 1879 (Amts-Blatt, 1879: 133).

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noch weit verbreitete Rationalismus. Als sich im Vormärz im Untersuchungsgebiet die Bewegung der „Lichtfreunde" und in ihrer Nachfolge die „Freien Gemeinden" herausbildeten, die als Teil der bürgerlich-demokratischen Opposition offen gegen die Staatskirche, in überdeckter Form, im religiösen Gewand, aber nicht minder gegen die herrschende Staatsordnung auftraten, fanden sich viele Anhänger auch unter der hiesigen einheimischen Landarbeiterschaft. Das gilt besonders für die Jahre nach 1850, in denen sich diese Bewegung immer mehr zu einem Sammelbecken der demokratischen Kräfte der nachrevolutionären Zeit entwickelte. 80 Das relativ hohe moralische Niveau der hiesigen Landarbeiter, wie es sich in den verschiedenen Formen der familiären Selbsthilfe, in Arbeitsfleiß und Arbeitsdisziplin, aber z. B. auch in der Mäßigkeit ihres Branntweingenusses widerspiegelte, kam noch auf eine andere Weise zum Ausdruck, und zwar in dem, was ENGELS „die Humanität der Arbeiter" genannt hat, 61 in einer bemerkenswerten Hilfs- und Opferbereitschaft. Am häufigsten wurde der Beistand von Verwandten, Freunden und Bekannten, von kleineren Gefälligkeiten abgesehen, bei der Suche nach besseren Verdienstmöglichkeiten und bei der Bewirtschaftung des eigenen, kleinen Ackerstückes wirksam. In den Not- und Teuerungsjahren 1846/47 führten hiesige Landarbeiter sogar eine ergiebige Spendensammlung zugunsten notleidender Proletarier in anderen Gegenden Deutschlands durch. Ein Domänenpächter, der damit allerdings den vermeintlichen Wohlstand und nicht die Solidaritätsbereitschaft jener Arbeiter herausstellen wollte, berichtete im November 1848 vor dem „Congreß deutscher Landwirthe" in Frankfurt/Main davon: „Man schaue auf den Zustand des Landes, wo die Rübenzuckerfabrikation heimisch ist, man prüfe die durch sie geschaffenen Werthe der höheren Bodenkultur, der durch sie hervorgerufenen Gebäude, Maschinen und Geräthe, man untersuche den unendlich verbesserten sittlichen und materiellen Zustand der Arbeiterklassen [? — H. P.], bei denen Fleiß und Sparsamkeit vorwalten . . . Aber diese Fabrikation ernährt im Regierungsbezirk Magdeburg nicht allein die dort wohnende zahlreiche Bevölkerung, sondern auch viele Tausende des benachbarten Eichsfeldes und des Harzgebirges . . . Als im Jahr 1846/47 eine Mißärnte namenloses Elend vom Niemen bis an den Rhein verbreitete und in nicht wenigen Gegenden Aufruhr und Angriffe gegen das Eigenthum hervorrief, da litten die Bewohner meiner Gegend keine Noth [? — H. P.], wohl aber waren die Arbeiter im Stande, reiche Spenden unter sich zu sammeln, und sie ihren nothleidenden Brüdern zu senden." 62 Um die Bebauung der eigenen Bodenanteile, was ihnen bekanntlich nur an den wenigen Sonn- und Feiertagen und dann noch unter Androhung von Strafe möglich war, wirklich sicherzustellen, griffen die hiesigen einheimischen Landarbeiterfamilien noch zu einem anderen Mittel außer zur Unterstützung durch Freunde, Nachbarn und Bekannte. Damit die Familie zusätzlich Arbeitskräfte erhielt, ermunterten sie ihre erwachsenen Söhne und Töchter zu baldigen Heiraten. 63 Natürlich kamen sie damit auch zugleich deren Wunsch nach größerer persönlicher Selbständigkeit entgegen; ein Verlangen, das besonders bei ihren im Gesindedienst stehenden Kindern stark ausgeprägt war. Auf die Folgen, die sich daraus für die Altersstruktur des Gesindes ergaben, ist bereits hingewiesen worden. Außer60

Vgl. hierzu bei KOLBE, 1964, der darin auch auf die freigemeindliche Bewegung in der preußischen Provinz Sachsen eingeht.

«I ENGELS, 1957 ( 1 8 4 5 ) : II, 3 5 2 . «Ü WEYHE, 1 8 4 9 : 9 1 . 43

Magdeburger Börde, Die, 1888.

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dem spielte dabei die Absicht eine Rolle, auf diese Weise womöglich die Raumnot in der engen elterlichen Wohnung etwas abzumildern- Der zwanglose Umgang der Geschlechter wurde darum von den Eltern nicht nur stillschweigend geduldet, sondern in sehr vielen Fällen geradezu gefördert. Eine hervorragende Rolle spielten dabei die sogenannten Koppeln, zu denen sich die jungen Leute des Dorfes, meist „in den Feierstunden am Abend auf der Straße", nach Alter bzw. Konfirmationsjahren oder nach sozialer Zugehörigkeit zusammenfanden.64 Vorehelicher Beischlaf war allgemein üblich. Gegenmaßnahmen der Geistlichen, etwa die Verweigerung der sogenannten Ehrenprädikate „Junggesell" und „Jungfrau" bei Aufgebot und Trauung, erwiesen sich als zwecklos. Als sich in den sechziger Jahren des 19. Jh. im Untersuchungsgebiet die Lebensverhältnisse der einheimischen Landarbeiter entschieden verschlechterten und sie infolge der Aufkündigung von Pachtund Deputatland durch die Unternehmer auch des größten Teils ihrer Ackerstücke verlustig gingen, rückten zwangsläufig die Entlastung der elterlichen Familie und — vor allem bei der Frau auf Grund ihrer schlechteren Entlohnung und der durch die Mechanisierung und infolge herbeigezogener Saisonarbeiter bedingten längeren Arbeitslosigkeit im Jahr — das gemeinsame Verdienen und Haushalten als Motiv für frühe Heiraten stärker in den Vordergrund. Zumal wenn Nachwuchs zu erwarten war, bot sich diese Wirtschaftsweise als die ökonomischste an. Außerdem war es üblich, daß in den Fällen, in denen es zur Aufnahme intimer Beziehungen gekommen war, die moralische Verpflichtung zur Eheschließung von beiden Partnern ausdrücklich anerkannt wurde. Unter diesen Umständen nimmt es nicht wunder, daß auch hier der voreheliche Beischlaf unter der einheimischen Landarbeiterschaft keine moralische Entrüstung provozierte. Wenn überhaupt eine Verurteilung erfolgte, so geschah sie vom wirtschaftlichen Standpunkte aus. Soweit möglich, versuchten die ledigen Mägde und Knechte jedoch, sich ökonomisch auf die Ehe vorzubereiten. Aber es gab natürlich auch genügend Beispiele, bei denen die jungen Eheleute ihr gemeinsames Leben ohne ausreichende wirtschaftliche Sicherheit begannen. Solche Fälle traten im Untersuchungsgebiet besonders häufig von dem Zeitpunkt an auf, als sich die Lebensverhältnisse der hiesigen ländlichen Arbeiter allseitig und radikal verschlimmerten.65 Doch stellte das unverheiratete Gesinde auch jetzt noch die stärkste Kundengruppe der Sparkassen innerhalb des einheimischen Agrarproletariats dar. Vor Eintritt jener extremen Verschlechterung der sozialen Lage, als die Möglichkeit, Land zu erwerben oder zu pachten, noch nicht gänzlich versperrt und damit ein lohnender Anreiz zum Sparen durchaus noch gegeben war, zählte der Besitz eines Sparbuches auch bei den Angehörigen der übrigen Sozialgruppen der hiesigen einheimischen Landarbeiterschaft keinesfalls zu den Ausnahmen. Ein gutes Beispiel dafür liefert die kurze Geschichte der Privatsparkasse des Rittergutes Eggenstedt.66 Allerdings wurde hier der Sparwille der ländlichen Arbeiter auch durch einen relativ hohen Zinssatz und durch eine den Sparern Vertrauen einflößende, scheindemokratische Kassen-Organisation angeregt.67 Der Besitz eines ausreichend großen Stückes Acker, das ihnen zumindest eine gewisse soziale Sicherheit garantieren könnte, erschien auch den Landarbeitern im Untersuchungsgebiet noch lange Zeit als ein erstrebenswertes Ziel, für das zu arbeiten, zu sparen und zu Geschlechtlich sittlichen Verhältnisse, Die, 1895: 95. Magdeburger Börde, Die, 1888. 68 Ausführlich dargestellt bei Plaul, 1 9 7 9 : 2 3 5 — 2 4 1 . «' Vgl. Anlage Nr. 8. 64

65

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darben sich lohnen, würde. Die Forderung nach Land bildete auch den Hauptinhalt ihrer Auseinandersetzung mit den großen und wohlhabenden Grundbesitzern. Da sie auf legalem Wege, etwa durch Einflußnahme auf kommunalpolitische Entscheidungen, auch nicht im entferntesten die Möglichkeit hatten, ihre Forderung durchzusetzen, auch nicht nach Einführung der im Feuer der Revolution erkämpften fortschrittlichen GemeindeOrdnung von 1850, griffen sie zwangsläufig zu ungesetzlichen Mitteln. Besonders beargwöhnten sie alle Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Separation standen. Vor allem wehrten sie sich gegen Übervorteilungen bei der Aufteilung der Gemeinheiten. In zwei Dörfern kam es deswegen sogar zu kollektiven Brandstiftungen (Remkersleben und Etgersleben). Im Gerichtsbezirk des Rittergutes Sommerschenburg, zu dem auch zwei Gemeinden des Untersuchungsgebietes gehörten (Wefensleben und Belsdorf), kam es aus demselben Grund zu offenen Tumulten, zur Erstürmung des Gutshauses und schließlich noch zu tätlichen Angriffen gegen die zu Verhaftungen schreitenden Gendarmen. Die Mehrzahl solcher massiven Gewaltakte — neben Brandstiftungen in Gebäuden war auch das Abbrennen von Getreidediemen populär —, die zum Teil auch aus Rache oder zur Einschüchterung unternommen wurden, waren jedoch Einzelaktionen. Aber auch alle kollektiven Aktionen endeten an den Gemeindegrenzen. Zu größeren, überlokalen Zusammenschlüssen ist es unter der hiesigen einheimischen Landarbeiterschaft während des untersuchten Zeitraumes nicht gekommen. Das trifft beispielsweise auch für die — erfolglose — Weigerung der hausbesitzenden Landarbeiter in Eilsleben wegen Entrichtung der Dienstgelder zu (1848). Eine Erhöhung ihrer Schlagkraft und damit auch ihrer Erfolgschancen scheiterte vor allem an ihrem noch unentwickelten Klassenbewußtsein und an ihrer ländlichen Vereinzelung. Allerdings verfügten sie bereits über ein ausgebildetes Klassengefühl, wie die Solidaritätsbeweise in Form von gegenseitiger Hilfe und kollektiver Aktion erkennen lassen. Aber noch war es nicht in dem Maße erstarkt, daß es die lokale Isolierung hätte überwinden können. Von großer Bedeutung war in diesem Zusammenhang auch der Umstand, daß hier — im Unterschied etwa zu Ostelbien — die Herausbildung des Klassenantagonismus zwischen Agrarproletariat und Bauernschaft bereits sehr früh erheblich fortgeschritten war. So sehr dieser Vorgang einerseits der Entwicklung des eigenen proletarischen — und auf der Gegenseite natürlich auch des bäuerlichen — Klassenbewußtseins förderlich war, so sehr hat er andererseits bei den ökonomisch schwachen Landarbeitern doch auch das Gefühl erzeugt, innerhalb der ohnedies nun endgültig zerfallenen dörflichen Gemeinschaft jetzt völlig allein gelassen zu sein. Die Koalition mit der bäuerlichen Klasse, insbesondere mit den großen und mittleren Bauern, die ihrem Charakter nach eine antifeudale Allianz war und auch nur sein konnte, zerfiel in dem Moment, als sich die Bauern der feudalen Fesselung endgültig hatten entledigen können. Die immer wohlhabender werdenden Rübenbauern waren ihnen nun nicht nur keine Partner mehr, sondern sogar zu Gegnern geworden, die immer unverhohlener auf die Seite der Gutsbesitzer übertraten. Dieser Antagonismus — gleich dem zwischen Landarbeiterschaft und Junker — bestimmte auch das besondere Verhältnis zwischen betriebsintegriertem Agrarproletariat, speziell dem Gesinde, und den Unternehmern, das vor allem auch durch den Kampf der Mägde, Knechte, Enken Und Deputatlandarbeiter um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen gekennzeichnet war. In diesem „sozialen Krieg" (ENGELS)68 stand ebenfalls die Einzelaktion im Vordergrund. Zu den bevorzugten Mitteln, mit denen insbesondere das Gesinde sein Dienstverhältnis — teilweise mit Erfolg — erträglicher zu gestalten oder auch ab*« ENGELS, 1957 (1845): II, 479.

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zukürzen suchte, gehörte die bewußte, heimliche Schadensverursachung, die gezielte Provokation, mangelnde Disziplin, häufiger Wechsel der „Dienstherrschaften", das Abschließen nur kurzfristiger Verträge, der Kontraktbruch und — bei den Knechten — die Weigerung, nach abgeleisteter Militärpflicht in ein neues Gesindeverhältnis wieder einzutreten. Auf die Unterdrückungsmittel, mit denen die Unternehmer hierauf antworteten, ist bereits hingewiesen worden. Nach dem Scheitern der Revolution war mit den meisten der bisher gebräuchlich gewesenen Mittel, etwa der offenen Weigerung, des Aufruhrs oder des individuellen oder kollektiven Terrors, angesichts der nun völlig veränderten Kräfteverhältnisse nichts mehr auszurichten. Aber die jetzt rasch fortschreitende Industrialisierung mit ihrem großen Bedarf an Arbeitskräften erlaubte die verstärkte Anwendung einer Methode, die bisher nur eine von mehreren gewesen war: den Kontraktbruch oder — bei den freien Landarbeitern — das vorzeitige Verlassen der „Dienstherrschaften" (z. B. während der Ernte) bzw. die Drohung damit. Die wichtigste Maßregel, die von der Reaktion hiergegen ergriffen wurde, war bekanntlich die Verabschiedung des „Gesetzes, betr. die Verletzungen der Dienstpflichten des Gesindes und der ländlichen Arbeiter" (1854). Das läßt ahnen, wie beliebt und verbreitet diese besonders für die Phase der Konterrevolution charakteristische Kampfmethode beim preußischen Agrarproletariat gewesen sein muß. Den gewünschten Erfolg konnten die Unternehmer damit freilich nicht erzielen. Im Untersuchungsgebiet riefen sie deshalb nach zusätzlichen Maßnahmen. Selbst das Sozialistengesetz, das auch die Ahndung von Kontraktbrüchen erleichterte, verschaffte ihnen keine Befriedigung. So verblieb ihnen vorerst nur die Möglichkeit, ihre Arbeiter durch kleine Zugeständnisse an ihren Betrieb zu fesseln, die sie aber züm eigenen Vorteil mit anderen, die gewährten Vergünstigungen wieder einschränkenden oder gar aufhebenden Maßregeln mehr oder minder geschickt zu verbinden wußten. So stand etwa der Möglichkeit zu höherem Arbeitsverdienst die kräftezehrende Akkordarbeit gegenüber, der Gewährung einer Kartoffelkabel die Unmöglichkeit, Acker hinzupachten zu können, kleinen Verbesserungen in den unternehmereigenen Wohnungen die fesselnde Schriftlichkeit des Kontraktes usw. Im Dezember 1890 beschlossen die Unternehmer unter der philanthropisch klingenden Bezeichnung „Verband zur Besserung der ländlichen Arbeiterverhältnisse" sogar den Aufbau einer Organisation, um gegen die Kontraktbrüche erfolgreicher zu sein (die Gründung erfolgte im Frühjahr 1891). Das beste und zugleich profitabelste Mittel, den durch die Landflucht des einheimischen Agrarproletariats bewirkten Arbeitskräftemangel auszugleichen, fanden die hiesigen Unternehmer jedoch in der massenweisen Anwerbung von Saisonarbeitern. Mag dieser Schritt vielleicht hier und da auch den Kontraktbruch erleichtert haben, so hat er andererseits ohne Zweifel doch auch eine entscheidende Schwächung der Position der einheimischen Landarbeiterschaft zur Folge gehabt. Das Ringen des hiesigen Agrarproletariats während des untersuchten Zeitraumes war ausschließlich ein Klassenkampf auf ökonomischem Gebiet. Eine wirkliche und dauerhafte Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse konnte jedoch nur durch den Sturz des bestehenden Herrschaftssystems herbeigeführt werden. Ihre historische Aufgabe bestand deshalb darin, im Bündnis mit allen anderen Klassen und Schichten des werktätigen Volkes auf dieses Ziel hin die Auseinandersetzungen auf ökonomischem Gebiet mit dem politischen und ideologischen Kampf untrennbar zu verschmelzen.

CHRISTEL HEINRICH

Lebensweise und Kultur der in- und ausländischen landwirtschaftlichen Saisonarbeiter von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1918 Sozialökonomische Ursachen der landwirtschaftlichen Saisonarbeit Die historischen Ursachen für die Herausbildung der arbeitsintensiven Rübenwirtschaften in der Magdeburger Börde reichen bis in das 18. Jh. zurück. Dieser Prozeß, der durch die bürgerliche Agrarreformgesetzgebung zu Beginn des 19. Jh. — zunächst die westfälische, später die preußische — gefördert wurde, fand seinen Ausdruck in folgenden Erscheinungen: im Übergang von der Dreifelderwirtschaft zur Fruchtwechselwirtschaft; in einer Reduzierung der Brachfläche zugunsten des Rübenanbaues; in einer verbesserten Düngung und der Anwendung künstlicher Düngemittel; in einer Mechanisierung und Intensivierung der landwirtschaftlichen Arbeit. Seit 1850 begannen vornehmlich größere und mittlere Betriebe, verbesserte und Spezialpflüge für die Tiefkultur, Sämaschinen, Rübenkernlegemaschinen, Dreschmaschinen, Rübenschneider, Pferdehacken, Rübenheber sowie Mähmaschinen einzusetzen, und die Dampfkraft wurde für die Landwirtschaft nutzbar gemacht.1 Ungeachtet dieser Verbesserungen der Produktionsinstrumente erforderten jedoch die Pflege- und Erntearbeiten beim Rübenanbau (Intensivkultur) in zeitlich begrenzten Intervallen ein wachsendes Potential an menschlicher Arbeitskraft. Das bedeutete, daß sich der Saisoncharakter der landwirtschaftlichen Arbeit im Laufe der Entwicklung stärker ausprägte und daß sich der gesteigerte Bedarf an Lohnarbeit auf einige Perioden des Jahres konzentrierte. Aus diesem Grunde bestand bei den Grundbesitzern nur noch ein geringes Interesse an ganzjährlich kontraktlich gebundenen Arbeitern. Für ihre Zwecke schienen ihnen möglichst billige Saisonarbeitskräfte weitaus geeigneter. Eine andere Folge der raschen Entwicklung der Produktivkräfte bestand indessen darin, daß sich diejenigen sozialen Gruppen der Dorfbevölkerung, die zur Sicherung ihrer Existenz gänzlich oder teilweise auf Lohnarbeit angewiesen waren, vergrößert hatten. Da diesen Menschen infolge des zunehmenden, sich verstärkenden Saisoncharakters der Landarbeit in ihren Wohnorten jedoch im wesentlichen nur noch zu gewissen Zeiten des Jahres Verdienstmöglichkeiten geboten wurden, waren sie gezwungen, sich Arbeitsplätze zu suchen, die ihnen auf längere Dauer eine Existenzmöglichkeit in Aussicht stellten. Sie fanden sie besonders in der im 19. Jh. im Untersuchungsgebiet aufblühenden ländlichen und städtischen Industrie. Die Situation in der Magdeburger Börde im Zeichen wachsender Mobilität der Landbevölkerung kennzeichnen folgende Zahlen: In der Zeit von 1870 bis 1895 wuchs z. B. die Bevölkerung der Stadt Magdeburg um nicht weniger als 84,6 Prozent, Neuhaldenslebens um 80,2 Prozent und Schönebecks um 50,3 Prozent.2 Einen beträchtlichen Zuwachs hatten im gleichen Zeitraum die Randgemeinden Magdeburgs zu verzeichnen: z. B. Fermersleben 236,1 Prozent, Westerhüsen 121,9 Prozent, Groß Ottersleben 56,4 Prozent.3 1

PLAUL, 1978: 220. Für die Verhältnisse im 18. Jh. vgl. HARNISCH, 1978: 7 2 f f .

2

BANDOLY, 1 9 7 0 : 2 8 .

3

BANDOLY, 1 9 7 0 : 2 8 .

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Heinrich

Anziehungspunkte waren ferner die Industriegemeinden der Börde, deren Einwohnerzahlen sich ebenfalls zwischen 1870 und 1895 zum Teil wesentlich erhöhten. 4 Es gehört zu den Wesenszügen des Kapitalismus, daß sich der Prozeß der ökonomischen Entwicklung ungleichmäßig vollzog. So bildeten sich in der Landwirtschaft gleichzeitig Regionen mit einer hohen und andere mit einer niedrigeren ökonomischen Entwicklungsstufe heraus. Während in einigen Agrarbezirken wie z. B. in der Magdeburger Börde die Landwirtschaft intensiviert und^eine aufs engste mit dieser verbundene ländliche Industrie aufgebaut wurde, das Produktionsniveau eine beachtliche Höhe erreichte und der Arbeitskräftebedarf immer weniger aus der • einheimischen Dorfbevölkerung gedeckt werden konnte, blieben andere Regionen in ihrer ökonomischen Entwicklung zurück und bildeten ein Arbeitskräftereservoir für die hochentwickelten Bezirke. Diese Situation führte dazu, daß sich bereits in der ersten Hälfte des 19. Jh. die periodischen Wanderungen von Landarbeitern, die in ihren Heimatgebieten keinen ausreichenden Lebensunterhalt fanden, in jene Gebiete, in denen Mangel an Arbeitskräften bestand, verstärkten. So wurde die Provinz Sachsen, und speziell unser Untersuchungsgebiet, zu einem frühen Zentrum der Saisonarbeit. Diese Entwicklung fand auch darin ihren Ausdruck, daß sich für die Wanderarbeiter seither allgemein die Bezeichnung „Sachsengänger" durchsetzte. Im Jahre 1889 erhielt K A R L K A E R G E R vom preußischen Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten den Auftrag, die Ursachen, den Umfang und die Auswirkungen der alljährlich im Frühjahr stattfindenden Wanderungen zahlreicher Landarbeiter aus den preußischen Ostprovinzen in die westlich der Elbe gelegenen Rübenanbaugebiete zu untersuchen. 8 In Ausführung seines Auftrages stellte K A E R G E R zunächst Ermittlungen in den westelbischen Rübenwirtschaften an. Position für die sogenannten „Rübenwirte" beziehend, ,trat er nach Abschluß seiner Recherchen in ihrem Interesse Vorschlägen zur Verminderung oder Unterbindung der Arbeiterwanderungen ablehnend entgegen. 6 K A E R G E R hatte jedoch auch die Herkunftsgebiete der Saisonarbeiter, die Neumark, Hinterpommern, Westpreußen, Posen und Schlesien, bereist und bezeichnete es als eines der wichtigsten Ergebnisse seiner Forschungen, „daß die Mehrzahl der Abwanderer entweder in Folge des zu schlechten Bodens ihrer Heimath oder einer zu dichten Bevölkerung gar nicht in der Lage ist, in der Heimath ihr Brot zu verdienen, und daß auch gerade in den Gegenden mit der stärksten Abwanderung viel zu wenig Güter vorhanden sind, als daß die Abwanderer sämmtlich auf denselben beschäftigt werden könnten". 7 Aus diesem Grunde sei die Sachsengängerei auch eine Notwendigkeit für die Wanderarbeiter selbst. Die sozialökonomische Lage in den Abwanderungsgebieten kennzeichneten allgemein folgende Faktoren: karge Böden, ungünstiges Klima, Kleingrundbesitz, Realerbteilung, relativ dichte Bevölkerung im Verhältnis zu einer schmalen Existenzbasis, geringer Bedarf an Lohnarbeit und relativ niedrige Löhne in den vorhandenen landwirtschaftlichen Großbetrieben, fast gänzliches Fehlen einheimischer Gewerbe bzw. Industrie. 1

BANDOLY, 1 9 7 0 : 2 8 , 2 9 .

6

NICHTWEISS, 1 9 5 9 : 12.

6

KAERGER, 1 8 9 0 : 2 0 2 , 2 0 3 .

7

KAERGER, 1890: 205. KAERGER untersuchte eingehend die Situation der Landwirtschaft in den Herkunftsgebieten der Saisonarbeiter. Er publizierte detaillierte Angaben über die Lohnverhältnisse und versuchte, anhand von statistischen Ermittlungen den Zusammenhang zwischen der Höhe der durchschnittlichen Grundsteuer-Reinerträge einzelner Kreise und der Intensität der Abwanderung aufzuzeigen.

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So betrieben die zur Sicherung einer bescheidenen Existenzbasis auf Nebenerwerb angewiesenen Bewohner des Eichsfeldes zunächst Hausierhandel und Hausweberei, die mit wachsender Bedeutung der fabrikmäßigen Textilproduktion um 1830/40 im Konkurrenzkampf unterlag. Zur Sicherung des Lebensunterhaltes ihrer Familien begannen sie nun, in die benachbarte Börde zu wandern, wo sie in den zum arbeitsintensiven Rübenanbau übergehenden Landwirtschaften saisonweise Beschäftigung fanden. Die Besitzverhältnisse im Warthe- und Netzegebiet (Kreise Ost- und Weststernberg, Landsberg und Friedeberg) wurden durch die den umfassenden Eindeichungsmaßnahmen folgende Kolonisation zur Zeit FRIEDRICH II. bestimmt. Eine große Zahl der Anwesen umfaßte nur 5 Morgen Land und bot keine hinlängliche Existenzgrundlage für eine Familie. Die Schar der Landarmen erhöhte sich noch nach der ersten Erbteilung, und ein Teil der Nachkommenschaft bildete ein Einlieger-Proletariat, das lediglich in der Lage war, sich gegen Übernahme von Arbeitsverpflichtungen ein Stück Land zu pachten.8 Die Möglichkeiten zur Übernahme von Lohnarbeit in der Land- und Forstwirtschaft waren begrenzt. Deshalb begab sich ein Teil der Bewohner zur Saisonarbeit in die Rübenanbaugebiete, arbeitete in zwei oder drei Arbeitsperioden (Frühjahr, Sommer, Herbst) im Oderbruch oder als Schnitter in den westlichen Teilen der Mark Brandenburg, in Vorpommern, Mecklenburg oder Schleswig-Holstein. Andere fanden Beschäftigung als Torfstecher in Moorgebieten oder als Flößer.9 Ein weiteres, wenn auch unbedeutendes Abwanderungsgebiet bildete der Regierungsbezirk Köslin, Hinterpommern, dessen ökonomische Entwicklung durch ungünstige natürliche Bedingungen hinsichtlich des Klimas, der Bodenqualität, der Beschaffenheit des Geländes sowie durch eine unzureichende verkehrsmäßige Erschließung negativ beeinflußt worden war. Die Kinder der hier lebenden landarmen Bauern und Pächter waren wegen der geringen Bodenerträge gezwungen, durch Lohnarbeit zum Unterhalt der Familie beizutragen. Der Arbeitskräftebedarf der Güter Hinterpommerns blieb jedoch namentlich in Gegenden mit vielen Pächtern weit hinter dem vorhandenen Arbeitskräftepotential zurück. Hinzu kam, daß in den landwirtschaftlichen Großbetrieben infolge der begrenzten Rentabilität nur relativ niedrige Arbeitslöhne gezahlt wurden.10 Unterschiedlich groß, war der Anteil der Saisonarbeiter aus westpreußischen Gebieten. So entstammte der größte Teil von ihnen aus Gegenden mit kargen Böden, wesentlich kleiner war die Zahl aus mittelmäßig fruchtbaren Gebieten, und aus der ertragreichen Weichselniederung wanderten keine Arbeitskräfte ab.11 Als KAERGER im Jahre 1889 seine Untersuchungen in der Provinz Posen anstellte, wurde bereits in den fruchtbaren Regionen zwischen Warthe und Netze ein ausgedehnter Rübenanbau unter Hinzuziehung fremder Arbeitskräfte betrieben, während die Kreise mit unfruchtbarem Sandboden im Norden und im Südostteil der Provinz Abwanderungsgebiete waren und sich in den Rübenanbaugebieten im Bereich südlich der Warthe und nördlich der schlesischen Grenze ein Austausch von abwandernden einheimischen und zuwandernden auswärtigen Arbeitskräften vollzog.12 Als Hauptursache für die Wanderung aus Oberschlesien erachtete KAERGER neben den KAERGER, KAERGER, 1 0 KAERGER, U KAERGER, 1 2 KAERGER, 8

9

9

1890: 1890 : 1890: 1890: 1890:

AK, Landarbeiter II

80, 84. 87. 100-118. 126. 142.

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allgemein für die Abwanderungsgebiete — so auch für Schlesien — gültigen Faktoren die niedrigen Löhne in der Landwirtschaft. 13 In den Gebieten östlich der Gren2en des damaligen preußischen Staates, in den unter russischer und österreichischer Herrschaft stehenden Landesteilen Polens, geriet ein sich ständig vergrößernder Teil der ländlichen Bevölkerung unter ähnlich gelagerten sozialökonomischen Bedingungen ebenfalls in die Zwangslage, seine Arbeitskraft zur Erlangung des notwendigsten Lebensunterhaltes in der Fremde zu verkaufen. Allgemein wird in Untersuchungen, die sich mit den Migrationen befassen, festgestellt, daß der überwiegende Teil der Saisonarbeiter aus der Schicht der landarmen und landlosen Dorfbevölkerung stammte, deren vorhandene Existenzbasis zu schmal war, so daß sie zwar auf einen zusätzlichen Erwerb nicht verzichten konnten, sich jedoch zugleich durch ein Anwesen an ihren Wohnort gebunden fühlten. 14 In vielen Fällen waren die Saisonarbeiter bestrebt, durch die Arbeit in der Fremde die Mittel zur Vergrößerung ihres Land18

14

KAERGER, 1 8 9 0 : 165.

KAERGER, 1890:115—117, hat über die Frage der sozialen Herkunft der Saisonarbeitet Pommerns statistische Ermittlungen angestellt und zu diesem Zweck einerseits sämdiche Sachsengänger eines sächsischen Gutes und andererseits die Familien sowie die Schulzen der Heimatgemeinden einer Anzahl von Abwanderern befragt. Von 31 auf einem Vorwerk des Gutes beschäftigten Mädchen, die aus dem Grenzgebiet zwischen Pommern und Westpreußen stammten, „haben 9, unter welchen sich aber ein Geschwisterpaar befindet, kontraktlich gebundene Arbeiter zu Vätern, immerhin also eine ganz beträchtliche Anzahl, 5 von ihnen sind Gutstagelöhner, welche 2 bis 3 Morgen Land, Weide für 1 Kuh, Schafe und Gänse, freie Wohnung und Feuerung, etwas Roggen und Kartoffeln, ferner einen Tagelohn von 40 Pf. und den 14. Scheffel des Erdrusches erhalten. Nur einer von ihnen hat keine freie Wohnung, sondern wohnt als Einlieger bei einem Bauern gegen einen jährlichen Miethzins von 18 M, erhält dafür aber vom Gutsherrn etwas mehr, nämlich 4 Morgen Land zur Bewirtschaftung. Die übrigen sind Deputanten. Einer von ihnen, ein Schmied, erhält 120 M Baargeld, Wohnung und Feuerung, 4 Morgen Acker und Getreidedeputat (z. B. 24 Scheffel Roggen). Ein zweiter * ist Schäfer. Er mit seinem Sohn zusammen bezieht 150 M und dieselben Naturalien wie der übrigens auf demselben Gut in Rummelsburg beschäftigte Deputatschmied. Der dritte Deputant, Vater zweier Schwestern, ist Pferdeknecht im Kreise Bublitz, Amtsbezirk Kasimirhof. Er bekommt 105 M baar, 19 Scheffel Roggen und einige Scheffel anderes Getreide, IV2 Morgen Land und Weide, aber keine freie Wohnung und Feuerung. E r wohnt als Einlieger bei Bauern, denen er für Wohnung und Stallung 51 M jährlich zahlen muß. Die Väter von 5 Kindern sind freie, besitzlose Tagelöhner, welche als Einlieger gegen einen Zins von 36—52 M und Hülfeleistung bei den Erntearbeiten bei Bauern wohnen und die im Winter gewöhnlich 60 Pf., im Sommer 75 Pf. und in der Ernte 1 M verdienen. Elf Mädchen, unter denen sich jedoch ein Geschwisterpaar befindet, haben .Eigentümer' zu Vätern, von denen die meisten aber von ihrem eigenen Land nicht leben können, sondern auf die Güter oder zu den Bauern tagelöhnern gehen müssen. Im Einzelnen sind ihre Verhältnisse folgende: 1. Ein sogenannter ,Büdner', der ein eigenes Haus, ein Gärtchen und 2 Morgen Acker in der Gemeinde Bischofthum in Bublitz hat. Das Land wirft ihm aber so gut wie gar nichts ab, was leicht verständlich ist, wenn man erfährt, daß in Bischofthum der Grundsteuer-Reinertrag vom Acker auf 2,35 M pro Hektar geschätzt ist. Er arbeitet daher bei Bauern um 50 Pf. im Winter, 60 Pf. im Sommer, 1 M in der Erntezeit und die Kost. 2. Ein Büdner mit 4 Morgen Land in Groß-Wittfelde, Kreis Schlochau, einer Gemeinde, deren Grundsteuer-Reinertrag auf 1,96 M pro Hektar geschätzt ist.

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besitzes oder aber zur Abdeckung von Schuldenlasten zu erlangen. Bedeutend war der Anteil der Söhne und Töchter von Kleinbauern, Kolonisten und Häuslern, die mit ihren Lahngeldern ihren Familien zu helfen oder sich Ersparnisse für ihr späteres Leben zu erwerben suchten.15 3. Eigenthümer von 7 Morgen Acker, V2 Morgen Wiese, Vi Morgen Garten in Grumsdorf, Kreis Bublitz, (Grundsteuer-Reinertrag 6,27 M vom Hektar Acker, 8,62 M vom Hektar Wiese). Vater und Mutter tagelöhnern für 75 Pf. bezw. 50 Pf. im Sommer, mit 25 Pf. Aufschlag in der Erntezeit. 4. Eigenthümer von 14 Morgen in Schönberg, Kreis Schlochau, (Grundsteuer-Reinertrag 3,13 M vom Hektar Acker). 5. Eigenthümer von 15 Morgen in Neu-Kolziglow, Kreis Rummelsburg, (Grundsteuer-Reinertrag 7,05 M vom Hektar Acker). 6. War Eigenthümer; Mutter und Bruder, wirtschaften und tagelöhnern. Haben 18 Morgen Land in Baldenburg, Kreis Schlochau (1,96 M). 7. Vater zweier Schwestern, Eigenthümer von 20 Morgen Land in Stepen, Kreis Bublitz (2,74 M). 8. Eigenthümer von 23 Morgen in Baldenburg, Kreis Schlochau (1,96 M). 9. Eigenthümer von 25 Morgen in Biekhof, Kreis Rummelsburg (2,74 M). 10. Halbbauer. Eigenthümer von 84 Morgen in Stegen, Kreis Bublitz (2,74 M). Während alle vorher genannten Eigenthümer neben ihrer Beschäftigung auf dem eigenen Grund und Boden auch auf Tagelöhnerarbeit angewiesen sind, kann dieser vom eigenen Land leben. Die Tochter sagte selbst, sie hätte es nicht nöthig auf Arbeit zu gehen, allein sie hätte sich einmal die ,Welt ansehen' und zugleich etwas in die eigene Tasche sparen wollen. Die Väter der anderen 6 Mädchen, unter denen sich 3 Schwestern befinden, gehören der oben charakterisierten Klasse der Zeitpächter an. Ihre Verhältnisse sind im Einzelnen folgende: 1. Pächter von 13 Morgen in Althütte, gegen 90 M und 14 Tage Dienst. Muß tagelöhnern. Althütte gehört zum Gutsbezirk Sydow (3,92 M). 2. Pächter in Palkenhagen, Kreis Rummelsburg (2,74 M). In leidlichen Verhältnissen, braucht nicht zu tagelöhnern, die Kinder können ihre Ersparnisse zum Theil in die Sparkasse legen. 3. Pächter von 30 Morgen Acker und 15 Morgen Wiesen in.Groß-Volz, Kreis Rummelsburg (Acker 2,35, Wiese 4,70 M pro Hektar). Zahlt 150 M jährlich und leistet 50 Tage Dienst. 4. Pächter von 50 Morgen in Grumsdorf, Kreis Bublitz (Acker 6,27 M, Wiese 8,02 M pro Hektar), zahlt 135 M und thut 60 Tage Dienst. Fassen wir das Gesagte kurz zusammen. Die 31 Mädchen entstammen 28 Familien, von welchen 8 kontraktlich gebundene Gutsarbeiter, 5 landlose freie Tagelöhner-, 10 Eigenthümer- und 4 Pächter-Familien sind. Von den 20 Familien, die in keiner festeren Verbindung mit einem Gute stehen, sind aber nur 1 Eigenthümer und 3 Pächter-Familien im Stande, aus ihrem eigenen Grund und Boden ihren Lebensunterhalt sich zu verschaffen, und die Mehrzahl der übrigen ist bei einem Besitz von geringem Umfang und durchgehends schlechter, theilweise erbärmlicher Bodenbeschaffenheit sogar auf die Arbeit in fremden Diensten als die Hauptquelle ihres Einkommens angewiesen." 16 Hierauf wird noch einmal im Zusammenhang mit der Frage der Verwendung der Ersparnisse der Saisonarbeiter eingegangen werden. In seiner Untersuchung über die soziale Herkunft der in dänischen Rübenanbaugebieten tätigen polnischen Einwanderer kommt aber auch N e l l e MANN zu ähnlichen Ergebnissen :„By far the greatest number of immigrants were the children of smallholders (71%), agricultural workers (11%), and small village tradesmen or craftsmen (8%)." (Bei weitem der größte Teil der Einwanderer waren Kinder von Kleinsiedlern (71%), Landarbeitern (11%) und kleinen Dorfhändlern oder Handwerkern (8%).) Nellemann, 1967: 122. 9*

122

Heinrich

Die Saisonarbeiter sahen in der periodischen Wanderung eine Möglichkeit, ihre Lage etwas zu verbessern, ohne die Heimat für immer verlassen zu müssen. Diesen Bedürfnissen entsprach andererseits die "wachsende Nachfrage nach Saisonarbeitskräften in der Landwirtschaft, wo sich infolge des Einsatzes von Dreschmaschinen und der Intensivierung des Hackfruchtanbaues eine Konzentration der notwendigen Arbeitsleistungen auf eine begrenzte Zeit des Jahres vollzogen hatte. Die Wanderbewegung landwirtschaftlicher Arbeitskräfte Statistische Erhebungen über das Ausmaß der Wanderbewegung liegen erst aus der Zeit vor, als sich der Staat mit diesen Fragen zu befassen begann. Während LENGERKE 1849 in seiner Untersuchung über die ländliche Arbeiterfrage, der amtliche Berichte über die Verhältnisse der Landarbeiter in verschiedenen Teilen des preußischen Staates zugrunde lagen, feststellte, daß überall Mangel an Arbeitsgelegenheit herrschte, 16 waren in den Weizenanbaugebieten der Börde bereits in der Periode des reinen Körnerfruchtanbaues Wanderarbeiter aus dem Harz und der Altmark tätig. 17 Mit dem eigentlichen Beginn des Zuckerrübenanbaues zwischen 1830 und 1840 setzte zunächst die Wanderung von Arbeitern aus dem Eichsfeld ein, wo zu dieser Zeit die Möglichkeiten, in der Hausweberei eine Nebenerwerbsquelle zu finden, infolge der Konkurrenz der Textilindustrie schwanden. Als positive Folge der zunehmenden Mobilität und als Ausdruck wachsender Selbstsicherheit ist zu bewerten, daß die Eichsfelder im Laufe eines gewissen Zeitraumes von der Landwirtschaft in die industrielle Zuckerverarbeitung in der Provinz Sachsen, in Braunschweig und Hannover überwechselten, wo sie bereits seit 1867 nachgewiesen sind. Sie waren darüber hinaus als Bauhandwerker und Ziegeleiarbeiter vor allem im Rheinland und in Westfalen tätig. Viele Frauen und Mädchen fanden in der sich im Eichsfeld ansiedelnden Zigarrenindustrie Beschäftigung. 18 Die Arbeitsstellen in der Landwirtschaft der Provinz Sachsen nahmen indessen Bewohner des Warthe- und Netzebruches, die sogenannten „Landsberger", ein, die bereits seit geraumer Zeit bei Frühjahrs- und Erntearbeiten im Oderbruch den für ihren Lebensunterhalt notwendigen Nebenerwerb gefunden hatten. MARTIN LEZIUS, der während seiner längeren Tätigkeit in der Landwirtschaft in den östlich gelegenen Gebieten des deutschen Reiches Beobachtungen angestellt hat, erhielt einen Bericht aus dem Kreise Landsberg, in dem es hieß: „In den 1870er Jahren sammelte ein Mutiger soviel Leute er brauchte, machte sich zu ihrem Aufseher und zog mit ihnen auf die Güter. Die Gegend, zudem übervölkert, war arm, der gute Boden (fast nur Wiesen) erforderte wenig Zeit und Arbeit, der schlechte (nur Sand, meist sogar Flugsand) lohnte der Mühe nicht. Daher fanden sich sofort viele bereit, ihr Brot leichter zu verdienen und ihre Kräfte besser auszunutzen." 19 Wenn die Wanderarbeiter auch in der Börde keineswegs „ihr Brot leicht verdienen" konnten, so bot ihnen doch der Akkordlohn bei äußerstem Einsatz ihrer Kräfte die Möglichkeit, ihren Familien etwas mehr Geld nach Hause zu bringen. Inwieweit sich die Hoffnungen dieser Wanderarbeiter erfüllten, die ja stets bestrebt 14

LENGERKE, 1849.

17

BIELEFELDT, 1 9 1 0 : 5 9 ; HARNISCH, 1 9 7 8 : 1 7 — 1 1 0 , weist in seiner Untersuchung für das 18. Jh.

Saisonarbeiter aus dem Vogtland nach.

18 19

MOLLE, 1 9 2 5 : 96, 100, 125. LEZIUS, 1 9 1 3 : 24.

Lebensweise der Saisonarbeiter

123

waren, durch die Arbeit in der Fremde ihre Existenzgrundlage in ihrer Heimat zu verbessern, bezeugt ein Situationsbericht, den LEZIUS während seiner Studienreisen in den Jahren 1908 bis 1911 erhielt. Darin wird vermerkt, „daß, wer es nicht zum Aufseher gebracht oder sich eine kleine Wirtschaft gekauft habe, lieber abgewandert ist in die Städte, zu Erdarbeiten an Flüssen, Kanälen, Untergrundbahn Berlin, Ziegeleien usw."20 Allgemein wurde übereinstimmend von allen, die LEZIUS befragt hatte (Schnitter, Ärzte, Pfarrer, Gemeindevorsteher), zu dieser Zeit bereits über die Bevorzugung der „billigeren" Arbeitskräfte aus Russisch-Polen und Galizien durch die landwirtschaftlichen Unternehmer Klage geführt.21 Während KAERGER Z. B. im Jahre 1889 im Kreise Landsberg 97 Gemeinden, in denen Sachsengänger beheimatet waren, nachweisen konnte,22 waren es zu der Zeit, als LEZIUS das Gebiet bereiste, nur noch 27.23 Durch den Ausbau des Verkehrsnetzes wurde die Überwindung immer größerer Entfernungen zwischen Wohnorten und Arbeitsplätzen möglich. Der Staat unterstützte die Agrarier bei der Beschaffung der Arbeitskräfte, indem er im Jahre 1886 durch ministerielle Verfügung ihre verbilligte Beförderung auf der Eisenbahn einführte. Die Folge war eine ständige Ausdehnung des Einzugsbereiches der Saisonarbeiter, so daß die Wanderbewegung bald nicht nur die vier Grenzprovinzen Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien erfaßt hatte, sondern auch auf Gebiete jenseits der Grenzen des preußischen Staates übergriff. Ebenso wie im Eichsfeld und im Warthe- und Netzebruch bildete die Sachsengängerei aber auch in anderen Gegenden häufig nur ein Übergangsstadiüm zur Aufnahme der Arbeit in der Industrie und im Bergbau. So registrierte LEZIUS in der Provinz Posen im Untersuchungszeitraum (1908 bis 1911) zwei Kategorien von Arbeitern: „Die landwirtschaftlichen Saisonarbeiter sind meistens ledige männliche Personen von 14 bis 19 Jahren, ferner die Mädchen vom 14. Lebensjahre ab. Sie rekrutieren sich aus dem Häusler- und Kleinbauernstande, auch Kinder von besitzlosen Tagelöhnern sind in großer Zahl vertreten. Sie ziehen in den Schnitt, teils um ihre Eltern zu unterstützen, teils um sich eine kleine Summe für ihre Aussteuer zu erwerben. Die zweite Kategorie, die Industrie- und Bergarbeiter, setzt sich aus ledigen und verheirateten Männern vom 19. bis zum 40. Lebensjahr zusammen. Wohl alle haben vorher den Beruf eines Sachsengängers ausgeübt, in dem Augenblick aber, wo sie sich kräftig genug zur Industriearbeit fühlen, spätestens aber nach Ablauf ihrer Dienstpflicht bei der Armee, ziehen sie zur Berg- und Hüttenarbeit nach Rheinland-Westfalen. Die Ursache dieser Abkehr vom landwirtschaftlichen Beruf muß man ausschließlich in der dauernden Beschäftigung, weniger in der Zahlung höherer Löhne suchen. Dauernd beschäftigt ist es dem Polen als Industriearbeiter möglich, schneller sich eine Summe zum Ankauf eines Stückchens Landes zu ersparen."24 Sowohl der Landarbeiter als auch der Industriearbeiter und der Bergmann betrachteten die Tätigkeit in der Fremde als einen vorübergehenden Zustand von längerer oder kürzerer Dauer, nach dessen Ablauf sie die Mittel für eine hinlängliche Existenzgrundlage in der Heimat erlangt zu haben hofften.25 20 21 22 23 24 25

LEZIUS, 1 9 1 3 : 32. LEZIUS, 1 9 1 3 : 3 1 . KAERGER, 1 8 9 0 : 94. LEZIUS, 1 9 1 3 : 2 6 . LEZIUS, 1 9 1 3 : 4 2 . LEZIUS, 1 9 1 3 : 4 0 .

124

Heinrich

Die permanente Abwanderung von Arbeitskräften in Regionen mit einer höheren ökonomischen Entwicklungsstufe führte schließlich zu einem Arbeitskräftemangel in den Herkunftsgebieten der Wanderarbeiter, der durch den Übergang zur intensiven Landwirtschaft und die Ausbreitung des Zuckerrübenanbaues eine spürbare Steigerung erfuhr. In den Grenzkreisen der preußischen Ostprovinzen ging man bereits gegen Ende der siebziger Jahre zur Beschäftigung ausländisch-polnischer Arbeiter über.46 Von dieser Zeit an nahm der Zustrom aus Russisch-Polen von Jahr zu Jahr zu. Diese Entwicklung widersprach den Absichten, die BISMARCK mit seiner Germanisierungspolitik in den preußischen Ostprovinzen verfolgte und deren Ziel es war, die Wiedererrichtung eines polnischen Nationalstaates unter Einschluß jener von Preußen im 18. Jh. annektierten Gebiete zu verhindern. Deshalb setzte er als Ministerpräsident in den Jahren 1885 und 1886 eine Reihe polenfeindlicher gesetzlicher Maßnahmen durch, deren Kernstück das Ansiedlungsgesetz von 1886 bildete. Auf Grund der Gesetze erfolgte die Ausweisung Tausender Polen, die nicht die preußische Staatsangehörigkeit besaßen und meist Landarbeiter waren, und schließlich wurde ein generelles Verbot der Zuwanderung ausländisch-polnischer Arbeiter nach Preußen verhängt.27 Mit diesen Eingriffen geriet der preußische Staat in Widerspruch zu den ökonomischen Interessen des Junkertums, der dadurch, daß sich in den Ostprovinzen zur gleichen Zeit der Übergang zur intensiven Kultur und zum Hackfruchtanbau vollzog, verschärft wurde. BISMARCKS Nachfolger CAPRIVI mußte noch im gleichen Jahre seines Amtsantritts 1 8 9 0 dem Drängen nach Aufhebung der Verbote nachgeben. Die feindliche politische Haltung gegenüber den einwandernden Arbeitern aus den östlichen Nachbarstaaten spiegelt sich jedoch deutlich in den in der nachfolgenden Zeit erlassenen Verfügungen wider, durch die namentlich die polnischen Saisonarbeiter besonderen Zwangsmaßnahmen unterworfen wurden. So heißt es in einer Anweisung des Ministers des Innern an den Oberpräsidenten in Magdeburg vom 4. September 1899: „In dieser Hinsicht ist zunächst im Allgemeinen zu bemerken, daß nicht die (russische oder oesterreichische) Staatsangehörigkeit, sondern die polnische Sprache und Abstammung die Voraussetzung für die Behandlung der in Betracht kommenden Ausländer als Saisonarbeiter abzugeben haben. Ausländische Arbeiter, auf welche diese Merkmale nicht zutreffen, unterliegen zwar der allgemeinen Ausländerkontrolle und den allgemein polizeilichen Vorschriften, vor Allem auf dem Gebiete der Sanitäts- und der Wohnungspolizei, nicht aber den besonderen Bestimmungen über polnische Saisonarbeiter."28 Die Vorschriften sahen in erster Linie die strenge Einhaltung der vorgeschriebenen Aufenthaltsdauer vom 1. April bis 15. November vor, deren Verlängerung lediglich aus dringenden wirtschaftlichen Gründen erwirkt werden konnte.28" Diese Frist wurde auf Betreiben der Großgrundbesitzer im Jahre 1898 auf die Zeit vom 1. März bis 1. Dezember und im Jahre 1900 auf die Zeit vom 1. Februar bis 20. Dezember ausgedehnt. Weitere einschränkende Maßnahmen bezogen sich auf die Art der Beschäftigung, die in den vier preußischen Grenzprovinzen in landwirtschaftlichen Betrieben und deren Nebenbetrieben, in Hütten- und Bergwerken sowie in anderen industriellen Großbetrieben, in den übrigen Provinzen jedoch ausschließlich in landwirtschaftlichen Betrieben gestattet war. Vom Gesindedienst und vom Handwerk wurden polnische Arbeiter generell ausgeschlossen. 28

NICHTWEISS, 1 9 5 9 : 2 9 .

" Vgl. auch die Studie von: MAI, 1962. 28 STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 1948, vol. II: 5 8 - 6 1 .

281

Vgl. Anlage Nr. 38

Lebensweise der Saisonarbeiter

125

Die Beschäftigung polnischer Arbeiter bedurfte jeweils einer Genehmigung des Landrates. Die Ortspolizeibehörde mußte unterrichtet werden. Die Saisonarbeiter sollten in der Regel ledig sein. Die Zulassung von Familien konnte nur in den vier Grenzprovinzen mit Genehmigung des Regierungspräsidenten erfolgen. Die Zuwanderer mußten sich legitimieren, um ihre „Unverdächtigkeit" nachzuweisen. Die landwirtschaftlichen Unternehmer unterlagen der Verpflichtung, die ausländischen Arbeiter abgesondert von den anderen Arbeitern unterzubringen, wobei außerdem auf strenge Trennung der Geschlechter geachtet wurde. Sie mußten ihrer Meldepflicht bei der Ortspolizeibehörde nachkommen, die auch vom Verlassen der Arbeitsstelle zu verständigen war. Innerhalb von drei Tagen nach ihrer Ankunft mußten die Arbeiter auf Kosten des Unternehmers ärztlich untersucht und gegebenenfalls geimpft werden.29 ' Um dem wächsenden Einfluß der Arbeiterbewegung29" und der national-polnischen Agitation unter den Saisonarbeitern entgegenzuwirken, schuf sich der preußische Staat mit der „Deutschen Feldarbeiterzentralstelle" im Jahre 190530 ein Instrument, das dazu dienen sollte, „die ausländischen Arbeiter, vor allem die polnischen, unter ständiger Kontrolle zu halten, jeglichen Kontakt dieser Arbeiter mit Polen deutscher Staatsangehörigkeit und mit deutschen Arbeitern zu unterbinden, jede Bewegung der ausländischen Arbeiter gegen Willkür der Unternehmer und Übergriffe der Behörden im Keime zu ersticken, die Ausweisung .lästig' gewordener Ausländer zu beschleunigen und deren Wiederkehr nach Deutschland zu verhindern".31 Diese Feldarbeiterzentrale erhielt zur Ausübving ihrer Funktionen das Monopol auf die Inlandslegitimierung der ausländischen Arbeiter, der sich ab 1. Februar 1908 zunächst alle über die östliche und südöstliche Grenze einreisenden und ab 1. Februar 1909 sämtliche ausländischen Arbeiter zu unterziehen hatten.32 Die Legitimationskarten waren farblich abgestuft: für polnische Arbeiter waren sie rot, für ruthenische gelb, für italienische grün, für niederländische und belgische blau, für dänische, norwegische und schwedische braun, für alle übrigen weiß. Mit der Zwangslegitimierung bezweckte man zugleich, eine Form des Klassenkampfes, den Kontraktbruch, einzudämmen, mit dem sich die ausländischen Arbeiter gegen besonders diskriminierende Formen der Ausbeutung zur Wehr setzten. Die Ausweise sollten die Arbeiter möglichst bereits bei ihrem Grenzübertritt einem bestimmten Unternehmer für die Dauer ihres Aufenthaltes verpflichten. Das Arbeitsverhältnis konnte ohne die Rechtmäßigkeits-Bescheinigung der Ortspolizeibehörde nicht gelöst werden. Kontrollkarten in der gleichen Farbgebung wie die Legitimationskarten, die der Polizeibehörde und einer Zentralstelle in Berlin von der Grenzbehörde zugestellt wurden, sollten die Fahndung nach Personen ermöglichen, die versuchten, an einem anderen Ort einen Arbeitsplatz mit ihnen erträglicher erscheinenden Bedingungen zu finden. So gewährte der preußische Staat den Agrariern im sich ständig verschärfenden Konkurrenzkampf Unterstützung, indem er ihnen — zwar unter bestimmten Bedingungen — zu „billigen" Arbeitskräften verhalf. LENIN beurteilte das Wanderarbeiter-Problem im beginnenden 20. Jh. folgendermaßen: Gerade für den Imperialismus ist eine solche Ausbeutung der Arbeit schlechter bezahlter Arbeiter aus rückständigen Ländern besonders charakteristisch. Gerade darauf basiert bis 29

STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 1948, vol. II: 62-65.

30

NICHTWEISS, 1 9 5 9 : 9 6 , 9 7 .

31

NICHTWEISS, 1 9 5 9 : 1 2 9 .

3!

NICHTWEISS, 1 9 5 9 : 1 3 8 .

*»» Vgl. Anlage Nr. 28 '

126

Heinrich

in einem gewissen Grade der Parasitismus der reichen imperialistischen Länder, die auch einen Teil ihrer eigenen Arbeiter durch eine höhere Bezahlung bestechen, während sie gleichzeitig die Arbeit der ,billigen' ausländischen Arbeiter maßlos und schamlos ausbeuten. Die Worte .schlechter bezahlten' müßten hinzugefügt werden, ebenso wie die Worte: ,und oft rechtlosen', denn die Ausbeuter der zivilisierten' Länder machen sich immer den Umstand zunutze, daß die importierten ausländischen Arbeiter rechtlos sind." 93 Nachdem die Beschäftigung ausländischer Arbeiter gegen Ende des Jahres 1890 in den, vier Grenzprovinzen wieder zugelassen worden war, erfolgte im Jahre 1891 auch die Aufhebung des Verbots in den übrigen preußischen Provinzen. 84 Über die Auswirkungen dieser Maßnahme berichtete der Regierungspräsident zu Magdeburg an den Oberpräsidenten der Provinz Sachsen am 17. März 1894. Demzufolge stieg die Zahl der russisch-polnischen Arbeiter seit dem Jahre 1891 ständig an, und zwar bis zum Jahre 1893 von 690 auf 1600, von denen der größere Teil Frauen waren. Der Regierungspräsident gibt auch bereitwillig über den Grund Auskunft, der zu dieser Entwicklung führte: „Es ist unzweifelhaft, daß der Bedarf an Arbeitskräften an sich aus den Sachsengängern allein gedeckt werden könnte und auf die russischen Polen und Galizier nicht zurückgegriffen zu werden brauchte. Indessen ist die Zulassung der Letzteren einmal zur Förderung der hiesigen Landwirtschaft geboten, da sie wesentlich geringere Lohnforderungen stellen als die Ersteren und somit zu einer Verringerung der Produktionskosten beitragen, andrerseits erheischt es das Interesse der Landwirtschaft in den östlichen Provinzen, die Sachsengängerei möglichst einzuschränken, da diese Sitte dem Osten die erforderlichen Arbeitskräfte entzieht." 35 Wenn man sich selbst die billigsten Arbeitskräfte gesichert hat, so fällt es dann nicht schwer, großmütig auf diejenigen zu verzichten, die auf Grund ihres wachsenden Widerstandes nicht mehr so willfährige Objekte der Ausbeutung sind. Über den Anteil der Reichsangehörigen unter den im Jahre 1897 im Reg.-Bez. Magdeburg anwesenden polnisch sprechenden Arbeitern gibt eine Statistik aus den Akten des Regierungspräsidenten Auskunft. (Tabelle 1) Obwohl in diesen Angaben vermutlich nicht alle Personen erfaßt sind, die tatsächlich im Bezirk tätig waren, so wird doch der starke Anteil der Bördekreise sowie die zunehmende Zahl der ausländischen Arbeitskräfte deutlich. Aus einem vertraulichen Bericht des Regierungspräsidenten zu Magdeburg an den Oberpräsidenten der Provinz Sachsen vom 30. Juli 1898 ist zu entnehmen, in welchem Maße sich in den zum Gebiet der Magdeburger Börde gehörenden Kreisen binnen eines Jahres das Potential ausländisch-polnischer Arbeitskräfte vergrößerte. So wurden folgende vorübergehend zugelassene ausländisch-polnische Saisonarbeiter registriert: 36 im Kreise im Kreise im Kreise im Kreise und im Kreise 38

LENIN, 1961 (1917): X X V I , 155.

34

NICHTWEISS,

36 38

Calbe Neuhaidensieben Oschersleben Wanzleben Wolmirstedt

1959: 43—44. STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 1948, vol. I: 192-196. STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 3802, vol. II: 12-15.

241 1127 790 1383 221

Lebensweise der Saisonarbeiter

127

Tabelle 1 Polnische Arbeiter im Reg.-Be%. Magdeburg im Jahre 189737 Lfd. Nr. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 .10

Kreis

Stadtkreis Stadtkreis Landkreis Landkreis Landkreis Landkreis Landkreis Landkreis Landkreis Landkreis

Zahl der vorhand. poln. spr. Arbeiter

Magdeburg Halberstadt Aschersleben Calbe Halberstadt Neuhaidensieben Oschersleben Stendal Wanzleben Wolmirstedt

davon besitzen die Reichsangehörigkeit

17 95 1218 288 805 2357 1463 948 4284 1040

17 95 1029 281 621 1665 1230 676 3421 965

12515 ,

10000

Die Berichtszahlen sind allerdings mit gewissem Vorbehalt zu betrachten, weil den örtlichen Behörden angesichts der sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten bei ihren Registrierungsarbeiten Fehler unterliefen. So wurde z. B. die Zahl der in den Jahren 1901 und 1902 in den landwirtschaftlichen Betrieben des Kreises Neuhaidensleben beschäftigten Ausländer in den Kreisakten mit insgesamt 1393 bzw. 978 Personen beziffert,88 während in einer Anlage zu einem Bericht des Regierungspräsidenten zu Magdeburg an den Oberpräsidenten 2 1 5 9 für das Jahr 1 9 0 1 und 3 0 4 7 für das Jahr 1 9 0 2 angegeben werden.39 In der gleichen Statistik sind folgende Vergleichswerte für die anderen Bördekreise enthalten: Tabelle 2 Ausländische Arbeitskräfte in vier Kreisen des Reg.-Bez. in den Jahren 1901 und 1902™

Magdeburg 1902

1901 Kreis

aus Rußland

Wolmirstedt Wanzleben Calbe Oschersleben

560 1757 417 1285

aus Österreich

insgesamt

aus Rußland

aus Österreich

insgesamt

89 1137 223 729

649 2894 640 2014

543 1920 412 853

13 1193 319 894

556 3113 731 1747

Insgesamt waren nach dieser Statistik im Jahre 1 9 0 1 1 4 9 5 6 und im Jahre 1 9 0 2 1 4 7 8 1 ausländische Arbeiter in der Provinz Sachsen. Für den Zeitraum von 1 9 0 7 bis 1 9 1 4 ermittelte JOHANNES NICHTWEISS anhand der „Nachweisungen über den Zugang, Abgang und Bestand der ausländischen Arbeiter im preußi87 88 39 49

STAM, STAM, STAM, STAM,

Rep. Rep. Rep. Rep.

C 20 C 30 C 20 C 20

Ib, Nr. 1948, vol. I: 336. Neuhaidensieben, Nr. 8 5 4 - 8 5 8 . Ib, Nr. 1948, vol. III: 38. Ib, Nr. 1948, vol. III: 38.

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sehen Staate" im Deutschen Zentralarchiv Merseburg die Anzahl der ausländischen Landarbeiter in den einzelnen Provinzen Preußens. Die entsprechenden Zahlen für die Provinz Sachsen lauten folgendermaßen: Tabelle 3 Ausländische Arbeitskräfte in der Provinz Sachsen in den Jahren 1907 bis 1914*1 Jahr

Provinz Sachsen

Gesamtzahl der preußischen Provinzen

1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914

44752 50851 52750 54653 55219 54654 57292 63747

258354 308949 313569 338313 345989 355343 364633 383258

Damit nahm die Provinz Sachsen hinsichtlich der Zuwanderung ausländischer Landarbeiter den zweiten Rang hinter der Provinz Schlesien ein.41» Für das Jahr 1 9 1 3 konnte NICHTWEISS anhand desselben Quellenmaterials eine zahlenmäßige Aufschlüsselung der zugewanderten ausländischen Landarbeiter nach ihren Herkunftsgebieten vorlegen. Die Zahlen für die Provinz Sachsen lauten folgendermaßen: Tabelle 4 Herkunft der im Jabre 1913 in der Provinz Sachsen tätigen auswärtigen Landarbeiter42 aus Rußland

627 deutsche Landarbeiter 43623 polnische Landarbeiter 312 sonstige Landarbeiter

aus Österreich-Ungarn

313 7073 95 4494 648

aus Italien

deutsche Landarbeiter polnische Landarbeiter tschechische Landarbeiter ruthenische Landarbeiter sonstige Landarbeiter

2 Landarbeiter

aus den Niederlanden

11 Landarbeiter

aus Dänemark

2 Landarbeiter

aus sonstigen Ländern

92 Landarbeiter

insgesamt

57292 Landarbeiter

Diese Angaben weisen eindeutig aus, daß zu diesem Zeitpunkt der überwiegende Teil der Saisonarbeiter polnischer Nationalität war. 41

NICHTWEISS, 1 9 5 9 : 2 5 9 .

42

NICHTWEISS, 1959: Tabelle 4a und 4b, S. 2 6 0 - 2 6 1 .

41»

NICHTWEISS, 1 9 5 9 : 2 5 9 .

Lebensweise der Saisonarbeiter

129

Demographische Struktur der Saisonarbeiter Charakteristisch für die Saisonarbeit ist der hohe Anteil an weiblichen Arbeitskräften, auf die bereits KAERGER hinwies.43 Aus einer Tabelle, die S. BANDOLY auf Grund von Verzeichnissen der in den landwirtschaftlichen Betrieben des Kreises Neuhaidensieben beschäftigten Ausländer zusammenstellte, ergeben sich folgende Werte: TabelleS Zahl der Saisonarbeiter im Kreis Neubaldensleben44 Jahr

Gesamtzahl

davon weiblich

Prozent

1900 1901 1902 1903 1914

798 1393 978 998 1725

432 532 570 611 943

54,1 31,0 58,3 61,2 54,7

STEFAN SCHMIDT kam in seiner Untersuchung über die Wanderarbeiter in der Landwirtschaft der Provinz Sachsen im Jahre 1910 zu dem Ergebnis, daß bei den inländischen Wanderarbeitern 80,7 Prozent Frauen und 19,3 Prozent Männer beteiligt waren, während bei den ausländischen Arbeitern der Anteil der Frauen mit 62,4 Prozent und derjenige der Männer mit 37,6 Prozent anzusetzen sei.45 Da die Arbeiterinnen für die Verrichtung der gleichen Tätigkeiten geringere Löhne als ihre männlichen Kollegen erhielten, lag die Bevorzugung weiblicher Arbeitskräfte im Interesse der landwirtschaftlichen Unternehmer, die sie in den arbeitsintensiven Rübenwirtschaften so weit wie möglich bei den Pflege- und Erntearbeiten einsetzten. Hervorzuheben ist ferner die große Zahl junger Menschen unter den Saisonarbeitern. KAERGER kam bei seinen Erhebungen in der Provinz Sachsen zu dem Ergebnis, daß von 337 Frauen 48,3 Prozent und von 150 Männern 32 Prozent jünger als 20 Jahre waren. 33,9 Prozent der Frauen und 19,3 Prozent der Männer gehörten der Altersstufe zwischen 20 und 25 Jahren an.46 MARTIN LEZIUS ist der Frage nach dem Alter der Saisonarbeiter im Kreise Namslau in Schlesien nachgegangen, wo noch um 1910 Wanderungen von Landarbeitern stattfanden. Er stellte fest, daß fast ausschließlich junge Männer und Mädchen, nur wenige verheiratete Männer und kaum Ehefrauen beteiligt waren.47 Der hohe Anteil jugendlicher Arbeitskräfte kann auf verschiedenen Ursachen beruhen: einerseits wuchs mit zunehmendem Alter die Bindung an den Wohnort der Familie, andererseits gewannen die Arbeiter durch ihre Wanderungen Erfahrungen, die zu einer Stärkung ihres persönlichen Wert43 44 46

48

KAERGER, 1 8 9 0 : 43. BANDOLY, 1 9 7 3 : 1 8 , 1 9 . SCHMIDT, 1 9 1 1 : 1 3 5 .

KAERGER, 1890: 184—185. GEORGE NELLEMANN ermittelte bei Befragungen folgende prozen-

tuale Verteilung nach Altersgruppen: 56% waren bei ihrer Ankunft in Dänemark 16 bis 20Jahre alt, 24% älter als 20 Jahre und 20% unter 16 Jahren, darunter befanden sich auch . Kinder, die mit ihren Eltern mitgekommen waren. NELLEMANN, 1967: 123. 47

LEZIUS, 1 9 1 3 : 64.

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bewußtseins führten und sie bewogen, auch Tätigkeiten außerhalb der Landwirtschaft aufzunehmen. Nicht außer acht gelassen werden sollte jedoch ein Faktor, auf den bereits K A E R G E R hinweist, daß nämlich seitens der kapitalistischen Landwirtschaft mit zunehmender Intensivität und wachsendem Bedarf an Arbeitskräften „desto ausgeprägter das Bestreben hervortritt, nur jugendkräftige Arbeiter einzustellen. Und das ist wirthschaftlich durchaus erklärlich." So meint K A E R G E R . „Denn der Landwirth muß darauf sehen, daß je größer die von ihm für die fremden Arbeiter aufgewandten Kosten werden, desto größer die Fähigkeit der einzelnen Arbeiter werde, in derselben Zeit eine möglichst große Arbeitsleistung hervorzubringen." 48 Dieser Begründung kann man jedoch nicht zustimmen; denn es sind keineswegs die steigenden Kosten, die für den fremden Arbeiter aufgewandt werden müssen, sondern vielmehr der sich'verschärfende Konkurrenzkampf und wachsendes Profitstreben, die den Unternehmer begierig machen, aus den Arbeitern möglichst hohe Leistungen herauszupressen. Und zu dieser intensivierten Ausbeutung eignen sich am besten junge, unverbrauchte Kräfte. Hinsichtlich der ausländischen Saisonarbeiter stimmten in jenem Punkt die Interessen der großen Agrarier grundsätzlich mit denen des Staates überein, der mit dem Ausschluß verheirateter Personen eine seiner Maßnahmen gegen das Seßhaftwerden der Ausländer getroffen hatte. Den ausländischen Arbeitern gelang es dennoch, diese Vorschrift zu umgehen, indem die Ehepaare getrennt die Grenze passierten und in verschiedenen, nicht weit voneinander entfernten Wirtschaften die Arbeit aufnahmen oder indem die Frauen ihre Legitimationspapiere auf ihren Geburtsnamen ausstellen ließen.49 Oftmals waren Ehepaare die Vertrauensperson einer Gruppe von Saisonarbeitern, deren Obhut sich namentlich jüngere Mädchen auf der Reise und in der fremden Umgebung anvertrauten. Deshalb konnte durch die Zurückweisung von Ehepaaren zuweilen die ausreichende Beschaffung der notwendigen Arbeitskräfte in Frage gestellt werden. So wies der Regierungspräsident von Magdeburg am 27. Juni 1900 den Oberpräsidenten darauf hin, daß durch den Ausschluß der Ehepaare die Zahl der verfügbaren ausländischen Arbeiter nicht unbedeutend verringert werden würde. Er plädierte deshalb sogar für die Beschäftigung ausländisch-polnischer Familien, jedoch ohne schulpflichtige Kinder. 90 In Fällen, wo Ehepaaren der Schritt über die Grenze gelungen war und sie später von den Behörden aus dem Arbeitsort ausgewiesen wurden, kam es vor, daß sich die ganze Gruppe mit ihnen solidarisch erklärte. Die Landwirtschaftskammer für die Provinz Sachsen berichtete am 19. Juni 1900 dem Regierungspräsidenten zu Magdeburg über ein derartiges Vorkommnis. „Im Frühjahr dieses Jahres wandte sich der Gutsbesitzer Mittag zu Borne, Kreis Calbe, an das Königliche Landrathsamt zu Calbe mit dem Ersuchen, ihm für eine Reihe von ausländischen Arbeitern die polizeiliche Aufenthaltserlaubnis zu ertheilen. Unter diesen Arbeitern befand sich auch ein Ehepaar mit einem Kinde. Das Königliche Landrathsamt versagte unter Hinweis auf die hierfür gültigen Bestimmungen diesem Ehepaare die Aufenthaltserlaubnis. Herr Mittag, welcher besorgte, daß bei einer Trennung auch seine übrigen Arbeiter die Arbeitsstätte verlassen würden, ersuchte uns um eine Vermitte« KAERGER, 1 8 9 0 : 1 8 6 .

» S T A M , Rep. C 20 Ib, Nr. 1948, vol. III: 154 (Schreiben des Oberpräsidiums der Provinz Magdeburg an den Minister des Innern zu Berlin vom 4. September 1905). 50 STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 1948, vol. II: 139/140. Als Argument für die Zurückweisung von Familien mit Kindern führte man Unterbringungsschwierigkeiten an. In Wirklichkeit war dies nur ein Vorwand, hinter dem sich Maßnahmen der Germanisierungspolitik und die Weigerung, Verpflichtungen einer schulischen Betreuung der Kinder zu übernehmen, verbargen.

Lebensweise der Saisonarbeiter

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lung in dieser Angelegenheit ... Wir ersuchten daher das Königliche Landrathsamt, ausnahmsweise den Aufenthalt des Ehepaares in dem Mittag'schen Dienste zu gestatten. Das Königliche Landrathsamt lehnte es indessen wiederholt ab, unserem Ersuchen stattzugeben, indem es sich darauf berief, daß die betreffenden Vorschriften zwingender Natur seien„und ein Abweichen von denselben nicht in seiner Befugnis liege. Das Ehepaar wurde also ausgewiesen, und der Erfolg war, daß wenige Tage darauf sämmtliche russische Arbeiter bei Herrn Mittag die Arbeitsstätte verlassen hatten .. ."51 Das Beispiel zeigt, wie sich die ausländischen Arbeiter bereits zu dieser Zeit im Kampf gegen Unrecht und Willkür zu wirksamen Aktionen zusammenfanden. In der nachfolgenden Zeit scheinen die Bestimmungen über die Zulassung von Ehepaaren gelockert worden zu sein, und zwar mit der Absicht, den mittleren und kleineren landwirtschaftlichen Betrieben, die im Konkurrenzkampf um die „billigen" Arbeitskräfte unterlagen, eine Möglichkeit zu bieten, ihren geringeren„ Bedarf an fremder Arbeitskraft durch die Beschäftigung von Eheleuten zu decken. In der Regel zogen es die ausländischen Arbeiter nämlich vor, sich in größeren Gruppen zu verdingen.52 Gleichzeitig erhoffte man sich zudem einen guten Einfluß der Ehepaare auf die ledigen Saisonarbeiter, denn die Verheirateten wurden nicht nur als die tüchtigsten, sondern auch als die willigsten Arbeitskräfte gepriesen, weil sie am wenigsten zum Vertragsbruch neigten.58

Zur Lebensweise der Saisonarbeiter Die Saisonarbeiter im landwirtschaftlichen

Produktionsprozeß

Die Anwerbung der Wanderarbeiter oblag bereits gegen 1890, als KAERGER seine Untersuchungen durchführte, in der Regel den Aufsehern der Gutsbetriebe, die meist selbst ehemalige Sachsengänger waren. Sie warben in ihrer Heimat die von ihren Auftraggebern benötigten Leute an. Die Aufseher-Agenten aus dem Warthe- und Netzebruch wandten sich bei ihren Werbeaktionen in östlicher gelegene Gebiete. Wie bereits aus der Berufsbezeichnung dieses Personenkreises hervorgeht, warben sie nicht nur die Arbeitskräfte an, sondern begleiteten sie während ihrer Reise zu den Arbeitsorten und beaufsichtigten sie dort. War der landwirtschaftliche Unternehmer mit ihrer Tätigkeit zufrieden, so hatten sie die Aussicht, im folgenden Jahr wieder mit der gleichen Aufgabe betraut zu werden. Einen endgültigen Auftrag erhielten sie jedoch erst im Januar, wenn die landwirtschaftlichen Betriebe einen genauen Überblick über die in den kommenden Monaten zu leistenden Arbeiten und die dazu benötigten Arbeitskräfte hatten. Bei diesem Verfahren handelt es sich vermutlich um eine Organisationsform, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet hat. Älter scheint die Suche nach einem Arbeitsplatz und der Abschluß eines Arbeitsverhältnisses ohne vorhergegangene Anwerbung zu sein, die KAERGER nur noch in Ausnahmefällen und vornehmlich bei Männern begegneten. In einigen landwirtschaftlichen Betrieben wurden auch Mädchen, " STAM, Rep. C 20 I b, Nr. 1948, vol. II: 141 - 1 4 3 . 82 STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 1948, vol. V : 263—265 (Schreiben der Landwirtschaftskammer für die Provinz Sachsen an den Oberpräsidenten der Provinz Sachsen vom 23. Juni 1909). 53 STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 1948, vol. IV: 2 7 0 - 2 7 1 .

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die bereits mehrere Jahre beschäftigt worden waren, bei ihrer Rückkehr in die Heimat bereits für das nächste Jahr verpflichtet. Zur Bekräftigung des Kontraktes wurde ihnen ein Dingegeld ausgehändigt.64 K A R L KAERGER berichtet in seinem Buch sehr anschaulich über den Ablauf einer Werbeaktion und bietet einen Einblick in die von den Agenten angewandten Methoden. Obwohl er die Haltung der Arbeiter von seinem Standpunkt aus falsch einschätzte, soll die Schilderung dennoch wörtlich wiedergegeben werden. „Der Aufseher erhält sodann den Kontrakt übersandt und geht nunmehr daran, die ihm vorgeschriebene Anzahl von Männern, Mädchen und Burschen anzuwerben. Mit dem Kontrakt in der Tasche zieht er von Ort zu Ort; wo er hinkommt weiß es bald die ganze Gegend, daß er da und da in dem und dem Wirthshaus sein Quartier aufgeschlagen hat. Gutwillige Ortsschulzen sorgen wohl von Amtswegen dafür, daß seine Ankunft öffentlich bekannt werde. Nun strömt dann die arbeitshungrige Gesellschaft herbei, um sich beim Glase Bier zunächst des Ausführlichen über die Arbeitsverhältnisse im Westen zu unterhalten, ihre wirklichen und angeblichen Erfahrungen auszutauschen, nach alter deutscher Sitte Stein und Bein zu klagen über schlechten Lohn und schlechte Behandlung und sich so in die rechte Stimmung zu versetzen, mit einer gewissen Überlegenheit die Offerte des Werbers entgegen zu nehmen, den ,Mann an sich herankommen zu lassen'. Nun endlich naht sich der feierliche Moment des Vorlesens des künftigen Kontraktes mit dem Arbeitgeber, für den der Agent wirkt. Die immer wiederkehrenden Bestimmungen über Dauer der Arbeit, Länge des Arbeitstages, Preise, Verhalten der Leute gegen den Herrn und anderes mehr werden mit Stillschweigen entgegengenommen. Doch das ist nur die unheimliche Stille vor dem Sturm. Denn kaum hat der Agent begonnen, die einzelnen Lohnsätze abzulesen, so bricht dieser los. ,Zu solchen Sätzen werden wir doch nicht auf Arbeit gehen. Da haben wir ja da und da das Doppelte bekommen. Da bleibe ich doch lieber zu Hause, ehe ich wegen solcher Lumperei in die Welt gehe. Dabei kann Einer ja sein Bissel Leben nicht verdienen.' So tobt und schreit das durch einander, bis es endlich der Stimme des Agenten gelingt, die Oberhand zu gewinnen. Jetzt hat der Mann Gelegenheit, seine Geschicklichkeit zu zeigen. Er sei ja selbst Arbeiter gewesen, er wisse, was es heißt, sich für einen Hungerlohn abzuquälen, aber das müsse er doch gestehen, bei den Löhnen, wie sie hier vorgeschlagen seien, dabei könne einer sehr gut bestehen. So, nun hat er Boden gewonnen, denn nichts verfängt bei dem Mann aus dem Volke mehr, als die Versicherung, man wäre in der gleichen Lage, wie er selbst gewesen. Mit rascher Ausbeutung dieser Lage wendet er sich nun an einen ihm als ruhig und überlegt bekannten Mann oder an ein solches Mädchen direkt. Sie sollten doch einmal sagen, wieviel sie am Tage hacken oder mähen oder roden könnten, und ob sie denn bei dem angesetzten Akkordlohn nicht auf einen hohen, ja einen enorm hohen Tagelohn kämen. ,Ja aber wenn der Boden so schwer ist, daß man sich abrackern müsse, eine Rübe herauszubekommen, oder so naß, daß man im Dreck bis über die Kniee waten müsse, oder so hart, daß kein Mensch mit der Hacke vorwärts käme!' Nun ist es an dem Agenten, die Leute über alle solche und ähnliche Bedenken zu beruhigen, indem er das Gut, für das er wirbt, mit den vorzüglichsten Eigenschaften ausgestattet schildert, die sich nur denken lassen. Ist nun einer oder der andere in der Versammlung, der schon dort gearbeitet hat, und sind die Verhältnisse einigermaßen normal, so hat er leichtes Spiel. Er solle doch selbst sagen, so apostrophirt er seinen glücklichen herausgefundenen, wenn 64

KAERGER, 1 8 9 0 : 37.

Lebensweise der Saisonarbeiter

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nicht extra zu diesem Zweck gegen baare Vergütung hinbestellten Gewährsmann, daß man es .nicht besser haben könne, wie dort. Fällt seine Antwort einigermaßen zustimmend aus, so hat der Agent schon die Hälfte der Leute auf seiner Seite. Nun erst geht er auf die ärgsten Schreier los. Sie sollten doch einmal sagen, wieviel sie denn verdient hätten, und wo denn das eigentlich gewesen sei. Natürlich werfen die Großmäuler dann mit den übertriebensten Summen umher, fordern damit aber die Kritik ihrer Standesgenossen heraus, werden womöglich ausgelacht, und der Agent hat gewonnen Spiel, und hat er erst Einen soweit gebracht, seinen Namen unter das Schriftstück zu setzen, so dauert es nicht lange, und sie haben Alle unterschrieben." 55 Für den Erfolg von Werbeaktionen war es von großer Bedeutung, ob der Werbende der Bevölkerung bereits bekannt war und ihr Vertrauen genoß. Deshalb arbeiteten die Aufseher-Agenten, die in der Provinz Sachsen ansässig waren, auch oft mit Mittelsmännern in den Abwanderungsgebieten zusammen. Je weiter die Herkunftsgebiete der Saisonarbeiter von den Arbeitsorten entfernt waren, um so notwendiger wurde die Einschaltung dieser Vermittler. Es handelte sich um Männer oder Frauen, die in den Heimatdörfern der Arbeiter bekannt waren und gegebenenfalls ihren Einfluß geltend machten, um z. B. bei den Eltern junger Menschen gewisse Bedenken gegen die Wanderung in die unbekannte Fremde zu zerstreuen. Den Aufsehern der größeren Betriebe wurde im Laufe der Zeit auch die Beschaffung der Arbeitskräfte für andere Bauern mit übertragen. So wird von einem Aufseher und Hofmeister M A N T H E Y berichtet, der auf der verpachteten Domäne Tundersieben tätig war und für die Gutsbesitzer und Bauern der näheren und weiteren Umgebung Arbeitskräfte beschaffte. Er beherrschte die polnische Sprache und reiste in der Winterzeit nach Polen, wo er gemeinsam mit seinen Gewährsleuten — polnischen Vorarbeitern —, die er für ihre Tätigkeit bezahlte, die Werbung durchführte.66 Für die Anwerbung der Arbeitskräfte setzten die landwirtschaftlichen Unternehmer Prämien aus. Nach den Ermittlungen K A E R G E R S erhielten die Aufseher pro Person bis zu 3,00 Mark, die Vermittler bis zu 1,00 Mark. 57 Die Auszahlung des Werbegeldes erfolgte jedoch in der Regel erst dann, wenn die Angeworbenen bis zur Beendigung der Saison an ihrem Arbeitsplatz geblieben waren. Auf diese Weise wurden die Aufseher gezwungen, dafür Sorge zu tragen, daß sich ihre Arbeiter nicht der rücksichtslosen Ausbeutung durch die Flucht zu entziehen versuchten. Es war aber auch zuweilen üblich, daß die Angeworbenen eine Gebühr an den Werber zu zahlen hatten, deren Höhe sich jeweils nach den Relationen zwischen der Anzahl der Arbeitsuchenden und dem Angebot an Arbeitsmöglichkeiten richtete. K A E R G E R ermittelte Beträge zwischen 0,50 und 3,00 Mark. 58 Aus der Zeit des Feudalismus mag eine Erscheinung stammen, die K A E R G E R vornehmlich bei der Anwerbung von Arbeitskräften für das Gebiet Hannover und Braunschweig feststellte. Hier war es üblich, daß die Landwirte den Angeworbenen ein Werbegeld in Höhe von 0,50 bis 1,00 Mark zahlten. Mit der Annahme dieses Geldes sollte die Bindung des Arbeiters an den Kontrakt besiegelt werden. 59 " KAERGER, 1 8 9 0 : 3 0 - 3 1 . M

Fragebogenmaterial Haldensleben, Frageliste Nr. IV/9; Fragebogenmaterial Nordgermersleben, Frageliste Nr. IV/9.

57

KAERGER, 1 8 9 0 : 32.

58

KAERGER, 1 8 9 0 : 32. KAERGER, 1 8 9 0 : 32.

89

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Heiniich

Die „Kopfgelder" waren wesentlich niedriger, wenn die von K A E R G E R an zweiter Stelle erwähnte Form der Anwerbung üblich war. In diesen Fällen wurde zwischen dem Landwirt und einem Saisonarbeiter verabredet, daß dieser im folgenden Jahr mit einer bestimmten Anzahl von ihm angeworbener Arbeitskräfte wiederkommen sollte. Das nötige Reisegeld wurde dem verantwortlichen Arbeiter rechtzeitig übermittelt.60 Diese Art der Vermittlung war vermutlich mehr in den mittleren und kleineren Betrieben verbreitet, in denen die Bauern ohne Einschaltung von Mittelsmännern direkt mit den Arbeitern Vereinbarungen trafen. Als die Wanderbewegung auch auf Gebiete jenseits der Grenze des Deutschen Reiches übergriff, ließen sich überall in den Grenzorten Agenten nieder, die aus der Arbeitskräftevermittlung Kapital zu schlagen versuchten. Obwohl in Russisch-Polen nur den Bewohnern innerhalb eines fünf Meilen breiten Grenzstreifens erlaubt war, vorübergehend die Arbeit in Deutschland aufzunehmen, verstanden es auch Menschen entfernter gelegener Gebiete, sich die erforderlichen Paßunterlagen zu beschaffen. Die Agenten in den Orten jenseits der Grenze nutzten-die Notlage der Ausländer, deren schmales Reisegeld sehr bald verbraucht war, um ihnen die Unterschrift unter schlechte vertragliche Vereinbarungen abzuzwingen. Analphabetentum und Verständigungsschwierigkeiten begünstigten die betrügerischen Absichten. G E O R G E N E L L E M A N N wies in seiner Untersuchung auf das unterschiedliche Bildungsniveau der unter österreichischer und der unter russischer Verwaltung lebenden Polen hin: „There are clear differences between the Russian Poles and the Austrian Poles as far as education and training are concerned. Of the immigrants from the Austrian area 51% went so school for five years or more, and 20% had never gone to school. From the Russian area the figures are 53% with no schooling and 7% with five years or more. Only 32 of 710 had begun or completed a training outside agriculture — all 32 in ordinary trades." (Es gibt deutliche Unterschiede hinsichtlich der Bildung und Ausbildung von Polen russischer und Polen österreichischer Staatsangehörigkeit. Von den Einwanderern aus dem österreichischen Gebiet besuchten 51% fünf Jahre und länger die Schule und 20% sind nie zur Schule gegangen. Für das russische Gebiet belaufen sich die Zahlen auf 53% ohne und 7% mit fünf- und mehrjähriger Schulausbildung. Nur 32 von 710 hatten eine Ausbildung außerhalb des Bereiches der Landwirtschaft begonnen oder abgeschlossen — alle 32 in herkömmlichen Gewerben.)61 Zwischen den Vermittlern an der Grenze und den landwirtschaftlichen Unternehmern bestanden Vereinbarungen, nach denen gegen eine Gebühr die gewünschte Zahl von Arbeitern und Arbeiterinnen angeworben und kontraktlich verpflichtet wurde. Den Aufsehern der landwirtschaftlichen Betriebe fiel dann die Aufgabe zu, den Transport der Arbeiter von den Grenzorten an die Arbeitsplätze zu organisieren.62 Im Jahre 1905 wurde die Vermittlungstätigkeit wohl offiziell der Deutschen Feldarbeiterzentralstelle übertragen, aber es gab weiterhin auch private (d. h. illegale) Vermittlungen. 60

Fragebogenmaterial Kleinmühlingen, Frageliste Nr. IV/9.

81

NELLEMANN, 1 9 6 7 : 1 2 2 , 1 2 3 .

,2

Die Funktion der Agenten im Grenzgebiet sowie die Aufgaben und die Tätigkeit der Feldarbeiterzentrale hat JOHANNES NICHTWEISS in seiner Arbeit über die ausländischen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches ausführlich behandelt. Uber die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte für die Firma Lömpcke, Domersleben, liegt ein ausführlicher Bericht vor: Fragebogenmaterial Domersleben, Frageliste Nr. IV/9.

Lebensweise der Saisonarbeiter

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Mit den Saisonarbeitern wurden nach erfolgreicher Werbung Arbeitskontrakte abgeschlossen, die von den Schreibunkundigen mit drei Kreuzen unterzeichnet wurden. Anläßlich des Vertragsabschlusses fand oft ein kleiner Umtrunk statt. Als Kontrahent der Landwirte konnte auch ein Vorarbeiter auftreten, der den Vertrag im Namen einer Gruppe von Arbeitern unterschrieb.63 Die über die Grenze einwandernden ausländischen Arbeiter wurden von den Werbeagenten an den Grenzorten auf Grund der schriftlich niedergelegten Anforderungen der landwirtschaftlichen Unternehmer kontraktlich verpflichtet. Die Arbeitsverträge enthielten Vereinbarungen über den Termin des Arbeitsbeginns, gegebenenfalls über die personelle Zusammensetzung der Gruppe und die Verantwortung des Vorarbeiters für die Arbeitsleistung seiner Leute. Sie legten die Höhe der Tage- und Akkordlohnsätze sowie gewisse Beschränkungen der Möglichkeiten zur Akkordarbeit fest. Durch sie konnten die Vertragspartner zur Übernahme aller vorkommenden landwirtschaftlichen Arbeiten verpflichtet werden. Bezüglich der Dauer der täglichen Arbeitszeit wurden — soweit es möglich war — keine konkreten Abmachungen getroffen. Der entsprechende Passus in dem v o n KUNO FRANKENSTEIN veröffentlichten Arbeitsvertrag

lautet: „Die Arbeitszeit außerhalb der Ernteperiode ist von morgens 5 Uhr bis abends 7 Uhr." 63a KAERGER spricht davon, daß dieser Zeitraum allgemein in den westlichen Gegenden üblich war. Hingegen empfahl der Regierungspräsident am 9. Februar 1906, also etwa 16 bis 17 Jahre später, dem Oberpräsidenten zu Magdeburg, den Unternehmern die Möglichkeiten einer hemmungslosen Ausbeutung namentlich der russischen Arbeiter zu bieten. „... Des weiteren erscheint es besonders wichtig, daß daran festgehalten wird, daß in den Verträgen mit den russischen Arbeitern und in den Ausweisen der Stellenvermittler über den geschlossenen Vertrag wegen der Art der Arbeit und der täglichen Arbeitszeit keine speziellen Bestimmungen aufgenommen werden brauchen; daß es vielmehr, wie in Aussicht genommen, genügt, wenn ,auf die in landwirtschaftlichen Betrieben üblichen Arbeiten' und auf die ,ortsübliche Arbeitszeit' verwiesen wird." 64 Neben den Vereinbarungen über den Geldlohn enthalten die Arbeitsverträge Angaben über Naturalleistungen wie freies Wohnen, Lieferung von Brennmaterial und Lebensmitteln sowie über die Erstattung der Reisekosten. Die Kontrakte dienten aber auch vornehmlich dem Ziel, die Arbeiter aller Rechte zu berauben, um sie so vollkommen der Willkür ihrer Ausbeuter zu unterwerfen. So konnte derjenige ohne Auszahlung seines Lohnes entlassen werden, der sich nicht bedingungslos den Anordnungen des Agrariers oder seiner Beauftragten fügte. Die „zu Recht" erfolgte Entlassung des Arbeiters wurde dem rechtswidrigen Bruch des Arbeitsverhältnisses gleichgesetzt. (Vgl. Anlage Nr. 34) Bei Arbeitsversäumnis oder Arbeitsverweigerung, Widersetzlichkeit, übermäßigem Alkoholgenuß, „liederlichem" Lebenswandel und Verstößen gegen die Hausordnung der Schnitterkaserne wurde die Verhängung von Konventionalstrafen angedroht. Gegen das wirksamste Mittel, das die Landarbeiter im damaligen Stadium der Klassenauseinandersetzungen anwandten, um sich der Ausbeutung zu erwehren — den Wechsel des Arbeitsplatzes —, richteten sich die Bestimmungen über die Einbehaltung von Kautionen, die in Raten vom Lohn abgezogen wurden und erst zum Termin der Heimreise 63 63A

64

10

Muster eines derartigen Vertrages siehe bei: FRANKENSTEIN, 1893: 239—241. FRANKENSTEIN, 1 8 9 3 : 2 4 0 . .

STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 1948, vol. III: 206. AK,

Landarbeiter II

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zur Auszahlung kamen. Diese Zwangsmaßnahme erwies sich jedoch in zahlreichen Fällen als wirkungslos. Die Arbeiter zogen es vor, auf den ausstehenden Lohn zu verzichten und verließen die Orte, wo die Ausbeutung die Grenze des Erträglichen überschritt. Der immer wieder auftretende Arbeitskräftemangel, durch den sich der Konkurrenzkampf um die „billigen" Kräfte verschärfte, half den „Kontraktbrüchigen", bald wieder einen anderen Brotherrn zu finden. Um den Arbeitern alle Möglichkeiten zu einer Beschwerde auf dem Rechtswege zu nehmen, schlössen die Kontrakte in der Regel die ordentlichen Gerichte aus und bestimmten die Interessenvertretung der Landwirte, die Landwirtschaftskammer, zum Gerichtsstand.65 Trotz der bereits in den Arbeitsverträgen zum Ausdruck gebrachten Strafandrohungen gewannen die Vertragsbrüche, in denen sich die Klassenauseinandersetzungen auf dem Lande widerspiegelten, von Jahr zu Jahr mit zunehmender Verschärfung der Klassengegensätze immer stärker an Bedeutung. So berichtete die Landwirtschaftskammer für die Provinz Sachsen über 636 Fälle von Kontraktbrüchen im Jahre 1895 und 819 derartige Fälle im Jahre 1896.68 Die Zahl erhöhte sich auf 1600 Fälle von Kontraktbrüchen im Jahre 1900,87 wobei es sich jeweils nur um die dort zur Meldung gelangten Vorfälle handelt und aus diesem Grunde zu vermuten ist, daß die tatsächlichen Zahlen erheblich höher zu veranschlagen sind. (Vgl. Anlage Nr. 29) In einer Stellungnahme, die der Kommandeur der mecklenburg-schwerinschen Landesgendarmerie bezüglich der Kontraktbrüche vor dem Landtag abgab, nannte er die hauptsächlichsten Gründe, die nach seinen Erfahrungen zum Verlassen der Arbeitsplätze führten: ,,a) Es sind den Arbeitern körperliche Mißhandlungen durch den Dienstherrn oder dessen Beamten, wozu in erster Linie auch der Vorschnitter zu rechnen ist, zugefügt worden. b) Es ist der Lohn nicht oder nicht rechtzeitig gezahlt worden, oder es sind davon willkürliche, nicht vertragsmäßige Abzüge gemacht. c) Die gelieferten Nahrungsmittel (Kartoffeln) und die Wohnungen sind in hohem Grade minderwertig. d) Es werden von den Arbeitern andere Arbeiten und Mehrarbeit verlangt, als vertragsmäßig ausbedungen oder ihnen bei der Anwerbung als solche bezeichnet sind. e) Die Arbeitsverträge sind den Arbeitern nicht genügend bekannt. f ) Die Vorschnitter betrügen die Leute bei der Lohnauszahlung, insbesondere durch die teilweise Auszahlung des Lohns in Waren." 68 (Vgl. Anlage Nr. 30 und Nr. 35) Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten waren häufig auch die Vereinbarungen über die Akkordlohnsätze, die von den Landwirten jeweils zu ihren Gunsten ausgelegt werden konnten. So hielt man trotz eingetretener Erschwernisse, an den Akkordsätzen auch dann fest, wenn die Arbeiter nicht den Tagelohn erreichten, oder senkte den Akkordsatz, wenn den Unternehmern der Verdienst der Arbeiter zu hoch erschien.69 66

TRZCIÄSKI, 1 9 0 6 : 8 8 .

STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 2260, vol. I: 134. STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 1948, vol. II: 241. •8 STAS, Rep. 41, Min. d. Innern, A 193, Acta betr. den Arbeitervertragsbruch d. ländl. Arbeiter, Bd. II: 121, zitiert nach NICHTWEISS, 1959: 222. 66

67

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SCHMIDT, 1 9 1 1 :

158.

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Die Werbeagenten führten die Saisonarbeiter mit falschen Versprechungen hinters Licht, um sich im Konkurrenzkampf um die „billigen" Kräfte die gewünschte Zahl von Menschen zu sichern. Sie machten sich bei ihren Manipulationen die mangelnde Bildung ihrer Opfer zunutze, die dann erst an den Arbeitsstätten in der Fremde Kenntnis davon erhielten, welche Bedingungen sie mit der Annahme des Vertrages akzeptiert hatten. STEFAN SCHMIDT kam bei seinen Untersuchungen in der Provinz Sachsen zu dem Ergebnis, daß einerseits die Zahl der kontraktbrüchig werdenden Wanderarbeiter mit der Größe der Wirtschaften zunahm. Andererseits war jedoch der Kontraktbruch in kleineren Wirtschaften häufiger zu verzeichnen als in großen. 74 Die Ursache für die zuletzt erwähnte Erscheinung, so vermutete der Autor, liegt in der beschränkten „Möglichkeit eines so hohen Akkordverdienstes". Zwar war der Lohn der Saisonarbeiter angesichts der von ihnen geleisteten Arbeit ohnehin nie „so hoch". Indessen zwang der sich ständig verschärfende Konkurrenzkampf namentlich die kleineren Betriebe zu einer äußersten Einschränkung aller Kosten, einschließlich der Aufwendungen für die eigene Familie, eine Tendenz, die sich auch in der Reduzierung der Zahl fremder Arbeitskräfte und einer verstärkten Mitarbeit der Familienangehörigen äußerte. Die größere Bereitschaft, sich der Ausbeutung durch den Wechsel der Arbeitsstelle zu entziehen, war bei den Männern zu verzeichnen. Als Grund für diese Haltung führt KAERGER an, daß es für die Arbeiter einfacher war, einen neuen Broterwerb zu finden. Die Frauen hingegen zögerten vor diesem Schritt aus Furcht vor den Autoritäten und im Glauben, sich der von ihnen eingegangenen Verpflichtungen nicht entziehen zu dürfen. Hinzu kam, daß sie ihr umfangreicheres Gepäck, zu dem schwere Kisten und Betten gehörten, gegenüber ihren männlichen Kollegen in ihrer Mobilität stark behinderte. Während viele Saisonarbeiter in der Flucht den einzigen Ausweg aus unerträglichen Verhältnissen sahen, kam es jedoch auch zu direkten Klassenauseinandersetzungen. So legten im April 1899 die auf dem Rittergut Groß Germersleben beschäftigten Galizier die Arbeit nieder. 71 Im Juni des Jahres 1907 traten etwa 80 „fremde" Arbeiter und Arbeiterinnen auf demselben Gut wegen nicht erfüllter Lohnforderungen in den Streik. 72 Polnische Arbeiter stellten im April 1908 in Klein Germersleben die Arbeit ein und drohten, den Vorarbeiter zu erschlagen. Als ein Gendarm, der Inspektor und ein Schäfer einzugreifen versuchten, kam es zu tätlichen Auseinandersetzungen, wobei die polnischen Arbeiter zu Hacken, Spaten und Steinen griffen. 73 (Vgl. Anlage Nr. 36 und Nr. 37) Die Grundbesitzer bemühten sich, mit Hilfe ihrer Interessenvertretungen den Aktionen der Arbeiter wirksam zu begegnen. Eine rigorose Durchsetzung von Gegenmaßnahmen, die zumeist auf eine Ausweisung der ausländischen Arbeiter abzielten, scheiterte jedoch an der auf eigene Vorteile bedachten Haltung der Landwirte, die im Konkurrenzkampf jede Gelegenheit nutzten, „billiger" Arbeitskräfte habhaft zu werden, auch wenn sie einem anderen Unternehmer gegenüber kontraktbrüchig geworden waren. Diese Haltung, die in gewisser Weise den Arbeitern zugute kam, vermochten auch die wiederholten Appelle der Landwirtschaftskammer nicht zu ändern. Nachdem die Interessenverbände der landwirtschaftlichen Unternehmer und die staat70

SCHMIDT, 1 9 1 1 :

71

Amtliches Wanzleber Kreisblatt, 1899. Amtliches Wanzleber Kreisblatt, 1907. Schöffengericht Wanzleben, Sitzung vom 4. Juni 1908, nach einem Bericht von RUDOLF PFEIL, Bottmersdorf.

72 73

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liehen Institutionen vergeblich versucht hatten, den immer wieder aufflammenden Widerstand der Arbeiter zu brechen, glaubte man in der Feldarbeiterzentrale, ausgestattet mit dem Monopol der Zwangslegitimierung, ein geeignetes Instrument ins Leben gerufen zu haben, sich die wirtschaftlich Schwachen gefügig zu machen. Dennoch hatte die Landwirtschaftskammer für die Provinz Sachsen bereits wieder im Jahre 1911 Anlaß, sich beim Oberpräsidenten der Provinz Sachsen über die erneute Zunahme der Kontraktbrüche zu beklagen.74 Der Abreisetermin aus dem Heimatgebiet wurde den Saisonarbeitern rechtzeitig im Frühjahr bekanntgegeben. Bis zum vereinbarten Sammelpunkt, einer Eisenbahnstation, fuhren sie auf großen Leiterwagen, auf denen auch die schweren hölzernen Kisten und die dicken Federbetten der Mädchen sowie die leichteren Körbe und Koffer der Männer und Burschen untergebracht waren. Die Kosten für diese Etappe wurden entweder gemeinsam getragen oder von dem am Treffpunkt wartenden Beauftragten der landwirtschaftlichen Unternehmer erstattet. War bei der Anwerbung eine Mittelsperson beteiligt, so begleitete sie ihre Arbeitergruppe gewöhnlich bis zum Bahnhof und übergab sie dort dem Aufseher, der sich ebenfalls am Treffpunkt eingefunden hatte. Ein Gewährsmann aus Großmühlingen berichtete, daß es üblich war, die Arbeiter am Sammelplatz mit einem kräftigen Handschlag zu begrüßen und mit ihnen vor der Abreise in die Börde einige Schnäpse in einer Gastwirtschaft zu trinken.76 Der Aufseher-Agent besorgte auf Kosten des landwirtschaftlichen Unternehmers die Fahrkarten für die vierte Wagenklasse. Umfaßte die Gruppe 30 Personen und mehr, so wurde eine Fahrpreisermäßigung gewährt. Waren nicht alle Arbeiter vollzählig zur Abfahrt des Zuges versammelt, dann trat der Vorarbeiter mit der Gruppe die Fahrt an, und der Aufseher kam später mit den restlichen Arbeitern nach. Die Reiseroute aller Züge — mit Ausnahme derjenigen aus Schlesien — führte über Berlin. Die bestellten Abteile wurden unterwegs verschlossen, damit sich niemand vor Erreichung des Zieles aus der Gruppe entfernen konnte. Es kam vor, daß die Fahrt unterbrochen wurde, um auf einer Station nach vorheriger Vereinbarung ein Mittagessen einzunehmen. Nach der Ankunft in Berlin war es notwendig, mit bereitstehenden Wagen zum Potsdamer oder Anhalter Bahnhof zu fahren, um von dort aus unverzüglich die Reise in die Provinz Sachsen fortzusetzen. Nach Beendigung der Eisenbahnfahrt erwarteten Pferdefuhrwerke der landwirtschaftlichen Betriebe die Arbeiter, um sie mit ihrem Gepäck bis in ihre Unterkünfte zu bringen. (Siehe Abb. 39 bis 42) KAERGER berichtete, daß einige Gutsherren den Aufsehern zur Bestreitung der Reisekosten pro Person einen Pauschalsatz in Höhe von 10 bis 14 Mark zahlten. Diese Verfahrensweise verleitete die Organisatoren des Transportes nicht selten zu Betrügereien gegenüber den Saisonarbeitern. In anderen Fällen verlangten die Unternehmer von ihren Beauftragten eine genaue Rechnungslegung.76 Die Rückreise erfolgte ebenso wie die Hinreise auf Kosten der landwirtschaftlichen Betriebe, diesmal jedoch ohne Begleiter, deren Aufgabe ja lediglich darin bestand, den Ausbeutern ihre Opfer zielstrebig zuzuführen. Mit Ausnahme derjenigen Arbeiter, deren Aufseher in ihrer Heimat ansässig waren, traten die Saisonarbeiter die Heimreise ohne Begleitung in Sammeltransporten an. 74 75 78

STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 1948, vol. V: 101-103. Fragebogenmaterial Großmühlingen, Frageliste Nr. IV/10. KAERGER, 1 8 9 0 : 4 0 .

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STEFAN SCHMIDT hat in seiner Dissertation über „Die Wanderarbeiter in der Landwirtschaft der Provinz Sachsen und ihre Beschäftigung im Jahre 1910" statistische Untersuchungen zur Frage der Relation von Betriebsgröße und Beschäftigung von Wanderarbeitern angestellt und kam zu folgenden Ergebnissen: Die Anzahl der Wanderarbeiter beschäftigenden Betriebe nimmt mit der Betriebsgröße zu. „Von den ermittelten 1599 Wirtschaften der ganzen Provinz beschäftigten 1079 Wirtschaften oder 2/3 (genauer 67,4%) Wanderarbeiter. Von den 510 Wirtschaften über 200 ha beschäftigten sogar 462 oder 90% Wanderarbeiter..."" „Im Regierungsbezirk Magdeburg entfallen 84,41% der Wanderarbeiter auf die Wirtschaften über 200 ha Größe, im Regierungsbezirk Merseburg 78% und im Regierungsbezirk Erfurt 68,7%."78 Zur Zeit des beginnenden Imperialismus zeichnete sich also auch hinsichtlich der Placierung der Saisonarbeiter innerhalb der Landwirtschaft weitgehend ein Konzentrationsprozeß ab. Mit zunehmender Betriebsgröße erhöhte sich der Anteil der Wanderarbeiter an der Gesamtzahl der Arbeitskräfte. STEFAN ScHMiDt ermittelte in einer Reihe von Wirtschaften 60 bis 70 Prozent und sogar bis zu 80 Prozent.79 Dabei nahm zugleich die Zahl der ausländischen Wanderarbeiter gegenüber den inländischen zu, während sich die Zahl der weiblichen Wanderarbeiter geringfügig verringerte.80 Galizier fanden sich in der Mehrzahl in den größeren Betrieben, während die Russisch-Polen vornehmlich in den mittleren Wirtschaften beschäftigt waren.81 Hinsichtlich der Anzahl von Saisonarbeitern in den verschiedenen Betriebsgrößenklassen stellte STEFAN SCHMIDT folgendes fest: Mehr als 100 Saisonarbeiter waren in der Größenklasse über 500 Hektar anzutreffen. Bei Wirtschaften zwischen 100 und 200 Hektar lag die Höchstgrenze bei 50, bei Betrieben unter 100 Hektar bei 20, diejenigen unter 50 Hektar hatten einen Bedarf von etwa 5 Saisonarbeitern.82 In Pachtwirtschaften lag der Anteil der Wanderarbeiter pro 100 Hektar Ackerfläche noch etwas über dem allgemeinen Durchschnitt.83 In welcher Art sich in Krisenzeiten staatliche Weisungen zwecks Reduzierung der ausländischen Arbeitskräfte in den verschiedenen Betriebsgrößenklassen auswirken konnten, zeigt ein Aktenvorgang des Landratsamtes Neuhaidensieben. Zum Ende des Jahres 1901 war vom Minister des Innern zu Berlin an den Oberpräsidenten zu Magdeburg die geheime Order ergangen, in Anbetracht des „Rückganges der industriellen Thätigkeit" und der dadurch verursachten „Überfüllung des Arbeitsmarktes" auf die landwirtschaftlichen Unternehmer in geeigneter Weise dahin einzuwirken, „daß sie bei der Deckung ihres Bedarfes an Arbeitskräften in erster Linie Inländer berücksichtigen".84 Als dann im Februar 1902 zwei Landwirte beim Landratsamt Neuhaidensieben die Genehmigung zur Einstellung von 2 bis 3 ausländischen Arbeitern beantragten, wurde ihnen mitgeteilt, „daß namentlich in kleineren Wirtschaften russischpolnische Arbeiter nicht mehr verwendet werden" sollen. Die Auswirkungen der Krise sollten also auf die kleineren Betriebe abgewälzt und den größeren die anspruchsloseren 77

SCHMIDT, 1 9 1 1 : 1 3 2 .

78

SCHMIDT, 1 9 1 1 : 1 3 9 .

" SCHMIDT, 1 9 1 1 : 1 3 3 . 80

SCHMIDT, 1 9 1 1 : 1 3 4 .

81

SCHMIDT, 1 9 1 1 : 1 3 4 .

82

SCHMIDT, 1 9 1 1 : 1 4 0 .

83

SCHMIDT, 1 9 1 1 : 1 5 3 .

• 81 STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 1948, vol. II: 243.

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Arbeitskräfte zugesichert werden. Der Amtsvorsteher BRÜGGEMANN von Groß Rottmersleben, der sich im Namen zweier Bauern gegen diesen Entscheid aus Neuhaidensleben wandte, argumentierte aus seiner Sicht dahingehend, „... daß die deutschen Leute gerade in den kleineren Wirthschaften, wo die Herrschaft für dieselben mitkochen muß, so anspruchsvoll (seien), daß dieses kaum auszuführen ist, dagegen in größeren Wirthschaften, wo dieselben selbst kochen, dieses nicht empfunden wird". 85 Die Saisonarbeiter kamen nach Aussagen der Gewährsleute im Laufe des Monats März in die Börde und kehrten nach Beendigung der Rübenernte in ihre Heimat zurück. J U L I U S von TRZCINSKI berichtet, daß die Osterfeiertage für den Zeitpunkt des Aufbruchs der Saisonarbeiter von Bedeutung waren. Speziell diejenigen russisch-polnischen und galizischen Arbeiter, die in die Provinz Posen zogen, brachen erst nach den Festtagen auf. Besitzer kleiner Wirtschaften verließen ihren Heimatort später als Burschen und Mädchen.86 War die Erntearbeit infolge witterungsbedingter Schwierigkeiten bis zum gesetzlich vorgeschriebenen letzten Abreisetermin noch nicht beendet, so konnten die Unternehmer eine Verlängerung der Aufenthaltsdauer beantragen. Maßgebend für den Zeitpunkt der Rückreise waren jedoch ausschließlich die ökonomischen Interessen der Grundbesitzer, persönliche Bedürfnisse der Arbeiter wurden nicht in Erwägung gezogen. Während KAERGER auf Grund der von ihm im Jahre 1889 eingesehenen Kontrakte die allgemein übliche Dauer der Arbeitszeit von 5 Uhr morgens bis 19 Uhr abends, mit je einer halbstündigen Frühstücks- und Vesperpause sowie einer einstündigen Mittagspause, angab, wurden in den Fragebogen-Bearbeitungen der Börde-Exploratoren, die in der Regel maximal bis 1900 zurückgreifen, 12 statt 14 Stunden bei gleichen Pausenzeiten genannt. Diese Erscheinung zeugt vom Übergang von der extensiven zur intensiveren Form der Ausbeutung in der Landwirtschaft, wobei das Akkordlohnsystem eine wichtige Rolle spielte. Die Arbeiterinnen hatten im Frühjahr das Hacken des Getreides und der Rüben zu verrichten. Die Hackarbeit auf den Rübenfeldern begann bald nach dem Aufgehen der mit Drillmaschinen ausgesäten Rübenkerne. In der Regel war ein dreimaliges manuelles und ein zweimaliges maschinelles Hacken erforderlich, wodurch das Unkraut entfernt und der Boden zur Förderung des biologischen Stoffwechsels gelockert werden sollte. Zwischen dem ersten und zweiten Handhacken wurden die Rübenpflanzen dergestalt „verhackt" oder „versetzt", daß in einer Reihe in bestimmten Abständen nur Büschel stehen blieben. Die letzte Arbeitsetappe, die häufig von Kindern ausgeführt wurde, bildete das „Verziehen", bei dem sämtliche Pflanzen eines Büschels bis auf die' kräftigste entfernt wurden. Im Sommer, während der Getreideernte, besorgten die Saisonarbeiterinnen das Abraffen und Binden, und im Herbst rodeten sie Kartoffeln und nach Ermittlungen KAERGERS sowie nach Aussagen der Gewährsleute sogar die Rüben. Die Männer verrichteten im Frühjahr Ackerarbeiten und droschen gegebenenfalls noch mit der Maschine Getreide aus. Junge Burschen wurden als Pferde- und Ochsenjungen und zum Teil zu den gleichen Arbeiten wie die Frauen eingesetzt. Den Arbeitern oblag die Heu- und Getreidemahd, während sie bei der Rübenernte hauptsächlich das Beladen der Wagen und das Bewerfen der Mieten vornahmen. Die Saisonarbeiter hatten die ihnen von den Betrieben zur Verfügung gestellten Arbeitsgeräte zu pflegen. Für Reparaturen brauchten sie nicht aufzukommen. Aus einigen Orten 8S 84

S T A M , R e p . C 3 0 L R A Neuhaidensleben, t e i l 1 , N r . 8 4 4 , v o l . I X , 1 9 0 2 . TRZCIÄSKI, 1 9 0 6 : 4 7 .

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wurde berichtet, daß die Arbeiter eigene Sensen mitbrachten.87 In den größeren Betrieben wurden die Arbeiter in Kolonnen eingeteilt. Während in der Regel die in der Magdeburger Börde allgemein üblichen Arbeitsmethoden übernommen wurden, bedienten sich zuweilen Saisonarbeiterinnen österreichischer Staatsangehörigkeit beim Rübenverziehen einer kurzstieligen Bügelhacke, der „Krählhacke".88 Während ihres Aufenthaltes sammelten die Arbeiter und Arbeiterinnen Arbeitserfahrungen und gestalteten bei mehrmaliger Wiederkehr in die Rübenanbaugebiete ihre Arbeitsweise rationeller. Dies führte dazu, daß sie höhere Leistungen als die einheimischen Landarbeiter vollbrachten.89 Bis in die neunziger Jahre des 19. Jh. wurden die ausländischen Arbeiter in der Regel geringer entlohnt als ihre deutschen Kollegen. Es traten jedoch hinsichtlich der Entlohnung erhebliche regionale Unterschiede auf. Später waren es die Zuwanderer aus den neu erschlossenen Rekrutierungsgebieten wie die westgalizischen Polen seit der Mitte der neunziger Jahre und die Ruthenen ab 1903, die zunächst zu niedrigeren Löhnen arbeiteten als die deutschen Landarbeiter. Das sich vergrößernde Potential der ausländischen Arbeiter und der zunehmende Landarbeitermangel führten jedoch dazu, daß namentlich in den Tabelle 5 a Vergleich der Tagelohnsät^e für einheimische Arbeiter und Saisonarbeiter auf Gütern der Magdeburger Börde um 1910 Männer Gut Nr.

