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German Pages 153 Year 1970
KAR L-H EINZ SPIELER
Untersuchungen zu Johann Gustav Droysens "Historik"
Historische Forschungen Band 3
Untersuchungen zu Johann Gustav Droysens "Historik"
Von
Karl-Heinz Spieler
DUNCKER
&
HUMBLOT
I
BERLIN
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1970 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlln 61 Printed in Germany
© 1970 Duncker
D 188
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im November 1967 der Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin als Dissertation eingereicht. Sie wurde von der Fakultät angenommen. Für die Drucklegung ist sie in einigen Punkten abgeändert, ergänzt worden. Ich danke Herrn Professor Dr. Bußmann, jetzt München, und Herrn Professor Dr. Landmann, Berlin, für die Übernahme der Betreuung der Arbeit, die Übernahme des Referats und des Korreferats, für das verständnisvolle Entgegenkommen bei der Themenwahl und schließlich für das große Maß an Freiheit, das mir gewährt wurde. Bremen, im Juli 1969
K. Spieler
Inhaltsverzeichnis Vorwort................. . . . ................................... . ....
5
Einleitung
A. Der Gegenstand der Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
B. Informationen zur Geschichte der Droysenschen "Historik" . . . . . . . . . .
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Teil I
A. Bemerkungen zum Problem der sogenannten Selbstreflexion der Wissenschaften. Gegenstand und Erkenntnisziel wissenschaftstheoretischer Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 B. Die "historische Frage" (Droysen). Hypothesenbildung in der Geschichtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Teil II Der Erste Fundamentalsatz
A. Die Relation zwischen historischen Materialien, historiographischen Aussagen und vergangeuer Wirklichkeit in der historiographischen Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1. Historische Materialien und historiographische Aussagen . . . . . . . . 44 2. Historiographische Aussagen und die vergangene Wirklichkeit. (Das Problem der ,historischen Tatsachen') . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Nachtrag: Zum Problem der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
B. Die historischen Materialien. (Ihre Klassifikation durch Droysen) . . . .
55
C. Vier ,Phasen' in der historiographischen Erkenntnisarbeit . . . . . . . . . . . .
62
1. Die Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65 74
2. Die Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
D. Sachwissen oder theoretisches Wissen in der historiographischen Erkenntnis. Bedingungen der historiographischen Erkenntnis . . . . . . . . . . 87 E. Die historischen Wissenschaften. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 105
8
Inhaltsverzeichnis Teil 111
Der Zweite Fundamentalsatz (Droysens Verstehenslehre) A. Verstehen, Erkennen, Erklären ........ .. .. . . . ....... . ... . . .. .. .. .. 114 B. Die drei Varianten im Droysenschen Verstehensbegriff . . .... . . . . . .. . 117
1. Verstehen als Intuition . ... .. . . ... . .. ..... . . .. ..... . . .. .. .. . ... .. 117 2. Verstehen als Ausdrucksverstehen ........ . .... . .......... ..... . 118 3. Verstehen als "Grundelement der menschlichen Existenz" (Theodor Schieder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
C. Bemerkungen zum Ausdrucksverstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 1. Ausdrucksverstehen in der historiographischen Erkenntnis . . . . . . 124 2. Die Frage der Geltung des durch Ausdrucksverstehen bereitgestellten Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
D. Ergebnis und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
Sigelverzeichnis
134
Literatur A. Werke Johann Gustav Droysens. (Auswahl)
136
B. Literatur über Johann Gustav Droysen . . ... ..... .. . . .. .. . . . . . ... . . 137 1. Monographien, Abhandlungen in Zeitschriften, Nachrufe usw. . . . . 137 2. Dissertationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3. Rezensionen von : J oh ann Gustav Droysen: Historik . Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Rudolf Hübn er. München u . Berlin 1937 .. . .... .. . . . .. ... . .. .... .. .. . .. ....... .. .. ... . .... 142
C. Literatur zur Theorie, Methodologie und Geschichte der Geschichtswissenschaft, Literatur zur allgemeinen Wissenschaftstheorie; sonstige benutzte Literatur ... ... .. ..... . .. .. ....... ... .... .. .. . ... .... ... . 143
Einleitung A. Der Gegenstand der Untersuchungen
Die vorliegenden Untersuchungen haben Johann Gustav Droysens "Historik" zum Gegenstand; mit dem Wort "Historik" ist nicht eine bestimmte Arbeit Droysens, auch nicht eine Gruppe bestimmter Arbeiten von ihm gemeint, sondern Droysens "Wissenschaftslehre der Geschichte" (Privatvorr. 377)1, so wie sie sich im Gesamt seiner einschlägigen Äußerungen darstellt. Es wird jedoch die Droysensche "Wissenschaftslehre der Geschichte" nicht in ihrem gesamten Umfang und in allen ihren Aspekten behandelt. Die in der vorliegenden Arbeit getroffene Auswahl aus den Problemen der "Historik" Droysens, die dieser Arbeit zugrunde liegende Fragestellung, die in ihr behandelten Probleme sollen in den folgenden einleitenden Bemerkungen kurz dargestellt und beschrieben, erläutert werden; so wird der Gegenstand der Untersuchungen abgegrenzt, der Titel präzisiert und die Problematik der in der Arbeit behandelten Fragen vorgreifend aufgeworfen. Als Beispiele für Problemzusammenhänge, die nicht im Zentrum der Fragestellung der vorliegenden Arbeit stehen, seien genannt: a) die Geschichte der Droysenschen Auffassungen zu einer Theorie der historiographischen Methode, etwa im Rahmen seiner Biographie und seines Gesamtwerks; die Geschichte der Droysenschen Vorlesung über "Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte" und die Geschichte des "Grundrisses der Historik". Untersuchungen mit einer solchen Fragestellung müßten sich- über das gedruckte Material hinaus - auf Materialien, die für sie von Relevanz und im Droysenschen Nachlaß möglicherweise noch erhalten sind, beziehen können. Der Nachlaß befindet sich gegenwärtig im Deutschen Zentralarchiv, Abteilung Merseburg. Dem Verfasser ist - wie auch dem Verfasser einer der jüngsten Dissertationen über Droysen, Günter Birtsch (vgl. Birtsch 1964, 251, Anm. 1) - eine Genehmigung zur Benutzung des Archivs seitens der dortigen Behörden leider nicht erteilt worden. 1 Die Art und Weise, in der zitiert wird, ist in der Vorbemerkung zum Sigelverzeichnis beschrieben.
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Einleitung
Da jedoch im Interesse des Verständnisses der in der vorliegenden Arbeit behandelten- in der Hauptsache ,systematischen' - Probleme auf den historischen Zusammenhang nicht ganz verzichtet werden sollte, sind in einem besonderen Kapitel, das diesen einleitenden Bemerkungen unmittelbar folgt, "Informationen zur Geschichte der Droysenschen ,Historik"' zusammengetragen, so wie sie aus der benutzten Literatur zu eruieren waren2 • Neben dem Problem der Geschichte der "Historik" sind auch Fragestellungen wie die folgenden nicht die zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit, nämlich b) das Verhältnis von Droysens ,historisch-politischer' Gedankenwelt und seiner "Historik" 3 ; 2 Mit der Arbeit Friedrich Meineckes (1930), die anläßlich der Herausgabe des sehr eindrucksvollen Droysenschen Briefwechsels durch Rudolf Hübner erschien, liegt eine Untersuchung vor, die teilweise auch die Geschichte der Droysenschen "Historik" zum Gegenstand hat. Meinecke (1930, 257) unterschied zur Charakterisierung des wissenschaftlichen Lebenswerkes Droysens drei "große Konzeptionen", die dieser, also Droysen, entwarf und "auf denen sein wissenschaftlicher Ruhm beruht", nämlich "die hellenistische, die preußisch-nationale und die historistische" Konzeption. Die Werke, auf die sich Meinecke damit nicht nur, aber in der Hauptsache bezieht, sind Droysens "Geschichte Alexanders des Großen" und die "Geschichte des Hellenismus" (Droysen ist der Schöpfer des modernen Hellenismusbegriffs), die "Geschichte der preußischen Politik" (Droysens ,Borussismus') und schließlich der "Grundriß der Historik". Die von Meinecke in dieser Arbeit getroffene Feststellung, daß Droysen in seiner "historistischen" Konzeption, in seinen Bemühungen um eine Theorie der Historiographie bestimmte "Front"-stellungen (Meinecke 1930, 281) einnahm, nämlich gegen Positivismus und Materialismus, gegen Leopold von Ranke und gegen Hege! usw., hat in der Literatur ein besonderes Echo gefunden. Günter Birtsch (1964, 17, Anm. 14) hat die von Meinecke festgestellten "Fronten" zusammengefaßt. Die in Rede stehende Arbeit Meineckes war neben der Droysen-Biographie Otto Hintzes (s. u.) entscheidend für Schaffung und Etablierung eines Droysen-Bildes. Zur allgemeinen Biographie Droysens: Alfred Dove, ein Schüler Droysens, verfaßte einen Festartikel zum 70. Geburtstag seines verehrten Lehrers (Dove 1878). Im Droysenschen Briefwechsel ist uns ein Brief Droysens an Dove erhalten, in dem der erstere auf den Artikel Doves Bezug nimmt und ihn eine "Apotheose" nennt, geschrieben mit "so nachsichtigem und ermutigendem Verständnis meines Strebens und Wollens". (Briefw. II, 932) Otto Hintze, ebenfalls ein Schüler Droysens, schrieb für die Allgemeine Deutsche Biographie eine biographische Skizze, die noch heute von maßgeblicher Bedeutung ist (Hintze 1904). Es liegt weiter die durch den Tod des Verfassers unvollendet gebliebene und von Rudolf Hübner herausgegebene Biographie Droysens von seinem Sohne Gustav Droysen (1910) vor. Max Duncker (1884) schrieb einen Nachruf. Zu Detailproblemen aus der Biographie Droysens sind unter anderem zu nennen die Arbeiten von Kaegi (1950), Gustav Droysen (1902), Heinrich Ulmann (1929) und auch Anni Meetz (1930). 3 Droysens ,historisch-politischer' Gedankenwelt, aus deren Zusammenhang auch seine geschichtstheoretischen Auffassungen verstanden werden k önnen, sind verschiedene Arbeiten gewidmet. Gr undlegend sind zwei Disser-
A. Der Gegenstand der Untersuchungen
11
c) das Verhältnis von Droysens historiegraphischer Praxis, d. i. seiner Geschichtsschreibung, zu seiner Theorie der Historiographie4 ; d) die geistesgeschichtlichen Abhängigkeiten und Wirkungen der Droysenschen "Historik", die Verdienste Droysens und seine Stellung in der Geschichte der Theorie der historiegraphischen Methode 5 ; und so auch nicht e) der Zusammenhang zwischen Droysens christlicher Gedankenwelt und seiner "Historik" 6 • tationen, die des Meinecke-Schülers Felix Gilbert (1931) und die von Wolfgang Hock (1957). Hock ist Schüler Kurt von Raumers. Zwei weitere Dissertationen - die von Hofirrger (1937) und Rother (1935) - kommen bei ähnlicher Problemstellung nicht zu so relevanten Ergebnissen wie Gilbert und Hock. Vgl. überdies die Arbeiten von Fenske (1930) und Sieburg (1941). Die Dissertation von Günter Birtsch (1964) beschränkt sich auf eine Untersuchung des Nationalstaatsbegriffs, berücksichtigt dabei aber auch gerade die "Historik". Im vergangenen Jahr hat Jörn Rüsen (1968) eine Untersuchung über "Politisches Denken und Geschichtswissenschaft bei J. G. Droysen" veröffentlicht. Diese Arbeit akzentuiert unter anderem, wie in der Regel die anderen einschlägigen Arbeiten auch, die Probleme, die durch die in Droysen und seiner Geschichtstheorie sich darstellende Einheit von Politik und Geschichtswissenschaft aufgeworfen sind. 4 Die Dissertation von Berta Becker (1928) ist im wesentlichen eine Besprechung von fünf Hauptwerken Droysens unter geschichtstheoretischem Gesichtspunkt. Die Verfasserin behandelt Droysens "Geschichte Alexanders des Großen", die "Geschichte des Hellenismus", seine "Vorlesungen über die Freiheitskriege", "Das Leben des Feldmarschalls Grafen Yorck von Wartenburg" und die "Geschichte der preußischen Politik". 5 Hier sind unter anderem die folgenden Arbeiten zu nennen: Ernst Meister (1926), Werner Schultz (1942) und Fritz Wagner (1956). Jürgen Frank (1951) stellt in dem ersten, kürzeren Teil seiner Dissertation Droysens "Geschichtsauffassung" referierend dar; im zweiten, längeren Teil bemüht er sich um die "geistesgeschichtlichen Grundlagen" derselben bei Kant, Humboldt und Hege!. Das Hauptanliegen dieser Arbeit liegt im Versuch des Nachweises einer "innigen Verwandtschaft" (Frank 1951, 3) der Droysenschen Geschiehtsauffassung mit Kants Ethik. Die "ethisch-imperativische Grundhaltung" Droysens (Frank 1951, 194) und die "rigoristische Ethik" Kants (Frank 1951, 194- 95) scheinen diese Verwandtschaft zu verbürgen. Da die Droysen-Literatur bis Jürgen Frank diese Verwandtschaft nicht erfaßt hat, hat sie ihre Aufgabe "trotz beachtlicher Versuche verfehlt" (Frank 1951, 3). Mit Birtsch (1964, 10) wird man diese Kritik als "zweifellos überspitzt" zurückweisen und weiter feststellen dürfen, daß Frank "selbst den Einfluß Kants auf Droysen zu hoch in Rechnung" (Birtsch 1964, 10) stellt. Hegel, Humboldt und Droysen grenzt Frank gegeneinander ab, indem er Hege! einen "Panlogismus", Humboldt einen "Panästhetizismus" und Droysen einen "Panethizismus" (Frank 1951, 192) zuschreibt. 6 Die Dissertation von Hildegard Astholz (1933) untersucht in einem Kapitel (von insgesamt drei Kapiteln) unter anderem diesen Problemzusammenhang. Diese Arbeit ist nicht in erster Linie eine Untersuchung mit wissenschaftstheoretischer, methodologischer Fragestellung; sie gibt sich eher (in manchen Passagen) als eine philosophisch-existentialistische Besinnung auf das ,Wesen' der Geschichte. Die theologischen Probleme im Zusammenhang der Droysenschen Geschichtsphilosophie berücksichtigt auch insbesondere die Habilitationsschrift Peter Hünermanns (1967).
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Einleitung
Untersuchungen zu den genannten Problemzusammenhängen und Ansätze dazu liegen zum Teil vor - in den Anmerkungen Nr. 2 bis 6 ist auf sie hingewiesen worden; sie könnten kritisiert und, wenn möglich, weitergetrieben oder ganz neu in Angriff genommen werden. Das soll jedoch in der vorliegenden Arbeit nicht geschehen. Den Problemen der Droysenschen "Wissenschaftslehre der Geschichte" gilt als Problemen einer Wissenschaftslehre der Geschichte in dieser Arbeit Aufmerksamkeit und Interesse, sie werden dagegen nicht unter den Gesichtspunkten der unter a) bis e) genannten Fragestellungen behandelt. Auf der Grundlage und in der Kritik der einschlägigen Auffassungen Droysens sollen bestimmte Probleme aus der Theorie und Methodologie der Geschichtswissenschaft untersucht, von neuem zur Diskussion gestellt werden. Im Mittelpunkt des Interesses steht die wissenschaftstheoretische Fragestellung. So wie Friedrich Meinecke zur Charakterisierung des wissenschaftlichen Lebenswerkes Droysens drei große Konzeptionen unterschied (vgl. Anm. 2), so können zur Charakterisierung einer dieser großen Konzeptionen, und zwar derjenigen, um die sich die vorliegende Arbeit bemüht, also der "historistischen", wiederum drei Konzeptionen festgestellt werden, die ihrerseits grundlegend sind für diese, die "historistische", Konzeption, die in entscheidender Weise das Gesicht der Droysenschen "Historik" prägen. Es sind dies der sogenannte Erste Fundamentalsatz, der sogenannte Zweite Fundamentalsatz7 und drittens Droysens Theorie der "sittlichen Mächte". Der Erste und der Zweite Fundamentalsatz sind (im zweiten und dritten Hauptteil) Gegenstand der vorliegenden Untersuchungen, es ist dies jedoch nicht die Theorie der "sittlichen Mächte", die nur gelegentlich berührt wird. Sie gehört innerhalb der "Historik" in die "Systematik" als den einen Hauptteil der "Historik". Die "Systematik" umfaßt zum großen Teil Aussagen, die zu formulieren wir heute als Aufgabe einer Kulturtheorie, Anthropologie und auch Soziologie betrachten. Die "Methodik", neben der "Systematik" der andere Hauptteil der "Historik" 8 , umfaßt Droysens Beobachtungen und Überlegungen zur historiographischen Methode im engeren Sinne. Die "Methodik" stellt fest, analysiert und interpretiert die Methoden und Verfahrensweisen, 7 Droysen verwendet in beiden Fällen Kleinschreibung: "erster Fundamentalsatz" (Vorl. 20), "zweiter Fundamentalsatz" (Vorl. 22). In der vorliegenden Arbeit ist, da beide Termini als termini technici verwendet werden, überall Großschreibung durchgeführt. 8 Zum Problem einer zweiteiligen "Historik" ("Methodik" und "Systematik") einerseits und einer dreiteiligen "Historik" ("Methodik", "Systematik" und "Topik") andererseits s. S. 63.
A. Der Gegenstand der Untersuchungen
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die verschiedenen Prozeduren der Geschichtswissenschaft. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich im wesentlichen auf die "Methodik", Problemzusammenhänge aus der "Systematik" interessieren in der Regel nur insoweit, als sie Relevanz für die "Methodik" besitzen9• Droysens Ausführungen zu dem Problem von "Natur und Geschichte" (Nat. u. Gesch. 406 ff.; Vorl. 11 ff.) stehen gewissermaßen in der Mitte zwischen "Methodik" und "Systematik". Auf der Grundlage von bestimmten Annahmen, die Droysen als erwiesen erscheinen und die eine Aufteilung der Wirklichkeit in "Natur" und "Geschichte" ermöglichen, versucht Droysen, für beide Bereiche unterschiedliche Methoden der Erkenntnis abzuleiten. Den ziemlich weitreichenden inhaltlichen Annahmen Droysens über Art und Verlauf natürlicher und geschichtlicher Prozesse, so wie sie im Dualismus von "Natur und Geschichte" formuliert sind und die die dualistische Konzeption von "Natur und Geschichte" stützen, gilt nicht das unmittelbare Interesse der vorliegenden Untersuchungen, in deren Mittelpunkt vielmehr die praktische Tätigkeit des Historikers, seine Erkenntnisarbeit, die tatsächlichen Verfahren und Operationen der Geschichtswissenschaft stehen10 • 9 Die Dissertation von Bernd Ottnad (1952) behandelt im wesentlichen die der "Systematik" zugehörigen Fragen; sie ist in den Grundzügen eine Untersuchung der der "Historik" zugrunde liegenden Anthropologie. (U. a. enthält sie ein Kapitel über das in der Literatur sonst weniger beachtete Problem der "geschichtlichen Arbeit" bei Droysen.) 10 Hildegard Astholz (1933) und zwei neuere Arbeiten Dietrich Fischer (1966) und Peter Hünermann (1967) - haben in ihren Interpretationsbemühungen unter anderem gerade das Problem von "Natur und Geschichte" bei Droysen, auch die philosophischen Voraussetzungen und Konsequenzen dieses Problems, besonders berücksichtigt und gewürdigt. Auch aus diesem Grunde kann auf ein ausführliches neuerliches Eingehen auf diesen Problemzusammenhang hier verzichtet werden. Der menschliche Geist begreift nach Droysen (Grundr. 325) die "Welt der Erscheinungen" einerseits als "Natur" und andererseits als "Geschichte". Den Begriffen "Natur" und "Geschichte" ordnet Droysen die Begriffe "Raum" und "Zeit" zu (Vorl. 11, Grundr. 326, Nat. u. Gesch. 409 f.). Die Klassifikation der Erscheinungen in "Natur" und "Geschichte" ist nun aber keine "objektive", wie Droysen (Vorl. 11, Grundr. 326) sagt, sondern eine relative; "unsere Auffassung unterscheidet [die Erscheinungen] so, je nachdem [sie] sich mehr dem Raum, mehr der Zeit nach zu verhalten scheinen". (Grundr. 326) "Unsere Auffassung wird die Erscheinungen in die eine oder andere Reihe [d. i. in die der "Natur" oder die der "Geschichte"] stellen, je nachdem der Moment der Zeit oder des Raumes ihr als das Überwiegende erscheint." (Vorl. 11; Hervorhebungen von mir.) Eine genauere Bestimmung der Erscheinungen der "Natur" und der "Geschichte" nimmt Droysen vor, indem er sie in der folgenden Weise beschreibt. Das natürliche Geschehen ist ein Geschehen, das "sich im wesentlichen wiederholt" (Nat. u. Gesch. 411); es vollzieht sich "in gleichen sich wiederholenden Kreisen (Perioden)" (Nat. u. Gesch. 411). Im Anschluß an Aristoteles vertritt Droysen die These der Konstanz der Arten der Lebewesen (Vorl. 9). Das historische Geschehen dagegen beschreibt Droysen als ein rastloses Wachsen, das sich in der Wiederholung steigert und summiert (Grundr. 326). Droysen nimmt den aristotelischen Terminus "Entbo!nc; eic; a{n:o" auf und cha-
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Einleitung Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile.
(Eine Überleitung zum ersten Hauptteil bildet das bereits erwähnte zweite Kapitel der Einleitung, in dem die wichtigsten "Informationen zur Geschichte der Droysenschen ,Historik'" zusammengetragen sind.) rakterisiert mit diesem Begriff die Eigenart historischen Geschehens. Der historische Prozeß stellt "eine Kontinuität [dar], in der jedes Frühere sich in dem Späteren fortsetzt, ergänzt, erweitert (errtöoot~ El~ u1rt6), jedes Spätere sich als Ergebnis, Erfüllung, Steigerung des Früheren darstellt. Es ist nicht die Kontinuität eines in sich zurückkehrenden Kreises, einer sich wiederholenden Periode [wie dies nach Droysen beim natürlichen Geschehen der Fall ist], sondern die [Kontinuität] einer unendlichen Reihe, und zwar so, daß in jedem Neuen schon ein weiteres Neues keimt und sich herausarbeiten wird. Denn in jedem Neuen ist die ganze Reihe durchlebter Formen ideell summiert und jede der durchlebten Formen erscheint als ein Moment, als ein jeweiliger Ausdruck in der werdenden Summe." (Nat. u. Gesch. 411-12) Der historische Prozeß ist beschreibbar als eine "Folgereihe sich in sich selbst steigernder Formungen", als eine "sich in sich selbst steigernde Kontinuität" (Nat. u. Gesch. 412), die "mit jedem neuen und individuellen Erscheinen ein Neuesund ein Mehr schafft" (Vorl. 9). Die aristotelische Wendung "errtöoot~ El; u\n6" ist in der Droysen-Literatur unter anderem insbesondere von Hildegard Astholz (1933, 32 ff.), die auch die philologischen Zusammenhänge mit Aristoteles klärt, und von Dietrich Fischer (1966) und Peter Hünermann (1967) untersucht und interpretiert worden. Fischer (1966, 24) bemerkt, daß der Individualitätsgedanke bei Droysen sich letztlich auf den Begriff der "errtöoot~ El~ u1rr:6" gründet. Fischer unterscheidet "drei Individualitätskreise", in denen sich nach Droysen "der Gang der Geschichte als fortschreitende Bewegung der sittlichen Welt" (Fischer 1966, 24) vollzieht; es sind dies "[1.] die Einzelpersönlichkeit als individuelle Totalität, [2.] die kollektiven Phänomene, die weitgehend unter dem Begriff der sittlichen Mächte bzw. Gemeinsamkeiten [bei Droysen] zusammengefaßt werden und darüber hinaus [3.] die Kontinuität des geschichtlichen Gesamtverlaufs". (Fischer 1966, 24) Zweifellos sind mit dem Begriff "errtöoot~ El~ u{n:6" Merkmale historischer Prozesse zutreffend beschrieben. Verschiedene Behauptungen Droysens über die natürlichen, insbesondere biologischen Prozesse jedoch müssen heute teilweise als fragwürdig bezeichnet oder als irrig zurückgewiesen werden, so die von ihm, Droysen, vertretene (bereits erwähnte) These der Konstanz der Arten der Lebewesen. Oder: Wenn Droysen bei der Beschreibung biologischer Prozesse deren Ablauf in periodischen Wiederholungen oder Kreisläufen akzentuiert und so dieses Geschehen bestimmt (Vorl. 11, Grundr. 326, Nat. u. Gesch. 411-12; vgl. dazu aber auch Vorl. 152), so faßt die moderne Biologie das biologische Geschehen wesentlich als einen "Prozeß von einzigartigen Ereignissen" (Dobzhansky und Drescher 1962, 70) auf. Die Gattung oder Art wiederholt sich nicht nur in dem einzelnen Individuum, sondern sie wandelt sich auch in ihm. Droysens Satz: "Die Menschenwelt ist durch und durch geschichtlicher Natur, und das ist ihr spezifischer Unterschied von der natürlichen Welt" (Vorl. 16) kann, insoweit er Aussagen über die "natürliche Welt" macht, nicht aufrechterhalten werden. Auch die "natürliche Welt", so scheint es, ist "durch und durch geschichtlicher Natur". Wie aber oben schon bemerkt, ist es nicht der Problemzusammenhang "Natur und Geschichte" bei Droysen, der in der vorliegenden Arbeit untersucht werden soll; diese Arbeit bemüht sich vielmehr primär um Droysens Beiträge zur Lösung von Problemen der tatsächlichen historiographischen Erkenntnis. (Deshalb werden auch ausgesprochen spekulativ-geschichtsphilosophische
A. Der Gegenstand der Untersuchungen
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Der Problematik des Selbstverständnisses von Untersuchungen wie denen dieser Arbeit, in denen Art und Beschaffenheit der Operationen, Verfahrensweisen und Aussagen einer Wissenschaft reflektiert werden, ist das erste Kapitel des ersten Hauptteils (Kapitel I A.) gewidmet. Die Eigenart der einzelwissenschaftlic hen Fragestellung einerseits (also etwa der der Geschichtswissenscha ft) und die Eigenart der wissenschaftstheoretischen, methodologischen Fragestellung andererseits werden näher bestimmt. Es wird dabei ausgegangen von den einschlägigen Auffassungen und Überzeugungen Droysens. Erst das zweite Kapitel des ersten Hauptteils (Kapitel I B.) nimmt die eigentliche Erörterung von Problemen der historiographischen Erkenntnis auf. Es befaßt sich mit dem Droysenschen Begriff der "historischen Frage". Die Interpretation dieses Begriffs führt zu dem Verständnis der historiographischen Aussagen als Hypothesen, die immer nur bis auf weiteres gelten. Es zeigt sich hierüber hinaus, daß die Historiographie teilhat an bestimmten allgemeinen Formen des Erkenntnisfortschritts (,Versuch-Irrtum-Me thode'). Die im zweiten Hauptteil zur Darstellung kommenden Problemzusammenhänge bilden den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit. Es sind dies solche Probleme, die unter dem Namen des sogenannten Ersten Fundamentalsatzes zusammengefaßt werden können, die in diesem Satz impliziert sind, die sich unmittelbar oder mittelbar aus ihm ergeben. Der Erste Fundamentalsatz geht von der Feststellung aus, daß die historiographische Erkenntnisbemühun g eine Erkenntnisbemühun g um vergangene, also nicht mehr vorhandene Wirklichkeit ist. Es ist die ,Kunst' des Historikers, begründete Aussagen über solche nicht mehr vorhandene Wirklichkeit zu produzieren. Die Frage, wie das möglich ist, ist das Problem, das für die Untersuchungen des zweiten Hauptteils den gemeinsamen Hintergrund ausmacht. Die Geschichtswissenscha ft - so der Erste Fundamentalsatz - ermittelt ihre Aussagen (über vergangene Wirklichkeit) aus den historischen Materialien11, kein anderer ,Kontakt' mit der vergangenen Wirklichkeit steht ihr zur Verfügung. Damit ist das Problem des Verhältnisses von historischem Material, historiographischer Aussage und vergangener Wirklichkeit aufgeworfen (Kapitel II A.). Historisches Material Fragen, die Droysen gelegentlich berührt, nicht behandelt, denn sie haben für die hier die Aufmerksamkeit erheischenden Probleme einer Theorie der historiographischen Praxis so gut wie keine Bedeutung.) 11 Droysen spricht nicht wie allgemein üblich - von ,Quellen', sondern von ,historischen Materialien'. Mit ,Quellen' bezeichnet er eine Gruppe der historischen Materialien. S. dazu S. 55 ff. In dieser Arbeit wird der Droysensche Sprachgebrauch beibehalten.
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Einleitung
ist dasjenige, was dem Historiker vorliegt, was ihm gegeben ist; die historiegraphischen Aussagen sind die Ergebnisse der historiegraphischen Erkenntnisbemühung; und die vergangene Wirklichkeit ist die durch die historischen Materialien bezeugte, in den historiegraphischen Aussagen beschriebene Wirklichkeit. Das damit auch aufgeworfene Problem der sogenannten historischen Tatsachen wird in einem Nachtrag noch unter dem Gesichtspunkt des Zeichencharakters unseres Wissens - im Zusammenhang mit Bemerkungen zum Problem der Wahrnehmung in der historiegraphischen Erkenntnis - berührt. Die von Droysen vorgenommene Klassifikation der historischen Materialien wird in dem darauf folgenden Kapitel des zweiten Hauptteils (Kapitel II B.) besprochen. Die Operationen der Historiographie, die an den historischen Materialien ansetzen und deren Ergebnis schließlich die historiegraphischen Aussagen sind, sind mannigfacher Art. Droysen unterscheidet in der bisteriographischen Erkenntnisarbeit vier ,Phasen' oder Arbeitsgänge, nämlich Heuristik, Kritik, Interpretation und Topik; es werden in den vorliegenden Untersuchungen nur zwei der genannten vier Arbeitsgänge, und zwar Kritik und Interpretation, ausführlicher behandelt (Kapitel II C. 1 und II C. 2). Es geschieht dies in beiden Fällen jedoch nicht in einer umfassenden und erschöpfenden Weise, sondern jeweils nur so, daß der Darstellung eine bestimmte Fragestellung zugrunde gelegt wird. Im Falle der Kritik wird versucht, die, wie es scheint, sehr verschiedenartigen Operationen, die die Kritik ausführt, unter einem Gesichtspunkt darzustellen, von dem aus ein diesen Operationen Gemeinsames deutlich wird. Im Falle der Behandlung der Operationen der Interpretation wird insbesondere die Funktion von - wie Droysen (Vorl. 159) es nennt- "anderweitigem" Wissen, das genauer als Sachwissen oder theoretisches Wissen bezeichnet werden kann, beachtet. Es ist dies ein Problem, das in der methodologischen Literatur nicht immer die ihm gebührende Aufmerksamkeit erhielt. Sachwissen oder theoretisches Wissen geht in die historiographische Erkenntnis als eine Voraussetzung ein; es ist eine Bedingung der historiographischen Erkenntnis; unter diesem Gesichtspunkt wird es - auch im Zusammenhang mit anderen Bedingungen - in einem besonderen Kapitel (II D.) behandelt. Das Kapitel II E. schließt die Überlegungen des zweiten Hauptteilsdie Explikation des Ersten Fundamentalsatzes - ab. Aus dem Ersten Fundamentalsatz kann nicht nur, wie in diesem Kapitel gezeigt wird,
A. Der Gegenstand der Untersuchungen
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das Verfahren der Historiographie (im Sinne des Faches ,Geschichte') abgeleitet, entwickelt werden; die im Sinne des Ersten Fundamentalsatzes interpretierte ,historische Methode' findet nicht nur in der Historiographie ihre Anwendung, sondern auch in den übrigen historischen Wissenschaften; sie findet Anwendung in solchen Fällen, in denen Aussagen über vergangenes Geschehen gemacht werden. Der dritte Hauptteil behandelt den Zweiten Fundamentalsatz, Droysens Verstehenslehre. Nicht nur bei Droysen, sondern in der methodologischen Literatur ,geisteswissenschaftlicher' Provenienz überhaupt nimmt die VerstehensIehre eine bedeutende Stellung ein. Es gibt - außer bei Droysen mannigfache Entwürfe zur Verstehenslehre; die vorliegende Arbeit jedoch beschränkt sich auf Droysen. Eine Berücksichtigung der anderen Verstehensiehren hätte ein Eingehen auf diese in hinreichender Ausführlichkeit, stellenweise auch bis ins Detail, nötig gemacht; dadurch hätte sich der Umfang der Arbeit erheblich erweitert, und die Diskussion wäre von Droysen und seiner "Historik" verhältnismäßig weit weggeführt worden. Droysens Verstehenslehre, die in nicht unbedeutender Weise das Bild, das sich von der Droysenschen "Wissenschaftslehre der Geschichte" entwickelt hat, mitprägte, wird im allgemeinen als eine Vorläuferin derjenigen Verstehensiehren zitiert, die seit dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts die methodologischen Auseinandersetzungen um eine den sogenannten Geisteswissenschaften eigene Methode bestimmten. Es wird in der vorliegenden Arbeit der Versuch gemacht, die Droysensche Verstehenslehre einer Kritik zu unterwerfen. Im ersten Teil der Ausführungen (Kapitel III A. bis III C.) werden die bedeutendsten Äußerungen Droysens zur Verstehenslehre festgestellt. (Es ist klar, daß dies bereits eine Interpretation der VerstehensIehre bedeutet.) Die kritische Frage, die im Kapitel III D. gestellt wird, ist diese: Ist die Droysensche Verstehenslehre geeignet, die Eigenart und Besonderheit der historiographischen Methode zu begründen, ist in der Droysenschen Verstehenslehre das der historiographischen Methode Eigentümliche- und nur ihr Eigentümliche- beschrieben? Zum Schluß dieser Einleitung sei noch eine Bemerkung zu der benutzten nicht-droysenschen Literatur gemacht. Es wird in erster Linie Bezug genommen auf die von Historikern verfaßten Arbeiten zur Theorie und Methodologie der Geschichtswissenschaft; dabei wurde erstrebt, die Veröffentlichungen einschlägiger Arbeiten wenigstens deutscher Sprache seit Droysen möglichst vollständig zu berücksichtigen. 2 Spieler
Einleitung
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B. Informationen zur Geschichte der Droysenschen "Historik"
Eine erste Äußerung, die Interesse an geschichtstheoretischen Fragen dokumentiert, stammt von dem 23jährigen Droysen. In einem Brief an den Freund Wilhelm Arendt aus dem Jahre 1831 bezeichnete Droysen es als "wünschenswert", sich in der Korrespondenz mit dem Freunde "über das Wesen der .geschichtlichen Bewegungen und Prinzipien auszusprechen" (Briefw. I, 38). Aus dem Jahre 1836 datiert ein Brief Droysens an Friedrich Perthes, worin er unter anderem zu Problemen der zeitgenössischen Historiographie Stellung nahm und in dem er abschließend ein "Regulativ" für die Geschichtswissenschaft als erforderlich bezeichnete. " ... und Zeit ist es in der Tat, daß die geschichtlichen Studien ihr Regulativ finden ... " (Briefw. I, 105) Vage Andeutungen bestimmter Gedanken der späteren "Historik" finden sich bereits in einer Nachschrift einer Droysenschen Vorlesung über alte Geschichte aus dem Wintersemester 1839/40, dem letzten Semester, in dem Droysen vor seinem Umzug nach Kiel in Berlin lehrte. Die Nachschrift stammt von Jacob Burckhardt und ist auszugsweise bei Kaegi (1950) veröffentlicht. Im Jahre 1833 war Droysens "Geschichte Alexanders des Großen" erschienen, drei Jahre später- 1836- der erste Band der "Geschichte des Hellenismus", weitere sieben Jahre später - 1843 - der zweite Band der "Geschichte des Hellenismus". Dieser zweite Band enthielt in wenigen Exemplaren zusätzlich eine "Privatvorrede"12• Die "Privatvorrede" ist das erste bedeutendere Dokument in der Geschichte der Bemühungen Droysens um Fragen der Theorie der Geschichte. Es war Droysens Absicht, auf der Grundlage derselben "mit wissenschaftlichen Freunden" die "Frage der Historik zu erörtern" (Grundr. 319). Die geschichtstheoretischen Fragen, also z. B. die Fragen nach der ,Natur' der historiographischen Erkenntnis und ihrer Geltung, stellten sich Droysen im Zusammenhang seiner Arbeiten zur alten Geschichte. (Vgl. auch Erich Bayer 1953, 458.) In diesen Arbeiten war Droysen zu einer neuen Konzeption der Geschichte des Zeitraums gelangt, der seit ihm der hellenistische heißt; Droysen ist der Schöpfer des modernen Hellenismusbegriffs. Er verwarf bis dahin geltende Auffassungen und Vorstellungen und setzte an deren Stelle eine neue, zum Teil geradezu entgegengesetzte Konzeption. Ein solcher Vorgang, also der Prozeß der Etablierung neuer, nunmehr als gültig angesehener Auffassungen und die damit verbundene Ver12
Vgl. auch Briefw. I, 308 ; Gustav Droysen (1910, 212) und Felix Gilbert
(1931, 46 ff.).
B. Zur Geschichte der Droysenschen "Historik"
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werfung alter, bis dahin geltender Auffassungen und Vorstellungen, ist besonders gee1gnet, Fragen der Gültigkeit, der Wahrheit unserer Erkenntnis überhaupt, also methodologische Fragen, aufzuwerfen: Warum ziehen wir die neuen Auffassungen den alten vor? Was haben diese jenen voraus? Warum gelten die neuen Auffassungen nunmehr als wahr? Im Falle der Droysenschen Hellenismus-Konzeption: Welche Aussagen über den in Frage stehenden Zeitraum der alten Geschichte sind ,wahr' - und warum sind sie es, die bis Droysen gültigen oder die durch Droysen geschaffenen? Oder- wie rund 100 Jahre nach Droysen hinzugefügt werden kann- die heute als gültig angesehenen? Fragen dieser Art lenken die Aufmerksamkeit auf die Beschaffenheit eben dieser, der historiographischen Aussagen, ihren Geltungsanspruch, lenken die Aufmerksamkeit auch auf den Prozeß der Entstehung dieser Aussagen und das Eigentümliche des jeweils bewirkten Erkenntnisfortschritts. Und so formulierte Droysen in der "Privatvorrede": "Wie kommt die Geschichte zu ihren Fragen? Wie kann sie es wagen, den vorliegenden Überlieferungen ihre Lücken, ihre Fehler, die Schiefheit der Gesamtauffassung, die sich aus ihnen ergeben hat, bezeichnen zu wollen?" (Privatvorr. 370) Droysen verteidigte und rechtfertigte in der "Privatvorrede" seinen neuen Hellenismusbegriff13• Und schließlich beklagte er (Privatvorr. 377) das Nichtvorhandensein einer "Historik" als einer "Wissenschaftslehre der Geschichte", denn nur mit Hilfe einer solchen würde es gelingen, Probleme, die sich ihm aus dem Zusammenhang seiner HellenismusKonzeption ergaben, in befriedigender Weise zu erörternu. Es war 13 Er verteidigte ihn gegen Einwände, die er in der Hauptsache von zwei Seiten erwartete, nämlich der christlichen Orthodoxie (vgl. Privatvorr. 37173) und der klassischen Philologie seiner Zeit mit dem von ihr gepflegten Klassizitätsideal. "Ich muß besorgen, mit meiner Betrachtungsweise auch von den Philologen gescholten zu werden, ich meine jenen begeisterten, die nicht müde werden, das klassische Altertum als ein verlorenes Paradies alles Schönsten und Edelsten sich zu schmücken mit den lieblichsten Bildern der Phantasie, mit den utopischen Idealen voraussetzender Bewunderung.... Wie weit bin ich entfernt, die Herrlichkeit des klassischen Altertums zu verkennen; aber hier wie so oft paßt, was Lichtenberg von dem Tausendfuße sagt, der doch nur vierzehn Füße hat." (Privatvorr. 373) 14 Außer den spezifisch methodologischen Problemen, die er in der ersten Hälfte der "Privatvorrede" andeutend berührt, nennt Droysen als ein geschichtstheoretisches Problem, das durch seine Beschäftigung mit der hellenistischen Zeit für ihn an Bedeutung gewann, z. B. die Auffassung der Geschichte als einer Folge von Blüte- und Verfallszeiten von Kulturen. (Privatvorr. 378 ff.) Droysen weist diese Theorie zurück, da sie nicht geeignet ist, die mannigfaltige Wirklichkeit angemessen ,abzubilden'. "Die unendlich reichen Beziehungen, die in ihrem tausendfach geschürzten Gewebe erst das Leben der Geschichte darstellen, wie selten lassen sie sich auf so abstrakte Gesamtausdrücke [wie Blüte und Verfall] zurückführen." (Privatvorr. 379)
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Einleitung
Droysens Auffassung, daß die Historiographie und die Geschichtsphilosophie seiner Zeit und davor die Lösung der Probleme des Selbstverständnisses (der Selbstreflexion) der Geschichtswissenschaft in unzureichender Weise oder gar nicht in Angriff genommen hatten. "Es gibt wohl kein wissenschaftliches Gebiet, das so entfernt ist, theoretisch gerechtfertigt, umgrenzt und gegliedert zu sein, als die Geschichte." (Privatvorr. 377) Droysen beklagt, daß die Geschichtswissenschaft "ihren Lebenspunkt als Wissenschaft und damit ihr Gesetz, ihren Bereich, ihre Gliederung" (Privatvorr. 378) noch nicht gefunden hat; aus diesem lebendig empfundenen Mangel heraus erwuchs seine Forderung nach einer "Historik" 15 • Etwa neun Jahre nach der "Privatvorrede", am 13. Februar 1852, kündigte Droysen in einem Brief an Heinrich von Sybel an, im Sommersemester dieses Jahres eine Vorlesung über "Methodologie und Enzyklopädie der historischen Wissenschaft" zu lesen. Es ist allerdings (vorerst) bei dieser Ankündigung geblieben; Droysen hat seinen Plan in diesem Jahre nicht realisiert. Die "Privatvorrede" enthält Anzeichen dafür, daß es unter anderem das Erlebnis eigenen historiographischen Schaffens war, das Erlebnis eines selbst herbeigeführten Fortschritts in der historiographischen Erkenntnis {"Ich darf es mir nicht verbergen, daß ich zu einer Auffassung der hellenistischen Zeit gekommen bin, welche von der herkömmlichen vollkommen abweicht."- Privatvorr. 371), das den Schöpfer des neuen Hellenismusbegriffs zur Beschäftigung mit Fragen der Theorie der Geschichte, insbesondere ihrer Methodologie, hinführte. Der genannte Brief Droysens an Heinrich von Sybel vom 13. Februar 1852 macht uns mit anderen Interessen Droysens bekannt, aus denen seine Beschäftigung mit den Problemen der Theorie der Geschichte ebenfalls verständlich wird. Droysen machte Front 1gegen Positivismus und Materialismus. Und eine "allgemeine Wendung im europäischen Geistesleben zum Positivismus und Materialismus" (Meinecke 1930, 281) sah Droysen insbesondere auch seit dem Staatsstreich Napoleons 111. vom 2. Dezember 1851 kommen16• 15 Friedrich Meinecke (1930, 279) bemerkt, daß Droysen hier in der "Privatvorrede" (also im Jahre 1843) "zum ersten Male" eine "Historik" fordert. Unter Hinweis auf die bereits erwähnten (s. o. S. 18) Äußerungen Droysens aus den Jahren 1831 und 1836 (Briefw. I, 38 und Briefw. I, 105) stellte Frank (1951, 200) hierzu fest : "Droysens Bedürfnis nach einer ,Historik' erwuchs nicht erst 1843, wie Meinecke annimmt ... " (Vgl. auch Frank 1951, 2, Anm. 2.) Günter Birtsch (1964, 14) geht noch einmal im Sinne von Frank auf die Äußerung Meineckes ein. 16 In dem genannten Brief an Heinrich von Sybel heißt es: "Schon glaubt niemand mehr an die idealen Mächte, und die napoleonische Polytechnik nistet sich in die deutsche Wissenschaft ein. A d v o c e m. Um gegen diese hier überhandnehmende Richtung - unsre weisesten Männer in Jena lehren bereits, daß nur Mikroskop und Wage
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Gegen Positivismus und Materialismus - von ihm gehaßte Formen der Weltanschauung und des Weltverhaltens- verteidigte Droysen seinen Idealismus. Aus dem gleichen Jahre wie der Brief an Sybel, aus dem soeben (Anm. 16) zitiert wurde, datieren einige weitere Zeugnisse. Auch sie lassen das Maß der Leidenschaft erkennen, mit dem Droysen diesen Kampf führte 17• Im Zusammenhang der Erschütterungen des Krimkrieges erschien im Juni und in einer Fortsetzung im November des Jahres 1854 in der Zeitschrift "Minerva" von Droysen der Aufsatz: "Zur Charakteristik der europäischen Krisis". Felix Gilbert, der Verfasser der bereits erwähnten (s. o. Anm. 3) Abhandlung über "Johann Gustav Droysen und die preußisch-deutsche Frage", hat diesen Droysenschen Aufsatz aus dem Jahre 1854 in die "Politischen Schriften" Droysens, deren Herausgabe er, Gilbert, besorgte und die 1933 erschienen, aufgenommen18• Gilbert beurteilt in seinem Vorwort zu den "Politischen Schriften" (Seite VII) die Bedeutung der genannten Droysenschen Arbeit: Ihr zweiter Teil "ist eines der interessantesten und bedeutendsten Stücke Droysenscher Publizistik, das - über seinen politischen Inhalt Wissenschaft sei, daß ihre materialistische Methode die Methode überhaupt sei, wie einst die Hegeischen Schüler mit der Philosophie desselben gleichen taten, bis darüber die Philosophie in den Dreck geriet- um hiegegen anzukommen, werde ich im Sommer ,Methodologie und Enzyklopädie der historischen Wissenschaft' lesen." (Briefw. II, 54-55) 17 Nur zwölf Tage vor dem erwähnten Brief an Sybel schrieb Droysen an Theodor von Schön u. a.: "Der krasse Positivismus findet in dem Gang der deutschen Wissenschaften selbst leider große Unterstützung. Die glänzenden Resultate, welche die physikalische Methode, die der Wage und des Mikroskopes, die mit ihrem Recht materialistische, in den ihr zukommenden Bereichen gewonnen hat, versuchten mit größtem Erfolg die anderen Disziplinen. Ich bin erstaunt und betroffen zu sehen, daß hier in Mitteldeutschland [d. i. in Thüringen] diese induktive Methode bereits den höheren Schulunterricht, nicht bloß den der polytechnischen Anstalten, beherrscht, daß man das heranwachsende Geschlecht auch die alten Sprachen, womöglich auch die Geschichte, nach dieser Art ,stets selbst suchend und beobachtend' lernen läßt. Schon merkt man, wie daraus ein aberwitziges und altkluges, ein intellektuell überreiztes und an Willensstärke, Pflichtgefühl und höherer Geisteszucht verkommenes Geschlecht wird, voll Eitelkeit, Selbstsucht und Lüsternheit, ohne Strenge, ohne Idee und Ideal." (Briefw. II, 48) Etwa fünf Monate später, am 17. Juli 1852, schrieb Droysen an Max Dunkker: "Ich liege hier [d. i. in Jena] mit der verderblichsten aller Richtungen, der materialistisch-radikalen, welche uns Geschichte und Sittlichkeit und Philosophie und Gott selbst zu einer Dreck- und Stoffwechselwirtschaft, wie es derzeit die ganze aufgeblasene Naturbetrachtung ist, zu machen beflissen ist, auf der Mensur. Weh uns und unserm deutschen Wesen, wenn diese polytechnische Misere, an der Frankreich seit 1789 verdorrt und verfault, diese babylonische Mengerei von Rechnerei und Lüderlichkeit in das schon entartende Geschlecht noch tiefer einreißt!" (Briefw. II, 120) 18 Der erste Teil des genannten Droysenschen Aufsatzes ist überdies noch enthalten in: Johann Gustav Droysen: Kleine Schriften. Heft I. Zur Schleswig-Holsteinischen Frage. Berlin 1863.
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hinaus ein wichtiges Dokument für die Entstehung von Droysens Historik darstellt und zeigt, in wie enger Verbindung bei ihm politische Überzeugung mit Weltanschauung und wissenschaftlicher Haltung steht." Droysen skizzierte darin unter anderem die vergangene europäische Zivilisation des 18. Jahrhunderts. Es ist die ",gute alte Zeit"' (Krisis 322). Ihre Ordnungen sind durch revolutionäre Wandlungen in Staat, Politik, Wirtschaft und im Geistesleben verlorengegangen oder sind im Begriffe verlorenzugehen. "Es sind unermeßliche Wandelungen, die sich vor unsern Augen vollziehen." (Krisis 326) "Die Zerstörung des Alten" (Krisis 324) schreitet unaufhörlich voran; der Wandel gipfelt "in den Bereichen des geistigen Lebens in einer Weltanschauung, die, was man auch von ihr sagen mag, in einem großen Bereiche wissenschaftlicher Thätigkeiten und Anwendungen bereits die glänzendste Rechtfertigung gefunden hat und wieder von ihnen aus Methode und systematische Begründung empfängt". (Krisis 324) Gemeint sind (auch hier wieder) die Naturwissenschaften, deren Expansion im 19. Jahrhundert Droysen als Zeitgenosse erlebte. In der Auseinandersetzung mit der naturwissenschaftlichen Methode und der Weltanschauung, die jene trägt bzw. die von jener getragen wird, und in der Abwehr derselben entstand Droysens "Historik". Droysen anerkannte zwar die Leistungen der naturwissenschaftlichen Methode: "Es wäre lächerlich, sich nicht an den herrlichen Fortschritten der mathematisch-physikalischen Disciplinen zu erfreuen." (Krisis 324) Aber sein Idealismus verbot ihm die ungeteilte Freude daran. Er grenzte sich gegen diese Methode ab und sicherte sich einen Bereich, in dem diese nichts verloren und nichts zu suchen hatte19 • Die Haltung der Abwehr (gegen Positivismus und Materialismus) und die Haltung der Verteidigung (des Idealismus) haben in wichtigen Partien das Gesicht der "Historik" bestimmt, und wegen der so bezogenen Stellungnahme auf philosophisch-weltanschaulichem Gebiet ist ihr in der Literatur (von Gleichgesinnten) viel Lob zuteil .geworden. Es sind darüber vielleicht ihre Verdienste auf rein methodologischem Gebiet zu kurz gekommen. 19 "Schon dringt man auch in das innere seelische Leben des Menschen und der Menschheit ein. Man verfolgt in den Verletzungen dieser, jener Theile des Gehirns die unmittelbar folgenden Störungen bestimmter Seelenthätigkeiten, die sich somit als eben diesen Gehirntheilen zugehörig erweisen. Das Gedächtniß, die Fähigkeit des Combinirens, der Entschluß, die Willenskraft zeigt sich als Function bestimmter Stücke des Gehirns; schon ist die Muthmaßung geäußert, daß das Gewissen, ich glaube, die Zusammenwirkung gewisser Frictionen oder Ausschwitzungen sei." (Krisis 325) "Schon ist das Gottesbewußtsein als ein allerdings vorhandener, aber pathologischer Zustand der menschlichen Natur ... dargelegt worden." (Krisis 325)
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Knapp drei Jahre nach Veröffentlichung des "Krisis"-Aufsatzes von 1854 und etwa fünf Jahre nach dem erwähnten (s.o. S. 20) Brief an Heinrich von Sybel, in dem Droysen von einem - damals aber nicht realisierten - Plan sprach, über "Methodologie und Enzyklopädie der historischen Wissenschaft" zu lesen, kündigte er am 20. März 1857, diesmal in einem Brief an den Freund Wilhelm Arendt, wiederum die genannte Vorlesung für das kommende Sommersemester an. Und jetzt verwirklichte er auch seine Absicht. Er nahm damit die Lösung eines Problems in Angriff, von dessen Dringlichkeit er überzeugt war und das ihn nun schon eine längere Zeit beschäftigt hatte. Er schrieb in dem Brief an Arendt unter anderem: "Ich habe den tollkühnen Entschluß gefaßt, im nächsten Semester Enzyklopädie und Methodologie der historischen Wissenschaften zu lesen und damit, das ist mein Wunsch, eine Disziplin zu gründen, deren Analogon auf dem Gebiet der Philologie ganz außerordentlich folgenreich gewirkt hat. Mich beschäftigt der Gedanke schon lange, aber er ist sehr allmählich erst so weit zur Klarheit durchgearbeitet, daß ich einen ersten Versuch wagen zu können glaube." (Briefw. II, 442) Mit dem Hinweis auf eine analoge Vorlesung "auf dem Gebiet der Philologie" bezieht sich Droysen auf die Vorlesung seines Lehrers August Boeckh "Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften", nach der Droysen seine eigene Vorlesung benannte und die er als Student im Sommersemester 1827 bei Boeckh in Berlin gehört hatte2°. Im übrigen ist die vorliegende zitierte Stelle aufschlußreich für die Frage, was Droysen mit seinen geschichtstheoretischen Bemühungen zu erreichen suchte und was er wohl auch erreichen zu können glaubte: Es war sein "Wunsch, eine Disziplin zu gründen". Als dann das Semester im Sommer des Jahres 1857 angelaufen war, schrieb Droysen, wieder an Wilhelm Arendt: "Meine Vorlesung über ,Historik' ist in vollem Gang und macht mir große Mühe und größere Freude. Ich glaube, es ist eine richtige Aufgabe, die ich mir gestellt habe, ein ergiebiger Weg, den ich einschlage." (Briefw. II, 452) Droysen hat die Vorlesung, die Meinecke (1930, 286) als dessen "Lieblingskolleg" bezeichnet, in der Zeit von 1857 bis 1883, also in etwa 25 Jahren, insgesamt 18mal gehalten, und zwar (vgl. Rudolf Hübner 1960) in den Semestern 1857, 1858, 1859, 1859/60, 1860/61, 1862/63, 1863, 1863/64, 1865, 1868, 1870, 1872, 1875, 1876, 1878, 1879, 1881 und 1882/83. 20 In der "Beilage" der Arbeit von Astholz (1933, 209 f.) sind die Vorlesungen und Professoren genannt, die Droysen während seines Studiums in Berlin vom Sommersemester 1826 bis zum Wintersemester 1828-29 hörte.
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Als er sie zum zweitenmal las, im Sommersemester 1858, verteilte er an seine Hörer, um ihnen "einen Anhalt für den Vortrag zu geben" (Grundr. 319), einen "Grundriß der Historik", in dem das Schema der Vorlesung niedergelegt war. Droysen ließ diesen "Grundriß" zunächst zweimal, nämlich 1858 und 1862, als Manuskript bei Friedrich Frommann in Jena drucken. Eine Nachschrift der Vorlesung aus dem Sommer 1858 "von der Hand eines studentischen Hörers" (Pflaum 1907, 68) ist auszugsweise und zusammen mit bestimmten Varianten des "Grundrisses" im Anhang der Arbeit von Pflaum (1907, 68 ff.) veröffentlicht. Im Jahre 1863 erschien in der seit 1859 von Heinrich von Sybel herausgegebenen "Historischen Zeitschrift" unter dem Titel "Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft" Droysens berühmte Rezension von Henry Thomas Buckles "Geschichte der Zivilisation in England"21 • Friedrich Meinecke (1930, 284) versah die Rezension mit dem Attribut "klassisch". In ihr "wurde das wichtigste Ergebnis der Vorlesung, die Begründung und Abgrenzung einer besonderen Methode der Geschichtswissenschaften gegenüber den Herrschaftsansprüchen der Naturwissenschaften und des Positivismus, mit unvergeßlichen, an das Tiefste im Menschen rührenden Worten festgelegt. Wenn wir Droysens Historik epochemachend nannten, so war es wegen dieser aus der geistigen Not der Zeit geborenen Tat." (Meinecke 1930, 284) Im Jahre 1864 veröffentlichte Droysen in den "Forschungen zur Deutschen Geschichte" (Band 4) eine Arbeit mit dem Titel "Zur Quellencritik der deutschen Geschichte des siebzehnten Jahrhunderts"; sie enthält vor allem in den einleitenden Bemerkungen einige interessante Beobachtungen zur Methodologie, insbesondere zur Theorie der historischen Materialien. Droysen wurde am 4. Juli 1867 in die Königlich preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin aufgenommen; in der aus diesem Anlaß vor der Akademie gehaltenen Rede skizzierte er seinen wissenschaftlichen Werdegang22 und berührte dabei auch seine wissenschaftstheoretischenund methodologischen Interessen23 • Im Jahre 1868 erschien - nach den beiden Manuskriptdrucken der Jahre 1858 und 1862- die erste Auflage des "Grundrisses" zusammen mit drei Beilagen, und zwar 21 Henry Thomas Buckle: History of civilization in England. 2 Bde. London 1859-61. Deutsch: Leipzig 1860-61. 22 Zur Charakterisierung desselben sprach er von "den verschiedenen Anläufen und Abbrüchen", auf die er "zurückzublicken" habe. (Akad.-Rede 425) 23 Die Akademie-Rede wurde ein Jahr später (1868) in den "Monatsberichten" der Königlich preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin veröffentlicht.
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a) der bereits erwähnten Buckle-Rezension, b) einem Aufsatz mit dem Titel "Natur und Geschichte" und c) einem Aufsatz mit dem Titel "Kunst und Methode". Einige Gedanken des letztgenannten Aufsatzes finden sich bereits vgl. auch Grundr. 319- in der erwähnten Akademie-Antrittsrede. Die zweite Auflage des "Grundrisses" erschien 1875, die dritte im Jahre 1882. Eine vierte Auflage gab im Jahre 1925 Erich Rothacker heraus, und zwar als ersten Band der von ihm, Rothacker, edierten Reihe "Philosophie und Geisteswissenschaften. Neudrucke" 24 • Rothacker fügte in dieser Auflage dem "Grundriß" eine weitere Beilage hinzu, nämlich die oben erwähnte "Privatvorrede" Droysens zu dem zweiten Bande seiner "Geschichte des Hellenismus" aus dem Jahre 1843. Rothacker betitelte sie mit "Theologie der Geschichte" - wegen darin enthaltener bestimmter Ausführungen theologischer, geschichtsphilosophisch-Spekulativer Natur. Im Jahre 1880 schließlich veröffentlichte Droysen in dem ersten Band der "Jahresberichte der Geschichtswissenschaft" unter dem Titel "Philosophie der Geschichte" eine Rezension verschiedener Neuerscheinungen aus dem Gebiet der Theorie der Geschichte - eine Arbeit, die jeweils dort von besonderem Interesse ist (so etwa auf Seite 628), wo Droysen in geraffter Form seine eigenen Anschauungen vorträgt. Droysen hat sich bis ins Alter (er starb nicht ganz 76jährig am 19. Juni 1884) mit großem Interesse mit den Problemen der "Historik" beschäftigt. Dafür kann die letztgenannte Arbeit ("Philosophie der Geschichte") als Zeugnis gelten, aber auch ein Brief an Alfred Dove aus dem Jahre 1878. Als Droysen im Sommersemester dieses Jahres wieder einmal die Vorlesungen über "Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte" las, schrieb er an Dove, daß er dies "mit dem größten Vergnügen" tue, "weiterarbeitend" "an der interessanten Aufgabe, die ich mir darin gestellt habe" (Briefw. II, 930). Im Wintersemester 1882/83 hielt Droysen das Kolleg zum letztenmaL Einer seiner Hörer in diesem Semester war Friedrich Meinecke, der knapp 50 Jahre später über dieses Kolleg schrieb: "Ich hörte es und habe es nie vergessen in meinem Leben." (Meinecke 1930, 286) Die Worte, mit denen Meinecke seine Erinnerungen an dieses Kolleg beschrieb, sind in der Literatur häufig zitiert worden. Meinecke berichtete, "daß die abstrakten, komprimierten und uns zuerst ganz unverständ24 Johann Gustav Droysen: Grundriß der Historik. Halle a. S. 1925. (Philosophie und Geisteswissenschaften. Hrsg. von Erich Rothacker. Neudrucke. 1.)
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liehen Leitsätze des Grundrisses sich auflösten in einen Funkenregen lebendiger, sofort ergreifender Bekenntnisse und Erkenntnisse, in eine wundervoll anschauliche und lehrreiche Auswahl von Beispielen aus der ganzen Weltgeschichte und Forschungswelt. Statt der schweren Regentropfen des Grundrisses erhielt man schließlich, um sein Bild zu wiederholen 25 , einen herrlichen Regenbogen. Auf den Höhepunkten war er eine johanneische Erscheinung". (Meinecke 1930, 286) Aus dem Sommer des Jahres 1883 datiert die letzte in den Briefen erhaltene Äußerung Droysens über seine "Historik". In einem Brief an Eduard Bendemann vom 9. Juli 1883 erbot sich Droysen, ihm, Bendemann, den "Grundriß", von dem im Jahre 1882 die dritte Auflage erschienen war, zu schicken. "Ich möchte Dir gern einmal wieder etwas zu lesen schicken, was Dir sagte, welcherlei Dinge mir im Kopf umgehen; und dieser Grundriß ... hat allerlei der Art an sich. Ist allerdings etwas steifleinen und in knappsten Paragraphen zusammengedrängt, die Dich wahrscheinlich mehr abschrecken als anziehen werden, bringt aber einige Exkurse, die allerlei aus der höheren Betrachtung menschlicher Dinge in behaglicher Breite ausführen." (Briefw. II, 96364) Damit ist das Problem berührt, wie Droysen selber seine Bemühungen um eine "Historik" einschätzte. Daß es sein "Wunsch" war, mit der "Historik" "eine Disziplin zu gründen", ist bereits (s. o. S. 23) gesagt worden; und Droysen war der Auffassung, daß dies ihm auch, indem er an die Untersuchungen Wilhelm von Humboldts anknüpfte, gelungen war. In den einleitenden Vorbemerkungen zum "Grundriß", die vom Mai 1858 datieren, schrieb er: "Von diesen Gedanken aus [d. i. von bestimmten Gedanken Humboldts aus] schien es mir möglich, in die Frage unserer Wissenschaft [d. i. der Historiographie] tiefer einzudringen, ihr Verfahren und ihre Aufgabe zu begründen und aus ihrer erkannten Natur ihre Gestaltung im großen und ganzen zu entwickeln." (Grundr. 324) Noch in dem gleichen Jahre - 1858 - erwiderte er auf die von Wilhelm Arendt vorgebrachte Kritik am "Grundriß" ("zu abstrakt", "zu absolut" - Briefw. II, 576), Arendt möge "nicht vergessen", daß es sich um "einen dürren Grundriß für Vorlesungen" handele. "Das Verdienst desselben ist, die Frage unsrer Wissenschaft einmal scharf gefaßt und orientiert zu haben. Ich halte es für um so größer, da die historischen Schwätzer, Macaulay und Carlyle an der Spitze26 , diese große und ernste Disziplin in das schelmische Gekicher kitzlieber Dirnen aufzulösen im Begriff sind." (Briefw. II, 576) Vgl. Meinecke (1930, 277) und auch Briefw. li, 976. Zu Droysens Urteil über Macaulay vgl. auch Vorl. 174 und Kunst u. Meth. 418. 25
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Das Maß der Resonanz, das seine geschichtstheoretischen Bemühungen bei den Zeitgenossen fanden, befriedigte Droysen nicht. Dies geht aus einem Brief Droysens vom 9. Mai 1881 an seinen Sohn Gustav hervor. Im Zusammenhang eines Vergleichs des "Grundrisses" mit anderen zeitgenössischen Arbeiten zu geschichtstheoretischen Problemen bemerkte Droysen darin schließlich: "Vielleicht wird man, wenn ich tot bin, sehen, daß etwas in dem Grundriß steht." (Briefw. II, 943) Die Manuskripte, nach denen Droysen seine Vorlesungen über die Probleme der "Historik" las, sind im Nachlaß Droysens erhalten. Rudolf Hübner, ein Enkel Droysens, hat im Jahre 1937 dieselben unter dem Titel "Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte" herausgegeben2 7. Dieser Veröffentlichung der Droysenschen Vorlesungsmanuskripte sind beigefügt: a) der "Grundriß der Historik", und zwar nach der dritten, der letzten von Droysen selbst besorgten Auflage von 1882, mit einem Anmerkungsapparat, der alle Varianten der ersten Auflage von 1868, der zweiten Auflage von 1875 und der Manuskriptdrucke enthält; b) alle bis dahin (1937) dem "Grundriß" beigefügten Beilagen, also nicht nur die drei oben (S. 24 f.) erwähnten Beilagen, die bereits Droysen zusammen mit dem "Grundriß" veröffentlichte (also die beiden Aufsätze "Natur und Geschichte" und "Kunst und Methode" und die Buckle-Rezension), sondern auch die erstmals 1925 von Rothacker als "Theologie der Geschichte" aufgenommene "Privatvorrede" von 184328 ; c) eine weitere Beilage, die erwähnte Akademie-Antrittsrede aus dem Jahre 1867 29 ; d) die letzten Sätze einer von Friedrich Meinecke angefertigten Nachschrift der Droysenschen Vorlesungen über "Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte" aus dem Wintersemester 1882/8330• Die erwähnten, mit "Philosophie der Geschichte" betitelten Rezensionen Droysens aUJS dem Jahre 1880 sind leider nicht aufgenommen. 27 Zu weiteren Einzelheiten, insbesondere über Art, Zustand und Zahl der im Nachlaß vorhandenen Manuskripte Droysens, nach denen die oben genannte Veröffentlichung erfolgte, vgl. das Vorwort, das Hübner der Veröffentlichung voranstellte (Rudolf Hübner 1960). 28 Die "Privatvorrede" ist darüber hinaus veröffentlicht in: a) Johann Gustav Droysen: Kleine Schriften zur alten Geschichte. Bd. I. Hrsg. von Emil Hübner. Leipzig 1893; und in: b) Johann Gustav Droysen: Geschichte des Hellenismus. Bd. 111. Hrsg. von Erich Bayer. Tübingen 1953. 29 Siehe auch Anm. Nr. 23. Die Akademie-Rede ist außerdem noch im Droysenschen Briefwechsel veröffentlicht (Briefw. II, 888-891). so Vgl. Vorl. 315-16. Siehe dazu die obigen Bemerkungen auf S. 25 f. Die Sätze aus der Kollegnachschrift Meineckes sind auch noch bei Meinecke (1930, 287) veröffentlicht.
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Einleitung
Diese verdienstvolle Veröffentlichung Rudolf Hübners aus dem Jahre 1937, in der die bedeutendsten Arbeiten Droysens zur Theorie und Methodologie der Historiographie zusammengefaßt sind, hat inzwischen drei weitere, (bis auf berichtigte Druckfehler) unveränderte Auflagen erfahren. (2. Auflage 1943, 3. Auflage 1958 und 4. Auflage 1960.) Als die Droysenschen Vorlesungsmanuskripte so vor etwa 30 Jahren im Rahmen dieser Veröffentlichung zum ersten Mal erschienen, nannte sie Gerhard Ritter in seiner Rezension "die weitaus bedeutendste und fesselndste Arbeit zur Methodologie und Philosophie der Geschichte ..., die wir von einem deutschen ,praktischen' Historiker überhaupt besitzen ... " (Ritter 1937, 1554)
Teil I A. Bemerkungen zum Problem der sogenannten Selbstreflexion der Wissenschaften. Gegenstand und Erkenntnisziel wissenschaftstheoretischer Untersuchungen
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit einer Anzahl von Problemen einer "Wissenschaftslehre der Geschichte" (Privatvorr. 377). Nicht immer ist man in der Geschichte der Historiographie davon überzeugt gewesen, daß solche Untersuchungen und Überlegungen überhaupt sinnvoll sind. Im Gegenteil, wissenschaftstheoretische Untersuchungen waren und sind umstritten. "In den Kreisen derer, die in den historischen Studien ihren Beruf sehen", meint Droysen, "sind, wie es scheint, die Fragen nach dem Wesen ihrer Wissenschaft, nach ihrer Theorie und ihren Methoden, nach ihrem Verhältnis zu anderen Gebieten menschlicher Erkenntnis, wenig beliebt." (Philos. 626) Diese Feststellung ist knapp 90 Jahre alt. (Sie ist im Jahre 1880 veröffentlicht.) Auch noch heute stößt die methodologische - oder allgemeiner, die wissenschaftstheoretische Fragestellung auf mancherlei Formen der Abneigung und Ablehnung; noch immer wird wissenschaftstheoretischen Untersuchungen ein durchaus unterschiedliches, nur ein geteiltes Interesse entgegengebracht. Droysen allerdings war von dem guten Sinn solcher Fragestellungen überzeugt; es war seine Ansicht, daß gerade und insbesondere die Geschichtswissenschaft eine Wissenschaftslehre dringend benötige (s. o. S. 19 f.); noch etwa vier Monate vor seinem Tode bemerkte er in einem Brief an seinen Sohn Gustav, der auch Historiker war: "Keiner Disziplin tut mehr als unserer not, ihre Erkenntnistheorie zu untersuchen und festzustellen." (Briefw. II, 976) Droysen empfand sehr das Unzureichende und den Mangel der damals vorliegenden einschlägigen Arbeiten, das Nichtvorhandensein einer befriedigenden Theorie der Historiographie (Privatvorr. 378); auch um hier Abhilfe zu schaffen, unterzog er sich der Mühe, selber eine "Historik" zu erarbeiten. Nach Droysens Urteil hatte die damalige zeitgenössische Geschichtswissenschaft zwar als Einzelwissenschaft gute, ja "große und glänzende
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Teil I
Leistungen" (Akad.-Rede 428) vorzuweisen, und insofern hatte sie teil am Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis des Jahrhunderts. Gleichwohl war Droysen bereit, in der Konkurrenz der Natur- und Geisteswissenschaften den ersteren den "Preis" (Buckle-Rez. 386) zuzugestehen. Vor allem jedoch in den grundsätzlichen Fragen der eigenen Theorie, der Selbstreflexion und des Selbstverständnisses schienen die Naturwissenschaften zu ungleich gesicherteren Ergebnissen gelangt zu sein. (Buckle-Rez. 386-89) Droysen über die Geschichtswissenschaft seiner Zeit31 : "Man wird den historischen Studien nicht die Anerkennung versagen, daß auch sie an der geistigen Bewegung unseres Zeitalters einigen Anteil haben, daß sie tätig sind, Neues zu entdecken, das Überlieferte neu zu durchforschen, das Gefundene in angemessener Weise darzustellen. Aber wenn man sie nach ihrer wissenschaftlichen Rechtfertigung und ihrem Verhältnis zu den anderen Kreisen menschlicher Erkenntnis, wenn man sie nach der Begründung ihres Verfahrens, nach dem Zusammenhang ihrer Mittel und ihrer Aufgaben fragt, so sind sie bisher nicht in der Lage, genügend Auskunft zu geben. Wie ernst und tief die Einzelnen unserer ,Zunft' diese Fragen durchdacht haben mögen, unsere Wissenschaft hat ihre Theorie und ihr System noch nicht festgestellt, und vorläufig beruhigt man sich dabei, daß sie ja nicht bloß Wissenschaft, sondern auch Kunst sei ... " (Buckle-Rez. 389) 32 Wenige Zeilen weiter heißt es in der Buckle-Rezension: "Ein Werk wie das Buckles ist sehr geeignet, daran zu erinnern, in welchem Maße unklar, kontrovers, beliebigen Meinungen ausgesetzt die Fundamente unserer Wissenschaft sind." (Buckle-Rez. 389) Dieses letzte Zitat nun ist deswegen bemerkenswert, weil es ein Programm impliziert: die Grundlagen der Historiographie sind nicht notwendig "beliebigen Meinungen ausgesetzt"; auch bei Problemen der Theorie und Methodologie einer Wissenschaft, also Problemen, die sich (heute wie damals) nur eines geringen Maßes an intersubjektivem Einverständnis hinsichtlich der Art ihrer Lösung und Bewältigung er31 Das folgende Zitat aus der Buckle-Rezension von 1863 ist offensichtlich eine überarbeitung der einleitenden Bemerkungen zum "Grundriß" aus dem Jahre 1858 (Grundr. 321). 32 Eine ähnliche Feststellung traf z. B. Herman Hefele (1917, 3). Vgl. auch noch die Bemerkung Droysens aus seiner Akademie-Antrittsrede: " ... das Wesen unserer Disziplin ist nicht klar, nicht unbestritten, nicht seiner selbst gewiß; es fehlt in dem heutigen Stande des wissenschaftlichen Gesamtlebens nicht an Richtungen, um nicht zu sagen Ergebnissen, welche die moralischen Wissenschaften insgemein und namentlich die Historie daran mahnen können, die Festigkeit ihres Unterbaues und die Haltbarkeit ihres Zimmerwerkes zu untersuchen." (Akad.-Rede 428)
A. Einzelwissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Fragestellung 31
freuen, ist grundsätzlich ein Erkenntnisfortschritt möglich, auch hier wird man - bei genügendem Arbeitsaufwand - letzten Endes zu Ergebnissen, Überzeugungen gelangen, die die Mehrzahl der am Erkenntnisprozeß Beteiligten teilen wird oder alle teilen werden. Droysen setzte diese Überzeugung in die Tat um, indem er seinen Entwurf einer Wissenschaftslehre der Geschichtswissenschaft vorlegte. Es soll im folgenden im Anschluß an Droysen und auch andere Autoren - allerdings in sehr knapper Form - die Eigenart wissenschaftstheoretischer, methodologischer Fragestellungen näher bestimmt werden, in der Absicht, damit Gründe beizubringen, die eine Beschäftigung mit wissenschaftstheoretischen, methodologischen Fragen gerechtfertigt erscheinen lassen. Die methodologische Fragestellung ist grundsätzlich verschieden von der einzelwissenschaftlichen Fragestellung. Der Gegenstand der methodologischen Erkenntnisbemühung ist nicht der Objektbereich der einzelwissenschaftlichen Erkenntnis, im Falle der Historiographie also nicht der Objektbereich der Historiographie; vielmehr macht sich die Methodologie die Einzelwissenschaften selber, also deren Verfahren, Methoden, Aussagen und Theorien zum Gegenstand der Erkenntnis. Die historiographische Methodologie treibt nicht unser historiographisches Wissen voran, sie vermehrt, verbessert nicht unser Wissen etwa über die Französische Revolution, sondern sie vermehrt, verbessert unser Wissen über dieses Wissen (über die Französische Revolution), sie treibt unser Wissen über die Historiographie voran, deren Methoden, die logische Struktur ihrer Ergebnisse und Aussagen, den historiographischen Erkenntnisprozeß usw. 33. 33 Auf diesen Unterschied zwischen Einzelwissenschaft und Methodologie, Geschichtswissenschaft und geschichtswissenschaftlieber Methodologie weist z. B. auch Eduard Meyer hin: "Wenn der Historiker versucht, über diese Fragen [das sind die Fragen nach dem "eigentlichen Wesen" der Geschichtswissenschaft, nach "ihrer Stellung im Kreise des gesamten Wissens des Menschen und ihrem Verhältnis zu den übrigen Wissenschaften"] Klarheit zu gewinnen, so überschreitet er damit freilich die Grenzen seines Arbeitsgebiets so gut wie der Künstler, wenn er sich mit den Fragen nach Wesen und Aufgaben der Kunst und den Ursachen ihrer Wirkung beschäftigt." (Ed. Meyer 1910 a, 5) Ed. Meyer betrachtet die genannten Fragen als in das Gebiet der Philosophie gehörig. Diese strikte Unterscheidung zwischen einzelwissenschaftlicher Fragestellung und "philosophischer" (d. i. wissenschaftstheoretisc.l-ter bzw. methodologischer) Fragestellung - Ed. Meyer (1910 a, 5) spricht von zwei "wesentlich verschiedenen Arbeitsgebieten", denen die genannten Fragestellungen angehören - führt Ed. Meyer (1910 a, 5) zu der wohl zutreffenden Bemerkung, daß der einzelne Historiker auf dem Gebiete der "Philosophie" (Wissenschaftstheorie bzw. Methodologie) "in die Irre gehen und darum doch ein tüchtiger Historiker bleiben" kann, "ebenso wie umgekehrt die trefflichste theoretische Erörterung noch keine Gewähr dafür gibt, daß ihr Urheber als Historiker etwas taugt." Ed. Meyer (1910 a, 5) fährt fort: "Auch das mag vorkommen, daß die Theorie, die er aufstellt, mit seiner eigenen Praxis keines-
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Unbeschadet des verschiedenen Erkenntnisgegenstandes ist jedoch die Methodologie im gleichen Sinne, wie es auch die Einzelwissenschaften sind, eine empirische Wissenschaft. Die Behauptungen, die die Methodologie über die Wirklichkeit der einzelwissenschaftlichen Erkenntnis formuliert, sind nachprüfbar und korrigierbar, sie besitzen den gleichen hypothetischen Charakter (dazu s. Kapitel I B.) wie die Behauptungen, die die Einzelwissenschaften über die ihnen, den Einzelwissenschaften, eigenen Gegenstände der Erkenntnis formulieren. Aussagen über die Methode der Geschichtswissenschaft sind, so Droysen, "aus dem Wesen der historischen Empirie ... zu erschließen" (Akad.-Rede 428), d. h. sie ergeben sich in der Interpretation dessen, was der Historiker tut, in der Interpretation der historiographischen Erkenntnisarbeit, in der Interpretation der historiographischen Praxis. Herman Hefele (1917, 1) spricht von der historiographischen Methodologie als von der "kritischen Analyse der praktischen historischen Methode", das aber heißt: Analyse der tatsächlich praktizierten historischen Methode. In der Auseinandersetzung unter anderem mit den Auffassungen Karl Lamprechts schrieb Eduard Meyer (1910 a, 29): Statt der Geschichtswissenschaft "Begriffe unterzuschieben und Aufgaben zu stellen, die ihr absolut fremd sind, 's tatt eine in der wirklichen Welt nicht existierende Geschichte zu erfinden"- und genau das sei aber, wie Eduard Meyer richtig bemerkt, die Konsequenz der Auffassungen zum Beispiel Karl Lamprechts - statt dessen "gilt es vielmehr, die existierende [Geschichtswissenschaft] zu nehmen, wie sie ist, und ihr Wesen zu analysieren." Diese Formulierung Meyers macht den ,empirischen' Charakter methodologischer Untersuchungen hinreichend deutlich. Die Lamprechtsche Forderung, die Geschichtswissenschaft zu ,verwissenschaftlichen', ist übereilt; es gilt zunächst einmal, ihre Verfahren und Methoden, die logische Struktur ihrer Aussagen überhaupt erst festzustellen und so (zunächst) nicht die Historiographie, wohl aber die Meinungen über sie, über ihre Verfahren usw. zu ,verwissenschaftlichen'. Erstrebt ist -wie bei aller Erkenntnis- eine zutreffende ,Beschreibung' des Erkenntnisgegenstandes, im Falle der Methodologie eine zutreffende ,Beschr eibung' der Verfahren, Methoden, der logischen Struktur der Ergebnisse der Einzelwissenschaften. wegs übereinstimmt, daß er sich von seinem eigenen Tun als Historiker ein falsches theoretisches Bild entworfen hat." Droysen (Akad.-Rede 428) bemerkt: "Es darf zugestanden werden, daß das Interesse jener Fragen [das sind die der Theorie und Methodologie der Historiographie] zunächst auf einem anderen Felde als dem des arbeitenden Historikers liegt."
A. Einzelwissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Fragestellung 33
Droysen bestimmt das Erkenntnisziel einer historiographischen Methodolngie, einer "Wissenschaftslehre der Geschichte" mit den folgenden Worten: "Alle solche Methoden, die in dem Bereich der historischen Studien in Anwendung kommen, bewegen sich innerhalb derselben Peripherie, haben denselben bestimmenden Mittelpunkt. Sie in ihren gemeinsamen Gedanken zusammenzufassen, ihr System, ihre Theorie zu entwickeln und so, nicht die Gesetze der Geschichte, wohl aber die Gesetze des historischen Forschens und Wissens festzustellen, das ist die Aufgabe der Historik." (Kunst u. Meth. 424) 34 Was das Problem der sogenannten "Gesetze der Geschichte" angeht, auf das Droysen in diesem Zusammenhang anspielt, kann an dieser Stelle auf seine Erörterung verzichtet werden. Aus den Ausführungen der vorliegenden Arbeit (s. u. Kapitel li C. bis II E.) ergibt sich unter anderem, daß die Forderung, die Historiographie habe "Gesetze der Geschichte" festzustellen, auf einer Verkennung von Aufgabe, Verfahren, Leistung und Erkennntnisziel der Geschichtswissenschaft beruht. Wie die Historiographie, so stellt auch die Theorie der Historiographie nicht "Gesetze der Geschichte" auf, wie Droysen in dem obigen Zitat bemerkt; dagegen bezeichnet er es als "Aufgabe der Historik" (als Erkenntnisziel einer "Wissenschaftslehre der Geschichte"), "Gesetze des historischen Forschens und Wissens festzustellen", also Theorien der historiographischen Verfahrensweise zu formulieren, den historiographischen Erkenntnisprozeß zu ,beschreiben', die Logik historiographischen Wissens zu erarbeiten. Die ,Frucht' .so betriebener Methodologie kann eine Verbesserung der bisherigen Methoden sein (-unter Umständen mag sie vielleicht sogar ,Geburtshilfe' für neue Wissenschaften bedeuten); in der Regel besteht sie aber ,nur' in dem Sich-Klar-Werden über das Leistungsvermögen der bestehenden Methoden, in der Erkenntnis, was diese leisten und was sie nicht leisten. 3' In diesem Zitat handelt es sich offensichtlich um einen jener Gedanken, die Droysen meint, als er im Vorwort der ersten Auflage des "Grundrisses" darauf hinweist, daß einige "Bemerkungen" aus dem Aufsatz "Kunst und Methode", den er - neben anderem- dem "Grundriß" als Beilage anfügt, bereits anderweitig "eine Stelle gefunden" (Grundr. 319) haben, nämlich in seiner Akademie-Antrittsrede. In der letzteren findet sich die folgende Fassung des in Rede stehenden Gedankens: "Es gilt", die Methoden der Historiographie "zusammenzufassen, ihr System, ihre Theorie zu entwickeln und so nicht die Gesetze der Geschichte, wohl aber die Gesetze des historischen Erkennens und Wissens festzustellen." (Akad.-Rede 428) Aus dem Umstand, daß sich Droysen hier bewußt wiederholte, wird man schließen dürfen, daß er den wiederholten Gedanken eine besondere Bedeutung beimaß.
3 Spiel e r
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Die logische, methodologische Fragestellung ist nun aber nicht die einzig mögliche, mit der an die Einzelwissenschaften herangetreten werden kann. Die Wissenschaften sind nicht nur ein logisches Phänomen, sondern z. B. auch ein soziales Phänomen. Es gibt eine ganze Reihe sehr interessanter Fragestellungen, möglicher Aufgaben einer ,Selbstreflexion' der Wissenschaften, von denen die Methodologie immer nur eine ist. Die Analyse derjenigen Prozesse, die in den jeweiligen Wissenschaften zu den jeweiligen Ergebnissen führen, kann sowohl unter einem logischen, methodologischen Gesichtspunkt als auch unter einem psychologischen oder auch soziologischen Gesichtspunkt geschehen. Die logische, methodologische Fragestellung ist die Frage nach der Begründung derWahrheit, demGeltungsanspruch der wissenschaftlichen, in unserem Fall also der historiographischen Aussagen, ist die Frage nach der logischen Struktur dieser Aussagen. Unter den erwähnten psychologischen und soziologischen Fragestellungen werden die psychischen und sozialen Bedingungen der Erkenntnisprozesse untersucht. Hierhin gehören die interessanten Fragestellungen der modernen Kreativitätsforschung (vgl. Dreitzel u. Wilhelm 1966); auch die Verstehenslehre, insofern sie z. B. das Phänomen der Intuition beschreibt, hat hier den ihr eigentlich zukommenden Platz. Es gibt gesellschaftliche Bedingungen, die bestimmte wissenschaftliche Fragestellungen begünstigen, hemmen, überhaupt erst ermöglichen oder völlig verhindern. Diese können untersucht werden. Es können die (sozialen) Organisationsformen etwa der historiographischen Forschung analysiert, es kann deren Geschichte geschrieben werden. (So zum Beispiel Hermann Heimpel1959, auch P. Lehmann 195635.) Alle diese möglichen Fragestellungen beruhen auf dem Gedanken: die Wissenschaften sind Teil der Wirklichkeit, die sie beschreiben; sie sind selber eine Wirklichkeit, die ,beschrieben', untersucht werden kann. Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen logischen Gesichtspunkten einerseits und psychologischen und soziologischen Gesichtspunkten andererseits in der Frage der Erkenntnis betont insbesondere Hans Albert in seinen Arbeiten. Im Anschluß an Hans Reichenbach (1938, 6 f.), der einen "context of discovery" unterschied von einem ,.context of justification", spricht Albert (z. B. 1965, 129) von dem Entstehungszu35 Man mag auch noch Untersuchungen, die die Verbreitung und Wirkung wissenschaftlicher, in unserem Fall also historiographischer Erkenntnisse innerhalb Sozialstruktur und Sozialprozeß einer Gesellschaft zum Gegenstand haben (vgl. Albert 1962, 38), dem Aufgabenbereich von Bemühungen um ,Selbstreflexion' der Wissenschaften zurechnen.
B. Die "historische Frage"
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sammenhang oder "Entdeckungszu sammenhang" (psychologische, soziologische Fragestellung) und dem "Begründungsz usammenhang" (logische, methodologisch e Fragestellung) wissenschaftlich er Theorien und Aussagen. B. Die "historische Frage" (Droysen). Hypothesenbildu ng in der Geschichtswissen schaft
Eine mögliche Fragestellung, in der die Geschichtswisse nschaft ,sich selbst reflektiert', ist die nach den (allgemeinen) Formen, den ,Mechanismen' des Erkenntnisforts chritts, der Konzeption neuen Wissens in dieser Wissenschaft. Unter dem Begriff der "historischen Frage" (Vorl. 31 ff., Grundr. 332) hat Droysen seine diesbezüglichen Beobachtungen und Überlegungen zusammengefaß t. Ausgangspunkt eines jeden Erkenntnisproze sses ist das gegebene Bewußtsein, der gegebene ,Bewußtseinszu stand' desjenigen, der sich dieser Prozedur unterzieht, also die Summe der Auffassungen, die der Betreffende über die Wirklichkeit, auf die der jeweilige Erkenntnisprozeß zielt, am Anfang des Prozesses hat; diese Auffassungen mögen zutreffend, nicht zutreffend oder auch ,halb' zutreffend sein36• Droysen beschreibt das bereits vorhandene Wissen als ein historisch vermitteltes, entstanden im Horizont der jeweiligen Kultur, unter den Bedingungen des jeweiligen Schicksals des einzelnen, seiner Geschichte. (Vor!. 15; Vorl.-Nachschr. 72) Das Bewußtsein als der "Inhalt unseres Ich" ist historisch "vermittelt", "geworden", ist ein "historisches Resultat" (Grundnr. 332). Es ist Voraussetzung und Bedingung künftigen, neuen Wissens. Am Anfang eines Forschungs- oder Denkprozesses nun, der das bisherige Wissen bestätigt, modifiziert oder durch eine völlig neue Konzeption ersetzt, der von einem Problem zu dessen (unter Umständen nur vorläufiger) Lösung führt, steht der Zweifel an dem bisher FürWahr-Gehalten en. Charles S. Peirce hat die Bedeutung ,echten', tatsächlichen, lebendigen Zweifels für den Erkenntnisforts chritt mit den folgenden Worten (in denen er sich zugleich unter anderem gegen Descartes wendet) beschrieben: "Same philosophers have imagined that to start an inquiry it was only necessary to utter a question whether orally 36 Vgl. auch Charles Sanders Peirce (CP 5.416): " ... there is but one state of mind from which you can ,set out', namely, the very state of mind in which you actually find yourself at the time you do ,set out' - a state in which you are laden with an immense mass of cognition already formed, of which you cannot divest yourself if you would; and who knows whether, if you could, you would not have made all knowledge impossible to yourself?"
3•
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or by setting it down upon paper .. . But the mere putting of a proposition into the interrogative form does not stimulate the mind to any struggle after belief. There must be a real and living doubt, and without this all discussion is idle." (CP 5.376) "Empfangenes, Überkommenes, Angewöhntes" (Vorl. 31) wird in dem Zweifel, den Peirce als "living doubt" bezeichnet, radikal fraglich, wird der Kritik unterworfen und schließlich abgeändert, beibehalten oder verworfen; zuverlässigeres, gesicherteres Wissen wird entwickelt37 • In dem lebendigen Zusammenhang, in dem das bisherige Wissen im Zweifel fraglich wird, deuten sich Alternativen an, noch unerwiesene, noch ungeprüfte Modifizierungen des bisherigen Wissens. Im Zustande des Zweifels finden wir neue Vorstellungen über die in Zweifel stehende Wirklichkeit, neue Auffassungen, deren Verläßlichkeit aber noch erprobt werden muß, •sich erst noch bewähren muß. Der Umfang der Neuerung, den diese neuen Auffassungen herbeiführen und wodurch sie über das bisherige Wissen hinausgehen und dieses überwinden, ist von Fall zu Fall verschieden. Es kann sich um eine umfassende neue Gesamtkonzeption handeln, eine neuartige Lösung eines Teilproblems, eine nur geringfügige Korrektur in einem überdies nicht bedeutenden Felde des Wissens. Es "erzeugt sich uns", schreibt Droysen, "eine neue Vorstellung des Ganzen, eines Teiles, eines einzelnen Momentes". (Grundr. 332; so auch in Vorl. 32.) Den Prozeß des Entstehens der neuen Auffassungen charakterisiert Droysen in einer doppelten Weise. 1. Die neuen Auffassungen setzen das bisherige Wissen - wie oben bereits angedeutet- jeweils als gegeben voraus, ja, das bisherige Wissen ist der ,Boden', auf dem sie ,wachsen'. (Vorl. 31-32, Grundr. 332) 37 Droysen betont die den Zweifelnden emanzipierende Funktion des Zweifels; ein nie angezweifeltes Wissen ist ein Wissen, das nie eigentlich erworben, sondern (nur) übernommen wurde, ist ein Wissen, dessen Evidenz nicht in eigener Überlegung und Denkanstrengung erlebt wurde. "Was wir hatten und glaubten, hatten wir nur hingenommen und überkommen, hatten es nur gleichsam ex autoritate, nicht mit der Gewißheit eines selbst Erworbenen, Begründeten, Gerechtfertigten." (VorI. 32) Interessant ist auch die folgende Beobachtung Droysens: Es kann zwar grundsätzlich alles menschliche Wissen in Zweifel gestellt werden - aber "die meisten [so Droysen in Vor!. 32] begnügen sich, ... nur ... die ihnen zunächst liegenden, sie persönlich angehenden Verhältnisse" der aus dem Zweifel geborenen Kritik zu unterwerfen, nicht auch "die großen und allgemeinen Gestartungen der Menschenwelt"; was die letzteren angeht, leben sie "in dem guten Glauben" weiter, daß sie so sind, "wie sie sie gelernt und sie zu sehen sich gewöhnt haben. Und auch die, deren wissenschaftlicher oder praktischer Lebensberuf sie nach anderen Richtungen führt, der Jurist, der Naturforscher, der Kaufmann, sie begnügen sich in betreff ihrer Vorstellungen von der Vergangenheit mit dem, was ihnen die Schule als zur allgemeinen Bildung gehörig zugeführt hat." (Vor!. 32)
B. Die "historische Frage"
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(Und das bisherige Wissen seinerseits ist grundsätzlich nicht anders entstanden als die hier in Rede stehenden neuen Auffassungen. Es besteht die Kontinuität der historischen Vermittlung38.) 2. Wenn auch das neue Wissen also nicht von ungefähr, nicht zufällig entsteht, sondern Voraussetzungen hat, so entsteht es doch andererseits in der Intuition. Droysen beschreibt den Akt der Intuition in mannigfachen Formulierungen. Die neue Auffassung "entsteht uns unwillkürlich, sie ist wie faktisch da" (Grundr. 332, vgl. auch daselbst Anm. 9); sie "erzeugt sich uns" (Grundr. 332, Vorl. 32); "es ist in meinem Geist gleichsam ein Akt der Empfängnis geschehen". (Vorl. 33) Im Manuskriptdruck des "Grundrisses" aus dem Jahre 1858 schließlich findet sich außer dem Terminus, mit dem Droysen die neu entstehenden Auffassungen auch bezeichnet ("historische Frage"), der Begriff der Intuition selbst: "Der Anfang des Forschens ist jene Intuition, das Empfängnis der ,historischen Frage'." (Grundr. 332, Anm. 11) Die "historische Frage" ist die in dem Bewußtseinszustand des Zweifels geborene neue Auffassung oder Hypothese, deren Geltung durch und durch problematisch, fraglich ist. Sie stellt für den Forscher, den Erkennenden gewissermaßen eine Herausforderung dar, nämlich ihre Geltung an den Tatsachen zu erproben. Sie trifft eine Aussage, die noch nicht bestätigt, eher bloß vermutet ist; die in der "historischen Frage" formulierte neue Auffassung besitzt vorläufigen Charakter und wird gleichsam nur experimentierend, versuchsweise für wahr gehalten. Es ist eine historische Frage, weil die Historiographie, und nicht eine andere Wissenschaft, sie formuliert. Die "historische Frage", die historiographische Hypothese, entsteht in der Intuition. Es ist nun festzustellen, daß Droysen nicht nur im Zusammenhang seiner Erörterungen der Entstehung der "historischen Frage" von "In38 Droysen interpretiert die Entstehung der neuen Auffassungen im Medium des Zweifels auch als eine "Reaktion" des Ich (Vorl. 32), nämlich als eine Reaktion des Ich gegen die von dem Ich bis dahin unkritisch übernommenen herkömmlichen Auffassungen und Vorstellungen. Droysen betont die Leistung des Ich in dieser Erkenntnisarbeit, die ja in der Regel von dem Ich auch als seine eigene Leistung erlebt wird. Die neuen Auffassungen sind Schöpfungen des Ich. Die in dem Zweifel geborene "Frage" (Vorl. 33), die bereits neue Lösungen andeutet, die in die Richtung einer neuen Auffassung weist, ist "meine Frage"; sie "enthält schon mehr, als ich gelernt habe" (Vorl. 33). "Es ist in dieser Frage schon etwas von meinem Eigensten enthalten, es ist schon meine Auffassung von diesen Verhältnissen, meine Vorstellung von diesen Personen, mein Verständnis von diesen Vorgängen da ... " (Vorl. 33; hervorgehoben von Droysen.)
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tuition" und "Akt der Empfängnis" redet (Grundr. 332, Anm. 11 und Vorl. 33). Er gebraucht die gleichen Wörter im Zusammenhang seiner Erörterungen, die er seiner Verstehenslehre widmet. "Der Akt des Verständnisses" ist "wie eine unmittelbare Intuition, wie ein schöpferischer Akt, wie ein Lichtfunken zwischen zwei elektrophoren Körpern, wie ein Akt der Empfängnis" (Vorl. 26)39. Es ergibt sich: der intuitive Akt der ,Geburt' einer "historischen Frage", einer historiographischen Hypothese, ist ein intuitiver "Akt des Verständnisses". Damit ist die Verstehenslehre berührt. Ich gehe hier im Zusammenhang der Interpretation des Droysenschen Begriffs der "historischen Frage" nicht näher auf Droysens Verstehenslehre ein, sondern behandle dieselbe ausführlicher und im Zusammenhang im dritten Hauptteil dieser Arbeit40 • Das weitere Schicksal der in einem intuitiven "Akt des Verständnisses" entstandenen historiographischen Hypothese beschreibt Droysen in der folgenden metaphern-gesättigten Sprache; er nimmt dabei überdies in dem uns bereits bekannten Bilde auf den Prozeß ihrer Entstehung Bezug: "Es ist in meinem Geist gleichsam ein Akt der Empfängnis geschehen, und sofort arbeiten alle Kräfte und Säfte, das so Empfangene zu formen und zu entwickeln. Es wächst und wird in mir; es durchlebt, ehe es noch geboren wird, gleichsam in dem Mutterschoß der Seele eine Fülle von Durchbildungen und Umbildungen, um allmählich reif und lebensfähig zu werden. Das ist ein weiter und mühevoller Weg." (Vorl. 33) Wie kann die Entwicklung, das Schicksal der "historischen Frage" in einer weniger bilderreichen Sprache beschrieben werden? 39 Im "Grundriß" heißt es: "Der Akt des Verständnisses" "erfolgt ... als unmittelbare Intuition, als tauche sich Seele in Seele, schöpferisch wie das Empfängnis in der Begattung." (Grundr. 329) 40 Es sei nur noch folgende Feststellung getroffen. Im Hinblick auf den häufig durch die Verstehenslehre vertretenen Anspruch, ein Verfahren zu begründen, das für eine bestimmte Klasse der Wissenschaften - etwa die sogenannten Geisteswissenschaften - spezifisch ist, erscheint es wichtig zu bemerken, daß Droysen feststellt, daß diejenigen Prozesse, die er, Droysen, für die Geschichtswissenschaft unter dem Begriff der "historischen Frage" zusammenfaßt (und die als die Probleme der ,Geburt' der historiegraphischen Hypothese in der Intuition, im intuitiven "Akt des Verständnisses", im Verstehen, und als die Probleme des weiteren Schicksals der Hypothese im Erkenntnisprozeß beschrieben werden können), grundsätzlich nicht verschieden sind von den entsprechenden Prozessen in den anderen Wissenschaften, ja daß damit bestimmte allgemeine Formen geistiger Prozesse überhaupt angesprochen sind. "Es ist in unseren Bereichen [d. i. denen der Geschichtswissenschaft] wie in allen des höheren geistigen Lebens; dem Denker, dem Dichter, jedem Forscher in den anderen wissenschaftlichen Gebieten geht es ähnlich." (Vorl. 34)
B. Die "historische Frage"
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Die neue Auffassung, die sich intuitiv ergab, kann wahr, sie kann aber auch falsch sein; es ist entscheidend, "ob sich der [neue] Gedanke bewährt" (Vorl. 33). "Es handelt sich darum, ob es sich wirklich so verhält, wie wir fragend ahnten, ob es sich beweisen läßt." (Vorl. 33) 41 Droysen bezeichnet die neu entstandene Hypothese zutreffend und eindrucksvoll als ein "cpavmanx6v ... , das ich prüfen und berichtigen will" (Vorl. 36); sie ist ein "cpav1:ao1:t%6v", weil sie als der ,wissenschaftlichen Phantasie' entsprungen verstanden werden kann. Die Prüfung der historiegraphischen Hypothese nun geschieht (vgl. Vorl. 33) durch Konfrontierung mit den historischen Materialien. Dabei wird vorausgesetzt, daß die Hypothese derart ist, daß sie sich einer Prüfung nicht grundsätzlich entzieht. Um prüfbar zu sein, muß sie grundsätzlich falsifizierbar sein: sie muß sich in der Konfrontierung mit den historischen Materialien sowohl bewähren (als wahr erweisen) als aber auch nicht bewähren (als falsch erweisen) können. Ist die Hypothese derart, daß sie sich - grundsätzlich - nicht als falsch erweisen kann, dann ist in ihr ein Sachverhalt formuliert, der schlechterdings nicht geprüft werden kann. Ein Beispiel hierfür ist etwa der Satz: Bestimmte Eigenschaften bei historisch bedeutenden Persönlichkeiten sind entweder in den historischen Materialien nachweisbar, oder sie sind ,latent' gegeben 42 • Die (grundsätzlich falsifizierbare) Hypothese gilt als verifiziert, sofern und solange sie im Prozeß der Prüfung nicht falsifiziert werden kann. Die (grundsätzlich falsifizierbare) historiegraphische Hypothese wird an den historischen Materialien dem Versuche ihrer Falsifikation ausgesetzt und so lange aufrechterhalten, als ihre Falsifikation nicht gelingt43 • Das Ergebnis der Prüfung der historiegraphischen Hypothese an den historischen Materialien kann grundsätzlich viererlei sein: a) die Hypothese wird bis auf weiteres beibehalten, ihre Falsifikation gelang nicht, sie gilt als verifiziert; die Aussage, die in ihr formuliert ist, gilt unter den gegebenen Bedingungen als wahr; 41 Vgl. auch Grundr. 332, wo Droysen von der "historischen Frage" sagt: "Wir müssen sie prüfen, klären, erweisen." (Hervorgehoben von mir.) 42 Eine andere Möglichkeit, sich den Spielregeln der Wissenschaft zu entziehen, ist etwa die Feststellung, daß die Wahrheit bestimmter Behauptungen grundsätzlich nicht erwiesen, sondern vielmehr ,nur geglaubt' werden könne. 43 Im Zusammenhang seiner Erörterungen der sog. Kritik des Richtigen, einer von Droysen unterschiedenen Sonderform der historiegraphischen Kritik (s. u. S. 65 ff.), sagt Droysen: "Das Resultat [d. i. das Resultat der Kritik des Richtigen] ist nur dann sicher, wenn es negativer Art ist, wenn es den Nachweis gibt, daß das vorliegende Material unrichtig ist oder nicht richtig sein kann. Aber ist damit schon entschieden, daß, wo ein solcher Nachweis nicht erbracht werden kann, die vorliegende Angabe richtig ist?" (Vorl. 129) Droysen nennt dies ein "Aporema sehr bedenklicher Art" (Vorl. 129).