I II III IV V VI VII VIII IX

einheimische Arbeiter E. s. Zt. Mark Mark 2,75 2,00 e / . j . ) 2,00 2,00 2,75 2,00 2,00 2,00 2,00

2,50 1,75 (V2 J.) 1,80 1,60 (W.) 1,75 2,50 1,75 2,00 2,00 2,00

E. = Erntezeit s. Zt. = sonstige Zeit

Frauen und Mädchen Wanderarbeiter E. s. Zt. Mark Mark

einheimische Arbeiter E. s. Zt. Mark Mark

Wanderarbeiter E. Mark

s. Zt. Mark

2,25 2,25 2,00

2,25 1,75 1,80

1,75 1,25 1,50

1,25 1,25 1,10

1,55 1,75 1,50

1,55 1,30 1,30

2,00 2,25 2,00 2,15 2,00

1,75 1,80 1,75 1,85 2,00

1,50 1,00 1,50 1,50 1,00 1,40

1,10

1,50 1,60 1,50 1,50 1,50 1,50

1,20 1,30 1,30 1,20 1,30 1,35

1,10 1,20 1,00 1,20

J. = Jahr W. = Winter

89

Fragebogenmaterial Bahrendorf, Frageliste Nr. IV/4; Fragebogenmaterial Hundisburg, Frageliste Nr. IV/4. Fragebogenmaterial Bahrendorf, Frageliste Nr. IV/4. Explorator E R N S T G A J E W S K I , Kleinalsleben, hätte Gelegenheit, in den Akten des Klosters Hadmersleben Einblick in Aufzeichnungen über den Leistungsvergleich zwischen deutschen und ausländischen Arbeitern zu nehmen. Fragebogenmaterial Großmühlingen, Frageliste Nr. IV/4; Fragebogenmaterial Domersleben, Frageliste Nr. IV/4.

90

NICHTWEISS, 1 9 5 9 : 2 6 3 .

87

88

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Gegenden, wo seit längerer Zeit Ausländer beschäftigt wurden, die Lohnunterschiede zwischen einheimischen und ausländischen Arbeitern allmählich schwanden. Der Tageslohn der ausländischen Arbeiterinnen überstieg sogar auf Grund ihres höheren Beschäftigungsgrades denjenigen der einheimischen Frauen.908 (Tabelle 5 a) Auf Grund seiner Untersuchungen stellte KAERGER gegen Ende des 19. Jh. fest, daß Güter in der Umgebung von Städten und industriellen Niederlassungen höhere Löhne zahlten als landwirtschaftliche Betriebe, in deren Nähe sich eine dicht besiedelte Ortschaft mit unzureichenden Arbeitsmöglichkeiten für ihre Bewohner befand.91 Die Entlohnung erfolgte in Form von Natural- und Geldlohn. Zu den Naturalleistungen zählten die Unterkunft, das Heizmaterial und die Beleuchtung. Die Verpflegung wurde entweder in Form wöchentlicher Lebensmittelrationen oder aber in warmen Mahlzeiten geliefert. KAERGER berichtet von 121/2 Kilogramm Kartoffeln, die teilweise durch Hülsenfrüchte ersetzt wurden.92 Die Exploratoren ermittelten im späteren Untersuchungszeitraum außer der Lieferung von Kartoffeln Zuteilungen von Hülsenfrüchten, Mehl, Brot, Magermilch, Schmalz und Fleisch.93 Der Anteil an Naturallöhnen war nach Feststellungen von ANTON KNOKE bei den galizischen Arbeitern im allgemeinen höher als bei denjenigen aus Russisch-Polen.94 Als „normalen" Durchschnitts-Tagelohn ermittelte KAERGER in den westelbischen Gebieten 1,50 M für die Männer, 1,25 M für die Burschen, 1,00 M für die Frauen. Während der Erntezeit wurde dieser Satz um 0,25 bis 0,50 Mark erhöht. Diese Löhne wurden lediglich vom Groß Wanzlebener Gut unterboten.95 Die Angaben korrespondieren im großen und ganzen mit den von S. BANDOLY für das Jahr 1893 notierten Zahlen.98 Ein Vergleich mit einer Tabelle STEFAN SCHMIDTS für das Jahr 1910 zeigt, daß in der Zwischenzeit eine geringfügige Erhöhung der Tagelohnsätze erzielt worden war, und zwar für Männer in der Erntezeit außerhalb der Ernte für Frauen in der Erntezeit außerhalb der Ernte

auf auf auf auf

2,00 M bis 2,25 M, 1,75 M bis 2,25 M, 1,55 M bis 1,75 M, 1,20 M bis 1,55 M.97

Spezielle Pflege- und Erntearbeiten wurden im Gruppen-Akkordlohn ausgeführt. Von dieser Möglichkeit machten die Saisonarbeiter gern Gebrauch, weil sie darin eine Gelegenheit sahen, ihre kärglichen Einkünfte zu verbessern. In der Regel erhielt jeder Mitarbeiter den gleichen Anteil vom Gruppenakkordlohn. Leider gab KAERGER keine Auskunft darüber, wie der für das Mähen, Abraffen und Binden eines Morgens Wintergetreide in 9 °» 91 92

93

NICHTWEISS, 1 9 5 9 : 2 3 0 — 2 3 1 . KAERGER, 1 8 9 0 : 4 1 , 4 2 . KAERGER, 1 8 9 0 : 5 3 .

Fragebogenmaterial Altenweddingen, Bahrendorf, Barby, Ochtmersleben, Frageliste Nr. IV/5.

KNOKE, 1 9 1 1 : 5 3 . KAERGER, 1 8 9 0 : 4 2 . 9 6 BANDOLY, 1 9 7 3 : 1 7 . " SCHMIDT, 1 9 1 1 : 63. 94 96

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der Provinz Sachsen übliche Satz von 3,50 Mark unter den beteiligten Arbeitern und Arbeiterinnen aufgeteilt wurde. Für das Mähen eines Morgens Getreide „auf Schwad" wurden 1,50 Mark, für das Binden dieser gemähten Frucht 1,25 bis 1,50 Mark gezahlt.98 Die Hackarbeiten wurden von den Frauen in größeren, vom Aufseher zusammengestellten Gruppen durchgeführt. Für den ersten bis dritten Arbeitsgang beim Rübenhacken wurden gegen Ende der achtziger Jahre des 19. Jh. gewöhnlich pro Morgen 1,50 bis 2,00 Mark; 2,00 bis 2,50 Mark und 2,50 bis 3,00 Mark gezahlt. Die Abstufung resultiert aus dem steigenden Schwierigkeitsgrad der Arbeit. 1,25 bis 1,75 Mark bekamen die Arbeiterinnen für das Vereinzeln eines Morgens Rüben auf Büschel und 2,00 bis 2,50 Mark für das Entfernen aller Pflanzen eines Busches bis auf eine." Diese Arbeit wurde jedoch vielfach von einheimischen Kindern verrichtet. Während der Kartoffelernte zahlten die Grundbesitzer gegen Ende des 19. Jh. für eine 80 Pfund fassende Kiepe 0,06 bis 0,09 Mark.100 Beim Roden der Rüben taten sich drei bis sechs Personen zu einer Gruppe zusammen, die möglichst zu gleichen Leistungen fähig waren. 101 Für das Roden eines Morgens Rüben wurden bei sofortigem Abtransport 6,00 bis 7,50 Mark bezahlt; falls sie an zwei Stellen je Morgen zusammengetragen und mit Erde beworfen werden mußten, erhöhte sich der Akkordsatz auf 9,00 bis 10,50 Mark. Mit abnehmender Tagesdauer im November konnten die Summen etwas heraufgesetzt werden. 102 STEFAN SCHMIDT stellte auch zur Entwicklung des Akkordlohnes statistische Ermittlungen an.108 Die Entlohnung der Aufseher erfolgte zur Zeit von KAERGERS Untersuchung auf unterschiedliche Weise. Sie erhielten entweder einen Tagelohn in der Regel in Höhe von 2,50 Mark oder einen Wochenlohn von meist 15,00 Mark, seltener 18,00 Mark. In einigen Fällen wurde ihnen bereits ein Monatslohn von 60,00 bis 75,00 Mark, ja sogar bis zu 100,00 Mark geboten. 104 Hier bahnte sich bereits eine neue Taktik der landwirtschaftlichen Unternehmer an, die dazu übergingen, aus ihren hohen Profitsummen eine kleine Zahl von Arbeitern zu korrumpieren, um sich ihre Mithilfe bei der Ausbeutung der großen Masse ihrer Klassengenossen zu sichern. „Durch diese Lösungsart", so schreibt K A E R G E R , „erkennt der Gutsherr gleichsam die Beamtenqualität des Aufsehers an, und wegen des günstigen moralischen Einflusses, den das Bewußtsein, eine solche Stellung einnehmen und ausfüllen zu müssen, auf den Mann in der Regel ausübt., wird diese Löhnungsart älteren, für dasselbe Gut schon eine Reihe von Jahren thätigen Aufsehern auch in der Regel gern zugebilligt." 105 Obwohl er die Situation richtig erfaßt hatte, erkannte KAERGER nicht die eigentlichen Motive und Absichten, die zu dem „Entgegenkommen" führten. Der Monatslohn bildete nicht die einzige Einnahmequelle der Aufseher. Einen zusätzlichen Verdienst gewannen sie aus ihrer Werbetätigkeit. Zum Saisonbeginn reisten sie mit ihren Familien auf Kosten der landwirtschaftlichen Unternehmer in die Börde, wo ihre Frauen in vielen Fällen mit Gewinn die Gemeinschaftsküche der Saisonarbeiter verwalte»8 KAERGER, 1 8 9 0 : 4 4 . »» KAERGER, 1 8 9 0 : 4 3 - 4 4 . WO KAERGER, 1 8 9 0 : 4 5 . 101

KAERGER, 1 8 9 0 : 4 5 .

102

KAERGER, 1 8 9 0 : 4 5 .

103

SCHMIDT, 1 9 1 1 : 61.

104

KAERGER, 1 8 9 0 : 4 9 .

105

KAERGER, 1 8 9 0 : 4 9 .

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ten. „In früheren Zeiten", so stellte KAERGER fest, „scheint denn auch der Einkauf von Brot, Salz, Mehl, Gewürzen, Heringen, Bier, Schnaps, Fett und anderen dergleichen gangbaren Artikeln durch den Aufseher und der Wiederverkauf an die Arbeiter sehr verbreitet gewesen zu sein." Zum Zeitpunkt seiner Ermittlungen im Jahre 1889 konnte K A E R G E R diese Erscheinung in der Provinz Sachsen nicht mehr nachweisen, indessen war den Aufsehern mehrerer Güter der Handel mit Lebensmitteln ausdrücklich untersagt.106 Sie verstanden es aber auch, aus der Kundenvermittlung an die Kaufleute Gewinn zu schlagen. Die Aufseher waren die Mittelsmänner zwischen den Arbeitern und den landwirtschaftlichen Unternehmern. Sie waren einerseits mit der Sprache und den Gewohnheiten der Zuwanderet vertraut und hatten meist zunächst selbst als Arbeiter in den Rübenanbaugebieten Erfahrungen sammeln können. Die Gutsherren und ihre Beauftragten erteilten ihnen ihre Befehle, und sie waren es, die Beanstandungen der Arbeiter an den Dienstherrn und seine Beamten weiterzuleiten hatten. Die Tatsache, daß den Aufsehern häufig die Verteilung der Arbeiten oblag, stärkte ihre Position gegenüber den Arbeitern und führte bisweilen zum Machtmißbrauch. So wurden z. B. diejenigen bei der Einteilung der Arbeit benachteiligt, die sich weigerten, bei dem Aufseher selbst oder bestimmten, ihn protegierenden Kaufleuten die von ihnen benötigten Waren zu beziehen.107 Die Aufseher verteilten anfangs häufig auch die Löhne, eine Aufgabe, die sie zum Anlaß zahlreicher Betrügereien nahmen, welche aber von den Arbeitern nicht unbemerkt blieben. So sahen sich die landwirtschaftlichen Unternehmer schließlich genötigt, den Arbeitern ihre Löhne direkt von den Gutsbeamten auszahlen zu lassen und den Aufsehern lediglich eine Kontrollfunktion zuzuweisen.108 In dem Verhältnis von Saisonarbeitern und Aufsehern zeigt sich deutlich, daß es den Arbeitern trotz der Schwierigkeit, sich in einer neuen Umgebung fern ihrer Heimat, unter anderen sozialökonomischen Bedingungen und in einer fremden Sprache zurechtfinden zu müssen, dennoch gelang, betrügerische Machenschaften zu erkennen und gegen daraus resultierende Mißstände erfolgreich vorzugehen. Insgesamt gesehen änderte dies jedoch nichts an dem kapitalistischen System, dem-die Saisonarbeiter ausgeliefert waren.

Wohnverhältnisse, Nahrmgs- und Konsumgewohnheiten, Kleidung und Freiheit Der Aufseher und seine Familie wohnten in der Regel unter einem Dach mit den Saisonarbeitern. Ihm oblag es, über die Ordnung in der Gemeinschaftsunterkunft zu wachen. Anfänglich gab es jedoch noch keine eigens für die Unterbringung der Wanderarbeiter hergerichteten Gebäude. Es wurden ihnen Strohlager in nichtgenützten Stallungen, in Scheunen, in Bodenräumen und baufälligen Arbeiterhäusern als Schlafgelegenheit zugemutet. Die Zustände waren so empörend, daß die Regierung nicht umhin konnte, durch den Erlaß einer „Polizei-Verordnung vom 9. März 1874, betreffend die Unterbringung der für den Betrieb von Zucker- und Cichorienfabriken, sowie ähnlicher gewerblicher oder landwirtschaftlicher Etablissements beschäftigten Arbeiter" einzugreifen. 109 Allerdings KAERGER, 1 8 9 0 : 56. ™ KAERGER, 1 8 9 0 : 6 1 .

108

108

KAERGER, 1 8 9 0 : 6 1 .

109

Amts-Blatt, 1874: 106. Ein bereits im Jahre 1857 erlassenes „Reglement die Unterbringung der für den Betrieb von Zucker- und Zichorienfabriken, sowie ähnl. gewerblicher resp. landwirtschaftlicher Etablissements beschäftigten fremden Arbeiter" (Amts-Blatt vom 25. 6.1857) scheint nach Untersuchungen von RÄCH kaum praktische Bedeutung erlangt zu haben. RÄCH, 1975:174.

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wurde weniger an den menschenunwürdigen Verhältnissen, sondern aus Gründen der Moral vielmehr an der mangelnden Trennung der Geschlechter Anstoß genommen. Die landwirtschaftlichen Großbetriebe ließen später für die Unterbringung der Saisonarbeiter Gebäude errichten, die „Polenkasemen" oder „Kasernen" genannt wurden. (Vgl. Abb. 46, 47, 49) Gemäß der Polizei-Ordnung mußte in Schlafräumen pro Person ein Mindestraum von 9 m3 (vgl. Anlage Nr. 26) zur Verfügung stehen. Aus Revisionsberichten geht jedoch hervor, daß auch diese Unterkünfte noch geraume Zeit nicht den behördlichen Anforderungen entsprachen. So ermahnt z. B. der Landrat des Kreises Wanzleben am 3. Oktober 1901 den Amtsvorsteher zu Westeregeln folgendermaßen: „Die Revision der Arbeiterkasernen durch die Ortspolizeibehörden hat, wie ich aus den mir erstatteten Berichten ersehe, in diesem Jahre theilweise wieder zu erheblichen Ausstellungen Veranlassung gegeben. So befanden sich einzelne Kasernen in einem höchst unsauberen Zustande, einzelne Zimmer waren zu stark belegt, in einer anderen Kaserne waren die Arbeiter nicht nach Geschlechtern getrennt untergebracht, obgleich dies im § 9 der Polizeiverordnung vom 9. März 1874, betreffend die Unterbringung der in Zucker- pp. Fabriken und ähnlichen landwirtschaftlichen Etablissements beschäftigten Arbeiter, — A. Bl. für 1874 S. 106 — ausdrücklich vorgeschrieben ist — während in zwei anderen Kasernen das vorgeschriebene Krankenzimmer fehlte (cfr. § 10 der obengedachten Verordnung). Diese Unregelmäßigkeiten, die sich fast alle Jahre wiederholen, geben mir Veranlassung, den Ortspolizeibehörden die genaue Durchführung der in jener Polizeiverordnung gegebenen Vorschriften zur strengsten Pflicht zu machen und Sie zu ersuchen, sich von dem Zustande der Kasernen durch häufige, unvermuthete persönliche Revisionen Ueberzeugung zu verschaffen und bei etwaigen Unregelmäßigkeiten gegen die betreffenden Arbeitgeber mit empfindlichen Ordnungsstrafen nachdrücklichst einzuschreiten. .. ." u o Trotz dieser amtlichen Weisung sah sich der Königliche Kreisarzt von Wanzleben am 12. Mai 1903 genötigt, folgenden Bericht über eine Besichtigung der Arbeiterkaserne der Domäne Westeregeln abzugeben: „Wie ich bereits bei meiner Ortsbesichtigung am 19. November v. J. erklärt habe, sind die Arbeiter wie die Arbeiterinnen in der fraglichen Kaserne in einer in gesundheitlicher Beziehung ganz ungehörigen Weise und auch entgegen der Bestimmungen der P. V. vom 9. März 1874 untergebracht. Genügenden Luftraum erhielten nur in 3 Zimmern die dort untergebrachten Personen; in den übrigen Zimmern betrug der Lüftraum pro Kopf 4—5 cbm, höchstens 8,29 cbm, in dem Keller, in dem 14 Personen untergebracht waren nur 3,7 cbm statt 12 cbm (P. V. vom 9. 3. 74 § 4). Absolut ungehörig ist es, daß die männlichen Arbeiter in Kellerräumen, die niemals zu menschlichen Wohnungen bestimmt gewesen sein können untergebracht waren, in ganz ungenügend lüftbaren und beleuchteten Räumen, die nur eine Höhe von 2 m haben und 1 m bzw. 1,40 m unter dem Erdboden liegen. — Ungehörig ist es ferner, daß das als Krankenzimmer angegebene Zimmer zu anderen Zwecken verwendet wird. — Im übrigen soll für die männlichen und die weiblichen Arbeiter mindestens je 1 Krankenzimmer vorhanden sein. Diese Zimmer aber müssen heizbar und gehörig eingerichtet sein (P. V. vom 9. 3. 74 § 10). — Auch die Abortanlage für die männlichen Arbeiter genügt nicht. .. . " m Nach den Ermittlungen der Börde-Exploratoren wurden Männer und Frauen in streng voneinander getrennte Gebäudeteile der Kasernen eingewiesen. Die Zimmer waren mit vier bis fünfzehn Personen belegt. Bei der Bildung der Zimmergemeinschaften wurden die 110 111

STAM, Rep. C31 Wanzleben, Nr. 144: 9. STAM, Rep. C 31 Wanzleben," Nr. 144: 19, 20.

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Wünsche der Saisonarbeiter berücksichtigt. Meist wohnten Verwandte, Bekannte oder Leute aus demselben Heimatort zusammen.111» Die Schlafräume der Männer nahmen meist mehr Personen auf als diejenigen der Frauen. Familien erhielten gewöhnlich ein Zimmer für sich, es kam jedoch auch vor, daß mehrere Ehepaare mit Kindern einen Raum teilen mußten. Die Unterkünfte dienten oft gleichzeitig Wohn- und Schlafzwecken. Zuweilen nahm man das Essen — mit Ausnahme der Mittagsmahlzeit, die an Werktagen häufig auf das Feld hinausgebracht wurde — in einem anderen Raum, z. B. in der Gemeinschaftsküche, ein. Das Mobiliar war auf das Mindestmaß menschlicher Bedürfnisse bemessen.112 Es bestand aus mitunter doppelstöckigen eisernen Bettstellen mit einem Strohsack und zwei Decken, einem großen Tisch mit Bänken oder Holzstühlen, eventuell einem Schrank und Waschständern. Die Kleidungsstücke mußten an Wandhaken aufgehängt werden. In günstigen Fällen hatte jeder ein einfaches Spind zur Aufbewahrung von Eßwaren, Kleidung und Geld. Manchmal dienten diesem Zweck die Holzkisten, welche die Saisonarbeiter auf der Reise zum Transport ihrer Habseligkeiten benutzten. Die Mädchen brachten sich aus der Heimat auch Federbetten mit. Mit den ihnen zur Verfügung stehenden begrenzten Mitteln bemühten sich die Saisonarbeiter, die Behausung, in der sie leben mußten, nach ihren Bedürfnissen etwas angenehmer zu gestalten. Mit einem Kruzifix und Heiligenbildern und anderen Darstellungen religiösen Inhalts wurde ein Herrgottswinkel eingerichtet. Die kahlen Wände bedeckten Fotos der Angehörigen und Zeitungsbilder. Einigen Saisonarbeitern gelang es, sich Gardinen zu besorgen oder solche selbst aus buntem Papier anzufertigen. Das Leben in der Kaserne vollzog sich im Rahmen von „Haus- und Polizeiordnungen", die dem Amtsvorsteher zur Genehmigung vorgelegt werden mußten und über deren Einhaltung der Aufseher zu wachen hatte.118 Nach diesen Hausordnungen nahm eine Arbeiterin oder ein Arbeiter im wöchentlichen oder täglichen Wechsel morgens vor Arbeitsbeginn die Säuberung der Unterkunft vor. Samstag mußten sämtliche Räume gemäß der Hausordnung gescheuert werden. Die Zimmerreinigung konnte auch der Arbeiterin obliegen, die mit der Zubereitung des Essens betraut war. Die Exploratoren betonten, daß die Saisonarbeiter großen Wert auf Sauberkeit legten. Ursprünglich waren sie genötigt, sich auf dem Hof unter der Pumpe zu waschen. Im Laufe der Zeit wurden vor allem in den Schlafräumen der Mädchen Waschschüsseln aufgestellt, erst relativ spät wurden auch gelegentlich Waschräume in den Häusern eingerichtet, die mit größeren und kleineren Gefäßen ausgestattet waren.113» Hier wuschen die Arbeiter ihre

llla

112

STAM, Rep. C28 lila, Nr. 2821: 12. Der Pächter der Domäne Dreileben wendet sich im Jahre 1905 anläßlich der Projektierung einer neuen Arbeiterkaserne gegen gemeinschaftliche Eß- und Schlafräume für alle Arbeiterinnen. Er weist auf die Forderung der Frauen hin, „familienweise" untergebracht zu werden. Die Polizei-Verordnung schrieb eiserne oder hölzerne Bettstellen mit einer Mindestbreite von 63 cm, einen Strohsack, ein keilförmiges, mit Stroh oder Heu gefülltes Kopfkissen sowie eine „hinreichend warme wollene Decke" vor. Hinzu kamen Tisch, Bank oder Schemel. Zitiert nach RÄCH, 1 9 7 5 :

171-192.

Iis Vgl. 2 , B. die „Haus- und Polizei-Ordnung" der Domäne Egeln vom 16. Mai 1900 bzw. des Gutsbesitzers M. RECKLEBEN vom 3. Februar 1904 (Anlagen Nr. 32 und Nr. 33). 11S» STAM, Rep. C 28 lila, Nr. 2821: 23. Der Pächter der Domäne Dreileben begann im Jahre 1905, Bäder in den Kasernen einrichten zu lassen.

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Wäsche und badeten gelegentlich auch einmal heimlich. Die sanitären Verhältnisse glichen den in den Dörfern allgemein üblichen Zuständen. Bauern, die nur einige Saisonarbeiter in ihrem Betrieb beschäftigten, quartierten diese z. T. in Gesindestuben ein und verpflegten sie gewöhnlich gemeinsam mit ihren einheimischen Arbeitern. Als Unterkünfte dienten einzelne Räume schon bestehender Arbeiterhäuser und Räume an Stallgiebeln, die zuvor als Altenteil oder Gesindestuben genutzt worden waren. (Vgl. Abb. 48) Manchmal wurden hier auch die Mahlzeiten eingenommen, nachdem man sich die Verpflegung zur vereinbarten Zeit aus der Küche abgeholt hatte. Als eine weitere Unterbringungsmöglichkeit für die Saisonarbeiter nutzten die Großbauern Landarbeiterwohnungen. Das Mobiliar der Räume unterschied sich hier in seiner Dürftigkeit nicht von demjenigen in den „Kasernen". 114 Zum Schutze vor der Einschleppung von Krankheiten durch die Saisonarbeiter waren die Unternehmer verpflichtet, ihre Arbeiter binnen drei Tagen nach ihrer Ankunft ärztlich auf einige verbreitete Infektionskrankheiten wie Pocken, Typhus, Ruhr, Hautkrankheiten und Granulöse untersuchen und — sofern dies noch nicht geschehen war — impfen zu lassen. Ungeachtet dieser Vorsichtsmaßnahmen, die vornehmlich dem Schutze der einheimischen Bevölkerung dienten, bildeten die beengten und unzulänglichen Wohnverhältnisse der Saisonarbeiter eine erhöhte Ansteckungsgefahr in Krankheitsfällen. Laut PolizeiVerordnung sollten in den Kasernen Krankenzimmer bereit gehalten werden. Die Krankenbetreuung besorgte vermutlich zunächst ein Saisonarbeiter, der auf diesem Gebiet einige Erfahrung hatte und Hausmittel anwandte. Exploratoren berichteten auch, daß mancherorts vom Dorfkaufmann eine Medizin zusammengestellt wurde. Zu der Zeit, als sich die Industriearbeiter bereits bessere Rechte erkämpft hatten, mußten die Unternehmer die Arztkosten tragen, eine Regelung, durch die die Saisonarbeiter auch in einer speziellen Notlage von den Grundbesitzern abhängig wurden. Letztendlich wurde es diesen Arbeitern ermöglicht, der Versicherung beizutreten und nun bei Bedarf einen Arzt in Anspruch zu nehmen. Die Saisonarbeiter gingen mit ihrem schwer erarbeiteten Lohn sehr sparsam um. Dieses Verhalten kommt auch in ihrer Ernährungsweise zum Ausdruck. Zur Zubereitung ihrer Speisen verwendeten sie die ihnen zur Verfügung gestellten Naturalien: Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Mehl u. dgl. Hinzu gekauft wurde nur das Notwendigste: Brot, Heringe, Malzkaffee, Gewürze wie Salz und Zucker usw. Die Gemeinschaftsküchen waren mit Grudeöfen ausgestattet, die mit Grudekoks beheizt wurden. Da die Glut in dieser Art von Herden über Stunden erhalten bleibt, erforderte ihre Bedienung nur wenig Arbeitsaufwand. Die Saisonarbeiter bereiteten abends ihr Mittagsmahl für den nächsten Tag in einem mit ihrem Namen versehenen Kochgefäß vor und gaben es in der Küche ab. Den Dienst in der Küche versah meist die Frau des Aufsehers. Ihr stand bei einer größeren Personenzahl noch eine Hilfskraft aus den Kreisen der Saisonarbeiterinnen zur Seite. Diese Frauen überwachten am nächsten Vormittag den Garprozeß des Essens. Für ihre Arbeit, zu der oft noch die Reinhaltung der Kaserne hinzukam, erhielten sie den üblichen Tagelohn, der sich in Zeiten der Akkordarbeit entsprechend erhöhte. Zur Mittagszeit wurden die Eßgefäße auf das Feld gefahren. Sonntags kochten die Saisonarbeiter selbst in der Gemeinschaftsküche, wobei sich manchmal Kochgemeinschaften bildeten. Morgens trank man zu Schmalzbroten Ersatzkaffee ohne Milch und Zucker. Das Abendessen bestand aus Kaffee mit Brot, Kartoffeln mit Schmalz, Heringen oder Speckgrieben. 114

Eine detaillierte Darstellung über die Schnitterkasernen siehe bei RÄCH, 1975: 171—192.

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In Anbetracht der außerordentlichen physischen Belastung durch die schwere Arbeit im Akkordsystem bei oftmals extremen Witterungsverhältnissen ist es nicht verwunderlich, daß namentlich bei den Männern ein Bedürfnis nach einem Anregungsmittel wie dem Alkohol bestand. Dennoch gebot der Wille zur Sparsamkeit, sich Zurückhaltung aufzuerlegen. Die Saisonarbeiter bevorzugten das System der Selbstbeköstigung gegenüber einer Versorgung durch die Gutsverwaltung. KAERGER berichtet, daß es auf einem Gut zu einer förmlichen Revolution mit Arbeitsverweigerung und Demolierung des Mobiliars gekommen sei, als man in dieser Angelegenheit eine Änderung herbeizuführen versuchte.115 In den kleineren bäuerlichen Betrieben wurden die wenigen Saisonarbeiter mitbeköstigt. An Werktagen trugen die Saisonarbeiter eine „unauffällige" Arbeitskleidung. Den Bördebewohnern fiel am meisten auf, daß sie häufig bis in den Herbst hinein barfuß liefen oder in Holzschuhen und -pantoffeln arbeiteten. Die Frauen besaßen aus grobem, festgewebtem Stoff gefertigte Röcke, die bei nassem Wetter hochgeschürzt wurden, dazu eng anliegende, knöpfbare Arbeitsjacken. Den Kopf schützten sie mit einem dunklen Tuch, der sogenannten „Kopfkuke", die sie etwas über die Stirn zogen und deren Zipfel sie im Genick zusammenbanden. Aus Klein Mühlingen liegt eine Beschreibung der weiblichen Festkleidung vor: „Die Sonntagskleidung bestand aus einem farbigen, meist roten Rock, der mindestens bis zum Knöchel reichte und mit mehreren dunklen Borten besetzt war. Dazu eine lose Bluse, vorn zu knöpfen mit Längsrüschen an der Vorderseite und einfachem Ausschnitt. Die Vorderseite war kürzer geschnitten im geschweiften Bogen, nach hinten zu länger. Der untere Rand war mit einer längeren Spitze besetzt. Dazu trug man eine meist grell einfarbige seidene halbe Schürze, die entweder mit andersfarbiger Borte oder auch mit Fransen besetzt war. Die Ärmel der Bluse waren oben im Ansatz puffig gehalten, sonst lang und glatt. Dazu trug man ein einfarbiges oder geblümtes Kopftuch in grellen Farben, manchmal mit dunklen Fransen."116 (Abb. 44, slowakische Arbeiterinnen) In Haldensleben kleideten sich die Saisonarbeiter an Sonn- und Feiertagen folgendermaßen: „Die Frauen trugen wollene Röcke in dunkler Farbe. Darüber hing eine jackenähnliche Bluse von greller Farbe. Der Kopf war mit einem Tuch, ebenfalls grellfarbig, bedeckt. Die Füße waren mit kurzen Schaftstiefeln bekleidet. Bluse und Kopftücher waren mit Mustern versehen. Die Männer trugen Hosen, die in Schaftstiefeln staken, Weste, Jacke und meist einen dunklen Hut, der eine runde Vertiefung hatte."117 Leider fehlt es an näheren Angaben über die Herkunft der Träger dieser Kleidung. (Anlage Nr. 15) An Wäsche wurde nur so viel mitgebracht, wie zum Wechsel nötig war. Man wusch oft und viel. Die Freizeit der Saisonarbeiter war infolge ihrer starken Beanspruchung während der zehn- und zwölfstündigen Arbeitszeit, durch das System der Akkordarbeit und die Ableistung von Überstunden auf ein geringes Maß beschränkt. Sie nutzten die wenigen Stunden am Feierabend dazu, sich zu waschen und ihre Kleidung nach der Feldarbeit zu reinigen, auszubessern und die nötigsten Einkäufe zu tätigen. Nach dem Abendessen mußte die Mittagsmahlzeit für den nächsten Tag vorbereitet werden. Gastwirtschaften besuchten die Saisonarbeiter, aus Sparsamkeitsgründen kaum. Sie blieben in der Kaserne unter sich und besorgten sich bei Bedarf Getränke beim Aufseher 115

KAERGER, 1 8 9 0 : 58.

116

Fragebogenmaterial Klein Mühlingen, Frageliste Nr. IV/13. Fragebogenmaterial Haldensleben, Frageliste Nr. IV/13.

117

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und gegen Ende des 19. Jh. beim Kaufmann. Einige besaßen eine Ziehharmonika oder eine Mundharmonika, und allgemein wird bezeugt, daß die Saisonarbeiter in ihrer Freizeit und während der Arbeit in den Kolonnen gern sangen. An Samstagabenden gab es in einem geeigneten Raum der Kaserne hin und wieder Tanz. Gegen 22 Uhr löschte der Aufseher jedoch das Licht. In den arbeitsfreien Stunden wurden auch Briefe an die Verwandten in der Heimat geschrieben und Handarbeiten gefertigt, die bei der Heimkehr an die Angehörigen verschenkt wurden. In einigen Unterkünften war es üblich, daß vorgelesen wurde. Als Lektüre wurden von der katholischen Kirche Schriften verteilt, und die Aufseher stellten bisweilen alte Exemplare ihrer Tageszeitung zur Verfügung. Bei den Männern war häufig das Kartenspiel beliebt. Gemeinschaf tsbet(iebungen der Saisonarbeiter An Sonntag-Nachmittagen fanden sich Gruppen zu Spaziergängen durch das Dorf zusammen. Arbeiter, die in der gleichen Gegend beheimatet waren und in der Umgebung einen Arbeitsplatz gefunden hatten, statteten sich untereinander Besuche ab. Für die polnischen und galizischen Saisonarbeiter war es charakteristisch, daß sie sich bereits in ihrer Heimat zu Gruppen zusammenschlössen, um den Schwierigkeiten, vor die sie das Leben in der Fremde stellte, besser gewachsen zu sein. Den Agenten und Arbeitsnachweisen bereitete diese Gruppenbildung Sorgen, wenn es darauf ankam, ihren Kunden eine gewünschte Zahl von Arbeitern in einer bestimmten Zusammensetzung nach Alter und Geschlecht zu „liefern" — wie sie sich auszudrücken pflegten. Gemeinsam trugen die Gruppen Forderungen hinsichtlich einer besseren Behandlung vor und verliehen ihnen durch die Androhung von Arbeitsniederlegungen Nachdruck. Bezüglich der Arbeitsleistungen ihrer einzelnen Mitglieder übte die Gruppe untereinander eine Kontrolle aus.118 Es kam nicht selten vor, daß eine Gruppe nach einigen Jahren auf eine Arbeitsvermittlung verzichtete und unter Leitung einer Vertrauensperson, z. B. einer älteren Arbeiterin oder eines Vorarbeiters, selbständig ihre Reise nach Deutschland unternahm.119 Auch die Rückfahrt in die Heimat wurde möglichst gemeinsam angetreten. Mehrfach wird bezeugt, daß die Saisonarbeiter gegen die vorzeitige Entlassung eines Teiles der Gruppe Protest einlegten. Der größte Teil der Saisonarbeiter bekannte sich zum katholischen Glauben. Diese Tatsache verursachte in der Magdeburger Börde, einem Gebiet mit überwiegend evangelischer Bevölkerung, konfessionelle Veränderungen von allgemeiner Bedeutung. Im Jahre 1858 gab es im Kreise Wanzleben neben 56122 evangelischen 3923 katholische Christen. Nach sechs Jahren hatte sich die Zahl der Katholiken um etwa 29 Prozent auf 5064 erhöht.120 Die katholische Kirche war sehr an der seelsorgerischen Betreuung der Saisonarbeiter während ihres Aufenthaltes in der Fremde interessiert und sandte zu diesem Zweck Geistliche in einzelne Bördedörfer, welche diese Aufgabe übernahmen. Es wurden eigens katholische Pfarrämter geschaffen und nach einer Periode der Improvisation auch Kirchenbauten errichtet. In vielen Dörfern standen den Arbeitern aber zunächst für ihre sonntäglichen Gottesdienste lediglich provisorisch eingerichtete Andachtsräume in den Unter118

TRZCIÄSKI, 1 9 0 6 : 58—59.

119

SCHMIDT, 1 9 1 1 :

120

STAM, Rep. C 30 Wanzleben A (alt), Nr. 34: 33, 42.

194.

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kunftsgebäuden, in Gastwirtschaften, bei Kaufleuten usw. zur Verfügung. J20a Nach einem Bericht des Landrates in Oschersleben vom Jahre 1897 fanden die Andachten des öfteren in den Nachtstunden statt, „um die polnischen Arbeiter nicht in ihrem Tagewerke zu beeinträchtigen".121 Sie scheuten auch nicht die weiten Fußmärsche bis zum nächsten Pfarrbezirk. „Die Gutsbesitzer", so schreibt NICHTWEISS, „waren ihrerseits an der kirchlichen Betreuung der Fremdarbeiter interessiert, weil die Geistlichen diese zu fleißiger Arbeit und Gehorsam anhielten und den Kontraktbruch oder gar Streiks als Sünden hinstellten. In diesem Sinne wirkten sowohl die Geistlichen der Heimatgebiete als auch die für die Arbeitsstelle zuständige kirchliche Behörde."122 Zu Differenzen mit den landwirtschaftlichen Unternehmern kam es auf diesem Sektor lediglich hinsichtlich der Wahrung der in den Herkunftsgebieten üblichen kirchlichen Feiertage, an deren Einhaltung sich die Saisonarbeiter gebunden fühlten. Zu Fronleichnam wurden Prozessionen in Bahrendorf, Wanzleben, Meyendorf, Egeln veranstaltet, an denen sich zahlreiche Saisonarbeiter beteiligten. Am ersten Sonntag im August wurden Wallfahrten zur St. Annenkapelle in Glüsig bei Althaldensleben durchgeführt. Die Saisonarbeiter von Kleinalsleben und Hamersleben, Orten außerhalb der Börde, besuchten Wallfahrtsstätten in Schwaneheck und auf dem Huy. Für die Kinder der ehemaligen Wanderarbeiter preußischer Staatsangehörigkeit und anderer in der Börde ansässig gewordener katholischer Familien wurden eigens entsprechende konfessionelle Schulen eingerichtet. Drei dieser Schulen wurden bereits 1864 in der Statistik des Kreises Wanzleben nachgewiesen.123 In der Wahrung religiöser Interessen bestand auch ein wesentliches Anliegen der Vereine in Deutschland lebender Polen.124 In der Wahl der Namen kommt dieses Bestreben bereits zum Ausdruck. So wurde am 1. Dezember 1889 in Egeln der „Peter und Paul-Verein" gegründet, in dessen Statuten neben der Unterhaltung bei gemeinschaftlichen Zusammenkünften und der Unterstützung in Sterbefällen die Auslage katholischer Bücher und Zeitschriften in das Programm aufgenommen wurde.125 Im Jahre 1894 zählte der Verein laut Bericht des Regierungspräsidenten zu Magdeburg 50 Mitglieder, deren Zahl sich in den folgenden Jahren verringerte.124 1898 besaß er 20 eigene und 195 Bücher des Volksbibliotheksvereins Posen und konnte Interessenten folgende Zeitungen zur Lektüre anbieten: „Wiarus Polski", „Gazeta Gdanska" und „Goniec Wielkopolski".127 Zur Durchsetzung religiöser Forderungen wurde am 4. Februar 1894 eine Versammlung katholischer Polen nach Magdeburg einberufen, an der etwa 200 Bergleute, Arbeiter, kleine Handwerker und Handelsleute aus der Provinz Sachsen teilnahmen. Nach einem Vortrag des Versicherungsagenten und Initiators der Veranstaltung ROGALA über die „Not und Bedürfnisse der Polen in der Provinz Sachsen in seelsorgerischer und nationaler Beziehung" erfolgte die Annahme einer Resolution, mit welcher der zuständige Bischof von Paderborn zum dritten Male um die Entsendung und ständige Einsetzung eines katholischen Geistlichen polnischer Nationalität gebeten wurde. Zur Begründung führte ROGALA an, „daß 12°» 121 122

Vgl. Anlage Nr. 27. STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 3802, vol. I: 415.

NICHTWEISS, 1 9 5 9 : 175.

Statistik ... Wanzleben, 1867: 77. IM VGL, JERL Beitrag BIRK zum Vereinswesen im Kreis Wanzleben in diesem Band. 125 STAM, Rep. C 28 Ia, Nr. 864, vol. IV: 183, 184. 126 STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 3802, vol. I: 113. 127 STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 3802, vol. II: 102. 123

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die Polen in hiesiger Provinz in einer gar schlimmen und traurigen Lage wären, und ihren kirchlichen wie religiösen Pflichten und Bedürfnissen nicht genügend nachkommen könnten, weil sie das in deutscher Sprache gepredigte Wort Gottes, so wie das heilige Evangelium nicht verständen, auch bei der Beichte mit ihrem Beichtvater sich nicht genügend verständigen könnten".128 Über das Ergebnis dieser Aktion informierte der Oberpräsident der Provinz Westfalen den Oberpräsidenten der Provinz Sachsen am 31. März 1894 dahingehend, daß der Bischof von Paderborn seit Jahresfrist drei jungen Geistlichen durch einen der polnischen Sprache mächtigen Franziskaner Privatunterricht erteilen ließ, um sie alsdann in die Provinz Sachsen zu entsenden, und zwar — wie aus einem bischöflichen Schreiben hervorging — an Stellen, „welche nicht unbesetzt bleiben durften und an welchen für die dort theils Ansässigen, theils den größten Theil des Jahres dort arbeitenden sehr zahlreichen Polen keine sonstige ständige Seelsorge eingerichtet ist".129 Die Forderung der polnischen Katholiken wurde somit nicht im gewünschten Sinne erfüllt. 1 8 9 6 verließ R O G A L A Magdeburg. Im Jahre 1892 war in Magdeburg der „Verein vom heiligen Nepomuk" gegründet worden, dem 1894 67 Mitglieder, und zwar meist Arbeiter, angehörten. Zu dieser Zeit existierten im Reg.-Bez. Magdeburg laut Meldung des Regierungspräsidenten außerdem folgende polnische Vereine: „Verein vom Herzen Jesu" in Thale mit 20 Mitgliedern; „Verein des heiligen Nicolaus" in Wegeleben, Kreis Oschersleben, mit 27 Mitgliedern; „Verein des heiligen Peter und Paul" in Egeln, Kreis Wanzleben, mit 50 Mitgliedern; „Katholischer Polenverein" in Tangermünde mit 32 Mitgliedern; „Verein des heiligen Stephan" in Gommern mit 32 Mitgliedern; „Katholisch-polnischer Verein" in Völpke, Kreis Neuhaidensieben.130 Im Jahre 1903 berichtete der Regierungspräsident zu Magdeburg an den Oberpräsidenten der Provinz Sachsen, daß nach Wahrnehmung des Polizeipräsidenten die katholischpolnische Bewegung in der Stadt Magdeburg umfangreicher und reger geworden sei, „so daß derselben eine intensivere Aufmerksamkeit seitens der politischen Polizei zugewendet werden mußte".181 Seit dem 13. August 1900 gab es nämlich in Magdeburg neben dem „Johann-Nepomuk-Verein" den polnisch-katholischen Arbeiterverein „Einigkeit". Außerdem erfuhr die polnische Bewegung einen Impuls durch die Herausgabe der Zeitung „Robotnik Polski", die seit April 1903 zweimal wöchentlich in Bochum erschien und für die in Sachsen, im Hannoverschen, Braunschweigischen und in den benachbarten Gebieten lebenden Polen bestimmt war.132 Die „Gazeta Torunska" stellte ihren Lesern den „Robotnik Polski" als „ein polnisch-katholisches und Arbeiterblatt" vor, das gewillt sei, alias zu „unterstützen, was seinen Lesern als Polen, Katholiken und Arbeitern Nutzen bringen kann".138 Den Polen in der Fremde sei eigens eine Rubrik gewidmet, die Nachrichten aus Sachsen, Hannover, Schlesien usw. vorbehalten sein soll. In einem ersten Überblick führt die „Gazeta Torunska" hier folgende Beiträge an: Klagen über den Mangel an Seelsorge, Schilderungen von Papstjubiläumsfeiern und Versammlungen, ferner Ankündigungen von Volks- und Vereinsversammlungen, Mitteilungen über polnische Andachten. Letztlich STAM, STAM, 130 'STAM, 131 STAM, 132 STAM, 133 STAM, 128 129

11

Rep. Rep. Rep. Rep. Rep. Rep.

C 20 C 20 C 20 C 20 C 20 C 20

AK, Landarbeiter II

Ib, Ib, Ib, Ib, Ib, Ib,

Nr. 3802, Nr. 3802, Nr. 3802, Nr. 3802, Nr. 3802, Nr. 3802,

vol. vol. vol. vol. vol. vol.

I: 25. I: 54. I: 113. II: 269. II: 269. II: 221, 222.

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sollten den Lesern auch politische Nachrichten und Meldungen aus Polen übermittelt werden.134 Außerhalb der Stadt Magdeburg jedoch wurde dem Bericht des Regierungspräsidenten zufolge weder in den Land- noch in den Stadtkreisen ein Wirksamwerden der katholischpolnischen Bewegung registriert, obwohl die Anzahl der Polen preußischer Staatsangehörigkeit in den Bergwerken und ausländischer Polen in der Landwirtschaft ständig zunahm.135 In Magdeburg wurde das St. Josephshaus allmählich zu einem Zentrum der PolenBewegung. Es gehörte einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die sich im Jahre 1896 gebildet hatte und deren Mitglieder meist Handwerker und Kaufleute waren. Diese Gesellschaft verfolgte nach ihren Satzungen das Ziel, in dem St. Josephshaus „gegen ortsübliche Entschädigungen a) den katholischen Gesellenvereinen angehörenden Gesellen ein Heim bzw. Herberge zu gewähren, b) als Versammlungs- und Restaurationslokal für' katholische, Wohltätigkeits-, Gesangs- und Bildungszwecke fördernde Vereine zu dienen".136 Im St. Josephshaus fanden auch die Zusammenkünfte des polnisch-katholischen Vereins „St. Nepoinuk" sowie öffentliche Polenversammlungen statt. So konnte z. B. am 16. Juli 1905 das „Polnisch-politische Komite für Berlin und die Provinz Brandenburg" eine Werbeveranstaltung durchführen, und am 23. Juni 1907 gründete der Gewerkschaftssekretär und Vorsitzende der Polnischen Berufsvereinigung Bochum hier eine Abteilung Magdeburg.137 Das Schanklokal des St. Josephshauses erfreute sich nicht nur bei den in Magdeburg lebenden Polen großer Beliebtheit, sondern es wurde an Sonn- und Festtagen schon vormittags, nach Beendigung des Gottesdienstes auch von auswärtigen Polen aufgesucht. Im Jahre 1910 ist eine verschärfte Überwachung der polnischen Bewegung zu beobachten. In diesem Zusammenhang wurde ein besonderes Augenmerk auf den Bund der im Auslande studierenden polnischen Jugend gelenkt, dessen Mitglieder der Aufklärungstätigkeit im national-polnischen Sinne unter den polnischen Arbeitern bezichtigt wurden.13* Im Juli desselben Jahres erfolgte die Einrichtung von Überwachungsstellen für polnische Angelegenheiten in Posen, Berlin, Bochum und Beuthen mit der Funktion von „Sammel- und Sichtungsstellen für alles die nationalpolnische Bewegung betreffende Material". Die Provinz Sachsen wurde der Überwachungsstelle Berlin zugewiesen. Den örtlichen Polizeibehörden oblag weiterhin die Überwachung örtlicher Versammlungen. Die Weiterleitung wichtiger Überwachungsberichte wurde ihnen zur Pflicht gemacht. Die Überwachungsstelle Berlin hatte darüber hinaus die Befugnis, bei besonderen Anlässen ihre eigenen Beamten in die Provinz zu entsenden.139 Ein polizeilicher Überwachungsbericht vom November 1910, der auf dem Wege über die Polizei- und Regierungspräsidenten zu Magdeburg dem Berliner Polizeipräsidenten zur Kenntnis gelangen sollte, schildert die Situation in Magdeburg folgendermaßen: Die Anzahl der polnischen Bevölkerung belief sich zu dieser Zeit auf etwa 1000 Personen, die in der überwiegenden Mehrzahl Arbeiter und kleine Handwerker waren. Von ihnen gehörten 45 dem Verein „St. Johann Nepomuk", 35 dem Arbeiterverein „Einigkeit" und 44 der STAM, i « STAM, , 136 STAM, 137 STAM, 138 STAM, 139 STAM, 134

Rep. C 20 Ib, Nr. 3802, vol. II: 221, 222. Rep. C 20 Ib, Nr. 3802, vol. II: 269. Rep. C 28 Ia, Nr. 864, vol. IV: 1 7 1 - 1 7 4 . Rep. C 28 Ia, Nr. 864, vol. IV: 1 7 1 - 1 7 4 . Rep. C 20 Ib, Nr. 1948, vol. IV. Rep. C 28 If, Nr. 1648: 11.

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Abteilung Magdeburg der polnischen Berufsvereinigung Bochum an. Eine kleine Zahl der in Magdeburg lebenden Polen hatte sich bereits den Organisationen det deutschen Sozialdemokratie angeschlossen.140 Während in Magdeburg die Arbeitervereinigungen an Bedeutung zugenommen hatten, zeigte die Entwicklung des „Peter und Paul-Vereins" in Egeln laut Bericht des Landrates von Wanzleben vom gleichen Monat eine andersartige Tendenz. Sein aus Geschäftsleuten polnischer Herkunft bestehender Vorstand bemühte sich, eine „staatstreue" Gesinnung zu bekunden, indem er z. B. neben seinen Monatsversammlungen und einem jährlichen Stiftungsfest eine Königin-Luise-Feier veranstaltete. Die Berichterstatter äußerten jedoch Zweifel an der „Echtheit der Überzeugung" und vermuteten, daß sie lediglich als Deckmantel für eine national-polnische Agitation dienen sollte.141 Die Beziehungen zwischen ausländischen und deutschen Arbeitern waren im allgemeinen je nach dem Grad des politischen Bewußtseins sehr differenziert, war doch die Existenz des Saisonarbeiterpotentials auf dem Arbeitsmarkt insgesamt gesehen für die Lohnentwicklung von negativer Wirkung. In Zeiten von Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit wurden in Arbeiterkreisen auch Stimmen laut, die sich generell gegen eine Beschäftigung der Fremden wandten. Zwischen den Landarbeitern in der Börde und den Saisonarbeitern konnte sich auf der Grundlage der gemeinsamen Arbeit ein gutes kameradschaftliches Verhältnis entwickeln. Bewußt oder tmbewußt verband sie die Zugehörigkeit zur gleichen Klasse. Man nannte sich gegenseitig bei den Vornamen. Lobend hervorgehoben wird noch heute von Bördebewohnern ihr Fleiß, ihre Ausdauer bei schwerer Arbeit und Witterungsunbilden, besonders in den Jahren, in denen sich die Rübenernte bis weit in den Spätherbst erstreckte. Die Dorfburschen statteten gern den Mädchen aus der „Kaserne" einen Besuch ab. Um die Mädchen entspann sich jedoch auch gelegentlich Streit zwischen den einheimischen und den Saisonarbeitern. In einigen Orten wurde nach der Getreideernte für alle Arbeiter ein gemeinsames Erntefest veranstaltet. Ortsansässige Arbeiter und Arbeiterinnen, die gegenüber den Saisonarbeitern Aufsichtsfunktionen inne hatten, wurden — wenn sie ein gutes Verhältnis zu ihnen hatten — zu den bescheidenen Hochzeits- und KindtaufFeiern in die „Kaserne" gebeten. In Domersleben hingegen, wo eine strenge Trennung zwischen den Gruppen der einheimischen und der Saisonarbeiter herrschte, fehlte es an den persönlichen Beziehungen. Die Saisonarbeiter hatten zwar die Möglichkeit, an öffentlichen Festen und Veranstaltungen teilzunehmen, verzichteten aber häufig aus Sparsamkeitsgründen oder auch aus einer gewissen Zurückhaltung darauf, um nicht Diskriminierungen ausgesetzt zu sein. Die Haltung der übrigen Dorfbewohner läßt sich wie folgt kennzeichnen: Klein- und Mittelbauern kamen mit den Saisonarbeitern nur seltener in Berührung; die Besitzer der Großbetriebe begegneten ihnen mit derselben Geringschätzung wie den einheimischen Landarbeitern. Sie sahen in ihnen lediglich eine „Ware Arbeitskraft", die man nach Bedarf bestellte und nach erfolgter Nutznießung wieder „abschob", wie es in den Meldungen über den Antritt der Rückreise hieß. Kaufleute und Gastwirte bemühten sich aus Geschäftsinteresse beflissentlich, durch den Zustrom der Saisonarbeiter ihre Absatzmöglichkeiten zu verbessern. Nachdem sie im Laufe einer Saison den gewünschten Verdienst erzielt hatten, „belohnten" sie ihre guten Kunden bei ihrer Heimreise sogar mit einem kleinen Werbegeschenk, um sich ihre „Kundentreue" bereits für das nächste Jahr zu sichern. 140 141

STAM, Rep. C 28 If, Nr. 1648: 16, 17. STAM, Rep. C 28 If, Nr. 1648: 19.

11*

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Während die ausländischen Arbeiter nach Ablauf der Aufenthaltsfrist wieder in ihre Heimat zurückkehren mußten, wurden zwischen Saisonarbeitern preußischer Staatsangehörigkeit und Bördebewohnern auch Ehen geschlossen. Dabei stammten die einheimischen Ehepartner aus Landarbeiter-, Industriearbeiter-, Handwerker- und seltener aus Kleinbauernfamilien. In andere soziale Schichten wurde ein Saisonarbeiter nicht aufgenommen. Die Ehepaare blieben in den meisten Fällen im Dorf. Sie sprachen untereinander und später mit ihren Kindern deutsch. Hinsichtlich der Konfessionen fielen die Entscheidungen unterschiedlich aus. Hatten sich die Partner nicht geeinigt, so nahmen die Kinder entweder die Konfession des Vaters oder die der Mutter an. Mit den Angehörigen in der Heimat hielt der ehemalige Saisonarbeiter auch nach einer Übersiedlung in die Börde brieflichen Kontakt aufrecht. Waren die finanziellen Voraussetzungen gegeben, kam es auch zu Besuchen. Im allgemeinen paßten sich die Ehepartner den Lebensgewohnheiten in der Börde an, und sie wurden von den Dorfbewohnern der gleichen sozialen Bevölkerungsschicht geachtet und anerkannt. In manchen Familien erinnerten noch Taufnamen an die alte Heimat, andere bewahrten den Brauch, Namenstage zu begehen. Gelegentlich kam auch ein Gericht auf den Tisch, das in der Börde nicht verbreitet war oder das man auf andere Art zubereitete. Im großen und ganzen jedoch traten keine wesentlichen Unterschiede in Erscheinung. Ahnlich verhielt es sich in den Fällen, wo beide Ehepartner Saisonarbeiter waren und sich entschlossen hatten, nicht mehr in die Heimat zurückzukehren. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt als Landarbeiter oder gingen auch in die Industrie. Sie glichen sich ebenfalls in ihrer Lebensweise den Gepflogenheiten der ihren sozialökonomischen Verhältnissen entsprechenden Schicht der einheimischen Bevölkerung an, wurden in ihre Gemeinschaft aufgenommen und von ihr anerkannt. Die Kinder dieser Ehepaare wuchsen mit ihren Altersgefährten im Dorfe auf und heirateten später in einheimische Familien ein. Es kam auch vor, daß junge Zuckerfabrikarbeiter aus dem Eichsfeld Saisonarbeiterinnen freiten.142 Reflexe der periodischen Wanderungen in den Herkunftsgebieten der Saisonarbeiter Die Summe des Geldes, das die Wanderarbeiter während einer Saison nach Abzug der Kosten für ihren Lebensunterhalt von ihrem Lohn übrig behielten, veranschlagte K A E R G E R gegen Ende der achtziger Jahre des 19. Jh. mit durchschnittlich 150 Mark, in Ausnahmefällen bis zu 300 Mark. 143 Nach den Ermittlungen der Börde-Exploratoren erhöhte sich der Betrag infolge der erkämpften Verbesserung der Lohnverhältnisse in der Landwirtschaft nach 1900 allmählich auf etwa 400 bis 500 Mark. Die Aufseher konnten natürlich auf Grund ihrer Sonderstellung höhere Rücklagen erzielen. Die Ersparnisse bewahrten die Saisonarbeiter in ihrer Unterkunft auf oder übergaben sie einer Vertrauensperson zur Aufbewahrung. Gewöhnlich wurden aber bereits Teilbeträge per Post an die Angehörigen in der Heimat gesandt. Über die Ausgaben der Saisonarbeiter hat STEFAN SCHMIDT auf einem Gut der Provinz Sachsen interessantes Material sammeln können. Er veranlaßte eine Gruppe von 46 galizischen Frauen und 3 Männern, sämtliche im Laufe ihres Aufenthaltes getätigten Ausgaben 142

Fragebogenmaterial Großalsleben, Frageliste Nr.

113

KAERGER, 1 8 9 0 : 5 9 .

IV/14.

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in eigens zu diesem Zweck verteilte Bücher einzutragen. Als Belohnung für ihre Mühewaltung wurden den Betroffenen photographische Aufnahmen versprochen. Für eine Auswertung erwiesen sich nach Abschluß der Aktion sechs Bücher als besonders geeignet, darüber hinaus waren weitere elf bedingt verwendbar. Die Aufzeichnungen stammten ausschließlich von Frauen. In einer Zusammenfassung der Ergebnisse kam STEFAN SCHMIDT u. a. zu folgenden Feststellungen: „Zur Beurteilung der Höhe der Ausgaben für Nahrungsmittel muß daran erinnert werden, daß die Mädchen eine Kost erhalten, die aus Morgenkaffee, Mittag- und Abendbrot besteht. Fleisch wird einmal wöchentlich verabreicht. — Bei der schweren Arbeit, der hier die Leute, namentlich in der Hackfruchternte, ausgesetzt sind, wäre wohl eine Fleischbeilage für Frühstück und Vesper sehr angebracht. An dieser Ausgabe wird aber außerordentlich gespart, und nur ausnahmsweise leistet sich ein Mädchen ein Stück Wurst. Das finden wir in den Ausgabenbüchern bestätigt. Es wird eben zum Frühstück und Vesper vornehmlich Brot mit Schmalz verzehrt, aber alles dies nicht in reichlichen Portionen, denn es entfällt pro Kopf und Tag etwa 1 Pfd. Brot. An einzelnen Sonntagnachmittagen leisten sich die Mädchen Tee oder richtiger Teewasser mit Rum. Hier und da kauft sich ein Mädchen gelegentlich einer Sonntagsfahrt nach Halle Süßigkeiten, aber nur in ganz geringen Mengen." Nach dieser Ubersicht über den Bedarf an Lebensmitteln wandte sich SCHMIDT den übrigen Ausgaben zu: „Zu den häufigsten Einkaufsgegenständen gehören K l e i d u n g s s t ü c k e und S c h u h w e r k . In meinem Beispiel machen sie den höchsten Prozentsatz an den Gesamtausgaben aus, bei Selbstbeköstigung der Leute stehen sie wohl stets an zweiter Stelle. Die P a n t o f f e l n gehören auch zu den Gegenständen, die mit am häufigsten gekauft werden. Ihr Preis ist ziemlich gleichmäßig. Unter 25 Fällen kommen nur 4 vor, wo der Preis auf 1,30 und sogar auf 1,70 steigt, im übrigen nur Schwankungen von 0,60—0,75 M. K l e i d e r s t o f f e und fertige billige K l e i d e r bilden die allgemeinsten Kaufgegenstände. Man kann wohl annehmen, daß j e d e s M ä d c h e n v i e l e s o l c h e b i l l i g e n K l e i d e r mit nach Hause nimmt. Es läßt sich dabei, den Eintragungen nach, schwer eine Grenze zwischen fertigen ganzen Kleidern, die man in Preußen schon zu spottbilligen Preisen bekommen kann, und Kleiderstoffen ziehen; in den Eintragungen ist z. T. keine Unterscheidung zwischen Kleidern und Kleiderstoffen gemacht. Unter 35 verzeichneten Fällen finde ich Kleider zum Preise von 3—4 M; die meisten zu 5—7 M und seltener darüber bis 14 M. Die untere Grenze der für Kleider verzeichneten Ausgaben darf vor allem für Kleiderstoffe angenommen werden und nicht für Kleider. Ferner finden sich mehrere Ausgabenposten für Röcke von 2—4 M, selten darüber verzeichnet; ebenfalls für Schürzen' von 2—5 M, im Durchschnitt 3 M, schließlich auch für Jacken 2,50—5 M. Den Preisen nach werden durchweg billige Qualitäten gekauft. Nur eine einzige Eintragung bezieht sich auf S t r ü m p f e , dafür aber einige Eintragungen auf W o l l e , die dann in freier Zeit verstrickt wird. Die Wäsche steht hinter den bereits erwähnten Kleidungsstücken zurück. Es sind unter den Eintragungen Hemden zu je 1,30—1,70 M, Taschentücher zu je 15,20 und 30 Pf. und Handtücher meistens zu je 40 Pf. vorhanden. Es sind jedesmal einzelne Stücke, die gekauft werden. K o p f t ü c h e r treffen wir in den Preisen von 50—70 Pf. an, seltener von 1,50—3 M. Bänder von 0,25—1,50 M und S p i t z e n zum Schmücken von Ärmeln von je 20—70 Pf. Unter dem G e s c h i r r und sonstigen Küchen-, Wasch- und ähnlichen Geräten nimmt der E m a i l l e e i m e r entschieden die erste Stelle ein. Er ist dem Verfasser bei verschiedenen

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Gruppen von Wanderarbeitern in Halle a. S. und in Landstädten der Provinz aufgefallen, namentlich zur Zeit der Ankunft und kurz vor der Abreise der Leute. Der Emailleeimer wird namentlich von denen gekauft, die ihr Essen im eigenen Geschirr nach dem Felde geschickt bekommen, wozu dann die Eimer verwendet werden. Auch werden in ihnen eingekaufte Waren über die Grenze geschmuggelt. Der Eimer dient zur Aufbewahrung der wertvollen Sachen und der Nahrungsmittel, die man für die Heimreise mitnimmt. Kurz, er ist ein vielseitiger Gebrauchsgegenstand. Der Preis des Eimers schwankt zwischen 1 und 1,50 M ; in den meisten Fällen beträgt er 1,20 M. Neben dem E i m e r scheinen M e s s e r , allerlei T ö p f e und Töpfchen, T a s s e n oder Näpfe eine Verbreitung als Einkaufsgegenstände zu haben. Der Preis der gekauften Messer beträgt 10—20 Pf., der Töpfe 0,70—1,25 M, der Tassen und der Töpfchen 15—30 Pf., der Näpfe 0,40—1 M. Auch sind T e l l e r zu 10—25 Pf. allgemein verbreitet. Dagegen werden G l ä s e r so gut wie gar nicht gekauft. Von anderen Gebrauchsgegenständen werden noch Schlösser zu 10 bis 30 Pf., Waschseife, kleine Spiegel ä 15—50 Pf., Steckhaarkämme (oft) ä 25—40 Pf., Toilettenseife ä 8 bis 15 Pf. und Bürsten ä 25—50 Pf. gekauft. Zu Einkäufen, die nur auf ein paar oder einzelne Fälle beschränkt bleiben, konnten in meinem Beispiel folgende festgestellt werden. Es sind 2 Waschfässer gekauft worden, jedes zu 4 M, viermal Fenstervorhänge zu je 1 M, fünfmal Wachstuchtischdecken zu je 1 bis 1,20 M, einmal Handschuhe zu 1,20 M, einmal eine Mundharmonika zu 70 Pf., zweimal Tischtücher zu je 1,20—2 M, viermal Scheren zu 0,70—1,25 M, abgesehen von einzelnen Kleinigkeiten, wie Leuchtern, Ringen, Anhängern, Glyzerin, Vaselin usw. Diese Gegenstände werden nur von einzelnen Mädchen gekauft, sie sind im allgemeinen nicht verbreitet. Außer den Gegenständen, die ich hier erwähnt habe, werden gelegentlich auch noch andere gekauft. Ein Mädchen hat sich z. B. eine Nähmaschine für 28 M gekauft. Ein Bursche erzählte mir, er hätte im Vorjahre ein Rad nach Hause mitgenommen. Von Agenten der Firmen werden oft Revolver unter den Leuten vertrieben. Die Burschen schaffen sich diese gern an, um dann in der Heimat Spektakel zu machen. Einige Eintragungen fand der Verfasser unter der Bezeichnung ,Tropfen'; als er nun nachforschte, erfuhr er von den Mädchen, daß es ,Hoffmannstropfen' (eine Mischung von Alkohol und Äther) wären. Die Mädchen gestanden, daß viele von ihnen vor der Abreise je eine Bierflasche voll HOFFMANNSCHER Tropfen für 1 M kaufen. Sie nehmen diese mit, schmuggeln sie über die Grenze und geben sie den Fuhrleuten, die sie von der Bahn nach ihrem Heimatdorf abholen, als Geschenk." 144 Die Ergebnisse der von STEFAN SCHMIDT unternommenen Untersuchung decken sich im wesentlichen mit den Ermittlungen der Börde-Exploratoren. Auch sie berichten, daß die Saisonarbeiter vor ihrer Abreise vor allem Textilien, festes Schuhwerk und Pantoffeln sowie Hausrat einkauften. Die Kaufleute richteten sich in ihren Angeboten auf die Bedürfnisse und Wünsche der Saisonarbeiter ein. Zuweilen wurden eigens Filialen in unmittelbarer Nähe der „Kasernen" eröffnet. Der Transport der auf der Rückreise mitgenommenen Waren erfolgte in großen Rohrkörben und z. T. in Waschzubern, die gut verschnürt auf dem Rücken getragen wurden.145 Die Ersparnisse, die den Saisonarbeitern nach Abzug der Kosten für den Lebensunterhalt und die bei der Rückreise mitgenommenen Waren verblieben, wurden in unterschied114 145

SCHMIDT, 1911: 2 1 2 - 2 1 9 . Fragebogenmaterial Sülldorf, Frageliste Nr. I V / 1 3 .

Lebensweise der Saisonarbeiter

157

licher Weise je nach den Besitzverhältnissen verwandt. Arbeiter ohne Landbesitz hinterlegten das ersparte Geld möglichst bei Banken und Sparkassen, bis die Summe ausreichte, um die notwendige Anzahlung für die ersehnte kleine Wirtschaft zu tätigen.146 Aus diesem Grunde waren sie gezwungen, sofort nach ihrer Rückkehr nach einer Arbeitsmöglichkeit für die Wintermonate Umschau zu halten. Sie nahmen dabei jede sich bietende Gelegenheit wahr. Dennoch fühlten sie sich — wie LEZIUS in der Landsberger Gegend und im Posener Gebiet feststellen konnte — bereits als Facharbeiter eines bestimmten Wirtschaftszweiges und empfanden ihre Tätigkeit im Winter nicht als reguläre Arbeit, ja, sie bezeichneten sich sogar — wenn sie gefragt wurden — als „Arbeitslose".147 In waldreichen Gebieten fanden hauptsächlich Männer, zuweilen auch Frauen in der Forstarbeit im Tagelohn Beschäftigung. In den zur Provinz Brandenburg zählenden Kreisen wurden die Saisonarbeiter während des Winters zudem in Kiesschächten und beim Feldsteingraben eingesetzt. Hier war jedoch auch hausgewerbliche Tätigkeit wie Korbflechterei, Pantoffel- und Futtertrogherstellung sowie Bürstenanfertigung verbreitet, durch die viele Sachsengänger ihren Lebensunterhalt in der kalten Jahreszeit erwarben. Während die Korbund Schwingenflechterei ausschließlich Frauenarbeit unter teilweiser Mithilfe der Kinder war, befaßten sich die Männer mit der Herstellung von Holzschuhen und Futtertrögen. Die Saisonarbeiter mußten sich das hierzu notwendige Material selbst besorgen und verkauften ihre Produkte an einen im Ort oder in der nächst gelegenen Stadt ansässigen Händler.148 In der Provinz Posen und in Schlesien bildete die Forstarbeit im wesentlichen die einzige Möglichkeit zur Erlangung eines Lebensunterhaltes in den Wintermonaten.149 Zur Aufnahme einer Winterarbeit waren auch Eigentümer kleiner Landwirtschaften gezwungen, die mit Schulden belastet waren und ihre Ersparnisse zu deren Abdeckung verwenden mußten. Viele junge Menschen legten — sofern sie nicht ihre Eltern finanziell unterstützen mußten — ihr Geld zurück, um sich einmal eine Existenzgrundlage schaffen zu können. Die Mädchen nutzten häufig das ersparte Geld, um sich die Aussteuer zu beschaffen, die ihnen ihre Eltern nicht geben konnten.150 Lediglich diejenigen Saisonarbeiter, die bereits über eine hinlängliche Existenzgrundlage in Form einer eigenen kleinen Landwirtschaft verfügten, konnten es sich leisten, im Winter von den Ersparnissen aus ihrer Sommerarbeit und den Einkünften ihres Landbesitzes zu zehren und von ihrer schweren körperlichen Tätigkeit auszuruhen. Die Aufenthaltsdauer der Aufseher in ihrer Heimat war so knapp bemessen, daß ihnen gegebenenfalls kaum Zeit zur Verrichtung notwendiger Arbeiten in ihren kleinen Wirtschaften verblieb. Spätestens Mitte Januar begaben sie sich wieder auf die Reise, um die Arbeitskräfte für die nächste Saison anzuwerben. Uber die .Verwendung der Ersparnisse bei den russisch-polnischen und galizischen Saisonarbeitern gibt J U L I U S von TRZCINSKI in seiner Untersuchung folgenden zusammenfassenden Bericht: „Was es für den Landarbeiter bedeutet, zu allen Zeiten und in allen Ländern, ein Stück eigenes Land zu besitzen, ist genügend bekannt. Dieses Zieles wegen ist der Arbeiter aus dem Königreich Polen wie Galizien bereit, sich die Glieder wund zu arbeiten, sich schlecht zu nähren und zu kleiden, um nur schneller seinen Acker zu haben 146 147 148

150

LEZIUS, LEZIUS, LEZIUS, LEZIUS,

1913: 1913: 1913: 1913:

82. 96. 88-91. 92.

Angaben über die Ersparnisse einiger Gruppen von Mädchen und deren Verwendung siehe bei KAERGER, 1 8 9 0 : 1 7 3 - 1 7 4 .

158

Heinrich

oder ihn zu erweitern. Demgemäß werden auch die Ersparnisse in der Heimat verwendet. Der Einlieger verzehrt wohl den größten Teil seiner Ersparnisse, den Rest leiht er auf Zinsen einem Bauern, bis er so viel zusammen hat, daß er ein Stück Land kaufen kann. Hat der Wanderarbeiter schon einen kleinen Hof und Land, so wird das ersparte Geld zum Ankauf des Inventars oder Verbesserung der Wirtschaft verwendet. Lasten Schulden auf dem Grundstück, so. werden sie von dem Saisonlohne abgezahlt. Dies wird besonders von den Galiziern angegeben. Die Ersparnisse der Kinder werden meistens dem Vater übergeben, ebenfalls zur Verwendung in der Wirtschaft." 151 Im wesentlichen stellte von TRZCINSKI die gleichen Tendenzen fest, wie sie bereits für andere Herkunftsgebiete der Saisonarbeiter bezeugt wurden. Trotz der Strapazen, denen die Saisonarbeiter infolge der hohen Arbeitsanforderungen und der menschenunwürdigen Lebensbedingungen ausgesetzt waren, sind doch auch positive Einflüsse der Arbeiterwanderungen nicht zu verkennen. Bereits LENIN, der ähnliche Vorgänge in Rußland beobachtete und analysierte, wies darauf hin, „daß das .Umherziehen' der Arbeiter nicht nur den Arbeitern selbst ,rein wirtschaftliche' Vorteile bietet, sondern daß es überhaupt als eine fortschrittliche Erscheinung bezeichnet werden muß . . . " Er begründet dies unter anderem damit, daß auf diese Weise die Mobilität der Bevölkerung gefördert wird. „Ohne diese Beweglichkeit", so argumentiert LENIN, „kann sich die Bevölkerung auch nicht entwickeln, und es wäre naiv zu glauben, daß irgendeine Dorfschule das zu geben vermöchte, was die Menschen erhalten, wenn sie die verschiedenen Verhältnisse und Zustände im Süden und im Norden, in der Landwirtschaft und in der Industrie, in der Hauptstadt und in der dörflichen Wildnis selbständig kennenlernen."152 So erweiterte sich durch den Aufenthalt in der Fremde der geistige Horizont der Menschen, deren Bildungsmöglichkeiten in ihrer Heimat nur sehr begrenzt waren. Durch größere Mobilität und Bereicherung der Erfahrungen im Kreise der Leidensgefährten vollzog sich eine Bewußtseinsstärkung, die u. a. allmählich zu einer veränderten Haltung gegenüber den Vertretern der herrschenden Klasse führte. Dabei lernten die Landarbeiter, daß sie nur in der Gemeinschaft und im gemeinsamen Handeln ihre Forderungen durchzusetzen vermochten. Sie erweiterten ihre Kenntnisse hinsichtlich der Beherrschung neuer Arbeitsmethoden, die im Alleingang und in der Gruppenarbeit praktiziert wurden, sowie bezüglich der Anwendung neuer Arbeitsgeräte und wirkten in ihren Herkunftsgebieten als Vermittler dieser Novationen. So erfuhr KAERGER von einem Landwirt im Kreise Schrimm, Provinz Posen, „daß die Mädchen, welche früher einmal in Sachsen gearbeitet hätten und jetzt von ihm bei den Rübenarbeiten beschäftigt würden, bedeutend schneller und umsichtiger hantirten, als die Einheimischen, und darum auch einen weit größeren Verdienst wie jene hätten. Während diese oft nur wenig mehr wie 1 M am Tage sich erarbeiteten, brächten es die früheren Sachsengängerinnen fast regelmäßig auf 2 M. Ihre Art und Weise zu arbeiten, beispielsweise die Methode, zuerst sämtliche.Rüben einer Reihe zu lockern und dann sie hinter einander weg herauszureissen, wird nun allmählich auch von ihren Arbeitsgenossinnen angenommen .. ."153 Im Kreise Neutomischel konnte KAERGER Z. B. die Einführung neuer Spaten und Schaufeln, praktischer Kohlenschippen, Tragekörbe, emaillierten Geschirrs und dergleichen durch die Sachsengänger nachweisen.154 151 182

TRZCIÄSKI, 1 9 0 6 : 1 1 0 — 1 1 1 . LENIN, 1 9 5 6 ( 1 8 9 9 ) : III, 2 4 7 - 2 4 9 .

153 161

KAERGER, 1 8 9 0 : 1 8 0 . KAERGER, 1 8 9 0 : 1 8 0 .

Lebensweise der Saisonarbeiter

159

In den Abwanderungsgebieten trat infolge des einsetzenden Arbeitskräftemangels in der Landwirtschaft eine Erhöhung der Löhne ein, von der die aus Russisch-Polen hinzugezogenen Saisonarbeiter allerdings kaum profitierten.155 Ohne Zweifel bedeutete es für die Saisonarbeiter eine große Umstellung, sich namentlich in den großen kapitalistischen Landwirtschaftsbetrieben auf die Einhaltung einer strengen Tagesordnung einzustellen. Die Gewöhnung an diesen vorgeschriebenen Arbeitsrhythmus mag den später eventuell vollzogenen Wechsel in die Industrie erleichtert haben. Der Zwang, zeitweise nach bestimmten Tages- und Hausordnungen leben zu müssen, wird jedoch möglicherweise auch zu Änderungen in der Lebensweise in der Heimat geführt haben. Novationen traten auch hinsichtlich der Kleidung in Erscheinung. Die Saisonarbeiterinnen und -arbeiter begannen, sich durch die mitgebrachten Textilien äußerlich von der übrigen Dorfbevölkerung zu unterscheiden. Ihre Einstellung zur Volkstracht wandelte sich. Billige Preise und modische Formen vermochten jedoch häufig nicht, über Qualitätsmangel in der Verarbeitung und im Material hinwegzutäuschen. Im Posener Gebiet wurde ein neu gekleideter Mensch „Westfalok" genannt. L E Z I U S schließt daraus, daß diese Kleidung zuerst von den westfälischen Grubenarbeitern eingeführt und später von den Sachsengängern übernommen wurde. 156 Die vermutlich aus wirtschaftlicher Not entstandene Gewohnheit, häufig barfuß zu gehen, wurde im Laufe der Jahre als Makel empfunden, und aus diesem Grunde kauften die Saisonarbeiter Pantoffeln und Schuhwerk. Ein Vorwurf, der immer wieder von Gegnern der Saisonarbeit erhoben wurde, daß nämlich die sittliche Haltung der Arbeiter infolge der Wanderungen außerordentlichen Schaden erleide, wird von den Autoren allgemein zurückgewiesen. Die Saisonarbeiter im ersten Weltkrieg Während der Staat seit der Wiederzulassung der ausländischen Saisonarbeiter im Jahre 1890 streng darüber gewacht hatte, daß diese nach Ablauf der festgesetzten Frist wieder in ihre Herkunftsgebiete zurückkehrten, verfolgte er im Rahmen der wirtschaftlichen Vorbereitungen des ersten Weltkrieges das Ziel, bei Kriegsausbruch eine möglichst große Zahl dieser Arbeitskräfte zurückzubehalten, um die Ernährungsbasis zu sichern.157 Auf Grund eines Erlasses der preußischen Minister des Innern und für Landwirtschaft vom 28. September 1914 erteilten am 5. Oktober 1914 alle preußischen Generalkommandos auf Anordnung des Kriegsministers Befehle, nach denen alle männlichen russischen Arbeiter im Alter von 17 bis 45 Jahren während des Winters an ihrem Arbeitsort zu verbleiben hatten und die Grenzen des Orts-Polizeibezirks nicht ohne schriftliche Genehmigung der Ortspolizeibehörde überschreiten durften.158 Auf Drängen der landwirtschaftlichen Unternehmer gaben die Minister für Landwirtschaft und des Innern bereits am 12. Oktober 1914 erneut einen Erlaß heraus, in dem nochmals auf die allgemeine Tendenz des Befehls hingewiesen wurde, die darauf abzielte, „tunlichst alle zurzeit im Inlande befindlichen russischen Saisonarbeiter auch über den Winter 168

KAERGER, 1 8 9 0 : 1 9 2 .

156

LEZIUS, 1 9 1 3 : 6 8 .

167

LOTHAR ELSNER

hat sich mit diesem Zeitabschnitt in seiner Dissertation eingehend befaßt:

ELSNER, 1 9 6 1 . 158

STAM, Rep. C 31 Wanzleben, Nr. 138: 74, 75.

160

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hier zu behalten und ... ihr Verhältnis zum Arbeitgeber möglichst günstig und friedlich zu g e s t a l t e n . . D i e Bestimmungen, nach denen die unter 17 und über 45 Jahre alten russischen Arbeiter und alle Frauen, soweit sie nicht durch Arbeitsverträge gebunden seien und sofern sie Fahrkarten für die Rückreise über ein neutrales Land besäßen, in ihre Heimat zurückkehren könnten, hätten ohnehin „kaum eine nennenswerte praktische Bedeutung".159 Man kannte die Lage der Saisonarbeiter gut genug, um zu wissen, daß ihnen z. B. eine Reise über Skandinavien finanziell unmöglich war. Die landwirtschaftlichen Unternehmer wurden verpflichtet, den Saisonarbeitern während des Winters gegen einen Betrag von 0,50 Mark pro Tag Unterkunft und Verpflegung zu gewähren. Angesichts der steigenden Lebensmittelpreise versuchten die Grundbesitzer jedoch, sogenannte Winterverträge abzuschließen, nach denen die Saisonarbeiter lediglich Anspruch auf Unterkunft, Holz, Kartoffeln und Milch hatten. Bei Arbeitseinsätzen wurde die Hälfte des Sommerlohnes geboten. Die Arbeiter weigerten sich zum Teil, solche Kontrakte zu unterzeichnen. So berichtet der Landrat des Kreises Neuhaidensleben am 16. Dezember 1914 an den Regierungspräsidenten zu Magdeburg: „Auch mir sind einige Fälle bekannt geworden, wo die russischen Wanderarbeiter die neuen Verträge nicht unterschreiben wollten. Soweit dieser Widerstand auf Einwirkung einzelner Russen zurückzuführen war, die sich im aufwiegelnden Sinne betätigt hatten, habe ich die betr. Personen kurzer Hand festnehmen und an das nächste Gefangenenlager abliefern lassen. In einigen Fällen habe ich dem Ansuchen der betr. Landwirte entsprochen und einen Gendarmen entsandt, unter dessen Mitwirken dann auch wohl ein Teil der Verträge zustandegekommen ist. — .. ."16° Beim Landratsamt Neuhaidensleben gingen verschiedene Klagen ein, daß die Landwirte zu Wenig Brennmaterial und zu schlechtes Essen zur Verfügung stellten.161 Ende Oktober 1915 wurden die im Oktober 1914 erlassenen Anordnungen wiederholt, das Rückkehrverbot blieb aufrecht erhalten, und das Verbot der Überschreitung der Ortspolizei-Bezirksgrenze wurde zum generellen Ortswechselverbot erweitert. (Vgl. Anlage Nr. 39) Ausnahmen waren nur zwecks Besuchs der Kirche oder eines Arztes, einer Apotheke und einer Hebamme zulässig. Nicht wehrpflichtige Arbeiter konnten bei schwerer Krankheit oder Tod des Ehegefährten oder der Eltern, bei vorgeschrittener Schwangerschaft und zur Erledigung dringender Rechtsgeschäfte beurlaubt werden, wenn nicht der Verdacht bestand, daß sie die Urlaubszeit überschreiten oder gar nicht wiederkehren würden. Für immer konnten nur diejenigen in ihre Heimat zurückkehren, die nicht mehr arbeitsfähig waren.182 Schließlich wurde in einem im Oktober 1917 vom Kriegsministerium/Kriegsamt herausgegebenen Erlaß den polnischen Arbeitern, die aus dem deutschen Okkupationsgebiet des Ostens stammten, grundsätzlich ein jährlicher Urlaub zugebilligt.163 Nach dem Erlaß des preußischen Innenministers bestand für den größten Teil der in Deutschland befindlichen ausländischen Arbeiter die Pflicht, sich der Inlandslegitimierung durch die Deutsche Arbeiter-Zentrale zu unterziehen. Die Anträge nahmen die Ortspolizeibehörden entgegen. Denjenigen, die sich weigerten, dieser Anordnung Folge zu 169 181

1,2 16S

STAM, Rep. C 31 Wanzleben, Nr. 138: 76, 77. STAM, Rep. C 30 LRA Neuhaidensleben, Teil 1, Nr. 852, 1914-1918. STAM, Rep. C 30 LRA Neuhaidensleben, Teil 1, Nr. 851.

ELSNER, 1961: 117, 119. Elsner, 1961: 209, 210.

Lebensweise der Saisonarbeiter

161

leisten, drohten militärische Haft und Unterbringung im Gefangenenlager. Da die Legitimierung nur bei Vorlage von Arbeitsverträgen vorgenommen wurde, hatte man auf diese Weise zugleich ein Zwangsmittel zum Vertragsabschluß geschaffen. 164 Bereits in den ersten Wochen nach Kriegsausbruch begannen die landwirtschaftlichen Unternehmer, die Löhne der ausländischen sowie der deutschen Landarbeiter systematisch zu senken. Das gewaltsame Zurückhalten der Saisonarbeiter in Deutschland und die Verschlechterung in der Entlohnung führten zu starker Unzufriedenheit und Unruhe unter den ausländischen Landarbeitern. Die Empörung gegen die Willkürmaßnahmen und die verschärfte Ausbeutung äußerte sich in Weigerungen, Arbeitsverträge zu unterschreiben, und in Kontraktbrüchen. Sogenannte „Aufwiegler" wurden in Gefangenenlager überführt. Von einer derartigen Aktion zeugt ein Schreiben des Amtsvorstehers von Westeregeln vom 23. Dezember 1915: „Gemäß telegraphischer Verfügung des Stellvertretenden Generalkommandos des IV. Armeekorps vom 22. Dezember er. — l e No. 77667 — lassen wir dem Gefangenenlager in Altengrabow durch den Polizeisergeanten Bartels und den Feldhüter Brandt 4 russisch-polnische Arbeiter zuführen. Dieselben gehörten zu den russisch-polnischen Arbeitern der Königlichen Domäne hierselbst und haben dieselben aufgewiegelt, die Arbeit niederzulegen und für 1916 keinen Arbeitsvertrag zu unterschreiben. Die Arbeiter sind: 1. 2. 3. 4.

Ludwik G o r e c k i , 15 Jahre alt, Jan T r e l a , 18 Jahre alt, Ignaz S e w e r y n , 18 Jahre alt, Jozef K u b i k , 18 Jahre alt." 165

Im Januar 1915 wurden die Bahnsteigschaffner und das gesamte Eisenbahnpersonäl angewiesen, alle irgendwie verdächtigen russisch-polnischen Arbeiter aufzuspüren und der Bahnpolizei zu überantworten. Der seit Kriegsbeginn unterbrochene Postverkehr mit der Heimat wurde Mitte 1915 unter zahlreichen Behinderungen wieder zugelassen. Aus dem Archivmaterial geht hervor, daß die Saisonarbeiter versuchten, trotz der Kriegswirren ihren Angehörigen in der Heimat auf irgendwelchem Wege finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Andererseits versuchten die Daheimgebliebenen mit Bittbriefen, die Rückkehr ihrer Angehörigen zu erwirken. So schreibt ein Vater, dessen Töchter in Deutschland zurückbehalten wurden: „Ich bitte geerten Herrschaften die Gemeinde Amtfohrsteher das sie möchten meine 2 Töchter die erlaubnis geben und die mihe zuhause schicken und bite auch die Herrschaften Rekleben, das sie möchten meine 2 Töchter die erlaubnis zuhause geben weil ich bin schon als 59 Jahre alt und habe ich 90 Morgen Acker das bin ich nich mehr alleine das zu bearbeiten weil ich durch diesen Krieg krank geworden bin und mein Sohn im Felde steht den möchte ich meine Herrschaften noch einmal biten schicken sie meine Kinder zuhause das meinen Wirtschaft nich überfeit. Hochachtungsvol Jakob Senderek" 166 164

ELSNER, 1 9 6 1 : 1 2 1 , 1 2 2 .

STAM, Rep. C 31 Wanzleben, Nr. 138: 214. w STAM, Rep. C 31 Wanzleben, Nr. 138: 311. 165

162

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Erst bei Beendigung des Krieges sahen sich die Grundbesitzer gezwungen, ihre Opfer freizugeben. Wie aus einem Schreiben des Bezirks-Arbeiter- und Soldatenrates in Magdeburg vom 6. Dezember 1918 zu entnehmen ist, wandten sich nun die ausländischen Arbeiter mit der Bitte an ihn, ihnen bei der Rückkehr in ihre Heimat behilflich zu sein.167 Aber sie mußten sich noch bis zum Beginn des Jahres 1919 gedulden, ehe endlich die Heimreise möglich wurde. Angesichts der verschärften Repressalien, denen die Saisonarbeiter unter einer Ausnahmegesetzgebung ausgeliefert waren, kann nicht nachdrücklich genug darauf hingewiesen werden, daß sowohl die Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft und der Übergang zur intensiven Wirtschaftsweise als auch der Aufschwung der deutschen Industrie seit den neunziger Jahren des 19. Jh. ohne diese ausländischen Landarbeiter kaum möglich gewesen wäre. i « STAM, Rep. C 31 Wanzleben, Nr. 143: 25.

GERHARD BIRK

Zur Entwicklung des regionalen Vereinswesens, unter besonderer Berücksichtigung des Kreises Wanzleben Im folgenden Beitrag soll das Vereinswesen1 im Hinblick auf seine allgemeine kulturhistorische Bedeutung nicht nur theoretisch-abstrakt abgehandelt werden. Auf der Grundlage eines überschaubaren Territoriums, nämlich des im Zentrum der Magdeburger Börde gelegenen Kreises Wanzleben, sollen Probleme der Entstehung, Entwicklung und Ausbreitung des Vereinswesens untersucht werden. Das schließt Fragen nach dem Charakter, Inhalt und Zweck des Vereinswesens, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der proletarischen Vereine, ein. Gleichzeitig soll, da es noch immer an einer umfassenden wissenschaftlichen Darstellung des Vereinswesens als eines relevanten gesellschaftlichen Phänomens seit dem Beginn des 19. Jh. mangelt,2 ein Beitrag zur marxistischen Vereinsforschung geleistet werden. a Vereinsunterlagen im Unterschied zu Akten behördlicher Provenienz in der Regel nicht archivalisch aufbewahrt wurden, liegen der Untersuchung in erster Linie behördliches Archivmaterial der staatlichen Archive (Staatsarchive, Kreis- und Gemeindearchive), aber auch Zeitungen, Vereinsmitteilungen, diverse andere Publikationen über das Vereinswesen, gedruckte Ortschroniken, Aufzeichnungen von Ortschronisten, Adreßbücher und umfangreiche Befragungen ehemaliger Mitglieder bzw. Zeitgenossen bestimmter Vereine zugrunde. Die Befragungen erfolgten teils direkt, teils durch Fragebogenaktionen. Eine besondere Schwierigkeit ergab sich aus dem Umstand, daß Vereinsakten und andere Unterlagen der proletarischen bzw. sozialdemokratischen Vereine, die während der ungeteilten Herrschaft der Bourgeoisie in der Geschichte des deutschen Volkes unterdrückt, verfolgtoder (wie z. B. unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes) verboten waren, auf Grund der illegalen Tätigkeit nicht erhalten geblieben, zum Teil konfisziert worden oder verloren gegangen sind. Bevor im einzelnen auf die Geschichte, Bedeutung und den Inhalt des Vereinswesens im Kernkreis der Magdeburger Börde eingegangen wird, sei eine Definition® des Begriffes 1

2

3

Das Vereinswesen als eine primär bürgerliche Organisationsform wird wegen seiner Vielfältigkeit, Vielgestaltigkeit und seiner allgemeinen Verbreitung, die sich schließlich über alle Klassen und Schichten der Bevölkerung erstreckte, in der Regel als d i e Organisationsform des 19. Jh. (mit entsprechenden Auswirkungen auf das 20. Jh.) bezeichnet. Als Einzelbeiträge zur bürgerlichen Vereinsforschung, die ausschließlich auf lokalen Untersuchungen basieren und deshalb noch keine allgemein gültigen Schlußfolgerungen enthalten können, wären folgende Publikationen zu nennen: SCHMITT, 1 9 6 3 ; H E M P E L , 1 9 6 5 ; F R E U D E N THAL, 1 9 6 8 (hierbei handelt es sich um eine erste umfangreiche Einzeluntersuchung mit der Großstadt Hamburg als Untersuchungsfeld); M E Y E R , 1 9 7 0 . Als soziologische Untersuchung zu diesem Problemkreis wäre zu nennen: STAUDINGER, 1 9 1 3 . Die marxistische Vereinsforschung steht praktisch am Anfang. Es liegen vorerst nur die Ergebnisse einiger lokaler Untersuchungen vor. In der bürgeriichen Literatur wird unter Verein „jede freiwillige, auf Dauer angelegte und körperschaftlich verfaßte Personenverbindung zu einem bestimmten gemeinsamen Zweck" (siehe

164

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Verein, 4 die hier allerdings nur als Arbeitshypothese gedacht ist, vorausgeschickt: Unter Verein als einer typischen gesellschaftlichen Erscheinungsform der vom Kapitalismus geprägten Gesellschaftsordnung verstehen wir den mehr oder minder freiwilligen organisatorischen Zusammenschluß von Personengruppen, der — bedingt durch eine annähernd gleiche ideelle Basis, der letztlich gleichartige materielle Interessen zugrundeliegen — spezifische Zwecke geistig-kulturellen und karitativen Charakters verfolgt und damit die zunehmende soziale Differenzierung, die auch in Politik, Kultur und Lebensweise zum Ausdruck kommt, auf besondere Art und Weise widerspiegelt. Dieser Definition seien folgende Erläuterungen hinzugefügt: Es gibt keine Vereine, die unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen existieren, denn die sozialen Beziehungen der Menschen werden durch die Klassenbeziehungen bestimmt. Dies ist auch dann der Fall, wenn „neutral" bzw. „unpolitisch" anmutende Zweckbestimmungen, wie z. B. Pflege der Religiosität, des geistlichen oder weltlichen Gesanges, der Geselligkeit, sportliche, kulturelle, wissenschaftliche Betätigung, gegenseitige Hilfe, karitative Tätigkeit, angegeben werden. Die Ziele, der Aufbau, die Leitung, die Aufnahmebedingungen, die Art und Weise des Ablaufs des Vereinslebens, die Vereinsbezeichnung, die Beitragshöhe und die Verwendung der finanziellen Mittel usw. werden vorbehaltlich der Vereinsgesetzgebung (mehr oder minder demokratisch) durch Satzungen (Statuten, Vereinsverfassungen) bestimmt. Die ständige oder zeitweilige Verschwommenheit der Zielstellungen und des Klassencharakters bestimmter Vereinstypen bestätigt nur scheinbar die von den meisten bürgerlichen Vereinsforschern verfochtene Auffassung vom „unpolitischen" bzw. „klassenneutralen"5 Charakter des Vereinswesens. Die Ursachen für diese bisweilen zu beobachtende Verschwommenheit sind besonders auch darin zu suchen, daß a) sich die Klassenkräfte noch nicht klar profiliert bzw. ideologisch voneinander abgegrenzt hatten; b) die Klassenkräfte u. U. noch gemeinsame Teilziele (wie z. B. die Reichseinigung) verfolgten oder

4

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BARON, 1962: 2) verstanden. Andernorts (siehe z.B. v. JAN, 1931: 51) gilt als Verein „jede dauernde Vereinigung mehrerer Personen zur Verfolgung bestimmter Zwecke unter einer Leitung". Eine umfassendere Definition gibt SAUTER in: SAUTER, 1958: 1, „Ein Verein stellt eine Vereinigung einer größeren Anzahl von Personen dar, die auf die Dauer berechnet ist, die Erreichung eines gemeinschaftlichen Zieles verfolgt und sich eine die wesendichen Merkmale korporativer Organisationen ... entfaltende Gestaltving gegeben hat, einen Gesamtnamen führt und bei der ein Wechsel im Mitgliederbestand naturgemäß infolge des Wesens der Vereinigung stattfindet." FREUDENTHAL definiert den Begriff Verein aus volkskundlicher Sicht. Ein Verein ist seiner Meinung nach „ein freiwilliger Zusammenschluß um ein gruppengeistig bestimmtes Anliegen, der einen persönlichen Kontakt unter den Mitgliedern voraussetzt und sich durch Gewohnheit oder Satzung eine mehr oder minder feste Konstitution und durch regelmäßige Veranstaltungen.eine eigene Lebensform gegeben hat". (Aus: FREUDENTHAL, 1968: 11). Der Begriff „Verein" erfuhr bislang die vielfältigsten Auslegungen, da er oftmals aus juristischer, zum Teil aber auch aus soziologischer, psychologischer wie auch aus volkskundlicher Sicht definiert wurde. In der vorliegenden Untersuchung wird der Versuch unternommen, den volkskundlichen Aspekt besonders hervorzukehren. Im Gegensatz zu anderen Vertretern der bürgerlichen Volkskunde sind auch WURZBACHER/ PFLAUM — zumindest in der hier angegebenen Quelle — der Auffassung, daß Vereine ein „typisches Produkt des sozialen Differenzierungsprozesses" sind. (Vgl. WURZBACHER/PFLAUM, 1954: 179).

Regionales Vereinswesen

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c) seitens der herrschenden Klassen das demagogische Bestreben verfolgt wurde, die unterdrückten Klassen und Schichten ideologisch an das herrschende Gesellschaftssystem zu binden bzw. Teile der werktätigen Bevölkerung zu korrumpieren. So wurden (neben den übrigen Medien zur geistig-ideologischen Massenbeeinflussung) besonders auch Vereine bzw. über große Teile des Landes verbreitete Vereinstypen dazu mißbraucht, eine „Einmütigkeit", eine „Harmonie" bzw. „Interessengleichheit" zu suggerieren und die Klassenwidersprüche zu verschleiern. Wollte man allein von der sozialen Zusammensetzung her Rückschlüsse auf die politische Position bestimmter Vereine (Vereinstypen) ziehen, so käme man zwangsläufig zu groben Fehleinschätzungen, zumal in bestimmten Zeiten auf größere Teile der Bevölkerung ein zumeist mit der „Macht der Traditionen" wirkender moralischer und vielfach auch ein ökonomischer (materieller) Zwang zum Beitritt in bestimmte Vereine ausgeübt wurde. Die meisten Vereinstypen, die — und dies ganz besonders nach der Reichseinigung — eine das ganze Land umfassende Verbreitung erfuhren, übten auf lange Zeit hin einen großen Einfluß auf das gesamte geistig-kulturelle und politische Leben der Bevölkerung aus. Sie trugen in der Regel dazu bei, daß bestimmte kulturelle (politische) Tendenzen, Traditionen, Verhaltensweisen, Verhaltensnormen und Einstellungen (unterschiedlichen Charakters) eine große Verallgemeinerung und Verbreitung erfuhren. 6 Diese hier skizzierte Entwicklung gewann ständig wachsende Bedeutung, als sich immer größere Teile der Bevölkerung, besonders aber des Proletariats, im Klassenkampf eine größere Freizeit und bessere juristische, materielle und geistige Bedingungen erkämpften, womit wiederum Voraussetzungen für die Teilnahme am Vereinsleben bzw. die Errichtung eines eigenen, proletarischen Vereinswesens gegeben waren. Die äußere Form des vom aufstrebenden, revolutionären Bürgertum inaugurierten Vereinswesens wurde vom Proletariat übernommen und in einem langandauernden, von großen Schwierigkeiten begleiteten schöpferischen Prozeß mit neuen Inhalten und Zielstellungen ausgefüllt. Aus den — auch im Spätfeudalismus — weitestgehend voneinander isolierten Vereinen (Gesellschaften, Sozietäten, Zirkeln etc.) der ständisch und geistig Privilegierten entstanden im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jh. Vereinigungen größten Ausmaßes. Manche dieser Organisationen, die z. T. die traditionelle Bezeichnung Verein beibehielten, nahmen im Laufe ihrer Entwicklung den Charakter von reaktionären Parteien,7 von Gewerkschaften,8 Versicherungen sowie von im Dienste der revolutionären Arbeiterklasse stehenden Einrichtungen9 an. Auf eine Darlegung der Zusammenhänge dieser Vorgänge und Prozesse mit der Nationalkultur und mit nationalen Besonderheiten muß hier — um den Rahmen der Untersuchung nicht zu sehr auszuweiten — vorerst verzichtet werden. 7 So das obrigkeitsstaatlich gesteuerte Militärvereinswesen, der Deutsche Preßverein, der Deutsche Reformverein (als bürgerlich-politische Organisation), der Deutsche Volksverein, Flottenverein, der Deutsche Nationalverein etc. 8 So z. B. die proletarischen Fachvereine mit zum Teil überregionalen Zusammenschlüssen. • So die dem Arbeiter-Sänger-Bund angeschlossenen Arbeiter-Gesangvereine oder die der ArbeiterTurn- und Sportbewegung angegliederten Arbeiter-Turn-Vereine etc. 6

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Die frühen Vereine in und um Magdeburg Zur Entwicklung des Vereinswesens bis 1850 Auf dem Lande herrschten Ende des 18., Anfang des 19. Jh., in jenen Jahren, als sich in den Zentren des ökonomischen und geistigen Fortschritts die ersten Vereine (Gesellschaften) bildeten, noch relativ feste Formen und Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens vor. Die dörfliche Bevölkerung bildete eine in starkem Maße von den Traditionen beherrschte Gemeinschaft mit enger Nachbarschaftsverbundenheit. Die vielfältigen und immer schärfer hervortretenden sozialen Abstufungen und Zersplitterungen, wie sie sich durch die sprunghaft entwickelnde kapitalistische Produktionsweise in den Städten — hier besonders in Magdeburg und im Umland der Stadt — herausbildeten, hatten auf dem Lande nicht sofort ihren Niederschlag in neuen Organisationsformen des gesellschafdichen Lebens gefunden. Die (vom jahreszeitlich bedingten Arbeitsanfall bestimmte und allgemein sehr geringe) Freizeit bzw. die Freizeit- und Festgestaltung vollzogen sich in relativ festen und eingefahrenen Bahnen. Für ein Vereinsleben, wie es sich später unter den sich auch auf das Land ausbreitenden kapitalistischen Produktionsverhältnissen entfaltete, fehlten in jener Zeit die objektiven wie auch subjektiven Voraussetzungen. Erst mit der in der Börde nach 1830 verstärkt voranschreitenden Kapitalisisierung der Landwirtschaft setzte eine zunehmende soziale Differenzierung der Landbevölkerung, die eine Differenzierung der Lebenssphären nach sich zog, ein. Es bildeten sich Unterschiede heraus, die sich schließlich als Gegensätze ausprägten. Besonders die durch die kapitalistische Produktionsweise verursachte, ständig zunehmende Mobilität der Werktätigen trug zum Zerreißen des althergebrachten Geflechtes sozialer und geistig-kultureller Beziehungen bei. Das in starkem Maße vom Geist der Kirche als einem wesentlichen Instrument der herrschenden Kreise geprägte Zusammenleben im weitgehend abgeschlossenen dörflichen Raum machte in der weiteren Entwicklung neuen, für den Kapitalismus typischen Kommunikationsbeziehungen Platz und schuf historisch neue Verbindungen zwischen Stadt und Land. Die einstige Dorfgemeinschaft und mit ihr die Formen und Normen des überlieferten Gemeinschaftslebens gingen ihrer sozialen Basis verlustig. FRIEDRICH ENGELS schildert diesen Vorgang in verallgemeinerter Form folgendermaßen: „Noch war die neue Produktionsweise erst im Anfang ihres aufsteigenden Asts; noch war sie die normale, die unter den Umständen einzig mögliche Produktionsweise. Aber schon damals erzeugte sie schreiende soziale Mißstände: Zusammendrängung einer heimatlosen Bevölkerung in den schlechtesten Wohnstätten großer Städte — Lösung aller hergebrachten Bande des Herkommens, der patriarchalischen Unterordnung, der Familie — Überarbeit besonders der Weiber und Kinder in schreckenerregendem Maß — massenhafte Demoralisation der plötzlich in ganz neue Verhältnisse geworfenen arbeitenden Klasse."10 Das System der althergebrachten „Ordnungen" verlor zusehends seine gemeinschaftsbildende bzw. gemeinschaftserhaltende Kraft. Und es ist — allein auf Grund der Tatsache, daß der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist — ein objektiver Vorgang, daß immer dann, wenn alte Normen und Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens ins Wanken geraten, neue entstehen. Eine der neuen Formen repräsentierte sich schließlich im ländlichen Vereinsleben, das sehr bald in seiner großen Vielfalt und Vielgestaltigkeit zu einem festen Bestandteil des dörflichen Lebens wurde. Das frühe i» ENGELS, 1962 (1878): XX, 243.

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dörfliche Vereinswesen war auf lange Zeit hin allerdings nur ein Privileg jener sozialen Kreise, die übet entsprechende geistige und materielle Voraussetzungen, besonders aber über Freizeit, verfügten. Erst im Ergebnis von z. T. langanhaitenden Klassenkämpfen eroberten sich immer größere Teile der Landbevölkerung bis hin zur Landarbeiterschaft jene Voraussetzungen, die es auch ihnen ermöglichten, bestimmte Vereine als Institutionen ihrer Klasse zu errichten bzw. als mehr oder minder stabile Organe ihrer Interessenvertretung auszubauen und zu nutzen. Die Entstehung und Entwicklung des ländlichen Vereinswesens ist nicht — wie einige bürgerliche Vereinsforscher behaupten — schlechthin einer unkritischen Nachahmung städtischer Organisationsformen und Lebensnormen gleichzusetzen, sondern Ausdruck eines Prozesses, der sich einige Jahrzehnte zuvor in ähnlicher Form auch in den Städten vollzogen hatte. Dieser Prozeß erstreckte sich über einen langen Zeitraum, zumal von Anbeginn reaktionäre, besonders klerikale Kräfte bestrebt waren, dieser der Säkularisierung wie auch der Emanzipation neuer gesellschaftlicher Kräfte dienenden Bewegung Einhalt zu gebieten. In den größeren und großen Orten der Börde etablierte sich das Vereinswesen in einem zeitlichen Abstand von etwa 10 bis 40 Jahren früher als in den meisten anderen agrarischen Regionen Deutschlands. Die zeitlichen Unterschiede von Vereinsgründungen innerhalb der Börde sind z. B. auf solche Faktoren wie Stadtnähe (zu Magdeburg), Grad des Eindringens der kapitalistischen Produktionsweise und damit Grad der sozialen Differenzierung, die Größe des jeweiligen Ortes und auf ähnliche Bedingungen (wie z. B. Vorkommen von Bodenschätzen und ihre industriekapitalistische Ausbeutung, die Errichtung von ländlichen Industrieanlagen, die unterschiedliche Wohlhabenheit der Bauern in den einzelnen Gemeinden usw.) zurückzuführen. Bevor wir uns den ländlichen Vereinen im einzelnen zuwenden, sei hoch ein Blick auf die frühen Vereine in Magdeburg geworfen. Die ersten Institutionen, die Vereinscharakter im Sinne der oben vorgenommenen Definition hatten, waren vom jungen Bürgertum inaugurierte Gesellschaften.11 Sie trügen z. T. schon die Bezeichnung Verein. Der Zweck dieser oftmals nur auf eine geringe Mitgliederzahl von sozial Gleichgestellten und Gleichgesinnten beschränkten Einrichtungen12 waren die Geselligkeit (ungezwungene Unterhaltung, Pflege des Gesanges oder der Instrumentalkunst), aber auch der Austausch von Ideen sittlichen, sozialen oder wissenschaftlichen Inhalts. 11

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Hierzu gehören die bereits 1761 in Magdeburg gebildete „Mittwochs-Gesellschaft" (Verein Lade), die 1811 ihr 50jähriges Bestehen feierlich beging, die „Freitags-Gesellschaft" (sie bestand bis 1860), die 1819 gegründete „Magdeburger Liedertafel", deren Mitglieder sich aus Kaufleuten, hohen Beamten, Ärzten, Lehrern etc. bis hin zum Polizeipräsidenten zusammensetzten, sowie der 1831 entstandene wissenschaftlich-gesellige Verein „Abendsprache". Die Mitglieder dieses Vereins waren neben hohen Beamten Ärzte, Vertreter aus Handel und Industrie sowie Geistliche. Dieser Verein bestand bis zum ersten Weltkrieg. Weiterhin wäre noch der Verein „Harmonie", der 1783 ins Leben gerufen worden war, zu nennen. Dieser Verein zählte 1803 130 und 1877 250 Mitglieder und bestand noch während des ersten Weltkrieges. Seine Mitglieder bestanden überwiegend aus Honoratioren der Stadt. Um 1840 kam noch der Verein „Die Freundschaft" und 1841 der Schützenverein sowie ein Bürger-Geselligkeitsverein hinzu. Der Verein „Abendsprache" zählte lt. Statut stets nur 12 Mitglieder. Ein neues Mitglied konnte also nur aufgenommen werden, wenn ein Mitglied verstarb, verzog oder aus irgend einem anderen Grunde aus dem Verein ausschied. AK, Landarbeiter II

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Die Mitglieder traten teils wöchentlich, teils alle 14 Tage zusammen. Die Mitgliedschaft in manchen Gesellschaften bzw. Vereinen jener Zeit war erblich. Vereine, die in der ersten Hälfte des 19. Jh. in Magdeburg bestanden jttnd sich zum Teil auch in Ortschaften in der Nähe Magdeburgs einbürgerten, sollen im folgenden nur kurz erwähnt werden. Es waren dies z. B. der „Verein zur sittlichen und sozialen Wiederherstellung der aus öffentlichen Strafanstalten entlassenen Sträflinge", 13 „Vereine zur Speisung oder Bekleidung der Armen" bzw. „Vereine zur Versorgung der Armen mit Holz etc. im Winter", „Vereine für arme verheiratete Wöchnerinnen" (gegründet 1826), der „PredigerVerein an der Elbe zur gegenseitigen Unterstützung bei Brandunglücksfällen" (gegründet 1833, 1852 = 2812 Mitglieder),14 ein „Bürger-Rettungs-Verein" (gegründet 1823), ein „Waisen-Beaufsichtigungs-Verein", „Aufsichtsvereine für Haltekinder" (gegründet 1843), „Mäßigkeits-Verein", „Hilfs-Vereine", „Verein zur Verbesserung der Dienstboten", „Verein zur Förderung des Kölner Dombaues" usw. Im Jahre 1844 bestanden im Reg.-Bez. Magdeburg 51 Wohltätigkeitsvereine, im Landkreis Wanzleben hingegen nur einer.15 Die Ursache für diese Proportion ist vor allem darin zu suchen, daß die Auswirkungen der kapitalistischen Entwicklung mit ihren für die Werktätigen z. T. verheerenden Folgen zuerst die Industriezentren erfaßten und ins Blickfeld der „Öffentlichkeit" gerieten. Mittels der Wohltätigkeitsvereine, deren Vielzahl die sozialen Verhältnisse jener Zeit auf besondere Art widerspiegelt, wurde teils von philanthropisch gesonnenen Personen, teils seitens der Behörden der Versuch unternommen, die soziale Notlage bedürftiger Bevölkerungsschichten zu lindern. Die Vorstände dieser zumeist privaten Vereine setzten sich vorwiegend aus bürgerlichen Demokraten (Pastoren, Rektoren usw.), aber auch aus wohlhabenden Handwerkern, Beamten, Unternehmern zusammen. Die „an der Spitze [derartiger Vereine — G. B.] stehenden Männer" waren von „der Genehmigung des Oberpräsidenten oder der betreffenden Regierung" abhängig.16 Zum anderen war lt. Anordnung des preußischen Innenministers v. ARNIM vom 16. März 1845 „die Befugnis zur tätigen Mitgliedschaft [im preußischen Verein „Zum Wohl der arbeitenden Klassen — G. B.] nur auf die gebildeten Klassen der bürgerlichen Gesellschaft" beschränkt.17 Während sich die vielen karitativen Vereine eines behördlichen Wohlwollens erfreuten, waren all jene Vereine, die progressive demokratische Tendenzen aufwiesen oder auch nur vermuten ließen, einer strengen Unterdrückung ausgesetzt. Und da der Assoziationsgeist fortschrittlicher Kräfte vor 1848 sehr groß war, jagte eine behördliche Verordnung die andere. Für die Provinz Sachsen wurde z. B. am 4. Mai 1845 dekretiert, daß „gefälligst schleunigst dafür zu sorgen" sei, „daß fortan ohne alle Ausnahme keine Versammlungen [auf denen Fragen von „allgemeinem Interesse" beraten werden — G. B.] im hiesigen Regierungsbezirke" abgehalten werden dürfen.18 Die Unterdrückungskampagne richtete sich selbst gegen Sängervereine. Der Oberpräsident der Provinz Sachsen, v. BONIN, ordnete am 20. September 1844 an, daß die „im Regierungsbezirk schon bestehenden, resp. sich noch bildenden Sängervereine junger Hand13

14 15 M 17 18

Dieser etwa 1832 gegründete Verein stellte keine von philanthropischen Ideen getragene karitative Einrichtung dar, sondern sollte den herrschenden Kreisen zur „Sicherung gegen Angriffe auf ... Leben und ... Eigentum" dienen (vgl. STAM, Rep. C 30 Wanzleben, Tit. III, Nr. 89: 8). Hierbei handelte es sich um eine frühe Form einer Feuerversicherungsgesellschaft. 1 Vgl.: STAM, Rep. C 28 If, Nr. 35: 125, 102. STAM, Rep. C 30 Wanzleben, Tit. III, Nr. 89: 24. STAM, Rep. C 30 Wanzleben, Tit. III, Nr. 89: 27. STAM, Rep. C 30 Wanzleben, Tit. III, Nr. 89: 37.

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werker in geeigneter Weise zu überwachen seien, um davon in Kenntnis gesetzt zu werden, wann sich in denselben sozialistische und kommunistische Tendenzen bemerklich machen.. ."19 Anders verhielt es sich mit den bürgerlichen Schutz- bzw. Sicherheitsvereinen, die — unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 — „zur wirksamen Unterdrückung vorfallender Exzesse" gebildet wurden.20 Ihr Zweck bestand darin, „in Gemeinschaft mit der bewaffneten Macht... die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten".21 Auch im Kreis Wanzleben wurden allerorts sogenannte Ortsschutzvereine ins Leben gerufen. Aus Dahlenwarsleben im Kreis Wolmirstedt ist bekannt geworden, daß sich Teile der Einwohnerschaft unter Anführung eines Lehrers namens BLUME weigerten, sich gegen jene in Marsch setzen zu lassen, die sich für die Erringung besserer Lebensbedingungen erhoben hatten.22 Der Lehrer wurde seines Amtes enthoben und zu einer 18monatigen Gefängnishaft verurteilt. Und aus Klein Ottersleben im Kreis Wanzleben meldete der Ortsvorsteher am 31. März 1848 an den Landrat, daß seine Gemeinde nicht mit der Bildung eines Schutzvereins einverstanden sei. Ein großer Teil der Einwohner habe geäußert, daß „der Verein nur gebildet werde, um die größeren Ackerleute zu beschützen".23 Im Nachbarort Lemsdorf konnte ein Schutzverein nur unter großem Druck der Behörden ins Leben gerufen werden. Führer des Vereins wurden, was für diese Vereine als typisch angesehen werden kann, der Ortsvorsteher und ein Gutsbesitzer.24 Der Klassencharakter und der volksfeindliche Zweck der Schutzvereine werden auch aus den Worten des Pfarrers EBELING aus Egeln offenbar; er hinterließ der Nachwelt folgende beachtenswerte Bemerkungen: „Der Zweck [der Übungen der Schutzvereine — G. B.] lag jedoch nicht darin, etwaige feindliche Angriffe abzuwehren, sondern hatte einen tieferen Sinn, welcher natürlich dem gemeinen Mann verborgen gehalten wurde. Man stellte nämlich alle Mannschaften in Reih und Glied und nach ihrer Größe geordnet auf. Da kam der reiche Bauer neben den Knecht, der Arbeiter neben den Fabrikanten und so alle hübsch durch- und nebeneinander. Auf diese Weise wurden die unruhigen Elemente besser überwacht und verhindert, sich zusammenzurotten und gemeinsame Sache zu machen."25 Eine andere Gruppe von Zusammenschlüssen, die in den vierziger/fünfziger Jahren des 19. Jh. entstanden, waren jene Institutionen, die sich zwar als Verein bezeichneten, aber eine verkappte Form von Aktiengesellschaften darstellten. Diese „Vereine" verfolgten den Zweck, die halbfeudale und reaktionäre, gegen die Ausbreitung und damit gegen den Machtzuwachs des bürgerlichen Großkapitals gerichtete Gesetzgebung (z. B. Aktiengesetz von 1843, das erst 1870 durch die Aufhebung des Konzessionszwanges beseitigt wurde) zu umgehen, indem sie -sich den Vereinsstatus gaben. Eine weitere Gruppe von Vereinen verdient es, besonders hervorgehoben zu werden, obwohl es sich auch hier mehr um ökonomische als geistig-kulturelle Einrichtungen handelt, nämlich die landwirtschaftlichen Vereine. Die lokalen Vereine gehörten in der Regel dem überregionalen Zentral19 20 21 22 23 24 25

STAM, Rep. C 30 Wanzleben, Tit. III, Nr. 89: STAM, Rep. C 30 Wanzleben, Tit. III, Nr. 69: STAM, Rep. C 30 Wanzleben, Tit. III, Nr. 89: Vgl.: STAM, Rep. C28 If, Nr. 1726: 53ff. STAM, Rep. C 30 Wanzleben, Tit. III, Nr. 69: STAM, Rep. C 30 Wanzleben, Tit. III, Nr. 69: EBELING, 1 9 0 3 : 2 3 7 .

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41. 4. 6. 33-34. 73.

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verein der Provinz Sachsen28 an, der in der Zeit von 1842 bis 1896 bestand. Die landwirtschaftlichen Vereine waren mit der agrarkapitalistischen Wirtschaftsweise entstanden. Sie dienten der Förderung, Entwicklung und Rationalisierung der Landwirtschaft sowie dem Protest gegen den Traditionalismus in Kultur, Lebensweise und in technologischer Hinsicht. Der kapitalistische Profit bildete neben dem Bedürfnis, das durch die relative Wohlhabenheit vieler Bördebauern bestärkte bäuerliche Selbstbewußtsein auch kollektiv zum Ausdruck zu bringen, den Hauptstimulus für diese spezifische Vereinstätigkeit. Der „Landwirtschaftliche Verein der Zuckerrübenbauern bei Magdeburg", Sitz Langenweddingen, wurde 1843 ins Leben gerufen. In ihm schlössen sich Zuckerrübenbauern aus mehr als 50 Orten zusammen. Dieser Verein besaß eine eigene Bibliothek und abonnierte verschiedene Fachzeitschriften. Der Landwirtschaftliche Verein Wanzleben stand laut Statut nur „wohlhabenden Landwirten" offen. Allen landwirtschaftlichen Vereinen gemeinsam waren verschiedene Initiativen, so z. B. die organisierte Durchführung von landwirtschaftlichen Experimenten, die Organisierung von Ausstellungen und Tierschauen und nicht zuletzt auch eine — z. T. exklusive — Geselligkeit. Neben den genannten Einrichtungen existierten seit 1848, jener Zeit, in der im Ergebnis der revolutionären Ereignisse eine gewisse, wenn auch nur kurzlebige Vereinsfreiheit bestand, allein in Magdeburg 12 (später bedeutend mehr) beruflich gegliederte Vereine.27 Der Hauptzweck dieser Einrichtungen bestand in der gegenseitigen Hilfe und im Streben nach besseren Arbeits- und Lebensbedingungen. Die Erkenntnis, daß es des Zusammenschlusses bedarf, um in der Erreichung dieser Ziele erfolgreich sein zu können, setzte sich bereits in jenen Jahren mehr und mehr durch. Derartige Einrichtungen stellten Vor- bzw. Frühformen der Gewerkschaftsbewegung dar. Die Stellung der Behörden zu diesen Vereinen geht aus einem Polizeibericht vom 9. Dezember 1850 hervor; darin heißt es, daß die beruflichen Vereine „den Verwirrungen des Jahres 1848 ihre Entstehung zu verdanken" hätten und daß „es nicht zu verkennen ist, daß sie mehr oder weniger von demokratischer Ansicht geleitet" werden.28 Diese Vereine, besonders aber der Bildungsverein, erschienen den Behörden als äußerst „gefährlich" und „umstürzlerisch"; sie waren — wie alle übrigen Vereine dieser Art — einer permanenten Überwachung und Bespitzelung ausgesetzt. Im Zuge der zunehmenden Unterdrückung aller demokratischen und demokratisch anmutenden Tendenzen nach 1849 setzte die preußische Reaktion alles daran, um die Entstehung bzw. Entwicklung von Vereinen zu verhindern. Zu diesem Zweck wurde ein Vereinsgesetz erlassen, das als „Vereinsgesetz vom 11. März 1850" in die Geschichte eingegangen ist. Mittels dieses reaktionären Gesetzes, das in seinen wesentlichen Zügen bis 1918 Anwendung fand, wurden dem gesamten Vereinswesen große Beschränkungen auferlegt und das objektiv vorhandene Assoziationsbestreben auf „unpolitische" Bahnen gedrängt. Die mit diesem Gesetz verstärkt einsetzenden Unterdrückungsmaßnahmen raubten der deutschen Vereinsbewegung auf lange Zeit hin den progressiven und revolutionären Charakter, der 28

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Im Jahre 1890 setzte sich der Zentralverein der Provinz Sachsen aus 34 Kreisvereinen mit 69 Zweig- und Ortsvereinen zusammen. Er zählte zu dieser Zeit (einschließlich der Bienenzüchter-, Gartenbau-, Geflügelzuchtvereine etc.) 15312 Mitglieder (vgl. Statistisches Jahrbuch für den Preußischen Staat, 1893: 219). Dies waren: ein Verein der Siedemeister, ein Verein der Schank- und Gastwirte, ein Maschinenbauarbeiter-Verein, ein Verein der Porzellanarbeiter, ein Verein der französischen Handschuhmacher, der Gutenberg-Bund (auch Buchdrucker-Vereinigung genannt), die CigarrenmacherAssoziation, ein Verein der Stenographen, ein Bildungsverein u. a. m. STAM, Rep. C 28 If, Nr. 1 7 5 1 : 93.

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viele Vereine des Vormärz gekennzeichnet hatte, und trugen zu der Verkleinbürgerlichung, Verspießerung und Sterilität eines großen Teiles des Vereinswesens bei — einem Niedergang, von dem sich bestimmte Vereinstypen nie mehr zu erholen vermochten. Erst mit dem Einsetzen der revolutionären Arbeiterbewegung und der proletarischen Vereinsbewegung erfuhr das Vereinswesen wieder einen beachtlichen Aufschwung sowie eine erneut anwachsende kulturelle und politische Bedeutung. In Magdeburg ist die zunehmende Bildung von Gesang- und verschiedenen geselligen Vereinen, in denen Angehörige der über ein relativ großes Freizeitvolumen verfügenden ' sozial bessergestellten Einwohnerschaft (Vertreter von Industrie und Handel, gehobenes Beamtentum,29 Teile der Intelligenz, wohlhabende Handwerker usw.) verkehrten, seit Beginn des 19. Jh. zu beobachten.30 In den stadtfernen Dörfern der Börde traten Vereine dieser Art — von einigen Ausnahmen abgesehen — erst in den siebziger/achtziger Jahren institutionell in Erscheinung.31 Die Entwicklung des Vereinsmsens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Seit den fünfziger, besonders aber den sechziger Jahren des 19. Jh. war es in Magdeburg geradezu zu einer Explosion des primär geselligen Vereinswesens gekommen. Im Jahre 1855 entstanden in Magdeburg weit mehr als 30 gesellige Vereine. Das führte dazu, daß die Gründer Schwierigkeiten mit der Benennung der Vereine bekamen. So hießen allein fünf Vereine „Freundschaft", andere Vereine erhielten die Bezeichnung „neu", z. B. „Neue Harmonie", „Neue Freundschaft" usw. Wo aber liegen die Ursachen dafür, daß die unpolitisch anmutende „reine Geselligkeit" so stark ins Zentrum des Lebens vieler Vereine geriet? Eine Hauptursache ist im oben erwähnten Vereinsgesetz von 1850 zu suchen. Eine weitere Ursache lag in der Enttäuschung der progressiven Kräfte über die Niederlage in der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49. Sie zogen sich zum großen Teil in die „harmonische Stille" eines bornierten und spießerhaften Vereinslebens zurück und orientierten sich, von der unbewältigten Gegenwart abgestoßen, an einer illusorischen „schönen Vergangenheit", fernab jeder Politik. Ein weiteres Motiv für die vielen Vereinsgründungen jener Jahre mag auch im nach wie vor sehr großen Kommunikationsbedürfnis gelegen haben, aber auch die bequeme und behagliche Vereinsatmosphäre und die Biertischphilisterei haben gewiß viele Bürger, vor allein aber die saturierten unter ihnen, angelockt und in ihren Bann gezogen. Die absolute Zahl der Vereine stieg seit jener Zeit bis hin zum ersten Weltkrieg ständig 29

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Entsprechend einer speziellen Gesetzgebung war „Lehrern und sonstigen Beamten" der Beitritt zu allen Vereinen, die den Behörden nicht genehm waren, nicht erlaubt. Aus diesem Grunde sucht man diese Berufsgruppen zumeist vergeblich in den Mitglieder-Verzeichnissen vieler Vereinstypen. Dieses später aufgehobene Gesetz wirkte in der Regel fort, so daß Lehrer und niedere Beamte oft bis ins 20. Jh. hinein in verschiedenen Vereinen weitgehend fehlten. Um aber auch diesen Berufsgruppen die Möglichkeit des vereinsmäßigen Zusammenschlusses zu geben, hatte man zeitweilig spezielle Lehrervereine, Gemeindebeamten-Vereine u. a. Einrichtungen geschaffen. 1819 entstand als einer der ersten deutschen Gesangvereine der Magdeburger Gesangverein; und bereits 1825 fand in Magdeburg das erste Sängerfest statt. BEIMBORN stellte für das Hessische Hinterland fest, daß dort das Vereinsleben erst „nach 1871 mit der Gründung der Kriegervereine" einsetzte (BEIMBORN, 1959: 170).

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an. In Magdeburg setzte z. B. die Gründung von Turnvereinen in den vierziger Jahren ein.32 Die Hauptgründungszeit lag in den fünfziger/sechziger Jahren. Ab 1872/1873 ist ein weiteres bemerkenswertes Ansteigen von Neugründungen zu erkennen, das bis zur Jahrhundertwende (und darüber hinaus) andauerte.33 Die Gründung von Turnvereinen in den Kleinstädten und großen Dörfern setzt erst in den sechziger, besonders aber in den siebziger/ achtziger Jahren ein.34 In den stadtfernen Orten hingegen sind die ersten Turnvereine erst ab 1880 festzustellen. Die Hauptgründungszeit liegt dort in den neunziger Jahren bzw. in den ersten Jahren des 20. Jh. Eine besondere Gruppe der Vereine, deren Mitgliederzahl ständig zunahm — vor allem in Magdeburg von 1845 bis um 1900 —,35 sind die Stenographen-Vereine. In ihnen wurde nicht nur, den neuen Anforderungen des Geschäftsbetriebes in Industrie, Handel und Gewerbe entsprechend, Kurzschrift gelernt und geübt, sondern (und vielfach vordergründig) die Geselligkeit gepflegt, indem Bälle, Tanzabende, Theateraufführungen, Ausflüge etc. organisiert wurden. In Magdeburg wurde der erste Stenographen-Verein 1845 ins Leben gerufen. In den folgenden Jahrzehnten kamen dann noch einige hinzu. Ab 1880 setzte aber eine rasche Zunahme dieser Vereine, die Mitgliederzahlen zwischen 10 und 600 aufwiesen, ein.36 Viel später als in Magdeburg (etwa um die Jahrhundertwende) verbreiteten sich die Stenographen-Vereine in den kleinen Städten und Industriegemeinden. In den kleinen Landgemeinden gab es keine derartigen Vereine, da ihnen hier die Basis fehlte. Anders verhält es sich mit den Krieger- und Landwehrvereinen. Die ersten amtlich registrierten Militärvereine sind nicht in Magdeburg als dem industriellen Zentrum der Börde, sondern in Bauerndörfern zu finden. Während die Bildung von Militärvereinen in Magdeburg (lt. Adreßbücher) im Jahre 1841 einsetzte und in den folgenden Jahren und Jahrzehnten, ganz besonders aber seit 1872/1873, enorm anstieg, sind die ersten Militärvereine (Schützenvereine werden gesondert behandelt) auf dem Lande seit 1826 (1834, 1838, 1863, 1864ff.) zu ermitteln. In den kleinen Städten (des Kreises Wanzleben) setzt diese Entwicklung erst 1853 (1867, 1868, 1872, 1873ff.) ein. Die Ursache, daß sich gerade Militärvereine in ländlichen Gemeinden relativ früh herausbildeten, ist unter anderem besonders darauf zurückzuführen, daß der Militärdienst bzw. die Teilnahme an kriegerischen Handlungen fernab der dörflichen Heimat für die ansonsten sehr stark ans Dorf gefesselten wehrfähigen Männer — trotz aller Entbehrungen, aller Pein und allen Drills — das herausragende Er32

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Durch die 1811 durch FRIEDRICH LUDWIG JAHN in der Berliner Hasenheide eröffnete Turnstätte war die Turnerei zu einer sich nach und nach aufs ganze Land ausbreitenden Bewegung geworden. Die Absicht dieser Bewegung bestand primär darin, die Jugend physisch und auch moralisch auf den bevorstehenden Befreiungskampf vorzubereiten. Als erste Turnvereine sind die Hamburger Turnerschaft von 1816 und der Mainzer Turnverein von 1817 bekannt geworden. Die von reaktionärem Geist diktierte preußische Turnsperre (1819 bis 1842) hatte zu einem fast völligen Absterben dieser progressiven Bewegung geführt. So bestanden 1890 in Magdeburg 33 registrierte Turnvereine; 1900 waren es 79, 1905 88, 1914 113. Während des ersten Weltkrieges nahm die Zahl wieder ab. 1917 bestanden 65 und 1918 noch 58 Turnvereine. Die klassenmäßige Zuordnung der frühen Turnvereine läßt sich z. B. auch daran erkennen, daß die Turner nicht selten zur Unterstützung der Polizei herangezogen wurden. (Vgl. z. B.: HABERLAND, o . J . : 1 0 3 ) .

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Ihnen gehörten vor allem Buchhalter, Versicherungsangestellte, Lehrer, Redakteure etc. an. 1885 bestanden bereits 8, 1890 10; 1900 aber waren es schon 51 Vereine. Danach ging die Zahl langsam wieder zurück. 1914 waren es noch 44, 1917 36 und 1918 34.

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lebnis im Leben dieser Menschen darstellte. Das Kriegs- bzw. Militärerlebnis bildete eine gemeinsame Basis und führte diese ansonsten an Erlebnissen armen Leute zusammen. Nun, organisiert in einem Verein, kam ihre Sonderstellung, die sie gegenüber der übrigen Dorfbevölkerung innehatten, noch mehr zur Geltung. Die Mitgliedschaft in den Militärvereinen, die in der Regel nur Kombattanten gestattet wurde, war gleichbedeutend mit der Erlangung eines in der Organisationsform des Vereins institutionalisierten Sonderstatus, der den betreffenden Personen auch Sonderrechte im dörflichen Leben einräumte. Jene Vereine, in denen sich die Arbeiter und später die revolutionäre Arbeiterbewegung formierten, fanden im industriellen Zentrum Magdeburg ihren Ausgangspunkt und verbreiteten sich von dort aus (fast in konzentrischen Kreisen) über die Arbeiterwohngemeinden nahe Magdeburgs auf die Orte, in denen sich Industrie (Zuckerfabriken, Bergbau etc.) herausgebildet hatte, um schließlich auch auf reine Landgemeinden überzugreifen. An diesem Prozeß hatte die Pendlerbewegung keinen geringen Anteil.37 Weitere Einrichtungen, die sich als Vereine bezeichneten, es sei z. B. an die Wohltätigkeitsvereine erinnert, etablierten sich in der Regel nur in Magdeburg. Es gab allerdings in einzelnen Ortschaften Geistliche, Gutsbesitzer, Fabrikbesitzer usw., die sich einem Magdeburger bzw. einem überregionalen Wohltätigkeitsverein angeschlossen hatten, um auf diese Art und Weise dazu beizutragen, dem Kapitalismus den Anstrich von Wohltätigkeit zu verleihen. Die- Einrichtungen der sogenannten Deutschen Reichsfechtschule38 (1880 gegründet), deren Lokalvereine sich sehr bald über Kleinstädte und auch Dörfer verbreiteten, wiesen ebenfalls Züge von geselligen Vereinen auf. Der eigentliche, erklärte Zweck, nämlich die Waisenfürsorge, geriet oftmals in den Hintergrund, da diese Einrichtungen, die sich in der Regel kennzeichnenderweise als .Vereine bezeichneten, vielfach reinen Unterhaltungsbzw. Geselligkeitsvereinen glichen. Es seien hier noch einige Vereinsgattungen genannt, die zwar in Magdeburg existierten, auf dem Lande aber niemals Fuß faßten bzw. aus objektiven Gründen niemals Fuß fassen konnten. Es waren dies z. B. Kunstvereine, Bürgergeselligkeitsvereine, gesellige Vereine der Beamten, der Kaufleute usw., in denen sich bestimmte städtische Interessen- oder Berufsgruppen organisatorisch zusammenschlössen. Spezifische Gepflogenheiten mancher dieser Vereine, so z. B. die rauschenden, prunkvollen Feste und die zeitweilig ins Orgienhafte ausschweifenden Vergnügen, fanden schließlich auch auf dem Lande, so besonders bei vielen zur Wohlhabenheit gelangten Rübenbauern, einen aufnahmebereiten Boden und reizten zur Imitation. Besonders in den Gründerjahren wurde in vielen bürgerlichen Vereinen eine üppige „Festmeierei" gepflegt. Es waren schließlich bestimmte Vereine, in denen sich eine zunehmende Vergnügungssucht, die vor allem nach Kriegs- und Krisenzeiten zu beobachten war, ausbreitete. Die Auswirkungen dieser Entwicklung waren zeitweilig bis ins proletarische Vereinswesen hinein zu spüren. Es war kein Zufall, daß sich die Behörden im Jahre 1883 veranlaßt sahen, dem „Übel37

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Über die Rolle und Bedeutung des Pendlerwesens liegt eine Studie von H.-J. RÄCH vor, die jedoch erst nach entsprechender Erweiterung für den Zeitraum nach 1917 veröffendicht werden soll. Daneben bestand seit 1884 die Deutsche Krieger-Fechtanstalt. Ihr erklärter Zweck bestand darin, Kriegerwaisenhäuser einzurichten.

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stand" der „Tanzlustbarkeiten" und der „sittenverderblichen Vermehrung derartiger Vergnügen" entgegenzutreten.39 Mit der zunehmenden sozialen Differenzierung in den Dörfern kam es zu einer Neuformierung der sozialen Gruppen und Schichten, die sich auch in der Bildung neuer Vereine widerspiegelte. Von allen zu ermittelnden Vereinen, die in der Zeit zwischen 1850 und 1918 im Kreis Wanzleben gebildet worden sind, nahmen jene, in denen Geselligkeit und Unterhaltung (einschließlich des Gesanges) den Hauptzweck darstellten, den ersten Platz ein. Es folgten die bürgerlichen Turn- und Sportvereine. An dritter Stelle standen die Militärvereine. Daran schlössen sich bürgerliche Bildungsvereine, ökonomische Vereine,40 kirchliche Vereine, Wohltätigkeitsvereine etc. an. Neben den hier genannten Vereinstypen entstand noch eine Vielzahl von Vereinen, die von der sozialen Zusammensetzung her als proletarische Vereine bezeichnet werden können, jedoch eine sehr unterschiedliche Qualität und Zielstellung aufwiesen,41 die sich von kleinbürgerlicher Geselligkeitspflege im Sinne der Vereinsmeierei, über das Turnen und die Pflege des Gesanges bis hin zum entschiedenen, vom Geist der revolutionären Sozialdemokratie bestimmten Klassenkampf erstreckte. Um einen Eindruck von der Vielgestaltigkeit und Vielgesichtigkeit des Vereinslebens und damit seiner großen gesellschaftlichen Bedeutung zu vermitteln, sollen im folgenden alle amtlich registrierten Vereine, die im Jahre 1900 in der zu jener Zeit etwa 6000 Einwohner zählenden Kleinstadt Egeln42 bestanden, genannt werden. 1. 2. 3. 4. 5.'—12. 13. —14. 15. 16. 17. 18. 19.—21. 22. 23. 24. 25. 26. 39 40

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Schützenverein (120 Mitglieder „aus den besten Kreisen") Kombattantenverein (Militärverein) Landwehrverein Kriegerverein 8 Gesangvereine (Germania, Olympia, Liedertafel, Eintracht etc.) 2 Turnvereine (Turnverein Jahn und Friesen) Feuerwehrverein Radfahrerverein (Wanderlust) Athletenverein (Gut Kraft) Bergmannsverein (Glück auf!) 3 Gesellenvereine Maurerverein Landwirtschaftlicher Arbeiter-Verein Reichsfechtverein Vaterländischer Frauenverein Jungfrauenverein

Stadtarchiv Magdeburg, Rep. 36, Gemeindearchiv Groß Ottersleben, Nr. 73. Hierzu zählen auch die Konsum-Vereine, die vielerorts auf lange Zeit hin unter der Losung „Das Endziel der Genossenschaftsbewegung besteht nicht lediglich in der Güterverteilung, sondern weit mehr in dem Bestreben, die Gütererzeugung selbst in die eigene Hand zu nehmen" wirkten. Den Konsum-Vereinen soll in einer späteren Untersuchung besondere Aufmerksamkeit zugewendet werden. In den Jahrzehnten der Herausbildung und Entwicklung des Proletariats kam es vielfach zu der Erscheinung, daß Angehörige des Proletariats wegen noch fehlendem oder aus noch mangelndem Klassenbewußtsein entweder bürgerliche Vereine verstärkten bzw. zuließen, daß Vereine mit proletarischer Zusammensetzung von bürgerlichen/kleinbürgerlichen Kräften geführt wurden. Egeln war bis 1952 dem Kreis Wanzleben zugeordnet.

Regionales Vereinswesen 27. 28. 29.—30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37.

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Christlicher Näh verein Stenographenverein (Stolze/Schrey) 2 Kaufmännische Vereine (Hansa und Handlungsgehilfen-Verein) Katholischer St. Peter-Paul-Verein (polnischer Verein) Männerverein „Concordia" Lotterie-Verein Geflügelzucht-Verein Schweineversicherungs-Verein Fleischbeschauerverein für Egeln und Umgegend Verschönerungsverein

Hinzu kam noch eine Vielzahl von im verborgenen blühenden Kränzchen und Vereinen („wilde" Vereine) sowie Kegel-, Skat-, Billard-, Rauch-, Tanz-, Lese-, Akademische Vereine und Clubs. 43 Wenn man 40 Vereine mit einer durchschnittlichen Mitgliederzahl von 30 Personen (Schützenverein 120, Radfahrerverein 12 Mitglieder) annimmt, so waren von 100 Einwohnern etwa 20 vereinsmäßig organisiert, d. h., daß fast alle erwachsenen männlichen Einwohner und viele Frauen mindestens einem Verein, z. T. auch mehreren Vereinen, angehörten. Von den etwa 40 Vereinen in der Stadt Egeln waren 32 „tanzende Vereine", wie ein Pfarrer mißbilligend feststellte. Diese 32 Vereine gaben viele Feste, 44 zu denen die Besucher „so zahlreich erschienen, daß der bekannte Apfel nicht zur Erde (fallen) konnte". 45 Allein anhand dieser Zahlen läßt sich der Einfluß der Vereine auf das Volksleben ermessen. Ganz besonders aber trug, wie derselbe Pfarrer feststellte, das Vereinswesen zur „Verweltlichung" großer Bevölkerungsteile bei. Die Ursachen dafür, daß manche Vereine in der Börde wie auch allgemein auf lange Zeit hin klassenindifferent anmuteten, sind unter anderem in folgenden Erscheinungen zu suchen: E r s t e n s wurden nicht selten, so z. B. in verschiedenen größeren Orten der Börde, Landarbeiter bzw. Handwerksgesellen zum Eintritt in eigens für sie eingerichtete, vom Geist ihrer Dienstherren (Gutsbesitzer, Großbauern, Handwerksmeister, Ortsgeistliche, ländliche Unternehmer etc.) bestimmte Vereine veranlaßt. Die betreffenden Kreise verfügten in der Regel durch die bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse über verschiedene Möglichkeiten des moralischen wie auch ökonomischen Zwanges. So konnte in bestimmten Fällen die Mitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft im Militärverein mit der Frage der nackten Existenz aufs engste verbunden sein. Z w e i t e n s darf nicht übersehen werden, daß auf viele Menschen der „Zwang der Tradition" wirkte. (LENIN sprach vom Alp der Traditionen und der „Macht der Gewohnheiten" als der „fürchterlichsten Macht". 46 ) Derartige Faktoren wirkten sich in bestimmten Perioden der Geschichte dahingehend aus, daß Angehörige der Arbeiterklasse, in frühen Stadien der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung sogar Angehörige der sozialdemokratischen Partei bzw. Mitglieder proletarischer oder sozialdemokratisch geführter Vereine, gleichzeitig dem schlechthin als „Tradition" empfundenen (und als „Tradition" suggerierten) lokalen Militärverein angehörten und dadurch vielfach in große persönliche Konflikte gerieten. D r i t t e n s war es (z. B. auf Grund der preußischen Gesetze von 1854 und 1860) Landarbeitern, Dienstboten etc. unter48

44

V g l . EBELING, 1903: 2 9 1 - 2 9 2 .

Z. B. „Winter-, Sommer-, Herbst- und Frühlingsquartale ..., Stiftungs-, Jahres- und Gedenkfeiern usw." (Vgl. EBELING, 1903: 290).

16

EBELING, 1903: 290. » LENIN, 1959 (1920): X X X I , 29.

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sagt, sich in eigenen Institutionen zu organisieren. Des weiteren gab es seit 1850 ein das fortschrittliche Vereinsleben stark beschränkendes preußisches Vereinsgesetz, das in seinen wesentlichen Zügen bis zur Novemberrevolution gültig blieb. V i e r t e n s war auf lange Zeit hin die Arbeitszeit in der Regel derart ausgedehnt und der Grad der physischen Erschöpfung vieler Werktätiger so hoch, von fehlenden finanziellen Voraussetzungen ganz abgesehen, daß es den meisten von ihnen gar nicht möglich war, sich aktiv und schöpferisch am politischen Vereinsleben zu beteiligen. F ü n f t e n s gab es auch unter den Landarbeitern und dörflichen Industrieproletariem Personen, die aus mangelndem, unzureichend entwickelten Klassenbewußtsein und auf sozialen Aufstieg hoffend, von sich aus Anschluß an nichtproletarische Vereine suchten. S e c h s t e n s darf der Umstand nicht unbeachtet bleiben, daß (wie in den Städten das Kleinbürgertum) auf dem Lande die Bauernschaft wegen-ihrer besseren geistigen und wirtschaftlichen Voraussetzungen einen beachtlichen Teil des dörflichen, so auch des proletarischen Vereinslebens im kleinbürgerlichen Fahrwasser zu halten und es in seinen revolutionären Potenzen einzuengen vermochte. Dies geschah vielfach allein dadurch (um nur ein typisches Beispiel zu nennen), daß ein proletarischer Gesangverein solange, bis er einen Chorleiter aus eigenen Reihen hervorgebracht hatte, auf einen Chorleiter aus kleinbürgerlichen Kreisen angewiesen war. Und s i e b e n t e n s kommt noch hinzu, daß besonders die reaktionärsten (z. B. militaristischen) Vereine staatlich subventioniert wurden und seitens der Behörden und der Kirche jede denkbare Förderung und Unterstützung erfuhren und somit ein entsprechendes Ansehen bekamen, was wiederum für viele Menschen eine Mitgliedschaft als erstrebenswert erscheinen ließ. Trotz all der bis hier genannten Erscheinungen wird aber seit den sechziger/siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Tendenz erkennbar, die schließlich, die Schöpferkraft des Proletariats auf besondere Art demonstrierend, später, und zwar besonders unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes, in eine neue Qualität umschlug. Sie zeigte sich darin, und das ist für große Teile der Börde typisch, daß sich viele — zumeist illegale — proletarische Vereine formierten, die sich den bis dahin vielfach vorherrschenden kleinbürgerlichen bzw. bäuerlichen Einflüssen entzogen und sich mehr und mehr sozialdemokratisch orientierten oder gar von der auf lange Zeit hin illegalen Sozialdemokratie geführt bzw. angeleitet wurden. In Magdeburg und der näheren Umgebung der Stadt (so ganz besonders in den Industriearbeiter-Wohngemeinden) hatte sich ein sozialdemokratisches Vereinswesen mit großer politischer Schlagkraft entwickelt, das auf der Höhe der Entwicklung in Deutschland stand. Viele dieser Vereine nahmen mehr und mehr neue, proletarische Wesenszüge an; ein proletarischer Inhalt des Vereinslebens, der sich immer deutlicher von dem der bürgerlichen und kleinbürgerlichen bzw. bäuerlichen abhob, setzte sich durch. Das Wirken vieler dieser Vereine wurde in starkem Maße den Zielen der revolutionären Arbeiterbewegung untergeordnet. Der Umstand, daß es hier und dort Vereine gab, in denen sowohl große Bauern, wohlhabende Bürger als auch Gesellen und Landarbeiter (so z. B. in vielen ländlichen Militärvereinen, in einzelnen konfessionellen Vereinen etc.) vorübergehend gemeinsam vertreten waren, widerlegt nicht die oben formulierte Erkenntnis von der sozialen bzw. klassenmäßigen Differenziertheit des Vereinswesens, da sich reaktionäre Kräfte stets aufs neue auch des Vereinswesens zu bedienen versuchten, um klassenmäßig noch nicht profilierte potentielle progressive Kräfte zu binden bzw. zu korrumpieren. Mehrere Gewährsleute berichteten übereinstimmend, daß allein das Freibier klassenmäßig ungeschulte Landarbeiter veranlaßt haben soll, sich reaktionären Vereinen anzuschließen.

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Die Entwicklung des Vereinswesens auf dem Lande — dargestellt am Beispiel typischer Bördedörfer Während sich in Magdeburg und in den Orten nahe Magdeburgs bis 1885 bereits eine Vielzahl von Vereinen und Vereinstypen herausgebildet hatte, kam es in Bottmersdorf, einem stadtfernen Bauerndorf, dessen Einwohnerzahl und Sozialstruktur sich im Verlaufe des letzten Drittels des 19. und des beginnenden 20. Jh. nur geringfügig verändert hatte,47 erst im Jahre 1889 mit der Bildung des Landwehr-Unterstützungs- und Begräbnis-Vereins zur ersten Vereinsgründung (sofern man von der 1848 auf behördlicher Anweisung hin erfolgten formalen Bildung eines kurzlebigen Schutzvereins absieht). 1894 riefen einige Knechte den Turnverein „Friesen" ins Leben. Im gleichen Jahr wurden einige Bauern und Handwerker des Ortes Mitglieder im Reichsfechtverein. Eine weitere Gründung erfolgte erst 1910, indem sich der Landarbeiter-Verein, bestehend aus 10 Mitgliedern, bildete. 1912 wurde der Gesangverein „Einigkeit" ins Leben gerufen; er wies sozialdemokratische Tendenzen auf, die darauf zurückzuführen waren, daß zu dieser Zeit bereits 26 Einwohner aus Bottmersdorf als Industriearbeiter nach Magdeburg pendelten und 22 bei der Eisenbahn beschäftigt waren und dadurch mit der revolutionären Arbeiterbewegung Magdeburgs in Berührung gekommen waren. Im Jahre 1912 (?) wurde, vermutlich als „Konkurrenz"Verein zum Verein „Einigkeit", der Gesangverein „Frohsinn", dem nur Bauern angehörten, gegründet. Neben den genannten Vereinen bestand (etwa seit 1913) noch ein für die Börde untypischer, zahlenmäßig kleiner Wanderverein.48 Stellt man dem Ort Bottmersdorf die in unmittelbarer Nähe Magdeburgs befindliche Gemeinde Groß Ottersleben49 als Vergleichsgröße gegenüber, so ergibt sich ein völlig anderès Bild. Für das ehemalige Bauerndorf Groß Ottersleben30 läßt sich bis 1848 ebenfalls nur ein Verein, nämlich der Schutzverein, nachweisen. In den Jahren bis 1885 hingegen — Groß Ottersleben hatte sich inzwischen zu einer Industriearbeiterwohngemeinde mit 5787 Einwohnern entwickelt — kam es geradezu zu einer Explosion des Vereins wesens. In dieser Zeit entstanden 27 (zum Teil allerdings sehr kurzlebige) Vereine. Vier davon waren proletarische Vereine, von denen zwei als revolutionär-sozialdemokratische Vereine bezeichnet werden können. In anderen Vereinen organisierten sich Handwerker und vor allem Bauern, die zum großen Teil durch den Rübenanbau zur Wohlhabenheit gelangt waren und über Zeit und Muße als Voraussetzungen für ein umfangreiches Vereinsleben verfügten. Von 1885 bis 1900 (die Einwohnerzahl war inzwischen auf rd. 10000 angestiegen, wovon 80 Prozent dem Proletariat angehörten) entstanden 45 neue Vereine. 11 dieser Vereine setzten sich ausschließlich aus Angehörigen des Proletariats zusammen; fünf von diesen waren sozialdemokratische Vereine. Von 1900 bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges wurden in Groß Ottersleben ein katholischer, ein sozialdemokratischer und drei bürgerliche Radfahrervereine, zwei Brieftaubenvereine (davon ein Militär-Brieftaubenverein), 47

48 49 50

1850 = 463, 1871 (einschließlich der Saisonarbeiter) = 822, 1880 = 650, 1900 = 677 und 1914 = 652 Einwohner. Die Mitgliederzahl der Vereine in Bottmersdorf bewegte sich zwischen 8 und 40 Personen. Groß Ottersleben wurde 1952 von Magdeburg eingemeindet. Groß Ottersleben zählte 1820 = 1484 Einwohner, wovon 268 Tagelöhner, 26 Handwerker, 58 Knechte und Enken und 44 Mägde waren. 1848 zählte Groß Ottersleben 2956, 1885 = 5787, 1895 = 6788 und 1910 weit mehr als 10000 Einwohner.

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ein Kaninchenzüchterverein, drei bürgerliche Unterhaltungs- und Geselligkeitsvereine, zwei Stenographenvereine, ein proletarischer und ein bürgerlicher Naturheilverein, ein evangelischer und ein katholischer Jünglingsverein, ein katholischer Jungfrauenverein, zwei Vereine der Haus- und Grundbesitzer, ein Gesangverein, drei Musikvereine und ein Mundharmonika-Verein gegründet bzw. wiederbelebt. Vor Ausbruch des ersten Weltkrieges bestanden, wenn man die „wilden" Vereine — etwa 25 — nicht mitrechnet, in Groß Ottersleben weit mehr als 30, zum Teil sehr aktive Vereine. Ebenfalls fernab der Industriestadt Magdeburg lag die Gemeinde Westeregeln. 81 Der Unterschied zu Bottmersdorf und Groß Ottersleben bestand darin, daß hier der Bergbau das Bild prägte und infolgedessen ein größerer proletarischer Bevölkerungsteil entstanden war. An Vereinsgründungen konnten hier festgestellt werden: 1826 1869 1873 1880 . 1890 1893 1895 1895 1896 1897 1897 1897 1898 1898 1899 1899 1899 1900 1901 1902 1903 1905 1905 1905 1908 1909 1910 1913 1913 1914 51

Lanwehrverein (erster Militärverein im Kreis Wanzleben) Geselligkeitsverein „Einigkeit" Handwerker-Bildungsverein Bergmännischer Gesangverein (er formierte sich 1899 neu und nannte sich fortan MännerGesangverein „Glück auf Douglashall"). Daneben bildete sich 1909 der Bergmanns-Verein „Glück auf Douglashall". Militärverein „Hohenzollern" Landwirtschaftlicher Gehilfen-Verein (Geselligkeitsverein) Männer-Turnverein „Jahn" Verein- für naturgemäße Gesundheitspflege und Arzneimittellose Heilkunde Gesellenverein Freiwillige Feuerwehr Verein „Frohsinn" (Geselligkeitsverein) Dilettanten-Verein „Humor" Handwerksmeister-Verein Ortsgruppe des Flottenvereins Lotterie-Verein Vaterländischer Frauenverein Landwirtschaftlicher Verein Radfahrerverein „Frisch auf" Gesangverein „Harmonie" Stenographenverein Radfahrerverein „Wanderlust" Nationalliberaler Verein Geflügelzucht- und Tierschutzverein Radfahrer verein „Germania" Verein Westeregeiner Musiker Zitherverein (Sozialdemokratischer) Radfahrerverein Athletenverein „Gut Kraft" Radfahr-Vergnügungs-Verein (1914 aufgelöst und zum [Luftbüchsen-] Schieß verein „Zentrum" umgebildet) Kaninchenzüchter-Verein

Westeregeln zählte 1830 = 1060, 1865 = 1636, 1885 = 2121, 1900 = 3113 und 19l0 = 3637 Einwohner. Das sprunghafte Ansteigen der Einwohnerzahl ab 1881 hat seine Ursache im Beginn des industriellen Kalibergbaus.

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Im Gegensatz zu Bottmersdorf und Groß Ottersleben zeichnet sich in Westeregeln eine völlig neue Orientierung im Vereinswesen ab. Trotz Vorhandenseins eines relativ starken Proletariats bildete sich nur ein Verein heraus, der als sozialdemokratischer Verein bezeichnet werden kann. Alle übrigen Vereine, in denen z. T. vorwiegend Proletarier vereint waren, traten kaum im Sinne der revolutionären Arbeiterklasse in Erscheinung. Diese Verhaltensweise ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß sich viele Bergarbeiter in Auswirkung konservativer „Knappschaftsideologie", was z. B. auch in den großen deutschen Bergbaugebieten sehr deutlich zutage trat, nicht zum Proletariat schlechthin rechneten. Die Ursachen hierfür sind in besonderen Traditionen dieser Berufsgruppe zu suchen. Die Sonderstellung der Bergarbeiter im Rahmen des Proletariats wurde aber auch von den Unternehmern nach dem altbewährten Prinzip „divede et impera" bestärkt und gefördert, indem man an die „Einzigartigkeit des Bergarbeiterstandes" appellierte. Kleinbürgerliche Denk- und Handlungsweisen waren stark verbreitet und besonders durch den Besitz von etwas Grund und Boden bzw. durch die Errichtung von Werkswohnungen, die im Laufe der Jahre in den Besitz der Bewohner übergingen, vertieft worden. Nicht zuletzt fehlte den Westeregeiner Bergarbeitern der direkte Kontakt zur revolutionären Arbeiterbewegung, die sich um das Industriezentrum Magdeburg konzentriert hatte und sich nur recht langsam in stadtfernere Gebiete ausbreitete. Von den 33 (ermittelten) Vereinen, die zwischen 1826 und 1914 entstanden, dienten neun der reinen Geselligkeit, sechs der sportlichen Betätigung, vier der Pflege des Männergesanges, drei der Bildung, vier ökonomischen Zwecken, drei reaktionären politischen Zwecken, einer der militärischen („patriotischen") Erinnerung, einer militaristischen Zwecken und ein weiterer Heilzwecken. Hinzu kam noch die Freiwillige Feuerwehr. Neben den speziellen Orientierungen der hier genannten Vereine wurden in ausnahmslos allen Einrichtungen — teils mehr, teils weniger — die Unterhaltung und Geselligkeit gepflegt. Als Vereinszweck werden — wie hier in Westeregeln, so auch allgemein — immer wieder „gemeinsame Erheiterung", „ungehindertes Betreiben von Lustbarkeiten", „Geselligkeit und Einigkeit der Mitglieder", „Freundschaft und Geselligkeit und gemütliches Beisammensein" sowie „Hebung der Geselligkeit durch freundschaftliches Zusammenkommen" genannt. In dieser Tendenz wird das Suchen und Sich-finden von Personen sichtbar, die — je nach dem Grad der sozialökonomischen Entwicklung in den einzelnen Dörfern — aus ihren traditionellen sozialen, ökonomischen und kulturellen Bindungen gerissen wurden und nach neuen geistig-kulturellen Formen des Zusammenlebens suchten, die letztlich klassenmäßig bestimmt waren, im Bewußtsein der Beteiligten vielfach aber als „berufsmäßige" Interessen artikuliert wurden. In der Tatsache, daß sich z. B. in Bottmersdorf Vereine erst Ende des 19. Jh. ausbildeten, wird sichtbar, daß in dieser Landgemeinde viel später als z. B. in dem sehr früh von der kapitalistischen Entwicklung erfaßten Dorf Groß Ottersleben neue, der Kultur des Kapitalismus entsprechende Organisationsformen in Erscheinung traten. Der Umstand, daß — wenn auch mit zeitlichen Verschiebungen — fast allerorts Vereine mit annähernd gleichem Charakter entstanden, weist auf die Gesetzmäßigkeit dieser allgemeinen Entwicklung hin. Es muß in diesem Zusammenhang aber auch darauf verwiesen werden, daß dieser objektive Prozeß zeitweilig starke subjektive Impulse erhielt, indem sich z. B. geschäftstüchtige Leute das allgemeine Bedürfnis nach Vereinszugehörigkeit für persönliche Zwecke zunutze machten. So ist bekannt, daß Kegel-, Skat-, Billard- und ähnliche Vereine oftmals von Gastwirten gegründet worden sind, die ihren Geschäftsbetrieb zu beleben gedachten. Aus

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Hadmersleben und anderen Orten wird berichtet, daß verschiedene Radfahrervereine vom Fahrradhändler HOPPSTOCK aus Oschersleben initiiert worden sind. Und ein Friseur aus demselben Ort habe, so berichtete ein Gewährsmann, mehrere Vereine teils begründet, teils neubelebt, um durch seine Mitwirkung in diesen Einrichtungen einen beachtlichen Kundenkreis an sich zu binden. Er gehörte schließlich zugleich sechs Vereinen an. Ende des vergangenen Jahrhunderts hatte das Vereinswesen gewaltige Ausmaße angenommen, so daß es für viele Leute schließlich zum guten Ton gehörte, mindestens einem Verein anzugehören. Als z. B. in Osterweddingen einige junge Männer nicht in den Militärverein aufgenommen wurden, da sie nicht aktiv gedient hatten, aber unbedingt vereinsmäßig orgaifisiert und tätig sein wollten, riefen sie (1888) einen Turnverein ins Leben. Das oben erwähnte Streben nach „ u n g e h i n d e r t e m Betreiben von Lustbarkeiten" ist unter anderem darauf zurückzuführen, daß auf lange Zeit hin öffentliche Tanzveranstaltungen wenn nicht verboten, so doch stark eingeschränkt waren und daher in der gewünschten Häufigkeit nur im Rahmen von Vereinen realisiert werden konnten. Dies wird durch einen Bericht des Amtsvorstehers aus Hadmersleben (Dorf) an den Landrat vom 19. Oktober 1899 bestätigt. Es heißt dort: „Im hiesigen Amtsbezirk (bestehen) bei einer Einwohnerzahl von 1620 Seelen 20 Vereine, von denen sich ein großer Teil erst nach 1894 — nach Festsetzung der Polizeistunde — gebildet hat. Der Zweck dieser Vereine ist hauptsächlich die Umgehung der Polizeistunde." Geschlossene Gesellschaften hatten nämlich das Recht, länger „tanzen zu dürfen". 52 Als eine wesentliche Voraussetzung für die rasche Entwicklung des Vereinswesens, ganz besonders aber des revolutionären Vereinswesens, ist die Emanzipation aus der kirchlich-religiösen Gemeinschaft mit ihrer starken und nachhaltigen moralischen Zwangswirkung anzusehen. Als ein Motiv zum Beitritt zu den Geselligkeitsvereinen kann auch die Monotonie im Arbeitsprozeß des Industrieproletariats gelten, die nach einem Ausgleich (was aber auch von der entstehenden kapitalistischen Vergnügungsindustrie sehr bald erkannt, politisch mißbraucht und finanziell genutzt wurde) drängte. Ein nicht zu unterschätzendes Motiv war neben dem Drang nach Abwechslung der Drang nach Bildung bzw. nach einer organisierten Unterhaltung sowie das Bestreben, aus dem geistig engen, von der Bürde überlebter Traditionen beladenen Leben herauszutreten. Gewiß hat in einzelnen Fällen auch eine unkritische Nachahmung des städtischen Vereinslebens zur Gründung bzw. zum Beitritt in entsprechende Vereine („Mode-Vereine") den Anlaß gegeben. Besonders die im kapitalistischen Konkurrenzkampf ins Kleinbürgertum oder ins Proletariat gestoßenen ehemaligen Unternehmer und Handwerker sowie Vertreter der Arbeiteraristokratie hofften, durch eine z. T. teuer erkaufte Mitgliedschaft in bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Vereinen ihren angeschlagenen sozialen Status zu verteidigen bzw. wieder aufzurichten. Andere wiederum versuchten, in proletarischen Vereinen Vorstandsposten und damit gewisse Privilegien und soziales Ansehen zu gewinnen bzw. zurückzugewinnen. Da dieser Personenkreis in der Regel über eine höhere Bildung und größere organisatorische Erfahrungen als die Mehrzahl der Arbeiter verfügte, gelang es ihnen nicht selten, die Leitung proletarischer Vereine an sich zu reißen. Dieser Umstand trug oftmals dazu bei, daß bestimmte proletarische Vereine zeitweilig Züge annahmen, die nicht dem Wesen der Arbeiterklasse entsprachen und somit der Verschleierung des Klassencharakters dieser Vereine dienten. Weitere Motive für Vereinsgründungen waren in der Pflege der Kollegialität oder im 52

STAM, Rep. C 30 Wanzleben, Tit. III, Nr. 83, Bd. V: 264.

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allgemeinen Geselligkeitsbedürfnis, aber auch im Bedürfnis nach Pflege spezifischer Interessen sowie im Suchen nach einem gesellschaftlichen Halt für verstreute Menschengruppen gleicher Konfession, Herkunft, Weltanschauung usw. zu suchen. Als stets aufs neue sichtbar werdende Triebkraft für das Vereinswesen, besonders aber für das proletarische, erwies sich das Bedürfnis nach kultureller und politischer, auf eine gegenüber dem bürgerlichen Vereinswesen in Inhalt und Form entgegengesetzte Betätigung, nach kulturellem und politischem Mitwirken am gesellschaftlichen Leben, erwies sich das Bestreben nach Gemeinschaftsbildung als Ausdruck des wachsenden Klassenbewußtseins und der proletarischen Solidarität. Es darf aber auch nicht übersehen werden, daß — wie noch zu zeigen sein wird — seitens der herrschenden Kreise und ihrer Apologeten (z. B. Klerus, Arbeiteraristokratie, kleinbürgerlicher Philanthropismus) Vereine initiiert worden sind, die z. T. — trotz subjektiv ehrlicher Absichten vieler Mitglieder — ebenso negative Auswirkungen hinsichtlich der politischen Desorientierung bestimmter Teile der Bevölkerung hatten wie jene Vereine, die eigens zu diesem Zwecke begründet worden sind. Abschließend sei hierzu bemerkt, daß die Ursachen für das Entstehen, die Entwicklung und das Vergehen des gesamten Vereinswesens letztlich in objektiven Faktoren der historischen Entwicklung zu suchen und nur im Zusammenhang mit ihr zu erfassen und zu ermessen sind. Das sozialdemokratische Vereinswesen im Kreis Wanzleben — Vereine im Klassenkampf Als am 21. Oktober 1878 das von BISMARCK initiierte „Reichsgesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" in Kraft trat, bedeutete dies die brutale Unterdrückung bzw. Schließung aller proletarischen Vereine. Für die Arbeiterklasse begann jene Zeit, die A U G U S T B E B E L als das „proletarische Heldenzeitalter" bezeichnete. Im Kreis Wanzleben hatte — im Gegensatz zu Magdeburg — vor 1878 noch keine nennenswerte sozialdemokratische Bewegung bestanden. Sie formierte sich erst unter den Bedingungen des durch das Sozialistengesetz ausgelösten Terrors. Wenn es in einer Übersicht des preußischen Polizeipräsidenten vom 11. Dezember 1878 heißt, daß die sozialistische Bewegung auch im Reg.-Bez. Magdeburg „eine außerordentliche und ungeahnte Ausdehnung genommen" habe, 53 so trifft dies ganz gewiß nur für Magdeburg selbst und einige Industriezentren zu. Seit Verhängung des Sozialistengesetzes sei zwar, so heißt es im erwähnten Bericht, Ruhe eingetreten, aber „diese Ruhe ist nur eine rein äußerliche, denn im Geheimen wird die Agitation mit Aufbietung aller Kräfte fortgeführt... Auch das Vereinswesen wird, wenn auch unter anderen Formen wie bisher, wiederhergestellt." 84 In der Industriearbeiterwohngemeinde Groß Ottersleben, in der etwa 80 Prozent der Einwohner dem Proletariat angehörten, wurden die Sozialdemokraten in verschiedenen Vereinen, die nicht unter die Verbotsbestimmungen des Sozialistengesetzes fielen, aktiv. Sie wirkten z. B. im 1884 gebildeten und ständig polizeilich überwachten Lokalverein des Verbandes der deutschen Zimmerleute 55 sowie in dem ebenfalls 1884 von der illegalen Sozialdemokra53 51 65

STAM, Rep. C 28 Ia I, Nr. 845, Bd. III: 96. STAM, Rep. C 28 Ia I, Nr. 845, Bd. III: 96. Der Verein zählte bereits bei seiner Gründung 51 Mitglieder.

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tie des Amtsbereiches Groß Ottersleben66 ins Leben gerufenen „Fachverein verschiedener Berufsgruppen von Groß Ottersleben und Umgegend" (kurz Fachverein genannt) weiter.57 Der Fachverein, der unter den Bedingungen der „milden Praxis" der BisMARCKschen Politik mit „Zuckerbrot und Peitsche" entstehen konnte, stellte schließlich eine illegale sozialdemokratische Einrichtung dar, die für den Amtsbereich wie auch für den gesamten Kreis Wanzleben große Bedeutung erlangte. Dieser Verein etablierte sich in einem vereinseigenen Lokal in der Breiten Straße Nr. 7 (heute Magdeburg/Südwest, Altottersleben Nr. 7). Die Hauptaufgabe des Fachyereins bestand darin, die Arbeit der verbotenen Partei fortzusetzen, das Klassenbewußtsein zu entwickeln, die Arbeiterschaft zu mobilisieren und den Klassenkampf zu organisieren. Sie bestand aber auch darin, Unterstützungen auszuzahlen, Sammellisten zum Zwecke der Unterstützung von Familien der Ausgewiesenen, Verhafteten und Gemaßregelten in Umlauf zu setzen, die Deckung der durch Strafprozesse gegen Sozialdemokraten entstandenen Kosten zu regeln und den Unterhalt der Familien verurteilter Parteigenossen zu bewerkstelligen. Der Groß Ottersleber Fachverein zählte es aber auch zu seinen Aufgaben, sich für die Rechte der Landarbeiter und Landarbeiterinnen sowie deren Kinder einzusetzen.58 Die Mitglieder des Vereins organisierten im wiederholten Falle den Lohnkampf dieser Abteilung des Proletariats. Der Fachverein gehörte zeitweilig als Zweigverein zu der im Dezember 1884 in Gera ins Leben gerufenen gewerkschaftlichen Vereinigung der Metallarbeiter Deutschlands, die ihren Sitz in Mannheim hatte, an. Aus Gründen der Sicherheit im Rahmen der illegalen Tätigkeit löste er sich jedoch im Februar 1885 wieder aus dieser Zugehörigkeit. Der (formal vollzogene) Austritt erwies sich sehr bald als kluge taktische Maßnahme, denn schon am 19. August 1885 wurde der Metallarbeiterverband und alle ihm angeschlossenen Lokalvereine verboten. Der Fachverein fand bei der werktätigen Bevölkerung große Resonanz. Bereits bei seiner Gründung zählte er 198 Mitglieder. Es ist kennzeichnend für die Situation in der vorwiegend von Industriearbeitern bewohnten Gemeinde Groß Ottersleben, daß der Fachverein die Mitgliederzahl der im Orte bestehenden, vom Geiste des Militarismus diktierten Kriegervereine bei weitem übertraf. Während die Behörden gegen erreichbare Sympathisanten und einzelne Vereinsmitglieder mit drakonischen Maßnahmen vorgingen, vermochten sie dem Fachverein selbst nur selten gezielte Schläge zu versetzen. Es wurden zwar vielfach Versammlungen des Vereins für aufgelöst erklärt oder andere schikanöse Maßnahmen59 praktiziert, aber konkrete Beweise für die „staatsgefährdende Tätigkeit des Fachvereins", die die endgültige Schließung ermöglicht hätten, ließen sich infolge der geschickt betriebenen illegalen Tätigkeit der Mitglieder nicht erbringen. Alle Versammlungen, aber auch die führenden Mitglieder und besonders aktive Teilnehmer am Vereinsleben wurden streng überwacht. Jedes erhaschte Detail des „versteckten sozialdemokratischen Treibens" wurde auf dem Dienstwege von den Gendarmen und den verschiedenen Spitzeln und Denunzianten an den Amtsvorsteher, von diesem über den 56

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58 59

Im Rahmen der preußischen Verwaltungsstruktur bildeten die Gemeinden Groß Ottersleben, Klein Ottersleben, Benneckenbeck und Lemsdorf auf lange Zeit hin einen Amtsbereich. Dieser Verein erfuhr tatkräftige Unterstützung von Sozialdemokraten, die aus jenen Städten, in denen der „kleine Belagerungszustand" herrschte, ausgewiesen worden waren. Vgl.: STAM, Rep. C 30 Wanzleben, Tit. III, Nr. 40: 1 0 - 1 3 . So geht z. B. aus einem Spitzelbericht hervor, daß Mitglieder des Fachvereins bzw. deren Verwandte kein Pachtland erhielten, daß sie, wenn sie sich um Arbeit bewarben, nach stiller Übereinkunft der Unternehmer, Fabrikanten und Gutsbesitzer abgewiesen wurden und daß Briefe von Sozialdemokraten bei der Post geöffnet und gegen den Fachverein verwendet wurden.

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Landrat an den Regierungs- bzw. Oberpräsidenten gemeldet, und zwar von jedem so, wie er es gerade für nötig oder richtig erachtete. (Die vorhandenen Belege liefern hierfür genügend Beweismaterial.) Die vom Oberpräsidenten verfaßten bzw. unterzeichneten Berichte über die sozialdemokratische Bewegung in der Provinz Sachsen gelangten dann zum preußischen Ministerium des Innern in Berlin. Dort war — wie den Archivalien zu entnehmen ist — der Groß Ottersleber Fachverein eine bereits sehr gut bekannte und in ihrer Entwicklung genau beobachtete Einrichtung. Die Leiter und die meisten Mitglieder des Fachvereins verstanden es nach mehrjähriger illegaler Tätigkeit ausgezeichnet, ihre wahren Ansichten, ihren politischen Kampf sehr geschickt zu tarnen. Und nicht zuletzt — dieser Faktor sei hier ganz besonders hervorgehoben — wagten es die Behörden angesichts der auf Seiten des Fachvereins stehenden großen Anzahl der Einwohner, vor allem der in dieser Gegend sehr zahlreichen Industrieland Landarbeiter, nicht, energischere Schritte gegen die illegal organisierte Sozialdemokratie zu unternehmen. So verlegten sich die Feinde des Fachvereins entsprechend dem neuen Kräfteverhältnis auf Provokationen, die aber in der Regel an der Disziplin der Sozialdemokraten scheitern. Auch der Versuch, dem Fachverein durch Intrigen das für sein Bestehen so wichtige Vereinslokal zu entziehen, schlug fehl. Die Orts- und Kreisbehörden standen dem Fachverein — und das war etwas Ungewöhnliches in der Geschichte dieser Einrichtungen — trotz des Sozialistengesetzes also recht hilflos gegenüber. Die bislang als allmächtig erschienenen Organe der preußisch-militaristischen Staatsmacht erwiesen sich gegenüber der organisierten Arbeiterklasse als relativ ohnmächtig. Dabei ist zu beachten, daß sich hier als unmittelbare Gegner ländliche Behörden und städtisches Industrieproletariat gegenüberstanden. Der Fachverein, so stellte der Landrat v. KOTZE in einer 14 Seiten umfassenden Anklageschrift an den Ersten Staatsanwalt zu Magdeburg fest, „ist unzweifelhaft nur gegründet, um ungestört politische Zwecke verfolgen zu können. Der Verein hat ein Hausgrundstück in Groß Ottersleben erworben und dem Leiter des Vereins die Verwaltung des Grundstückes übertragen. Das obere Stockwerk ist zu einem Saal umgebaut und dient fast jeden Abend als Sammelpunkt der Sozialdemokraten. Es werden hier von Vereinsmitgliedern und des öfteren von auswärtigen Führern der Sozialisten ... Reden gehalten. Diese Reden tragen wohl alle einen politischen Charakter und sind geeignet und wohl auch bestimmt, die Arbeiter gegen die Arbeitgeber aufzureizen." Bemerkenswert ist noch folgende Feststellung des Landrates: Der Fachverein sei „gegenwärtig der Mittelpunkt der in Magdeburg und Umgegend wohnenden und aus den Städten, in denen der kleine Belagerungszustand besteht, ausgewiesenen Sozialdemokraten".60 Dieses Zitat läßt die Schlußfolgerung zu, daß die — besonders aber die führenden — Sozialdemokraten versuchten, sich dem in Magdeburg herrschenden Terror zu entziehen, um außerhalb der Stadt, aber mit den Arbeitern aus der Stadt, wirksam zu sein. Als der Einfluß der vereinsmäßig organisierten und illegal wirkenden Sozialdemokratie in Groß Ottersleben und Umgegend immer größer wurde, rief der Amtsvorsteher K O C H den Landrat um polizeiliche Verstärkung an. Er begründete dies damit, daß er mit der ihm zur Verfügung stehenden Polizeigewalt „der großen Anzahl der Mitglieder des Fachvereins gegenüber ganz machtlos"61 dastehe. Dem Amtsvorsteher wurde vorerst ein weiterer Gendarm zugebilligt. An der bisherigen •« STAM, Rep. C 30, Wanzleben, Tit. III, Nr. 40: 72 (Anklageschrift vom 20. August 1886). 61 STAM, Rep. C 30, Wanzleben, Tit. III, Nr. 40: 9. 13

AK, Landarbeiter II

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Bitk

Situation änderte sich jedoch nichts. Die die Staatsmacht verkörpernden Beamten in Groß Ottersleben wurden gezwungen, die Werktätigen, und ganz besonders jene, die sich im Fachverein organisiert hatten, als einen beachtlichen Machtfaktor in Rechnung zu stellen. Selbst als der Vorsitzende des Vereins, der aus Berlin ausgewiesene MAXIMILIAN SENDIG, und andere Mitglieder des Groß Ottersleber Fachvereins Streiks der im Gegensatz zur Industriearbeiterschaft besonders wegen der persönlichen Abhängigkeit von den Bauern schwer mobilisierbaren Landarbeiterschaft gegen die Urheber ihrer zum größten Teil unerträglich schlechten Lebensbedingungen zu organisieren begannen,82 wagten es die Behörden nicht, gegen den Fachverein vorzugehen. Die Mitglieder des Fachvereins versäumten keine Gelegenheit, im Rahmen der — wenn auch sehr beschränkten — Legalität nicht nur ihre Existenz, sondern auch ihre gewachsene Stärke zu demonstrieren. So wurde die Beisetzung eines verstorbenen Mitgliedes zum Anlaß genommen, eine Demonstration zu veranstalten. Hunderte Sozialdemokraten aus Groß Ottersleben und Umgebung erschienen, wie es in den Polizeiberichten heißt, mit „roten Schleifen und Schlipsen", und die Kränze, die sie auf den Sarg legten, waren mit roten Blumen geschmückt.63 Die Aktivitäten der Behörden gegen den Fachverein wurden immer intensiver. Da sich der Eifer der staatlich besoldeten Spitzel aber als unzureichend erwies, wurden bei SENDIG und anderen Mitgliedern des Fachvereins am 21. Juni 1885 Haussuchungen vorgenommen.64 Doch es wurde keine verbotene Schrift, keine sozialdemokratische Broschüre oder anderes belastendes Material gefunden. Die Reaktion hatte die Erfahrungen, die die Sozialdemokraten im illegalen Kampf gesammelt hatten, unterschätzt. Der Kampf zwischen den im Fachverein organisierten Arbeitern und den Behörden war Ausdruck des festen Willens der Werktätigen von Groß Ottersleben und Umgebung, das Fortbestehen des Vereins als proletarisches Kampforgan zu sichern. Das verlangte den Organisatoren und Teilnehmern der Versammlungen oft große Disziplin ab. Sie standen vor der schwierigen Aufgabe, revolutionäres Gedankengut so zu vermitteln, daß für die Spitzel und die „Polizeiaufsicht" der eigentliche Sinn und Zweck nicht offensichtlich wurde. Die Agitatoren — das waren, was hier besonders hervorgehoben sei, vielfach im Reden und Schreiben noch ungeschulte Arbeiter — mußten viel Geduld und Mühe aufwenden und rhetorische Fähigkeiten entwickeln, um unter derart erschwerten Bedingungen ihren politischen Auftrag zu erfüllen. Themen, die von den herrschenden Kreisen besonders gefürchtet wurden, waren z. B. „Das Recht auf Bildung" oder „Die Bedeutung der Trennung von Kirche und Staat". Die Resonanz der öffentlichen Versammlungen des Vereins bzw. die Einwirkung auf das Volksleben sei an einem Beispiel demonstriert: Nachdem im Vereinslokal ein Vortrag über den reaktionären Charakter der Kirche im preußischen Staate gehalten worden war, traten 38 Frauen und Männer aus der Landeskirche aus, was von den Betreffenden großen zivilen Mut erforderte. Weitere Aktivitäten des Fachvereins waren den aktuellen Erfordernissen und Bedürfnissen angepaßt. Am 13. Juni 1885 wurde durch eine Provokation der von den Behörden vorgeschickten Polizei in Groß Ottersleben ein blutiges Handgemenge vom Zaune gebrochen, dessen AusDer Landrat meldete dem Regierungspräsidenten: „Es steht... für die Erntezeit ein Streik der landwirtschaftlichen Arbeiter, wenigstens in dem von Sendig beherrschten Distrikte, in Aussicht." (STAM, Rep. C 30 Wanzleben, Tit. III, Nr. 40: 10). 68 Vgl. STAM, Rep. C 30 Wanzleben, Tit. III, Nr. 40: 11. 64 STAM, Rep. C 30 Wanzleben, Tit. III, Nr. 40: 15 und 35.

82

Regionales Vereinswesen

185

lösung in provokatorischer Absicht dem Fachverein zugeschoben wurde. Neben weiteren 18 Arbeitern wurden 14 Mitglieder des Fachvereins verhaftet und zu insgesamt 54 Monaten Zuchthaus und 154 Monaten Gefängnis verurteilt. Der Vorfall wurde zum Vorwand für eine Kampagne gegen den Fachverein und damit gegen die illegale Sozialdemokratie genommen. Trotz Schikanen, Verhaftungen, trotz Vertreibving des Vorsitzenden SENDIG ins Exil (Amerika) setzte der Fachverein seine Tätigkeit, in der illegale mit legaler Arbeit geschickt verbunden wurde, fort,- was die Behörden dazu veranlaßte, weitere schikanöse Maßnahmen in die Wege zu leiten, um die Existenz des Vereins zu lintergraben. Wenn es der Reaktion auch gelang, den Fachverein schließlich aufzureiben, so war dies nur ein scheinbarer Sieg, denn die revolutionäre Sozialdemokratie im Kreis Wanzleben lebte und wirkte in anderen Institutionen, so z. B. in dem im Juli 1889 in Groß Ottersleben ins Leben gerufenen Arbeiter-Wahlverein für den Wahlkreis Wanzleben, fort. Dieser Verein konnte auf Grund des bestehenden Wahlgesetzes, das es zuließ, „zum Betrieb der den Reichstag betreffenden Angelegenheiten Vereine zu bilden",65 entstehen. Der ArbeiterWahlverein verfolgte den Statuten entsprechend den Zweck, „Bildung und Wohlergehen seiner Mitglieder auf allen Gebieten in materieller, politischer und wissenschaftlicher Hinsicht zu erstreben".68 Diesem Verein war infolge des reaktionären Terrors67 jedoch keine lange Lebensdauer beschieden. Mehrere Mitglieder wurden wegen „Majestätsbeleidigungen" und „Gotteslästerungen" verfolgt.68 Der Fall des Sozialistengesetzes änderte vorerst kaum etwas an der bedrückenden Lage der proletarischen Vereine. Der Minister des Innern richtete bereits am 18. Juli 1890 an alle Regierungspräsidenten, Landräte und städtischen Polizeiverwaltungen des Reiches „im Hinblick darauf, daß das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Oktober 1871 am 1. Oktober d. J. außer Geltung treten wird", ein Rundschreiben, in dem es u. a. hieß, „daß Vereine, welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern, nicht mit anderen Vereinen gleicher Art zu gemeinsamen Zwecken in Verbindung treten dürfen und daß bei Überschreitung dieser Beschränkung die Ortspolizeibehörde zur Schließung des Vereins vorbehaltlich der gerichtlichen Bestätigung befugt ist".69 Auch aus dem Kreis Wanzleben sind aus den Jahren nach dem Fall des Sozialistengesetzes unzählige Fälle von Verfolgung, Schikanen und Schließungen von proletarischen Vereinen bekannt. Anstelle des Sozialistengesetzes wurden nun in erster Linie das Allgemeine Strafgesetz und das Vereinsgesetz vom 11. März 1850 in Anwendung gebracht. Im Jahre 1890 wurde in Groß Ottersleben der „Sozialdemokratische Arbeiterverein für Groß Ottersleben und Umgegend" gebildet.70 Der Zweck des Vereins bestand besonders darin, seine Mitglieder über wissenschaftliche, gewerbliche, wirtschaftliche und politische Fragen jeder Art zu belehren und (auch über den Weg der Geselligkeit) die Mitglieder und deren Familienangehörige ideell miteinander zu verbinden. Nicht zuletzt hatte der Verein auch die Hebung und Förderung der materiellen Lage der Mitglieder und die Unterstützung Das Preußische Vereinsgesetz vom 11. März 1850, vgl. BORN, 1901: 107. STAM, Rep. C 30 Wanzleben A, Nr. 113: 376. STAM, Rep. C 30 Wanzleben A, Nr. 113 : 379. 68 STAM, Rep. C 30 Wanzleben A, Nr. 113: 331. •9 STAM, Rep. C 30 Wanzleben A (neu), Nr. 112: 14. 70 1890 = 64, 1893 = 64, 1895. = 51 Mitglie

¡•Halle



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Karte 5 Verschiebung Mühlingen verbreitet {Wor^el gegen lFor&//Wurzel), während andere im Süden ein breiteres Gebiet eingenommen hatten, z. T. bis Staßfurt (Hol^ gegen Holt).12* Eine Fülle mitteldeutscher Lautungen und Wörter drangen zwischen Staßfurt und Barby in die niederdeutschen Bördemundarten südlich Magdeburgs ein, selbst grammatische Formen wurden verändert und Flexionsendungen übernommen (grotes für groi). Man kann also für die Zeit um 1900 in diesem Gebiet die ik\ich-Linie kaum noch als wirkliche Grenze zwischen niederdeutschen und mitteldeutschen Mundarten ansehen. Manche dieser eingedrungenen mitteldeutschen Lautungen umfaßten eine ganze Reihe von Wörtern, so daß von den Mundartforschern um 1900 eine Gliederung der Bördemundarten danach vorgenommen wurde.129 Ein Beispiel ist der aus dem Süden übernommene Wandel von s Konsonant zu seh + Konsonant (Karte 4). Dabei hatten um 1890 die Verbindungen seht- (Schfall statt Stall), schp- nach Westen hin Egeln — Wanzleben erreicht, während schl-, schmr, sehn-, schw- aber bis Oschersleben übernommen worden waren. Der Wandel st- zu seht- usw. war um 1900 128 Vgl. BISCHOFF, 1935: 155-158, Abb. 2, 3. 1 2 9 LOEWE, 1888: 25-26; WINTER, 1874b: 105-121;

WEGENER,

1897: 326-333.

Sprache der werktätigen Klassen und Schichten

255

noch im Vordringen, die in den einzelnen Orten Vorhandenen Unterschiede zwischen den einzelnen Sprechern und Generationen bezeugen das eindeutig. Vom Süden, vor allem vom Elbe-Saale-Winkel ausgehend, wurde auch die Entrundung der Vokale ü, ö zu /, e übernommen, die sich damals bereits bis in die Gegend von Seehausen erstreckte (Karte 4 und Karte 6). Sie war hier in der Umgangssprache üblich und wurde dann auf die in den niederdeutschen Wörtern vorhandenen », ö übertragen. Es hieß also in diesen Mundarten Hiestr, scheen, ewwer, während in den nördlichen Bördemundarten Häser, schön, öwwer üblich war. Hinter dem Vordringen der Entrundung stand auch die Stadtsprache von Magdeburg, die ebenfalls die Entrundung hatte.

Daß gerade in der Gegend von Barby — Schönebeck viele südliche Formen vordrangen, hat verschiedene Ursachen. In den vergangenen Jahrhunderten erstreckte sich das Territorialgebiet der Wettiner hier besonders weit nach Norden und hatte einen Vorposten in der Grafschaft Barby. Später reichte Preußen von Süden her bis in die Nähe von Bernburg. Der Handel auf Saale und Elbe brachte auch südliche Spracheigentümlichkeiten. Durch die Südostbörde führten seit Jahrhunderten wichtige Handelsstraßen von Leipzig und Halle nach Magdeburg. Später folgten die Eisenbahnstrecken teilweise dieser Linienführung. Das alles förderte das Vordringen der höher bewerteten südlichen Sprachformen. Bei der Veränderung der niederdeutschen Mundart wirkte Magdeburg in besonderer Weise mit. Als sich die in den Dörfern wohnenden Arbeiter, kleineren Handwerker und Bauern sowie die Landarbeiter die Stadtsprache aneigneten, da war es in der Regel die untere Schicht der Magdeburger Umgangssprache. Sie sprachen diese Umgangssprache häufig neben ihrer niederdeutschen Mundart. Dadurch gelangten zahlreiche Lauteigentümlichkeiten der Umgangssprache in das Niederdeutsche der stadtnahen Dörfer. Manchmal drangen die gleichen Lautungen auch von Süden an der Elbe entlang nach Magdeburg vor. Dabei ist der sprachliche Einfluß der Stadt Magdeburg nicht immer eindeutig von den südlichen Vorstößen zu trennen. Das betrifft z. B. die Entrundung ü zu /, ö zu e.

256

Schönfeld

Auch die Entrundung äu zu ei gelangte, vom Elbe-Saale-Winkel ausgehend, in den Raum Staßf urt — Barby — Magdeburg. Unterstützt wurde das Vordringen dieser Lauteigentümlichkeit durch Magdeburg. Der Wandel von äu zu ei gelangte aus der städtischen Umgangssprache in die Umgangssprache mehrerer stadtnaher Dörfer. In einigen dieser Orte wurde er auf die mundartlichen Lautungen übertragen, so in Beyendorf, Sohlen, Dodendorf, Ebendorf und Rothensee, wo man dann Beiker (Bücher), pleien (pflügen) usw. sagte. Noch deutlicher und eindeutiger wird der Einfluß Magdeburgs, wenn in den Städten Groß Wanzleben und Egeln bei bestimmten sozialen Schichten die gleichen Lauterscheinungen auftreten, obwohl die übrige Bevölkerung und die der umliegenden Dörfer äu sprachen. Eindeutig ist der Einfluß Magdeburgs auch dann zu ermitteln, wenn zwischen Magdeburg und der gleichen sprachlichen Erscheinung bei Barby noch keine räumliche Verbindung besteht, d. h., wenn der südliche Vorstoß Magdeburg noch nicht erreicht hat. Das ist bei er für hei der Fall (Karte 3). Um 1880 war er für hei üblich in Magdeburg, Neustadt, Sudenburg, Lemsdorf, Fermersleben, Salbke, Westerhüsen, allerdings hauptsächlich bei der jüngeren Generation; in Groß Ottersleben und Klein Ottersleben wurde sowohl hei als auch er verwendet. 130 Hier ist er von Magdeburg in die Dörfer gelangt, denn im Südostteil der Börde war bei um 1930 nur bis Barby vollständig verdrängt worden. Die Ausstrahlung Magdeburgs zeigt sich auch am Vordringen des städtischen r-Lautes in die Mundarten der stadtnahen Dörfer sowie des Lautes j- für g- nach Westen. Noch deutlicher wird der Einfluß der Stadtsprache auf die Bördemundarten, wenn brandenburg-berlinische Wörter über Magdeburg in die Börde vermittelt wurden, z. B. Wasen (Wasserdampf) statt Briten, Stulle statt Stücke, Murstein statt Bernstein, Kant statt Knust und bereits im 17. Jh. Kotsaße statt

Köter.131 Auch einige der kleinen Bördestädte nahmen im ausgehenden 19. Jh. eine abweichende Stellung in der Mundartlandschaft der Börde ein. Sie hoben sich bei verschiedenen sprachlichen Eigentümlichkeiten ab. Das wurde z. B. festgestellt für Groß Wanzleben und Egeln. Die Zweisprachigkeit, die häufigere Verwendung der Umgangssprache und der Einfluß der Stadtsprache von Magdeburg wirkten hier stärker als in den Dörfern. Das war zu beobachten beim Wandel von äu zu ei (Heiser), ei zu e (.Been), au zu o (Boom). Auch bei anderen Lauten gingen Groß Wanzleben und Egeln einen anderen Weg als die Mundartlandschaft der Umgebung. Während in den Mundarten der umliegenden Dörfer z. B. zwischenvokalisch -d- und -g- ausgefallen sind (boa'ejba.de., x//V/steige), hatte ein großer Teil der Bevölkerung von Groß Wanzleben und Egeln dafür in allen Fällen d und für g einen stimmhaften Reibelaut j oder ch wieder eingesetzt (z. B. boade, stieje). Das wurde einerseits dadurch gefördert, daß in Magdeburg und den Dörfern an der Elbe die gleichen Formen mit d und j vorhanden sind, und andererseits durch die Wirkung der Literatursprache. In die Mundart von Groß Wanzleben wurde auch das in Magdeburg und den Elborten übliche kurze a bei einsilbigen Substantiven übernommen, an dessen Stelle die Dorfmundarten oa aufweisen. Das geschah aber nur dann, wenn Umgangssprache und niederdeutsche Mundart den gleichen Konsonanten im Auslaut hatten. So hieß es Jras (Gras), Rat (Rad), aber Foat (Faß), Doak (Dach).132 Die unterschiedlichen Verhältnisse (z. B. Schulbildungsmöglichkeit, Beruf) und die dadurch bedingten unterschiedlichen Verhaltensweisen (z. B. unterschiedlich häufiger Ge130

Vgl. LOEWE, 1888: 32; BISCHOFF, 1935: 1 0 7 - 1 0 8 , Karte 22.

131

V g l . BISCHOFF, 1 9 5 8 : 4 4 — 5 3 ; SCHÖNFELD, 1 9 7 2 .

132

V g l . LOEWE, 1 8 8 8 : 3 4 .

Sprache der werktätigen Klassen und Schichten

257

brauch der einzelnen Sprachformen, unterschiedliche Einstellung zu den Sprachformen) bei den einzelnen sozialen Klassen, Schichten und Gruppen hatten zum Entstehen und zur Verwendung verschiedener Schichten in der Umgangssprache geführt. Dasselbe war auch bei der niederdeutschen Mundart in Orten mit sozial stärker differenzierter Bevölkerung der Fall. LOEWE beobachtete das in Groß Wanzleben. Er stellte hier drei bzw. vier „Abstufungen" in der Mundart fest, die von den verschiedenen „Ständen" benutzt wurden: a) Die „Ökonomen und besser situierten Handwerker" der älteren Generation sprachen ei für äu (Beiker/Bücher) und hatten d und j wieder eingesetzt (meid¿/müde, stije\steige); b) ein großer Teil der Handwerker hatte d und j fast überall wieder eingesetzt und sprach äu (mäude)\ c) ein kleiner Teil der Handwerker und sämtliche Arbeiter hatten d und j „nicht fast allgemein" wiederhergestellt und sprachen äu (mäu'e); bei der jüngeren Generation dieser Gruppe hatte ein Teil in größerem Umfang d und j wieder eingesetzt, aber bei den jungen Arbeitern war das nur selten geschehen.183 Die Bördebewohner wußten, daß es innerhalb der Börde zwischen den Mundarten Unterschiede gab. Sie kannten auch solche und werteten die Mundarten danach. Mundarten, die mehr literatur- oder umgangssprachliche Elemente aufgenommen hatten, galten bei manchen Gruppen für vornehmer als die anderen. So sah die obere soziale Schicht von Groß Wanzleben die Mundart der übrigen Bevölkerung als grob an. Wer zu weit von der Sprachform abwich, wie sie in seiner Kommunikationsgemeinschaft üblich war, der galt als affektiert. Es gab da Grenzen nach oben und nach unten. Die Bewohner der Neustadt unterschieden um 1890 drei Arten der niederdeutschen Mundart (.Dietsch, Oltdietsch), nämlich die eigene (Niesteetsch), die der Magdeburger Schiffer (Federsch) und die der Dorfbewohner (Buersch).lu Dabei sahen sie auf die bäuerliche Mundart „verächtlich" herab. Die umwälzenden ökonomischen und damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen in der Magdeburger Börde mußten auch von den Mundartsprechern bewältigt werden. Das hatte zur Folge, daß die Mundartsprecher zahlreiche neue Bezeichnungen für neue Gegenstände, Tätigkeiten und Verhältnisse in ihre Mundart aufnahmen oder selbst neue Bezeichnungen bilden mußten. Meist wurden sie den niederdeutschen Lautverhältnissen angepaßt, besonders wenn sie vor 1900 in die Mundart gelangten. Im Bereich der Landwirtschaft ergaben sich bereits um 1800 zahlreiche Veränderungen durch den Anbau der Kartoffel und der Zichorie. Viel stärker waren aber die Wandlungen durch die Zuckerrübenwirtschaft. Seit den dreißiger Jahren des 19. Jh. kam es in der Börde zu einer schnellen Entwicklung der Landwirtschaft, die „ohne eine entsprechende agrartechnologische Entwicklung nicht denkbar" war.135 Bereits vor den Zuckerrüben wurden in der Börde Rübenarten (Rätm>e\Rübe, im Südosten Reim, in und um Barby Riem) angebaut, nämlich Futterrüben (meist als Turniks, TurnitTurnips, Torniks u. ä. bezeichnet, aus dem Englischen: turnip; daneben auch Futterräuwe1S6), Mohrrüben (Mauhrn; in den Orten westl. bei Magdeburg Mohrn\ im Südosten Mohrrei'm), Kohlrüben (witte un jäle Rohbau'm), Wasserrüben (Waterräu'm, vereinzelt Steppelräu'm) und Rote Rüben (Ro'e Räu'm).136a Für den Anbau der Zuckerrübe (Zuckerräum) konnte ein Teil der beim Futterrübenanbau vorhandenen Geräte und Arbeitsweisen übernommen werden. Als aber die Zuckerrüben in V g l . LOEWE, 1 8 8 8 : 5 1 . V g l . LOEWE, 1 8 8 8 : 5 2 . 1 3 5 V g l . HARNISCH, 1 9 7 8 : 1 6 9 . 1 3 8 BRÜGGE, 1 9 4 4 : 1 5 3 - 1 5 4 , K a r t e 1 3 . lsea V g l . D AZU MÜLLER, 1 7 9 5 : 164F. 183 134

258

Schönfeld

sehr großem Umfang und nach festen Verträgen mit den Zuckerfabriken angebaut wurden, da kamen zahlreiche neue Geräte und technische Verfahren hinzu. Der Anbau und die Kultur der Zuckerrübe bestimmte das ganze Jahr hindurch den Arbeitsgang des Bauernhofes. Vor dem Winterfrost wurde der Acker gepflügt. Durch gute Beackerung, viel Mist (Mess strauen) und reichlich künstlichen Dünger (Chilesalpeter, Neune-Neune, Amoniak, Superphosphat, Kali u. ä.) gab es gute Erträge. Im Frühjahr wurde der Boden abgeschleift. Früher verwendete man dazu Bretter, später Gliederschleppen. Dann wurde der Boden aufgerissen (,gekrümmert oder gegrubbert), gedüngt, geeggt usw. Zu Beginn des 19. Jh. waren die Ackergeräte noch einfach. Nach und nach beschaffte man statt des Wanzleber Pfluges die Sackschen Eisenpflüge, Dreischare, Eiseneggen, breitere Drillmaschinen, Cambridgewalzen und Dreschmaschinen. Schließlich wurden bessere Hackmaschinen angeschafft, auch breite Düngerstreumaschinen statt der alten Streukästen. Große Wirtschaften verwendeten später auch Dampfpflüge.137 Im Frühjahr wurde bei der Rübenbestellung der Rübensamen (Räu'msaat, auch Räuwekeern) gedrillt (Räu'msaat drillen, seltener Räu'm drillen; Reimnkern seien früher in Klein Mühlingen; Räu'm dippeln in Rottmersleben). Dann mußte man die Rüben verhacken (yersetten) und schließlich mit der Hand verziehen ('vertrecken). Das geschah durch Saisonarbeiter, häufig aber auch durch Schulkinder, die dafür auch Schulferien (Vertreckeferien) bekamen. Verschiedentlich nahmen die Kinder einen kleinen Spaten oder ein langes Messer (Vertreckemesser Bahrendorf; Engerlingsspaten Eichenbarleben, Ochtmersleben; Zabbenstäker Nordgermersleben, Rottmersleben) mit, um Engerlinge auszugraben. Danach mußte man die Rüben behäufeln (anpläuen, im Südosten anpleieti). Den ganzen Sommer war das Hacken zum Auflockern des Bodens nötig. Das geschah, bis das Rübenblatt die Reihen deckte. An Werkzeugen wurde dazu die Hacke verwendet, an großen Geräten die Hackmaschine und andere größere Arbeitsinstrumente. Das Hacken mit der Hand nannte man hacken, auch dorcbhacken, Räu'm langhacken, um den Busch hacken (Ochtmersleben), Bänke hacken (Eichenbarleben), auch schuffein (mit einer besonderen Hacke, Biere). Zum Auflockern benutzte man auch verschiedene größere Geräte (Hackmaschine, Treckehacke, Räu'mhacke, Kreihenfaut, Schuffei, Igel). Diese Tätigkeit nannte man ebenfalls hacken, aber auch mit de Hackmaschine hacken, mit de Hackmaschine dorchhacken, Räu'm dorchtrecken mit 'n Kreihenfaut (Rottmersleben, Domersleben), schuffein (Klein Mühlingen, Großmühlingen), igeln (Großmühlingen, Barby). Danach mußte man die Rüben düngen (Dünger strauen, Dinger schmieten-, Dünger seien in Kleinalsleben, Ochtmersleben). Dazu nahm man Koppdünger, den man aus dem Düngerkasten oder einet Düngermolle streute. Einen Teil der Rübenblätter (Räu'mblaad, Blähe, Räu'mbla'er, Räu'mkruut) brach man in manchen Dörfern für Futterzwecke ab. Hauptsächlich geschah das aber bei der Futterrübe. Man nannte das bla'en, affbla'en. Schon bevor die Rübe zu welken begann, setzten die Zuckerfabriken fest, wann die Kampagne (Kampanje) beginnen sollte. Es wurde ein genauer Lieferplan vereinbart. Die Rübenfelder wurden in Teilen den Räu'mro'ers (Rübenrodern) zugewiesen, die sie meist in Akkord bearbeiteten. Etwa bis 1914 wurden die Rüben hart gerodet. Man mußte also die Rüben graben. Zum Roden diente ein Rübenspaten (Räu'mspa'n, -spagen u. ä.), der rechts, links oder beidseitig eine Trittleiste hatte, mit dem man leicht die Spitze der Rübe abstach. Oder man benutzte den Griwwel (auch Räu'mgriwml), der zwei Zinken und eine Trittleiste hatte. Mit ihm ließen sich die Rüben leichter herausheben. Die Rüben wurden dabei beim Kraut erfaßt und dann herausgehoben. Gewöhnlich hob man die Rüben von 187

Vgl. HARNISCH, 1978: 106f., 168ff„ und PLAUL, 1978: 217ff.

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zwei Reihen heraus und legte sie in eine Reihe (op Reipe smieten; in Reegen schmieten, Rottmersleben). Bei einem solchen einfachen Reip hackte man die Rübenköpfe stehend ab. In kleineren Betrieben legte man vier Reihen Rüben in eine Reihe, also ein doppeltes Reip. Dann hackte man knieend ab, um weniger Rübe am Blatt zu lassen. Manchmal legte man auch zwei Reihen Rüben mit den Blattenden gegeneinander. Bei einem solchen Reip wurde ebenfalls kniend abgehackt. In manchen Orten legte man die Rüben in Hufeisenform. Die Einheimischen hackten die Rübenköpfe gewöhnlich mit einem beilähnlichen Gegenstand (Hackmesser, Affhackemesser, Hackebiel) ab und warfen sie auf kleinere Haufen (Räu'mbarg, Hucken). Die Saisonarbeiter nahmen die Rüben in der Regel in die Hand, schlugen die Köpfe mit der Sichel (selten Sickel) ab und warfen sie gleich auf einen Haufen. Auch Einheimische folgten vereinzelt dieser Art. Wenn die Rüben längere Zeit auf dem Acker liegenbleiben mußten, trug man sie vor dem Abtransport auf größere Haufen (Vartel'morgenmiete, Halfmorgenmiete). Das geschah verschiedentlich mit einer Kiepe (Räu'mkiepe) oder einer Trage aus Holz (Räumdrah; bie Vartelmorgenmieten kamen die Räu'm in Drage). Schößlinge {Stake, Staakräuwe, Schuß, Oppschuß, Schosser) schied man bei der Lieferung an die Zuckerfabrik aus. Auch der Transport brachte eine Fülle von Arbeit. Die Rüben wurden schon gleich nach dem Roden aus kleinen Haufen mit der Rübengabel (Räu'mgarnl, Grepe) auf den Ackerwagen geladen und zur Fabrik (Fawrike) gefahren, später aus Mieten. Diese Mieten waren mit Rübenblättern (Blaad, Bla'ije) bedeckt, danach mit Erde. Mit Holzschlage (Holtschla,e) und Eisenkeil schlug man bei Frost die Erde los. Die Rübenblätter auf dem Acker wurden mit der Gabel zu kleinen Haufen zusammengeworfen und von dort zum Konservieren mit Rübenschnitzel (Masse) in Mieten (Massekuhlen, Massemieten) gebracht. In der Miete waren also Räu'mblaad und noate Masse. Was auf den Feldern liegenblieb, wurde untergepflügt oder durch die Schafherden blankgemacht. Hieß es doch in der Börde nicht umsonst: de Schape folgen de Räuwe noah. Die Rübenkultur hat die Mastviehhaltung gefördert. Man führte nur Stallfütterung durch, auch wegen des Mistes. Der Bauer sagte damals: Wo kein Mistus, da kein Christus; wu de Messwaan nich henkummt, kummt Gottes Segen ook nich hen. Wurden zu oft Rüben hintereinander angebaut, so wurde der Acker rübenmüde (räu'mmäu'e). Kleine Zuckerrüben nannte man Schwänze (in Nordgermersleben Schtränke). Die Samenpflanze hieß Steckling. Bei Zuckerrüben mit weißen Blättern nahm man an, daß sie Unglück bringen. Sie wurden angesehen als ein Anzeichen für einen Todesfall in der Verwandtschaft dessen, der diese Reihe zu roden hatte (et schtarwet ein'n). Die Futterrüben wurden nach der Zuckerrübe gerodet (Tornitz ro'en). Sie wurden mit der Hand herausgezogen und danach in Reihen gelegt. Mit einer Art Sichel wurde das Rübenkraut abgehackt. Im gleichen Arbeitsgang wurden die Rüben auf einen Haufen geworfen. Sie wurden in Mieten eingelagert oder in frostsicheren Räumen. Durch den Zuckerrübenanbau änderten sich die Arbeitstechniken und die Arbeitsweisen in der Landwirtschaft. Der Bauer mußte damit fertigwerden. Er mußte die neuen Arbeitsmittel und ihre Teile sowie die Tätigkeiten kennenlernen und bezeichnen können. Häufig lernte er das in der Landwirtschaftsschule. Diese Begriffe verwendete er dann auch in der Mundart, wobei sie meist lautlich angeglichen wurden. Man kannte am Pflug (Plauch) Teile wie Grindel (Pflugbaum), Krappisen (mit Kerben versehenes Eisen am Grindel), Leeriseh (Stelleisen am Pflug), fijentunge (Eisendorn an der Pflugkarre), Sech (Vorschneidemesser am Pflug) usw. Den Extirpator nannte man Ekstrapater oder Pater. Beim Kartoffelanbau gab es einen besonderen Pflug (Schüffei) zum Lockern des Bodens (anschüffeln). Der Bauer mußte die neuen Düngersorten kennenlernen. Er nannte z. B. den künstlichen Dünger Salpeter, den an kalkigen Wänden befindlichen Salpeter aber Salpeiter. Der Bauer lernte,

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die Weizenkörner zu beizen (inkälken) bzw. mit einer Vitriollösung anzufeuchten ('« Weiten fiktrjoleri). Eine Entwicklung gab es auch bei den dörflichen Handwerkern; der Schmied hatte nicht mehr nur Pferde zu beschlagen und einfache Pflüge zu reparieren. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. bildete sich in der Landwirtschaft der Typ des Facharbeiters heraus, der landwirtschaftliche Maschinen bedienen und instand halten konnte. Die meisten dieser Facharbeiter kamen aus dem Schlosser- und Schmiedehandwerk.188 Die dörflichen Mauter und Zimmerleute hatten jetzt neben Fachwerkhäusern auch an „Rübenpalästen" mitzubauen. Dabei wurden zahlreiche neue Begriffe verwendet, die in ihre Mundart einflössen. Neben Faakwerk (Fachwerk), Faakstock und Lehmstaken (Staken für die Fachwand), Staakwand (Fachwerkwand), Scbrootbalken (schräger Stützbalken), Balkenrüter (Säule im Dachstuhl), Strohschoof (Strohbündel des Dachdeckers), sprijeln (Rohr an der Stubendecke befestigen), Halmen- oder Hammbodden (abgeschrägter Dachboden) erscheinen Scharavang (unterster Rahmen des Fensters), Zarge (äußere Umrahmung von Türen und Fenstern), Paneel (Holzbekleidung der Stubenwände), Plinthe und Tippentappen (Kante mit Absatz am Haus), Schmieje (Meßgerät beim Winkelvergleich), Zietling (Stahlblech zum Glätten des Hölzes), %wirchen (Langholz quer behobeln), Stechbeutel (Stechbeitel), Drillbo'r (Drillbohrer), Schruufstock (Schraubstock). Noch stärker war der Einfluß des Fachwortschatzes auf die Mundart der Dorfbewohner, die in Fabriken und Bergwerken (im Schacht als Schachter) arbeiteten. Selbst bei der Arbeit in der Ziegelei (seltener Teilt) übernahm der dort Beschäftigte eine ganze Anzahl von neuen Bezeichnungen, häufig in umgangssprachlicher Lautung, z. B. Anlach, Ringo'm, Ufeuch, Beschicker, Mundstück, Kamer. Da die meisten Bördebewohner verschiedene Sprachformen beherrschten und zahlreiche von ihnen diese auch in den unterschiedlichen Situationen öfter verwendeten, wurden durch den Einfluß der Literatursprache, der Umgangssprache und des Fachwortschatzes zahlreiche Wörter der Mundart um 1910 bereits in hochdeutscher bzw. umgangssprachlicher Form ausgesprochen, z. B. Ausschuß, Fleiß, Hanf, Hecht, Kiche, Kirche, Krebs, Mutter, Opfer, Schuß, Zug, Zweifel. Manchmal wurden daneben noch die niederdeutschen Formen verwendet, z. B. Boitzen und Bolten, Her% und Harte, Zimmermann und Timmermann,139 Verschiedentlich wurden aus der Literatur- oder Umgangssprache Wörter mit hochdeutscher Lautung in die Mundart übernommen, die nun neben den gleichen Wörtern mit niederdeutschem Lautstand standen. Sie bekamen dadurch eine eingeengtere oder speziellere Bedeutung, z. B. Griff aber gripen (greifen), Schloß (Gebäude) aber Sloot (Türschloß), weißen (eine Wand streichen) aber witt (weiß), Pflaster und Plaster (Straßenpflaster) aber Ploaster (Wundpflaster), Jawel (Gabel beim Essen) aber Gaffel und ß f f e l (Gabel beim Dreschen).140 Eine ganze Reihe von Fremdwörtern war auch um 1911 noch in der Mundart vorhanden, z. B. akkeriseraat (ganz genau), atschee (Abschiedsgruß), blimerant (schwindelig), deseloat (matt), drimeliren (ungeduldig fordern), Far'mapteike (Drogenhandlung), fijelieren (spionieren), Kalmiser (Schlaukopf), Maschpuke (Gesellschaft), mumbiel (gesund), Mmdierung (Kleidung), simelieren (grübeln), Tarms (Art, Einstellung), Traktement (Lohn), sik verdefendiren (sich verteidigen). Man hatte sie einst als feinere Ausdrücke aus der Stadtsprache übernommen, weil man nicht hinter den Städtern zurückstehen wollte. Dann hatte man daran festgehalten. 188

V g l . HARNISCH, 1 9 7 8 : 1 0 7 .

Vgl. SCHAPER, 1911: 74-76. 140 SCHAPER, 1911: 74-76.

139

Sprache der werktätigen Klassen und Schichten

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Zahlreiche Mundartwörter kamen im 19. Jh. außer Gebrauch, besonders •wenn ganze Sachbereiche aufgegeben wurden. Das betrifft im 19. Jh. z. B. die Tracht mit ihren vielen Teilen und Bezeichnungen. Damit verschwanden Wörter wie Trumprock, Folen- oder Fitsylrock. Der Flachsanbau wurde in der Börde in der zweiten Hälfte des 19. Jh. aufgegeben. Dadurch gerieten Wörter in Vergessenheit, die sich auf den Anbau und die Bearbeitung des Flachses bezogen, z. B. Bote, boten, braken, Diessenhe'e, Flasshucke, Lopp, reppeln, Riste, Schern usw. Mit dem Ende des Webens verschwanden die zugehörigen Wörter (z. B. Stell, Blinne, Inslach un Toch), ebenso bei der Leinwandherstellung und beim Spinnen. Um 1900 gab es auch keinen Kuhhirten {Kauher) und keinen Schweinehirten ('Swineher) mehr. Zur Pflege und Erforschung der Bördemundarten vor 1917 Über den Kampf der Lehrer und Geistlichen gegen die niederdeutsche Mundart in der Zeit vor 1917 wird uns von Gewährsleuten öfter berichtet. Dagegen ist uns über die Pflege der niederdeutschen Munsart nichts bekannt geworden, obwohl schon im ausgehenden 19. Jh. dazu aufgerufen wurde. Jedoch fanden sich schon verhältnismäßig früh Bördebewohner, vor allem Lehrer, die die Mundarten und die sprachlichen Verhältnisse der Magdeburger Börde erforschten, so WEGENER, LOEWE, WINTER, KRAUSE, SCHAPER, ROLOFF, HÜLSSE. Sie sammelten mit großem Eifer, überlieferten umfangreiches Material der Nachwelt und deuteten auch die sprachlichen Vorgänge. Dabei wurden zahlreiche in die Zukunft weisende Gedanken und progressive Wünsche für die Mundartforschung geäußert, die erst viel später verwirklicht wurden. Das ist besonders bei dem 1879 von WEGENER gebotenen Gesamtprogramm der Fall.141 Verschiedene dieser Mundartforscher zogen bereits damals in großem Umfang die gesellschaftlichen Verhältnisse zur Erklärung der sprachlichen Prozesse hinzu. Zum Wandel bei den Rufnamen Ein Wandel der Einstellung zeigt sich auch in der Rufnamengebung. Der Verfasser der Reisebeschreibung von 1791 schreibt: „Die Mannsleute auf dem Lande heissen gewöhnlich Töffel oder Henning, und die Frauenzimmer Margaretha."142 Im 19. Jh. waren häufig Doppelnamen üblich. Nach der Meinung einiger Gewährsleute traf das besonders für Töchter und Söhne der oberen sozialen Schichten zu. Es ist deutlich erkennbar, daß zahlreiche alte Vornamen und die dafür verwendeten Abkürzungen etwa seit 1870 außer Gebrauch kamen. Für Mike, Fike, Trineken, Rike, Alischen, Dortlischen, Stachus, Kirschan, Kirste, Matz, Tis usw. hörte man um 1910 entweder die entsprechenden hochdeutschen Namen, oder die alten Namen waren ganz in Vergessenheit geraten. „Feinere" Namen hatten sie verdrängt.143 Auch im benachbarten Anhalt waren in der Mitte des 19. Jh. Doppelnamen und verkürzte Formen allgemein gebräuchlich, z. B. Viekliese (Sophia Luise). Häufiger waren diese bei Mädchen und Frauen als bei Knaben und Männern. Auch in Anhalt verschwanden diese Namen am Ende des 19. Jh.144 Neue Namen kamen auf.145 Für die Magdeburger Börde sind weitere Untersuchungen zum Rufnamenwandel und zur Rufnamengebung bei den verschiedenen sozialen Gruppen nötig. 111

WEGENER, 1 8 8 0 .

142

Unterhaltende . . . Beschreibung, 1 7 9 1 : 645.

143

V g l . SCHAPER, 1 9 1 1 : 7 5 .

144

V g l . WÄSCHKE, 1 9 2 5 : 2 1 5 .

146

V g l . WIRTH, 1 9 5 6 : 1 1 3 f .

262

Schönfeld Schlußbemerkungen

Die Sprache und das sprachliche Verhalten, also Kenntnis und Verwendung sowie Bewertung der verschiedenen Sprachformen, befinden sich in einem ständigen Wandel. In der spätfeudalistischen und in der kapitalistischen Gesellschaft verliefen die Prozesse hinsichtlich der Veränderung der Struktur der Sprachformen sowie deren Funktion und Geltung bei den verschiedenen sozialen Klassen und Schichten regional sehr unterschiedlich. Es gab Tendenzen, die durch die Wirkung der Gesamtheit der gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen für alle Regionen galten, z. B. das Vordringen der hochdeutschen Schriftsprache (Literatursprache) und der mündlichen Verkehrssprache (Umgangssprache), das Entstehen eines neuen Wortschatzes, der mit dem Aufkommen neuer Sachen iind Verhältnisse auch von den Mundartsprechern aufgenommen werden mußte. Diese Prozesse wiesen jedoch in den einzelnen Landschaften unterschiedliche Schnelligkeit und Qualität auf. Weitgehend wurde die sprachliche Situation bestimmt und geprägt von den jeweiligen ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Wenn diese sich tiefgreifend veränderten, so wirkte sich das auch erkennbar auf die Sprache und das Sprachverhalten aus. Sehr deutlich sind Motive und Triebkräfte der sprachlichen Entwicklung sowie der Wandel der Sprache und des Sprachverhaltens bei den verschiedenen sozialen Klassen und Schichten unter dem Einfluß der ökonomischen und sozialen Veränderungen innerhalb der antagonistischen Klassengesellschaft in der Magdeburger Börde zu beobachten. Die sprachliche Entwicklung dieser Region im 19. Jh. hebt sich erkennbar von der der sie umgebenden niederdeutschen Landschaften ab. Von wesentlicher Bedeutung dafür waren die sprachlichen Verhältnisse in der Stadt Magdeburg. In vielen anderen Regionen hatte sich auch in den Städten die Mundart, nachdem sie verschiedentlich bestimmte dörfliche Eigenheiten abgelegt hatte, im mündlichen Verkehr im privaten und familiären Bereich erhalten, z. B. in Städten im Norden der DDR bis in das 20. Jh. In Magdeburg gaben dagegen — ähnlich wie in Berlin — schön früh größere Bevölkerungsgruppen die niederdeutsche Mundart auf, und zwar allmählich seit dem 16. Jh. Um 1800 gebrauchte bereits der größte Teil der Stadtbevölkerung im mündlichen Verkehr eine städtische Umgangssprache auf mitteldeutscher Grundlage. Diese Entwicklung war verstärkt worden durch die Ansiedlung größerer Gruppen von Pfälzern, Wallonen und Franzosen seit dem 17. Jh. und durch den Zuzug von Menschen aus anderen Landschaften, die Arbeit in zahlreichen Manufakturen und kleinen Fabriken Magdeburgs fanden. Bereits im 18. Jh. nahm Magdeburg eine bedeutsame Stellung als Verwaltungs- und Kulturzentrum sowie als Handelsplatz ein. Auch dies sowie die vorhandene Garnison förderten das schnelle Verschwinden der niederdeutschen Mundart in Magdeburg, wodurch der soziale Gegensatz zwischen Stadt und Land schön zu der Zeit auch ein sprachlicher wurde. Bereits am Ende des 18. Jh. war ein ökonomischer, kultureller und sprachlicher Einfluß der Stadt Magdeburg auf Teile der Magdeburger Börde deutlich zu beobachten. Bestimmte Gruppen der Bördebauern orientierten sich schon mit ihrer Wirtschaft auf den Markt von Magdeburg. Das geschah in unterschiedlichem Maße, wobei auch die Stadtnähe eine Rolle spielte. Die Stadt-Land-Beziehungen gestalteten sich dadurch enger als in anderen Landschaften. Die dörfliche Isolierung wurde teilweise aufgehoben. Die einsetzende Differenzierung innerhalb der bäuerlichen Klasse sowie in arme und reiche Gemeinden und die sehr hohe Zahl der Landhandwerker in den Bördedörfern bewirkten unterschiedliche

Sprache der werktätigen Klassen und Schichten

263

Kultur und Lebensweise der verschiedenen sozialen Schichten im Dorf, auch der bäuerlichen Schichten. Der Umfang der Übernahme bürgerlicher Verhaltensweisen in das dörfliche Alltagsleben wurde durch die jeweiligen Besitzverhältnisse geprägt. In dieses soziale Verhalten ist auch das Sprachverhalten einzuordnen. Gewöhnlich benutzten die Dorfbewohner zu der Zeit die Mundart, und der größte Teil beherrschte aktiv nur diese. Ein kleiner Teil der Dorfbewohner, neben Pfarrer und Lehrer vor allem wohlhabende Bauern, konnte bereits damals die Schriftsprache richtig gebrauchen. Diese Bauern hatten die Möglichkeit, städtische Schulen zu besuchen. Manche von ihnen legten die niederdeutsche Mundart ab, weil auch die städtischen Gruppen, mit denen sie verkehrten, diese Sprachform nicht mehr verwendeten. Die Handwerker erlernten während ihrer Wanderschaft zur Mundart regionale Umgangssprachen dazu. So kam es in bestimmten sozialen Schichten der Dorfbevölkerung bereits zu einer Zweisprachigkeit. — Die Struktur der Mundart in der Börde veränderte sich durch den neu entstehenden Wortschatz sowie durch die Übernahme von Forrften aus der Schriftsprache, der städtischen Umgangssprache und aus den benachbarten Mundarten, besonders den südlich angrenzenden mitteldeutschen Dialekten, was sich auch auf den Lautstand der Mundart auswirkte. Die unterschiedliche Weite der Übernahme solcher Formen trug zur Prägung der regionalen Gliederung der Bördemundarten bei. Zu großen ökonomischen und sozialen Umwälzungen kam es in der Magdeburger Börde im 19. Jh. vor allem durch die Einführung der Zuckerrübe, deren Anbau die Landwirtschaft veränderte und eine eigene Verarbeitungsindustrie verlangte, durch den Bergbau und die Agrarreform. Weithin wirkten sich der starke Aufschwung der Industrie in der Stadt Magdeburg seit der Mitte der dreißiger Jahre des 19. Jh. und besonders die mit Konzentrierung und Zentralisierung verbundene Ausweitung der Großindustrie nach 1870 aus, was auch eine erhebliche Steigerung des Handels und Verkehrs mit sich brachte. Davon wurden nicht nur einige stadtnahe Dörfer betroffen, sondern — in unterschiedlichem Maße — die gesamte Börde. Die enge Verflechtung von Industrie und Landwirtschaft und der hohe Stand der beiden Wirtschaftszweige führten in dieser Region zu einer Wesentlichen Veränderung der Sozialstruktur. Es kam zu der für den Kapitalismus charakteristischen Klassenstruktur auch im Dorf, zu einem stärkeren Proletarisierungsprozeß und zu einer engeren Berührung der Dorfbewohner mit der Stadt. Bereits um 1840 war in mehreren Kreisen der Börde der größte Teil der Bevölkerung nicht mehr in der Landwirtschaft tätig. Die relative starke Isoliertheit der Dorfgemeinschaft und ihr landwirtschaftlicher Charakter wurden zunehmend aufgehoben. Es bildeten sich neue Kommunikationsgemeinschaften, und mit neuen Tätigkeitsbereichen ergaben sich neue Kommunikationsinhalte und Kommunikationsformen. Durch diese neuen Bedingungen veränderten sich vielfach die Lebensweise und auch das sprachliche Verhalten. Die einheitliche Sprachgemeinschaft des Dorfes wurde aufgelöst. Die einzelnen sozialen Klassen, Schichten und Gruppen verhielten sich dabei unterschiedlich, was durch bestimmte Notwendigkeiten hinsichtlich der Verständigung, durch die Tätigkeit und Bildungsmöglichkeiten, aber auch durch die Einstellung zu den Sprachformen bestimmt wurde. Vielfach entwickelte sich eine aktive Zweisprachigkeit. Zur Mundart eigneten sich die sozialen Gruppen der Bördedörfer noch die entsprechende Sprachform der städtischen Kommunikationspartner an, mit denen sie verkehrten, z. B. die wohlhabenden Großbauern die Schriftsprache, die in der Stadt tätigen Arbeiter (Pendler) die untere Umgangssprache der städtischen Arbeiter. Gleichzeitig änderte sich — zumindest bei einigen sozialen Schichten und Gruppen — die Einstellung zu den Sprachformen. Die städtischen Sprachformen gewannen an Wert18

AK, Landarbeiter II

264

Schönfeld

Schätzung. Die Mundart verlor an Ansehen und zog sich auf die sozial „unteren" Schichten zurück. Immer mehr soziale Gruppen sahen die Mundart überhaupt als Hindernis beim sozialen Fortkommen an, und manche legten sie völlig ab. Wo eine Zweisprachigkeit vorhanden war, da gebrauchten die Sprecher in der Magdeburger Börde die einzelnen Sprachformen bereits im 19. Jh. unterschiedlich je nach der Kommunikationssituation. Es entwickelten sich bestimmte Verhaltensweisen, Bewertungen und Erwartungen hinsichtlich der Verwendung der Sprachformen. Dabei bildeten sich feste Gewohnheiten heraus, die bei den einzelnen sozialen Gruppen unterschiedlich waren. Wie sich das konkret auswirkte, das hing in den einzelnen Bördeorten auch von den jeweiligen ökonomischen und sozialstrukturellen Bedingungen, der Entfernung zur Stadt usw. ab. Insgesamt hatte die Sprachsituation im Hinblick auf die Sprachformen Literatursprache, Umgangssprache und Mundart in der Magdeburger Börde bereits im 19. Jh. eine Entwicklung durchgemacht, die in anderen niederdeutschen Regionen erst um 1900 bzw. noch später begann.

GERHARD BIRK

Das regionale Kriegervereinswesen bis zum ersten Weltkrieg, unter besonderer Berücksichtigung des Kreises Wanzleben Das Kriegervereinswesen nahm im Rahmen des gesamten bürgerlichen Vereinswesens wie auch in der Vereinsgesetzgebung eine Sonderstellung ein, was den Autor dazu veranlaßte, diesem Vereinstyp in einem speziellen Beitrag besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Da das Kriegervereinswesen in der Magdeburger Börde nicht isoliert, sondern nur als Teil der nach 1871 sehr bald reichseinheitlich organisierten und gesteuerten Kriegervereinsbewegung gesehen werden kann, werden in der nachfolgenden Untersuchung der Zweck, die Bedeutung und das Wesen dieses Vereinstyps anhand konkreter Beispiele aus einem typischen Bördekreis, aber auch gleichzeitig — unter Berücksichtigung der territorialen Besonderheiten — im Rahmen der reichsweiten Kriegervereinsbewegung dargestellt. Entsprechend dem gegenwärtigen Stand der marxistisch-leninistischen Geschichtsforschung können nicht alle Fragen zur historischen Rolle und Bedeutung des Militärvereinswesens beantwortet werden. Der Frage nach der in den einzelnen historischen Perioden wechselnden Strategie und Taktik des preußisch-deutschen Militarismus hinsichtlich des Militärvereinswesens soll in künftigen Untersuchungen ebenso wie der Frage nach dem Inhalt und Wesen des Vereinslebens auf der untersten Ebene1 noch mehr Aufmerksamkeit zugewendet werden. Die ersten deutschen Militärvereine entstanden als sogenannte Veteranenvereine bereits Ende des 18. Jh. Nach 1813/15 waren die Befreiungskriege gegen die napoleonischen Eroberer eine wesentliche Ursache für die Gründung von Militärvereinen. In ihnen (so z. B. den Erinnerungsvereinen, den Vereinen ehemaliger Waffengefährten, den Uniformierten Veteranencorps, den Militär-Begräbnis-Vereinen, Landwehr-Vereinen usw.) wurden vorwiegend Traditionen aus der Zeit der Befreiungskriege gepflegt. Ein Zweck dieser Vereine bestand darin, verstorbene Mitglieder mit militärischen Ehren unter den Fahnen des Befreiungskampfes zu Grabe zu tragen. Mit zunehmendem Abstand von den Ereignissen der Jahre von 1813 bis 1815 verblaßte der patriotische Inhalt im Leben dieser Vereine. Viele von ihnen fielen der Auflösung anheim. Bezeichnenderweise bildeten sich jene Vereine, in denen der Geist des preußisch-deutschen Militarismus vorherrschte, zuerst in Preußen heraus, jenem deutschen Staat, in dem der Militarismus besonders ausgeprägt war. Hier fanden diese Vereine den rechten Nährboden und konnten sich rasch entfalten. Durch die von König FRIEDRICH WILHELM IV. am 22. Februar 1842 erlassene „Allerhöchste Kabinetsordre"2, die praktisch das Grundgesetz für die preußische3 Kriegervereinsbewegung bildete, 1

2 3

Während über das Auftreten der Militärvereine zu besonderen Ereignissen viele Belege vorhanden sind, ist über das Vereinsleben im engeren Sinne verhältnismäßig wenig bekannt. Besonders für diesen Bereich gilt es, noch Quellen zu erschließen. Siehe Anlage Nr. 11. Preußen war der erste Staat, der in Gestalt der erwähnten Kabinettsorder eine Sondergesetzgebung für die Kriegervereine schuf. Das Kriegervereinswesen der anderen deutschen Bundesstaaten wurde schließlich weitgehend nach preußischem Vorbild geregelt.

18*

266

Birk

erfuhr das Kriegervereinswesen nicht nur eine Aufwertung, sondern erhielt gleichzeitig im Rahmen des bürgerlichen Vereinswesens eine privilegierte Stellung zugesichert. In den Jahren nach dem Erlaß der Kabinettsorder wurde eine immer enger werdende Verflechtung zwischen den Militärvereinen, den Behörden, der Polizei und dem regulären Militär herbeigeführt. Waren zu Beginn, z. T. resultierend aus den Traditionen des Befreiungskrieges, noch bürgerlich-liberale und progressive Traditionen vorhanden, so wurden diese im weiteren Verlauf der Geschichte eindeutig vom Geist des Militarismus, Nationalismus und Chauvinismus sowie von einem penetranten Untertanengehorsam überwuchert und schließlich völlig verdrängt. Nach der Niederlage der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 spiegelte sich auch im Militärvereinswesen der Charakter des Klassenkompromisses zwischen Junkertum und Bourgeoisie wider, was sich auf den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte bis zur großen nationalen Katastrophe im Jahre 1945 verhängnisvoll auswirkte. Zur Entwicklung der Kriegervereinsbewegung im Kreis Wanzleben (in der Zeit von 1871 bis zum ersten Weltkrieg) Im Kreis Wanzleben bestanden 1905 54 Militärvereine. Die Gründungen dieser Vereine wurden in folgenden Jahren vollzogen: 1826 1834 1838 1844 1860 1862 1863 1864 1865 1866 1867

= = = = = = = = = = =

,1868 = 1869 = 1870 =

1 1 1 1 1 1 3 1 1 2 7

(Westeregeln) (Unseburg) (Osterweddingen) (Dodendorf) (Diesdorf) (Dorf Hadmersleben) (Altenweddingen, Groß Ottersleben, Sülldorf) (Bahrendorf — 1864 wieder aufgelöst, 1889 Neugründung) (Klein Oschersleben) (Fermersleben/Klein Ottersleben) (Egeln/Langenweddingen/Lemsdorf/Groß Ottersleben/Salbke/Wolmirsleben/ Welsleben) 2 (Hakeborn/Schwaneberg/Wanzleben) 2 (Bleckendorf/Sohlen) 1 (Etgersleben)

bis 1870 = 24 vor Ausbruch des Krieges 1871 1872 1873 1876 1877 1879 1881 1882 1883 1885 1887 1889

= = = = = = = = = = = =

2 2 3 1 1 1 1 1 1 3 1 2

(Egeln/Seehausen) (Schermcke/Tarthun) (Eggenstedt/Groß Germersleben/Klein Wanzleben) (Domersleben) (Westerhüsen) (Bottmersdorf) (Ampfurth) (Benneckenbeck) (Beyendorf) (Groß Ottersleben/Klein Ottersleben/Remkersleben) (Diesdorf) (Bahrendorf/Stemmern)

Regionales Kriegervereinswesen 1890 1892 1893 1894 1895 1896 1898 1902 1904 bis 1905

= 1 = 1 = 2 = 1 = 1 = 2 = 1 = 1 = 1 = 54

267

(Westeregeln) (Egeln) (Klein Rodensieben/Seehausen) (Altbrandsleben) (Hohendodeleben) (Altenweddingen/Schleibnitz) (Stadt Hadmersleben) (Klein Germersleben) (Wanzleben)

Im Jahre 1905 bestand mit Ausnahme von Bergen und Peseckendorf in allen Orten des Kreises mindestens ein Militärverein. Die Mitgliederzahl der Militärvereine des Kreises betrug zur selben Zeit etwa 5000 Mann, wovon 1028 Kriegsveteranen waren. Etwa jeder 18. des im Jahre 1905 90275 Einwohner zählenden Kreises Wanzleben war ein aktiver „Kriegervereinler". Während in den meisten deutschen Bundesstaaten die Mehrzahl der Militärvereine erst nach dem Deutsch-Französischen Kriege von 1870/71 entstand,4 zählte — wie obige Tabelle ausweist — allein der Kreis Wanzleben bereits vor Kriegsbeginn 24 Militärvereine. Der Krieg von 1870/71 löste im soeben konstituierten Deutschen Reich eine Kriegervereins-Gründungswelle größten Ausmaßes aus. Im Kreis Wanzleben kamen bis 1873 allein acht weitere Militärvereine hinzu. Wenn im Kreis Wanzleben in den folgenden Jahren nur relativ wenig Kriegervereinsgründungen zu verzeichnen waren, so ist dies darauf zurückzuführen, daß ein gewisser Sättigungsgrad erreicht war, d. h., daß fast allerorts bereits Kriegervereine bestanden. Bemerkenswert ist die Feststellung, daß die ersten Militärvereine nicht in den vier Städten des Kreises Wanzleben, sondern in jenen Dörfern mit vorwiegend bäuerlicher (großbäuerlicher) Bevölkerung entstanden sind. In Wanzleben wurde der erste Kriegerverein 1868 (ein weiterer 1904) gebildet, in Egeln (damals noch Kreis Wanzleben) 1867 (weitere in den Jahren 1871 und 1892), in Hadmersleben 1862 (ein weiterer 1898) und in Seehausen 1871 (ein anderer 1893). Bei der Gründung der Vereine Ende der sechziger Jahre haben vermutlich die Kriege von 1864 und 1866 eine Rolle gespielt. Im folgenden wollen wir uns den Ursachen für die massenhaften Gründungen, die — wenn auch mit zeitlichen Verschiebungen — seit 1871 im gesamten Reiche zu beobachten waren, zuwenden. Die Annahme, daß die Gründung von Militärvereinen im Interesse der herrschenden Kreise lag, ist in jeder Weise begründet. Sie erkannten in diesen Einrichtungen ein wesentliches Instrument zur Festigung ihrer Macht und zur Verfolgung ihrer Klasseninteressen. Diese von der bürgerlichen Historiographie in der Regel vermiedene Feststellung wird allein dadurch bestätigt, daß in jenen Jahren, in denen die meisten Militärvereine entstanden, viele andere Vereine politischen wie auch rein geselligen Charakters, von den Behörden zumeist streng beobachtet, unter polizeiliche Kontrolle gestellt oder gar verboten wurden. Die Gründe für diese Unterdrückungsmaßnahmen sind in erster Linie darin zu suchen, daß die reaktionären Kräfte demokratische (später sozialdemo4

Vgl. hierzu z. B . FRÖHLICH, 1970: 48; oder: W A L L N E R , 1973: 160ff. W A L L N E R bemerkt z. B . , daß die Stiftung von Militärvereinen („auch auf dem Lande") ab 1871 erfolgte. Aus Mecklenburg ist bekannt, daß die ersten Militärvereine im Jahre 1872 entstanden.