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b) die Hypothese wird verworfen, sie konnte falsifiziert werden; c) sie wird weder beibehalten noch verworfen, sondern sie wird im Falle dieses angemessen erscheint- modifiziert; d) sie kann nicht geprüft werden, weil keine historischen Materialien vorliegen. In den Fäll-en b) und c), wenn also die Hypothese ganz oder teilweise verworfen wird, werden neue, die bisherigen Fehler korrigierende Hypothesen formuliert. Die Ausgangshypothese wird "rectificirt" (Philos. 628), sie kann innerhalb dieses Verfahrens - wenn dies nötig erscheint- bis zur Unkenntlichkeit abgewandelt werden. Der Historiker geht von einer durch ihn selbst oder durch andere bereits "mannigfach berichtigten Vorstellung" (Vorl. 33) von der Vergangenheit aus und unterwirft dieselbe neuen, weiteren Korrekturen. "Je glänzender die Fortschritte der Forschung sind, desto größer ist auch die Zahl der angeblichen Thatsachen, die sie als irrige Annahmen früheren Halbwissens über Bord wirft. Was heute ein Forscher auf den Trümmern der bisherigen Ansichten auferbaut, schlägt morgen ein Anderer wieder zu Scherben." (Heinrich von Sybel1874, 4) Das jeweils vorhandene historiographische Wissen fassen wir also nicht als etwas Definitives, Endgültiges auf, sondern als ein System von Hypothesen, das immer nur bis auf weiteres beibehalten wird, das grundsätzlich noch korrekturfähig und in vielen Fällen auch noch sehr korrekturbedürftig ist44 • Die Prozedur der Bildung und Prüfung von Hypothesen in der Historiographie kann interpretiert werden als ein allmählicher Prozeß der Anpassung unserer Auffassungen über die (durch die historischen Materialien uns vermittelte) vergangene Wirklichkeit an die in diesen Auffassungen dargestellte Wirklichkeit - ein wahrscheinlich unendlicher Prozeß. Und betonen wir mit Droysen den Zeichencharakter unseres Wissens, dann kann dieser Anpassungsprozeß auch als "die rastlose approximative Ausgleichung und Rectificirung unserer Zeichen mit den Wirklichkeiten, deren Zeichen sie sind" (Philos. 628), beschrieben werden. An einer anderen Stelle heißt es: "Es gilt .. . unsere zunächst enge, stückweise, unklare Vorstellung von den Vergangenheiten, unser Verständnis derselben zu erweitern, zu ergänzen, zu berichtigen, nach immer neuen Gesichtspunkten zu entwikkeln und zu steigern." (Vorl. 27) 44 Vgl. Reinhard Wittram (1963, 21): " ... sind alle wissenschaftlichen Aussagen vorläufige Aussagen, nicht willkürlich vorläufige, sondern im Horizont des heute Wißbaren begrenzte." Vgl. dazu auch Homer Carey Hockett (1955, 62).
B. Die "historische Frage"
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"Erweitern", "ergänzen", "berichtigen", "entwickeln", "steigern" sind also die Wörter, mit denen Droysen den hier in Rede stehenden Anpassungs- und Interpretationsprozeß beschreibt. Gleiche und ähnliche Formulierungen finden sich z. B. in Vorl. 20 und Grundr. 327. Es ist klar, daß in diesem Prozeß sich nicht die vergangene Wirklichkeit wandelt, sondern unser Wissen von ihr, was insbesondere Hellmut Diwald (1955, 28) betont: "Nicht die Geschichte verändert sich in der Historiographie, sondern nur und ausschließlich unser Bild von der Geschichte." Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Absatz aus den Droysenschen Vorlesungsmanuskripten (Vorl. 90-91), woDroysen aus seinem eigenen historiographischen Schaffen, nämlich seinen Studien zur Epoche des Hellenismus, berichtet. Er erläutert, wie im Umgang mit den historischen Materialien, auf Grund deren wir von dieser Epoche wissen, die Ausgangshypothese sich allmählich verändert, berichtigt, indem sie durch fortwährende Korrektur "lebensvoller" und "sachgemäß" (Vorl. 91) wird. The historian "examines his data and formulates hypotheses, i. e., tentative conclusions. These conjectures he must test by seeking fresh evidence or re-examining the old, and this process he must continue until, in the light of all available evidence, the hypotheses are abandoned as untenable or modified until they are brought into conformity with the available evidence". (Hockett 1955, 8) Ich fasse zusammen. Gegeben ist ein beliebiger Zustand unseres Wissens als Ausgangspunkt und Voraussetzung des Erkenntnisprozesses. Wir überwinden dieses vorhandene Wissen und gehen über es hinaus, indem wir die Geltung neuer Hypothesen (die das bisherige Wissendie bisherigen Hypothesen - korrigieren) an den Tatsachen (im Falle der Geschichtswissenschaft an den historischen Materialien) nachzuweisen suchen. Wenn sich jedoch die neue Hypothese in der Prüfung nicht bewährt, wird sie durch eine weitere Hypothese ersetzt; es ist möglich, daß auch diese (dritte) Hypothese wieder modifiziert werden muß mit Hilfe einer vierten und auch diese vierte mit Hilfe einer weiteren usw. In diesem steten Prozeß der Anpassung (an die Wirklichkeit) durch Selbstkorrektur bekommen wir schließlich die Wirklichkeit immer besser in den Griff, in den Be-griff. Indem wir von dem, was wir haben - und das sind die uns tradierten Auffassungen und Vorstellungen differenzierter oder undifferenzierter Natur, wahr oder falsch - ausgehen und dieselben steter, fortwährender Kritik unterwerfen, wandeln sich diese Auffassungen und Vorstellungen, bis schließlich nach einem hinreichend langen Prozeß
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Teil I
der Wandlung und Anpassung - vorausgesetzt, es ist die Bereitschaft oder auch die Möglichkeit zu dieser steten Selbstkorrektur, zum anhaltenden ,Lernen' vorhanden - wir der Wahrheit sehr nahe kommen oder gar in den Besitz devselben gelangen. Es erscheint dabei gleichgültig, wie falsch und abwegig die Auffassungen des einzelnen oder der Gruppe bei Aufnahme dieses Verfahrens (der wissenschaftlichen Methode) sind, gleichgültig, wie verschiedenartig und widerstreitend am Anfang die Meinungen sein mögen, mit Notwendigkeit werden alle - sofern man sich nur der Methode unterwirft - zu Überzeugungen gelangen, die allen gemeinsam sein werden und denen die Eigenschaft der Wahrheit wird zugesprochen werden können. "The opinion which is fated to be ultimately agreed to by all who investigate, is what we mean by the truth, and the object represented in this opinion is the real. That is the way I would explain reality." (Peirce, CP 5.407) Fortschritt in der wissenschaftlichen Erkenntnis kann als die Prozedur der (immer wieder neuen) Formulierung von Hypothesen (vermöge der ,wissenschaftlichen Phantasie') und ihrer anschließenden Überprüfung und Korrektur (an der Wirklichkeit) beschrieben werden. Es ist die Ver·s uch-Irrtum-Methode. "The scientist does not proceed, as one might suppose, with his feet constantly on the ground of ascertained fact. He must be continually formulating and testing hypotheses or he could not progress at all." (Hockett 1955, 7) Dies gilt nicht nur, wie auch Hockett feststellt, für den - nach dem englischen Sprachgebrauch - "scientist", sondern auch für den "historian". Hierin (also in dem allgemeinen Schema: Hypothesenbildung - Hypothesenprüfung) unterscheiden sich die historischen und theoretischen Wissenschaften im Hinblick auf ihr Verfahren nicht45 • Wohl aber unterscheiden sie sich in der Art der Hypothese, die sie formulieren, und in der Art der Prüfung der jeweiligen Hypothese. Die theoretischen Wissenschaften überprüfen ihre nomothetische Hypothese im Experiment, die historischen Wissenschaften überprüfen ihre idiographische Hypothese an den historischen Materialien. Der Realitätsbezug der wissenschaftlichen Aussagen ist im Fall der theoretischen Wissenschaften durch das Experiment, im Fall der histo45 Zum Problem der Einteilung der Wissenschaften in historische und theoretische siehe Kapitel II E.
B. Die "historische Frage"
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rischen Wissenschaften durch das historische Material verbürgt: Das Experiment einerseits und das historische Material andererseits ,beweisen', ob die jeweilige wissenschaftlicheAussage richtig ist oder nicht, vorausgesetzt, sie enthält außerdem keine logischen Fehler 46 a, 46b.
46 a In der Literatur hat z. B. Ed. Meyer (1910 a, 68 ff.) besonders auf diese Ähnlichkeit in der Funktion von Experiment und historischem Material in der wissenschaftlichen Erkenntnis hingewiesen. Vgl. auch eine Bemerkung Siegmund Hellmanns (1911, 17): "Die Vertrautheit mit den Quellen ist für den Historiker das, was für den Naturforscher die Sicherheit im Experiment." Siehe auch Karl Brandi (1922, 12). 46 b Die oben im Text verwendeten Begriffe "nomothetische Hypothese" und "idiographische Hypothese" schließen sich an an die in der berühmten Straßburger Rektoratsrede W. Windelbands (1900) getroffene Unterscheidung zwischen "nomothetischen Erfahrungswissenschaften" und "idiographischen Erfahrungswissenschaften". Heinrich Rickert (1926 und 1929) sprach statt dessen von "generalisierender Begriffsbildung" im Falle der Naturwissenschaften und von "individualisierender Begriffsbildung" im Falle der historischen Kulturwissenschaften. Es wurden oben die Termini Wilhelm Windelbands, und nicht die Heinrich Rickerts, gewählt, weil Rickerts Beschreibung der Verfahren der beiden Wissenschaftsklassen in verschiedenenHinsichten nicht zutreffend zu sein scheint.
Teil II Der Erste Fundamentalsatz A. Die Relation zwischen historischen Materialien, historiographischen Aussagen und vergangeuer Wirklichkeit in der historiographischen Erkenntnis 1. Historische Materialien und historiographischeAussagen
"Das Vergangene ist nicht mehr und kommt nicht wieder. Wie kann man überhaupt Vergangenes kennen?" (Weizsäcker 1962, 15) Diese Worte Carl Friedrich v. Weizsäckers geben in Kürze und Einfachheit den Ausgangspunkt für Überlegungen zur Methode der historiographischen Erkenntnis an. Die historischen Wissenschaften machen Aussagen über Ve11gangenes, also nicht mehr Vorhandenes. Wie ist das möglich? Begründete Aussagen zu machen über Vergangenes ist nur dann möglich, wenn demjenigen, der sich um diese Aussagen bemüht, trotzdem - obgleich also der Gegenstand als ganzer vergangen ist - Informationen, in welcher Weise auch immer, über den Gegenstand zugänglich sind. Die historischen Materialien sind - in verschiedener Weise - Träger derartiger Informationen. Sie sind damit die Grundlage aller Geschichtswissenschaft, die Grundlage also einer "Wissenschaft von einem nicht mehr vorhandenen Gegenstande" (Kirn 1963, 13). Diesen womöglich trivial erscheinenden47 , gleichwohl grundlegenden Sachverhalt hat Droysen in dem Ersten Fundamentalsatz, der in den verschiedensten Problemzusammenhängen innerhalb der "Historik" immer wieder anklingt und auf den immer wieder Bezug genommen wird, gültig formuliert: "Dies ist der erste große Fundamentalsatz unserer Wissenschaft, daß, was sie über die Vergangenheiten erfahren will, sie nicht in diesen sucht, denn sie sind gar nicht und nirgend mehr vorhanden, sondern in 47 In dem gleichen Zusammenhang spricht auch Alfred Heuß von dem möglicherweise auftretenden "Verdacht der Trivialität": "Es geht hier um sehr einfache Feststellungen, die sich deshalb dem Verdacht der Trivialität aussetzen." (Alfred Heuß 1959, 8) Es bleibt zu bemerken, daß diese "sehr einfachen Feststellungen" dennoch in verhältnismäßig vielen methodologischen Arbeiten nicht nur nicht genannt und formuliert, sondern ignoriert sind. Dadurch hat man sich dann in der Regel wesentliche Einsichten versperrt.
A. 1. Historische Materialien und historiographische Aussagen
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dem, was von ihnen noch, in welcher Gestalt immer, vorhanden und damit der empirischen Wahrnehmung zugänglich ist." (Vorl. 20) Im "Grundriß" heißt es: "Alle empirische Forschung regelt sich nach den Gegebenheiten, auf die sie gerichtet ist. Und sie kann sich nur auf solche richten, die ihr unmittelbar zu sinnlicher Wahrnehmbarkeit gegenwärtig sind. Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen", sondern die historischen Materialien. (Grundr. 327) Das gleiche mit anderen Worten sagt Herman Hefele (1917, 5): "Zu keinem einzigen Zeitpunkt seiner methodischen Untersuchung hat es der Historiker mit der geschichtlichen Vergangenheit zu tun ... Der Gegenstand seiner Erkenntnis ist vielmehr ausschließlich ein gegenwärtiger", nämlich "das vorliegende Dokument" 48 • Die Erkenntnis vergangeneo Geschehens, also historiographisches Wissen, ist nur möglich, wenn und insofern historische Materialien vorliegen. Wenn und insofern historische Materialien nicht vorliegen, können (begründete) Aussagen über vergangene Wirklichkeit nicht gemacht werden; "pas de documents, pas d'histoire" (Langlois u. Seignobos 1898, 2)49. 48 Roman Lutman (ein polnischer Historiker, dessen Arbeit, aus der das folgende Zitat stammt, übrigens Einflüsse nicht nur marxistischen, sondern gerade auch westlichen Denkens verrät) bestimmt die Historiographie als diejenige Wissenschaft, "die sich um die Erkenntnis derjenigen Phänomene und der zwischen ihnen obwaltenden Beziehungen bemüht, die nicht mehr in der gegenwärtigen Realität vorkommen, also um die Erforschung dessen, was vermutlich war und seine Spuren in gewissen Denkmälern und Quellen hinterlassen hat, aber grundsätzlich nicht mehr existiert." (Lutman 1964, 14) Vgl. auch Ed. Meyer (1910 a, 42): "Alle Geschichte ist Darstellung von Vorgängen, oder schärfer formuliert von Veränderungen, die sich in der Zeit abspielen. Ihr Gegenstand ist daher in dem Moment, wo er zur Kognition kommt, immer schon vergangen; er existiert nicht mehr, nur seine Nachwirkungen, die durch ihn herbeigeführten Abänderungen der früheren Zustände, können noch existieren." 49 Das ist wiederholt festgestellt worden. John Dewey (1938, 231): "Where the past has left no trace or vestige of any sort that endures into the present its history is irrecoverable." Paul Kirn (1963, 13-14): "Gegen die Erkenntnis kann sich kein Mensch sträuben, daß auch die scharfsinnigste Forschung jene Vorgänge nicht mehr ermitteln kann, die sich abspielten, ohne eine Spur zu hinterlassen." Ebenso Ed. Meyer (1910 a, 42-43) und Reinhard Wittram (1963, 28). Droysen weist mehrmals (Vorl. 144, Grund. 338, Privatvorr. 369) auf die Lückenhaftigkeit der historischen Materialien hin und warnt vor Fehlern, die entstehen, wenn der Forscher die Lückenhaftigkeit der Materialien nicht stets im Auge hat. "In abstracto gibt es jeder leicht zu, daß unser Wissen Stückwerk und auch unser historisches Wissen unvollständig ist. Aber schon die Art, wie man vorherrschend die Form der Erzählung für geschichtliche Dinge braucht, macht die Illusion und will sie machen, als wenn wir von den geschichtlichen Dingen einen vollständigen Verlauf, eine in sich geschlossene Kette von Ereignissen, Motiven und Zwecken vor uns hätten. Und auch bei den Forschen-
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
Ich wiederhole den bisherigen Gedankengang. Aussagen über eine vergangene, also nicht mehr zugängliche Wirklichkeit zu produzieren ist das Erkenntnisziel der historischen Wissenschaften. Solche Aussagen sind jedoch gänzlich unmöglich, es sei denn, sie ergeben sich, lassen sich herleiten aus Aussagen über gegenwärtige, also zugängliche Wirklichkeit. Die historischen Materialien nun sind in der jeweiligen Gegenwart vorliegende Wirklichkeit. Durch sie ist der Realitätsbezug der historischen Wissenschaften gegeben. Wenn wissenschaftliche Aussagen verstanden werden können als Zeichensysteme, und zwar als .solche mit Realitätsbezug, dann können die historiographischen Aussagen (als eine Klasse der wissenschaftlichen Aussagen) verstanden werden als Zeichensysteme, die über den Bezug auf die jeweils gegenwärtige Wirklichkeit der historischen Materialien ,rekurrieren' auf eine vergangene Wirklichkeit. Der historiographische Erkenntnisprozeß ist ein Prozeß, der von Aussagen über die- in der Wahrnehmung gegebenen- historischen Materialien in einer Reihe von Operationen (Schlüssen) hinführt zu Aussagen über die vergangene Wirklichkeit. Droysen beschreibt diesen Prozeß, der auch als ein Zeichen-Prozeß im Sinne von Charles Sanders Peirce verstanden werden kann, indem er formuliert: Die Geschichtswissenschaft "ist darin empirisch, daß Seiendes und Gegebenes das Material ihrer Forschung ist; sie ist darin exakt, daß sie aus diesem Material in richtigen Syllogismen ihre Ergebnisse gewinnt" (Vorl. 151). Die historischen Materialien ("Seiendes und Gegebenes") sind der Ausgangspunkt des Erkenntnisprozesses; die historiographischen Aussagen stehen als "Ergebnisse", die durch "Syllogismen" aus den Materialien gewonnen wurden, am Ende des Prozesses. (Ähnliche Formulierungen Droysens finden sich in Vorl. 185 und Vorl. 187.) Der wissenschaftliche Charakter der historiographischen Aussagen ist durch diesen logischen Prozeß ihres Zustandekommens, der intersubjektiv nachvollziehbar und nachprüfbar ist, begründet. Die wohl bedeutendste Fragestellung der Methodologie ist die Frage nach der Geltung der einzelwissenschaftlichen Erkenntnis. Diese läßt den stellt sich nur zu leicht die Illusion ein, als sei das, was uns überliefert vorliegt, wenn nicht das Ganze, so doch das Wesentliche, und könne und müsse genügen, ein Bild des Ganzen zu geben. Es ist von prinzipieller Bedeutung, daß wir in unseren Arbeiten nicht vergessen und verleugnen, wie es um das geschichtliche Material steht. Fast immer oder vielmehr immer, auch wenn überreiches Material vorhanden ist, liegen nur Einzelheiten aus der Fülle des Getanen und Geschehenen, aus der Masse geschäftlicher Vorgänge und gewordener Verwirklichungen nur einzelne Auffassungen von dem, was war und geschah, vor." (Vor!. 144-45) Vgl. auch die Bemerkung aus dem "Grundriß": "Die Schärfe in der Bezeichnung der Lücken ... ist das Maß für die Sicherheit der Forschung." (Grundr. 338)
A. 2. Historiographische Aussagen und die vergangene Wirklichkeit
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sich nun in der folgenden Weise für die Geschichtswissenschaft präzisieren: Die Frage nach der Geltung, der Wahrheit historiographischer Aussagen ist die Frage nach der Relation zwischen historiographischer Aussage und historischem Material, ist die Frage nach den Operationen, mit deren Hilfe die historiographische Aussage aus den Materialien gewonnen wird. Kritik an historiographischen Aussagen, die deren Geltung bestreitet, ist Kritik an dem Prozeß, dessen Ergebnis die Aussagen sind50• In der Relation zwischen historischem Material und historiographischer Aussage sieht auch Herman Hefele (1917, 5) das entscheidende methodologische Problem der Geschichtswissenschaft: "Für den methodisch korrekt verfahrenden Forscher erschöpft sich das ganze Problem der historischen Erkenntnis in der Frage, ,wie aus dem Komplex der unmittelbar vorliegenden Quellen das theoretische Gebilde werde, das wir Geschichte nennen' 51 ."
2. Historiographische Aussagen und die vergangene Wirklichkeit (Das Problem der ,historischen Tatsachen') Historiographische Aussagen sind gewonnenes menschliches Wissen; sie informieren über vergangene Wirklichkeit. Sie sind, das ist trivial, 60 "Logical theory is concerned with the relation existing between evidential data as grounds [das sind im Falle der Historiographie die historischen Materialien] and inferences drawn as conclusions [das sind im Fall der Historiographie die aus den Materialien erschlossenen Aussagen], and with the methods by which the latter may be grounded." (Dewey 1938, 231-32) 51 Hefele knüpft mit der Formulierung: ,"wie aus dem Komplex der unmittelbar vorliegenden Quellen das theoretische Gebilde werde, das wir Geschichte nennen"' bewußt an eine Formulierung Georg Simmels an, die er, Hefele, kritisiert und in seinem Sinne, wie im obigen Zitat angegeben, korrigiert. Georg Simmel (1922) schreibt in dem Vorwort zu seinem Buch über die "Probleme der Geschichtsphilosophie" (Seite I): "Den Gegenstand dieses Buches bildet das Problem: wie aus dem Stoffe der unmittelbaren gelebten Wirklichkeit das theoretische Gebilde werde, das wir Geschichte nennen." Ahnlieh wie Simmel formulierte Droysen in seiner berühmten Fragestellung: "Wie wird nun aus den Geschäften Geschichte?" (Vorl. 28) Vgl. dazu Vorl. 183; Grundr. 322; Grundr. 345 ; Buckle-Rez. 394; Kunst u. 1\IIeth. 421; Quellencritik 16; Briefw. II, 476; Briefw. II, 479. Hefele geht mit seiner Kritik an Simmel entschieden zu weit; beide Fragestellungen, sowohl die Hefeles als auch die Simmels (und die mit der letzteren verwandte Droysens), sind möglich und sinnvoll. Hefele hat recht, wenn er feststellt, daß die Philosophie, die sich selbst als ,Geschichtsphilosophie' versteht, kaum, selten oder gar nicht "das Eigenartige des histor ischen Forschungsprozesses und seiner logischen Struktur" (Hefele 1917, 2) untersucht; aber Hefele will mit dieser Kritik auch und gerade Simmel treffen. Mit Sirnmeis "Problemen der Geschichtsphilosophie" liegt jedoch gerade eine Arbeit vor, die in sehr eindrucksvoller, sehr feinsinniger und bis heute wohl nur selten erreichter Weise Probleme des tatsächlichen Verfahrens der Geschichtswissenschaft und dessen logischer Struktur beschreibt und analysiert, die also genau das tut, was Hefele (zu Recht) fordert. Hefele muß Simmel in dieser Hinsicht völlig mißverstanden haben.
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
nicht zu verwechseln mit den vergangeneo Wirklichkeiten, die sie beschreiben, die in ihnen dargestellt sind. Ist man sich über die Beschaffenheit der historiographischen Aussagen, nämlich nie direkt gegeben, sondern immer nur auf dem ,Umweg' über die historischen Materialien erschlossen zu sein, nicht im klaren, dann mögen sich Mißverständnisse einstellen, auf die J ohn Dewey aufmerksam macht. Ausgangspunkt seines Gedankens ist, daß die historiographische Erkenntnis bei den historischen Materialien ansetzt: "Propositions about the things which can be contemporaneously observed are the ultimate data from which to infer the happenings of the past. This statement, in spite of its obviousness, needs to be made. Although it is taken for granted as a matter of course by those who work with source material, readers of the works which historians compose on the basis of available source-material are likely to suffer from an illusion of perspective. Readers have before them the ready-made products of inferential inquiry. If the historical writer has dramatic imagination, the past .seems to be directly present to the reader. The scenes described and episodes narrated appear to be directly given instead of being inferred constructions." (Dewey 1938, 231; hervorgehoben von mir.) Historiographische Aussagen sind "inferred constructions", durch Schlußverfahren gewonnene Konstrukte oder Konstruktionen. Die historische Welt ist eine aus den historischen Materialien erschlossene, konstruierte Welt. In Droysens Worten: Die Auffassungen und Vorstellungen, die Aussagen, die die Geschichtswissenscha ft "forschend durch eine Reihe von Kombinationen, Berichtigungen, Schlüssen usw. gewinnen und weiter entwickeln und berichtigen kann, diese Vorstellungen, weit entfernt, die Vergangenheiten selbst zu sein, werden denselben immer nur in gewisser Weise, nach gewissen Gesichtspunkten, bis zu einem gewissen Grade entsprechen" (Vorl. 187). Wenn nun also die Historiographie nichts bietet als "inferred constructions", - erschlossene - Aussagen über vergangene Wirklichkeit, und die vergangene Wirklichkeit eben "gar nicht und nirgend mehr vorhanden" (Vorl. 20), "unwiderruflich in [ihrer] ganzen geistig sinnlichen Fülle vergangen" (Masur 1929, 202) ist, was ist dann die sogenannte historische Tatsache? Die doppelte Bedeutung des Wortes ,Geschichte' (res gestae und historia rerum gestarum) ist geeignet, das Problem, das sich hier stellt, zu veranschaulichen52 • 62 Kr. Erslev (1928, 2) war der Meinung: "Die doppelte Bedeutung des Wortes Geschichte führt tief in das Wesen der Geschichtswissenschaft ein."
A. 2. Historiographische Aussagen und die vergangene Wirklichkeit
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Der Unterschied zwischen den beiden Bedeutungen des Wortes ,Geschichte' ist der Unterschied zwischen einerseits dem vergangenen Geschehen und andererseits dem ",theoretischen Gebilde, das wir Geschichte nennen"' (Hefele 1917, 5; s.o. S. 47), es ist der Unterschied zwischen dem Zu-Rekonstruierenden und unserer Rekonstruktion. Es ist dies nicht nur ein Unterschied wie der zwischen Natur und Naturwissenschaft, Kultur und Kulturwissenschaft, also der Unterschied zwischen einer Sache und unserem Wissen von dieser Sache; es ist dieser Unterschied zwar auch; das entscheidende Kriterium aber ist doch dies: anders als im Falle des Verhältnisses von Natur und Naturwissenschaft, Kultur und Kulturwissenschaft ist im Falle des Verhältnisses von Geschichte (res gestae) und Geschichtswissenschaft (historia rerum gestarum)- also des Verhältnisses von vergangenerWirklichkeit und (historiographischer) Aussage über diese vergangene Wirklichkeit - die Sache (d. i. also die vergangene Wirklichkeit) nur als erschlossene, ermittelte, als rekonstruierte zugänglich und sonst gar nicht53• (Vergangenes Geschehen, das wir aus persönlicher Eri nnerung kennen, ist bei den vorliegenden Erörterungen nicht berücksichtigt.) Dank der Historiographie haben wir ein Wissen von sonst und in anderer Weise nicht mehr zugänglichem vergangenen Geschehen. In den von der Historiographie vorgenommenen Rekonstruktionen des vergangenen Geschehens - und nur in diesen - stellt sich uns das vergangene Geschehen dar, ein Geschehen, das - ohne diese Rekonstruktionen gleichsam völlig vergangen wäre54• Weil wir das vergangene Geschehen, wenn wir es kennen, nur als erschlossenes, rekonstruiertes kennen, ist unser Zugang zu diesem Geschehen gebunden an die Mittel der Historiographie. In diesem Sinne sind vergangenes Geschehen und historiographische Aussage darüber in der Tat miteinander "unlöslich verbunden": nach einem Worte Gerhard Masurs (1929, 184) "verbirgt" sich und "offenbart" sich in der doppelten Bedeutung des Wortes ,Geschichte' die "unlösliche Verbundenheit" zwischen "Geschehen" (res gestae, vergangene Wirklichkeit) und "Geschichte" (historia rerum gestarum, historiographische Aussage über vergangene Wirklichkeit). 53 "Bäume und Blumen würden wir sehen, auch wenn es keine Botaniker gäbe; das Gewitter rast, einerlei ob Physiker da sind oder nicht. Aber ohne Historiker, die die Ereignisse der Vergangenheit erzählen oder deren tote und stumme Reste zum Reden bringen könnten, würde die Vergangenheit nicht für uns dasein." (Erslev 1928, 2) (" .. . bringen könnten ..." dürfte ein Druckfehler sein.) 54 Im Manuskriptdruck des "Grundrisses" aus dem Jahre 1858 schreibt Droysen: Ohne die historiographische Erkenntnisbemühung würde das vergangene "Geschehene sein, als wäre es nicht geschehen. Denn soweit es äußerlicher Natur war, ist es vergangen; nur er-innert, soweit und wie es der wissende Geist hat, ist es unvergangen." (Grundr. 325, Anm. 1)
4 Spieler
Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
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Wenn das richtig ist, was ist dann eine ,historische Tatsache'? Sofern mit dem Begriff der ,historischen Tatsache' das vergangene Geschehen (als vergangenes Geschehen) gemeint ist, ist klar, daß ,historische Tatsachen' schlechterdings nicht in der historiographischen Erkenntnis vorkommen, vorkommen können. Nicht nur einmal stellt Droysen fest - und es ist dies der dem Ersten Fundamentalsatz zugrunde liegende Gedanke, "daß nicht die Vergangenheiten, nicht das unabsehbare Durcheinander von ,Tatsachen', das sie erfüllte, uns als Material der Forschung vorliegen, daß diese Tatsachen vielmehr mit dem Moment, dem sie angehörten, für immer vergangen sind ... " (Buckle-Rez. 393) 55 Ist dagegen mit dem Begriff der ,historischen Tatsache' die historiographischeAussage über die ,historische Tatsache' (,historische Tatsache' im Sinne von vergangenem Geschehen) gemeint, ist also mit dem Begriff der ,historischen Tatsache' die historiographische Rekonstruktion der ,historischen Tatsache' gemeint, dann liegt - offensichtlich - eine ungenaue Ausdrucksweise vor. Diese ungenaue Ausdrucksweise ist unter anderem aber gerade deswegen verständlich, weil wir das vergangene Geschehen (die ,historische Tatsache') nie direkt, sondern immer indirekt, d. h. nie anders als eben in den von der Historiographie vorgenommenen Rekonstruktionen kennen (wenn wir, wie bemerkt, von persönlichen Erinnerungen absehen) 56• Das vergangene Geschehen ist uns also zwar immer nur als aus den historischen Materialien erschlossenes und zu erschließendes gegeben, aber es ist auch durch diese historischen Materialien verbürgt: Mit guten Gründen sind wir davon überzeugt, daß wir durch die historiographischen Aussagen nicht über Fiktionen, sondern über eine Realität, wenn auch eine vergangene, informiert werden. Die historiographischen Aussagen, die über vergangenes Geschehen informieren, haben Realitätsbezug, ,empirischen Gehalt', weil sie aus den der Wahrnehmung gegebenen historischen Materialien gewonnen werden57 • An anderen Stellen bei Droysen heißt es: "Die objektiven Tatsachen liegen in ihrer Realität unserer Forschung gar nicht vor." (Vorl. 133) "... unser geschichtliches Wissen enthält nicht die sogenannten objectiven Thatsachen, sondern Auffassungen von ihnen, ihre geistigen Gegenbilder ... " (Quellencritik 17) 56 Ein anderer Grund dafür, warum auch umgangssprachlich - immer wieder von ,historischen Tatsachen' und nicht, wie es richtiger wäre, von Rekonstruktionen der ,historischen Tatsachen' die Rede ist, ist gewiß das (nicht nur in einfach gelagerten Fällen) staunenswerte Leistungsvermögen der ,historischen Methode': sie ermöglicht Ergebnisse (Rekonstruktionen), die ,sicher sind wie Tatsachen'. 57 Es sind aber die historischen Materialien nicht allein, in denen der ,empirische Gehalt' der historiographischen Aussagen begründet ist. Siehe dazu 55
s. 100.
A. 2. Historiographische Aussagen und die vergangene Wirklichkeit
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Und darüber hinaus aber auch ist klar, daß die vergangene Realität (die ,historische Tatsache') dann, wenn sie als rekonstruierte zur Kognition kommt, "nur noch in unserer Vorstellung" (Vorl. 271) besteht, dargestellt mit den Mitteln der Historiographie, erschlossen aus den historischen Materialien. Droysen schreibt: "Wenn das, was man Geschichte nennt, im wesentlichen Vergaugenes umfaßt - wirklich Vergangenes bis auf die Reste oder Nachrichten, die davon zur empirischen Forschung noch vorliegen - so bedarf es keiner weiteren Darlegung, daß die aus solcher Forschung gewonnenen Ergebnisse nur in unserer Vorstellung, und, wenn man will, in unserer Phantasie vorhanden sind, daß eine Fülle von Dingen, die einst waren und geschahen, nur noch in den Zeichen und Zeichencombinationen lebt, die die menschliche Vorstellung einst von ihnen genommen oder forschend sich nachträglich erarbeitet hat." (Philos. 628)58 Daß das vergangene Geschehen als rekonstruiertes nur noch "in unserer Vorstellung" besteht, hat natürlich nicht nur Droysen festgestellt. Es ist dies eigentlich eine triviale Feststellung; in der Diskussion um die sogenannten historischen Tatsachen ist sie aber verschiedentlich hochgespielt worden, so von Carl Lotus Becker, der die Bemerkung machte, "that the historical fact is in someone's mind or it is nowhere" (C. L. Becker 1955, 331)59. Allen Johnson berührt das Problem im Zusammenhang seiner Bemerkungen zum Problem der mehrfachen Bedeutung des Wortes ,Geschichte'. "We speak of the History of Rome, meaning that written by Livy, Mommsen, Ferrero; but also we speak of Roman history as a series of happenings in time and space, as if it existed apart from records. This ambiguity often results in the unconscious assumption that the past of humanity has a sort of objective reality with which, in some unexplained way, the historical scholar may compare and verify the written records. It need hardly be reiterated that we can know the past only as it has left its traces in records and remains. The past does not exist except in human consciousness." (Johnson 1926, 21-22) Der letzte Satz des "Grundrisses", in dem Droysen das Leistungsvermögen der Historiographie bestimmt, ist geeignet, die Überlegungen des gegenwärtigen Kapitels abzuschließen und zusammenzufassen: Die 58 Dem Sinn nach gleich äußert sich Droysen z. B. in: Vorl. 20, Vorl. 34, Vorl. 37, Vorl. 133, Vorl. 187, Vorl. 192, Kunst u. Meth. 420. (Teilweise werden die genannten Stellen in der vorliegenden Arbeit auch in anderen Zusammenhängen zitiert.) 59 In der gleichen Arbeit: " ... the actual past is gone; and the world of history is an intangible world, recreated imaginatively, and present in our minds." (C. L. Becker 1955, 333)
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Teil li. Der Erste Fundamentalsatz
Historiographie ermöglicht, so Droysen, eine aus den historischen Materialien "möglichst sicher erarbeitete und möglichst sachgemäß entwikkelte Vorstellung von Dingen, die in nahen, fernen, fernsten Zeiten Gegenwart und Wirklichkeit waren und nur in dem Wissen der Menschen noch leben und mitleben" (Grundr. 366)60 • In der historiographischen Erkenntnis kann mithin dreierlei voneinander unterschieden werden: a) die in der jeweiligen Gegenwart jeweils vorliegenden historischen Materialien; b) das aus den historischen Materialien gewonnene historiographische Wissen (Aussagen über vergangene Wirklichkeit); c) das über den ,Umweg' der historischen Materialien erschlossene, in dem historiographischen Wissen beschriebene vergangene Geschehen selbst, die vergangene Wirklichkeit61 , 62. Nachtrag. Zum Problem der Wahrnehmung
Es ist in dem abgeschlossenen Kapitel das Problem der ,historischen Tatsachen' erörtert worden. Vgl. dazu eine Bemerkung Theodor Schieders. Der Historiker "schafft die Vorstellungen von einer Vergangenheit aus den Überresten dieser Vergangenheit". (Schieder 1965, 35) Bei strengem Verständnis ist diese Formulierung Schieders nicht ganz exakt, da sie nur eine Gruppe der historischen Materialien, die Überreste, berücksichtigt. 61 Auch der "Report" des amerikanischen "Committee on Historiography" macht die hier vorgenommene dreifache Unterscheidung: "In a scientific methodology clear distinctions must be maintained between the unrecoverable totality of the past, the records of the past, and written or spoken history." (Report 135) 62 Das in Rede stehende Problem des Verhältnisses von historischem Material, historiographischer Aussage und vergangener Wirklichkeit (und das damit aufgeworfene Problem der ,historischen Tatsachen') ist in einer zusammenfassenden Weise auch in der folgenden Äußerung Droysens, auf die sich übrigens Karl Brandi (1922, 9) zustimmend bezieht, erläutert. Droysen schreibt - und es ist dies nur eine Explikation des Ersten Fundamentalsatzes: "Vielleicht das größte Verdienst der kritischen Schule in unserer Wissenschaft, wenigstens das in methodischer Hinsicht bedeutendste, ist, die Einsicht durchgesetzt zu haben, daß die Grundlage unserer Studien die Prüfung der ,Quellen' ist, aus denen wir schöpfen. Es ist damit das Verhältnis der Historie zu den Vergangenheiten auf den wissenschaftlich maßgebenden Punkt gestellt." (Kunst u. Meth. 420) Droysen legt besonderen Wert auf die "kritische Ansicht, daß uns die Vergangenheiten nicht mehr unmittelbar, sondern nur in vermittelter Weise vorliegen, daß wir nicht ,objektiv' die Vergangenheiten, sondern nur aus den ,Quellen' eine Auffassung, eine Anschauung, ein Gegenbild von ihnen herstellen können, daß die so gewinnbaren und gewonnenen Auffassungen und Anschauungen alles sind, was uns von der Vergangenheit zu wissen möglich 80
A. 2. Nachtrag
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Eine befriedigende und erschöpfende Behandlung dieses Problems aber würde eine Behandlung des Problems der Wahrnehmung und des Gegenstands der Wahrnehmung voraussetzen: Bevor aus den historischen Materialien Schlüsse gezogen werden können (über vergangenes Geschehen - ,historische Tatsachen'), müssen die Materialien wahrgenommen sein. Leistet aber die Wahrnehmung das, was sie verspricht? Stiftet sie tatsächlich eine Relation zur realen Welt, und wenn ja, in welcher Weise? Die Erörterung des Problems der ,historischen Tatsachen' setzt voraus eine Erörterung des "grundsätzlichen Anspruchs der Wahrnehmung, Wahrnehmung zu sein" (so in dem Titel der Arbeit von P. Krausser, 1959). Untersuchungen zum Problem der Wahrnehmung würden jedoch von den Fragestellungen der vorliegenden Arbeit, also den Problemen der historiographischen Erkenntnis, fortführen. Denn die durch die Wahrnehmung aufgeworfenen Probleme, die Probleme einer Theorie der Wahrnehmung, sind Probleme, die allen empirischen Wissenschaften, aller Erfahrung gemeinsam sind, und also nicht Probleme nur einer dieser Wissenschaften. Die Wahrnehmung ist zwar Grundlage und Voraussetzung, Bedingung der Möglichkeit der Historiographie, aber sie ist dies nicht für die Historiographie allein, sondern sie ist dies für alle Empirie. Deswegen können im Zusammenhang der speziellen Probleme der vorliegenden Arbeit die allgemeinen Probleme der Wahrnehmung vernachlässigt werden. Ich beschränke mich in diesem Nachtrag darauf, die diesbezüglichen Auffassungen Droysens wiederzugeben, der seinerseits übrigens in seiner "Historik" in einer ähnlichen Weise verfährt: er unterstreicht die grundlegende, "elementare" (Vor!. 6) Bedeutung der Wahrnehmung, aber er widmet ihr nur sehr wenige Seiten (Vor!. 6-8, Grundr. 32627).
Droysen entwickelt seine Auffassungen im Anschluß an Wilhelm Wundt. Sie muten nicht unmodern an. Unsere Wahrnehmungen (Empfindungen) sind danach nicht "Abbilder", sondern "Zeichen" (Vor!. 6) der wahrgenommenen Wirklichkeit, "Zeichen von den Ursachen .. ., deren Wirkungen sie sind" (Philos. 628). Das heißt: Zum Beispiel die Eigenschaften blau, warm, süß und hochtönend kommen nicht den Dingen an sich zu, sondern sind Empfindunist, daß also ,die Geschichte' nicht äußerlich und realistisch, sondern nur so vermittelt, so erforscht und so gewußt da ist ... " (Kunst u. Meth. 420) (Droysen setzt hier das Wort ,Quellen' in Anführungsstriche; vgl. dazu Anm. 68.)
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
gen, welche die "Einwirkung [d. i. die der Dinge] in dem betreffenden unserer Sinne veranlaßt; nicht das Einwirkende ist blau, warm, süß usw. Wie die Einwirkung empfunden wird, gehört dem Sinn an, der sie aufnimmt. Also die Empfindung ist nicht ein Abbild in unserer Seele von dem, was auf sie eingewirkt hat, sondern nur ein Zeichen, das der Sinn in das Gehirn hinauftelegraphiert, ein Signal von der geschehenen Einwirkung. Denn ein Abbild würde irgendeine Ähnlichkeit mit dem abgebildeten Gegenstande fordern. Ein Zeichen braucht keinerlei Ähnlichkeit der Art mit dem Bezeichneten zu haben; die Beziehung zwischen beiden ist nur, daß der gleiche Gegenstand unter gleichen Umständen einwirkend dieselben Zeichen hervorruft, daß also ungleiche Zeichen immer ungleichen Eindrücken entsprechen." (Vorl. 6-7) "Wir haben in diesenZeichenund ihrenKombinationen nichtAbbilder der Wirklichkeiten, wohl aber ein den Wirklichkeiten entsprechendes System von Wahrnehmungen, das beweglich, mannigfaltig und fein genug ist, um das, was um uns her und in stetem Wechsel ist und geschieht, in der entsprechenden wechselnden Kombination unserer Zeichen zu begleiten und zu beobachten." (Vorl. 7) Diese wenigen Bemerkungen lassen aber immerhin dies erkennen: alle Wirklichkeit ist uns nie direkt, unmittelbar oder rein gegeben, sondern immer nur durch Zeichen vermittelt63 • Für die historiographische Erkenntnis bedeutet dies, wie oben schon erwähnt, daß die historiegraphischen Aussagen, die selber Zeichen sind und die das Ergebnis des historiegraphischen Erkenntnisprozesses darstellen, als in einem Zeichenprozeß gewonnen verstanden werden können. Ausgangspunkt dieses Prozesses sind die Zeichen, durch die die historischen Materialien dem Historiker in der Wahrnehmung vermittelt sind. Die Interpretation dieser Zeichen durch andere Zeichen - und die Bedeutung eines Zeichens liegt immer nur in anderen Zeichen führt schließlich zu solchen Zeichen, in denen vergangene Realität dargestellt ist (d. i. den historiegraphischen Aussagen). 63 Ein Beispiel: die Wirklichkeit eines grünen Tisches ist mir gegeben durch die Wahrnehmung ,grüner Tisch'; diese Wahrnehmung fasse ich auf als ein Zeichen der Wirklichkeit, die ich in der Wahrnehmung ,grüner Tisch' wahrnehme. Weiter: Die Wahrnehmung ,grüner Tisch' veranlaßt mich zu der Äußerung: ,Dieser Tisch hier ist grün'. Die Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung und den Worten, mit denen ich die Wahrnehmung beschreibe, macht deutlich, daß ich die Zeichen, in denen mir die Wirklichkeit in der Wahrnehmung gegeben ist, interpretiere mit Hilfe von anderen Zeichen, nämlich denen der Sprache.
B. Die Droysensche Klassifikation der historischen Materialien
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"Wie wenig" wir uns auch des Zeichencharakters unseres Wissens "bewußt sein mögen", bemerkt Droysen (Vorl. 7), nur in Zeichen ist uns "die ganze Welt des Seienden und Geschehenden" gegeben. In der Interpretation der uns so vermittelten Wirklichkeit, in der "Entwicklung" von "Systemen von Zeichen" (Grundr. 326), gewinnen wir "eine rastlos sich erweiternde und ergänzende und berichtigende Vorstellung" von dem "Seienden und Geschehenden" (Vorl. 7); und in der Interpretation - so darf hinzugefügt werden - des "Seienden und Geschehenden", insofern dieses als historisches Material aufgejaßt werden kann, gewinnen wir in einem Interpretationsprozeß "eine rastlos sich erweiternde und ergänzende und berichtigende Vorstellung" über vergangenes Geschehen, über vergangene Realität. B. Die bistorisehen Materialien (Ihre Klassifikation durch Droysen)
Im Hinblick auf die grundlegende Bedeutung, die die historischen Materialien für die historiographische Erkenntnis haben (und die in dem Ersten Fundamentalsatz festgestellt ist), ist es von Interesse, die Beschaffenheit dieser Materialien genauer zu bestimmen. Zunächst eine Bemerkung zu der Droysenschen Terminologie. Es ist bereits darauf hingewiesen worden (Anm.ll), daß sie von der (damals und heute) allgemein üblichen abweicht und daß sie aber in der vorliegenden Arbeit- wie in den bisherigen Kapiteln bereits geschehen beibehalten wird. Die Differenz beruht im wesentlichen auf dem unterschiedlichen Gebrauch des Terminus ,Quelle'. Die Gesamtheit dessen, woraus der Historiker seine Informationen über vergangenes Geschehen schöpft und von der im allgemeinen als von ,Quellen' gesprochen wird, nennt Droysen nicht ,Quellen', sondern eben - wie aus dem bisherigen, an Droysen anschließenden Sprachgebrauch in der vorliegenden Arbeit bereits geläufig- "historische Materialien" (z. B.: Vorl. 115, Vorl. 313) bzw. "historisches Material" (z. B.: Vorl. 37, Grundr. 332)64. Innerhalb des Gesamts der historischen Materialien unterscheidet Droysen drei "Kategorien" oder "Reihen" (Vorl. 38), nämlich Überreste, Quellen und Denkmäler. Der Terminus ,Quelle' hat somit bei Droysen eine wesentlich engere Bedeutung als im allgemeinen üblich, es ist mit 64 Statt von "historischem Material" und "historischen Materialien" spricht Droysen auch von "geschichtlichem Material" (Vorl. 144-45) und "geschichtlichen Materialien" (Vorl. 96).
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
ihm nicht das Gesamt der historischen Materialien bezeichnet, sondern nur eine Gruppe derselben65 • Durch die Droysensche Einteilung der historischen Materialien in die genannten drei "Kategorien" oder "Reihen" (Überreste, Quellen, Denkmäler) sind zugleich bedeutsame Aussagen über die Materialien gemacht. Oberreste sind solche historischen Materialien, die die in einer Gegenwart "noch gegenwärtigen Reste der Vergangenheit" (Vorl. 37), die die in der jeweiligen Gegenwart - wie ihr Name sagt - noch vorliegenden ,Überreste' vergangeneo Geschehens ausmachen. Sie sind "aus der Vergangenheit selbst ... noch erhalten" (Vorl. 37) 66 • Quellen sind solche historischen Materialien, die "Auffassungen" (Vorl. 65) von vergangenem Geschehen geben. In ihnen ist die Vergangenheit "in die Vorstellungen der Menschen übergegangen und zum Zweck der Erinnerung überliefert" (Grundr. 333). Quellen (im Sinne des Droysenschen Sprachgebrauchs) sind also jene Gruppe der historischen Materialien, die heute in der Regel - im Anschluß an Ernst Bernheim- als ,Tradition' bezeichnet wird. Droysen betont die Informationsabsicht der Quellen: " ... wesentlich ist uns an ihnen [d. i. den Quellen], daß die, von denen sie stammen, die Absicht hatten, Nachricht von früheren Vorgängen oder Zuständen zu geben." (Vorl. 37)67 Diese erklärte Absicht der Quellen, über vergangenes Geschehen informieren zu wollen, war es, die Droysen bewog, sie, also die Quellen -und nur sie, also nicht auch die anderen historischen Materialien-, mit dem Terminus ,Quellen' zu bezeichnen; " ... es empfiehlt sich, die6 5 Bei einem Sprachgebrauch wie dem beschriebenen, also der Verwendung der Termini ,historisches Material' und ,Quellen' in dem angegebenen Sinne, fehlte es Droysen nicht an einem "übergeordneten Begriff", der Überreste, Denkmäler und Quellen (Quellen im Sinne Droysens) deckt, wie A. von Brandt (1966, 62) annimmt. Droysen hat diesen "übergeordneten Begriff" eben in dem Begriff der historischen Materialien. 66 "In der Fülle der Überreste" (Grundr. 333) unterscheidet Droysen vier Gruppen : "a) Werke menschlicher Formgebung (künstlerische, technische usw., Wege, Feldfluren usw.); b) Zustände sittlicher Gemeinsamkeiten (Sitten und Gebräuche, Gesetze, staatliche, kirchliche Ordnungen usw.); c) Darlegung von Gedanken, Erkenntnissen, geistigen Vorgängen aller Art (Philosopheme, Literaturen, Mythologeme usw., auch Geschichtswerke als Produkte ihrer Zeit); d) Geschäftliche Papiere (Korrespondenzen, Rechnungen, Archivalien aller Art usw.)." (Grundr. 333) 67 Im Anschluß an Droysens Unterscheidung zwischen Überrest und Quelle und bei gleichzeitiger Akzentuierung der vorhandenen bzw. nichtvorhandenen Informationsabsicht unterscheidet Mikoletzky (1950) "unwillkürliche" und "willkürliche" Überlieferung.