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Birk

kratische) Regungen sowie emanzipatorische Tendenzen in vereinsorganisatorischer Form befürchteten. In vielen Fällen wurden die Militärvereine nicht neu geschaffen. Wo noch alte organisatorische Formen vorhanden waren, wurden diese vom preußisch-deutschen Militarismus genutzt und ausgebaut. Zum anderen mißbrauchte er den hochgespielten Siegestaumel von 1870/71 für die Vereinsgründungen, um der reaktionären Ideologie des Militarismus einen größeren Wirkungsbereich — insbesondere bei den Massen der werktätigen Bevölkerung — zu verschaffen. Den Initiatoren kam der Umstand zustatten, daß in breiten Kreisen der Bevölkerung eine relativ große Vereinsbereitschaft bestand. Der lautstark und mit behördlichem Nachdruck betriebene Ausbau des Militärvereinswesens wurde durch die Glorifizierung des deutschen Soldaten wie des Soldatentums forciert. Mit der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse waren alte, traditionell geformte Normen des Gemeinschaftslebens weitgehend in ihrer Bedeutung zurückgegangen. In dieses „Vakuum" drang neben anderen Einrichtungen ganz besonders das Militärvereinswesen ein. Viele Männer, die diesen Vereinen beitraten, waren sich der in den einzelnen historischen Perioden recht unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Zielstellung dieser Einrichtungen nicht immer voll bewußt. Andere wiederum identifizierten sich mehr oder minder mit den Zielen bzw. mit dem militaristischen Gepräge dieser Vereine. Aber auch ein natürliches Bestreben nach Geselligkeit, nach gesellschaftlichem Verkehr und nach Kommunikation regte manchen ehemaligen Soldaten zum Beitritt an. Es darf hierbei aber auch nicht übersehen werden, daß solche Motive wie persönliche Renommiersucht, Eitelkeit und Geltungsbedürfnis durchaus eine Rolle gespielt haben können. Ferner ist zu beachten, daß die Militärvereine als staatlich geförderte Einrichtungen ein hohes soziales Ansehen genossen. Für viele Menschen gab es auch materielle Motive, z. T. bestand sogar ein gewisser Zwang, sich einem Militärverein anzuschließen. Durch ein immer stärker ausgebautes und zunehmend zentralisiertes Unterstützungswesen des Militärvereinswesens wurden viele Menschen angelockt. Der Staat entledigte sich damit gleichzeitig weitgehend der Verantwortung gegenüber den Hinterbliebenen und Invaliden.® Wenn diese auch nur eine geringfügige Unterstützung erfuhren, so war ihnen doch eine mehr oder minder feierliche Beerdigung garantiert. Ein materieller Zwang bestand aber auch für viele Handwerker und Kaufleute, Gastwirte und kleine Fabrikanten; war doch mit der Mitgliedschaft oder gar einer Vorstandsfunktion oftmals ein günstiger Geschäftsablauf, ja vielfach sogar die Existenzsicherung aufs engste verbunden. Für die Gesellen der „patriotischen" Handwerker wie auch für manchen Arbeiter und vor allem auch für die Knechte und Landarbeiter bestand vielfach ein moralischer Zwang zum Beitritt in einen Militärverein. Sie wurden von ihrem jeweiligen Patron (im Kreis Wanzleben insbesondere Zuckerfabrikanten, Darren- und Ziegeleibesitzer, Gutsbesitzer, Großbauern) bzw. behördlichen „Arbeitgebern" bis hin zur Geistlichkeit veranlaßt, z. T. sogar gezwungen, einem Militärverein beizutreten. Aus einem Bericht des Sozialdemokratischen Bezirksverbandes Magdeburg und des Sozialdemokratischen Vereins Magdeburg 6 erfährt man einen weiteren Grund für das Anwachsen der Kriegervereinsbewegung. Es heißt dort: „Wir haben Beweise dafür, daß die zuziehenden Reservisten sofort nach ihrer Meldung auf dem hiesigen Bezirkskommando den zuständigen Vereinen zugewiesen werden und daß man ihre Adressen an die [lokalen — 5 6

1913 gab es allein in Magdeburg 2 000 Kriegsinvaliden. Bericht des Sozialdemokratischen Bezirksverbandes, 1909: 24.

Regionales Kriegervereinswesen

269

G. B.] Vereine weitergibt." Ehe sich die entlassenen Soldaten also versahen, waren sie aufs neue ins System des allgegenwärtigen Militarismus einbezogen bzw. mit behördlichem Druck eingegliedert worden, hatten abermals in Gestalt der Vorstandsmitglieder (die vielfach Reserveoffiziere waren) militärische Vorgesetzte und waren dem Vereinsstatut — wie vordem dem militärischen Eid — verpflichtet. Angesichts dieser Entwicklung nimmt es nicht wunder, daß die Kriegervereinsbewegung eine verhältnismäßig große Verbreitung erfuhr. Im Verhältnis zu den Städten und großen Dörfern waren die Mitgliederzahlen in den kleinen Gemeinden — gemessen an der Einwohnerzahl — bedeutend höher. Die entscheidende Ursache liegt neben verschiedenen anderen Faktoren darin, daß sich der Einfluß der revolutionären Arbeiterbewegung, die sich bedingtermaßen in den Industriestädten konzentriert hatte, auf den Dörfern noch sehr gering auswirkte und der Einfluß der ländlichen „Obrigkeiten" auf die Mehrzahl der Einwohnerschaft zumeist noch sehr groß war. Um die Möglichkeiten der ideologischen und militaristischen Massenbeeinflussung über die Militär vereine zu potenzieren, gingen die reaktionären Kräfte bereits 1872 dazu über, größere territoriale Zusammenschlüsse von lokalen Militärvereinen, und zwar entsprechend der Struktur und der Organisation des Staates, herbeizuführen. Als erste überregionale Einrichtung wurde 1872 der „Deutsche Kriegerbund" geschaffen, der — und zwar unter preußischer Führung, den Vorsitz hatte der Generalleutnant a. D. S T O C K M A R R — über die Militärvereine großer Teile des Reiches Einfluß erlangte. Im selben Jahre entstanden auch die Landeskriegerverbände Sachsen, Bayern, Württemberg, Baden und Hessen. Dem Preußischen Landeskriegerverband gehörten 1913 18402 Vereine mit 1634808 Mitgliedern an. (Das amtlich registrierte deutsche Kriegervereinswesen zählte zur gleichen Zeit 31915 Vereine mit 2837944 Mitgliedern7.) Im Jahre 1912 gehörten dem Preußischen Landeskriegerverband 4200 städtische und 13800 ländliche Militärvereine mit 645000 Mitgliedern in den Städten und 995000 Mitgliedern auf dem Lande an, so daß die Feststellung der Behörden, daß „die Kriegervereinsbewegung die starken Wurzeln ihrer Kraft auf dem Lande" 8 gefunden habe, ihre Bestätigung findet. Der Höhepunkt der Zentralisation des Kriegervereinswesens vor dem ersten Weltkrieg wurde im August des Jahres 1900 mit der Bildung des Kyffhäuserbundes als oberstem Organ der deutschen Landeskriegerverbände erreicht. Er umfaßte etwa 99 Prozent des gesamten deutschen Kriegervereinswesens und nannte sich fortan „Kyffhäuserbund der Deutschen Landeskriegerverbände". Die Zentralisation erfolgte mit mehr oder minder offenem behördlichem Zwang. Die amtlich herbeigeführte Zentralisation des Kriegervereinswesens im Kreise Wanzleben sah im Jahre 1905 so aus, daß alle im Kreisgebiet vorhandenen 55 Militärvereine dem KreisKriegerverband angehörten. Dieser wiederum war Bestandteil des Preußischen Landeskriegerverbandes. Von einem „Eigenleben" der Vereine konnte keine Rede mehr sein. Sie waren Bestandteile einer überregionalen Einrichtung, die weitgehend unabhängig vom Willen der Mitglieder und entsprechend den Vorstellungen der Exponenten des junkerlichkapitalistischen Herrschaftsapparates funktionierte. Die Verbände verfügten über einen festen Apparat mit professionellen Führern.9 7 8 9

Krieger-Vereine, Die, 1914: 4. Vgl. STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 2260, Bd. II: 249. Die Präsidenten des Kyffhäuserbundes waren 1900—1910 : General der Inf. z. D. A. v. S P I T Z 1910—1914 : Generaloberst z. D. O. v. L I N D E Q U I S T [Fortsetzung S. 270]

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Die Lokalvereine wurden zu Exekutivorganen der Spitzengremien, die sich aus Offizieren und Beamten rekrutierten. Unter diesen Bedingungen konnten die Kriegervereine im Jahre 1912 in der vorher zitierten Quelle als die „stärkste Organisation im Deutschen Reiche" 10 bezeichnet werden. Dieses Ergebnis war durch ein „planmäßiges Vorgehen" 11 der Landeskriegerverbände und der Behörden erreicht worden. Schließlich, so wird triumphierend festgestellt, gab es im Deutschen Reich, besonders aber „in Preußen nicht viele Dörfer mehr, die keinen eigenen Kriegerverein" 12 hatten. Wie im gesamten Deutschen Reich kam es auch im Kreis Wanzleben trotz der bis hier geschilderten Entwicklung des Kriegervereinswesens vielerorts wiederholt zu krisenhaften Erscheinungen. Sie setzten bereits Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre des 19. Jh. ein und wurden schließlich in den Orten mit zahlreicher, vor allem industrieproletarischer Bevölkerung und einem entsprechenden Einfluß der Arbeiterbewegung zu einer Dauererscheinung. Die tieferen Ursachen hierfür lagen in erster Linie im Erstarken und in der zunehmenden Aktivität der revolutionären Arbeiterbewegung, die sich — dies war im Untersuchungsgebiet besonders deutlich zu beobachten — mehr und mehr auf ländliche, vor allem aber auf stadtnahe Gebiete (nahe der Stadt Magdeburg) ausbreitete. Welches Ausmaß die Auseinandersetzungen zwischen den Kriegervereinen als staatlich geförderte und sanktionierte Einrichtungen und der Sozialdemokratie als Partei der Arbeiterbewegung in jenen Jahren auf Reichsebene annahm, wird z. B. in der Feststellung des führenden Funktionärs der deutschen Kriegervereinsbewegung, Professor WESTPHALS13, ersichtlich. Er mußte eingestehen, daß auf Grund der sozialdemokratischen Aktivitäten „ganze Volkskreise anfingen, sich von der Treue gegen den Kaiser und vomVaterlande abzuwenden". 14 In offizieller Sprachregelung betonte man zwar unentwegt, daß sich die Militärvereine jeder Politik enthielten. Professor WESTPHAL sprach jedoch in militaristischem Überschwange in aller Offenheit die wahren Absichten dieser Einrichtungen aus, indem er bemerkte: „Die deutschen Kriegervereine sind KampfStätten gegen die Sozialdemokratie und Sammehtätten für die ehemaligen Soldaten aus allen bürgerlichen politischen Parteien, welche auf dem Boden der Treue zur Monarchie und des Vaterlandes stehen." 15 Es war eine logische Folge dieser Entwicklung, daß sich Vorsitzende von Militärvereinen unterschriftlich verpflichten mußten, jedes Vereinsmitglied, das unter dem Verdacht sozialdemokratiJan. 1914—Aug. 1914: General der Inf. P . v. PLOETZ 1914—1918 : Geheimer Regierungsrat, Major der Landwehr a.D., Prof. A . W E S T PHAL (Geschäftsführender Präsident) 1918—1926 : Generaloberst J O S I A S v. HEERINGEN 1926—1934 : General der Artillerie R. v. HORN 1934—1943 : Oberst, später General der Inf., SS-Gruppenführer WILHELM REINHARD (Bundesführer)

10 11 12 13

Bis auf die Kreisebenen waren die leitenden Positionen des Kriegervereinswesens fast ausschließlich von Reserveoffizieren besetzt. STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 2260, Bd. II: 249. STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 2260, Bd. II: 249. STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 2260, Bd. II: 249. WESTPHAL war zu jener Zeit Premierleutnant der Reserve und Erster Schriftführer im Vorstand des Deutschen Kriegerbundes.

14

WESTPHAL, 1 9 0 3 : 5.

16

WESTPHAL, 1 9 0 3 : 5 .

16

Vgl. STAM, Rep. C 30 Wanzleben A, Nr. 222: 15.

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scher Gesinnung stand, aus dem Militärvereinswesen auszuschließen.16 Das geschah in voller Übereinstimmung mit den Regierungsbehörden und. ergänzte die Repressalien, denen die Teilnehmer der revolutionären Arbeiterbewegung durch die Organe des Staatsapparates ausgesetzt waren. Im Kreis Wanzleben wurde der Widerstand gegen das Militärvereinswesen weniger bzw. gar nicht in den stadtfernen Orten, sondern mehr in den Industriearbeiterwohngemeinden nahe Magdeburgs spürbar. Hier kam es zu harten Auseinandersetzungen zwischen den vom reaktionären Geist geprägten Militärvereinen und den sich rasch entwickelnden proletarischen bzw. sozialdemokratischen Einrichtungen. Der Kampf der revolutionären Arbeiterbewegung und ihrer Verbündeten gegen den deutschen Militarismus vollzog sich auf Grund des ungleichen Kräfteverhältnisses, auf Grund der staatlichen Subvention und der damit verbundenen Privilegien der militaristischen Einrichtungen, aber auch auf Grund der Klassengesetzgebung, insbesondere infolge des von 1878 bis 1890 direkt gültigen und danach indirekt fortwirkenden Sozialistengesetzes unter sehr schwierigen Bedingungen. Dennoch erzielte die Arbeiterbewegung im Kreis Wanzleben bemerkenswerte Erfolge gegen das Kriegervereinswesen. Sie äußerten sich darin, daß in einigen Orten mit besonders hohem Anteil von Industriearbeitern an der Dorfbevölkerung die Militärvereine — worauf in den folgenden Seiten gesondert einzugehen sein wird — nicht nur zurückgedrängt, sondern zeitweilig sogar zur Bedeutungslosigkeit verurteilt werden konnten. Diese Entwicklungstendenz konnte auch von den regionalen Repräsentanten des Staatsapparates auf die Dauer nicht übersehen werden. Das wird in einem Bericht des Landrates von Wanzleben an den Regierungspräsidenten des Regierungsbezirks Magdeburg vom 20. Mai 1890, wenn auch noch beschönigt, so doch eindeutig genug, mit den folgenden Worten eingestanden: „Euer Hochwohlgeboren berichte ich gehorsamst: Die Mitglieder der Landwehr-Vereine zu Bahrendorf, Eggenstedt, Etgersleben, Dorf Hadmersleben, Hakeborn, Kl. Oschersleben, Langenweddingen, Schermke, Seehausen, Sülldorf (und) Welsleben haben bei den letzten Reichstagswahlen eine durchaus gute Haltung" gewahrt, „.. .von den Mitgliedern der Landwehr-Vereine zu Langenweddingen, Beyendorf, Bottmersdorf, Domersleben, Diesdorf, Fermersleben, Gr.-Germersleben, Kl.-Ottersleben, Kl.-Rodensleben, Kl.-Wanzleben, Lemsdorf, Remkersleben, Osterweddingen, Salbke, Schieibnitz, Schwaneberg, Sohlen, Unseburg, Wanzleben (und) Westeregeln ist ein geringer Teil sozialdemokratisch gesinnt und werden dieselben auch bei den letzten Reichstagswahlen für die sozialdemokratischen Abgeordneten gestimmt haben." 17 Aus demselben Bericht ist des weiteren zu erfahren: „Von den Mitgliedern der in Gr.-Ottersleben und Benneckenbeck bestehenden vier Landwehrvereinen ist, wie nicht zu bezweifeln, nach dem Ergebnis der letzten Reichstagswahlen ein nicht unbedeutender Teil sozialdemokratisch gesinnt und haben dieselben auch für den sozialdemokratischen Abgeordneten gestimmt... Ein Mitglied des Kriegervereins in Gr.-Ottersleben, der Schlosser Müller daselbst, war dem sozialdemokratischen Wahlverein für den Kreis Wanzleben beigetreten", wo er sehr aktiv tätig gewesen sei; „in Folge dessen wurde der gen. Müller ... aus dem Verein ausgeschlossen".18 Auch aus Tarthun wurde bekannt, daß viele Bergleute, obwohl sie beim Militär gewesen waren, nicht dem Kriegerverein angehörten. Der Grund dafür lag darin, daß sie „dem sozialdemokratischen Einfluß höchst zugänglich waren". 19 « STAM, Rep. C 28 Ia I, Nr. 862, Bd. I: 38. 18 STAM, Rep. C 28 Ia I, Nr. 862, Bd. I: 3 9 - 4 0 . 19 STAM, Rep. C 30 Wanzleben A, Nr. 245: 28.

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Wie stark der Einfluß der Sozialdemokratie hier, wo Industriearbeiter wohnten, war, geht u. a. aus einem Bericht des Bezirkskommandos Magdeburg vom 28. August 1892 hervor. Es heißt darin: Ein Teil der Kriegervereinsmitglieder in Tarthun „ist treu und diese Leute gilt es zu unterstützen und zu ermutigen". Über denselben Kriegerverein heißt es in einem Schreiben des Amtsvorstehers an den Landrat vom 25. Mai 1896, daß in ihm Mitglieder seien, „die stets gegen eine patriotische Abhaltung (von) Gedenktagen waren und die früher schon gegen (den) Kirchgang des Vereins beim Kriegerfeste und gegen Umzug im Orte sprachen". Der Vereinsvorstand wurde schließlich dazu veranlaßt, zum Feste' anläßlich „des Geburtstages seiner Majestät des Kaisers" an sieben Mitglieder (weil sie vermutlich „alle Sozialdemokraten sind und alles versuchen, den Verein in Unordnung zu bringen") 20 keine Einladungen auszugeben. Die Ausgeschlossenen veranstalteten daraufhin ein separates Tanzvergnügen. Dieses „ungebührliche" Verhalten war für den Amtsvorsteher ein willkommener Anlaß, sie durch eine vorläufige Festnahme zur Räson zu rufen. Der Einfluß der Sozialdemokraten auf den Tarthuner Kriegerverein wurde schließlich so groß, daß er nur durch behördliche Intervention vor der Auflösung bewahrt werden konnte. Der Landrat teilte dem Vorsitzenden des Tarthuner Kriegervereins am 20. Mai 1896 mit: „Es ist zu meiner Kenntnis gelangt, daß sich unter den Mitgliedern des Kriegerund Landwehrvereins Tarthun 7 Männer21 befinden sollen, die der Sozialdemokratie angehören ... Ich veranlasse Sie ..., die Ausschließung dieser Personen ... sofort herbeizuführen". 22 Auch der Landwehrverein in Langenweddingen wurde im Jahre 1894 gezwungen, sieben Mitglieder auszuschließen, da sie mit den Sozialdemokraten sympathisierten. Der Krieger- und Landwehr-Unterstützungsverein in Hohendodeleben verlor bereits am 10. Januar 1891 lt. Verfügung des Ministeriums des Innern wegen „sozialdemokratischer Tendenzen" für längere Zeit seine Eigenschaft als Kriegerverein. In den wohlhabenden Bördedörfern kam die Schließung des Militärvereins, der in der Regel das Repräsentationsorgan der Honoratioren der Gemeinde darstellte, in der von diesen weitgehend geprägten öffentlichen Meinung den Ausmaßen einer Katastrophe gleich. Ein Gewährsmann sagte hierzu, daß ein Bauerndorf ohne Kriegerverein „einer Katz' ohne Schwanz" glich. 23 Auch in Klein Ottersleben „mußte der Vorstand die Tatsache anerkennen, daß das Kriegervereinswesen nicht so florierte", wie es der Vorsitzende des Vereins wünschte und wie es „zum größten Teil in anderen Ortschaften der Fall ist ... In Anbetracht, daß gut 90% Ortsangesessene in Klein-Ottersleben der Sozialdemokratie angehören, worauf auch unbestritten die beinahe unhaltsamen Zustände des hiesigen Kriegervereinswesens zurückzuführen sind, sieht sich der Verein veranlaßt, zwecks Hebung des hiesigen Landwehrvereins und als Gegenwehr für die Sozialdemokratie ... eine Satzungsänderung . . . vorzunehmen, um dadurch noch allen fernstehenden Herren [man dachte hierbei in erster Linie an Lehrer, Geistliche, Kaufleute usw. — G. B.] die Mitgliedschaft zu ermöglichen." 24 Wenn es oben hieß, daß das Kriegervereinswesen „in anderen Ortschaften" besser „florierte", so sind jene Dörfer gemeint, in denen die unter patriarchalischer Hülle verborgenen Abhängigkeitsverhältnisse noch recht stark waren und die Mehrzahl der dörf20 21

22 23 24

STAM, Rep. C 30 Wanzleben A, Nr. 245: 52. Das Wort „Männer" ist zugunsten des Wortes „Person" durchgestrichen worden, da sich Sozialdemokraten aus der Sicht des Landrates dieser Bezeichnung nicht als würdig erwiesen. In der Regel war in derartigen Fällen von Individuen die Rede. STAM, Rep. C 30 Wanzleben A, Nr. 245: 55. Aus einem Explorationsprotokoll — Gewährsmann R. BORMANN, Magdeburg/Südwest. STAM, Rep. C 30 Wanzleben A, Nr. 234: 52.

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liehen Einwohnerschaft durch den noch ungebrochenen „Zwang der Traditionen" wie auch durch moralischen und 2um Teil auch durch ökonomischen Zwang an dementsprechende Verhaltensweisen gefesselt war. In diesen Dörfern galt noch in starkem Maße das Wort der „Obrigkeit", die durch den (die) Junker (bis hin zu den wohlhabenden Bauern und Handwerkern), die Geistlichkeit und die Ortsbehörden repräsentiert wurde. Sie bildeten, sofern es um „patriotische Pflichterfüllung" und die Niederhaltung des Dorfproletariats ging, gemeinsam mit den Exekutivorganen eine geschlossene Einheit. Und wenn die Staatsmacht von der dörflichen „Obrigkeit" forderte, das Militärvereinswesen auszubauen, so erfüllte sie diese Aufgabe, wie es in Preußen kaum anders zu erwarten war, mit großem Eifer. Besonders vor den Wahlen war stets aufs neue eine Aktivierung des Militärvereinswesens zu beobachten, da sich diese Einrichtung recht gut für den Wahlkampf der Parteien der Reaktion und des bürgerlichen Liberalismus sowie als Wahlstimmenreservoir dieser Parteien eignete.25 Daß in dieser Hinsicht bald spürbare Veränderungen eintraten, ist in erster Linie das Verdienst der revolutionären Sozialdemokratie.26 Diese Tatsache widerspiegelt sich auch darin, daß z. B. in Hohendodeleben mehrere Mitglieder des Landwehrvereins dem sozialdemokratischen Wahlverein beitraten.27 In Westerhüsen haben Mitglieder des Landwehrvereins Hochrufe auf den sozialdemokratischen Abgeordneten ausgebracht.28 In Groß Ottersleben forderten Mitglieder des Landwehrvereins die Streichung der die sozialdemokratischen Arbeiter diskriminierenden Paragraphen aus dem Statut.29 Eine weitere Ursache für die oben skizzierte Krise des Kriegervereinswesens lag darin, daß die Erinnerung an die „hohen Zeiten" der letzten Kriege 30 verblaßte. Gewichtiger ist freilich, daß, wie lokale Behördenvertreter eingestehen mußten, bei einer zunehmenden Zahl von Mitgliedern der Militärvereine das „hehre Gefühl für Kaiser und Reich" zugunsten des praktischen, vom Realismus bestimmten Denkens verlorenging.31 Besonders durch die Wirksamkeit der revolutionären Arbeiterbewegung konnten die zutiefst volksfeindlichen Pläne, die die reaktionärsten Kräfte mit den Militärvereinen verfolgten, aufgezeigt und z. T. durchkreuzt werden. Doch damit war keinesfalls der „Zwang der Tradition" — und das Militärvereinswesen hatte sich im Verlaufe der vorangegangenen Jahrzehnte zu einer Tradition verfestigt! — völlig aufgehoben. Das führte dazu, daß auch Werktätige, selbst Angehörige des Proletariats, in große Widersprüche gerieten und — wie oben aufgezeigt — einerseits aus einem tief eingeprägten Traditionsgefühl heraus dem Militärverein angehörten und infolge des 25

In Preußen kam auf 100 Wahlberechtigte die stattliche Zahl von 14,7 Prozent Kriegervereinsmitgliedern. In der Provinz Sachsen waren 24 von 100 Wählern Mitglieder von Militärvereinen.

26

Waren zu den Reichstagswahlen des Jahres 1877 im Amtsbereich Groß Ottersleben nur 229 Stimmen für die Kandidaten der Arbeiterklasse und 284 für die bürgerlichen Parteien abgegeben worden, so veränderte sich dieses Verhältnis im Jahre 1890 außerordentlich stark zugunsten der ersteren; sie erhielten 1289, die Kandidaten der Reaktion und des bürgerlichen Liberalismus aber nur noch 356 Stimmen (vgl. FIEDLER, o. J.: 6). Vgl. STAM, Rep. C 28 Ia I, Nr. 862, Bd. I: 40. Vgl. STAM, Rep. C 28 Ia I, Nr. 862, Bd. I: 40. Vgl. STAM, Rep. C 28 Ia I, Nr. 862, Bd. I: 44. Um die Jahrhundertwende war es bereits zu einer biologisch bedingten Überzahl der Nichtfeldzugsteilnehmer gegenüber den Veteranen gekommen. 1903 waren nur noch etwa 20 Prozent aller Kriegervereinsmitglieder Kriegsveteranen.

( V g l . WESTPHAL, 1 9 0 3 : 1 1 . )

27 28 29 30

31

V g l . DINKELBERG, 1 8 9 0 : 1 7 .

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erwachenden Klassenbewußtseins gleichzeitig der Sozialdemokratie zuneigten. Hierbei handelt es sich um einen höchst komplizierten Prozeß, der sich im einzelnen kaum nachzeichnen läßt und von der Volkskunde allein schwer zu erfassen ist. ENGELS sagte im Zusammenhang mit derartigen Erscheinungen, daß alte Lebensvorstellungen sehr zählebig seien und sich stets aufs neue als Hemmnis bei der Durchsetzung fortschrittlicher Denk- und Lebensgewohnheiten erweisen. Er nannte das die „Trägheitskraft der Geschichte". 32 Auch LENIN machte auf derartige Vorgänge und Erscheinungen aufmerksam. So bezeichnete er hinsichtlich der Durchsetzung neuer Lebensauffassungen z. B. die „Macht der Gewohnheit von Millionen und aber Millionen . . . " als „furchtbarste Macht". 33 Die oben erwähnte Krise des Kriegervereinswesens wird schließlich auch durch folgenden Vorgang in geeigneter Weise beleuchtet. Der Minister des Innern richtete am 23. November 1890 an den Regierungspräsidenten in Magdeburg ein Schreiben, in dem es hieß: „Nach einer hierher gelangten Mitteilung gehören 21 Mitglieder des Krieger- und Landwehrvereins Hohendodeleben gleichzeitig dem von dem Sozialdemokraten Friedrich Köster aus Groß-Ottersleben gegründeten und entschieden sozialdemokratische Tendenzen verfolgenden ,Volksbildungs-Verein Hohendodeleben und Umgegend' an." 34 Der Minister forderte den Regierungspräsidenten auf, dem genannten Militärverein die polizeiliche Bestätigung zu entziehen. Anderen Militärvereinen wurde wegen „unpatriotischen Verhaltens" das Recht der Fahnenführung entzogen. Wie sehr sich die Behörden von den zunehmenden Krisenerscheinungen im Kriegervereinswesen beeindruckt sahen, geht auch aus einem Landratsbericht an den Regierungspräsidenten vom 29. April 1898 hervor; dort heißt es (wohl leicht übertrieben): „Ganz intakt sind überhaupt nur diese Vereine geblieben, welchen sich die Angehörigen der besitzenden und gebildeten Bevölkerungsklassen, insbesondere auch die Reserve-Landwehr- oder verabschiedeten Offiziere, angeschlossen haben und welche demzufolge einer energischen und anregenden Leitung nicht ermangeln." 35 Nur „wo letztere sich nicht zurückziehen, werden die Krieger- und Landwehrvereine noch als ein festes Bollwerk gegen die Umsturzbestrebungen der Sozialdemokraten gelten können". 36 All diese Vorgänge zeigen sehr deutlich, daß die Überzeugungskraft der sozialdemokratischen Bewegung selbst in einem „Bollwerk" der reaktionären Kräfte Fuß fassen konnte und an Boden gewann. Die sozialdemokratische Bewegung im Kreis Wanzleben (die ihr Zentrum in der Industriearbeiter-Wohngemeinde Groß Ottersleben hatte) entwickelte sich — und zwar in engster organisatorischer Verbindung mit der Magdeburger Arbeiterbewegung — im Vergleich zu den meisten anderen Landkreisen des Regierungsbezirkes Magdeburg verhältnismäßig schnell und gewann bereits sehr früh eine stabile Basis. Diese Entwicklung widerspiegelt sich auch darin, daß manche Militärvereine — wie es im amtlichen Sprachgebrauch hieß — von der „Sozialdemokratie majorisiert" wurden. In anderen Militärvereinen traten Momente der Geselligkeitspflege — wie noch zu zeigen sein wird — im praktischen Vereinsleben stärker in den Vordergrund. Hier und dort machte sich auch in Militärvereinen die „Vereins-" und „Festmeierei" breit. Trotz dieser Vorgänge blieben die meisten Militärvereine, und dies ganz besonders in den stadtfernen Dörfern, wo der Einfluß 1962 (1892): XIX, 543. 1959 (1920): XXXI, 29. 34 STAM, Rep. C 30 Wanzleben A, Nr. 11: 116. 36 STAM, Rep. C 28 Ia I, Nr. 862, Bd. I: 19. 3« STAM, Rep. C 28 Ia I, Nr. 862, Bd. I: 21. 32

ENGELS,

33

LENIN,

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der Gutsherren und großen Bauern noch sehr stark geblieben war, nach wie vor örtliche Bastionen des reaktionären Preußentums. Um den Krisenerscheinungen des Militärvereinswesens, die in den neunziger Jahren des 19. Jh. erneut anwuchsen, zu begegnen, unternahmen die Exponenten des deutschen Militarismus einen weiteren Versuch, es durch zentrale Festlegungen zu stabilisieren. Ein seit fast drei Jahrzehnten angestrebter und stets am partikularistischen Denken gescheiterter überregionaler Zusammenschluß der Militärvereine wurde im Jahre 1900 in Gestalt des Kyffhäuserbundes herbeigeführt. Diese Einrichtung, der schließlich fast ausnahmslos alle Militärvereine des Reiches angehörten, wurde in starkem Maße in den Prozeß der ideologischen Vorbereitung auf den vom deutschen Imperialismus forcierten Kampf um den „Platz an der Sonne" sowie um die Stärkung der reaktionären Staatsmacht nach innen einbezogen. Das geschah in der Fortführung traditioneller Formen und Praktiken, aber auch mit Hilfe neuer Methoden. Um den hurrapatriotischen Siegestaumel aus dem Deutsch-Französischen Krieg wieder zu entfachen, wurde die nationale Lesart der Hohenzollernlegende neu belebt. Eine Flut militaristischer Literatur ergoß sich über das Land. Die Kriegervereine inszenierten Kriegerfeste, die im Stile von Volksfesten abgezogen und in der Regel mit Finanzmitteln der Gemeinden und Spenden von „großmütigen" und „patriotischen" Unternehmern und Junkern subventioniert und behördlicherseits moralisch stimuliert wurden. „Höhepunkte", wie die mit kultischem Zeremoniell vollzogenen Einweihungen von Krieger-, Kaiser- u. ä. Denkmälern, Fahnenweihen, Kranzniederlegungen usw., waren keine Seltenheit. Zu den verschiedenen Anlässen (so z. B . an dem von BODELSCHWINGH [1871] initiierten Sedantag, zu des Kaisers Geburtstag, zu den Stiftungsfesten von Kriegervereinen etc.) veranstaltete man schließlich, und dies g a n 2 besonders üppig in den reichen Bördedörfern, bewaffnete Umzüge mit mitreißender Marschmusik, gab Freibier aus und ließ durch alkoholisierte Teilnehmer — mit entsprechender psychologischer Wirkung — nationalistische und militaristische Lieder absingen, operierte mit suggestiv wirkendem Pathos und schwülstigen Wortspielereien. All das sollte dazu dienen, vom Geist des Militarismus geprägte dynamische Stereotype herauszubilden. Volksfeindliche Traditionen wurden im volkstümlich drapierten Vereinsgewande als Volkstraditionen popularisiert. Durch ständige, zumeist mit suggestiven Methoden allerorts betriebene Wiederholungen sollten die reaktionären Tendenzen des Preußentums im Bewußtsein großer Teile der Bevölkerung fest verankert, die junkerlich-monarchistischen Traditionen konserviert und der Raum für die Ausbreitung des revolutionären Gedankengutes eingeengt werden. Besonders aber die Kinder und Jugendlichen sollten durch diese Veranstaltungen nachhaltig beeindruckt werden. In vielen Orten, vor allem in kleinen Städten und den meisten Dörfern, waren es schließlich die Militärvereine, die — im Bunde mit den übrigen „HurraVereinen" („patriotische" Gesangvereine, Turnvereine usw.) — das Volksleben nicht nur stark beeinflußten, sondern vielfach — und zwar mit dem Segen der Kirche — weitgehend mitbestimmten. Die Militärvereine erwiesen sich — neben der geistigen Manipulierung der Bevölkerung durch die apologetische Propaganda der verschiedenen bürgerlichen Massenkommunikationsmittel wie Presse und Literatur, der Kirche, der verschiedenen Bildungseinrichtungen usw. — als eines der wesentlichen Instrumente der herrschenden Kreise zur Verbreitung und Vertiefung ihrer Ideologie. Von hier gingen vielfältige Wirkungen auf die Militarisierung des zivilen Lebens aus. Ihr Einfluß erstreckte sich bis in die Alltagssprache hinein; in den Sprachschatz gingen Termini und Idiome aus der Sprache des Kasernenhofes ein. Besonders seit den siebziger Jahren des 19. Jh. basiert das preußisch-

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deutsche Militärvereinswesen primär auf einem im Sinne der politischen Reaktion verklärten Soldatentum. Entsprechend der national-chauvinistischen Orientierung kam ihm im System der ideologischen Massenbeeinflussung unter anderem die Funktion zu, Rachegelüste zu schüren, ein Feindbild zu verbreiten und Verhaltensweisen zu fördern und zu festigen, die der aktiven Unterstützung der Eroberungsziele des aggressiven deutschen Imperialismus/Militarismus dienten. Besonders im imperialistischen Stadium des Kapitalismus, als sich der deutsche Imperialismus anschickte, seine Weltherrschaftspläne zu realisieren, wurde dem Militärvereinswesen mit der Pflege des „Wehrgedankens" im System der ideologischen Kriegsvorbereitung eine besonders wichtige Funktion zuerkannt. Es handelt sich um eine eindeutig apologetische, beschönigende und unhistorische Einschätzung, wenn ein namhafter bürgerlicher Volkskundler der BRD feststellen zu müssen glaubt, daß „das Anliegen der militärischen Kameradschaften" (sage Kriegervereine) darin bestanden habe, „Erinnerungen an eine gemeinsame Vergangenheit zu pflegen und im gegenwärtigen Leben einander beizustehen". 37 Dies mag in gewisser Hinsicht für die Anfänge noch zugetroffen haben, aber es entstellt und verzerrt die Entwicklung und den Charakter des Militärvereinswesens seit den vierziger, besonders aber seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts; seit jener Zeit nahm das Militärvereinswesen mehr und mehr Charakterzüge einer Massenpartei der Reaktion an, was sich z. B. ganz besonders in den Wahlkämpfen zeigte. In der Magdeburger Börde fanden, das kann verallgemeinernd festgestellt werden, die Militärvereine bei einem beachtlichen Teil der Bevölkerung bereits sehr früh eine relativ große Resonanz. In den Militärvereinen konnten vor allem die zu Wohlstand und Ansehen gelangten Personengruppen repräsentieren und im lokalen bzw. territorialen Bereich eine Macht demonstrieren, die ihnen im größeren Rahmen weitgehend versagt war. Die Betätigung im militaristischen Vereinswesen bot neue Möglichkeiten für das Streben nach Demonstration des sozialen Prestiges sowie für die äußere Repräsentation des durch die Wohlhabenheit gestiegenen Selbstbewußtseins. So ist es auch zu erklären, daß die Träger und Initiatoren des Militärvereinswesens auf der örtlichen Ebene aus den Kreisen der wohlhabenden Bauern, Handwerker, Kaufleute, Gastwirte usw. kamen, die von den Agrarkapitalisten, Gutsbesitzern, Unternehmern und der Verwaltungsbürokratie materiell und moralisch gefördert und unterstützt wurden. Zum anderen nahmen die meisten Angehörigen dieser Kreise das ihnen dafür gewährte Wohlwollen und die „Gunst" der „Obrigkeiten" in der Regel devot und dankbar entgegen. Vielerorts wurde so die Überzeugung suggeriert, daß „die Zugehörigkeit zum Kriegerverein ... [zumindest — G. B.] auf dem Lande in den meisten Gegenden zum guten Ton" gehörte. 38 Und ein nicht unbedeutender Teil der Bevölkerung sah schließlich in dem von den Militärvereinen gepflegten Säbelrasseln erstrebenswerte Verhaltensweisen und Wesensmerkmale eines „guten Deutschen" und stellte sich damit, wenn auch zumeist unbewußt, in den Dienst des preußisch-deutschen Großmachtstrebens. Dagegen wandte sich die die forschrittliche Entwicklungsperspektive repräsentierende revolutionäre Sozialdemokratie. Der antimilitaristische Kampf zählt zu den größten Leistungen ihrer Geschichte. Besonders im Kreis Wanzleben prallten diese gegensätzlichen Kräfte heftig aufeinander, da sich hier, namentlich in den stadtnahen Gemeinden um Magdeburg, der proletarische Gegenpol relativ früh herausbildete und klassenmäßig formierte. Die seit den siebziger 37

FREUDENTHAI., 1 9 6 8 : 2 3 8 .

38

STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 2260, Bd. II: 249.

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Jahren geführten und bis zum ersten Weltkrieg an Heftigkeit zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen dem Militärvereinswesen und der Arbeiterbewegung sind ein konkreter Ausdruck einer Entwicklung, die gleichzeitig auf die einzig erstrebenswerte Alternative zum Militarismus als Erscheinungsform des Imperialismus hinwies. Zum Inhalt und zur Rolle der Krieger- und Landwehrfeste Durch sein optisch und akustisch auffallendes, massenpolitisch geschickt aufgezogenes und psychologisch wirksames, ja vielfach sogar einschmiegsames Wesen zog das Militärvereinswesen die Aufmerksamkeit großer Teile der Bevölkerung auf sich und erschloß sich somit ein breites Wirkungsfeld. Besonders die — im Verhältnis zu anderen Veranstaltungen — zahlreichen Feste und Aufmärsche der Militärvereine, die von großen Teilen der Bevölkerung in der Regel als willkommene Abwechslung und als Feste schlechthin akzeptiert wurden, fanden im allgemeinen eine große Resonanz. Hierbei ist zu bedenken, daß mit dem Eindringen des Kapitalismus auch Feste und Feiern, die einst einen festen Bestandteil des geistig-kulturellen Lebens darstellten, mehr und mehr verdrängt wurden, das Bedürfnis danach aber nach wie vor lebendig blieb. Es verdient besondere Beachtung, daß es nach 1871 vielfach die Militärvereine waren, die neben ihrer politisch-ideologischen Funktion in starkem Maße zu Gestaltern und Trägern des kulturellen Lebens wurden. Das gilt zumindest für die meisten kleinen Städte und die ländlichen Gemeinden. Hier führten in der Regel die Militärvereine die größten, buntesten, lautesten und längsten Feste durch, prägten in starkem Maße durch ihre auffallende und demonstrative Teilnahme an fast allen lokalen wie auch regionalen und besonders nationalen Festen den Charakter dieser Veranstaltungen. Diese höhere Wirksamkmit der Militärvereine auf diesem Gebiet erklärt sich in der Hauptsache aus folgenden Gründen: Ihnen als den repräsentativsten und am meisten staatlich geförderten und sanktionierten Einrichtungen standen — und dies ganz besonders in jenen Vereinen, in denen die wohlhabenden Rübenbauern, Handwerker, Fabrikbesitzer etc. vertreten waren — größere materielle Mittel als den meisten übrigen Vereinen (Gesangvereine, Turnvereine etc.) zur Verfügung; zum anderen verfügten sie über einen hohen Grad der Organisiertheit. Hinzu kommt noch, daß sie vielfach eine eigene Kapelle, z. T. auch einen vereinseigenen Chor, eine Theatergruppe usw. besaßen. Nicht zuletzt genossen sie das uneingeschränkte Wohlwollen der geistlichen wie auch weltlichen Behörden und eine entsprechende moralische, materielle und vor allem juristische Unterstützung. So wurde schließlich erreicht, daß selbst viele Angehörige der werktätigen Klassen die in den Militärvereinen gepflegten, staatlich sanktionierten und vom Geist des reaktionären Preußentums bestimmten Traditionen als eine mehr oder minder selbstverständliche Erscheinung, ja selbst als Bestandteil ihres eigenen Lebens empfanden, ohne vorerst deren politisch-ideologische und kulturpolitische Funktion zu erkennen. Hinzu kam, daß diese Vereine wegen ihrer militärischen Ausprägung bis hin zur Uniformierung und Bewaffnung, den Umzügen, Paraden, Fahnenweihen, Ordensbändern und vielen anderen Attributen des preußisch-deutschen Militarismus als sehr bedeutsam und repräsentativ empfunden wurden, was die Wirkung dieser Einrichtungen enorm erhöhte. So wurden die militärisch betonten Aufmärsche und Paraden der Kriegervereine schließlich gar nicht als fremd und ungewohnt empfunden, da bunte Umzüge — z. B. bei den Erntedankfesten, kirchlichen Festtagen etc. — sehr vertraute bzw. bekannte Vorgänge waren. Und wenn die einstige Dorfkapelle eines Tages als uniformierte Kriegervereinskapelle zum Tanze aufspielte, so wurde auch dies kaum als störend oder ungewöhnlich

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empfunden, zumal die in der Regel uniformierten Feuerwehrkapellen ohnehin einen teils mehr, teils minder gewohnten Anblick darstellten. Man tanzte schließlich nach der Musik der Kriegervereinskapellen wie ehedem nach den Klängen der Dorfmusiker. Ursprünglich beschränkten sich die Militärvereine auf die Ausgestaltung der offiziellen nationalen Fest- und Feiertage, später prägten sie auch den übrigen traditionellen Festen in zunehmendem Maße militaristische Züge auf.39 Selbst bei den Erntefesten trat der örtliche Militärverein aktiv in Erscheinung; er fehlte aber auch nicht bei kirchlichen Veranstaltungen. So berichtet ein Dorfchronist aus Altenweddingen, daß die Landwehrvereins-Kapelle den Gesang in der Kirche begleitete.40 Die Militärvereine waren schließlich — und mit ihnen der Militarismus — allgegenwärtig. Militärvereins-Terminkalender sorgten dafür, daß der (oftmals geschickt getarnte) Militarismus zu gleichen Zeiten allerorts präsent war. Die Krieger- und Landwehrfeste, die auf lange Zeit hin vielerorts einen kulturellen Höhepunkt des Jahres bildeten, fanden in der Regel in der ersten, zweiten oder dritten Woche im Juli statt.41 Der Domersleber Chronist H. H. MERBTberichtet hierzu: „Das Hauptfest des Jahres war das sogenannte ,Landwehrfest'. Es wurde kurz vor der Getreideernte gefeiert; es war das Domerslebener Heimatfest großen Stils und war weit über die Grenzen [des Ortes — G. B.] hinaus bekannt und beliebt. Es dauerte etwa eine Woche. Während des Festes wurde ein Schützenkönig ermittelt, die Veteranen hielten Paraden ab, die der Gutsbesitzer als ehemaliger Offizier selbstverständlich abnahm. Musik und Tanz wechselten mit fröhlichen Zechereien, Tingeltangel und Festessen. Das ganze Jahr lang wurde für dieses Fest gespart. Die anderen festlichen Anlässe wie Ostern, Pfingsten und Erntefest traten dagegen in den Hintergrund."42 Die Verteilung der Krieger- und Landwehrfeste der einzelnen Gemeinden auf verschiedene Wochenenden war darin begründet, daß sich die Vereine — was ihre Wirksamkeit enorm erhöhte — anläßlich der Krieger- und Landwehrfeste gegenseitig besuchten. So zogen Militärvereine mit Sang und Klang durch die Dörfer und Städte, kamen auf Pferdewagen daher oder — sofern vorhanden — mit der Eisenbahn herbei und erregten — von der in der Regel durch Alkoholkonsum gesteigerten Begeisterung der Teilnehmer ganz abgesehen — überall aufs neue großes Aufsehen und erweckten, besonders bei den Kindern und Jugendlichen, den Wunsch, mit dabeisein zu dürfen. Ständig vertreten auf den Kriegerfesten waren neben der großen Einwohnerschar die Gemeindevertretung, die Schule, die Ehrenjungfrauen, der Pfarrer und andere Honoratioren, geladene Gäste und Vereine von außerhalb sowie verschiedene lokale Vereine. Aus Welsleben, einer Gemeinde, die um 1900 annähernd 2000 Einwohner zählte, ist bekannt, daß bis zu 15 Gastvereine an den Kriegerfesten teilnahmen. Derartige Feste hatten für die Geschäftsleute, besonders Gastwirte, Bäcker, Fleischer, Schausteller, die Bedeutung einer außerordentlichen Einnahmequelle. Die Anziehungskraft derartiger Veranstaltungen war zumeist sehr groß. Vielerorts nahm die gesamte Einwohnerschaft teil. Aus Bottmersdorf, wo das Landwehrfest traditionsgemäß am zweiten Wochenende im Juli stattfand, ist bekannt, daß sich viele der ärmeren Einwohner schon lange Zeit vorher auf das Fest vorbereiteten, indem sie in Erwartung dieses Ereignisses, das den kulturellen Höhepunkt des Jahres bildete, zu sparen begannen. Besonders in der Pflückerbsenernte verdienten sich — wie ein Chronist berichtet — die Hausfrauen und Kinder etwas Geld dazu, um sich eigens für dieses Fest ein neues Kleid, eine neue Hose 41

39 Vgl.

10 KRATZENSTEIN, (1924): 43. hierzu Anlage Nr. 12. Diese Tage bedeuteten für die Landwirtschaft eine Zeit der relativen Ruhe, da die Heuernte abgeschlossen war und die Getreideernte noch nicht begonnen hatte.

42

MERBT, 1 9 5 6 : 1 9 7 .

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oder ein neues Tuch kaufen zu können. Dem Bericht eines Hadmersleber Gewährsmannes zufolge kam es nicht selten vor, daß minderbemittelte Leute eine Geiß (Ziege) oder gar ihre letzten Kartoffeln verkauften, um am Kriegerfest teilnehmen zu können. Die freudige Erwartung vor dem Fest war, wie die Gewährsleute einhellig bestätigten, stets sehr groß. Der Ablauf der Feste war, was die Formen anbetrifft, in der Regel auf Jahrzehnte hin annähernd gleich. In Bottmersdorf wurden sie am Vorabend mit einem Kommers im Vereinslokal eingeleitet. In vielen Gemeinden wurde am Abend vor dem Fest ein Zapfenstreich, teilweise auch ein Militärkonzert durchgeführt; die Regel bestand allerorts darin, daß am Vorabend ein Trinkgelage (z. T. übelsten Ausmaßes) stattfand. Zum anderen war • es zur Tradition geworden, daß Feste dieser Art mit Glockenklang feierlich ein- und auch wieder ausgeläutet wurden, 43 womit ihnen ein besonders festliches Gepräge mit entsprechendem emotionalem Effekt verliehen wurde. Der erste Festtag setzte in Bottmersdorf (wie bei fast allen Krieger- und Landwehrfesten) mit dem musikalischen Wecken (in der Regel um 6 Uhr) ein; um 9 Uhr erfolgte der Kirchgang, der allerorts ein fester Bestandteil der Krieger- bzw. Landwehrfeste war. Um 12 Uhr gab es ein Platzkonzert. Laut Programmfolge schloß sich um 14 Uhr der Festumzug an. Am festlich geschmückten Dorfplatz wurden Festreden gehalten und Hochrufe (auf den Kaiser, das Vaterland, auf anwesende Honoratioren und Gäste sowie nach einer verbreiteten Gepflogenheit auch auf die Frauen) ausgebracht. Für derartige Zwecke gab es Muster, die den Kriegervereinsvorständen in gedruckter Form zur Verfügung gestellt wurden. Entsprechend dem aus Bottmersorf bekannten Ablauf fand gegen 15.30 Uhr das sogenannte gemütliche Beisammensein im großen Zelt am Anger statt. Der Nachmittag war jene Zeit, in der das große Geschäft der Wirte, Budenbesitzer, Schausteller, Karussel- und Luftschaukelbesitzer begann. Vor allem die Jugend aus der näheren, aber auch der weiteren Umgebung stellte sich in der Regel zu derartigen Anlässen zahlreich ein, was vielfach zu Plänkeleien, Raufereien, ja auch zu handfesten Schlägereien führte, die — wie ein Gewährsmann aus Hadmersleben berichtete — „fest ins Programm der Kriegerfeste gehörten". Wegen der großen Beteiligung aus nah und fern wurden derartige Feste auch als „Heiratsmarkt" bezeichnet. Auf den Festbällen, die die Kriegerfeste krönten, ging es zumeist recht turbulent zu. Der Alkoholkonsum war in der Regel sehr hoch. Die Bezeichnung „Sauf- und Raufvereine", die vielen Militärvereinen anhaftete, war keinesfalls zufällig. Mancherorts hatte sich der Brauch eingebürgert, daß das letzte Paar bzw. der letzte Gast des Kriegerfestes mit Musik nach Hause gebracht wurde. Dies sah in der Regel so aus, daß ein volltrunkener „Krieger" auf den Schultern seiner „Kameraden", auf einer Karre oder einem Handwagen mit viel Geschrei und Gesang heimgebracht wurde. Der dritte Tag (Montag) begann — wie in Bottmersdorf, so auch in den meisten anderen Bördeorten — mit dem zur Tradition gewordenen „Frühschoppen mit Pökelessen und Freibier". Diese Frühschoppen dauerten zumeist den ganzen Tag an und gingen nicht selten bis tief in die folgende Nacht hinein. Wenn von Freibier die Rede war, so hieß das vielfach, daß mehrere Glas Bier zu einem relativ geringen Preise ausgeschenkt wurden. In vielen Dörfern war es aber auch zur Tradition geworden, daß sich die wohlhabenden Handwerker, großen Bauern, Fabrikunternehmer, höheren Beamten und vor allem Gutsbesitzer an der Finanzierung der Kriegerfeste beteiligten und bei den Trinkgelagen mit großmütiger Geste Freibier ausschenken ließen, wofür sie dann gebührend gefeiert werden wollten. Durch das 48

19

Vgl. Anlage Nr. 13 und Nr. 17. AK, Landarbeitet II

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Freibier sollten jene Werktätigen, die ihren „Herren" noch treu ergeben waren, an ihre „Treuepflicht" ermahnt und von der „Gutherzigkeit" ihrer herrschaftlichen Ausbeuter überzeugt werden. Man erhoffte sich gewiß auch, die in ihrer „Treue" „wankend" gewordenen und der Sozialdemokratie zuneigenden Arbeiter wieder auf den „rechten Weg" führen zu können. Zum anderen wurde der Alkohol dazu mißbraucht, den militaristischen Geist in die Köpfe der Trinker einzuhämmern, die unter Alkoholeinfluß in zunehmendem Maße unkritischer wurden und schließlich — und zwar gemeinsam mit den Vertretern der Obrigkeit, vielleicht sogar noch lauter als diese — militaristische Lieder sangen und eine starke Geräuschkulisse für die Hochs auf Kaiser und Reich bildeten. Mit Alkohol und künstlich stimulierter Begeisterung wurden die Männer zu den verschiedensten Gelegenheiten und Anlässen berauscht und die bestehenden sozialen Probleme in ihrem Bewußtsein teils mehr, teils weniger überlagert und verdrängt. Die Zeche wurde dann mit einem Bruchteil dessen, was die „freigiebigen Wohltäter" aus den Arbeitern herausgepreßt hatten, beglichen. Nach den Aussagen mehrerer Gewährsleute war die Zahl jener, die auf die „Leutseligkeit" ihrer Ausbeuter hereinfielen, sie wegen des Freibiers hochleben ließen und sich ihnen gegenüber sehr verpflichtet fühlten, besonders in jenen Orten sehr groß, die fernab der städtischen Industrie lagen. Hier machte sich der fehlende Kontakt zur revolutionären Arbeiterbewegung deutlich bemerkbar. Der überkommene und von der Kirche unterstützte Patriarchalismus war in diesen Orten noch wirksam. Und die ländlichen „Obrigkeiten" waren bestrebt, die Einwohnerschaft mit allen Mitteln vor den revolutionären Einflüssen „abzuschirmen". Um in diesem Bemühen erfolgreich zu sein, wurde neben dem ökonomischen Druck und Zwang nicht zuletzt mit der altbewährten Methode vorgegangen, dem Volk „Brot und Spiele" zu geben, um es zu beschwichtigen und abzulenken. Diese Methode war besonders heimtückisch und gefährlich, da mit den lauten und bunten Festesfreuden das Gift des Militarismus und Antikommunismus wirkungsvoll verbreitet werden konnte. In manchen, z. T. auch stadtfernen Gemeinden, kam es jedoch schon recht früh zur Herausbildung des proletarischen Klassenbewußtseins, so daß es schließlich auch in diesen Orten immer mehr Arbeiter, auch Landarbeiter, wagten, nicht nur das Freibier zu verschmähen, sondern auch sozialdemokratisch zu wählen. Ehe aber « jene höhere Qualität erreicht war, daß Angehörige der ländlichen Arbeiterschaft die Kriegerfeste boykottierten, vergingen in der Regel nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte. Der Kampf zwischen der „Macht der Traditionen" und der Auswirkung der Manipulation einerseits und der rationalen Erkenntnis andererseits war lang und schwierig. — Anhand eines weiteren Beispiels sei auf eine andere, ebenfalls sehr wirksame Durchführung von Kriegerfesten verwiesen: In Hadmersleben/Dorf44 fand jährlich am dritten Wochenende im Juli das sogenannte „Volks- und Kriegerfest" statt. Schon die Bezeichnung dieses Festes verrät, mit welcher demagogischen Raffinesse sich der Militarismus anbiederte und sich als „Tradition" schlechthin in den Jahresablauf des dörflichen Lebens eindrängte. Das gesamte Dorf, so heißt es, feierte mit. Am zweiten Tage des Kriegerfestes fand — wie allgemein verbreitet — der sogenannte Frühschoppen statt. Entsprechend einer örtlichen Tradition wurden in Hadmersleben/Dorf zum Frühschoppen Schmorwürste und Braten angeboten. Am Frühschoppen nahmen neben den Mitgliedern des Kriegervereins verschiedene Gäste aus dem Orte, aber auch von außerhalb teil. Am dritten Tage fand das Kinderfest als Bestandteil des Kriegerfestes statt. Hier wurde neben diversen Spielen vieles von dem, was die Väter an den Tagen zuvor gezeigt hatten, 41

Hadmersleben war bis 1918 in H./Dorf und H./Stadt getrennt.

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zum Ergötzen vieler Eltern von den Kindern nachgeahmt. Mancherorts (so z. B. in Welsleben) hatte es sich eingebürgert, daß die Kinder jeweils am dritten Tage des Kriegerfestes mit Marschmusik zur Schule geleitet wurden, wo man ihnen dann offiziell mitteilte, daß schulfrei sei. Allein mit dieser Methode wurde den Kindern das Kriegerfest — und zwar auch dann, wenn die Eltern den demagogischen Charakter dieser Veranstaltungen längst erkannt hatten — als ein höchst freudiges Ereignis suggeriert. Wie alle anderen Militärvereine war auch der Hadmersleber bestrebt, viele „hohe Gäste" einzuladen. Die „Gefolgschaftstreue" demonstrierend und gleichzeitig suggerierend, „ritt bei den Kriegerfestparaden", wie ein Gewährsmann mitteilte, „der Amtsrat Diederich mit weißen Handschuhen und einem Säbel vorneweg und alles, was laufen konnte, marschierte hinterher. Die Trommler und Pfeifer des Vereins machten die Musik." Diejenigen Einwohner, die zu den Kriegerfesten bekanntlich am meisten Bier spendierten, wurden in der Regel mit einer an Stricken gezogenen Schleppe (einer Art Schlitten), auf die man einen Sessel stellte, zu den Trinkgelagen abgeholt. Die Kriegerfeste in Hadmersleben waren — wie in den meisten Bördeorten — Höhepunkte im Jahresablauf der Gemeinde. Der 1898 gegründete Hadmersleber Militärverein „Kaiser Friedrich", in dem sich die Oberschicht der Stadt, nämlich der Bürgermeister, die Handwerksmeister, Kaufleute, Beamten, wohlhabenden Bauern, der Brauereibesitzer, die Lehrer (und nur vier Arbeiter), zusammengeschlossen hatte, beging am 6. Februar 1904, und zwar in Verbindung mit der Feier anläßlich des Kaisergeburtstages (27. Januar), in festlicher Form die sechste Wiederkehr der Gründung des Vereins. Im Festprogramm standen u. a. Theateraufführungen, Gesangs- und Zitherdarbietungen, Konzertstücke und eine Festrede.45 Die „Hadmerslebener Zeitung" hinterließ uns eine treffende Charakterisierung des Festprogramms, das keines weiteren Kommentars bedarf: „Der Vorhang der Bühne ging in die Höhe und zeigte die in schöner und geschmackvoller Dekoration aufgestellten drei Kaiserbüsten Wilhelm I., Friedrich III. und Wilhelm II. bei bengalischer Beleuchtung. Der Eindruck des Arrangements war ein sehr guter und hatten auch hierbei die Lieblingsblumen der drei Kaiser Verwendung gefunden ... Herr Bürgermeister Abel hielt die von patriotischem Geiste durchwehte Festrede, welche mit einem begeisterten Hoch auf seine Majestät Wilhelm II. endete ... Der den Schluß bildende Ball hielt die Festteilnehmer bis in die frühen Morgenstunden beisammen und jedem Teilnehmer wird die schöne Feier in angenehmer Erinnerung bleiben." 46 Während auf diesem typischen Kriegerfest der Honoratioren Kitsch und Kult — mit großer emotionaler Tiefenwirkung! — eine Einheit bildeten, wiesen die Kriegerfeste, zu denen die gesamte Einwohnerschaft Zugang hatte, vielfach einen gewollt frischen und Volkstümlichen Charakter auf. Zwar war auch hier der penetrante Geruch des preußischen Militarismus bestimmend; man legte Wert darauf, volkstümliche Elemente ins Spiel zu bringen, aber sie dienten eben nur als Staffage. Der Versuch der Apologeten des preußisch-deutschen Militarismus, die Volkstraditionen für ihre militaristischen Zielstellungen zu nutzen, ist ihnen zeitweilig in starkem Maße gelungen. Ein weiterer Anlaß, über Feierlichkeiten den Geist des Militarismus wirksam werden zu lassen, war durch Todesfälle gegeben.47 Sofern es sich bei dem jeweils Verstorbellen um 45

46 47

Für die verschiedenen Anlässe gab es vorgedruckte, von den Leiteinrichtungen der Kriegervereine verbreitete „patriotische Reden", die von den ungeübten Rednern abgelesen werden konnten. Hadmeislebener Zeitung, Nr. 17, vom 7. Februar 1904: 1; (siehe auch Anlage Nr. 14). Vgl. auch Anlage Nr. 15.

19*

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ein ehemaliges Kriegervereinsmitglied oder um einen „guten Deutschen" handelte, nahm der Kriegerverein mit Fahnen und Fahnenschmuck an der Beerdigung teil und stellte in der Regel auch die Träger sowie die Kapelle. Im Laufe der Jahre hatte sich ein bestimmtes Zeremoniell (wozu vielerorts auch das Salutschießen über dem offenen Grabe48 gehörte) herausgebildet. Auch bei den Beisetzungen wirkten Kriegervereine und Geistlichkeit Hand in Hand. Als besonders wirksam für die militaristische Massensuggestion erwiesen sich gemeinsame Kirchgänge der Militärvereine mit der Bevölkerung des Ortes. Man betete und sang gemeinsam und man lauschte gemeinsam der mehr oder minder „patriotischen Predigt". Diese und ähnliche Vorgänge übten eine sehr starke emotionale Wirkung auf große Teile der Bevölkerung aus und trugen dazu bei, den Geist des Militarismus auch auf diesem Wege zu oktroyieren bzw. zu suggerieren. Bei Vereinsfesten, aber auch bei Kriegervereinsversammlungen und ganz besonders bei den Stammtischrunden der „Kriegervereinler" bildeten, wie einige Gewährsleute berichteten, Kriegserlebnisse einen wesentlichen Erzählstoff. Die „Kriegserinnerungen", die mit großer Wahrscheinlichkeit durch die bürgerliche Presse, besonders aber durch die primitive, klischeehafte Kriegervereinspresse, und andere Massenkommunikationsorgane genährt und chauvinistisch aufgefrischt wurden, entfernten sich in der Regel mit zunehmendem Alkoholkonsum immer mehr von der Wirklichkeit. Dessen ungeachtet (oder gerade deshalb!) spielten sie — dies sei hinsichtlich entsprechender psychologischer Gesetzmäßigkeiten nachdrücklich vermerkt — in der chauvinistischen und militaristischen Verhetzung ganz gewiß keine untergeordnete Rolle. Besonders deutlich wurde der militaristisch-chauvinistische Charakter beim Sedanfest49 spürbar. Dieses Fest wurde bezeichnenderweise als das „große Fest" propagiert und begangen. Im Zuge der nationalen Demagogie und der Verherrlichung des preußischdeutschen Militarismus wurde der Sedantag jedesmal aufs neue mit riesigem Aufwand, mit Festumzügen, pathetisch vorgetragenen „patriotischen" Reden, Theateraufführungen, Gesangsvorträgen und mit viel Pomp und Flitter („Sedanrummel") begangen. Es ergoß sich an diesem Tage wie auch schon in den in der Regel langfristigen Vorbereitungen zu diesem fragwürdigen Fest stets aufs neue eine volkstümlich drapierte chauvinistische und militaristische Propagandaflut unbeschreiblichen Ausmaßes über das ganze Land. Mit besonderem Aufwand wurden der 10., 20. und 25. Jahrestag der Schlacht bei Sedan begangen. Der Bevölkerung in Städten und Gemeinden wurde durch Trommelschlag, Fanfaren, Marschmusik, Hochs und hymnische Gesänge die große „nationale Bedeutung" dieses Tages wirksam und nachhaltig suggeriert. Die Militärvereine waren, z. T. gemeinsam mit dem Gemeindevorstand, der Schule etc., allerorts Hauptträger der Sedanfeiern. Auf das gesamte Deutsche Reich bezogen, wurde das Sedanfest gewissermaßen zu einer Art Heerschau des deutschen Militarismus. Stets aufs neue ließ man den Siegesrausch von 1870 aufleben, einen Rausch, der bei den deutschen Kapilalisten und Militaristen durch 5 Milliarden Goldfranken Kriegskontributionen ausgelöst worden war und der jenen, die dafür mit ihrem Blute bezahlt hatten, mit viel Raffinesse und großem psychologischen Geschick ebenfalls als ein Hochgefühl oktroyiert wurde. Dies war nur dann erlaubt, wenn es sich bei den Verstorbenen um ehemalige Soldaten handelte (vgl. auch Anlage Nr. 16). 4* Bei Sedan, einer nordostfranzösischen Industriestadt an der Maas, war es am 1. September 1870 zu einem entscheidenden Sieg der deutschen Truppen über Frankreich gekommen.

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Die Chöre der Militär- und der übrigen „patriotischen" Vereine traten auf, und vielfach bildete das reguläre Militär mit Paraden und Marschmusik eine optische und akustische Kulisse für dieses große Spektakulum. Und selbstredend war — dem Bündnis zwischen Thron und Altar entsprechend — auch die Kirche an diesem Fest aktiv beteiligt.50 Die Angehörigen der werktätigen Klassen stellten in diesem makabren Schauspiel nicht nur die „Masse Volk" dar; sie sollten die ihnen zugewiesene Rolle, die im Interesse von Junkertum und Großbourgeoisie verstandene „nationale Einheit", demonstrieren. Vielen Angehörigen der Arbeiterklasse und anderer werktätiger Schichten war noch nicht bewußt, daß sie damit gegen ihre eigenen Lebensinteressen demonstrierten. Historisch verallgemeinernd wies L I F S C H I T Z auf diese Problematik hin, indem er bemerkte: „In der Geschichte kommen reaktionäre Bewegungen und reaktionäre Ideen vor, aber die Menschen, die an ihnen teilhaben und sie tragen, verdienen nicht immer Verachtung als Reaktionäre."51 Das gilt auch für viele Angehörige der Militärvereine, die aus den werktätigen Klassen und Schichten kamen. Tatsächlich gab es erweislich noch manche Werktätige, die sich schon zur Sozialdemokratie hingezogen fühlten und erste Ansätze eines Klassenbewußtseins entwickelten und dennoch aus einem moralisch wirksamen Traditionsgefühl heraus Mitglied im Kriegerverein waren. Der unversöhnliche Gegensatz zwischen den Militärvereinen als Institutionen des preußischen Militarismus bzw. der reaktionären Kräfte und der Sozialdemokratie als revolutionäre Partei der Arbeiterklasse wurde trotz des energischen und aufopferungsvollen antimilitaristischen Kampfes der revolutionären Arbeiterbewegung noch nicht von allen Angehörigen der Klasse voll erkannt. Darin kommt nicht zuletzt die ungeheure Macht reaktionärer Traditionen zum Ausdruck. Wie sind nun die Krieger- und Landwehrfeste und ähnliche Veranstaltungen des Militärvereinswesens einzuschätzen? Selbstverständlich ist die Tätigkeit und Massenwirksamkeit der Militärvereine nicht allein an ihren Festlichkeiten zu ermessen. Unter den historischen Bedingungen, unter denen dem Einfluß der in den Städten konzentrierten, vom Bürgertum geprägten Institutionen der Kulturkommunikation nur eine geringe Massenwirksamkeit beschieden war, erfüllten Feste und Bräuche, die den Rhythmus des dörflichen Lebens begleiteten, im Bewußtsein der Werktätigen eine beachtliche Funktion, obwohl ihre ursprüngliche Bedeutung bereits verblaßt war. Das Kriegervereinswesen knüpfte vielfach an diese Traditionen an und funktionierte sie insofern um, als es sie der Pflege reaktionärer politischer Traditionen unterordnete. Der bei einem beachtlichen Teil der Bevölkerung durch jahrzehntelange Einwirkung z. T. tief verwurzelte, durch viele beeindruckende Feste und Paraden, Trinkgelage und Theateraufführungen, Fahnenweihen, Denkmalserrichtungen, Denkmalseinweihungen und fromme Predigten vielfach als gute Tradition empfundene Kriegervereinsgeist lebte bis weit in das 20. Jh. hinein fort. Die Traditionen des preußisch-deutschen Militarismus wurden schließlich von der hitlerfaschistischen Diktatur als „nationale Traditionen" übernommen und in den Prozeß der nationalen und sozialen Demagogie sowie der Vorbereitung des zweiten Weltkrieges einbezogen.62 50

Vgl. Anlage Nr. 17 — vom Diakon für das Sedanfest ausgearbeitetes Festprogramm.

51

LIFSCHITZ, O. J . ( 1 9 7 3 ) : 7 0 .

62

In einer am 7. Mai 1933 abgehaltenen außerordentlichen Sitzung des Gesamtvorstandes unterstellte sich der Reichskriegerbund (mehr oder minder freiwillig) „in allen seinen Aufgaben dem Neuschöpfer des Reiches, Reichskanzler Adolf Hitler". Das Führerprinzip wurde eingeführt und die Ausrichtung des Bundes auf die NSDAP eingeleitet. (Vgl. SCHULZ-LUCKAU, 1936: 84).

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Zur Bedeutung und Wirkung der kultischen Verehrung von Attributen des Militarismus durch die Militärvereine Zur ideologischen Beeinflussung im Sinne der Ziele des preußisch-deutschen Militarismus wurden von Großbourgeoisie und Junkertum — wie anhand von Beispielen schon gezeigt — verschiedene Mittel und Methoden angewendet. Unter ihnen kam dem Kult um Symbole des Militarismus, wie Fahnen, Uniformen, Vereinsabzeichen, Denkmäler, Persönlichkeiten usw., eine besondere Bedeutung zu. Die Vereinsfahnen hatten nicht nur eine repräsentative, sondern auch eine große symbolische Bedeutung. Ein Militärverein, der das Fahnenrecht erlangen wollte, mußte die Zustimmung verschiedener Instanzen einholen. In manchen Fällen war sogar die Zustimmung des Kriegsministers und des Ministers des Innern und zum Teil auch die „Allerhöchste Genehmigung" erforderlich. Zu den verschiedenen Bedingungen zählte seit 1887 z. B., daß die um Fahnenerlaubnis nachsuchenden Militärvereine mindestens drei Jahre bestanden und daß sie sich in dieser Zeit „patriotisch und königstreu" geführt haben; des weiteren mußten sie mindestens dreißig Mitglieder aufweisen, von denen keines weder Angehöriger noch Sympathisant der Sozialdemokratie sein durfte. Im Jahre 1890 wurde, um einen gewissen Druck auf die kleinen Vereine auszuüben und um den zugunsten der Sozialdemokratie zurückgegangenen Mitgliederstand wieder zu erhöhen, diese Bestimmung dahingehend abgeändert, daß die Vereine mindestens fünfzig Mitglieder zählen mußten, ehe sie das Fahnenrecht zugesprochen bekamen. Der Schriftverkehr zwischen Kriegervereinen und Behörden (Orts- bzw. Amtsvorstand, Landratsamt, diversen Militärbehörden, Regierungspräsidium, Oberpräsidium, Ministerium des Innern, Ministerium des Krieges bis hin zum Kaiser persönlich) um die Erlangung des Fahnenrechts füllte allein für den Kreis Wanzleben etwa einhundert Hefter und Ordner. Ebenso penetrant bürokratisch und arrogant wie bei der Erteilung des Fahnenrechtes verfuhren die Behörden bei der Verleihung von Fahnenbändern, die in der Regel zu besonderen Anlässen vom Kaiser persönlich bzw. von namhaften Vertretern der Obrigkeit verliehen wurden. So hatte z. B. der Landwehrverein Bahrendorf anläßlich seines fünfzigjährigen Bestehens (1914) einen Fahnenschmuck erhalten, „was dem Stiftungsfest besonderen Glanz verlieh". Der Fahnenschmuck bestand „aus einem Bande in den Preußischen Farben und aus einem mit dem Preußischen Wappen versehenen Nagel" 53 , der am Fahnenstock anzubringen war. Eine Auswirkung des Fahnenkultes wurde z. B. darin sichtbar, daß im Jahre 1896 zwischen den im Kriegerverein von Groß Germersleben vereinten Veteranen von 1866 und den jüngeren Mitgliedern ein heftiger Streit darum entbrannte, wer die Fahne zu feierlichen Anlässen tragen dürfe. Dieser Streit nahm derartige Ausmaße an, daß sich der Ortsvorsteher schließlich veranlaßt sah, den Verein vorübergehend zu suspendieren und die Fahne einzuziehen.64 Die kultische Bedeutung der Vereinsfahne wird auch aus einem Zeitungsartikel aus dem Jahre 1899 sichtbar: „Es ist gewiß gestern aufgefallen, daß unter den Vereinen, welche dem Sarge unseres heimgegangenen Bäckermeisters vorangingen, der älteste hiesige Kriegerverein ... fehlte. Der Grund ist der, daß nach einer dem Verein soeben amtlich gewordenen Mitteilung demselben noch nicht die Erlaubnis zur Führung einer Fahne erteilt worden 53 54

STAM, Rep. C 30 Wanzleben A, Nr. 207: 60. Vgl. STAM, Rep. C 30 Wanzleben A, Nr. 221: 63 ff.

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und deshalb die Führung einer solchen nicht gestattet sei. Ohne Fahne aber an der Beerdigung teilzunehmen, daß konnte man von diesem alten Vereine, der schon so manchen Veteranen mit seiner Fahne zu Grabe geleitet, nicht erwarten."55 (Hervorhebung vom Verfasser) Erst nachdem dem Verein die Fahnenerlaubnis erteilt worden War, nahm er wieder am öffentlichen Leben der Gemeinde teil. Als 1892 in Tarthun der sozialdemokratische Einfluß auf den Kriegerverein so stark geworden war, daß sein Zerfall bevorstand, wurde der Rest der Vereinsmitglieder dadurch „unterstützt und ermutigt", daß man dem Verein trotz seiner geringen Mitgliederzahl (nämlich nur 27 Personen) ausnahmsweise die „Erlaubnis zur Fahnenführung" erteilte. Die durch den Landrat beim Innen- und Kriegsministerium erwirkte Order lautete: „Auf Grund der uns Allerhöchsten Orts erteilten Ermächtigung genehmigen wir hierdurch, daß der Krieger- und Landwehrverein zu Tarthun eine Fahne führen darf, wie solche durch die zurückfolgende Zeichnung und Beschreibung näher dargestellt ist, jedoch in der Voraussetzung, daß sich auf der Brust des Preußischen Adlers der Allerhöchste Namenszug R befindet und das Vereinszeichen... keinem staatlichen Ehrenzeichen gleicht.. ,"56 Eine weitere Ausnahmeregelung wurde auch dem wegen der geringen Einwohnerzahl von ca. 400 Personen nur 35 Mitglieder zählenden Krieger- und Landwehrverein Altbrandsleben zuteil. Der Fahnenkult wurde insbesondere auch dadurch verstärkt, daß bei bestimmten Festen die „feierliche Abholung der Fahne mit Musik" erfolgte. Anhand eines Beispiels sei der mit großem Ernst und Eifer betriebene Aufwand für die Gestaltung und die Einholung der Genehmigung einer Vereinsfahne aufgezeigt. Der Krieger- und Landwehrverein Tarthun reichte am 24. Februar 1892 einen Entwurf einer Vereinsfahne zum Zwecke der Bestätigung bei den Behörden ein: Grundfarbe: weiß; Vorderseite: oben um die Jahreszahl 1866, die an den Krieg Preußens gegen Österreich erinnern soll, im Halbbogen die Worte: Gott allein die Ehre; unter der Zahl 1866: fliegender Adler mit Krone, Zepter und Reichsapfel; darunter, im Halbbogen um den Adler, zwei eingestickte Lorbeerzweige; darunter abermals die Zahl 1866; und unter der Jahreszahl die Worte: Der Sieg kommt von dem Herrn (aus der Bibel, Salomo Kap. 21, Vers 31); Rückseite: über die gesamte Fläche die Worte: Zum Gedächtnis des glorreichen Jahres 1866. Von den Jungfrauen und Frauen der Gemeinde Tarthun. Zur Ehre Gottes angeschafft. — Amen. Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Stärke für unseren Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. (Zur Auswahl für die Behörden wurden vier weitere Fahnenentwürfe vorgelegt.) 57 Im Fahnenkult kam der Fahnenweihe eine besondere Bedeutung zu. Fahnenweihen waren nicht selten Feste ersten Ranges. Gesangvereine, der Schulchor und in der Regel auch der Kirchenchor trugen hymnische und patriotische Gesänge vor. Weiheakt, Weihereden, Kaiser-Hochs, Hurra-Rufe, Kirchgang, geschmückte Straßen und Häuser etc. machten die Fahnenweihen bei vielen Teilnehmern zu einem beeindruckenden Erlebnis. Bei der feierlichen Übernahme der geweihten Fahne sprach der Vorsitzende des Vereines (entsprechend einer allerorts verbreiteten gedruckten Vorgabe): „Nun, wohlan Kameraden, als wir SoldaSTAM, Rep. C 30 Wanzleben A, Nr. 217: 16. STAM, Rep. C 30 Wanzleben A, Nr. 245 : 28. — Laut einer Verordnung vom 18. Dezember 1886 mußten bestimmte Vorschriften der Behörden über die Gestaltung von Kriegervereinsfahnen beachtet werden. " Vgl. STAM, Rep. C 30 Wanzleben A, Nr. 245: 5 ff. 55

56

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ten wurden, haben wir unserem obersten Kriegsherrn den Eid der Treue geleistet bis in den Tod, heute erneuern wir diesen Schwur. Wir schwören zu unserer Fahne, daß wir auch als Bürger treu in Freud und Leid zu Sr. Majestät dem Kaiser und seinem Hause stehen wollen. Keine Not, keine Gefahr, aber auch keine Verleitung und Verführung würde uns von diesem Wege abbringen. Das schwören wir. Seid ihr mit mir gesonnen, so antwortet... mit ,Ja'." Mit suggestiver Gewalt wurde den Anwendenden das „Ja" zu diesem Schwur in den Mund gelegt. Und ehe sich jemand der Bedeutung dieses Schwures klar werden konnte, rief einer der Honoratioren: „Sr. Majestät, unser allerhöchster Kaiser, König und Herr! Hoch! Hoch!" Und da bei derartigen makabren Zeremonien auch der Pfarrer nicht fehlte, erschienen sie schließlich als eine völlig normale, ja sakrosankte Angelegenheit. An anderen „patriotischen" Festtagen wurden derartige und ähnliche Zeremonien wiederholt, so daß jahrein, jahraus große Teile der Bevölkerung in den Bann dieser kultischen Vorgänge gezogen wurden. Selbst auf Zechabenden von Kriegervereinsmitgliedern und anderen „Patrioten" erklangen Kaiser-Hochs, und vielerorts hatte es sich auf Grund von amtlichen Rundschreiben und Zeitungsveröffentlichungen mit der entsprechenden Aufforderung eingebürgert, Kriegervereinsversammlungen mit einem dreifachen Hoch auf den Kaiser zu eröffnen. Anhand eines konkreten Beispiels sei auf den fast allerorts betriebenen Hohenzollernkult hingewiesen. Am 25. Januar 1883 wurde vom „Combattanten-Verein Friedrich-Wilhelm" zu Egeln „zur Feier der silbernen Hochzeit Ihrer Königlichen Hoheiten des Kronprinzen Friedrich Wilhelm und seiner hohen Gemahlin eine Theatervorstellung veranstaltet". Derselbe Verein führte einige Zeit später anläßlich des Geburtstages des Kaisers ein Fest durch. Und im „Trauerjahr 1888 war der Verein an erster Stelle mitbeteiligt an den Trauerkundgebungen für den verewigten unvergeßlichen Herrscher". Am 18. Oktober 1888 „wurde eine sehr würdig verlaufende Gedächtnisfeier" für den Kaiser FRIEDRICH veranstaltet. Ferner hatte sich der Kriegerverein „Friedrich-Wilhelm" „voll und ganz" an dem in Magdeburg erfolgten Kaiserbesuch beteiligt und dafür ein Fahnenband erhalten. Neben diesen Höhepunkten wurden alljährlich etwa sechs bis acht patriotische Feste und Jubiläen „in strenger patriotischer Weise" begangen. Außerdem wurde derselbe Militärverein aber noch — abgesehen von regelmäßigen Vereinsversammlungen — bei öffentlichen Verammlungen in der Stadt, bei der Stiftung eines Kriegerdenkmals in Egeln, bei Sammelaktionen usw. aktiv. 58 Wenn man allein die Aktivitäten dieses Kriegervereins betrachtet, kann man sich vorstellen, vor welchen schwierigen Aufgaben die Gegner des Militarismus standen und welche Leistungen in Agitation und Propaganda die Mitglieder der revolutionären Partei der Arbeiterklasse vollbringen mußten, um den Werktätigen die wahren Absichten dieses vom Geiste des Militarismus diktierten Spektakulums nahezubringen. Zum anderen las man stets aufs neue in der bürgerlichen Presse, den Zeitungen und in den verschiedenen Publikationen des Militärvereinswesens, in den stark verbreiteten und in der Regel sehr beliebten „Volkskalendern" bis hin zur schöngeistigen Literatur bzw. hörte man auf öffentlichen Versammlungen, den verschiedenen Versammlungen der bürgerlichen Vereine, auf Festveranstaltungen unterschiedlichster Couleur, von der Kanzel wie auch in der Schule, daß die Militärvereine Sammelpunkte für „wahrhafte Vaterlandsfreunde", für „gute Deutsche" bzw. für die „echten Patrioten" seien. Jene, die den Kult zum Gegenstand des Spottes machten, wurden von der Klassenjustiz zur Räson gerufen. Als der Magdeburger Drucker ARNOLDT die Feierlichkeiten zum Sedan68

Vgl. STAM, Rep. C 30 Wanzleben A, Nr. 216.

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tag als „Sedanrummel" bezeichnete, wurde er von einem Spießer, der sich gewiß als ein guter Deutscher und echter Patriot dünkte, denunziert und mit sechs Wochen Haft bestraft.59 Zur sozialen Zusammensetzung der Militärvereine im Kreis Wanzleben Im Jahre 1915 zählte der Kreis Wanzleben ca. 95000 Einwohner. Davon waren annähernd 5,3 Prozent, d. h. etwa 5000 Männer, in den Militärvereinen organisiert. Die soziale Zusammensetzung der „Kriegervereinler" im Kreis Wanzleben ergab folgendes Bild: Tabelle 8 Prozentualer Anteil der einzelnen socialen Klassen, Schichten und Gruppen in den Militärvereinen des Kreises Wansleben um 191560 Soziale Gruppe

Prozent

Industriearbeiter, Landarbeiter, Gesellen, Schäfer, Diener, Kutscher, Knechte Handwerker, Gewerbetreibende Gutsbesitzer,Bauern 10,0 Halbspänner, Kossäten, Häusler 6,0 Beamte, Ärzte, Lehrer 6,7 Angestellte, Aufseher, Hofmeister 6,0 Fabrikbesitzer, Unternehmer Pastoren

44,0 26,0 16,0 12,7 1,1 0,2

insgesamt

100,0

Tabelle 9 Prozentualer Anteil der einzelnen sozialen Klassen, Schichten und Gruppen, aus denen sich die Vorsitzenden der Militärvereine des Kreises Wanzleben zwischen 1826 und 1915 rekrutiertet,¡60 Soziale Gruppe

Prozent

Bauern, Gutsbesitzer Halbspänner, Kossäten, Häusler Beamte (Amtsräte, Oberamtsmänner, Amts-, Orts-, Gemeindevorsteher, Lehrer etc.) Angestellte, Aufseher, Vorarbeiter Handwerksmeister, Fabrikmeister, Gewerbetreibende (Gastwirte) Fabrikbesitzer, Unternehmer Pastoren Arbeiter, Gesellen, Knechte etc. insgesamt 69 60

32 5 25 5 22 6 2 3 100

Vgl.: Von Fehden und Kämpfen, 1910: 62. Diese Aufstellung wurde anhand einer vom Verfasser für den Kreis Wanzleben angelegten Vereinskartei vorgenommen.

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Betrachtet man dagegen die Besetzung der Vorstandsämter unter dem Aspekt der sozialen Zusammensetzung, so ergibt sich ein fast entgegengesetztes Bild. (Tabelle 9) Diese, wenn auch nicht gerade sehr repräsentativen, statistischen Angaben bestätigen aufs neue den Charakter des Militärvereinswesens: Während sich die Mitgliedschaft vieler Vereine in erster Linie aus Werktätigen zusammensetzte, oblag die Führung der Vereine fast ausschließlich jenen Kräften, die direkt zu den herrschenden Kreisen gehörten, die preußisch-reaktionäre Staatsmacht auf der örtlichen Ebene repräsentierten oder sich ihnen willig unterordneten. Es wird eine Hierarchie erkennbar, von der die Arbeiterklasse praktisch ausgeschlossen war. Nur in seltenen Fällen wurde einem Arbeiter — vorausgesetzt, daß er sich „patriotisch" verhielt und sich zur „Treue gegen Kaiser und Reich" bekannte — eine leitende Funktion im Militärverein, noch viel weniger der Posten eines Vorsitzenden, gestattet. Aufschlußreich ist die Tatsache, daß in jenen Orten, in denen die proletarische Bevölkerung dominierte, der Anteil von Arbeitern in den Militärvereinen am geringsten war. Während innerhalb der Mitgliedschaft der einzelnen Militärvereine eine soziale Rangordnung erkennbar war, zeichnete sich in jenen Orten, in denen entsprechend der größeren Einwohnerzahl mehrere Einrichtungen dieser Art bestanden, eine soziale Abstufung der einzelnen Vereine untereinander ab. In Egeln,®1 einer der vier Städte im Kreis Wanzleben, bestanden neben dem 1832 gegründeten Schützenverein, dem ausschließlich Handwerksmeister, Beamte und Kaufleute angehörten, drei Militärvereine. Der 1867 gegründete Krieger- und Landwehrverein (1900: 120 Mitglieder) setzte sich vorwiegend aus Arbeitern zusammen; der 1871 ins Leben gerufene Combattanten-Verein „Friedrich Wilhelm" (1900: 110 Mitglieder) zählte fast ausschließlich Gewerbetreibende und Beamte zu seinen Mitgliedern; 62 und der dritte Militärverein des Ortes, er nannte sich Kriegerverein „Hohenzollern" (1900: 105 Mitglieder, Gründung 1892), vereinte eine weitere Gruppe des Mittelstandes. Rivalitäten zwischen diesen Vereinen waren die Regel. Sie rangen um das höchste soziale Ansehen, um die Mitgliedschaft bestimmter Persönlichkeiten, um Privilegien, Fahnenrecht, Fahnenschmuck etc. In Seehausen bildete sich im Jahre 1894 ein zweiter Militärverein, nämlich der Kriegerund Landwehrverein „Friedrich", der sich aus dem „durchweg gut situierten Ökonomenund Handwerkerstande hiesiger Stadt rekrutierte". In der Bewerbung um das Fahnenrecht wurde die honorige Zusammensetzung und damit die „Vertrauenswürdigkeit" des Vereins betont, indem es u. a. hieß: „Sozialdemokratischen Tendenzen huldigt kein Mitglied des Vereins." Die Bildung dieses zweiten Militärvereins lag im Standesinteresse, im Standesdünkel begründet. Das gleiche Motiv ist auch bei dem 1904 ins Leben gerufenen „Militärverein Wanzleben" zu erkennen.63 Auch aus der sozialen Zusammensetzung des Vorstandes des Kreis-Krieger-Verbandes Wanzleben wird deutlifh sichtbar, wessen Geist deij Inhalt, den Zweck und den Charakter des Kriegervereinswesens bestimmte. Ehrenvorsitzender dieser Einrichtung war der Major der Landwehr, Landrat z. D. v. KOTZE; Erster Vorsitzender: Bürgermeister RÖSSING, Wanzleben; Erster stellvertretender Vorsitzender: Dr. med. KOST, Wanzleben; Zweiter stellvertretender Vorsitzender: LOESCHE, AUGUST, Kgl. Eisenbahn-Assistent aus Groß 61 82

63

Seit 1952 zum Kreis Staßfurt gehörend. Im Jahre 1893 setzte sich dieser Verein aus 46 Handwerksmeistern, 12 Handwerksgesellen, 10 Beamten, 6 Fabrikbesitzern, 6 Kaufleuten, davon ein Gastwirt und ein Hotelbesitzer, aus 4 Ökonomen (sage Landwirten), 3 Aufsehern, 1 Diener und 1 Arbeiter zusammen. Vgl. Anlage Nr. 18.

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Ottersleben; Schriftführer: GRAF, OTTO, Schmiedemeister aus Wanzleben; Kassenführer: RÖSSING, HEINRICH, Wegemeister in Wanzleben; Stellvertretender Kassenführer: M A RUHN, Ingenieur in Westeregeln; Kassenkontrolleur: NAGEL, FRITZ, Lohgerbermeister in Egeln. Beisitzer: OTTO, WILHELM, Gutsbesitzer in Langenweddingen KOST, ANDREAS, Rentier in Wolmirsleben WARTENBERG, OTTO, Gutsbesit2er in Domersleben MÜLLER, AUGUST, Rentier in Westerhüsen PFAFFENROTT, HANS, Gutsbesitzer in Hakeborn OELSCHLÄGEL, HERMANN, Wegemeister in Seehausen. Ehrenmitglied: Kgl. Landrat v. MIKUSCH-BUCHBERG, Oberleutnant der Landwehr, Wanzleben. Einige Bemerkungen zur Kriegervereinsgesetzgebung und zu den Kriegervereinsstatuten Im folgenden sei auf eine Besonderheit aufmerksam gemacht, die die Kriegervereine von allen anderen Vereinstypen unterscheidet. Es handelt sich hierbei um die Militärvereinsgesetzgebung und die Kriegervereinsstatuten. Die in der ersten Hälfte des 19. Jh. besonders in Preußen forcierte Aufwertung des Militärvereinswesens wurde, sofern nicht schon vorher geschehen, nach der Reichseinigung mehr und mehr auf alle deutschen Bundesstaaten übertragen. Die besondere Stellung der Militärvereinsgesetzgebung gegenüber der allgemeinen Vereinsgesetzgebung bzw. im Rahmen der Gesetzgebung schlechthin wurde zum wiederholten Male, und jedes Mißverständnis ausschließend, durch ein amtliches Rundschreiben vom 13. Mai 1908 an alle Polizeiämter im Deutschen Reich hervorgehoben. Es hieß darin, daß „die auf besonderen Privilegien beruhende Sonderstellung der Kriegervereine, als außerhalb des Gebiets der Vereins- und Versammlungsrechte liegend, durch das Reichsgesetz" (von 1908) keine Änderung erfahre.64 Während jedem beliebigen Verein die Abfassung der Statuten (im Rahmen der bestehenden Vereinsgesetzgebung) weitgehend freigestellt war, mußten sich die Kriegervereine streng an die amtlich vorgegebenen „Normalstatuten" halten. Bereits im Jahre 1888 war seitens des Kriegs- und Innenministeriums angeordnet worden, daß „die Erlaubnis zur Führung von Fahnen in Zukunft nur an solche Kriegervereine erteilt werden darf, deren Statuten — in Übereinstimmung mit den Satzungen des Deutschen Kriegerbundes vom 14. Februar 1887 — " 65 bestimmte vorgegebene Passagen enthalten. Die Anordnung, bei Vernachlässigung dieser Bestimmungen keine Fahnenerlaubnis zu erteilen, wirkte in der Regel sehr nachhaltig. Abweichungen von den im „Normalstatut" enthaltenen Grundsätzen — wie z. B. „die Liebe und Treue Kaiser und Reich, Landesfürst und Vaterland bei seinen Mitgliedern pflegen, betätigen und stärken sowie die Anhänglichkeit an die Kriegs- und Soldatenzeit im Sinne kameradschaftlicher Treue und nationaler Gesinnung aufrechtzuhalten"66 — waren nicht erlaubt. 64 65 66

Dieses Rundschreiben befindet sich als loses Blatt im Kreisarchiv Wanzleben. Dieses Rundschreiben befindet sich als loses Blatt im Kreisarchiv Wanzleben. Aus den vom Deutschen Kriegerbund vorgegebenen und im gesamten Reich verbreiteten Satzungen (Normalstatuten) für Landwehr- und Kriegervereine (z. B. im Kreisarchiv Wanzleben vorhanden).

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Jenen Kriegervereinen, die eigene Vorstellungen und Ansichten statutenmäßig festlegen wollten, wurde die Existenzberechtigung entzogen. Diese behördliche Zwangsmaßnahme spiegelt sich auch in einem Zirkularbrief des Regierungspräsidenten des Regierungsbezirks Magdeburg, Graf v. BAUDISSIN, an alle Landräte vom 3. November 1 8 9 0 wider; es heißt darin, daß jeder Militärverein bei Abweichung von den „Normalstatuten" seine Eigenschaft als Kriegerverein und damit alle „1Vorrechte und Vergünstigungen" verliere, „die solchen Vereinen zugesichert sind".67 Konnte man in vielen Vereinen noch demokratische Elemente im Vereinsleben erkennen, so daß die Vereinsmitglieder über ein bestimmtes Mitspracherecht verfügten, so traf dies für das Gros der Militärvereine nicht zu. Sie waren ihrer organisatorischen Struktur und dem Charakter ihres Vereinslebens nach antidemokratisch und autoritär im Sinne des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates. Exkurs zum Schützenvereinswesen im Kreis Wanzleben Die seit dem Mittelalter bekannten Schützenvereine hatten ursprünglich einen anderen Sinn und Zweck und damit einen anderen Charakter als die Militärvereine des 19./20. Jh. Sie waren in der Regel im Zuge des vereinsfreudigen 19.' Jh. aus der Erinnerung an die ehemaligen Schützengilden (-gesellschaften, -brüderschaften) hervorgegangen bzw. neu belebt worden. Die Schützengilden, die in der mittelalterlichen Stadt neben ihrer Hauptaufgabe, nämlich der Schutzfunktion, gelegentlich auch geselligen Bedürfnissen entgegenkamen, hatten im Laufe der historischen Entwicklung ihre eigentliche Funktion verloren und fielen zumeist der Auflösung anheim. Der Dreißigjährige Krieg hatte diesen Prozeß beschleunigt. Die späteren Schützenvereine behielten zwar bestimmte traditionelle Formen bei, verkörperten aber nicht mehr die Wehrkraft des mittelalterlichen Städtebürgertums, sondern nahmen mehr und mehr Züge der reinen Geselligkeit und der kleinbürgerlichen Selbstdarstellung an. Die militärischen Aufgaben waren an das Aufgebot und das Söldnerheer der Landesherren bzw. die regulären Streitkräfte übergegangen. Besonders in den Jahren der Befreiungskriege bzw. danach kam es vielfach zu einer Neubelebung der Schützengesellschaften. In ihnen waren anfangs vielfach auch Traditionen des Kampfes gegen die napoleonische Fremdherrschaft lebendig. Diese Schützengesellschaften und -vereine erfuhren in den folgenden Jahrzehnten jedoch nicht jene Verbreitung wie z. B. die Turn- und Sportvereine, Militärvereine, Gesangvereine, sondern nahmen zumeist konservative Züge an und führten ein durch engstirnigen Kastengeist geprägtes Dasein. In der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848 nahmen die Schützengilden bzw. -vereine territorial eine unterschiedliche Haltung ein. Als charakteristisch ist gewiß die Position des am 14. April 1848 neu gegründeten Sudenburger Schützenvereins68 zu betrachten, dessen Zweck darin bestand, „die Greuel der Revolution fernzuhalten oder zu dämpfen" bzw. das „Eigentum der Einwohner zu schützen und dann auch, sich im Schießen 67 68

STAM, Rep. C 30 Wanzleben, Tit. III, Nr. 89: 281. Dieser Schützenverein war erstmalig im Jahre 1487 gebildet worden. Durch das Abbrennen der Burg und des gesamten Ortes im Jahre 1551 ging der Verein zum ersten Mal, durch die Zerstörung der Burg und der Stadt im Dreißigjährigen Krieg ein zweites Mal ein. 1707 bildete sich abermals ein Schützenverein, der bis 1812, bis zur Zerstörung der Stadt durch napoleonische Truppen, bestand. Die nächste Gründung erfolgte, wie oben schon vermerkt, im Jahre 1848.

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mit Büchsen und nach der Scheibe zu üben und damit die Beförderung des gemeinschaftlichen Vergnügens durch Unterhaltung und Bälle zu verbinden".69 Die Schützenvereine ließen sich vielfach für Polizei- und ähnliche Aktionen heranziehen. Die Neuhaldensleber Schützen wurden z. B. zur Verfolgung von Straftätern, für Patrouillen, aber auch zur Niederschlagung proletarischer Unruhen70 eingesetzt. Durch die Gründung des Deutschen Schützenbundes im Jahre 1861 (ihm war in der Provinz Sachsen 1860 die Bildung des Provinzial-Schützenbundes vorausgegangen) wurden die dem Bunde angehörenden Schützenvereine — und das war die Mehrzahl — noch stärker konservativ-nationalistisch orientiert. Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jh. kam es zumeist (und zwar zugunsten der endgültig ins Fahrwasser des Militarismus, Nationalismus und Chauvinismus geratenen Militärvereine) zu einer Annäherung dieser vom Ursprung her so unterschiedlichen Organisationsformen, indem Militärvereine und Schützenvereine wechselseitig Traditionen übernahmen. Der Annäherungsprozeß, der sich über eine lange Zeit erstreckte, erreichte schließlich einen Grad, der nur noch wenige wesentliche Unterschiede erkennen ließ, da sich der militaristische Charakter als für beide Organisationen verbindendes Element durchsetzte. Die wenigen Unterschiede bestanden u. a. in der sozialen Zusammensetzung (in den Schützenvereinen „befanden sich die besten Elemente der Bürgerschaft")71, in der Uniformierung (die Hadmersleber Schützen trugen z. B. grüne Röcke, schwarze Hosen und dazu eine Schirmmütze), in den Statuten (die nicht an die „Normalstatuten" der Militärvereine gebunden waren, sich aber dennoch oft daran orientierten), in der Beibehaltung bestimmter Traditionen bzw. von Überresten dieser Traditionen, aber auch darin, daß die Schützenvereine auf Grund der Wohlhabenheit der meisten Mitglieder in der Regel über einen 89 70

Vgl. Blätter für Handel ..., Nr. 15, 12. April 1898: 117. So wurden z. B. die Neuhaldensleber Schützen im Jahre 1850, als es unter der Bevölkerung zu Unruhen, die ihre Ursachen in der bestehenden sozialen Ungerechtigkeit hatten, gekommen war, gegen die demonstrierenden Volksmassen eingesetzt und zum scharfen Schießen veranlaßt. Ein Zeitgenosse vermerkt hierzu: „Die hiesigen Schützen wurden auf Veranlassung des Herrn Regierungsrates v. Spiegel ... in Anspruch genommen. Das Oberhaupt der Schützen versprach, alles mögliche anzuwenden, um ... die Ruhe aufrechtzuerhalten." (HABERLAND, o . J . : 7 5 ) .

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Das waren reiche Bürger, wohlhabende Handwerker, Ratsherren etc. Der Vorstand der Hadmersleber Schützengesellschaft (seit 1855 zumeist Schützenverein genannt) setzte sich folgendermaßen zusammen : Amtmann (Oberst der Schützengesellschaft) Ratmann (Adjutant) Bürgermeister (Hauptmann) Einnehmer (Leutnant) Handelsmann (Hauptmann) Schneidermeister (Feldwebel) Kaufmann (Schützenmeister) Fabrikant (Schützenmeister) Ratmann (Leutnant)

Zimmermeister (Leutnant) Gärtner (Feldwebel) Schuhmachermeister (Feldwebel) Schlossermeister (Feldwebel) Doktor med. (Leutnant) Ziegeldeckermeister (Oberjäger) Sattlermeister (Oberjäger) Kaufmann (Oberjäger) Lehrer (Vorstandsmitglied ohne Rang)

Diesem Vorstand der Schützengesellschaft (der mit der Oberschicht des Ortes fast identisch war) unterstanden 126 Schützen als F u ß v o l k ; dies waren u. a. : kleine Kaufleute, Handwerksmeister, Barbierherren, Schreiber, Seifensieder und auch einige Maurer, Musiker, Ökonomen und Handwerksgesellen.

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vereinseigenen Schützengarten, ein Schützenhaus72 und ähnliche Einrichtungen verfügten und sich kaum auf dem Lande, sondern nur in Städten, besonders aber Kleinstädten, etabliert hatten. In der Magdeburger Börde bestanden Schützenvereine als Institutionen nur in Magdeburg selbst und in einigen kleinen Städten. Aus vielen Dörfern ist aber bekannt, daß dort bestimmte Traditionen dieser Vereine, so z. B. das Schützenfest, das Königsschießen und das Vogelschießen sowie das Anbringen der kunstvoll verzierten Königsscheibe an der Giebelwand des Hauses, in dem der jeweilige Schützenkönig wohnte, übernommen worden sind, ohne daß in diesen Orten jemals ein Schützenverein bestanden hatte. In derartigen Erscheinungen kündigt sich eine Tendenz an, die auf die Verringerung der zwischen der Kultur und Lebensweise des Stadtbürgertums und der Landbevölkerung (d. h. in erster Linie der wohlhabenden Bauern und Handwerker) bestehenden Unterschiede hindeutet. Im Kreis Wanzleben bestanden in Egeln (1844 Neubildung), in Seehausen (1845 gegründet), in Wanzleben (Gründung 1694, 1846 neugebildet) 73 und in Hadmersleben (gegründet 1703, 1903 200jähriges Stiftungsfest) Schützenvereine. Ihre Aktivitäten beschränkten sich auf Schießübungen, die Pflege patriotischer Gesinnung, gesellige Zusammenkünfte und auf die „Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung bei evtl. Ausschreitungen". Nicht selten traten sie aber auch als Hilfsorgane von Polizei und Militär in Erscheinung. Die Mitglieder dieser Vereine ordneten sich fast ausschließlich der Ideologie des konservativen Bürgertums unter. Unteren Volksschichten war der Zugang zu diesen Einrichtungen allein aus dem Grunde unmöglich, weil neben der Ausrüstung (ursprünglich Armbrust, später Feuerwaffen)74 seit den vierziger Jahren des 19. Jh. auch eine Uniform auf eigene Kosten angeschafft werden mußte. Schützenfeste waren auf lange Zeit hin gesellschaftliche Ereignisse von großer Bedeutung. 75 Inwieweit die Schützenvereine zu einem Instrument des Imperialismus und aggressiven Militarismus sowie der aktiven Vorbereitung des ersten Weltkrieges geworden sind, spiegelt sich u. a. auch im 28. Bundesschießen der Provinz Sachsen, der Herzogtümer Anhalt und Braunschweig, das vom 10. bis 14. Mai 1914 in Aschersleben durchgeführt worden ist, wider. Ein Augenzeuge dieses militaristischen Spektakulums erinnert sich, daß in jenen Tagen Uniformen das Straßenbild bestimmten. Aufmärsche und Paraden mit zum Teil ergrauten, zittrigen und fettleibigen „Schützen", die nur mit Mühe Gleichschritt zu halten, die Kommandos zu hören bzw. ihre Büchsen zu tragen vermochten, fanden statt. Eine Militärkapelle übertönte die andere; die Trommelwirbel rissen nicht ab. Und große Teile der Bevölkerung wurden in den Bann dieses makabren Schauspiels gezogen, das die Menschen gewissermaßen mit Sport und klingendem Spiel auf den Krieg einstimmte und das Soldatsein als gesellige Unterhaltung suggerierte. Um viele Menschen anzulocken und um dem Fest einen volkstümlichen Charakter zu verleihen, waren Plätze und Häuser bunt geschmückt, Verkaufsstände und Schießbuden aufgestellt. Volksbelustigungen und Tanzveranstaltungen fanden statt, und auch an die Unterhaltung und 72

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Im Schützenhaus (und sofern dies nicht vorhanden war, im Vereinszimmer) befand sich die Vereinslade, in der die Schützenkasse, Urkunden, Dokumente, Orden, Bänder, Wappenbecher, Schützenadler etc. aufbewahrt wurden. Dieser Verein bestand bis zum zweiten Weltkrieg. Die Mitglieder des Wanzleber SchützenVereins mußten sich laut Statut von 1853 innerhalb von drei Jahren eine Büchse anschaffen. Vgl. Anlage Nr. 19 und Nr. 20.

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aktive Einbeziehung der Kinder hatte man gedacht, um auf diesem Wege die Ideale des Militarismus mit Spiel und Marschmusik als Selbstverständlichkeiten zu oktroyieren. Die Einbeziehung der breiten Kreise der Bevölkerung in derartige fragwürdige „Volksfeste" war allerdings nur sehr einseitig; ihr bot man „Brot und Spiele", alkoholische Getränke und buntes Treiben. Bei den Bällen, Empfängen und Festessen hingegen wurde ihr die Rolle des Zaungastes zugewiesen. Wenn weiter oben von der Annäherung des Wesens der Schützenvereine an die Militärvereine die Rede war, so wird dies z. B. auch im neuen Statut des Wanzleber Schützenvereins aus dem Jahre 1914 erkennbar. Es war angesichts der allgemeinen Kriegsvorbereitungen aktualisiert worden. Der § 1 lautete: „Der Zweck des Vereins ist, seine Mitglieder durch regelmäßige Schießübungen mit dem Gebrauch der Schußwaffe vertraut zu machen sowie die Liebe und Treue zu Kaiser und Reich bei seinen Mitgliedern zu betätigen, zu pflegen und zu stärken."76 Der § 15 forderte in militärischer Strenge, daß die „Mitglieder ... [zu bestimmten Anlässen — G. B.] volle Uniform zu tragen und an allen offiziellen Festlichkeiten ... teilzunehmen" haben." Wie stark die militärische Ausprägung war, wurde auch durch den § 28 unterstrichen: Den Anordnungen der Vorgesetzten „muß sich jedes Mitglied ohne Unterschied der Charge augenblicklich unterwerfen". 78 Die Mitglieder bildeten ein Corps, dem ein Oberst vorstand. Dieser hatte einen Adjutanten. Weitere Chargen waren: ein Hauptmann, vier Offiziere, ein Feldwebel, zwei Königsführer, zwei Schützenmeister und Oberschützen, denen sich die Mehrzahl der Mitglieder (Fußvolk) unterzuordnen hatte. Die verschiedenen Chargen zeugen erneut von einer Vermischung von Elementen der traditionellen Schützengilden mit Elementen des modernen Kriegervereinswesens bzw. des Militärs. Die Bräuche des Wanzleber Schützenvereins wiesen Reste von traditionellen Elementen (z. B. alljährliches Freischießen am ersten Montag des Monats Juli, und zwar in Verbindung mit dem Jahrmarkt) sowie neue Formen (z. B. die militaristische Ausprägung) auf. Die Schützenfeste dauerten drei bis fünf Tage. Sie stellten — neben dem propagandistischen Effekt — gewissermaßen eine Selbstbestätigung der kleinstädtischen Honoratioren dar. Laut Statut hieß es: „Am Sonntage nach dem Freischießen, nach beendigtem Nachmittagsgottesdienst, wird eine Nachfeier, früher Königsbier genannt, gehalten." 79 Schützenkönig wurde, wer im sogenannten Königsrennen den besten ersten Schuß getan hatte. Die Schützenvereine stellten im Unterschied zur Mehrzahl der Krieger- und Landwehrvereine — und trotz aller genannten Annäherungen — eine Einrichtung des kleinstädtischen Bürgertums und jener, die dazu gehören wollten und sich den materiellen und zeitlichen Aufwand leisten konnten, dar. Ihr Inhalt und Zweck wurden vornehmlich vom Lebensstil geprägt, der in diesen Kreisen vorherrschte. Besonders durch die Uniformierung und die lauten, militanten Umgangsformen wollte sich das Kleinbürgertum, dessen Position im Vergleich zum Großbürgertum mehr und mehr an Bedeutung verlor, im kleinstädtischen Bereich Geltung und Beachtung verschaffen. Diese Tendenz kam dem deutschen Militarismus sehr gelegen und konnte seiner politischen Zielsetzung untergeordnet werden. Kennzeichnend für das Schützenvereinswesen ist (wie auch bei der Kriegervereins76

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Satzungen des Schützenvereins Wanzleben, gültig seit dem 9. Dezember 1914. Diese Satzungen befinden sich unter verschiedenen weiteren losen Akten im Kreisarchiv Wanzleben. Vgl. Satzungen des Schützenvereins Wanzleben. (Kreisarchiv Wanzleben). Satzungen des Schützenvereins Wanzleben. (Kreisarchiv Wanzleben). Satzungen des Schützenvereins Wanzleben. (Kreisarchiv Wanzleben).

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bewegung), daß sich derartige Einrichtungen des Segens der Kirche, vielfach auch der aktiven Mitwirkung der Ortsgeistlichkeit, erfreuen konnten. Bemerkenswert ist — dies sei abschließend noch hervorgehoben — die Feststellung, daß die bürgerliche Vereinsforschung die hier aufgezeigten Tendenzen in der Schützenvereinsbewegung generell abschwächt bzw. negiert und sie in der Regel in einer Gestalt vorführt, die von der realen historischen Problematik ablenkt und sie in die vagen Gefilde der Nostalgie entrückt. Weitere im Dienste des deutschen Militarismus stehende Vereine Neben den bis hier erwähnten Vereinen, die weitestgehend dem deutschen Militarismus untergeordnet waren, existierten im Kreis Wanzleben noch solche Vereine wie der 1864 gegründete „Hülfs-Verein zur Pflege im Felde verwundeter und erkrankter Krieger" als Kreisverein. Da das Vaterland der Reichen nicht gleichzeitig das Vaterland der Armen sein konnte, machte es sich dieser Verein zur Aufgabe, „verwundeten und erkrankten Kriegern durch Privathilfe gute und liebe Pflege zu verschaffen ... sowie invalide oder verstümmelte Krieger und Hinterbliebene gefallener Krieger zu unterstützen..."80 (Hervorhebung vom Verfasser) Dies galt freilich nur für „staats- und königstreue" Invaliden bzw. Hinterbliebene. Der Wanzleber Kreisverein stellte ein Glied des entsprechenden Provinzial-Vereins dar, der wiederum einem „Central-Comite der Deutschen Vereine vom roten Kreuz", Sitz Berlin, unterstand. Allein die soziale Zusammensetzung des Vorstandes des Wanzleber Kreisvereines, nämlich ausschließlich Honoratioren,?1 macht auf den Charakter dieser Einrichtung aufmerksam. Der „Hülfs-Verein" hatte mit den ortsüblichen Vereinen wenig gemein; es handelte sich um eine fürsorgerische Einrichtung, die versuchte, die ärgste Not der Kriegsinvaliden zu lindern. Während Vereine dieser Art ursprünglich (zumeist in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh.) durch Privatinitiativen ins Leben gerufen worden waren, wurden sie im Verlaufe der folgenden Jahrzehnte in zunehmendem Maße von den staatlichen Behörden gefördert und entwickelt. So hatte bereits des „Königs Majestät mittels Allerhöchster Ordre vom 13. November 1843" angeordnet, daß „die zu diesem Behufe freiwillig zusammentretenden Vereine auf alle Weise gefördert und unterstützt werden" sollen und „daß die mit der Verwaltung beauftragten Behörden dieses [künftig? — unleserlich — G. B.] als eine ihrer Amtspflichten erkennen sollen und daß Se. Majestät namentlich von den Chefs der Provinzial-Behörden erwarten, daß dieselben diese Angelegenheit zum besonderen Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit machen und auf die Bildung solcher Vereine, wo es an ihnen noch mangelt, kräftigst hinwirken werden."82 Es sei — bei aller Unterstützung und bei allem Wohlwollen seitens der Behörden — jedoch darauf zu achten, daß „der Staatskasse ... (keine) Kosten verursacht werden".83 Dessen ungeachtet waren alle Kategorien von Vereinen „naturgemäß der Oberaufsicht des Staates ... unterworfen".84 Der Zweck der staatlichen Förderung der Hilfsvereine bestand somit darin, den Obrigkeitsstaat von der Unterhaltung der Kriegsinvaliden (der entlassenen Straf80 81

Stadtarchiv Magdeburg, Gemeinde-Archiv Groß Ottersleben, Nr. 201. Der Wanzleber Hilfsverein stand unter der Leitung solcher Honoratioren wie des Justizrates ROBOLSKI, des Pastors DAMM, des Kreisbaumeisters ROMEISS, des Bürgermeisters DAN sowie

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des Landrates des Kreises STAM, Rep. C 28 If, Nr. STAM, Rep. C 28 If, Nr. STAM, Rep. C 28 If, Nr.

Wanzleben. 38: 252. 38: 256. 38: 259.

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gefangenen, der bedürftigen Wöchnerinnen, der Armen und Hilflosen usw.) zu entlasten und seiner Verantwortung gegenüber den Invaliden und Hilfsbedürftigen zu entheben. Die finanziellen Mittel derartiger Vereine setzten sich aus Beiträgen von Mitgliedern, Sammlungen und Spenden (Stiftungen) zusammen. Für die Verteilung bzw. Verwendung der Mittel gab es keine objektiven Kriterien. Die vielfach vorliegenden Anträge und Bittschriften von Kriegsinvaliden (Armen und anderen Hilfsbedürftigen), die die grenzenlose Not dieser bedauernswerten Menschen zum Ausdruck bringen, dokumentieren uns, wie willkürlich verfahren wurde und wie gering die Wirksamkeit derartiger Vereine war.85 In der Vernachlässigung der Opfer vorausgegangener Kriege einerseits und der Glorifizierung des „deutschen Soldatentums" andererseits wurde ein Widerspruch sichtbar, der auf besondere Art auf den unmenschlichen Charakter des preußisch-deutschen Militarismus hinweist. , Es mag auf den ersten Blick geradezu grotesk anmuten, wenn im Zusammenhang mit den Militärvereinen auch Brieftauben-Liebhaber-Vereine Erwähnung finden, aber bei genauerer Betrachtung erkennt man sehr schnell, daß auch diese Vereine seit den siebziger Jahren des 19. Jh. voll ins militaristische System integriert sowie in die Vorbereitung eines neuen Krieges einbezogen worden sind. Im Kreis Wanzleben bestanden mehrere Brieftauben-Liebhaber-Vereine. Sie trugen zumeist die Bezeichnung „Wiederkehr". Diese Vereine waren — wie die meisten deutschen Vereine dieser Art — dem Verbände Deutscher Brieftauben-Liebhaber-Vereine angeschlossen. Der Benneckenbecker Verein hatte innerhalb des Verbandes die Vereinsnummer 2169, der Groß Ottersleber Verein die Nummer 1925. Die Brieftauben-Liebhaber-Vereine bedurften der Genehmigung des Königlichen Kriegsministeriums. Sie waren auf Grund eines entsprechenden Gesetzes88 verpflichtet, ihre Tauben erforderlichenfalls zur Nachrichtenübermittlung der Militärverwaltung zur Verfügung zu stellen. In Ergänzung zu diesem Gesetz erließ der Minister des Innern zu Berlin am 16. Juni 1906 ein Rundschreiben, in dem es u. a. hieß: „Mit Rücksicht auf das Interesse, das die Militärverwaltung daran hat, daß den Vereinen des Verbandes Deutscher Brieftauben-Liebhaber-Vereine nur zuverlässige Mitglieder angehören, und in Anbetracht der den Verbandsmitgliedern eingeräumten Vorrechte vor anderen Taubenbesitzern erscheint es geboten, alle Nichtreichsangehörigen aus dem Verbände auszuschließen. Zur Durchführung der dieserhalb von dem Herrn Kriegsminister erlassenen Anordnung ersuche ich ergebenst, die Polizeibehörden anzuweisen, dem Verband Deutscher Brieftauben-Liebhaber-Vereine über die Staatsangehörigkeit und Zuverlässigkeit von Verbandsmitgliedern oder Personen, die sich um die Mitgliedschaft bewerben, auf Antrag Auskunft zu erteilen."87 Die Brieftauben des Verbandes, die schon zu Friedenszeiten dem Inspekteur der Militärtelegraphie in Berlin unterstellt waren, wurden im Kriegsfalle „Heeresbrieftauben".88 In Spandau bestand seit 1902 eine zentrale Militärbrieftauben-Station der deutschen Heeresverwaltung, die Nebenstationen in Königsberg, Danzig, Posen, Thorn, Breslau, Torgau, Stettin, Kiel, Tönning, Wilhelmshaven, Köln, Mainz, Metz, Straßburg und Würz85

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In der Regel wurden monatlich 15 Mark, zum Teil aber auch nur „einmalige Hilfen" gewährt. Vgl. hierzu auch Anlage Nr. 21, 22 und Nr. 23. Gesetz zum Schutz der Brieftauben und den Brieftaubenverkehr im Kriege betreffend — vom 28. Mai 1894. In: Reichsgesetzblatt, 1894: 463. Stadtarchiv Magdeburg, Gemeinde-Archiv Groß Ottersleben, Nr. 1891: 11. Nach dem ersten Weltkrieg übernahm das Reichswehrministerium die gesamte Einrichtung. AK, Landarbeiter II

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bürg unterhielt. Jede deutsche Festung hatte 1904 etwa 200 bis 250, zum Teil bis zu Tausend und mehr Brieftauben. Dazu kamen im Jahre 1904 rund 65 000 Brieftauben der ca. 3 000 Mitglieder von Brieftauben-Vereinen. Den Berichten mehrerer Gewährsleute zufolge waren viele, darunter selbst einige dem Proletariat angehörende Mitglieder der BrieftaubenLiebhaber-Vereine, sehr stolz darauf, einer Organisation anzugehören, die „wichtige militärische Funktionen" zu erfüllen hatte. Es muß festgestellt werden, daß selbst über derartige, unbedeutend anmutende Vereine der Militarismus Einfluß auf die Denk- und Verhaltensweisen von Bürgern nahm. Am Rande sei auch noch der 1898 gegründete überregionale Flottenverein, der auch im Kreise Wanzleben viele Mitglieder aus der wohlhabenden Bevölkerung hatte, erwähnt. Dieser Verein setzte sich im Interesse des deutschen Imperialismus und Militarismus für den Ausbau der Flotte hinsichtlich der Neuaufteilung der Welt (Kolonialpolitik) ein. AUGUST BEBEL entlarvte am 18. Januar 1900 im Magdeburger Luisen-Park, einem traditionellen Arbeitertreffpunkt, vor Tausenden Arbeitern die Absichten des Flottenvereins und wies nachdrücklich darauf hin, daß diese Einrichtung und deren Ziele nicht der Verteidigung Deutschlands, sondern der Aggression dienen. Schlußbemerkungen Alle diese vom preußisch-deutschen Militarismus geschaffenen und im Übergang zum Imperialismus sprunghaft erweiterten Organisationen und Institutionen, insbesondere die Militär- und Kriegervereine, die seit dem Ende des 19. Jh. durch weitere, dem Imperialismus adäquate, z. T. ebenfalls Millionen von Mitgliedern zählende Organisationen (z. B. solche imperialistischen Propagandaorganisationen wie der Alldeutsche Verband, die Deutsche Kolonialgesellschaft, der Deutschen. Flottenverein, der Wehrverein, der Ostmarkenverein) ergänzt wurden, waren seitens der machtausübenden Kräfte dazu vorgesehen, der imperialistischen Ideologie eine Massenbasis zu verschaffen, die revolutionäre Arbeiterbewegung zu paralysieren, die Volksmassen ins imperialistische Herrschaftssystem zu integrieren und auf die expansiven Ziele des deutschen Imperialismus einzustimmen. Die historische Analyse derartiger Einrichtungen, die in starkem Maße zur geistigideologischen und psychologischen Beeinflussung der öffentlichen Meinung vorgesehen waren, die Aufdeckung der Mittel, Methoden und Möglichkeiten der herrschenden Klasse zur Beeinflussung der Denk-«und Verhaltensweisen der Volksmassen, das Aufzeigen der von derartigen Einrichtungen (als feste Bestandteile des Herrschaftssystems — neben der Klassenjustiz, den verschiedenen Massenmedien, dem Militär, der Polizei usw.) geschaffenen bzw. geprägten und vielfach mit einer gewissen Eigengesetzlichkeit fortwirkenden reaktionären Traditionen erweisen sich als eine unumgängliche Notwendigkeit, weil das Verständnis der Praktiken des Imperialismus der Gegenwart nur im Zusammenhang mit einer gründlichen Untersuchung seiner historischen Entwicklung möglich ist. Viele Gesetzmäßigkeiten und Tendenzen, die den Charakter des heutigen Imperialismus prägen, begannen bereits im vergangenen Jahrhundert wirksam zu werden. Ein weiterer Grund für die Erforschung des Wesens und Wirkens dieser Organisationen der herrschenden Klasse liegt für den marxistischen Historiker und Volkskundler darin, daß die von der bürgerlichen Historiographie im Interesse der herrschenden Kreise vielfach negierten dialektischen Zusammenhänge zwischen Kapitalismus/Imperialismus und psychologischer Massenbeeinflussung und -Steuerung aufgedeckt werden müssen.

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Die vorliegende Untersuchung zum Kriegervereinswesen stellt gewissermaßen eine auf lokaler bzw. regionaler Ebene vorgenommene Vorarbeit zur weiteren Erforschung des reaktionären Vereinswesens, seiner meinungs- und traditionsbildenden Funktion sowie seiner Wirkung auf die Denk- und Verhaltensweisen im Zuge der vom deutschen Imperialismus vorgenommenen geistig-ideologischen und psychologischen Beeinflussung der Volksmassen im Sinne der reaktionären Ideologie dar.

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HELMUT A S M U S

Die politische Entwicklung in Magdeburg vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg, unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte der Magdeburger Arbeiterbewegung Magdeburg war als eine der bedeutendsten Städte und als stärkste Festung der preußischen Monarchie eng mit der Entwicklung dieses Staates verbunden. Festung, Garnison und königliche Verwaltung bestimmten im 18. Jh. neben den wirtschaftlicheil Interessen der reichen Magdeburger Kaufmannschaft und der noch unentwickelten Manufakturbourgeoisie das politische Leben Magdeburgs. Die Verwaltung der Stadt war unter den Bedingungen des preußischen Militärdespotismus im wesentlichen ein ausführendes Organ königlicher Verfügungen. Der Bürgermeister wurde vom König bestellt. Über die Geschicke der Kommune bestimmte weitaus mehr der Festungskommandant als die Vertretung des Bürgertums. Von politischen antifeudalen Regungen des Magdeburger Bürgertums ist aus dieser Zeit nichts überliefert. Das progressive bürgerliche Ideengut der Aufklärung wurde dagegen in literarischen Zirkeln und naturwissenschaftlichen Liebhaberkreisen gepflegt. 1 Einen kräftigen Anstoß erhielt das Denken und Handeln der Zeitgenossen durch die französische bürgerliche Revolution, deren Ausbruch und Verlauf seit 1789 mit großem Interesse verfolgt wurde. Allerdings standen nur wenigen Magdeburgern dafür einigermaßen zuverlässige Informationsquellen zur Verfügung. Die „Magdeburgische Zeitung", in deren Spalten nur die genehmigten, mehr oder weniger offiziösen Berichte aus Frankreich zu lesen waren, verzerrte das revolutionäre Geschehen. Insbesondere die Verhaftung und Hinrichtung LUDWIGS XVI. und die revolutionär-demokratische Diktatur der Jakobiner waren Anlaß zu vielfältigen Greuelmärchen und Entstellungen.

'Magdeburg unter fran2ösischer Fremdherrschaft In unmittelbare Berührung mit der siegreichen Revolution kam die Magdeburger Bevölkerung erst, als Magdeburg 1806 von den Truppen NAPOLEONS besetzt wurde. Seit 1795 war das bürgerliche Frankreich verstärkt zur militärischen Offensive und zur Okkupation fremder Territorien übergegangen. Auf diese Weise sollte der politische und wirtschaftliche Machtbereich der französischen Großbourgeoisie erweitert werden. Vollstrecker des Willens der französischen Großbourgeoisie war NAPOLEON BONAPARTE. Nach der Niederlage der dritten antirevolutionären Koalition 1805 gingen die Fürsten der westdeutschen Klein- und Mittelstaaten auf die Seite NAPOLEONS über. Sie gründeten 1806 den von Frankreich beherrschten Rheinbund. Damit hörte das „Heilige Römische Reich deutscher Nation", das allerdings seit langem nur noch ein Schemen gewesen war, auf ¿zu bestehen. Im gleichen Jahr, am 14. Oktober 1806, erhielt der altpreußische Militärstaat bei Jena und 1

V g l . MÜHLPFORDT, 1967/1968.

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Auerstedt seinen Todesstoß. Auf die allgemeine Zerrüttung des preußischen Absolutismus warf auch die Kapitulation Magdeburgs am 11. November 1806 ein bezeichnendes Bild. Die für uneinnehmbar geltende Festung war auf Wochen und Monate mit Munition und Verpflegung versehen worden. 800 Kanonen mit 2000 Artilleristen und über 15000 Mann Infanterie mit 20 Generälen und 800 Offizieren an der Spitze kapitulierten kampflos vor nur 7000 Franzosen unter Marschall NEY, denen nicht einmal Belagerungsgeschütze zur Verfügung standen. Getreu dem napoleonischen Prinzip, daß sich die Truppen im Kriege selbst zu versorgen hätten, mußte Magdeburg gleich in den ersten Wochen der französischen Besatzung über 180000 Taler Kontribution an NEY zahlen, zugleich gab dieser die Stadt seinen Soldaten zur Plünderung frei. 2 Magdeburg wie das Territorium westlich der Stadt wurde im Ergebnis des Tilsiter Friedens 1807 Bestandteil des Königreichs Westfalen, eines zum Rheinbund gehörenden napoleonischen Satellitenstaates. Die eingeleiteten bürgerlichen Reformen in Verwaltung, Justiz und in der Wirtschaftspolitik, die Aufhebung zahlreicher Privilegien des Adels und die Verstaatlichung der Stiftsländereien, darunter auch des Magdeburger Domstifts, stimulierten die wirtschaftliche Progression des Bürgertums. Magdeburg war wohl Teil des Königtums, aber es hatte die gesamte westfälische Zeit hindurch eine starke französische Besatzung, die die militärstrategische Schlüsselposition an der mittleren Elbe zu sichern hatte. Obgleich dem im Zuge der Reformen gebildeten Munizipalrat als Vertretung des Bürgertums größere Rechte gegeben waren als vor 1806, lagen doch alle wesentlichen und auch viele untergeordnete Entscheidungsbefugnisse beim französischen Festungsgouverneur. Unter den Bedingungen des strengen französischen Militärregimes waren Widerstandsaktionen in der Stadt beinahe ausgeschlossen. Die spontane, im wesentlichen auf ökonomische Belange gerichtete Demonstration von Magdeburger Gesellen, Arbeitern und plebejischen Elementen, die durch die Neuregelung des Münzwesens am 25. April 1808 ausgelöst wurde, bildete eine Ausnahme.3 Allerdings spielte Magdeburg infolge seiner militärstrategischen Position in den antinapoleonischen Aufstandsversuchen des Jahres 1809 eine nicht unbedeutende Rolle. FERDINAND von SCHILL, dessen Soldaten im gleichen Jahre südlich der Stadt bei Dodendorf einen Kampf mit der Festungsgarnison zu bestehen hatten, wollte sich ebenso wie FRIEDRICH von K A T T E , der von der Altmark her mit einer Freischar im Einvernehmen mit Magdeburger Bürgern handelte, der Festung bemächtigen. Diese Unternehmen des Jahres 1809 mußten aber nicht zuletzt wegen ihrer zu geringen Verbindung mit den unter dem napoleonischen Druck leidenden Volksmassen scheitern.4 In der Stadt selbst wurden die rücksichtslose finanzielle Ausplünderung und die umfangreichen Rekrutierungen besonders in den Kriegsjahren 1812 bis 1813/14, in denen die Belastungen durch Ausnahmezustand und Belagerung noch verstärkt wurden, als unerträglich empfunden. Der französische Präfekt des Elbdepartments de BERCAGNY und Polizeikommissar SCHULZE entwickelten in dieser Zeit ein Regime der Verbote, Beschlagnahmungen, Zwangssteuern und Ausweisungen. Auf dem Alten Markt ließen sie einen Galgen errichten, an dem u. a. im Winter 1813/14 zwei Magdeburger gehenkt wurden, weil sie holländischen Soldaten der Grande Armee zur Flucht verholten hatten. Gegen dieses Regime wehrten sich die Magdeburger vor allem durch spontane Steuerverweigerungen, V g l . HOLSTEIN, 1 8 8 3 : 3 1 3 , 3 2 5 , 3 3 7 . Vgl. GEBAUER, 1 9 0 5 : 4 5 £ f . ; HEITZER, 1 9 5 9 : 1 3 1 . 4 Vgl. MAENNS, 1908: 106ff.; HEITZER, 1959: 166ff.; BODE, 2

3

1972: 84ff., 162ff.

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301

obwohl ihnen dafür Vermögensbeschlagnahme, Zwangsversteigerung und Abbruch ihrer Häuser drohten.® Schon Anfang 1 8 1 2 hatte NAPOLEON im Zuge der Vorbereitungen auf seinen Krieg gegen Rußland persönlich die Erweiterung des Magdeburger Festungsbereiches und die Schaffung von freiem Schußfeld für die Festungsgeschütze befohlen. Das Ergebnis war der Abbruch des größten Teiles der Neustadt und der gesamten Sudenburg im Frühjahr 1812. Es wurden 4 6 3 Häuser abgerissen, 1 0 2 1 Familien mit 3 5 6 8 Personen verloren ihre Wohnstätten. Sofern sie nicht von Verwandten oder Bekannten in der überfüllten Altstadt aufgenommen wurden, mußten sie Zuflucht in den umliegenden Bördedörfern oder in leerstehenden Scheunen und Ställen vor der Stadt suchen. Fast ein Drittel der Vertriebenen verlor jede Erwerbsmöglichkeit und fiel der öffentlichen Armenfürsorge zur Last. Anfang 1 8 1 3 wurden auf Befehl NAPOLEONS 2 6 0 Häuser in der Neustadt abgerissen, und bei seinem Aufenthalt im Juli 1 8 1 3 faßte NAPOLEON den Entschluß zur Planierung der Friedhöfe und zum Abbruch von Häusern am Elbufer und in der Friedrichstadt (Brückfeld). 6 Noch nachdem die napoleonischen Truppen in der Völkerschlacht bei Leipzig ihre entscheidende Niederlage auf deutschem Boden erlitten hatten, blieb Magdeburg in französischer Hand. Erst nach dem Sturz NAPOLEONS wurde es am 2 4 . Mai 1 8 1 4 nach monatelanger Blockade an die verbündeten russischen und preußischen Truppen übergeben. 7 Nachdem das napoleonische Joch abgeschüttelt worden war, betrogen die Fürsten das deutsche Volk um den Lohn seines nationalen Unabhängigkeitskampfes. Sie gründeten den Deutschen Bund, eine Förderation von 38 souveränen Territorialmächten, und konsolidierten damit die staatliche Zersplitterung. Die Heilige Allianz, von Rußland, Österreich und Preußen ins Leben gerufen, sollte alle bürgerlich-nationalen und demokratischen Bestrebungen in Europa unterdrücken. Doch dieser Versuch der Feudalklasse, das Rad der Geschichte aufzuhalten und die Völker zu knebeln, scheiterte.

Magdeburg im Vormärz Mit der Neugliederung des preußischen Staates wurde Magdeburg am 1. April 1815 Hauptstadt der Provinz Sachsen und des Reg.-Bez. Magdeburg. Die Provinz Sachsen reichte vom Thüringer Wald bis zur unteren Elbe und bestand aus den Reg.-Bez. Magdeburg, Merseburg und Erfurt. Die Reg.-Bez. gliederten sich in Kreise mit Landratsämtern. Auch die Behörden einer Regierung und eines Landratsamtes hatten ihren Sitz in der Stadt. Die neue Verwaltungsstruktur war noch ein Ergebnis der preußischen Reformgesetzgebung. Sie blieb im wesentlichen bis 1945 unverändert bestehen. Im Vergleich zur altpreußischen Zeit vor 1807 veränderte sich die rechtliche Stellung der Stadt gegenüber der Festung. Die kommunalen Organe erhielten durch die Steinsche Städtereform größere Autonomie. Die Möglichkeit, selbst Kandidaten für das Amt des Oberbürgermeisters dem König zur Auswahl zu benennen, wurde von den Vertretern der Bürgerschaft im Jahre 1 8 1 7 genutzt, um A U G U S T WILHELM FRANCKE ( 1 7 8 5 — 1 8 5 1 ) als Stadtoberhaupt vorzuschlagen. FRANCKE stand von 1 8 1 7 bis 1 8 4 8 an der Spitze der Stadtverwaltung. 8 6 6

V g l . FISCHER, 1 9 7 5 : 1 2 1 f . V g l . FISCHER, 1 9 6 6 : 2 1 7 .

' V g l . VOLBEHR, 1 9 2 6 ; SCHRADER-ROTTMERS, 1 9 3 7 : 2 2 5 . 8 Vgl. TOLLIN, 1 8 8 4 : 2 2 5 f f . ; TOLLIN, 1 8 8 5 : lff.

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Der auf der Grundlage eines hohen Besitzzensus gewählte Gemeinderat bzw. die im Jahre 1831 an seine Stelle tretende Stadtverordnetenversammlung wurde von den Großkaufleuten beherrscht. Ihr Einfluß zeigte sich während der zwanziger und dreißiger Jahre in der Kommunalverwaltung und bei der Schaffung kommunaler Einrichtungen, insbesondere eines bürgerlichen Schulwesens, die von Zeitgenossen als in vieler Hinsicht beispielgebend bezeichnet wurden. 9 In der Festungs- und Verwaltungsstadt Magdeburg lassen sich in den ersten Jahrzehnten nach 1815 nur Ansätze einer politischen Opposition gegen die junkerlich-preußischen Zustände und gegen den Fortbestand der feudalstaatlichen Zersplitterung Deutschlands nachweisen. Dennoch fand eine offenbar nicht geringe Anzahl Jugendlicher aus Kreisen des Bürgertums Anschluß an die Bewegung der Burschenschafter und an das Volksturnen. 10 Während die oppositionellen Bewegungen der Burschenschafter und Turner noch in bedeutendem Maße einen schwärmerischen Charakter besaßen und auf eine relativ kleiner Gruppe junger Menschen aus besitzenden Familien beschränkt blieben, die zudem später nicht selten ihren „Jugendsünden" abschworen, verlieh die wirtschaftliche Entwicklung seit Mitte der dreißiger Jahre der antifeudalen bürgerlichen Opposition auch in Magdeburg allmählich eine breite und feste soziale Basis. Zugleich entwickelte sich mit der industriellen Revolution auch die Arbeiterklasse und mit ihr der Kampf um die politische, organisatorische und ideologische Emanzipation von der Bevormundung durch Bourgeoisie und Kleinbürgertum. Die erste bedeutende Aktion der Magdeburger Arbeiter war der Streik der Zuckerfabrikarbeiter im Jahre 1844, der sich gegen Lohnkürzungen richtete. Dieser Lohnkampf kann in Zusammenhang mit der ersten Streikwelle gebracht werden, die durch die grausame Niederschlagung des Aufstandes der schlesischen Weber in Deutschland ausgelöst wurde. 11 Während der in den vierziger Jahren einsetzende ökonomische Kampf vor allem von den Industriearbeitern getragen wurde, bestimmten die mit der rückständigen Kleinproduktion verbundenen Handwerksproletarier die Bemühungen um die organisatorische, politische und ideologische Verselbständigung der Arbeiterklasse in diesen Jahren. Sie wurden zu Begründern der ersten Arbeiterorganisationen, weil sie in den Gesellenvereinigungen über traditionelle Organisationsformen des ökonomischen Kampfes und der Bildungsvermittlung verfügten. Sie vermochten, auf ihren Wanderschaften politische Erfahrungen zu sammeln und sich teilweise sogar in den fortgeschritteneren westeuropäischen Ländern mit dem utopischen Sozialismus und Arbeitervereinigungen sozialistischen Charakters bekanntzumachen. Ein solcher Handwerksgeselle war auch W I L H E L M W E I T LING aus Magdeburg. Er wurde am 5. Oktober 1808 geboren und erlernte das Schneiderhandwerk. 1828 verließ er seine Heimatstadt, um dem verhaßten preußischen Militärdienst zu entgehen. In Paris wurde er Mitglied des „Bundes der Gerechten", der 1836 gegründeten ersten selbständigen politischen Organisation der deutschen Arbeiter. Als Programm des Bundes erschien 1838 seine Schrift „Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte". Schon in diesem Erstlingswerk erhob sich W E I T L I N G mit seiner Erkenntnis, daß nur die Arbeiterklasse sich selbst befreien kann, über die klassischen utopischen Sozialisten. Er wurde zum Hauptvertreter des deutschen Arbeiterkommunismus. 9

V g l . LAUMANN, 1 9 3 9 : 1 4 2 f f . ; S t a d t a r c h i v M a g d e b u r g , R e p . 1 8 3 , N r . 2 4 , B d . I f f . ; ASMUS, 1 9 7 5 a :

136f. 10

V g l . HÄRTUNG, 1 9 1 3 : 2 3 3 f f . ; NÖTHE, 1 9 1 1 a : 3 ; NÖTHE, 1 9 1 1 b : 1 8 f f . ; ASMUS, 1 9 7 5 a : 1 3 7 f f .

11

V g l . TODT/RADANDT, 1 9 5 0 : 7 6 f .

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1842 veröffentlichte WILHELM WEITLING sein Hauptwerk „Garantien der Harmonie und Freiheit". Darin entwarf er nicht nur ein Bild der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft, sondern er bekannte sich auch zur Revolution. 12 In Magdeburg war eine Gemeinde des „Bundes der Gerechten" offenbar auf Initiative des Schneiders ALEXANDER BECK entstanden. BECK hatte schon 1841, als er noch Kommissionsmitglied der vom Bund gegründeten Deutschen Demokratischen Gesellschaft in London war, Verbindung zu der von WEITLING redigierten Zeitschrift „Die junge Generation", dem Organ des „Bundes der Gerechten". Später war er in Paris Mitglied des Bundes und kehrte dann nach Magdeburg zurück. WEITLING selbst hatte während seines Aufenthaltes in Magdeburg und Beyendorf im Juli und August 1844 Verbindungen zu Bundesmitgliedern in Magdeburg, aber auch in Hamburg und London unterhalten. 13 Engere Beziehungen gab es zwischen der Berliner und Magdeburger Bundesgemeinde. So erhielt BECK vom Berliner Schneidergesellen FRIEDRICH MENTEL kommunistische Schriften, und der Buchbinder BEHRENS nahm an Aussprachen des von der Berliner Gemeinde begründeten Lesezirkels teil. Am 17. Juli 1846 informierten die Mitglieder der Londoner Zentralbehörde des Bundes das von K A R L M A R X und FRIEDRICH ENGELS gegründete und geleitete Kommunistische Korrespondenzkomitee in Brüssel, daß etwa sechzig Mitglieder aus London in verschiedene europäische Staaten abgereist seien: „... durch sie werden wir in Stand gesetzt werden, in Hamburg, Altona, Magdeburg, Leipzig, Berlin, Königsberg, Gothenburg, Kopenhagen, Havre etc. Korrespondenzkomitees zu bilden — an allen diesen Orten befinden sich nämlich schon von unseren Bekannten, wir haben nun die abgehenden Mitglieder an die dortigen Freunde adressiert und sie aufgefordert, sogleich Komitees zu bilden und mit uns in eifrige Korrespondenz zu treten."14 „Die Polizei entdeckte", wie FRIEDRICH ENGELS berichtet, „erst nach sieben Jahren, Ende 1846, in Berlin (Mentel) und Magdeburg (Beck) eine Spur des Bundes, ohne imstande zu sein, sie weiter zu verfolgen." 15 Der Magdeburger Polizeidirektor veranlaßte am 25. Dezember und an den folgenden Tagen Haussuchungen bei B E C K und BEHRENS sowie beim Nadler W E I S S E , beim Böttcher G R A B E und beim Buchbinder W E I S S E . B E C K , BEHRENS und der Buchbinder W E I S S E wurden in schikanöser Weise und unter Verletzung der Polizeiordnung inhaftiert. BEHRENS gab die Teilnahme an Zusammenkünften in Berlin zu. Ansonsten gestanden die der Verbindung mit „Berliner Communisten" Beschuldigten lediglich die Existenz eines Lesezirkels. Unter seinem Deckmantel verbarg sich die Bundesgemeinde. Da die Magdeburger Handwerksgesellen über ihre Beziehungen zum Bund strengstes Stillschweigen bewahrten und ihnen außer dem Lesen verbotener Bücher nichts Bestimmtes nachgewiesen werden konnte, wurde das gegen sie angestrengte Verfahren schließlich nach der Märzrevolution eingestellt. 16 12

S i e h e SEIDEL-HÖPPNER, 1 9 6 1 .

13

Vgl. Bund, Der, der Kommunisten..., 1970: 1 0 1 7 f . ; STAM, Rep. C 20 Ia, Nr. 721: 87ff. Bund, Der, der Kommunisten..., 1970: 378. ENGELS, 1960 (1885): VIII, 580. Vgl. STAM, Rep. C 28 If, Nr. 1718.

14 16 16

304

Asmus Die Revolution von 1848/49 und ihre Folgen

In den vierziger Jahren hatten sich die gesellschaftlichen Gegensätze in den deutschen Staaten schnell zugespitzt. Deutschland stand vor einer bürgerlichen Revolution, deren Hauptaufgabe die radikale Beseitigung der halbfeudalen Verhältnisse und die Schaffung eines bürgerlich-demokratischen Nationalstaates war. Als Magdeburg Anfang März 1848, noch vor den Barrikadenkämpfen in Berlin, von der revolutionären Welle erfaßt wurde, knüpften die Volksmassen an zwei Erscheinungsformen der antifeudalen Opposition an, die sich seit der Mitte der vierziger Jahre entwickelt hatten: an die Bürgerversammlungen und an die demokratische Bewegung der protestantischen „Lichtfreunde", an deren Spitze der volkstümliche Prediger LEBERECHT UHLICH (1799 bis 1872) stand. 1 ' Die Magdeburger Stadtverordnetenversammlung beschloß in Anwesenheit zahlreicher Zuhörer am 9 . März auf Antrag des Stadtverordneten K A Y S E R , dem preußischen König die vielfach geäußerten Wünsche der Bevölkerung vorzutragen. Am 13. März bestätigte die Versammlung eine gemeinsam von Stadtverordneten und Mitgliedern des Magistrats ausgearbeitete Adresse. Sie enthielt die „Bitten" nach baldiger Einberufung des Vereinigten Landtages, nach einer Verfassung und nach einer Volksvertretung, nach einem ausgedehnten Wahlrecht, nach Presse-, Versammlungs- und Religionsfreiheit und nach Trennung von Staat und Kirche: 18 Diese Adresse brachte einerseits das Anliegen des Volkes zum Ausdruck, andererseits zeigte sie das Bestreben der Bourgeoisie, die Volksbewegung auszunutzen, um den König zu Zugeständnissen zu veranlassen. Die Adresse sollte — ebenso wie die Verleihung des Ehrenbürgerrechts an UHLICH — die Mehrheit der Stadtbevölkerung beruhigen und vom Kampf abhalten. Am 15. März wurde durch Handzettel bekanntgegeben, daß am Abend dem Stadtverordneten K A Y S E R und einigen seiner Kollegen „ein Vivat" gebracht werden sollte. Diese hatten in der Stadtverordnetenversammlung am 13. März verlangt, daß demokratische Forderungen nach der Verantwortlichkeit der Minister, nach Gleichheit vor dem Gesetz, nach Schaffung von Schwurgerichten und nach Vermeidung jeglichen Bündnisses mit dem russischen Zarismus zusätzlich in die Adresse an den König aufgenommen werden sollten. Am Abend des 15. März zogen Tausende Magdeburger, vor allem Arbeiter und Kleinbürger, zum Domplatz vor die Häuser des Landrats und Polizeidirektors KAMPTZ und des Konsistorialpräsidenten GÖSCHEL, nachdem sie auf dem Kirchhof an der Ulrichskirche K A Y S E R und UHLICH hatten hochleben lassen. KAMPTZ und GÖSCHEL waren.als Einpeitscher der Unterdrückungsmaßnahmen gegen die „Lichtfreunde" und als Feinde jeden Fortschritts bekannt. Das von KAMPTZ vorsorglich zu seinem Schutz herangezogene Militär verhinderte einen Sturm auf die Häuser. Es widersetzte sich aber seinem Befehl, gegen die Menge vorzugehen. Zahlreiche Demonstranten trugen schwarz-rot-goldene Kokarden an den Mützen. Immer wieder erklang neben Rufen „Nieder mit Kamptz! — Es lebe Uhlich!" die revolutionäre Losung: „Es lebe die Republik!" Damit war aber die Bewegung weit über das ursprünglich gesetzte Ziel hinausgegangen. Es ist möglich, daß das von vornherein in der Absicht der Initiatoren lag. Als schließlich militärische Verstärkung erschien und Artille" Vgl. OBERMANN, 1963: 142-143; BREYWISCH, 1926: 159ff.; ASMUS, 1975a: 156f. 18 Vgl. Magdeburgische Zeitung vom 15. 3. 1848.

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risten mit langen Pferdepeitschen auf die Versammelten einschlugen, setzten sich diese mit einem Hagel von Steinen zur Wehr. Darauf ging das Militär mit scharfer Klinge gegen die Demonstranten vor, was zu erbitterten Auseinandersetzungen führte. Die gesamte Garnison wurde alarmiert. Die Kämpfe zwischen den Demonstranten und den Soldaten in den einzelnen Straßenzügen zogen sich bis nach Mitternacht hin.19 Während der Revolutionsjähre gewannen die Arbeiter in kurzer Zeit grundlegende Erfahrungen, die ihr Klassenbewußtsein stärkten und ihnen halfen, sich der Vormundschaft der Bourgeoisie schneller zu entledigen. Die durch die Märzereignisse erkämpften bürgerlich-demokratischen Freiheiten, das Presse-, Versammlungs- und Vereinsrecht, schufen günstige Voraussetzungen für die Arbeiter, sich für ihre wirtschaftliche Besserstellung und für eine relativ freie Entwicklung der Arbeiterorganisationen einzusetzen. Ähnlich wie in anderen industriellen Zentren, vor allem in Berlin, äußerte sich in Magdeburg das proletarische Emanzipationsbestreben seit den letzten Märztagen besonders deutlich im aktiven Widerstand gegen die kapitalistische Ausbeutung, gegen die Abwälzung der Lasten der anhaltenden Wirtschaftskrise auf die Arbeiter. Immer nachdrücklicher forderten diese in Versammlungen und Eingaben an die Behörden soziale Verbesserungen. Ein in der „Magdeburgischen Zeitung" vom 1. April 1848 veröffentlichter Aufruf von Fabrikarbeitern rief zu einer Versammlung am 2. April im Grafschen Garten vor dem Ulrichstor (in der Nähe des heutigen Damaschkeplatzes) auf. Die Unterzeichner verlangten von den Kapitalisten, damit zugleich das Programm der geplanten Versammlung festlegend, die Arbeitszeit auf zwölf Stunden zu verkürzen und den Lohn auf zwanzig Silbergroschen am Tag zu erhöhen. In der Versammlung, die von etwa tausend Arbeitern besucht wurde, gelang es aber den kleinbürgerlichen Demokraten um Prediger UHLICH, unter der illusionären Losung des „Ausgleiches zwischen Kapital und Arbeit" die Führung dieser ersten großen ökonomischen Bewegung der Magdeburger Arbeiter an sich zu reißen.20 Offenbar wurden sich die fortgeschrittensten Arbeiter gerade nach dem ergebnislosen Versickern der allgemeinen, im Wesen noch spontanen, unorganisierten Aktion bewußt, daß sie selbständiger Organisationen bedurften, um den ökonomischen Kampf zu führen. In den folgenden Wochen und Monaten gründete man wie in anderen Städten Deutschlands gewerkschaftliche Organisationen. Es entstanden unter anderem Vereine der Maschinenbauarbeiter, der Handschuhmacher, der Porzellanverfertiger, der Zuckersieder und der Zuckerfabrikarbeiter, also Organisationen des Fabrikproletariats. Nach dem Sieg des Volkes in den Märzkämpfen und dem Eintritt von Vertretern der gemäßigt-liberalen Bourgeoisie in die sogenannten Märzregierungen galt es, einen bürgerlich-demokratischen Nationalstaat gegenüber der besiegten, aber noch nicht vernichteten feudalen Reaktion und der den weiteren Fortgang der Revolution hemmenden Bourgeoisie durchzusetzen.21 Bei den Wahlvorbereitungen zur preußischen und zur deutschen Nationalversammlung entfalteten die großbürgerlichen Liberalen wie die kleinbürgerlichen Demokraten eine rege Agitation. Von den Wahlen, die Anfang Mai stattfanden, blieben aber große Teile der 19

20 21

Vgl. STAM, Rep. C 20 Ia, Nr. 679, Bd. III; S T A M , Rep. C 20 Ia, Nr. 1 4 8 9 ; Magdeburgische Zeitung vom 17. und 18. 3. 1848. Vgl. Magdeburgische Zeitung vom 19. 4. 1848. Zum weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen und Kämpfe in Magdeburg während der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49, siehe bei: ASMUS, 1975a: 1 6 1 f f .

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Arbeiter ausgeschlossen. Viele ajjdere hinderte die Festsetzung der Wahlzeiten auf die Vormittags- und Nachmittagsstunden, ihr Wahlrecht auszuüben. Magdeburg wählte für die Frankfurter Nationalversammlung den aufrechten Breslauer Linksliberalen HEINRICH SIMON und als Stellvertreter den Regierungsrat von BODELSCHWINGH, für die preußische Nationalversammlung den liberalen Eisenbahnbauingenieur VIKTOR von UNRUH und den demokratischen Professor PAX vom Pädagogium Unser Lieben Frauen. In Wolmirstedt und Neuhaidensieben wurden mit Justizkommissar WEICHSEL und Prediger UHLICH zwei namhafte Magdeburger kleinbürgerliche Demokraten als Abgeordnete in die preußische Nationalversammlung delegiert. Die Niederlage der Pariser Arbeiter in der Junischlacht leitete den offenen Vormarsch der konterrevolutionären Kräfte ein. Der preußische König schloß den Waffenstillstand von Malmö und überließ die kämpfenden Schleswig-Holsteiner der dänischen Unterdrückung. Dadurch erhielt die preußische Konterrevolution selbst freie Hand, die Revolution in den anderen Teilen Deutschlands niederzuwerfen. Magdeburg war schon seit dem Frühsommer 1848 ein wichtiger Treff- und Sammelpunkt konservativer Junker aus der Altmark und der Börde, die bald auf die Formierung der preußischen Konterrevolution maßgeblich Einfluß nahmen. An ihrer Spitze stand ERNST LUDWIG von GERLACH, Präsident des Oberlandesgerichts Magdeburg, der schon vor der Märzrevolution die Hofkamarilla FRIEDRICH WILHELMS IV. anführte. Dazu gehörten weiter Graf OTTO von BISMARCK (Schönhausen), Graf ALVENSLEBEN (Erxleben), der spätere Kommandierende General des 4 . Armeekorps in Magdeburg, Fürst RADZIWILL, Graf WARTENSLEBEN (Karow) und NATHUSIUS (Königsbom). Dieser Kreis regte auch die Herausgabe der „Neuen Preußischen Zeitung" (Kreuzzeitung) als Organ der Adelspartei an, die ab 1. Juli 1848 erschien. Redakteur der Zeitung war der Magdeburger Konsistorialassessor HERMANN WAGENER, der später der enge Vertraute BISMARCKS wurde. In der zweiten Hälfte des Jahres 1848 konzentrierte sich die ultrareaktionäre Gruppe darauf, konterrevolutionäre Vereine zu gründen, die besonders in der Provinz, aber auch in Magdeburg Fuß zu fassen vermochten. 22 Nachdem die Reaktion die Septemberaufstände niedergeschlagen hatte, ging sie im Oktober und November in Wien und Berlin zum Angriff über. Die Niederlage des Wiener Oktoberaufstandes bildete den Wendepunkt der Revolution in den deutschen Staaten. Anfang November inszenierte die reaktionäre Hofkamarilla in Berlin einen Staatsstreich, indem sie eine offen reaktionäre Regierung einsetzte, den Sitz der preußischen Nationalversammlung von Berlin nach Brandenburg verlegte und über Berlin den Belagerungszustand verhängte. Alle Errungenschaften der Revolution und auch die Mitsprachefechte der Bourgeoisie waren bedroht. Daher sah sich auch die liberale Bourgeoisie, obgleich sie immer noch hoffte, für ihren Verrat an der Märzrevolution belohnt zu werden, zu einer Stellungnahme veranlaßt. Mehr noch fürchtete sie aber eine neue Erhebung des Volkes. In einer Adresse der Magdeburger Stadtverordnetenversammlung und des Magistrats an das Ministerium vom 1 0 . November wurde dem Grafen BRANDENBURG das Recht zur Regierungsbildung abgesprochen. Die Magdeburger Demokraten wollten die bedrohten Märzerrungenschaften erhalten wissen. Sie forderten in einem Schreiben an die preußische Nationalversammlung, sie solle der Reaktion nicht weichen, sie habe die Pflicht, sich den Maßnahmen der Regierung zu widersetzen.23 Zum Präsidenten der preußischen National22 23

V g l . KRETZSCHMAR, 1926: 1 5 4 f . V g l . Magdeburgische Z e i t u n g v o m 7. u n d 1 1 . 1 1 . 1848.

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Versammlung war am 28. Oktober der Magdeburger Abgeordnete von UNRUH gewählt worden, der zum rechten Zentrum der Vertretung gehörte. Der Oberpräsident der Provinz Sachsen berichtete dem Innenministerium, daß die Aufregung in Magdeburg „in bedenklichem Grade" steige und sich nunmehr auch gegen den König selbst richte. Der Magdeburger Landrat meldete: „Die gestern als Gerücht in der Bürgerversammlung verbreitete Nachricht, daß der König abdanken wolle, ist dort mit lautem, nicht endenwollenden Jubel begrüßt worden." 24 Am 17. November wurde ein „Freikorps gegen die Reaktion" gebildet, das die Magdeburger zur moralischen Unterstützung seiner Bestrebungen und zur materiellen Ausstattung aufrief. Die breite Volksbewegung gegen den Staatsstreich der Regierung ermutigte die preußische Nationalversammlung, am 15. November dem Antrag einiger linker demokratischer Abgeordneter zuzustimmen, der dem Ministerium das Recht absprach, Steuern zu erheben. Darauf jagte preußisches Militär die gewählte Versammlung auseinander. Auch in Magdeburg kam es zu Steuerverweigerungen, und die Steuerbehörden mußten schon am 17. November den Oberpräsidenten um den Einsatz von Militär bitten, da sie sich nicht in der Lage fühlten, den bereits deutlich werdenden Tendenzen zur Verweigerung der Steuern zu begegnen. 25 Um die Märzerrungenschaften zu verteidigen, gründeten die kleinbürgerlichen Demokraten Magdeburgs am 13. Dezember 1848 den „Verein zur Wahrung der Volksrechte", der auch in anderen Städten und Gemeinden der Provinz Sachsen zahlreiche Zweigorganisationen besaß. Der Verein, an dessen Spitze WEICHSEL, P A X und UHLICH standen, unterstrich wiederholt das Recht auf Steuerverweigerung. Er bekannte sich aber zugleich zur Monarchie.26 Bei den Wahlen zur preußischen Abgeordnetenversammlung, die nach der am 5. Dezember 1848 vom König oktroyierten Verfassung am 22. Januar 1849 stattfanden, errangen die Demokraten in Magdeburg einen überwältigenden Wahlsieg. Von 222 Wahlmännern gehörten 195 der kleinbürgerlich-demokratischen Richtung an. Die Wahlmänner entschieden sich für die beiden früheren Abgeordneten der Nationalversammlung, für den Demokraten P A X und den Liberalen UNRUH. 2 7 Das wachsende Klassenbewußtsein der Arbeiter und die zunehmende politische Aktivität der Arbeiterorganisation äußerten sich im Protest gegen den unter Einfluß der liberalen Bourgeoisie zustande gekommmenen Wahlrechtsentwurf der Frankfurter Nationalversammlung, der den Arbeitern das Recht zu wählen vorenthielt. Ein Zeichen dafür, daß die Arbeiter begannen, auch in den gewerkschaftlich orientierten Vereinen die enge ökonomische Zielstellung zu überwinden und sich politischen Fragen zuzuwenden, war der Aufruf des Magdeburger Zigarrenmachergewerks „An alle Fabrikarbeiter, Handwerksgehilfen, Tagelöhner und Dienstboten". Er forderte zu Protesten gegen den arbeiterfeindlichen Wahlgesetzentwurf auf. Der Aufruf wurde auch in der von K A R L M A R X in Köln herausgegebenen „Neuen Rheinischen Zeitung" veröffentlicht. 28 Die Zigarrenmacher hatten mit ihrem Aufruf zugleich zu einer „Versammlung aller hiesigen Fabrikarbeiter, Handwerksgesellen, Tagelöhner und Dienstboten" eingeladen, in der gegen den Gesetzentwurf protestiert werden sollte. Sie fand am 21. Februar im Elb24 25 26 27 28

STAM, Rep. C 20 Ia, Nr. 679, Bd. VI: 170. Vgl. STAM, Rep. C 20 Ia, Nr. 679, Bd. VI: 258f. Vgl. Magdeburgische Zeitung vom 6. 1. 1849. Vgl. Magdeburgische Zeitung vom 6. 2. 1849. Vgl. Neue Rheinische Zeitung vom 19. 2. 1849; Magdeburgische Zeitung vom 16. 2. 1849.

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pavillon statt. Von Magdeburg ging eine Petition mit 3000 Unterschriften an die Nationalversammlung. Diese mußte unter dem Druck des vielfältigen Protestes aus vielen Orten schließlich die Gesetzesvorlage zurückziehen.29 Das Entstehen der sozialistischen Arbeiterbewegung Nach der Niederwerfung der Erhebungen in Sachsen, im Rheinland und in Westfalen durch preußisches Militär und noch während des badisch-pfälzischen Aufstandes begann die Konterrevolution im Frühsommer 1849, die demokratischen Errungenschaften der Märzrevolution zu beseitigen. Von den klassenbewußten Arbeitern wurden diese Errungenschaften, besonders die Vereinsfreiheit, zäh verteidigt. In Magdeburg wurden 1849 und 1850 mehrere neue Unterstützungskassen und Gewerkvereine gegründet. Die bedeutendsten Organisationen waren der Maschinenbauarbeiterverein, der Verein der Porzellanverfertiger, der Verein der Handschuhmacher, der Gutenbergbund der Buchdruckergesellen und die Unterstützungskassen der Zuckersieder und Zuckerfabrikarbeiter. Von Magdeburg gingen Initiativen zur Zusammenfassung gewerkschaftlicher Organisationen für alle deutschen Staaten aus. Das Fabrikkomitee der Buckauer und Magdeburger Porzellanarbeiter wandte sich z. B. am 12. Oktober 1850 an die Arbeiter aller deutschen Prozellan- und Steingutfabriken mit dem Aufruf, die Gründung einer nationalen Organisation ihrer Berufsgruppe vorzubereiten. In Magdeburg befand sich die Zentrale des Bundes deutscher Handschuhmachergesellen, in dem sozialistische Auffassungen verbreitet wurden.80 Die fortdauernde Aktivität der Arbeiterbewegung und der demokratischen Organisationen veranlaßte die preußische Polizei schon 1849 zu einer verschärften Überwachungstätigkeit. Am 11. März 1850 wurde das Vereinsrecht auf dem Gesetzeswege weitgehend eingeschränkt. Dieses Gesetz, das bis zum Jahre 1900 und in bedeutenden Teilen noch darüber hinaus Gültigkeit behielt, verbot politischen Vereinen, miteinander in Verbindung zu treten. Alle Vereine hatten ihre Statuten und Mitgliederlisten den Polizeibehörden einzureichen. Versammlungen mußten genehmigt werden und wurden von der Polizei überwacht. Die Magdeburger Polizei bemühte sich nach Kräften, entsprechende Anhaltspunkte und Vorwände für das Verbot der Arbeiterorganisationen und der demokratischen Vereine zu finden. Das gelang ihr allerdings nur in wenigen Fällen. Dagegen lösten sich ohne besondere Veranlassung die Bürgerwehr und die konstitutionellen Klubs der Bourgeoisie von selbst auf. Da die Konterrevolution die Arbeiterbewegung und auch die kleinbürgerlich-demokratische Bewegung mit legalen Mitteln nicht zu unterdrücken vermochte, bediente sie sich der Verleumdung. Der erste Schlag richtete sich schon damals gegen die konsequentesten Verfechter des gesellschaftlichen Fortschritts, gegen die Kommunisten. Die antikommunistische Hetze sollte den Deckmantel für die Knebelung des Volkes abgeben. Unter Ausnutzung der vom „Bund der Kommunisten" im September 1850 ausgeschlossenen Fraktion SCHAPPER-WILLICH, die der Polizei durch Revolutionsspielerei in die Hände arbeitete, bereitete die preußische Konterrevolution einen Schauprozeß gegen die Kommunisten vor. Auch die Magdeburger Bundesgemeinde war im Jahre 1851 unter den Einfluß der 29 30

Vgl. Magdeburgische Zeitung vom 16. 2., 20. 2. und 23. 2. 1849. Vgl. STAM, Rep. C 28 Ia, Nr. 571; STAM, Rep. C 28 Ia, Nr. 792: 76ff.

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Fraktion SCHAPPER-WILLICH geraten, nachdem sie zuvor von einem Emissär jener Gruppe, dem Schneidergesellen AUGUST QEBERT, aufgesucht worden war. KARL MARX berichtet darüber: „Die preußische Polizei war vollständig über die Person, den Tag der Abreise und die Reiseroute des Emissärs unterrichtet... In den geheimen Versammlungen, die er zu Magdeburg hält, waren ihre Spione zugegen und berichteten über die Debatten. Die Freunde der Kölner [der auf den Positionen des wissenschaftlichen Sozialismus stehenden Organisation des Bundes, deren Zentralbehörde sich in Köln befand — H. A.] in Deutschland und London zitterten." 31 Der Kölner Kommunistenprozeß in den Monaten Oktober und November des Jahres 1852 gab den Auftakt zur Beseitigung der letzten von den Volksmassen in der Revolution erkämpften demokratischen Freiheiten. Trotz fehlender Beweise verurteilte das Gericht sieben Angeklagte zu insgesamt 36 Jahren „Einschließung". Unter den geladenen Zeugen befanden sich auch die Magdeburger Schneider BECK und MAU. Bei BECK war ein Brief des Hauptangeklagten Dr. ROLAND DANIELS gefunden worden. BECK, der einige der Angeklagten persönlich kannte, belastete diese in keiner Weise. 32 Eine Zeit schlimmster politischer Reaktion begann. Die Erinnerung an die Errungenschaften und Ziele der Revolution von 1848/49 blieb aber wach. Mit der Wirtschaftskrise von 1857 und der Entwicklung der politischen Krise seit Ende der fünfziger Jahre begann sich auch die organisierte Arbeiterbewegung wieder zu beleben.33 Im Jahre 1863 ergriffen einige Magdeburger Arbeiter, darunter der Schneider JOHANN MÜNZE (gestorben 1868) und der Böttcher JULIUS BREMER (1828—1894), die Initiative zur Gründung eines Arbeiterbildungsverereins. Es gelang kleinbürgerlich-liberalen Intellektuellen um UHLICH und Dr. MAX HIRSCH, die Führung der Organisation an sich zu reißen und die Tätigkeit des Vereins entsprechend den Wünschen und Forderungen der Magdeburger Bourgeoisie zu regulieren. FRANZ MEHRING schreibt in seiner „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie": „In Magdeburg belehrten die Arbeiter der freigemeindliche Prediger Uhlich, ein ehrenwerter Charakter, aber ein politischer Konfusionsrat, ihm zur Seite Max Hirsch, ein junger Mann aus einem großen Produktengeschäft, guter Kerl und schlechter Musikant, nicht ohne eine Art schwächlichen Interesses für das Proletariat, und deshalb für die Bourgeoisie stets mit einem leichten Makel befleckt, aber viel zu eitel, um sich der Arbeiterklasse in Reih und Glied anzuschließen, und lange nicht selbstbewußt genug, um nicht vor jedem Stirnrunzeln zusammenzuknicken." 34 JOHANN MÜNZE bemerkte 1865, daß es leichter gewesen wäre, die Magdeburger Arbeiter organisatorisch, politisch und ideologisch von der Bourgeoisie und vom Kleinbürgertum zu lösen, „wenn die Arbeiter nicht so sehr an ihrem alleinseeligmachenden Bildungsverein hingen, denn es muß durchaus ein Doktor oder sonst ein Advokat sein, der ihnen Vortrag hält, wann der Maikäfer, der Storch und der Kuckuck kommt und wie das Gras wächst". 35 Im Jahre 1865 umfaßte der Magdeburger Arbeiterbildungsverein 1187 zahlende Mitglieder. 38 31 32 33

34 35 36

MARX, 1960 (1853): VIII, 463. Vgl. BITTEL, 1955: 113. Vgl. zum Folgenden: DLUBEK/HERRMAN, 1962: 189ff.; ASMUS/STEINMETZ/TULLNER, 1969; 1 7 f f . ; ASMUS, 1975b: 182ff. MEHRING, 1960: 18; vgl. auch SEEBER, 1966: 770ff. Social-Demokrat, Der, vom 1 1 . 1 . 1865. Vgl. Allgemeine deutsche Arbeiterzeitung vom 12. 2. 1865.

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JOHANN MÜNZE hatte dem „Bund der Kommunisten" nahegestanden, ihm vielleicht sogar angehört. Die Gründung des Bildungsvereins hatte er, wie er selbst schrieb, gerade deswegen unterstüt2t, um in ihm „die Grundsätze zu verfechten, die in der Zeit von 1848 bis 1852 [Jahre des Wirkens des „Bundes der Kommunisten" — H. A.] verbreitet wurden". 37 Wie andere Arbeiter war er mit der Bevormundung durch die bürgerlichen Liberalen unzufrieden. Er trat dem Lassalleschen „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein" bei, der 1863 einen Teil der Arbeitervereine vom Einfluß der Bourgeoisie gelöst hatte, den Kampf des Proletariats aber zugleich durch seine opportunistischen Auffassungen und Zielsetzungen desorientierte. 1864 gründete JOHANN MÜNZE mit anderen Arbeitern die Magdeburger Gemeinde des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins". Nachdem JOHANN MÜNZE schon länger gegen die sektiererischen Auffassungen des Lassalleanismus und die undemokratischen Praktiken der Lassalle-Nachfolger opponiert hatte, nahm er Anfang 1866 Verbindung mit JOHANN PHILIPP BECKER (1809—1886) in Genf auf. Der „achtundvierziger" Revolutionär BECKER unterstützte K A R L M A R X , der im Generalrat der I. Internationale korrespondierender Sekretär für Deutschland war. M A R X bemühte sich nach dem Londoner Kongreß der I. Internationale im September 1865, die fortgeschrittensten Angehörigen der deutschen Arbeiterorganisationen als Einzelmitglieder der I. Internationale zu gewinnen. Er wirkte zugleich auf ihren Zusammenschluß zu örtlichen Sektionen hin. Die Gewinnung von Einzelmitgliedern sowie die Bildung von örtlichen Sektionen wurden seit Ende 1 8 6 5 durch JOHANN PHILIPP BECKER von der Schweiz aus betrieben. Vornehmlich zu diesem Zweck gründete er Anfang 1866 eine eigene Monatsschrift für die deutschsprachige Sektionsgruppe der Internationale, den „Vorboten". JOHANN MÜNZE, der neben dem „Vorboten" auch regelmäßig anderes Agitationsmaterial der Internationale von BECKER erhielt, trat Ende 1866 der Internationale bei. Wenig später gründete er in Magdeburg eine der ersten örtlichen Sektionen der „Internationalen Arbeiterassoziation" in Deutschland. Der Magdeburger Sektion gehörten zunächst weniger als ein Dutzend fortgeschrittene Arbeiter an. Neben dem Schneider JOHANN MÜNZE waren der Böttcher JULIUS BREMER, der Eisendreher WILHELM K L E E S , der Büchsenmacher AUGUST PROBST und der Uhrmacher WILHELM WELLNER die rührigsten Mitglieder der Sektion. Die Sektion knüpfte Verbindungen zu Mitgliedern des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins" in Braunschweig (WILHELM BRACKE) und in Hildesheim. Sie gewann neue Mitglieder für die Internationale und förderte die Gründung der Sektion Wolfenbüttel. Die Magdeburger Sektion war eine der aktivsten in Deutschland. Auf den Kongressen der Internationale, auf denen sie sich aus Mangel an eigenen Mitteln durch andere Delegierte vertreten ließ, fand ihr Wirken in den Berichten der Sektionsgruppe deutscher Sprache stets Erwähnung. Die Magdeburger Sektion der I. Internationale konnte im Juli 1868 eine öffentliche und von der Bourgeoisie unabhängige Arbeiterorganisation als Forum ihres Wirkens schaffen, den „Sozialen Reformverein Magdeburger Arbeiter". Zum Vorsitzenden des Vereins wurde JULIUS BREMER gewählt. Mit WILHELM WELLNER und WILHELM K L E E S befanden sich weitere führende Mitglieder der Sektion im Vorstand der neuen Organisation. Ihre Mitgliederzahl wuchs von 32 im Juli auf etwa 100 im September und 200 im November 1868 an. Öffentliche Versammlungen mit mehr als tausend Besuchern lenkten bald die Aufmerk37

Social-Demokrat, Der, vom 11. 1. 1865.

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samkeit der preußischen Behörden auf den Verein. Die unter den schwierigen Bedingungen eines besonders scharfen Polizeiterrors und bedeutender Aktivitäten liberaler Kräfte verlaufende Loslösung von der Bourgeoisie konnte vor allem durch das Eindringen des Marxismus erfolgreich gestaltet werden. Die Magdeburger Internationalisten unterstützten 1869 aktiv die Agitation AUGUST BEBELS für die Herstellung der Einheit der deutschen Arbeiterbewegung. Bei der unmittelbaren Vorbereitung der Gründung einer revolutionären Massenpartei der deutschen Arbeiterklasse spielten die Magdeburger Sozialisten eine bedeutende Rolle. Sie wurden auf Grund ihrer marxistischen Positionen, ihrer persönlichen Kontakte besonders zu AUGUST BEBEL und WILHELM BRACKE und auch wegen der geographischen Lage Magdeburgs zu einem Zentrum der deutschen Arbeiterbewegung und zu einem Bindeglied zwischen dem „Verband deutscher Arbeitervereine" und der revolutionären Opposition im „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein". Die entscheidende Beratung beider Gruppen fand in Magdeburg statt. AUGUST BEBEL berichtet in seinen Memoiren: „Am 22. Juni abends trafen wir uns — Bracke, SpierWolfenbüttel, York-Harburg, Liebknecht und ich — in einem Gasthaus dritter Güte in Magdeburg. Die Verhandlungen zogen sich in die Länge. Bracke und Bremer waren für sofortiges Losschlagen gegen Schweitzer und Austritt aus dem , Allgemeinen Arbeiterverein'. Spier und York hatten große Bedenken... Schließlich wurden wir einig. Es war Mitternacht, als der prächtige Bracke sich über das in der Wirtsstube stehende Billard streckte, um auf demselben den Aufruf niederzuschreiben, für den alsdann Unterschriften für die Einberufung eines Kongresses gesammelt werden sollten."38 Den historischen Aufruf zur Bildung einer einheitlichen revolutionären deutschen Arbeiterpartei unterzeichneten als erste die leitenden Magdeburger Genossen.39 Auf dem Eisenacher Kongreß, der vom 7. bis 9. August 1869 tagte und die deutsche revolutionäre Massenpartei ins Leben rief, traten JULIUS BREMER und WILHELM K L E E S entschieden für eine Partei mit revolutionärer Politik und demokratischer Organisation ein. Von der Gründung der ersten Arbeiterpartei (1869) bis zu ihrem Verbot (1878) Die Gründung der Eisenacher Partei, der ersten revolutionären Massenpartei des Proletariats, war ein historischer Sieg der Lehren von K A R L M A R X und FRIEDRICH ENGELS. Damit erhielten die deutsche Arbeiterklasse und das deutsche Volk eine Führungskraft im Kampf gegen den reaktionären junkerlich-bourgeoisen Ausbeuterblock und für die Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Am 6. September 1869 wurde der „Sozialdemokratische Arbeiterverein für Magdeburg" gegründet, dessen Vorsitz JULIUS BREMER übertragen wurde. Im Herbst 1869 und im Frühjahr 1870 machte sich die Magdeburger Organisation der Eisenacher Partei in einer ganzen Reihe von Versammlungen mit theoretischen Fragen des Marxismus bekannt. BREMER, K L E E S , BRACKE, von BORNHORST u. a. vermittelten vor allem Grundgedanken des „Kapitals" von K A R L M A R X . 4 0 38 39 40

21

BEBEL, 1961: 288f. Vgl. Geschichte ... Arbeiterbewegung, 1966: 577ff. V g l . BURSIAN, 1 9 6 8 : 1 1 7 f f . AK, Landarbeitet II

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Der Aufschwung der ökonomischen und politischen Bewegung der Magdeburger Arbeiter erfuhr durch den Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 eine jähe Unterbrechung. Der „Sozialdemokratische Arbeiterverein" vermochte seine Tätigkeit unter dem Eindruck der Verhaftung des Vorstandes der Partei nicht sofort den neuen Bedingungen anzupassen. Die von K A R L M A R X und F R I E D R I C H E N G E L S ausgearbeitete politische Linie, das napoleonische Regime als Gegner der Schaffung eines bürgerlichen deutschen Nationalstaates zu bekämpfen, den streng defensiven Charakter des Krieges aber zu wahren, ließ die Magdeburger Sozialisten bald die richtige Einstellung finden. Nach der Schlacht bei Sedan, als der Krieg von Seiten Preußen-Deutschlands mit offenen Eroberungsabsichten fortgesetzt wurde, setzten sie sich mutig für eine sofortige Beendigung des Krieges ein. Sie verurteilten entschieden die Annexion Elsaß-Lothringens. 41 Nach der grausamen Niederwerfung der Pariser Kommune und der Gründung des deutschen Kaiserreiches 1871 verlagerte sich das Schwergewicht der Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland. Die Partei der Arbeiterklasse — die Eisenacher Partei — stand bei der Ausarbeitung des konkreten Weges zur politischen Macht vor neuen Fragen. Wie L E N I N schrieb, waren in der Epoche von 1871 bis zur Jahrhundertwende „die Bedingungen für eine unmittelbar revolutionäre Bewegung... ganz und gar verschwunden". 42 Das revolutionäre Nahziel konnte nur darin bestehen, alle progressiven Kräfte des deutschen Volkes im Ringen um eine demokratische Republik zu vereinigen. Wenngleich diese Republik zunächst nur einen bürgerlichen Klasseninhalt haben konnte, so bildete sie doch die • entscheidende Ausgangsbasis für die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse. Die Stellung zur Pariser Kommune wurde zu einem entscheidenden Kriterium der Klassenkämpfe in den europäischen Ländern, an dem sich auch der proletarische Internationalismus zu bewähren hatte. Während eine insbesondere von der natiönalliberalen „Magdeburgischen Zeitung" entfachte Welle des Nationalismus und Chauvinismus, die einem Rufmord gegenüber der Sozialdemokratie und allen demokratischen Kräften gleichkam, jedwede politische Meinungsbildung zu überspülen drohte, begann der Sozialdemokratische Arbeiterverein auf nichtöffentlichen Begegnungen, die geschichtliche Wirkung der Pariser Kommune als eine Staatsmacht der Arbeiterklasse zu erfassen. Leidenschaftlich bekannten sich die Magdeburger Sozialisten zum Kampf der Kommunarden, verteidigten sie die proletarischen Helden gegen die Verleumdungen der Reaktion. Angesichts der chauvinistischen Verhetzung breiter Massen gehörte viel Mut dazu, wie J U L I U S B R E M E R offen auszusprechen, daß seine Ansichten mit den Ansichten der Pariser Kommune durchaus übereinstimmten. Die Mitglieder des Sozialdemokratischen Arbeitervereins, die selbst unter den drückenden sozialen Verhältnissen lebten, sammelten in kurzer Zeit neunzehn Taler, um Kommuneflüchtlingen zu helfen. Das Bekenntnis zur Pariser Kommune bedeutete für die Magdeburger Arbeiterbewegung in den folgenden Jahrzehnten die bewußte Pflege einer Tradition, die gegenüber dem Chauvinismus der herrschenden Klassen und den militaristischen Sedanfeiern ein Fundament für die Erziehung der Massen zum proletarischen Internationalismus wurde. 43 Gestützt auf ihr wachsendes Ansehen bei den Massen der Stadt, errang die Organisation » Vgl. STAM, Rep. C 29, Tit. III, Nr. 11, Bd. I: 192f. Vgl. L E N I N , 1 9 6 2 ( 1 9 1 0 / 1 9 1 1 ) : XVII, 1 7 2 . 43 Vgl. auch zum Folgenden: A S M U S / B U R S I A N / M A D E R , 1975:191 ff.;

42

1 9 6 9 : 2 9 f f . ; BURSIAN, 1 9 6 9 .

ASMUS/STEINMETZ/TULLNER,

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der Eisenacher in Magdeburg bei der Reichstagswahl am 10. Januar 1874 einen politischen Erfolg. Sie ging als zweitstärkste Partei aus dem Wahlgang hervor. Alle späteren Reichstagsentscheidungen der siebziger und achtziger Jahre in der Elbestadt wurden von nun an im wesentlichen zwischen den Sozialdemokraten und den Nationalliberalen ausgetragen. Außer ihnen erlangte in Magdeburg lediglich die Fortschrittspartei Bedeutung, die sich auf Teile der mittleren Bourgeoisie und besonders des Kleinbürgertums stützte. Die Konservativen und das Zentrum besaßen in der Elbestadt keinen nennenswerten Einfluß. Nach der Vereinigung der Eisenacher Partei und des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins im Jahre 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, in deren in Gotha konstituierten Vorstand auch der Magdeburger Arbeiterführer WILHELM KLEES gewählt wurde, wuchs der politische Einfluß der Arbeiterbewegung der Elbestadt weiter an. Nach dem Vorbild der Braunschweiger Parteiorganisation wurde im April 1876 in Magdeburg ein Sozialistischer Wahlverein als örtliche Vereinigung der Sozialistischen Arbeiterpartei gegründet. Entscheidend für die weitere sozialistische Agitation und Propaganda in Magdeburg war die Herausgabe der ersten proletarischen Zeitung, der „Magdeburger Freien Presse", seit dem 1. Oktober 1876. Die Zeitung wurde über die Stadtgrenzen hinaus auch in den nahe gelegenen ländlichen Gebieten verbreitet und ergänzte wirksam die Versammlungstätigkeit des Sozialistischen Wahlvereins. Hervorragend war ihr Wirken bei der Popularisierung neuer Kampfformen und Kampfebenen, indem sie den Arbeitern das von der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion eingebrachte Arbeitsschutzgesetz erläuterte, sich um die Lösung kommunalpolitischer Fragen Magdeburgs und Buckaus bemühte und sich auch der Landagitation zuwandte. Ihre bedeutendste Leistung bestand in der Verbreitung des wissenschaftlichen Sozialismus in der Magdeburger Arbeiterbewegung. Den wachsenden Bedürfnissen des Proletariats, sich mit theoretisch-weltanschaulichen Fragen zu beschäftigen, trug sie durch die Auswertung des. „Anti-Dühring" von FRIEDRICH ENGELS in Leitartikeln und anderen Beiträgen schon im Jahre 1877 Rechnung. Die Zeitung wurde unter großen persönlichen Opfern von den Magdeburger Sozialisten herausgegeben, die im Mai 1877 auf genossenschaftlicher Basis aus eigenen Mitteln eine Gemeinschaftsdruckerei und -buchhandlung einrichteten. Um die volksfeindliche Zoll- und Rüstungspolitik durchzusetzen, orientierte BISMARCK im Interesse der Großbourgeoisie und Junker auf die Unterdrückung aller oppositionellen Kräfte. Der erste Schlag sollte die konsequenteste Verfechterin der Volksrechte treffen, die revolutionäre Arbeiterbewegung. Da selbst willkürlich gehandhabte Strafgesetze die sozialistische Bewegung nicht ernsthaft behindern konnten, war BISMARCK ein Ausnahmegesetz recht. Dabei boten ihm zwei Attentate auf den Kaiser, an denen die den individuellen Terror verurteilende sozialistische Arbeiterbewegung völlig unbeteiligt war, willkommene Anlässe, um eine antisozialistische Hysterie zu erzeugen. Der Reichstag wurde aufgelöst, als der erste Versuch, das Ausnahmegesetz durchzupeitschen, mißlang. Ein allgemeiner Terror setzte ein. Beamte und Staatsarbeiter, die der Sozialistischen Arbeiterpartei angehörten, wurden auf ministerielle Anweisung entlassen. Die führenden Großkapitalisten Magdeburgs zwangen den Unternehmern und Handwerksmeistern der Stadt einen Beschluß auf, der die Entlassung aller Sozialdemokraten vorsah.44 Die MetallarbeitergeWerksgenossenschaft in Magdeburg, Buckau und Neustadt wurde verböten. Auf die Gastwirte übten Staatsorgane und Unternehmer Druck aus, damit sie den Sozialisten Versammlungsräume verweigerten. Mehrere Arbeiter Versammlungen Wurden von der Polizei aufgelöst. 41

V g l . S T A M , Rep. C 20 I b , Nr. 1 7 9 8 , Bd. I : 46.

21*

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Asmus Magdeburger Arbeiterbewegung unter dem Sozialistengesetz

Am 21. Oktober 1878 trat das Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie in Kraft. Die revolutionären Sozialisten sahen sich einer komplizierten Situation gegenüber. Sie mußten den illegalen Kampf gegen das Ausnahmegesetz organisieren und zugleich die wenigen noch verbliebenen legalen Möglichkeiten nutzen. Eine derartige konsequente Politik konnten sie aber nur nach Überwindung opportunistischer und anarchistischer Schwankungen durchsetzen. Kleinbürgerlich-opportunistische Kräfte in der Parteiführung kapitulierten vor dem Terror und erklärten den Parteivorstand noch vor Inkrafttreten des Ausnahmegesetzes für aufgelöst. Diesem Beispiel folgten die Parteiorganisationen in einigen großen Städten, darunter auch in Magdeburg. Allerdings waren in der Elbestadt damit zugleich Maßnahmen zu einer geordneten Uberführung der Partei in die Illegalität verbunden. Die Magdeburger illegale Organisation besaß eine zielklare Führung in JULIUS BREMER, WILHELM HABERMANN und WILHELM K L E E S sowie in Ausgewiesenen aus anderen Städten, die sich in Magdeburg angesiedelt hatten. In einem Bericht über die sozialistische Bewegung in Deutschland nannte der Berliner Polizeipräsident am 11. Dezember 1878 den Magdeburger Reg.-Bez. an erster Stelle unter den Gebieten Deutschlands, in denen die sozialistische Lehre trotz des Ausnahmegesetzes eine außerordentliche, ungeahnte Ausdehnung erführe. Bei den Reichstagsersatzwahlen in Magdeburg im Dezember 1879 bewies die Partei ihren ungebrochenen Einfluß. Mit 7308 Stimmen für ihren Kandidaten erreichte sie nicht nur die bis dahin größte Stimmenzahl, sie rückte auch ganz dicht an den nationalliberalen Kandidaten heran, für den 8453 Stimmzettel ausgegeben worden waren. Mit der Herausgabe eines illegalen Parteiorgans, des „Sozialdemokrat", in der Schweiz unter tatkräftiger Mithilfe von K A R L M A R X und FRIEDRICH ENGELS verfügte die Parteiführung über ein Mittel, die illegalen Organisationen anzuleiten. Nach dem Kongreß in Wyden/Schweiz im August 1880, an dem auch Magdeburger Delegierte teilgenommen hatten, erfuhr der Kampf einen bedeutenden Aufschwung, die Periode der Verwirrung war beendet. Der Kongreß orientierte die Partei auf eine eindeutig revolutionäre Taktik. In den Mittelpunkt rückte die Festigung der Organisationen und die Verstärkung der Agitation unter den Arbeitern. Die Magdeburger Sozialisten schufen sich in der „Corpora" ein elastisches Führungsinstrument, das die Ideen des Marxismus unter den Arbeitern verbreitete. Die „Corpora" trat jedesmal zur Lösung einer bestimmten Aufgabe mit einem dafür geeigneten Personenkreis zusammen und löste sich danach wieder auf, um zu einem späteren Zeitpunkt mit einem anderen Gegenstand und veränderten Personenkreis erneut einberufen zu werden. Vergeblich suchte die Polizei jahrelang, diese „innere Organisation" zu fassen. Die Beschlüsse wurden von den Teilnehmern dann in legalen Organisationen, wie Hilfskassen, Vergnügungs-, Rauch- und Tierzuchtvereinen, unter die Massen der Parteimitglieder und der sympathisierenden Arbeiter getragen. Eine wichtige Aufgabe bestand in der Verbreitung des illegalen „Sozialdemokrat". Das Ergebnis der Reichstagswahl von 1881, über 300000 Stimmen und 12 Abgeordnetensitze für die Sozialdemokratie, war die erste große Niederlage BISMARCKS. Die herrschenden Klassen sahen sich veranlaßt, die Unterdrückungsmethoden zu ändern. Der Peitsche folgte das Zuckerbrot; die Zeit der sogenannten milden Praxis begann. Mit geringfügigen Zugeständnissen wie den Sozialversicherungsgesetzen hoffte BISMARCK, die Sozialdemokratie

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von der Arbeiterklasse zu isolieren. Um die Arbeiter in ihrem Sinne beeinflussen zu können, lockerte die Regierung zugleich das Versammlungs-, Vereins- und Presseverbot. Die revolutionären Kräfte in der Partei nutzten diese günstige Situation zur Gründung legaler Arbeiterorganisationen, zur Herausgabe von Flugschriften und zur Durchführung von Versammlungen. In Magdeburg entstanden verschiedene Fachvereine, die sich gewerkschaftlichen Aufgaben widmeten. Schon Anfang 1882 trat der „Verein zur Wahrung der Interessen der Tabakarbeiter" auf, der sich u. a. mit dem geplanten Krankenkassengesetz auseinandersetzte. In der Altstadt und in der Neustadt konstituierten sich Zimmerergewerke, die ebenfalls regelmäßig Versammlungen abhielten und die Sozialgesetze kritisierten. Fachvereine der Tischler, der Schneider, der Schuhmacher, der Buchbinder, der Metallarbeiter, der Fabrik- und Handarbeiter, der Maschinenbauer, der Porzellan- und Glasarbeiter folgten. In Ottersleben, Benneckenbeck und Lemsdorf entstand ein alle Berufsgruppen umfassender Fachverein unter Leitung des aus Berlin ausgewiesenen Sozialdemokraten M A X SENDIG. Der Verein setzte sich mehrfach für Lohnforderungen der Landarbeiterinnen ein. Die unermüdliche, geschickte legale und illegale Formen verbindende Arbeit der revolutionären Kräfte der deutschen Sozialdemokratie führte zum Wahlsieg von 1884. 550800 Wähler, die 24 Abgeordnete in den Reichstag entsenden konnten, schenkten der verbotenen Arbeiterpartei das Vertrauen. Darunter befand sich auch der Abgeordnete für Magdeburg, der Hutmacher AUGUST HEINE, der in der entscheidenden Stichwahl 12304 Stimmen gegenüber den 9273 für den bürgerlichen Kandidaten für sich verbuchen konnte. Zum erstenmal hatten die Magdeburger Sozialisten das Reichstagsmandat erobert. Als die junkerlich-bürgerliche Reaktion erkannte, daß sich die Arbeiter nicht ködern ließen und der Einfluß der revolutionären Sozialdemokratie weiter wuchs, leitete sie 1886 mit dem Streikerlaß des preußischen Innenministers von PUTTKAMER die letzte Etappe des Sozialistengesetzes ein, die durch verschärften Terror gekennzeichnet war. Streiks und Arbeiterversammlungen wurden unterdrückt, die Fachvereine aufgelöst. Jedoch die gut organisierte und politischideologisch gefestigte illegale Parteiorganisation bestand auch diese Probe. In Magdeburg kam es 1887 trotz Streikverbots zu einem mehr als dreizehnwöchigen Streik der Bauarbeiter und zur Arbeitsniederlegung von 400 Tischlern. Streikposten wurden von Polizisten niedergeritten und verhaftet. Im Zusammenhang mit den Reichstagswahlen im Februar 1887 erreichte der Terror seinen Höhepunkt. Am 7. Februar, zwei Wochen vor dem Wahltermin, verhaftete die Magdeburger Polizei mit einem Schlage 36 Sozialdemokraten, meistens Arbeiter des Gruson-Werkes. Weitere zehn, die ein Spitzel denunziert hatte, nahm sie vier Tage später fest. Provokatorisch wurden friedlich von einer Wahlversammlung kommende Arbeiter von der Polizei zusammengeschlagen, und die am Wahltage auf die Wahlergebnisse wartenden Bürger trieb die mit aufgepflanztem Bajonett vorgehende Infanterie auseinander. Wenn das Reichstagsmandat 1887 wieder verlorenging, so war das allerdings nicht in erster Linie ein Ergebnis des Polizeiterrors, sondern vor allem die Folgeerscheinung der opportunistischen Politik der alten Reichstagsfraktion. Sie goß Wasser auf die Mühlen anarchistischer Kräfte, die gegen eine Beteiligung an den Wahlen aufgetreten waren und schließlich die Magdeburger Parteiorganisation gespalten hatten. Gegen die 46 vor den Wahlen verhafteten Sozialisten wurde ein „Geheimbundprozeß" angestrengt. Während 15 freigesprochen werden mußten, erhielten die anderen zusammen 164 Monate Gefängnis, die Untersuchungshaft von insgesamt 84 Monaten wurde nicht angerechnet. Unter den Verurteilten befanden sich mit BREMER, K L E E S , HABERMANN, KÖNIGSTEDT, LANKAU und SCHOCH fast alle führenden Magdeburger Funk-

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tionäre. Wie der „Sozialdemokrat" in mehreren Beiträgen nachwies, baute das Anklagematerial auf erlogenen Spitzelberichten auf. Alle Angeklagten bekannten sich während des Prozesses mutig zu den Ideen des Sozialismus. Nachdem in den Jahren 1888 und 1889 die Gewerkschaften, die fast ausschließlich von Sozialdemokraten geleitet wurden, einen neuen Auftrieb nahmen, richtete sich die Verfolgungswut der Magdeburger Polizei und Justiz auf diese Arbeiterorganisationen. Der Gewerkschaftsprozeß Ende 1889 führte zum vorläufigen Verbot von 15 Fachvereinen, die sich zu einer Generalkommission zusammengeschlossen hatten. Unter dem Vorwand, die Gewerkschaften seien „politische Vereine" und entgegen dem Vereinsgesetz „miteinander in Verbindung getreten", wurden 34 Mitglieder ihrer einheitlichen Leitung zu vielen Monaten Gefängnis verurteilt.45 Trotz Verfolgung und Unterdrückung waren der Kampfeswille und die sozialistische Überzeugung der Arbeiter nicht zu brechen.'Sichtbar wurde dies durch den großen Streik der 150 000 Steinkohlenbergarbeiter im Jahre 1889 sowie im erneuten Wahlsieg der Sozialistischen Arbeiterpartei im Februar 1890. Die Partei gewann 1427218 Stimmen. In Magdeburg eroberten sich die Arbeiter das Reichstagsmandat mit 17261 Stimmen zurück. Im März 1890 mußte BISMARCK alle seine Ämter niederlegen und damit das Scheitern des Sozialistengesetzes eingestehen. Die Grundlage des Sieges der Arbeiterklasse über die Bismarcksche Diktatur bildeten die revolutionäre Massenpartei, ihre Verbundenheit mit dem Marxismus, ihre revolutionäre parlamentarische und außerparlamentarische Politik sowie die Kämpf- und Opferbereitschaft der Arbeiterschaft. Magdeburg im kaiserlichen Vorkriegsdeutschland (1890—1914) Noch unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes stehend, entfalteten die Magdeburger Sozialisten im Jahre 1890 eine rege politische Tätigkeit. In zahlreichen Versammlungen und unter Einsatz aller ihnen damals möglichen Propagandamittel bereiteten sie die Reichstagswahl vom 20. Februar 1890 und die Stichwahl vom 20. März 1890 vor. Im Wahlkampf traten u. a. WILHELM LIEBKNECHT und AUGUST BEBEL vor den Magdeburger Arbeitern auf. Mit der Wahl ihres Kandidaten BOCK als Reichstagsabgeordneten des Wahlkreises Magdeburg konnten die Sozialisten einen Erfolg verbuchen.46 Mit den Vorbereitungen zu den Reichstagswahlen liefen die Beratungen und Versammlungen über den Ablauf des 1. Mai, der zum erstenmal als internationaler Kampftag der Arbeiterklasse begangen werden sollte. Die Magdeburger Sozialisten wollten diesen Tag mit einer großen Morgenfeier würdig gestalten. Der Parteivorstand empfahl aber, nur dort zur Arbeitsniederlegung zu schreiten, wo keine Konflikte zu befürchten seien. Das rief unter den Genossen Verwirrung und Unentschlossenheit hervor. Hinzu kam der polizeiliche Druck. Aus diesem Grunde feierte man 1890 den 1. Mai nur in Sudenburg. In den folgenden Jahren gestalteten die Magdeburger Arbeiter den 1. Mai in vielfältiger Weise zu wirklichen Kampf- und Festtagen, wobei die Hauptforderung der achtstündige Arbeitstag war. Der Polizei, die die Maifeiern stets streng überwachte, wurde dabei manches Schnippchen geschlagen. Die größte Maifeier der neunziger Jahre fand 1898 im Stadt45 46

Vgl. Von Fehden und Kämpfen ..., 1910: 1 8 f f . Vgl. zum Folgenden: MADER, 1969.

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park Schönebeck statt, an der über 10000 Arbeiterinnen und Arbeiter teilnahmen, darunter viele- Jugendliche. Am 11. August 1890 wurde der Magdeburger Sozialist WILHELM K L E E S als erster Vertreter der Magdeburger Arbeiter zum Stadtverordneten gewählt und am 25. September vom Stadtverordnetenvorsteher in sein Amt eingeführt. Von diesem Zeitpunkt an konnte die sozialistische Arbeiterbewegung im Magdeburger Stadtparlament wirksam werden. Dem einen sozialistischen Stadtverordneten folgte 1892 JULIUS BREMER als zweiter. Am Ende des Jahrzehnts hatten sich die Magdeburger Arbeiter fünf Sitze erobert. Die Magdeburger Sozialisten bereiteten gemeinsam mit ihren Genossen im übrigen Reichsgebiet auch bei den Reichstagswahlen den bürgerlichen Parteien eine Niederlage nach der anderen und sorgten dafür, daß der Wahlkreis Magdeburg in den Händen der Sozialdemokratie verblieb. Im Jahre 1893 wurde WILHELM KLEES und 1898 WILHELM PFANNKUCH Reichstagsabgeordneter für den Magdeburger Wahlkreis. Von 1893 an waren Mitglieder der Arbeiterpartei als Beisitzer im Magdeburger Gewerbegericht tätig. Man nutzte diese Einrichtung, um — soweit überhaupt möglich — bei Streitigkeiten zwischen Fabrikbesitzern, Handwerksmeistern und Arbeitern in arbeitsrechtlichen Fragen die Interessen der Arbeiter wahren und durchsetzen zu helfen. Der Sozialdemokratische Ortsverein in Magdeburg wurde entsprechend dem Hallenser Statut der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands von einem Vertrauensmann geleitet. Die bekanntesten Vertrauensleute der neunziger Jahre waren WILHELM M E Y E R , CARL LANKAU und ALBERT VATER. Dem Vertrauensmann standen alte, erfahrene Genossen wie JULIUS BREMER und WILHELM K L E E S zur Seite. Für spezielle Aufgaben wurden Kommissionen gebildet, die den Vertrauensmann in seiner Tätigkeit unterstützten. Schon vor dem Fall des Sozialistengesetzes am 1. Oktober 1890 waren in den einzelnen Stadtteilen sozialdemokratische Arbeitervereine gegründet worden. Für die Magdeburger Arbeiterbewegung war die Gründung einer eigenen Tageszeitung, der „Volksstimme", am 1. Juli 1890 besonders bedeutsam. Der Entschluß, eine eigene Zeitung herauszugeben, war auf einer Beratung im März 1890 gefaßt worden, an der der Zimmerer ADOLF SCHULTZE, der Dreher CARL LANKAU, der Zimmerer WILHELM LAUBEN, der Maurer K A R L SCHOCH und die Schuhmacher MEYER und BROSE teilnahmen. Von der Reichstagswahl waren noch 3000 Mark in der Parteikasse übriggeblieben. Dieses Geld bildete den finanziellen Grundstock für die Gründung des Blattes. Im Jahre 1897 war das Bündnis von Junkertum und Großbourgeoisie entsprechend den Bedingungen des seiner vollen Ausformung entgegengehenden Imperialismus erneuert worden. Die sogenannte Sammlungspolitik diente der verschärften wirtschaftlichen Ausplünderung und politischen Unterdrückung des deutschen Volkes. Sie bildete eine wichtige Phase in der Vorbereitung des deutschen Militarismus auf die Neuaufteilung der Welt durch einen imperialistischen Weltkrieg. Das äußerte sich in den ersten Jahren des 20. Jh. besonders in der Flottenrüstung, die vornehmlich monopolkapitalistischen Interessen entsprach, und in der Erhöhung der Landwirtschaftszölle, die in erster Linie den Großgrundbesitzern zugute kam.47 Die Flotten- und Zollpolitik der kaiserlichen Regierung bestimmte in bedeutendem Maße auch das öffentliche Leben Magdeburgs von 1900 bis 1903. Schon bevor die Regierung am 25. Januar 1900 die zweite Flottenvorlage veröffentlicht hatte, die vorsah, die Schlachtflotte gegenüber dem erst im Jahr zuvor verabschiedeten großen Rüstungsprojekt zu ver47

Vgl. zum Folgenden: ASMUS, 1 9 6 8 : 1 , II; ASMUS/DILLMANN, 1975: 223ff.

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doppeln, entfalteten bourgeoise Parteien und Verbände eine chauvinistische Propagandakampagne. Die nationalistisch-expansionistische Welle erreichte im Sommer des Jahres 1900 einen Höhepunkt, als die Magdeburger Bourgeoisie der imperialistischen Intervention in China zujubelte. Sowohl die in Magdeburg tonangebende großbürgerliche Nationalliberale Partei und ihr einflußreiches Organ, die „Magdeburgische Zeitung", als auch die mehr kleinbürgerlich orientierte Freisinnige Vereinigung und der ihr nahestehende „Generalanzeiger" nahmen die vom Reichskanzler von BÜLOW proklamierte Forderung des deutschen Imperialismus nach einem „Platz an der Sonne" begeistert auf. Unter schwierigen Verhältnissen organisierten die Magdeburger Sozialdemokraten eine breite Protestbewegung der Arbeiter gegen die volksfeindliche Rüstungspolitik. Sie versicherten sich dabei der unmittelbaren Unterstützung der hervorragendsten Führer der SPD. ROSA LUXEMBURG wies schon am 22. November 1899 in einer großen Volksversammlung nach, daß die einzigen Interessenten an der Flottenrüstung „Krupp und Genossen" waren, die Kosten aber einzig und allein zu Lasten der Werktätigen gingen.48 Vor Tausenden, die glücklich waren, Einlaß in den großen Saal des „Luisenparks" gefunden zu haben, entlarvte AUGUST BEBEL am 18. Januar 1900, daß der Flottenbau nicht der Verteidigung Deutschlands, sondern der Aggression diene. Er wies nach, daß der Militarismus zugleich den „inneren Feind", die Arbeiterklasse und alle anderen friedliebenden und demokratischen Kräfte, niederhalten sollte. Nur die Beseitigung des Kapitalismus könne Militarismus und Kriege aus der Welt schaffen.49 Nachdem die großbürgerlich-junkerliche Mehrheit des Reichstages dem die internationale Situation außerordentlich verschärfenden Flottengesetz im Juni zugestimmt hatte, sprach am 18. Juli 1900 KARL LIEBKNECHT in Magdeburg. In einer der ersten Volksversammlungen des am 14. Juni gegründeten Sozialdemokratischen Vereins für Magdeburg und Umgebung unterstrich er den gerechten Charakter des Kampfes des chinesischen Volkes gegen die imperialistischen Interventen, die wenige Tage zuvor zur Niederschlagung eines nationalen Volksaufstandes in China eingefallen waren.60 In Deutschland hatte sich nach der Jahrhundertwende die weitere Zuspitzung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit besonders im Crimmitschauer Textilarbeiterstreik 1903/04 und im Ruhrbergarbeiterstreik zu Beginn des Jahres 1905 dokumentiert. Die Magdeburger Arbeiter erklärten sich in zahlreichen Veranstaltungen mit den Streikenden solidarisch und überwiesen bedeutende Geldbeträge. (Tabelle 10) Der Ausbruch der russischen Revolution am 22. Januar 1905 beflügelte zunächst die Magdeburger Arbeiter bei der Vorbereitung und Durchführung ihrer ökonomischen Kämpfe mit den Kapitalisten, die zum Teil mit großer Härte geführt wurden. Am 3. März veröffentlichte die „Volksstimme" eine Adresse russischer Arbeiter mit der Aufforderung, die Lieferung von Waffen nach Rußland zu verhindern. Der Aufruf wurde besonders den Rüstungsarbeitern des Krupp-Gruson-Werkes und der Polteschen Patronenfabrik zur Beachtung empfohlen. Am 4. März appellierte der Vorstand des Sozialdemokratischen Vereins an die tätige Solidarität mit den russischen Revolutionären. „Fällt der russische Absolutismus..., dann muß auch bei uns die demokratische, sozialistische Bewegung einen mächtigen Impuls erfahren. Bei dieser Sachlage entsteht 48 49 50

Vgl. Volksstimme vom 24.11. 1899. Vgl. Volksstimme vom 2 1 . 1 . 1900, 1. Beilage. Vgl. STAM, Rep. C 29, Tit. III, Nr. 6, Bd. V: 252.

Politische Entwicklung Magdeburgs

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für die deutschen Arbeiter die Pflicht, ihre russischen Brüder nach besten Kräften zu unterstützen".81 In den Betrieben, in Versammlungen, bei geselligen Veranstaltungen im größeren und engeren Kreis spendeten Magdeburger Arbeiter mehrere tausend Mark für ihre russischen Klassenbrüder. Die einhellige Zustimmung der deutschen Sozialdemokratie zur russischen Revolution wurde jedoch in dem Moment von den Opportunisten verraten, als die klassenbewußten, von den marxistischen Linken in der SPD geführten Arbeiter forderten, die vom russischen Proletariat erprobten neuen außerparlamentarischen Kampfmethoden anzuwenden. Auch in Magdeburg brach 1905 der Gegensatz zwischen der revolutionärproletarischen und der opportunistisch-bürgerlichen Klassenlinie in der Arbeiterbewegung in Diskussionen über den politischen Massenstreik offen auf.52 Tabelle 10 Anzahl der Streiks, der streikenden und der ausgesperrten Magdeburger Arbeiter in den Jahren von 1899 bis 190668 Jahr

1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906

Zahl der Beteiligten an Streiks

Lohnkämpfen ohne Arbeitseinstellung

452 1589 614 323 727 2550 3263 5120

5464 18276 4165 9180 10378 8326 17788 16104

von Aussperrungen betroffene Arbeiter

444 1292 699 519 650 570 2898 3663

Schon bei der Vorbereitung und Auswertung der Parteitage der SPD 1899 in Hannover und 1 9 0 3 in Dresden, auf denen die revisionistischen Auffassungen BERNSTEINS entschieden zurückgewiesen worden waren, hatte es in der Magdeburger Parteiorganisation einige heftige Auseinandersetzungen gegeben, in denen ebenfalls der politische Massenstreik erörtert wurde. Die wenigen Anhänger des Revisionsismus erlitten dabei eine eindeutige Abfuhr. Aber gerade 1903 brachte sie die Redaktion der „Volksstimme" und wichtige Positionen der Schulungsarbeit in Partei und Gewerkschaften in ihre Hände. Es bildete sich das für die weitere Entwicklung der Magdeburger Arbeiterbewegung verhängnisvolle „Triumvirat". Zu ihm gehörten, der Redakteur der „Volksstimme", Dr. AUGUST MÜLLER — 1 9 1 6 erster Sozialdemokrat in einer obersten Reichsbehörde —, HERMANN BEIMS — bis 1 9 0 6 Sekretär des Gewerkschaftskartells, anschließend Sekretär des Bezirksverbandes der SPD — und der Rechtsanwalt Dr. OTTO LANDSBERG — 1918/19 Mitglied des konterrevolutionären Rates der Volksbeauftragten.64 61 52 43 54

Volksstimme vom 5. 3. 1905. Vgl. auch zum Folgenden: ASMUS, 1967a. ASMUS, 1968: II, 7 9 f f . Vgl. zu dieser Problematik bei ASMUS, 1 9 6 8 : 1 , 79ff. und 289ff.

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Asmus

LANDSBERG und die Redaktion der „Volksstimme" verwahrten sich am 18. März 1905 — aus Anlaß der traditionellen Gedenkfeier für die Revolution von 1848/49 und die Pariser Kommune — als erste offen gegen den politischen Massenstreik, der angeblich nur den spezifisch russischen Bedingungen entsprechen sollte. Nachdem der Kölner Gewerkschaftskongreß im Mai 1905 sogar die Diskussion über den politischen Massenstreik in den Gewerkschaften untersagt und der Maifeier den Kampfcharakter zu nehmen versucht hatte, kam es wie in anderen Arbeiterzentren auch in Magdeburg zu einer breiten revolutionären, gegen die opportunistischen Gewerkschaftsführungen gerichteten Opposition. In mehreren Mitgliederversammlungen örtlicher Gewerkschaftsorganisationen wandten sich fast alle Diskussionsredner gegen die Beschlüsse des Kölner Kongresses. Eine Sitzung des Magdeburger Gewerkschaftskartells beschloß am 13. Juli 1905 gegen den Widerstand des Vorstandes, insbesondere von BEIMS, und im Gegensatz zu den Kölner Festlegungen, eine große Versammlung zum Thema „Massenstreiks und Maifeiern" durchzuführen. Die Generalversammlung der Magdeburger Metallarbeitergewerkschaft mißbilligte schon am 25. Juni außer den Kölner Beschlüssen zugleich die zahlreichen Fälle von Willkür und Eigenmächtigkeit der Gewerkschaftsbürokratie, die versucht hatte, den Mitgliedern jede Entscheidung über die Durchführung von Streiks zu nehmen. Auch die mangelnde revolutionär-parteiliche Berichterstattung der „Volksstimme" wurde wiederholt kritisiert. Unter dem Einfluß der russischen Revolution, die mit dem Moskauer Dezemberaufstand 1905 ihren Höhepunkt erreicht hatte, wuchs die Kampfbereitschaft der deutschen Arbeiter weiter an. In den Wahlrechtskämpfen in Sachsen, Preußen und besonders mit dem ersten politischen Massenstreik Deutschlands am 16. Januar 1906 in Hamburg zeigte sich eine neue, höhere Stufe des politischen Klassenkampfes. Die Wahlrechtsbewegung in Preußen, zu deren Initiatoren die Magdeburger Arbeiter gehörten, gipfelte im „roten Sonntag" am 21. Januar 1906. Anläßlich des Jahrestages des Petersburger Blutsonntags wurde der Kampf gegen das reaktionäre Dreiklassenwahlrecht mit der Solidatität für die russischen Revolutionäre verbunden. In Magdeburg war an diesem Tage die Situation wie kaum in einer anderen Stadt Preußens zugespitzt. Die Staats- und Militärorgane hatten in mehrwöchiger intensiver Vorbereitung alles darauf angelegt, die Magdeburger Arbeiter zu provozieren und unter ihnen ein Blutbad anzurichten. Eine besonders scharfmacherische Rolle spielte der Kommandierende General des IV. Armeekorps, PAUL von HINDENBURG ( 1 9 2 5 — 1 9 3 4 Reichspräsident), der in der Stadt seinen Sitz hatte. Schon am 20. Januar glich Magdeburg einer besetzten Stadt. Die Garnison lag feldmarschmäßig in Bereitschaft, und überall standen Doppelposten. Am Sonntag früh schloß die Polizei alle Zugänge zur Innenstadt, der Straßenbahnverkehr wurde unterbrochen. Trotzdem kamen mehr als 2 0 0 0 0 Magdeburger zum Versammlungsort. Im Vertrauen auf die Führung der SPD bewahrten die Demonstranten revolutionäre Disziplin. Sie erwarteten, daß nun der politische Massenstreik zur Anwendung kommen würde. Der Parteivorstand der SPD war aber inzwischen vor der opportunistischen Gewerkschaftsführung zurückgewichen, so daß die große Massenbewegung der deutschen Arbeiter schließlich im Sande verlief. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß es — wie selbst der Kaiser eingestehen mußte — nicht zuletzt die gewaltigen Massendemonstrationen der deutschen Arbeiter gewesen sind, die die deutschen Imperialisten davon abhielten, die Marokkokrise von 1905/06 zu einem Krieg auszuweiten. 1 9 0 6 feierten trotz vielfältiger Aussperrungsdrohungen der Unternehmer rund 1 0 0 0 0 Arbeiter, darunter erstmals auch viele aus den großen Metallfabriken, den 1. Mai mit Arbeits-

Politische Entwicklung Magdeburgs

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niederlegungen. Auf dem Breiten Weg, der Hauptstraße von Magdeburg, und im Ortsteil Sudenburg versuchten die Arbeiter zum erstenmal, Straßendemonstrationen durchzuführen. Das war die bedeutendste Maifeier der Magdeburger Arbeiterschaft vor der Novemberrevolution. Den opportunistischen Kräften gelang es im Laufe des Jahres 1906, fast alle entscheidenden Positionen in der Magdeburger Parteiorganisation an sich zu reißen. Unter der demagogischen Losung von der „Einheit der Partei" hatten sie zahlreiche Parteimitglieder verwirrt und die Kritik an ihrem immer raffinierteren antirevolutionären Verhalten unterdrückt. Manche Funktionäre, die bis zu dieser Zeit den revolutionären Traditionen der deutschen Sozialdemokratie verbunden gewesen waren, wie ALWIN BRANDES und FERDINAND BENDER, glitten allmählich auf zentristische Positionen ab. Magdeburg entwickelte sich zu einem wichtigen Stützpunkt des Opportunismus in der deutschen Sozialdemokratie, und die „Volksstimme" vertrat von nun an ziemlich offen den revisionistischen Standpunkt. Der Kampf gegen die Kriegsgefahr rückte immer mehr in den Mittelpunkt. Grundlage für die antimilitaristische Tätigkeit der revolutionären Magdeburger Sozialdemokraten in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg bildeten die Beschlüsse der Internationalen Sozialistenkonkresse von Stuttgart (1907) und von Basel (1912), die zur Abwendung des Krieges und im Falle seines Ausbruchs zum Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft aufforderten. Die Opportunisten wagten zunächst nicht, offen gegen diese Beschlüsse aufzutreten. In zahlreichen Versammlungen und durch Flugblattverteilungen bekämpften die Magdeburger Arbeiter 1912 die friedensbedrohende und die das werktätige Volk belastende neue Wehrvorlage. Der 1. Mai 1912 wurde von ihnen unter Friedenslosungen vorbereitet. Doch die opportunistischen Führungen der Partei- und Gewerkschaftsorganisationen verfälschten die Maifeier. So setzten sie die traditionellen Morgenveranstaltungen ab und organisierten statt dessen einen harmlosen Ausflug ins Grüne. Bei den Reichstagswahlen 1912 konnte durch die aufopferungsvolle Tätigkeit der Arbeitermitglieder der Partei das 1907 verloren gegangene Reichstagsmandat zurückerorbert werden. Abgeordneter wurde jedoch der Erzopportunist OTTO LANDSBERG, der als juristischer Berater der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion eine verhängnisvolle Rolle spielte. Einen Höhepunkt in der Magdeburger Arbeiterbewegung bildete eine deutsch-französische Friedenskundgebung, die am 13. April 1913 auf der Grundlage des Baseler Antikriegsbeschlusses stattfand. Auf der Veranstaltung sollte der französische Sozialistenführer und Parlamentsabgeordnete COMPERE-MOREL sprechen. Der Magdeburger Polizeipräsident erteilte ihm Redeverbot. Deshalb wurde die Rede des Vertreters des französischen Proletariats verlesen. In einer Resolution bekannten sich die Magdeburger Arbeiter zum proletarischen Internationalismus und zum gemeinsamen Kampf des deutschen und französischen Volkes gegen die friedensgefährdende Politik ihrer imperialistischen Regierungen. Auch die Opportunisten stimmten dieser Resolution scheinheilig zu, um sich vor den proletarischen Mitgliedern nicht zu entlarven.55 55

Vgl. Volksstimme vom 15. 4. 1913.

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Asmus Der Kampf der Arbeiter während des ersten Weltkrieges

Als die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo am 28. Juni 1914 und das Ultimatum der österreichischen Regierung an Serbien bekannt wurden, erfaßte die Arbeiter und viele andere Werktätige eine ungeheure Erregung, denn sie spürten, daß der in den letzten Jahren mehrmals gerade noch verhinderte Krieg unmittelbar bevorstand. Die Magdeburger Arbeiter folgten am 30. Juli dem Aufruf ihrer Partei zu einer Friedenskundgebung im Luisenpark. Schon gegen 18 Uhr kamen die ersten, und um 20 Uhr mußte der Saal wegen Uberfüllung gesperrt werden. Diese machtvolle Antikriegsdemonstration war die Antwort auf die Berichte der bürgerlichen Lokalpresse von einer „ungeheuren Kriegsbegeisterung", mit der in Magdeburg die Meldungen aus Wien und Belgrad aufgenommen worden seien. Während die opportunistischen Führer des Parteivorstandes der SPD und der Gewerkschaften in der Öffentlichkeit noch gegen den Krieg auftraten, verhandelten sie insgeheim mit der imperialistischen Regierung und ließen diese wissen, daß sie keinerlei ernsthafte Aktionen gegen den Krieg unternehmen würden. In der Nacht zum 1. August, dem Tage der Kriegserklärung der deutschen Regierung an Rußland, schwenkte fast die gesamte sozialdemokratische Presse, auch die Magdeburger „Volksstimme", auf die Linie der „Vaterlandsverteidigung" ein. In einem teuflischen Zusammenspiel mit der deutschen Bourgeoisie knüpfte sie an den Haß der deutschen Arbeiterklasse gegen den russischen Zarismus an. Am 1. August forderte die „Volksstimme", daß alle Sozialdemokraten bereit sein müßten, ihr „Vaterland" gegen die „russische Gewaltherrschaft" zu verteidigen. Die opportunistischen Kräfte in der Sozialdemokratie halfen so den Kriegstreibern in Deutschland und täuschten damit viele Arbeiter über den Charakter des Krieges. Am 20. August gab die „Volksstimme" offen zu, daß „nur der Haß gegen den Zarismus... den Krieg in Deutschland populär gemacht" hat. Den Verrat an den Interessen der deutschen Arbeiterklasse vollendete dann am 4. August die Reichstagsfraktion der SPD mit ihrer Zustimmung zu den Kriegskrediten. Entgegen den eindringlichen Warnungen der Linken, insbesondere KARL LIEBKNECHTS, setzte die Mehrheit der SPD die Politik der Klassenzusammenarbeit mit der deutschen Großbourgeoisie durch. Nachdem die Arbeiterklasse den Krieg nicht hatte verhindern können und vorübergehend durch den Verrat der opportunistischen Führung der SPD desorientiert worden war, sammelten sich ihre besten Kämpfer um die marxistischen Linken. Am 2. Dezember 1914 stimmte KARL LIEBKNECHT als einziger Abgeordneter im Reichstag gegen die Kriegskredite. Unter der Losung „Der Hauptfeind steht im eigenen Land" orientierten die Linken auf den wahren Feind des deutschen Volkes. Die Anhänger der „Gruppe Internationale" schlössen sich unter Führung von KARL LIEBKNECHT und ROSA LUXEMBURG am 1. Januar

1916 fester zusammen und nannten sich fortan „Spartakusgruppe". Ihre revolutionäre Alternative lautete: Erringung des Friedens durch den Sturz des imperialistischen Systems. Zentren der Antikriegsaktionen waren in Magdeburg die großen Rüstungsbetriebe. Zu den aktivsten Kriegsgegnern gehörten die Vertrauensmänner des Metallarbeiterverbandes. Zur ersten großen Magdeburger Antikriegsbewegung kam es Ende Mai 1916.56 Das Stellvertretende Generalkommando, während des Belagerungszustandes oberste regionale 88

Vgl. ASMUS, 1967b: 52ff.; ASMUS/DILLMANN, 1975: 250ff.

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Staatsbehörde des Regierungsbezirkes, verfügte, daß den Jugendlichen von ihrem Wochenlohn höchstens 18 Mark plus ein Drittel des diesen Betrag übersteigenden Verdienstes auszuzahlen seien. Der restliche Verdienst sollte von den Unternehmern auf ein bis Kriegsende gesperrtes persönliches Sparkonto für die Jugendlichen eingezahlt werden. Die Hoffnungen, mit der in sozialen Kämpfen noch unerfahrenen und zudem durch die Schule zum Teil nationalistisch verhetzten Jugend ein leichtes Spiel zu haben, erfüllten sich aber nicht. Bereits am Tage nach der Veröffentlichung traten einzelne Jugendliche des Poltewerkes in den Streik, und am 29. Mai legten 500 bis 600 Jungarbeiter der großen Sudenburger Betriebe die Arbeit nieder. Am Abend vereinigten sich über 3000 Jugendliche der Sudenburger und Buckauer Betriebe zu zwei Demonstrationszügen in der Halberstädter Straße. Als die Polizei Verhaftungen vornahm, rissen Jugendliche das Pflaster auf und setzten sich zur Wehr. Sie erzwangen schließlich die Freilassung der Festgenommenen. Daraufhin verfügte das Stellvertretende Generalkommando am 30. Mai, daß der Sparzwang nicht, wie zunächst vorgesehen, am 1. Juni, sondern erst mit noch zu erlassenden Ausführungsbestimmungen in Kraft treten sollte. Doch die Jungarbeiter ließen sich nicht hinhalten. Sie gingen am Abend des 30. Mai erneut auf die Straße, aber nicht unmittelbar nach Arbeitsschluß, wie die Polizei erwartet hatte, sondern erst gegen 21 Uhr. Gegen das Vorgehen der Polizei, die die Jugendlichen in Seitenstraßen abzudrängen versuchte, setzten diese sich erneut mit Steinwürfen zur Wehr. Auch die herbeigerufene Feuerwehr konnte nichts ausrichten, weil die Demonstranten die Wasserschläuche zerschnitten. Drei Tage lang streikten und demonstrierten die jungen Arbeiter trotz des Bestehens des Belagerungszustandes. An keinem der Demonstrationstage wagte es die Magdeburger Polizei, mit Waffengewalt vorzugehen. Das Polizeipräsidium begründete das mit der sich zuspitzenden politischen Situation und der Notwendigkeit, den Burgfrieden mit der Sozialdemokratie nicht zu gefährden. Die Ausführungsbestimmungen zum Sparzwangerlaß sind nie erschienen. Die Magdeburger Arbeiterjugend hatte ebenso gesiegt wie die Braunschweiger wenige Wochen zuvor. In ihrem Streik wurden die Jugendlichen von vielen älteren Arbeitern unterstützt. Es fehlte jedoch eine straffe organisierte Führung, da sich die revolutionären Kräfte in der Magdeburger Sozialdemokratie, insbesondere die Anhänger der Spartakusgruppe, noch nicht zu einer geschlossenen Opposition formiert hatten. Der Erfolg des Kampfes stärkte entschieden die Opposition in der Magdeburger Sozialdemokratie. Am 27. Juni 1916 mußte die „Volksstimme" berichten, daß- man in Magdeburg unter den Arbeitern ein Flugblatt mit der Überschrift „Hundepolitik" verbreitete, in dem äußerst scharf gegen die rechte Parteiführung der SPD und ihre Burgfriedenspolitik zu Felde gezogen wurde. Allmählich machte sich in der Mitgliedschaft des Sozialdemokratischen Vereins auch eine immer heftigere Kritik an der Berichterstattung und der grundsätzlichen Einstellung der „Volksstimme" bemerkbar. So mußte diese Zeitung in der zweiten Hälfte des Jahres 1916 von mehreren Generalversammlungen der Partei in Magdeburg berichten, in denen zahlreiche Genossen den Standpunkt des Parteiorgans in der Kriegsfrage ablehnten. Dabei wurden die Genossen V A T E R , BRANDES, BÖHME und HAUPT genannt.67 In diese Situation des sich verschärfenden Klassenkampfes kam die Nachricht von „Unruhen" in Rußland, die mit dem Sturz des Zaren am 12. März 1917 einen ersten revolutionären Erfolg hatten. Die russische Februarrevolution wirkte auf die Magdeburger Werk57

Vgl. Volksstimme vom 9. 8. 1916.

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Asmus

tätigen aufrüttelnd und mobilisierend, wenn es auch unter den revolutionären Magdeburger Sozialdemokraten zunächst noch keine klaren Vorstellungen über den Charakter dieser Revolution gab. Doch bald erkannten die politisch Reifsten, daß sie „russisch" mit den deutschen Imperialisten und Militaristen sprechen mußten und weder mit Teilkämpfen den Krieg beenden noch ihre Lage grundlegend verändern konnten. 68 Unmittelbarer Anlaß zu einer über die Industriezentren des ganzen Deutschen Reiches sich ausbreitenden Massenaktion waren die Mitte März für den 16. April angekündigte beträchtliche Kürzung der Brotrationen von 1800 auf 1350 Gramm wöchentlich und die Streichung der Zulage für Jugendliche. Wie in Kiel, Bremen, Hamburg und Nürnberg, wo es bereits zu großen Proteststreiks gekommen war, wollten auch die Magdeburger Arbeiter handeln. Sie planten für den 28. März eine große Demonstration, die über den Breiten Weg zum Alten Markt führen sollte. Doch diese Willenskundgebung wurde von Regierung und Magistrat mit Hilfe der rechten Führer des Sozialdemokratischen Vereins verhindert. Trotzdem versammelten sich am Abend des 28. März etwa 600 bis 800 Arbeiter, zu einem großen Teil Jugendliche und Frauen, die versuchten, einen Demonstrationszug zu bilden. Dasselbe wiederholte sich auch am Abend darauf. Besonders bedenklich erschien der Reaktion, daß bei den Straßenaufläufen viele Soldaten Sympathie für die demonstrierenden Arbeiter gezeigt und den Dienst der Polizeibeamten wesentlich erschwert hatten. Die „Magdeburger Krawalle" waren ein Ausdruck der politischen Krise, in die der deutsche Imperialismus geraten war und die in den Aprilstreiks noch deutlicher zutage trat. 59 Am 6. April legten in Magdeburg die Arbeiter der Großbetriebe Otto Mansfeld, Buckauer Maschinenfabrik, Otto Gruson & Co., Schäffer und Budenberg, Paasch & Bantelmann, Krupp-Gruson und Polte die Arbeit nieder. Grundlage des Aprilstreiks waren auch in Magdeburg die Forderungen der Spartakusgruppe. Aus diesem Grunde bestand das Stellvertretende Generalkommando am 14. Juli 1917 darauf, daß gegen die „Machenschaften besonders des radikalen Flügels der Sozialdemokratischen Partei... mit aller Strenge schnell eingeschritten werden müsse". 80 Interessant und bedeutsam ist, daß der Streik der Magdeburger Arbeiterklasse vor den großen Streiks in Berlin und Leipzig ausbrach, wenn er auch schon am 10.-April durch erneuten Verrat der Magdeburger Opportunisten beendet wurde. Hier zeigte sich das Fehlen eines die Aktionen der Arbeiter koordinierenden revolutionären Zentrums, einer revolutionären Arbeiterpartei für ganz Deutschland. 58 59 60

Vgl. Aktivist, Betriebszeitung . . v o m 7. 11. 1957. Vgl. STAM, Rep. C 28 If, Nr. 2269: 25 und ; 28. Vgl. STAM, Rep. C 28 If, Nr. 2269: 148.

Anlagen (Quellen, Dokumente) Anlage Nr. 1 Über das Kleiden, Wohnen und die Begräbnisse Anfang des 19. Jahrhunderts

in Wansleben

Die Kleidung meiner Großeltern bestand wie damals Mode beim Großvater in Kniehosen, langer Schaftstiefeln, kurzer Jacke oder Sonntags langer Rock. Auch der alte Pastor Arndt ging in Kniehose und langen gewichsten Stiefeln. Meine Großmutter hatte kurze Röcke, das Wams dessen Ärmel kaum über die Ellenbogen ging oder Unterarm war frei und ein Brustlatz vielfach von Eisen oder Stahl. Dann die dreiteilige Mütze diese Kopfbedeckung bestand aus drei Teilen daher die Benennung. Die Hüte kamen erst in den 30ziger Jahren auf wenigstens bei den Bürgern u. ich weiß mich noch zu erinnern wenn meine Tante nach Magdeburg fuhr wo die Schwägerinnen Hüte trugen dieselbe den Hut erst aufsetzte wenn sie bei der Amtsmühle kam (am Anfang der Straße nach Schieibnitz, rechts hinter dem jetzigen Bahnübergang) in Wanzleben schämte sie sich und es wurde mit Fingern darauf gewiesen, jetzt freilich regiert leider der Modeteufel die Welt. In früherer Zeit konnte man an der Tracht der Frauen sehen aus welchen Ort sie waren indem jeder Ort im Schnitt der Kleidung oder der Schürzen Farbe oder dergleichen etwas abwich. Wir Jungens hatten lange Hosen, kurze Jacken wie die Kellner jetzt aber hinten mit Schößen u. in bloßem Kopfe. Den ersten Rock gabs wenn wir konfirmiert wurden u. Mütze dazu. (Aufzeichnungen des Ackerbürgers Ludwig Conrad Meyer [1826—1906], Meyer, C. L. [um 1900]: 14b und c) Bei meinen Großeltern und auch noch bei meinen Eltern war die Wirtschaft im Hof und Hause eine Andere wie jetzt. Jetzt ist Alles fein geworden früher einfach. Mit dem Reisigbesen wurde die Stube nachdem vorher mit Wasser gesprengt war, sachte ausgefegt damit es nicht staubte weil die Milch in der Stube stand und dann wieder grauer Sand gestreut, weißer Sand stäupt mehr; der Sonntag machte eine Außnahme da wurde E i n e Metze weißer Sand geholt (Metze 4 P f g . ) u. Stube, Flur u. Treppe damit bestreut, dann kriegte die Großmutter den Gluttopf aus der Feuerkyke (dieselbe spielte eine große Rolle beim Kirchgang im Winter) tat Räucherkerzen getrocknete Apfelschale auch wohl noch Wacholdern auf der Glut u. durchräucherte dann das ganze Haus von oben bis unten. Die Schalen von den Äpfeln wurden alle in der Röhre getrocknet und aufgehoben zu diesem Zwecke, die Feuerkieke wurde alle Sonntag im Winter blankgeputzt u. von den Frauensleuten zur Erwärmung mit zur Kirche genommen. {Meyer, C. L. [um 1900]: 15a und b) Das Begräbnis zu meiner Jugendzeit gestaltete sich anders als jetzt einen Leichenwagen gab es nicht. Alle Leichen wurden zu Grabe getragen. Kinder von jungen Burschen so auch Jünglinge u. Jungfrauen, ältere Leute von Leuten aus ihrem Stande. Die gewöhnliche Zahl war 10 bis 12. Jeder bekam eine Citrone in die Hand u. eine Stütze die wurde unter die Trage gestellt beim ausruhen und der Hintermann gab mit der Stütze ein Zeichen zum Wiederaufbruch. Im Trauerhause gabs Kaffee, Kuchen u. Wein, einen Teller mit Taback und Fidibus dabei, geraucht wurden lange Tonpfeifen die nachher die Jungens benutzten zu Seifenblasen machen. Vor meiner Zeit trugen 22

AK, Landarbeiter II

Anhang

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die Träger schwarze Mäntel und den dreizackigen Hut vom alten Fritz her, wir hatten noch einen recht schönen er war in ein Futteral u. noch sehr gut erhalten. Die Mitwirkung eines Geistlichen war eine große Seltenheit es mußten denn andere Gründe dabei Maaßgebend gewesen sein. (Meyer, C. L. [um 1900]: 14d und 15a) Anlage Nr. 2 Ein bäuerliches Testament von etwa 1830 aus Irxleben Der Halbspänner Johann Andreas D. übergibt seinem Sohne Andreas Gottlieb D. sein zu I. belegenes Halbspännergut mit Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, Garten, fünf Weidekabeln, zwei Flachsröhten, eine Wohrte und vier und dreiviertel Hufen Acker, nebst Schiff und Geschirr, wie es sich zur Zeit der Uebergabe befindet, für die Annahme-Summe von 4200 Thaler, und für den ihm dem Uebergeber und dessen Ehefrau zu gewährenden, lebenslänglichen folgenden freien Auszug und Altentheil, als: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29.

das kleine Haus am Stall zur freien Wohnung, den kleinen Stall hinten am Pfarrgarten, einen Fleck im Keller, den dritten Teil Obst aus dem großen Garten und einen Fleck darin zu bleichen, den freien Mitgebrauch des Küchengerätes; ferner jährlich: zwölf Scheffel 1 ) Weizen, in vierteljährlichen Raten fällig, achtzehn Scheffel Roggen desgleichen, zwölf Scheffel Gerste desgleichen, drei Scheffel Hafer, drei Scheffel Erbsen, wie sie verlangt werden, einen halben Scheffel Bohnen, ein und einen halben Scheffel Mohn, ein und einen halben Scheffel Saat, einen Scheffel Salz, zwei Pfund Butter jede Woche, ein Maaß Milch täglich, vier Maaß aber an jedem Festtage, drei Schock windtrockene Käse jährlich, vier Schock Eier, wie sie verlangt werden, ein fettes Schwein, das nächste nach dem besten, ein Viertel Rindfleisch und zehn Pfund reinen Talg, einen fetten Hammel oder drei Thaler Geld, vier fette Gänse jährlich, sechs Stück Enten, vier Stück Hühner, sechzehn Paar junge Tauben, alljährlich drei Schock Kohlköpfe, zwei Schock Rüben, acht Scheffel Kartoffeln, zwanzig Thaler Courant jährlich zum Trunk zwei ein halb Schock Stroh jährlich, jährlich einen Scheffel Lein, in Kleeacker zu säen, hierzu die vorderste Hälfte der Flachsröhte und die nötigen Fuhren dazu,

der preußische Scheffel zu 16 Metzen = 54,9615 Liter.

Anlagen 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37.