B. Die Droysensche Klassifikation der historischen Materialien
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jenigen, die Quellen sein wollen, auch Quellen zu nennen". (Kunst u. Meth. 421; von Droysen hervorgehoben.) Droysen war der Ansicht, daß die von ihm vertretene Terminologie in der Literatur allgemein übernommen werden sollte: "Und es wäre methodisch von nicht geringem Werth, wenn dieser Unterschied von Oberresten und Quellen auch in dem festen Gebrauch dieser Ausdrücke durchgeführt würde". (Quellencritik 18; hervorgehoben von Droysen.) Mit dem engen Sprachgebrauch (Quellen als eine Gruppe der historischen Materialien) setzte sich Droysen somit bewußt gegen den- auch schon zu seiner Zeit allgemein üblichen - weiten Sprachgebrauch (Quellen als das Gesamt der historischen Materialien) ab68 • Aus der Eigenschaft der Quellen, "Auffassung" zu sein, gewinnt Droysen ein Kriterium zu ihrer Klassifikation. Das relative Überwiegen des "Subjektiven" bzw. des "Sachlichen" (Vorl. 65) in der "Auffassung" ist dieses Kriterium69 • 68 Vgl. z. B. Vorl. 37: Wenn man auch "gewohnt" ist, alle historischen Materialien "als Quellen zu bezeichnen", so legt aber "der sachliche Unterschied", der zwischen den historischen Materialien besteht, eine andere Art der Benennung der Materialien nahe, nämlich die von Droysen durchgeführte und empfohlene. An einer anderen Stelle, wo Droysen von der von ihm vertretenen Terminologie abweicht, also von Quellen im Sinne des Gesamts, nicht einer Gruppe der historischen Materialien spricht, verwendet er Anführungsstriche: "... daß die Grundlage unserer Studien die P rüfung der ,Quellen' ist ..." (Kunst u. Meth. 420) 69 "Sind die Quellen Auffassungen, so ist in ihnen ein doppeltes Moment, das des Auffassenden und dessen, was er aufzufassen hat. Man wird die Quellen danach unterscheiden dürfen, ob das eine oder andere Moment in ihnen sich stärker geltend macht, ob sie mehr subjektiv sind oder mehr sachlich sein wollen." (Vorl. 65) Demnach unterscheidet Droysen eine "subjektive Reihe" der Quellen (Vorl. 66, Grundr. 334) und eine "pragmatische Reihe" (Vorl. 70, Grundr. 334), wobei Droysen im Falle der "pragmatischen Reihe" bei der Bezeichnung mit Absicht (Vorl. 70) auf das Wort "objektiv" verzichtet; er nimmt in die "pragmatische Reihe" alle diejenigen Quellen auf, "die möglichst sachgemäß zu sein beabsichtigen" (Vorl. 70). Innerhalb jeder dieser beiden "Reihen" unterscheidet Droysen sodann verschiedene Untergruppen. "Zu der subjektiven Reihe gehören teils solche, in denen die Auffassung durch die vorherrschende Phantasie oder Empfindung getrübt ist (Sage, historische Lieder usw.), teils solche, in denen das Sachliche nur als Stoff anderweitiger Konteropiationen und Argumentationen dient (Reden im Gericht, Parlament usw., publizistische Schriften usw., die Propheten, Dante, Aristophanes usw.). In der pragmatischen Reihe werden sich teils die mehr referierenden und die mehr kombinierenden unterscheiden lassen, teils wird der Zweck der Auffassung auch die Art derselben mitbestimmen; denn die Auffassung ist eine andere, je nachdem sie für die eigene Erinnerung oder für andere, für einen oder wenige oder für alle, für die Mitwelt oder für die Nachwelt, zur Belehrung, zur Unterhaltung oder zu geschäftlichen Zwecken bestimmt ist." (Grundr. 334)
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
Wenn nun aber auch das für die Quellen als Quellen charakteristische Merkmal ist, "Auffassungen" eines vergangenen Geschehens zu geben, so kommt ihnen - in einem anderen Zusammenhang - aber auch das Merkmal zu, Überrest zu sein. Sie sind "Überreste der Gegenwart ... , in der sie entstanden" (Vorl. 37). Quellen geben "Auffassungen" einer Vergangenheit, die ihrerseits die Vergangenheit eines Geschehens ist, von dem die Quellen Überreste sind. Die Denkmäler (als die nach der Droysenschen Einteilung dritte und letzte Gruppe der historischen Materialien) sind solche Materialien, die -erstens- von der Vergangenheit, von der sie Kenntnis ermöglichen, Überreste sind und die- zweitens- zugleich über die Vergangenheit, von der sie Überreste sind (oder über bestimmte Vorgänge aus derselben), Auffassungen bieten. Damit verbinden sich in ihnen die charakteristischen Eigenschaften der beiden anderen Gruppen der historischen Materialien (Vorl. 38, Grundr. 333), und so begründet sich ihr "gemischter Charakter" (Vorl. 55). Urkunden, Inschriften, monumentale Bau- und Kunstwerke, Münzen und Wappen zählt Droysen zu den Denkmälern. Eine Urkunde als ein Denkmal ist ein Überrest des Geschäftes, das sie abschloß, und insofern gehört sie in die Gruppe der Überreste. Andererseits ist in der Urkunde das Geschäft, das sie abschloß und das sie für die Zukunft bezeugen will, "in einer bestimmten Form der Auffassung" (Vorl. 50) fixiert, und insofern gehört sie in die Gruppe der Quellen. Beide Eigenschaften sind nicht voneinander zu trennen, sie bedingen einander. Die Definition der Denkmäler aus dem "Grundriß" lautet: "Überreste, bei deren Hervorbringung zu anderen Zwecken (des Schmuckes, der praktischen Benutzung usw.) dieAbsieht derErinnerung mitwirkte, sind Denkmäler." (Grundr. 333) Mit dem Hinweis auf "Hervorbringung zu anderen Zwecken" als denen der Erinnerung ist in diesem Satz aufmerksam gemacht auf die Funktion, die die Denkmäler im aktuellen Lebensvollzug der Gegenwart, der sie angehören, besitzen. In zwei anderen Droysenschen Definitionen der Denkmäler, die sich in den Vorlesungsmanuskripten finden, fehlt dieser Hinweis, und sie werden dadurch - als Definitionen der Denkmäler - unbrauchbar, weil sie in dieser Form bestimmte historische Materialien, die zu den Quellen gehören, aus der Gruppe der Denkmäler nicht ausschließen. Es handelt sich um die beiden folgenden Definitionen. Denkmäler "sind Überreste einer vergangenen Zeit, aus der sie für die künftigen Geschlechter Zeugnis über einen bestimmten Vorgang geben, die Vorstellung über denselben fixieren wollen" (Vorl. 38).
B. Die Droysensche Klassifikation der historischen Materialien
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Denkmäler "wollen aus der Zeit, aus den Vorgängen oder Geschäften, von denen sie Überreste sind, etwas bezeugen oder für die Erinnerung fixieren ... " (Vorl. 50) Dem Wortlaut dieser beiden Definitionen nach könnten Tagebücher, Chroniken und Memoiren, die Droysen zu den Quellen zählt (Vorl. 7579), auch als Denkmäler betrachtet werden. Die Droysensche Einteilung der historischen Materialien in Überreste, Quellen und Denkmäler ist eine Einteilung nach Maßgabe des Verhältnisses der historischen Materialien zu dem vergangeneu Geschehen, von dem sie Kenntnis ermöglichen. (Vorl. 36) Ein vorliegendes historisches Material kann von einem vergangenen Geschehen eine "Auffassung" bieten (Quellen), ein Überrest des Geschehens sein oder aber sowohl ein Überrest sein als auch eine "Auffassung" bieten (Denkmäler). "Historisches Material ist teils, was aus jenen Gegenwarten, deren Verständnis wir suchen, noch unmittelbar vorhanden ist (Vberreste), teils was von denselben70 in die Vorstellungen der Menschen übergegangen und zum Zweck der Erinnerung überliefert ist (Quellen), teils Dinge, in denen sich beide Formen verbinden (Denkmäler)." (Grundr. 332-33) Dabei ist von Belang, daß nicht jedes historische Material eo ipso einer der genannten Gruppen zugehörig ist; welcher Gruppe es zugehörig ist, richtet sich danach, als was es von dem vergangenen Geschehen her, dem jeweils gerade das Erkenntnisinteresse des jeweiligen Historikers gilt, zu betrachten ist; das gleiche Material kann einmal den Quellen, ein andermal den Überresten zugehören. Dieser Bezugspunkt in der Droysenschen Einteilung der historischen Materialien ist deshalb von Belang, weil er bestimmte Eigentümlichkeiten dieser Klassifikation erklärt, Eigentümlichkeiten, die sonst nicht recht verständlich wären oder widersprüchlich erscheinen müßten. So wird einerseits allen drei Gruppen, mithin allen historischen Materialien, ausdrücklich Überrestcharakter zugesprochen. (Für die Quellen: Vorl. 37; für die Denkmäler: Vorl. 50; im Falle der Überreste sagt es bereits der Name.) Der Überrestcharakter aller historischen Materialien ist darüber hinaus in dem Ersten Fundamentalsatz festgestellt. Andererseits bilden die Überreste - ebenfalls ausdrücklich - nur eine Gruppe ("Kategorie" oder "Reihe": Vorl. 38) im Gesamt der Materialien. Wenn nun auch alle Materialien Überrestchrakter besitzen, so ist es doch dann sinnvoll, von einer Gruppe oder "Reihe" der Überreste zu reden (neben den anderen Gruppen oder "Reihen" der Quellen und 70 "Derselben" (Grundr. 333, Zeile 1) ist offensichtlich fehlerhaft; auch Grundr. 332, Anm. 13 legt nahe, daß es richtig "denselben" heißen müßte.
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
Denkmäler), wenn die Einteilung der Materialien eine Einteilung nach dem genannten Gesichtspunkt ist: Unter dem Bezugspunkt eines bestimmten vergangeneo Geschehens G 1 erscheinen bestimmte Materialien als Überrest -und diese konstituieren die Gruppe der Überreste; erscheinen andere Materialien als Quellen ("Auffassungen") - und diese konstituieren die Gruppe der Quellen; erscheinen wieder andere als Denkmäler - und diese konstituieren die Gruppe der Denkmäler. Unter dem Bezugspunkt eines anderen vergangeneo Geschehens G 2 können Materialien, die im Falle von G 1 Überrest waren, nunmehr Quellen sein und umgekehrt. Eine gewisse Modifikation der Droysenschen Klassifikation der historischen Materialien nimmt Armin Wolf (1961, 273 f.)1 1 in seiner Interpretation derselben vor. Wolf betont a) den Überrestcharakter aller historischen Materialien, b) die vorliegende oder nicht vorliegende Informationsabsicht der Materialien und c) die Art und Weise, in der die letztere vorliegt, wenn sie vorliegt. Wolf schreibt: Nach Droysen "gilt alles aus der Vergangenheit vom Menschen (absichtslos) Hinterlassene als Überrest, alles aus der Vergangenheit als Zeugnis (bewußt) Hinterlassene als Denkmal, alles aus der Vergangenheit als Zeugnis über deren Vergangenheit Hinterlassene als ,Quelle'." (Wolf 1961, 273) Diese Wolfsehe Interpretation kann weitergeführt werden, indem die drei Gruppen der Materialien wie folgt bestimmt werden. Überreste sind Überreste einer Vergangenheit V ohne Informationsabsicht. Denkmäler sind Überreste einer Vergangenheit V mit Informationsabsicht, und zwar mit Informationsabsicht über die Vergangenheit V, wobei aber diese Materialien hierüber hinaus noch eine andere Funktion, nämlich im aktuellen Lebensvollzug des Geschehens der Gegenwart der Vergangenheit V, besitzen. Quellen sind Überreste einer Vergangenheit V mit Informationsabsicht, und zwar mit Informationsabsicht über die Vergangenheit der Vergangenheit v12. 71 Neben Klaus Zimmermann und Rudolf Vierhaus ist Armin Wolf innerhalb des "Allgemeinen Teils" der neuen 10. Auflage des "Dahlmann-Waitz" (1965 ff.) Bearbeiter der Abschnitte über "Geschichte als Wissenschaft". 72 Eine solche Bestimmung der drei Gruppen der historischen Materialien birgt in sich bestimmte Schwierigkeiten und Ungenauigkeiten, die sich jedoch über Armin Wolf bis zu Droysen zurückverfolgen lassen und auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll. Sie betreffen die Abgrenzung der Denkmäler und Quellen voneinander und ergeben sich bei dem Versuch der genaueren Bestimmung des Unterschieds zwischen den beiden Gruppen, und zwar dann, wenn beachtet wird, daß sowohl die Quellen als auch die Denkmäler Überrest und Auffassung zugleich sind. (In dem Text oben liegen die Ungenauigkeiten u. a. in den Formulierungen "Informationsabsicht über die Vergangenheit V" und "Informationsabsicht über die Vergangenheit der Vergangenheit V".)
B. Die Droysensche Klassifikation der historischen Materialien
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Abschließend sei die Frage aufgeworfen, worin die - nach der Droysenschen Einteilung - drei Gruppen der historischen Materialien einander gleich sind, worin der Charakter der historischen Materialien als historischer Materialien begründet ist. Droysen schreibt: "Die Überreste wie die Quellen sind uns darum historisches Material, weil sie Kenntnis von Geschehnissen vergangeuer Zeiten geben, also von Willensakten, die einst in ihrer Gegenwart waren und wirkten ... " (Vorl. 98) Aus dem Zusammenhang, aus dem dieses Zitat stammt, geht hervor, daß Droysen, obgleich er hier nur von Überresten und Quellen redet, das Gesamt der historischen Materialien meint, also Überreste, Quellen und Denkmäler. Nach dieser Äußerung Droysens nun erfüllen Überreste, Quellen (und auch Denkmäler) zwei Bedingungen, weshalb von ihnen als von historischen Materialien gesprochen werden kann. 1. Sie geben, ermöglichen "Kenntnis von Geschehnissen vergangeuer Zeiten"; 2. es handelt sich dabei aber nicht um ein beliebiges vergangenes Geschehen, sondern um "Willensakte".
Als Träger von Informationen über vergangenes Geschehen, als zugängliche Vermittler von Informationen über ein nicht mehr zugängliches Geschehen sind es die historischen Materialien, die begründete Aussagen über vergangene Wirklichkeit, die "Kenntnis von Geschehnissen vergangeuer Zeiten" ermöglichen. Dieses erste Merkmal in der Droysenschen Definition der historischen Materialien ergibt sich aus dem Ersten Fundamentalsatz und ist auch im Sinne der Ausführungen in Kapitel II A. der vorliegenden Arbeit. In dem zweiten Merkmal nun nimmt Droysen eine Beschränkung der historischen Materialien und damit der Historiographie auf die sittliche Welt des Menschen ("Willensakte") vor. "Das Material ... unseres Forschens ist, was aus den Vergangenheiten der sittlichen, der Menschenwelt noch unvergangen ist." (Vorl. 21)13 Diese Begrenzung der ,historischen Methode' durch Droysen ist aus dem bisher Gesagten nicht voll verständlich; sie hat ihre Gründe einmal in denjenigen Droysenschen Auffassungen, die seine dualistische Konzeption von "Natur und Geschichte" (vgl. Anm. 10) stützen, und zum andern in dem Zweiten Fundamentalsatz, der Droysenschen Verstehenslehre. (In einem späteren Kapitel der vorliegenden Arbeit, und zwar im Zusammenhang der ErAn anderer Stelle: Von der Forschung kann "alles und jedes, was die an sich trägt", als historisches Material herangezogen werden. (Vorl. 38, hervorgehoben von mir.) 73
Spur von Menschengeist und Menschenhand
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Teil 11. Der Erste Fundamentalsatz
örterungen zum Zweiten Fundamentalsatz - s. u. S. 125 - , ist darauf hingewiesen, daß Droysen in seine Klassifikation der historischen Materialien nur Phänomene ganz bestimmter Art, nämlich ,Ausdrucks'-phänomene, aufgenommen hat.) Der Erste Fundamentalsatz scheint die Beschränkung und Begrenzung der ,historischen Methode' in keiner Weise zu fordern; leitet man die Definition der historischen Materialien aus dem Ersten Fundamentalsatz ab (und läßt die Einschränkungen, die sich aus den anderen Zusammenhängen ergeben, außer acht), dann könnte eine solche Definition etwa lauten: historisches Material ist alle gegenwärtige Wirklichkeit, die - und insofern sie - geeignet ist, Aussagen über vergangene Wirklichkeit zu ermöglichen74 • C. Vier ,Phasen' in der historiographischen Erkenntnisarbeit
Die historiographische Erkenntnis - die an den im vorangegangenen Kapitel behandelten Überresten, Denkmälern und Quellen, den histo74 Vgl. dazu die Definitionen aus der Literatur. Dem unterschiedlichen Sprachgebrauch gemäß ist in der Literatur nicht - wie bei Droysen - von "historischen Materialien" und "historischem Material" die Rede, sondern von "Quellen". Paul Kirn (1963, 29-30): "Quellen nennen wir alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann." A. v. Brandt (1966, 58) schließt sich der Kirnschen Definition an. Karl Heinz Quirin (1964, 45) bestimmt die historischen Materialien mit dem folgenden Satz: "Als GeschichtsqueUe vermag alles zu dienen, was seinem Wesen nach geeignet ist, über Vergangenes auszusagen." Wilhelm Bauer (1928, 157): "Zur Geschichtsquelle im weitesten Sinne des Wortes kann alles werden, was uns zur geistigen Rekonstruktion geschichtlichen Lebens den Stoff liefert." Erich Keyser (1931, 47) will die Definition von Bauer verkürzen und schreibt: "Als geschichtliche Quelle ist alles zu betrachten, was zur Erkenntnis der Vergangenheit dient." Da ja nun aber zweifellos z. B. auch der Begriffsapparat, den der Historiker mitbringt, "zur Erkenntnis der Vergangenheit dient", ist diese Definition zu weit, zu ungenau im Ausdruck. Vgl. auch noch Aloys Meister (1913, 8): "Alles das, woraus wir eine historische Erkenntnis schöpfen können, ist eine geschichtliche Quelle." Die Definition der historischen Materialien von Ernst Bernheim ist mit guten Gründen durch A. v. Brandt kritisiert und zurückgewiesen worden. Bernheims Definition lautet: "Quellen sind Resultate m enschlicher Betätigungen, welche zur Erkenntnis und zum Nachweis geschichtlicher Tatsachen entweder ursprünglich bestimmt oder doch vermöge ihrer Existenz, Entstehung und sonstiger Verhältnisse vorzugsweise geeignet sind." (Bernheim
1908, 252) Dazu A. v. Brandt: "Abgesehen von der unzulänglichen Beschränkung auf
,Resultate' menschlicher Betätigung (wonach z. B. menschliche Überreste, wie Skelette, Schädel usw. als Quellen auszuschließen wären), zeigt Bernheims Definition noch in sehr eigentümlicher Weise die für die ältere Geschichtsschreibung charakteristische Bevorzugung der Quellengruppe der Tradit ion (,zur Erkenntnis und zum Nachweis ... ursprünglich bestimmt') ... " (A. v. Brandt 1966, 58)
C. Vier ,Phasen' in der historiographischen Erkenntnisarbeit
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rischen Materialien, ansetzt - gelangt zu ihren Ergebnissen in einer Anzahl von Arbeitsgängen. Es ist bereits (Kapitel II A.) von einer Reihe von Operationen und Schlußverfahren, die die Historiographie ausübt, die Rede gewesen. Die Erkenntnisarbeit, die der Historiker leistet, ist von Droysen in vier ,Phasen' gegliedert worden: Heuristik, Kritik, Interpretation und Topik. Eine Umdisponierung, die Droysen in der dritten Auflage des "Grundrisses" vorgenommen hat, ist geeignet, über die Zusammengehörigkeit dieser vier verschiedenartigen Arbeitsgänge hinwegzutäuschen. Bis zur einschließlich zweiten Auflage im Jahre 1875 hatte der "Grundriß" zwei Hauptteile, die "Methodik" und die "Systematik". Die "Methodik" umfaßte vier Abschnitte, nämlich Heuristik, Kritik, Interpretation und Darstellung. In der dritten Auflage des Jahres 1882 nahm Droysen die Darstellung aus dem Zusammenhang der "Methodik" heraus, nannte sie "Topik" und machte sie nach "Methodik" und "Systematik" zu einem dritten Hauptteil der "Historik". Im Vorwort zur dritten Auflage begründete Droysen diese Änderung in der Disposition: sie habe sich "in wiederholten Vorträgen als zweckmäßiger erwiesen" (Grundr. 320). Durch diese Änderung scheint nicht nur der sachlich-systematische Zusammenhang innerhalb der "Methodik" (nämlich die Aufeinanderfolge von Heuristik, Kritik, Interpretation und Topik), sondern auch die Konzeption einer zweiteiligen "Historik" (bestehend aus "Methodik" und "Systematik") zerstört. Die von Droysen genannten Gründe für die Umdisponierung (Zweckmäßigkeit im öffentlichen Vortrag) können aber als solche verstanden werden, die gleichsam nur ,von außen' an die ursprüngliche Disposition herangetragen wurden und den sachlichsystematischen Zusammenhang nicht berühren. Es ist jedoch auch eine andere Deutung möglich. (Dazu s. Anm. 94.) In Anla.ge und Entwurf der vorliegenden Arbeit ist an der ursprünglichen Gliederung (zweiteilige "Historik"; Darstellung bzw. Topik zur "Methodik" gehörig) festgehalten worden. Die Unterscheidung von verschiedenen Arbeitsgängen in der historiographischen Erkenntnis (nach Droysen also: Heuristik, Kritik, Interpretation und Topik) ist gegenüber der lebendigen Wirklichkeit der Erkenntnis eine idealtypische Konstruktion 75 ; über das Grundsätzliche 75 Sie mag das Mißverständnis nahelegen, daß der historiographische Erkenntnisprozeß von gleichsam linearer Struktur sei; seine tatsächliche Zirkelstruktur (,heuristischer Zirkel'), also der oben (Kapitel I B.) beschriebene Prozeß der steten Modifizierung und Korrektur der Hypothesen an den historischen Materialien, wird dadurch verdeckt.
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
einer solchen Unterscheidung jedoch und die Bestimmung des jeweiligen Charakters der verschiedenen ,Phasen' im groben herrscht in der Literatur im wesentlichen Übereinstimmung. Unterschiedlich sind dagegen die einzelnen Bezeichnungen; die nach Droysen vierte ,Phase', die Topik, gilt häufig bei anderen Autoren nicht als eine selbständige neben Kritik und Interpretation. (Überhaupt führt natürlich eine andere Konzeption, eine völlig andere Anlage bei Arbeiten bestimmter Autoren auch sachlich zu Differenzen, die hier aber nicht im einzelnen erörtert werden sollen.) Auf Gemeinsamkeiten in der Auffassung sei durch die folgenden Bemerkungen hingewiesen. Ernst Bernheim (1908) schließt sich weitgehend Droysen an. Die Heuristik beschränkt er aber im wesentlichen auf Quellenkunde, statt wie Droysen von "Interpretation" spricht er von "Auffassung"; "Interpretation" bei Bernheim ist neben "Kombination" und "Reproduktion" eine der Aufgaben der "Auffassung" (Bernheim 1908, 562). Homer Carey Hockett unterscheidet nur drei ,Phasen', "three essential processes" (Hockett 1955, 9), wobei offensichtlich die Topik (Droysen) aufgenommen ist in die Interpretation. "There are three essential steps in the production of any written historical work: the gathering of the data; the criticism of the data; and the presentation of facts, interpretations, and conclusions in readable form." (Hockett 1955, 9) Die Arbeit von Erslev (1928) gliedert sich in drei große Abschnitte: "Die Quellen", "Prüfung der Quellen" und "Schluß auf die Wirklichkeit"; das entspricht - im groben und unter gewissen Gesichtspunkten Droysens Heuristik, Kritik und Interpretation. Langlois und Seignobos (1898) behandeln in Buch I die Heuristik ("la recherche des documents") zusammen mit den sogenannten historischen Hilfswissenschaften. Gegenstand des II. Buches ist die Kritik ("operations analytiques"). Buch 111 behandelt - nach der Droysenschen Terminologie - die Interpretation ("operations synthetiques"). Diese Hinweise mögen genügen. Es sollen im folgenden nur zwei der von Droysen unterschiedenen vier Arbeitsgänge, nämlich nur Kritik und Interpretation, ausführlicher behandelt werden. Die Probleme, die die beiden anderen ,Phasen', Heuristik und Topik, aufwerfen, sind durchaus nicht nur ,am Rande' von Interesse; Heuristik und Topik reichen aber, was ihre Bedeutung in der historiographischen Erkenntnis angeht, nicht an Kritik und Interpretation heran. Die Heuristik beschreibt die Operationen, die vor Kritik und Interpretation ausgeführt werden, die Topik die Operationen, die anschließend an Kritik und Interpretation ausgeführt werden.
C.l. Kritik
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Es seien in Kürze em1ge wenige Bemerkungen zu den beiden vernachlässigten Arbeitsgängen gemacht. Zunächst zur Heuristik. Nach den Ausführungen in Kapitel I B. gilt, daß am Anfang von Erkenntnisprozessen ein mehr oder weniger bestimmtes Wissen problematisch wird und daß mögliche Alternativen zu dem bisherigen Wissen, neue Hypothesen, formuliert werden. "Der Ausgangspunkt des Forschens", sagt Droysen (Grundr. 332), "ist die historische Frage". Diese neuen Alternativen, Hypothesen, erfordern ihre Erprobung am historischen Material, werden an dem historischen Material weiterentwickelt, entfaltet. Das historische Material ist aber nicht in allen Fällen ohne weiteres erreichbar, greifbar; bisweilen (Vorl. 87) ist es noch gar nicht als solches (d. i. als Träger von Informationen über ein bestimmtes vergangenes Geschehen) erkannt. Damit sind die Operationen, die die Heuristik ausführt, in Kürze beschrieben. Sie umfaßt alle diejenigen Operationen, die das "Finden des Materials" (Vorl. 84) ausmachen, sie ist "die Kunst des Suchens der nötigen Materialien" (Vorl. 85). "The first step in the production of a historical work is naturally the gathering of the data pertinent to the topic." (Hockett 1955, 13) Darin sind eingeschlossen das unvermeidliche Suchen in Archiven, Museen und auch Bibliotheken (Langlois u. Seignobos 1898, 1 ff.) oder im Falle der Früh- und Urgeschichtsforschung das ,Begehen' der Landschaft. Innerhalb der Topik behandelt Droysen vier verschiedene Formen, in denen das "historisch Erforschte" (Grundr. 359), das Ergebnis der Forschung, zur Darstellung ,gebracht werden kann, nämlich die "untersuchende Darstellung", die "erzählende Darstellung", die "didaktische Darstellung" und die "diskussive Darstellung". Zum Problem der Darstellungsformen vgl. auch Armin Wolf (1961, 61 ff.). 1. Die Kritik Wenn die für einen Problemzusammenhang relevanten historischen Materialien als solche erkannt und gesammelt sind, werden sie der Kritik unterworfen. Droysen unterscheidet vier Formen der Kritik, die "Kritik der Echtheit", die "Kritik des Früheren und Späteren", die "Kritik des Richtigen" und viertens die "kritische Ordnung des Materials" 78• 76 "Es fragt sich, ob das Material wirklich das ist, wofür es gehalten wird oder gehalten werden will. Darauf antwortet die Kritik der Echtheit." (Grundr. 336) "Es fragt sich, ob das Material noch unverändert das ist, was es ursprünglich war und noch sein will, oder welche Veränderungen an demselben zu
5 Spieler
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
Geläufiger als Droysens Vierteilung der Aufgaben und Funktionen der Kritik ist die Zweiteilung in einerseits Äußere oder Niedere und andererseits Innere oder Höhere Kritik. Nach dem zweiteilenden Schema können die Operationen, die Droysen in der "Kritik der Echtheit" und der "Kritik des Früheren und Späteren" beschreibt, größtenteils der Äußeren Kritik zugerechnet werden und die "Kritik des Richtigen" (Droysen) der Inneren Kritik. Droysens vierte Form der Kritik, die "kritische Ordnung des Materials", baut in gewisser Weise auf den ihr vorangestellten drei anderen Formen auf; sie stellt fest, wie vollständig oder unvollständig das vorliegende Material ist. (Vorl. 144) Die Operationen, die von der Kritik ausgeführt werden, mögen als von einer verwirrenden Vielfalt erscheinen. Wilhelm Bauer (1928, 192 ff.) nennt als Aufgaben der Äußeren Kritik (die er auch als "vorbereitende kritische Behandlung" der historischen Materialien bezeichnet) unter anderem: die Feststellung der Entstehungszeit des vorliegenden historischen Materials, die Feststellung seines Entstehungsortes, die Feststellung seines Urhebers, die Feststellung seiner Echtheit, die Feststellung von gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnissen zwischen historischen Materialien und die Textvergleichung (,Stammbaum'- oder Stemmakonstruktionen). Ernst Bernheim (1908, 330 ff. und 1912, 113 ff.) und Homer Carey Hockett (1955, 14) bestimm en die Aufgaben der Äußeren Kritik in ähnlicher Weise; grundsätzlich nicht anders auch Langlais und Seignobos (1898, 51 ff.). Der Inneren Kritik werden historische Materialien unterworfen, "sofern in ihnen Auffassungen zum Ausdruck kommen" (Vorl. 122), so Droysen über die "Kritik des Richtigen"; wie bemerkt, entspricht die "Kritik des Richtigen" (in der Droysenschen Vierteilung der Aufgaben der Kritik) der Inneren Kritik (in der üblicheren Zweiteilung der Aufgaben der Kritik). Die "Kritik des Richtigen" ist die Kritik der in dem historischen Material "dargelegten Auffassung des einst Wirklichen, von dem es [d. i. das Material] Zeugnis geben will" (Vorl. 122). erkennen und außer Rechnung zu stellen sind. Darauf antwortet die Kritik des Früheren und Späteren (das diakritische Verfahren)." (Grundr. 336) "Es fragt sich, ob das Material, da es wurde, das gab und geben konnte, wofür es als Beleg gehalten wird oder gehalten werden will, oder ob es gleich, da es wurde, nur teilweise, nur in gewisser Art, nur relativ richtig sein konnte oder wollte. Darauf antwortet die Kritik des Richtigen." (Grundr.
336-337)
"Es fragt sich, ob das Material, wie es vorliegt, noch alle Momente enthält, von denen die Forschung Zeugnis sucht, oder in welchem Maße es unvollständig ist. Darauf antwortet die kritische Ordnung des verifizierten Materials." (Grundr. 338)
C. 1. Kritik
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"Statements" 77 (also mit Droysens Worten "Auffassungen") und nicht "documents" werden von Hockett (1955, 14 und 41) als der Gegenstand der Inneren Kritik bezeichnet. Gegenüber "statements" oder "Auffassungen" aber sind zwei kritische Fragen möglich: a) Was hat der Autor überhaupt gemeint? (Es muß der Sinn der Behauptungen eines Autors festgestellt werden.) b) Sind die Behauptungen des Autors ten Sinn - richtig?
in dem nach a) festgestell-
Die erste Frage beantwortet die sogenannte Positive Kritik, die zweite die sogenannte Negative Kritik. Positive und Negative Kritik sind die beiden Formen der Inneren Kritik. Langlois und Seignobos (1898, 118-19) unterscheiden diese beiden Formen, indem sie formulieren: "1. l'analyse du contenu du document et la critique positive d'interpretation, necessaires pour s'assurer de ce que l'auteur a voulu dire;
2. l'analyse des conditions ou le document s'est produit et la critique negative, necessaires pour contröler les dires de l'auteur." Hockett (1955, 14) faßt die Unterscheidung in den folgenden Satz: " . . . the historian . .. applies Interna! ... Criticism to determine the meaning [so im Falle der Positiven Kritik] and trustworthiness [so im Falle der Negativen Kritik] of statements .. ." Die Unterscheidung zwischen Positiver und Negativer Kritik wird nicht von allen Autoren gemacht; häufig werden der Inneren Kritik nur die Aufgaben der Negativen Kritik zugeschrieben - so auch bei Droysen in seiner "Kritik des Richtigen". Die Operationen der Positiven Kritik mögen von manchen Autoren für so ,selbstverständlich' erachtet werden, daß sie - obzwar in der Praxis jeweils durchgeführt - in der Theorie vernachlässigt werden; oder sie werden behandelt, nur nicht -neben der Negativen Kritik- als eine der beiden Formen der Inneren Kritik, sondern in anderen Zusammenhängen usw. Die Feststellung dessen, was bei (in historischen Materialien vorliegenden) "Auffassungen" oder "statements" überhaupt gemeint ist dies die Aufgabe der Positiven Kritik-, ist das Problem des richtigen 77 "A statement is nothing more than what some one has said about a matter, and there are many reasons why statements may not be wholly or even partially true. The maker may or may not have witnessed the event; he may have lied deliberately; he may have colored his report more or less unconsciously because of bis own interests, sympathies, or prejudices; he may through ignorance or some other form of incompetence have been incapable of making an accurate observation and report." (Hockett 1955, 13)
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
Verständnisses dieser "Auffassungen" oder "Statements". Es ist möglich, daß der Historiker ihm vorliegende Texte in einem Sinne versteht, der von den Texten gar nicht beabsichtigt ist. Dies soll durch die Positive Kritik verhindert werden. (Beispiele bei Hockett 1955, 42 ff.) Es ist klar, daß die Operationen der Positiven Kritik nur einen vorbereitenden Charakter haben, nämlich einen die Operationen der Negativen Kritik vorbereitenden. Erst wenn Sinn und Bedeutung von "Auffassungen", "statements" festgestellt sind, kann die Richtigkeit derselben (durch die Negative Kritik) beurteilt werden; und es ist die Richtigkeit (oder Falschheit) der in den historischen Materialien vorliegenden "Auffassungen" oder "Statements", an denen der Historiker interessiert ist (sofern er die betreffenden Materialien als Quellen im Sinne Droysens -, nicht als Überreste benutzt). Alfred Heuß (1934, 144) schreibt (im Zusammenhang seiner Überlegungen zum Problem der "Tradition"): "Den Erscheinungen gegenüber gilt die Frage: wirklich oder unwirklich, hier oder dort, jetzt, früher oder später. Von einem historischen Bericht wollen wir, solange wir allein auf seinen Sinn, dasjenige, was er besagt, ausgehen, etwas anderes wissen. Das fundamentale Urteilskriterium ist die Alternative: wahr oder falsch." Im Blick auf dieses "fundamentale Urteilskriterium" ("wahr oder falsch"), das sich die Kritik zu eigen macht, im Falle ihr "Berichte" (A. Heuß), "Auffassungen" (Droysen), "Statements" (Hockett) vorliegen und im Falle dieselben als solche und nicht als Überreste von Interesse sind, erhellt die Angemessenheit der Droysenschen Bezeichnung :"Kritik des Richtigen". Angesichts dieser mannigfaltigen und - wie es scheint - sehr verschiedenartigen Operationen, die die Kritik ausführt, ist es naheliegend, danach zu fragen, ob diese Mannigfaltigkeit unter einem Gesichtspunkt dargestellt werden kann, der ein den verschiedenen Operationen Gemeinsames sichtbar werden läßt. Es scheint, daß - wenn die zentralen Operationen der Äußeren Kritik und bestimmte, nicht unbedeutende Operationen der Inneren Kritik interpretiert werden als Ermittlung der Geschichte, des Schicksals des vorliegenden historischen Materials- ein solcher Gesichtspunkt gefunden ist. Wenn auch damit nicht alle Operationen der beiden Formen der Kritik erfaßt sind, so ist der genannte Gesichtspunkt aber doch geeignet, nicht unwesentliche Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Zur Äußeren Kritik. - Wenn versucht wird festzustellen (im Falle dieses unbekannt oder nicht verläßlich bekannt ist oder dieses nur überprüft werden soll), wann ein Text verfaßt und geschrieben wurde, wo er und von wem er verfaßt und geschrieben wurde, dann wird versucht, die Geschichte dieses Textes festzustellen; wenn versucht wird,
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in der Frage der Echtheit des Textes zu einem Urteil zu kommen, wenn also versucht wird festzustellen, ob Fälschungen stattgefunden haben, wird versucht, die Geschichte dieses Textes zu erschließen; aber auch dann, wenn versucht wird, Abhängigkeiten eines vorliegenden Textes von anderen historischen Materialien zu eruieren, seinen ,Stammbaum' zu rekonstruieren, wird versucht, seine Geschichte, sein Schicksal zu ermitteln. Die Äußere Kritik versteht das vorliegende historische Material als Überrest und erschließt, ,ergänzt sich' den Prozeß, dessen Überrest das Material ist. In einer ähnlichen Weise verfährt die Innere Kritik, worauf in der Literatur neben anderen Autoren, die das nur beiläufig bemerkten, insbesondere Langlois und Seignobos (1898) aufmerksam gemacht haben. Gegenstand der Inneren Kritik sind, wie oben erläutert, die in den historischen Materialien vorliegenden "Auffassungen". Die analysierenden Operationen der Inneren Kritik behandeln diese "Auffassungen" als Überreste, nämlich als Überreste derjenigen Prozesse, die sie, die "Auffassungen", haben zustande kommen lassen, in denen und durch die die "Auffassungen" entstanden. In diesem Sinne sprechen Langlois und Seignobos (1898, 46) von den "Auffassungen" als von "des traces d'operations psychologiques". Die Innere Kritik rekonstruiert - so gut und so genau es in dem jeweiligen Fall jeweils noch möglich ist- die Bedingungen, unter denen die vorliegende "Auffassung" entstand, sie rekonstruiert denjenigen Prozeß, der zu der "Auffassung" führte, sie rekonstruiert die Geschichte der vorliegenden "Auffassung". Es gibt eine ganze Anzahl von Faktoren, die in dem genannten Prozeß relevant sind oder sein können. Wilhelm Bauer (1928) nennt als solche Faktoren unter anderem: "die geistige und moralische Struktur einer Zeit" (331) oder "ganze große Zeiträume beherrschende Gefühlsund Denkeinstellungen" (330), die "augenblickliche Lage" (330), in der ein Bericht entsteht, den sozialen Stand (331), das Geschlecht (332), den "Charakter" (332), die "geistige Anlage" und das "körperliche Befinden" (332) des Verfassers. Droysen nennt als Faktoren, die in dem Prozeß der "Umsetzung [d. i. der Geschehnisse] ins Bewußtsein und in die Vorstellung" (Vorl. 134)18 von Bedeutung sind, unter anderem: "die Atmosphäre [einer] Zeit und deren Gemeinvorstellung" (Vorl. 65) oder die "damals und dort herrschenden Vorstellungskreise" (Vorl. 139-40, Grundr. 337); neben solchen "allgemeinen Zeitverhältnissen", deren "geistigen Tendenzen und 78 Ähnlich auch in Vorl. 66' ("das Umsetzen in die Vorstellung") und in Quellencritik 19 ("Umsetzung aus dem Wirklichen in die Vorstellung").
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Richtungen" aber auch "die Individualität des Verfassers nach Talent, Charakter usw." (Vorl.-Nachschr. 92)19• Ich fasse den bisherigen Gedanken zusammen. Die Kritik begreift das vorliegende historische Material als Überrest und rekonstruiert seine Geschichte, seine ,äußere Geschichte' (Äußere Kritik) und seine ,innere Geschichte' (Innere Kritik). Die Kritik identifiziert die historischen Materialien, indem sie ihre Geschichte ermittelt. Aus dem (rekonstruierten) Schicksal, das das Material erlitt, erhellt, warum es dem Historiker so vorliegt, wie es ihm vorliegt. Mit den Begriffen ,Geschichte' und ,Schicksal' ist das Gesamt des Geschehens gemeint, aus dem das Material in der Form hervorging, in der es nunmehr dem Historiker gegeben ist; im Falle eines Bauwerkes also die Summe des Geschehens, das es so werden ließ, wie es sich an dem Tage darstellt, an dem der Historiker es als historisches Material benutzt; im Falle eines Textes die Summe des Geschehens, in dem der Text so wurde, wie er dem Historiker vorliegt, also etwa seine Entstehungsgeschichte und Überlieferungsgeschichte. Schon die Kritik also ,schreibt Geschichte', nämlich die Geschichte der historischen Materialien80• 79 Lange vor den beiden soeben genannten Autoren (Droysen und Bauer) hat Johann Martin Chladenius (1742 und 1752) in seinem Begriffe des "Sehepuncktes" die hier in Rede stehenden Faktoren zusammengefaßt. Im 6. Kapitel seiner "Allgemeinen Geschichtswissenschaft" (1752) beschrieb er den Prozeß der "Verwandelung der Geschichte im Erzehlen". 80 Hierauf ist in der Literatur wiederholt hingewiesen worden; für die Innere Kritik - wie bereits bemerkt - in besonders eindringlicher Weise von Langlais und Seignobos (1898). Vgl. aber auch die einschlägigen Bemerkungen anderer Autoren. Wilhelm Bauer (1928, 247) schreibt anläßlich seiner Bespr echung der Urkunden: "Wie jede historische Quelle, so suchen wir auch die Urkunde in ihrem Werden zu begreifen." Siehe auch Bauer (1928, 262). Paul Kirn (1963, 57): "Die Textkritik und die Quellenanalyse müssen darauf hinarbeiten, den Text nicht als fertige Größe hinzunehmen, sondern in seinem Entstehen zu verfolgen." Als ein sehr einleuchtendes Beispiel zur Illustration dieses Satzes nennt Kirn (1963, 57, Anm. 1) die Friedrichsruher Ausgabe von Bismarcks "Erinnerung und Gedanke". In dieser Ausgabe der Bismarckschen Memoiren könne "das Werden des Textes" studiert werden. Vgl. auch Kirn
(1963, 61).
Die Feststellung der Herkunft eines historischen Materials ("the investigation of the origin of a document") bezeichnet Hockett (1955, 14) als Aufgabe der Äußeren Kritik. Siehe auch die Bemerkungen Karl Brandis (1922, 13 ff.) zur Bedeutung der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte von Texten. Droysen nennt eine der vier Formen der Kritik, die er unterscheidet, die "Kritik des Früheren und Später en"; im Zusammenhang seiner Besprechung dieser Form der Kritik schreibt er: "Es liegt das hier maßgebende Moment in der Natur der historischen Materialien . Indem sie vor allem die Eigenschaft haben müssen, noch gegen-
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Jedoch, zumal die Innere Kritik begnügt sich nicht mit den beschriebenen Operationen, sie leistet mehr als die Ermittlung der Geschichte der vorliegenden "Auffassung"; sie ist- nach Droysen - die "Kritik des Richtigen", nämlich die "Kritik des Richtigen" in der "Auffassung". Diese weiterführenden Operationen der Inneren Kritik setzen jedoch die Kenntnis der Geschichte der "Auffassung" voraus. Wenn es der Inneren Kritik gelingt, den Prozeß, der zu der (in dem vorliegenden historischen Material gegebenen) "Auffassung" führte, zu rekonstruieren, das aber heißt, auch dasjenige zu bestimmen, das in der gegebenen "Auffassung" das ,Auffassende' (oder auch das "subjektive Element" -Bauer 1928, 329) war, also alle diejenigen Faktoren zu bestimmen, die für die besondere Art der gegebenen "Auffassung" konstitutiv waren, die in dem Prozeß der Formierung der "Auffassung" an das Aufzufassende herangetragen wurden und es so ,verzerrten' wenn eine möglichst vollständige Rekonstruktion des in Rede stehenden Prozesses der Entstehung der gegebenen "Auffassung" gelingt, wenn dadurch die gesamte "Auffassung" gleichsam durchsichtig und das in ihr Aufgefaßte so gleichsam sichtbar wird, dann können die so festgestellten, in der "Auffassung" enthaltenen, subjektiven, ,verzerrenden' und ,verformenden' Faktoren auch ,eliminiert' werden. Die Kenntnis der Geschichte einer "Auffassung", also die Kenntnis der Bedingungen, unter denen die "Auffassung" entstand (z. B. die Kenntnis der Vorurteile, der Art und des Umfangs des Wissens des Autors, der sozialen Stellung, der politischen und kirchlichen Parteinahme des Autors der "Auffassung"), ermöglicht es dem Historiker, zu einem begründeten Urteil über die Richtigkeit der "Auffassung" zu gelangen, ermöglicht also das kritische In-Rechnung-Stellen der in der "Auffassung" anwesenden subjektiven, ,verzerrenden' Faktoren, ermöglicht auch das ,Ausspielen' verschiedener "Auffassungen" gegeneinander usw. Der Historiker rekonstruiert die Geschichte der ihm vorliegenden "Auffassung", um durch die Kenntnis eben dieser Geschichte das in der "Auffassung" Aufgefaßte zuverlässiger in den Griff bekommen zu könwärtig zu sein, also bis in die Gegenwart hinein sich erhalten zu haben, so versteht es sich sofort von selbst, daß sie eben nicht mehr so sind, wie sie waren, als sie entstanden, und daß sie sich erhalten haben, weil sie immer weiter mitlebend sich mit neuen Elementen durchzogen oder in ihren Formen verändert wurden, oft bis zur Unkenntlichkeit. So wie sie unmittelbar vorliegen, sind sie der Gegenwart angehörig, sie müssen als historisches Material erst in das richtige Licht gestellt, erst in ihrem chronologischen Nacheinander gesondert und so verifiziert werden." (Vorl. 115) Mit anderen Worten: die Ermittlung der Geschichte der historischen Materialien bedeutet ihre Identifizierung. (Das erhellt auch an dem angenommenen Fall eines neu aufgefundenen, bisher nicht bekannten historischen Materials und der Leistung der Kritik in einem solchen Falle.)
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nen. Heinrich von Sybel verdeutlicht die Operationen der Inneren Kritik in einem recht anschaulichen Bilde, in dem das erwähnte kritische In-Rechnung-Stellen aller den Sachverhalt ,verzerrenden' Momente durch die Kritik besonders deutlich wird. "Die Persönlichkeit des Berichterstatters [d. i. des Autors der "Auffassung", die im historischen Material vorliegt] ist gleichsam das Medium, durch welches das von der Thatsache ausgehende Licht das Auge des Forschers erreicht, ein Medium, welches ... den Lichtstrahl niemals völlig ungetrübt oder ungebrochen durchpassiren läßt. Es kommt also darauf an, diese Brechungen und Trübungen genau zu berechnen, und dazu ist die unerläßliche Voraussetzung die genaue Kenntniß des Mediums, die genaue Kenntniß der persönlichen Natur jedes Berichterstatters. Das Verfahren ist in gewisser Hinsicht ähnlich dem des Astronomen, der wegen der Einwirkung der Atmosphäre auf die Lichtstrahlen keinen Stern am rechten Orte sieht, und erst aus seiner Kenntniß der atmosphärischen Luft den Fehler berechnen und eliminiren muß." (Sybel1874, 9-10) Die durch die Kritik aufgeworfenen Probleme sind Anlaß, noch einmal in wenigen Bemerkungen das Problem der ,historischen Tatsachen' zu berühren; denn verhältnismäßig häufig wird die Meinung vertreten, daß es die Leistung der Kritik sei, ,historische Tatsachen' zu ermitteln. Die damit aufgeworfene Fragestellung (Kritik und ,historische Tatsache') ist geeignet, abschließend das Problem von Aufgabe und Leistung der Kritik (als einer ,Phase' in der historiographischen Erkenntnisarbeit) zu klären. Als einer der erwähnten Autoren bemerkt Karl Lamprecht (1900, 17), die Kritik stelle "die reine Wirklichkeit des einstmaligen Geschehens, das nackte Geripp der historischen Thatsachen" fest. Nimmt man diese Bemerkung Lamprechts beim Wort, so erhellt aus dem bisher über die Kritik Gesagten, aber auch aus dem in den Kapiteln II A. 1 und II A. 2 Ausgeführten unmittelbar, daß eben dies die Leistung der Kritik nicht ist und nicht sein kann. "Die Kritik sucht nicht die ,eigentliche historische Tatsache'." (Grundr. 335)81, 82
Zur Begründung würde ein Hinweis auf den Ersten Fundamentalsatz ausreichen. 81 Weitere dem Sinn nach gleiche Droysensche Äußerungen finden sich u. a. in: Vorl. 96, Vorl. 133, Vorl. 148, Grundr. 338. Vgl. darüber hinaus auch: Vorl. 34, Vorl. 139, auch Grundr. 323. 82 Die diesbezüglichen Äußerungen z. B. Ernst Bernheims (1908, 185, 229, 250, 324, 326) sind nicht ganz klar, werden sich aber wohl eher im Sinne Droysens (und nicht Lamprechts) interpretieren lassen.