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das Getreide frei zur Stadt und zur Mühle zu fahren, jährlich vier Kaleschefuhren und viermal ein Pferd zum Reiten, jährlich zwei zweispännige Fuhren Holz zu holen und zu bezahlen, freie Holzfuhren, wenn das Holz nicht ausreichen sollte, freie Feuerung zum Backen, jährlich sechs Pfund Wolle von der Winterschur, dem Altsitzer, im Fall seine Frau vor ihm stirbt, freie Wäsche, beide Altsitzer frei beerdigen zu lassen.

(Ähnliche und fast gleichlautende Altenteilverträge sind aus Hohenwarsleben, Domersleben, Bottmersdorf und anderen Orten bekannt. Vorliegendes Beispiel veröffentlichte Krull, 1927) Anlage Nr. 3 Ein bäuerlicher Kaufvertrag von 1867 aus Domersleben Domersleben, 23 März 1867: Unterzeichneter, durch directoriale Verfügung vom 21. ds. Mts. ernannter Gerichts-Deputirter, hatte sich heute hierher in das Simon Webersche Ackergut zur Aufnahme eines Kaufcontractes begeben und daselbst anwesend gefunden, von Person bekannt, und dispositionsfähig: 1. den Ackermann Herrn Simon Weber, 2. dessen Sohn, den Ökonomen Herrn Simon Weber jun. von hier, welche folgenden unter sich verabredeten Kaufcontract vortrugen:

§1 Es verkauft der Ackermann Simon Weber die ihm gehörigen, hierselbst belegenen und Theil I Nr. 7 des Hypothekenbuches von hier verzeichneten Grundstücke als: 1). 1 Ackergut mit Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, Garten und 223 Morgen 79 53/100 Ruthen Acker, 2 Seewiesen nebst dem im Garten erbauten Altsitzerhaus nebst Stallgebäude ad 1, 2) 1 Wohnhaus mit Scheune u. Stallung u. Garten ad 2, wie alles zur Zeit liegt und steht, und zwar das Ackergut mit den gesamten Vieh-, Feld- und Wirtschafts-Inventarstücken, den Haus-, Wirtschafts- und Küchengerätschaften, sowie den Möbeln nebst den Vorräten aller Art an seinen Sohn, den Ökonomen Simon Weber jun. Die Ubergabe dieser Grundstücke nebst Zubehörungen an den Käufer ist mit dem heutigen Tage erfolgt. Käufer bekennt, in den Besitz gesetzt zu sein und quittiert darüber, Verkäufer bewilligt die Berichtigung des Besitztitels auf den Namen des Käufers, die letzterer beantragt. §2 Der Kaufpreis ist auf 8000 Reichsthaler, schreibe achttausend Courant, festgestellt worden und weiset Verkäufer den Käufer an, diese ganze Summe an seine Schwester (Käufers Schwester) Emma Therese Weber nach dreimonatlicher Aufkündigung als ein väterliches Erbtheil zu bezahlen und von heute ab jährlich mit 4% zu verzinsen. Außer dem Kaufgelde reserviert der Verkäufer für sich und seine Ehefrau Christine Sophie Elisabeth geb. Besecke sich folgendes: Lebenslängliches Wohnungs-Nutzungsrecht im abgedachten Altsitzerhaus nebst Stallgebäude und sonstigen Zubehörungen, so wie die Hälfte des Gartens des Grundstücks ad 2 und zwar die Abendseite und die Mitbenutzung des bei dem Ackergute ad 1 befindlichen Gartens und Brunnens in demselben, sowie der Zeugrolle. Zum Unterhalte des Altsitzers verpflichtet sich der Käufer ihnen jährlich zu leisten: 18 Scheffel Roggen in monatl. Raten von lx/2 Scheffel, Va Scheffel Weizen vierteljährlich, 2 Scheffel Hafer vierteljährlich, 22*

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1 Scheffel Mohn jährlich, 100 Pfund gemästetes Rindfleisch jährlich, mit dem dazu gehörigen Talg oder 15 Thaler, 1 gemästetes Schwein oder 40 Thaler, 1 fetten Hammel oder 6 Thaler 2 fette Gänze oder 3 Thaler, 16 Scheffel gute Eßkartoffeln, 1 Klafter Birkenklobenholz oder 12 Thaler, 12 Tonnen böhm. Braunkohlen oder den Johannismarktpreis, 60 Bund Mohnstroh, 30 Bund langes Roggenstroh (Bund a 20 Pfund), 1 Stein Flachs oder 3 Thaler, 3 Pfund Wolle oder 1 Thaler u. 15 Silbergroschen, 3 Pfund Butter wöchentlich oder den Marktpreis dafür, 60 Hühnereier vierteljährlich oder den Marktpreis, 25 Pfund weichen Käse oder den Marktpreis, 1 Maß Milch täglich oder 1 Silb. Groschen 3 Pfg. Außerdem an jedem hohen Festtage als: Ostern, Pfingsten, Weihnachten und Erntedankfest noch 6 Maß Milch und 2 Pfund Butter. Ferner hat der Käufer den Altsitzern jährlich 8 Kutschenfuhren auf je 2 Meilen Entfernung oder statt dessen 16 Thaler zu leisten, auch beide Altsitzer standesgemäß beerdigen zu lassen und auf jedes Begräbnis mindestens 40 Thaler zu verwenden. Den Altsitzern steht das Recht zu, statt der Naturalien, wo kein bestimmter Geldwert ausgeworfen ist, überall den marktgängigen Preis dafür, nach ihrer Wahl zu verlangen. Durch den Tod eines der Altsitzer wird in dem Altenteil nichts geändert und verbleibt dem Uberlebenden dasselbe ganz. Sollte die verehelichte Weber vor ihrem Ehemann mit dem Tod abgehen, so hat der Gutsannehmer dem Altsitzer die Wäsche frei reinigen zu lassen. Zur Sicherheit für vorstehendes Wohnungs-Nutzungsrecht und Altentheil, sowie der 8000,— Reichsthaler rückständige Kaufgelder verpfändet Käufer die erkauften Grundstücke ad 1 und bewilligt die Eintragung, die Verkäufer beantragt, ohne ein Document darüber zu bilden. §3 Käufer übernimmt vom Tage der Ubergabe ab, alle, auf den erkauften Grundstücken ruhenden Lasten und Abgaben und verpflichtet sich, Verkäufer die zur Zeit noch eingetragene Illatenforderung seiner Ehefrau löschen zu lassen, trägt auch dahin an, die Rubric ad 3, 4, 5 und 6 eingetragenen, aber nicht mehr wachsenden Abgaben, desgleichen das ad 8 angetragene Wohnungsrecht und Altentheil des Moritz Lücke, dessen Totenschein noch eingereicht werden soll, zu löschen. §4 Contrahenten entsagen allen gegen diesen Vertrag ihnen etwa zustehenden Einwendungen, Käufer insbesondere dem ihm verständlich gemachten Einwände der Verletzung über die Hälfte. §5 Die Kosten dieses zweimal auszufertigenden Contractes übernimmt der Käufer. Inzwischen war auch die Ehefrau des Ackermanns Simon Weber sen. Christine Sophie Elisabeth geb. Besecke, gleichfalls von Person bekannt und dispositionsfähig, erschienen, die mit dem Inhalt des vorstehenden Contractes bekanntgemacht, unter Zustimmung ihres Ehemanns vortrug: Durch das in vorstehendem Contract für mich mit ausgesetzte Wohnungs-Nutzungs-Recht und

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Altentheil, sowie sonst bin ich wegen der für mich aus dem Erbfolgevertrag vom 1. Juli 1830 auf dem obgedachten Ackergute eingetragenen Illatenforderung von 2916 Thaler 23 Silbergroschen 10 Pfennig Courant sowie der 72 Thaler 15 Silb. Grosch. Gold nebst Natural-Ausstattung an Betten, Leinen, Kleidungsstücken, 1 Kuh, 1 Rindes und 15 Schafen von meinem Ehemann abgefunden, quittiere darüber ohne allen Vorbehalt und billige deren Löschung, zu dessen Behufe ich das Documentum ex quo übergebe. Der Simon Weber acceptirte diese Quittung und beantragte die Löschung, übergab auch schließlich noch zu demselben Zwecke die Ablösungsurkunde über 4 Gr. 8 Pfg. Erbenzins an die Korpckeschen Erben. Vorgelesen, genehmigt, unterschrieben: Simon Weber sen Simon Weber jun a. u. s. Schmidt. Sophie Weber gb. Besecke (Das Original befindet sich im Archiv von Hans Hermann Merbt in Domersleben, Weber'sche Akten, Nr. 37) Anlage Nr. 4 Ein bäuerlicher Ehe- und Erbfolgevertrag von 1896 aus Ochtmersleben Magdeburg, den dritten December eintausend achthundert sechs und neunzig Vor mir, dem zu Magdeburg wohnenden Königlich Preußischen Notar zu Magdeburg Dr jur Hermann Lochte dem, wie hierdurch versichert wird, keines der Verhältnisse entgegensteht, die ihn von der Theilnahme an der Verhandlung nach Paragraph fünf und sechs des Gesetzes vom elften Juli achtzehnhundert fünf und vierzig ausschließen würden, erscheinen heute persönlich bekannt und geschäftsfähig: a, der Gutsbesitzer Herr A. B. zu Ochtmersleben wohnhaft, b, das großjährige Fräulein C. D., im Beistande c, ihres Vaters des Kossathen E. D., Beide zu Groß Rottmersleben wohnhaft. Herr A. B. und Fräulein C. D. schlössen nachfolgenden Ehe und Erbfolgevertrag. § eins Herr A. B. und Fräulein C. D. haben sich verlobt, sie versprechen sich wechselseitig die Ehe und soll dieselbe am achten December dieses Jahres vor dem zuständigen Standesamte vollzogen werden. § zwei Die Jungfrau D. verpflichtet sich, ihrem künftigen Ehemann außer einer Naturalausstattung eine baare Mitgift von sechs und dreißigtausend Mark in die Ehe zu bringen. Die baare Mitgift zahlt •der Vater der Braut und verzinst dieselbe bis dahin, wo Herr B. dieselbe auf sein Verlangen baar ausgezahlt erhält, vom ersten Januar achtzehnhundert sieben und neunzig ab mit vier Procent auf das Jahr. Der Werth der Naturalausstattung wird vertragsmäßig auf zweitausend Mark festgesetzt. § drei Bezüglich der Erbfolge treffen Contrahenten folgende Verabredungen, A. für den Fall daß ihre beabsichtigte Ehe kinderlos sein sollte: a) Sollte Herr A. B. zuerst versterben und aus seiner jetzt beabsichtigten Ehe Nachkommenschaft nicht am Leben sein, so soll sein Sohn erster Ehe A. B. sein Erbe sein, es soll aber

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Anhang seine Braut und künftige Ehefrau an Stelle des Erbtheiles erhalten 1, eigenthümlich den im Grundbuche von Ochtmersleben Land fünf Blatt zweihundert eins verzeichneten Grundbesitz — das früher Märtenssche Grundstück — dessen Werth auf achttausend Mark veranschlagt wird; 2, zum Nießbrauch den gesammten übrigen Nachlaß ihres Ehemannes A. B. bis dahin, wo sein Sohn aus erster Ehe — A. B. junior — dreißig Jahre alt wird. 3, nach Erlöschen des Nießbrauches eine jährliche Rente von zwölfhundert Mark, welche ihr vom Tage des Erlöschens des Nießbrauches ab jährlich in vierteljährlichen Raten auf ihre Lebenszeit praenumerando zu zahlen ist. 4, Außerdem bleiben der Braut, künftigen Ehefrau ihre Ansprüche auf Rückgewähr ihres Eingebrachten außer den vorstehenden Zuwendungen vorbehalten.

b) Sollte Fräulein D. als zukünftige Ehefrau ohne eheliche Nachkommenschaft zuerst versterben, so beruft dieselbe zu ihren Erben ihre gesetzlichen Erben mit Einschluß ihres Ehemannes A. B., bestimmt aber, daß ihr Ehemann A. B. ihr Erbe zur Hälfte seie, und nur die andere Hälfte ihres Nachlasses ihrem sonstigen Erben zufallen soll. B. Sollte beim Tod des Erstversterbenden der künftigen Ehegatten Nachkommenschaft aus ihrer Ehe vorhanden sein, so sollen die vorstehenden Bestimmungen überall in Wegfall kommen. Die Brautleute behalten sich vor, für diesen Fall anderweitige letztwillige Verfügungen zu treffen, und soll, wenn solche nicht getroffen sein sollten, die gesetzliche Erbfolge eintreten. § vier Die Kosten und Stempel dieses Vertrages tragen die Contrahenten gemeinschaftlich. Etwas Weiteres haben die Erschienenen nicht zu verabreden, dieselben haben ihre wechselseitigen Erklärungen gegenseitig angenommen und beantragen: diesen Vertrag für sie je einmal auszufertigen. Herr Kossath E. D. genehmigte den vorstehend von seiner Tochter abgeschlossenen Vertrag und trat demselben als ihr Beistand bei. A. B. C. D. E. D. Es wird hierdurch bescheinigt, daß vorstehende Verhandlung so, wie sie niedergeschrieben ist, stattgefunden hat, daß sie den Betheiligten in Gegenwart des Notars laut vorgelesen, von ihnen genehmigt und von ihnen, wie vorsteht, eigenhändig unterschrieben worden ist. Dr jur Hermann Lochte Königlich Preußischer Notar zu Magdeburg. Vorstehende in das Notariats-Register . . . eingetragene Verhandlung wird hiermit einmal für den Gutsbesitzer Herrn A. B. zu Ochtmersleben wohnhaft mit dem Bemerken ausgefertigt, daß dem Fräulein C. D. zu Groß-Rottmersleben wohnhaft, eine gleiche Ausfertigung ertheilt ist. Magdeburg, den dritten December eintausend achthundert sechs und neunzig. Dr jur Hermann Lochte Königlich Preußischer Notar zu Magdeburg (Das Original ist enthalten im Fragebogenmaterial zum Forschungsvorhaben „Magdeburger Börde". Die Namen der im Text genannten Personen wurden durch frei erfundene Buchstaben ersetzt.)

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Anlage Nr. 5 Ein Patenbrief von 1823 Geliebte Schwägerin Wertgeschätzte Frau Gevatterin, Durch Gottes Güte sind wir Eltern am 10 t. dieses mit einem Sohn gesegnet, welcher künftigen Sonntag um 1 Uhr getauft werden soll. Wir haben Sie zum Taufzeugen erwählet, und ersuchen Sie deshalb uns die Liebe zu erweisen und dann als Taufzeugin diese heilige Handlung mit verrichten zu helfen, nachher Sich nebst dem lieben Schwager bei uns mit dem was Gott bescheret hat, gefälligst bewirthen zu lassen. Für diese uns und unserem Kinde erwiesene Liebe wird mit steter Dankbarkeit seyn Meiner sehr werthen Schwägerin und Frau Gevatterin dankbarer Schwager Frohse und Gevatter, den 21 ten August Heinrich Grashoff 1823 (Das handgeschriebene Original befindet sich im Fragebogenmaterial zum Forschungsvorhaben „Magdeburger Börde".) Anlage Nr. 6 Bemerkungen eines Landpfarrers über die religiösen und sittlichen Verhältnisse in der Börde um 1844 Mitte Januar. Die segensreichen materiellen Folgen des Friedens, deren wir uns unter dem Schutze einer milden und erleuchteten Regierung im ganzen preuß. Vaterlande erfreuen, liegen wohl kaum in einer andern Provinz des Staats so zu Tage, als in unserer Provinz Sachsen. Besonders aber befinden sich hier die Bewohner der Umgegend Magdeburgs in dem fruchtbaren Landstriche, der mit dem Namen „die Börde" bezeichnet wird, in einem Wohlstande, von dem sich die Bewohner mancher anderer Gegenden nicht leicht eine Vorstellung machen würden. Die Ursachen dieser großen Wohlhabenheit sind der Aufschwung des Handels und der Fabriken in dem nahen Magdeburg, besonders aber die mit der Fabrikthätigkeit wesentlich in Verbindung stehende und sie zum Theil bedingende Fruchtbarkeit des Bodens in der Börde, einem Landstriche, der sich, außer zur Erzeugung aller Getreidearten in besonderer Menge und Güte, auch ganz vorzüglich zum Anbaue der Zuckerrübe, der Cichorie, Kartoffel u. s. w. eignet, so daß z. B. ein Magdeburger Morgen Acker nicht selten an den Besitzer einer Zuckerfabrik für eine jährliche Summe von 20 Thlrn. Gold verpachtet wird, wodurch mancher Landmann, der etwa 4 oder 5 Hufen Landes besitzt eine jährliche Einnahme erzielt, welche der manches Rittergutsbesitzers in andern Gegenden gleichkommt. Nicht ohne Interesse ist es nun, zu untersuchen, welche Folgen der zunehmende Wohlstand auf den religiösen und kirchlichen Sinn, wie auf die Moralität der Bewohner dieser fruchtbaren Gegend übe. — Zuvörderst müssen wir bemerken, daß die Bevölkerung unserer Börde in drei verschiedene Classen zerfalle. In die erste Classe gehören die größeren Gutsbesitzer, die Amtleute und Fabrikanten; die zweite besteht aus dem Stande der Ackerleute, d. h. der kleineren Grundbesitzer unter dem Namen von Vollbauern, Halbspännern u. s. w.; die dritte Classe endlich bilden Alle, die, ohne eigentlichen Grundbesitz, als Handwerker, meist aber als Taglöhner in den Fabriken, auf den Aemtern und Gütern und selbst bei den Ackerleuten leben. Was nun den religiösen und kirchlichen Sinn dieser erstgenannten Classe betrifft, so läßt er leider sehr Vieles zu wünschen übrig, und das ist sehr schlimm, weil diese Classe, als die wohlhabendste und intelligenteste unter den drei bezeichneten, auf die beiden andern einen bedeutenden Einfluß ausübt. Daß es hier, wie überall, höchst rühmliche Ausnahmen gibt, versteht sich von selbst; im Allgemeinen aber sind diese Industrialisten und Plusmacher — wie sie der verstorbene Prof. Klee nannte, — wahre Feinde des Menschengeschlechts, weil ihre Gottheit das Geld, ihr Tempel die Bier-, und Branntweinbrennerei, oder die Fabrik mit dem Dampfe, ihr Gesang das Brausen der Kessel und das Pochen,der Maschine ist. Böse Tage sind diesen Leuten die Sonn- und Festtage; verdrießlich berechnen sie an denselben, wie viel an Werth ihnen durch das Halten dieser Tage verloren gehe.

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Häufig, und wenn sie es ungestraft thun zu können meinen, übertreten sie das Gesetz wegen der Sonntagsfeier, das sich überhaupt in seiner ganzen Strenge wohl nicht consequent durchführen läßt, und haben sie sich ihm nothgedrungen bequemen müssen, und sie reden dann von ihrer Sonntagsfeier, so meinen sie häufig darunter nur das Verbringen eines Tages in noch sinnlicheren Genüssen, als gewöhnlich. Vom Besuche der Kirchen, von einer stillen Einkehr in sich selbst, von einer religiösen Sammlung und einer Erhebung der Gefühle zu Gott ist bei den Meisten weder an Sonntagen und noch weniger an Wochentagen die Rede ... Erfreulicher gestaltet sich das Bild, das wir in obiger Beziehung von der zweiten Classe der Bewohner unserer Börde entwerfen können. Die Classe der Ackerleute, d. h. der größeren oder kleineren Grundbesitzer, ist eine, der bedeutenden Mehrheit nach, durchaus ehrenwerthe in Gesinnung, wie in That. Verirrungen kommen meist nur bei solchen Individuen vor, die den Uebergang zur ersten oder letzten Classe bilden. Ist auch aus den oben angeführten Gründen bei diesen Ackerleuten Wohlhabenheit und mit derselben ein hin und wieder selbst ausartender Luxus gestiegen; verschwindet auch mit der kleidsamen alten Magdeburgischen Kleidertracht, besonders der Frauen, nach und nach die niedersächsiche Spraches hat auch der deutsche bewillkommnende Handdruck dem modischen Knix und der Verbeugung; sowie der Großvaterstuhl dem Sopha, der Schemel dem Polsterstuhle, das Zinn dem Silber, das irdene Geschirr dem Porcellan, das alte vergelbte Volksbuch und der grausige Mordbericht der Zeitung und sogar dem belletristischen Journale Platz gemacht: so ist doch im Allgemeinen der religiöse und kirchliche Sinn der Vorfahren bei ihren heutigen Enkeln und Urenkeln geblieben. Väter und Mütter sind noch immer das Haupt der Familie und Vorbilder für Kinder und Gesinde in unbescholtenem Lebenswandel, in Gottesfurcht, in strenger religiöser Legalität, in würdiger Sonntagsfeier durch fleißigen Kirchenbesuch. Offenbar wird in unseren Dörfern mehr Kirchlichkeit gefunden, als in den Städten, und das verdanken wir allein dieser Bewohnerciasse. Fleißig sieht man diese Leute an Sonn- und Festtagen in den Gotteshäusern sich versammeln, sämmtlich sauber und festlich gekleidet; für sie ruhen dann die gewöhnlichen Geschaffte des Lebens, und man sieht es ihnen an, daß sie aus vollem frommen Herzen zu dem Einen beten, den ihre Augen nicht schauen, vor dem Einen sich beugen, der über allen Königen ist, und dem Einen danken für alles Gute — und auch für das Böse, das aus seiner Vaterhand kam. Die dritte der oben genannten Volksclassen ist, was die Zahl der zu ihr gehörenden Individuen betrifft, die bedeutendste. Sie hat viele bessere Grundzüge mit der zweiten gemein, kann aber mit Recht die Ursache von Manchem, was man an ihr Tadelnswerthes findet, auf die erste Classe schieben. Die Mehrzahl dieser Leute lebt von dem Lohne, den sie durch ihrer Hände Arbeit täglich auf den Aemtern, Gütern und am meisten in den zahlreichen Fabriken und industriellen Etablissements aller Art, theils in Magdeburg selbst, theils in dessen Vorstädten und Umgebung verdient. Grundbesitz, Vermögen haben sie nicht; ihr Erwerb geht, wie man zu sagen pflegt, aus der Hand in den Mund. Da nun, wie bereits bemerkt, Gutsbesitzer, Amtleute und Fabrikanten in hiesiger Gegend es mit der Feier der Sonn- und Festtage häufig nicht genau nehmen, sondern unter jedem nur einigermaßen plausibeln Grunde, als Dringlichkeit der Arbeit, Unsicherheit des Wetters u. dgl., an Sonntagen, wie an Werkeltagen auf den Feldern und in den Fabriken fortarbeiten lassen: so bleibt diesen Leuten, wenn sie sich anders nicht außer Arbeit und folglich auch außer Brod sehen wollen, Nichts weiter übrig, als, gleich ihren Brodherren, obschon aus einem anderen verzeihlicheren Grunde, dem Gotteshause den Rücken zuzuwenden und dem Rufe der Glocken, der auch sie zur gemeinschaftlichen Andacht mit ihren Brüdern auffordert, das Ohr zu verschließen. Gewiß thun das Viele, sehr Viele mit betrübtem Herzen; allein die Noth kennt kein Gebot, und was sollen sie machen, wenn der Gutsbesitzer, der Fabrikant ihnen, wenn sie um Erlaubniß bitten, der Gottesverehrung beiwohnen zu dürfen, entgegnet: „Kannst du am Sonntage nicht bei mir arbeiten, so brauche ich deine Dienste auch an den Wochentagen nicht 1" — Es gibt der Arbeiter so viele hier; der Taglohn ist bedeutend, Wohnung und Lebensmittel sind theuer, und daheim warten vielleicht Frau und zahlreiche Kinder sehnlichst auf den täglichen Verdienst des Gatten und Vaters. „Was verschlägt es am Ende auch" — denkt mit der Zeit der Arbeiter — „ob du am Sonntage feierst, in die Kirchegehst, andächtig bist und gute Entschließungen für das Leben fassest, oder ob du das Alles unter-

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lassest; auch dein Herr feiert ja den Sonntag nicht, die Kirche besucht er nie, zum Tische des Herrn ist er wohl seit seiner Confirmation nicht gewesen; Sonntag, wie Werkeltag, lebt er in Saus und Braus, und dennoch segnet ihn Gott mit zeitlichen Gütern und läßt ihn jährlich an Vermögen und Ansehen unter Seinesgleichen zunehmen. — Mit solchen und ähnlichen Reflexionen bringt er am Ende die Stimme des mahnenden Gewissens zur Ruhe. — Das sind die schlimmen Folgen des Industrialismus und des bösen Beispiels! So werden die segensreichen materiellen Wirkungen des Aufschwungs der Fabriken, des Handels, des Ackerbaues in unserer Gegend durch die verderblicheren der religiösen Verwahrlosung und der Unkirchlichkeit nicht nur paralysirt, sondern noch überwogen. — Bei der innigen Verbindung zwischen Religiosität und Sittlichkeit bedarf es nach dem eben Erörterten im Grunde keiner besonderen Angaben über den Zustand der letzteren unter den Bewohnern unserer Börde; nur einige allgemeinere Bemerkungen mögen hier stehen. — Wenn man von keinen groben Excessen, keinen die Menschheit empörenden Verbrechen, keinen gerade öffentlich zur Schau getragenen Lastern bei uns hört: so ist es wohl mehr die Furcht vor dem Tadel der Welt, mehr die Scheu vor dem weltlichen, als die vor dem göttlichen und inneren Richter, welche die Mehrzahl auf der Bahn der Legalität erhält. Einen kleinen Seitensprung von derselben, wenn er nur ohne wesentlichen materiellen Nachtheil vollführt werden kann, halten gar Viele für kein eigentliches Verbrechen, und der Justiz, oder noch lieber der Polizei ein Häkchen zu schlagen, wo es nur immer möglich ist, macht den Meisten sogar Freude. — So beginnen auch bei uns schon — freilich in einem weit geringeren Grade, als etwa in England oder Belgien — die durch den fabrikmäßigen Betrieb der Gewerbsindustrie herbeigeführten Verderbnisse sich zu zeigen, und wir können beinahe so gut schon, wie in den genannten Ländern aus manchen der eigenen Erfahrung sich darbietenden Kennzeichen ermessen, daß durch die verschiedenen Beziehungen der Menschheit zu den Industriezweigen aller Art, neben den mannigfachen Vortheilen, als: Steigerung der Geschicklichkeit und Ersparung von Zeit, Erfindung von Maschinen und Sparung von Menschenhänden, Auffindung von Absatzwegen und Wohlfeilheit der Waare, Vermehrung des Volksglücks und des Reizes zum Erwerben, Erweiterung des Handels und Vergrößerung des Volksreichthums u. s. f. für das sittliche und geistige, wie für das wirthschaftliche und selbst das politische Leben der Bevölkerung große Nachtheile erwachsen. — Wie in England, Belgien, Frankreich und andern Ländern, wo große Fabrikthätigkeit herrscht, hat auch verhältnismäßig bei uns die Bevölkerung seit dem Jahre 1815 ungemein zugenommen; doch von einer Verarmung großer Menschenclassen, wie dort, welche die Fortschritte materieller und immaterieller Interessen hindert, kann bei uns deßwegen keine Rede sein, weil alle unsere Einrichtungen meistentheils auf dem Ackerbaue beruhen und sich auf denselben beziehen, und das Steigen der Production, das Zunehmen der Bevölkerung, die Vergrößerung der Gewerbsleute, die Vermehrung der Consumtion an Luxusartikeln von Verbesserung und Beförderung des Ackerbaues begleitet wird. Letzteres ist in den genannten Ländern nicht so der Fall; vielmehr tritt dort die Agricultur im Verhältnisse zur Industrie mehr oder weniger in den Hintergrund, wogegen bei uns, selbst im Falle des freiwilligen oder unfreiwilligen Stillstehens der Fabriken, die Arbeiterclassen durch Anbau eines oder mehrerer Morgen Aecker — je nach den Umständen — vor gänzlicher Verarmung geschützt werden. {Schulde, 1844: 197-200) Anlage Nr. 7 Zur Wirtschaftsweise eines Großbauernhofes in Diesdorf um 1900 Alte Inschrift am Torbogen des Gutshofes aus dem Jahre 1833. Wer will tadeln mich und die Meinen, der sehe erst auf sich und die Seinen. Find er an Sich und den Seinen nichts, alsdann komm er und tadle mich. J. P. Schulze. Cath. Elsb. Schulze geb. Otto.

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Das Hüfnergut wurde am. 23. Oktober 1810 von Johann Peter Schulze sen. erworben in Größe von 47 Morgen 100,47 Ruten; am 19. Februar 1822 übernahm der Sohn Johann Peter Schulze jun. den Hof. Derselbe kaufte 33 Morgen 49,21 Ruten dazu. Am 10. Juni 1850 übernahm dessen Sohn Johann Christian Schulze die Wirtschaft, erwarb dazu 19 Morgen 29 Ruten im Jahre 1865 und 79 Morgen 140 Ruten im Januar 1884, außerdem den Ackerhof Nr. 31 am 17. Januar desselben Jahres. — Am 8. November 1887 übernahm der jetzige Besitzer Albrecht Ernst Schulze die Wirtschaft von seinem Vater, kaufte am 7. Oktober 1905 19 Morgen 104 Ruten dazu, so daß die gesamte Größe der Wirtschaft jetzt 157 Morgen 3 Ruten beträgt mit einem Reinertrag von 2917,50 M und einem Nutzungswert der beiden Höfe von 804 M. — Vorhanden ist außerdem im Magdeburger Felde ein Besitz von 9 Morgen 142 Ruten. Da in der Wirtschaftszeit des letzten Besitzers die Pachtpreise niedriger waren als etwaige Zinsen des Kaufpreises, wurden 235 Morgen im Laufe der Jahre zugepachtet. Am 19. Januar 1909 verpachtete Albrecht Schulze die Wirtschaft an seinen Schwiegersohn Kurt Bressel. Dieser wird später mit seiner Frau, dem einzigen Kinde des Albrecht Schulze, den Hof durch Erb oder Kauf übernehmen. Kurt Bressel hat noch weitere 199 Morgen 138 Ruten zugepachtet, es werden also jetzt rund 591 Morgen bewirtschaftet. Das Dorf Diesdorf gehört zum Kreise Wanzleben. Dadurch, daß es unmittelbar vor Magdeburg liegt und mit der Magdeburger Feldmark grenzt, ist der Ein- und Verkauf, die Viehhaltung und die Entlohnung der Leute den Verhältnissen der Großstadt angepaßt. Diesdorf zählt zurzeit rund 3000 Einwohner. Neben einigen Kleinhandeltreibenden und Gastwirtschaften setzt sich die Einwohnerzahl zusammen aus ackerbautreibenden Besitzern, wovon etwa 329 Wirtschaften unter 100 Morgen, 2 Wirtschaften von 100—300 Morgen und eine, die hier beschriebene, mehr als 300 Morgen enthalten; die übrigen kleinen Anwesen gehören Arbeitern, welche im Bauhandwerk und in der Industrie von Magdeburg und Umgebung ihrem Verdienst nachgehen. Auf den 591 Morgen werden vorwiegend Hackfrüchte gebaut, eine bestimmte Fruchtfolge besteht jedoch nicht. Während in früherer Zeit hauptsächlich Weizen und Zuckerrüben gebaut wurden, ist seit 20 Jahren der Anbau von Frühkartoffeln und Zichorien vorherrschend; seit 5 Jahren ist der Feldgemüsebau dazugekommen. Bis auf die reichlich vorhandenen Zugtiere ist die Wirtschaft viehlos, weil Stalldünger früher von Stadtplätzen, jetzt vom städtischen Schlacht- und Viehhof sehr reichlich beschafft wird, weil ferner die Strohverwertung durch Verkauf besonders leicht und gut ist, und weil eine etwa in Betracht kommende Milchviehhaltung wegen Mangel an zuverlässigen Leuten wenig gewinnbringend erscheint. Ganz besondere Aufmerksamkeit wird dem Anbau von Frühkartoffeln gewidmet. Diese Frucht füllt in betreff der Beschäftigung der Leute die Zeit zwischen Beendigung der Hackarbeiten und dem Beginn der Getreideernte — wenig Roggen — gut aus und des weiteren scheiden diese früh abgeernteten Felder im Spätherbst aus, wo die für Leute und Gespanne sehr zeitraubende Aberntung der Zichorien- und Rübenfelder bei gleichzeitiger Einbringung des Weizens stattfindet, und wobei die Arbeitskräfte und Zugtiere so kaum ausreichen. Ein weiterer Sonderzweig ist die Kultur von Zichoriensamen. Dieser gedeiht auf den nicht allzuschweren Böden ganz besonders gut und ist durch immerwährende Auslese der Saatwurzeln bei gleichzeitiger Untersuchung derselben auf Trockengehalt eine günstige Ertragssteigerung erzielt. Die Samenwurzeln werden nicht als Stecklinge angebaut, sondern aus normal gebautem Bestände ausgelesen, dabei werden immer wieder Kulturen aus besten Mutterzichorien herangezüchtet. Diese so erzielte Saat wird besonders geschätzt und der von großen Saätzüchtereien aus Stecklingen erzielten Saat bei weitem vorgezogen. Im letzten Jahrzehnt ist die Ziegenhaltung gepflegt, hauptsächlich, um dieser „Kuh des kleinen Mannes" weitere Verbreitung zu verschaffen. Durch Einführung der weißen Saanenziege aus der Schweiz ist dieses Nutzvieh bedeutend verbessert, und durch vorbildliche Haltung und Beratung wird die Zweckmäßigkeit dieses Haustieres den kleinen Leuten immer wieder vor Augen geführt. In allen Haushaltungen, wo die Hausfrau nicht allzubequem ist und deshalb die Entnahme der Milch vom Händler vorzieht, hat sich die Ziege eingebürgert. Um eine weitgehende Verkaufs-

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möglichkeit von Ziegenmilch größerer Ziegenhaltungen zu erzielen, muß allerdings erst noch ein weitverbreitetes Vorurteil gegenüber diesem Nährmittel überwunden werden. Die Handarbeiten sind, wo irgend angängig, durch die Verwendung landwirtschaftlicher Maschinen ersetzt bzw. erleichtert. Insbesondere ist durch die Einführung der Reihensaat bei Zichorien, durch Anschaffung von Kartoffelpflanzmaschinen und von Pflügen zum Herausholen der Zichorien eine Ersparung an Händearbeit erzielt und dadurch überhaupt erst die Erweiterung einiger Wirtschaftszweige möglich geworden. Hackmaschinen sind wenig im Gebrauch, da die Zichorien und dergleichen Kulturen zu eng gedrillt werden; Mähmaschinen mit Binder lassen sich häufig nicht verwenden, da bei der starken Düngung das Getreide meist zu viel lagert. Der Zukauf von Düngemitteln berechnet sich im Durchschnitt der letzten 10 Jahre auf 35 M für 1 Morgen, davon entfallen 20,5 M für Strohdünger und 14,5 M für künstlichen Dünger. Das Saatgut im Getreide wird nach Verlauf einiger Jahre regelmäßig gewechselt und dabei meist von bewährten Saatgutwirtschaften bezogen. Ein beträchtlicher Teil der Ausgaben besteht in Löhnen. Es werden durchschnittlich gezahlt: 48 M 30 M 24 M 13 M

auf auf auf auf

1 Morgen 1 Morgen 1 Morgen 1 Morgen

bei bei bei bei

Zichorien, Rüben, Kartoffeln und Getreide (ohne Drescharbeiten).

Die verheirateten Knechte erhielten 1887 12 M Lohn in bar, 1/2 Morgen Kartoffelacker und l1/» Morgen Zichorienacker zur Bearbeitung zu 60 Pfg. für den abgelieferten Zentner, außerdem Geschenke zu den Festen. Alles zusammen rund 17 M für die Wöche. — Jetzt erhalten die Knechte 15 M bar, */4 Morgen Kartoffelacker, lx/2 Morgen Zichorienacker zur Bearbeitung zu 60 Pfg. für den Zentner, Geschenke zu den Festen; außerdem wird ihnen ihr erpachteter Acker, 1—2 Morgen, zurechtgemacht und die Fuhren dazu unentgeltlich geleistet. Krankenkassen und Invalidengeld wird nicht abgerechnet. Alles zusammen rund 22 M die Woche. — Da die Arbeiterinnenfrage sich jährlich im Orte verschlechtert hat, werden seit 1906 Sachsengänger verwendet, wodurch sich die Kosten zwar nicht verringert haben, aber doch die rechtzeitige Erledigung der Feldarbeiten mehr gesichert erscheint. Auf Erzielung höchster Brutto-Erträge ist stets größter Wert gelegt. Eine Ertragssteigerung bei Winterweizen hat sich allerdings in den letzten Jahrzehnten nicht mehr ermöglichen lassen, dieser bringt häufig mehr als 20 Ztr. auf 1 Morgen. Sommerweizen gibt jetzt höhere Erträge als früher, 16 Ztr. in mittleren, 20 Ztr. in guten Jahren auf 1 Morgen. Gerste und Hafer schwanken sehr im Ertrag und ist daher der Anbau darin zurückgegangen. Die Erträge in Früh- und Spätkartoffeln — ausschließlich für Speisezwecke — sind gegen früher durch Auswahl geeigneter Sorten und durch Anwendung stärkster Düngung von Stallmist und künstlichem Dünger (kein Kalk) stark gesteigert, ebenso die Erträge in Zichorien. Zuckerrüben werden verhältnismäßig wenig angebaut wegen vorhandener Rübenmüdigkeit. Der Absatz der Kartoffeln, insbesondere Frühkartoffeln, geht meist durch hiesige Händler in die dichtbevölkerten Industriegegenden nach Westfalen und nach dem Königreich Sachsen. Die Verwertung der Zichorien ist die bestmöglichste durch Beteiligung an einer Zichorien-Darre, G. m. b. H.; auch die Zuckerrüben werden dorthin geliefert. Diese Gesellschaft wurde Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gegründet und seit der Zeit ist infolgedessen der Bestellplan der Wirtschaft nach einer bestimmten Richtung, und nicht zum Schaden, beeinflußt. Allerdings ist die Verwertung der Zichorienwurzeln äußerst schwankend, veranlaßt durch den belgischen Wettbewerb, der dort unter viel günstigeren Bedingungen arbeitet. Ein Versuch Ende des vorigen Jahrhunderts, Oelrosen in größerem Maße zu bauen und daraus Rosenöl herzustellen, schlug trotz größter darauf verwendeter Mühen und Kosten fehl; die Plantagen waren nicht frostsicher, nicht ergiebig genug, und zu den Schwierigkeiten in der Fabrikation kamen noch solche im Absatz des Rosenwassers. Die schlechten Erfahrungen ermunterten nicht

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zur Wiederholung derartiger Experimente, es wurden dafür die Pflege und Verbesserung altbewährter Kulturen zur Richtschnur genommen. (Schulde, 1914: 113-115) Anlage Nr. 8 Entwurf der Statuten einer Sparkassen-Gesellschaft %u Eggenstedt von 1846 Geschehen auf dem Rittergute Eggenstedt am 13. October 1846. Wie das Protokoll vom 11. d. M. u. J. bestimmte, hatten sich, behufs Entwerfung der Statuten auf dem Rittergute Eggenstedt in der Behausung des zeitigen Pächters Wilhelm Franz eingefunden: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

der Vorsitzende der Sparkassengesellschaft W. Franz, der zeitige Ortsvorsteher, Förster Kunkel, das Directionsmitglied, Hofmeister Volkstedt, das Directionsmitglied, Steinhauermeister Bock, das Directionsmitglied, Kossath Habekost, das Directionsmitglied Franz Weber, das Directionsmitglied Christiane Kohlmeister.

Der Ortsvorsteher Kunkel gab zunächst das Versprechen, daß er gern den Versammlungen der Directionsmitglieder als Beirath beiwohnen werde; auch wolle er die Zusage geben, daß er (im Fall der jetzige Vorsitzende durch den Tod oder sonst verhindert würde, die Leitung und Besorgung der Kasse ferner zu übernehmen) solange die Führung der Bücher und der Kasse beschaffen werde, bis das Directorjum der Kasse oder die betreffende Behörde über das Institut verfügt habe. Ueberall wolle er das Gedeihen der nützlichen Kasse befördern helfen, so viel es in seinen Kräften stehe. Nachdem der Vorsitzende W. Franz mit den Directionsmitgliedern, wegen der Nothwendigkeit schriftlicher Statuten einig war, wurden die folgenden Paragraphen wohlbedächtig verabredet und niedergeschrieben:

§1 Zweck der Kasse. Die Sparkasse wird errichtet zum allgemeinen Besten der Commune und der Bewohner zu Eggenstedt. Die anwesenden Directionsmitglieder halten sich fest überzeugt, daß nicht allein der physische, sondern auch der moralische Zustand der Einwohner sich durch die Benutzung der Kasse bessern werde. §2 Theilnehmer an der Kasse. Alle Einwohner des Dorfes Eggenstedt ohne Ausnahme, als auch das zu Eggenstedt dienende Gesinde, haben das Recht ihre Ersparnisse in die Kasse niederzulegen. Dasselbe Recht haben Eggenstedter Kinder welche auswärts dienen oder Geschäfte betreiben. Auch soll es, bis nicht das Gegentheil vom Directorium ausgesprochen ist, den Dienstboten, welche Geld während ihrer Dienstzeit im Dorfe der Kasse anvertraut haben, — gestattet sein, das Geld ferner in der Kasse zu belassen, wenn sie die Absicht haben, später in das Dorf zurückzukehren. §3 Directorium. Nach dem Wunsche der Theilnehmer ist der Richter der Kasse, Wilh. Franz, zeitiger Vorsitzender in der Gesellschaft, es hat derselbe übrigens nur eine beirathende, keineswegs eine entscheidende Stimme im Directorio. Der jedesmalige Ortsvorsteher zu Eggenstedt ist beirathendes Mitglied des Directoriums. Das eigentliche.beschließendeDirectorium der Gesellschaft besteht aus 5 Mitgliedern,welche von sämmtlichen Theilnehmern an der Kasse gewählt wurden. Unter diesen 5 DirectionsMitgliedern soll jederzeit „ein Mitglied aus dem zur Zeit im Dorfe befindlichen Gesinde,

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ein Mitglied aus den jungen Mädchen des Ortes gewählt sein". Stimmenmehrheit der in der October-Haupt-Versammlung anwesenden Mitglieder entscheidet definitiv die Wahl der Directionsmitglieder. Der Kandidat für das Directorium muß das 18 te Lebensjahr zurückgelegt haben. Die Directionsmitglieder versprechen, — nachdem sie die auf sie gefallene Wahl angenommen haben, — das Beste der Kasse ein Jahr lang, nach besten Kräften wahrnehmen zu wollen. §4 Zeit der Versammlungen. Obliegenheiten derselben. So oft als über das Belegen von Capitalien bestimmt werden muß, oder als sonst das Gedeihen der Kasse es nöthig machen wird, ruft der Vorsitzende das Directorium zu einer Versammlung zusammen. Die 5 Directionsmitglieder bestimmen nach Stimmenmehrheit über das Belegen der gesammelten Capitalien, und machen alle Anordnungen, welche das Gedeihen der Gesellschaft fördern. In der Regel sollen die Capitalien nur auf erste, ganz sichere Hypothek ausgeliehen werden. Wenn es das Beste der Gesellschaft nöthig machen sollte, so kann auch im Laufe des Jahres jederzeit vom Vorsitzenden oder dem Directorio eine Generalversammlung aller Theilnehmer angeordnet werden. Die alljährige, statutenmäßig nothwendige Hauptversammlung aller Theilnehmer findet in den ersten Wochen des October statt. In dieser Versammlung werden folgende Geschäfte vorgenommen. 1. Es berichtet Vorsitzender über den Stand der Kasse, 2. Das abgehende Directorium erklärt der Versammlung, „daß es das Rechnungswesen gründlich eingesehen habe, macht etwaige Erinnerungen dagegen, und schlägt, wenn die Praxis Aenderungen in den Statuten als wünschenswerth erscheinen ließ, solche der Versammlung vor." 3. Die General-Versammlung wählt für das nächste Jahr die Directionsmitglieder, wobei indeß die vorjährigen wieder wählbar sind. 4. Die im Lauf des Jahres von den eingelegten Geldern verdienten Zinsen, werden den Einsetzenden gut geschrieben. 5. Die Einsetzenden vergleichen ihr Contoblatt im Hauptbuche mit ihrem in Händen habenden Contra-Zettel. §5 Verzinsung der eingelegten Gelder. Der Vorsitzende W. Franz verspricht hierdurch feierlichst die eingelegten Gelder von Stunde an mit 4%. seinerseits so lange verzinsen zu wollen, bis sich die Einsätze zu einem kleinen Capital vereinigt haben, welches das Directorium sicher unterzubringen im Stande ist. §6 Rechnungsführung. Der Vorsitzende W. Franz hat bereits die nöthigen Rechnungsbücher und Scripturen auf seine Kosten angeschafft und der Gemeinde Eggenstedt zum Geschenk gemacht. Es verspricht derselbe hierdurch auch feierlichst die Rechnungs- Verwaltung und Geschäftsbücher der Gesellschaft so lange unentgeltlich führen und besorgen zu wollen, als er nicht das Gegentheil mindestens 1 Jahr vorher dem Directorio wird angezeigt haben, oder als ihn der Tod nicht dieses Versprechens entbindet. In dem Hauptbuche wird ein jeder Einsetzer mit einem eigenen Conto aufgeführt sein, und erhält ein jeder Einsetzer außerdem einen mit dem Namenszuge des Rechnungsführers bezeichneten Contra-Zettel, worauf sein Guthaben gleichfalls aufgefüht ist. Wie schon bemerkt, erwachsen den Einsetzenden keinerlei Kosten aus der Führung der Sparcasse.

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§7 Rechnungscontrolle. Rechnungs-Decharge für den Rechnungsführer. Die Directionsmitglieder haben zu jeder Zeit das Recht und die Pflicht, die Einsicht der Rechnungsbücher zu beschaffen, und eine Special-Aufsicht über die Documente der Gesellschaft zu führen. Diese Revision soll, wo nicht öfter, statutenmäßig alle 6 Monate stattfinden. In der October-Hauptversammlung hat ein jeder Theilnehmer das Recht sein Conto in dem Hauptbuche einzusehen, die Richtigkeit desselben durch seinen Contra-Zettel zu prüfen. In der October-Hauptversammlung werden auch die verdienten Zinsen auf Verlangen den Theilnehmern ausgezahlt oder dem Contra-Zettel zugeschrieben. Es steht natürlich jedem Theilnehmer das Recht zu, gegen die Richtigkeit seines Contos zu prolectiren, und eine Revision durch das Directorium zu veranlassen. Wurde indeß binnen 4 Wochen vom Tage der Hauptversammlung angerechnet keine Einrede gegen die Richtigkeit erhoben; so wird angenommen, daß der Theilnehmer sein Conto als richtig erachtet, und ist dann die vollständige Decharge des Rechnungsführers eingetreten. §8

Recht an den beschafften Einsätzen, Zinsen. Nur der welcher der Kasse Geld anvertraut, hat das Recht in Person Einsätze und Zinsen zurückzunehmen. Wenn Kinder, welche noch unter natürlicher Gewalt stehen, in Person Einsätze machen, ein eigenes Conto im Hauptbuche und einen eigenen Contra-Zettel unter ihrem Namen führen, so soll angenommen werden, daß die Einlagen ihr Freies Eigenthum waren; in diesem Fall haben die Kinder auch ganz Disposition über Einsätze und Zinsen. Leisten indeß Eltern Einsätze für ihre Kinder, so sollen diese zwar auch nebst den Zinsen alleiniges Eigenthum der Kinder sein und bleiben; doch soll es den Eletrn freistehen, die Bedingung zu machen „daß das Kind Einsätze und Zinsen erst nach erlangter Volljährigkeit aus der Kasse nehmen darf." Werden aber Eltern und Kinder später über eine andere Dispositionsart einig, so dürfen sie jeder Zeit, wenn beide Theile vor dem Directorio ihren Willen erklären, auch anderweitig disponieren. §9 Zeit der Einzahlungen und Rückzahlungen. Tod eines Mitgliedes. In der Regel können pro jedem Sonntage, Nachmittags 4 Uhr, auf dem Rittergutshofe Einzahlungen geleistet werden. Um dieselbe Zeit wird ein jeder befriedigt werden, welcher von seinen Einsätzen und verdienten Zinsen etwas zurücknehmen will. Wird von einem einzelnen .Individuo indeß auf einmal mehr als 10 Thlr. verlangt, so soll dasselbe 8 Tage vorher kündigen. Einem jedem Theilnehmer steht es übrigens frei, zu jeder Zeit seine Gelder aus der Kasse zu ziehen. Stirbt ein Theilnehmer so sind die Erben desselben natürlich auch die Erben seines Sparkassen-Vermögens. §10 Entfernung eines Theilnehmers aus der Gesellschaft. Sollte ein Theilnehmer, der Gesellschaft durch Rohheit, Streitsucht oder dergleichen lästig werden; so steht es dem Directorio frei, das Ausscheiden dieses Mitgliedes zu veranlassen. §11 Die Königl. Regierungsbehörden sollen gebeten werden, die Einsätze der Sparkasse gegen all und jede Beschlaglegung sicher stellen zu wollen. Von Seiten des Führers der Kasse, des W. Franz wird hier ausdrücklich bemerkt, daß er die der Kasse anvertrauten Einsätze wie ein Heiligthum hegen und pflegen werde. Es

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begiebt sich derselbe hierdurch ausdrücklich jeden Eingriffes in die Gelder, mögen die Einsetzer ihm schuldig sein, mögen sie ihm Schaden zugefügt haben; nie und unter keiner Bedingung will er Regreß auf das Sparcassen-Vermögen ergreifen. Nur allein der, auf dessen Namen das Hauptbuchs-Conto und der Contra-Zettel lauten, hat jederzeit das Recht sein in Kasse befindliches Eigenthum zurückzunehmen, wie es § 8 und 9 bestimmen. §12' Höhe des Einsatzes für den einzelnen Theilnehmer. Ueber die Höhe des Einsatzes welchen der einzelne Theilnehmer in die Kasse der Gesellschaft leisten darf, läßt sich noch nichts bestimmen. Erst dann, wenn die Praxis deshalb Belehrung gewährt hat, kann darüber von der Gesellschaft etwas festgestellt werden. §13 Aenderung oder Ergänzung der Statuten. Jedem Mitgliede steht es frei nützliche Vorschläge in Betreff der Kasse zu machen, und sollen dieselben dem Directorio oder eventualiter der Haupt-Versammlung zur Prüfung vorgelegt werden. Wird der Vorschlag practisch befunden, so können die Statuten ergänzt oder geändert werden. Diese Statuten sind daher nicht als geschlossen zu betrachten, sondern sind auch ferner jeder verständiger Verbesserung erreichbar. §14 Confirmation durch die Königl. Behörden. Den Königl. Regierungsbehörden sollen diese Statuten von Seiten der Spargesellschaft zu Eggenstedt vorgelegt, „und um Confirmation derselben ergebenst gebeten werden." Die Gesellschaft bittet ihr eine Persönlichkeit beizulegen. Nachdem die obigen Statuten überlegt, verabredet und geschrieben waren, wurden sie den Anwesenden, oben benannten Mitgliedern noch einmal deutlich und vernehmlich vorgelesen und dann von diesen eigenhändig unterschrieben. Eggenstedt, am 13. October 1846. gez. W H L Franz Bock. Habekost. Weber. Kohlmeistern. Zusätze und resp. Abänderungen der Statuten für die Sparcasse zu Eggenstedt. 1. Laut Protocoll der General-Versammlung aller Theilnehmer an der Sparcasse zu Eggenstedt vom 14. Novbr. 1847. wurden folgende Zusätze zu den Statuten der Gesellschaft beliebt. a. ad § 4 der Statuten: Die General-Versammlung aller Theilnehmer findet künftig im November jeden Jahres statt, weil im Monat October, wegen der Kartoffelerndte nicht gut Zeit dazu ist. b. ad § 8 der Statuten soll hinzugefügt werden: es steht den Eltern welche für ihre Kinder Einsätze leisten, oder den Kindern, welche noch unter Natürlicher Gewalt stehen, erlauben Einsätze zu leisten frei, dabei auf dem Contra-Zettel und im Hauptbuche die Bemerkung zu machen: daß sie sich Disposition über diese Gelder vorbehalten: wenn aber, nach etwa erfolgtem Tode des Mannes, die Frau sich wieder verheirathet, so soll diese ferner keine Disposition über das Sparkassen-Vermögen der Kinder haben. c. ad § 12 der Statuten: Würde der Sparcasse ein Capital gebracht, welches für die Zwecke der-

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selben nicht passend erscheint, so soll das Directoium entscheiden, ob dieses Capital den Zwecken entsprechend ist oder zurückgewiesen werden muß. Eggenstedt am 14. Novbr. 1847. gez. W H L Franz. Bock. Habekost. Kohlmeistern Weber + + + Handzeichen des Volkstedt Kunkel, Ortsvorsteher. (STAM, Rep. C 20 Ia, Nr. 644, S. 355-359) Anlage Nr. 9 Aufstellung der durchschnittlichen Einnahmen und Ausgaben einer Arbeiterfamilie in einem Bördedorf (vermutlich Niederndodeleben) um 1872 Einsender dieses hat seit einiger Zeit in seinem Dorfe "N. bei Magdeburg Notizen gesammelt zur Beantwortung der Frage: Wie hoch belaufen sich in jetziger Zeit die Einnahmen und die Ausgaben einer ländlichen Arbeiterfamilie von 5 Gliedern (3 Kinder) im Magdeburgischen? Nachstehendes hat sich ihm ergeben aus wiederholter Prüfung von Mittheilungen zuverlässiger Hausväter und Hausmütter aus dem Arbeiterstande, glaubwürdiger Handwerker und Krämer; dazu fügte er seine eignen Berechnungen. Voran stelle ich die durchschnittlichen Jahres-Einnahmen und die Jahres-Ausgaben in Uebersicht; darnach füge ich beiden Aufstellungen Bemerkungen zum Verständniß hinzu. Thlr.

A. Einnahmen. 280 Arbeitsstage des Hausvaters d x/a Thlr. Verdienst der Frau Verdienst der 2 Knaben, 10—14 Jahre alt

Pf.

140 70 33 Summa

B. Ausgaben. Wohnung 15 Tonnen Braunkohlen d 20 Sgr. Holzspähne zum Anheizen d Woche 5 Sgr. Fleischwaare d Woche 5 Pfd. d 31/2 Sgr. Schmalz Brotkorn ä Woche Va Schfl. = 1 Thlr. 5 Sgr. Kartoffeln 1 Wspl. d Schfl. 20 Sgr. Ziegenmilch d Tag 1 j 2 Maß = 8 Pfg. Kleidung des Hausvaters Dem Barbier Kleidung der Mutter Desgl. für 2 Knaben Desgl. für ein Mädchen Schulgeld für 2 Kinder Für Schul-Utensilien Bettwerk und Leinen in Stand halten Kaufmannswaaren Haus- und Küchengeräth

Sgr.

243 18 10

8 30 6 60

20 10 20

16

8 17 1 8 20 5 1 5 70 1

3 1

4

7 10 14

6 7

27

3

19

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343 Thlr. 1 1 3 2 2

Steuern Zur Krankenkasse Für Vergnügen und Gastfreundschaft Bier a Sonntag 1 Sgr. 3 Pf. Zur Sterbekasse Dem Arzt, Wasserträger, Wunderdoctor, Apotheker Milde Gaben, Collecten Kirchliche Abgaben, Accidenzien usw. Für Kalender, Bücher, Zeitung

Sgr. 18

9

5 15 5 15 5

Summa

299

Specification. 1. Kleidung des Hausvaters: 1 Sonntagsrock sammt Hose, Weste (auf 12 Jahre ausreichend, 12 Thlr.) = 1 Thlr., Arbeitsrock für je 2 Jahre (ä 10 Thlr.) = 5 Thlr., 1 Jacke 1 Thlr. 20 Sgr., 2 Arbeitshosen 3 Thlr. 10 Sgr., 1 Weste 1 Thlr., 2 Hemden 2 Thlr. 20 Sgr., 3 P. Strümpfe 1V2 Thlr., 1 P. neue Stiefel (auf 3 Jahre) per Jahr 1V3 Thlr., 1 P. Vorschuh 2V2 Thlr., 2 Sohlen mit Flicken 1 Thlr. 20 Sgr., 1 P. Pantoffeln 6 Sgr.

Pf.

10

17

Thlr.

3 Sgr.

Pf.

17

2. Kleidung der Hausmutter: a. für Sonntage oder auf Lebenszeit 1 Mantel 5 Thlr., Rock 3 Thlr., Camisol 1V2 Thlr., Schürze 1 Thlr., schwarzes Tuch 2 Thlr. — 12jähr. Durchschnitt 1 Thlr. 1 Sgr. 3 Pf. b. Arbeitszeug: Rock für 2 Jahre (ä l l / a Thlr.) = 22 Sgr. 6 Pf., Schürze 1 Thlr., Camisol l1/* Thlr., Kopftuch ä 7V2 Sgr. (auf 2 Jahre) = 3 Sgr. 9 Pf., 1 P. Schnürstiefel l1/* Thir., 1 P. Schuhe 1 Thlr. 5 Sgr/, 1 Paar Lederpantoffel 1 Thlr., 1 P. Holzpantoffel 5 Sgr. 3. Kleidung der 2 Knaben: 4 P. Pantoffel 20 Sgr., 2 P. Stiefel auf 2 Jahre 3 Thlr., 2 P. Sohlen 1 Thlr., 1 P. Vorschuh 1V2 Thlr., a. Sonntagszeug: Rock 37 2 Thlr., Hose l1/2 Thlr., Weste 20 Sgr., Tuch 10 Sgr., Mütze 10 Sgr. - auf 4 Jahre (2 Thlr. 20 Sgr.) b. Arbeitszeug: 1 Jacke 1V2 Thlr., 2 Hosen 2l/2 Thlr., 1 Weste 15 Sgr., Tuch 71/2 Sgr. NB. Das Zeug doppelt zu rechnen für 2 Knaben.

20

10

4. Kleidung eines Mädchens: a. Sonntagszeug: Kleid 2 Thlr. 21/2 Sgr., Jacke 1 Thlr., Schürze 71/» Sgr., — auf 3 Jahre (1 Thlr. 3 Sgr. 4 Pf.) b. Arbeitszeug: Kleid 2 Thlr., Schürze 6 Sgr. 3 Pf., Tuch 10 Sgr., dazu 1 P. Stiefeln 1 Thlr. 5 Sgr., 1 Paar Sohlen 10 Sgr., 2 P. Pantoffeln 10 Sgr.

5

14

5. Schul-Utensilien: Stahlfedern 3 Sgr., Bleifedern 1 Sgr., Schreib- und Zeichenhefte 16 Sgr., Dinte 3 Pf., Bücher (für die 9jähr. Schulzeit 2 Thlr. 3 Sgr.) = 7 Sgr. Reis 1 Sgr. 3 Pf., Vi Pfd. Graupen 8 Pf., Essig 6 Pf., Thee gegen Husten 6 Pf., 1V2 Pfd. Salz 1 Sgr. 6 Pf., 20 Loth Kaffee 6 Sgr., V2 Pfd. Pflaumen 1 Sgr. 6 Pf., 6 Käse 3 Sgr., 2 Heringe 1V2 Sgr., Tabak 1V2 Sgr., Cigarren 1 Sgr. 3 Pf., Vi Pfd. Zucker 1 Sgr. 4 Pf., Gewürz, Pfeffer 6 Pf., Vi Metze Bohnen 2 Sgr., Vs Metze 23

AK, Landarbeiter U

1 > J

27

70

19

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Linsen 1 Sgr. 3 Pf., Wichse 3 Pf., Brennöl l1/« Sgr., Speiseöl IVa Sgr-, Weizenmehl 3 Sgr., Brantwein 6 Sgr., Cichorien 1 Sgr., Soda und Seife 21j2 Sgr., Stärke 6 Pf., Zwirn und Nadel 3 Pf. Summa für die Woche 1 Thlr. 10 Sgr. 9 Pf., aufs Jahr. Bemerkungen. A . Einnahmen. Von 365 Tagen rechne ich ab 53 Sonntage, 7 Festtage, 19 Regentage, 6 Krankheitstage, so daß 280 Tage bleiben. 15 Sgr. Tagelohn ist ein mäßiger Durchschnittssatz. Es verdienen jetzt pro Tag im Sommer:

Frauen od. schwache Männer beim Hacken der Feldfrüchte ä Tag Männer beim Hacken im Accord Männer für Mähen um Geldlohn Fabrikarbeiter Tagelöhner auf der Ziegelei Accordarbeiter auf der Ziegelei Tagelöhner beim Eisenbahnbau Accordarbeiter bei demselben

Thlr.

Sgr.

1

10 20 5 15 20

1 20 1

Für den Winter reduciren sich die Löhne etwas, können aber für Erdarbeiten, Fabrikarbeiten, Weben von Leinewand u. dergl. auf täglich Vl 1 ^—15 Sgr. berechnet werden. Kinder, über 10 Jahre alt, erhielten in den letzten Jahren für Feldarbeit (Zuckerrüben verziehen und abhacken, Cichorien abbrechen, Korn wieten) am Nachmittag 5 Sgr., für ganze Tage 10 Sgr. Nach dem Durchschnitt der letzten 6 Jahre erhielten die Schulkinder der Arbeiter im Sommer 26 Nachmittage frei zur Feldarbeit, dazu gehen sie Mittwochs und Sonnabends Nachmittags auch auf Arbeit. A n 30 Ferien tagen erhielten sie ä 10 Sgr. B. Ausgaben. Zur Wohnung gehört 1 Stube, 1 Kammer und 1 Ziegenstall und verausgabt der Arbeiter dafür der Gesammt-Einnahme. Für Fleischwaare müssen 31/i bis 5 Pfd. in Ansatz kommen. Der Arbeiter ißt wöchentlich 3 mal Fleisch, nicht wenige täglich excl. Mittwoch und Sonnabend. Jede Familie, die nicht ganz heruntergekommen ist, schlachtet sich ein Schwein, die besser gestellten auch eine Kuh, die sie von Michaelis bis Weihnachten futtern und davon sie Milch und Dünger haben. Das Pfund kostet ihnen ca. 1/13

3 7 , Sgr. Jeder Arbeiter hat eine Ziege. Sie giebt täglich a/4—1 Maß Milch, aber nur 3/4 Jahr. Drum ist hier aufs Jahr täglich nur 1/2 Maß berechnet. Der Arbeiter läßt sich jeden Sonnabend rasiren. Die Kaufmanswaaren sind sehr genau in Ansatz gekommen. In guten Jahren gehen 70 Thlr. 19 Sgr. drauf; in der obigen Aufstellung sind keine Abzüge für dürftige Jahre und Verhältnisse vorgenommen. An Staatssteuern sind für die Eheleute ä Kopf monatlich 1 Sgr. 3 Pf. berechnet. An Krankenkassen sind nicht alle Arbeiter betheiligt, aber doch die größere Zahl. Sie geben wöchentlich 1 Sgr. 3 Pf., aber nur 1/2 Jahr bis 1 Jahr, jenachdem sie zur Fabrik gehen (Winter) oder auf den Oeconomiehöfen der Fabrikanten arbeiten (ein ganzes Jahr). Zur Todtenlade in der Neustadt Magdeburg gehören jetzt 129 hiesige Gemeindeglieder. Meistens treten beide Eheleute mit einander ein und zahlt die Person jährlich 1 Thlr. Im Sterbefall zahlt die Kasse 4 0 - 5 0 Thlr.

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An kirchlichen Collecten, sowie besonders an Sammlungen für Abgebrannte, Verunglückte u. dergl. betheiligt sich der Arbeiterstand im ganzen sehr gern. Der Kaiserswerther Kalender, der Königsberger Volksfreund, Missionsblätter werden von einer größern Anzahl von Arbeitern gehalten. An Licht gebraucht eine Arbeiterfamilie im Winter (6 Monate lang) wöchentlich 3 Sgr. Denn sie brennt täglich ca. 5 Stunden und reicht mit 1 Pfd. Steinöl ( = 5 Sgr.) 70 Stunden = 14 Tage. Somit gebraucht sie die Woche für 27 2 Sgr. Steinöl; dazu kommt 6 P f . für Rüböl und Talglicht. Endlich ist die Differenz zwischen der Einnahme und der Ausgabe beachtenswerth. Sie gleicht sich aus entweder durch Mehreinnahme oder durch verminderte Ausgabe, je nachdem die Verhältnisse günstig oder ungünstig sind. Bringen wir von der Gesammtausgabe 1/6 für Nothzeiten in Abzug (59 Thlr. 19 Sgr. 10 Pf.), so verbleibt eine Gesammtausgabe von 239 Thlr. 19 Sgr. 10 Pfg., welche nahe an die durchschnittliche Einnahme von 243 Thlr. hinanreicht. Ueber das thatsächliche Sparen des hiesigen Arbeiters cfr. Artikel II. Zum Schluß erinnere ich daran, daß die obige Berechnung der Einnahme einen freien Arbeitsmann im Auge hat, nicht einen Drescher auf einetn Ackerhofe; letzterer steht sich durch seine Naturalgefälle beim Mähen und Dreschen um ein Bedeutendes besser. Aus dem I. Artikel scheint sich zu ergeben, daß der Arbeiterstand in jetziger Zeit nicht sparen kann, ja daß er Schulden machen muß und allerhöchstens sich nothdürftig durchschlagen wird. Es läßt sich nicht leugnen, daß eine Arbeiterfamilie mit 3 Kindern, so lange letztere noch unter 10 Jahren sind und die Mutter am Broterwerb vielfach gehindert ist, wohl nichts oder doch nur ein ganz Geringes im Jahr erübrigen kann. Ganz anders steht es mit dem jungen Arbeiter vor seiner Verheirathung und mit einer Familie, deren Kinder mitverdienen. Daß in diesen Fällen gespart werden kann, wenn nur der Wille dazu da ist, ja daß fleißige und kräftige junge Leute sich hübsche Summen für den zukünftigen Ehestand erspart haben, lehrt die Erfahrung. Ein besonderer Verdienst erwächst dem arbeitsamen Hausvater in unserer Gegend aus dem Cichorienbau. Mit Cichorien wird vielfach alle 3 Jahre der Acker bestellt; sie erfordern wenig Düngen, aber fleißiges (3maliges) Hacken. Meistens gibt der Ackerbesitzer den bestellten Acker und der Arbeiter besorgt das Hacken früh Morgens und spät Abends außerhalb der ordentlichen Arbeitszeit: beide aber theilen sich in den Ertrag. Im Durchschnitt bringt der Morgen 100 Centner ä '/¡¡Thlr., und da die Cichorie eine sehr zuverlässige Frucht ist, so rechnet der Arbeiter wenigstens jedes 3. Jahr (falls er nämlich nur ein Ackerstück für Cichorien hat und nicht mehrere), mit ziemlicher Sicherheit auf 5 % Thlr. = 25 Thlr. baare Nebeneinnahme. Aber der Ertrag ist oft viel bedeutender, je nachdem die Preise sich stellen. Es haben einzelne Arbeiter schon 90 Thlr. baar in einem Jahre aus dem Cichorienbau gewonnen. Von dem Ertrag der Cichorien schreibt sich im Grunde das Ersparte in unserm Arbeiterstande her. Die Hauptsache aber ist und bleibt, daß sich in der bei weitem überwiegenden Mehrheit unseres kleinen Standes ein unverkennbarer Trieb nach Vorwärtskommen und Eigenthum findet, sowie eine Furcht, aus der Reihe der zahlungsfähigen Arbeiter in die der Armen zu kommen. Daß ein solcher ehrenwerther Sinn im großen Ganzen unserm Arbeiterstande innewohnt, und zwar nicht erst seit kurzem, lehren folgende Thatsachen, deren Richtigkeit ich verbürge. 1. Die Anbauer in unseren Gemeinden, welche seit dem Jahre 1700 entstanden sind, bekamen keinen Antheil an der gemeinen Mark und wurden bei der 1847 stattgehabten Separation nur mit einem Stückchen Anger für ihr observanzmäßig geübtes Weiderecht entschädigt. Gleichwohl hat die Klasse der Häusler jetzt von der ganzen Feldmark den neunten Theil im Besitz; die 135 Häusler besitzen nämlich 5101/2 Morgen und die 96 alten Hofstellen 4100 Morgen. Diese Thatsache weist uns auf einen dem kleinen Stande seit Alters einwohnenden Trieb zum Vorwärtskommen hin und zeigt, wie er es thatsächlich zum Eigenthum mehr und mehr gebracht hat. 2. Die Anbauer auf unsern Dörfern gehören fast ohne Ausnahme dem kleinen Arbeiter23*

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stände an. Und in welcher Progression haben sich speciell in unserem Dorfe die Anbauer vermehrt? 1700—1750 entstanden 5 Anbauer. 1751-1800 „ 12 1801-1825 „ 9 1826-1850 „ 29 1851-1871 „ 50 Ist dies nicht ein handgreiflicher Beweis vom Vorwärtskommen des kleinen Standes? Die Separation, die gesteigerte Cultur des Ackers, das Fabrikwesen, besonders der Cichorienbau seit etwa 1827 haben den Zuwachs der Neu-Ansiedelungen befördert. 3. Seit dem November 1862 ist hierorts eine Filiale der Kreis-Sparkasse errichtet. Die Einlagen in den Jahren 1863-1871 waren: 1485 Thlr., 2159 Thlr., 4015 Thlr., 2183 Thlr. im Jahre 1866, 2774 Thlr., 3088 Thlr., 4070 Thlr., 2462 Thlr. (1870 Krieg), 5013 Thlr. 1863 legten 68 Personen, 1871 aber 124 Personen Geld in die Sparkasse. Und unter den Sparenden befanden sich mehr und mehr besonders Leute aus dem Arbeiterstande. Die Summe des Jahres 1871 insonderheit erklärt sich aus den hier ausgeführten Erdarbeiten zur Magdeburg—Halberstädter Eisenbahn, die unserm Arbeiterstande reichen Tagelohn brachten. 4. Nach dem Durchschnitt der 10 Jahre 1861—1870 hatte unsere damals etwa 1500 Seelen zählende Gemeinde nur 13 Personen, die aus öffentlichen Mitteln jährlich unterstützt wurden und war die für die Armen jährlich verausgabte Summe nur 166 Thlr. 19 Sgr. Es ist im hiesigen Arbeiter ein natürliches Ehrgefühl und löblicher Stolz, daß er sich nicht ohne größte Noth von der Gemeinde will ernähren lassen. Wohl aber nehmen sie in Krankheitsfällen und Nothzeiten gern eine Liebesgabe aus der kirchlichen Krankenkasse und überbringt dies Geschenk der Pastor oder ein Kirchvater persönlich. 5. In unserer confirmirten Jugend ist ein Trieb nach weiterer Ausbildung. Von den 1861 Ostern bis 1870 Ostern confirmirten 174 Söhnen unserer Gemeinde lernten 9 das Lehramt (Elementarlehrer), lernten 93 ein Handwerk dienten 16 als Enken, Knechte bei den Bauern, dienten 11 als Enken, Knechte auf den Oekonomiehöfen der Fabriken bei Ochsen und Pferden, blieben 45 zu Haus und halfen dem Vater in der Hofarbeit oder gingen auf fremde Feld- und Fabrikarbeit. Unsere confirmirten Töchter des kleinen Standes ziehen den Mägdedienst bei einer Herrschaft immer noch dem freiem aber gefährlichem Stande der Fabrikarbeiterinnen vor. Die einzigen Töchter und die kränklichen bleiben bei den Eltern, ebenso die das Nähen als Geschäft treiben wollen (wir haben 30 Näherinnen im Dorf); von den übrigen seit Ostern 1861 bis Ostern 1870 77 Confirmirten wählten 55 den Mägdedienst. 6. Nach Aussage der hiesigen Krämer bezahlen zwar viele Familien des Arbeiterstandes besonders im Frühjahr, wenn die Winter-Ersparnisse aufgezehrt sind und die Feldarbeit noch nicht beginnt, ihre entnommenen Lebensmittel nicht sofort, sondern borgen; indeß zahlt die Mehrheit ihre Schulden richtig ab und sind es Ausnahmen, daß der Krämer das Gericht zu Hilfe rufen muß oder gar betrogen wird. (Ein Beitrag zur Lohnstatistik ..., 1872: 289—290 und 300—301) Anlage Nr. 10 Bericht des Superintendenten über die Bemühungen um die Fortbildung schriften" in der Diözese Barleben um 1845

des Volkes durch

eckmäßige Volks-

Von derselben Überzeugung ausgehend, die die verehrl. Verfügung vom 31. Oct. pr. ausspricht: „Daß die Beförderung des Lesens tüchtiger und in aller Absicht geeigneter Volksschriften ein

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Hauptmittel zur Fortbildung der der Schule entlassenen Jugend u. des gesammten Volkes sei" — u. — wie ich hinzuzusetzen erlaube, daß durch Errichtung von Volks- u. Schul-Lesebibliotheken der weit verbreiteten und höchst schädlichen Leserei von unnützen, zum Theil schmutzigen u. unsittlichen Romanen am besten entgegengearbeitet werden könne: habe ich es mir seit dem Jahre 1839 angelegen sein lassen, in meiner Gemeinde u. in meiner Diözes Volks- u. Schul-Lesebibliotheken zu begründen, u. lege, der alleg. geehrten Verfügung gemäß, Einer Königl. Hochlöbl. Regierung ganz gehorsamst vor, was in dieser Beziehung geschehen ist. Diesem gehorsamsten Berichte schicke ich nur die Bemerkung voraus, daß ich gleich nach Antretung meines Superintendentur-Amtes (im Jahre 1835) einen Pastoral-Lesezirkel, woran sämmtliche Geistliche meiner Diözes Theil nehmen, u. einen pädagogischen Lesezirkel, worüber ich mich in meinem ehrerbietigen Berichte über die Schullehrer-Konferenz v. 7. Januar c. geäußert habe, gestiftet u. bis jetzt fortgeführt habe. — Der Pastoral-Lesezirkel nimmt theol. philosophische u. geschäftl. Werke auf. Jedes Mitglied zahlt alljährlich etwa 1 T h l r . ein. Die ... [unleserlich — H. Plaul] wählt die Bücher aus. Monatlich werden dieselben gewechselt. Ich leite beide Lesezirkel u. suche mich, um Bücher vorschlagen zu können, immer in Bekanntschaft mit der Literatur zu erhalten. — Die Pastoral- u. Schullehrer-Konferenz bieten Gelegenheit dar, den Inhalt zu besprechen u. das Lesen für die Amtsführung ersprießlich zu machen. — Nach dieser beiläufigen Bemerkung, wozu die allg. geehrte Verfügung durch den Schlußsatz Veranlassung gab, kehre ich zu den Volks- u. Schul-Lesebibliotheken zurück. Bei Errichtung v. dergleichen Bibliotheken leitete mich a) hinsichtlich der Heranziehung von Lesern der Gesichtspunkt, daß es am besten sein möchte, Schul-Lesebibliotheken zu gründen, d. h. die zu errichtenden Bibliotheken nicht bloß so zu nennen, sondern auch eines Theils die Bücher so auszuwählen, daß sie von den geförderten [? — H. Plaul] Schulkindern u. v. etwa aus der Schule Entlassenen mit Nutzen gelesen werden könnten, u. andern Theils durch die Schulkinder u. das jüngere Geschlecht die Bücher in die Hand der Eltern u. Erwachsenen zu bringen. Alle diejenigen Schriften, welche man ge... [unleserlich — H. Plaul] Schulkindern u. jüngeren Leuten ... [unleserlich — H. Plaul] in die Hand geben kann, u. die für sie Interesse haben, sind auch Bücher, die man Landleuten reichen darf, die sie verstehen, u. die sie interessieren. Wobei man ... [unleserlich — H. Plaul] werde, daß alle Bücher, die man den Erwachsenen übergiebt, jeden Falls so beschaffen sein müssen, daß sie auch v. Kindern ohne Nachtheil gelesen werden können, weil sie diesen, wenn sie in einem Hause benutzt werden, doch in die Hände kommen, u. weil man die Kinder nicht selten zum Vorlesen anstellt. b) Hinsichtlich der Auswahl leitete mich der unter a bereits angedeutete Gesichtspunkt, näher bestimmt, im dreifachen: Belehrung, Erbauung, Ergötzung; d. h. ich dachte an solche Bücher, die, faßlich geschrieben, hinsichtlich der Form das Interesse erregen (Erzählungen, Geschichte, Mährchen etc.) u. durch den Inhalt belehren u. erbauen; also nützliche Kenntnisse mittheilen u. zu einem christl. Lebenswandel leiten. Eigentl. Erbauungsschriften sind ausgeschlossen; denn sie würden nicht gelesen werden, u. müssen Eigenthum der Leser sein, und doch lange von ihnen benutzt werden können. Durch den Schul-Lesebibliotheks-Katalog v. Barleben, den ich ganz gehorsamst beifüge, dürfte am Besten ersichtlich werden, worauf ich bei den auszuwählenden Büchern gesehen habe; nur muß ich gleich noch bemerken, daß sich in jeder Bibliothek (auch in unserer eigenen) Bücher einschleichen — die man nicht gerade gekauft haben würde, wenn sie nicht (etwa auf einer Bücher-Auktion) wohlfeil zu haben gewesen wären, oder die durch Schenkung u. sonst in uns. Hände Übergehn. So gehts auch bei Lesebibliotheken, u. mein Katalog enthält auch solche — weniger sich eignende Bücher; aber die meisten entsprechen ihrem Zwecke. Diejenigen Bücher, welche ich als durchaus geeignet halte für Schul- u. Dorf-Lesebibliotheken, habe ich in meinem Kataloge roth unterstrichen. Von dem eben angedeuteten Standpunkte aus u. nach vorstehenden Ansichten habe ich das Werk angegriffen — u. zu Errichtung von Volks-Bibliotheken in meinen Diözesen vor mehreren

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Jahren aufgefordert. Was nun geschehen ist, das erlaube ich mit Einer Königl. Hochl. Regierung nach den in der geehrten Verfügung aufgestellten Fragen vorzulegen. 1) Von wem und auf welchem Wege sind die gemeinten Lesebibliotheken gestiftet? Es bestehen jetzt in meiner Diözes Schul- u. Volks-Lese-Bibliotheken a) in Kl. Ammensieben; b) in Barleben; c) in Dahlenwarsleben; d) in Dreileben; e) in Ebendorf; f) in Gutenswegen; g) in Olvenstedt; h) in Gr. Rodensieben; u. i) in Wellen. Sämmtliche Bibliotheken sind von den betreffenden Geistlichen gestiftet, mit Ausnahme der in Olvenstedt, die d e r . . . [unleserlich — H. Plaul] Hermann Walther, der sich vor einigen Jahren in Olvenstedt aufhielt (Er hat auch ein empfehlenswerthes Büchelchen über . . . [unleserlich — H. Plaul] geschenkt — bei Heinrichshofen zu Magdeburg —) gestiftet hat. In Barleben u. Gr. Rodensieben haben die Lehrer Fritzsche, Kleinau u. Schröder dadurch einigen Antheil an der Gründung genommen, daß sie einige Bücher in die Bibliothek geschenkt haben. Die Stifter derselben haben: die einen durch Vorschüsse aus ihrer Tasche, die andern durch Benutzung der einen Theil der Schulversäumniß-Strafgelder, noch andere gänzlich aus ihrer Tasche, u. hat alle durch Hergebung von passenden Büchern aus ihrer Bibliothek dieselben begründet. 2) Wie sind dieselben organisiert, u. wie werden sie verwaltet? Sämmtliche Bibliotheken sind Schul-Lesebibliotheken nach dem oben von mir angegebenen Gesichtspunkte. Wir meinen auf diese Weise die Sache am besten eingeleitet zu haben. Auch lesen in allen Gemeinden auch Erwachsene, in einigen sehr viele aus diesen Bibliotheken. Wir haben uns Kataloge angelegt, in welche die Bücher gleich nach der Anschaffung eingetragen werden. Die Bücher bekommen die Bibliotheks-Nummer. Besondere Rubriken sind bis jetzt nicht nöthig geworden, da der Vorrath sich auch so übersehen läßt. — Die Geistlichen verwalten die Bibliotheken, d. h. sie haben die Bücher in ihrem Hause, geben dieselben aus u. nehmen sie wieder in Empfang; nur in Barleben u. Gr. Rodensieben verwalten der Lehrer Kleinau u. der Organist Schröder die Bibliothek, d. h. sie haben die Bücher in dazu beschafften Schränken, u. besorgen das Ausgeben der Bücher u. das Einziehen der Lesegelder. 3) Woher kommen die Fonds zu denselben? Wie sie beschafft sind, ist unter 1. angemerkt. Die Fortführung und Erhaltung wird durch ein geringes Lesegeld erzielt. Einige Bibliotheken lassen sich für jedes Buch 3 Pfennig, andere ein monatliches Lesegeld für je ein Buch von 1 Sgr. 3 Pf. bis 2 Sgr. entrichten. Findet sich Gelegenheit, auch sonst Fonds herbeizuschaffen, so wird dies benutzt. — Anbei bemerke ich, daß dies Lesegeld nicht gut ausreicht, um die Bibliothek angemessen u. nach Wunsch zu vermehren, da die Bücher sich schnell abnutzen, u. da sie vereinzelt eingebunden u, mit neuen Umschlägen versehen werden müssen. Ein bedeutenderes Lesegeld läßt sich aber auch nicht gut erheben, weil das v. Lesen abschrecken würde. 4) Wer besorgt die Auswahl der Schriften? Die Geistlichen besorgen die Auswahl. Mehrere haben sich das Verzeichniß der Barleber Bibliothek eingefordert u. haben dann die Bücher angeschafft. Ich pflege auch gelegentlich auf solche Bücher, die ich für passend halte, aufmerksam zu machen. Außer einem Katalog, wie ich schon bemerkt habe, füge ich noch den v. Gr. Rodensieben ganz gehorsamst bei, indem in diesen beiden die meisten Bücher, die in meiner Diözes zu

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diesem Zweck vorhanden sind u. gebtaucht werden, angegeben sind. Ich erlaube mir noch eine Schlußbemerkung. Gewiß [? — H. Plaul] sind Volks- u. Lesebibliotheken nützlich; allein der Roman-Leserei thun sie doch nicht so viel Abbruch, als ich anfänglich geglaubt habe, u. dies kommt mit daher, daß die Leihbibliotheken ganze' Ladungen v. Büchern auf das Land schicken u. v. den Colporteuren gegen ein geringes Lesegeld austheilen lassen. Ich weiß nicht, wie das gehindert werden könnte, u. wird es gehindert, so öffnen sich schon andere Wege, um zu Ritter-Romanen u. Räuber-Geschichten zu gelangen. Alle technologischen u. landwirtschaftlichen Bücher werden weniger gelesen, als ich vermuthete; dagegen werden Mährchen, u. Erzählungen (z. B. Gustav Schwabs Volksbücher, Grimms Kinder-Mährchen, Schuberts Erzählungen etc.) in kurzer Zeit zerlesen [siel]. Will der Bibliothekar das Interesse rege erhalten u. das Entnehmen v. Büchern aus seinem Vorrath befördern, so muß er sich in Etwa nach dem Geschmacke seiner Leser richten ; d. h. wir Geistliche in so weit, als es mit uns. Zwecke vereinbar ist. N. N. Katalog der von dem Herrn Pastor Behrends hierselbst errichteten Volkslesebibliothek 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34.

Geliert's Schriften I und II Teil, doppelt. Zschokke, Stunden der Andacht. 2 Bände. —, Branntweinpest. Musäus, Volksmährchen 1—5 Bändchen. Querner, Volksmährchen. Grimm, Mährchen der Tausend und Eine Nacht. Erster Band. Lothar, Volkssagen und Mährchen. Herder und Liebeskind, Palmblätter 1 —4 Bändchen. Krummacher, Festbüchlein. 2 Theile. Horn, Nero. Campe, Entdeckung von Amerika 4 Bände. —, kl. Kinderbibliothek 3 Bände. Der kleine Robinson. Wyß, schweizerischer Robinson. 3 Bände. Ukert, Gemälde von Griechenland. Niemeier, Griechenland 5 Bände. Die Osmanen 3 Theile. Magazin der wichtigsten See- und Landreisen 4 Bände. Zimmermann, Taschenbuch der Reisen. Sprengel, Bibliothek der neuesten Reisebeschreibungen 3 Bände. Forster, v. Beniowskis Reisen. Rathmann, Geschichte der Stadt Magdeburg. Becker, Noth- und Hilfsbüchlein. Steinbeck, Kalendermann. Der Kinderfreund, ein Wochenblatt Band 7 — 12. Zerrenner, Kinderfreund 2ten Theil. Ziegenbein, Lesebuch für Töchter. Ziehnert, der kleine Declamator. Wiedemann, Moral in Beispielen. Die wahre Gottseligkeit. Kirchmayer, Gesundheitslehre. Becker, Erholung 5 Bände. Lange, Hausfreund Jahrg. 1836—39 (37—39 doppelt). Die Abendgenossen, wird nicht mehr ausgegeben.

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35. Ruhestunden für Frohsinn und häusliches Glück. 36. Bertram, erzählender Freund. 37. (Amalie) Schoppe. Rosen und Dornen. 38. — —, Erzählungen aus der Gegenwart und Vergangenheit. 39. Gräfe's Theophron. 40. Die Ameise, 39te Sammlung. 41. Das Echo, 49 und 55te Sammlung. 42. Glaser, des Hauses Fluch und Segen. 43. (Lehnert) Eunomia. 44. Crasselt, Erzählungen. 45. Kleine lehrreiche Erzählungen für Kinder. 46. Die Thierfreunde. 47. Die drei Schulkameraden. 48. Lang, die Schicksale einer Sonntagsschülerinn. 49. —, Meinrad, eine Schweizerlegende. 50. J. Schmid, Der Fischer von Salerno. 51. —, Der Klausner am Pilatus. 52. —, Frühlings- und Sommerabende. 53. —, Herbst- und Winterabende. 54. Chr. Schmidt, die Ostereier. 55. —, Erzählungen. Erster Band. 56. —, Genofeva. 57. —, der Fensterladen. 58. —, Blüthen dem blühenden Alter gewidmet. 59. —, das Bäumchen. 60. —, Ludwig, der kleine Auswanderer. 61. Proben der waltenden Vaterhand Gottes von S. D. 62. Hoffmann, die Verbannten nach Sibirien. 63. Arendt, Lehrbuch des Land- und Gartenbaues. 64. Will, der kleine Obstzüchter. 65. Noch ein Mal! Zwei Erzählungen. 66. Gotthold, oder die Wege der Vorsehung. 67. Nieritz, Wahrheit und Lüge. 68. —, das vierte Gebot. 69. —, acht Tage in der Fremde. 70. —, der Findling. 71. Nieritz, der blinde Knabe. 72. —, die Wunderpfeife. 73. —, der junge Trommelschläger. 74. —, Clarus und Marie. 75. —, der junge Soldat. 76. —, die Negesclaven und der Deutsche. 77. —, der Johannistopf. 78. —, der kleine Bergmann. 79. —, die sächsische Schweiz. 80. —, der Bettelvetter. 81. —, die Reise nach Afrika. 82. —, die Söhne Eduard's. 83. —, die Grönlandfahrer. 84. —, der arme Geiger. 85. Müller, vaterländische Bilder. 86. Hildebrandt, Heldenthaten der Väter.

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87. Friedrich Wilhelm III 88. Schill. 89. Nettelbeck. 90. Wallenrods Fürst Blücher von Wahlstatt. 91. Rauschnick, Marschall Vorwärts. 92. Andreas Hofer. 93. Mignet, französische Revolution. 94. Vormbaum, Brandenburgisch-Preußische Geschichte. 95. —, das Wissenswertheste derselben. Aus der „Geschichtsbibliothek für's Deutsche Volk": 96. Clemens, Leben Dr. Martin Luther's. 97. —, Napoleon Bonarparte's Leben. 98. Eylert, Leben Friedrich des Großen. 99. Bruck, Leben Friedrich Wilhelm III. 100. Franz, der dreißigjährige Krieg. 101. Die Jungfrau von Orleans. 102. Maria Stuart. 103. Napoleon's Feldzug nach Rußland. 104. Der nordamerikanische Freiheitskrieg. 105. Die polnische Revolution. 106. Die Eroberung Mexico's. 107. Geschichte der Buchdruckerkunst. Durch den Zschokke-Verein: 108. Zschokke, Goldmacherdorf. 109. Geschichte der evangelischen Salzburger. 110. Joachim Nettelbeck 3 Bände. 111. Columbus. 112. Kohlrausch, Deutsche Geschichte. 113. Das Leben Dr. Martin Luther's nach Mathesius v. Dr. Schubert. 114. Reineke der Fuchs, wird nicht ausgegeben. An Volkskalendern (v. Gubitz, Steffens etc.) 19 Jahrgänge. Großrodensleben, den 18ten December 1844. Der Bibliothekar Schröder. Katalog der Barleber Schul-Lesebibliothek 1. Vollständiges Giftbuch, oder Unterricht die Giftpflanzen pp. kennen zu lernen, u. Gesundheit u. Leben gegen Vergiftungsgefahren sicher zu stellen. Ilmenau, bei Bernh. Friedr. Voigt, 1828. 2. Robinson der Jüngere, oder Erzählung seiner merkwürdigen u. wunderbaren Abenteuer zu Wasser u. zu Lande. — Nach Kampe's Robinson für Bürger u. Landleute bearbeitet. Bairuth, in der Granischen Buchhandlung. 3. Der Stadt- u. Landbote, eine Volksschrift zur Belehrung u. Unterhaltung für den Bürger u. Landmann, herausgegeben von H. Oswald. Erster Jahrgang 1829. Meißen, bei Frd. W. Goedsche. 4. Der aufrichtige Kalendermann von Dr. Chrstph. Gottl. Steinbeck. Leipzig bei Benj. Georg Fleischer 1804. 5. Scherz und Ernst. Ein Buch, das Kindern Vergnügen macht, aber auch ihren Verstand übt und bildet. Von J . C. F. Baumgarten, Rektor der Volkstöchterschule zu Magdeburg. Leipzig 1838. Verlag v. Johann Andr. Barth. 6. Moralisches Elementarbuch nebst einer Einleitung zum nützlichen Gebrauch desselben v. Chrst. Gotth. Salzmann. Erster Theil. Leipzig bei Siegf. Lebr. Crusius 1785.

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7. Der technologische Jugendfreund od. unterhaltende Wanderungen in die Werkstätte der Künstler u. Handwerker zur nöthigen Kenntniß derselben v. Bernh. Heinr. Blasche. lter Thl. 1808; 2ter Thl. 1805. Frankfurt a/M. bei Frd. Wilman's. 8. Itha, Gräfinn v. Toggenburg. Eine sehr schöne u. lehrreiche Geschichte aus dem 12. Jahrhundert. Augsburg, Verlag von Nikolaus Doli 1839. 9. Das Blumenkörbchen. Eine Erzählung dem blühenden Alter gewidmet v. d. Verf. der Ostereier, Landshut 1835. 10. Die Ostereier. Eine Erzählung zum Ostergeschenk für Kinder. Landshut 1834. 11. Der Weihnachtsabend. Eine Erzählung zum Weihnachtsgeschenk für Kinder v. Verf. der Ostereier. Regensb. 1839. 12. Die Früchte der guten Erziehung. Drei Erzählungen für Kinder u. Kinderfreunde v. Verf. der Ostereier. Augsburg 1838. 13. Erzählungen für Kinder u. Kinderf. v. Verf. der Ostereier. 14. Der Hausfreund, eine Monatsschrift zur Beförderung eines christl. Volkslebens im lieben Vaterlande. Erster Jahrgang 1836. 15. Dasselbe. Zweiter Jahrg. Burg 1837. 16. Diesselbe. Dritter Jahrg. Magdeb. 17. Das Pfennig-Magazin der Gesellschaft zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntniß. 3t. Bd. Nr. 92—143. Leipzig b. J. A. Brockhaus 1835. 18. Dasselbe. Nro 27-35. 1833 u. Nr. 36-52. 1834. 19. Neue Jugend-Bibliothek, eine Sammlung von Original-Aufsätzen, Reisebeschreibungen, Biographien etc. v. Dr. Frd. Heldmann, Leipzig u. Darmstadt. Verlag v. Leske. 6. Bd. 20. Der Hausfreund, eine Monatsschrift. Vierter Jahrg. Magdeb. 21. Der deutsche Jugendfreund. In sechs Bänden mit schönen Rathschlägen. Von Rebau, Königl. Württemb. Hofrath etc. Hildburghausen 1837. 22. Mährchen der Tausend u. Eine Nacht für die Jugend bearbeitet v. Alb. Ludw. Grimm in 5 Thl. Grimma. Verlag bei Jul. Moritz Gebhardt. 23. Rosa v. Toggenburg. Eine Geschichte des Alterthums für Eltern u. Kinder. Erzählt v. Verf. der Genovefa. Rotweil in der Herderschen Buchh. 24. Deutscher Plutarch. Von Chr. Niemeier, Prediger zu Dedeleben, Halle 1811. 25. Allgemeiner Volkskalender v. 1831, 1832, 1833, 1834. 26. Thüringischer Volkskalender v. 1830. 27. Der Druckfehler und Alexander Menzikoff oder die Gefahren des Reichthums v. Gustav Nieritz. Berlin 1835. 28. Der junge Trommelschläger od. der gute Sohn, — und der Findling, od. die Schule des Lebens v. Nieritz. 29. Die Wunderpfeife od. die Kinder von Hamel, — und der blinde Knabe v. Nieritz. 30. Der kleine Bergmann od. Ehrlich währt am längsten; — und Wahrheit und Lüge von Nieritz. 31. Genovefa. Eine der schönsten u. rührensten Geschichten des Alterthums etc. Augsburg 1817. 32. Darstellungen aus der Jugendwelt. Ein Geschenk für Knaben u. Mädchen v. Aug. Nath. Fr. Seemann. Berlin 1821. 33. Die Spinnstube zu Leingart, von Gustav Scholl, Pfarrer in Alfdorf im Königreich Württemberg. Stuttgart. Verl. Metzlerscher Buchh. 1838. 34. Kleine romantische Volksschriften v. Joh. Ferd. Schlez. Heilbronn 1802. 35. Der neue deutsche Kinderfreund v. C. C. G. Zerrenner. 2te Thl. Halle 1832. 36. Sittenbüchlein für Kinder. Zur allgemeinen Schul-Encyklopädie gehörig v. Joach. Heinr. Campe. Braunschweig 1793. 37. Lehren der Weisheit u. Tugend in auserlesenen Fabeln, Erzählungen u. Liedern v. Frd. Ludw. Wagener, Großherzogl. Hessischem Kirchen- u. Schulrath u. Garnisonsprediger zu Darmstadt. Leipzig bei Gerhard Fleischer dem Jüngeren 1817.

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38. Lehrreiche Unterhaltungen für die Kinder v. Wilh. Rehm. Kempten bei Joseph Kösel 1793. 39. Buntes Allerlei in merkwürdigen u. unterhaltenden Geschichten, Biographien etc. Erstes Bdch. Magdeb. bei Ferd. Rubach. 40. Die Gespenster, kurze Erzählungen aus dem Reiche der Wahrheit v. Sam. Chst. Wagener 3 Thl. Berlin 1799. 41. Der deutsche Kinderfreund. Zweiter Thl. Von S. P. Wilmsen, Prediger etc. Berlin 1815. 42. Allgemeines Lesebuch für den Bürger u. Landmann v. Dr. Georg Frd. Seiler. Erlangen 1829. 43. Heldenbuch. Ein Denkmal der Großthaten in den Befreiungskriegen v. 1808 — 1815. Von Chrst. Niemeier. Leipzig 1818. 44. Die Reihefeder; die Uhrfeder; die C-Feder. Drei Geschichten zum Festgeschenk für Kinder. Vom Verfasser der Rubenfeder. Berlin, Verl. v. Felix Schneider. 45. Das Hellermagazin zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse. Nr. 1 —22, 1837. 46. Sonntags-Magazin. Erster Jahrg. 1833—34. 47. Das Pfennig-Magazin der Gesellschaft zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse. 2t., 3t., 4t u. 5t. Bd. Leipzig bei Brockhaus. 48. Historische Bilderhalle, oder Darstellung aus der altern Geschichte Preußens. Von Dr. Rauschnick Meißen bei Goedsche. 49. Festbüchlein. Eine Schrift für das Volk v. F. A. Krummacher. — Das Christfest v. demselben. Essen u. Duisburg bei Baedecker 1810. 50. Das Neujahrsfest. Eine Schrift für das Volk v. F. A. Krummacher, Essen u. Duisburg bei Bädecker 1819. 51. Neue Sammlung merkwürdiger Reisebeschreibungen für die Jugend v. Joach. Heinr. Campe. 2t., 6t. u. 7t. Theil. 52. Die wichtigsten neueren Land- u. Seereisen v. Dr. Wilh. Harnisch. Leipzig bei Gerhard FleischerJ 8 2 1 . l t . u. 3t. Theil. 53. Moral in Beispielen. Das deutsche Lesebuch für die Jugend v. Splittegart, zweiter Theil v. F. P. Wilmsen. Berlin bei Lange 1805. 54. Heinr. Gottschalk in seiner Familie oder erster Religions-Unterricht für Kinder von 10 bis 12 Jahren. Von L. G. Salzmann. Schnepfenthal 1807. 55. Franz v. Lilienfeld od. der Familienbund v. Jacob Glatz. Leipzig bei Frd. Aug. Leo 1811. 56. Kleine Sammlung gefälliger Anekdoten welche sich unter den 46 Regierungs-Jahren König Friedrich III zugetragen haben. Wernigerode etc. — und Jahrbuch des Nützlichen und Unterhaltenden. Herausgegeben v. F. W. Gubitz. Berlin, Vereinshandl. 1841. 57. Leben Friedrich des Großen v. Prof. Dr. Eylert. Hamburg, B. S. Behrendson 1840. 58. Ausführliche Geschichte des Preußischen Staats mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte des deutschen Reichs. Bearbeitet v. Dr. Adalbert Cohnfeld. Berlin, In Lewaids Verlagshandl. l t . Thl. 1829, 2t. Thl. 1840. 59. Leben Dr. Martin Luthers v. Fr. Clemens. — Geschichte der Buchdruckerkunst u. ihres Erfinders Joh. Gutenberg v. C. M. Ed. — Geschichte der Jungfrau v. Orleans v. Dr. J. F. Franz. Hamburg, B. S. Behrendson 1840. 60. Mehemed Ali. Von Otto Wiedemann. — Geschichte der polnischen Revolution in den Jahren 1830 u. 31. bearbeitet v. M. R. Bruck. — Algier. Eroberung durch die Franzosen, bearbeitet v. G. Werner u. Weidemann. Hamburg, B. S. Behrendson 1841. 61. Leben Napoleon Bonaparte's v. Fr. Clemens, Hamb., B. S. Behrendson 1840. 62. Volkstaschenbuch 1841. Herausgegeben v. Karl Steffens. 63. Volksthümliche Geschichte der gr. Kriegs-Ereignisse zur Befreiung des Vaterlandes von der Herrschaft der Franzosen in den Jahren 1813, 14 u. 1815 v. Dr. F. G. Nagel, Pastor zu Gatersleben. Erfurt, Müllersche Buchh. 1841 2 Bd. 64. Preußischer Volksfreund v. 1838.

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65. Deutsche Geschichte für das deutsche Volk v. Dr. Ed. Burkhardt 2t. Thl. Leipzig bei Schubert. 66. Maria Stuart v. Amalie Schoppe. — Geschichte des Bürgerkrieges in Spanien v. Wollheim. — Der Nordamerikanische Freiheitskrieg v. Werner. — Die Eroberung von Mexiko v. Saltwedel. Hamburg 1841. 67. Erzählungen v. Dr. Gotthilf Heinr. v. Schubert, Hofrath in München. Erlangen 3 Bdch. 1840. 41 u. 44. 68. Der alte Nettelbeck. Ein Unterhaltungsbuch zunächst für die Preuß. Jugend zur Beförderung wahrer Vaterlandsliebe v. Neugebauer. Hamburg u. Crefeld 1841. 69. Meister Peter oder des Weisen im Dorfe faßliche und lehrreiche Unterhaltungen über die Natur u. ihre Wunder. 3t. Thl. Zürich 1842. 70. Der Landmann, wie er sein sollte, oder Franz Nowak, der wohlberathene Bauer. Ein Volksbuch etc. v. A. Kothe. 3t. fl. Glogau 1841. (Ist sehr gut, wird aber nicht gelesen.). 71. Das Leben Dr. Martin Luthers nach Joh. Mathesius. Mit einem Vorworte v. Dr. H. v. Schubert, Stuttgart 1841. 72. Benjamin Franklin's Jugendjahre von ihm selbst beschrieben u. übersetzt v. Gotth. Aug. Bürger. Berlin 1792. 73. Merkwürdige Entdeckungsreise des ersten Weltumseglers Ferd. Magellan in den Jahren 1519-1522. v. Arndt. Hamburg 1810. 74. Die Familie v. Karlsberg oder die Tugendlehren v. Jakob Glatz. 2 Thl. Amsterdam 1810. 75. Lehrreiche Bilder aus dem Familienleben in 9 Erzählungen v. G. Dirk. Mit einem Vorworte v. Dolz. Lpz. 76. Jugendbibliothek von Gustav Nieritz. Erster Jahrg. 1840. 2ter Jahrg. 1841. 77. Landwirthschaftliche Dorfzeitung. Jahrg. 1841. 78. Friedrich Wilhelm III v. Kretzschmer. Danzig 1841—42. 79. Meister Traugott's Festmanns Leben v. Julius Körner. Zwickau 1841. 80. Die Branntweinpest, eine Trauergeschichte etc. v. Heinr. Zschokke. Aarau 1837. 81. Geschichte der Mäßigkeits-Gesellschaft in den vereinigten Staaten von Nord-Amerika v. R. Baird. Berlin 1837. 82. Die deutschen Volksbücher v. Gustav Schwab. Stuttgart 1843. 4 Bdch. 83. Geschichte des Landrichters Pappel v. Salzmann. Schnepfenthal 1841. 84. Kinder- u. Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm. Berlin 1841. 85. Der Paucken-Doktor, die Brüder u. der Exorismusstreit v. Nieritz. Leipzig 1842. 86. Gebhard Leberecht v. Blücher v. Wilh. Burckhardt. Leipzig 1842. 87. Die Missionen der evangelischen Kirche v. J. S. Wollmann, Quedlinburg 1843. 88. Der alte Sergeant. Leben des Schlesiers Joh. Frd. Löffler. Breslau 1835. 89. Das Vaterland, Wochenschrift zur Unterhaltung u. Volksbildung. Erster Band (Jan. Febr. März) Darmstadt 1842. 90. Anthologie oder Blätter für Verstand und Herz, gesammelt v. Stiwel. Augsburg 1842. 91. Begegnisse eines jungen Thierquälers vom Verfasser des Glockenleben. Augsburg 1843. 92. Columbus, od. die Entdeckung von Amerika v. Ernst Wislicenus. Leipzig 1844. 93. Die Zwillinge, eine Erzählung von G. H. v. Schubert. Hamburg 1842. 94. Glaubens-Leben, Glaubens-Muth u. Glaubens-Treue aus der Geschichte der christl. Kirche. Erstes Heft. Plauen 1842. 95. Die Familie Toaldi oder der Tyroler Kampf fürs Vaterland von Eberhard Stein. Leipzig. 96. Gottlieb Köhler der Rekrut v. Alb. Adolph Zeune, Zwickau 1842. 97. Weihnachtsspenden. Fünf Erzählungen für die Jugend v. Gustav Nieritz. Berlin bei Simion. 98. Das Eismeer, od. die Fahrt auf den Wallfischfang v. Philipp Köhler. Nürnberg 1843. Indien, Eine Erzählung zur Belehrung u. Unterhaltung v. Ph. Köber. Nürnberg 1844. 99. Volks-Taschenbuch 1843 v. Karl Steffens. 100. Volks-Taschenbuch 1844 v. Karl Steffens.

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101. Der Kinder-Kreuzzug. Eine Volks- u. Jugend-Erzählung v. H. Kletke. Verlegt bei Simion in Berlin. Der reiche arme Mann. Eine Volks- u. Jugend-Erzählung v. Gustav Nieritz. Verlegt v. Simion in Berlin. 102. Altes u. Neues aus dem Gebiete der inneren Seelenkunde, herausgegeben v. G. H. v. Schubert. Erlangen 1844. Barleben d. 20ten Januar 1845 N. N. (STAM, Rep. C 28 II, Nr. 565, S. 112-124) Anlage Nr. 11 Kabinettsorder vom 22. Februar 1842, betr. Kriegervereine Es ist von ehemaligen Kriegern mehrfach der Wunsch ausgesprochen worden, daß es ihnen gestattet werden möge, unter sich Vereine zu bilden, um mit den üblichen militärischen Gebräuchen die Leichen ihrer verstorbenen Kameraden zur Gruft begleiten zu können. Dieselbe Bitte ist mir im vorigen Jahre von mehreren Einwohnern der Altmark vorgetragen, und eine gleiche ehrenwerte Ansicht hat sich auch bei der Leichenbestattung des Feldmarschalls Grafen v. Gneisenau durch die ansehnliche Vereinigung der Veteranen jener Gegend in rühmlicher Weise zu erkennen gegeben. Damit nun dieser schöne Sinn, der ebenso das Gefühl treuer Anhänglichkeit an die früheren Standesgenossen, als auch die im Lande herrschende Achtung für kriegerisches Verdienst ausspricht, fortdauernd lebendig bleibe, will Ich, um die Bildung derartiger Vereine, wo sich die Neigung findet, zu erleichtern und ihnen die zu ihrem Bestehen notwendige allgemeine gesetzliche Übereinstimmung zu geben, Folgendes bestimmen: § 1. Es wird gestattet, daß bei Leichenbegängnissen solcher in bürgerlichen Verhältnissen verstorbenen Personen, welche früher im Heere und zwar im Kriege mit Ehren gedient haben, eine kriegerische Leichenfeier eintreten kann, wenn die früheren Kameraden dem Verstorbenen dadurch ein freiwilliges Zeichen der Achtung geben wollen. § 2. Es können sich demgemäß Vereine derjenigen Männer bilden, welche im Heere gedient haben oder noch in der Landwehr dienen. Dieses ist ebensowohl auf dem Lande als in den Städten zulässig und wenn in den einzelnen Dörfern sich keine genügende Anzahl ehemaliger Krieger oder noch im Dienst befindlicher Wehrmänner finden sollte, so können auch mehrere Ortschaften derartige Bezirks-Vereine bilden. § 3. Diese Vereine bestätigt die Ortspolizeibehörde, und auf dem platten Lande, in so weit sie den Bezirk eines Dominiums oder einer Bürgermeisterei nicht überschreiten resp. das Dominium oder die Ortsobrigkeit, anderen Falles die landrätliche Behörde. § 4. Die Ortsobrigkeiten, in deren Bezirke sich Vereine, die von ihnen bestätigt worden, gebildet haben, sind verpflichtet, davon den Landräten Anzeige zu machen und diese haben sowohl in diesen Fällen, als auch in denjenigen, wo dergleichen Vereine von ihnen selbst bestätigt worden sind, den Landwehr-Bataillons-Kommandeuren davon Mitteilung zu machen. § 5. Durch die im § 3 erwähnte Bestätigung erhält der Verein ein für alle Mal die Erlaubnis zur militärischen Begleitung der Leichen verstorbener Waffengefährten. § 6. Die Vereine haben sich einen Hauptmann oder Anführer zu wählen, der die Ordnung des Vereins, sowie die Zusammenberufung desselben zu den Begräbnissen leitet. Derselbe hat jedoch jede Begräbnisfeier der Art vorher der Polizei-Obrigkeit zu melden, welche da, wo Garnison steht, hierüber auch dem im Orte kommandierenden Offizier Mitteilung macht. § 7. An Orten, wo Schützengilden oder Bürgerwachen bestehen, können die zu ihnen gehörigen Mitglieder der Vereine in der üblichen Ausrüstung und Bewaffnung bei der Leichenfeier erscheinen. § 8. An andern Orten ist nur eine der Trauerfeier angemessene Kleidung nötig, jedoch bleibt es überlassen, ob die Vereine sich mit Lanzen bewaffnen oder durch Trauerstäbe mit schwarzem Trauerflor kenntlich machen wollen.

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§ 9. Wie die Ehre eines kriegerischen Begräbnisses einen unbefleckten kriegerischen Ruf voraussetzt, so können auch nur Männer von solchem Rufe Mitglieder der Begräbnis-Vereine werden und bei der Aufnahme eines neuen Mitgliedes haben die älteren darüber abzustimmen. § 10. Die Trauerparade marschiert vor dem Sarge in zwei Gliedern formiert. § 11. Sie besteht bei dem Begräbnis: a) eines Gemeinen aus 20 Mann in einem Zuge formiert, b) eines Feldwebels oder Unteroffiziers aus 30 Mann in einem Zuge, c) eines Lieutenants oder Hauptmanns aus 40 Mann in zwei Zügen, d) eines Stabsoffiziers aus 60 Mann in drei Zügen, e) eines Generals aus 80 Mann in vier Zügen, wodurch jedoch nicht ausgeschlossen ist, daß auch eine geringere Zahl von Mannschaften die kriegerische Begleitung solcher Leichenzüge bilden kann. § 12. Der Hauptmann des Vereins befehligt die Trauerparade und bestimmt die Personen zur Führung der Züge. § 13. Jedes dieser militärischen Begräbnisse kann von einem Musikcorps begleitet werden. § 14. Für das Verhalten der Trauerparade, sowie in Rücksicht der Orden und Ehrenzeichen der zu Bestattenden gelten die für militärische Begräbnisse gegebenen Bestimmungen. Den Ministerien des Krieges und des Innern gebe Ich hiernach die Bekanntmachung und weitere Veranlassung in Ihren Ressorts anheim. Berlin, den 22. Februar 1842. (gez.) Friedrich Wilhelm (Handbuch für die Kriegervereine ..., 1898: 5—7) Anlage Nr. 12 Bericht über die sog. Jahrhundertfeier am 9. März 1913 in Wansleben Die Feier des Gedenktages der vor 100 Jahren erfolgten glorreichen Erhebung Preußens, der Stiftung des eisernen Kreuzes und der Landwehr, sowie des Geburtstages der Königin Luise gestaltete sich in unserer Stadt zu einer großartigen patriotischen Kundgebung. Die Bürgerschaft hatte mit wenigen Ausnahmen die Fahnen und Wimpel herausgeholt. Das Rathaus war mit Girlanden, Kränzen, inmitten das eiserne Kreuz mit der Zahreszahl 1813, und am Haupteingang zu beiden Seiten der Freitreppe mit Lorbeerbäumen reich geschmückt. Das Geläut sämtlicher Glocken der evangelischen und der katholischen Kirche leitete den Festtag abends zuvor ein. Am Festtage selbst sammelte sich um 91/4 Uhr der Landwehrverein, der Militärverein, die beiden Turnvereine, der Schützenverein, Vertreter des deutsch-nationalen Handlungsgehilfen-Verbandes, die beiden Gesangvereine und der katholische Männerverein sowie die Feuerwehr auf dem Marktplatze, um sich dann in die Gotteshäuser zu begeben. 3 Musikkofps waren im Zuge verteilt, der über 500 Mann stark war; voran die Fahnen und die Offiziere der beiden militärischen Vereine. Die beiden evangel. Geistlichen empfingen die Vereine am Gotteshaus, um mit ihnen gemeinsam einzuziehen, während vorher die katholischen Mitbürger sich zu ihrer Kirche begeben hatten. — Unser Gotteshaus war überfüllt, so daß viele der Anwesenden stehen mußten. Der Gottesdienst begann mit dem Gesang des altniederdeutschen Volksliedes „Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten". Die Kinderschar sang zunächst 2 Verse und den letzten Vers die gesainte Gemeinde unter Begleitung von Posaunen. Diese Einleitung des Gottesdienstes war von wirklich erhebender Wirkung. Die Liturgie hielt hierauf Herr Pastor Hachtmann und die einen tiefen Eindruck hinterlassene Festpredigt Herr Superintendent Krückeberg. Den Schluß bildete Gebet, Vater unser und Segen und das stehend von der ganzen Gemeinde unter Posaunenbegleitung gesungene Lied „Nun danket alle Gott". — Dem vielfach geäußerten Wunsche, die die Herzen der Hörer fassende, die mächtige und erhebende Zeit von 1813 packend vor Augen stellende Festpredigt zu veröffentlichen, kommen wir gern nach . . .