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Die "reine Wirklichkeit des einstmaligen Geschehens" (Lamprecht) ist dem Historiker - und sei er auch der scharfsinnigste Kritiker unzugänglich, denn sie ist vergangen 83 • Die vergangene "Wirklichkeit des einstmaligen Geschehens", die ,historische Tatsache', ist dem Historiker nur zugänglich, indem er sie aus ihren Resten und "Auffassungen", die ihm, dem Historiker, vorliegen, in seiner Vorstellung rekonstruiert. Was leistet dabei die Kritik? Die Kritik erschließt ein möglichst umfangreiches und zuverlässiges Wissen über die vorliegenden Reste und "Auffassungen", d. h. die historischen Materialien, wodurch- zuletzt in einem zweiten Schritt, der sogenannten Interpretation - eine weitestgehend oder relativ gesicherte (neue) "Auffassung" des vergangeneo Geschehens, der ,historischen Tatsache', ermöglicht wird. Droysen formuliert folgendermaßen: "Das Ergebnis der Kritik ist nicht ,die eigentliche historische Tatsache', sondern, daß das Material bereit gemacht ist, eine verhältnismäßig sichere und korrekte Auffassung zu ermöglichen." (Grundr. 338-39; vgl. auch Vor!. 148.) Je genauer und intimer die Kenntnis der historischen Materialien ist, die der Historiker- in der Kritik- sich aneignet, je sicherer im Umgang mit den Resten und "Auffassungen" eines vergangeneo Geschehens der Historiker wird, desto zuverlässiger wird die durch ihn, den Historiker, vorgenommene Rekonstruktion des vergangeneo Geschehens aus den Resten und "Auffassungen" sein. Die Kritik macht den Historiker vertraut mit den historischen Materialien als demjenigen Material, woraus einzig und allein Kenntnis über die Vergangenheiten gewonnen werden kann. Die (durch die Kritik erschlossene) Kenntnis der Geschichte der historischen Materialien ist ein Wissen, das der Historiker in seinem weiteren Umgang mit den Materialien gebraucht und benutzt. Die Kritik stellt nicht die ,historischen Tatsachen' her, sondern zum Beispiel die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte eines Textes; und die Kenntnis der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte eines Textes ist - wenn auch sie nicht nur allein - ein Wissen, das es z. B. ermöglicht, die Richtigkeit der "Auffassung" (des im Text dargestellten vergangeneo Geschehens) zu beurteilen und in der Konsequenz - falls dies nötig erscheint - zu einer Sachgerechteren Auffassung, als der Text sie bietet, überzugehen. Ich fasse zusammen. Es ist nicht so- "that the past of humanity has a sort of objective reality with which, in some unexplained way, the historical scholar may compare and verify the written records", wie 83 Darüber hinaus ist es problematisch, von einer "reinen Wirklichkeit" zu reden, sofern dies heißen soll, die Wirklichkeit sei uns ,unmittelbar', ,direkt', ,rein' gegeben; alle Wirklichkeit ist uns, wenn wir Zugang zu ihr haben, durch Zeichen vermittelt. Vgl. den Nachtrag zu Kapitel II A.
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Allen Johnson (1926, 22) formuliert. (In einem ähnlichen Zusammenhang-s. o. S. 51 -wurde dieser Satz Johnsons bereits schon einmal und ausführlicher zitiert.) Vielmehr ist die Kritik immer nur die Kritik der vorliegenden historischen Materialien, also die Kritik der Reste und "Auffassungen" vergangeneu Geschehens. Dabei kann das vergangene Geschehen nicht ausgespielt werden gegen die historischen Materialien, denn das vergangene Geschehen ist, wenn es bekannt ist, nur als aus den historischen Materialien rekonstruiertes bekannt; sehr wohl können dagegen die einzelnen historischen Materialien gegeneinander ausgespielt werden. In diesem Sinne schreibt Herman Hefele (1917, 6): "Wenn der Historiker sagt, daß an dem oder jenem Tage der geschichtlichen Vergangenheit dies oder jenes Ereignis stattgefunden habe, so will und kann er damit nur sagen, daß er in dieser Sache einer so lautenden Quelle recht, einer anders lautenden unrecht gibt."
2. Die Interpretation Die Operationen der Interpretation setzen die Operationen, die die Kritik veranstaltet, logisch als abgeschlossen voraus. Die Interpretation hat es also mit kritisierten, mithin identifizierten oder, wie Droysen sagt, "verifizierten" (Vorl. 185, auch Vorl. 148) historischen Materialien zu tun; es ist durch die Kritik ein solches Wissen über die historischen Materialien erworben worden, daß die Schlüsse, die nunmehr aus ihnen gezogen werden, zu begründeten Aussagen über die vergangene Wirklichkeit, von der die Materialien Zeugnis geben, führen. So wie die Kritik Kritik der vorliegenden historischen Materialien ist, ist auch die Interpretation Interpretation der vorliegenden historischen Materialien (und nicht etwa Interpretation des vergangeneu Geschehens). Der Historiker interpretiert nicht den Deutsch-Französischen Krieg von 1870-71, sondern nur Reste und Auffassungen desselben. (Briefw. II, 452; siehe auch Vorl. 152.) In der Kritik und der Interpretation der Reste und Auffassungen schafft er eine neue Auffassung. Es ist die Meinung vertreten worden, daß der Historiker sich mit dem begnügen solle, was durch die Kritik geleistet wird, daß er sich mit der Herstellung, der Rekonstruktion der Texte etwa begnügen solle; jeder Schritt darüber hinaus sei Willkür und Phantasie. Entschieden weist Droysen (Vorl. 155-56) eine solche Meinung zurück. Denn indem dann Willkür und Phantasie in ihre Schranken verwiesen werden sollen, werden ihnen gerade Tor und Tür geöffnet, und zwar durch eben den Verzicht auf über die Kritik hinausgehende Operationen; es ist die Leistung der Interpretation als einer solchen Opera-
C. 2. Die Interpretation
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tion, als einer Operation, die neue Auffassungen schafft, daß sie "die Phantasie, die Kombinationskraft unter bestimmende regelnde Schranken" (Vorl.-Nachschr. 95) bringt. "Die Gewissenhaftigkeit, die über die Resultate der Kritik nicht hinausgehen will, irrt darin, daß sie der Phantasie überläßt, mit ihnen weiter zu arbeiten, statt auch für die weitere Arbeit Regeln zu finden, die ihre Korrektheit sichern." (Grundr. 339)84 Es gibt eine Anzahl Äußerungen Droysens (insbesondere in seinem Briefwechsel), die belegen, welche große Bedeutung er der Interpretation innerhalb des gesamten historiographischen Erkenntnisprozesses beimaß. Nicht in der Kritik, sondern in der Interpretation sah er die für die historiographische Erkenntnis entscheidende Prozedur. Die Kritik ist zwar eine notwendige, nicht zu umgehende Arbeit des Historikers, aber sie hat Präliminarcharakter85• Aus dieser Akzentuierung der Bedeutung der Interpretation durch Droysen läßt sich auch seine Wendung hauptsächlich gegen Ranke und dessen Schule verstehen, die nach Droysens Urteil- die Kritik überbewerteten86 • 84 Wilhelm v. Humboldt (1905, 36) äußert sich in ähnlicher Weise: "Mit der nackten Absonderung des wirklich Geschehenen ist aber noch kaum das Gerippe der Begebenheit gewonnen. Was man durch sie erhält, ist die nothwendige Grundlage der Geschichte, der Stoff zu derselben, aber nicht die Geschichte selbst. Dabei stehen bleiben, hieße die eigentliche, innere, in dem ursachliehen Zusammenhang gegründete Wahrheit einer äußeren, buchstäblichen, scheinbaren aufopfern, gewissen Irrthum wählen, um noch ungewisser Gefahr des Irrtbums zu entgehen." Da Droysen ausdrücklich feststellt (Grundr. 324, vgl. auch Vorl.-Nachschr. 84), daß Humboldts geschichtstheoretische Auffassungen von bedeutendem Einfluß auf ihn waren, ist nicht ausgeschlossen, daß Droysen diesen Gedanken von Humboldt übernommen hat. 85 In dem bereits erwähnten (s. o. S. 23 und S. 74) Brief an Wilhelm Arendt vom 8. Mai 1857 schreibt Droysen, "daß ich das Wesen unsrer Wissenschaft nicht in der Kritik, sondern im Verstehen, in der Interpretation finde." (Briefw. II, 452) Dies sei einer der Gedanken, die für seine "Historik" grundlegend seien. (Im Sommersemester 1857, aus dem dieser Brief stammt, hatte Droysen sein Kolleg über "Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte" zum ersten Mal gelesen.) In einem Brief an Heinrich von Sybel vom 24. November 1857 empfiehlt Droysen seinen Schüler Bernhard Erdmannsdörffer (seit 1874 Professor in Heidelberg) an Sybel und schreibt: "Ich habe nämlich unter meinen jungen Freunden einen, den ich Ihnen .. . auf das beste empfehlen möchte. Er heißt Dr. Erdmannsdörffer ... Aber er ist, bevor er von hier [d. i. von Jena] nach Berlin ging, durch mich historisch vergiftet worden, er hat, nachdem er ein Jahr Hauslehrer gewesen, den Entschluß gefaßt, sich ganz der Historie zu widmen; er bekennt sich dazu, daß ihn namentlich meine Doktrin, daß die Methode unsrer Wissenschaft nicht kritisch, sondern Interpretation sei, gepackt hat." (Briefw. II, 497) Siehe auch Anm. 86. 86 "Wir sind in Deutschland durch die Rankesche Schule und die Pertzischen Arbeiten auf unleidliche Weise in die sogenannte Kritik versunken, deren ganzes Kunststück darin besteht, ob ein armer Teufel von Chronisten aus dem andern abgeschrieben hat. Eine Weisheit gerade so groß, als wenn die
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Teil li. Der Erste Fundamentalsatz
Droysen hat den Charakter der Interpretation in einer doppelten Weise bestimmt. Philologie im Konjekturenmachen ihr dünnes Leben hinspinnt. Es hat schon einiges Kopfschütteln veranlaßt, daß ich f e 1 i c i t er behauptet habe, die Aufgabe des Historikers sei Verstehen oder, wenn man will, Interpretieren. Aber ich hoffe, daß dieser Gedanke ein sehr fruchtbarer ist, wie es denn seit Thucydides jedem ordentlichen Historiker darum und nur darum zu tun war; die höhere, sogar die niedere Kritik ergibt sich auf dem Wege dazu." (Aus einem auf Seite 23 bereits erwähnten Brief an Wilhelm Arendt vom 20. März 1857: Briefw. II, 442.) Ein Jahr davor - ebenfalls in einem Brief an W. Arendt (vom 29. Juli 1856) - beschreibt Droysen die Arbeiten, die er zusammen mit Studenten am Historischen Seminar der Universität Jena unternimmt, und fährt fort: "Die Parole ist: der Historiker hat nicht bloß Kritik zu treiben, wie Ranke in seiner Schule voranstellt, sondern ist Interpret, muß verstehen lernen und lehren. Das ist ein höchst ergiebiger Gedanke .. ." (Briefw. li, 424) Aber offensichtlich sind es nicht nur diese theoretischen Fragen gewesen, die das Verhältnis Droysens zu Ranke bestimmten. Im Zusammenhang dieser Anmerkung sei kurz darauf eingegangen. Für Droysen, dessen "aktivistischen, ethischen und heroischen Zug seines historischen wie politischen Denkens" Friedrich Meinecke (1930, 285-86) betont und dem Hildegard Astholz (1933, 15) eine "streng-freudige Ethik" zuschreibt (vgl. auch die einschlägigen Äußerungen Jürgen Franks in Anm. 5), war Ranke der Repräsentant eines ihm, Droysen, fremden Weltverhaltens und -Verständnisses. Dies erhellt in besonders eindrucksvoller Weise aus einem Brief Droysens an den Freund Wilhelm Arendt vom 17. November 1855, in dem Droysen sich über Ranke und über sich selbst äußert: "Ich bin in betreff Rankes ... ein großer Bewunderer seines Talentes, zu forschen und darzustellen; aber weder bin ich für seine kosmopolitische Betrachtungsweise eingenommen, noch gar kann ich ihn als Charakter ausstehn, und p e c t u s f a c i t h i s t o r i c u m. Er gehört mit seiner feigen Intelligenz recht in die derzeitige Berlinerei; von sittlichem Zorn, von Erhabenheit der Gesinnung ist in ihm keine Spur; und daher geschieht es einem, daß, wenn man ein Buch von ihm hinausgelesen, man viel klüger, aber nicht besser geworden zu sein fühlt; man schließt nicht mit einem guten Vorsatz oder mit fröhlicher Emporrichtung des Blickes oder Nackens, sondern mit dem Erstaunen über so viel Geist, Kenntnis, Kunst. Ich habe Dir damit bezeichnet, was ich mir als das Bessere, als das Rechte denke; ob ich es erreiche, ist eine andre Frage. Sprechend kann ich es eher, und das ist es, wodurch ich auf dem Katheder etwas zu leisten vermag: da gibt es der Augenblick und der empfundene Gegendruck des Hörens und Ergriffenwerdens. Pfui, daß ich so von mir rede! Verzeih!" (Briefw. li, 37374) (In einem Brief Droysens an Heinrich von Sybel aus dem Jahre 1853 Briefw. II, 169 - findet sich bereits eine sehr ähnliche Beurteilung Rankes.) Am 8. Mai 1857 (Brief an Wilhelm Arendt, vgl. Anm. 85) spricht Droysen von der "Leisetreterei Rankes" (Briefw. II, 450). "Ranke wird - mit vollem Recht - wegen seiner Feinheit, seiner tiefen Gelehrsamkeit, seines weiten Blickes bewundert; aber man hat kein Herz zu ihm, da er keins - für niemand außer für sich- hat." (Briefw. II, 450) In dem zitierten Absatz aus dem Brief Droysens an Arendt vom 17. November 1855 (Briefw. II, 374) spricht Droysen davon, daß man durch die Lektüre Rankescher Arbeiten "viel klüger, aber nicht besser geworden zu sein fühlt". (Ähnlich auch in Briefw. II, 16'9.) Bereits Birtsch (1964, 189, Anm. 65) hat darauf hingewiesen, daß Droysen diesen Tadel nicht nur im Falle der Arbeiten Rankes meinte aussprechen zu müssen, sondern auch gelegentlich seiner Charakterisierung des "Typus der modernen Weltanschauung" (Krisis 326), der sich ihm in den positivistisch-materialistischen Naturwissenschaften
C. 2. Die Interpretation
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Erstens. Es gibt eine Reihe von Belegen, welche zeigen, daß Droysen die Wörter "Interpretation" und "Verstehen" synonym gebraucht. (Außer den in den beiden letzten Anmerkungen Nr. 85 und 86 wiedergegebenen Äußerungen - also Briefw. II, 424, Briefw. II, 442 und Briefw. II, 452 -siehe vor allem auch Vorl. 154-55.) Dieser synonyme Gebrauch weist auf den einen Aspekt hin, unter dem Droysen die Prozedur der Interpretation beschreibt; es ist dies der - psychologisch beschreibbare - Aspekt des Verstehens. In dem gegenwärtigen Kapitel wird dieser Gesichtspunkt vernachlässigt; Droysens Verstehenslehre im ganzen wird im dritten Hauptteil der vorliegenden Arbeit behandelt. Zweitens. Außer unter dem psychologischen Gesichtspunkt seiner Verstehenslehre behandelt Droysen die Interpretation noch unter einem anderen, eher logisch-methodologischen Gesichtspunkt. Die Interpretation schafft Auffassungen des vergangenen Geschehens, durch die und in denen dieses Geschehen in seinem Zusammenhang, aus seinen Bedingungen heraus verstanden wird. Im "Grundriß" heißt es: "Das Wesen der Interpretation ist, in den vergangenen Geschehnissen Wirklichkeiten mit der ganzen Fülle von Bedingnissen, die ihre Verwirklichung und Wirklichkeit forderte, zu sehen." (Grundr. 339) Um das angemessene Verständnis dieses Satzes aus dem "Grundriß" bemühen sich die nun folgenden Ausführungen, die die vier verschiedenen Formen der Interpretation behandeln, die Droysen - ähnlich wie schon im Falle der Kritik- unterscheidet. Die vier Formen sind: die "pragmatische Interpretation", die "Interpretation der Bedingungen", die "psychologische Interpretation" und die "Interpretation nach den sittlichen Mächten". (Vorl. 154 ff., Grundr. 340 ff.) Zur näheren Kennzeichnung des Verfahrens der "pragmatischen Interpretation" wählt Droysen ein ,Gleichnis', und zwar das eines Bildhauers, der den Torso einer Statue restauriert. Ein solcher Bildhauer verfährt mit dem Torso wie der Historiker mit den historischen Materialien. Droysen sagt, das Verfahren der "pragmatischen Interpretation" ist dem des Bildhauers "ähnlich" (Vorl. 156)87• darstellte, aussprach. (" ... das Klügerwerden über das Besserwerden in die Höhe geschossen ... " - Krisis 326.) Und auch in einem Brief an Johannes Schulze (Vortragender Rat im peußischen Kultusministerium) vom 19. Oktober 1853 spricht Droysen von den "polytechnischen Wissenschaften" als von denjenigen, "welche den Menschen klüger, nicht auch besser machen". (Briefw. II, 183) Zum Problem der Ethik bei Droysen und seiner Theorie der "sittlichen Mächte" siehe auch die Arbeit von Ferdinand Richter (1938). 87 Es ließe sich sogar die These vertreten, daß es sich bei der Tätigkeit des Bildhauers nicht nur um eine der historiegraphischen Tätigkeit "ähnliche"
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
Die Überlegungen, die Droysen nun an die Tätigkeit dieses Bildhauers anknüpft, setzen voraus - was Droysen nicht ausdrücklich erwähnt -, daß es sich im Falle der Statue um ,nachahmende', mimetische Kunst (etwa im Sinne der griechischen Klassik) handelt. Die Überlegungen sind der folgenden Art. In seinen Bemühungen um Rekonstruktion der Statue, also in dem Bemühen, den Torso zu der nicht zerstörten Statue, die er einmal war, zu ,ergänzen', hat der Bildhauer zwei ,Quellen', aus denen er ,schöpfen' kann, zur Verfügung: a) eben den vorliegenden Torso, das, "was von dem Ansatz des Armes, von der Richtung der Schenkel usw. noch vorhanden ist" (Vorl. 156); b) seine (nicht aus dem Torso gewonnenen) Kenntnisse in menschlicher Anatomie, seine Kenntnisse des "lebendigen menschlichen Körpers" (Vorl. 156), des "konstanten Baus des menschlichen Körpers" (Vorl. 159). Diese Kenntnisse haben die Funktion einer ihn, den Bildhauer, bei der Arbeit "leitenden Analogie" (Vorl. 159). Die Vermutungen über die mutmaßliche ursprüngliche Gestalt der Statue speisen sich aus beiden Quellen, und es kann auf keine der beiden verzichtet werden; für die Rekonstruktion der Statue reichen die Informationen, die der Torso abwirft, nicht aus. Für die Rekonstruktion vergangeneo Geschehens, die der Historiker vornimmt, reichen die Informationen, die die historischen Materialien abwerfen, nicht aus, es werden außerdem ,Kenntnisse in Anatomie' benötigt. Was sind das für Kenntnisse? Die historischen Materialien sind durch die Kritik identifiziert, "verifiziert und geordnet" (Grundr. 340) worden, das vergangene Geschehen, von dem sie Kenntnis geben, ist nunmehr in einem "bloßen äußerlichen Nacheinander", gleichsam "tot und stumm" (Vorl. 157) bekannt. Es ist die Leistung der Interpretation, mit Hilfe jener ,Kenntnisse in Anatomie' einen "Zusammenhang" (Vorl. 158) zu stiften, in einem "Akt des Verständnisses" (Vorl. 26) einen "Zusammenhang" zu stiften, die historischen Materialien zu ,verstehen'; es ist die Leistung der Interpretation, eine Auffassung des vergangeneo Geschehens, von dem die Materialien Zeugnis geben, herzustellen. Die "pragmatische Interpretation" stiftet diesen "Zusammenhang", indem sie "die in der Kritik verifizierten und geordneten Reste und Auffassungen des einst wirklichen Sachverlaufes nach dem in der Natur dieses Verlaufes liegenden Kausalnexus" (Grundr. 340; hervorgehoben von mir) auffaßt, versteht, intersondern um eine selber historiographische Tätigkeit handelt - wenn man nur den Begriff ,Historiographie' hinreichend weit faßt: aus vorliegenden historischen Materialien, nämlich dem Torso der Statue als Überrest, wird das mutmaßliche ursprüngliche Aussehen, die mutmaßliche ursprüngliche Form der Statue rekonstruiert - Historiographie mit dem Meißel also, nicht mit dem Griffel oder der Feder.
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pretiert, das aber heißt, indem sie die "Reste und Auffassungen des einst wirklichen Sachverlaufes" mit Hilfe eines Wissens um den "in der Natur dieses Verlaufes liegenden Kausalnexus" auffaßt. Diesem Wissen um den in der Natur eines vergangenen Geschehens liegenden Kausalzusammenhang entsprechen im ,Gleichnis' des Bildhauers die ,Kenntnisse in Anatomie'. In der Interpretation rekonstruiert der Historiker ein vergangenes Geschehen aus den vorliegenden Resten und Auffassungen des Geschehens mit Hilfe eines Wissens um die Natur dieses Geschehens; der Bildhauer rekonstruiert die unzerstörte Statue aus dem Torso dieser Statue mit Hilfe seiner ,Kenntnisse in Anatomie'. In dem "Akt des Verständnisses", in dem der Historiker seine Auffassung des vergangenen Geschehens, das ihm in den historischen Materialien vermittelt vorliegt, konzipiert, konzipiert der Bildhauer die mutmaßliche ursprüngliche Gestalt der Statue oder seine Auffassung der ursprünglichen Gestalt der Statue. Es gibt nun Fälle, in denen der "Zusammenhang", den die Interpretation stiftet, sich aus den historischen Materialien gleichsam wie von selbst ergibt; das ist vor allem dann der Fall, wenn das Material "in einer gewissen Vollständigkeit" (Vorl. 158; vgl. auch Grundr. 340) vorhanden ist. In diesen Fällen ist das "einfache und überzeugende Aufweisen des Zusammenhangs" "der Beweis für denselben" (Vorl. 158), weil nämlich gleichsam nur "gesehen und ausgesprochen" (Vorl. 158) zu werden braucht, was die historischen Materialien zu sehen und auszusprechen nahelegen. In diesen Fällen reicht, wie Droysen sagt, das "einfache demonstrative Verfahren" (Grundr. 340) aus, d. h., die Richtigkeit des "Zusammenhangs", den der Historiker (in der Interpretation) stiftet, die Richtigkeit der Auffassung, kann in diesen Fällen einsichtig gemacht werden durch einen bloßen Hinweis auf die ,selbstredenden' Materialien. Wenn dagegen ein Verständnis der historischen Materialien nicht ohne weiteres möglich ist, wenn die Interpretation auf Schwierigkeiten stößt, reicht das "einfache Demonstrativverfahren" (Vorl. 158) nicht aus. In diesen Fällen kann nach Droysen auf dreierlei verschiedene Weise verfahren werden, einen "Zusammenhang", eine Auffassung, herzustellen und deren Richtigkeit zu erweisen, nämlich durch das Verfahren der "Analogie", das "komparative Verfahren" und die "Hypothese" (Grundr. 340). Da das "komparative Verfahren" und die "Analogie" einander in gewisser Weise sehr ähnlich sind, erläutere ich von den drei genannten Verfahren im folgenden nur die "Analogie" und die "Hypothese". Im Falle der "Analogie" ergibt sich der "Zusammenhang" aus der "aus ähnlichen Fällen bekannten Natur der Sache" (Grundr. 340); d. h.,
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das vergangene Geschehen, das in den vorliegenden historischen Materialien bezeugt ist, wird mit Hilfe eines Wissens über die "Natur" dieses Geschehens aufgefaßt, das der Historiker aus seiner Kenntnis analoger Verhältnisse bezieht, analog den Verhältnissen, wie sie in den historischen Materialien vorliegen. In anderen Fällen, in denen die Interpretation, also die Stiftung jenes "Zusammenhangs", der die vorliegenden historischen Materialien verständlich macht, ebenfalls ohne weiteres nicht möglich, sondern schwierig ist, wird ein "Zusammenhang" als "Hypothese" einfach angenommen, und es wird geprüft, ob der angenommene "Zusammenhang" durch die vorliegenden historischen Materialien bestätigt wird oder nicht, ob sich die "Hypothese" an den historischen Materialien bewährt oder nicht bewährt. "Die Voraussetzung eines Zusammenhanges, in dem das fragmentarisch Vorliegende sich als in die Kurve dieses Zusammenhanges passend zeigt und so sich durch Evidenz bestätigt, ist die Hypothese." (Grundr. 340; vgl. auch Vorl. 161.) Droysen erläutert die vier Verfahren (das "einfache Demonstrativverfahren", die "Analogie", das "komparative Verfahren", die "Hypothese") innerhalb seiner Ausführungen zur "pragmatischen Interpretation", und zwar so, als ob er dieselben als vier Sonderformen der "pragmatischen Interpretation" - und nur dieser - bestimmt haben wollte. Es scheint jedoch, daß die Umstände, Schwierigkeiten und Verfahrensweisen, die in diesen vier Verfahren durch Droysen für den Fall der "pragmatischen Interpretation" beschrieben sind, nicht der "pragmatischen Interpretation" allein eigentümlich sind, sondern auch den anderen drei Formen der Interpretation (der "Interpretation der Bedingungen", der "psychologischen Interpretation" und der "Interpretation nach den sittlichen Mächten"). Auch von der "psychologischen Interpretation" wird die "Hypothese" benutzt werden, auch von der "Interpretation der Bedingungen" in bestimmten Fällen z. B. das Verfahren der "Analogie" usw. Darüber hinaus kann gefragt werden, ob die Unterscheidung der genannten Verfahren überhaupt sinnvoll ist. Diese Unterscheidung lenkt nämlich den Blick auf zweifellos vorhandene Differenzen, es werden durch diese Unterscheidung Umstände oder auch Schwierigkeiten, die bei den Operationen der Interpretation sich einstellen mögen, akzentuiert; dadurch wird aber die Aufmerksamkeit abgelenkt von denjenigen Operationen, die allen vier Verfahren gemeinsam sind. Und so scheint es, daß Droysens Unterscheidung der vier genannten Verfahren eine allen vieren gemeinsame Struktur verdeckt, eine Struktur, die in einem der Verfahren, nämlich der "Hypothese", beschrieben ist und die überdies für die Interpretation überhaupt (also für alle vier Formen
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der Interpretation) charakteristisch ist. Es ist dies die in anderem Zusammenhang bereits erwähnte (s.o. Kapitel I B.) Aufeinanderfolge von a) Stiftung eines "Zusammenhanges", Schaffung einer Hypothese und b) Konfrontierung der Hypothese mit den historischen Materialien. Nicht nur in dem Verfahren, das Droysen als "Hypothese" bezeichnet, kommt das Verfahren der "Hypothese" zur Anwendung, sondern auch in den anderen drei Verfahren, dem "einfachen Demonstrativverfahren", der "Analogie" und dem "komparativen Verfahren". Im Falle des "einfachen Demonstrativverfahrens" (also in den Fällen, in denen der "Zusammenhang" sich gleichsam wie von selbst aus den historischen Materialien ergibt) ergibt sich der "Zusammenhang" was zu beachten ist und auch Droysen ja bemerkt (Vorl. 158) - nur gleichsam wie von selbst. Denn: wenn auch in diesen Fällen von dem Historiker in der Regel weniger große Mühe aufgewandt zu werden braucht (um ein Verständnis der vorliegenden Materialien zu erreichen) und wenn auch dabei ein allzu großes Risiko des Irrtums von ihm nicht eingegangen wird (weil die Materialien, so wie sie vorliegen, von sich aus bereits eine ganz bestimmte Auffassung, Interpretation, nahezulegen, zu fordern scheinen), so ist doch auch hier die Stiftung des "Zusammenhangs", die Erstellung der Auffassung, also die Interpretation, ausschließlich und allein Leistung des Historikers, der die ihm vorliegenden Materialien bearbeitet; und die Auffassung, die er schafft, ist eine Hypothese, und zwar eine, die auf Grund der geschilderten Bedingungen als in relativ hohem Grade gesichert angesehen werden kann. Die Wahrscheinlichkeit des Irrtums ist gering, seine Möglichkeit jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen. Wenn Droysen bemerkt, hier sei es nur nötig, "einen scharfen Blick und ein für die Wirklichkeiten geübtes Urteil zu haben" (Vorl. 158), so sind ja Fälle möglich, in denen diese Bedingungen nicht erfüllt sind. Wenn also im Falle des "einfachen Demonstrativverfahrens" der "Zusammenhang" - wie es heißt - sich "gleichsam tatsächlich und von selbst aus dem Material" (Vorl. 158) ergibt, so ist es nur die metaphorische Redeweise ("gleichsam"), die es ermöglicht, über den wirklichen Sachverhalt hinwegzutäuschen, nämlich den Sachverhalt, daß auch im Falle des "einfachen Demonstrativverfahrens" der "Zusammenhang" vom Historiker gestiftet ist, daß er den Charakter einer Hypothese besitzt und daß diese vom Historiker formulierte Hypothese erst auf Grund ihrer Konfrontation mit den historischen Materialien und ihrer dabei festgestellten Bewährung als gültig behauptet werden kann wobei es von vornherein, eben auf Grund der besonderen Bedingungen des "einfachen Demonstrativverfahrens", unwahrscheinlich war, daß sie, die Hypothese, sich als falsch erweisen würde. 6 Spieler
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Und wie im Falle des "einfachen Demonstrativverfahrens" so muß sich auch im Falle von "Analogie" und "komparativem Verfahren" der "Zusammenhang", der durch sie ermöglicht, die Hypothese, die durch sie geschaffen wird, an den historischen Materialien ausweisen. Wie schon in den Ausführungen über die "historische Frage" (s. o. Kapitel I B.) ist damit aufs neue (und gleichzeitig in einer gewissen Abwandlung der Bedeutung, die der Terminus ,Hypothese' bei Droysen besitzt) der hypothetische Charakter der Aussagen, die die Historiographie formuliert, festgestellt. Die einzelnen Hypothesen unterscheiden sich voneinander unter anderem durch einen verschiedenen Grad von Wahrscheinlichkeit, daß sie wahr sind. Das eine Ende dieser Skala der Wahrscheinlichkeiten mag man mit Hockett (1955, 14) als "true beyond reasonable doubt" bezeichnen. Nach den Droysenschen Theorien werden zu den Aussagen, von denen gilt, daß sie "true beyond reasonable doubt" sind, zumindest alle solche gezählt werden können, deren Geltung sich im "einfachen Demonstrativverfahren" erweist88 • Nach diesen Bemerkungen allgemeineren Charakters, die sich aus Droysens Unterscheidung der vier genannten Verfahren ("einfaches Demonstrativverfahren", "Analogie", "komparatives Verfahren" und "Hypothese") ergaben, kehre ich zur "pragmatischen Interpretation", in deren Zusammenhang Droysen die genannten Verfahren behandelt, zurück, indem ich die Ausführungen zu dieser besonderen Form der Interpretation zusammenfasse. Anschließend gehe ich über zu den drei anderen Formen der Interpretation (der "psychologischen Interpretation", der "Interpretation nach den sittlichen Mächten", der "Interpretation der Bedingungen"). Wie alle vier Formen der Interpretation stiftet die "pragmatische Interpretation" einen "Zusammenhang", "faßt" sie "auf" (Grundr. 340), stellt sie eine Auffassung her. ss Es ist der Historiographie möglich, eine Menge Wissen zu produzieren, von dem gesagt werden kann, es ist "true beyond reasonable doubt". Homer Carey Hockett-als ein amerikanischer Historiker- macht die Bemerkung: "There can be no doubt that the English colanies in America fought a successful war for independence during the years 1775 to 1781, that George Washington served as commander-in-chief of the American forces, and that he became the first President of the Republic under the Constitution drafted in 1787. There can be no doubt that a war broke out in 1861 between the North and the South which ended in 1865 in the defeat of the Confederacy." (Hockett 1955, 63) Und den grundsätzlich hypothetischen Charakter allen historiographischen Wissens betont Hockett, wenn er schreibt: "It is virtually impossible ever to be sure that no further evidence will be brought to light to modify condusions." (Hockett 1955, 8)
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Das- nach Droysen- für die "pragmatische Interpretation" Spezifische und sie von den anderen drei Formen der Interpretation Unterscheidende ist dies: sie versteht die vorliegenden historischen Materialien mit Hilfe eines Wissens um die "Natur" (Grundr. 340) des Geschehens, das in den Materialien bezeugt ist, mit Hilfe eines Wissens um Kausalzusammenhänge, die dem Geschehen, das in den Materialien bezeugt ist, zugrunde liegen. In dem oben bereits zitierten Satz aus dem "Grundriß" sind die Operationen der "pragmatischen Interpretation" am zutreffendsten in Kürze beschrieben: "Die pragmatische Interpretation faßt ... die in der Kritik verifizierten und geordneten Reste und Auffassungen des einst wirklichen Sachverlaufes nach dem in der Natur dieses Verlaufes liegenden Kausalnexus auf ..." (Grundr. 340) In der "psychologischen Interpretation" werden die vorliegenden historischen Materialien mit Hilfe des dem jeweiligen Historiker jeweils zur Verfügung stehenden psychologischen Wissens ,verstanden', aufgefaßt. (Die besprochenen ,Kenntnisse in Anatomie' des Bildhauers, der den Torso einer Statue restauriert, haben im Falle der "psychologischen Interpretation" in dem psychologischen Wissen des Autors ihre Entsprechung.) Da Droysens psychologische Auffassungen unter anderem wesentlich durch Begriffe wie "Wille" und "Ausdruck" bestimmt sind, ist die Droysensche "psychologische Interpretation" der historischen Materialien die Interpretation, das Verständnis derselben als "Werk" und "Wille" (Vol.174) des einzelnen und als "Ausdruck" (Vorl.174)89 seiner Persönlichkeit. (Vgl. hierzu auch Vorl. 176 und Grundr. 341.) Einer "psychologischen Interpretation" sind Grenzen gesetzt. Droysen (Vorl. 174 ff.) bespricht verschiedene. Zweien dieser Grenzen, die Droysen nennt, gebührt (aus verschiedenen Gründen) ein besonderes Interesse. Erstens. Die ,Natur' der historischen Materialien, d. i. ihr Überrestcharakter und ihre Lückenhaftigkeit, erschwert ihre "psychologische Interpretation" außerordentlich oder macht sie bisweilen ganz unmöglich. Die Poesie - so Droysen (Vorl. 174-75) - kennt dieses Dilemma nicht, da sie anders verfährt, als die Historiographie zu verfahren hat, wenn sie, die Historiographie, eine Wissenschaft sein will. Poeten (als Beispiel nennt Droysen Shakespeare) erdichten zu einer Geschichte, die sie als Vorwurf einem beliebigen Zusammenhange entnehmen, die Charaktere hinzu, sie erfinden also ihre "psychologische Interpretation" und erklären so "aus dem Inneren der Menschen ihre Schicksale" (Vorl. 174). 88 Zum Problem des "Ausdrucks" bei Droysen siehe Kapitel III B.2, ferner Kapitel III C.l und III C.2.
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Ein solches Verfahren ist dem wissenschaftlichen Historiker verwehrt90; die poetische Freiheit der Erdichtung und Erfindung nimmt der Historiker nicht für sich in Anspruch. Die Historiographie ist angewiesen auf die historischen Materialien; die Aussagen, die sie macht, sind ableitbar eben aus diesen Materialien, sie sind - wie oben (Kapitel II A.) erläutert- in einer Reihe von Operationen aus den Materialien gewonnen, und zwar in einem Prozeß, der grundsätzlich intersubjektiv nachvollziehbar ist; und eben hierin ist der wissenschaftliche Charakter dieser Aussagen begründet. Die wissenschaftliche Historiographie erdichtet keine Charaktere wie der Poet im Interesse seiner, der ,poetischen Wahrheit'; die wissenschaftliche Historiographie darf in der "psychologischen Interpretation" der historischen Materialien nur so weit gehen, wie diese lückenhaften Materialien es erlauben. Droysen: die Poesie darf "aus der ionersten Seele dessen, den sie uns darstellt, sein Tun und Leiden erklären. Warum darf unsere Wissenschaft [d. i. die Historiographie] nicht dasselbe tun oder versuchen? Empirischer Art, wie sie ist, muß sie möglichst exakt zu sein suchen, und exakt ist sie in dem Maße, als sie für die einzelne Aufgabe, die einzelne Frage, die sie sich stellt, aus dem kritisch verifizierten Material in möglichst gesicherter Schlußfolgerung ihre Ergebnisse zieht." (Vorl. 185) Anders die Poesie. Sie darf Charaktere erfinden, und das Maß, nach dem diese ,Erfindungen' der Poesie beurteilt werden, ist nicht, ob in ihnen eine angemessene Interpretation vorliegender historischer Materialien gegeben ist (denn die Poesie ist nicht gebunden an diese Materialien), sondern, ob in ihnen, den ,Erfindungen' der Poesie, - in einer anderen Weise -Wirklichkeit beschrieben, zur Darstellung gekommen ist oder nicht. Zweitens. Daß die Lückenhaftigkeit der historischen Materialien die Möglichkeiten der "psychologischen Interpretation" derselben (und grundsätzlich natürlich nicht nur die Möglichkeiten der "psychologischen Interpretation", sondern aller Interpretation) begrenzt, ist einleuchtend und zugleich von methodologischer Relevanz. Eine andere, zweite Begrenzung der "psychologischen Interpretation", die Droysen behauptet, ist dagegen eher dogmatischer Natur. Er erklärt, daß sich bestimmte Bereiche der Persönlichkeit, insbesondere das menschliche Gewissen, grundsätzlich (also nicht nur nach Maßgabe des psychologischen Wissens seiner Zeit) einem wissenschaftlichen, psycho90 Ob die Beschreibung des Verfahrens von Poesie und Dichtung wie Droysen sie an dieser Stelle gibt (Vorl. 174-75, Grundr. 342) - zutreffend oder erschöpfend ist, kann hier unerörtert bleiben, in jedem Fall wird durch dieses von Droysen entworfene ,Gegenmodell' der Poesie (es wird gezeigt, wie es die Geschichtswissenschaft nicht machen darf) eben das Verfahren der Geschichtswissenschaft erhellt.
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logischen Verständnis verschließen und entziehen, daß also in diesen Fällen auch die Historiographie, insofern sie dadurch tangiert ist, die Waffen zu strecken hat. "Dem Einzelnen ist sein Gewissen seine Wahrheit, wohinein keine Forschung dringt." (Vorl.-Nachschr. 97)91• 92 Die "Interpretation nach den sittlichen Mächten oder Ideen" 93 ist eine Interpretation, ein Verständnis der historischen Materialien mit Hilfe und im Sinne von Droysens Theorie der "sittlichen Mächte" oder "Ideen". Jeder Historiker wird bestimmte, mehr oder weniger reflektierte, mehr oder weniger richtige oder falsche Auffassungen, Meinungen haben etwa über die verschiedenen Formen der menschlichen sozialen Organisation, wie Familie und Volk zum Beispiel, wird solche Meinungen und Auffassungen haben über die verschiedenen Phänomene und Bereiche der menschlichen Kultur (Künste und Wissenschaften usw.). Droysen hat seine Auffassungen der bezeichneten Art in der Theorie der "sittlichen Mächte" in der Hauptsache im zweiten Teil seiner "Historik", innerhalb der "Systematik", formuliert. Im ersten Teil der "Historik", innerhalb der "Methodik", hat er durch die "Interpretation 91 "Dem einzelnen ist das Gewisseste, was er hat, die Wahrheit seines Seins, sein Gewissen. In dies Heiligtum dringt der Blick der Forsdmng nicht." (Grundr. 341-42) In welcher Weise er sich den Zugang zu diesem "Heiligtum" vorstellt, beschreibt Droysen in den Vorlesungen: "In das Allerheiligste des menschlichen Herzens dringt nur das Auge dessen, der Herz und Nieren prüft, und bis zu einem gewissen Grade das der gegenseitigen Liebe und Freundschaft, aber nicht das des Richters, weder des juristischen noch des historischen." (Vor!. 178) 92 Es ist immer sehr problematisch und bereitet der Forschung nur (vermeidbare) zusätzliche Schwierigkeiten, Behauptungen darüber aufzustellen, was wir grundsätzlich nicht wissen können, nie wissen werden, so wie es Droysen hier (in der Frage des menschlichen Gewissens) und auch noch an anderer Stelle tut, wo er, der Zeitgenosse Charles Robert Darwins, die Frage nach der Evolution des Menschen als "eine völlig bodenlose Frage" bezeichnet, "so gern sich der irregeleitete Stolz des menschlichen Verstandes mit ihrer Lösung beschäftigt" (Vor!. 182). Auffassungen, wie Droysen sie hier vertritt, sind vorzüglich dazu geeignet, die Forschung zu blockieren. Droysen steht mit derlei Behauptungen nicht allein. Für ein anderes Problem, nämlich das des schöpferischen Elementes in wissenschaftlichen, spezieller auch historiographischen Leistungen, vertritt Eduard lVIeyer die Auffassung, daß diese Frage (der "Selbsttätigkeit des schaffenden Individuums") sich "jeder Erkenntnis ... entzieht; sie bildet eine der gegebenen und nicht weiter analysierbaren Grundtatsachen des menschlichen Daseins." (Ed. lVIeyer 1910 a, 4) Vgl. dagegen Dreitzel und Wilhelm (1966). 93 So in der Überschrift in Vor!. 180. Zwei andere, im Wortlaut voneinander abweichende Bezeichnungen für diese Form der Interpretation (nämlich "Interpretation der Ideen" und "Interpretation nach den sittlichen Mächten") erläutert Droysen in Vor!. 155. Vgl. auch Grundr. 342.
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nach den sittlichen Mächten oder Ideen" auf die Funktion, die die Auffassungen der genannten Art im historiographischen Erkenntnisprozeß haben, aufmerksam gemacht. In der methodologischen Fragestellung der vorliegenden Arbeit interessiert nicht, welcher Art nun diese kulturtheoretischen, anthropologischen und zum Teil soziologischen Auffassungen Droysens, wie sie in seiner Theorie der "sittlichen Mächte" formuliert sind, im einzelnen waren; nur ihre Funktion in der historiographischen Erkenntnis ist von Interesse. Da nun handelt es sich um ein ähnliches Sachwissen oder theoretisches Wissen - denn als solches können diese Auffassungen bezeichnet werden - , wie es uns aus den Fällen der "pragmatischen Interpretation" (Wissen um Kausalzusammenhänge, denen das vergangene Geschehen unterlag) und der "psychologischen Interpretation" (Wissen um psychische Zusammenhänge; psychologische Kenntnisse, Theorien) bereits bekannt ist. Und die Funktion auch dieses Sachwissens in der Interpretation ist es, die historischen Materialien - in Fällen, wo dieses und nicht ein anderes Sachwissen vonnöten ist- zu ,verstehen'. So wie die "pragmatische Interpretation" "die in der Kritik verifizierten und geordneten Reste und Auffassungen des einst wirklichen Sachverlaufes" mit Hilfe des theoretischen Wissens über den "in der Natur dieses Verlaufes liegenden Kausalnexus" (Grundr. 340) auffaßt, so wie die "psychologische Interpretation" die der Kritik unterworfenen historischen Materialien mit Hilfe psychologischer Theorien auffaßt - entsprechend verfährt auch die "Interpretation nach den sittlichen Mächten oder Ideen". Sie interpretiert, sie ,versteht' die aus der Vergangenheit noch vorliegenden, kritisierten historischen Materialien mit Hilfe der Theorie der "sittlichen Mächte" als einer Theorie der Kultur oder Anthropologie oder auch Soziologie94 • 9 4 Wenn ein solches Verständnis der "Interpretation nach den sittlichen Mächten oder Ideen" richtig ist, dann können daran Spekulationen geknüpft werden, Spekulationen über die Gründe der Umdisponierung des "Grundrisses" in der 3. Auflage von 1882 (vgl. oben S. 63). In einem Brief an den Sohn Gustav vom 9. Mai 1881 stellte Droysen lediglich fest, daß die neue Auflage von 1882 "nicht unbeträchtlich verändert werden" (Briefw. II, 943) werde. Bereits erwähnt (S. 63) ist der von Droysen im Vorwort zur 3. Auflage genannte Grund für die Umdisponierung, nämlich die Zweckmäßigkeit im öffentlichen Vortrag. Es ist nicht ausgeschlossen, daß es darüber hinaus sachlich-systematische Gründe gegeben hat. In der neuen Disposition der 3. Auflage folgt der Behandlung der "Interpretation nach den sittlichen Mächten" unmittelbar die "Systematik", welche - wie bemerkt - in ihren wesentlichen Teilen Darstellung der Droysenschen Theorie der "sittlichen Mächte" ist. (In den Auflagen davor folgte der "Interpretation nach den sittlichen Mächten" nicht die "Systematik", sondern - innerhalb noch der "Methodik" - die "Topik" oder "Darstellung". Vgl. oben S. 63.) In der neuen Disposition (der 3. Auflage) folgen also dem Kapitel, in dem
D. Sachwissen oder theoretisches Wissen in der Historiographie
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Abschließend sei noch eine Bemerkung zu der "Interpretation der Bedingungen" gemacht. Die "Interpretation der Bedingungen" geht davon aus, daß "alles Tun ein Handeln unter gegebenen Bedingungen und Umständen, hemmenden und fördernden" (Vorl. 163) ist, oder allgemeiner, daß alles Geschehen Geschehen unter Bedingungen ist. Die "Interpretation der Bedingungen" versteht die kritisierten vorliegenden historischen Materialien, sie stiftet einen "Zusammenhang" (Vorl. 167), indem sie das vergangene Geschehen, von dem die historischen Materialien Zeugnis geben, als unter Bedingungen entstanden versteht. Droysen unterscheidet im einzelnen die Bedingungen des Raumes (Vorl. 164), der Zeit (Vorl. 165) und die "ermöglichenden" Bedingungen der "Mittel, der materiellen wie moralischen" (Vorl. 168). Er stellt fest, daß es sich hier um ein "weites Gebiet" (Vorl. 164) der Interpretation handelt. So ist auch nicht in allen Fällen die Abgrenzung der "Interpretation der Bedingungen" gegen die anderen Formen der Interpretation ohne weiteres möglich, sondern macht Schwierigkeiten. D. Sachwissen oder theoretisches Wissen in der historiographischen Erkenntnis. Bedingungen der historiographischen Erkenntnis
Das von dem Historiker in der Interpretation zusätzlich benutzte Wissen (im Falle der "pragmatischen Interpretation" also das Wissen des Interpreten um den in der Natur eines Geschehens liegenden Kausalzusammenhang, im Falle der "psychologischen Interpretation" das die Funktion der Theorie der "sittlichen Mächte" in der historiographischen Erkenntnis beschrieben wird, unmittelbar die Ausführungen, die im wesentlichen Darstellung eben dieser Theorie der "sittlichen Mächte" sind. Nicht dem Sachwissen oder theoretischen Wissen, das die "pragmatische Interpretation" benutzt, noch dem Sachwissen oder theoretischen Wissen, das die "psychologische Interpretation" benutzt, noch dem, das die "Interpretation der Bedingungen" benutzt, sondern nur dem Sachwissen, das die "Interpretation nach den sittlichen Mächten" benutzt, werden umfangreichere Ausführungen durch Droysen (eben in der "Systematik") gewidmet. Bei einem solchen Verständnis wird die "Systematik" zu einem - wenn auch umfangreichen- Exkurs innerhalb der "Methodik", zu einem Exkurs im Zusammenhang der "Interpretation nach den sittlichen Mächten". Zugleich ist dadurch auch die - nach Droysens Urteil - außerordentlich große Bedeutung der Theorie der "sittlichen Mächte" für die Historiographie hervorgehoben. Wenn man diesen Gedanken weiter verfolgt, könnte dann gesagt werden, daß in der neuen Disposition der 3. Auflage unter dem Scheine einer dreiteiligen Konzeption ("Methodik", "Systematik", "Topik") die zweiteilige Konzeption der früheren Auflagen ("Methodik", "Systematik") aufgehoben wurd~ zugunsten einer einteiligen Konzeption ("Methodik"), die dann einen längeren Exkurs in sich birgt.
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psychologische Wissen des Interpreten usw.) ist als Sachwissen oder theoretisches Wissen bezeichnet worden. Wie kann dieses Wissen genauerund in anderer Weise (als im vorangegangenen Kapitel geschehen) beschrieben werden? Worin liegt die Bedeutung dieses Wissens und seine Funktion in der historiographischen Erkenntnis? Das in Frage stehende theoretische Wissen ist das Gesamt des theoretischen Wissens, das der Rekonstruierende über die zu rekonstruierende Wirklichkeit besitzt. Im Falle er Wirtschaftsgeschichte schreibt, ist es seine wirtschaftliche Sachkenntnis9"; im Falle er politische Geschichte schreibt, ist es seine politische Sachkenntnis96 ; im Falle er Militärgeschichte schreibt, ist es seine militärische Sachkenntnis97• Sachwissen oder theoretisches Wissen in dem hier gemeinten Sinne ist zum Beispiel auch die sogenannte Menschenkenntnis eines Autors. (Vgl. Droysens "psychologische Interpretation" und das darin vorausgesetzte und benötigte psychologische Wissen.) So fordert Heinrich von Treitsch95 "Eine Geschichte der Preisrevolution im 16. Jahrhundert etwa werden wir für höchst unzulänglich halten, wenn ihr Verfasser nicht hinreichend viel von Preis- und Geldtheorie versteht, so daß er mit den Mitteln dieser Theorie die Vorgänge, die wir unter dem Namen der Preisrevolution zusammenfassen, durchleuchten kann." (Kempski 1964, 87) Vgl. auch Wilhelm Bauer (1928, 84). 96 In seiner "Vorbemerkung" anläßlich der Übernahme der Herausgabe (zusammen mit Friedrich Meinecke) der "Historischen Zeitschrift" fordert Heinrich von Treitschke (1896, 3) unter anderem vom Historiker "politische Sachkunde". Ottokar Lorenz (1891, 319) formuliert salopp: "Der Historiker darf kein grüner Junge sein, der sich Märchen über politische Dinge aufschwätzen läßt." (Vgl. auch daselbst die weiteren Bemerkungen von Lorenz.) Siehe überdies Droysen (Vorl. 191). 97 "In Dingen, die für die Geschiehtschreibung so außerordentlich wichtig sind, wie Krieg und Kriegsbegebenheiten, läßt sich vom Geschiehtschreiber nichts urtheilen, wenn er nicht einen sachkundigen Militär zur Seite hat, der ihm überhaupt sagt, was möglich und nicht möglich war. Seine schönsten historisch-kritischen Methoden scheitern an dem Umstand, daß er selbst nicht reiten kann und nicht weiß, wie breit ein Wasser sein darf, das von einer Cavalleriedivision übersetzt zu werden vermöchte, ohne daß der größere Theil hineinfällt." (Ottokar Lorenz 1891, 317-18) "... wenn ich als Historiker die Beschießung von Paris [d. i. im DeutschFranzösischen Krieg von 1870-71] erzählen sollte, so würde mir eben gar nichts anderes übrig bleiben, als jedes Wort, welches im Generalstabswerk darüber zu lesen ist, zu wiederholen oder abzuschreiben, selbst aber über alle artilleristischen Leistungen ganz stillzuschweigen. Auch die Erzählungen der betroffenen Pariser über die Wirkungen der Geschosse vermöchte ich ganz und gar nicht zu controlliren, eben weil ich über alle die dabei in Betracht kommenden Dinge gar keine Erfahrungen besitze. Man sieht also, daß die historisch-kritische Beschäftigung eines Mannes vollständig von dem Horizont begrenzt ist, den sein Auge ausfüllt." (Lorenz 1891, 318) Eine anschauliche Illustration der Bedeutung des Sachwissens für die historiegraphische Erkenntnis im Falle der Militärgeschichtsschreibung findet sich auch bei Droysen (Vorl. 190).
D. Sachwissen oder theoretisches Wissen in der Historiographie
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ke an der in Anmerkung Nr. 96 bereits zitierten Stelle als Sachwissen nicht nur "politische Sachkunde" vom Historiker, sondern auch "Menschenkenntnis"98. Alle diese (als Beispiele) genannten verschiedenen Arten des Sachwissens oder theoretischen Wissens werden im historiographischen Verfahren vorausgesetzt. Das Sachwissen oder theoretische Wissen macht in der Historiographie einen "zweiten Faktor" aus, einen "zweiten Faktor, der bei unserem Verfahren mittätig" (Vorl. 159) ist, wie Droysen im Falle des in der "pragmatischen Interpretation" benutzten Wissens (um die "Natur der Sache" - Vorl. 159, Grundr. 340) feststellt, und zwar einen "zweiten Faktor" neben dem ersten Faktor, den die historischen Materialien darstellen, oder genauer, den die Informationen (über das vergangene Geschehen), die die historischen Materialien abwerfen, darstellen99 . Die Charakterisierung des (in der "pragmatischen Interpretation" benötigten) Sachwissens oder theoretischen Wissens als eines "zweiten Faktors" ergänzt und erläutert Droysen, indem er dieses Wissen als "aus unserer anderweitigen Erfahrung und Kenntnis von analogen Verhältnissen" (Vorl. 159) gewonnen, also als nicht aus den jeweils vorliegenden historischen Materialien gewonnen bezeichnet. Politische, psychologische, wirtschaftliche, militärische Sachkenntnis besitzt der Historiker unabhängig von den historischen Materialien, aber er benutzt diese Kenntnisse bei der Interpretation der Materialien. Kausalzusammenhänge, bestimmte pragmatische Motive z. B., die der Historiker etwa aus seiner Alltagserfahrung kennt, wird er auch bei der Interpretation der historischen Materialien als gültig voraussetzen. Im Zusammenhang seiner Ausführungen zur "pragmatischen Interpretation" schreibt Droysen: "Ob dieser Kausalzusammenhang, diese pragmatischen Motive in unseren Quellen stehen oder nicht, sie ergeben sich aus der Natur der Sache." (Vorl. 157) Der Historiker gebraucht das ihm unabhängig von den historischen Materialien zur Verfügung stehende Sachwissen oder theoretische Wissen nicht nur gelegentlich, sondern es ist für seine Arbeit, die Interpretation der historischen Materialien, von entscheidender Bedeutung. 98 Das vollständige Zitat lautet: "Alle Zeiten haben vom rechten Historiker neben der Sicherheit kritischer Forschung zunächst Menschenkenntnis und politische Sachkunde verlangt." (Treitschke 1896, 3) 99 Diese beiden "Faktoren" mag man auch in der in der vorangehenden Anmerkung (Nr. 98) zitierten Äußerung Treitschkes wiedererkennen. "Menschenkenntnis" und "politische Sachkunde" (Treitschke) sind Beispiele für die vom Historiker benötigte Sachkenntnis (Droysens zweiter Faktor). "Sicherheit kritischer Forschung" (Treitschke) kann - bei solcher Interpretation- dann als Droysens erstem Faktor (den historischen Materialien) entsprechend aufgeiaßt werden.
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Teil 11. Der Erste Fundamentalsatz
Das mag an einem Beispiel solchen Wissens, nämlich Droysens Theorie der "sittlichen Mächte", gezeigt werden. Droysen schreibt: "Wir haben in der Mannigfaltigkeit der sittlichen Sphären, in denen das Menschenleben wurzelt und sich bewegt" -und die, so darf hier eingefügt werden, von der Theorie der "sittlichen Mächte oder Ideen" beschriebenwird- "die Fragenreihe, mit der wir an das uns noch vorliegende Material einer Vergangenheit herantreten können, und wir dürfen damit herantreten, weil wir wissen, daß jedes menschliche Sein und Tun Ausdruck und Erscheinungsform dieser sittlichen Mächte ist." (Vorl. 183-84) In den kulturtheoretischen, anthropologischen, soziologischen Auffassungen eines Autors - im Falle des Autors Droysen also in der Theorie der "sittlichen Mächte" - besitzt der Autor, wie Droysen sagt, eine "Fragenreihe, mit der [er) an das [ihm) noch vorliegende Material einer Vergangenheit herantreten" kann10o. Das Sachwissen oder theoretische Wissen (hier also die Theorie der "sittlichen Mächte") dient dem Historiker gewissermaßen als ein Instrument, es funktioniert in der historiographischen Erkenntnis als ,Instrument der Auffassung'. Es ermöglicht es auch dem Historiker, solche Fragen an die historischen Materialien zu stellen, die sich als ,fruchtbar' erweisen. Droysen stellt das im Zusammenhang der Erörterung eines anderen Sachwissens, des militärischen, ausdrücklich fest, wo er schreibt, daß wir erst "aus unserer technischen und Sachkenntnis gleichsam die Fragen [d. i. an die historischen Materialien) stellen können" (Vorl. 190). Ohne das Sachwissen oder theoretische Wissen, ohne jedes ,Vorverständnis', ohne jede Vorstellung über die allgemeine Beschaffenheit der Dinge, die er zu rekonstruieren sucht, würde der Historiker in der Tat nicht deren Geschichte schreiben, also die ihm vorliegenden historischen Materialien (das sind Reste und "Auffassungen" der Dinge, die er zu rekonstruieren sucht) verstehen können. Der Historiker benutzt das theoretische Wissen, und er darf es benutzen, weil es - nach Maßgabe seiner Erfahrung, Kenntnis und Überzeugung- gültiges Wissen über die ,Natur', das ,Wesen' der zu rekonstruierenden Erscheinungen und Prozesse ist. Für den Fall der "Interpretation nach den sittlichen Mächten" stellt Droysen deshalb in dem oben zitierten Satz fest: " . .. wir dürfen damit [d. i. mit der Theorie der "sittlichen Mächte"] h erantreten [d. i. an die historischen Materialien), weil wir wissen, daß jedes menschliche Sein und Tun Ausdruck und Erscheinungsform dieser sittlichen Mächte ist." (Vorl. 184) Weil Droysen von der Richtigkeit seiner Theorie der "sittlichen Mächte" 100 "Fragenreihe" in gleicher Bedeutung auch in Vorl. 202; "herantreten" in gleicher Bedeutung auch in Grundr. 343.
D. Sachwissen oder theoretisches Wissen in der Historiographie
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überzeugt war, glaubte er, daß auch die Historiographie - in ihrem Bemühen um Interpretation der historischen Materialien - dort, wo sie Verwendung für diese Theorie hat, sich dieser Theorie bedienen dürfe101. Welche methodologischen Konsequenzen, welche Konsequenzen für die Frage der Geltung der historiographischen Aussagen ergeben sich nun daraus, daß die Historiographie Sachwissen oder theoretisches Wissen benutzt, daß solches Wissen eingeht in die historiographischen Aussagen? Das in Rede stehende Sachwissen oder theoretische Wissen ist ein
empirisches Wissen; es kann grundsätzlich wahr oder falsch sein, mehr
oder weniger wahr, mehr oder weniger falsch. Es ist als ein empirisches Wissen steten, fortwährenden Wandlungsprozessen, nämlich Anpassungsprozessen (Anpassungen an die in dem Wissen dargestellte Wirklichkeit), also fortwährender "Rectificirung" - wie Droysen in einem anderen, aber ähnlichen Zusammenhang (Philos. 628) sagt - unterworfen. Im Sinne dieser Wandlungs- und Anpassungsprozesse kann dasjenige theoretische Wissen oder Sachwissen, das als wissenschaftlich gesichert bezeichnet werden kann, aufgefaßt werden als entwickelt und sich weiter entwickelnd auf der Grundlage und in der Kritik, der Modifikation des ,vorwissenschaftlichen' theoretischen Wissens oder Sachwissens102. Die historischen Wissenschaften benutzen also in dem Sachwissen oder theoretischen Wissen ein empirisches Wissen, das als solches grund101 Neben dem in Rede stehenden Sachwissen oder theoretischen Wissen hat für die je aktuelle historiographische Erkenntnisbemühung auch das Gesamt des jeweils schon vorhandenen historiographischen Wissens eine eminente Bedeutung. Es wird dann jeweils in dem Grade, in dem es als gesichert angesehen wird, als gültig vorausgesetzt und bei der Entscheidung der gerade anstehenden Fragen als Argument benutzt. 102 Wie auch die wissenschaftliche Geschichtsschreibung verstanden werden kann als hervorgegangen aus den Formen, in denen wir im Alltag (,vorwissenschaftlich') Kenntnis von vergangenem Geschehen gewinnen. (Siehe dazu auch S. 109.) Wie wir einen kontinuierlichen Übergang zwischen den Aussagen der nichtwissenschaftlichen (oder ,vorwissenschaftlichen') Historiographie und den Aussagen der wissenschaftlichen Historiographie über die Französische Revolution zum Beispiel annehmen, so nehmen wir auch einen kontinuierlichen Übergang zwischen den ,vorwissenschaftlichen' Aussagen und den wissenschaftlichen Aussagen im Bereich der theoretischen Disziplinen an, also etwa bei Aussagen über den sozialen Wandel in der menschlichen Gesellschaft, bei Aussagen über die allgemeinen Formen der seelischen Entwicklung des Individuums. In beiden Fällen setzt die wissenschaftliche Erkenntnisbemühung das ,vorwissenschaftliche' Wissen, die Vorstellungen des Alltags, voraus, sie baut auf dem common-sense gleichsam auf. Die wissenschaftliche Erkenntnis schreitet voran, indem sie die common-sense-Vorstellungen modifiziert, indem sie dieselben vielleicht bis zur Unkenntlichkeit modifiziert. Wissenschaft ist geradezu ,methodisch', kritisch vorangetriebener common-sense.
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
sätzlich immer hypothetischen Charakter besitzt, das in manchen Fällen in hohem Grade, in anderen Fällen in sehr geringem Grade als ein wissenschaftlich gesichertes, in noch anderen Fällen als ein ,vorwissenschaftliches' Wissen bezeichnet werden kann. Das bedeutet, daß theoretisches Wissen von sehr unterschiedlicher Qualität in die historiographischen Aussagen eingehen kann. Dies mag durch die folgenden Beispiele illustriert werden. Droysens Theorie der "sittlichen Mächte" versucht die Phänomene, um die sich diese Theorie bemüht, zutreffend zu beschreiben. Aber es gibt außer der Droysenschen Theorie noch andere Theorien, die die gleichen Phänomene zu beschreiben versuchen; und die Droysenschen Auffassungen sind gegenüber den Auffassungen der anderen Autoren in höherem, gleichem oder niederem Grade zutreffend oder nicht zutreffend; das gilt unabhängig von der subjektiven Überzeugung der einzelnen Autoren hinsichtlich der Richtigkeit der einzelnen Theorien; und die Vorzüge und Nachteile derjenigen Theorie, für die sich der jeweilige Historiker entscheidet, die er benutzt, gehen ein in seine historiographischen Konzeptionen, in das von ihm bereitgestellte historiographische Wissen. Ein anderes Beispiel. Adolf Rhomberg (1883, 48-49) erwähnt die folgende Anekdote: "Voltaire erzählt, daß die französischen Kreuzfahrer in der Sophienkirche in Constantinopel einen Ball gegeben hätten. Auf die Frage, wo das geschrieben stehe, antwortete er: ,Das liegt im französischen Nationalcharakter'." In dieser Anekdote wird deutlich, daß "anderweitiges" Wissen (Vorl. 159), und zwar eben auch ,vorwissenschaftliches' "anderweitiges" Wissen, indem es als ,Instrument der Auffassung' dient, relevant werden kann für die historiographische Erkenntnis. Sachverhalte, die in solchem Wissen formuliert sind, werden hineinprojiziert in das (durch die historischen Materialien bezeugte) vergangene Geschehen. (Denn angenommen, es läßt sich aus vorliegenden historischen Materialien nicht zweifelsfrei entscheiden, ob die Kreuzfahrer tatsächlich in der Kirche einen Ball gegeben haben oder nicht, dann wird bei sonst gleichen Bedingungen derjenige Kritiker, der die besagte Vorstellung über den französischen Nationalcharakter besitzt, eher positiv entscheiden als derjenige, der eine solche Auffassung nicht hat.) Aus der Fülle anderer möglicher Beispiele seien die beiden Arbeiten Karl Bosls (1964 und 1966) genannt, in denen die "soziale Mobilität" in der mittelalterlichen Gesellschaft behandelt wird. Es sind dies Beispiele für solche Fälle, in denen das vom Historiker benutzte Sachwissen oder theoretische Wissen - anders als in dem soeben erwähnten Falle dem Zusammenhang einer wissenschaftlichen Theorie entnommen ist.
D. Sachwissen oder theoretisches Wissen in der Historiographie
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Es ist nicht die Aufgabe der Geschichtswissenschaft als Geschichtswissenschaft, den Begriff der "sozialen Mobilität" oder Theorien bzw. Theoriensysteme zu entwickeln, in denen der Begriff der "sozialen Mobilität" seinen Platz hat. Die Entwicklung solcher Theorien, also etwa die Entwicklung einer umfassenden Theorie sozialer Prozesse, ist Aufgabe und Erkenntnisziel der theoretischen Soziologie. Der Historiker (als Historiker) vielmehr bedient sich des von den theoretischen Disziplinen entwickelten Wissens. Die Geschichtswissenschaft (als Geschichtswissenschaft) benutzt das theoretische Wissen, sie produziert es nicht, sie benutzt es, wie gesagt wurde, als ,Instrument der Auffassung'. Es liegt im eigenen Interesse der Historiographie, ein möglichst ,griffiges' ,Instrument' zur Verfügung zu haben, ein ,Instrument', das möglichst genaue, möglichst zutreffende Aussagen ermöglicht. Wenn, wie oben (Anm. 102) bemerkt, wissenschaftliche Aussagen als hervorgegangen aus ,vorwissenschaftlichen' Auffassungen verstanden werden können, und zwar hervorgegangen aus ,vorwissenschaftlichen' Auffassungen durch Kritik und Modifikation, durch "Rectificirung" (Philos. 628) eben der ,vorwissenschaftlichen' Auffassungen, leuchtet ein, daß es unklug wäre, würde sich der Historiker in der Frage der Wahl des zu benutzenden Sachwissens oder theoretischen Wissens auf seine eigenen, etwa aus dem Alltag gewonnenen Vorstellungen, seine ,Alltagserfahrung' - würde der Historiker sich also auf ,vorwissenschaftliches' Wissen verlassen, wenn zuverlässigere ,Instrumente', d. h. Auffassungen, die in einer ,methodischen' Weise gewonnen wurden, zur Verfügung stehen, wenn also Auffassungen zur Verfügung stehen, die dem besagten intensiven Prozeß der Kritik und Modifikation unterworfen gewesen sind und also mit großer Wahrscheinlichkeit zutreffender sind, als dies in der Regel das gewissermaßen private Begriffsinstrumentarium des Historikers ist. Wenn die theoretische Soziologie den Begriff der "sozialen Mobilität" entwickelt hat, wäre es unklug, würde der Historiker ihn nicht benutzen. Entsprechendes gilt für das Verhältnis der Historiographie zu den anderen theoretischen Disziplinen, also etwa für das Verhältnis von Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie (vgl. Anm. 95) und für das Verhältnis der Historiographie zur Psychologie. Es ist der modernen Psychologie unter anderem gelungen, bedeutende Einsichten z. B. auf dem Gebiet der Persönlichkeitstheorie (etwa in der Beschreibung des ,Sozialisierungs'- oder ,Enkulturationsprozesses', dem die Persönlichkeit unterworfen ist) zu entwickeln. Ein Historiker, der eine Biographie
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
schreibt und dieses theoretische Wissen nicht zur Kenntnis nähme, würde sich entscheidende Einsichten versperren103. Die Bedeutung des Sachwissens oder theoretischen Wissens in der Historiographie, auch die Bedeutung der in den verschiedenen Fällen ja nicht immer gleichen, sondern sehr unterschiedlichen Qualität dieses Wissens, mag weiter durch die folgenden Beispiele illustriert werden. Im Falle der politischen Geschichtsschreibung ist das ,historisch-politische Denken' eines Autors ein jeweils mehr oder weniger zutreffendes Sachwissen, das der Autor mitbringt und an die historischen Materialien heranträgt. In den Kategorien dieses Denkens faßt er die Materialien auf. So kommt Birtsch (1964, 4) zu der Feststellung, daß im Falle des Autors Droysen "Nationalstaatsideal als politisches Leitbild und Nationalstaatsbegriff als Instrument historischen Erkennens und Darstellens . .. unauflöslich miteinander verwoben" sind. Für Karl Lamprecht ist es "voll erwiesen", "daß als reguläre Träger der weltgeschichtlichen Entwicklung, und damit als wichtigste Grundlage der Menschheitsgeschich te wie der Geschichte überhaupt die Nationen anzusehen sind ... " (Lamprecht 1897, 102) Es ist evident, daß eine Auffassung wie die hier von Lamprecht vertretene Konsequenzen hat und haben muß für die Geschichtsschreibung , für die Konzeptionen, die der Geschichtsschreibung zugrunde liegen. Die Inhalte des Nationbegriffs gehören zu denjenigen Auffassungen, die sich in der Reflexion über die (aus den historischen Materialien konstruierte) historische Welt bilden und die nicht ohne Einfluß bleiben bei neuerlichen Bemühungen um Interpretation der historischen Materialien, bei neuerlichen Versuchen der Rekonstruktion des Vergangenen. Eine Interpretation historischer Materialien wird - wenn eine Auffassung wie die in Rede stehende Lamprechts als gültig angesehen wird - notwendig zu anderen Ergebnissen kommen als in dem Falle, wenn die Nationen nicht als "Träger der weltgeschichtlichen Entwicklung", sondern grundsätzlich selber als dem historischen Wandel unterworfen, nicht als "Grundlage der Menschheitsgeschich te", sondern als 103 Die methodologische Relevanz psychologischen Wissens in der historiographischen Erkenntnis hat in besonders feinsinniger Weise Georg Simmel (1892) beschrieben: Der Historiker macht vorliegende historische Materialien verständlich, indem er sie mit Hilfe und nach Maßgabe seines psychologischen Wissens zu einem sinnvollen Zusammenhang ergänzt. In die historiographische Hypothese, in den von dem Historiker gestifteten Zusammenhang geht das psychologische Wissen des Historikers ein. Die "mitgebrachten psychologischen Obersätze" (Simmel 1892, 9), das mitgebrachte psychologische Wissen des Historikers funktioniert in der historiographischen Erkenntnis als ein "Apriori" (Simmel 1892, 33). Vgl. auch Simmel (1892, 107). (Grundsätzlich gilt das analog für alles andere von der Geschichtswissenschaft benutzte theoretische Wissen.)
D. Sachwissen oder theoretisches Wissen in der Historiographie
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eine Variation in der Menschheitsgeschichte verstanden werden. Eduard Meyer kritisiert den Lamprechtschen Nationbegriff, indem er schreibt, eine solche Auffassung der Nation "ist nichts als eine Rückwirkung der von der Nationalitätsidee beherrschten Geschichte des 19. Jahrhunderts auf die Theorie" (Meyer 1910 a, 37) 104 • Polemiken und Streitigkeiten, auch ,Schulenbildungen' in der Geschichte der Geschichtswissenschaft beruhten und beruhen nicht selten auf unterschiedlichen Auffassungen (auch ,Vorurteilen') über die allgemeine Beschaffenheit, die ,Natur' der zu rekonstruierenden Phänomene und Prozesse, auf unterschiedlichen Auffassungen eher weltanschaulichen Charakters, auf einem unterschiedlichen ,Vorverständnis', auf unterschiedlichem theoretischen Wissen oder Sachwissen. Das gilt teilweise auch für den geschichtswissenschaftliehen Methodenstreit um Karl Lamprecht. Es wurden in diesem Streit sehr verschiedene Problemzusammenhänge berührt. Zwei Fragen, die relativ häufig aufgeworfen wurden, waren: a) Ob - und wenn ja, in welchem Ausmaß - das Individuum durch die soziale Umwelt determiniert ist; ob - und wenn ja, in welchem Ausmaß - das Individuum in seinen Handlungen aus der sozialen Umwelt erklärt werden kann; ist es einer Analyse zugänglich oder ist es als Individuum einfach gegeben, nicht analysierbar (individuum est ineffabile)? Oder ist es zwar analysierbar, aber doch nur so, daß immer ein unanalysierbares x übrigbleibt? b) Ist in einem sozialen Prozeß die ,eminente Persönlichkeit' oder die ,Masse' für Art und Verlauf des Prozesses bedeutender? Sind ,Helden' oder ,Zustände' die stärkeren Kräfte in der geschichtlichen Entwicklung? Oder- nach einem Worte Heinrich von Treitschkes- machen Männer Geschichte oder Zeiten? Es sind dies Fragen nach der Struktur sozialer Prozesse und der Bedeutung des Individuums darin. Der Beantwortung dieser Fragen bringt der Historiker großes Interesse entgegen. In den richtigen Antworten besäße er ein Sachwissen von großem Wert für seine Rekonstruktionsarbeit; in den richtigen Antworten besäße er die für die richtige Rekonstruktion unentbehrlichen, in einem anderen Zusammenhang (s. o. S. 78 ff.) besprochenen ,Kenntnisse in Anatomie'. Aber auch insbesondere bei dem gegenwärtigen Nebeneinander von marxistischer Geschichtsschreibung im Sinne des historischen Materialismus und der sogenannten bürgerlichen Historiographie des Westens 104 Zur weiteren Kritik an dem Lamprechtschen Nationbegriff siehe Otto Hintze (1897, 66 f.) und Felix Rachfahl (1897, 675).
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
liegt ja offensichtlich ein Grund für die in den Geschichtsbüchern zutage tretenden Differenzen in der Verschiedenheit der an die historischen Materialien herangetragenen Kategorien der Auffassung. Es sei in diesem Zusammenhang auf die Leipziger Habilitationsschrift von Rugard Otto Gropp aus dem Jahre 1953 etwas näher eingegangen. Diese Arbeit ist eine Polemik gegen die "herkömmliche bürgerliche ,Tatsachen'-Wissenschaft" (Gropp 1953, 4), die "bürgerliche Pseudowissenschaft der Geschichte" (daselbst, S. 38), gegen den sogenannten "historischen Empirismus" (so im Untertitel der Arbeit). Zum anderen ist diese Arbeit eine Apologie einer Geschichtswissenschaft auf der Grundlage der Theorie des historischen Materialismus. ("Es waren Marx und Engels, die mit dem historischen Materialismus die Grundlage der Geschichtswissenschaft legten." Gropp 1953, 16) Zwei Probleme, die eng miteinander zusammenhängen und die in der Groppschen Abhandlung von wesentlicher Bedeutung sind, das Problem der sogenannten Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaften, insbesondere der Historiographie, und die Frage nach der Leistung von theoretischem Wissen in der historiographischen Erkenntnis, seien im folgenden besprochen. Zunächst das Problem der Voraussetzungslosigkeit. Gropps These: "Es gibt kein historisch voraussetzungsloses Bewußtsein und Denken." (S. 18) Es werden Gründe, die diese These stützen, angeführt105• Der von Gropp attackierte "bürgerliche Geschichtsempirismus" (S. 29) dagegen behauptet- so Gropp- in der Theorie die Voraussetzungslosigkeit der Historiographie, in der Praxis impliziert er - notwendigerweise- "verborgene Voraussetzungen" (S. 22)1°6• 1os " • • • hat das heutige Denken überhaupt seine Tradition in der allgemeinen Geschichte des Denkens, in der Entwicklung der logischen Formen des Denkens, in der Geschichte der Weltanschauungen und ihres Kampfes miteinander, in den Errungenschaften der Naturforschung ..." (Gropp 1953, 18) Die These der Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaften "unte:::stellt, daß sich das wissenschaftliche Bewußtsein aus der Geschichte, aus ihrem Zusammenhang herausreißen, sich über die Geschichte stellen lasse." (Gropp 1953, 13) 106 Die "Köpfe [der bürgerlichen Historiker] sind voll von allerlei Anschauungen, Vorstellungen, Ideen, so zum Beispiel über den Staat, über Moral usw." (Gropp 1953, 22-23) "Verschiedene bürgerliche Historiker haben verschiedene politische, religiöse usw. Auffassungen im einzelnen." (Gropp 1953, 25) "Die bürgerlichen Empiristen können auch gar nicht leugnen, daß sie in einer bestimmten Vorstellungswelt leben. Aber nach ihrer Auffassung handelt es sich bei den Vorstellungen, Meinungen, Anschauungen usw., die der Historiker ,mitbringt', um etwas ,Subjektives' im Sinne von etwas Persönlich-Privatem, das er so weit wie möglich bei der geschichtlichen Forschung ausschalten, von sich abwerfen soll, um zur größtmöglichen ,Objektivität' zu kommen. Man gibt nicht zu, daß diese Anschauungen selbst etwas Geschichtlich-Objektives haben, und man will nicht sehen, daß sie zur Theorie erhoben werden müssen." (Gropp 1953, 23-24)
D. Sachwissen oder theoretisches Wissen in der Historiographie
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Droysen als einer der angegriffenen "bürgerlichen" Historiker und als einer der wenigen aus dem Kreise der angegriffenen, der in systematischer Weise seine geschichtstheoretischen Auffassungen in einem besonderen Werk formulierte und der überdies durch seine Vorlesungen gleichen Inhalts, die sich über einen Zeitraum von rund 25 Jahren erstreckten, Einfluß nahm auf die "bürgerliche" Historiographie, Droysen hat die Voraussetzungslosigkeit der Historiographie nie behauptet, im Gegenteil. Droysens Theorie der "sittlichen Mächte" (neben dem Ersten und dem Zweiten Fundamentalsatz, wie bemerkt, eine der drei Konzeptionen, die für Droysens geschichtstheoretische Gedankenwelt grundlegend sind) versteht - wie ,idealistisch' sie Gropp auch immer erscheinen mag - das einzelne Individuum aus den Bedingungen seiner Kultur, seiner Zeit, als Ergebnis seiner Geschichte. (Vorl. 15, Vorl. 19, Vorl. 192, Grundr. 346, Nat. u. Gesch. 415, Vorl.-Nachschr. 72, insbesondere auch Grundr. 365 und an anderen Stellen.) Droysen stellt ausdrücklich fest: "Die historische Forschung setzt die Reflexion voraus, daß auch der Inhalt unseres Ich ein vermittelter, gewordener, ein historisches Resultat ist." (Grundr. 332) Und zu dem "Inhalt unseres Ich" zählt nicht zuletzt auch unser Wissen. An anderer Stelle: "Beginnen wir damit einzusehen, daß wir an die Geschichte herantretend uns nichts weniger als unbefangen verhalten, sondern eine Menge Voraussetzungen mitbringen, sachliche und methodische, ja einzusehen, daß wir selbst durch Geburt, Erziehung usw. geschichtliche Ergebnisse sind, daß wir von unzähligen Antizipationen erfüllt sind, welche die Hülle unseres eigenen Ichs, die Organe unseres Geistes sind." (Vorl.-Nachschr. 69; hervorgehoben von mir.) Vielleicht ist es die polemische Attitüde, die die Arbeit Gropps charakterisiert, gewesen, die es Gropp nicht gestattete, den Arbeiten und Auffassungen anderer Autoren gerecht zu werden107, 108• 1°7 Die verdeckte Übereinstimmung in der Auffassung zwischen Gropp und Droysen mag erklärbar sein durch einen beiden gemeinsamen Hegeischen Einfluß. Droysen hörte bei Hegel während seines Studiums in Berlin (vgl. Anm. 20). Gropp steht in der Tradition Marxschen Denkens, und Marx seinerseits war ja ein Schüler Hegels. 108 Zum Problem der Voraussetzungslosigkeit vgl. auch Bengtson (1962, 2): "Niemand wird sich jedoch darüber im Unklaren sein, daß die Geschichtswissenschaft (wie alle Geisteswissenschaften) an gewisse Voraussetzungen gebunden ist, die, unausgesprochen, jeder Art von Forschung wie jeder Erkenntnis überhaupt zugrunde liegen. Als ein Teil des geistigen Lebens der Nation wie der gesamten Kulturwelt steht die Geisteswissenschaft in unauflöslichem Zusammenhang mit dem geistigen Gehalt, den politischen, religiösen, ökonomischen Tendenzen der jeweiligen Gegenwart, aus der die Ideen des betrachtenden Forschers erwachsen sind. Das historische Verstehen ist ferner gebunden an die geistige Weite und an die geistige Reife der forschen-
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Teil li. Der Erste Fundamentalsatz
Was das andere hier zu besprechende Problem angeht, nämlich die Frage nach der Leistung theoretischen Wissens in der historiographischen Erkenntnis, so habe ich in den vorausgegangenen Ausführungen zu zeigen versucht, daß Droysen diesen Sachverhalt durchaus nicht übersah. Die Theorie der "sittlichen Mächte" - als ein Beispiel solchen Wissens - ist für Droysen (s. o. S. 90) eine "Fragenreihe, mit der wir an das uns noch vorliegende Material einer Vergangenheit herantreten können" (Vorl. 184). Einschlägiges Sachwissen ermöglicht- nach Droysen- dem Historiker die ,fruchtbare' Fragestellung. Bei Gropp finden sich ähnliche Feststellungen. Die Theorie ist für den Historiker "ein Maßstab für die Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen, des Hauptsächlichen vom Nebensächlichen" (Gropp 1953, 35)1°9 • Wenn also beide Autoren in dieser Hinsicht, d. i. in der Beurteilung des formal-methodologischen Problems der Leistung und Funktion von theoretischem Wissen in der historiographischen Erkenntnis, Auffassungen haben, die nicht sehr weit voneinander abweichen, so besteht aber zugleich eine sehr erhebliche Diskrepanz in der Auffassung bezüglich der material-sachlichen Frage der richtigen Theorie. Für Gropp gibt es nur eine richtige Theorie und das ist die des historischen Materialismus; aus der Theorie des historischen Materialismus hat die Historiographie das von ihr benötigte theoretische Wissen zu beziehen, will sie ,objektive' Wahrheit finden. Droysens Sachwissen oder theoretisches Wissen ist dagegen das in seinen vier Formen der Interpretation benötigte Wissen. Gropp macht sich in einer sehr leidenschaftlichen Weise zum Apologeten der Theorie des historischen Materialismus als der allein richtigen. Offensichtlich gilt aber doch dies: Die Theorie des historischen Materialismus ist nur eine Theorie neben anderen, in der Konkurrenz um die Wahrheit. Entscheidend kann nur sein, ob und inwieweit die Behauptungen, die der historische Materialismus über die Wirklichkeit den Persönlichkeit. Die Gesamtbetrachtung des historischen Bildes wurzelt in dem Grunde einer wie auch immer gearteten Weltanschauung, die ihrerseits durch äußere und innere Erlebnisse Veränderungen unterworfen ist. Eine ,voraussetzungslose Wissenschaft' existiert also auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften nicht, es kann diese nicht geben, am wenigsten in der Erkenntnis und in der Deutung historischer Vorgänge." 109 Vgl. auch: "Mit Hilfe der Theorie wird der Historiker erst zur Orientierung im unendlichen Bereich der Quellen befähigt." (Gropp 1953, 35) "Der Historiker kann ... die Quellen erst unter bestimmten theoretischen Voraussetzungen wissenschaftlich beurteilen und bearbeiten." (Gropp 1953, 12) Siehe ferner Gropp (1953, 10 und 40).
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aufstellt, sich in der Prüfung, nämlich dem Test an der Wirklichkeit, bewähren oder nicht bewähren 110• Mit dieser etwas ausführlicheren Besprechung der Arbeit von Gropp ist die Reihe der Beispiele abgeschlossen, der Beispiele, an denen die Bedeutung von Sachwissen oder theoretischem Wissen in der historiographischen Erkenntnis, auch die Bedeutung der grundsätzlich sehr unterschiedlichen ,Qualität' dieses Wissens, demonstriert werden sollte. Indem die Historiographie Sachwissen oder theoretisches Wissen benutzt, wird sie abhängig von diesem Wissen; indem Sachwissen oder: theoretisches Wissen als ,Instrument der Auffassung' die historiographische Erkenntnis ermöglicht, funktioniert es in der jeweiligen historiographischen Konzeption als ,conceptive reference' 111 • Die jeweilige historiographische Konzeption realisiert sich unter gegebenen, jeweils bestimmten Bedingungen; eine dieser Bedingungen ist das jeweils zur Verfügung stehende Sachwissen oder theoretische Wissen in seiner jeweiligen unterschiedlichen ,Qualität'. Historiographische Aussagen werden deshalb - unter anderem - in dem Maße ,sachgerecht' sein, wie es das in sie eingegangene Sachwissen oder theoretische Wissen ist, historiographische Aussagen werden in dem Maße fehlerhaft sein, wie es das bei ihrem Zustandekommen benutzte Sachwissen oder theoretische Wissen ist. Je erfahrener ein Historiker in Dingen der Politik ist, eine desto bessere Geschichte der Politik einer Zeit wird er schreiben können; je erfahrener ein Historiker in 110 Eine in diesem Zusammenhang sehr interessante Arbeit ist die von Andrzej Malewski (1959). Es wird darin der Versuch unternommen, bestimmte theoretische Aussagen, Behauptungen des historischen Materialismus eben dieser Kritik zu unterwerfen. (Verschiedene Sätze dieser Theorie sindwie Malewski zeigt - in einer solchen Weise formuliert, daß ihre Prüfung nicht möglich ist, es sei denn, sie werden umformuliert.) Der Verfasser will Aussagen von bedeutendem theoretischen Gehalt, die in dem System des historischen Materialismus enthalten sind, feststellen und so mögliche Ansätze zu soziologischen Theorien und Theoriesystemen aufweisen. Der Verfasser beschreibt seine Absicht selbst mit den folgenden Worten: "Der Historische Materialismus wurde bisher meist, und zwar sowohl von seinen Schöpfern als auch von deren Nachfolgern und seinen Popularisatoren, in Form eines mit einem starken emotionalen Akzent behafteten kämpferischen Manifestes dargestellt. Er gab die Ideologie für eine politische Massenbewegung ab, eine Ideologie, die dieser Bewegung das Gefühl der Siegesgewißheit sowie die Überzeugung verleihen sollte, daß ihre Bestrebungen durch die Autorität der Wissenschaft gestützt werden. Aber diese stark emotional akzentuierte Ideologie besitzt gleichzeitig einen bedeutenden theoretischen Gehalt. Vor allem enthält sie eine Reihe allgemeiner soziologischer Behauptungen. Es erhebt sich also die Frage, welche von diesen Behauptungen die Konfrontation mit den Tatsachen ausgehalten haben und daher als dauernder Gewinn ... betrachtet werden können." (Malewski 1959, 281) 111 Dieser Terminus wurde im Anschluß an den Sprachgebrauch bei Dewey (1938, 230 ff.) und im Report des amerikanischen "Committee on Historiography" (Report 125 ff.) gewählt.
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militärischen Dingen ist, eine desto bessere (das aber heißt: zutreffendere) Geschichte z. B. eines Krieges wird er schreiben können112• Es sind also nicht die historischen Materialien allein, die den ,empirischen Gehalt' historiographischer Aussagen verbürgen. Der ,empirische Gehalt' historiographischer Aussagen ist - außer von den historischen Materialien- abhängig von dem ,empirischen Gehalt' des verwendeten Sachwissens oder theoretischen Wissens113• Mit der Feststellung dieser einen Form der Abhängigkeit ist die Frage nach den anderen Abhängigkeiten, den anderen Bedingungen der historiographischen Erkenntnis berührt. Überlegungen über die Bedingungen der historiographischen Erkenntnis, über die Bedingungen der "Auffassungen", die die Historiographie produziert, können zurückgreifen auf das gesicherte Wissen, das die Innere Kritik in ihrem Umgang mit "Auffassungen", die ihr in den historischen Materialien vorliegen, erworben hat und erfolgreich anwendet. Was die Innere Kritik für die ihr gegebenen "Auffassungen" und den Prozeß ihrer Entstehung festgestellt hat, gilt grundsätzlich auch für die "Auffassungen", die die wissenschaftliche Historiographie produziert. So wie die Innere Kritik (s. o. S. 69 ff.) die Geschichte, die Bedingungen der ihr in den Materialien vorliegenden "Auffassung" ermittelt und bei der Beurteilung der Richtigkeit der "Auffassung" die ermittelten Bedingungen (also z. B. die Interessen, den ,Wissenshorizont', die politische Parteinahme des Autors der "Auffassung") kritisch in Rechnung stellt, so werden bereits heute Voraussetzungen, Bedingungen der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts festgestellt und diskutiert, und - wenn nötig - werden diese historiographischen Konzeptionen heute mehr oder weniger umfangreichen Korrekturen unterworfen. (Bereits heute lesen wir die Arbeiten, die dieser Historiographie zugehören, nicht mehr nur, um über die darin behandelten Phänomene informiert zu werden, sondern wir lesen sie auch deswegen, weil diese Geschichtsschreibung des vergangenen Jahrhunderts bereits selber ,Geschichte geworden' ist, wir verstehen sie als historisches Material, als Überrest eines vergangenen - etwa ,geistesgeschichtlichen' - Geschehens.) 112 Deshalb stellt Droysen fest: "... wir müssen uns bescheiden lernen, nur soweit und in solchen Bereichen als Historiker arbeiten zu wollen, mit denen wir uns sachlich völlig vertraut gemacht haben; wir müssen lernen, daß unsere methodischen Tätigkeiten erst mit der Kenntnis der Sachen ihren Inhalt und ihre Energie gewinnen." (Vorl. 191) Droysen fährt fort: "Und diejenigen, welche sagen, sie studieren Geschichte, mögen sich wohl bedenken, eine wie große Forderung sie an sich stellen." (Vorl. 191) (Es sind dies Worte aus einer Einführungsvorlesung.) us Vgl. oben Seite 50.
D. Bedingungen der historiographischen Erkenntnis
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Der große Rahmen eines Weltverständnisses (einschließlich eines ,Geschichtsbildes', das sich auf dem Hintergrunde des ersteren abhebt) ist dem Historiker in der Regel vorgegeben, durch seine Gesellschaft vermittelt. (In der Regel werden durch den Forscher nur Modifikationen an beiden vorgenommen, und in den Fällen, in denen grundlegende Neuerungen erfolgen, erfolgen dieselben in der Auseinandersetzung mit den bisherigen Konzeptionen, so daß auch in revolutionärem Wandel Kontinuität erhalten bleibt.) Der Historiker steht mit seinem Bewußtsein in der Kontinuität, in der Tradition seiner Gesellschaft; er ist ,verankert' in der Geschichte, d. i. im Prozeß des Geschehens; und seine Geschichtsschreibung ist selbst ein historisches Ereignis. Wie jeder Mensch ist er "hineingeboren in das ganze Gewordensein, in die historischen Gegebenheiten seines Volkes, seiner Sprache, seiner Religion, seines Staates, seiner schon fertigen Register und Zeichensysteme, in denen aufgefaßt, gedacht und gesprochen wird, aller der schon entwickelten Vorstellungen und Auffassungen, welche die Grundlage des Wollens, Tuns und Gestaltens sind" (Vorl. 15). So Droysen über den einzelnen Menschen. Nach Maßgabe der ihm in seiner Gesellschaft, nach Maßgabe der ihm auf Grund seines Schicksals in dieser Gesellschaft vorgegebenen Bedingungen leistet der Historiker seine Arbeit, d. i. die Bewahrung und Ermittlung von Wissen über vergangenes Geschehen und die Verbesserung, Modifizierung oder "Steigerung" (Vorl. 27) dieses Wissens. Auch je bestimmte Formen wissenschaftlichen Verhaltens, wissenschaftlicher Attitüde (die ja nie ,bloße Form' sind) findet der Historiker - als Bedingungen seines eigenen Schaffens- vor. Im Mittelalter z. B. war es Brauch, Autoritäten auszuschreiben114• Die historiographische Konzeption (die Entscheidung für oder gegen einen Gegenstand der Untersuchung, die Organisation des Materials und sein Verständnis- vgl. Report 125 ff. -)ist also nicht nur abhängig von den vorliegenden historischen Materialien. (Wieviele Materialien liegen vor? Wie informativ sind die vorliegenden? usw.) Die historischen Materialien sind nur der eine Faktor, der für die historiographische Konzeption konstitutiv ist. Der andere Faktor ist das Gesamt der Bedingungen, die durch den jeweiligen Erkennenden gegeben sind. (Und 114 "Alle Zeiten haben ihre typischen Darstellungen, ihre typischen Biographien, lehrhaften Geschichtsbücher und Tabellen gehabt, die nach ihren Stilformen die lebendigen Eindrücke erstarrt überlieferten. Bekannt ist, in welchem Umfange die Lebensbeschreibung Karls des Großen aus der Feder Einhards nach dem Muster von Suetons Leben des Augustus gearbeitet ist, so sehr, daß sogar die Körperbeschreibung entlehnt ist." (Brandi 1922, 16) Vgl. auch die überlegungen, die Brandi unmittelbar anschließt.
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
dabei ist zu beachten, daß bereits die Auffassung der historischen Materialien als historischer Materialien eine Erkenntnisleistung des Erkennenden ist.) Mit den sich wandelnden Bedingungen der Historiographie wandelt sich auch die Historiographie. Wenn sich das vorliegende historische Material, das ein bestimmtes vergangenes Geschehen bezeugt, vermehrt - etwa durch neue Funde, oder wenn sich dieses Material verringert- etwa durch den Nachweis, daß ein bisher für echt gehaltenes Dokument gefälscht ist und also für das Geschehen, für das es bisher als Zeugnis galt, nicht als Zeugnis gelten kann, wird, wie es heißt, die Geschichte umgeschrieben. (Für den Fall neuer Funde vgl. Ed. Meyer 1910 a, 50.) Wenn sich mit dem sich stets wandelnden Menschen die Kategorien der Auffassung, das theoretische Wissen, die wissenschaftlichen Formen und Traditionen, die Interessen ändern, wird ebenfalls die Geschichte umgeschrieben, werden neue Auffassungen entworfen. "The slightest reflection shows that the conceptual material employed in writing history is that of the period in which a history is written. There is no material available for leading principles and hypotheses save that of the historic present. As culture changes, the conceptions that are dominant in a culture change. Of necessity new standpoints for viewing, appraising and ordering data arise. History is then rewritten. Material that had formerly been passed by, offers itself as data because the new conceptions propose new problems for solution, requiring new factual material for statement and test." (Dewey 1938, 233) Ähnlich auch Hans Mommsen (1961, 80): "Der Satz, daß die Geschichte immer wieder umgeschrieben werden müsse, bezeichnet den Sachverhalt, daß sich unser Verhältnis zur Vergangenheit in dem Maße ändert, wie sich die gegenwärtige Wirklichkeit und mit ihr unsere Interessen, Leidenschaften, Denkweisen und sozialen Verhaltensnormen selber umformen." Die historiographischen Konzeptionen sind die Konzeptionen einer jeweiligen Gegenwart; die Interpretationen der historischen Materialien sind Interpretationen aus den Bedingungen einer jeweiligen Gegenwart. Die sich wandelnden Bedingungen erfordern jeweils neue Interpretationen, jeweils neue Bemühungen um Verständnis, Erklärung. Zum Abschluß dieser Bemerkungen zum Problem der Bedingungen der historiographischen Erkenntnis sei noch auf die Sprache (als ebenfalls einer der in Rede stehenden Bedingungen) hingewiesen. Es soll damit nur das Problem, das hier liegt, aufgewiesen, in Erinnerung gebracht werden.
D. Bedingungen der historiographischen Erkenntnis
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(In einer in gewisser Hinsicht ähnlichen Weise wie die Sprache gehört auch die Wahrnehmung hierher, so etwa die erwähnte Droysensche Auffassung unserer Wahrnehmungen als "Zeichen", nicht "Abbilder" der wahrgenommenen Wirklichkeit, also die Auffassung der Natur unserer Sinnesorgane als der Bedingungen, auf Grund deren unsere Wahrnehmungen eben "Zeichen" und nicht "Abbilder" sind.) Die historiographische Erkenntnis unterliegt den Bedingungen der Sprache als desjenigen Mediums, in dem sie ihre Operationen vornimmt, als desjenigen Mittels, in dem sie ihre Ergebnisse - in der Regel - formuliert115. In der Frage der Bedingungen der Erkenntnis, also auch der der historiographischen Erkenntnis, ist das Medium der Sprache deswegen von grundlegender Bedeutung, weil eine Erkenntnis ohne Sprache nicht möglich ist. (Wenn wir eine Sprache oder mehrere Sprachen zusätzlich erlernen und benutzen, dann tauschen wir gleichsam nur eine Brille gegen eine andere aus, gehen gleichsam nur von einem Haus in ein anderes Haus.) Benjamin Lee Whorf (1963) z. B. hat zu zeigen versucht, daß die Sprache die Wirklichkeit für uns vorordnet und so die Auffassung der alltäglichsten (und auch der nicht alltäglichen) Phänomene bestimmt und zwar, daß dieses die verschiedenen Sprachen in verschiedener Weise tun. (Wenn hier von Sprachen die Rede ist, so sind eher Sprachfamilien oder -gruppen gemeint, wie etwa die indogermanische Sprachfamilie oder afrikanische Sprachgruppen.) "Wie wir die Natur aufgliedern, sie in Begriffen organisieren und ihnen Bedeutungen zuschreiben, das ist weitgehend davon bestimmt, daß wir an einem Abkommen beteiligt sind, sie in dieser Weise zu organisieren - einem Abkommen, das für unsere ganze Sprachgemeinschaft gilt und in den Strukturen unserer Sprache kodifiziert ist. Dieses Übereinkommen ist natürlich nur ein implizites und unausgesprochenes, aber sein Inhalt ist absolut obligatorisch; wir können überhaupt nicht sprechen, ohne uns der Ordnung und Klassifikation des Gegebenen zu unterwerfen, die dieses Übereinkommen vorschreibt." (Whorf 1963, 12) Wenn das richtig ist, würde gelten, daß die ,reale Welt' nicht nur, aber in mancherlei Hinsicht auf den linguistischen Strukturen der Sprache einer Gruppe erbaut ist118• 115 In der Regel, da zur Darstellung der Ergebnisse auch noch andere Mittel zur Verfügung stehen: die sogenannten historischen Karten und Atlanten z. B. 116 "Wir gelangen daher zu einem neuen Relativitätsprinzip, das besagt, daß nicht alle Beobachter durch die gleichen physikalischen Sachverhalte zu einem gleichen Weltbild geführt werden, es sei denn, ihre linguistischen Hintergründe sind ähnlich oder können in irgendeiner Weise auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden ... " (Whorf 1963, 12)
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
Wie aber schon das Problem der Relation von Wahrnehmung und Gegenstand der Wahrnehmung (s. o. S. 53) ist auch das Problem der Relation von Sprache und Wirklichkeit nicht ein Problem allein der Historiographie; die Frage nach der Relation von Sprache und Wirklichkeit ist überall aufgeworfen, wo die Sprache im Spiele ist. Im Hinblick auf den Gegenstand und die Fragestellung der vorliegenden Arbeit, die begrenzt sind, mag es deshalb genügen, auf das Problem, das sich hier stellt, an diesem Ort, d. i. im Zusammenhang von Bemerkungen zu den Bedingungen der historiographischen Erkenntnis, bloß hingewiesen zu haben. (Ähnlich wurde ja auch im Falle der Wahrnehmung verfahren117• 118.)