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Nach beendetem Festgottesdienst begaben sich die Vereine zum Marktplatze, die Fahnenträger nahmen mit den Vereinsfahnen auf beiden Seiten der Freitreppe Aufstellung und die Vereine, auch die inzwischen wieder eingetretenen Mitglieder der katholischen Gemeinde, gruppierten sich am Fuße des Rathauses — bei dem herrschenden Sonnenscheine ein äußerst malerisches Bild. Herr Landrat von Kotze hielt nun inmitten der Fahnen von der hohen Freitreppe aus eine kernige, wohl durchdacht^ Ansprache und brachte ein freudig aufgenommenes Hoch auf Se. Majestät den Kaiser und König aus. Danach verlas der Stabsarzt d. L. Dr. med. Kost als stellvertr. Vorsitzender des Kreiskriegerverbandes den Aufruf „An mein Volk", dem sich nach kurzer Einleitung ein Hoch auf das geliebte deutsche Vaterland anschloß. Nach einem Parademarsch der Vereine erfolgte ein Umzug — zunächst nach dem Denkmal, an dem von allen Vereinen Kränze niedergelegt wurden — durch die Stadt, worauf sich die Vereine in ihre Lokale begaben. Die Festfeier hat in unserer Stadt gewiß einen tiefen Eindruck hinterlassen, der hoffentlich ein dauernder bleiben wird, damit, wenn auch an uns einmal der Ruf ergehen sollte, es heißt: „DER KÖNIG RIEF UND ALLE, ALLE KAMEN 1" (Allgemeiner Anzeiger für Wanzleben und Umgebung, Nr. 58, 11. März 1913: 2) Anlage Nr. 13 Offizielles Programm einer Veranstaltung des Kriegervereins am 22. März 1897 im Kreis Wanzleben Vormittags 9 Uhr: Vorläuten " 10 " : Festgottesdienst mit Chorgesang und Posaunenbegleitung " 11 1 l i " •: Festzug zur Eiche durch die Magdeburger Straße, Aufstellung zur Festfeier a) Gemeinsamer Gesang: Lobe den Herrn ... b) Gedenkrede und Weiheakt c) Chorgesang der Knaben d) Hoch auf Sr. Majestät Kaiser Wilhelm II. e) Gemeinsamer Gesang: Heil Dir im Siegerkranz f) Übernahme der Eiche in den Schutz der Gemeinde, Ermahnung an die Gemeindemitglieder, Dank an den Fürsten von Bismarck, Hoch auf Bismarck g) Präsentiermarsch und Niederlegung der Kranzspenden ... h) Gemeinsamer Gesang: Nun danket alle Gott Die Vereine mit ihren Fahnen ziehen in geordnetem Zuge durch die Schmiedestraße nach den Lokalen ab unter Vortritt der Musik. Die anderen Teilnehmer begeben sich nach Hause oder schließen sich an. Zwischen 12 und 1 Uhr, gleich nach Schluß der Festfeier, läuten die Glocken. (Stadtarchiv Magdeburg, Rep. 36, Gemeinde-Archiv Groß Ottersleben, Nr. 1372) Anlage Nr. 14 Bericht' über die Kaisergeburtstagsfeier

am 3. Februar 1904 in Hadmersleben

Hadmersleben, 6. Februar. Der Militär-Verein „Kaiser Friedrich", Stadt Hadmersleben, veranstaltete am 3. ds. Mts., abends 71/2 Uhr in seinem Vereinslokal „Zur Reichskrone" seine diesjährige Kaisergeburtstagsfeier, verbunden mit dem 6jährigen Stiftungsfeste unter zahlreicher Teilnahme aus Stadt, Dorf und Umgegend. Das Festprogramm war ein sehr reichhaltiges und vielseitiges und bot außer den üblichen Theateraufführungen noch Gesangs- und Zithervorträge. Die Feier wurde mit einigen Konzertstücken, ausgeführt von der Heinemann'schen Kapelle, unter Leitung des Herrn W. Heinemann, eröffnet. Der Ehrenvorsitzende des Vereins, Herr Bürgermeister Abel, begrüßte die erschienenen Gäste mit einer Ansprache und sprach diesen für ihr zahlreiches Erscheinen den Dank aus. Nach einem, mit sehr gutem Ausdruck von dem Herrn Lehrer Hasselmann gesprochenen, dem Tage angepaßten, inhaltsreichen Prolog ging der Vorhang der

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Bühne in die Höhe und zeigte die in schöner und geschmackvoller Dekoration aufgestellten drei Kaiserbüsten Wilhelm I., Friedrich III. und Wilhelm II. bei bengalischer Beleuchtung. Der Eindruck des Arrangements war ein sehr guter und hatten auch hierbei die Lieblingsblumen der drei Kaiser Verwendung gefunden. Nun reihten sich Einakter, Konzertstücke, Zither- und Gesangsvorträge in angemessener Reihenfolge aneinander und wurden diese sämtlich exakt und gut zur Ausführung gebracht. Die Vorführungen sowie die Musikstücke der Heinemannschen Kapelle fanden alle reichen Beifall und besonders hervorzuheben sind die beiden von 8 Damen des Vereins aufgeführten Gesänge: „Ich weiß ein Herz, für das ich bete" und „Blumensprache", welche mit Zitherbegleitung stimmungsvoll vorgetragen wurden. Zur Mitte der Festordnung hielt der Bürgermeister Abel die von patriotischem Geiste durchwehte Festrede, welche mit einem begeisterten Hoch auf Seine Majestät Wilhelm II. endete. Stehend wurde im Anschluß hieran die Nationalhymne gesungen. Der den Schluß bildende Ball hielt die Festteilnehmer bis in die frühen Morgenstunden beisammen und jedem Teilnehmer wird die schöne Feier in angenehmster Erinnerung bleiben. Diese Kaisergeburtstagsfeier hat wieder einmal Zeugnis gegeben, daß in unserer Gemeinde ein echter patriotischer Geist herrscht und es sich jetzt der Militär-Verein „Kaiser Friedrich" sehr angelegen sein läßt, die vaterländische und kameradschaftliche Gesinnung zu pflegen und zu fördern. Zu wünschen wäre es, daß die Kameraden, welche in der Stadtgemeinde wohnhaft, diesem Verein bisher noch nicht beigetreten sind, recht bald Mitglieder werden und ebenfalls an dem großen Werke des deutschen Kriegerbundes „Einer für alle, alle für einen" mitarbeiten. Wie uns bekannt, wird sich der benannte Verein in diesem Jahre eine Fahne anschaffen und sobald die zur Führung derselben erforderliche Genehmigung des Ministeriums erteilt ist, voraussichtlich im Sommer dieses Jahres das Fest der Fahnenweihe begehen. — Zum Schluß soll nicht unerwähnt bleiben, daß der Vereinswirt, wie bisher, für gute Speisen und Getränke gesorgt hatte, sowie daß der Saal sehr gut durchgeheizt war, was sicherlich jedem Besucher des Festes recht angenehm gewesen ist. (Hadmersleber Zeitung, Nr. 17, vom 7. Februar 1904: 1)

Anlage Nr. 15 Ergänzung sytr Begräbnisordnung für die Bestattung ehemaliger Krieger seitens der Kriegervereine vom 8. Juni 1844 Die Trauerparade formiert sich auf dem Sammelplatze. Die Fahne zur Leichenparade wird mit Honneurs abgeholt. Bei dem Abmarsch zum Trauerhause wird nur eine kurze Strecke „Trupp" geschlagen, dann still vor dasselbe marschiert und demselben gegenüber aufgestellt. Wenn die Leiche aus dem Hause kommt, wird präsentiert und die Tambours schlagen dazu den gewöhnlichen Marsch mit gedämpften Trommeln; die Hauptboisten blasen einen Choral, ohne die Instrumente zu dämpfen. Nach dem Schultern tritt die Leichenparade in Marsch, die Tambours schlagen den vorgeschlagenen Totenmarsch und die Hauptboisten blasen nur Choräle. Allerhöchste Kabinetsordre vom 6. Juni 1844 Ich will in Verfolg Meiner, die Begräbnisvereine ehemaliger Krieger betreffenden Bestimmung vom 22. Februar 1842 gestatten, daß mit den genehmigten Feierlichkeiten auch diejenigen nicht im Kriege gedienten Vereinsmitglieder beerdigt werden dürfen, welche entweder: a) aus dem stehenden Heere als versorgungsberechtigte Invaliden oder nach Vollendung einer 12jährigen Dienstzeit ausgeschieden sind, oder: b) in der Landwehr die Auszeichnung für pflichttreue Dienste erworben haben. Die Beschießung über das Grab — wenn die Trauerparade mit Gewehren versehen ist — muß aber jedenfalls bei Vereinsmitgliedern, welche keinen Krieg mitgemacht haben, unterbleiben. Sans-Souci, den 6. Juni 1844 (Handbuch für die Kriegervereine ..., 1898: 12—13)

gez. Friedrich Wilhelm.

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Anlage Nr. 16 Kabinettsorder %um „Schießen über das Grab" vom 13. November 1844 Das Schießen über dem Grabe ist, als eine ausschließliche militärische Ehrenbezeugung, den Schützengilden nicht gestattet. Die Beschießung über das Grab bei der Beerdigung von Mitgliedern der Begräbnisvereine ehemaliger Krieger ist nach der Allerhöchsten Kabinetsordre vom 6. Juni 1844 (Minist.-Bl. S. 232) nur dann gestattet, wenn der betreffende Verein mit Gewehren versehen ist. Die Traüerparade, über deren Stärke der § 11 der Allerhöchsten Ordre vom 22. Februar 1842 (Minist.-Bl. S. 97) das Nähere bestimmt, darf jedoch nur aus Mitgliedern der gedachten Vereine bestehen ... Es kann auch nicht gestattet werden, daß Mitglieder von Schützengilden, welche nicht gleichzeitig Mitglieder des Begräbnisvereins sind, in die Trauerparade treten, resp. die in Rede stehende Beschießung ausführen ... (Handbuch für die Kriegervereine ..., 1898: 16—17) Anlage Nr. 17 Vorschlag für die Gestaltung der Sedanfeier am 2. September 1895 in Groß Ottersleben 25 Jahre sind verflossen seit dem mit vielen Opfern, aber auch mit viel Ruhm und Ehren geführten Kriege; zum fünfundzwanzigsten Male rüstet man sich, den vaterländischen Gedenktag, den 2. September, zu begehen. Da dürfte es doch gewiß angezeigt erscheinen, wenn auch der Vorstand unserer Gemeinde in Gemeinschaft mit dem Vorstand der Gemeinde Benneckenbeck eine besonders würdige Feier des 2. Septembers ins Auge faßte. Ihdem ich zu einer geneigten Beschlußfassung in dieser Angelegenheit hiermit die Anregung gegeben haben möchte, lasse ich die Grundzüge folgen, wie ich mir die Veranstaltung der Feier denke. Durch amtlichen Erlaß der Gemeindevorstände, der durch öffentlichen Ausruf und Aushang bekanntzugeben ist, wird auf die Bedeutung des Tages hingewiesen und an sämtliche Einwohner die Bitte gerichtet, durch Flaggen und Girlanden dem ganzen Ort ein festliches Gepräge zu geben. Am Sonntag, d. 1. September, abends 8 Uhr, wird der Gedenktag durch Glockengeläut feierlich eingeläutet. Um 9 Uhr Zapfenstreich der militärischen Vereine ... Der Festtag selbst beginnt damit, daß um 6 oder 7 Uhr vom Turm her Choralmusik geblasen wird. Um 8 Uhr findet Schulfeier in den einzelnen Klassen statt, bei denselben wird einer Zahl von Kindern der Oberklassen das Sedanbüchlein durch Hofprediger Rogge als Prämie überreicht, welches in 150—200 Exemplaren — bei Massenbezug sehr preiswert — durch die Gemeinde beschafft und geschenkt wird. Die Stadt Magdeburg schenkt, soviel ich weiß, dasselbe Buch in über 1000 Exemplaren. Um 9 Uhr erstes Festgeläut. Die zur Feier angemeldeten Vereine und Gewerke versammeln sich in ihren Vereinslokalen, die Ottsbehörden vielleicht im Ruscheschen Gasthof. Um 10 Uhr Festgottesdienst mit Posaunenbegleitung und Chorgesängen der Knaben. Nach dem Festgottesdienste ordnet sich in noch zu bestimmender Reihenfolge der Festzug zum Denkmal, dort Aufstellung, der Platz ist .mit Wimpeln und Girlanden zu schmücken. Das Denkmal selbst ist [unleserlich — G. Birk] nicht zu dekorieren. Feier am Denkmal 1. Gemeinschaftlicher Gesang: Deutschland, Deutschland über alles . . . 2. Kaiserhoch und „Heil Dir im Siegerkranz" (jetzt Glockengeläut) 24

AK, Landarbeiter II

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3. Niederlegung von Kranzspenden am Denkmal durch den Amts- und Ortsvorsteher durch den Ortsvorsteher von Beneckenbeck durch die Vereine und Schulen — mit Deklamationen u. s. f. durch die ... [unleserlich — G. Birk] Offiziere durch die Frauen und Jungfrauen 4. Begrüßung und Dekorierung — vielleicht Eichenkranz oder silbernes Eichenblatt — der Teilnehmer am Kriege, die noch zur Meldung aufzurufen sind. 5. Gemeinsamer Gesang: Die Wacht am Rhein ... Festzug durchs Dorf — voran die Combattanten in ihrem Schmuck. Um 1 resp. Uhr gemeinsames Festessen im ... [unleserlich — G. Birk] Saale vielleicht, der Kreis ist so zu stellen, daß die Teilnahme möglich vielen ermöglicht ist. Von 3 Uhr ab Kinderfeste in den einzelnen Schulen, zu denen von der Gemeinde vielleicht noch einige Preise gestiftet werden können. Abends Tanz, ob nun nach den Vereinen geteilt oder sonst wie, bleibt weiteren Vereinbarungen überlassen. Indem ich ergebenst bitte, diese Vorschläge einer geneigten Prüfung unterziehen zu wollen, bitte ich natürlich dringend, dieselben durchaus als unmaßgeblich zu betrachten, wenn etwas Besseres gefunden wird, es sollen nur Vorschläge sein, die der guten Sache dienen wollen. Die Hauptfrage liegt darin, ob unsere Gemeindevertretungen gewillt sind, zur Feier dieses Tages ein Besonderes zu bewilligen; eventuell wäre zu beachten: Kosten für Ausschmückung und Dekorierung des Denkmalplatzes Kosten der Musik am Abend und am Festmorgen vielleicht auch während des Festessens und am Nachmittag und am Abend die zu verschenkenden Sedanbücher und sonstige Preise für die Kinder die offizielle Kranzspende der Gemeinde die Dekorierungsabzeichen der Combattanten das Geläut. ergebenst H. Fischer, Diaconus (Stadtarchiv Wanzleben, loses Aktenmaterial, unsigniert) Anlage Nr. 18 Namens- und Berufsverzeichnis der Mitglieder des am 21. Januar 1904 gegründeten Militär-Vereins leben" 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.

Heitmann sr. (Vorstandsmitglied) Rentier Bangemann , Schlossermeister , Post-Assistent Balkow , Kreis-Ausschuß-Assistent Bernhard Bauer , Schornsteinfegermeister T. Schmidt , Steuer-Sekretär , Steuereinnehmer C. Schmidt Westphal , Gefangenenaufseher Grothe Selchow Illmer Lindemann Müller Uebe

„Wans-

Wanzleben, den 12. Februar 1904

O.-Post-Assistent Postanwärter Gegenbuchführer Bürogehilfe Gendarmerie-Wachtmeister Polizeisergeant

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Kaufmann 15. Bottmann Buchhalter 16. R. Kunze Bauführer 17. Eichel Bauunternehmer 18. Fr. Heise Weichensteller 19. Preuße Schlossermeister 20. L. Möhlert 21. Lungerhausen Kreisbote Malermeister 22. G. Troch Sattlermeister 23. A. Meyer Gerichtsdiener 24. A. Müller Tischlermeister 25. G. Zander Bahnsteigschaffner 26. F. Geute Schneidermeister 27. F.Brandes Bäckermeister 28. E. Volksmann Bürogehilfe 29. Ellrot Gastwirt 30. Peter Lang Hotelier 31. Hitzmann Schneidermeister 32. Heitmann Fr. Stellmacher 33. Wilh. Paust Postbote 34. Alb. Grützmann Kaufmann 35. Tönnies Mühlenbesitzer 36. O. Gorges Handelsmann 37. Molitor Bahnhofsrestaurateur 38. Ehrenbrecht Ober-Postschaffner 39. Kups (Stadtarchiv Wanzleben, loses Aktenmaterial, unsigniert) Anlage Nr. 19 Auszüge aus dem Statut des Schützen-Vereins Wanzleben von 1848 §1

Zweck des Vereins ist Uebung im Schießen mit der Büchse, ein engeres Anschließen der Bürger unter einander und Förderung der Geselligkeit und des Umgangs mit anständigen Personen. §2 Daher können nur Männer von gutem Ruf und gesittetem Character Mitglieder des Vereins werden. Von den geselligen Vergnügungen. §32 Der Verein feiert alljährlich ein Königsschießen; dasselbe findet am ersten Montage im Monat Juli statt und währt drei Tage hinter einander, also Montag, Dienstag und Mittwoch. Am Sonntag darauf findet eine Nachfeier statt. §33 Zur Theilnahme an demselben ist jedes Mitglied verpflichtet und ist auch in Behinderungsfällen gehalten, sein Schießgeld zu bezahlen. Nur durch ärztliche Atteste bescheinigte Krankheit, Todesfälle in der Familie und andere in einer General-Versammlung als erheblich erachtete Behinderungsgründe befreien davon. §37 Am Morgen des Königsschießens versammeln sich die Mitglieder des Vereins auf dem Marktplatze; nach der Reihenfolge holt je eine Compagnie die Fahnen ab; dann begiebt sich das ganze 24*

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Bataillon nach dem Hause des bisherigen Schützenkönigs und führt denselben nach dem Schießplatze hinaus. Hierbei wird folgende Reihenfolge beobachtet: voran der Scheibenweiser; dann die Trommelschläger; das Musikcorps; der Obrist mit dem Adjutanten; die Fahnen, von 2 Oberjägern geführt; der König, geführt von den Königsführern und Schützenmeistern. Am ersten Tage zunächst die erste Compagnie, dann die zweite und die dritte; — am zweiten Tage marschirt die zweite Compagnie vorn, dann die erste und dritte; — am dritten Tage voran die dritte, dann die erste und zweite. Beim Einzüge wird dieselbe Reihenfolge jedesmal beobachtet. Bei Einführung des Königs ist diejenige Compagnie jedesmal die erste, zu welcher der König gehört. Der alte Schützenkönig geht beim Einzüge dem neuen Könige zur Linken. §35 Schützenkönig kann nur ein ordentliches Mitglied werden. Wer die meisten Ringe in der Königsscheibe hat, ist der beste Schütze und somit Schützenkönig. §36 Der Schützenkönig darf während der Festlichkeit den Mitgliedern keine Fete geben; die Nichtbefolgung dieser Bestimmung soll mit einer Strafe von 5 Rthlr. geahndet werden. §37 Der König wird unter allen Umständen Mittwoch Abends 6 Uhr eingeführt; wer bis dahin nicht durchgeschossen hat, geht seines weitern Anrechts auf die Königswürde verlustig. §38 Der König erhält zum Zeichen seiner Würde ein dazu bestimmtes blaues Band, welches bis dahin vom alten Schützenkönige getragen und von ihm dem neuen Schützenkönige umgehängt wird. Dasselbe geht alljährlich auf den neuen Schützenkönig über, in dessen Verwahrung es bis zum Schießfeste im nächsten Jahre verbleibt und ist Eigenthum der Gesellschaft. Außerdem erhält der jedesmalige Schützenkönig einen Orden im Werthe vön 4 Rthlr., mit der Inschrift auf der Vorderseite: „Dem besten Schützen" und der betreffenden Jahreszahl, auf der Kehrseite: „Der Wanzleber Schützen-Verein." Nach Anlegung des blauen Bandes wird dem Könige von den Schützenmeistern dieser Orden überreicht, und verbleibt demselben als theures Andenken für Kind und Kindeskind. Während dieses Actes schließt das ganze Bataillon einen Kreis und nachdem der neue Schützenkönig die Zeichen seiner Würde angelegt, bringt ihm der älteste Schützenmeister ein Hoch, darauf der jüngere Schützenmeister dem alten Schützenkönige gleichfalls ein Hoch, in welche sämmtliche Mitglieder des Vereins einstimmen. Der neue König darf nicht weiter bekränzt werden, sondern nur einen einfachen Eichenkranz annehmen, wenn ihm ein solcher angeboten werden sollte, was den Schützenmeistern zuvor anzuzeigen ist. Darauf erfolgt der Einzug in der § 34 angegebenen Ordnung. §39 Nach der Königsscheibe hat jedes Mitglied sechs Schuß und darf dazu nur ein Loos nehmen. Die Gewinne bestehen theils in Silber, theils in Porzellan, nach der Bestimmung einer durch GeneralVersammlung zu diesem Behuf jedesmal besonders zu wählenden Commission von drei Mitgliedern und den beiden Schützenmeistern. Der Königsgewinn besteht in Geschirren im Werthe von circa 6 Rthlr. und müssen sämmtliche Gewinne von der Commission vor dem Schießen in der Hauptsache festgestellt werden. Gäste können am Königsschießen sich nicht betheiligen. Von den Einsätzen zum Königsschießen werden die Unkosten des Festes, ausschließlich der für die Tanzmusik, die besonders repartirt werden, in Abzug gebracht. §40 Während des Königsschießens findet ein besönderes Rennen für Gäste statt, woran jedoch auch einheimische Mitglieder sich betheiligen können. Der Einsatz dazu beträgt für jedes Loos 15 Sgr.

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Die Anzahl det zu nehmenden Loose ist unbegrenzt und jeder Theilnehmer kann nur mit dem besten Loose zur Hebung kommen. Die Gewinne bestehen nur in Silber nach der Bestimmung der § 39 erwähnten Commission, können jedoch wegen der so unbestimmten Anzahl der zu schießenden Loose erst nach beendetem Schießen festgestellt werden. Kosten werden von diesem Rennen 2 Sgr. 6 Pf. pro Loos in Abzug gebracht. Ein Viertel der schlechtesten Schützen fällt mit dem Gewinnen bei diesem Rennen aus. §41 An jedem Tage der Festlichkeit findet Tanz statt. Fremde, die daran Theil zu nehmen wünschen, haben sich deshalb bei einem der Schützenmeister zu melden und 10 Sgr. Entree pro Person zu zahlen. Fremde Schützen sind von den Beiträgen zur Musik entbunden. Nur solchen hiesigen und auswärtigen Damen und auswärtigen Herren, die von einem Mitgliede eingeführt sind und obige Bestimmungen erfüllt haben, ist der Zutritt im Tanzsaale gestattet. Kinder, die noch nicht confirmirt sind, haben im Tanzlocale keinen Zutritt, eben so wenig hier ansässige Herren, die nicht Mitglieder sind. §42 Soll ein Frühstück oder Mittagessen während des Festes arrangirt werden, so ist dies durch GeneralVersammlung vorher zu bestimmen. §43 Die Vertheilung der Gewinne findet am Sonntage nach dem Feste statt und wird von der § 39 erwähnten Commission besorgt. §44 Bei gleicher Anzahl von Ringen entscheidet der letzte Schuß und ist auch dieser gleich, der vorletzte. Sind alle drei oder sechs Schuß gleich, so muß ein neuer Stechschuß gethan werden. Wer den ersten Schuß gehabt hat, schießt auch hierbei vor. §45 Während des ganzen Jahres hindurch steht es den sämmtlichen Mitgliedern frei, sich im Schießen nach der Scheibe zu üben; sie haben sich zu diesem Behuf bei einem der Schützenmeister zu melden, zahlen für eine jedesmalige Uebung pro Perso'n 1 Sgr. zur Kasse und haben dem Scheibenweiser außerdem eine angemessene Gratification zu zahlen. (Statut des Schützen-Vereins zu Groß-Wanzleben, 1848: 5, 13—18) Anlage Nr. 20 Programm des Schützenfestes der Schätzengesellschaft Hadmersleben vom 19. bis 23. Juni 1912 Mittwoch, den 19. Juni. Abds. 8V2 Uhr: Donnerstag, den 20. Juni. Morgens 5 Uhr: Früh 8 Uhr: Früh 8V2 Uhr:

Früh 11 Uhr: Nachm. 3 - 6 Uhr: Nachm. 3 Uhr: Nachm. 6 Uhr: Nachm. 7 Uhr:

Zapfenstreich, Auszug nach dem Festplatz, daselbst Konzert bis 11 Uhr. Reveille. Auszug der Kinder und Königsschießen derselben. Antreten der Schützen vor dem Ratskeller. Abholen des Königs und Auszug nach dem Festplatze. Gemeinsames Frühstück bei Herrn Fr. Diesing, während desselben Konzert der Kapelle des Herrn Nieder. Beginn des Königsschießens. Fortsetzung des Königsschießens. Ball. Einbringen des kleinen Königs. Einbringen der Schützenfahnen.

364 Abends 87 2 Uhr: Abds. 1 2 - 1 Uhr: Freitag, den 21. Juni. Früh 9 Uhr:

Nachm. 2 Uhr: Nachm. 3 Uhr: Nachm. 7 Uhr: Abends 8Va Uhr: Abds. 1 2 - 1 Uhr: Sonnabend, den 22. Juni. Nachm. 17 2 Uhr: Nachm. 4—6 Uhr: Nachm. 6V2 Uhr: Nachm. 7 Uhr: Abds. 8 V a - l Uhr: Sonntag, den 23. Juni. Nachm. 3 Uhr:

Anhang Fortsetzung des Balles. Kaffeepause. Antreten der Schützen vor dem Ratskeller. Abholen des Johanniskönigs und Auszug nach dem Festplatz. Gemeinsames Frühstück bei Herrn H. Brandt: während desselben Konzert der Kapelle des Herrn Nieder. Auszug der Kinder. Ball. Proklamierung des neuen Schützenkönigs und Einbringen desselben. Ball. Kaffeepause. Abholen des kleinen Königs, Auszug der Schulkinder nach dem Festplatze und Kinderfest. Schießen des Schützenjohanniskönigs, woran sich auch Nichtschützen beteiligen können. Einbringen des Kinderjohanniskönigs. Proklamierung des Schützenjohanniskönigs und Einbringen desselben. Ball.

Antreten der Schützen vor dem Ratskeller. Abholung des Schützenkönigs und Parademarsch vor demselben auf dem Breitenweg. Auszug nach dem Festplatz. Nachm. 3V2 Uhr: Königstanz, nachdem Ball. Pausen von 7 bis 8x/2 und von 12 bis 1 Uhr. Nachm. 7 Uhr: Einbringen der Schützenfahnen. Die Mitbürger werden gebeten, ihre Häuser zu beflaggen. Zum Besuche unseres Schützenfestes ladet freundlichst ein der Vorstand der Schützengesellschaft Hadmersleben.

(Plakat, z. Z. im Besitz des Verfassers) Anlage Nr. 21 Einer der zahlreichen Dankes- und Bittbriefe des als Invalide aus dem Kriege 1870/71 heimgekehrten Joseph Rogge aus Benneckenbeck Benneckenbeck, d. 27. Jan. 1881 Hochwohlgeborener, gnädigster Herr Landrat! Euer Hochwohlgeboren haben die Gnade gehabt, in hochgeneigter Berücksichtigung meiner unterthänigsten Bitte, mir eine außerordentliche Unterstützung von 15 Mark zu bewilligen. Solche ist mir ausgezahlt, und unterlasse ich nicht, Euer Hochwohlgeboren meinen gehorsamsten Dank abzustatten für das damit bewiesene gnädige Wohlwollen, daran die ergebenste Bitte knüpfend, auch fernerhin deren hochgeneigte Unterstützung und Fürsprache mir in meiner dürftigen Lage angedeihen lassen zu wollen. In steter Dankbarkeit verharre ich als Ew. Hochwohlgeboren gehorsamster Joseph Rogge, Invalide. (STAM, Rep. C 30 Wanzleben III, Nr. 84, betreffend Kreishilfs-Vereine, Bd. II)

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Anlage Nr. 22 Bemerkungen des Amtsvorstehers von Groß Ottersleben Joseph Rogge aus den Jahren 1884/1885

den Unterstätzungsanträgen des Kriegsinvaliden

Rogge ist fast erwerbsunfähig und lebt mit seiner Familie in sehr dürftigen Verhältnissen. Die Ehefrau Rogge ist augenblicklich ohne Arbeit. Die Familie besteht außer den beiden Eheleuten aus 4 Töchtern im Alter von 17, 13, 8 und 3 Jahren. Die drei jüngeren Kinder besuchen noch die Schule und die älteste Tochter ist augenblicklich auch ohne Arbeit (und lebt bei ihren Eltern). Sie war vordem vermietet. Im April hat Rogge ein 4 Monate altes und im August ein 5 Jahr altes Kind durch den Tod verloren. Rogge bezieht eine monatliche Pension von 15 Mark. Ich befürworte, daß dem gen. Rogge aus (dem) Kreisfonds, solange bis seine Kinder arbeitsfähig sind, eine dauernde Unterstützung gewährt werde. [Auf demselben Antrag ist vermerkt, daß ROGGE 2 0 Mark einmalige Hilfe zu gewähren seien. Aus dem Jahre 1885 liegt abermals ein Antrag von ROGGE vor, in dem es heißt, daß er sich seinen Lebensunterhalt durch Hausierhandel mit Streichhölzern zu bestreiten versucht. Eine Marginalie des Landrates von KOTZE, der offenbar von den tatsächlich höchst bedürftigen Verhältnissen, unter denen ROGGE ZU leben gezwungen war, unbeeindruckt blieb, lautet:] Es scheint bèi Rogge Observanz zu werden, sich alljährlich noch eine außerordentliche Unterstützung zu verschaffen. (STAM, Rep. C 30 Wanzleben III, Nr. 84, betreffend Kreishilfs-Vereine, Bd. II) Anlage Nr. 23 Angaben %ur Lage eines Kriegsinvaliden aus Hohendodeleben (Der Militärinvalide KLAPPUTH aus Hohendodeleben richtete wiederholt Bittschriften an die Behörden, ihm eine Unterstützung zu gewähren. Auf eine Ablehnung des Landrates hin schrieb der Gemeindevorsteher von Hohendodeleben an diesen am 25. Januar 1890:) Auf vorstehendes Schreiben erwidere ich dem Königlichen Landrats-Amt ergebenst, daß ich nach örtlicher Überprüfung die Lage des Klapputh höchst bedauerlich gefunden habe, der Mann ist seit dem unglücklichen Fall außerstande, sich ohne Hilfe zu bewegen, seine Frau lag selbst mehrere Wochen krank. Die drei schulpflichtigen Kinder können im Winter nichts verdienen, die erwachsene Tochter hat, um sich selbst zu erhalten, sich in Magdeburg vermietet. Der ältere Sohn dient als Knecht und hat als solcher wöchentlich 10 Mark ... und die Armenkasse zahlt wöchentlich 2 Mark dazu, so sind die Mittel für den Unterhalt der fünf Personen doch gering. Im Sommer, wo die Kinder dazu verdienen können, würde eher damit auszukommen sein ... (STAM, Rep. C 30 Wanzleben in, Nr. 84, betreffend Kreishilfs-Vereine, Bd. II.) Anlage Nr. 24 Statut des Arbeiter-Kranken-Unterstützungs-Vereins

z" Hohemvarsleben

Die unterzeichneten Arbeiter bilden einen Verein, erkrankten Mitgliedern eine Geldunterstützung zu sichern, dem nachstehende Bestimmungen zu Grunde gelegt werden sollen.

§1 Mitglied kann jeder unbescholtene Arbeiter hiesigen Orts werden, der das fünfzigste Lebensjahr nicht überschritten hat und nicht mit leicht wiederkehrenden Krankheiten behaftet ist, welches letztere durch ärztliches Zeugniß nachgewiesen werden muß. Auch können andere Männer, wie etwa Handwerker, dem Vereine beitreten, wenn sie unbescholten, nicht über 50 Jahr alt und gesund sind. Der Vorstand entscheidet über die Aufnahme.

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Jedes Mitglied hat nach erfolgter Aufnahme

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§2

a) ein Eintrittsgeld von einer und einer Viertel Mark, in Ziffern 1,25 Mark, b) einen monatlichen Beitrag von einer halben Mark, in Ziffern 0,50 Mark an die Vereinskasse zu zahlen. Dieser Beitrag kann jedoch auf Beschluß des Vorstandes unter Zustimmung der Communalbehörde entsprechend erhöht werden, sobald die Ausgaben die Einnahmen übersteigen und die Mehrausgabe aus dem Reservefond nicht gedeckt werden kann. §3 Der Monatsbeitrag muß bei der monatlichen Zusammenkunft, welche am ersten Sonntage im Monat im Locale des Kaiser'schen Gasthofes hierselbst Abends stattfindet, an den Rendanten der Vereinskasse gezahlt werden. Mitglieder, welche mit ihren Beiträgen länger als drei Monate im Rückstände bleiben, können auf Beschluß des Vorstandes ohne irgend eine Entschädigung wegen ihrer eingezahlten Beiträge von der Mitgliedschaft ausgeschlossen werden. §4 Die Geldunterstützung kann einem Mitgliede nur dann gewährt werden, wenn dasselbe bereits drei Monate pünktlich gezahlt hat. §5 Die wöchentliche Unterstützung wird auf vier und eine halbe Mark, in Ziffern 4,50 Mark festgesetzt, soll aber, sobald es die Vereinskasse erlaubt, entsprechend erhöht werden. Von dieser Geldunterstützung ausgeschlossen sind solche Mitglieder, die durch eigenes Verschulden, z. B. Schlägerei, Völlerei oder sonst unsittlichen Lebenswandel sich Krankheiten zugezogen haben. §6 Dauert die Krankheit nicht länger als drei Tage, so erhält erkranktes Mitglied keine Unterstützung und soll bei anhaltenden Krankheiten zunächst nicht länger als drei Monate gezahlt werden. Wer drei Monate lang Krankengeld erhalten hat, kann sich erst wieder nach Ablauf von ferneren drei Monaten von Neuem krank melden. Wer für ein und dieselbe Krankheit im Laufe von drei Jahren zwölf Monate lang Krankengeld bezogen hat, hat aus dem Vereine auszuscheiden. §7 Erkrankt ein Mitglied, so hat dasselbe seine Krankheit dem Vorstande sofort anzuzeigen und seine Arbeitsunfähigkeit demnächst durch ein ärztliches Attest nachzuweisen. Ein solch ärztliches Zeugniß über Arbeitsunfähigkeit muß während der Dauer der Krankheit allwöchentlich beigebracht werden. Jedes erkrankte Mitglied ist gehalten, den Anordnungen des ihn behandelnden Arztes pünktlich nachzukommen und sich seiner gewöhnlichen Berufsgeschäfte zu enthalten. Zuwiderhandelnde werden des Rechts der Unterstützung verlustig. §8 Erkrankte Mitglieder sind während der Dauer ihrer Krankheit von Zahlung der monatlichen Beiträge entbunden. Wenn Vereinsmitglieder zum Militairdienst einberufen werden, so sind dieselben von da ab von der Mitgliedschaft ausgeschlossen, können aber nach ihrer Rückkehr ohne Zahlung eines nochmaligen Eintrittsgeldes wieder beitreten, vorausgesetzt, daß sie gesund sind. Verzieht ein Mitglied nach einem anderen Orte, so scheidet es damit aus dem Verein, ohne Anspruch auf Entschädigung. §9 Die Verwendung der Kassengelder darf nur zu dem in diesem Statut bestimmten Zwecke, sowie zur Deckung der durch die Verwaltung entstehenden Unkosten geschehen. Der Rest nach Abzug der laufenden Ausgaben wird auf den Namen des Vereins zinsbar angelegt. Zur Deckung der laufenden Ausgaben soll eine Summe bis zu neunzig (90) Mark in Händen des Rendanten bleiben.

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§10 . Die Angelegenheiten des Vereins werden aurch einen Vorstand, bestehend aus einem Vorsteher und vier Vertretern und dem Kassenrendanten, verwaltet. Die Wahl desselben erfolgt in einer zu diesem Zwecke berufenen Generalversammlung und ?war nach Stimmenmehrheit. Der Rendant muß ein sicherer, kautionsfähiger Mann sein. Ob derselbe eine ihm zu verzinsende Caution zu stellen hat, bleibt dem Beschlüsse des Vereins überlassen. §11 Der Vorstand wird auf die Dauer von drei Jahren gewählt und hat derselbe sein Amt unentgeldlich zu führen. Ein nach Ablauf seiner Amtsperiode ausscheidendes Vorstandsmitglied ist wieder wählbar. Beim Tode eines oder mehrerer Mitglieder des Vorstandes führen die noch verbleibenden die Geschäfte bis zu der alsdann anzuberaumenden Generalversammlung allein fort. Der Vorstand verwaltet das Vermögen des Vereins nach bestem Wissen und Gewissen, er vertritt denselben nach außen und hat überhaupt nach Möglichkeit für das Wohl des Vereins zu sorgen. Es steht ihm frei, die angemeldeten kranken Mitglieder zu besuchen. Der Vorsteher hat die allgemeinen, geschäftlichen Anordnungen zu treffen und zu leiten. Er ist verpflichtet, eine Stammrolle zu führen, in welcher alle Betheiligten und zwar mit dem Tage ihrer Aufnahme, Stand und Alter einzutragen sind. Bei Versammlungen führt er den Vorsitz und hat er die Ergebnisse, Abstimmungen u. s. w. in ein dazu bestimmtes Protocollbuch einzutragen, welches von den anwesenden Mitgliedern unterzeichnet werden muß. Außerordentliche Generalversammlungen werden nur auf seine oder der Aufsichtsbehörde Anordnung berufen. Er ist gehalten, Generalversammlung zu berufen, wenn ein Drittel der Mitglieder darauf antragen. Die Einladung dazu hat er per Circular mit Vermerk des Gegenstandes der Verhandlung zu machen und muß sie 24 Stunden vorher erfolgt sein. §12 Der Rendant verwaltet die Kasse, führt über Einnahme und Ausgabe vollständige Rechnung und Buch und zahlt nur auf Anweisung des Vorstehers oder seiner Stellvertreter. Diese Anweisungen dienen ihm bei Abnahme der Rechnungen als Beläge. Den Geldbestand in baar wie in Werthpapieren hat der Rendant aufzubewahren und muß er für etwaige der Kasse durch seine Schuld zugefügten Nachtheile aufkommen. Die alljährlich abzulegende Rechnung hat er zunächst dem Vorstande zur Prüfung vorzulegen, etwa von Letzterm gemachte Erinnerungen sofort zu erledigen, demnach 8 Tage lang im Vereinsiocale zur Einsicht für die Mitglieder auszulegen und hierauf unter Zuziehung und Leitung der Communalbehörde von den Mitgliedern in einer Generalversammlung abnehmen zu lassen. Die Buchführung ist möglichst einfach und übersichtlich einzurichten und außer der Hebeliste nur noch ein Kassenbuch über Einnähme und Ausgabe zu führen. §13 Die Vorstandsversammlungen werden von dem Vorsteher berufen und ist er hierzu verpflichtet, wenn zwei Mitglieder des Vorstandes darauf antragen. Auch in diesen Versammlungen übernimmt der Vorsteher den Vorsitz und leitet die Verhandlungen, wenn solche nicht von amtlicher Seite vorgenommen und ausgeführt werden. §14 Die Kassenverwaltung wird beaufsichtigt von der Communalbehörde Hohenwarsleben und hat letztere die Befugniß, von dem Gange der Verwaltung durch gelegentliche Einsicht der Kassenbücher und Revision der Kassenbestände Kenntniß zu nehmen. Das Aufsichtsrecht der der Communalbehörde vorgesetzten Behörde soll selbstverständlich hiermit nicht ausgeschlossen werden. Alle Angelegenheiten des Vereins werden durch den Vorstand in den abzuhaltenden Versammlungen besprochen und berathen und sollen auf möglichste Weise ihre Erledigung finden. Vorkommende Streitigkeiten sollen im Verwaltungswege und zwar in erster Instanz durch die Commu-

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nalbehörde entschieden werden. Auf diesem Wege kann auch der Vorstand ganz oder theilweise wegen beharrlicher Nichtbeachtung der erhaltenen Anweisungen oder wegen festgestellter Unfähigkeit vom Amte entfernt werden. §15 Eine Auflösung des Vereins kann nur in einet zu diesem Behufe berufenen Generalversammlung, wozu vierzehn Tage vorher unter Mittheilung des Gegenstandes schriftlich eingeladen worden ist, beschlossen werden, wenn die sämmtlich anwesenden Mitglieder dafür stimmen. Das in diesem Falle nach Berichtigung der Schulden noch verbleibende Vermögen soll den z. Z. vorhandenen Mitgliedern und zwar zu gleichen Theilen anheimfallen. §16 Abänderungen dieses Statuts, namentlich in Betreff der Ein- und Auszahlungen, sowie eine gänzliche Aufhebung des Vereins können nur mit Bestätigung resp. auf Anordnung der Königl. Regierung erfolgen. Dies entworfene Statut tritt mit dem Tage seiner erfolgten Bestätigung in Kraft und sind sämmtliche Theilnehmer von dem Tage, an dem dieselbe erfolgt, zur Zahlung der im § 2 gedachten Gelder verpflichtet. Hohenwarsleben, im Juni 1875 Friedrich Lesse, als Obervorsteher. Andreas Weber, als Rendant. Christian Lüddemann, Andreas Ruhbaum, als Vertreter. Ferdinand Bosse, Friedrich Elbe, Die eigenhändige Unterschrift der Unterzeichneten beglaubigt. Hohenwarsleben, den 18. Juni 1875. (L. S.)

Der Gemeinde-Vorsteher Grothe.

Auf Grund des § 360 ad 9 des Strafgesetzbuches für das deutsche Reich vom 15. Mai 1871 und des § 1 des Gesetzes vom 17. Mai 1853, betreffend den Geschäftsverkehr der Versicherungs-Anstalten, wird das vorstehende Statut mit der Maaßgabe hierdurch genehmigt, daß 1, die Geldbestände des Vereins, wenn sie zinsbar genutzt werden sollen, entweder bei einer öffentlichen Sparkasse belegt oder pupillarisch sicher angelegt werden müssen und 2, der Verein die Rechte einer juristischen Person durch diese Genehmigung nicht erhält. Magdeburg, den 14. Juli 1875. (L. S.) Königliche Regierung, Abtheilung des Innern. Schow. (Statut..., 1875) Anlage Nr. 25 Ein Gang durch eine Zuckerfabrik um 1860 Die Zuckerfabrikation hat in der neuesten Zeit einen bewundernswerthen Grad der Vollkommenheit erreicht und wenn Sie mich durch eine Zuckerfabrik begleiten, sollen Sie wirklich Wunder sehen.

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Hier vor dem ansehnlichen Gebäude, das durch Einfachheit und Größe die Fabrik verräth, halten in langen Reihen die Wagen, die die Rüben aus den Miethen auf den Feldern heranfahren. Dort waren sie durch starke Bedeckung mit Erde vor Frost, durch geschickte Ventilation vor starker Erhitzung und Fäulniß geschützt. Auf Beides ist Rücksicht zu nehmen, denn die gefrorene Rübe giebt zähe, lange Säfte, die angefaulte ist zuckerärmer und steckt auch die gesunden Rüben an. Die wohlerhaltenen Rüben wandern jetzt in den Rübensaal. Hier und da springt eine Rübe, die etwas hoch fiel, wie Glas in Stücke. Das sieht der Fabrikant gern, dies kurze, prallige Gewebe verräth Gesundheit und Reichthum. Drei Arbeiter tragen die Rüben in Körben zur Waschtrommel, die von Champannois den Namen führt. Ein langer, hohler Cylinder mit Lattenwänden dreht sich langsam und in einem großen Kasten mit Wasser. In dem Cylinder ist eine Schraube, und diese befördert die oben eingeworfenen Rüben an's andere Ende der Trommel. Hier erscheinen sie vollkommen von Erde und Schmutz gesäubert, und wir haben Gelegenheit die Rübe genauer zu betrachten. Wir haben gute Waare vor uns; die kurze, etwa 2 Pfund schwere Rübe ist fast ganz weiß, nur ein kleiner Theil des Kopfes ist gefärbt, und schnell läuft sie nach unten in eine Spitze aus. Dies sind Hauptvorzüge. Der gefärbte Theil der Rübe enthält fast keinen Zucker, er ist über der Erde gewachsen und muß weggeschnitten werden. Durch gehörig tiefe Ackerung erreicht man eine fast ganz in der Erde bleibende Rübe. Diese darf nicht die Form der Möhre haben, eher kann sie birnförmig sein, sie darf sich nicht theilen, denn in den Winkeln haftet die Erde sehr fest und birgt Steinchen, die nachher den Maschinen verderblich werden. Wollten wir die Rüben genau studiren, dann würden wir sehr bald auf den Gedanken kommen, daß diese so verschieden gestalteten Früchte wohl Glieder verschiedener Familien seien. Und so ist's in der That, der Spielarten sind Legion, die aber von fünf Haupttypen sich ableiten lassen. Man unterscheidet diese als französische, Quedlinburger, schlesische, sibirische und Imperial-Rübe. Der Rübensaal birgt weiter nichts. Große Haufen Rüben, die, wie sie kommen, so verschwinden, und die Waschtrommeln; die gewaschenen Rüben fallen in ein Faß der Danaiden. Aber wo bleiben sie? Wir öffnen eine kleine Thür und treten in einen Raum, in welchem unser Auge vergeblich nach einem Ruhepunkte sucht. Alles ist hier in Bewegung! Millionen der stärksten Schallwellen durchjagen die Luft, wir hören kaum unser eigen Wort. Rechts im Hintergrunde dreht sich ein kolossales Schwungrad, das einer Maschine von 40 Pferdekräften angehört, die große Triebfeder alles dessen, was wir vor uns sehen, was hier mit unaufhaltsamer Eile sich abspinnt. Ueber hundert Hände regen sich in munterer Geschäftigkeit, und Alles strebt einem Ziele nach. Zwischen all dem Gebrause, Getöse, Klappern und Zischen hören wir die Töne eines Volksliedes, das, von Mädchen und Männern gesungen, den Takt angiebt, nach dem die Bleche klappern. Platz, ein Wagen! der führt uns auf unsere nächste Umgebung zurück. Aus Eisenblech gefertigt wird er auf kleinen Rädern schnell fortgeschoben. Jetzt steht er, in einem Fenster erscheint ein Beamtengesicht, winkt, einige Rüben zu, einige zurück — gutl — der Wagen rollt von der Brückenwage und eilt fort. Die Rüben sind gewogen, genau 5 Centner wiegt man in solchem Kasten auf einmal, und der Steuerbeamte notirt die Zahl der Wagen und die Zeit, in der sie auf einander folgen. Er erlaubt uns einen Blick in sein Buch, alle 4 Minuten wägt er einen Wagen, in 24 Stunden 1400 Centner, gewiß eine schöne Zahl, die im Laufe eines Jahres zu der Summe von 250,000 Centnern heranwächst. Doch ehe die Rüben gewogen werden, hat man sie geköpft, sie fielen durch die Wand auf ein Caroussel, das sich langsam dreht, und an welchem etwa 10 Frauen mit einem Bret vor der Brust und einem langen scharfen Messer in der Hand stehen. Diese schneiden den gefärbten Kopf weg; ist derselbe nämlich auch nicht ganz zuckerleer, so enthält er doch so wenig Zucker, daß er die Steuer nicht tragen könnte. Ueberdies enthält er Gährungsstoff; er fällt und wird bei Seite geworfen. Die versteuerten Rüben — sie haben zum großen Jammer der Fabrikanten 1/1 Thlr. ä Ctr. gezahlt — fahren an die Reiben. Ein Zylinder, etwa 2 Fuß lang und von 1 Fuß Durchmesser, dreht sich etwa 1200 Mal in der Minute um sich selbst, er ist mit scharfen Sägeblättern dicht besetzt, so daß er allenfalls einem riesigen Igel gleicht. Ganz komisch sieht es äus, wie abwechselnd zwei

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Stücken Eisen, die an Gelenkstangen befestigt sind, diesem Cylinder Verbeugungen machen. Dabei nähern sie sich und entfernen sich und bei jeder Näherung fassen sie eine Rübe, auch wohl deren zwei und drücken sie gegen den Cylinder. Im Nu ist die Rübe zermalmt, verschwunden, nicht der kleinste Rest ist übrig geblieben, und der Poussoir (so heißt das Eisenstück) entfernt sich wieder. Das geht so riesig schnell, daß zwei Reiben sich nicht übereilen, um den ganzen Bedarf an Rübenbrei zu liefern. Dieser erscheint vorn als feine breiige, weiße Masse — weiß aber nur auf Momente. Die Rübe, die lebendige Wurzel hält sich, bleibt unverändert, der Brei jedoch erliegt fast augenblicklich dem Einfluß der Luft, er wird röthlich, braunroth, endlich schwarz. Und mit diesem Farbenwechsel hält gleichen Schritt die Umwandlung des Zuckers; der Verlust lauert hier in jeder Secunde. Und doch will Alles seine Zeit haben; der Saft soll gewonnen werden! Vor den Pressen steht ein langer eiserner Tisch, an diesem einander gegenüber sieben Paar Mädchen. Zwischen jedem Paar liegt ein Haufen eiserner Bleche, daneben große wollene Beutel. Die Mädchen fassen einen solchen Beutel, ein Knabe schüttet in den geöffneten ein kupfern Gefäß voll Brei, schnell ist dieser im Beutel vertheilt, der Beutel durch Umschlagen geschlossen, mit dem Mangelholz geebnet, und ein Arbeiter nimmt Blech und Beutel vom Tisch und schichtet sie in den hydraulischen Pressen. So schnell dies geht, so viel Brei 28 geübte Hände „packen" können, es geht doch noch zu langsam. Verfolgen wir den Brei weiter. Ist eine der 10 hydraulischen Pressen gefüllt, so'läßt man sie wirken. Erst geht die Platte schnell in die Höhe, der Stoß schwindet mehr und mehr, und der Saft fließt in Strömen ab. Ist dies eine Zeit lang so gegangen, so hört eine der beiden Pumpen, die die Presse treiben, auf zu wirken, und nun arbeitet die eine langsam fort, bis der Saft ganz ausgepreßt ist. Während der Zeit war die benachbarte Presse schon geleert und wieder gefüllt; sobald man die erste „abstellt", beginnt die andre zu arbeiten. Von den 10 Pressen sind also nur immer fünf im Gange. Die Bleche kehren zurück zum Tisch, die Beutel, die nun einem Bogen Papier gleichen, werden in's „Masseloch" geworfen, dort entleeren sie Kinder und befördern sie in die Wäsche, wo sie so vollkommen gereinigt werden, daß aus ihnen ablaufendes ausgerungenes Wasser selbst auf einen Porzellanteller klar erscheint. Wie viel Händearbeit gehört zu dieser Art der Saftgewinnung, welch Capital steckt in den Pressen, in den Beuteln! Und doch ist die Ausbeute nicht rühmenswerth. Ein und ein halb Procent Zucker bleibt in der Masse, und das will viel sagen bei 250,000 Centner von etwa 12 Procent Gehalt! Diesen Uebelstand fühlt man empfindlich genug und sucht ihm abzuhelfen. Das Pressen ist jedenfalls die roheste Methode, den Saft zu gewinnen, sie kann nie zum Ziel führen. Besser ist das Auswaschen, wo man eine Säule Rübenbrei langsam vom Wasser durchsetzen läßt. Wie oben das Wasser zufließt, fließt unten der Saft ab, und fast zuckerfrei bleibt die Masse zurück. Indeß liefert diese Methode doch sehr dünne Säfte, und es scheint, als werde sie mit Recht verdrängt von der sogenannten Centrifugalmethode. Hier dreht sich in einer großen, senkrecht stehenden Trommel eine etwas kleinere mit nicht geringerer Geschwindigkeit als die Reiben. Die senkrechte Wand der kleinen Trommel ist siebartig durchlöchert und trägt inwendig noch ein starkes Drahtgewebe. In diese Trommel fällt der Brei, durch Centrifugalkraft vertheilt er sich aufrecht an dem Sieb und in einigen Secunden ist er saftleer, ja fast trocken. Mit wenig Wasser hilft man nach und erzielt eine Masse, die kaum 1/2 Prozent Zucker enthält. Die zahlreichen Vorzüge dieser Methode liegen auf der Hand, und mit Recht findet sie mehr und mehr Eingang. Die unappetitliche Handarbeit ist fast ganz verbannt. Der auf eine oder die andere Weise gewonnene Saft ist röthlich bis braun, durchaus trübe, etwa wie Blut, und färbt sich immer dunkler. Daraus soll nun weißer Zucker gemacht werden! Fünf große kupferne Kessel stehen zu seiner Aufnahme bereit. Jeder Kessel faßt etwa 1200 Quart. Schnell füllt sich dieser eine, und während nun der andere gespeist wird, geht mi t dem Inhalt des ersteren eine höchst wunderbare Veränderung vor sich. Mit eingesenktem Thermometer erhitzt man durch Dampf, der zwischen den beiden Böden des Kessels strömt, den Saft auf 63—65 °R. möglichst schnell, schließt dann das Dampfventil und schüttet in den Saft bereitstehende, soeben aus 10—12 Pfd. Kalk bereitete Kalkmilch, rührt stark durch und läßt dann mit wenig zuströmen-

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dem Dampf ganz langsam, ungestört den Saft bis zum Siedepunkt sich erhitzen. In diesem Augenblick durchbricht die dicke, graue Schlammdecke, welche bisher den Saft bedeckte, plötzlich eine Welle goldgelber Flüssigkeit, aber schnell schließt sich das Ventil, man wartet einige Minuten, öffnet dann ein im Boden des Kessels angebrachtes Rohr, und — rheinweinheller Saft, goldig klar, strömt daraus hervor. Was ist da geschehen? — Der Kalk ist der Wundermann, er hat Alles, was nicht Zucker heißt, an sich gezogen, hat es unlöslich gemacht und als Schlamm abgeschieden. Dieser schwimmt nun als zähe Masse auf dem Saft. Leider ist dieser Ausspruch nicht vollkommen wahr, Alles scheidet der Kalk nicht ab, und was er unangetastet läßt, das bedingt eben den großen Verlust, den die Industrie erleidet. Salze und einige dem Eiweiß ähnliche Körper bleiben gelöst und sind auf keine Weise ganz zu entfernen. Aber immerhin ist der Gewinn ein außerordentlich großer, und hätten wir keinen Kalk, so hätten wir wahrscheinlich auch keinen Zucker, wenigstens nicht zu den heutigen Preisen. Da hinter den „Scheidepfannen" regt sich's auch noch und führt eine unsaubere Existenz. Es sind die Schlammpresser, welche in leinenen Beuteln den Schlamm vom Saft befreien und dadurch einmal Saft, andrerseits eine Masse gewinnen, welche außer Kalk großentheils die Stoffe enthält, die zum Wachsen der Rübe so wesentlich sind. Als sehr gesuchter Dünger wird deshalb der Schlamm aufbewahrt. Der geklärte Saft hat sich inzwischen in einem verschlossenen in der Erde stehenden Kessel gesammelt. Im ferneren Verlaufe der Fabrikation muß er viele unter einander stehende Gefäße passiren, man muß ihn deshalb jetzt sehr hoch heben und zwar bis unter das Dach der Fabrik. Dies geschieht einfach durch Dampfdruck. Drei Atmosphären Ueberdruck würden den Saft nahe an 90 Fuß heben, man hat also nichts nöthig, als in den geschlossenen Kessel auf die Oberfläche des Saftes Dampf zu leiten. In dem zweiten Rohr, welches am Boden des Kessels beginnt, steigt der Saft; wir aber steigen vier Treppen in die Höhe und sehen hier oben in der „Saturation" den Saft wieder, wie er eben in kupferne Gefäße fließt. Durch den auf 100° erhitzten Saft leitet man hier Kohlensäure, die durch Verbrennung von Coks bereitet wurde. Dies hat folgenden Zweck. Der in den Scheidepfannen zugesetzte Kalk ist theils verbraucht zur Fällung schädlicher Stoffe, ein Theil aber ist mit dem Zucker verbunden als Zuckerkalk gelöst geblieben. Diesen zu entfernen, ist die Aufgabe der Saturation, und sie wird durch Kohlensäure erreicht, da diese den Zuckerkalk zersetzt und kohlensauren Kalk als Schlamm abscheidet. Durch Absetzen und systematisches Abzapfen klärt man den saturirten Saft, um ihn in den Verdampfpfannen sogleich bis zu einer bestimmten Concentration abzudampfen. Hier in diesen großen Kesseln, in denen der Saft so lebhaft kocht, erkennen wir aber die „blanke schöne Flüssigkeit der Scheidepfannen nicht wieder. Eine fast braune, wenigstens dunkelgelb gefärbte Brühe läuft er aus den Verdampfpfannen auf die Filter. Diese sind die größten Helfer des Fabrikanten. Dem Beinschwarz oder der Knochenkohle dankt er Alles, und man verwendet deshalb die größte Sorgfalt auf dieselbe. Unten im Gährlocal können wir erstaunliche Mengen davon finden, wie sie mit Wasser übergössen, nach dem Gebrauch gereinigt wird. Gährung und Fäulniß reichen sich die Hand und zerstören alle organischen Stoffe, die die Kohle dem Saft enzogen hatte. Ein Zusatz von Salzsäure löst den aufgenommenen Kalk, die so weit gereinigte Kohle sehen wir dann sorgfältig gewaschen, indem sie wiederholt durch reines, stetig fließendes Wasser gezogen wird, endlich sehen wir sie in eisernen geschlossenen Cylindern geglüht, in denselben abgekühlt und so zu neuem Gebrauch wieder bereit. Bei allen diesen Operationen giebt es Abfall, der als werthvoller Dünger verkauft wird, trotzdem aber ist der Verbrauch der Kohle ein so bedeutender, daß ihr Preis den des Zuckers mit bestimmt. Darum dürfen wir diese schwarzen berußten Männer, die „die Filter packen" und „abtragen", die die Kohle waschen und glühen, nicht geringschätzend ansehen; von ihrer Treue in der Arbeit hängt sehr viel ab. Das etwa 12 Fuß hohe Filter ist gepackt, mit Kohle gefüllt, ein Strom heißen Wasser fließt dann zunächst hindurch, die Kohlen anzufeuchten. Würde man dies verabsäumen, so liefe man Gefahr, einen verbrannten Saft zu erhalten, denn die Hitze, die bei Berührung des Saftes mit trockner Kohle auftritt, steigert sich oft bis zu Rothgluth. Ist nun der Saft filtrirt, so begrüßen wir ihn wieder als Dünnsaft in seinem goldenen hellen

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Kleide; ja wir haben die Freude, diesen oft wasserhell ablaufen zu sehen. Man sieht ein, daß nun Alles gethan wäre, könnten wir plötzlich das Wasser entfernen. Dies geht aber leider nicht so schnell, wie es sich wünschen läßt. Man muß kochen, und das kann man nur bei erhöhter Temperatur, und diese hohe Temperatur kann der Zucker, können die andern im Saft enthaltenen Stoffe durchaus nicht vertragen, vollends nicht, wenn ungehindert die Luft den kochenden Saft berührt. Darum ist es ein großer Fortschritt in der Zuckerfabrikation, daß man gelernt hat, bei Abschluß der Luft und bei niedriger Temperatur zu kochen. In geschlossenen Gefäßen und bei vermindertem Luftdruck wird dies ausgeführt. Luftpumpen arbeiten kräftig, fangen den aus dem Saft sich entwickelnden Dampf ein und verdichten ihn mit Hülfe von kaltem Wasser. Die Heizung geschieht durch Dampf wie überall. So ist es denn gelungen, den Saft einzukochen, ohne ihm sehr zu schaden; schöne Apparate gestatten überdies ununterbrochenes Kochen, hier fließt dünner Saft ein, dort verläßt „Dicksaft" den Apparat. Freilich ist er etwas gebräunt, aber diese Bräunung ist unvermeidlich. Man filtriert ihn dafür noch einmal und zwar über neue Kohlen, während der Dünnsaft, was ich vorher nicht erwähnte, jedesmal nur auf solche Kohlen fließt, über welche schon Dicksaft gegangen ist. Bis hierher haben, fast könnte man es sagen, die Maschinen ohne Menschenhülfe gearbeitet; wie in einem wohlgeordneten Organismus floß der Saft durch Röhren und Gefäße, und jedes Glied des Ganzen erfüllte seinen Zweck, der Arbeiter hatte nur Hähne zu öffnen und zu schließen, kaum ist in einer guten Fabrik Weiteres zu schaffen. Jetzt aber tritt der Meister ein. In dieser glänzenden kupfernen Hohlkugel von 6 Fuß Durchmesser kocht er den Dicksaft „auf Korn". Man nennt den Apparat fälschlich das Vacuum, aber leer ist er ja nicht, leer ist nichts, man arbeitet nur, zu demselben Zweck wie vorher, unter vermindertem Luftdruck. Bei etwa 4 Zoll Barometerstand kocht der Saft nicht über 56° und kocht so lebhaft, daß in überraschend kurzer Zeit der Zeitpunkt gekommen ist, wo „das Korn sich bildet". Nun stellt der Zuckersaft einen Syrup dar, von dem ein Tropfen zwischen Daum und Zeigefinger zu einem Faden von bestimmter Länge sich ausziehen lassen muß. Füllt man dann den Zucker auf Kästen, so krystallisirt er in einigen Tagen und wir haben Rohzucker oder Farin, erstes Product; kocht man aber weiter, so erscheinen sehr bald kleine Krystalle wie Flimmer an dem Glase, welches zur Beobachtung in der Wand des Apparats eingefügt ist. Die Krystalle wachsen schnell, eine honigartige, breiige Masse bildet sich, und an einer leicht anzustellenden Probe sieht man den Augenblick, wo das Gut die Gahre hat, wo schnell das Kochen unterbrochen werden muß. Dabei hat es der Meister ganz in seiner Gewalt, feinkörnigen Zucker zu kochen oder grobkörnigen. Höhe der Temperatur, schnelles oder langsames Kochen und ein wohl abgemessener Zusatz heißen Dicksaftes sind die Mittel, mit denen er jedes gewünschte Korn herstellen kann. Was er kochen wird, ist größtentheils abhängig von der Mode! Das fertige Gut verläßt das Vacuum und wird in die Blechformen gefüllt, in denen es zu den Broden erstarrt, die nicht weiß, wohl aber gelb bis braun aussehen. Wie die nun weiß machen? Das ist nicht schwer, denn die Farbe sitzt nicht in den kleinen Krystallen, sondern nur in dem Syrup, der zwischen diesen sich befindet. Man stellt also die gefüllten Formen auf Gestelle, zieht den in der Spitze befindlichen Pfropfen und läßt ablaufen, was ablaufen will. Der „grüne Syrup" sammelt sich von all den tausend Broden und wird dann wieder verkocht; was von diesen Broden abläuft, liefert ein drittes Product, dieses ein viertes, und dieses endlich ein fünftes. Zwischen den beiden letzten aber liegt ein rundes Jahr, unten im Syrupslocal können wir die grbßen Cisternen sehen, in denen das vierte Product langsam krystallisirt. Was dann noch flüssig bleibt, ist bis heute für die Fabrikation verloren. Unsere Brode sind nun vollständig abgelaufen, und man „deckt" sie nun, d. h. man giebt ihnen einen Aufguß einer starken Lösung weißen Zuckers in Wasser. Diese weiße Lösung, die „Deckkläre", verdrängt allen gelben, noch an den Krystallen haftenden Syrup, allmählich wird das Brod von dem Boden nach der Spitze hin weiß, endlich ist auch diese vollkommen entfärbt, und das Brod ist „nett". Dann setzt man es auf die „Nutsche", man verbindet nämlich die Spitzen der Blechformen mit einem System von Röhren und dieses mit der Luftpumpe. So werden Hunderte

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von Bfoden auch vom letzten „weißen Syrup" befreit, und triumphirend zeigt Ihnen der Fabrikant kunstgerecht auf einer Hand „das nette Brod". O. D. (Ein Gang durch eine Zuckerfabrik, 1862: 503—505) Anlage Nr. 26 „Polizei-Verordnung betreffend die Unterbringung der für den Betrieb von Zucker- und Cichorien-Fabriken, so wie ähnlicher gewerblicher oder landwirtschaftlicher Etablissements beschäftigten Arbeiter" vom 9. März 1874 Auf Grund de« Gesetzes über die Polizeiverwaltung vom 11. März 1850 §§. 5, 6 und 11 wird über die Unterbringung der in Zucker- und Cichorien-Fabriken, so wie ähnlichen gewerblichen oder landwirthschaftlichen Etablissements beschäftigten Arbeiter unter Aufhebung des im Amtsblatte Nr. 25 vom 20. Juni 1857 erlassenen, unterm 30. August 1873 im Amtsblatte S. 293 wieder abgedruckten Reglements vom 10. Juni 1857 für den hiesigen Regierungsbezirk Nachstehendes verordnet: §. 1. Jeder Besitzer eines der erwähnten gewerblichen oder landwirthschaftlichen Etablissements, in denen eine größere Ansammlung von Arbeitern, wenn auch nur vorübergehend, stattfindet, ist verpflichtet, für die Unterbringung der dabei von ihm beschäftigten Arbeiter, welche nicht am Orte der Fabrik oder in der Nachbarschaft ein angemessenes Unterkommen haben, zu sorgen. §. 2. Zu diesem Zwecke sind besondere Arbeiterwohnungen (Arbeiterhäuser, Arbeiter-Casernen) einzurichten, welche den nicht anderweit gehörig untergebrachten Arbeitern einen gesunden Aufenthalt gewähren, und mit den erforderlichen Lagerstätten versehen sind. Familien mit Kindern unter 16 Jahren dürfen in diese Arbeiter-Casernen überhaupt nicht, Familien ohne Kinder, oder mit älteren Kindern nur dann aufgenommen werden, wenn ihnen ein eignes Zimmer gewährt werden kann. Ist letzteres nicht thunlich, so dürfen auch Familien ohne Kinder, gleichwie in allen Fällen Familien mit Kindern unter 16 Jahren, nur dann als Arbeiter angenommen werden, wenn sie sich anderweit, bezw. auf eigene Kosten eine Wohnung oder ein Unterkommen zu verschaffen im Stande sind. §. 3. Die Arbeiterwohnungen (Casernen) müssen von den zu ihrer Einrichtung Verpflichteten fortgesetzt beaufsichtigt werden, damit nicht durch Sorglosigkeit, Unreinlichkeit oder Trägheit der Bewohner sich Einflüsse entwickeln, welche der Gesundheit derselben nachtheilig werden können. Ebenso muß für die stete Aufrechthaltung einer gehörigen Zucht und Ordnung innerhalb der Casernen Sorge getragen werden. Es ist zu dem Zwecke ein besonderer Aufseher zu bestellen, der in der Caserne wohnt. §. 4. Die Wohnungsräume müssen mindestens 30 Cmtr. über dem Erdboden liegen, wo möglich gedielt, mit gut schließenden Thüren und Fenstern versehen, und wenigstens 2,75 M. hoch sein. Jedem Arbeiter ist 12 Cbmtr. Luftraum zu gewähren, wenn die Schlafräume zugleich zum Aufenthalt der Arbeiter in der arbeitsfreien Zeit dienen sollen. Werden neben den Schlafräumen noch besondere Räume für den Verkehr in arbeitsfreier Zeit gewährt, so genügt für erstere ein Luftraum von 9 Cbmtr., für letztere ein Luftraum von 7 Cbmtr. pro Arbeiter. §. 5. Die Lagerstätten, welche für jede Person eine Breite von mindestens 63 Cmtr. im Lichten gewähren müssen, sind mindestens 30 Cmtr. über dem Fußboden anzubringen. Es ist thunlichst für eiserne Bettstellen Sorge zu tragen; doch genügen auch gewöhnliche Bettstellen oder gehörig breite hölzerne Pritschen. Für jede Lagerstätte ist ein gefüllter Strohsack und ein keilförmiges, mit Heu oder Stroh gestopftes Kopfkissen oder eine Strohmatratze und ein desgleichen Kopfkissen, ingleichen eine hinreichend warme wollene Decke, welche mindestens 1,75 Mtr. lang und 1,25 Metr. breit sein muß, zu beschaffen. Das Stroh bezw. Heu in den Strohsäcken bezw. Kissen muß alle 4 Wochen er-

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neuert, und müssen die Strohsäcke bezw. Kissen alle 8 Wochen, oder, so oft sie schmutzig sind, gewaschen werden. Die durchgenäheten Strohmatratzen bezw. Kissen sind alle sechs Monate zu reinigen, und ist der Inhalt derselben gleichzeitig zu erneuern. Jedem neu eintretenden Arbeiter ist ein neuer oder frisch gereinigter Strohsack, nebst Kissen, oder eine neue oder frisch gereinigte und gefüllte Matratze nebst Kissen zu verabfolgen. Die wollenen Decken müssen alle sechs Monate in angemessener Weise gereinigt, resp. gewalkt werden. §. 6. Dienen die Schlafräume gleichzeitig zum Aufenthalt für die Arbeiter während der arbeitfreien Stunden des Tages, so ist, so lange die kältere Jahreszeit dauert, für deren Erheizung in angemessener Weise, womöglich mittelst von innen heizbarer, nicht mit einer Klappe .zum Abschließen des Zuges versehenen Oefen, zu sorgen. Die Erleuchtung der Räume muß in ungefährlicher Weise bewirkt werden, jeder Raum auch eine hinreichende Anzahl von Tischen und Schemeln enthalten. §. 7. Die Luft in den Wohn- resp. Schlafräumen muß täglich erneuert, und überhaupt in einem möglichst reinen Zustande erhalten werden. Der Aufseher hat zu dem Ende dafür Sorge zu tragen, daß die Fenster zur Zeit, wo die Insassen außerhalb beschäftigt sind, täglich einige Stunden geöffnet bleiben. §. 8. Sämmtliche Räume der Arbeiter-Casernen müssen, so oft die Polizeibehörde es für nöthig erachtet, jährlich aber mindestens einmal, und wenn sie das ganze Jahr hindurch benutzt werden, mindestens zweimal frisch geweißt werden. Jedes Zimmer ist täglich sorgfältig zu reinigen und auszufegen. Der Aufseher hat darüber zu wachen, auch dafür Sorge zu tragen, daß die Arbeiter sich an ihrem Körper und in ihrer Bekleidung möglichst reinlich halten. §.9. Die Geschlechter müssen getrennt gehalten, und für jedes derselben abgesonderte Wohnbezw. Schlafräume, wo möglich mit getrennten Eingängen, beschafft werden. Ohne specielle Erlaubniß des Aufsehers darf kein Mann die für die Frauen, und keine Frau die für die Männer bestimmten Räume betreten. §. 10. Der Arbeitgeber hat zudem für die erforderlichen, von den Wohn- und Schlafräumen möglichst getrennten, heizbaren Krankenzimmer, so wie für deren gehörige Einrichtung Sorge zu tragen. Für je 100 Arbeiter sind mindestens zwei Krankenzimmer, die für jede Person 13,5 Cbmtr. Luftraum gewähren, zu je 4 Betten zu beschaffen. Im Falle einer Epidemie sind auf Verlangen der Polizeibehörde Bretter-Baracken für die Kranken herzustellen und einzurichten. Die Krankenzimmer sind getrennt für Männer und Frauen herzustellen. Der Arbeitgeber hat für die Erkrankten die erforderlichen Wärter, bezw. Wärterinnen (event. aus der Zahl der Arbeiter) zu stellen, welche event. aus der betreffenden Krankenkasse zu bezahlen sind. Bei jeder Arbeiter-Caserne ist ein yon den Wohnungen möglichst entfernter Raum zur schleunigen Unterbringung der Leichen bis zu deren Beerdigung herzustellen. §.11. Der Arbeitgeber darf keinen Arbeiter annehmen, welcher an einer ansteckenden Krankheit, Krätze usw. leidet, und hat jeden zu seiner Kenntniß gelangenden derartigen Fall der Polizeibehörde sofort anzuzeigen. Erkrankt eine zur Arbeit angenommene Person an einer ansteckenden Krankheit, so ist sie sofort von den übrigen Arbeitern zu trennen, in einem besonderen Räume zu isolieren, und der ärztlichen Behandlung zu übergeben. §. 12. Der Arbeitgeber hat ferner: 1. für die angemessene Einrichtung von Latrinen in gehöriger Anzahl und Entfernung von den Wohn- und Schlafräumen — für die Geschlechter getrennt — Sorge zu tragen. Für je 25 Arbeiter ist mindestens ein Sitz von 0,75 Mtr. Breite einzurichten. Der Aufseher ist verpflichtet, streng darauf zu halten, daß die Arbeiter die bestimmten Plätze benutzen und nicht andere Orte durch Verrichtung ihrer Bedürfnisse verunreinigen.

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Die Gruben, welche nicht in der Nähe des Brunnens liegen dürfen, ausgemauert und mit Cement ausgefugt sein müssen, sind wöchentlich mindestens einmal, in Zeiten ansteckender Krankheiten aber täglich zu reinigen. 2. Eine geräumige Küche mit den nöthigen Kochapparaturen herzustellen, sofern er die Beköstigung der Arbeiter nicht selbst besorgt, 3. Den Arbeitern einen geeigneten Raum, in dem gewaschen werden kann, anzuweisen. Das Waschen und Trocknen in den Wohn- und Schlafräumen ist nicht gestattet. 4. Die nächsten Umgebungen der Casernen nach Bestimmung der Polizeibehörde pflastern oder mit Kies befahren zu lassen, auch für Reinhaltung des Hofraumes und für Anlegung der erforderlichen Wasserzüge zu sorgen. §. 13. Der Arbeitgeber darf keine Person in Arbeit nehmen, bevor sich dieselbe über ihre Entlassung aus dem früheren Arbeitsverhältnisse ausgewiesen hat. §. 14. Für jede Arbeiter-Caserne und die darin wohnenden Arbeiter ist eine, von der Polizeiverwaltung zu bestätigende Haus- und Polizei-Ordnung aufzustellen, in welche die speziellen Vorschriften über das Verhalten der Arbeiter unter Androhung von Executivstrafen aufzunehmen sind. Die Haus- und Polizei-Ordnung ist in der Caserne anzuschlagen, und einem jeden Arbeiter bei der Annahme speziell bekannt zu machen, was durch die Namensunterschrift des Arbeiters constatirt werden muß. Der Aufseher ist zunächst für die gehörige Befolgung der Haus-Ordnung verantwortlich. §. 15. Zuwiderhandlungen gegen die Bestimmungen dieser Polizeiverordnung werden mit Geldbuße bis zu 10 Thlr., event. mit entsprechender Haft bestraft. Die Polizeibehörden haben die Befolgung der vorstehenden Bestimmungen zu überwachen. Magdeburg, den 9. März 1874 Königliche Regierung, Abtheilung des Innern. (Amts-Blatt, 1874: 106; zitiert nach Parey, 1875: 437 - 4 3 9 ) Anlage Nr. 27 Briefwechsel über den Zustand und die Verbesserung der Not-Andachtsräume für Katholiken in Bahrendorf 1876/77 An den Amtsvorsteher 'Herrn F. Schaeper, Wohlgeboren Sülldorf Bahrendorf, den 10. December 1876 Verlegung des gottesdienstlichen Lokales betreffend Ew. Wohlgeboren erlaube ich mir Nachstehendes gehorsamst zu unterbreiten. Wie Ihnen bekannt, habe ich seit nun/ mehr 9 Jahren für die auf hiesigen Zuckerfabriken arbeitenden Katholiken im Dachraum einer Arbeiterkaserne den Gottesdienst abzuhalten. Im Laufe dieses Sommers wurde mir unter der Hand mitgetheilt, gedachtes Lokal würde noch in diesem Jahre, da es nothwendig anderweit benutzt werden müßte, gekündigt werden. Um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, um namentlich nicht in die traurige Lage zu gerathen, unsern Gottesdienst, ähnlich, wie an manchen Orten hiesiger Gegend, bald auf Tanzsälen, bald auf Heuböden oder dergl. abzuhalten, habe ich einen massiven Schuppen — der nebenbei bemerkt ca. 1.500 Thlr. kostet — nach am 11. August a. c. erhaltener Concession erbaut. 25

AK, Landarbeiter II

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Am 25ten October c. ist, wie Ew. Wohlgeboren aus der Anlage gütigst ersehen wollen, die ausdrückliche Kündigung (erfolgt) meines bisher benutzten gottesdienstlichen Lokals erfolgt, und bleibt mir nunmehr nichts anderes übrig, als gedachten Schuppen provisorisch zur Abhaltung unseres Gottesdienstes zu verwenden. Da ich indeß nicht weiß, ob einerseits zu dieser Translokation auch irgend eine Genehmigung seitens des Amtsvorstandes oder einer anderen Behörde vorgeschrieben resp. nöthig ist, andererseits ich auch nicht mit etwaigen diesbezüglichen Vorschriften in Collision gerathen möchte, so verfehle Ew. Wohlgeboren ich nicht die ganz gehorsame Bitte auszusprechen, die qu. Concession, falls eine solche erforderlich sein sollte, hochgeneigtest ertheilen, event. bei competender Stelle baldgütigst erwirken zu wollen. Ew. Wohlgeboren in aller Hochschätzung Tewes, Pfarrvikar. Sülldorf, den 14. Dezember 1876 Br. nebst 1 Anlage an den Königlichen Landrath, Herrn von Laviere, Wohlgeboren in Wanzleben der hochgeneigten weiteren Veranlassung mit der gehorsamen Bitte zu überreichen, das Gesuch des g. Tewes genehmigen resp. befürworten zu wollen. — Ich erlaube mir noch zu bemerken, daß die Kündigung seitens der Zuckerfabrikanten A. Reckleben & Co in Bahrendorf aus dem Grunde erfolgt ist, weil das bisher als Arbeiter-Kaserne dienende Gebäude, in welchem sich das qu. Lokal befand, zu einem Arbeiter-Familienhause eingerichtet ist, und dadurch der Raum, welcher bisher zur Abhaltung des Gottesdienstes benutzt wurde, als Bodenraum für die Familien, welche das Haus bewohnen, gebraucht wird. — Unter diesen Verhältnissen, und da eine andere Räumlichkeit nicht vorhanden, dürfte es sehr wünschenwerth sein, wenn dem Missions-Vicar Tewes die Genehmigung zur Verlegung des gottesdienstlichen Lokals ertheilt werde, da im verneinenden Falle den in Bahrendorf, hier und in der Umgegend wohnenden Katholiken die Gelegenheit, ihre religiösen Bedürfnisse in der Nähe zu [be-]friedigen, genommen werden würde. Der Amtsvorsteher F. Schaeper An den Ortsschulzen, Herrn Koch, Wohlgeboten, hier Bahrendorf, den 23. Januar 1877 Ew. Wohlgeboren, verfehle ich nicht, die mir vorgelegten Fragen nachstehend gehorsamst zu beantworten. 1. Fr. Hat die dortige Missionspfarrei die staatliche Genehmigung? Antw. Es besteht hier keine Missionspfarrei, sondern der Unterfertigte ist nur als MissionsVicar zur Pastoration der Katholiken in Bahrendorf und Umgegend am 2ten December 1867 durch die Bischöfl. Behörde angestellt worden. Zur Sendung und Ausstattung eines Missionsvicars bedurfte es aber damals keiner staatlichen Genehmigung; aber es wurde dieselbe doch immer, so viel ich weiß, von der Bischöfl. Behörde dem betreff. Oberpraesidium angezeigt. So wird auch von meiner Sendung nach Bahrendorf dem Oberpraesidium in Magdeburg jedenfalls Anzeige gemacht sein, und ist es mir so ziemlich noch erinnerlich, dieses auch aus dem Munde des verstorbenen Herrn Dechanten Stades zu Egeln gehört zu haben. Meine Anwesenheit in Bahrendorf seit December 1867 ist der Kgl. Regierung außerdem dadurch bekannt, daß ich bei derselben die Concession zur hiesigen Privatschule nachsuchte und bereits im Januar 1868 erhielt; sowie auch dadurch, daß der Ankauf hiesigen Missionsgrundstücks im Jahre 1870 durch das Oberpraesidium resp. Cultusministerium genehmigt worden ist.

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2. Fr. Wodurch ist das Bedürfniß zur Errichtung des gottesdienstlichen Lokales in Bahrendorf begründet? Antw. Einmal dadurch, daß das von hiesiger Fabrikverwaltung mir überlassene resp. geliehene Lokal im Dachraum einer Arbeiterkaserne zu klein und namentlich zur Sommerszeit sehr ungesund war; besonders aber dadurch, daß gedachtes Lokal, weil unter demselben 8 Familienwohnungen eingerichtet und diesen der Bodenraum fehlte, mir am 25ten October pr. a. officiell gekündigt worden ist. N. B. Ich verweise hier auf meine Eingabe vom 10. December pr. a. an den Amtsvorsteher, Herrn F. Schaeper, Wohlgeboren, Sülldorf. 3. Fr. Welche Ortschaften sind zur Missions-Vicarie Bahrendorf gewiesen ? Antw. Zur Missions-Vicarie als solcher sind eigentlich keine Ortschaften gewiesen, sondern ich wurde nur in meiner persönlichen Sendung angewiesen, die Katholiken in Bahrendorf, Sülldorf, Stemmern und Altenweddingen zu pastorieren und für dieselben insbesondere in Bahrendorf Gottesdienst abzuhalten, da die Pfarrkirche in Egeln ca. l1/^—! Stunden entfernt ist. 4. Fr. Wird das betreffende Lokal den Bedürfnissen genügen? Antw. Das neue Lokal, welches laut Concession vom 11. August a. pr. nur als Provisorium, des sub 2 gedachten Lokals erbaut ist, genügt bei augenblicklichen Verhältnissen dem religiösen und gottesdienstlichen Bedürfniße der hiesigen Missions-Vicarie. Zudem Ew. Wohlgeboren meine schlechte Schrift meiner augenblicklichen Krankheit zu Gute halten wollen, bin ich in aller Hochachtung Tewes, Missionsvikar (STAM, Rep. C 30 Wanzleben IV, Nr. 58, S. 5 - 1 1 ) Anlage Nr. 28 Übersetzung des in polnischer Sprache verfaßten Flugblatts der „General-Commiss'ton der GewerkschaftsOrganisation" an die ausländischen Arbeiter von 1894 Aufruf! An die Arbeiter aus dem Auslande, (aus der Provinz) welche auf Arbeit nach Deutschland zuwandern. Verehrte Freunde und Arbeits-Genossen l Alljährlich, im Frühjahr, wenn der Schnee schmilzt, die Wiesen grünen, verlaßt Ihr die heimischen Gefilde, Vater, Mutter, Weib, Kinder, um in deutschen Gauen Arbeit und bessere Beschäftigung zu finden. Habt Ihr sie gefunden, dann arbeitet Ihr den ganzen Frühling, Sommer, Herbst bis zum Wintersanbruch und kehrt dann in die Heimath zurück. Den ganzen Frühling, Sommer, Herbst arbeitet Ihr im Schweiße Eures Angesichts und lebt dabei armselig, um daneben Euren Eltern, Weib und Kindern etwas Geld senden zu können. Habt Ihr von Aufgang bis Niedergang der Sonne gearbeitet und selbst bis in die Nacht hinein und habt auch nur die zum Leben nothwendigsten Sachen für Euch erhalten? Ihr kehret nach Hause zurück und lebt dort wie hier, ja noch schlimmer, denn Ihr kämpft nicht nur mit dem Hunger sondern auch mit der Kälte. Saget, Brüder, ist das nicht wahr? Ihr verlasset Eure Hütten, Euer Vaterhaus, — Euch erkennen die Eigenthümer desselben ja ein Eigenthumsrecht'nicht zu — weil Euch die heutigen Eigenthümer aus dem Bodengewinn und dem Ertrag der Arbeit nicht die nothwendigsten Mittel zum Leben geben wollen, obgleich Ihr Eur^ Arbeitskraft geben und verkaufen wollt. Und zudem ist es hier in Deutschland nicht besser. Auch hier bieten die Besitzer ländlicher Güter den Arbeitern für ihre mühsame Arbeit nur ein elendes Leben. Die hiesigen Arbeitgeber sind grade so, wie bei Euch, nur hinter ihrem eigenen Nutzen her; ob dem Arbeiter der elende Lohn ausreicht, den sie ihm geben, darum kümmern sie sich nicht. Jene, nehmen Euch gern auf, aber nicht aus Mitleid für Euch, weil Euer Wohl ihnen am Herzen liegt, sondern um Euch noch mehr wie die hiesigen Arbeiter auszubeuten, d. heißt aus Euch mehr 25*

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Vortheil zu ziehen. Hier in Deutschland giebt es so viel arbeitslose Hände, daß diese Herren nirgends einen Arbeiter aus der Fremde zu suchen brauchen. Aber sie wissen wohl, daß Ihr Euch mit irgend welcher Bezahlung begnügt, sie wissen ferner, daß Ihr über schlechte Behandlung Euch nicht beschwert, weil Ihr von Hause fern seid, denn Ihr kennt nicht die Gesetze und die Arbeitslöhne, welche von den hiesigen Arbeitern verlangt werden, Ihr versteht nicht deutsch und seid ein Schiebball der Ausbeutung und Unfreiheit. Welche Bezahlung erhaltet Ihr denn für Eure Arbeit? Wie geht man mit Euch um? Wenn Ihr darüber nachdenkt, würdet Ihr nicht damit zufrieden sein und unter diesen Umständen arbeiten wollen. Diese Arbeitgeber kennen Eure Wehrlosigkeit und Schwäche nur allzugut und deshalb bieten sie Euch unmenschliche Behandlung und so geringen Lohn, wovon andere nicht leben könnten. Habt Ihr niemals das Verlangen nach etwas besserem Leben? Lebt und arbeitet Ihr nicht, um besseren Unterhalt, bessere Wohnungen und kürzere Arbeitszeit zu haben? Müßt Ihr schlechter als das Vieh leben und 16—18 auch 20 Stunden täglich arbeiten? Mit Gewißheit würdet Ihr, wenn Ihr wolltet, das Alles haben. Aber wenn Ihr dies erlangen wollt, müßt Ihr Hand in Hand mit den deutschen Arbeitern gehen, um gemeinsam hier ein besseres Dasein auf Erden zu kämpfen. Ihr müßt Euch vereinigen, um gemeinsam gegen Ausbeuter Protest zu erheben. Denkt nicht, Freunde und Brüder der Arbeit, daß die deutschen Arbeiter auf Euch mit scheelen Augen blicken, weil Ihr nach Deutschland auf Arbeit kommt! Jedenfalls ist es schmerzlich, wenn Arbeiter im eigenen Lande ohne Arbeit sind und in Noth leben, wo statt dessen Schaaren von Arbeitern aus der Fremde zuziehen und alle Arbeit wegschnappen. Aber deshalb beneiden sie Euch nicht, denn sie wissen, daß die Ausbeutung der Arbeiter durch die Kapitalisten hervorgerufen ist. Sie wissen auch, daß man gegen diese Ausbeutung Rath schaffen kann, sobald sich die Arbeiter untereinander vereinigen, Arbeiter, welche Sprache sie auch sprechen mögen, und einig, in des Wortes vollster Bedeutung gemeinsam handeln. Die deutschen Arbeiter verlangen von ihren aus der Fremde zugezogenen Noth leidenden Brüdern der Arbeit nur eine gemeinsame Vereinigung, damit im Kampfe für die Rechte des arbeitenden Volkes Alle zusammen stehen mögen. Seit einigen Jahren bestehen in Deutschland bereits Vereinigungen, welche zum Ziele haben und „bereits ziemlich stark sind", die Arbeitszeit zu kürzen und den Lohn zu erhöhen. Aber wenn solche Vereine stark genug geworden sind, um mit dieser Forderung aufzutreten, eilen die Kapitalisten (Arbeitgeber) ins Ausland (schicken Agenten) und führen sich von dort Arbeiter zu. Die Arbeiter, noch nicht Mitglieder einer solchen Vereinigung, kennen den Lohn, die Arbeitsbedingungen, welche in Deutschland verlangt und geboten werden nicht, und begnügen sich mit der elenden Bezahlung und jedwelchem Leben und werden so zum Raub der schlimmsten Ausbeutung. Das schmerzt die deutschen Arbeiter sehr, daß ihre Arbeitsgenossen so ausgebeutet werden. Um dieser Ausbeutung zu begegnen — kehren wir zu Euch zurück — möge jeder, der nach Deutschland komme, seines Weges nicht allein gehen, sondern sich mit den deutschen Arbeitern vereinigen. Nicht aus Eurer Arbeit wollen wir Euch ziehen, nicht daß Ihr nicht anfanget zu arbeiten — verlangen wir von Euch nur, daß jeder in unsere Vereinigung eintritt, damit wir gemeinsam um die Verbesserung unserer Lage, um Verkürzung des Arbeitstages und Erhöhung des Lohnes kämpfen können. Wenn wir Arbeiter alle vereinigt sind, werden wir solche Macht besitzen, daß wir nicht nur von den Arbeitgebern bessere Arbeitsbedingungen erlangen, sondern auch alles Übel auf der Welt, alle Noth, unter der heute das arbeitende Volk stöhnt und seufzt, beheben. Das kann nur geschehen, wenn das Land, die Arbeitsgeräthe Eigenthum des arbeitenden Volkes werden. Um dies zu erreichen, müssen sich die Arbeiter aller Länder gemeinsam vereinigen. Diese „NichtVereinigung der Arbeiter" giebt den Kapitalisten solche Macht in die Hand und stärkt ihre Macht, da sie außerdem zum Kläger in jeder Noth und Armuth wird. Vereinigung, Einigkeit der Arbeiter aller Nationen macht schließlich den größten Kapitalisten machtlos. Diese Einigkeit zu erzielen ist unsere (der Arbeiter) Forderung, und damit kehren wir zu Euch zurück mit der Bitte, daß Jeder diesem Rufe nacheile. Wollet wie Ehren-Arbeiter handeln, soviel müßt Ihr Euch kümmern um das Wohl aller Arbeiter.

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darum Genossen der Aibeit, tretet in unsere Vereine ein, damit Ihr mit uns gemeinsam dahin eilen könnt, daß jeder Arbeiter, welcher Nationalität er auch angehört, die Menschenrechte und ein besseres Dasein erlange. Überhaupt sind wir ja alle Brüder, alle müssen wjr verschiedentlich Hunger, Kälte, Noth ertragen. Mögen Euch unsere Vereine nicht fremd sein, fraget bei der Ankunft in unserer Stadt nach der „Organizacya fachowa" (Gewerkschafts-Organisation), erkundigt Euch, unter welchen Bedingungen man Arbeit aufnimmt, und tretet für Euch als bewußte Arbeiter auf, welche um ihr und ihrer Brüder Wohl sich kümmern. Nicht wahr Freunde, wenn wir das von Euch verlangen, handeln wir nicht in unserem, sondern in Eurem eignen Interesse. Denket daran, welches Loos Ihr Euch, Eurem Weibe, Euren Kindern bereitet. Dieses unglückliche Loos zu ändern, dieses Unglück von sich zu wälzen, seiner Familie ein besseres Dasein zu verschaffen, ist die Euch drückende Schuld. Deshalb zu uns, Arbeitsgenossen aus der Fremde! Seid nicht Abtrünnige in diesem gewaltigen socialen Kampfe. Tretet in unsere Vereine ein! Durch eigene Kraft können wir uns frei machen aus den Fesseln, welche uns bis jetzt unsere Arbeit aufwälzt. Heute behalten unsere Feinde (die Kapitalisten) unser Eigenthum, die Arbeitsgeräthe, den größten Theil unserer Erzeugnisse für sich. Nur im Kampf gegen unsere Feinde! können wir einen größeren Antheil der Einnahmen unserer Arbeit und bessere Mittel zum Leben uns sichern! In allen Berufsarten sind heute in Deutschland schon „Vereinigungen", welche diesen Kampf führen. Wendet Euch nur an den ersten besten deutschen Arbeiter, und jeder wird Euch den Weg zu solcher „Vereinigung" weisen. Dann werdet Ihr Euch nicht einsam fühlen, nur unter gleichgesinnten um Euer Wohl bemühten Mitgliedern. Thut Eure Schuldigkeit als Arbeiter gegen andere Arbeiter. Vereinigt Euch mit uns und es wird für uns Alle besser! Auf Brüder! Kühn Vorwärts! Mit vereinten Kräften! und der Sieg ist unser. Die General-Commission der Gewerkschafts-Organisation. Verlag: C. Legien in Hamburg Aus der Druckerei Auer & Comp, in Hamburg . (STAM, Rep. C 20 Ib, Nr. 3802, Bd. I, S. 9 3 - 9 8 ) Anlage Nr. 29 Amtlicher Aufruf %ur Erfassung offenbar kontraktbrüchig gewordener ausländischer Saisonarbeiter von 1899 Bekanntmachung In der Gemeinde Altenweddingen haben nachbenannte russische Arbeiter und Arbeiterinnen gemeinsam am 21. d. Mts. sich ohne Erlaubniß ihres Arbeitsgebers entfernt, offenbar in der Absicht, ihr contractliches Arbeitsverhältniß ohne gesetzlichen Grund aufzulösen und sich anderswo Arbeit zu suchen: 1. Josepha Janek aus Prezgranie, Gouv. Kaliscz, Rußland 2. Henriette Henschel aus Prezgranie, Gouv. Kaliscz, Rußland 3. Wanda Feifer aus Prezgranie, Gouv. Kaliscz, Rußland 4. Victoria Jelschak aus Jörbin, Rußland 5. Catharina Mikojeska aus Jörbin, Rußland 6. Antonie Mikojeska aus Jörbin, Rußland 7. Apollonia Janezak aus Kosrielecz, Rußland 8. Annastasia Janezak aus Kosrielecz, Rußland 9. Walaja Machowsky aus Xottiletzcz, Gouv. Kaliscz 10. Pauline Kriegel aus Korschien, 11. Viktoria Staczak aus Korschien

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12. Antonie Janezak aus Malanow, Rußland 13. Marie Nawroska aus Malanow, Rußland 14. Josepha Kowalczyk aus Malanow, Rußland 15. Wadisäwa Janezak aus Malanow, Rußland 16. Karoline Bojinowska aus Suschkow 17. Anna Czeslak aus Malanow, Rußland 18. Marie Anjeyewska aus Malanow, Rußland 19. Constantine Kujawa aus Koscielec, Rußland 20. Antonie Stork (Pozanoska) aus Suschkow, Rußland 21. Valerie Janezak aus Körschin, Rußland 22. Josepha Wineznak aus Dombrowo, Rußland 23. Catharina Jelschak aus Dombrowo, Rußland 24. Josepha Kujawa aus Suschkow, Rußland 25. Stanislawa Knapak aus Eistine, Rußland 26. Anna Knapak aus Eistine, Rußland 27. Marie Angeak aus Stroykes, Rußland 28. Agnes Angeak aus Stroykes, Rußland 29. Joseph Kriegel aus Lubin 30. Anton Staczak aus Korschin 31. Martin Kujawa aus Ruje, Kr. Polce 32. Joseph Stork (Pozanoski) aus Koscielec, Kr. Polce 33. Franz Scion aus Malanow 34. Joseph Noamski aus Kotwoschitz 35. Joseph Nawrosky aus Kotwoschitz 36.' Franz Torcynski aus Bisamhof 37. Valentin Jelschak aus Jörbin 38. Johan Jelschak aus Jörbin 39. Ignatz Jelschak aus Jörbin 40. Joseph Michalak aus Staw 41. Lorenz Velewski aus Forbin 42. Franz Anjekowski aus Korschin, 43. Wojczek Mikolgewska aus Jörbin. Der jetzige Aufenthalt derselben ist hier nicht bekannt geworden und bitte ich im Vertretungsfalle Nachricht hierher gelangen zu wollen. Altenweddingen, den 22. April 1899 Der Amtsvorsteher — Stellvertreter Amtliches Wanzleber Kreisblatt, Jg. 1899) Anlage Nr. 30 Mißhandluug, Kontraktbrucb und Ausweisung ausländischer Saisonarbeiter im Spiegel behördlicher Korrespondenz . An den Herrn Landrat in Neuhaidensleben Geschehen Landratsamt Hameln, d. 1. Juli 1907 Erscheint der Rittergutspächter aus Voldagsen und erklärt: Am 23. v. Mts. sind die ausländisch polnischen Saisonarbeiter 1. Veronika Bia (Bies) (Marianna Litwora) 2. Karolina Jachymek 3. Johann Patula (Franz Kuzek) 4. Johann Kuzek (dieser am 30. 6.)

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bei mir kontraktbrüchig geworden. Wie ich festgestellt habe, halten sich die Leute auf dem Vorwerk Eimersleben bei Erxleben (Kreis Neuhaidensleben) auf. Ich bitte um Zurückführung und verpflichte mich ev. die Kosten zu tragen. . . . Dem Herrn Amtsvorsteher zu Erxleben

Neuhaidensleben, 2. Juli 1907

Der Herr Oberwachtmeister und der Aufseher Schulze des Herrn Rimpau werden nach Eimersleben kommen, um die Leute zu identifizieren, weil vermutet wird, daß dieselben sich unter falschen Namen auf Eimersleben befinden. Der Landrat gez. von Krosigk Der Amtsvorsteher

Erxleben, den 2. Juli 1907

Urschriftlich nebst Anl. dem Herrn Landrat Neuhaidensleben zurückgereicht mit dem Bericht, daß der Aufseher Schulz aus Voldagsen die unter 1 bis 3 vorhin aufgeführten Leute als auf dem Vorwerk Eimersleben in Arbeit ermittelt hat. Dieselben weigerten sich, mit ihm nach ihrem früheren Arbeitgeber zu gehen. Die Leute sind am 24. Juni d. Js. durch Vermittlung des „Landwirtschaftl. Zentral-ArbeitsNachweises, Inh. Helene Neudorf, Stellenvermittlerin, Grabow Bz. Posen", gegen ein Werbegeld von 25 Mark pro Person und unter der Versicherung, daß sie direkt aus der Heimat kommen, von dem Administrator Dutschke hier in Arbeit genommen und haben sich durch Arbeitsbücher, auf nachstehende Namen lautend, legitimiert: 1. Anton Kobos, geb. 1889 ] 2. Veronika Bies, geb. 1881 l zu Leg. Bezirk Tarnow 3. Marianna Litwora, geb. 1888 J gez. Unterschrift Neuhaidensleben, den 4. Juli 1907 Urschriftlich nebst 1 Anlage dem Herrn Landrat zu Hameln unter Bezugnahme auf obigen Bericht des Amtsvorstehers in Erxleben zurückgesandt. Eine Bestimmung, wonach ich befugt bin, die zwangsweise Zurückführung der 3 Galizier nach Voldagsen anzuordnen, ist mir nicht bekannt, ich bin aber bereit, die Ausweisung derselben als lästige Ausländer zu veranlassen. Einer gefl. Aeußerung hierüber sehe ich unter Rückgabe dieser Piece entgegen. Der Landrat gez. von Krosigk Voldagsen, den 6. Juli 1907 Dem Königlichen Landratsamt überreiche ich beiliegend den Paß des dort inhaftierten Johann Kuzek, sowie einen hier eingelaufenen Brief an denselben. Anbei folgen außerdem die Pässe des Johann Patula, der Maria Litwora und der Karolina Jachzymek. Ich bitte ergebenst den Johann Patula und die Karolina Jachzymek die in Eimersleben unter den Namen Anton Kubas und Veronika Bay gehen wegen Führung falscher Pässe zu bestrafen und stelle hiermit den Antrag, dieselben ausweisen zu lassen sowie auch die Maria Litwora. Ergebenst gez. H. Rimpau

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Urschriftlich nebst Anlagen dem Herrn Landrat Neuhaidensleben überreicht. Elxleben, den 22. Juli 1907

Der Amtsvorsteher

An Amtsstelle erscheinen die österreichischen Saisonarbeiter 1. Johann Patula 2. Karolina Jachymek 3. Marianna Litwora vom Vorwerk Eimersleben und tragen durch ihren Dolmetscher, den Arbeiter Thomas Janicki, folgende Beschwerde vor: Durch Verfügung des Herrn Amtsvorstehers hier sind wir aufgefordert, binnen 3 Tagen das preußische Staatsgebiet zu verlassen. Gegen diese Verfügung erheben wir Beschwerde und bitten, bis zur Beendigung der Arbeit in Preußen bleiben zu dürfen. Wir standen zuvor bei dem Rittergutspächter Rimpau in Voldagsen in Arbeit, woselbst wir vom Aufseher Schulz des öfteren gemißhandelt worden sind, so auch mittels eines Stockes am Tage vor unserer Abreise von dort. Wir empörten uns hierüber und verlangten bessere Behandlung, worauf wir vom Aufseher Schulz zum Verlassen des Gutes aufgefordert wurden. Wir haben dann in der Nacht Voldagsen verlassen und auf dem Vorwerk Eimersleben Arbeit gefunden. Vorgelesen

genehmigt Jochan Patula Handzeichen X X X der Litwora Handzeichen X X X der Jachymek Thomas Janicky Jordan.

Urschriftlich nebst Anlagen dem Herrn Landrat zu Hameln

unterschrieben

Voldagsen, den 27. Juli 1907

Erscheint der Aufseher Schulz z. Z. Rittergut Voldagsen und erklärt auf die ihm vorgelesene Beschwerde der österreichischen Saisonarbeiter ..., daß deren Aussagen betreffs Mißhandlung seinerseits auf Unwahrheit beruhen. Er habe die Leute nicht geschlagen und sie auch nicht zum Verlassen des Gutes aufgefordert. Die selben hätten vielmehr, wie er später erfahren, ihr heimliches Fortgehen von Voldagsen langer Hand vorbereitet und sich dazu extra die falschen Pässe aus der Heimat kommen lassen . . .

Urschriftlich nebst Anlagen dem Herrn Amtsvorsteher zu Erxleben

Neuhaidensleben, 7. August 1907

unter Bezugnahme auf die vorseitige Verhandlung mit der Mitteilung zurückgesandt, daß diesseits keine Veranlassung besteht, die Aussagen des p. Schulz anzuzweifeln, zumal auch die Tatsache, der Benutzung falscher Pässe für die Schuld der Beschwerdeführer spricht. Ich ersuche daher, denselben zu eröffnen, daß ich ihre Beschwerde als unbegründet zurückweise. Auch wollen Sie dafür Sorge tragen, daß die Ausgewiesenen nunmehr sofort, spätestens innerhalb 3 Tagen, das Preußische Staatsgebiet verlassen, andernfalls ich ihre zwangsweise Abschiebung mittels Gefangenen-Sammeltransportwagens auf Kosten des Arbeitgebers veranlassen werde. Der Landrat

Anlagen An den Herrn Landrath in Neuhaidensleben

383 Erxleben, den 31. August 1907

In der nebenbezeichneten Angelegenheit erstatte ich hiermit folgenden Bericht: Die Leute haben gestern Vorwerk Eimersleben verlassen, ohne ihre Reiseroute angegeben zu haben. Sie wollten nach Dänemark auswandern und sich im Landratsamt ihre Papiere ausbitten. Die dorthin gehörigen Schriftstücke werden hier beigefügt...

Urschriftlich nebst Anl. dem Herrn Landrat zu Hameln

N., 3. 09. 07

mit der Mitteilung zurückgesandt, daß die 3 Ausländer nach erfolgter Ausweisung das Vorwerk Eimersleben verlassen haben und dem Vernehmen nach nach Dänemark ausgewandert sind. Betreffs den Legitimationspapieren war den Galiziern aufgegeben, sich dieselben von einer preußischen Staatsbehörde abzuholen. Da die Ausländer aber abgereist sind, ohne Näheres zu hinterlassen, folgen fragl. Papiere anbei wieder zurück ... (STAM, Rep. C 30 Neuhaidensieben I, Nr. 850, Bd. 15, S. 1 - 1 4 ) Anlage Nr. 31 Bericht über die Krankheiten der Sachsengänger und ländlichen Arbeiter Als einziger Vertreter der öffentlichen Gesundheitspflege im Kreise liegt dem Physikus ob, nicht blos die im Laufe der Monate von den Aerzten einlaufenden Meldekarten für ansteckende Krankheiten zu sammeln und darüber in dem Vierteljahrsbericht der Regierung, dort, wo ein solcher noch eingefordert wird, Auskunft zu geben, sondern er muß auch einzelne Bevölkerungsklassen hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes fortgesetzt im Auge behalten und Vorschläge zur Abhilfe auffallender Schäden dem Landrathsamte machen. Der Kreis Querfurt, welcher von dem historisch bekannten und naturschönen Unstrutthale durchzogen wird und sich zum Theil noch an die goldene Aue anlehnt, wird hauptsächlich von meist wohlhabenden Landwirthen bewohnt, welche theils Viehzucht treiben, theils den Acker mit Getreide, Futterfrüchten, Kartoffeln und vornehmlich mit Zuckerrüben bebauen. Gegen die Landwirtschaft treten die Forstwirthschaft, die Kalkbrennereien, Ziegeleien, kleinen Gewerbe, die Steinbruchsarbeiten, die Winzereien und die Schiffahrt im Unstrutthale weit zurück. Die Zuckerrübe ist der Drehpunkt der ganzen Jahreswirthschaft der Oekonomen, Guts- und Rittergutsbesitzer. Die Esse ist, wie ein Lieferant der Zuckerrüben einmal kurz die Zuckerfabrik bezeichnete, der Mittelpunkt einer s/4 Jahre dauernden, anstrengenden und kostspieligen Arbeit, welche von Maschinen und vielen Menschenhänden Jahr aus Jahr ein ausgeführt wird, seitdem der Zuckerrübenbau zur gewinnbringenden Industrie erhoben wurde. Die einheimischen ansässigen, sog. kleinen Leute, welche kaum einige Morgen Land haben oder ohne Ar und ohne Halm sind, reichen nicht aus für die ununterbrochene Thätigkeit der Rübenkultur. Seit Jahren wandern im Frühjahr die Sachsengänger und Sachsengängerinnen, Mädchen und Burschen im besseren Alter, aber auch noch halbe Kinder und alte Frauen, geschiedene und getrennt lebende Männer und Frauen, selbst Mann und Weib aus Ostelbien (Brandenburg, Posen, Ost- und Westpreussen, Schlesien, Galizien und Russland) — Kulis und Chinesen fehlen noch, solange die Eisenbahn Eydtkuhnen bis Port Arthur noch nicht vollendet ist — in grossen Schaaren ein und ziehen im Herbst größtentheils wieder ab, sobald die Rübe in Mieten eingedeckt und vor Frost geschützt ist. Nur wenige Knechte und Mädchen blieben Winters über hier, helfen bei dem Verarbeiten der Rüben in den Fabriken, verheirathen sich oder verdingen sich in Privathaushaltungen. Diese Sachsengänger sind reine Wandervögel und führen ein halbes Nomadenleben. Ihre Lebensweise, Beschäftigung, Wohnung und Ernährung übt den grössten Einfluß auf das Körperbefinden aus. An ihre Thätigkeit knüpfen sich ganz besondere, im Laufe des Jahres mit einer ge-

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wissen Regelmässigkeit wiederkehrende, je nach den Witterungs- und Arbeitsverhältnissen in ihrer Intensität wechselnde Krankheiten. Sie wohnen grösstentheils in Kasernen nach Geschlechtern getrennt in grösseren Stuben, die verheiratheten Leute auch wohl — nicht immer — für sich oder in einzelnen Stuben, Kammern oder im Stalle neben Ochsen und Pferden in bescheidenen und dürftig eingerichteten, ihren gewohnten Verhältnissen oft entsprechenden Räumlichkeiten. Ihre Kleidung ist einfach, meist besitzt der Arbeiter nur einen Arbeits- und einen Sonntagsanzug; der Arbeitsanzug genügt für die Hitze und den Regen des Sommers wie für die Kälte und den Frost des Herbstes. Die Fussbekleidung besteht in hohen Stiefeln, Strümpfe oder Fusslappen fehlen meist; während des Sommers legen die Mädchen gar oft die Stiefel fort und arbeiten barfuss. Dann sind die nackten Füsse allen Insulten der Nässe und Kälte, dem Schmutz und der Hitze ausgesetzt. Die Nahrung ist sehr mässig und für die zu leistende Arbeit nicht immer genügend. Morgens giebt es wohl warmen Kaffee, aber nicht überall und dann ohne Zubrod; Mittags isst der Arbeiter vielfach trockenes Brod, wenn nicht warme Kost in's Feld gebracht wird, und Abends wird wieder kalt gegessen oder, wenn Mittags warme Kost fehlt, Kartoffeln mit Hering, Leguminosen oder Reis auf den Tisch gebracht. Fleisch gehört meist nur Sonntags zur Nahrung. Dabei arbeiten die Leute vom frühen Morgen bis zum Abend, machen eine Stunde Mittags- und eine kurze Frühstücks- und Vesperpause. Die Mittagsruhe wird nach dem Einnehmen der Mahlzeit durch Niederlegen auf dem freien Felde gehalten, wo selten eine Mütze oder höchstens bei den Mädchen ein Kopftuch oder die Schürze das Gesicht vor Insekten und Sonnenstrahlen schützt. Anstrengend ist das Pflanzen, Hacken, Säen, Fahren, Binden, Aufladen, Karren, Schippen etc., denn stets wird Klage Sonntags über allerhand Muskel- und Gliederschmerzen geführt; die Arbeit in Akkord bei dem Rübenhacken und Rübeneinmieten bringt meist Ueberanstrengung und Krankheiten hervor, die sich in Waden-, Arm- und Brustschmerzen und bei nasser Herbstwitterung in Rheumatismen, Bronchial- und Darmkatarrhen mit wochenlanger Bettlägerigkeit erkenntlich machen. Meist arbeiten' die Leute in gebückter Haltung, oftmals stundenlang in nasser Kleidung, oft ohne Schuh, im Sommer in grösster Hitze, im Staube und Drecke, im Herbst in der Nässe, Kälte und im Frost. Dabei drohen ihnen die Gefahren des ihnen nicht immer bekannten Betriebes der Maschinen, der Sah-, Mäh- und Dreschmaschinen, des Göpels, des Fuhrwerks, der oft ungeberdigen Ochsen und Pferde, der Gabel, Sichel und Sense, die ihnen gelegentlich viele leichte, die durch Vernachlässigung, dann zu schweren werden, oft auch schwere und sogar lebensgefährliche und tödtliche Verletzungen bringen. Einen grossen Theil einer mühseligen Arbeit, das Rübenziehen, nehmen ihnen die Schulkinder armer Eltern ab, die sich dadurch einen Verdienst, wenn auch meist auf Kosten der Gesundheit und des Schulunterrichtes, zu gewinnen suchen. Dass eine so vielseitige, ohne überängstliche Rücksicht auf die Witterungsverhältnisse erfolgende Arbeit den Körper, welcher noch wächst und in diesem Alter sich kräftigen soll, abnutzt, die Gesundheit schädigt und schwache Individuen nach wenigen Jahren zu Invaliden macht, liegt auf der Hand. Dazu kommen noch Schäden, welche den katholischen Arbeitern ihre kirchlichen Sitten bringen. Sonntags machen die Arbeiter einen weiten, oft stundenweiten Weg zur Kirche, wenn keine katholische Kirche am Orte ist oder kein Gottesdienst dort stattfindet, von der sie erst spät Nachmittags oder Abends zurückkehren, anstatt Tags über auszuruhen. Vier Wochen vor Ostern essen dieselben zur Fastenzeit kein Fett und Fleisch. Muss dann nicht der Körper ermatten, wenn er 12 Stunden arbeiten soll? Im Frühjahr muss, sobald die Sachsengänger in ihre Quartiere einrücken, zur Verhütung der Ansteckung von Krätze, Läusen und Trachom eine Revision ärztlicherseits stattfinden, die leider nicht streng gehandhabt wird. Dazu kommt bei den Russisch-Polen die Gefahr der Pockenübertragung. Ein grosser Theil dieser Arbeiterklasse ist nur als Kind oder gar nicht geimpft; fragt man, warum sie nicht geimpft sind, so heisst es, die Mutter habe sie als Kind nicht zum Impfarzt gebracht. Die Wiederimpfung wird sofort vorgenommen, sobald keine Pockennarben der natürlichen Blattern im Gesichte sichtbar sind. Die Begründung für dies sanitätspolizeiliche Verfahren tritt in der Einschleppung der Pocken aus Russland nach Deutschland, wie es auch wieder in diesem Frühjahre der Fall war, hinlänglich zu Tage. Ebenso klar ist der Nutzen, die später von an-

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steckenden Krankheiten Befallenen zwangweise in die Krankenhäuser zu überführen; dahin gehören die an Unterleibstyphus, Krätze, Syphilis oder an Trachom Erkrankten. Dass dagegen sich die Frühjahrsrevision auf die ansteckenden Krankheiten beschränkt und nicht den ganzen Gesundheitszustand, namentlich die genügende körperliche Entwicklung des einzelnen Individuums berücksichtigt, halte ich für durchaus fehlerhaft, da ich öfter Arbeiter und Mädchen gesehen habe, die nur unseren 12jährigen Schulkindern an Wuchs und Stärke gleichkommen; sie sind ausser Stande, unter ungünstigen Aussenverhältnissen schwere Land- und Feldarbeit zu verrichten und verkommen geistig und sittlich. Eine Musterung nach militärischer Art ist hier unbedingt am Platze; die Schwachen müssten sofort nach Hause geschickt werden. Bald machen sich die rheumatischen Einflüsse in Augen-, Ohren-, Hals- und Lungenleiden, Rheumatismen und Neuralgien bemerkbar, bald stellen sich in Folge der ungewohnten Kost Verdauungsstörungen ein, bald klagen die Mädchen über allgemeine Schwäche und Blutarmuth. Viele 18—20jährige Mädchen haben während ihres Va - '/ijährigen Aufenthalts in hieseiger Gegend die Menstruation nicht, ohne schwanger zu sein. Je mehr der warme Sommer heranrückt, desto mehr häufen sich Ekzeme, Erytheme im Gesicht, an den Ohren, den Lippen, Armen und Füssen, die nackt getragen werden. Täglich erscheinen Zahnpatienten in der Sprechstunde. Zu Zeiten mehren sich die Brechdurchfälle zu Dutzenden auf einem Gute. Viele klagen über Wadenschmerz, da sie das lange Stehen nicht vertragen können, andere empfinden unerträgliche Arm- und Brust- oder Lendenschmerzen, da die Muskulatur überanstrengt wird. Appetitlosigkeit, Kopfschmerz, Mattigkeit und allgemeine Abgeschlagenheit stellen sich ein in Folge des ungenügenden Essens und Trinkens; die Leute sparen mit wenigen Ausnahmen und wenden zu wenig für das Essen auf, wenn sie sich selbst beköstigen müssen. Einige Tage Bettruhe und, geordnete Diät würde sicherlich viel zur schnellen Genesung beitragen, wenn in der Küche eine einfache Wasser-, Schleim- und Mehlsuppe verabreicht würde. Indessen Krankenkost giebt es nur in Ausnahmefällen, denn die Surrogate dazu fehlen der Köchin der Kasernen in dem Speiseetat. Leider kümmern sich nur wenige Arbeitgeber in dieser Hinsicht um die Krankenpflege. Schon schimpft der Gutsinspektor oder Bauer, wenn der Arbeiter krank wird und zu Hause bleibt, noch ungehaltener wird er, wenn der Kranke nach dem Arzte verlangt, da dieser in der Regel Schonung und Bettruhe anordnet. Kommt der Kassenarzt, dann wird sofort gefragt, wie lange wird es dauern, bis der Patient wieder an die Arbeit gehen kann, oder schnell heisst es: „Doktor, bringen Sie doch den Kranken in's Krankenhaus". Während der Ernte giebt es allerhand leichte und schwere Verletzungen. Hier schneidet die Sichel oder Sense in den Finger, Arm oder Fuss oder in die Wade, dort schlüpft ein Mädchen in die Dreschmaschine und quetscht sich beide Schenkel ab; hier fällt ein Mann bei der ungewohnten Arbeit vom Fuder und bricht den Arm oder Schenkel, dort wird ein Bursche, der leichtsinnig vom Bocke während des Fahrens springt, über das Becken und den Leib gefahren. Bei der Rübenernte stehen die Mädchen oft, wenn der Herbst regnerisch ist, Tage lang in Nässe und Schmutz, dem selbst die hohen Stiefel nicht widerstehen können, zwischen den nassen Rüben. Da giebt es ausser rheumatischen Leiden Hiebwunden in die Finger, Hand und den Fuss, Schrunden an den Händen, schlimme Augen und Ohren und alte Leiden, von denen man früher nichts mehr wusste, brechen von Neuem aus. Kurz, es giebt keine Krankheitsgruppe, welche nicht gelegentlich im Laufe des Frühjahrs, Sommers und Herbstes, oder sogar Winters an den Sachsengängern und landwirthschaftlichen Arbeitern beobachtet wird. Kein Gebiet der Medizin, selbst die Geburtshilfe, Gynäkologie, Syphilidologie und gerichtliche Medizin (Aborte, Kindsmord) bleibt dem Kassenarzte verschlossen. Immerhin treten aber einzelne Krankheitsgruppen besonders zahlreich auf, wie ich aus der Durchsicht der Krankenjournale unserer 14 Kassenärzte für die landwirthschaftliche Kreiskrankenversicherung pro 1896 ersah. Ungefähr 6000 Mitglieder zählt die Kasse, nur wenige sind im Laufe des Jahres nicht, die meisten ein- oder mehrmal erkrankt. Welche Arbeit es dort für den Arzt giebt und welche Summe seitens des Kreises verausgabt wird, illustriert die Rechnung der KreisKommunal-Kasse für das Etatsjahr 1896/97.