117 Droysen, Chladenius und Lamprecht haben hinsichtlich einer bestimmten Bedingung, die die Sprache auferlegt, hinsichtlich eines bestimmten Merkmals der Sprache ähnliche oder gleiche Feststellungen getroffen. Chladenius (1752) untersucht im 6. Kapitel seiner Arbeit die Bedingungen, die die "Verwandelung der Geschichte im Erzehlen" bewirken, wobei (nach Kapitel 1) eine "Geschichte" eine Reihe von "Begebenheiten" ist, und als eine "Begebenheit" bezeichnet Chladenius eine "Veränderung" in der Welt. Eine der Bedingungen, die eine "Verwandelung der Geschichte im Erzehlen" bewirken, ist nun die Sprache, insofern als sie nämlich für die Wirklichkeit, die uns in der Vorstellung als individuelle erscheint, "allgemeine Worte", d. h. Klassenbegriffe, zur Verfügung stellt, so daß eine Beschreibung der individuellen Wirklichkeit durch die Sprache ihre ,Verarmung' durch "Auslassung" bedeutet: "Und diese Auslassung geschiehet nun auf eine nicht so merckliche Art, wenn man, wie doch beständig und unvermeidlich geschiehet, die individuellen Ideen, die uns beywohnen, in der Erzehlung durch allgemeine Worte ausdruckt: denn auf diese Art wird der individuelle Begriff in den Begriff einer Art verwandelt, welche Begriffe allezeit viel weniger determiniret sind. Als ich sage: Da stunde eine Säule mit einem Knauffe: welch ein Unterscheid ist nicht zwischen dem individuellen Begriff der Säule, den ich im Sinn habe, und der die Gestalt derselben in sich begreifft, und dem allgemeinen Begriff, der die Bedeutung des Wortes Säule ausmacht: wenn ich auch gleich noch hinzusetze: von dorischer Ordnung, so ist doch dieses nur ein allgemeiner Begriff, davon die indiuidua ein gar sehr unterschiedenes Ansehen haben können. Nun aber bestehet auch die allerweitläufftigste Erzehlung aus solchen allgemeinen Worten: man kan also daraus ermessen, wie vieles der Zuschauer bey Erzeugung seiner Erzehlung bey sich und im Sinne behalten habe; weil nehmlich solches alles zu erzehlen nicht möglich ist." (Chladenius 1752, 118-19) Droysen hat das in Rede stehende Merkmal der Sprache so beschrieben: " ... der Name [faßt] das im Wechsel Gleiche auf und [behält] es als das Wesentliche fest." (Nat. u. Gesch. 408) "Objektiv oder richtiger tatsächlich und äußerlich sind die unter gleichem Namen subsumierten Erscheinungen in tausendfacher Veränderlichkeit, Vielheit, Verschiedenartigkeit vorhanden; aber dies wüste Vielerlei beherrscht der Geist, indem er das in gewisser Weise im wesentlichen für die Vorstellung Gleiche nach dieser seiner Gleichheit zusammenfaßt" (Nat. u. Gesch. 408) Und auch Lamprecht hat die gleiche Beobachtung gemacht. Auch er geht davon aus, daß uns alle Wirklichkeit in der Wahrnehmung individuell gegeben ist. "Die Welt der Erscheinungen, der physischen wie der psychischen, bietet sich nur in individueller Ausbildung dar ..." (Lamprecht
E. Die historischen Wissenschaften
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E. Die historischen Wissenschaften. Zusammenfassung Es ist in den vorangegangenen Kapiteln (S. 44 ff.) der Versuch gemacht worden, den Ersten Fundamentalsatz und bestimmte Konsequenzen, die sich unmittelbar oder mittelbar aus ihm ergeben, zu erläutern, zu explizieren. 1899 b, 12)
Wie aber nun erfassen wir diese Wirklichkeit in der Sprache? "Urteile ich: dieser Gegenstand ist ein Stock, oder: dies Gefühl ist das der Ratlosigkeit, so will ich damit sagen, daß unter allen Gegenständen der äußeren Welt der Erscheinungen und unter allen Vorgängen des seelischen Lebens gewisse Gegenstände den typischen Charakter des Stockes und gewisse Vorgänge den typischen Charakter der Ratlosigkeit haben, und daß dieser Gegenstand und dieser Vorgang dem Kreise solcher Gegenstände und Vorgänge angehöre." (Lamprecht 1899 a, 13) "Ich sage von [einem] Baum aus, er sei von rissigem Stamme, er habe matte Blätter, er zeige ein konisch geformtes Blätterdach u . s. w .... Mit andern Worten, ich umgrenze das individuelle Wesen des Baumes ... durch eine Summe von Urteilen, die auf Applikation allgemeiner Begriffe, wie rissig, matt, konische Form u. s. w ., auf den zu beschreibenden Gegenstand beruhen." (Lamprecht 1900, 5-6) "Urteilen" definiert Lamprecht dann folgendermaßen : "Urteilen heist [sie] .. . das Typische, das Regelmäßige, das, was uns mehr oder minder als ein Gesetz erscheint, in der Welt der Erscheinungen hervorheben ... " (Lamprecht 1899 b, 12) Eine etwas ausführlichere Definition findet sich auch noch bei Lamprecht (1899 a, 13). Lamprecht leitet u. a . aus diesem Merkmal unserer Sprache seine Forderung nach Kulturgeschichte ab, als einer Wissenschaft, deren "höchster und eigentlichster Gegenstand" "das Allgemeine, Typische" (Lamprecht 1899 b, 17) ist. 118 Ein besonderes Problem in der Frage des Verhältnisses von Sprache und Geschichtswissenschaft ergibt sich aus dem Umstand, daß die Historiographie in einem viel größeren Umfang die Umgangssprache verwendet, als dies die theoretischen Wissenschaften tun. Relative Ungenauigkeit und Vieldeutigkeit zeichnen die Umgangssprache aus, im Vergleich zu den künstlichen Sprachen der theoretischen Wissenschaften. Die letzteren erstreben im allgemeinen eine ,Verarmung' des Begriffs, nämlich eine Beschneidung des ,Hofs' seiner Bedeutungen und Assoziationen; die Umgangssprache ist sich dagegen mit ihrem weiten Begriffe kommunikabei genug. Bereits Wilhelm von Humboldt (1905, 36) hat festgestellt, daß "Unsicherheiten" und "Falschheiten" in der Erzählung zu Lasten der Sprache gehen können, "da ihr, die aus der ganzen Fülle des Gemüths quillt, oft Ausdrücke fehlen, die von allen Nebenbegriffen frei sind." Zweifellos gibt es einige Ansätze zu einer historiographischen Fachsprache; aber die Fachsprachen, die die theoretischen Wissenschaften entwickelt haben, sind ungleich umfangreicher. Es ist die Frage, inwieweit die Historiographie auf die Umgangssprache verzichten kann und ob sie vielleicht in einem geringeren Maße als etwa die theoretischen Wissenschaften auf die Umgangssprache verzichten kann. Vgl. hierzu auch Theodor Schieder (1965, 114 ff.). Schieder berührt in der genannten Arbeit (Seite 115) außer dem hier angesprochenen Problem auch das Problem der "übertragung der Sprache geschichtlicher Quellen in die Sprache historischer Darstellungen", er nennt dies (Seite 115) "ein grundsätzliches Problem von äußerster Schwierigkeit". In dieser vor wenigen Jahren veröffentlichten Abhandlung trifft Schieder die Feststellung, daß "die Sprache der Historie und der Historiker ... noch keiner zusammenfassenden Analyse unterzogen worden" (Schieder 1965, 220) ist.
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
Das Verhältnis von historischem Material, historiographischer Aussage und vergangener Wirklichkeit (Kapitel II A.) ist das zentrale Problem, das durch den Ersten Fundamentalsatz aufgeworfen ist, das also durch den Satz aufgeworfen ist, der die Feststellung trifft, daß Wissen über Vergangenes, also nicht mehr Zugängliches, wenn es gewonnen werden soll, nur abgeleitet werden kann aus gegenwärtiger, also zugänglicher Wirklichkeit, nämlich der der historischen Materialien. Die historischen Materialien sind somit die Grundlage aller Geschichtswissenschaft, und es empfahl sich deshalb, ihre allgemeine Beschaffenheit, ihre ,Natur' (im Anschluß an Droysen) näher zu untersuchen (Kapitel II B.). In der Erkenntnisarbeit des Historikers, also derjenigen Bemühung, die aus den historischen Materialien möglichst gesicherte Aussagen über vergangenes Geschehen zu gewinnen sucht, sind von Droysen vier verschiedene ,Phasen' oder Arbeitsgänge unterschieden worden, von denen zwei, nämlich Kritik und Interpretation, eingehender behandelt worden sind (Kapitel II C.). Dabei ist die Funktion von Sachwissen oder theoretischem Wissen in der Interpretation festgestellt und in einem anschließenden Kapitel (II D.) erläutert worden; es ist dies auch geschehen unter dem allgemeineren Gesichtspunkt der Bedingungen der historiographischen Erkenntnis, im Zusammenhang von Erörterungen zu diesem Problemkreis. In dem gegenwärtigen Kapitel nun sollen die Überlegungen zum Ersten Fundamentalsatz durch einige Ergänzungen und Erweiterungen allgemeinerer Art abgeschlossen werden. Im Ersten Fundamentalsatz vorausgesetzt und impliziert sind Aussagen über den geschehensmäßigen Charakter der Wirklichkeit, darüber, daß die Wirklichkeit eine sich verändernde Wirklichkeit ist. Die Wirklichkeit kann aufgefaßt werden als ein Kontinuum steter Prozesse, fortwährender Veränderungen. Weder ist dieser Mensch heute der gleiche, der er gestern war, noch ist diese Landschaft heute die gleiche, die sie gestern war, noch ist es dieses Tier 119 • 119 Der Prozeß-Charakter der Wirklichkeit ist immer wieder festgestellt worden. Johann Martin Chladenius hat die Veränderungen der Welt, die "Begebenheiten" (Chladenius), mit den folgenden Worten beschrieben: "Wir werden durch unsere Sinne .. . viele Dinge gewahr, welche, so offte wir unsere Sinne darauf richten wollen, allemal anzutreffen sind: jedoch sind sie nicht von einerley Dauer. Die so genannten Weltcörper sind die allerdauerhafftesten: als welche, weil Menschen auf der Erde sind, gedauert haben; ausser daß die Sternseher einen und andern Stern vermissen, der sonst gesehen worden. . . . Auf unserer Erde sind theils eben so alte Stücke anzutreffen; theils aber, besonders die kleinern, sehen wir hauffenweise entstehen und wieder vergehen." (Chladenius 1752, 27-28) Carl Friedrich von Weizsäcker erläutert in seinen Vorlesungen über die "Geschichte der Natur" (1962) einen umfassenden Begriff der Geschichte,
E. Die historischen Wissenschaften
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Der geschehensmäßige Charakter der Wirklichkeit läßt die jeweilige Gegenwart als ,.nichts anderes als die Summe aller Reste und Ergebnisse der Vergangenheit" (Kunst u. Meth. 420) erscheinen, als die Summe der Reste und Ergebnisse derjenigen Prozesse, durch die die jeweilige Gegenwart entsteht. Eine Interpretation, ein Verständnis oder eine Erklärung der sich stets verändernden und wandelnden Wirklichkeit ist in verschiedener Weise möglich; eine Interpretation der (je gegenwärtigen) Wirklichkeit, insofern diese als Überrest aufgefaßt werden kann, genauer, insofern diese als historisches Material aufgefaßt werden kann - und das heißt im Sinne der auf Seite 62 gegebenen Definition, insofern diese geeignet ist, Aussagen über vergangene Wirklichkeit zu ermöglichen - ist diejenige Interpretation, um die sich die Historiographie bemüht, oder allgemeiner, um die sich die historischen Wissenschaften bemühen. Es liegt eine (in der Literatur weniger beachtete) Droysensche Bestimmung des Verfahrens der Historiographie vor, die sich in diesem Sinne als einerseits ,eng' und präzise genug und andererseits aber auch als ,weit' und umfassend genug erweist, um nicht nur das Verfahren der Historiographie (im Sinne des Faches ,Geschichte'), sondern das aller historischen Wissenschaften grundsätzlich zu bestimmen. Sie ist einem Absatz entnommen, den Droysen erst in der letzten von ihm selbst besorgten Auflage (aus dem Jahre 1882) dem "Grundriß" einfügte. Die Historiographie ist danach diejenige Wissenschaft, ,.die von der Gegenwart aus und aus gewissen in ihr vorhandenen Elementen, die sie als historisches Material benutzt, Vorstellungen von Vorgängen und Zuständen der Vergangenheiten zu gewinnen weiß." (Grundr. 359)120 Diese Beschreibung der Methode der Historiographie - eine Explikation des Ersten Fundamentalsatzes- ist deswegen geeignet, das Verfahren aller historischen Wissenschaften zu bestimmen, weil Droysen in dieser Beschreibung für die Charakterisierung des Verfahrens der Historiographie nur den Ersten Fundamentalsatz heranzieht. Im Zusammenhang des Gesamts der Äußerungen Droysens zur Methode der HiGeschichte nämlich als ,.Inbegriff des Geschehens in der Zeit" (Seite 9). Auf dem Hintergrund eines so umfassenden Begriffs der Geschichte erblickt Weizsäcker in der Konsequenz das den Menschen Auszeichnende "nicht in seiner Geschichtlichkeit an sich" (Weizsäcker 1962, 11) - denn Geschichtlichkeit kommt auch der Natur zu; das den Menschen Auszeichnende ist vielmehr "sein Wissen von seiner Geschichtlichkeit". (Weizsäcker 1962, 11; hervorgehoben von mir.) Droysen behauptet im Hinblick auf die "rastlose Bewegung in der Welt der Erscheinungen" (Grundr. 326) einen Unterschied, der im Reich der "Natur" einerseits und dem der "Geschichte" (Vorl. 11 ff.) andererseits zutage trete. Vgl. dazu Anm. 10. 120 Vgl. auch Grundr. 366.
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Teil Il. Der Erste Fundamentalsatz
storiographie aber verengen der Zweite Fundamentalsatz (also die Verstehenslehre) und auch diejenigen Konzeptionen, die dem Droysenschen Dualismus von "Natur und Geschichte" zugrunde liegen, die durch den Ersten Fundamentalsatz ermöglichte ,weite' Konzeption in der Beschreibung der ,historischen Methode'; sie verengen, beschränken die ,historische Methode' auf die sittliche Welt des Menschen. (Bereits bei der Erörterung einer Definition der historischen Materialien ist-S. 61 f. -darauf hingewiesen worden, daß nicht das, was aus den Vergangenheiten überhaupt noch vorhanden ist, sondern nur das, was aus den Vergangenheiten der "sittlichen, der Menschenwelt noch unvergangen" (Vorl. 21) ist, historisches Material im Sinne Droysens ist.) Die folgenden Ausführungen vernachlässigen die erwähnten Droysenschen Begrenzungen der ,historischen Methode' und stellen das Interesse an einer solchen Bestimmung, an einer derartigen Beschreibung des Verfahrens der Historiographie in den Mittelpunkt, die nicht nur für die Historiographie allein, sondern für alle historischen Wissenschaften gilt. Als Beispiele historischer Wissenschaften in dem hier gemeinten Sinne seien genannt: a) die Historiographie oder Geschichtswissenschaft (im Sinne des Faches ,Geschichte'); b) alle "historischen Zweig- (oder Teil-) Wissenschaften" (v. Brandt 1966, 21), also z. B.: Wirtschaftsgeschichte, Kunstgeschichte, Sprachgeschichte, Bevölkerungsgeschichte, Siedlungsgeschichte, Militärgeschichte, auch Kirchen- und Religionsgeschichte; c) Früh- und Urgeschichte; d) aus den Bereichen von Biologie und Geologie diejenigen Disziplinen, die die Geschichte der Organismen bzw. die Geschichte der Erde schreiben, also z. B. Paläontologie, Paläanthropologie usw. Es mag befremdlich erscheinen, daß auch die unter d) genannten Disziplinen in die Tabelle der historischen Wissenschaften aufgenommen wurden. Aber bereits z. B. Eduard Meyer hat festgestellt, daß die fraglichen Disziplinen grundsätzlich nicht anders verfahren als die gewöhnlich zu den historischen Wissenschaften gezählten, nämlich daß sie "die Zustände einer vergangenen Zeit aus den von ihnen hinterlassenen Spuren zu erkennen und in ihrer Einzelgestaltung ... zu rekonstruieren" (Meyer 1910 a, 69) suchen. Meyer beschreibt das Verfahren der fraglichen Disziplinen als "Entdeckung und richtige Deutung der Fundtatsachen und die Bestätigung der zu ihrer Erklärung aufgestellten Hypothesen durch geschärfte Untersuchung des schon vorliegenden Materials und vor allem durch neue Funde, sei es, daß sie wissenschaftlich, me-
E. Die historischen Wissenschaften
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thodisch gesucht werden, sei es, daß der Zufall sie bringt." (Meyer 1910 a, 69) Und er stellt fest: "Genau ebenso liegt es auf dem Gebiet der menschlichen Geschichte." (Meyer 1910 a, 69) Ersetzt man in dem Zitat den Begriff ,Fundtatsachen' durch den Begriff ,historische Materialien', leuchtet dies ja auch unmittelbar ein. Für das Verfahren aller genannten Disziplinen (von a bis d) gilt, wie bemerkt, die oben wiedergegebene Droysensche Bestimmung des Verfahrens der Historiographie: Diese Disziplinen gehen aus von in der jeweiligen Gegenwart "vorhandenen Elementen", die sie als historisches Material benutzen, und gewinnen so "Vorstellungen von Vorgängen und Zuständen der Vergangenheiten" (Grundr. 359); die historischen Wissenschaften interpretieren jeweils gegenwärtige, als historisches Material aufgefaßte Wirklichkeit; sie produzieren auf der Grundlage von als historisches Material begriffener Wirklichkeit Aussagen, Behauptungen über vergangene Realität, wobei die verschiedenen Disziplinen, wie im Anschluß an die Erörterungen in Kapitel II D. ergänzt werden kann, je verschiedenes einschlägiges Sachwissen oder theoretisches Wissen über die zu rekonstruierenden Phänomene zu Hilfe nehmen, als ,Instrument der Auffassung' benutzen. Wenn nun das Verfahren der Historiographie in einer Weise bestimmt wird, wie Droysen es in der zitierten Stelle (Grundr. 359) tut, dann sind damit nicht nur, wie gerade festgestellt, auch die Verfahrensweisen der anderen historischen Wissenschaften einheitlich beschrieben, sondern es sind darüber hinaus durch eine solche Definition auch alle diejenigen Operationen erfaßt, die jeder von uns im Alltag anwendet, wenn er sich - in welchen Angelegenheiten auch immer - ein Bild von Vergangenern macht. (Im Sinne der Ausführungen in Anmerkung Nr. 102 können die historischen Wissenschaften aufgefaßt werden als entstanden aus diesen Operationen des Alltags, entstanden durch ,methodische', kritische Entwicklung dieser alltäglichen Verfahren und Methoden.) Die Methode der Historiographie erweist so ihren gleichsam universalen Charakter; sie ist kein Privileg der Geschichtswissenschaft, Privileg in dem Sinne, daß sie nur und ausschließlich in dieser, der Geschichtswissenschaft, zur Anwendung kommt. Wenn der Jurist oder Kriminalist auf Grund von ,Indizien', also auf Grund von als Überrest, als historisches Material aufgefaßter, gegenwärtiger Wirklichkeit, und unter Zuhilfenahme einschlägigen "anderweitigen" (Vorl. 159) Wissens ein Verbrechen rekonstruiert; wenn der Polizeibeamte auf Grund von Spuren und unter Zuhilfenahme einschlä-
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
gigen sonstigen Wissens einen Verkehrsunfall rekonstruiert; oder wenn die Sekretärin in einem Industriebetrieb auf Grund ihr vorliegender Akten, also auf Grund von als Überrest, als historisches Material aufgefaßter, gegenwärtiger Wirklichkeit, und unter Zuhilfenahme relevanten "anderweitigen" Wissens einen Vorgang von vor einem Monat rekonstruiert, machen sie alle grundsätzlich - und das heißt im Hinblick auf das jeweils angewandte Verfahren- nichts anderes als der Historiker, der in einem Archiv auf der Grundlage von Akten, Urkunden usw., also auf der Grundlage von als historisches Material aufgefaßter, gegenwärtiger Wirklichkeit, und unter Zuhilfenahme einschlägigen "anderweitigen" Wissens die politische Geschichte eines Landes, einer Stadt in einem verflossenen Jahrhundert rekonstruiert1 21 • Auch Droysen hat festgestellt, daß wir uns im Alltag auf mancherlei Weise nach Art der Historiographie betätigen: "Unbewußt, für den einzelnen Fall, gewohnheitsmäßig, heut wie allzeit so, treibt jedermann das, was uns zur historischen Wissenschaft werden soll." (Vorl. 20) Es sei abschließend die Frage nach der Leistung der historischen Wisaufgeworfen.
s~:>nschaften
Bisweilen wird erklärt, die historischen Wissenschaften beschäftigten sich ,doch nur mit Vergangenem', ,mit bloßem Vergangenen', und es ermangele ihnen deswegen nicht nur an Aktualität, sondern sie leisteten auch nicht den gebührlichen Beitrag, den man von Wissenschaften erwarten dürfe, zur Bewältigung der Probleme der jeweiligen Zeitgenossen. Es ist dies ein Vorwurf, der - wenn er zutrifft - nicht leichtfertig abgetan werden sollte. Häufig wird aber auch, wenn so oder ähnlich argumentiert wird, der Unterschied zwischen den historischen Wissenschaften einerseits und den theoretischen Wissenschaften andererseits nur in sehr unzureichender Weise berücksichtigt. Die historischen Wissenschaften leisten nicht das, was die theoretischen leisten, und die theoretischen Wissenschaften leisten nicht das, was die historischen leisten. 121 Es lassen sich beliebig viele Beispiele für die (in einem weiten Sinn) ,historiographischen' Betätigungen aus dem Alltag erfinden. In einem Restaurant bemerke ich auf dem Papier der Speisekarte, die auf meinem Tisch liegt, links oben einen dunklen braunen Fleck. Auf Grund dieses Flecks und meines "anderweitigen" einschlägigen Wissens (nämlich im Umgang mit Papier und Kaffee) schließe ich, daß auf das Papier Kaffee gegossen worden ist. Das aber heißt, ich mache eine Aussage, eine Behauptung über vergangenes Geschehen. Ich stütze mich bei dieser Behauptung auf gegenwärtige, wahrgenommene Wirklichkeit (die ich als historisches Material, als Überrest eines vergangenen Prozesses auffasse) und auf meine sonstige einschlägige Erfahrung mit solcher Art Wirklichkeit, wie sie mir in der als historisches Material aufgefaßten vorliegt.
E. Die historischen Wissenschaften
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Die theoretischen Wissenschaften122 formulieren ,Theorien' - Aussagen, die in verschiedenen Methodologien auch ,Gesetze' genannt werden. Die Theorien enthalten sogenannte Wenn-Dann-Aussagen, d. h . Aussagen, in denen behauptet wird, daß unter bestimmten Bedingungen - immer und überall - bestimmte Konsequenzen zu erwarten sind. Die theoretischen Wissenschaften informieren in Wenn-DannAussagen über die Realität. Aussagen solcher Art machen, da sie immer und überall gelten, Voraussagen möglich, und sie besitzen, wie leicht zu sehen ist, entschiedene Relevanz für die Praxis der Lebensführung und -bewältigung123. Die theoretischen Wissenschaften also erklären durch Wenn-DannAussagen die Realität; sie ermöglichen Prognosen; ihre Sätze bewähren sich - wenn sie wahr sind - im Handeln. Was leisten dagegen die historischen Wissenschaften? Die historischen, rekonstruierenden Wissenschaften als solche bemühen sich nicht darum, unser theoretisches Wissen über die Wirklichkeit zu vermehren, voranzutreiben. (Theoretische Elemente gehen zwar, wie wir gesehen haben, in die Ergebnisse der historischen Wissenschaften ein, aber ihre Bedeutung für die historischen Wissenschaften erschöpft sich in einer dienenden Funktion.) Die historischen Wissenschaften formulieren keine Theorien im Sinne der theoretischen Wissenschaften, sie stellen also keine, wie man zu sagen pflegt, Gesetze auf, und sie bemühen sich auch gar nicht darum, sondern sie stellen vergangene Wirklichkeit dar, indem sie sie rekonstruieren. Wie alle Wirklichkeit ist aber auch die vergangene ,individuell', und insofern erstreben die historischen Wissenschaften Kenntnis von ,Individuellem'. Und insofern Theorie ,allgemein' ist, erstreben die theoretischen Wissenschaften Kenntnis von ,Allgemeinem'124• 122 Eine Einführung in die Probleme der Theorie und Methodologie der theoretischen Wissenschaften geben die Arbeiten z. B. von Hans Albert. Dort auch die weiterführende Literatur. 123 Nicht die historischen, sondern die theoretischen Wissenschaften sind ,praktisch'. Bisweilen kann man einem Vorurteil gegenüber der Theorie begegnen, in dem gegen die zwar gut gemeinte, aber letztlich doch immer ,unpraktische' Theorie die sogenannte Praxis ausgespielt wird. Es ist dies eine sehr oberflächliche Sicht. Eine Theorie ist nur dann unpraktisch, wenn sie falsch ist; sie ist genau in dem Maße unpraktisch, in dem sie falsch ist. Es gibt nichts Praktischeres als eine richtige Theorie. 124 In einer ähnlichen Weise begründet auch Ed. Meyer (1910, a, 35-36), warum es die Historiographie mit dem ,Individuellen' zu tun habe. Paul Kirn dagegen macht anhand eines eher ausgefallenen Beispiels in einem ähnlichen Zusammenhang, in dem er Natur- und Geschichtswissenschaft gegeneinander ausspielt, die sehr leicht irreführende Bemerkung: "Es gibt nun einmal viel mehr Kaninchen und Meerschweinchen als Staatenbünde und Renaissancen." (Kim 1963, 13) Der Gegensatz zwischen Natur- und Geschichtswissenschaft hätte angemessener illustriert werden können, wenn den Kaninchen und Meerschweinchen
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Teil II. Der Erste Fundamentalsatz
Wie die theoretischen Wissenschaften erklären die historischen Wissenschaften die Realität, jedoch in einer ganz anderen Weise. Die theoretischen Wissenschaften versuchen in der sich fortwährend verändernden Wirklichkeit Regeln, ,Gesetze', denen das Geschehen unterworfen ist, festzustellen. Die historischen Wissenschaften interpretieren die sich fortwährend verändernde Wirklichkeit, insofern diese als Überrest, als historisches Material aufgefaßt werden kann, und machen so gegenwärtige Wirklichkeit (nämlich die Wirklichkeit in ihrem Überrestcharakter) verständlich; indem sie gegenwärtige Wirklichkeit (nämlich die als historisches Material aufgefaßte) erklären, verständlich machen, gelangen sie zu Aussagen über vergangene Realität. Nur durch die Annahme, daß ein bestimmtes Geschehen vor der und der Zeit in der und der Art stattgefunden hat, können wir uns die gegenwärtige Wirklichkeit historischer Materialien erklären. So führt die Interpretation bestimmter in der Gegenwart zugänglicher Materialien - unter Berücksichtigung unserer sonstigen Erfahrung - zu der Hypothese des urgeschichtlichen Menschen; die Interpretation anderer, ebenfalls in der Gegenwart zugänglicher Materialien führt - zusammen mit unserem sonstigen Wissen - zu dem Gesamt der Hypothesen über den Dreißigjährigen Krieg. Ohne die Erkenntnisbemühung, ohne die Interpretationsbemühung der historischen Wissenschaften, ohne diese Bemühungen um Verständnis und Erklärung blieben die genannten Materialien, insofern sie die Hypothesen des urgeschichtlichen Menschen und des Dreißigjährigen Krieges ermöglichen, unverstanden. Im Hinblick auf das Arbeits- und Erkenntnisziel aller Wissenschaften, nämlich der angemessenen Interpretation der Wirklichkeit, erfüllen die historischen Wissenschaften also eine notwendige Aufgabe, eine Aufgabe, die sie, und nur sie, erfüllen können. Die historischen Wissenschaften produzieren Aussagen über vergangene Wirklichkeit. Sie gehen dabei aus von gegenwärtiger Wirklichkeit. Indem sie aber so gegenwärtige Wirklichkeit verständlich machen und erklären, leisten sie einen Dienst für den aktuellen Lebensvollzug125• nicht die wenigen Staatenbünde, sondern das historische Material, auf Grund dessen wir von den Staatenbünden und Renaissancen wissen, oder auch z. B. tierisches Fossilmaterial gegenübergestellt worden wäre. 125 Eine Einteilung der Wissenschaften in historische und theoretische weicht ab von der gebräuchlicheren Form ihrer Klassifikation, nämlich in Kultur- bzw. Geisteswissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits. Das sogenannte naturwissenschaftliche Verfahren ist zwar zweifellos das theoretische, dennoch verwenden bestimmte als Naturwissenschaften bezeichnete Wissenschaften offensichtlich das rekonstruierende Verfahren (z. B. die Biologie, insofern sie die Geschichte der Organismen schreibt); andererseits verfahren die sogenannten Geisteswissenschaften, sofern sie Vergangenheit darstellen, allerdings rekonstruierend, sofern sie aber dies nicht tun, sondern einen Gegenstand ,systematisch' untersuchen, verfahren sie theoretisierend,
Teillll Der Zweite Fundamentalsatz. (Droysens Verstehenslehre) In den vorangegangenen Untersuchungen des zweiten Hauptteils ist versucht worden zu zeigen, daß der Erste Fundamentalsatz von in der Tat fundamentaler Bedeutung für Überlegungen ist, die das Verfahren der Historiographie zum Gegenstand haben. Der Erste Fundamentalsatz ist der Denkansatz solcher Überlegungen. Der Zweite Fundamentalsatz 126, dem das gegenwärtige Kapitel gewidmet ist, ist nach Droysens Auffassung in einer ähnlich bedeutenden Weise relevant für die historiegraphische Methode. Gleich zu Anfang der Vorlesungen, in dem Abschnitt seiner grundsätzlichen Erwägungen zur "historischen Methode" (Vorl. 17 ff.), gelangt Droysen nach einer Reihe längerer Ausführungen zu dem Ergebnis, das ich vorwegnehme: "Damit haben wir das bezeichnende Wort. Unsere Methode ist forschend zu verstehen. Das ist der zweite Fundamentalsatz." (Vor!. 22)127 wenn sie auch dabei noch nicht so weit und konsequent entwickelte Systeme von Theorien wie manche theoretischen Naturwissenschaften zur Verfügung haben. Eine Klassifikation der Wissenschaften in theoretische und rekonstruierende (historische) ist eine solche vom Gesichtspunkt der in den jeweiligen Wissenschaften gebrauchten Methode. Die Einteilung der Wissenschaften in Geistes- und Naturwissenschaften dagegen hat - auf Grund ihrer philosophischen Tradition - die Tendenz, ontologisierend eine duale Einteilung der Welt zu implizieren. Auch Droysen macht hier keine Ausnahme, im Gegenteil; er ist an der dualistischen Konzeption sehr interessiert, wie unter anderem seine Auffassungen über "Natur und Geschichte" zeigen. (An einigen wenigen Stellen konfrontiert Droysen die historischen Wissenschaften mit den theoretischen, z. B. in Vorl. 93, Vorl. 189 ff., Vorl. 315 ; vgl. auch Vorl.Nachschr. 86.) In der von Historikern verfaßten Literatur zur historiographischen Methode findet sich die Unterscheidung von theoretischen und historischen Wissenschaften und die Bestimmung des gegenseitigen Verhältnisses zueinander (die historischen Wissenschaften benutzen die Ergebnisse der theoretischen Wissenschaften als ,Instrument der Auffassung') unter anderem in besonders eindringlicher Weise in den Arbeiten von Ed. Meyer. Statt von theoretischen Wissenschaften spricht Meyer (1907, 20) von "Gesetzeswissenschaften". 126 Vgl. Anm. 7. 127 Im "Grundriß" heißt es: "Das Wesen der historischen Methode ist forschend zu verstehen." (Grundr. 328) 8 Spieler
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Teil !11. Der Zweite Fundamentalsatz
Der Zweite Fundamentalsatz, Droysens Verstehenslehre, hat viel zum Ruhm der "Historik" beigetragen, wohl mehr als der Erste Fundamentalsatz. So bezeichnet denn auch z. B. noch eine der letzten der über Droysen verfertigten Dissertationen den Zweiten Fundamentalsatz als "auch heute noch für alle Geisteswissenschaften unbestritten gültig" (Birtsch 1964, 3), also als nicht nur gültig für die Historiographie, sondern für alle Geisteswissenschaften. Allein, man mag die Geltung dieses Satzes behaupten, von "unbestrittener" Geltung jedoch kann keine Rede sein. Die geisteswissenschaftliche Verstehenslehre, also der Anspruch, mit Hilfe der Operation des Verstehens eine eigene Klasse von Wissenschaften und deren Methode zu begründen, ist umstritten128• Die folgenden Ausführungen wollen eine doppelte Aufgabe erfüllen. Erstens soll festgestellt werden, was Verstehen bei Droysen überhaupt ist, welche Phänomene Droysen mit diesem Terminus belegt. Zweitens soll versucht werden, zu einem Urteil darüber zu gelangen, ob das so in seiner Bedeutung festgestellte - Verstehen geeignet ist, das zu leisten, was es nach Droysens Auffassung leistet, ob die Operationen, die Droysen mit Verstehen bezeichnet, spezifisch historiographische Operationen sind, ob also mit dem Verstehensbegriff das Spezifische oder ein Spezifisches der historiographischen Methode beschrieben werden kann oder nicht. Ist "forschend zu verstehen" in der Tat eine Tätigkeit, die in der Gemeinschaft der Wissenschaftler nur einer Gruppe von ihnen, den Historikern, zukommt? A. Verstehen, Erkennen, Erklären
Es ist zunächst festzustellen, daß Droysen drei "mögliche wissenschaftliche Methoden" (Grundr. 330) unterscheidet. Es sind dies: Verstehen, Erklären und Erkennen; und es ist dies eine Unterscheidung "nach den Objekten und nach der Natur des menschlichen Denkens" (Grundr. 330)129• 128 Es seien nur zwei Arbeiten genannt, die von Viktor Kraft (1965) und Hans Albert (1962). Bei Albert die weitere Literatur. Die Arbeit von Kraft war 1955 das erste Mal erschienen. (Vgl. die Fußnote bei Kraft 1965, 72.) 129 Vgl. dagegen Vorl.-Nachschr. 79: "Die drei Methoden haben überhaupt gar keine in ihren Objekten oder Organen begründete bestimmte Grenze. Der Bereich einer Erkenntnisweise reicht so weit, als ihre Methode reicht, anwendbar ist. Sie ist für die Wissenschaft, was die Sinne für die Seele sind. Soweit die Sinne reichen, erkennt die Seele; soweit die historische Methode, unsere Weltanschauung. Nicht das Objekt macht den Unterschied zwischen den drei Methoden, sondern ihre Fähigkeit. Die historische Wissenschaft vindiziert sich alles, was mit ihrer Methode zu erreichen ist."
A. Verstehen, Erkennen, Erklären
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Statt von "Methoden" spricht Droysen auch von "Erkenntnisformen" (Briefw. II, 452). Diejenige "Methode", deren "Wesen" es ist, zu "erkennen", nennt Droysen die "(philosophisch oder theologisch) spekulative", diejenige "Methode", deren "Wesen" es ist, zu "erklären", nennt er die "physikalische", und diejenige, deren "Wesen" es ist, zu "verstehen", die "historische". (Grundr. 330) Die Gliederung der Wissenschaften in Logik, Physik und Ethik, wie sie im "alten Kanon der Wissenschaften" (Grundr. 330) vorgenommen ist, glaubt er verständlich machen zu können mit dem Hinweis auf die von ihm genannten drei Formen der Erkenntnis130• Das Verhältnis der drei Formen der Erkenntnis zueinander bestimmt Droysen in einer doppelten Weise. Erstens. Die historische Methode des Verstehens steht zwischen der "nur idealistischen" Methode des Erkennens und der "nur materiellen" Methode des Erklärens (Vorl. 232). Aus allen drei Methoden gehen entsprechende "Weltanschauungen" (Vorl.-Nachschr. 78) hervor. Aber in der historischen Weltanschauung ist die "falsche Alternative der materialistischen und idealistischen Weltanschauung versöhnt" (Grundr. 330) und vermittelt. (Vgl. auch Vorl.-Nachschr. 77-78.) Zweitens. Andererseits aber auch meint Droysen, daß jede der drei Methoden "der andern bedürfe, sie bedinge und voraussetze" (Vor!. 232). Das Verhältnis der drei Methoden zueinander ist nach Droysen demnach derart, daß sie sich gegenseitig ergänzen, und zwar so, daß das, was die eine leistet, nicht durch eine der beiden anderen geleistet werden kann. Er vergleicht sie deshalb -in diesem Sinne passend - mit unseren Sinnesorganen und deren Funktionen. Wie diese unsere Sinnesorgane haben die drei wissenschaftlichen Methoden "jede ihre spezifische Energie, ihren bestimmten Kreis, für den sie geeignet sind, und bestimmen sich nach demselben in ihrer Art und Anwendbarkeit. Gewiß ist das Auge ein für seinen Zweck bewunderungswürdig eingerichtetes Organ, aber wer würde wollen, daß auch das, was man nur hören, riechen, schmecken kann, auf dem Wege des Auges wahrgenommen werden sollte." (Vorl. 18) Nicht nur - aber insbesondere gegen die physikalische Methode des Erklärens verteidigt Droysen die Eigen- und Selbständigkeit einer Historiographie und deren Methode, so wie er sie konzipierte. "Wenn die Naturwissenschaft nicht befähigt ist, alles nach ihrer Art zu erfassen, so kann man daraus doch nicht schließen wollen, daß das andere wis130
Drei Formen der Erkenntnis unterscheidet übrigens z. B. auch Paul Kirn
(1963, 70 ff.), nämlich "Begreifen", "Erklären" und "Verstehen".
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Teil III. Der Zweite Fundamentalsatz
senschaftlieh überhaupt nicht zu erfassen sei, daß der Duft einer Rose, die Töne einer Geige, weil sie nicht gesehen werden können, überhaupt nicht wahrzunehmen seien; vielmehr hat man dafür andere Sinne. Und wenn in der Welt der Erscheinungen deren bleiben, die sich zu der naturwissenschaftlichen Methode irrational verhalten, so müssen für diese, wie viele oder wenige sie sein mögen, andere Erkenntniswege zu finden sein." (Vorl. 18) Einer dieser Erkenntniswege ist nach Droysen die historische Methode des Verstehens. In der bereits mehrfach erwähnten Buckle-Rezension wiederholt sich Droysens Zurückweisung des Methoden-Monismus , wobei er u. a. wiederum das Bild der je eigenen, spezifischen Funktion und Leistung unserer Sinnesorgane benutzt, um die eigene, spezifische Funktion und Leistung der Historiographie und ihrer Methode zu demonstrieren. "Gibt es denn immer nur Einen Weg, Eine Methode des Erkennens? Sind die Methoden nicht je nach ihren Objekten andere und andere, wie die Sinneswerkzeuge für die verschiedenen Formen sinnlicher Wahrnehmung, wie die Organe für ihre verschieden gearteten Funktionen?" (Buckle-Rez. 391)131 In der Ablehnung des Methoden-Monismus ist Droysen zweifellos zuzustimmen. Es hat sich im Zusammenhang der Erörterungen zum Ersten Fundamentalsatz gezeigt, daß es sinnvoll ist, mindestens zwei Klassen von Wissenschaften zu unterscheiden, nämlich historische und theoretische Wissenschaften. Auch in der Begründung dieser Ablehnung ist Droysen beizupflichten, dies jedoch nur insofern z. B. der Erste Fundamentalsatz dafür herangezogen wird. Andere vorgebrachte Begründungen, wie z. B. der Zweite Fundamentalsatz, erscheinen - wie gezeigt werden wird- nicht so schlüssig und überzeugend 132 • 13 1 "Gewiß ist in den Bereichen, mit denen die ,Wissenschaft der Geschichte' zu tun hat, vieles, was auch der naturwissenschaftliche n Methode, vieles, was anderen und anderen Formen wissenschaftlicher Erkenntnis auch zuständig oder zugänglich ist; aber wenn da Erscheinungen, wie viele oder wenige es denn sein mögen, wenn da Gesichtspunkte, Beziehungen übrig bleiben, die keiner der sonstigen Erkenntnisarten zugänglich sind, so ist es angezeigt, daß es für sie noch eine andere, eine eigene und besondere Methode geben müsse. Wenn es eine ,Wissenschaft der Geschichte', an die auch wir glauben, geben soll, so ist damit gesagt, daß es einen Kreis von Erscheinungen gebe, für die weder die theologische noch die philosophische, weder die mathematische noch die physikalische Betrachtungsweise geeignet ist, daß es Fragen gebe, auf die weder die Spekulation Antwort gibt, mag sie theologisch das Absolute zu ihrem Ausgangspunkt oder philosophisch zu ihrem Zielpunkt haben, noch diejenige Empirie, die die Welt der Erscheinungen nach ihrem quantitativen Verhalten faßt, noch irgendeine Disziplin aus den praktischen Bereichen der sittlichen Welt." (Buckle-Rez. 392) 132 Die Droysensche Einteilung der Welt in "Natur" und "Geschichte" soll ebenfalls - nach Droysens Absicht - Gründe gegen den Methoden-Monismus und für die Eigenständigkeit der ,historischen Methode' beibringen. Vgl. Anm.lO.
B. 1. Verstehen als Intuition
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B. Die drei Varianten im Droysenschen Verstehensbegriff
Nur eine der drei von ihm unterschiedenen Formen der Erkenntnis, nämlich die historische Methode des Verstehens, unterwirft Droysen einer eingehenderen Beschreibung und Darstellung. Es sind im Begriff des Verstehens bei Droysen relativ verschiedenartige Phänomene beschrieben: wenigstens drei solcher Phänomene lassen sich unterscheiden. Diese drei Bedeutungen des Wortes ,Verstehen' sind jedoch nicht scharf voneinander getrennt, schon gar nicht werden sie von Droysen etwa gegeneinander ,ausgespielt'; vielmehr ,verfließen' sie ineinander und konstituieren so die merkwürdig schillernde Einheit dieses Wortes. Wenn das Wort von Droysen gebraucht wird, wird es aber häufig, jedoch nicht immer, so gebraucht, daß jeweils eine der drei Bedeutungen die vorherrschende ist. Um den Verstehensbegriff bei Droysen möglichst genau in den Griff zu bekommen, werden seine drei Bedeutungen im folgenden voneinander isoliert dargestellt.
1. Verstehen als Intuition Es ist in den bisherigen Ausführungen ausdrücklich bereits an zwei Stellen vom Droysenschen Verstehensbegriff die Rede gewesen, einmal bei Erörterung der "historischen Frage" (s. o. S. 37 f.) und zum anderen bei Erörterung der Operationen der Interpretation (s. o. S. 76 f.). Demnach ist Verstehen der intuitive "Akt des Verständnisses" (Vorl. 26), in dem eine neue "Auffassung" (Kunst u. Meth. 420), eine neue historiographische Hypothese geboren wird. Die bilderreichen Worte, in denen Droysen diesen Prozeß und das weitere Schicksal der Hypothese beschreibt, sind zitiert worden (s.o. S. 38). Und es ist darüber hinaus auf den stellenweise synonymen Gebrauch von "Interpretation" und "Verständnis" bzw. "Verstehen" bei Droysen hingewiesen worden (s. o. S. 77). Beide Male, also im Falle der "historischen Frage" und im Falle der Operation der Interpretation, handelt es sich um das gleiche Phänomen, nämlich um das Stiften eines neuen "Zusammenhangs" (Vorl. 158) durch den Historiker, um den Prozeß der Entstehung neuer "Auffassungen" (Kunst u. Meth. 420), neuer Interpretationen, neuer historiographischer Hypothesen. Dieser Prozeß ist psychologisch angemessen mit dem Begriff der Intuition, des Verstehens beschrieben. Auch Viktor Kraft (1965, 73) sieht in der "Herstellung eines einheitlichen Zusammenhanges aus den historischen Daten", d. i. der "sog. ,Synthese"', sieht (Seite 74-75) in der "Verknüpfung historischer Ein-
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Teil III. Der Zweite Fundamentalsatz
zeltatsachen zu zusammenhängenden Komplexen" einen Akt intuitiven Verständnisses. "Die Idee, die ein historisches Material einheitlich zusammenschließt, leuchtet intuitiv auf." (Kraft 1965, 75) Der Forschungsprozeß ist eine Folge solcher immer wieder neuen Intuitionen, Hypothesen und deren Prüfung und Korrektur am historischen Material. Die Frage der Entstehung der Hypothese in der Intuition ist aber grundsätzlich verschieden von der Frage der Geltung der Hypothese. Das eine ist ein psychologisches, das andere ein logisch-methodologisches Problem. Die Frage der Geltung der Hypothese ist nur entscheidbar durch die Prüfung der Hypothese. Die Hypothese kann keine Geltung beanspruchen, indem sie sich auf ihre Entstehung in der Intuition beruft. Auch wenn die Entstehung der Hypothese in der Intuition durch ein Evidenzerlebnis begleitet war, wenn sie also subjektiv als gewiß erscheint, ist damit hinsichtlich der Frage ihrer tatsächlichen Geltung noch nichts entschieden. Grundsätzlich kann sie wahr oder falsch sein, sie muß sich erst noch in der Prüfung "bewähren" (Vor!. 33). Das, was subjektiv als wahr erscheint, kann faktisch falsch sein. "Daß unter entsprechenden Bedingungen, bei genügender Vorbereitung und bei hinreichender Begabung, sich ein abschließender Einfall einstellt, beschreibt nur den psychologischen Vorgang einer ,Synthese'. Ob dieser Einfall aber eine Erkenntnis bringt oder haltlos ist, das bleibt damit noch vollständig offen." (Kraft 1965, 75-76) Dies muß sich vielmehr erst in der Prüfung des "Einfalls" (Viktor Kraft), des neuen "Gedankens" (Droysen, Vor!. 33) erweisen. (Art und Umfang der Geltung historiographischer Aussagen ergeben sich aus der Relation, in der die Aussagen zu den historischen Materialien stehen.)
2. Verstehen als Ausdrucksverstehen Die zweite Variante, die aus dem Droysenschen Verstehensbegriff herausgelöst werden soll, bezieht sich (ähnlich wie die besprochene erste Variante) auf ein auch aus dem Alltag bekanntes Phänomen. Ich meine das ,Ausdrucks'-phänomen, also jene Erscheinungen menschlichen Verhaltens, die wir als ,Ausdruck' seelischer Vorgänge oder Zustände wie wir dann sagen - verstehen. Ausdruck und Ausdrucksverstehen133 sind zweierlei. Ausdruck ist das dem Beobachter wahrnehmbare Verhalten (diese Handbewegung, die183
,Ausdrucksverstehen' ist in der Psychologie ein terminus technicus.
B. 2. Verstehen als Ausdrucksverstehen
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ser Ton der Stimme, dieser geschriebene Brief); Ausdruck sind alle solchen Phänomene menschlichen Verhaltens, in denen uns Seelisches erkennbar ist. Und Ausdrucksverstehen ist derjenige geistige Prozeß, in dem wir in dem Ausdruck Seelisches erkennen, in dem wir einen Ausdruck als Ausdruck eines Innern verstehen. Beides Phänomene, wie sie jeder kennt. Verstehen als solches Ausdrucksverstehen ist die zweite, im folgenden nun zu besprechende Variante im Droysenschen Verstehensbegriff. " ... verstehen, d. h. [etwas] als Ausdruck dessen zu erfassen, was sich darin hat äußern wollen." (Vorl. 153, vgl. auch Vorl. 22.)1 34 Innerhalb der Psychologie ist die "Ausdruckspsychologie" (Kirchhoff 1965) ein eigenes Forschungsgebiet. Die Geschichte des Ausdrucksbegriffs reicht von der pseudoaristotelischen Physiognomik bis zu den zeitgenössischen Ausdruckstheoretikern des 19. und 20. Jahrhunderts; es gibt eine Anzahl verschiedener Ausdruckstheorien und Theorien des Ausdrucksverstehens. Es liegt eine Fülle von Untersuchungen vor, die zum Teil sehr spezialisiert sind, es gibt Lehrmeinungen, die kontrovers sind. In der vorliegenden Arbeit, die Droysens "Wissenschaftslehre der Geschichte" gewidmet ist, kann auf die genannte psychologische Literatur nicht eingegangen werden; es kann nicht die Aufgabe dieser Arbeit sein, dieses durch die "Historik" zwar aufgeworfene Problem einer Theorie des Ausdrucksverstehens einer sachlichen Lösung näherzubringen oder auch nur mit dieser Absicht zu diskutieren. Vielmehr können nur die einschlägigen Droysenschen Auffassungen skizziert, dargestellt werden; anschließend können die - so festgestellten - Auffassungen daraufhin untersucht werden, ob - und inwiefern - sie Relevanz für eine historiographische Methodologie besitzen oder nicht besitzen. Droysens Äußerungen über Ausdruck und Ausdrucksverstehen sind relativ knapp gehalten, in dem Sinne, daß er es vermeidet, diese Phänomene systematisch zu untersuchen, so daß man sachlich nicht sehr viel über diese interessanten Erscheinungen erfährt. Eine ähnliche Fest134 In der Literatur sind es unter anderem Joachim Wach, Hans-Georg Gadamer, Bernd Ottnad, Max Müller und auch Ernst Meister gewesen, die diesen Charakter des Droysenschen Verstehens (nämlich als Ausdrucksverstehen) festgestellt haben. Ottnad (1952, 54) begnügt sich mit der bloßen Konstatierung und verzichtet auf eine ausführlichere Behandlung. ("Es würde den Rahmen der Untersuchung sprengen, Droysens Verstehensbegriff zu entwickeln." Ottnad 1952, 125, Anm. 33) Von den genannten Autoren am genauesten ist Joachim Wach in seiner umfassenden Geschichte der Hermeneutik, in der er unter anderen Verstehenstheoretikern auch Droysen behandelt. (Wach 1933, 134 ff.) Gadamer (1965), Ernst Meister (1926) und Max Müller (1965) geben Ansätze zu einer Interpretation des Droysenschen Ausdrucksverstehens.