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a) b) c) d) e) f)

Kosten für Ärztliche Behandlung 27348 M Kosten für Arznei und sonstige Heilmittel 21216 " Krankengelder 30686" Kur- und Verpflegungskosten an Krankenanstalten 8409 " Ersatzleistungen an Armenverbände 587 " Transport- u. Reisekosten für in Krankenanstalten untergebrachte Versicherte 440 " g) Sonstige Ausgaben 3" Demnach fehlen etwa 12000 M an der Summe von 100000 M. In erster Linie stehen die chirurgischen Fälle. Kontusionen treffen gelegentlich jeden Körpertheil, den Kopf, die Schultern, die Arme, den Rücken, die Brust, das Becken und die Schenkel, selbst die äusseren und inneren Genitalien sind ihnen ausgesetzt. Häufig sind Panaritien, Hautwunden, Abszesse, Pflegmonen, Distorsionen, Frakturen und Ulcera, darunter solche maligner Natur. Gleich nach ihnen kommen in der Häufigkeitsskala die rheumatischen Leiden der Muskel, Gelenke, Knochen, Sehnen und Nerven und die Respirationsleiden, z. B. Angina, Laryngitis, Bronchitis, Pneumonie, Pleuritis und Phthise. Dann folgen die immer wiederkehrenden Haut- und Magendarmkrankheiten. Fast täglich wird der Arzt wegen Zahnschmerz, der in Caries, Pulpitis Periostitis und konstitutionellen Leiden begründet ist, konsultirt. Ein Konserviren des kranken Zahnes kennt der Sachsengänger nicht, der böse Zahn muss heraus; oft wird an einem Tage mehr als ein Zan extrahirt, denn der Zahn hindert am Essen, Arbeiten und Schlafen, drei Dinge, die dem Sachsengänger sehr am Herzen liegen. Dagegen treten die Nervenleiden, die Störungen der Zirkulationsorgane, mit Ausnahme der Anämie und Chlorose der jungen Mädchen, und krankhaften Affektionen der Genitalorgane zurück. Geschlechtskrankheiten werden bisweilen, wie es bei gehäuftem Zusammenwohnen verschiedener Geschlechter auch sonst vorkommt, doch nicht zu häufig übertragen. Wegen Ohrenleiden wird der Kassenarzt seltener, meist wegen Schwerhörigkeit in Folge von Ohrenschmalzansammlung im äusseren Gehörgange, gefragt. Manche dieser angeführten Krankheiten würde gar nicht zum Ausbruch kommen oder schneller als bisher heilen, wenn allgemein als gültig anerkannte Grundsätze der Hygiene bei den Sachsengängern und ländlichen Arbeitern zur Geltung gelangten. Um nur einzelne Fälle herauszuziehen, so würde mancher Magen-Darmkatarrh nicht entstehen oder schnell schwinden, wenn der Kost mehr Sorgfalt zugewendet und in der Kost mehr Abwechselung geboten würde. Manches Augenund Hautleiden würde bei körperlicher Reinigung, regelmäßigem Waschen der Hände und des Gesichts und öfterem Baden der Füsse nicht hervortreten. Manches Unglück, herbeigeführt durch die Maschinen und den Verkehr mit Pferden und Ochsen, würde verhütet, wenn die unerfahrenen, leicht ermüdenden, zu jungen Knechte und Mädchen nicht zu ländlichen Arbeiten herangezogen würden. Doch alle guten Lehren fallen in hiesiger Gegend, wo die Rübe gedeiht, meist auf dürrem Boden und tragen keine Früchte, weil die Saat gar nicht aufgeht. Manches wird hoffentlich mit der Zeit in Zukunft, wenn die Krankenpflege auf dem Lande mehr Anhänger, wie ich jüngst empfohlen habe1, gefunden hat. Jeder Amtsbezirk müsste eine Krankenpflegerin, welche täglich ein- bis zweimal ihren Bezirk durchwandert, erhalten, selbst, wo sie darf und kann, Hand anlegt und auf ärztliche Hilfe direkt dringt, sobald der Arbeitgeber seiner Pflicht nachkommt. Manches Panaritium und manche Pflegmone würde dann günstiger verlaufen. Auch für die einheimischen Landarbeiter würde besser gesorgt sein. Die kranke Arbeiterfrau würde bessere Pflege, die unmündigen Kinder passende Nahrung und die Wöchnerin die so nothwendige Schonung im Wochenbett finden, das Neugeborene regelmässig gebadet und gewaschen und durch Darreichen entsprechender Kost verhütet werden, dass allgemeine Atrophie, Magen-Darmkatarrh und Tuberkulose zur Kindersterblichkeit so ausserordentlich viel im Arbeiterstande beitrügen. Ich kenne Familien, die kein Kind aufwachsen sahen, weil sie regelmässig im Sommer ihr Kind in Folge Brechdurchfalls wegen mangelnder Pflege verloren. 1

Die Krankenpflege in kleinen Städten und auf dem Lande. Deutsche Krankenpflege-Zeitung 1898, Nr. 4.

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Dass mit der Verbreitung besserer Krankenpflege nicht alles geschehen ist, was auf dem Lande Noth thut, lässt sich leicht erweisen. Ein Verein für Armenpflege und Wohlthätigkeit, der wohl in den Städten, aber auf dem Lande noch nirgends besteht, — hier giebt es nur einen Landarmenverband, welcher andere Ziele verfolgt — würde viele Aufgaben zu erledigen finden. Hierbei habe ich weniger die Sachsengänger als die einheimischen Familienväter und Familienmütter der landwirtschaftlichen Bevölkerung in Krankheits- und Invaliditätsfällen im Auge. Gesetzt den Fall, die sonst zur Arbeit gehende Mutter erkrankt an Gicht der verschiedensten Gelenke, besonders der Hände und Kniee; sie ist Vi Jahr auf Kosten der Krankenkasse behandelt, versucht es auch wieder, zur Arbeit zu gehen, doch der Versuch schlägt fehl. Sie wird mehr und mehr arbeitsunfähig. Von diesem Augenblicke an fehlt def Familie nicht blos eine zweite Erwerbsquelle, sondern vor allen Dingen die Mutter und Hausfrau, da sie ihre häuslichen Verrichtungen wenig oder gar nicht vollbringen kann. Wird sie nun nach Jahresfrist zur Invalidin erklärt, wer sorgt an der Mutterstelle für die Familie? Der Mann erhält keine rechte Kost, die Kinder werden nicht gewaschen und nicht gekleidet, das Haus wird nicht sauber gehalten, die Wäsche geht entzwei, ohne ersetzt zu werden. Der Lohn des Mannes reicht nicht aus, um eine Arbeiterin als regelmässigen Ersatz für die fehlende Hausfrau zu bezahlen, oft noch nicht mal dazu, die Lebensmittel in genügendem Masse zu bestreiten. Der Mann ändert bald seinen Charakter gegen die früher fleissige Frau und misshandelt sie aus Aerger und Ueberdruss, dass Alles rückwärts geht. Hier gilt es offenbar, den Haushalt aufrecht zu erhalten dadurch, dass nicht blos die Frau Pastor des Ortes einmal in der Woche eine Suppe schickt oder die Arbeitgeberfrau vier Wochen Nahrungsmittel in das Haus bringen lässt, sondern es muss Jemand regelmässig kochen, die Wäsche besorgen, das Haus säubern etc. Fehlt es an wirthschaftlichen Gütern, so muss für Erhaltung des alten Hausstandes und Erneuerung von Wäsche, Mobiliar etc. rechtzeitig gesorgt werden. Der Vortheil, dass der alte Wohnraum mit seinem Inventar ungestört erhalten bleibt, leuchtet Jedermann sicher ein. Wird ein Mann krank und findet im Hause gute Pflege, so braucht er nicht immer in das Krankenhaus. Kommt die Frau nieder, so kann sie das Wochenbett ruhig im Hause abwarten, anstatt vorzeitig aufstehen zu müssen, ehe die Genitalien genügend zurückgebildet und der Körper genügend gekräftigt ist. Das Wochenbett im eigenen Hause ist vielfach dem Aufenthalte im Asyle, wie seiner Zeit der Landeshauptmann Graf v. Wintzingerode aus Merseburg2 zu Kiel zutreffend sagte, vorzuziehen. Die Hauspflege ist mithin eine Forderung, deren Organisation des Fleisses aller Familien besserer Stände werth ist und nicht zu den unklaren Ideen idealer Zukunftsschwärmer gerechnet werden darf. Die heute so sehr geforderten Volks-Sanatorien, die Virchow mit Recht jüngst in Heilstätten umgetauft hat, kommen nur einzelnen Kranken zu Gute, die Armenpflege bringt aber Hunderten und Tausenden von Familien, die durch Krankheit in Noth gerathen und des Familienglückes verlustig gehen, unschätzbare Wohlthaten. 2

Die Umschau; 1898, Nr. 23.

{Schilling, 1899a: 8 - 1 5 ) Bemerkungen zu Dr. Schilling's Aufsatz über „die Krankheiten der Sachsengänger und ländlichen Arbeiter". Von San.-Rath Dr. Fielitz — Halle a./S. Wenn ich mir erlaube, zu Herrn Dr. Schilling's Aufsatz in Nr. 1 dieser Zeitschrift das Wort zu nehmen, so darf ich meine Berechtigung hierzu wohl mit dem Umstände begründen, dass ich selbst 10 Jahre lang Physikus des Querfurter Kreises war, über welchen der Herr Verfasser in jenem Artikel berichtet. Gleich beim Erscheinen des Aufsatzes hatte ich mir vorgenommen, einiges zu berichten, was mir nicht zutreffend erschien, weil ich meiner alten Heimath noch eine viel zu grosse Anhänglichkeit bewahrt habe, als dass ich sie in Misskredit bringen lassen möchte.

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Thatsächlich hat sich sofort eine hiesige Zeitung den Artikel zu Nutze gemacht, um „den Herren Agrariern" etwas am Zeuge zu flicken. Die „Saalezeitung" leitet in ihrer Nr. 25 vom 15. Januar einen Auszug aus Dr. Schilling's Arbeit mit folgenden Worten ein: „Ueber die traurige Lage der Sachsengänger berichtet in der „Zeitschr. für Medizinalbeamte" der dortige Kreisphysikus Dr. Schilling, und zwar nach Beobachtungen, die er als Medizinalbeamter machte. Seine, man kann sagen neutrale Stellung als beamteter Arzt schützt ihn vor dem Einwurfe, dass er in irgend einem Parteiinteresse etwa übertreibt". Ob der Verfasser diese Verwendung vorausgesehen hat, lasse ich dahin gestellt; sie zwingt mich aber, für meinen alten Kreis eine Lanze zu brechen. Zunächst hat es mich gewundert, dass Herr Dr. Schilling einen solchen Aufsatz gerade in dem Augenblicke geschrieben hat, in welchem er sein Physikat aufzugeben und Querfurt zu verlassen sich anschickte.1 Die Voraussetzung der Saalezeitung ist also nicht vollkommen zutreffend. Auf der anderen Seite werden Uneingeweihte nun erst recht an die Richtigkeit der Schilderung glauben in der Meinung, der Verfasser habe diese traurigen Zustände nicht früher aufdecken können; denn der freie Bürgersmann liebt auch im Kreisphysikus einen unglücklichen Beamten zu sehen, der sich freie Meinungsäusserungen nicht gestatten darf. Ich möchte zunächst darauf hinweisen, dass sich in dem ganzen Artikel nur allgemeine Schilderungen, aber keine erweisbaren Thatsachen finden, aus denen sich eine traurige Lage der Sachsengänger im Kreise Querfurt folgern liesse. Die Sachsengänger sehen dort genau so aus, wie in anderen Theilen unseres Vaterlandes, nur mit dem Unterschiede, dass auf den meisten Rittergütern des Kreises nur deutsche und, wenn ich so sagen darf, möglichst kulturfähige Leute engagirt werden. In den 80er Jahren kehrten auf manchen Gütern alljährlich dieselben Leute wieder, doch sicher ein Beweis, dass sowohl Arbeitgeber, wie Arbeitnehmer zufrieden gewesen sind. Das mag sich allmählich geändert haben, nachdem deutschredende Sachsengänger nicht mehr in genügender Zahl zu bekommen sind. Aber auch heute miethet der Unternehmer — schon im eigenen Interesse — nicht „halbe Kinder und alte Frauen". Dr. Schilling sollte aus seiner früheren Thätigkeit in Schlesien wissen, dass unter den armen Bewohnern jener Provinz 20jährige Mädchen häufig in ihrer Entwicklung zurückgeblieben sind und Frauen von 40 Jahren 20 Jahre älter aussehen. Das ist eine natürliche Folge des traurigen Daseins in der Heimath. Aber „Arbeiter und Mädchen von Wuchs und Stärke unserer 12jährigen Schulkinder" habe ich selbst unter den elendsten Sachsengängern niemals gefunden. Gerade solche elend einziehenden Menschen werden durch längeren Aufenthalt in unserer Provinz wohlthätig beeinflusst. Die verkommenen, oft geradezu stumpfsinnigen Gesichtszüge bekommen einen frischeren, intelligenteren Ausdruck und besonders Mädchen sind bei ihrer Heimkehr nach s/4 Jahren nicht wieder zu erkennen. Bei Männern bleibt diese Aenderung allerdings meist aus, weil sie fast ohne Ausnahme dem Schnapsgenusse fröhnen. Im Querfurter Kreise habe ich diese günstige Einwirkung sehr häufig bei meiner ärztlichen Thätigkeit beobachtet. Das war erklärlich, denn die dortigen Arbeiterkasernen sind mit wenigen Ausnahmen im Verhältnisse zu denen anderer Kreise und im Gegensatz zu den heimischen Wohnungen als Musterhäuser zu bezeichnen. Besonders in der nächstin Umgebung Querfurts waren die fremden Leute in einer Weise untergebracht, die weder in sittlicher, noch in gesundheitlicher Beziehung etwas zu wünschen übrig liess. Ausnahmen kommen überall im Leben vor, aber wer Dr. Schilling's Arbeit liest, macht sich von dem schönen und gesegneten Kreise Querfurt eine falsche Vorstellung. Der ganze Aufsatz zeichnet sich durch Schwarzmalerei aus und wirft Dinge unter einander, die nicht zusammen gehören. Von Altersher waren die Landleute gewöhnt, mit Vorliebe barfuss zu gehen. Jetzt ist es weniger Brauch, aber, wie ich beobachtet habe, noch ebenso bei einheimischen, wie fremden Arbeitern. Nur wüsste ich nicht inwiefern hierdurch besondere Gesundheitsstörungen hervorgerufen wären. Uebrigens schützen die Sachsengänger ihre Füsse besser, als unsere Landbewohner es thun. 1

Der Artikel ist im Juni v. J. der-Redaktion eingesandt.

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In der Körperpflege erschienen mir die fremden Mädchen im Querfurter Kreise geradezu musterhaft: Täglich wuschen sie den Körper gründlich und trugen stets reine Wäsche ohne Löcher und grosse Flicken, wie sie bei unseren Arbeitsleuten üblich sind, und Sonntags zeigten sie sich in blitzblanker Kleidung. Die Herrschaft gab ihnen auch Zeit, Zimmer und Kleidung zu reinigen und in Stand zu halten. Die Unbilden der Witterung und die Anstrengungen in der Landwirthschaft theilten sie mit allen Arbeitern, aber ich meine immer, solche Arbeit ist weit gesunder als die in Fabriken und Nähstuben. Mittagsruhe auf so primitive Art halten nicht nur Landarbeiter, auch Soldaten freuen sich, wenn sie nach weitem Marsche sich auf Mutter Erde ausstrecken können, und unsere städtischen Pflaster-, Kanal- und ähnlichen Arbeiter halten ihr Mittagsschläfchen auf dem Strassenpflaster ohne ein anderes Gefühl als das der Erquickung. Ich habe auch niemals bemerkt, dass unter den Sachsengängern bestimmte Krankheiten häufiger auftraten, als unter der übrigen Bevölkerung. Eine Ausnahme haben in dieser Beziehung die Augenentzündungen gemacht, auf deren Gefahren für Einheimische ich bereits vor 15 Jahren hingewiesen habe. Diese Augenentzündungen sind aber keine Folge der traurigen Verhältnisse in unserer Provinz! Krankheiten als Folge ungehöriger Wohnung, Verpflegung oder Beschäftigung sind mir meines Wissens nicht vorgekommen, so lange ich einen grossen Theil der Querfurter Kreiskrankenkasse als Arzt versorgte. Stets traten auf dem Lande zur Erntezeit Verdauungsstörungen, im Herbst und Frühjahr rheumatische Beschwerden u. s. w. in den Vordergrund; aber ich wüsste nicht, dass solche Schäden hauptsächlich die Sachsengänger betroffen hätten. Im Allgemeinen erfreuen sich die landwirtschaftlichen Arbeiter einer besseren Gesundheit als die industriellen; das beweist ja jede Statistik und die ärztliche Erfahrung. Lieblosigkeiten der Herrschaft, wie Dr. Schilling sie schildert, kranken Sachsengängern gegenüber sind wohl nur grosse Ausnahmen. Ich habe im Gegentheil häufig beklagt, dass die Sucht nach Verdienst solche Kranke aus Bett und Zimmer trieb gegen den Willen des Arztes und der Gutsherrschaft. In dieser Beziehung sieht es in grossen Städten viel schlimmer aus. Ich kenne Geschäfte, bei denen es Grundsatz ist, Angestellte zu entlassen, wenn sie länger als 14 Tage krank sind. Das kommt auf dem Lande nicht vor. Nicht das Sachsengängerwesen und die schlechte Lebenslage der landwirthschaftlichen Arbeiter im Kreise Querfurt trägt die Schuld an den hohen Kosten der Kreiskrankenversicherung. Hierfür ist lediglich der Umstand verantwortlich zu machen, dass in liberalster Weise jeder anbrüchige Mensch, der sich noch irgendwie beschäftigen kann, der Kasse als Mitglied zugeschoben wird. Diese Liberalität kommt nicht fremden Arbeitern, sondern einheimischen Gebrechlichen zu Gute, welche wegen Emphysem, Herzleiden, gichtischer Anlage u. s. w. in jedem Jahre monatelang Krankengeld, Arzt und Apotheke in Anspruch nehmen. Auch die Krankenpflege war schon vor 20 Jahren im Querfurter Kreise besser organisirt, als in anderen der Provinz. Frauenvereine und aus Kreismitteln bestellte Diakonissen haben Gutes gewirkt, soweit das eben möglich war. Meine Erfahrung in diesen Dingen ist auch nicht gering; sie nöthigt mich zu der Erklärung, dass die Lage der Sachsengänger und ländlichen Arbeiter im Kreise Querfurt während meiner Amtszeit eine ebenso gute oder gar bessere war, als in den meisten anderen Bezirken unserer Provinz und dass besonders die Sachsengänger gesundheitlich besser lebten, als in ihrer Heimath. Dass seit 1890 eine so wesentliche Verschlechterung dieser Verhältnisse eingetreten sein sollte, ist wohl nicht anzunehmen. (Fielitz, 1899: 6 8 - 7 1 )

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Bemerkung zu meinem Artikel: Die Krankheiten der Sachsengänger und landwirthschaftlichen Arbeiter. Wer meinen in Nr. 1 dieser Zeitschrift veröffentlichten, bereits im Sommer 1898 an die Redaktion über die Krankheiten der Sachsengänger und ländlichen Arbeiter eingesandten Artikel ohne politische und sonstige parteiliche Voreingenommenheit sorgfältig liest, findet darin eine Zusammenstellung der Krankheiten, welche bei den näher bezeichneten Arbeitern vorkommen, ihre Ursachen und Vorschläge zur Abhülfe auffallender Uebelstände. Alle an die aus dem Zusammenhange herausgerissenen Sätze geknüpften Erörterungen fallen damit in sich zusammen und geben mir keinen Anlass, am allerwenigsten in politischen Zeitungen, mich auf nutzlose Erwiderungen einzulassen. Dr. Schilling. (.Schilling, 1899b: 114) Anlage Nr. 32 Haus- und Polizei-Ordnung einer Arbeiterkaserne der Domäne Egeln von 1900 Ein jeder Arbeiter oder Arbeiterin, welcher im Dienst oder Arbeit auf der Königlichen Domäne Egeln steht und die an der Bode belegene Arbeiterkaserne bewohnt, hat sich in jeder Weise und allen Stücken nachstehenden Bestimmungen zu fügen: 51. Den Anordnungen des mit der Aufsicht über die Kaserne beauftragten Aufsehers, sowie des Wirthschaftsleiters und dessen Beamten haben sämmtliche Arbeiter und Arbeiterinnen unweigerlich und unbedingt Folge zu leisten. §2. Die Reinigung und Lüftung der Wohn- und Schlafräume, Säuberung der Tafeln, Bänke und Geräthe geschieht täglich durch eine vom Arbeitgeber zu bestimmende Person. Eine besondere Reinigung ist Sonnabends vorzunehmen, wobei auch die Fußböden gescheuert und die Fenster geputzt werden müssen. §3. Die Aborte sind thunlichst rein zu erhalten, und müssen wöchentlich einmal gescheuert werden. Die Arbeitsgeräthe, welche etwa in die Wohnung mitgenommen werden, sowie das Schuhwerk, müssen vor dem Betreten der Kaserne von Schmutz und Erde thunlichst gereinigt,werden. §4. Mit Ungeziefer behaftete Personen haben sich, sobald der Fall entdeckt, oder ihnen bekannt geworden ist, einer sofortigen und gründlichen Reinigung zu unterziehen und letztere solange fortzusetzen, bis das Uebel behoben ist. In der Zwischenzeit ist die betreffende Person thunlichst zu isolieren. §5. Nicht in die Kaserne gehörige Personen haben nur mit Zustimmung des Aufsehers Zutritt: die männlichen Arbeiter haben nicht das Recht sich in den Räumen der Arbeiterinnen aufzuhalten und auch umgekehrt. Bewohner wie Besucher der Kaserne haben sich jeder Zeit eines gesitteten anständigen Betragens zu befleißigen. §6. Im Sommer Abends 10 Uhr, sonst um 9 Uhr, wird die Kaserne geschlossen; nach dieser Zeit ist der Ein- und Austritt nur auf zuvor einzuholende Erlaubniß des Aufsehers zulässig. §7. Wenn auch das Singen unverwehrt bleibt, sofern es sich nicht um unzüchtige schamlose Lieder handelt, so darf doch dasselbe niemals in einem die Nachbarschaft belästigenden Lärm ausarten und niemals bis über die Zeit von 10 Uhr Abends hinaus dauern.

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§8. Betheiligungen der Hausbewohner an gemeingefährlichen Bestrebungen irgend welcher Art berechtigen zur sofortigen Entlassung aus Haus und Arbeit. §9. Zuwiderhandlungen gegen die eine oder andere der vorstehenden Bestimmungen ziehen eine Geldstrafe von einer Mark, welche sich im Wiederholungsfalle bis zu drei Mark für jeden Fall steigert, nach sich. Domäne Egeln, den 16. Mai 1900. Fr. Schreiber, Oberamtmann Wird bestätigt. Egeln, den 30. Mai 1900. Die Polizei-Verwaltung Meinecke. (STAM, Rep. C 31 Wanzleben, Nr. 144, S. 8) Anlage Nr. 33 Haus- und Polizei-Ordnung für die Arbeiter-Kaserne des Gutsbesitzers M. Reckleben in Westeregeln von 1904 $1. Jede in der Kaserne wohnende Person hat dem Guts-Inspektor sowie den Kasernen-Aufsehern zur Aufrechterhaltung der Zucht und Ordnung unweigerlich Folge zu leisten. §2. Ohne besondere Erlaubnis der Aufseher dürfen fremde (d. h. die Kaserne nicht bewohnende) Personen weder die Zimmer der Arbeiter ... betreten, noch sich auf dem Kasernenhof aufhalten. Sowohl in wie außerhalb der Kaserne ist jede Unsittlichkeit streng verboten. Tanzmusik, auch solche nach der Ziehharmonika ist ohne Zustimmung des Amtsvorstehers und des Guts-Inspektors verboten. §3. Jeder Arbeiter, welcher in der Kaserne wohnt, hat seinen Körper und seine Kleidung reinlich zu halten, sein Lager täglich zu lüften, sowie auch für Sauberkeit seines Schrankes, der Tische und Bänke und Erhaltung des gebrauchten Handwerkzeuges, sowie der sonstigen Utensilien zu sorgen, auch besonders mit Feuer und Licht vorsichtig umzugehen. Zum Waschen und Trocknen sind nur die dazu bestimmten Räume zu benutzen, in den Wohnund Schlaf-Zimmern ist das Waschen und Trocknen nicht gestattet. Jeder Stuben-Älteste ist verpflichtet, für Zuzug frischer Luft in die Zimmer besondere Sorge zu tragen. §4. Zur Verrichtung der Bedürfnisse ist nur der dazu bestimmte Ort zu benutzen, und werden die sämtlichen Bewohner der Kaserne für vorkommende Verunreinigungen verantwortlich gemacht, falls der Täter nicht zu ermitteln ist. §5. Das Heizen der Öfen ist, falls solches nötig, von den Zimmerbewohnern zu besorgen, ebenso das Fortschaffen der Asche nach der dafür bestimmten»Grube, das Schmutzwasser ist in den dazu bestimmten Ausguß zu gießen, gröbere Abfälle aber zuvor daraus zu entfernen. Für die Reinigung der Zimmer, Putzen der Fenster und Sauberhalten der Türen, Fluren, Treppen u. s. w. werden besondere Personen der Reihe nach bestimmt werden. §6. Der Aufenthalt in der Krankenstube ist nur den Pflegern und solchen Personen gestattet, welche dazu besondere Erlaubnis erhalten haben. 26

AK, Landarbeiter II

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§7. Nächtliches Ausbleiben, sowie spätes Zuhauskommen ist ohne besondere Erlaubnis streng untersagt. Um 10 Uhr abends ist jeder Kasernen-Bewohner verpflichtet, sich zur Ruhe zu begeben, das Kasernen-Gehöft wird zu dieser Zeit geschlossen, und darf alsdann kein Licht mehr brennen. §8. Die Revision der Zimmer wird nach Anordnung des Guts-Inspektors so oft vorgenommen werden, als solches nötig erscheint, überhaupt werden die Kasernen-Aufseher abends um 10 Uhr nachsehen, ob die Lichter gelöscht und alles zur Ruhe ist. §9. Gemeinschaftliche Trinkgelage und ruhestörendes Lärmen sind streng verboten. §10. Zunächst sind die Kasernen-Aufseher für die gehörige Befolgung dieser Hausordnung verantwortlich, außerdem sind aber auch alle Bewohner der Kaserne streng verpflichtet, solche genau zu befolgen. Bei Zuwiderhandlungen gegen die vorstehenden Bestimmungen sind die Täter nicht allein verpflichtet, etwa verursachten Schaden zu ersetzen, sondern verfallen auch noch in Geldstrafen von 50 Pfennig bis 3 Mark, welche bei der nächsten Lohnzahlung gekürzt werden. Bei gröberen Verschuldungen wird die polizeiliche oder gerichtliche Bestrafung veranlaßt. Wird der Täter nicht entdeckt, so werden nach den Umständen entweder die in den betreffenden Räumen sich aufhaltenden oder die zumeist verdächtigen oder solche Personen verantwortlich gemacht, von denen anzunehmen ist, daß sie von der Zuwiderhandlung wissen oder solche verhüten konnten. Vorstehende Haus- und Polizei-Ordnung wird hiermit polizeilich bestätigt. Zuwiderhandlungen gegen die Haus- und Polizei-Ordnung werden mit Geldbuße bis zu 3 Mark oder mit entsprechender Haft bestraft. Westeregeln, den 3. 2. 1904 Der Amts-Vorsteher i. V. gez. Unterschrift (STAM, Rep. C 31 Wanzleben, Nr. 144, S. 35-36) Anlage Nr. 34 Bemühungen eines kranken Saisonarbeiters um vorzeitige Rückkehr in die Heimat, 1907 Gruß aus der Ferne Arbeiter Stanislaus Kschisanaski der jetz in Akendorf arbeitet und ist kranklich und wollte nach Hause faren und i s t . . . [unleserlich, Ch. Heinrich] bei Rudolf Betche arbeitet und ist vor seine ... [unleserlich, Ch. Heinrich] gekomt und da hat sich die arbeit nicht gefall und ist one papiere abgegangen und die papieren sind bei Rudolf geblieben und ist der schon zwei mal da gewesen und wollte seine papieren haben und der wollte keine abgeben und ohne papieren konte er nicht nach Hause faren und der kam nich m i t . . . Muß durch Vermittlung des Amtsvorstehers seine Papiere anfordern. [Unterschrift] Urschriftlich dem Herrn Amtsvorsteher zu Ackendorf

Neuhaidensleben, den 27. 9. 1907

Kschisanaski erschien heute in diesseitigem Geschäftszimmer, um einen Antrag zu stellen. Er konnte sich aber nicht verständlich machen, weil er nur wenig Deutsch sprechen kann. Ich er-

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suche, durch einen Dolmetscher festzustellen, um was es sich eigentlich handelt. Falls es sich nicht um Kontraktbruch handelt, sind dem p. K. seine Papiere vom Arbeitgeber auszuhändigen. Der Landrat Urschriftlich dem Herrn Amtsvorsteher in Schackensleben

Ackendorf, den 27. September 1907

mit dem Ersuchen übersandt, den p. Bethge zur Herausgabe der Papiere des p. Kschisanaski zu veranlassen, da nach Feststellung mit Hilfe eines Dolmetschers kein Kontraktbruch vorliegt und der Mann infolge Krankheit in die Heimat will. Ebenfalls bittet der Mann um Papiere für seine Frau, binnen 2 Tagen Der Amtsvorsteher Grünewald

An Herrn Rudolf Bethge hier

Schackensleben, 28. 9. 07

mit der Aufforderung die Papiere für die Leute herauszugeben. Die Folgen des Contractbruches, falls einer vorliegt, sind dadurch, daß seiner Zeit ein Antrag auf Bestrafung nicht gestellt ist, verfallen. " Der Amtsvorsteher (STAM, Rep. C 30 Neuhaidensleben, Nr. 850) Anlage Nr. 35 Ausweisung eines Saisonarbeiterehepaares nach Auseinandersetzungen mit einem Gutsbesitzer im Jahre 1912 Schackensleben, den 21. Juli 1912 Geerter Herr Ich möchte Sie . . . ob wollen gut willig die Papiere und Kaution 47 Mk, sieben und vierzig Mark hier schicken I Sie haben mich beleidigt und meine Frau und haben Sie gesagt das Ich mit meine Frau Kuh gemolken habe und ich habe Zeige da zu das daß nicht war ist Sie denken sich das Sie das Geld behalten aber das ist nicht so leicht wie Sie sich denken, diese sache habe Ich in Magdeburg auf Gewerbe Gericht angegeben und dort haben mir gesagt das ich Soll noch ein mal hin schreiben, und wen Ich von Ihnen in 8 Tage keine Antwort kriege denn soll Ich wieder auf Gewerbe Gericht kommen! Denn wierd die Sache Gerichtlich gemacht denn bezahlen Sie noch die Unkosten! Also legen Sie sich die Sache vor weil das ist nicht nötig wenn Sie nach her noch 50 Mk Unkosten bezahlen müsen! Bitte um baldige Antwort bleibe mit hoch Achtungswoll Anton Macioschcyk in Schackenleben beim Herrn Hermann Koch Kreis Neuhaidensieben bei Magdeburg Sachsen Dem Königlichen Landratsamt zu Osterburg übersandt Der russische Saisonarbeiter Anton Macioszczyk und Frau sind kontraktbrüchig geworden und haben sich von ihrer Arbeitsstelle beim Gutsbesitzer Palm in Giesenslage entfernt. 26*

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Der Gutsbesitzer Palm in Giesenslage beantragt die Ausweisung derselben anordnen zu wollen und zwar auf Kosten des jetzigen Arbeitgebers, des Herrn Hermann Koch in Schakensieben, der die Russen ohne Papiere in Arbeit genommen hat. Behrendorf 23. 7. 12. Der Amtsvorsteher Drehs. Dem Herrn Landrat in Neuhaidensieben zur weiteren Veranlassung übersandt

Dem Herrn Amts-Vorsteher zu Schackensleben

Osterburg, den 24. Juli Der Königliche Landrat I. V. Falcke Kreisdeputierter Neuhaidensieben, den 26ten Juli 1912

zum Bericht nach Anhörung des jetzigen Arbeitsgebers Koch, insbesondere darüber, aus welchem Grunde er die Macioszczykschen Eheleute angenommen hat ohne daß dieselben im Besitze der vorgeschriebenen Legitimations-Karten waren. Auch ersuche ich die Ausländer darüber zu vernehmen, weshalb sie das Arbeitsverhältnis beim Gutsbesitzer Palm in Giesenslage gelöst haben. gez. Unterschrift

Dem Herrn Landrat zu Osterburg

Neuhaidensieben, 3. 8. 1912

zur gefälligen Kenntnisnahme ergehenst übersandt. Der jetzige Arbeitgeber, Landwirt Hermann Koch in Schackensleben, hat die beiden Polen zwar in Arbeit genommen, ohne daß die Lösung des bisherigen Arbeitsverhältnisses bescheinigt worden war. Es erscheint mir aber zweifelhaft, ob lediglich deshalb eine Ausweisung der Arbeiter auf seine Kosten erfolgen kann, denn anscheinend ist der bisherige Arbeitgeber Palm an der vorzeitigen Lösung des Vertrages nicht ganz schuldlos. Ich ersuche um gefl. nochmalige Anhörung des Herrn Palm, sowie um Äußerung, ob seine Persönlichkeit danach angethan ist, jeden Zweifel an der Richtigkeit seiner Behauptung, es liege Kontraktbruch vor, auszuschließen. [gez. Unterschrift] .An den Herrn Amts-Vorsteher in Behrendorf mit dem Ersuchen übersandt, die vorstehende Zuschrift zu erledigen. Falls Palm nicht darauf besteht, daß die fraglichen Ausländer nicht zu ihm zurückkehren, ersuche ich in den anliegenden Legitimationskarten die ordnungsmäßige Lösung des Arbeitsverhältnisses zu vermerken. Osterburg, den 6. August 1912 Der Königliche Landrat I. V. Falcke Kreisdeputierter Schackensleben, 1. August 1912 Vorgeladen erscheint der Landwirt Hermann Koch von hier und erklärt zur Sache folgendes: Die in Frage kommenden Leute habe ich auf Grund einer Annonce von dem Vermittler ... [unleserlich — Ch. Heinrich] in Hannover erhalten, der mir versicherte, daß die Leute mit vor-

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geschriebenen Papieren versehen sein. Infolge dessen trug ich keine Bedenken die Leute anzunehmen, zumal mir der Paß vorgelegt wurde. 'Da ein ordnungsgemäßes und gesetzliches Arbeitsverhältnis zustande gekommen ist, lehne ich eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses ab. V. g. u. Herrn. Koch. G. w. v. [gez. Unterschrift] Amtsvorsteher. Schackensleben, den 1. August 1912 Vorgeladen erscheint der Arbeiter Anton Maciszczyk und erklärt: Mein bisheriger Arbeitgeber, der Gutsbesitzer Palm in Giesenslage, hat mich von der Arbeitsstelle fortgewiesen nachdem wir einige Differenzen wegen der schlechten Beschaffenheit der gelieferten Milch hatten und er mich unberechtigter Weise beschuldigt hatte, ich hätte mir im Kuhstall selbst Milch gemolken. Als er die Herausgabe der Papiere verweigerte, bin ich ohne diese nur mit meinem Paß versehen, nach Hannover zu einem Vermittler gefahren, welcher mir meine jetzige Arbeitsstelle vermittelte. V. g. u. X X X Handzeichen des Maciszczyk G. w. v. [gez. Unterschrift] Amtsvorsteher. Dem Königlichen Landratsamt zu Osterburg

Behrendorf, den 14. Aug. 1912

mit nebenstehender Aussage des Palm zurück. Die Persönlichkeit des Palm ist danach angethan daß jeder Zweifel an der Richtigkeit seiner Aussage vollständig ausgeschlossen ist. Da unzweifelhaft Kontraktbruch vorliegt, und der Maciszczyk sich eines falschen Passes bedient hat, so bitte ich, die Ausweisung des Masiszczyk und Frau auf jeden Fall veranlassen zu wollen. Derselbe steht unzweifelhaft mit den bei Palm zurückgebliebenen Russen noch in Verbindung. Wenn die hier weilenden Russen erfahren, daß sie ungestraft ihren Kontrakt brechen können, werden sie dies öfter tun. Dagegen würde eine Ausweisung abschreckend wirken. Behrendorf 14. 8. 12.

Der Amtsvorsteher Drehs •

Vorgeladen sagt der Gutsbesitzer aus Giesenlage folgendes aus: Die Arbeiterin, welche bei mir den Kuhstall besorgt, sagt mir, daß der Anton Maciszczyk eine Kuh nachts ausgemolken habe, so daß die Kuh keine Milch gebe. Er hätte geäußert, er werde sich allein Milch aus dem Kuhstall holen, wenn er keine gute Milch bekäme. — Kontraktlich steht ihm Magermilch zu, die er auch bekommen hat. — Darauf habe ich ihn zur Rede gestellt und ihm gesagt, ich würde ihm dafür 3 M abziehen. Er stritt natürlich, daß er die Kuh ausgemolken! Ich habe ihm am Sonnabend 3 M abgezogen. Darauf wollte er die Frau und deren Tochter, die mir das gemeldet hatten, schlagen und hat diesen gesagt, wenn er bestraft würde, würde er meine Gebäude in Brand stecken. Ich habe ihm darüber Vorhaltungen gemacht. Er arbeitete darauf bis Sonnabend Abend weiter und nahm sein Wochenlohn. Am Sonntag forderte er seine

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Papiere und ging darauf, da ich ihm seine Papiere verweigerte, am Montag früh fort, nachdem er nochmals seine Papiere gefordert hatte. Ich verzichte darauf, einen so gefährlichen Menschen wieder in Arbeit zu nehmen, und beantrage nochmals seine Ausweisung. Herr Koch durfte den Mann nicht ohne Inlandskarte nehmen. Der Paß, den er dem Herrn Koch gegeben hat, ist falsch. Sein richtiger Paß liegt in der beiliegenden Inlandskarte. Ob Maciszcyk einen falschen Paß gehabt hat oder ob der Vermittler ihm einen solchen gegeben hat, kann ich nicht beurteilen. V. g. u. Palm m. o. Der Amtsvorsteher. An den Herrn Landrat in Neuhaidensleben mit Bezug auf den vorstehenden Bericht des Amts-Vorstehers in Behrendorf vom 14. dss. Mts. ergebenst zurückgesandt. Osterburg, den 16. August 1912 Der Königliche Landrat I. V. Falck Kreis-Deputierter

Dem Herrn Amtsvorsteher zu Schackensleben

Neuhaidensleben, 19. 8. 1912

zum Bericht, ob Macioszczyk und Frau noch jetzt in Schackensleben aufhältlich sind. [gez. Unterschrift]

Der Landrat

Neuhaidensleben, den 24. August 1912

Ausweisungen aus dem Preußischen Staatsgebiet. (Zu- und Vorname) Macioszczyk, Antoni, 34 Jahre alt aus Stodkow in Russisch-Polen ist durch Verfügung des Königlichen Landrates in Neuhaidensleben vom 24. 8. 1912 ausgewiesen. Arbeitskarte vom Grenzamt Ostrowo N. 174 385. Beglaubigt: Stock

Der Landrat

Neuhaidensieben, den 24. August 1912 Ausweisungen aus dem Preußischen Staatsgebiet

(Zu- und Vorname) Macioszczyk, Katarzyna, 34 Jahre alt aus Stodkow in Russisch-Polen, ist durch Verfügung des Königlichen Landrates in Neuhaidensleben vom 24. 8.1912 ausgewiesen. Arbeitskarte vom Grenzamt Ostrowo N 174 379. Beglaubigt: Stock (STAM, Rep. C 30 Neuhaidensleben I, Nr. 806, S. 1 - 7 )

Anlagen

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Anlage Nr. 36 Zwei amtliche Berichte über streikende Saisonarbeiter, 1907 I. Am 22. Juni streikten die sämtlichen fremden Arbeiter und Arbeiterinnen — zirka 80 Personen — auf dem Rittergute Groß-Germersleben. Sie verlangten 3,50 Mk. Akkordlohn für den Morgen zu mähen oder 4 Mk. Tagelohn. Sie nahmen eine drohende Haltung ein, und es mußten die Gendarmen aus Hadmersleben und Egeln herbeigerufen werden. Bei deren Erscheinen ließ sich die aufgeregte Menge nicht beruhigen, es wurde deshalb zur Verhaftung der Rädelsführer, Arbeiter Peter Wycba und Tomas Wrobel geschritten. Ein Dritter riß aus und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Wycba und Wrobel leisteten heftigen Widerstand. Während der eine Gendarm mit Hilfe des Amtsdieners die Verhaftung ausführte, mußte der andere zu Pferde die Menge zurückhalten. Wrobel und Wycba wurden jetzt vom Schöffengericht Oschersleben wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt zu 2 Monaten Gefängnis verurteilt. Die seit dem 22. Juni erlittene Untersuchungshaft kommt zur Anrechnung. Schöffengericht Wanzleben Sitzung vom 4. Juni 1908

II.

Polnische Arbeiter hatten in Klein-Germersleben am 24. April ds. Js. die Arbeit niedergelegt und den Vorarbeiter bedroht, ihn totschlagen zu wollen. Als der Wachtmeister M. aus Wanzleben, unterstützt durch den Schäfer G. und den Inspektor G. aus Klein-Germersleben einschritt, kam es zwischen beiden Parteien zu Tätlichkeiten.. Die Polen drangen mit Hacken, Spaten und Steinen auf den Wachtmeister M. ein und verwundeten den Schäfer G. Mit Mühe und Not gelang es, zwei der Attentäter namens Pels und Guzy festzunehmen. Heute hatten sich die streitsüchtigen Burschen wegen Körperverletzung und wegen Nötigung eines Beamten zur Unterlassung einer Amtshandlung zu verantworten. Wegen mangelnder Beweise wurde der Arbeiter Pels freigesprochen, dagegen wurde der Arbeiter Guzy überführt und zu 6 Wochen Gefängnis verurteilt. 4 Wochen Untersuchungshaft wurden ihm als verbüßt angerechnet. (Amtliches Wanzleber Kreisblatt, 1907) Anlage Nr. 37 Widerstand und Streik polnischer Saisonarbeiter in Uhrsleben, 1911 An das Königliche Amtsgericht zu Etzleben

Uhrsleben, den 22. Juli 1911

Dem Königlichen Amtsgericht zeige ich hierdurch an daß zwei bei mir in Dienst stehende Saisonarbeiter, die beiden Brüder Kajtan Lubecki angeblich 22 Jahre und Ambrosy Lubecki angeblich 23 Jahre alt beide aus dem Orte Sciejowice Kreis Krakau, Galizien, in der Nacht vom 29 bis 30 Juni d. J. dem Aufseher Arendholz das Fenster eingeschlagen, und gestern mit noch Anderen einen Streik sämtlicher polnischen Arbeiter in Scene gesetzt und dadurch als lästige. Ausländer sich erwiesen haben, die ein zwangsweises Abschieben derselben als nothwendig erscheinen lassen.

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Ich möchte das Königliche Amtsgericht bitten, die Leute verhaften zu lassen und ihre Ausweisung zu verfügen. Boecker Gutsbesitzer & Amtsvorsteher

Dem Herrn Amtsvorsteher in Uhrsleben

Neuhaidensieben, den 25. 7.

mit dem Ersuchen um Feststellung des Tatbestandes. Gleichzeitig wird um Äußerung ersucht, ob der Antrag auf Ausweisung der beiden ausländischen Arbeiter aufrecht erhalten wird. [gez. Unterschrift] [der Landrat]

Dem Herrn Landrat zu Neuhaidensieben

Uhrsleben, den 31. Juli 1911

unter Anfügung der Protokolle über die Aussage des Arendholz und der Äußerung des Gutsbesitzers Boecker zurückzureichen. Der Amtsvorsteher J. W. Schulze

Amtsvorsteher Uhrsleben.

Verhandelt Uhrsleben, den 31. Juli 1911

An Amtsstelle erscheint der Aufseher Fritz Arendholz aus Uhrsleben 29 Jahre alt, evangelisch, verheiratet und erklärt auf Befragen, was folgt: In der Nacht zum 30. Juni wurde das Fenster meiner Wohnung mit Steinen eingeworfen. Die Steine flogen bis zum Kinderwagen, in dem mein Kind im Alter von ca. einem Jahre schlief. Das Kind hätte leicht schwer verletzt werden können. Als Täter erkannte ich Kajtan und Ambrosy Lubecki. — Die beiden schlugen dann mit Spaten in die Stube hinein, auch warfen sie eine Milchkanne in die Stube. Ich ging hinaus und verbat den Leuten das Lärmen und Werfen. Da wollten sie mich mit dem Spaten schlagen, ich ging zurück und rief ihnen zu, sie sollten bedenken, was sie machten. Nachher wurden sie ruhig. w. g. u. Fritz Arendholz. Der anwesende Gutsbesitzer C. Boecker erklärt, Meinen Antrag auf Ausweisung der Gebrüder Lubecki halte ich aufrecht, da sich der Ambrosius Lubecki ... in letzter Zeit wieder sehr widerspenstig gezeigt hat und darauf aus der Arbeit gelaufen ist. w. g. u. C. Boecker g. w. o. Der Amtsvprsteher J. W. Schulze

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Anlagen

Dem Herrn stellv. Amtsvörsteher Neuhaidensieben, 2. August 1911 zu Uhrsleben mit dem Ersuchen übersandt, zunächst die gerichtliche Bestrafung der Schuldigen zu veranlassen. Nach Beendigung des Strafverfahrens und Einsichtnahme der Strafakten werde ich die Ausweisung der betr. Personen veranlassen. — Erklärt sich Herr Boecker zur Tragung der Transportkosten bereit? I. V. [der Landrat] An den Herrn Landrat zu Haldensleben .

Uhrsleben, den 7. September 1911

zurückzureichen mit dem Bemerken, daß Herr Boecker auf die weitere Verfolgung der Sache verzichtet. Der Amtsvorsteher J. W. Schulze (STAM, Rep. C 30 Neuhaidensleben, Nr. 806, S. 138-140) Anlage 38 Ausweisung einer sich über die Karenzzeit hinaus in Deutschiand aufhaltenden ausländischen auf Grund eines Hinweises ihrer Mutter (1910)

Saisonarbeiterin,

An die Geheim Polizei ob Schandarmen Verwaltung in Neuhaidensleben Schon bald zwei Jahre als meine 16jährige Tochter Teófila Binetzka ihre Heimath verlass ohne mein wüßen, nicht sehen darauf das ich arme, blinde Witwe bin. Bis heute wüßte ich nicht wie sich die selbe findet, aber zuffällig erfahre i?h, das ein gewüßer Lorenz Monartschek mit welchen sie wohnt, hat sie verunglückt (sie ist schwanger). , Sie finden sich in Sommerschönburg bei Völpke, Kr. Neuhaidensieben. Schicke mit ein pfhotografisches Bild welches heute von ihre Freund ... bekomm, damit werden Sie leichter erkännen. Der selber Lorenz Monartschek hat durch einen deutschen Geislichen von hiesigen Pfarrer ihre Taufschein ausge... [unleserlich, Ch. Heinrich], Und so wie . . . Ihre ... Recht ist von lten Dezember bis März nicht erlaubt... polnische Leute sollen sich ... Deutschland sammt Ihre ... zu finden, so bitte meine Tochter Teófila Binetzka bis an Russische Grenze zu schicken und die Russischen Schendarmen über zu geben auch den Monartschek zu bestrafen — Achtungsvoll Mutter Witwe Josefa Bi. Adresse: Josefa Binetzka, Sulmierzyc Kr. Noworadomsk Russpolen Die Polizeiverwaltung Dem Herrn Gendarmerie-Oberwachtiiieister Gieseler hier zur gef. weiteren Veranlassung ergebenst übersandt. Dem Herrn Landrat zu Neuhaidensieben

Neuhaidensieben, den 10.12. 10

Neuhaidensieben, den 15. Dezember 1910

Die von mir gestern in Sommerschenburg angestellten Ermittelungen ergaben, daß die p. Binetzka sich tatsächlich dort aufhält und bei einer Frau Monartschek wohnt.

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Der Sohn der Monartschek, Lorenz, beabsichtigt, die p. Binetzka zu heiraten. Da letztere aber erst 18. Jahr alt ist, so fehlt die Einwilligung der Mutter. Ich vermute, daß die Binetzka, welche russisch-polnische Saison Arbeiterin ist und bis vor kurzem bei Helmstedt auf einem Gute gearbeitet hat Deutschland dies Jahr nicht verlassen will. F. W. Wodrich habe ich beauftragt, die p. Binetzka in dieser Angelegenheit zu beobachten und evtl. Anzeige erstatten, wenn dieselbe bis zum 20. Dezember d. Js. Deutschland nicht verlassen hat. Gieseler Oberwachtmeister

Dem Herrn Amtsvorsteher zu Sommerschenburg

Neuhaidensieben, 16.12. 1910

Zur gefl. Kenntnisnahme und mit dem Ersuchen, evtl. dafür Sorge zu tragen, daß die Binetzka spätestens am 20. d. Mts. in ihre Heimat zurückkehrt. Im Falle ihrer Weigerung ersuche ich um Ermittelung ihres bisherigen Arbeitgebers, damit die Ausweisung evtl. auf dessen Kosten durchgeführt werden kann ...

Sommerschenburg, den 20.12. 1910

Dem Herrn Königl. Landrat in Neuhaidensleben

mit dem ergebensten Bemerken zurückgereicht, daß die p. Binetzka am 19.12. in ihre Heimat zurückgekehrt ist. Der Amtsvorsteher. (STAM, Rep. C 30 Neuhaidensieben, Nr. 806, S. 72-76)

Anlage Nr. 39 Befehle über die Einschränkung der Bewegungsfreiheit b^t». das Ausreiseverbot der russisch-polnischen Saisonarbeiter während des ersten Weltkrieges Bekanntmachung Durch Befehl des stellvertretenden Generalkommandos IV. Armeekorps ist den russischen Arbeitern verboten, den Ortspolizeibezirk ihres Aufenthaltsortes ohne Erlaubnisschein zu verlassen. Für solche russischen Arbeiter sollen daher Fahrkarten nur gegen Vorzeigung eines vom zuständigen Landrat ausgestellten Erlaubnisscheines verausgabt werden. Das Publikum wird hierauf hingewiesen und ersucht, die Bahnbeamten und Polizeibeamten auf reisende russische Arbeiter aufmerksam zu machen. Für solche Arbeiter Fahrkarten zu lösen, ist verboten und wird mit Geldstrafe bis zu 50 Mk. oder entsprechender Haft bestraft. / Magdeburg, den 14. Januar 1915 Der stellvertretende kommandierende General. Frhr. v. L y n c k e r

Stellvertretendes Generalkommando Magdeburg, den 27.10. 1915 des IV. Armeekorps Befehl, betreffend die russischen Arbeiter. Auf Grund der §§ 4 und 9 des Gesetzes über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851 (Gesetzsamml. S. 451) verordne ich für den Bezirk des IV. Armeekorps folgendes:

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$1. Allen russischen Arbeitern männlichen und weiblichen Geschlechts ist es bis auf weiteres auch künftighin verboten, rechtswidrig das Inland zu verlassen. Nicht betroffen werden von diesem Verbot lediglich diejenigen durch Arbeitsverträge nicht gebundenen weiblichen und im Alter von unter 17 oder über 45 Jahre stehenden männlichen Arbeiter, welche im Besitze einer direkten Fahrkarte nach einer Eisenbahnstation eines neutralen Landes sowie eines von der gesandtschaftlichen oder konsularischen Vertretung des neutralen visierten Passes sind und den für die Überschreitung der Reichsgrenze bestehenden Vorschriften genügen. §2. Sämtliche russischen Arbeiter und Arbeiterinnen dürfen die Grenzen des Ortsbezirks (Gemeindeund Gutsbezirk) ihrer Arbeitsstelle, soweit nicht der Besuch des sonn- und festtäglichen Gottesdienstes in der der Arbeitsstelle nächstgelegenen Kirche ihrer Konfession in Frage kommt, nicht anders als mit schriftlicher Genehmigung der Ortspolizeibehörde überschreiten. Der Übergang in eine neue Arbeitsstelle ist nur unter Beachtung der für die Umschreibung der Arbeiter-Legitimationskarte geltenden Vorschriften zulässig und, wenn die Arbeitsstelle in einem anderen Ortsbezirk (Gemeinde- und Gutsbezirk) desselben Ortspolizeibezirks liegt, an die Genehmigung des für die bisherige Arbeitsstelle zuständigen Landrats (in Stadtkreisen des Ersten Bürgermeisters) gebunden. Die für den Aüfenthalt und die polizeiliche Meldung von ausländischen Arbeitern bestehenden allgemeinen Vorschriften bleiben hierdurch unberührt. §3. Für die von dem Verbot des § 1 betroffenen in der Landwirtschaft und ihren Nebenbetrieben beschäftigten russischen Arbeiter gelten ferner folgende besondere Vorschriften: Sie werden beim Ablauf ihrer derzeitigen Arbeitsverträge neue für die Wintermonate und das Wirtschaftsjahr 1916 geltende Arbeitsverträge abzuschließen haben und sind verpflichtet, spätestens bis zum 31. Januar 1916 die Ausstellung der Arbeiter-Legitimationskarte für 1916 bei der Ortspolizeibehörde zu beantragen. Die Arbeitgeber haben sich zu vergewissern, daß letztgedachter Verpflichtung pünktlich nachgekommen wird, und haben die säumigen Arbeiter bis spätestens zum 5. Februar dem zuständigen Landrat zu melden, hierbei auch mitzuteilen, ob der Abschluß eines neuen Arbeitsvertrages erfolgt ist oder nicht. Denjenigen russischen Arbeitern, welche beim Ablauf ihres diesjährigen Arbeitsvertrages einen neuen Vertrag noch nicht abgeschlossen haben, ist für die Zeit vom Ablauf des Vertrages bis zum Abschluß eines neuen von dem bisherigen Arbeitgeber Unterkunft und Verpflegung gegen eine vom Arbeitnehmer einzuziehende, erforderlichenfalls von seiner Kaution in Abzug zu bringende Entschädigung von 0,70 M pro Kopf und Tag zu gewähren. §4. Zuwiderhandlungen gegen die Bestimmungen im § 1 werden mit Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft. Der Versuch ist strafbar. Zuwiderhandlungen gegen die Bestimmungen im § 2 werden, sofern sie zum Zwecke des Kontraktbruches erfolgt sind, ebenfalls mit Gefängnis bis zu einem Jahre, andernfalls mit Geldstrafen von 10 bis 60 M., im Unvermögensfalle mit entsprechender Haft bestraft. Liegt im Falle des § 2 die Absicht des Kontraktbruches nicht vor und beträgt die verbotswidrige Dauer der Entfernung aus dem Gemeinde- bezw. Gutsbezirk vom Mittag des Tages der Entfernung an gerechnet nicht länger als 24 Stunden, so tritt im ersten und zweiten Falle des Zuwiderhandelns Geldstrafe von 3 bis 9 M., im Unvermögensfalle entsprechende Haftstrafe ein. Arbeitgeber, die den Bestimmungen im § 3 zuwiderhandeln, werden mit Geldstrafe bis zu 300 M. bestraft.

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§5. Dieser Befehl tritt mit dem Tage seiner Veröffentlichung in Kraft. Der Befehl vom 5. Oktober 1914 wird gleichzeitig aufgehoben. Der stellvertretende kommandierende General Frhr. von L y n c k e r (STAM, Rep. C 30 Neuhaidensleben, Nr. 852) Anlage Nr. 40 Erinnerungen an die vom Landtvehrverein veranstalteten sog. Angerfeste in Westeregeln vor dem ersten Weltkrieg Das Hauptfest, praktisch das größte Fest, das damals im Jahr gefeiert wurde, war bei uns das vom Landwehrverein veranstaltete sogenannte Angerfest. Es wurde auf dem Anger des Dorfes durchgeführt, wo der Landwehrverein eine relativ feste Tanzbude besaß. Der Festsaal bestand aus einem einzigen Raum, in dem etliche Bänke, an die Grünes rangestellt wurde, in der Form aufgereiht wurden, daß drei Abteile entstanden. Im ersten Abteil saßen die Direktoren und Gutsbesitzer, bestenfalls auch noch die Ingenieure, die in unserer Gegend tätig waren, und es gab ja mehrere Direktoren und Ingenieure hier oben. Diese konnten da tanzen, wurden gesondert bedient und waren eben unter sich. Arbeiter gingen da nicht hin. Das zweite Abteil war für die Bauern und Geschäftsleute gedacht. Der Eintrittspreis war zwar nicht ganz so hoch wie für das erste Abteil, aber doch höher als für da's dritte Abteil. Dieses dritte Abteil, das den größten Platz einnahm, war für die Land-, Berg- und Industriearbeiter sowie alle anderen kleinen Leute bestimmt. Die Kapelle spielte für den ganzen Saal. Sie saß in der Mitte des durch die geschmückten Bänke unterteilten Raumes. Die Bänke waren so gesetzt, daß sie zwischen den Tanzflächen der drei Abteile jeweils eine Art Wand bildeten. In der Mitte tanzten die Bauern, an der einen Seite die „Herrschaften", an der anderen die Arbeiter. Dadurch war schon rein äußerlich eine Trennung der einzelnen Gruppen erfolgt. Zwar war es theoretisch durchaus möglich, um die Barriere herumzugehen und ins andere Abteil zu gelangen, um von dort etwa ein Mädchen zum Tanzen zu holen. Dafür hätte man aber den entsprechenden Eintrittspreis bezahlen müssen, und das war im allgemeinen so abwegig, daß es praktisch kaum geschah. Mein Vater, der ja auch Arbeiter war, hat darum wohl nie mit der Tochter eines Bauern getanzt... Nach dem ersten Weltkrieg gab es nur noch zwei Abteile, da die Direktoren und Gutsbesitzer dann nicht mehr an diesen Festen teilnahmen. Auch war in dem Landwehrverein kein Gutsbesitzer mehr Hauptmann. Solange wie der Gutsbesitzer Max Reckleben diese Funktion innehatte, gab es auch noch die drei Abteile. Als aber der Landwirt und Bahnspediteur Karl Stolle für eine lange Zeit Hauptmann im Landwehrverein war, blieben nur noch die Abteile für die Bauern und für die Arbeiter. Daß nun aber Bauern und Arbeiter gemeinsam feierten, war trotzdem nicht denkbar. Es ist mir nicht bekannt, daß jemals ein Arbeiter den Eintrittspreis für das Abteil der Bauern bezahlt hat, um dort zu tanzen. Umgekehrt hat auch kaum ein Bauernsohn ein Mädel von den Arbeitern geholt. Dies geschah ganz selten und dann nur als eine Art Verpflichtung. Mußten die Bauern doch in dieser Zeit alle Möglichkeiten nutzen, die bei ihnen beschäftigten Mädchen an ihren Hof zu binden und sich als Arbeitskraft zu erhalten, was auch in dieser Geste zum Ausdruck kommt. Dennoch blieb das eigentlich eine Ausnahme . . . (Nach einem Tonband-Interview mit Herrn ERNST BASTIAN, geb. 8. 12. 1907, und Frau HELENE BASTIAN, geb. 25. 11. 1912, Westeregeln.)

Worterläuterungen Ackermann (Plural: Atkerleute; auch: Vollspänner) In der Magdeburger Börde im Spätfeudalismus übliche Bezeichnung für einen großen Bauern (Vollbauern) mit mindestens 4 Hufen Landbesitz und einem vollen Pferdegespann (4 Pferden). Der Begriff wurde noch bis ins letzte Drittel des 19. Jh. für einen Großbauern verwendet. Allmende Jener Teil der Gemeindeflur, der von den Gemeindemitgliedern gemeinschaftlich genutzt wurde und in ökonomischer Hinsicht eine wichtige Ergänzung der Einzelwirtschaften bildete. Meistens handelte es sich dabei um Weide-, Wald-, Moor- und Heideland sowie um Gewässer. Altenteil Zumeist schriftlich fixierter Umfang der Natural-, Dienst- und Geldleistungen, die der Eigentümer einer Bauernstelle seinen Eltern gegenüber zu erfüllen hat. Häufig auch verengend auf die vom Erbfolger zur Verfügung zu stellenden Räumlichkeiten der Altsitzer bezogen. Altsitzer In der Magdeburger Börde übliche Bezeichnung für den ehemaligen Eigentümer einer Bauernstelle, der seinen Hof bereits den Nachkommen vererbt oder verkauft hat, aber gewöhnlich noch im Hause mitwohnt und vom Nachfolger weitgehend versorgt werden muß. Aus^ugshaus Separates Wohngebäude für die Altsitzer. Vgl. auch Altenteil. Bauer Im Feudalismus Grundklasse der Gesellschaft. In der Magdeburger Börde sind im 18. Jh. den Besitz- und Rechtsverhältnissen entsprechend folgende Hauptgruppen zu unterscheiden : — große Bauern mit mindestens 4 Hufen Landbesitz sowie Spanndienst-, Abgabe- und Grundsteuerverpflichtungen (Ackerleute,Vollspänner), — mittlere Bauern mit gewöhnlich 2 Hufen Landbesitz sowie Spanndienst-, Abgabe- und Grundsteuerverpflichtungen (Halbspänner), — kleine Bauern mit etwa einer Hufe Landbesitz sowie Handdienst-, Abgabe- und GrundsteuerVerpflichtungen (Groß-Kossaten). Im Laufe des kapitalistischen Differenzierungsprozesses spaltet sich die Bauernschaft auf. Wir unterscheiden seitdem: — Großbauern mit etwa 20—100 ha Landbesitz (anfangs z. T. noch Ackermann, später allgemein Ökonom, Bauerngutsbesitzer genannt), — Mittelbauern mit etwa 5—20 ha Landbesitz (anfangs z. T. noch Halbspänner, später Ökonom oder Landwirt genannt), — Kleinbauern mit etwa 2—5ha Landbesitz (anfangs z.T. noch Großkossat, später zumeist Landwirt genannt).

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Anhang Büdner

Mindestens seit dem Spätfeudalismus übliche Bezeichnung für den Besitzet eines kleinen Wohnhauses („Bude"), siehe auch Häusler. Darre Technische Anlage zum Trocknen (Darren) von Obst, Gemüse, Malz, Samen und anderem Erntegut, so besonders auch von Zichorien. Deputatarbeiter (Deputant, Deputatist) Angehöriger der spätfeudalen Schicht der Landarmut, der — ähnlich wie das Gesinde — durch einen, meist ganzjährigen Kontrakt an einen Gutsbesitzer bzw. Bauern gebunden ist und für die vereinbarte, täglich (außer sonntags) zu vollbringende Arbeitsleistung neben einem geringen Geldlohn kostenlos Wohnung und Naturallohn (Deputat) erhält; zumeist als Drescher tätig; durfte — im Gegensatz zum Gesinde — eine Familie gründen. Diemen Auch in der Magdeburger Börde übliche norddeutsche Bezeichnung für einen zur vorübergehenden Aufbewahrung im Freien errichteten Heu-, Getreide- oder Strohhaufen. Dienstgeld In Geld umgewandelte Arbeitsrente (Frondienst); eine Form der feudalen Grundrente, die vor allem im Verlaufe der Durchsetzung der einfachen Warenproduktion allgemeine Bedeutung erlangte. Einlieger Mindestens seit dem 18. Jh. übliche und noch bis ins 20. Jh. verwendete behördliche Bezeichnung für jenen Teil der Dorfbevölkerung, der bei Hauseigentümern zur Miete wohnt (einliegt); zumeist landwirtschaftliche Lohnarbeiter, aber auch Bergleute, Industriearbeiter, Handwerksgesellen u. a. Enke (auch: Encke) In der Magdeburger Börde im 18. und 19. Jh. übliche Bezeichnung für einen Jungknecht, der sich im AnlernVerhältnis befindet und gewöhnlich nicht den vollen Knechtslohn erhält; siehe auch Gesinde. Esparsette (Onobrychis Viciifolia) Schmetterlingsblütler; mehrjährige Futterpflanze mit tiefgehender Pfahlwurzel; wichtig als Futterpflanze. Flur^wang Bis zur Durchsetzung des Kapitalismus in der Landwirtschaft allgemein übliche, sich aus der in Gemengelage (siehe dort) befindlichen Flurstücke der einzelnen Bauern einer Gemeinde ergebende Verpflichtung zur einheitlichen Bewirtschaftung des gesamten Ackerlandes, einschließlich der Weidenutzung. Freikaufen Brauchtümliche Handlung, die ursprünglich die Ubergabe der — bisher zur ledigen weiblichen Jugend gehörenden und von den Junggesellen des betreffenden Ortes in gewisserweise geschützten — Braut an den Bräutigam sanktionierte, wenn dieser z. B. zur Uberwindung der von den Jugendlichen, später zumeist den Kindern, errichteten Wegsperren Geld an die Dorfjugend verteilte. Freiscbießen Ermittlung des besten Schützen, des Schützenkönigs, auf Schützenfesten. — Der Begriff ist vermutlich aus der deutschen Volkssage vom Freischützen entlehnt, jenem Jäger, der mit „freigemachten", d. h. durch vermeintlichen Zauber unfehlbaren, Kugeln das Ziel nie verfehlte.

Worterläuterungen

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Gemeinheitsteilung Aufteilung der vordem von den Mitgliedern der Dorfgemeinde kollektiv oder -wechselseitig genutzten Flächen und Überführung der Parzellen in Privateigentum unter Aufhebung der früher damit verbunden gewesenen Rechtsansprüche. Im Rahmen der Gemeinheitsteilungen wurden auch die Gerechtigkeiten (Hutungs-, Streu-, Holz-Sammelrechte u. a.) neu geregelt. Als entscheidender Bestandteil der Agrarreformen führten die Gemeinheitsteilungen zur Flurbereinigung und beförderten den Proletarisierungsprozeß von Teilen der Dorfbevölkerung (siehe auch Separation). Gemengelage Zerstreute („im Gemenge" befindliche) Lage der einzelnen Flurstücke der Bauern innerhalb eines Gewannes; siehe dort. Gesinde (Knechte, Mägde, Enken) Gruppe von landwirtschaftlichen Lohnarbeitern, die über einen längeren, fest bestimmten Zeitraum hinweg mehr oder weniger eng in die Wirtschaft desjenigen Unternehmers („Herrschaft") integriert waren, bei dem sie in „Dienst" standen. In soziologischer Hinsicht ist zwischen ledigen Knechten und Mägden (ohne eigenen Haushalt) und verheiratetem Gesinde (in der Regel mit eigenem Haushalt) zu unterscheiden. Grad, Umfang und Charakter der Einbindung des Gesindes in den Betrieb ihrer „Dienstherrschaft" waren durch ein spezielles System von Rechtsvorschriften, die Gesindeordnung (1918 aufgehoben)^ geregelt. Im Feudalismus existierte sowohl Zwangsgesinde als auch — durch Kontrakt gebunden — freies Feudalgesinde, worunter jene Knechte und Mägde zu verstehen sind, die nach Ableistung des Gesindezwangsdienstes im Gesindedienst verblieben. Im Kapitalismus erfolgte der Eintritt in das Gesindeverhältnis dagegen formal ausschließlich auf der Grundlage eines im juristischen Sinne freiwillig eingegangenen Kontraktes. Während im Feudalismus die ledigen Gesindepersonen von ihrer „Dienstherrschaft" gewöhnlich Kost und Wohnraum, zumindest aber die Schlafstatte, außerdem — als Teil des Lohnes — Naturalien und etwas Geld, nicht selten auch eine Ackerparzelle (Kartoffelkabel, Flachskabel usw.) zur Nutzung erhielten, löste sich unter kapitalistischen Bedingungen diese Entlohnungsweise immer mehr zugunsten der reinen Geldlöhnung auf (Kostgeld anstelle der Beköstigung, Verminderung des Naturallohnanteils usw.). Gewann Unter den Bedingungen der Mehrfelderwirtschaft (Zwei-, Drei- oder Vierfelderwirtschaft) war das Feld in Gewanne geteilt. Innerhalb jedes Gewannes hatte ursprünglich jeder Bauer eine oder mehrere Parzellen, die mit der Parzelle der Nachbarn im Gemenge lagen, um eine relative ökonomische Gleichheit zu wahren. Granulöse Augenkrankheit; ägyptische Augenentzündung, sog. Körnerkrankheit. Grude Ursprünglich ein mittelniederdeutsches Synonym für Strohasche, glühende Asche (z. B. bei CARSTED, 1928: 50—51); mindestens seit dem 18. Jh. auch Bezeichnung für eine Feuerungsanlage, in der in glühender Asche rlurch Schwelbrand gekocht bzw. das Essen warm gehalten wird. In der Börde werden die mit Stroh und anderen vegetabilen Brennstoffen beheizten älteren (gemauerten) Aschegruden und die neueren für Braunkohlegrus hergerichteten metallenen Koksgruden unterschieden. Halbspänner In der Magdeburger Börde im Spätfeudalismus übliche Bezeichnung für einen mittelgroßen Bauern (Halbbauern) mit gewöhnlich 2 Hufen Landbesitz und einem halben Pferdegespann (2 Pferde). Der Begriff wird noch bis zum Ende des 19. Jh. verwendet.

406

Anhang Häusler (Haushute)

Mindestens seit dem 18. Jh. übliche behördliche Bezeichnung für die Eigentümer eines kleinen dörflichen Anwesens, das normalerweise lediglich aus dem Haus bestand, zumeist aber zudem mit etwas Hof- und Gartenland ausgestattet war. Er konnte sowohl in der Landwirtschaft als auch im gewerblichen und später im industriellen Bereich tätig sein. Kabel (Flachskabel,

Kartoffelkabel)

Regional gebräuchliche Bezeichnung für kleine Flur-, zumeist Ackerstücke (Parzellen). Kombattant

(Combattant)

Ältere, im 19. Jh. viel verwendete Bezeichnung für Kriegsteilnehmer. — Kombattantenvereine, die sich — abgesehen von der Bezeichnung — kaum von den übrigen Krieger vereinen unterschieden, nahmen nur Kriegsteilnehmer als Mitglieder auf. Kopfgeld Geldprämie, die von den landwirtschaftlichen Unternehmern an die Vermittler für die Anwerbung auswärtiger Arbeitskräfte pro Person gezahlt wurde. Kossat (Kossäth) Auch in der Magdeburger Börde mindestens seit dem 18. Jh. übliche Bezeichnung für einen zu Handdiensten verpflichteten kleinen Bauern (Kleinstellenbesitzer). Man unterschied zumeist zwei Gruppen: Groß- oder Ganze Kossäten, die bis zu einer Hufe Landbesitz hatten und zumeist von ihrer Stelle existieren konnten; im Kapitalismus bildeten sie den Hauptteil der Kleinbauern. Kleinoder Halbe Kossäten, die neben ihrer geringen eigenlandwirtschaftlichen Tätigkeit stets auf zusätzliche Lohnarbeit sowohl in der Landwirtschaft als auch im gewerblichen Bereich bzw. (später) in der Industrie angewiesen waren. Dem sozialen Status des Häuslers ähnlich (siehe dort)! Kräblhacke Gerät mit gewölbtem Hackenblatt und kurzem Handgriff, das von Saisonarbeitern aus dem von Österreich verwalteten Gebiet und aus der Tschechoslowakei benutzt wurde. Pendler Jene Gruppe der Dorfbevölkerung, die sich zumeist täglich, aber auch wochenweise (zu Fuß, per Eisenbahn, Fahrrad oder sonstigem Verkehrsmittel) vom Wohnort zum teilweise recht weit entfernt gelegenen Arbeitsort und wieder zurück begibt, also zwischen Wohn- und Arbeitsort „pendelt". Sachsengängerei Periodische Wanderung von landwirtschaftlichen Arbeitskräften aus Gegenden, in denen sie keinen ausreichenden Lebensunterhalt fanden, in solche Gebiete, in denen während einer begrenzten Saison ein hoher Bedarf an landwirtschaftlichen Arbeitskräften bestand. Da es sich zunächst vornehmlich um Rübenanbaugebiete der preußischen Provinz Sachsen handelte, erhielten diese Saison- oder auch Wanderarbeiter die Bezeichnung „Sachsengänger", die ihnen auch dann noch anhaftete, als sie in anderen Regionen die Arbeit aufnahmen. Schnitterkaserne

(Polenkaserne)

Speziell für die Unterkunft der — häufig polnischen — Saisonarbeiter errichtetes Gebäude, in dessen Räumen jeweils größere Gruppen von „Männern" oder „Mädchen", z. T. auch Familien untergebracht waren.

Worterläuterungen Separation

407

(Flurbereinigung)

Ende des 18. Jh. einsetzende, besonders durch die bürgerlichen Agrarreformen geförderte Aktion zur Flurbereinigung durch Zusammenlegung der vordem zerstreut und z. T. weit voneinander entfernt gelegenen einzelnen Grundstücke eines Besitzers; vgl. auch Gewann, Gemeinheitsteilung. Tagelöhner Angehöriger der spätfeudalen Schicht der Landarmut, der nicht — wie etwa das Gesinde und die Deputatarbeiter — über einen ganzjährigen Kontrakt mit einem Gutsbesitzer oder Bauern verfügt und stattdessen seine Arbeitskraft tageweise verkaufen muß; z. T. mit etwas Land- und Hausbesitz (vgl. Häusler), z. T. in Mietwohnungen (vgl. Einlieger). Turnips (auch: Turniks, Torniks, Turnitz) Wasserrübe (Brassica rapa rapifera), Kreuzblütengewächs, einjährige Futterpflanze, wichtig als Beigabe für Schaf- und Rindviehfutter, existiert in zahlreichen, sehr verschiedenen Varietäten. Vollspänner Siehe Ackermann. Zichorie, auch Cichorie (Cichorium intyhus, Var. Sativium) Korbblütengewächs; aus der Wegwarte hervorgegangen. Seit der Mitte des 18. Jh. wurde, besonders im Magdeburger Raum, die Wurzel nach dem Trocknen und Rösten (vgl. Darre) zur Gewinnung von Kaffee-Ersatz bzw. -Zusatz genutzt; ansonsten Grünfutter.

27

AK, Landarbeiter II

Tabellenverzeichnis Nr.

Titel

1 Polnische Arbeiter im Reg.-Bez. Magdeburg im Jahre 1897 2 Ausländische Arbeitskräfte in vier Kreisen des Reg.-Bez. Magdeburg in den Jahren 1901 und 1902 3 Ausländische Arbeitskräfte in der Provinz Sachsen in den Jahren 1907 bis 1914 . . . . 4 Herkunft der im Jahre 1913 in der Provinz Sachsen tätigen auswärtigen Landarbeiter . 5 Zahl der Saisonarbeiter im Kreis Neuhaidensleben 5 a Vergleich der Tagelohnsätze für einheimische Arbeiter und Saisonarbeiterauf Gütern der Magdeburger Börde um 1910 6 Ergebnisse von Reichstagswahlen in verschiedenen Gemeinden des Kreises Wanzleben für die Jahre 1877, 1890 und 1907 7 Die erste schriftliche Verwendung des Niederdeutschen und Hochdeutschen in Magdeburg 8 Prozentualer Anteil der einzelnen sozialen Klassen, Schichten und Gruppen in den Militärvereinen des Kreises Wanzleben um 1915 9 Prozentualer Anteil der einzelnen sozialen Klassen, Schichten und Gruppen, aus denen sich die Vorsitzenden der Militärvereine des Kreises Wanzleben zwischen 1826 und 1915 rekrutierten 10 Anzahl der Streiks, der streikenden und der ausgesperrten Magdeburger Arbeiter in den Jahren von 1899 bis 1906

Seite 127 127 128 128 129 141 192 220 287 287 319

Anlagenverzeichnis Seite Anlage Nr. 1 Über das Kleiden, Wohnen und die Begräbnisse Anfang des 19. Jahrhunderts in Wanzleben 327 Anlage Nr. 2 Ein bäuerliches Testament von etwa 1830 aus Irxleben 328 Anlage Nr. 3 Ein bäuerlicher Kaufvertrag von 1867 aus Domersleben 329 Anlage Nr. 4 Ein bäuerlicher Ehe-und Erbfolgevertrag von 1896 aus Ochtmersleben. . . 331 Anlage Nr. 5 Ein Patenbrief von 1823 333 Anlage Nr. 6 Bemerkungen eines Landpfarrers über die religiösen und sittlichen Verhältnisse in der Börde um 1844 333 Anlage Nr. 7 Zur Wirtschaftsweise eines Großbauernhofes in Diesdorf um 1900 335 Anlage Nr. 8 Entwurf der Statuten einer Sparkassen-Gesellschaft zu Eggenstedt von 1846 338 Anlage Nr. 9 Aufstellung der durchschnittlichen Einnahmen und Ausgaben einer Arbeiterfamilie in einem Bördedorf (vermutlich Niederndodeleben) um 1872 342 Anlage Nr. 10 Bericht des Superintendenten über die Bemühungen um die „Fortbildung des Volkes durch zweckmäßige Volksschriften" in der Diözese Barleben um 1845 346 Anlage Nr. 11 Kabinettsorder vom 22. Februar 1842, betr. Kriegervereihe 355 Anlage Nr. 12 Bericht über die sog. Jahrhundertfeier am 9. März 1913 in Wanzleben . . . 356 Anlage Nr. 13 Offizielles Programm einer Veranstaltung des Kriegervereins am 22. März 1897 im Kreis Wanzleben 357 Anlage Nr. 14 Bericht über die Kaisergeburtstagsfeier am 3. Februar 1904 in Hadmersleben 357 Anlage Nr. 15 Ergänzung zur Begräbnisordnung für die Bestattung ehemaliger Krieger seitens der Kriegervereine vom 8. Juni 1844 358 Anlage Nr. 16 Kabinettsorder zum „Schießen über das Grab" vom 13. November 1844 . . 359 Anlage Nr. 17 Vorschlag für die Gestaltung der Sedanfeier am 2. September 1895 in Groß Ottersleben 359 Anlage Nr. 18 Namens-und Berufsverzeichnis der Mitglieder des am 21. Januar 1904 gegründeten Militär-Vereins „Wanzleben" 360 Anlage Nr. 19 Auszüge aus dem Statut des Schützen-Vereins Wanzleben von 1848 . . . . 361 Anlage Nr. 20 Programm des Schützenfestes der Schützengesellschaft Hadmersleben vom 19. bis 23. Juni 1912 363 Anlage Nr. 21 Einer der zahlreichen Dankes- und Bittbriefe des als Invalide aus dem Kriege 1870/71 heimgekehrten JOSEPH ROGGE aus Benneckenbeck

364

Anlage Nr. 22 Bemerkungen des Amtsvorstehers von Groß Ottersleben zu den Unterstützungsanträgen des Kriegsinvaliden JOSEPH ROGGE aus den Jahren 1884/

1885 365 Anlage Nr. 23 Angaben zur Lage eines Kriegsinvaliden aus Hohendodeleben 365 Anlage Nr. 24 Statut des Arbeiter-Kranken-Unterstützungs-Vereins zu Hohenwarsleben . . 365 Anlage Nr. 25 Ein Gang durch eine Zuckerfabrik um 1860 368 27*

410

Anhang Seite

Anlage Nr. 26 „Polizei-Verordnung betreffend die Unterbringung der für den Betrieb von Zucker- Und Cichorien-Fabriken, so wie ähnlicher gewerblicher oder landwirtschaftlicher Etablissements beschäftigten Arbeiter" vom 9. März 1874 . . . Anlage Nr. 27 Briefwechsel über den Zustand und die Verbesserung der Not-Andachtsräume für Katholiken in Bahrendorf 1876/77 Anlage Nr. 28 Übersetzung des in polnischer Sprache verfaßten Flugblatts der „General-Commission der Gewerkschafts-Organisation" an die ausländischen Arbeiter von 1894 Anlage Nr. 29 Amtlicher Aufruf zur Erfassung offenbar kontraktbrüchig gewordener ausländischer Saisonarbeiter von 1899 Anlage Nr. 30 Mißhandlung, Kontraktbruch und Ausweisung ausländischer Saisonarbeiter im Spiegel behördlicher Korrespondenz Anlage Nr. 31 Bericht über die Krankheiten der Sachsengänger und ländlichen Arbeiter . . Anlage Nr. 32 Haus- und Polizei-Ordnung einer Arbeiterkaserne der Domäne Egeln von 1900 Anlage Nr. 33 Haus- und Polizei-Ordnung für die Arbeiter-Kaserne des Gutsbesitzers M . RECKLEBEN in Westeregeln von 1904

Anlage Nr. 34 Bemühungen eines kranken Saisonarbeiters um vorzeitige Rückkehr in die Heimat, 1907 Anlage Nr. 35 Ausweisung eines Saisonarbeiterehepaares nach Auseinandersetzungen mit einem Gutsbesitzer im Jahre 1912 Anlage Nr. 36 Zwei amtliche Berichte über streikende Saisonarbeiter, 1907 Anlage Nr. 37 Widerstand und Streik polnischer Saisonarbeiter in Uhrsleben, 1911 . . . . Anlage Nr. 38 Ausweisung einer sich über die Karenzzeit hinaus in Deutschland aufhaltenden ausländischen Saisonarbeiterin, auf Grund eines Hinweises ihrer Mutter (1910) Anlage Nr. 39 Befehle über die Einschränkung der Bewegungsfreiheit bzw. das Ausreiseverbot der russisch-polnischen Saisonarbeiter während des ersten Weltkrieges Anlage Nr. 40 Erinnerungen an die vom Landwehrverein veranstalteten sog. Angerfeste in Westeregeln vor dem ersten Weltkrieg

373 375 377 379 380 383 390 391

392 393 397 397 399 400 402

Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18 Abb. 19 Abb. 20

Wohnhaus eines großen Bauern, erbaut um 1800, Klein Rodensieben, Kr. Wanzleben (Aufnahme von 1967) Wirtschaftsgebäude eines großen Bauern, erbaut um 1800, Klein Rodensieben, Kr. Wanzleben (Aufnahme von etwa 1910) Wohnhaus mit Hofeinfahrt eines mittleren Bauern, erbaut um 1820, Torbogen von 1843, Klein Rodensieben, Kr. Wanzleben (Aufnahme von 1967) Giebelansicht des Wohnhauses eines kleinen Bauern, erbaut um 1770, Torbogen von 1837, Drackenstedt, Kr. Wanzleben (Aufnahme von 1967) Ziegelstein-Ziersetzungen am Giebel des Wohnhauses eines mittleren Bauern, erbaut um 1800, Klein Rodensieben, Kr. Wanzleben (Aufnahme von 1954) Wohnhaus und Stallscheune eines „freien" Landarbeiters, erbaut 1816/24, Bottmersdorf, Kr. Wanzleben (Aufnahme von 1966) Wohnhäuser von Deputatarbeitern, sog. „Drescherhäuser", erbaut um 1750, Großmühlingen, Kr. Schönebeck (Aufnahme von 1967) Teil eines Wohnhauses für Deputatarbeiterfamilien, erbaut um 1800, Siegersleben, Kr. Wanzleben (Aufnahme von 1970) Taufbrief an die „Ehr- und Tugendsame Frau, Magdalene Strube, des achtbaren Einwohners und Ackermann, wie auch zeitigen Gemeindeschulzen Herrn David Strubes Ehefrau", Nachterstedt, 1828 Johann Gottlob Nathusius (1760—1835), einer der Pioniere der Zuckerindustrie in der Magdeburger Börde „Rübenschneidmaschine und Siederaum" in einer Zuckerfabrik des Magdeburger Raumes um 1848 „Raum zum Einkochen, Füllen und Cristallieren" in einer Zuckerfabrik des Magdeburger Raumes um 1848 Wohnhaus eines Großbauern und Zuckerfabrik-Aktionärs, erbaut 1896, Klein Ammensieben, Kr. Wolmirstedt (Aufnahme von 1966) Hofseitige Traufansicht des Wohnhauses eines Mittelbauern, erbaut um 1890, Irxleben, Kr. Wolmirstedt (Aufnahme von 1968) Dampflokomobile in einem Bauernhof der Magdeburger Börde Mit Erntekrone u. a. geschmückter Leiterwagen im Hof eines mittleren Bauern, Ochtmersleben, um 1910 Torbogen und Teil des Wohnhauses eines Kleinbauern, erbaut 1836, Niederndodeleben, Kr. Wolmirstedt (Aufnahme von 1967) Porträt des „Ackermannes" Gustav Andreas Bressel (geb. 1840) zu seinem 85. Geburtstag, Dahlenwarsleben, 1925 Gutsbesitzer, Ökonomen und Lehrer am Stammtisch des Schützenvereins, Bahrendorf, um 1910 Zusammenstellung verschiedener Zeitungs-Annoncen einer Wanzleber Tageszeitung des Jahres 1891

412

Anhang

Abb. 21 Hochzeitszeitung anläßlich der Vermählung von Reinhold Schulze mit Hulda Bode, Biere, 1911 (Titelseite) Abb. 22 Hochzeitszeitung anläßlich der Vermählung von Reinhold Schulze mit Hulda Bode, Biere, 1911 (2. Seite) Abb. 23 Hochzeitszeitung anläßlich der Vermählung von Reinhold Schulze mit Hulda Bode, Biere, 1911 (3. Seite) Abb. 24 Hochzeitszeitung anläßlich der Vermählung von Reinhold Schulze mit Hulda Bode, Biere, 1911 (Rückseite) Abb. 25 Veranstaltungsprogramm mit Speisekarte zur Feier des 50jährigen Geschäftsjubiläums der 1872 gegründeten Aktien-Zuckerfabrik Niederndodeleben Abb. 26 Wohnhaus eines Großbauern, erbaut 1891/92, Osterweddingen, Kr. Wanzleben (Originalbauzeichnung) Abb. 27 Erdgeschoß-Grundriß des Wohnhauses eines Großbauern, erbaut 1885/86, Olvenstedt, Kr. Wolmirstedt Abb. 28 Detail der Stuckdecke im „Saal" des Wohnhauses eines Großbauern, angelegt 1885/86, Olvenstedt, Kr. Wolmirstedt Abb. 29 Atlanten am Wohnhaus eines Großbauern, erbaut 1885/86, Olvenstedt, Kr. Wolmirstedt (Aufnahme von 1969) Abb. 30 Wohnhaus eines teilweise als Handwerker tätigen „Häuslers", erbaut um 1820, Bottmersdorf, Kr. Wanzleben (Aufnahme von 1969) Abb. 31 Straßenzug mit Wohnhäusern des ländlichen Proletariats („Häusler"), entstanden um 1830, Groß Ammensieben, Kr. Wolmirstedt (Aufnahme von 1966) Abb. 32 Wohnhaus für Deputatlandarbeiter, erbaut um 1835, Großmühlingen, Kr. Schönebeck (Aufnahme von 1967) Abb. 33 Stallungen für Deputatlandarbeiter, erbaut um 1840, Domäne Wanzleben, Kr. Wanzleben (Aufnahme von 1967) Abb. 34 Kaserne „Neues Haus" für Deputatlandarbeiter und z. T. für Saisonarbeiter, erbaut um 1870, Klein Germersleben, Kr. Wanzleben (Aufnahme von 1967) Abb. 35 Kaserne „Ossenkopp" für Deputatlandarbeiter, erbaut um 1860, Groß Germersleben, Kr. Wanzleben (Aufnahme von 1968) Abb. 36 Zweiteilige Haustür am hofseitigen Eingang zum Wohnhaus eines Deputatlandarbeiterwohnhauses, erbaut 1830, Osterweddingen, Kr. Wanzleben (Aufnahme von 1968) Abb. 37 Kaserne „Rotes Schloß" für Deputatlandarbeiter, erbaut 1892/93, Klein Germersleben, Kr. Wanzleben (Aufnahme von 1967) Abb. 38 Gutsschäfer mit auf dem Felde essenden Hütejungen in Hundisburg, Kr. Wolmirstedt, um 1910 Abb. 39 Saisonarbeiterinnen bei einer Zwischenstation während der Anreise Abb. 40 Saisonarbeiterinnen und -arbeitet beim Umsteigen auf einem Berliner Bahnhof, 1909 Abb. 41 Weitertransport von Saisonarbeiterinnen und -arbeitern von einem Berliner Bahnhof, 1909 Abb. 42 Eine „Fuhre mit Sachsengängerinnen" in den Straßen Berlins, 1909 Abb. 43 Saisonarbeiterinnen mit Baron von Krosigk nebst Aufseher Dannenberg, Eichenbarleben, 1904 Abb. 44 Erinnerungsfoto mit zwei in Bahrendorf, Kr. Wanzleben, tätigen slowakischen Saisonarbeiterinnen Abb. 45 Familie des Großbauern Bode mit einheimischen Land- und ausländischen Saisonarbeitern anläßlich des Abschlusses der Getreideernte, Bahrendorf, 1929 Abb. 46 „Kaserne" zur Unterbringung von Saisonarbeitern, erbaut 1864, Welsleben, Kr. Schönebeck (Aufnahme von 1967) Abb. 47 „Hof" zwischen „Kaserne" und den Stallungen der Saisonarbeiter, 1864/65, Welsleben, Kr. Schönebeck (Aufnahme von 1967)

Abbildungsverzeichnis

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Abb. 48 Unterkunft für die Saisonarbeiter eines Großbauern, erbaut 1905, Klein Möhlingen, Kr. Schönebeck Abb. 49 Älteste bekannte „Kaserne" zur Unterbringung von Saisonarbeitern (mit Notkirche im Dachgeschoß), erbaut um 1860, Bahrendorf, Kr. Wanzleben Abb. 50 Kantor und Lehrer W. Laue mit den Schülern seiner Klasse (4. bis 6. Schuljahr), Hundisburg, 1898 Abb. 51 Lehrer A. Springemann mit den Schülern seiner Klasse (1. und 2. Schuljahr), Hundisburg, 1901 Abb. 52 Rektor Metzmacher mit Schulmädchen seiner Klasse (7. und 8. Schuljahr), Hundisburg, 1901 Abb. 53 Die Mitglieder des um 1860 vom Kantor Gustav Radlow gegründeten Männergesangvereins, Hundisburg, 1896 Abb. 54 Mitglieder der „Freien Turnerschaft", Meitzendorf, um 1910 Abb. 55 Das Einholen eines Grauwackefindlings für den Gedenkstein zur Hundertjahrfeier des Kampfes' gegen die napoleonische Fremdherrschaft, Hundisburg, 1913

Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Quellen Staatsarchiv Magdeburg (STAM) Rep. C 20 Ia,

Nr. 644 Nr. 679 Nr. 721 Nr. 1489 Rep. C 20 Ib, Nr. 1789 Nr. 1948 Nr. 2260 Nr. 3802 Rep. C 28 I, Nr. 895 Nr. 571 Nr. 792 Nr. 864 Rep. C 28 l a I, Nr. 121 Nr. 845 Nr. 862 Nr. 864 Nr. 870 Rep. C 28 If, Nr. 35 Nr. 38 Nr. 1648 Nr. 1718 Nr. 1726 Nr. 1751 Nr. 2269 Rep. C 28 II, Nr. 565 Rep. C 28111a, Nr. 2821 Nr. 5013 Rep. C 29 III, Nr. 6 Nr. 11 Rep. C30 Neuhaidensieben, Nr. 806 Nr. 844 Nr. 850 Nr. 851 Nr. 852 Nr. 854 Nr. 855 Nr. 856 Nr. 857 Nr. 858

Quellen- und Literaturverzeichnis

415

Rep. C 30 Wanzleben A,

Nr. 11 Nr. 113 Nr. 207 Nr. 216 Nr. 217 Nr. 221 Nr. 222 Nr. 227 Nr. 234 Nr. 245 Rep. C 30 Wanzleben A (alt), Nr. 34 Nr. 83 Rep. C 30 Wanzleben A (neu), Nr. 112 Nr. 114 Rep. C 30 Wanzleben III, Nr. 21 Nr. 40 Nr. 69 Nr. 83 Nr. 84 Nr. 89 Rep. C 30 Wanzleben IV, Nr. 21 Nr. 58 Rep. C 31 Wanzleben, Nr. 108 Nr. 138 Nr. 143 Nr. 144 Rep. C 811, Nr. 28 Nr. 154 Rep. C 81 IV, Nr. 24 Nr. 56 Stadtarchiv Magdeburg Rep. 36, Gemeinde-Archiv Groß Ottersleben, Nr. 73 Nr. 74 Nr. 201 Nr. 272 Nr. 1372 Nr. 1389 . Nr. 1891 Stadtarchiv Wanzleben loses Aktenmaterial, unsigniert. Kreisarchiv Wansleben Verschiedene unsignierte Aktenmaterialien, z. B. Satzungen des Deutschen Kriegerbundes (1887) und des Schützenvereins Wanzleben (1914) sowie Rundschreiben des Kriegs- und Innenministeriums betr. Fahnenerlaubnis (1888). Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Geschichte, Fragebogenmaterial zum Forschungsvorhaben „Magdeburger Börde", erarbeitet und zusammengestellt von 1 . ERICH BERCHNER für Hamersleben 2. H E L M U T B E R N E R für Altenweddingen

Anhang

416 3 . M A X BÖSCHE ' 4 . ANNELIESE BORMANN 5 . FRITZ CUBE

6. 7. 8.

WALTER FINKE ERNST G A J E W S K I FRITZ HABERLAND

9 . OTTO HÄDICKE 1 0 . ALFRED JAHN 1 1 . WILLI KOCH 1 2 . H A N S LAMPE 1 3 . ALWIN L A U E 1 4 . WILHELM LAUE 1 5 . H A N S HERMANN MERBT 1 6 . PAUL MÜLLER 1 7 . K A R L MÜNCHMEIER 1 8 . RUDOLF PFEIL

19.

GERHARD ROEBER

2 0 . ERICH ROSENBERG 2 1 . OTTO SOMMERMEIER

22. 23. 24. 25.

FRITZ TEMPLIN ERNST WADEWITZ GÜNTER WAGENER OTTO WOSYLUS

für Hohenwarsleben für Ampfurth für Groß Rodensieben für Großmühlingen für Kleinalsleben für Biere für Klein Mühlingen für Barby für Haldensleben für Sülldorf für Eichenbarleben für Hundisburg für Domersleben für Bahrendorf für Hundisburg für Bottmersdorf für Klein Rodensieben für Großalsleben für Ochtmersleben für Rottmersleben für Nordgermersleben für Eilsleben für Osterweddingen

Vereinskartei für die Orte der Magdeburger Börde, angelegt von

GERHARD BIRK.

2. Literatur

Ackerbau, Der, in den Landgebieten der Städte. In: Annalen der Landwirthschaft in den Königlich 1849 Preußischen Staaten, hg. von ALEXANDER VON LENGERKE, Jg. 7 , Supplementband, S. 109 ff. Ackerbauschulen und Arbeiterschulen nebst Bericht über die Arbeiterschule in Benkendorf. In: 1853 ZLCV, Bd. 10, S. 365ff. Adreßbuch für Magdeburg und Umgebung, 1850 Ausgabe 1850 1890 Ausgabe 1890 1900 Ausgabe 1900 1910 Ausgabe 1910. Aktivist, Betriebszeitung des VEB Schwermaschinenbau „Ernst Thälmann" Magdeburg, vom 1957 7.11. 1957. Magdeburg. Allgemeine deutsche Arbeiterzeitung vom 12. 2. 1865. (Coburg). 1865 Allgemeiner Anzeiger für Wanzleben und Umgebung, Nr. 58, 11. März 1913. 1913 Amtlicher Bericht über die XIII. Versammlung deutscher Land- und Förstwirthe zu Magdeburgs 1851 im September 1850. Halle. Amtliches Wanzleber Kreisblatt. Wanzleben 1899 Jg. 1899 1907 Jg. 1907. Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Magdeburg. Magdeburg. 1816 ff.

Quellen- und Literaturverzeichnis

417

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1896

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28

AK, Landarbeiter II

424

Anhang

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426

Anhang

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1936

Anhang

428

PLAUL, H A I N E R :

1978

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PLAUL, HAINER

1979

POMARIUS,

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1974

Quellen- und Literaturverzeichnis

429

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1899b

1853 SCHÖNFELD, HELMUT

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SCHÖNFELD, H E L M U T : 1962 SCHÖNFELD,

1972 SCHÖNFELD,

1974

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1937

Anhang

430 SOHNREY, HEINRICH

1896

: Die Wohlfahrtspflege auf dem Lande. Berlin.

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1925

Industrie, Bd. 50.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

431

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432

Anhang

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1874a

Abkürzungsvetzeichnis AdW Ctr. GSLM JfVK JfWG Krs. lat. LN ndd. N. F. Pf-, PfgReg.-Bez. Schfl. Sgr. STAM Thlr. WB Wspl. WZ ZfG ZLCV ZVRI

Akademie der Wissenschaften der DDR Centner (im Zitat; alte Schreibweise von: Zentner) Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Kreis lateinisch Landwirtschaftliche Nutzfläche niederdeutsch (im Zitat) Neue Folge Pfennig (im Zitat) Regierungsbezirk Scheffel Silbergroschen Staatsarchiv Magdeburg Taler (im Zitat) Wissenschaftsbereich Wispel Wissenschaftliche Zeitschrift Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift des landwirtschaftlichen Centrai-Vereins der Provinz Sachsen Zeitschrift des Vereins für die Rübenzucker-Industrie im Zollverein

Ortsregister Das Register erschließt das Inhaltsverzeichnis, den Text, die Anlagen und die Abbildungen. aufgenommen wurden Angaben aus dem Tabellen-, Anlagen- und Abbildungsverzeichnis aus dem Quellen- und Literaturverzeichnis. Die Orte des Untersuchungsgebietes sind Signaturen (z. B. — B 1 —) gekennzeichnet. Sie dienen zu ihrer Auffindung auf der „Magdeburger Börde", die dem 1. Halbband von „Landwirtschaft und Kapitalismus", 1978, beigefügt ist (Abb. 33). Ackendorf — B 1 — (siehe auch Akendorf) 91, 392, 393 Aken 219 Akendorf ( = Ackendorf — B 1 —, siehe auch dort) 94, 392 Alach 7 Aisleben 219 Altbrandsleben - A 3 — 267, 285 Altengrabow 161 Alten weddingen — C 4 — 13, 20, 21, 49, 74, 93, 266, 267, 278, 377, 379, 380 Althaldensleben - B 1 - 11, 12, 13, 37, 91, 150 Althütte 121 Altona 303 Altstadt — D 3 — (heute zu Magdeburg) 315 Altstaßfurt (heute zu Staßfurt) 246 Alvensleben, Dorf/Markt (heute zu Bebertal [I und II]) 18, 91 Ampfurth — B 3 — 266 Aschersleben 219, 292 Atzendorf — D 5 — (siehe auch Atzendorp) 17 93, 94, 227, 228, 229 Atzendorp ( = Atzendorf — D 5 —, siehe auch dort) 252 Auerstedt 300 Badersleben 247 Bahrendorf — C 4 — (siehe auch Bahrendorp) 49, 57, 107, 150, 236, 237, 258, 266, 271, 284, 375, 376, 377, Abb. 19, Abb. 44, Abb. 49 Bahrendorp ( = Bahrendorf — C 4 — , siehe auch dort) 252

Nicht sowie durch Karte Berlin

Baldenburg 121 Barby - F 4 - 217, 218, 223, 225, 245, 254, 255, 256, 257, 258 Barleben - D 2 - 10, 72, 91, 92, 227, 231, 232, 346, 347, 348, 355 Baruth 13 Basel 321 Bebertal (I und II) — B 1 — (früher Alvensleben, Dorf/Markt, siehe dort) Behrendorf 394, 395, 396 Belgrad 322 Belsdorf - A 2 - 114 Benneckenbeck — D 3 — (heute zu Magdeburg) 182, 189, 192, 204, 206, 266, 271, 315, 359, 360, 364 Bergen — B 3 — 267 Berlin IX, 125, 138, 139,152, 183,184,191,196, 197, 229, 244, 262, 294, 295, 303, 304, 305,' 306, 324, Abb. 42 Bernburg - E 6 — 218, 255 Beuthen 152 Beyendorf - D 3 - 251, 256, 266, 271, 303 Biekhof 121 Biere - D 4 - 93, 243, 252, 258, Abb. 21, Abb. 22, Abb. 23, Abb. 24 Bischofthum 120 Bitterfeld 217 Bleckendorf - C 4 - 107, 266 Blumenberg — C 4 — 9 Bochum 151, 152 Borne - C 5 - 130 Borsum 253 Bottendorf 13

Ortsregister Bottmersdorf - C 4 - 77, 177, 178, 179, 266, 271, 278, 279, 329, Abb. 6, Abb. 30 Brandenburg 306 Braunschweig 122, 234, 310 Breitenhagen 261 Bremen 324 Breslau 295 Brumby (bei Calbe) - D 5 - 216, 252 Brüssel 303 Buckau — D 3 — (heute zu Magdeburg) 72, 242, 313

Calbe - E 5 - 130, 216, 217, 223, 245, 254 Cöthen ( = Kothen) 218 Cracau (heute zu Magdeburg) 232

435

Falkenhagen 121 Farstete ( = Förderstedt — D 5 —, siehe auch dort) 252 Fermersleben — D 3 — (heute zu Magdeburg) 10, 72, 117, 189, 195, 205, 251, 256, 266, 271 Förderstedt — D 5 — (siehe auch Farstete, Förderstedt) 91 Förderstedt ( = Förderstedt — D 5 —, siehe auch dort) 231 Frankfurt/Main 112 Friedrichstadt (Brückfeld) (heute zu Magdeburg) 301 Frohse — D 4 — 333

Genf 310 Gera 182 Giesenlage ( = Giesenslage, siehe auch dort) 395 Giesenslage (siehe auch Giesenlage) 393, 394, 395 Dahlenwarsleben — C 2 — 91, 169, 348, Glöthe - D 5 - 68, 93, 252 Abb. 15 Danzig 295 Glüsig - C 1 - 150 Dessau 217, 244 Gnadau - E 4 — 93 Diesdorf — C 2 — (heute zu Magdeburg) 14, Gommern 151, 199 33, 37, 49, 72, 73, 77,189,191,192,195,250, Gotha 313 266, 271, 335, 336 Gothenburg 303 Dodendorf - D 4 - 10, 251, 256, 266, 301 Groppendorf — B 2 — 91 Domersleben - C 3 - 14, 18, 50, 71, 77, 107, Groß Ammensieben — C 1 — 45, 91, Abb. 31 134, 153, 192, 212, 258, 266, 271, 289, 329 Groß Germersleben — B 4 - 91,137, 266, 271, Drackenstedt — B 2 — Abb. 4 284, 397, Abb. 35 Dreileben - B 2 - 4, 14, 91, 235, 348 Großmühlingen — D 4 — (siehe auch MühDresden 319 linge, Mühlingen) 138, 258, Abb. 7, Abb. 32 Groß Ottersleben — C 3 — (heute zu Magdeburg, siehe auch Ottersleben) 45, 72, 92, 117, Ebendorf - C 2 - 10, 91, 256, 348 177, 178, 179, 181, 182, 183, 184, 185, 186, Egeln - C 5 - 31, 66, 92, 146, 150, 151, 153, 188, 189, 190, 192, 194, 195, 199, 202, 204, 169, 174, 175, 187, 189, 194, 199, 245, 254, 206, 207, 208, 210, 211, 256, 266, 271, 273, 256, 266, 267, 286, 288, 289, 292, 376, 377, 274, 288/289, 359, 365 390, 391, 397 Groß Rodensieben — B 3 — 91, 348, 351 Eggenstedt - A 3 - 266, 271, 338, 339, 341, Groß Rottmersleben ( = Rottmersleben 342 — B.l —, siehe auch dort) 140, 331, 332 Eichenbarleben — B 2 — 47, 258, Abb. 43 Groß Santersleben — C 2 — (siehe SantersEickendorf — D 5 — (siehe auch Eikendorp) 93 leben) Eikendorp ( = Eickendorf — D 5 —, siehe auch Groß-Yolz 121 dort) 252 Groß Wanzleben ( = Wanzleben — C 3 —, Eilsleben — A 2 - 144 siehe auch dort) 251, 252, 256, 257 Eimersleben — A I — 381, 382, 383 Groß-Wittfelde 120 Eisleben ( = Lutherstadt'Eisleben) 217 Grumsdojrf 121 Elbeu - D 1 - 91, 93 Gutenswegen - C 1 - 45, 56, 91, 348 Emden - A I - 91 Erfurt 7, 217 Hadmersleben - B 4 — (früher Dorf/Stadt) 35, 40, 66, 180, 203, 208, 209, 210, 245, 266, 267, Erxleben - A 1 - 18, 306, 381, 382, 383, 397 271, 279, 280, 281, 292, 357, 363, 364, 397 Etgersleben - B 4 - 144, 266, 271

436

Anhang

Hakeborn 266, 271, 289 Hameln 380, 381, 382, 383 Halberstadt 22, 43, 225 Haldensleben — B 1 — (früher Neuhaldensleben, siehe auch dort) 148, 225, 247, 399 Halle 155, 156, 217, 218, 224, 229, 255, 387 Hamburg 30, 163, 303, 320, 324 Hamersleben 150 Hannover 122, 151, 190, 319, 394, 395 Havre 303 Hecklingen 216 Helmstedt 247, 400 Hildesheim 310 Hillersleben - C 1 - 91, 93 Hohendodeleben - C 3 - 72, 75, 189, 194, 195, 267, 272, 273, 274, 365 Hohendorf - D 6 - 216 Hohenwarsleben — C 2 - 53, 57, 66, 248, 329, 365, 367, 368 Hundisburg - B 1 - 53,226, Abb. 38, Abb. 50, Abb. 51, Abb. 52, Abb. 53, Abb. 55 Irxleben - C 2 - 328, Abb. 14 Jena 299 Kalbe/Milde 230 Karow 306 Kiel 295, 324 Kleinalsleben 150, 258 Klein Ammensieben — C 1 - 91, 348, Abb. 13 Klein Germesleben - B 4 - 137, 267, 397, Abb. 34, Abb. 37 Klein Mühlingen - E 5 - 148, 258, Abb. 48 Klein Oschersleben - B 4 — 93, 266, 271 Klein Ottersleben — C 3 — (heute zu Magdeburg) 10, 169, 182, 189, 195, 204, 256, 266, 271, 272 Klein Rodensieben - C 3 - 14, 47, 267, 271, Abb. 1, Abb. 2, Abb. 3, Abb. 5 Klein Wanzleben - B 3 - 10, 188, 192, 266, 271 Kölbigk 218 Köln 193, 295, 307, 309 Königsberg 295, 303 Königsborn 306 Könnern 217 Kopenhagen 303 Kothen (siehe auch Cöthen) 200

Langenweddingen — C 4 - 91, 93, 170, 189, 195, 266, 271, 272, 289 Leipzig 221, 224, 244, 255, 301, 303, 324 Lemsdorf — D 3 — (heute zu Magdeburg) 10, 169, 182, 189, 195, 256, 266, 271, 315 Löbnitz — D 6 — 216 Löderburg — C 5 — 48, 216 Loitsche 233 London 244, 303, 309 Löwitz 192 Lübeck 4 Lutherstadt Eisleben (siehe Eisleben) Magdeburg - D 3 - VI, VII, VIII, IX, 1, 4, 6, 7, 8, 10, 11, 13, 14, 17, 18, 26, 31, 34, 39, 40, 48, 52, 62, 68, 73, 79, 84, 87, 91, 92, 93, 117, 124, 126, 127, 130, 139, 150, 151, 152, 153, 162, 166, 167, 168, 170, 171, 172, 173, 176, 177, 178, 179, 181, 182, 183, 186, 188, 190, 193, 195, 198, 199, 200, 203, 215, 217, 219, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 226, 228, 229, 230, 232, 234, 235, 237, 238, 239, 240, 242, 244, 245, 246, 248, 249, 250, 251, 252, 253, 254, 255, 256, 257, 262, 263, 268, 270, 271, 274, 276, 286, 292, 299, 300, 301, 302, 303, 304, 305, 306, 307, 308, 309, 310, 311, 313, 314, 315, 316, 317, 318, 319, 320, 321, 322, 323, 324, 327, 331, 332, 333, 334, 336, 342, 344, 348, 359, 365, 368, 375, 376, 393, 400 Mainz 295 Mannheim 182 Mansfeld 218 Meitzendorf - C 2 - 231, 238, Abb. 54 Merseburg 217 Meseberg — C 1 — 77 Metz 295 Meyendorf — B 3 - 150 Mühlinge ( = Großmühlingen — D 4 —, siehe auch dort) 252 Mühlingen ( = Großmühlingen — D 4 —, siehe auch dort) 219, 254 Nachterstedt Abb. 9 Neuhaidensieben (heute Haldensleben - B 1 - , siehe auch dort) 117,140, 306, 380, 381, 382, 383, 392, 394, 396, 398, 399, 400 Neu-Kolziglow 121 Neustadt — D 2 — (heute zu Magdeburg) 242, 256, 257, 301, 313, 315, 344 Niederndodeleben - C 2 - 4, 17, 33, 48, 56, 67, 342, Abb. 17

Ortsregister Nienburg — E 6 — 216 Nordgermersleben — B 1 — 258, 259 Nürnberg 324 Ochtmersleben - B 2 - 258, 331, 332, Abb. 16 Oebisfelde 238 Olvenstedt - C 2 - 10, 70, 72, 91, 249, 250, 252, 253, 348, Abb. 27, Abb. 28, Abb. 29 Oschersleben - A 3/4 - 150, 180, 245, 254, 397 Osterburg 393, 394, 395, 396 Osterweddingen - C 3 - 180, 208, 266, 271, Abb. 26, Abb. 36 Ottersleben ( = Groß Ottersleben — C 3 —, siehe auch dort) 315 Paderborn 150, 151 Paris 244, 302, 303 Pechau 232 Peseckendorf — B 4 — 236, 267 Pömmelte - E 4 — 91, 93, 200 Posen 152, 295 Prag 229 Remkersleben — B 3 - 114, 266, 271 Rosenburg 216 Rothensee — D 2 — (heute zu Magdeburg) 232, 241, 251, 256 Rottmersleben — B 1 — (siehe auch Groß Rottmersleben) 258, 259 Rummelsburg 120

437

Schöppenstedt 253 Schwanebeck 150 Schwaneberg - C 4 — 37, 266, 271 Sedan 282, 312 Seehausen - B 3 - 66, 186, 235, 245, 249, 255, 266, 267, 271, 288, 289, 292 Siegersleben — A 2 — Abb. 8 Sohlen - D 3 - 251, 256, 266, 271 Sommerschenburg (siehe auch Sommerschönburg) 399, 400 Sommerschönburg ( = Sommerschenburg, siehe auch dort) 399 Sommersdorf 70 Spandau (heute zu Westberlin) 295 Staßfurt - D 6 - 199, 216, 217, 245, 246, 247, 254, 256 Stegen 121 Stemmern - C 4 - 49, 252, 266, 377 Stettin 295 Stodkow 396 Straßburg 295 Stuttgart 321 Sudenburg — D 3 — (heute zu Magdeburg) 242, 256, 316 Sülldorf - C 4 - 192, 266, 271, 375, 376, 377

Tangermünde 151 Tarthun - C 5 - 266, 271, 272, 285 Thale 151 Thorn 295 Tönning 295 Torgau 295 Salbke — D 3 — (heute zu Magdeburg) 10, 72, Tornitz — E 5 — 93 189,195, 256, 266, 271 Salze ( = Salzeimen — D 4 —, heute zu SchöneUhrsleben - A 2 - 92, 397, 398,399 beck) 223 Üllnitz - D 5 - 216, 252 Samswegen — C 1 — 227 Santersleben ( = Groß Santerleben — C 2 —) Ummendorf - A 2 - IX, 31, 86 Unseburg - C 5 - 189, 245, 266, 271 93 Sarajevo 322 Schackensleben — B 2 — (siehe auch Schakens- Vahldorf - C 1 - 86 Voldagsen 380, 381, 382 ieben) 393, 394, 395, 396 Schakensieben ( = Schackensleben — B 2 —, Völpke 151, 399 siehe auch dort) 394 Schermcke — B 3 — (siehe auch Schermke) 266 Walbeck 226, 238 Schermke ( = Schermcke — B 3 —, siehe auch Walkenried 218 dort) 271 Wanzleben — C 3 — (siehe auch Groß WanzSchieibnitz - C 3 - 267, 271, 327 leben) 9, 59, 66, 145, 150, 187, 188, 199, 204, Schönberg 121 223, 245, 251, 254, 266, 267, 271, 288, 289, 292, 327, 356, 360, 361, 376, 397 Schönebeck - E 4 - 117, 225, 243, 245, 247, Wefensleben - A 2 - 114 253, 254, 255, 317 Weferlingen 226 Schönhausen 306

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Anhang

Wegeleben 151, 199 Weimar 217 Wellen - C 2 - 91, 348 Welsleben - D 4 - 15, 266, 271, 278, 281, Abb. 46, Abb. 47 Werkleitz - E 5 - 93, 216 Westeregeln - B 4 - 145, 161, 178, 179, 187, 189, 192, 211, 246, 266, 267, 271, 289, 391, 392, 402 Westerhüsen — D 3 — (heute zu Magdeburg) 10, 117, 189, 195, 251, 256, 266, 273, 289

Wien 306, 322 Wilhelmshaven 295 Wittenberg 221, 224 Wolfenbüttel 253 Wolmirsleben - C 5 - 196, 197, 266, 289 Wolmirstedt - D l - 225, 227, 233, 306 Würzburg 295/296 Wyden 314 Zens - D 5 - 77, 252 Zwickau 93

Abb. 1 Wohnhaus eines großen Bauern, erbaut um 1800, Klein Rodensieben, Kr. Wanzleben (Aufnahme von 1967)

Abb. 2 Wirtschaftsgebäude eines großen Bauern, erbaut um 1800, Klein Rodensieben, Kr. Wanzleben (Aufnahme von etwa 1910)

Abb. 3 Wohnhaus mit Hofeinfahrt eines mittleren Bauern, erbaut um 1820, Torbogen von 1843, Klein Rodensieben, Kr. Wanzleben (Aufnahme von 1967)

Abb. 4 Giebelansicht des Wohnhauses eines kleinen Bauern, erbaut um 1770, Torbogen von 1837, Drackenstedt, Kr. Wanzleben (Aufnahme von 1967)

Abb. 6 Wohnhaus und Stallscheune eines „freien" Landarbeiters, erbaut 1816/24, Bottmersdorf, Kr. Wanzleben (Aufnahme von 1966)

Abb. 7 Wohnhäuser von Deputatarbeitern, sog. „Drescherhäuser", erbaut um 1750, Großmühlingen, Kr. Schönebeck (Aufnahme von 1967)

Abb. 8 Teil eines Wohnhauses für Deputatarbeiterfamilien, erbaut um 1800, Siegersleben, Kr. Wanzleben (Aufnahme von 1970)

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Abb. 9 Taufbrief an die „Ehr- und Tugendsame Frau, Magdalene Strube, des achtbaren Einwohners und Ackermann, wie auch zeitigen Gemeindeschulzen Herrn David Strubes Ehefrau", Nachterstedt 1828

Abb. 11 „Rübenschneidmaschine und Siederaum" in einer Zuckerfabrik des Magdeburger Raumes um 1848

Abb. 13 Wohnhaus eines Großbauern und Zuckerfabrik-Aktionärs, erbaut 1896, Klein Ammensieben, Kr. Wolmirstedt (Aufnahme von 1966)

• •

Abb. 14 Hofseitige Traufansicht des Wohnhauses eines Mittelbauern, erbaut um 1890, Irxleben, K t , Wolmirstedt (Aufnahme von 1968)

Abb. 15 Dampflokomobile in einem Bauernhof der Magdeburger Börde

Abb. 16 Mit Erntekrone u. a. geschmückter Leiterwagen im Hof eines mittleren Bauern, Ochtmersleben, um 1910

Abb. 17 Torbogen und Teil des Wohnhauses eines Kleinbauern, erbaut 1836, Niederndodeleben, Kr. Wolmirstedt (Aufnahme von 1967)

Abb. 18 Porträt des „Ackermannes" Gustav Andreas Bressel (geb. 1840) zu seinem 85. Geburtstag, Dahlenwarsleben, 1925

Abb. 19 Gutsbesitzer, Ökonomen und Lehrer am Stammtisch des Schützenvereins, Bahrendorf, um 1910

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Abb. 21 Hochzeitszeitung anläßlich der Vermählung von Reinhold Schulze mit Hulda Bode, Biere, 1911 (Titelseite)

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