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stellung hat Joachim Wach getroffen135• Andererseits sind jedoch Droysens Bemerkungen über Ausdruck und Ausdrucksverstehen keineswegs knapp gehalten, in dem Sinne nämlich, daß er- sich wiederholend an zahlreichen Stellen der "Historik" sich immer wieder auf Ausdruck und Ausdrucksverstehen beruft. Friedrich Meinecke hat solche Betonung und Akzentuierung von Ausdruck und Ausdrucksverstehen durch Droysen - in der Erinnerung insbesondere an die von ihm, Meinecke, gehörte letzte Droysensche Vorlesung über "Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte" - bezeugt. "Wie der individuelle Wille des Menschen alles, was er in der Natur berühre, ,ätze' 136 und zu einem geformten Ausdruck seines Innersten, von der Prähistorie an bis heute, mache, das war ein Phänomen, dessen tiefe Bedeutung er [d. i. Droysen] uns unvergeßlich einprägte." (Friedrich Meinecke 1951, 43) Droysens Bemerkungen zum Ausdrucksverstehen lassen sich zweckmäßig zweiteilig gliedern. Erstens. Alle "inneren Vorgänge" (Grundr. 328) äußern sich - so Droysen - in einem dem Beobachter wahrnehmbaren "Ausdruck" (Vorl. 22), und jeder "Ausdruck" hat sein Korrelat in "inneren Vorgängen". Dies geht über eine bloße Konstatierung des Ausdrucksphänomens nur insofern hinaus, als es die (kritische) Behauptung enthält, daß das Gesagte für alle "inneren Vorgänge" gilt. " ... daß die sinnlich geistige Natur des Menschen jeden inneren Vorgang zu sinnlicher Wahrnehmbarkeit äußert, in jeder Äußerung innere Vorgänge spiegelt." (Grundr. 328, hervorgehoben von mir.) Erstaunlich ist die Vielfalt der Bezeichnungen, mit denen Droysen die beiden Relate der Ausdrucksbeziehung belegt. Statt von "inneren Vorgängen" redet Droysen z. B. auch von dem "innerlichen Wesen" (Vorl. 22), das sich ausdrückt, dem "innersten Wesen" (Vorl. 22, Vorl. 152), dem "Innern" (Vorl. 25, Grundr. 329); der "Kraft" (Vorl. 22), die im "Ausdruck" erkennbar ist, der "formenden Kraft" (Vorl. 22), der "zentralen Kraft" (Vorl. 25), dem "Zentrum" (Vorl. 22); den "Willensakten" (Vorl. 153), die sich ausdrücken, den "individuellen Willensakten" (Vorl. 22), dem "Ich" (Vorl. 26), dem "Persönlichen", "Individuellen" (Vorl. 22), dem "Mittelpunkt" (Vorl. 22). Statt von "Ausdrücken", in denen sich das "innerste Wesen" (Vorl. 22) zu erkennen gibt, spricht er auch von "Äußerungen" (Vorl. 22, Vorl. 152, Grundr. 328-29) und "Abdrücken" (Vorl. 22, Vorl. 26)1 37 • 135 "Droysen hat sich nicht in eine genauere Analyse des psychologischen und erkenntnistheoretischen Problems, das hier liegt [d. i. im Ausdrucksverstehen], eingelassen." (Wach 1933, 166) Ähnliche Kritik äußert Wach auch schon eine Seite davor. (Wach 1933, 165) 138 Vgl. dazu Vorl. 22, wo Droysen in dem gleichen Zusammenhang das Wort ,ätzen' verwendet. 13 7 Auch noch in anderen Zusammenhängen als den besprochenen (Aus-
B. 2. Verstehen als Ausdrucksverstehen
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Zweitens. Droysens Theorie des Ausdrucksverstehens. Wenn eine durch einen "inneren Vorgang" hervorgerufene "Äußerung" eines Menschen A von einem anderen Menschen B wahrgenommen wird, dann erregt diese Wahrnehmung in dem wahrnehmenden Menschen B den gleichen "inneren Vorgang", der in dem Menschen A die "Äußerung" bewirkte, das aber heißt, zwischen beiden-wie Droysen sagt- "kongenialen" (Vorl. 23) Menschen hat sich Verstehen konstituiert. Es ist Droysens Auffassung, daß im Ausdrucksverstehen "die Wahrnehmung einer Äußerung ... zur inneren Reproduktion des Vorgangs, der dieser [also der Äußerung] zugrunde liegt", führt. (Wach 1933, 166) "Wahrgenommen erregt die Äußerung, sich in das Innere des Wahrnehmenden projizierend, den gleichen inneren Vorgang. Den Schrei der Angst vernehmend, empfinden wir die Angst des Schreienden ... " (Grundr. 328)188 Ausdrucksverstehen ist gewissermaßen eine Beziehung, die sich zwischen Menschen herstellt, wobei die Menschen solche sind, deren "innere Vorgänge" sich in "Ausdrücken" äußern und deren "Äußerungen" die zu diesen gehörenden "inneren Vorgänge" erkennen lassen, dergestalt, daß, wenn eine "Äußerung" wahrgenommen wird, der Wahrnehmende denjenigen "inneren Vorgang" empfindet, der die wahrgenommene "Äußerung" hervorrief. (Es ist, wie bereits Wach - 1933, 166 - festgestellt hat, an einer solchen Theorie des Ausdrucksverstehens Kritik möglich. Wie oben aber bemerkt, wird in der vorliegenden Arbeit darauf verzichtet, Droysens Auffassungen zum Ausdrucksphänomen einer Kritik der Sache nach zu unterwerfen, weil dies in das Gebiet der Psychologie fortführen würde.) Wenn man Verstehen als Ausdrucksverstehen faßt und eine solche Theorie des Ausdrucksverstehens vertritt, wie Droysen es tut, dann ist druck als menschliches Verhalten, insofern darin ein "Inneres", Seelisches erkennbar ist) spricht Droysen von Ausdruck. So bezeichnet er das einzelne Individuum als Ausdruck der "sittlichen Gemeinsamkeiten" (Grundr. 329), deren Glied es ist. Der einzelne ist "nur wie ein Beispiel und Ausdruck", "nur wie ein Ausdruck [des] Wesens und Werdens" der "sittlichen Gemeinsamkeiten". (Grundr. 329) Und weiter: "Die Gesamtheit der Zeiten, Völker, Staaten, Religionen usw. ist nur wie Ein Ausdruck der absoluten Totalität, die wir ahnen und glauben ..." (Grundr. 330) Ähnlich auch in Vorl.-Nachschr. 77. Eine weitere Variante des Ausdrucksbegriffs findet sich in Vorl. 180: "Es ~ibt kein Verhältnis menschlichen Seins und Tuns, das nicht Ausdruck und Erscheinungsform eines Gedachten, ihm Zugrundeliegenden wäre, in dem die Wahrheit und das Wesen eben dieser einzelnen Gestaltung ist. Jede Ehe ist die mehr oder minder glückliche Verwirklichung der Idee der Ehe . . ." 138 "Und wenn es [d. i. das einzelne Ich] mit diesen seinen Äußerungen durch Mienen, Worte, Willensakte auf Gebilde trifft, die ihm gleichgeartet und von gleicher sinnlich-geistiger Komplexion sind, so empfangen diese durch seine Äußerungen ihrerseits Sinneseindrücke, die in analoger Weise sie anregen und erregen, da sie sich kongenial zu ihnen verhalten." (Vorl. 22-23)
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Teil III. Der Zweite Fundamentalsatz
,vollkommenes' Verstehen in der Tat nur da möglich, wo es sich um Ausdrucksphänomene zwischen einander "kongenialen" Menschen handelt. " ... nichts, was den menschlichen Geist bewegt und sinnlichen Ausdruck gefunden hat, das nicht verstanden werden könnte, nichts verstehbar, das nicht in dem Bereich unserer Kongenialität liegt ... " (Vorl. 24)1 39 In dem Maße, in dem im Tierreich der Abstand vom Menschen größer wird, verringert sich dort die Möglichkeit des (Ausdrucks-) Verstehens. Bei den "höher gearteten Tieren" (Vorl. 23) ist sie noch gegeben, wenn auch bereits in erheblich reduziertem Maße. Andere Tiere, Pflanzen und "die Dinge der unorganischen Welt" (Grundr. 328) verstehen wir nach Droysen nur noch "zum Teil, ... in gewisser Weise, nach gewissen Beziehungen, solchen, in denen sie uns Kategorien unseres Denkens zu entsprechen scheinen" (Grundr. 328). Die Konsequenz eines solchen Verstehensbegriffs ist somit der Satz: "Ganz versteht nur der Mensch den Menschen." (Vorl. 23) Jedoch dieser Satz erfährt bei Droysen an anderer Stelle eine erhebliche Einschränkung. (Siehe dazu Kapitel III C. 2.)
3. Verstehen als "Grundelement der menschlichen Existenz" (Theodor Schieder) Mit den beiden bisher festgestellten Bedeutungen des Wortes ,Verstehen' (Verstehen als Intuition und als Ausdrucksverstehen) ist das Bedeutungsfeld dieses Wortes noch nicht abgeschritten. Eine dritte Bedeutung, eine dritte Variante kommt hinzu. Es gibt eine Reihe von Belegen, die es nahelegen, von einer Erweiterung, Ausdehnung oder - um ein von Droysen bevorzugtes Wort 13 9 Vgl. auch Vorl.-Nachschr. 76: "Nichts, das menschlichen Ausdruck gefunden hat, ist unverständlich, nichts verständlich, das nicht Ausdruck des menschlichen Geistes ist." Vgl. ferner: "Den Menschen, menschlichen Äußerungen und Gestaltungen gegenüber sind wir und fühlen wir uns in wesentlicher Gleichartigkeit und Gegenseitigkeit, jedes Ich geschlossen in sich, jedes jedem anderen in seinen Äußerungen sich erschließend." (Grundr. 329) Dieser Satz aus der 3. Auflage des "Grundrisses" (von 1882) hieß im Manuskriptdruck des Jahres 1858: "Nur den Menschen und menschlichen Äußerungen gegenüber sind wir unmittelbar Gleiche und Wissende." (Grundr. 329, Anm. 1) In der 1. und 2. Auflage (1868 und 1875) wandelte Droysen den Satz folgendermaßen ab: "Nur den Menschen, menschlichen Äußerungen gegenüber sind wir und fühlen wir uns als unmittelbar gleich; sie sind uns verständlich." (Grundr. 329, Anm. 1)
B. 3. Verstehen als "Grundelement der menschlichen Existenz" (Schieder)
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aufzunehmen - von einer ,Steigerung' des Verstehensbegriffs bei Droysen zu reden. Verstehen hat in Droysens Anthropologie, seiner Theorie des Menschen, einen bedeutsamen Platz. "Das Verstehen ist der menschlichste Akt des menschlichen Wesens, und alles wahrhaft menschliche Tun ruht im Verständnis, sucht Verständnis, findet Verständnis. Das Verstehen ist das innigste Band zwischen den Menschen und die Basis alles sittlichen Seins." (Vorl. 26) Theodor Schieder (1965, 37) spricht deshalb von einer "Steigerung des Grundaktes historischen Denkens [d. i. des Verstehens] zu einem Grundelement der menschlichen Existenz". Im Droysenschen Verstehensbegriff ist "also weit mehr als ein Erkennen bezeichnet; es wird eher eine Grundformel des sittlichen Menschseins gefunden." (Schieder 1965, 37) Diese Interpretation Schieders bestätigt sich auch in dem folgenden Satz aus Vorl.-Nachschr. 77: "Der Mensch wird erst durch Verstehen und Verstandenwerden eine Persönlichkeit, eine Totalität, aber eine unablässig werdende innerhalb und durch die [sittlichen] Gemeinsamkeiten140." Die festgestellten drei Varianten im Droysenschen Verstehensbegriff akzentuieren - darauf sei nochmals hingewiesen - Bedeutungen, die der Begriff als Ganzes in sich umfaßt und die in den jeweiligen Zusammenhängen als mehr oder weniger vorherrschende erscheinen. Grundsätzlich ist aber immer eine Einheit vorhanden. Gleichwohl lassen sie sich deutlich voneinander unterscheiden. (Intuition und Ausdrucksverstehen sind miteinander eng verbunden, schon deswegen, weil Ausdrucksverstehen wesentlich intuitiv ist. Die gleichsam anthropologisch-existentialistis che Steigerung, die der Verstehensbegriff bei Droysen stellenweise erfährt, ist mit dem Ausdrucksverstehen verbunden, weil Droysen das Individuum als Ausdruck der "sittlichen Gemeinsamkeiten" - Grundr. 329 - auffaßt und die "sittlichen Gemeinsamkeiten" als Ausdruck einer absoluten Totalität. Siehe Anmerkung Nr. 137.) Wenn sich der Droysensche Verstehensbegriff in den genannten drei Bedeutungen im wesentlichen erschöpft, dann ist eine andere mögliche Bedeutung von Verstehen, die in anderen (nicht-droysenschen) Hermeneutiken relativ häufig zu finden ist, bei Droysen vernachlässigt. Gemeint ist Verstehen als Verstehen von Sinn und Bedeutung (von Wörtern, Sätzen, seien diese gesprochen oder geschrieben) 141. Vgl. auch: "Der Mensch wird, was er seiner Anlage nach ist, Totalität in sich, erst in dem Verstehen anderer, in dem Verstandenwerden von anderen, in den sittlichen Gemeinsamkeiten (Familie, Volk, Staat, Religion usw.)." (Grundr. 329) 141 Zu diesem Problem des Verstehens von Sinn und Bedeutung vgl. unter anderem zum Beispiel die unter dem Einfluß Edmund Husserls und der 140
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Teil III. Der Zweite Fundamentalsatz
Es hätte für Droysen nahegelegen, im Zusammenhang seiner Ausführungen über die Sprache (Vorl. 23 f., Vorl. 221 ff., Vorl.-Nachschr. 75 f., Grundr. 350) auf das Verstehen von Sinn und Bedeutung einzugehen. Jedoch Droysen interpretiert auch das Verstehen, das im Falle des Verstehens von Sprache vorliegt, primär als Ausdrucksverstehen, nicht als Sinn- und Bedeutungsverstehen. Die Sprache ist für ihn (vgl. Vorl. 23) ein Ausdruck, eine Äußerung des Inneren, in der Sprache bricht das innerste Wesen des Ichs hervor. "Das Sprechen . . . ist nichts anderes als ein Äußerlichmachen des Inneren." (Vorl.-Nachschr. 75) Insofern also Droysen die Sprache als Ausdruck eines Inneren auffaßt, ist das im Falle der Sprache zur Anwendung kommende Verstehen Ausdrucksverstehen. (Vgl. auch Vorl. 25.) C. Bemerkungen zum Ausdrucksverstehen
1. Ausdrucksverstehen in der historiographischen Erkenntnis In den bisherigen Erläuterungen zum Ausdrucksverstehen ist nicht gezeigt worden (es ergibt sich daraus nur mittelbar), inwiefern das Ausdrucksverstehen Relevanz für die historiographische Erkenntnis besitzt, in welcher Weise es in dieser Erkenntnis zur Anwendung kommt. Um dies zu zeigen, empfiehlt es sich - was Droysen nicht ausdrücklich tut-, zweierlei Ausdrucksphänomene zu unterscheiden: a) unmittelbaren Ausdruck (dieses Mienenspiel, diese Gebärde); b) objektivierten Ausdruck (Briefe, Urkunden, Gesetze usw.). Da Droysen Kulturerscheinungen aller Art, die gesamte Welt des "objektiven Geistes" (Hegel) als Ausdrucksphänomen deutet, ist im Begriff des objektivierten Ausdrucks eine außerordentlich große Zahl von Phänomenen beschrieben142• Unmittelbarer Ausdruck wird dem Historiker (als dem Interpreten der historischen Materialien, dem ,Rekonstrukteur' vergangenen Geschehens) kaum vorliegen, es sei denn, solcher Ausdruck ist in der Vermittlung von Bildern und Photographien z. B. erhalten. In der Regel Phänomenologie geschriebene Arbeit von Alfred Heuß (1934). Der nur auf dem Wege des Verstehens zugängliche Sinn (oder auch die Bedeutung) erscheint Heuß als wesentliches Merkmal der "Tradition"; er stellt ein Kriterium der Unterscheidung von "Überrest" und "Tradition" dar. tu "Es ist nur eine Weiterführung des Gesagten, daß auch die Werke der Industrie, die Gründungen von Städten und Befestigungen, der Bau von Häfen, Wegen, daß auch Recht, Gesetz, Staat, Kirche, kurz alle menschlichen Formgebungen, auch wenn das gemeinsame Wollen vieler sie schuf oder umformte, derselben Art sind, Ausdruck des menschlichen Geistes und dem menschlichen Geist verständlich, so wie sie ihm empirisch wahrnehmbar werden." (Vorl. 24)
C. Bemerkungen zum Ausdrucksverstehen
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wird unmittelbarer Ausdruck mit dem Geschehen, dem er angehörte, vergangen, also auch für den Historiker nicht mehr zugänglich sein. Objektivierter Ausdruck143 dagegen ist geradezu das Arbeitsfeld des Historikers. Droysens Klassifikation der historischen Materialien ist eine Klassifikation von Ausdrucksphänomenen, und zwar von objektiviertem Ausdruck. Es ist darin kein Platz für solche Materialien, die nicht als Ausdruck verstanden werden können (Überreste des menschlichen Körpers wie Knochen oder Haare). Diejenige Droysensche Gruppe der historischen Materialien, die geeignet wäre, Materialien wie die genannten (erhaltene menschliche Knochen oder Haare) aufzunehmen, die Gruppe der Überreste nämlich, ist so untergliedert, daß nur Materialien, die als Ausdruck aufgefaßt werden können, darin ihren Platz finden 144•
Der Ausdruckscharakter der historischen Materialien verbürgt - so Droysen - die Möglichkeit ihres Verständnisses. Indem der Mensch sich seine Kultur schafft, schafft er - dem (Ausdrucks-)Verstehen zugängliche - Ausdrücke, Abdrücke, Äußerungen. Es ist die Tätigkeit des Historikers, die ihm jeweils vorliegenden historischen Materialien, das aber heißt die aus der Vergangenheit jeweils noch erhaltenen Ausdrücke, Abdrücke und Äußerungen, die ihm noch vorliegenden Reste objektivierten Ausdrucks, zu verstehen, als Ausdruck dessen zu verstehen, was sich darin hat äußern wollen. "Prägend, formend, ordnend, in jeder Äußerung gibt der Mensch einen Ausdruck seines individuellen Wesens, seines Ich. Was von solchen Ausdrücken und Abdrücken uns noch irgendwie, irgendwo vorhanden ist, spricht zu uns, ist uns verständlich." (Grundr. 328)145 143 Wenn Droysen von dem ,.morphologischen Charakter" (Grundr. 328) der historischen Materialien spricht, ist sehr wahrscheinlich ihr Ausdruckscharakter gemeint. Vgl. auch Vorl.-Nachschr. 71 und Vorl.-Nachschr. 73. 144 Siehe Anm. 66, wo Droysens Einteilung der Überreste nach dem Text aus dem "Grundriß" zitiert ist. Aus dem beschriebenen Sachverhalt könnte die These abgeleitet werden, daß dem Verstehen als Ausdrucksverstehen gegenüber dem Verstehen als Intuition in der Droysenschen ,.Historik" der Vorrang zukommt. 145 Es ist also unter anderem in Droysens Verstehenslehre, insofern sie Lehre vom Ausdrucksverstehen ist, begründet, daß Droysen die bei den Erörterungen zum Ersten Fundamentalsatz bereits festgestellte (s. o. S. 61 f. und S. 107 f.) Einschränkung der Historiographie auf die Welt des Menschen vornimmt. Droysen schreibt: "Nur was Menschengeist und Menschenhand gestaltet, geprägt, berührt hat, nur die Menschenspur leuchtet uns wieder auf." (Grundr. 328) Es leuchtet uns nur die Menschenspur wieder auf, weil nur hier, wo es sich um Formungen, Ausdrücke des menschlichen Geistes handelt, (Ausdrucks-)Verstehen möglich ist. Aus dem Ausdruckscharakter der historischen Materialien ergibt sich für Droysen die Möglichkeit ihres Verständnisses.
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Teillll. Der Zweite Fundamentalsatz
Am Beispiel des Verstehens von unmittelbarem Ausdruck erläutert Droysen das (historiographische) Verstehen von noch erhaltenem (in der Regel) objektivierten Ausdruck. "Unsere Aufgabe kann nur darin bestehen, daß wir die Erinnerungen und Überlieferungen, die Überreste und Monumente einer Vergangenheit so verstehen, wie der Hörende den Sprechenden versteht, daß wir aus jenen uns noch vorliegenden Materialien forschend zu erkennen suchen, was die so Formenden, Handelnden, Arbeitenden wollten, was ihr Ich bewegte, das sie in solchen Ausdrücken und Abdrücken ihres Seins aussprechen wollten." (Vorl. 26) (Das Beispiel des Hörenden und Sprechenden und des sich dabei ereignenden Verstehens ist ein von Droysen bevorzugtes Beispiel. Siehe Vorl. 25, Vorl. 152, Vorl.-Nachschr. 95.) An dieser Stelle ist hinzuweisen auf einen besonderen Sprachgebrauch Droysens. Neben dem Begriff der Rekonstruktion, wie er sich aus dem Ersten Fundamentalsatz ergibt (Rekonstruktion vergangenen Geschehens, der sogenannten historischen Tatsachen, auf der Grundlage vorliegender historischer Materialien und unter Zuhilfenahme sonstigen Wissens Vorl. 149, Vorl. 166, Vorl. 168, Grundr. 340), hat Droysen noch einen anderen, zweiten Begriff der Rekonstruktion, der sich aus dem Zweiten Fundamentalsatz ergibt. "Diese formende Kraft [das sind die "inneren Vorgänge", die "individuellen Willensakte"] gilt es in ihren Äußerungen zu erkennen und zu erfassen, sie aus diesen, wie viele oder wenige uns denn vorliegen, zu rekonstruieren. Diese Ausdrücke gilt es auf das zurückzuführen, was sich in ihnen hat ausdrücken wollen. Es gilt, sie zu verstehen." (Vorl. 22, hervorgehoben von mir.) Rekonstruktion heißt hier: auf der Grundlage (objektivierten) Ausdrucks Rekonstruktion der "inneren Vorgänge" (Grundr. 328), die sich in dem vorliegenden Ausdruck äußerten; Rekonstruktion der "individuellen Willensakte" (Vorl. 22), die den vorliegenden Ausdruck bewirkten. Rekonstruktion im Sinne des Zweiten Fundamentalsatzes ist das Bemühen, das Innere, das sich in dem Ausdruck, der in den historischen Materialien vorliegt, hat ausdrücken wollen, aus diesem Ausdruck zu rekonstruieren. In diesem zweiten Droysenschen Rekonstruktionsbegriff ist die Operation des Verstehens der historischen Materialien (als Verstehen von Resten objektivierten Ausdrucks) - im Gegensatz zum Verstehen unmittelbaren Ausdrucks ("Den Schrei der Angst vernehmend, empfinden wir die Angst des Schreienden ... " Grundr. 328) - beschrieben, sie ist
C. Bemerkungen zum Ausdrucksverstehen
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beschrieben als die im Verstehen ermöglichte, aber - im Unterschied zum Verstehen unmittelbaren Ausdrucks- gleichsam nicht ohne (spürbaren) Arbeitsaufwand und zugleich nur bei erhöhtem Irrtumsrisiko mögliche (vgl. Vorl. 153) Rekonstruktion der "inneren Vorgänge" aus den vorliegenden Resten objektivierten Ausdrucks. In Hinblick auf die Bedeutung des Ausdrucksverstehens in der historiographischen Erkenntnis macht Droysen nun die folgende interessante Bemerkung. Die Prozeduren der historiographischen Erkenntnis sind nicht nur komplizierter als die beim Verstehen von unmittelbarem Ausdruck ("Ganz so einfach ... wie bei dem Verstehen eines zu uns Sprechenden ist die Aufgabe der historischen Interpretation nicht." Vorl. 154), sondern sie gehen auch über das Verstehen von Resten objektivierten Ausdrucks hinaus. Im Zusammenhang seiner Bemerkungen zur Interpretation schreibt Droysen: "Was nun weiter zu tun ist [d. i. nachdem die Kritik das Ihrige geleistet hat], liegt auf der Hand. Es handelt sich ja nun darum, diese vorliegenden Dinge zu verstehen, d. h. als Ausdruck dessen zu erfassen, was sich darin hat äußern wollen. Wollten wir schematisch verfahren, so würden wir auf das früher Gesagte zurückgehen müssen und sagen: was uns vorliegt als geschichtliches Material, ist der Ausdruck und Abdruck von Willensakten, und diese müssen wir in diesen Äußerungen zu verstehen suchen. Aber so einfach ist die Sache nicht. Es handelt sich uns nicht um die einzelnen Willensakte derer, die da handelten, sondern wir wollen eine Vorstellung und ein Verständnis der durch die Willensakte zustande gekommenen Ereignisse und Zustände, also der sog. Tatsachen, gewinnen, und jede solche Tatsache ist in der Regel aus dem Zusammenwirken mehrerer und vieler entstanden, zum Teil so entstanden, daß sie sich feindlich gegenüberstanden und gegeneinander agierten." (Vorl. 153-54) Selbst wenn also mit Hilfe des Ausdrucksversteheng auf der Grundlage des in den historischen Materialien vorliegenden Ausdrucks eine Rekonstruktion der zu dem vorliegenden Ausdruck gehörenden "inneren Vorgänge" oder Willensakte - immer, ohne Schwierigkeit und in bE'friedigender Weise- möglich wäre (was, wie Droysen- Vorl. 154an Beispielen zeigt, nicht der Fall ist), wäre ein solches Vorgehen für die historiographische Erkenntnis gleichsam nur förderlich, nicht aber ausreichend. Der Historiker will mehr, als die einzelnen vorliegenden Materialien als Ausdruck von Willensakten, von "inneren Vorgängen" zu verstehen, er will mehr als die Rekonstruktion einzelner Willensakte; der Historiker will hierüber hinaus "eine Vorstellung und ein Verständnis der durch die Willensakte zustande gekommenen Ereignisse und Zustände, also der sog. Tatsachen, gewinnnen" (Vorl. 154).
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Teil III. Der Zweite Fundamentalsatz
2. Die Frage der GeLtung des durch Ausdrucksverstehen bereitgestellten Wissens Abschließend seien Droysens Auffassungen über das unter methodologischem Gesichtspunkt wichtige Problem, in welchem Sinne dem durch Ausdrucksverstehen erworbenen Wissen Geltung zugesprochen werden kann, festgestellt. Das - nicht durch Ausdrucksverstehen - sondern durch Intuition gewonnene Wissen ist - so Droysen (Vorl. 33) - mit dem Risiko des Irrtums belastet. Intuitionen können wahr, können falsch sein. (Es ist beschrieben worden, wie im Erkenntnisprozeß immer wieder neue Intuitionen einander ablösen, in welcher Weise sich so die "historische Frage" ,entwickelt' und sich selbst dabei verändert.) Und auch für das Ausdrucksverstehen behauptet Droysen keineswegs, daß hier Irrtum ausgeschlossen ist, im Gegenteil. Dies hat in der Literatur nicht immer die gebührende Beachtung ·gefunden. Es gibt zwar einige Äußerungen Droysens, die die Vermutung nahelegen mögen, Droysen behaupte nicht nur Unmittelbarkeit und subjektive Gewißheit für das Ausdrucksverstehen, sondern auch ,objektive' Geltung und Irrtumsfreiheit1 40 • Es sind dies aber alles Äußerungen in Zusammenhängen, in denen ausdrücklich die Frage der Geltung und Irrtumsmöglichkeit nicht gestellt ist. Wo dies jedoch der Fall ist, räumt Droysen zweifelsfrei ein, stellt er ausdrücklich fest, daß auch im Ausdrucksverstehen, wie unmittelbar gewiß das darin Verstandene auch erscheinen mag, Irrtum nicht ausgeschlossen ist. "Wohl versteht der Mensch den Menschen, aber nur peripherisch; er nimmt seine Tat, seine Rede, seine Miene wahr, aber immer nur diese eine, diesen Moment; beweisen, daß er ihn richtig, daß er ihn ganz verstanden, kann er nicht." (Grundr. 342) 140 So zum Beispiel in Vorl. 152: "Ich verstehe das Sprechen eines anderen, wenn ich ihm gegenüberstehend seine Worte vernehme, den Ton und Akzent seiner Stimme, den Ausdruck seiner Augen, seines ganzen Gesichtes, seiner Handbewegung auffasse. Denn ein voller Ausdruck seines innersten Wesens, wie es gerade erregt oder gestimmt ist, bricht da hervor, und sein innerstes Wesen fasse ich in dieser seiner Äußerung auf, erkenne ich, wie er so oder so erregt ist, und seine Erregtheit läßt mich mitempfinden, was in ihm vorgeht. Er ist mir so völlig verständlich geworden." (Hervorgehoben von mir.) Daß Droysen hier eine so entschiedene Formulierung ("völlig verständlich") wählt, ist aus dem Gesamtzusammenhang (Vorl. 152-53) heraus verständlich, dem der zitierte Satz entstammt: in der Abfolge verschiedener Grade bestimmt die Formulierung "völlig verständlich" hier einen höchsten Grad. Siehe auch Vorl. 187, wo ebenfalls von "vollem Verständnis" die Rede ist. Vgl. ferner die bereits einmal zitierte Stelle aus Grundr. 328: "Wahrgenommen erregt die Äußerung, sich in das Innere des Wahrnehmenden projizierend, den gleichen inneren Vorgang. Den Schrei der Angst vernehmend, empfinden wir die Angst des Schreienden ..."
D. Ergebnis und Kritik
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Dieses Wort vom "nur peripherischen" Verständnis zwischen Mensch und Mensch korrigiert in entscheidender Weise den oben (S. 122) bereits erwähnten Droysenschen Satz: "Ganz versteht nur der Mensch den Menschen." (Vor!. 23) Droysen geht hierüber noch hinaus. Das in manchen Zusammenhängen von ihm so gefeierte Ausdrucksverstehen bezeichnet er an anderer Stelle als bloß "subjektive Gewißheit" (Kunst u. Meth. 422) ermöglichend, und er fordert Maßnahmen zur weitestgehenden Eliminierung des subjektiven Elementes. " . . . allerdings haben wir von menschlichen Dingen, von jedem Ausdruck undAbdruck menschlichen Dichtensund Trachtens, der uns wahrnehmbar wird, und soweit er wahrnehmbar ist, unmittelbar und in subjektiver Gewißheit ein Verständnis. Aber es gilt Methoden zu finden, um für dies unmittelbare und subjektive Auffassen - zumal da von Vergangenern uns nur noch Auffassungen anderer oder Fragmente dessen, was einst war, vorliegen - objektive Maße und Kontrollen zu gewinnen, es damit zu begründen, zu berichtigen, zu vertiefen. Denn nur das scheint der Sinn der vielgenannten historischen Objektivität sein zu können." (Kunst u. Meth. 422)147 Auch das im Ausdrucksverstehen gewonnene Wissen ist, im Hinblick auf die Frage der Geltung, nicht als durch sich selbst legitimiert zu betrachten, sondern es bedarf der Prüfung, des Nachweises seiner Geltung; diesem Wissen mag zwar Unmittelbarkeit und "subjektive Gewißheit" zugesprochen werden können; um als ein wissenschaftlich gesichertes Wissen bezeichnet werden zu können, bedarf es aber der Anwendung "objektiver Maße und Kontrollen" 14B, D. Ergebnis und Kritik
Mit den vorangegangenen Bemerkungen zum Ausdrucksverstehen ist der darstellende Teil der Interpretation des Droysenschen Versteheosbegriffs abgeschlossen; es sollten (in den Kapiteln 111 A. bis 111 C.) die wesentlichen Äußerungen Droysens über das Verstehen festgestellt werden. 147 Mit geringfügigen Modifizierungen findet sich dieser Satz auch in der Antrittsrede Droysens vor der Berliner Akademie der Wissenschaften (Akad.Rede 428). 148 Interessant ist auch, wie Droysen in diesem Zusammenhang (Akad.Rede 428, Kunst u. Meth. 422) dem vielzitierten Wort von der "historischen Objektivität" einen wissenschaftstheoretisch begründeten Sinn gibt. Als "objektiv" gültig werden nicht solche Aussagen der Historiographie bezeichnet, die bloß von "subjektiver Gewißheit" sind, sondern solche Aussagen, deren Geltung durch "objektive Maße und Kontrollen" nachgewiesen ist, Aussagen, die in einem intersubjektiv nachvollziehbaren Prozeß gewonnen werden.
9 Spieler
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Teil III. Der Zweite Fundamentalsatz
Von der so erarbeiteten Grundlage ausgehend, wird nunmehr abschließend die kritische Frage nach der Leistung des Droysenschen Verstehensbegriffs in der historiegraphischen Erkenntnis aufgeworfen. Diese Frage wird in der folgenden Weise präzisiert: Ist das Verstehen - so wie Droysen es beschreibt - geeignet, die Eigenständigkeit und Besonderheit des Verfahrens der Historiographie (oder der historischen Wissenschaften) zu begründen? Dieser Frage werden im folgenden die drei aufgewiesenen Varianten im Droysenschen Verstehensbegriff konfrontiert, wobei die umgekehrte Reihenfolge wie bei der Darstellung derselben eingehalten wird. Es ist leicht zu sehen, daß diejenigen Äußerungen Droysens über das Verstehen, die im Anschluß an die Interpretation Theodor Schieders in der dritten Varianten (Verstehen als "Grundelement der menschlichen Existenz") zusammengeiaßt sind, nicht .golche Feststellungen treffen, die unter dem Gesichtspunkt der gestellten Frage von Relevanz sind. Die Äußerungen Droysens, auf die in der dritten Varianten Bezug genommen wird, machen keine solchen Aussagen, durch die das historiographische Verfahren als ein wissenschaftliches Verfahren abgegrenzt werden könnte gegen andere wissenschaftliche Verfahren; sondern es sind darin Aussagen gemacht z. B. über die Bedeutung, die Verstehensprozesse für die Konstituierung der Persönlichkeit haben. (Schon einmal -Seite 123- zitiert: "Der Mensch wird erst durch Verstehen und Verstandenwerden eine Persönlichkeit, eine Totalität, aber eine unablässig werdende innerhalb und durch die [sittlichen] Gemeinsamkeiten." Vorl.Nachschr. 77) Dieser eher anthropologischen Fragestellung nach der Bedeutung, die die Akte des Verstehens für das verstehende Individuum besitzen, gebührt unser Interesse und unsere Aufmerksamkeit; nur ist damit nicht diejenige Problematik berührt, die durch die Frage nach der Eigenart und Besonderheit der historiographischen Methode als einer wissenschaftlichen Methode aufgeworfen ist. Stellt die zweite Variante im Droysenschen Verstehensbegriff, also das Ausdrucksverstehen, ein Verfahren dar, das für die Historiographie - und nur für sie - spezifisch, charakteristisch ist? Auch in diesem Fall bereitet die Antwort nur .geringe Schwierigkeiten, auch hier ist die Antwort negativ. Zweifellos spielen Ausdruck und Ausdrucksverstehen in der Historiographie eine Rolle, aber sie tun dies nicht in der Historiographie allein, sondern darüber hinaus auch noch in anderen Wissenschaften - z. B. in Psychologie und Soziologie, Medizin und Jurisprudenz, den verschiedenen Philologien usw. Ausdrucksverstehen ist keine spezifisch historiegraphische Operation.
D. Ergebnis und Kritik
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Allenfalls könnte durch Ausdrucksverstehen eine Klasse von Wissenschaften begründet werden; es wären darin aufzunehmen alle Wissenschaften, die - und insofern sie - Ausdruck zum Gegenstand haben. Innerhalb dieser Klasse würde sich die Frage, worin sich die Historiographie von den anderen Wissenschaften dieser Klasse unterscheidet, neu und erst recht stellen. Die Frage, ob es sinnvoll ist, eine solche Klasse von Wissenschaften zu begründen, von Wissenschaften also, deren gemeinsames Erkenntnisobjekt Ausdruck, deren gemeinsame Methode Ausdrucksverstehen ist, kann hier unentschieden bleiben, weil durch die Konstituierung einer solchen Klasse in keinem Fall etwas gewonnen wäre, das nur und ausschließlich für die Historiographie (oder die historischen Wissenschaften) gälte. Es bleibt schließlich die erste der drei Varianten im Droysenschen Verstehensbegriff, Verstehen als Intuition. Es ist nicht leicht möglich, die Bedeutung der Intuition für die historiographische Erkenntnis zu überschätzen. Die immer wieder neuen Hypothesen, die die Historiographie formuliert und durch die Neuerungen verschiedensten Umfangs im Wissen herbeigeführt werden, entstehen in der Intuition. Die Hypothesen, die sich im Prozeß der Prüfung, also der Konfrontierung mit den historischen Materialien, nicht bewähren, müssen durch neue Hypothesen, also neue Intuitionen, abgewandelt oder ersetzt werden, bis schließlich die erstrebte bestmögliche Korrespondenz zwischen historiographischer Aussage und historischem Material erreicht ist. Erkenntnisfortschritt ist untrennbar an die ,wissenschaftliche Phantasie', an Intuition gebunden. (Untersuchungen über das von vielen Autoren ins Spiel gebrachte Moment des ,Schöpferischen', auf dem wissenschaftliche, also auch historiographische Leistungen beruhen, hätten hier, an der schaffenden Phantasie des Wissenschaftlers, an dem Prozeß der Entstehung der Intuitionen, anzusetzen.) Droysen selbst hat aber, wie bemerkt (Anm. 40), im Zusammenhang seiner Erörterungen der Genese und Entwicklung der historiographischen Hypothese (d. i. der "historischen Frage") darauf aufmerksam gemacht, daß - was das Grundsätzliche dieser Prozesse angeht - kein Unterschied besteht zwischen der Historiographie und den anderen "Bereichen" des "höheren geistigen Lebens" (Vorl. 34). Das Grundsätzliche ist das zugrunde liegende allgemeine Schema der ,Versuch-Irrtum-Methode': a) Erstellung der Hypothese, b) Prüfung und Korrektur der Hypothese an Erfahrung und Logik. Nicht nur die Historiographie kennt das versuchsweise Aufrechterhalten von noch unbestätigten oder noch unzureichend bestätigten 9•
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Teil III. Der Zweite Fundamentalsatz
Auffassungen, das stete Prüfen, Korrigieren und Modifizieren, das Anpassen und Anmessen der Auffassungen (Intuitionen) an die Realität; "dem Denker, dem Dichter, jedem Forscher in den anderen wissenschaftlichen Gebieten geht es ähnlich" (Vor!. 34). Die Intuition hat die beschriebene grundlegende Bedeutung nicht nur in der historiographischen Erkenntnis; die in der Intuition geborene Hypothese ist das primum movens allen Erkenntnisfortschritts; auch die theoretischen Wissenschaften ,leben' von der Intuition. Die "vereinheitlichenden Ideen" der theoretischen Disziplinen (sei es in der Form von "Naturgesetzen" oder von "strukturellen Anordnungen") entstehen in der Intuition, "tauchen intuitiv auf". (Kraft 1965, 75) Zur Illustration dieser Behauptung bedient sich Viktor Kraft der "bekannten Entdeckungsanekdoten", "z. B. daß Newton durch den Fall eines Apfels auf die Idee der allgemeinen Gravitation gebracht worden sei oder wie Kekule auf den Benzolring gekommen ist" (Kraft 1965, 75). Aber wie die Intuitionen der Historiographie und der historischen Wissenschaften sind auch die Intuitionen der theoretischen Wissenschaften, was die Frage ihrer Geltung angeht, nicht durch sich selbst legitimiert, sondern bedürfen des Nachweises ihrer Geltung; die theoretischen Wissenschaften liefern diesen Nachweis im Experiment, wie die historischen Wissenschaften den Nachweis der Geltung ihrer (idiographischen) Aussagen liefern durch Konfrontierung der Aussagen mit den historischen Materialien (s.o. Kapitel I B.). Wird Verstehen als Intuition, als intuitives Erfassen, Begreifen und Konzipieren bestimmt, dann wird gesagt werden dürfen, daß Verstehen ein Element aller Erkenntnis ist, daß sich Verstehen bei aller Erkenntnis ereignet, in allen Fakultäten. Für eine solche Interpretation der Operation des Verstehens spricht auch das Bedeutungsfeld des Wortes ,Verstehen' in der Umgangssprache 140 • Verstehen als Intuition (die erste Variante im Droysenschen Verstehensbegriff) ist nicht nur in der Historiographie, sondern auch in den anderen Wissenschaften von außerordentlich großer Bedeutung. Die Besonderheit und Eigentümlichkeit des Verfahrens der Historiographie kann deshalb nicht durch Verstehen im Sinne von Intuition bestimmt werden. Bei Dornseiff (1959, 349) finden sich die folgenden Synonyma: "auffassen, bedappeln, begreifen, bekappen, durchblicken, durchschauen, einsehen, erfassen, fassen, fressen, kapieren, kleinkriegen, nachempfinden, nachfühlen, spitz kriegen, . . . sich zurechtfinden, daraus klug werden, sich einen Vers machen aus, klar sehen, ist sich klar über, dämmern, eingehen, der Groschen ist gefallen, es hat gefunkt, es geht ihm ein Licht, eine Stalllaterne, ein Seifensieder auf, hat es gefressen, ist im Bilde, deuten, erklären, interpretieren, würdigen." uo
D. Ergebnis und Kritik
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Ich fasse zusammen. Für alle Varianten im Droysenschen Verstehensbegriff ist die eingangs (S. 130) aufgeworfene Frage negativ zu beantworten. Diejenigen Äußerungen Droysens über das Verstehen, in denen dasselbe gewissermaßen gesteigert ist zu einem "Grundelement der menschlichen Existenz" (Schieder), tangieren die Problematik des historiographischen Verfahrens als eines wissenschaftlichen Verfahrens gegenüber anderen wissenschaftlichen Verfahren nicht und können deshalb in dem vorliegenden Zusammenhang vernachlässigt werden. Verstehen als Intuition und als Ausdrucksverstehen sind Operationen, die nicht ausschließlich und allein der Historiographie (oder auch den historischen Wissenschaften) eigentümlich sind. Es sind also Operationen, mit denen die Besonderheit der ,historischen Methode' nicht begründet werden kann. Der Ansatzpunkt, aus dem sich das Verfahren der Historiographie (und auch das der historischen Wissenschaften) entwickeln läßt, ist nicht der Zweite Fundamentalsatz, sondern vielmehr, wie im zweiten Hauptteil der vorliegenden Arbeit zu zeigen versucht wurde, der Erste Fundamentalsatz150.
150 Abschließend seien noch zwei Bemerkungen zum Problem des Verstehens gemacht. Erstens. Es ist interessant, daß Droysen, der sich ja die oft vorgenommene Unterscheidung von "Verstehen" einerseits und "Erklären" andererseits, wie erwähnt, auch zu eigen macht, in seinem tatsächlichen Sprachgebrauch beide Begriffe eher so verwendet, daß sie als miteinander auswechselbar erscheinen. Innerhalb von 30 Seiten (Vorl. 157 bis Vorl. 187) - er behandelt dort die vier Formen der Interpretation- verwendet er 18mal die Wörter "erklären" und "Erklärung" etwa im Sinne von ,verstehen', ,verständlich machen', ,Verständnis'. Es sind die folgenden Stellen gemeint: Vorl. 159 (2mal), Vorl. 160 (3mal), Vorl. 161, Vorl. 162 (2mal), Vorl. 164, Vorl. 165, Vorl. 170 (2mal), Vorl. 171, Vorl. 174 (2mal), Vorl. 179 (2mal), Vorl. 185. Zweitens. Auch Theodor Schieder (1965, 37 ff.) äußert sich zum Problem der Unterscheidung von "Verstehen" und "Erklären". Er nimmt eine vermittelnde Position ein. "... ist heute die Schranke zwischen naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Begriffsbildung nicht mehr annähernd so hoch wie noch vor fünfzig Jahren, und Verstehen und Erklären erscheinen uns nicht mehr als antinomische Begriffe." (Schieder 1965, 38) Und auch Carl Friedrich von Weizsäcker äußert sich - in seinen Vorlesungen über "Die Geschichte der Natur" (1962) - zu dem hier in Rede stehenden Problem, dem des Verhältnisses von "Verstehen" einerseits und ,.Erklären" andererseits. Er wendet sich dagegen, daß ,.Verstehen" und ,.Erklären" gegeneinander ausgespielt werden, und er erläutert, warum er "einen Sprachgebrauch nicht für unglücklich" hält, nach dem wir nicht nur den Menschen, sondern auch die "unbelebte Natur verstehen" (Weizsäcker 1962, 17). "Im mathematischen Naturgesetz verstehen wir genau das, was überhaupt an ihr (d. i. der Natur] verstanden werden kann." (Weizsäcker 1962, 17)
Sigelverzeichnis Vorbemerkung: Art der Zitierung
Im Literaturverzeichnis (s. u . S. 136 ff.) ist die benutzte Literatur zusammengestellt und mit bibliographischen Angaben versehen. Wenn zitiert wird, werden diese Angaben nicht noch einmal angeführt. Es werden dem Zitat im Text der Arbeit nur beigefügt: a) der Name des Autors, b) das Erscheinungsjahr der Arbeit (als abkürzendes Symbol) und c) dahinter die Seitenzahl. Wenn aus Anmerkungen zitiert wird, folgt noch die Abkürzung "Anm." mit der Nummer der Anmerkung. Wenn von einem Autor in einem Jahr mehr als eine Arbeit erschienen ist, werden der Jahreszahl - bereits im Literaturverzeichnis - die Buchstaben a, b, c ... hinzugefügt. Zusätze im Zitat und Abänderungen desselben, die der Verfasser vorgenommen hat, sind innerhalb des Zitates in eckige Klammern gesetzt. Ausnahmen 1. Bei Zitaten aus den Arbeiten von Johann Gustav Droysen gilt das nach-
folgende Sigelverzeichnis. Die dem Sigel folgende Zahl ist die Seitenzahl. Im Falle von Zitaten aus dem Droysenschen Briefwechsel ist zwischen Sigel (Briefw.) und (arabischer) Seitenzahl in römischen Ziffern die Bandzahl angegeben. Für einige wenige Zitate gelten ferner die folgenden Ausnahmen. 2. Aus den "Collected Papers of Charles Sanders Peirce" (Cambridge, Mass. 1931 ff.) wird - wie allgemein üblich - nach dem Muster des folgenden Beispiels zitiert. "Peirce, CP 7. 313" bezieht sich auf Band 7 der "Collected Papers" (CP), Paragraph 313. 3. Im Falle von Zitaten aus "Theory and practice in historical study: A report of the Committee on Historiography" (New York 1946. Social Science Research Council. Bulletin 54.) wird statt des Verfassernamens und der Jahreszahl nur das Wort "Report" angegeben. (Um das Auffinden der Titel im Literaturverzeichnis zu erleichtern, ist in demselben - bei den nicht-droysenschen Arbeiten - die Jahreszahl doppelt angegeben, ein erstes Mal gleich hinter dem Namen des Autors, ein zweites Mal an der allgemein üblichen Stelle.) Akad.-Rede:
Antrittsrede Johann Gustav Droysens bei seiner Aufnahme in die Königlich preußische Akademie der Wissen· schaften zu Berlin im Jahre 1867. Zitiert n ach dem Abdruck in der von Rudolf Hübner herausgegebenen "Historik" Droysens (4., unveränd. Aufl., München 1960).
Sigelverze ichnis
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Johann Gustav Droysen: Briefwech sel. Hrsg. von Rudolf Hübner. 2 Bde. Berlin und Leipzig 1929. (Deutsche Geschichtsqu ellen des 19. Jahrhund erts. Hrsg. durch die Historisch e Kommissi on bei der Bayerisch en Akademie der Wissensch aften. 25. 2~.) Johann Gustav Droysen: Die Erhebung der Geschicht e zum Buckle-Re z.: Rang einer Wissensch aft. (Rezensio n von Henry Thomas Buckle: History of civilization in England. London 1859-61. Deutsch: Leipzig 186061.) Zitiert nach dem Abdruck in der von Rudolf Hübner herausgegebe nen "Historik" Droysens (4., unveränd . Aufl., München 1960). Johann Gustav Droysen: Grundriß der Historik. Grundr.: Zitiert nach dem Abdruck in der von Rudolf Hübner herausgeg ebenen "Historik" Droysens (4., unveränd . Aufl., München 1960). Johann Gustav Droysen: Zur Charakter istik der euroKrisis: päischen Krisis. Zitiert nach dem Abdruck in den von Felix Gilbert herausgegebe nen "Politisch en Schriften" Droysens (München und Berlin 1933). Kunst u. Meth.: Johann Gustav Droysen: Kunst und Methode. Zitiert nach dem Abdruck in der von Rudolf Hübner herausgegebe nen "Historik" Droysens (4., unveränd . Aufl., München 1960). Johann Gustav Droysen: Natur und Geschicht e. Nat. u. Gesch. : Zitiert nach dem Abdruck in der von Rudolf Hübner herausgegebe nen "Historik" Droysens (4., unveränd . Aufl., München 1960). Johann Gustav Droysen: Philosoph ie der Geschicht e. Philos.: In: Jahresber ichte der Geschicht swissensc haft 1 (Jahrgang 1878), Berlin 1880. Vorwort Johann Gustav Droysens zu seiner "Geschich te Privatvor r.: des Hellenism us", Band 2 (Hamburg 1843). Zitiert nach dem Abdruck in der von Rudolf Hübner herausgegebe nen "Historik" Droysens (4., unveränd . Aufl., München 1960). Johann Gustav Droysen: Zur Quellencr itik der deutschen Quellencr itik: Geschicht e des siebzehnt en Jahrhund erts. In: Forschung en zur Deutschen Geschicht e, 4, 1864. Johann Gustav Droysen: Enzyklop ädie und Methodolo gie Vorl.: der Geschicht e. Vorlesungen . Aus dem Nachlaß herausgeg eben von Rudolf Hübner und aufgenom men in die von Hübner herausgeg ebene "Historik" Droysens (4., unveränd . Aufl., München 1960). Vorl.-Nac hschr.: Nachschri ft der Droysensc hen Vorlesung en über "Enzyklopädie und Methodolo gie der Geschicht e" "von der Hand eines studentisc hen Hörers" (Pflaum 1907, 68) aus dem Jahre 1858. Veröffent licht im "Anhang" der Arbeit von Pflaum (1907, 68 ff.).
Briefw.:
Literaturverzeichnis 1
2
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Literatur über Johann Gustav Droysen
13. 14. 15.
16. 17. 18.
19. 20. 21. 22. 23. 24.
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